Der Hexer Version: v1.0
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Der Hexer Version: v1.0
London, Whitechapel 9. November 1888 »Jack«: Der Winter kam spät in diesem Jahr. Zwar hing der Geruch von Schnee schon seit Wochen über der Stadt, aber bisher war noch keine Flocke vom Himmel gefallen. Doch es war kalt, und um diese Zeit, kurz vor Mitternacht, hatten sich die Temperaturen fast bis auf den Gefrierpunkt gesenkt. Nicht, daß mir die Kälte etwas ausmachte. Vor mei nem Mund war nicht einmal der zarte Hauch des Rauhreifs zu sehen. Was nicht zuletzt daran lag, daß ich das Atmen vor langer Zeit aufgegeben hatte.
Was bisher geschah Duncan Luther und George Romano gehorchen nach Liliths Biß einem magischen Programm, das sie nach Uruk in den Irak zieht. Als sie dort mit Grabungen begin nen, erwacht in Schottland die Kelchdiebin Felidae aus langem Schlaf. Sie erkennt, daß sich Lilith ihrer Bestimmung nicht bewußt ist. Die Toten in Uruk legen eine Höhle frei, die in einen Gang mündet, und machen sich auf den Weg. Als der Gang kein Ende zu nehmen scheint, betreten sie einen der Seitenkorridore – und finden sich im Alten Ägypten wieder! Dort erleben sie mit, wie der Pharao Echnaton zu einem Vampir gemacht wird, um den Bau einer unterirdischen Pyramide zu veranlassen. Darin soll ein Wesen eingekerkert werden, das dem Lilienkelch entsprang und schrecklich unter den Vampiren wütete. Landru platzt, dank Beth’ Verrat, mitten in die Zeremonie, die Lilith ihre Bestim mung erkennen lassen soll. Er und Felidae stehen sich nach 268 Jahren wieder ge genüber. Denn damals stahl Felidae das Unheiligtum vom Kelchhüter Landru. Beim Kampf werden beide Vampire schwer verletzt. Der siegreiche Landru zieht sich mit dem Kelch nach Polen zurück. Hier schafft er Lazarus, den ersten neuen Vampir, mit seinem eigenen Blut. Doch sein Sohn miß rät – dank einer »Diebstahlsicherung« Felidaes. Lazarus folgt einem Zwang: den Li lienkelch zu ihr zurückzubringen! Nichts kann ihn stoppen, denn sein Körper ver brennt die Energien unglaublich schnell und entwickelt dabei riesige Kräfte. Bei Warschau stellen sich ihm Landru und auch Lilith entgegen, doch er umhüllt sie mit Kelchmagie und reist mit einem Flugzeug in Richtung Australien. Landru be freit sich schneller als Lilith aus dem Kokon, kann Lazarus aber nicht mehr einho len. Als schließlich Lilith Sydney erreicht, ist der Kelch wieder in Felidaes Besitz, die sich damit zurückgezogen hat, um ihn zu reinigen. Zuvor hat sie Beth, die in ihrem veränderten Zustand Felidae töten wollte, von den Auswirkungen des Pestkeims endgültig geheilt. Landru erfährt dies, als er Beth kontaktet, im Glauben, sie wäre ihm noch Untertan. Beth brüllt die Flughafenpolizei zusammen, und während Landru als Sitten strolch verhaftet wird, macht sie sich mit Lilith davon …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und der Vampirin Creanna. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit erwacht. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sie sich ihrer wahren Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, obwohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont ernährt sich von Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Va ter. Seit 268 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheilig tum der Vampire, der ihm damals von Felidae gestohlen wurde. Felidae – Vampirin im Auftrag einer geheimnisvollen Macht, die Liliths Geburt in die Wege leitete und damit einen Plan verfolgt, der die Welt der Menschen und Vampire verändern wird. Beth MacKinsey – Journalistin bei einer Sydney er Zeitung. Gleichge schlechtlich veranlagt, hat sie sich in Lilith verliebt. Dies wurde jedoch durch eine magische Pest ins Gegenteil verkehrt: Unter deren Einfluß hat sie sich mit Landru gegen Lilith verbündet. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Der einzige Weg, einen neuen Vampir zu schaffen, besteht darin, ein Menschenkind schwar zes Blut aus dem Lilienkelch trinken zu lassen. Der Kodex verbietet Vampi ren, sich gegenseitig umzubringen. Lilith verstößt dagegen und wird gna denlos gejagt. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedingungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Ich verließ das Haus so unauffällig und leise, wie ich es vor Stunden betreten hatte. Sorgfältig drückte ich die wuchtige Zedernholztür hinter mir ins Schloß. Eine rote Spur blieb an der Messingklinke zu rück, und ich zückte rasch mein Schnupftuch, um sie zu entfernen. Meine Hände klebten von Blut, obwohl ich lederne Handschuhe getragen hatte. Es war kaum zu vermeiden gewesen, daß ich mich befleckte; selbst auf meiner Hose waren verräterische Spuren zu rückgeblieben. Aber selbst wenn ich jemandem auf dem Rückweg begegnen würde, die Nacht und der herbstliche Nebel waren meine Verbündeten, wie stets. Mit geübtem Griff streifte ich die Handschuhe ab und leckte das Blut von meinen Fingern. Es war noch warm und köstlich. Amüsiert glitten meine Gedanken zurück zu dem leblosen Körper im Zimmer, das ich eben verlassen hatte. Wann würde man die Lei che Mary Kellys finden? Schon morgen früh? Oder erst im Laufe des Tages, wenn der Lude begann, seine Stute zu vermissen? Gleichgültig; man würde erneut die falschen Schlüsse ziehen. Jack geht um, der Dirnenmörder! Ein Wahnsinniger. Ein Schlächter. Vielleicht ein Chirurg – die Ausführung der grausamen Morde sprach dafür. Narren! So leicht waren die Menschen zu täuschen. Ich fragte mich nicht zum erstenmal, ob es überhaupt vonnöten war, auf den verräte rischen Biß zu verzichten. Selbst wenn ein findiger Polizeiarzt die Male am Hals der Opfer entdeckte, so war es bis zur letztlichen Er kenntnis noch immer ein gewaltiger Schritt, den ein aufgeklärter Mediziner nicht zu gehen bereit war. Wer glaubte heutzutage noch an Vampire?
Ich wandte mich nach rechts, zur Themse hin. Das Pochen meiner Absätze auf dem Kopfsteinpflaster war das einzige Geräusch dieser Nacht. Zumindest für menschliche Ohren. Ich dagegen konnte sehr wohl noch das ferne Stimmengewirr in einer Schenke am Ende der Straße vernehmen, den Flug eines Nachtvogels hoch über mir und das Schlagen der Wellen an die steinerne Uferböschung des Flusses, eine gute Meile entfernt. Es war ein erfüllter Abend gewesen. Amüsant bis zuletzt. Erst das fleischliche Vergnügen: das berufsmäßige Zieren der jungen Hure, ihre neckischen Worte an meinem Ohr, ihr heißer Atem. Dann ihre weiße Haut, die vollen Brüste, die ausladend einladenden Schenkel. Ihr wollüstiges Stöhnen, als ich in alten Erinnerungen an lebendige re Tage schwelgte und meine Rute menschliche Wärme spüren ließ. Es ist ein Ritual, natürlich. Meiner Rasse ist körperliches Begehren nicht gegeben, so gehorsam sich das tote Fleisch auch dem Willen beugt. Doch der Akt ist Labsal wie das Blut selbst, das in den Adern der Opfer pulsiert. Er berauscht die Sinne auf ganz eigene Art. Auch das Opfer selbst gewinnt dadurch. Wer einmal in Wallung geratenes Blut gekostet hat, wird nicht mehr davon lassen wollen. Nun, Mary Kelly war in Wallung gekommen. Ich spießte sie auf wie einen flatterhaften Schmetterling. Erst mit dem Schwert meiner Lenden. Dann mit dem Messer. Sie jauchzte noch im Todeskampf, als hätte ihr Verstand nicht be griffen, daß mit jedem Aufbäumen das Blut aus ihr heraus und in meinen saugenden Mund strömte. Ich spielte mit ihr wie auf einem Instrument, nahm ihr mit nur ei nem Blick das Entsetzen, als sie sich des Schmerzes gewahr wurde. Dann kostete ich ihr Leben, noch immer in leidenschaftlicher Umar mung gefangen. Sie enttäuschte mich nicht, bis ihr blasses Gesichtchen marmorne
Züge annahm und ihre hellblauen Augen brachen. Nachdem ich gesättigt war, begann die Pflicht. Die Polizei hielt sich bis heute zurück, photographische Aufnah men meiner Werke an die Öffentlichkeit zu bringen. Aus gutem Grund. Zartbesaitete Gemüter hätten zweifellos eine Hysterie ent facht, die auch ohne mein Zutun weitere Opfer fordern würde, wäre das ganze Ausmaß der Verbrechen bekannt geworden. So spielte ich mein Spiel, und zum Amüsement meiner Schäfer stunden kam jenes, die Behörden mit falschen Spuren und Briefen zum Narren zu halten. Bald war ich bekannter als Queen Victoria in den dunklen Gassen der Stadt. Ich blieb kurz stehen und blickte mich um. Ganz in Gedanken ver sunken hatte ich kaum bemerkt, daß ich die Lord Street schon zur Gänze durchschritten hatte und nun im Begriff stand, in die James Street einzubiegen, die zu den Canning Docks führte. Der Fluß war nicht wirklich mein Ziel, doch ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, auf Umwegen meine Heimstatt aufzusuchen; für den Fall der Fälle. Ich war noch unentschlossen, welchen Weg ich wählen sollte, als mich ein leises Geräusch aufmerken ließ. Ich drehte mich auf dem Absatz und ließ meine Blicke durch den Nebel schweifen. So wie die Dunkelheit nichts vor meinen Augen zu verbergen ver mochte, so war auch der Nebel kein wirkliches Hindernis. Deutlich konnte ich in jenem rötlichen Schimmer, der mein Blickfeld ausfüll te, die Fassaden der schmutzigen Häuser erkennen. Die Bewegung in einem der Torbögen entging mir nicht, doch es war nur eine Katze auf nächtlicher Mäusejagd. Vielleicht hatte sie das Geräusch verursacht. Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder um. Die Faust kam zu schnell, als daß ich noch hätte reagieren können.
Der Schlag explodierte unter meinem Kinn und warf mich um ein, zwei Schritte zurück. Mehr verblüfft denn von dem wuchtigen Hieb beeinflußt rang ich um mein Gleichgewicht. Wirklicher Schmerz ist meiner Rasse fremd. Es gibt nur wenige Waffen, die uns gefährlich werden kön nen. Der Schemen vor mir setzte nach, bog den Arm zurück, um erneut zuzuschlagen. Die Überraschung abschüttelnd, reagierte ich endlich in gewohn ter Manier. Als die Faust zum zweitenmal heranzischte, fing ich sie mit einer spielerisch wirkenden Bewegung ab und preßte sie zusam men. Die Fingerknöchel knackten hörbar. Ein Stöhnen kam von meinem Gegenüber. Er bog den Oberkörper zurück und versuchte sich aus meinem Griff zu befreien. Nun hatte ich Muße, ihn mir genauer zu betrachten. Es war ein wahrer Hüne von Mann: stämmig, mit eindrucksvollen Muskelpaketen ausstaffiert, die Haare kurzgeschoren und feuerrot. Sein nicht gerade hübsches Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Schmerzes. Wahrscheinlich kam es nicht oft vor, daß er einen ebenbürtigen Gegner fand. Einen überlegenen schon gar nicht. Ich dachte eine Sekunde lang darüber nach, ob er mir als Nach speise dienlich sein sollte, verwarf den Gedanken aber fast sofort wieder. Der Nachgeschmack der jungen Hure lag noch auf meiner Zunge; es wäre töricht gewesen, ihn zu verderben. Ich würde den Kerl schnell und schmerzvoll töten und ihn dem Fluß überantworten. Die Berührung an der Schulter realisierte ich erst, als hinter mir eine dunkle, fast heiter klingende Stimme ertönte. »Ich muß sagen, Sie beeindrucken mich, mein Herr«, sagte sie. »Es gibt nicht viele Männer, die Rowlf Paroli bieten können.«
Im ersten Moment war ich zu verblüfft, um angemessen zu reagie ren. Unbewußt hatte sich für eine Sekunde mein Griff gelockert, und diese Zeit genügte dem Hünen, sich loszureißen. Instinktiv erkannte ich, daß trotz seiner Körperkräfte der Fremde in meinem Rücken die größere Gefahr darstellte. Ich fuhr herum. Vor mir stand ein Mann etwa Ende Zwanzig, dessen ebenmäßiges Gesicht von einem sorgsam gestutzten Bart umrahmt wurde. In sei nem Haar erkannte ich eine weiße, blitzartig gezackte Strähne, wohl eine jener Modetorheiten, wie Gecken der feinen Gesellschaft sie zu kultivieren pflegten. Er trug ein elegantes Cape, hatte sich seinen Spazierstock unter die linke Achsel geklemmt und war gerade inten siv damit beschäftigt, seine weißen Seidenhandschuhe von den Fin gern zu zupfen. Ich glaube, es war das erstemal in meinem nach Jahrhunderten zählenden Leben, daß mir der Mund offenstand; zu unwirklich und bizarr erschien mir diese Situation. »Sie waren überaus nachlässig«, fuhr der Fremde fort, ohne von seiner Beschäftigung aufzusehen. »Das Blut an Ihrer Kleidung spricht Bände. Sie sind vertraut mit den Vorgängen hier in Whi techapel?« Nun sah er auf, und der Blick aus seinen Augen weckte unangenehme Assoziationen in mir. Ich glaubte in Augen zu bli cken, die nicht zu diesem Körper gehörten. Augen, die Dinge ge schaut hatten, die dem menschlichen Geist verboten waren. Ich entschloß mich, mit einer erneuten Attacke zu warten, bis ich mehr über den seltsamen Vogel erfahren hatte. Seine Worte weckten ein Gefühl in mir, von dem ich bislang nicht einmal geahnt hatte, daß ich fähig war, es zu empfinden: Unbehagen. Offensichtlich wußte er mehr, als für ihn gut war. »Ich war in eine Rauferei verwickelt, drüben im Anchor’s Inn«, entgegnete ich. »Die aufgeplatzte Nase eines volltrunkenen Matro
sen hat mir –« »War es nicht vielmehr ein junges Mädchen?« unterbrach mich der Mann mit scharfer Stimme. »Ein leichtfertiges Ding, das den fatalen Fehler beging, in Ihnen etwas anderes zu sehen als die Bestie, die Sie unzweifelhaft sind?« Seine Worte waren sein Todesurteil. Mit einem Fauchen stürzte ich vor. Vorsicht war hier unangebracht. Noch während des ersten Schritts setzte die Metamorphose ein. Meine Fingernägel wuchsen in Sekun denschnelle zu scharfen Klauen; spitze Eckzähne drängten über meine Lippen, die ich im nächsten Moment zu einem raubtierhaften Rachen aufriß. Mein Gegenüber war verblüfft, ohne Zweifel. So gut er auch infor miert zu sein schien, meine wahre Natur hatte er nicht erahnt. Trotzdem reagierte er gedankenschnell. Er glitt zur Seite, noch be vor ich ihn erreichte. Seine Rechte ließ die Seidenhandschuhe fallen und umschloß den kristallenen Knauf seines Spazierstocks. Im nächsten Moment verwandelte sich der Stab in blitzenden Stahl. Die hölzerne Scheide klirrte zu Boden, als der Stockdegen einen flirrenden Halbkreis beschrieb und auf meinen Hals zielte. Im letzten Moment gelang es mir, der Klinge auszuweichen. Von hinten traf mich ein derber Schlag und schleuderte mich halt los nach vorn. Verdammt! Fast hätte ich den zweiten Kerl vergessen! Er setzte nach und hob die zu einer gewaltigen Faust verschränk ten Pranken. Ehe ich mich zur Seite rollen konnte, trafen sie mich mit der Wucht eines Schmiedehammers und zertrümmerten mir bei nahe die Schulter. Der Mann mit dem Stockdegen war in der Zwischenzeit nicht un tätig geblieben. Wieder drang er auf mich ein, und diesmal bohrte sich die Spitze der schlanken Waffe in mein linkes Bein.
Der Schmerz durchschoß mich wie ein Blitz, um so mehr, da ich nicht mit ihm gerechnet hatte. Unter den wenigen Waffen, die mir gefährlich werden konnten, waren gewiß keine einfachen Degen. Doch ich entdeckte keines der Symbole und Werkzeuge daran, die ich mit dieser Wirkung in Zusammenhang bringen konnte. War eine fremde Magie im Spiel? Einerlei. Ich begriff, daß mein einziges Heil in der Flucht lag. Ich weitete die Metamorphose aus. Mein Körper schrumpfte in Gedankenschnelle, überzog sich mit dichtem braunem Pelz. Auch meine Kleidung verschwand dank ei ner Magie, die mein Volk seit Äonen meisterlich beherrscht. Mein Gesicht formte sich neu, wurde zu einer stumpfen Schnauze mit kleinen schwarzen Knopfaugen. Nur die Eckzähne blieben. Der Fremde mit der blitzartig gezackten Haarsträhne verhielt sei nen Schlag. Ich sah den Unglauben in seinen Augen. »Es gibt sie wirklich!« keuchte er. »Mein Gott, das ist …« Seine Worte versiegten, und seine Erstarrung wich im gleichen Maße. Hatte ich gerade noch gehofft, die rettenden Sekunden zu ge winnen, so sah ich mich nun aufs ärgste getäuscht. Sein Hieb kam, verspätet zwar, aber noch rechtzeitig. Ich spürte, wie Muskeln und Haut durchtrennt wurden. Ein feuri ges Reißen strahlte von meiner rechten Seite aus, ein Schmerz, der mich für Sekunden blind und taub werden ließ. Meine Konzentration schwand. Und mit ihr die Metamorphose. Eben hatte ich mich noch zum nachtschwarzen Himmel emporge schwungen, nun stürzte mein zweibeiniger Körper schwer zu Bo den. Durch einen roten Nebel sah ich meinen Arm auf dem Pflaster liegen und tastete entsetzt nach meiner Seite. Blut netzte meine Finger. Aber diesmal war es mein Blut!
Ich schrie. Nie zuvor hatte ich Schmerzen so intensiv empfunden. Der Hüne war über mir und riß mich hoch. »Wo willstn hin, Männeken?« grollte er. »Ich sach schon, wennich mit dir fertich bin.« In purer Agonie gefangen, war ich zu keiner Gegenwehr fähig. Er hob mich vom Boden hoch und preßte mich gegen die nächste Hauswand. Der Schlag gegen meinen Hinterkopf brachte mich wie der halbwegs zur Besinnung. »Kein Mucks«, warnte der Hüne grimmig, »oder ich reißes Haus mit deiner Birne ein!« Der Mann mit dem Stockdegen schob sich in mein Blickfeld. Im nächsten Moment spürte ich die stählerne Spitze über meinem Her zen. »Wer bist du?« zischte der Bärtige, und als ich nicht antwortete, verstärkte er den Druck. »Laß mich … gehen!« keuchte ich und konzentrierte mich auf sei ne Augen. Vergebens. Mein hypnotischer Befehl verpuffte wir kungslos. Die Magie, die seiner Waffe innewohnte, schüttelte mei nen toten Körper. »Du bist ein Vampir?« Er stellte die Frage, obwohl er die Antwort längst wußte. »Ja«, entgegnete ich mühsam. »Ein Vampir. Ein Unsterblicher.« Gleichzeitig mit meinen Worten kam mir eine Idee, vielleicht die letzte Chance, dem sicheren Tod – dem endgültigen Tod – zu entge hen. »Gib mich frei«, keuchte ich, »und ich mache dir das kostbarste Geschenk, das ein Mensch wie du sich erträumen kann: Unsterblich keit.« Er lachte auf, und das Geräusch gefiel mir nicht im geringsten.
»Unsterblichkeit?« höhnte er. »Wenn es stimmt, was ich über Kreaturen wie dich gelesen habe, ist es mit eurer Unsterblichkeit nicht weit her. Den Tag verachtend, bei Nacht mordend und das Blut Unschuldiger saugend – ist das deine Unsterblichkeit?« »Es gewährt dir ewiges Leben«, versuchte ich ihn zu überzeugen. »Die Jahrhunderte – sie sind dein. Die Menschen sind dir Untertan. Deine Macht wird unbegrenzt sein. Niemals wirst du dein Fleisch welken und verdorren sehen! Glaube mir, auf ewig jung zu sein –« »Genug!« durchschnitt seine unbarmherzige Stimme mein Flehen. »Ich fürchte das Alter nicht. Wohl aber das, was deine Unsterblich keit aus mir machen würde. Du verschwendest deinen Atem, Krea tur.« Ich las in seinen Augen, daß sein Entschluß unumstößlich war. Noch ein letztes Mal versuchte ich zu entkommen, wand mich mit aller mir verbliebener Kraft im Griff des Hünen. Vergebens. Seltsamerweise spürte ich nicht einmal, wie der Degen mein kaltes Herz durchbohrte. Die Nacht um mich herum offenbarte mir ihr wahres Gesicht. Dunkelheit. Vergessen. Das letzte, was ich sah, war sein Gesicht dicht vor dem meinen. Den sorgsam gestutzten Bart. Die wissenden Augen. Die seltsam ge zackte Strähne in seinem Haar. Dann kam der Tod.
*
Sydney Airport Gegenwart Das Verlassen des Flughafengebäudes glich nicht nur einer Flucht – es war eine. Mit wenigen Worten hatte Beth MacKinsey Lilith informiert: daß Landru plötzlich aufgetaucht war und sie angesprochen hatte in dem Irrglauben, sie sei noch immer seine Verbündete gegen Lilith. Wie sie instinktiv reagiert hatte, indem sie Zeter und Mordio ge brüllt und innerhalb von Sekunden sämtliche Polizeikräfte auf sich aufmerksam gemacht hatte – sehr nervöse, dienstbeflissene Beamte, denn schließlich war vor wenigen Stunden erst eine Maschine gelan det, in der eine Vielzahl der Passagiere auf geheimnisvolle Weise ums Leben gekommen war. Und wie schließlich ein verblüffter Landru überwältigt und in Gewahrsam genommen wurde, während sie, Beth, sich in dem Durcheinander absetzen konnte.* Sie wußten beide, daß Landru nicht lange in Arrest bleiben würde. Der mächtige Vampir hatte andere Möglichkeiten, als einen Anwalt zu bemühen. Beth konnte nur hoffen, daß ihr Manöver nicht einige Polizisten in Lebensgefahr bringen würde. »Wir müssen weg hier«, keuchte sie atemlos, während sie, Lilith im Schlepptau, zu ihrem Wagen hastete. »Ich meine, wirklich weg. Raus aus der Stadt.« Lilith Eden konnte nur wortlos nicken und sich bemühen, mit Beth Schritt zu halten. Nach dem langen Flug von Polen hierher und den ebenso langwierigen Formalitäten beim Auschecken – die sie mit ein wenig Hypnose glücklich hinter sich gebracht hatte – war das Chaos völlig unvorbereitet über sie hereingebrochen. Eben erst hätte sie erfahren, daß Felidae samt dem Lilienkelch ver *siehe VAMPIRA 28: »Fünf Tage Tod«
schwunden war. Wenn sie Beth richtig verstanden hatte, war das Unheiligtum der Vampire durch Landrus Ritual verunreinigt wor den und mußte erst gesäubert werden. Natürlich nicht mit Wasser und Seife – magische »Flecken« bedurften anderer Mittel. Und dann die Neuigkeit, Landru wäre hier – eine Nachricht, die einem Schock gleichkam. Nur zu gut erinnerte sich Lilith an ihre letzte Begegnung mit dem mächtigsten der Vampire. Sie hätte sie beinahe mit dem Leben be zahlt. Nur Landrus Gier nach dem Kelch verdankte sie es, daß er ihr nicht den letzten, tödlichen Schlag versetzt hatte. Wieder schauderte sie. Welch machtvolle Magie dem Lilienkelch innewohnte, welches Unheil und Verderben! Eigentlich hätte er längst zerstört werden müssen. Doch ihre Bestimmung – von der sie immer noch nicht viel mehr wußte als zuvor – schien eng mit dem Unheiligtum verknüpft. Und das ängstigte sie mehr, als sie sich ein gestehen wollte. Endlich hatten sie den Mini erreicht. Beth nestelte so nervös an ih rem Schlüsselbund herum, daß er ihr fast aus den Händen glitt. Kein Zweifel – auch sie fürchtete Landru mehr als den Teufel. Lilith konnte nur ahnen, was sie erlebt haben mochte, während sie mit ihm gemeinsame Sache gemacht hatte. Nun war Beth wieder ganz die alte; Felidae hatte den magischen Pestkeim endgültig aus ihrem Körper getilgt. Doch die Erinnerung blieb – und mit ihr die Angst. »Ich setzte dich zu Hause ab«, meinte Beth gepreßt, nachdem sie mit durchdrehenden Reifen auf den Flughafen-Expreßway eingebo gen war und den kleinen Wagen Richtung Innenstadt einfädelte. »Was hast du vor?« fand Lilith endlich ihre Sprache wieder. »Wie gesagt: Wir müssen weg von hier. Es ist nur eine Frage von Stunden – ach was, Minuten! –, bis Landru uns wieder auf den Pelz
rückt. Schließlich weiß er, wo ich wohne … nur zu gut weiß er das.« Beth konnte nicht verhindern, daß ihre Stimme bebte. Beruhigend legte ihr Lilith die Hand auf die Schulter. Einen kurzen Moment schaute Beth sie dankbar an, konzentrierte sich aber sofort wieder auf den Verkehr. Ein dummer Unfall war so ziemlich das letzte, was sie in dieser Situation gebrauchen konnten. »Ich muß in die Redaktion«, fuhr Beth fort. »Ich werde Moe ir gendeine wilde Story auftischen und mir meinen Jahresurlaub neh men. Wenn ich richtig gut bin, gibt er mir vielleicht sogar einen Spe senvorschuß.« Sie zwang sich ein Grinsen ab. Es mißlang gründlich. »Schätze, in den nächsten Wochen können wir jeden Cent brauchen, was?« »Vielleicht ist es falsch, vor ihm davonzulaufen. Ich sollte mich ihm stellen und es zu Ende bringen.« Sekundenlang schwebten Liliths Worte wie eine dunkle Wolke im Wageninnenraum. Dann explodierte Beth. »Du bist verrückt! Zu Ende bringen – ja, das trifft es genau! Wenn er mit dir fertig ist, bleibt nur noch Staub von dir übrig! Sei nicht verrückt, Lilith!« Die Halbvampirin ballte die Fäuste und schüttelte den Kopf. »Aber es hat keinen Sinn, verstehst du nicht? Er wird mich wieder finden – überall. Ich bin seine Erzfeindin. Die Nummer eins auf sei ner Liste. Wenn ich nicht für den Rest meiner Tage auf der Flucht sein will –« »Schluß!« fuhr Beth resolut dazwischen. »Ich weiß genau, wie es in dir aussieht, glaub mir. Im Moment scheint alles hoffnungslos, aber das gibt sich. Wir müssen nur etwas Abstand zwischen ihn und uns bringen und neue Pläne schmieden. Ihm jetzt entgegenzutreten wäre das Falscheste, was du tun kannst.« Sie nahm Liliths Hand von ihrer Schulter und drückte sie. Die Be
rührung tat gut. In diesem Moment waren sich die beiden Frauen näher als je zuvor, näher als bei einer innigen Umarmung und jeder Liebesnacht. Lilith erwiderte den Druck. »Du hast recht«, sagte sie schließlich. Die Zweifel, die sie eben noch umfangen und betäubt hatten, schwanden. »Machen wir, daß wir von hier wegkommen.«
* »Sie wollen – was?« Moe Marxx, seines Zeichens Chefredakteur des Sydney Morning Herald, war noch nie eine Seele von Mensch gewesen, und Verständ nis gegenüber seinen Mitarbeitern war ihm so fremd wie eine Spe senabrechnung ohne genaueste Auflistung der einzelnen Ausgaben posten. Was Beth MacKinsey ihm gerade unterbreitet hatte, kam für ihn gleich nach dem Sakrileg, eine Gehaltserhöhung zu fordern. »Dienstfreistellung. Mindestens drei Wochen«, wiederholte »Mac beth« ungerührt und präzisierte: »Am besten auf Redaktionskosten, aber wenn’s sein muß, nehme ich auch meinen ganzen Resturlaub.« Marxx klappte seine Kinnlade wieder nach oben. Mit in langen Dienstjahren eingeübter Routine zauberte er ein Lächeln auf seine Züge, so falsch, daß es Beth kalt den Rücken herunterlief. »Und wie gedenken Sie diese – Freistellung zu rechtfertigen, MacKinsey?« schnappte er. Beth wußte, daß ihr die Lüge ohne den Hauch eines Zweifels über die Lippen kommen mußte, sonst war der Job dahin. Egal ob Marxx sie gehen ließ oder nicht – sie konnte nicht in Sydney bleiben. Es wäre einem Todesurteil gleichgekommen.
»Mit der Story des Jahrzehnts – bescheiden ausgedrückt«, entgeg nete sie. »Ich bin einem Knaller auf der Spur, den man noch in No wosibirsk hören wird. Ich denke, dem Herald stünde es nicht schlecht zu Gesicht, eine Pulitzerpreisträgerin als Mitarbeiterin zu beschäftigen. Was meinen Sie?« Marxx’ Miene wurde womöglich noch um drei Nuancen finsterer. »Und ich darf natürlich nicht erfahren, um was es geht?« vermute te er. »Sorry, Chef«, bestätigte ihm Beth und strich sich ihr erdfarbenes Kostüm zurecht – nur damit ihre Finger etwas zu tun bekamen. »Je des vorschnelle Wort könnte die Explosion zu früh auslösen – bild lich gesprochen.« Das war nicht einmal gelogen. Beth stand so unter Dampf, daß sie schier zu platzen drohte. Die Zeit lief ihr davon, und sie vertrödelte sie damit, diesem Ignoranten Lügen und Honig ums Maul zu schmieren. Aber das Wunder geschah. »Drei Wochen und keinen verdammten Tag mehr«, knurrte Mar xx. »Und wenn Sie dann nicht mit einer Sensation im Watergate-For mat wieder hier antanzen, können Sie in der Druckerei die Walzen polieren.« Er würgte einen imaginären Kloß die Kehle hinab, bevor er ergänzte: »Spesen gehen aufs Haus. Abrechnungen wie gehabt. Keine größeren Flugreisen ohne vorherige Absprache. Keine …« Beth verzichtete auf den Vortrag; sie hätte ihn auswendig daherbe ten können. Noch bevor ihr Chef protestieren konnte, war sie durch die Tür seines gläsernen »Käfigs« innerhalb des Großbüros und steuerte zielsicher ihren Schreibtisch an. Sie hatte ihn fast erreicht, als ein Schrei das Rattern der Schreibma schinen und das Schrillen der Telefone mühelos übertönte. Doch er kam nicht aus Marxx’ Richtung, sondern vom Aufzug her, dessen
Türen sich gerade geöffnet hatten. »Macbeth!« Beth verhielt nur einen Augenblick lang, dann hastete sie weiter, riß die oberste Schublade ihres Schreibtischs auf und schaufelte per sönliche Dinge in ein großes Briefkuvert. »Macbeth!« wiederholte sich der Ruf, als Moskowitz, Fotograf und ihr langjähriger Partner, eilig heranwatschelte. Irgend etwas an sei nem Kopf schien zu brennen, denn eine dichte Rauchspur blieb hin ter ihm zurück. Natürlich entpuppte sich der Brandherd als eine sei ner unvermeidlichen, stinkenden Zigarren. Beth wußte, daß sie nun eigentlich hätte erklären müssen, warum sie Mosk in den letzten Wochen wie einen Aussätzigen gemieden, ihn sogar offen brüskiert hatte. Daß die Persönlichkeitsveränderung infolge der magischen Pest die Schuld daran trug. Daß es ihr leid tat und sie sich mit ihm versöhnen wollte. Aber dafür war keine Zeit. Sollte Moskowitz ruhig noch ein Weil chen glauben, es habe sich nichts geändert. »He, dich habe ich ja schon eine Ewigkeit nicht mehr hier gesehen«, übertrieb der korpulente Mittfünfziger schamlos. »Hör mal, es –« Beth hob die Linke und schnitt ihm mit einem knappen Wink das Wort ab. Gleichzeitig stopfte sie mit der anderen Hand ihre eiserne Geldreserve aus dem hintersten Winkel der Schublade in das Ku vert, nahm es und stieß mit dem Knie die Lade zu. »Tut mir leid, keine Zeit«, sagte sie knapp – und ließ den verdutz ten Fotoreporter sprach- und fassungslos stehen. Erst im Lift gelang es ihr, die rasenden Gedanken halbwegs unter Kontrolle zu bringen. Zu ihren vorherrschenden Problemen hatte sich ein weiteres gesellt. Wenn sie Moe Marxx in drei Wochen keine wirklich gute Story präsentieren konnte, war sie erledigt.
Aber vielleicht sorgte ja Landru schon lange vorher dafür …
* London, England Sylvesternacht 1899/1900 Howard: Ich hob mein Glas und stieß mit ihm an. Das Klingen der Gläser wurde übertönt von einem ohrenbetäubenden Knall, der mich zu sammenschrecken ließ, als unten auf dem Ashton Place ein Feuer werkskörper in einem grellen Lichtblitz verging. Gleichzeitig explo dierten die ersten Raketen über der Stadt und schickten ihre farbi gen Funkenkaskaden wieder hinab zur Erde. Die Glocken aller Kir chen und Kapellen Londons begannen zu läuten. »Aber, aber, alter Freund!« sagte mein Gegenüber spöttisch. »So schreckhaft?« Ich grinste ihn an. »Du siehst: Selbst ein Howard Phillips Lovecraft ist im Grunde nur ein Mensch«, entgegnete ich. Wie er mir so gegenüberstand, eine eindrucksvolle Erscheinung mit der weißen Strähne im schwarzen Haar über seinem aristokrati schen Gesicht, erinnerte er mich mehr denn je an seinen Vater. Unwillkürlich dachte ich an unsere erste Begegnung, als er mich in einer heruntergekommenen Pension aufgesucht hatte – ein grüner Junge, der noch nicht ahnte, welches Erbe er antreten mußte. Da mals, als Roderick Andara starb, sein Vater. Mein Freund. Mein Gott, wie lange war das nun schon her …
»Ein neues Jahrhundert bricht an«, drang seine Stimme in meine Gedanken. »Die Zeit vergeht schnell, Howard. Zu schnell.« Ich nahm noch einen Schluck Champagner und sah einer künstli chen Sternschnuppe hinterdrein, die hoch in den nächtlichen Him mel stieg, um dort zur Nova zu werden. »Zeit ist relativ«, entgegnete ich dann. Nun ja, fügte ich im stillen hinzu, zumindest für jemanden, der sie schon so oft betrogen hatte wie ich. »Und außerdem: Wer will schon ewig leben?« Er wandte sich zu mir um und sah mich an. Und in seinen Augen stand ein Ausdruck, den ich nicht zu deuten vermochte. »Aber es ist noch so vieles zu tun«, sagte er. »Und so viele Menschen warten darauf, es zu tun«, gab ich ihm zur Antwort. »Jüngere Menschen, die auch unser Werk fortführen werden.« Sekundenlang schwieg er, und nur das Prasseln der Feuerwerks körper erfüllte die Nacht. Als er weitersprach, schien er in Gedan ken weit fort zu sein. »Mir wurde schon einmal ewiges Leben angeboten«, sagte er. »Es ist schon lange her, und ich ging nicht darauf ein. Der Preis wäre zu hoch gewesen.« Wieder legte er eine Pause ein, und als er fortfuhr, klang seine Stimme dunkel und von einer Sehnsucht erfüllt, die mich schaudern ließ. »Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich ihn nicht doch zu zahlen bereit wäre.« »Ewiges Leben?« fragte ich. »Das ewige Leben einer Kreatur«, stellte er klar. »Der Preis wäre gewesen, sich von Blut zu ernähren und das Sonnenlicht zu mei den.« Ich lachte kurz auf. »Du sprichst von Vampiren?« »Es gibt sie, Howard«, sagte er mit allem Ernst. »Damals bin ich ei
nem der ihren begegnet.« Er sah mich fragend an. »Was ist es, das ihnen Unsterblichkeit verleiht?« Ich hob die Schultern. Neben uns tauchte Rowlf auf. Er hielt ein Tablett, auf dem eine Schale mit seltsam verschlungenem Backwerk ruhte. »Chinesische Glückskekse«, erklärte er und grinste übers ganze Gesicht. »Wollter wissn, wasse Zukunft bringt?« Einen Moment glaubte ich, mein Gegenüber hätte sich an seinem Champagner verschluckt, doch dann entpuppte sich das Geräusch als Lachen. »Rowlf, mein Freund«, sagte er kopfschüttelnd, »du kommst zur rechten Zeit mit den rechten Argumenten.« Und als Rowlf ihn nicht verstehend ansah, fügte er hinzu: »Es ist müßig, sich über die Zu kunft trübe Gedanken zu machen. Wir sollten feiern, anstatt unsin nige Fragen zu stellen.« Und er nahm sich einen der Kekse aus der Schale. Auch ich griff zu, doch in Gedanken war ich noch immer bei dem, was er gesagt hatte. Eine neue Facette in seinem Wesen hatte sich mir offenbart, eine, die ich bislang noch nicht bemerkt hatte. Er machte sich Sorgen über die Zukunft. Nicht, daß das Thema mich selbst kalt ließ; im Gegenteil. Ich ging mit unaufhaltsamen Schritten auf die sechzig zu und fühlte, daß ich meinen Kampf ge gen die GROSSEN ALTEN nicht mehr allzu lange würde führen können. Daß ich meinen Freund nicht mehr lange unterstützen konnte. Auch wer die Zeit betrügt, muß nach ihren Gesetzen leben. Ich zerbrach meinen Glückskeks, nahm das zusammengerollte Blättchen Papier heraus und zog es auf. Achte auf deine Gedanken! Sie sind der Anfang deiner Taten. Nett. Ich blickte lächelnd auf – und fuhr zusammen, als ich in sein Gesicht blickte.
»Was ist passiert?« fragte ich erschrocken. Wortlos reichte er mir das Stück Papier, das in seinem Keks ge steckt hatte. Ich nahm es und las. Zögere nicht, nach Wahrheit und Weisheit zu suchen, stand darauf. Denn der Tod beendet alle Suche.
* Alles schien ruhig. Beth MacKinsey musterte das Haus aus ihrem geparkten Mini heraus, bevor sie ausstieg. Eilig überquerte sie die Straße, quetschte sich zwischen anderen parkenden Wagen hindurch und nestelte den Haustürschlüssel aus der Jackentasche. Doch als sie ihn ins Schloß stecken wollte, mußte sie feststellen, daß die Tür nicht versperrt war. Dies allein war noch kein Grund, in Panik zu geraten. Sie wohnte nicht allein im Haus, und es war eine Unart verschiedener Mietpar teien, die Haustür unverschlossen zu lassen. Ein guter Grund waren dagegen die Geräusche, die das Treppen haus erfüllten. Im ersten Stock, wo ihr Apartment lag, klang ein Schrei auf, ge folgt von hölzernem Splittern. Dann ein schmerzvolles Stöhnen, ein dumpfer Schlag. »Lilith!« Beth dachte nicht nach. Ihr erster Impuls war es, der Freundin bei zustehen. Sie hastete, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hoch. Ein riesiger dunkler Schatten kam ihr entgegen. Sie konnte mit knapper Not ausweichen, als ein Hüne von Mann
rücklings an ihr vorbeistürzte, schwer auf die Stufen schlug und sich trotz seiner Körpermasse geschickt abrollte. Beth erhaschte einen Blick in sein Gesicht. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen. Von oben kam ein neuerlicher Schrei. Diesmal aber klang es wü tend … animalisch. Ein zweiter Schatten tauchte am Treppenansatz auf – und ihn kannte Beth! »Landru!« Der Vampir starrte sie einen Moment verblüfft an. Ein dünner schwarzer Blutfaden lief aus seinem Mundwinkel, und sein Kinn war gerötet. In seinen Augen stand der blanke Haß. Doch es war der Haß auf den Unbekannten, der sich inzwischen wieder halb aufgerichtet hatte und, seine malträtierte Schulter hal tend, zu dem Vampir hinaufblickte. »Na komm schon, Fledermaus!« zischte der Mann und entlockte Landru damit einen weiteren Wutschrei. Und Landru kam. Er schien die Treppe herabzuschweben wie ein grausamer Racheengel. Beth preßte sich eng an die Wand und er wartete jeden Moment einen tödlichen Schlag, als der Vampir an ihr vorbeiglitt. Doch Landru schien sich erst einmal des lebensmüden Angreifers entledigen zu wollen, bevor er sich ihr widmete. Die Sorge um Lilith hielt Beth davon ab, dem Kampf weiter zu fol gen. Während Landru auf dem Zwischenstockwerk landete, brachte sie die letzten Stufen rasch hinter sich. Ihre Wohnungstür war nur noch ein ausgefranstes Loch im Holz. Brachiale Kraft hatte sie geradezu zermalmt. Auch der kurze Flur zeigte ein Bild der Verwüstung. Aber das bemerkte Beth kaum. »Lilith – um Himmels willen!« Die Halbvampirin kauerte gleich hinter der Tür am Boden. Das
nachtschwarze Haar hing ihr wirr ins aschfahle Gesicht. Sie hielt sich den Hals mit beiden Händen. Blut sickerte zwischen den Fin gern hervor. Der Koffer mit den Utensilien, die sie zusammenge packt hatte, lag offen da. Sein Inhalt war über den ganzen Flur ver streut. Beth MacKinsey kniete neben Lilith nieder und strich ihr die Sträh nen aus dem Gesicht. Trübe Augen starrten ihr entgegen. »Was ist passiert?« fragte sie im Affekt, noch bevor sie die Unsin nigkeit der Frage erkannte und ergänzte: »Vergiß es. Kannst du auf stehen?« Lilith keuchte etwas, das mit gutem Willen als »Ja« gelten konnte, und versuchte auf die Beine zu kommen. Es gelang ihr nur mit Mü he. Und nun? Beth schaute sich gehetzt um. Sie saßen in der Falle. Es gab nur den Weg durch das Treppenhaus nach draußen. Von unten ertönte noch immer Kampflärm. Erst jetzt wurde Beth bewußt, wie unmöglich dies im Grunde war. Landru mußte seinen Widersacher doch längst getötet haben. Sie riskierte einen Blick. Durch die Streben des Treppengeländers konnte sie die beiden Kontrahenten sehen. Landru und der Hüne standen sich gegenüber. Nun war auch der Fremde gezeichnet; eine Platzwunde auf der Stirn färbte seine linke Gesichtshälfte rot. Und Landru holte erneut aus. Es war nur eine Geste. Er ballte die Hand vor der Brust und riß den Arm dann zur Seite, ohne den Gegner auch nur zu berühren. Trotzdem traf ein Schlag den Hünen mit der Wucht eines Dampf hammers. Er flog zurück, krachte mit dem Rücken gegen die geflies te Wand und sackte halb in sich zusammen. Doch unglaublich: Noch immer blieb er auf den Beinen!
Und dann tat er etwas, das Beth im ersten Moment irrational er schien. Er krampfte die Hände um die Aufschläge seiner Weste und riß sie mit einem Ruck auseinander. Darunter kam ein gläsernes Ding zum Vorschein, das an einer dünnen Kette um seinen Hals hing. Kein Amulett. Beth hatte im ers ten Moment Mühe, überhaupt die Form des Kleinods zu erfassen. Es schimmerte gelblich und schien sich fortwährend zu verändern. Der Hüne umschloß es mit seiner Rechten und riß es von der Kette. Landru holte zum nächsten Schlag aus. Seine Wut über den uner wartet widerstandsfähigen Gegner entlud sich in einer magischen Explosion. Der Hüne wurde von unsichtbaren Händen gepackt und in die Höhe gerissen. Er rutschte an der Wand empor und konnte gerade noch beide Arme über dem Kopf verschränken, bevor ihm der Schä del an der Decke zermalmt worden wäre. So aber minderte er den Aufprall, bis der magische Griff ihn wieder freigab. Als er wie eine reife Frucht herabfiel, stieß er sich von der Wand ab. Der Schwung brachte ihn dicht an Landru heran, und bevor der Vampir reagieren konnte, holte er nun seinerseits aus und ließ die geballte Rechte in Landrus Magen explodieren. Ein grelles, gelbliches Licht gleißte auf und verschlang die Faust des Hünen. Geblendet schloß Beth die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war Landru von Licht umhüllt. Es um gab ihn wie eine zweite Haut, flirrend, funkensprühend und noch immer unglaublich grell. Der Vampir schien zu schreien, doch kein Laut war zu hören. Der Fremde stand gebeugt und hielt sich die Hand. Sein Atem flog. Dann sah er auf; sein Blick traf sich mit dem von Beth. »Schnell«, keuchte er. »Sie und Ihre Freundin – kommen Sie mit
mir! Ich bringe Sie in Sicherheit.« Beth fragte nicht lange. Die angeschlagene Lilith mit sich ziehend stolperte sie die Treppen hinunter, vorbei an Landru, der wütend gegen die Lichterscheinung ankämpfte, die ihn hermetisch von der Außenwelt abschirmte. »Es wird nicht lange halten«, erklärte der Hüne mit dem rotblon den, im Nacken zu einem Zopf gebundenen Haar gehetzt. »Obwohl die Sonnenenergie eines ganzen Jahres in dem Kristall gespeichert war. Aber dieser Kerl ist stärker als alle Blutsauger, die wir bis jetzt in der Mangel hatten.« »Wer ist wir?« erkundigte sich Beth, als sie durch die Haustür ins Freie eilten. Eine schwarze Limousine raste die Straße herauf und hielt mit quietschenden Reifen. »Keine Zeit für Erklärungen«, winkte der Hüne ab. »Mein Name ist Randolph. Darf ich bitten …?« Er riß den Schlag des Wagens auf und deutete ins Innere. Den bei den Frauen blieb gar keine Wahl, als die ungewöhnliche Einladung anzunehmen. Kaum hatten sie in den ebenfalls schwarzen Polstern Platz genom men, als der Wagen auch schon wieder anfuhr. Die Beschleunigung preßte sie in die Sitze. Beth sah nach vorn, konnte durch die rundum getönten Scheiben aber weder den Fahrer erkennen noch den Weg, den der Wagen nahm. Es schien, als wären sie von der Welt abgeschnitten. Lilith stöhnte neben ihr auf und sah sich blinzelnd um. Erst jetzt schien sie wieder richtig zur Besinnung zu kommen. Randolph hantierte an einer Klappe herum, die im Zentrum der Fahrgastzelle in den Boden eingelassen war, und entnahm ihr ein weißes Tuch und acht kreisrunde Amulette. Das Tuch reichte er Beth.
»Kümmern Sie sich um Ihre Freundin. Ich sorge für unsere Sicher heit.« Und er platzierte die Amulette in allen acht Ecken des Raums. »Jetzt sind wir vollständig isoliert«, verkündete er dann. »Er kann uns nicht finden.« Es war klar, wen er meinte. »Wer sind Sie?« meldete sich Lilith zu Wort. Sie schien sich rasch zu erholen. Ihre Augen waren wieder klar, und ihre Stimme klang fest. Die Wunde an ihrem Hals blutete schon nicht mehr; ihre Selbst heilungskräfte versagten auch bei dieser Verletzung nicht. Randolph ließ sich in dem Sitz ihnen gegenüber nieder, wischte sich mit einem zweiten Tuch das Blut vom Gesicht und behandelte die Wunde an seiner Stirn mit einer zähflüssigen Salbe. »Ich führe einen Auftrag aus«, sagte er knapp. »Am Ziel unserer Reise erfahren Sie mehr.« »Wessen Auftrag?« fragte Lilith, doch der Hüne lächelte nur ent schuldigend. »Und wohin geht die Reise?« schloß sich Beth an und erntete das gleiche Lächeln. »Lassen Sie sich überraschen. Daß wir Ihnen nichts Böses wollen, dürften Sie inzwischen doch wohl gemerkt haben.« »Ah – vielen Dank auch.« Lilith wirkte verlegen. »Ich hatte noch keine Gelegenheit …« Randolph winkte ab. »Schon gut. Gehört zum Service.« Landru hatte Lilith vollkommen überrumpelt. Sie hatte seine An näherung nicht bemerkt; er mußte sich magisch abgeschirmt haben. Mit Beth’ Stimme hatte er sie so lange getäuscht, bis sie hinter der geschlossenen Tür stand. Als diese ihr in Splittern entgegenflog, war es für Gegenwehr zu spät. Der Symbiont auf ihrer Haut war ihr keine Hilfe gewesen; nicht zum erstenmal schien er wie paralysiert von Landrus Gegenwart. Der Vampir hätte ihr das Genick gebrochen, wäre er nicht selbst an
gegriffen worden. Lilith konnte sich kaum daran erinnern, wie Ran dolph hinter ihm aufgetaucht war und ihn mit bloßen Fäusten atta ckiert hatte … Der Hüne beugte sich im Autositz vor und zog den Hörer eines Funktelefons aus der Seitenverschalung der Fahrgastzelle. Er tippte eine Nummer ein und wartete auf das Freizeichen. »Wir sind in fünfzehn Minuten da«, sagte er, als die Verbindung zustande kam. »Bereitet alles vor. Es muß schnell gehen.« Lilith und Beth sahen sich an. Ohne Zweifel war dieser rotblonde Riese mit dem ungeschlachten, nicht gerade hübschen Gesicht die Rettung in buchstäblich letzter Sekunde gewesen. Aber konnte man nicht auch vom Regen in die Traufe geraten? Lilith mußte Gewißheit haben. Sie schüttelte ihre Haarmähne und zog damit Randolphs Auf merksamkeit auf sich. Als er sie ansah, suchte sie seinen Blick. Für einen Moment schien der Kontakt zustande zu kommen. Doch bevor sie ihre hypnotischen Kräfte zur Entfaltung bringen konnte, wandte Randolph ruckartig den Blick. »Versuchen Sie das nicht noch einmal!« warnte er grimmig. »Ich könnte es Ihnen übelnehmen.« Sein grobes Gesicht war plötzlich gar nicht mehr so freundlich. Und das ungute Gefühl in Beth und Lilith ließ um keinen Deut nach. Im Gegenteil.
* Die rasende Fahrt der schwarzen Limousine währte etwa zwanzig Minuten – zwanzig schweigende Minuten, die bestimmt wurden von gegenseitigem Taxieren und tausend unbeantworteten Fragen,
die Lilith und Beth im Kopf herumgingen. Ihr geheimes Ziel war nur eine davon. Das vorherrschende Pro blem hieß immer noch Landru. Was würde der Mächtigste der Vampire nun unternehmen, da ihm der Kelch ein zweitesmal abgerungen worden war? Wem wür de er zu folgen versuchen: Felidae oder Lilith? Seine Wut machte ihn unberechenbarer als je zuvor. Lilith wußte, daß die Zeit des Beobachtens, des vorsichtigen Abwartens vorbei war. Die nächste Begegnung mit dem ehemaligen Kelchhüter würde den Tod bedeuten. Oder Schlimmeres. Der Wagen hielt mit protestierenden Reifen. »Wir sind da«, sagte Randolph lakonisch, erhob sich und drückte den Wagenschlag auf. Durch die Öffnung sahen sie ein weites Be tonfeld, dahinter das Grün ausgedehnter Rasenflächen. Erst als Lilith ausstieg, erkannte sie, wo sie sich befanden. Es war ein Flughafen; nicht der Sydneyer Airport, auf dem sie erst vor einer knappen Stunde eingetroffen war, sondern ein kleineres, vielleicht privates Flugfeld, hinter dessen Tower im Osten die Hochhäuser der City aufragten. Auf der anderen Seite des Wagens stand eine startbereite Maschi ne, ein silberglänzender Learjet mit singenden Düsenaggregaten. Randolph ging schnurstracks darauf zu. Als die beiden Frauen ihm nicht folgten, drehte er sich um und blickte ungehalten zu ihnen zu rück. »Ich werde nicht in dieses Flugzeug steigen!« stellte Beth MacKin sey klar. Randolph kam mit erhobenen Schultern zu ihnen zurück. Wäh rend dieser paar Schritte wandelte sich seine eben noch grimmige Miene in pure Freundlichkeit. »Bitte«, sagte er, aber es klang keineswegs flehentlich. »Vertrauen
Sie mir. Ich bringe Sie in Sicherheit, an einen Ort, wo Ihr Verfolger Sie nicht aufspüren kann.« »Außer Landes?« hakte Beth nach. »Nach Großbritannien«, gab Randolph überraschend bereitwillig Auskunft. Lilith und Beth sahen sich einen Moment verblüfft an. »Aber die Zollkontrollen …?« fragte die Halbvampirin dann. Randolph grinste nun übers ganze Gesicht. Schöner wurde er da durch nicht. »Alles bereits erledigt«, antwortete er. »Mein Auftraggeber hat in ternational einigen Einfluß. Sie sollten ihn wirklich kennenlernen.« Zu Beth’ Entsetzen nickte Lilith. »Ich fange tatsächlich an, neugie rig zu werden«, sagte sie. Und an Beth gewandt: »Hier in Australien könnte er uns finden. Wir sollten das Risiko eingehen.« Beth wollte widersprechen, tat es dann aber doch nicht und schüt telte statt dessen ergeben den Kopf. »Wenn du meinst. Noch tiefer können wir eigentlich nicht in die Bredouille geraten …« Als sich die Flugzeugtüren hermetisch hinter ihnen schlossen, überkam sie das Gefühl, in eine Falle zu tappen, noch einmal mit al ler Macht. Beth versuchte es zu verdrängen, aber es gelang ihr nicht. Sie nahmen in bequemen Sitzen Platz und gurteten sich an. Unter dessen rollte die Maschine auf ihre Startposition. Es dauerte weniger als eine Minute, bis die Triebwerke aufheulten und der Schub die Passagiere in die Polster preßte. Das Rollfeld zog, immer schneller werdend, an ihnen vorbei, um schließlich nach unten wegzufallen, als der Learjet steil in den Him mel stieg. England entgegen. Und einer höchst ungewissen Zukunft.
* Verdun, Frankreich 25. August 1916 John: Der Beschuß schien abzuebben. Noch war die Luft erfüllt von Pul vergestank und feinem Staub, doch die Explosionen, die in den letz ten Minuten beunruhigend nahe an die Stellung herangekommen waren, wurden seltener und blieben schließlich ganz aus. Ich löste mich von der Wand des Grabens und klopfte Erdkrumen von meinen Schultern. Eine kleine gelbe Blume war darunter. Ich griff danach, bevor sie in den Matsch am Grunde des Schüt zengrabens fallen konnte, und drehte sie nachdenklich zwischen meinen Fingern. Ein filigranes Stück Natur inmitten von grauem Tod und Verwüstung. Der Tod … Nicht zum erstenmal fragte ich mich, ob ich deswegen hier war. Um die Sehnsucht zu stillen, die ich bei klarem Verstand doch stets ver leugnete. Um dem dunklen Gevatter zu begegnen. War ich … unsterblich? Wieder stürzten die sinnlosen Fragen auf mich ein; Fragen, auf die ich keine Antwort hatte und die doch allgegenwärtig mein Leben begleiteten. Ich hatte lange Zeit benötigt, es überhaupt zu bemerken. Doch ei
nes Tages konnte ich … konnte der Spiegel es nicht mehr leugnen. Erst hatte mir Verwunderung daraus entgegengeblickt, dann Er schrecken, zuletzt pures Grauen. Ich hatte mich in eine Frau verliebt und sie geheiratet, vor nun mehr sechzig Jahren. Die ersten zwei Jahrzehnte waren erfüllt gewe sen von Glück, gegenseitigem Vertrauen, Liebe. Dann war unübersehbar geworden, was wir lange Zeit zu leugnen versucht hatten: Während Carols Haar sich grau färbte, ihre Haut die ersten Falten bekam und ihre Jugend und Vitalität zur Neige gingen, blieb ich so jung und agil wie am Tag unseres Kennenler nens. Ich alterte nicht! Ich weiß nicht mehr, wie meine Gefühle waren, als ich es mir zum erstenmal eingestand. Es muß ein Konglomerat gewesen sein aus Freude und Entsetzen. Geblieben war nur das Entsetzen. Ich sah zu, wie Carol verfiel. Wie sie sich schließlich von mir ab wandte, alt und gebrechlich, mit getrübtem Blick und keiner Liebe mehr fähig zu dem Mann, der ihr Enkelsohn hätte sein können. Ich blieb bei ihr, bis sie starb. Zurückgezogen von der Welt in ei nem einsamen Landstrich in Irland. Wir besaßen keine Freunde und Bekannten, die Fragen hätten stellen können. Damals kam mir der Gedanke, auch meinem Leben ein Ende zu bereiten. Ein gewaltsames Ende. Ich tat es nicht. Es wäre lästerlich gewesen Gott dem Herrn gegen über – der einzigen Macht, die mir Trost spendete. Trotz allem war ich ein gläubiger Christ. Nachdem ich Carol hinter dem Cottage begraben hatte, zog ich ru helos in die Welt hinaus, kaum länger als fünf, einmal gar zehn Jah re verweilend an einem Ort, bis mich die Unrast und die Blicke der
Menschen weitertrieben; bevor sie begannen, Neugierde zu zeigen. In dieser Zeit machte ich eine Entdeckung, die mir Hoffnung schenkte: Auch ich schien zu altern. Eine erste Falte, ein erstes grau es Haar – ich begrüßte sie wie Heilsboten. Doch es ging so langsam! Noch immer sah ich aus wie ein knapp Dreißigjähriger, obwohl mei ne Lebensuhr schon seit über siebzig Jahren tickte! Die Jahre wurden zur Qual. Ich weiß, niemand wird das verstehen können, ist Unsterblichkeit doch einer der größten Menschheitsträu me seit jeher. Doch es bedeutet einen großen Unterschied, zu träu men oder es zu sein. Die Zeiten waren hart und wurden noch härter durch die Indus trialisierung Anfang dieses Jahrhunderts. Was nutzt ewiges Leben, wenn der Körper darbt? Wenn man alle Zeit der Welt hat und nichts damit anfangen kann? Aus Unzufriedenheit erwächst Krieg. Als wieder einmal ein neuer begann – der größte der Menschheitsgeschichte, wie sich bald zei gen sollte –, faßte ich den Entschluß, in vorderster Front daran teil zunehmen. Meinem Gott gegenüber verheimlichte ich, aus welchem Grund dies geschah, und so verleugnete ich es auch gegenüber mir selbst. Die Welt geriet aus den Fugen, und die Völker Europas zerfleisch ten sich gegenseitig. In Frankreich entstand eine Front gegen das deutsche Kaiserreich, die mehr Menschen verschlang, als neue nach zurücken vermochten. Dies schien mir der rechte Ort, mein Schick sal herauszufordern. Ich schrieb mich, wie viele meiner Landsleute, in eine Rekrutie rungsliste ein, um die französische Armee zu unterstützen. Mit Fäh re und Zug ging es nach Paris, von dort weiter nach Reims und schließlich Verdun. Hier wartete der Tod.
Ich hatte ihn nie zuvor so deutlich und so grausam geschaut. Mei ne romantischen Vorstellungen vom Sterben hatten hier keine Be deutung. Es war ein schmutziger Tod, dem ich mich nicht wie ein Stück Vieh zum Fraße hinwerfen wollte. Das Wunder geschah. Mein Lebenswille erwachte wie aus langem Schlaf. Doch wofür? Ich sah, wie meine Kameraden fielen, wie sie elend krepierten im Bombenhagel und in den Giftwolken, die bei ungünstigem Wind zu uns herübertrieben. Wie sie von Bajonetten aufgespießt wurden und ihre zuckenden Körper im Stacheldraht tanzten, wenn bei den Deut schen »Preisschießen« angesagt war … Ein krächzender Schrei riß mich aus meinen Gedanken. »Attaque par les gaz!« Gasangriff! Die Bewegungen waren zur Routine geworden. Ich lehnte mein Gewehr an die Wandung des Grabens, hakte die Maske von meinem Gürtel los und schnallte sie mir aufs Gesicht. Die Welt um mich her um wurde auf zwei kleine, verschmierte Gucklöcher reduziert. Ich erstieg die wenigen Holzbohlen, die zum Rand des Grabens hinaufführten, und lugte über den Rand. Das Schlachtfeld zeigte sich in demselben schmutzigen Grau wie stets; selbst an hellen Sonnentagen schien das Licht nicht ganz bis zum Boden vorzudringen. Drüben, im Nordosten, ragte ein deut sches Geschützrohr gen Himmel. Und weiter links sah ich die tödli chen Schwaden aufsteigen. Südwind. Die Zeit des Senfgases. Schnell stieg ich wieder zum Grund des Schachtes hinab, bevor mich ein Scharfschütze aufs Korn nehmen konnte. Und da sah ich ihn.
Erst glaubte ich an eine Erscheinung, so unwirklich und deplaziert wirkte der hochgewachsene Fremde in dieser Umgebung. Er trug einen sauber rasierten Prince-Albert-Bart und hatte sich ein schwar zes Cape um die Schultern gelegt, so daß ich die Kleidung darunter nicht erkennen konnte. Ich bezweifelte, daß es sich um eine Uniform handelte. Als er näher kam, erkannte ich eine weiße Strähne in seinem schwarzen Haar, das an den Schläfen graumeliert war. Ich schätzte den Mann auf Mitte Fünfzig, vielleicht auch etwas älter. Und was mich schließlich auf ihn zustürzen ließ, war die Tatsache, daß er keine Gasmaske trug. Ich packte ihn bei der Schulter, zog ihn mit mir ein Stück den Schützengraben entlang und drängte ihn hastig in einen der Unter stände, die alle hundert Meter in den Schacht eingelassen waren. Teergetränkte Tücher dichteten den Zugang des knapp drei mal drei Schritte messenden Raumes ab und hielten das Gas fern. Ich entzündete die neben dem Eingang hängende Laterne, drapier te sorgfältig die Teertücher und riß mir dann die Maske vom Kopf. »Was zum Teufel glauben Sie hier zu tun?« fuhr ich den Fremden an. »Ohne Schutzmaske und Gewehr – wollen Sie sich umbringen? Wer sind Sie überhaupt, Mann?« Er sah mich nur lächelnd an und schlug sein Cape zurück. Darun ter kam die elegante Kleidung eines Gentleman zum Vorschein. Ich wollte meine Worte schon auf französisch wiederholen, weil ich dachte, er hätte mich nicht verstanden, als er mir seine englische Herkunft bewies. »Ich habe nicht die Absicht, aus dem Leben zu scheiden; ganz im Gegenteil«, entgegnete er leichthin, »auch wenn dieser Ort zugege benermaßen wie geschaffen dafür scheint. Nein, ich bin auf der Su che nach einem bestimmten Mann, und ich glaube, ich habe ihn ge
rade gefunden. Sind Sie John?« Erst war ich nur verblüfft; dann regte sich Mißtrauen – ein Gefühl, das der Krieg jeden Tag aufs Neue zu gebären scheint. »Wer will das wissen?« fragte ich und wiederholte: »Wer sind Sie?« »Ein Freund«, erklärte er, wohl wissend, daß mich dies als Ant wort nicht befriedigen konnte. Gleichzeitig griff er in seine Brustta sche und zog mit spitzen Fingern eine kleine flache Dose hervor. Noch bevor ich ein weiteres Wort sagen konnte, hatte er sie geöffnet und mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand eine weißliche Salbe daraus entnommen. Instinktiv wich ich zurück und hob das Gewehr. »Was … ist das?« fragte ich. »Was haben Sie vor?« Er lächelte wieder, aber es beruhigte mich keineswegs. »Ich bin auf der Spur des Lebens«, sagte er rätselhaft. Ich erschrak bis ins Mark. Kannte er mein Geheimnis? Woher? Für einige Augenblicke war ich wie erstarrt; eine Zeitspanne, die er nutzte, um zu mir aufzuschließen und mir die Salbe über beide Seiten des Halses zu streichen. Augenblicklich überkam mich eine merkwürdige Trägheit. Aller Widerstand schmolz dahin. Es war, als würde mein Geist sich trei ben lassen, ohne einen konkreten Gedanken zu fassen, und sich gleichsam öffnen. Das Gewehr entglitt meinen kraftlos gewordenen Fingern. Ich sah jetzt sein Gesicht dicht vor dem meinen. Auch in seinem Bart offenbarte sich graues Haar, und die Falten seiner Haut traten im flackernden Licht deutlicher hervor als draußen bei Tageslicht. Noch älter aber schienen seine Augen. Sie waren wie tiefe, uner gründliche Schächte, die zu verbotenen Mysterien führten. Dieser
Mann war kein gewöhnlicher Mensch. Trotz aller Gleichgültigkeit schauderte ich im Innersten. Der Mann beugte den Kopf und besah sich meinen Hals von bei den Seiten. Dann schien er etwas zu entdecken, denn er benetzte noch einmal seine Finger mit der Salbe und rieb über eine bestimmte Stelle. »Tatsächlich. Es sind die Male«, murmelte er im Selbstgespräch. »Kaum mehr zu sehen, aber vorhanden.« Dann griff er in eine andere Tasche und zog ein Amulett hervor, ein kreisrundes Ding von etwa zwei Inches Durchmesser mit einem sternförmigen Symbol darauf. Einen Augenblick sah er es versonnen an. Dann legte er es mir auf die Stirn.
* Der Kerker ist feucht; Wasser rinnt den porösen Stein herab und sammelt sich in Pfützen, die das Licht der Fackel widerspiegeln. Also regnet es draußen wieder. Das Wetter ist selten anders. Ich bin auf dem Weg zu ihr. Wie jeden Tag. Meine Herrin hat mir den Schlüssel zum Verlies gegeben; nur ich darf zu der Gefangenen, um ihr zu bringen, was sie braucht. Knarrend öffnet sich die Bohlentür. Dahinter herrscht ewige Nacht. Das Licht meiner Fackel fällt über den schlafenden Körper, auf Stroh gebettet. Vom Geräusch der Pforte und vom Lichtschein geweckt, richtet sie sich auf. Ihr Name ist Fee. Ich bringe nicht Wasser oder Nahrung. Ich bringe mich.
Wortlos begrüßt sie mich. Der Blick aus ihren dunklen Augen ist beredt genug. Ich stecke den Schaft der Fackel in die Halterung neben der Tür und knie vor ihr nieder. Sie empfängt mich mit inniger Umarmung. Wir haben nur uns. Ich bin ebenso ein Gefangener wie sie in diesen Mauern. Wie von selbst finden sich unser beider Lippen zu einem Kuß. Unsere Körper, der meine in grobes Leinen gekleidet, der ihre nackt, umschlingen einander. Schutz suchend und Geborgenheit. Ich kann ihre Gier spüren. Nicht nur das Verlangen nach meinem Kör per, sondern auch nach dem, was darunter pulsiert. Ihre schlanken Hände gleiten unter mein Wams und streifen es von mei nen Schultern. Mein Atem geht schneller. Der ihre nicht. Sie hat keinen Atem. Im unsteten Licht blicke ich auf ihre Brüste hinab. Obwohl ich weiß, was nach dem Akt folgen wird, überkommt mich das Verlangen. Ich lasse meine Hand über ihre Wangen und den Hals nach unten wandern. Ihr Fleisch ist kühl. Ich versuche zu verdrängen, daß es tot ist. Ihre Brüste sind voll und schwer. Ich streichle zärtlich darüber und füh le, wie sich die Warzen verhärten. Sie ist eine Frau. In diesen Augenblicken ist sie nichts anderes als eine liebende Frau. Wir lassen uns zurück ins Stroh sinken. Im Fallen streift sie meine Hose herab, und mein Glied, nicht mehr durch den groben Stoff beengt, springt empor. Sie umfaßt es fest mit ihrer Hand, daß ich zu explodieren glaube, und dämpft mein Stöhnen durch einen weiteren, leidenschaftlichen Kuß. Meine eigene Hand wandert tiefer. Ihr schlanker Körper windet sich un ter dem meinen; verlangend drängt ihr Schoß sich mir entgegen. Ich lasse meine Finger nur kurz bei ihrer Scham verweilen, denn ein
gänzlich anderer »Finger« verlangt nach seinem Recht. Als ich in sie eindringe, scheint mir ihr Körper mit einem Mal warm und lebendig. Wir vergessen, daß wir Gefangene sind, unter einer verfallenen Abtei im schottischen Hochland. Daß eine rothaarige Vampirin mit schwe felgelben Augen unser beider Kerkermeisterin ist. Daß Fee nicht mehr ist als ihr Versuchstier bei unheiligen Experimenten, die ich nicht zu durch schauen vermag. Fee klammert sich stöhnend an mir fest. Ihr Leib schmiegt sich so eng an den meinen, als wolle sie mit mir verschmelzen. Jeder Stoß meiner Lenden entfacht mehr und mehr ihre Leidenschaft. Und endlich, als ich die Hitze wie eine Welle in mir aufsteigen fühle, pressen sich ihre Lippen auf meinen Hals. Der Schmerz ist nur kurz. Ein brennendes Empfinden überrollt mich, stärker und köstlicher als je der Orgasmus, als sich ihre spitzen Zähne in meine Haut bohren, als ihre Zunge sanft das Blut aufleckt, das aus den Wunden quillt. Sie trinkt aus mir wie aus einem Gefäß. Doch nie so viel, daß mein Kör per der Schwäche anheimfallen würde. Als sie ihr Mahl beendet hat und ich mich zur Seite rolle, spüre ich ihren Blick auf mir. Ich wende den Kopf und blicke genau in ihre dunklen Augen. Traurigkeit glimmt darin. »Ich hatte einen Traum«, sagt sie leise. Ich warte, aber sie spricht nicht weiter. Also frage ich: »Welchen Traum?« Sind es Tränen, die in ihren Augenwinkeln glitzern? Ich dachte, Wesen wie sie könnten nicht weinen. »Meine … Mutter wird mich der letzten Prüfung unterziehen«, entgeg net sie. Ich schaudere, daß sie unsere Kerkermeisterin noch immer »Mut ter« nennt nach allem, was sie ihr schon angetan hat. »Danach wird alles anders sein. Vielleicht muß ich gehen. Vielleicht werde ich sterben.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ein würgender Kloß sitzt plötzlich in meiner Kehle. So beuge ich mich nur zu ihr hinüber und küsse ihre Augen
lider. In diesem Moment ertönt die Stimme. Ihre Stimme. »Genug. Es ist soweit. Ich werde dich prüfen.« Als hätte die Schwefeläugige Fees Worten gelauscht und nur darauf ge wartet. Ich springe auf und raffe meine Kleider zusammen. Auch Fee erhebt sich, langsam und resigniert. »Die Tür ist offen«, fährt die Stimme fort. »Geh hinaus. Folge der Treppe nach oben.« Ein letztes Mal sieht Fee mich an. Dann tritt sie ohne ein weiteres Wort durch die Tür. Ich bleibe wie betäubt im Kerker stehen, bis sich die körper lose Stimme an mich wendet. »Geh in deinen Raum und warte dort.« Ich gehorche. Wie immer. Zwei Stunden vergehen, die mich wie Tage anmuten. Die Ungewißheit über das Schicksal meiner Geliebten raubt mir die Ruhe. Wie ein gefange nes Tier (und viel mehr bin ich in der Tat nicht) schreite ich in dem klei nen, spärlich möblierten Raum auf und ab. Endlich öffnet sich die Tür. Sie steht im Rahmen. Meine furchtbare Herrin. Das schwarze Riemen kleid, das sie nie ablegt, umhüllt ihren verlockenden Körper. Eine schöne Larve, die mich nicht mehr zu täuschen vermag. »Komm her!« befiehlt sie mir, und ich zögere nicht. Und dann höre ich Worte, die ich nicht erwartet hätte: »Ich gebe dich frei.« Frei? Ich kann es nicht glauben. Die Abtei von Beinn Dearg verlassen – nach all den Monaten, in denen ich den Himmel nicht mehr gesehen habe? Sie hebt ihre Rechte und legt sie mir auf die Stirn. Um ihre vollen Lippen spielt ein unwägbares Lächeln. Dann kommt der Schmerz. Er ist das letzte, was ich empfinde, und er
trifft mich wie aus heiterem Himmel. Wischt beiseite, was sich in meinem Kopf angesammelt hat: die Erinnerungen, die Erfahrungen, aber auch alles Leid … Das Amulett löste sich von meiner Stirn und ließ einen Wirbel ver wirrender Gedanken zurück. Gedanken, die mir neu und fremd er schienen, und doch … Es waren meine Erinnerungen. Wie hatte ich Fee vergessen können? Die furchtbaren Monate un serer Gefangenschaft in Beinn Dearg? »Was …« Ich war nicht fähig, die Frage auszusprechen. »Verschüttetes Wissen, John«, entgegnete der Fremde. »Deine letz ten Erinnerungen, bevor dein Leben neu begann.« Es war wie ein Erwachen aus tiefem Schlummer. Nun wußte ich endlich um mein Schicksal. Wem ich dieses schier endlose Leben zu verdanken hatte. Fee. Ich mußte sie wiederfinden! »Wo … wo ist sie?« fragte ich. Meine Stimme klang heiser. »Deine Geliebte?« Der Bärtige seufzte. »Ich suche sie selbst, seit ich auf Menschen wie dich stieß. Sie ist eine Vampirin, aber ihr Biß hat nicht die üblichen Folgen. Du bist der erste, der von ihrer Herkunft wußte. Nun kann ich der Spur folgen.« Damit wandte er sich um und schickte sich an, den Unterstand zu verlassen. »Warten Sie!« rief ich ihm hinterher, doch er drehte sich nicht ein mal um. Und als ich mein Gewehr aufgenommen hatte und ihm in den Schützengraben folgte, war er schon nicht mehr zu sehen.
*
Elegant schwebte der Helikopter auf den kreisrunden Landeplatz nieder. Der gepflegte englische Rasen ringsum wurde von den Luft wirbeln erfaßt und in Wellen niedergedrückt. Liliths Blick ging zu den weitläufigen Gebäuden etwa zweihun dert Meter entfernt hinüber, die im letzten Licht der Sonne wie mit Blut übergossen aussahen. Es war ein prächtiges Anwesen, etwa zwanzig Kilometer nördlich von London gelegen, doch sie konnte sich nicht recht an der Pracht erfreuen. Der hohe, doppelt gezogene Zaun um das Gelände und die mit Hunden patrouillierenden Wäch ter, die sie kurz zuvor überflogen hatten, gaben dem Wohnsitz ihres unbekannten Retters den beklemmenden Hauch von Kasernierung. Sie waren vor einer knappen halben Stunde auf London Heathrow gelandet und ohne jegliche Formalität in den Helikopter umgestie gen. Ihr Gastgeber schien tatsächlich einen ausgesprochen guten Draht zu den Behörden zu besitzen. Nachdem Lilith nun sein Heim gesehen hatte, wunderte es sie nicht mehr. Geld regierte nun einmal die Welt. Mit einem kurzen Ruck berührten die Kufen des Hubschraubers den Asphalt. Sofort verringerte sich das Heulen der Rotoren. Randolph stemmte eine der Türen auf. Eiskalte Windböen fauch ten herein und rissen ihm die Worte von den Lippen. »Da wären wir! Herzlich willkommen!« Lilith und Beth gurteten sich los und folgten dem rotblonden Hü nen ins Freie. Unwillkürlich zogen sie die Köpfe ein, als sie unter den schwirrenden Rotorblättern durchhuschten. Liliths langes, mäh niges Haar schien ein Eigenleben zu führen und wirbelte wild um ihren Kopf. Beth war da mit ihrem kurzen blonden Haarschopf bes ser dran. Dafür schlang sie fröstelnd die nackten Arme um ihren Körper, während Lilith die Kälte weit weniger ausmachte. In Australien war der Januar die Zeit der größten Sommerhitze.
Hier in Europa bedeutete er Schnee und Temperaturen unter Null. Ihre sommerlichen Kleider waren hier absolut fehl am Platze. Ein Elektrokarren, etwas größer als die Exemplare, die auf Golf plätzen anzutreffen sind, stand am Rand des Landekreises bereit. Sie stiegen rasch ein, und Randolph nahm Kurs auf das Hauptgebäude. Es war im altviktorianischen Stil gehalten, dreistöckig mit einer weißen, säulenverzierten Fassade, etlichen Erkern und einem Bal kon im ersten Stock, der sich fast über die gesamte Vorderfront zog. Daneben fanden beiderseits zwei flachere Gebäude Platz, von denen eines aus Pferdeställen bestand. Das andere war wohl das Wohn haus des Gesindes. Das ganze Anwesen machte einen sehr gepfleg ten Eindruck. Der breite Plattenweg, auf den das Elektromobil jetzt einbog, be stand aus grauem Marmor und führte in Gegenrichtung schnurgera de zu einem kunstvoll gearbeiteten, schmiedeeisernen Tor. Es war ein Anblick wie aus einem historischen Roman, und doch schien ein … Schatten über dem Gebäude zu liegen. Lilith konnte die Empfin dung nicht präzisieren. Es war, als würde die weiße Fassade das Sonnenlicht nicht zurückwerfen, sondern einen Großteil davon in sich aufsaugen. »Ich habe ein verdammt komisches Gefühl«, ließ sich Beth neben ihr vernehmen. Ihr ging es offenbar nicht anders. Vor einer kurzen Freitreppe, die zur Eingangspforte hinaufführte, kam der Wagen zum Stehen. Randolph sprang hinaus und reichte Lilith galant die Hand. Sie übersah sie geflissentlich. »Wie wär’s jetzt mit ein paar Informationen?« forderte Beth und rieb sich die Oberarme. »Ich will meinem Herrn nicht das Vergnügen nehmen, Sie persön lich zu unterrichten«, wich Randolph abermals aus und wies die
Treppe hinauf. »Bitte gehen Sie doch schon hinein; ich kümmere mich um den Wagen und bin gleich wieder bei Ihnen.« »Lassen Sie sich ruhig Zeit«, knurrte Beth verstimmt zwischen den Zähnen hervor. Die äußere Pracht setzte sich nahtlos im Inneren des Gebäudes fort. Schon die Eingangshalle war atemberaubend. Zwei geschwun gene Freitreppen führten in den ersten Stock hinauf. Überall an den Wänden prangten Zeugnisse der Vergangenheit: Schilde und Rüs tungen aus dem Mittelalter, Gemälde und Statuetten aus der Re naissance, Reliquien aus vorchristlicher Zeit bis hin zu ägyptischen Totenmasken und Wandbildern. Von der Decke herab hing ein weit ausladender Kronleuchter wie ein diamantenes Gebirge, funkelnd in allen Regenbogenfarben. Schon nach ein, zwei Schritten waren Lilith und Beth überwältigt stehengeblieben. Dort standen sie immer noch, als von der Seite her ein altes, verhutzeltes Männchen an sie herantrat, dessen Livree ihn zweifellos als Butler auswies. »Ah, die Damen sind eingetroffen«, näselte er. »Ich mache dem Herrn sogleich Meldung. Bitte hätten Sie wohl die Güte, derweil im Salon zu warten?« Und er wies ihnen den Weg durch eine geöffnete Tür. »Thanks«, gab Beth bewußt lässig zurück. Vor solchen Typen hatte sie einen Horror. Dienstbeflissen bis zur Selbstaufgabe und ohne ei genes Rückgrat. Nein, das hier war nicht ihre Welt. Obwohl – man könnte eine Sto ry daraus machen. Je nachdem, was der Herr des Hauses auf dem Kasten hatte. Aber ob sie für Moe Marxx ausreichen würde? Sie betraten ein Zimmer, das zwar wesentlich kleiner als die Ein gangshalle ausgefallen war, aber immer noch übermäßigen Prunk zelebrierte. Ungewöhnlich für einen Salon war ein großer offener
Kamin an der Stirnseite des Raumes. Und noch viel ungewöhnlicher der gigantische Schädel, der darüber hing. »Was um alles in der Welt ist das?« entfuhr es Beth. »Cthulhu«, entgegnete der Butler nur und wandte sich um, seinen Herrn zu informieren. »Ksulu?« wiederholte Beth und sah Lilith fragend an, doch die zuckte nur mit den Schultern. Ihr unbestimmbares Gefühl hatte sich seit Betreten des Hauses noch verstärkt. Es war nichts wirklich Böses. Eher eine fremde Magie, die sie noch nie zuvor erfühlt hatte. Nun, was hatte sie erwartet? Bereits bei Randolphs Kampf gegen Landru war deutlich geworden, daß Magie im Spiel war. Anders hätte er den Mächtigsten der Vampire nicht vorübergehend aus schalten können. Beth MacKinsey hielt es nur wenige Minuten untätig aus. In dieser Zeit lief sie wie eine Tigerin im Salon auf und ab. »Ich werde hier nicht länger warten«, verkündete sie dann. »Was hältst du davon, sich mal ein bißchen im Haus umzusehen?« Eingedenk der fremden Magie hielt Lilith nicht sehr viel davon, aber sie wußte, daß sie Beth eh nicht hätte aufhalten können. Außer dem zehrte das Warten auch an ihren Nerven. »Okay«, willigte sie deshalb ein. »Schauen wir, was unser Gastge ber zu bieten hat …« Die Eingangshalle war verlassen; auch Randolph ließ sich nicht blicken. Unternehmungslustig schaute Beth sich um. »Trennen wir uns«, schlug sie vor. »Ich sehe dort nach, wo allge mein die Leichen versteckt werden: im Keller.« Lilith nickte abwesend. Ihre feinen Sinne hatten erspürt, woher der Hauch fremder Magie kam. Die Quelle schien im ersten Stock zu lie gen.
»Ich gehe nach oben«, sagte sie, froh, Beth in der anderen Richtung zu wissen. Und während die Reporterin die Türen der Halle nach einander öffnete, um den Abstieg nach unten zu finden, schritt Lilith eine der Freitreppen hinauf. Oben schloß sich ein etwa zwanzig Meter langer Gang an, in den links und rechts etliche Türen eingelassen waren. Auf dem Boden dämpfte roter Samt jeden ihrer Schritte, und auch hier waren die Wände mit zahlreichen historischen Gemälden geschmückt. Doch im Gegensatz zur Eingangshalle waren die Szenen darauf keine he roischen Darstellungen oder Schlachtengetümmel. Nein, die Bilder sahen aus, als wären sie allesamt von manisch-de pressiven Künstlern geschaffen worden. Die Farben Schwarz, Dun kelblau und Braun herrschten vor. Und sie handelten von Tod, Wahnsinn und Verdammnis. Zwei der Maler erkannte Lilith: Hie ronymus Bosch und Edvard Munch. Der Odem fremdartiger Magie wurde mit jedem Schritt, den Lilith sich tiefer in den Korridor hineinwagte, intensiver. Aber noch im mer hatte sie nicht das Empfinden, daß es sich um eine negative Aus strahlung handelte, auch wenn sie ihr das Atmen zunehmend schwerer machte und einen leichten Druck in ihrem Kopf hervorrief. Es mußte sich um unglaublich starke Schwingungen handeln. Schließlich stand sie vor einer Tür, hinter der sie den Ursprung der fremden Macht deutlich zu spüren vermeinte. Ein Siegel war in das Holz geschnitzt: ein fünfzackiger Stern, an dessen Spitzen unbe kannte Symbole prangten. Lilith fuhr leicht mit den Fingerkuppen darüber – und erschauder te. Selbst dieses Siegel atmete die fremde Magie. Der Türknauf war aus Silber und in Form eines seltsam verform ten Fisches gegossen. Er fühlte sich warm an, als Lilith ihre Hand darauf legte und ihn vorsichtig niederdrückte. Die Tür war nicht
verschlossen. Sie zog sie auf. Eine magische Welle schlug warnungslos über ihr zusammen. Lilith taumelte zurück, für Sekunden blind und taub. Ein Hauch wie aus tiefster Hölle hatte sie getroffen, und diese Magie war böse! Böser als alles, was sie bisher gespürt hatte. Böser als die Harpye auf dem Tempelberg in Nepal. Böser als der Dämon, der sich in den Wohnwagen in Corris Uchaf verborgen hatte. Böser noch als Land ru. Es dauerte lange, bis Lilith sich so weit von dem Schock erholt hat te, daß sie sich wieder der Tür nähern konnte. Sie erkannte, daß es kein Angriff gewesen war. Das Siegel auf der Tür mußte die dämo nische Ausstrahlung zurückgehalten haben. Und nachdem sie sich gegen die fremde Magie gewappnet hatte, gelang es ihr auch, den Raum zu betreten. Er war nicht dunkel. Auf einem kleinen Tisch stand eine altertüm liche Lampe und verbreitete sanfte Helligkeit. Doch niemand hielt sich hier auf; das Zimmer war verlassen. Schnell huschte Lilith hin ein und schloß die Türe hinter sich. Es war eine Bibliothek. Die Wände waren bis auf die letzte Hand breit mit Regalen bedeckt, in denen uralte, meist in Leder gebunde ne Bücher standen und lagen. Der Geruch nach vergilbtem Papier erfüllte die Luft. Nach unfaßbarem Wissen. Und über allem lag der fast körperliche Hauch des Verbotenen, Blasphemischen. Fast ehrfürchtig näherte sich Lilith dem Regal, das der Lampe am nächsten stand. Sie griff nach einem der Folianten – und zog die Hand im letzten Augenblick wieder zurück. Was war das? Noch einmal versuchte sie nach dem Buch zu greifen – und wieder gelang es ihr nicht, es zu berühren. Bizarr! Als würde etwas tief in ihr davor zurückschrecken.
Sie las den Titel auf dem Buchrücken. »Necronomicon«. Sie wich auf ein anderes Buch aus, und dieses Mal gelang ihr, es aus dem Regal zu nehmen. »Chaat Aquadingen« stand in verschnör kelten, kaum lesbaren Lettern darauf. Lilith schlug es auf. Die Seiten waren von Gilb überzogen und knirschten beim Umblättern, als wollten sie jeden Moment zu Staub zerfallen. Die Schrift schien flämisch zu sein, doch Lilith, der an sonsten keine Sprache der Welt Probleme bereitete, vermochte den Sinn der Worte nicht zu begreifen. Also legte sie den Band zurück. Bei den »Pnakotischen Manuskripten«, die sie als nächstes hervor zog, konnte sie nicht einmal die Sprache erkennen, in der sie verfaßt waren. Viele der Buchstaben sahen mehr wie Skizzen von Seegetier und verdorrten Pflanzen aus. Ein leises Geräusch ließ sie erstarren. Es klang, als hätte jemand im Raum eine Seite umgeblättert. Doch als Lilith herumfuhr, konnte sie niemanden sehen. Dafür fiel ihr etwas anderes ins Auge: ein Buch, das aufgeschlagen gleich neben der Lampe lag. Seltsam – sie hätte schwören können, es vorhin noch nicht an diesem Platz gesehen zu haben … Neugierig trat Lilith Eden näher. Die Schrift in diesem Werk, wenn auch von unsicherer Hand ver faßt, war ohne Schwierigkeiten zu entziffern; es handelte sich um neuzeitliches Englisch. Und nach einigen Sekunden erkannte Lilith, was sie da vor sich hatte. Ein Tagebuch. Der aufgeschlagene Eintrag datierte auf den 12. Juni 1995. Lilith nahm das Buch auf und ließ sich in einen Ohrensessel neben dem Tisch nieder. Das Licht der Lampe war schwach; Lilith drehte den Docht etwas höher, so daß die Schatten weiter in die Ecken des Raumes zurückwichen. Dann begann sie zu lesen …
* 12. Juni Endlich habe ich eine konkrete Spur gefunden. Ich folge einer Schaustel lertruppe, die in ganz England herumreist und die altertümliche Tradition hochhält, menschliche Mißbildungen zur Schau zu stellen. Ich hörte, daß unter den »Attraktionen« auch eine leibhaftige Vampirin sein soll. Ich wagte kaum zu hoffen, daß sie es ist, die ich nun schon so lan ge suche. Aber dann erfuhr ich den Namen, mit dem sie auf den Plakaten angekündigt wurde. Fee, die Vampirin. Sie ist es! Es kann kein Zufall sein. Zur Zeit gastiert die Truppe in Cardiff. Am späten Abend komme ich dort an, und obwohl die letzte Vorstellung schon lange vorüber ist, drängt mich die Ungeduld, nicht bis zum Morgen zu warten. Erste Zweifel überkommen mich, als ich vergeblich nach dem Plakat su che, das die Vampirin anpreisen soll. Und als ich in den Wohnwagen des Direktors – eines gewissen Grimaldi – eindringe, bestätigen sie sich. Fee ist nicht mehr hier. Ich unterziehe ihn meiner Untersuchung. Er trägt die Male am Hals und ist doch kein Vampir. Kein Zweifel: Ich bin auf der richtigen Fährte! Ich habe sie nur um wenige Wochen verpaßt! Verdammt! Wieder fühle ich, wie mein Körper auf die Enttäuschung reagiert, wie die Hoffnung, die ihn seit Jahren aufrecht hält, einen herben Rückschlag erlei det. Ich weiß nicht, wie lange ich diese Jagd noch durchhalten kann. Schon jetzt erledigt Randolph die meisten Nachforschungen für mich, weil meine Knochen mich immer öfter im Stich lassen. Schlafes Bruder hat schon die Arme nach mir ausgestreckt. Wenn ich
ihm entkommen will, muß ich sie bald finden, meine Fee. Grimaldis Hirn enthält nicht viele Informationen über sie. Sie hat ihm ihre Herkunft und ihr Geheimnis verschwiegen; wie allen anderen vor ihm auch, die ihre Opfer wurden und dafür das ewige Leben erhielten. Auch weiß er nicht, wohin sie sich gewandt hat. Die einzige Spur, die ich ihm entlocken kann, ist der Name einer weite ren Vampirin, mit der Fee zusammentraf, kurz bevor sie die Freakshow verließ. Lilith Eden aus Sydney, Australien. Eine andere Vampirin … seltsam. Nach meinen bisherigen Erkenntnis sen mied Fee stets die Angehörigen ihres Volkes, und diejenigen, auf die sie traf, überlebten die Begegnung nicht. Man sieht sie wohl als Bastard, als Ausgestoßene. Dafür spricht auch, daß sie mitten in einer Transformation erstarrte und nun zwei Fledermausschwingen anstatt Armen trägt. Mit dieser Lilith verband sie also mehr als nur die Rasse. Der Kontakt mit ihr könnte weitere Aufschlüsse bringen. Ich werde meine Suche in beide Richtungen fortführen. Mir bleibt nicht mehr allzuviel Zeit. Lilith starrte die Seite an. Fee! Die Erinnerung an die Vampirin – ein Experiment Felidaes aus Beinn Dearg – flutete in ihr Gedächtnis. Fee, die Verfluchte. Fee, der Krüppel, von der Schwefeläugigen mit ledrigen Schwingen gestraft. Fee, deren Biß nicht den Vampirkeim, sondern nur extreme Langle bigkeit brachte.* Jetzt wurde ihr einiges klar. Was ihr unbekannter Gastgeber vor hatte. Warum sie hier war. »Verstehen Sie nun?« fragte eine uralte, brüchige Stimme. *siehe VAMPIRA 12: »Freaks«
Lilith fuhr hoch. Mit dem Tagebuch in den Händen drehte sie sich im Raum, doch immer noch schien sie allein zu sein. »Ich bin hier«, klang wieder die Stimme auf. Lilith wirbelte herum – und da sah sie es. In einer der Ecken schien die Luft zu flimmern, als würde eine Wand aus Hitze vor den Bücherregalen schweben. Im nächsten Mo ment schwand der wabernde Vorhang – und gab eine Gestalt in ei nem Lehnstuhl frei. Es war ein greiser Mann. Sein graues Haar war gelichtet, aber noch voll genug, eine weiße Haarsträhne erkennen zu lassen, die ober halb der Nasenwurzel begann und sich über die rechte Kopfhälfte wie ein gezackter Blitz nach hinten zog. Ein eisgrauer Bart verdeckte Kinn und Wangen. Seine knorrigen Hände stützten sich auf einen Spazierstock, dessen Knauf aus einem großen Kristall bestand. »Gestatten Sie mir, daß ich mich Ihnen vorstelle, Miß Eden?« fuhr der Greis fort. »Mein Name ist Robert Craven. Man nennt mich auch den Hexer.«
* »Verdammt, auch das noch!« Beth zerquetschte einen Fluch zwischen den Lippen, während sie den Schalter neben der Tür vergeblich hin- und herbewegte. Es blieb dunkel. Sie konnte im Licht, das in spitzem Winkel von der Halle hereinfiel, nur die obersten zehn, fünfzehn Stufen erkennen, die steil nach unten führten. Beth kramte in den Taschen ihres erdfarbenen Kostüms, zu dem eine enganliegende Hose, ein beigefarbenes Sweatshirt und eine weite, ärmellose Weste gehörten, nach ihrem Feuerzeug. Als sie das
sturmfeste Ding, das Moskowitz ihr einmal geschenkt hatte, auf schnappen ließ, rissen die flackernden Flammen einen engen stei nernen Schacht aus der Dunkelheit. Das Ende der Stiegen konnte Beth nicht erkennen. Sie zog die Tür ins Schloß zurück – nicht ohne sich zu vergewis sern, daß auch an ihrer Innenseite eine Klinke vorhanden war – und tastete sich vorsichtig die Stufen hinab. Nach vierzig Schritten fragte sie sich, ob diese Treppe denn kein Ende nähme. Nach achtzig Stufen wünschte sie sich, nicht gefragt zu haben. Nach weiteren vierzig begann sie sich ernsthafte Gedanken über eine Umkehr zu machen. Doch ihre berufsbedingte Neugierde trieb sie weiter vorwärts. Die Wände des Abgangs, auf den ersten Metern noch weiß ge tüncht und leidlich sauber, verloren ihr neuzeitliches Aussehen, je tiefer sie kam. Erst endete der Verputz. Dann wurden die Ziegelstei ne von grob behauenen Brocken abgelöst. Und schließlich glitten ihre Finger über reinen Fels ohne Fugen. Und immer noch ging es tiefer hinab. Beth hob das Sturmfeuerzeug, das allmählich heiß in ihren Fingern wurde, höher über den Kopf und kniff die Augen zusammen. Das Bild blieb gleich: Stufe um Stufe reihte sich zu einem scheinbar end losen, fast unmerklich geschwungenen Weg hinab in den Bauch der Erde. Im nächsten Moment stieß sie einen spitzen Schrei aus, als etwas von der Decke herabfiel und auf ihrem Handrücken landete. Beth MacKinsey hatte sich bisher immer eingeredet, keine Angst vor Spinnen zu haben, aber das Exemplar, das jetzt in Windeseile über ihr Gelenk und den Unterarm auf ihren Kopf zukrabbelte, ver setzte ihr einen panischen Schrecken. Als sie mit der anderen Hand danach schlug, entglitt ihr das Feuerzeug, klirrte auf die Stufen –
und klappte zu. Das flackernde Licht erlosch. Das Krabbeln war noch immer da und erreichte ihre rechte Schul ter. Blind schlug Beth noch einmal zu und fühlte im nächsten Mo ment etwas Pelziges unter ihren Fingern zerplatzen. Für einen Augenblick drohte sie endgültig die Nerven zu verlieren und lauthals loszubrüllen. Aber sie fing sich im letzten Moment. An gewidert versuchte sie ihre Hand an der Felswand zu säubern. Au ßer daß sie sich die Knöchel aufschabte, erreichte sie nicht viel. »Ganz ruhig! Es ist alles in Ordnung. Kein Grund zur Panik«, ver suchte sie sich zu beruhigen, und tatsächlich gab ihr der Klang ihrer Stimme etwas Selbstbeherrschung zurück. Sie ging in die Hocke, stützte sich mit der Linken an der Wand ab und tastete mit der an deren Hand nach dem Feuerzeug. Allmählich begannen sich ihre Augen an die Dunkelheit zu ge wöhnen, und verwundert stellte sie fest, daß die Finsternis nicht ab solut war. Von unten her drang ein ganz schwacher, seltsam grünlicher Lichtschimmer zu ihr vor. Also konnte das Ende dieser Treppe nicht weit sein! Beth atmete auf, als ihre Finger auf die metallene Hülle des Feuer zeugs stießen. Sie nahm es an sich und ließ es erneut aufschnappen. Hätte sie zuvor nicht den schwachen Lichtschein bemerkt, Beth hätte sich spätestens jetzt auf den Rückweg gemacht, denn optisch hatte sich der enge Gang nicht im geringsten verändert. Nur daß jetzt an der Wand zu ihrer Linken eine blutige Schliere prangte, die sie sich lieber nicht näher ansehen wollte. Statt dessen zog sie ihr Ta schentuch hervor, wischte sich die Hand ab und ließ das Tuch an schließend fallen. Dann ging sie weiter, vorsichtiger nun und auf jede unangenehme
Überraschung gefaßt. Es sollte keine weitere mehr folgen. Unbeschadet erreichte Beth das Ende der Stufen. Wie viele mochten es gewesen sein? Sie hatte längst zu zählen aufgehört. Wie tief unter dem Haus mochte der Kellerraum liegen, den sie jetzt betrat? Es war eine relativ kleine Kammer und gewiß kein Gewölbe, wie sie es nach dem endlosen Abstieg insgeheim erwartet hatte. Der Raum maß etwa sechs mal vier Meter und war mit über drei Metern überdurchschnittlich hoch. An den Wänden waren einige Regale mit verstaubten Flaschen angebracht, beherrscht wurde der Raum je doch von einem Ungetüm von Standuhr. Beth trat näher an die Uhr heran – und entdeckte, daß drei der vier Zifferblätter über dem hölzernen Pendelkasten alles andere waren als normale Zeitmesser. Den Symbolen nach, die sich auf ineinander versetzten Scheiben drehten, konnten sie astronomische oder astro logische Bedeutung besitzen. Dann waren dies allerdings Sternbil der, von denen sie noch nie zuvor gehört hatte … Warum um alles in der Welt stand dieses Monstrum so tief unter der Erde und nicht dort, wo es hingehörte – auf dem nächsten Schrottplatz zum Beispiel? Beth strich mit den Fingern über das brüchige Holz des Uhrenkas tens, von dem bereits vor langer Zeit die Farbe abgeblättert war; nur rostbraune Fragmente hielten sich noch daran. Der Verschluß quietschte kläglich, als sie ihn drehte. Die Tür des Pendelkastens schwang auf. Und Beth fuhr mit einem Schrei zurück. Hinter dem Holz hing kein Pendel. Auch keine Mechanik, wie man sie bei einer Standuhr erwartet hätte. Nein, dort war … Beth fehlten die Worte, es zu beschreiben. Vor ihr öffnete sich eine
Art … Korridor. Kein Geheimgang. Und auch kein Gang im übli chen Sinne. Das Glühen, das sie in der Finsternis bemerkt hatte, hatte hier sei nen Ursprung. Es kam von grünlich phosphoreszierenden Wänden lebenden Gewebes, die sich dort erstreckten, wo eigentlich Fels hätte sein müssen, und die sich hin und her wanden wie das Innere eines gigantischen Wurmes. Weißliche, fast durchsichtige Fühler wie win zige Tentakel ragten überall aus dem bizarren Gewebe und schienen ihr zuzuwinken. Und dann legte sich etwas fest und schwer auf Beth’ Schultern. Ein schriller Schrei gellte auf und zitterte in ihren Ohren. Es dauer te Sekunden, bis sie begriff, daß es ihr eigener war. Wie von Sinnen wirbelte Beth herum – und blickte geradewegs in Randolphs häßliches Gesicht, im grünen Widerschein die Fratze des Satans persönlich. Der neuerliche Schock ließ ihren Schrei abrupt enden. Für einen Moment balancierte Beth’ Verstand auf dem schmalen Grad zum Irrsinn. Randolph packte ihre Handgelenke und blickte ihr fest in die Au gen. »Keine Angst!« sagte er eindringlich. »Kommen Sie zu sich! Es wird Ihnen nichts geschehen.« Der Balanceakt fiel zu Beth’ Gunsten aus. Mit einem Keuchen löste sich ihre Anspannung. Ihr ganzer Körper schien in sich zusammen zufallen. Ein Wunder, daß sie nicht ohnmächtig wurde. Randolph griff an ihr vorbei und drückte die Tür des Pendelkas tens ins Schloß. Trotzdem wurde es nicht dunkel im Raum. Mit ver schleiertem Blick erkannte Beth ein hell erleuchtetes Rechteck in der Wand hinter dem Hünen. Dorthin zog er sie, als er langsam rückwärts ging und sie dabei stützte. Mit einer unwirklichen Erheiterung registrierte Beth, daß es
sich um die Kabine eines Fahrstuhls handelte. »Reporterin hin oder her«, tadelte Randolph sanft, »Sie sollten nicht an Geheimnisse rühren, die drei Nummern zu groß für Sie sind.« Beth bekam ihre Zunge unter Kontrolle. Wenigstens halbwegs. »Was … was war das?« lallte sie. »Oh.« Einen Augenblick schien Randolph abzuwägen, ob er ihr antworten sollte. Dann sagte er: »Ein Weg zu Orten, die Sie nicht be treten sollten.« Und fügte hinzu: »Wenigstens nicht, solange Sie le ben.« Damit drückte er einen Knopf auf dem Kontrollpaneel des Auf zugs. Die Lifttüren schlossen sich, und die Kabine ruckte an. Es ging aufwärts.
* Unsicher taxierte Lilith ihr Gegenüber. Der alte Mann im Lehnstuhl schwieg und ließ ihr offensichtlich Zeit, die neue Situation zu verar beiten. Wie er so dasaß, regungslos inmitten dieser uralten Folian ten, wirkte er selbst wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Selbst sei ne Kleidung war altertümlich. Lilith ergriff die Initiative. »Sie sind Randolphs geheimnisvoller Auftraggeber«, stellte sie fest. »Und Sie sind Lilith Eden«, antwortete er. »Entschuldigen Sie bitte meinen dramatischen Auftritt. Ich mußte mir erst Klarheit über Sie verschaffen.« »Klarheit?« echote Lilith. »Die Bücher«, erklärte der Mann, der sich als Robert Craven vor gestellt hatte. »Wären Sie dem Bösen verhaftet, Miß Eden, hätten Sie
um ihre Bedeutung gewußt und versucht, Nutzen aus ihnen zu zie hen.« »Was sind das für Bücher?« hakte Lilith nach. »Man könnte die Welt damit aus den Angeln heben«, entgegnete der Greis mit einem unwägbaren Lächeln. »Aber keine Sorge; ich pflege solcherlei Ambitionen nicht. Es ist mein Schicksal, sie zu be wahren und von den bösen Mächten fernzuhalten … Doch ich habe Sie nicht herbringen lassen, um über Bücher zu reden.« Lilith legte das Tagebuch auf den Tisch zurück. »Sie suchen das Geheimnis der Unsterblichkeit.« Craven nickte. »Und Sie könnten der Schlüssel dazu sein.« »Sie denken an Fee.« Lilith schüttelte den Kopf. »Dann muß ich Ih nen –« Sie wurde unterbrochen, als die Tür zur Bibliothek aufschwang. Randolph polterte herein, Beth in seiner Begleitung. Lilith erschrak, als sie das Gesicht ihrer Freundin sah. Ein wirrer, gehetzter Ausdruck lag darin, und ihre Augen waren trübe, als hätte sie seit Minuten nicht mehr geblinzelt. Mit einem Schritt war Lilith bei ihr. »Lassen Sie sie los!« fuhr sie den grobschlächtigen Hünen an – und mußte im nächsten Moment erkennen, daß Randolph sie nicht mit Gewalt festgehalten, sondern nur gestützt hatte. Beth taumelte in ihre Arme und wäre fast gestürzt. »Was ist passiert?« kam der Greis Liliths Frage zuvor. Randolph vollführte eine hilflose Geste. »Sie war am Tor«, sagte er. »Ich kam gerade noch rechtzeitig, es wieder zu schließen.« Beim Stichwort »Tor« schien Beth in Liliths Armen aus einem Tag traum zu erwachen. Sie bäumte sich auf und sah die Halbvampirin
mit blicklosen Augen an. »Der Tunnel!« keuchte sie. »Da unten … der Tunnel!« Lilith erschauderte. Instinktiv suchte sie Beth’ Blick und hielt ihn fest. Ein Glitzern wie von Irrsinn lag darin. »Ganz ruhig!« befahl Lilith und zwang Beth ihren Willen auf. »Keine Gedanken mehr! Du denkst an nichts!« Beth erschlaffte in ihren Armen. Randolph sprang herbei, fing sie auf und ließ sie in den Sessel neben der Lampe sinken. Lilith fuhr zu Craven herum. »Was ist mit ihr passiert? Was hat sie gesehen?« »Ihre Freundin hat Glück gehabt«, erwiderte der Hexer ernst. »Wäre sie dem Einfluß des Tores länger ausgesetzt gewesen …« »Was ist das für ein Tor?« »Ein Tunnel in eine andere Dimension«, erklärte Randolph hinter ihr. Lilith wandte sich ihm zu. »Es existieren nur noch wenige Tore auf unserer Erde, eines davon tief unter diesem Haus. Ihre Freundin konnte wohl ihre Neugier nicht zügeln. Fast hätte es sie das Leben gekostet.« Lilith erkannte, daß Randolph keine Schuld an dem Geschehen traf; im Gegenteil. Wäre er nicht gewesen … Ein leises Stöhnen vom Sessel her ließ sie herumfahren. Der Greis hatte sich aus seinem Lehnstuhl erhoben und war zu Beth getreten. Lilith sah, wie er ein kreisrundes Amulett aus einer Tasche nahm. »Keine Sorge. Ich helfe ihr«, erklärte er – und legte das Amulett auf Beth’ Stirn. Dann berührte er es mit Daumen, Mittel- und Zeige finger der Rechten und verharrte sekundenlang in dieser Position. Als er die Hand zurückzog und das Amulett von ihrer Stirn nahm, schlug Beth die Augen auf.
»Was … ist passiert?« fragte sie und blickte sich ungläubig um. »Lilith! Wo bin ich hier? Wir waren doch gerade noch unten in der Halle. Was zum Teufel …« »Ich mußte Ihnen die Erinnerungen der letzten Minuten nehmen«, erklärte Craven und half ihr lächelnd auf. »Sie hatten Dinge gese hen, die ein Mensch nicht sehen sollte.« Beth’ Verwirrung nahm noch zu. »Lilith, was …?« »Alles in Ordnung«, beruhigte die Halbvampirin sie, ohne selbst vom Wahrheitsgehalt ihrer Worte überzeugt zu sein. Zu viele Fra gen standen noch offen. »Dieser Gentleman ist unser Gastgeber. Mister Robert Craven.« Der Greis deutete eine Verbeugung an. »Es ist mir ein Vergnügen, Miß MacKinsey«, sagte er. »Mir ist klar, daß Sie und Ihre Freundin Fragen haben; keine Sorge, ich werde alle zu Ihrer Zufriedenheit be antworten. Aber nicht hier in der Bibliothek. Was halten Sie von ei ner Tasse heißem Tee am Kamin?«
* Auch im Laufe des Gesprächs, das in einem gemütlich eingerichte ten Studierzimmer im Erdgeschoß stattfand, wußte Lilith nicht recht, was sie von Craven halten sollte. Der alte Mann schien gera dezu ein Konglomerat verschiedener Persönlichkeiten zu sein. Was nicht zuletzt an seinem Alter liegen mochte. »Einhundertsiebenunddreißig Jahre?« vergewisserte sich Beth gerade. »Ich wurde im Jahre 1859 geboren«, bestätigte Craven. »Das ist … unglaublich.« Beth schüttelte den Kopf. Craven lächelte ihr zu. »Nicht, wenn man es versteht, den Lauf der Zeit zu beeinflussen«, entgegnete er. »Ein guter alter Freund war
mir dabei eine große Hilfe.« Er blickte zu einem Gemälde über dem Kaminsims, das einen würdigen alten Gentleman mit schütterem Haar und Vollbart zeigte. Lilith gelang es, das kleine Messingschild darunter zu entziffern. »H. P. Lovecraft« stand darauf. »Auf dein Wohl, Howard. Gott sei deiner Seele gnädig«, fügte Cra ven seinen Worten hinzu und hob sein Glas. Er hatte es vorgezogen, sich von Henson, dem Butler, Brandy statt Tee einschenken zu las sen. Beth räusperte sich. »Sie sind also auf der Suche nach Unsterblich keit«, unterbrach sie Cravens wehmütige Erinnerungen. »Relative Unsterblichkeit«, präzisierte er. »Wie ich bereits sagte: Fees Opfer altern sehr wohl, dies jedoch extrem langsam.« »Und warum?« fragte Beth. Craven sah sie fragend an. »Warum was?« »Nun, ich meine«, druckste Beth herum, »wenn Sie … Nun, wären Sie ein junger Mann, der sein Leben noch vor sich hat, könnte ich Ih ren Wunsch verstehen. Aber – mit allem Respekt – Sie stehen am Ende Ihres Lebens. Was hat es Ihnen noch zu bieten, daß Sie es ver längern wollen?« Craven nickte bedächtig. »Ich schätze Ihre Offenheit, Miß MacKin sey«, gab er zur Antwort. »Aber die korrekte Frage ist: Was habe ich dem Leben zu bieten?« Er hob die Hand. »Lassen Sie mich erklären«, kam er Beth’ Frage zuvor. »Dieses Haus birgt Schätze, die einmalig auf der Welt sind. Nicht all der Prunk; der ist lediglich Fassade, um meine Sicherheitsvorkehrungen zu rechtfertigen, die das Königshaus mitfinanziert. Nein, ich rede von wirklichen Reichtü mern. Von Wissen, so alt wie die Erde selbst, das nur ein Erbe der Macht behüten kann. Die Welt, wie wir sie kennen, würde zerstört werden, geriete es in falsche Hände. Das ist der Grund. Ich darf ein fach noch nicht sterben.«
Seine Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern. »Ich hatte einmal einen Sohn«, fuhr er fort, »der mein Erbe antreten sollte. Die Mächte, gegen die ich damals kämpfte, haben ihn mir genommen.« Seine Stimme versiegte. Das flackernde Licht des Kaminfeuers brach sich in den Tränen, die in seine Augenwinkel getreten waren. »Und Randolph?« fragte Beth. leise. »Könnte er nicht …« Craven sah zu seinem Gehilfen auf, der ihm gegenübersaß und die filigrane Teetasse in seinen klobigen Pranken drehte. Seltsamerweise überstand sie diese Prozedur unbeschadet. Das Lächeln kehrte auf seine dünnen, unter dem grauen Bart kaum sichtbaren Lippen zu rück, doch seine Augen schwammen noch in Wehmut. »Randolph steht seinem Urgroßvater, der damals Howards Diener war, in nichts nach.« Ein flüchtiges Grinsen zog über sein Gesicht. »Nun ja, seine Aussprache läßt ein wenig zu wünschen übrig. Aber wie einst Rowlf ist Randolph kein Träger der Macht. Ein Erbe kann man nicht erlernen. Man wird hineingeboren.« Lilith hatte bis jetzt schweigend der Unterhaltung gelauscht, um sich ein genaueres Bild von Robert Craven zu machen. Er schien tat sächlich lautere Absichten zu haben. Es wurde Zeit, ihn zu enttäu schen. »Sie suchen also Fee«, erhob sie ihre Stimme. Alle Blicke richteten sich auf sie. »Es tut mir leid, Ihnen die Hoffnung rauben zu müssen – aber ich weiß nicht, wo sie sich aufhält. Nach unserer Begegnung in Corris Uchaf trennten sich unsere Wege. Ich habe sie seit damals nicht wiedergesehen.« Sie hatte erwartet, nun Enttäuschung und Verbitterung auf Cra vens Zügen zu lesen, doch dies geschah nicht. »Aber ich weiß, wo Fee sich aufhält«, entgegnete er. Lilith war wie vor den Kopf gestoßen. »Aber –« »Ich brauche Sie nicht, um Fee aufzuspüren, Miß Eden«, stellte er
klar. »Sie sollen sie befreien.« Während sich Lilith und Beth noch verblüfft ansahen, war Ran dolph aufgestanden, hatte eine große Papierrolle aus einem Schrank genommen und sie auf dem Tisch entrollt. Es war eine Landkarte Osteuropas. Auch Craven erhob sich mühsam aus seinem Sessel, trat an den Tisch und winkte den beiden Frauen, seinem Beispiel zu folgen. »Meine Nachforschungen haben ergeben, daß Fee in Rumänien ge fangengehalten wird, im Grenzland zum ehemaligen Jugoslawien«, sagte er und deutete auf einen Punkt etwa achtzig Kilometer nord östlich von Belgrad entfernt. »Hier, nahe dem Ort Râcâsdia, in einer unwegsamen Schlucht. Rumänien gilt ja seit jeher als Heimat der Vampire, wenngleich ich diesen Sagen selbst jetzt noch nicht allzu viel Bedeutung beimesse.« »Moment«, bremste Lilith seinen Redeschwall. »Wenn Sie doch wissen, wo sie ist – warum haben Sie sie nicht längst selbst befreit?« »Ich habe es versucht, glauben Sie mir«, entgegnete Craven. »Ich habe die besten Männer für diesen Job engagiert. Keiner von ihnen ist zurückgekehrt.« »Ich verstehe nicht –«, begann Beth. »Vampire, Miß MacKinsey. Fee ist in der Gewalt einer mächtigen Vampirsippe. Sie scheinen sich in diesem unzugänglichen Gebiet eine wahre Trutzburg errichtet zu haben.« »Und nun wollen Sie Feuer mit Feuer bekämpfen«, erkannte Lilith. Craven nickte. »Nur ein Vampir kann alle Hindernisse überwin den und bis zu Fee vordringen. Und vor allem: Nur ein Vampir kann sie lebend dort herausbringen.« »Und warum, meinen Sie, sollte ich das für Sie tun?« fragte Lilith, obwohl sie seine Antwort schon vorausahnte. Sie sollte recht behal ten.
»Weil Sie mehr mit Fee verbindet als das Erbe Ihrer Rasse. Ihre Seelenverwandtschaft ist unleugbar. Aber das ist nicht alles.« Er wandte sich zu seinem Gehilfen um. »Randolph berichtete mir von den Umständen Ihrer beider Flucht aus Sydney. Ich kann Ihnen eine neue Existenz verschaffen, wenn Sie es wünschen. Dort, wo Ihr Ver folger Sie nicht findet.« Die Blicke der Halbvampirin und der Reporterin trafen sich. Die Chance war unübersehbar. Und sie wog schwer. Wenn ihnen Craven nichts vormachte, war dies die Gelegenheit, Landru abzu schütteln, ohne ständig auf der Flucht zu sein. Lilith wandte sich an den Greis mit der gezackten Strähne im Haar. »Erklären Sie mir Ihren Plan.«
* Die drei Männer im Cockpit der viermotorigen Lockheed C-130K Hercules saßen schweigend an ihren Instrumenten. Nur die zahllo sen Lämpchen der Kontrollpulte erhellten den engen, mit Technik überfrachteten Raum. Draußen rasten graue Wolkenfetzen vorbei. Vereinzelt brach der volle Mond durch die tiefhängende Wolkendecke, unter der sich die britische Transportmaschine seit wenigen Minuten hielt – entgegen den Flugplänen. Der Kommandant hatte den Autopiloten und damit die automatische Kursberechnung abgeschaltet und steuerte die Hercules manuell. Der Funkoffizier sah zu ihm herüber. »Wieder eine Anfrage der Leitstelle«, sagte Lieutenant Cresborn. Seine Stimme klang unbeteiligt. Genau wie die des Piloten. »Ignorieren«, entgegnete Major Ten
nand knapp. Sie waren auf einem UN-Einsatz nach Dubovac, wo ein Lager für aus Bosnien vertriebene Serben eingerichtet worden war. Ihre La dung bestand aus Lebensmitteln und medizinischen Einrichtungen, die dort dringend benötigt wurden. Es war ein Routineflug – gewesen. Denn vor zehn Minuten hatte Major Tennand den Kurs eigenmächtig geändert und die Maschine unter die Radarerfassung gedrückt. Ein nicht risikoloses Unterfan gen eingedenk der serbischen Flugabwehrstellungen und der wild zerklüfteten Berglandschaft, die nur noch wenige hundert Meter un ter ihnen lag. Warum sie ihre Befehle mißachteten, wußten weder die beiden Pi loten noch Cresborn. Sie dachten nicht weiter darüber nach. Ihr neu es Ziel lag etwa achtzig Kilometer nordöstlich von Belgrad. Die Fracht, die sie dort abzuliefern hatten, war etwa einen Meter fünfundsiebzig groß, schwarzhaarig und hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Lebensmitteln oder medizinischem Gerät. Private Marc Hescott, seines Zeichens Frachtbegleiter des Fluges 917, wußte das durchaus zu schätzen. Auch für ihn waren die Reali täten neu geordnet worden, nachdem er zwischen der Ladung die blinde Passagierin entdeckt und diese ihm tief in die Augen geblickt hatte. Doch im Gegensatz zu seinen Kameraden im Cockpit verlief der Flug für ihn um einiges angenehmer. Das heißt – wenn er noch gewußt hätte, daß er sich in einem Transportflugzeug über Serbien befand. Aber das tat er nicht. Seine Realität bestand aus weichem weißem Sand an einer tropischen Süd seeküste. Er lag auf dem Bauch, ließ seinen Zeigefinger im Sand kreisen und blickte in die Brandung, in der sich der rote Feuerball der untergehenden Sonne spiegelte. Eben tauchte ein schwarzer Haarschopf aus den Fluten auf, gefolgt
von einer atemberaubenden Schönheit. Lachend watete sie durch das zurückströmende Meer, lief behende auf ihn zu und sank neben ihm nieder. Er wunderte sich nicht darüber, daß ihr nackter Körper schon trocken war, als sie sich über ihn legte und ihren Kopf neben den seinen schob. Gemeinsam beobachteten sie, wie die Sonne hin ter dem Horizont versank. Marc Hescott spürte ihre weichen Brüste auf seinem Rücken, wäh rend ihre Zähne lustvoll an seinem rechten Ohr zu knabbern began nen. Unter seinem Becken wurde es eng. »Runter mit dir!« keuchte er, als sein Glied immer stärker gegen den weichen Sand drängte. »Ich muß mich umdrehen.« Doch sie lachte nur und klammerte sich im Gegenteil an ihm fest, als er hin und her rollte, um sie abzuwerfen. Schließlich gelang es ihm doch, und sie kugelten lachend über den Strand, bis sie auf dem Rücken liegenblieb und er auf ihren Bauch zu sitzen kam. Sein Glied ragte nun in ganzer Größe waagerecht vor und stieß gegen ihre noch im Liegen vollen Brüste. Sie gewährte ihm Einlaß in das Tal dazwischen. Er rückte weiter vor – und wieder zurück. Wellen der Lust durch strömten ihn im Rhythmus der Meeresfluten, und ihr Rauschen ver einigte sich mit seinem Stöhnen, als sie das Spiel zu einem ersten Höhepunkt trieben. Kurz bevor er kam, ließ sie ihn frei. Er sank über sie und suchte ih ren Mund, um ihn mit einem Kuß zu versiegeln. Doch ihre vollen roten Lippen glitten über seine Wangen zum Hals hinab und leckten sanft darüber. Ihre Zunge war rauh, fast wie die einer Katze, und er schloß erwartungsvoll die Augen. Als der Schmerz kam, zuckte er nur leicht zusammen, denn er wußte ja, daß dies ihre Art von Sex war. Sie trank gierig sein Blut, darauf bedacht, keinen Tropfen zu ver
schwenden. Doch als eine leichte Mattigkeit seinen Körper in Besitz nahm, beendete sie ihr Mahl. Der Tag war zu schön gewesen, um ihn mit dem Tod zu beenden. Er ließ die Augen geschlossen. Noch immer rauschte die Brandung in seinen Ohren, aber nun mischte sich ein anderes, unangenehmes Rauschen darunter. Wie ein Radio, dessen Sender sich verstellt hat te. Auch die krächzende Stimme paßte dazu. »Wir sind in zwei Minuten am Ziel«, sagte die Stimme, ohne daß er den Sinn der Worte begriff. Lilith erhob sich von ihm. »Bleib ruhig hier liegen und schlaf eine Weile«, hauchte sie ihm zum Abschied ins Ohr. »Wenn du auf wachst, war alles nur ein Traum.« Der Soldat auf den Milchpulversäcken lächelte selig. Lilith schloß ihm seine tarnfarbene Armeehose. Auch ihr Symbiont, der sich zu vor zu einem breiten Gürtel geformt hatte, floß nun zurück. Sie gab ihm genaue Anweisungen, und er gestaltete sich zu einem Catsuit um, das ihren ganzen Körper wie glänzendes schwarzes Leder haut eng umhüllte und nur das Gesicht freiließ. In dieser Höhe herrschten da draußen etliche Minusgrade. Bis zur Metamorphose konnte es nicht schaden, gegen die Kälte geschützt zu sein. »Wir sind in einer Minute am Ziel«, sagte die Lautsprecherstimme aus dem Cockpit. Auch die Piloten hatten von Lilith genaue Instruk tionen erhalten. Dank Robert Cravens Verbindungen – die sich nicht nur auf offizi elle Kanäle beschränkten – war sie in diese Maschine gelangt. Da es sich um einen Transporter handelte, hatte sie sich lediglich mit vier Mann Besatzung befassen müssen – kein Problem für ihre hypnoti schen Kräfte. Die Soldaten würden bald wieder auf ihren regulären Kurs gehen und die Luftüberwachung informieren, daß sämtliche
Instrumente für einige Zeit ausgefallen waren. Davon würde sie auch keine noch so strenge Befragung abbringen können. Lilith tastete nach dem etwa daumengroßen Zylinder, der an einer Lederschnur um ihren Hals hing. Der kleine Gegenstand zeichnete sich deutlich unter der Hülle des Symbionten ab. Sie durfte ihn nicht verlieren. »Wir sind in dreißig Sekunden am Ziel«, gab die Stimme monoton durch. »Ich öffne jetzt die Luke.« Lilith suchte Halt an einer der sicher vertäuten Paletten. Im nächs ten Moment traf sie ein schneidend kalter Luftzug. Der Sog folgte augenblicklich, als die Frachtluke im Heck der Maschine langsam herunterklappte. Das Dröhnen der vier Turboprop-Motoren übertönte jedes andere Geräusch und schwoll noch weiter an, bis sich die Klappe ganz ge öffnet hatte. Lilith vermochte sich kaum noch festzuhalten. Wolken fetzen rasten links und rechts der nachtschwarzen Öffnung vorbei. Es kostete sie doch einige Überwindung, den sicheren Halt aufzu geben. Lilith tat es, bevor die Heckklappe sich wieder zu schließen begann. Die Welt wurde zu einem formlosen Wirbel. Der Sog endete ab rupt; dafür begannen eisige Windböen an Lilith zu zerren. Sie fiel. Aus den Augenwinkeln erhaschte sie einen letzten Blick auf die Hercules, bevor die gewaltige Maschine mit rund 550 Stun denkilometern in Dunkelheit und Wolken verschwand. Endlich bekam sie ihren Fall unter Kontrolle. Unter sich, näher als erwartet, lag die zerklüftete Landschaft Westrumäniens. Deutlich konnte sie in der Ferne die Lichter eines Dorfes ausmachen. Wenn alles nach Plan geklappt hatte, handelte es sich um Râcâsdia. Der eiskalte Fallwind begann ihren Körper trotz des schützenden Symbionten zu betäuben. Wenn sie länger wartete, würde sie viel
leicht nicht mehr in der Lage sein, die Transformierung einzuleiten. Lilith befahl ihrem »Kleid«, sich zurückzuziehen. Der Kälteschock überfiel sie wie ein Regen aus Abertausenden von Nadeln. Aber er weckte auch die tauben Glieder. Lilith konzentrierte sich. Wider Erwarten ging es ganz leicht. Sekunden später überzog ein dichter brauner Pelz ihren Körper. Und auch die Eindrücke ihrer Umgebung, die sie eben noch mit ih ren menschlich-vampirischen Sinnen empfangen hatte, stellten sich abrupt um. Eine große Fledermaus flatterte durch die Nacht, der Erde und Râcâsdia entgegen …
* Tief verschneit und wildromantisch lag die Landschaft im Mond licht vor ihr. Aber Lilith hatte keinen Blick für Naturschönheiten. Mit jedem Schritt versank sie bis über die Schenkel im lockeren Pul verschnee und wünschte sich, einige hundert Meter näher beim Dor frand gelandet zu sein. Aber sie durfte das Risiko einer Entdeckung nicht eingehen – noch nicht jedenfalls. Hätte man eine große Fledermaus bei der Landung und deren Metamorphose zu einer jungen Frau beobachtet, wäre ihre Identität enthüllt gewesen. Der Menschenschlag, der hier lebte, wußte um die Existenz von Vampiren. Es war nicht so wie in »zivilisierteren« Gegenden, wo Unglaube und vermeintliche Aufgeklärtheit einem Blutsauger Vor teile verschafften. Diese Menschen lebten in ständiger Furcht. Ihr Kampf gegen Vampire währte Generationen.
Der Symbiont hatte sich abermals verwandelt und umhüllte Lilith als langer, enganliegender Pelzmantel. Daß sie nichts darunter trug, wurde ihr bei jedem Schritt bewußt, wenn das eisige Naß ihre Scham berührte. Sie unternahm nichts dagegen. Irgendwie war es trotz der Kälte ein erregendes Gefühl. Sie hatte die ersten Hütten von Râcâsdia nun fast erreicht. Ein ver wittertes, fast zur Gänze eingeschneites Ortsschild bestätigte ihr, daß sie hier richtig war. Aber es war lediglich die erste Station. Sie mußte herausfinden, wo die Residenz der Vampirsippe lag. Nur in zwei, drei der niedrigen Häuser glomm noch Licht – kein elektrisches, sondern flackernder Feuerschein. Lilith konnte auch nirgends Oberleitungen entdecken. Dieses Dorf schien nicht einmal über Strom zu verfügen! Unglaublich … Der leichte Schneefall hatte in den letzten Minuten zugenommen und den Pelz des Symbionten mit einer feinen weißen Schicht über zogen. Auch Liliths Haar färbte sich allmählich weiß. Selbst wenn einer der hiesigen Einwohner in diesem Moment aus seinem Fenster blickte, war es zweifelhaft, ob er sie überhaupt entdeckt hätte. Sie erreichte den kleinen Dorfplatz. Hier war am Tage der Schnee wohl geräumt worden, denn er reichte ihr nur noch bis knapp über die Knöchel. Lilith ging noch ein paar Schritte weiter und sah sich um. Wohin sollte sie sich nun wenden? Da fiel ihr Blick auf die Silhouette der Dorfkirche. Sie überlegte kurz. Ja, der Pope. Er müßte die beste Hilfe bei ihrer Suche nach den Vampiren sein. Schließlich oblag es ihm, die Mittel zu deren Be kämpfung für das Dorf bereitzustellen. Trotzdem vermochte Lilith sich nicht recht mit dem Gedanken an zufreunden, ihm einen Besuch abzustatten. Einerseits lag das an ih
ren bisherigen Erfahrungen mit Gottesmännern; wie jener mit Pater Lorrimer, der – glücklicherweise erfolglos – den Exorzisten heraus gekehrt hatte, oder mit dem besessenen Pfarrer von Llandrinwyth, der ihr den Teufel nicht hatte aus-, sondern eintreiben wollen. Au ßerdem war sie als Halbvampirin nicht gänzlich gegen christliche Symbole gefeit. Zwar ertrug sie die Atmosphäre eines Gotteshauses, aber auf einen direkten Kontakt mit einem Kreuz wollte sie es nicht ankommen lassen. Dann aber sah sie in dem Gebäude, das sich, einem ängstlich ge duckten Tier gleich, neben die Kirche schmiegte, ein Licht auffla ckern. Offensichtlich war der Dorfpope noch auf den Beinen. Sie schlich sich näher an das Pfarrhaus heran und lugte durch ei nes der mit Eisblumen überwucherten Fenster. Vage konnte sie Be wegung dahinter ausmachen, einen dunklen Schatten, der rastlos im Raum umherwanderte. Liliths Entschluß stand fest. Sie umrundete das Haus, bis sie vor einer niedrigen Pforte stand. Der Ton, mit dem der Türklopfer auf das Holz traf, schien ihr über laut; als sollte das ganze Dorf davon erwachen. Hinter dem Holz erklang ein Schnaufen wie von einem verärger ten Walroß. Schwere Schritte näherten sich der Tür und verharrten dicht dahinter. Durch das Schlüsselloch drang ein dünner Licht strahl nach draußen und malte eine glitzernde Spur durch die wir belnden Schneeflocken. »Wer ist da?« polterte eine Stimme, die das Bild eines gütigen, all zeit hilfsbereiten Gottesmannes gar nicht erst aufkommen ließ. »Was willst du zu dieser Stunde?« Lilith verstand die Worte, wie sie jede Sprache der Welt verstand, und sie antwortete auf rumänisch: »Entschuldigt die Störung, Pope. Ich bin auf der Durchreise und habe einige Fragen an Euch.«
Für einige Sekunden trat Ruhe ein. Der Priester hatte wohl kaum mit fremdem Besuch gerechnet, noch dazu in solch einer verschnei ten Nacht. Aber er besann sich schnell und hantierte am Schloß her um. Ein Riegel rumpelte zur Seite. Die Tür schwang nach innen auf. Lilith stand einem undefinierbar alten Mann gegenüber, dessen verfilzter Bart bis weit über die Brust floß und dessen kleine, rotge ränderte Augen sie mißtrauisch musterten. Nein, ein Paradebeispiel für einen Popen war dieser Mann gewiß nicht. Sein ehemals wohl brauner Hausmantel war schäbig und an unzähligen Stellen geflickt. Durch die Spitzen der Filzpantoffel, die darunter vorlugten, sah sie seine knotigen Zehen. Aber welche Ansprüche konnte man schon stellen in einem Dorf, das das letzte Jahrhundert verschlafen zu haben schien? »Wer sind Sie?« blaffte der Pope Lilith an und machte keine An stalten, zur Seite zu treten und sie hereinzubitten. »Ich bin auf einer Mission hier«, entgegnete Lilith bewußt geheim nisvoll und lächelte ihr Gegenüber freundlich an. »Ich könnte Ihnen Näheres darüber verraten, wenn …« Sie beendete den Satz nicht, und endlich verstand er und ließ sie eintreten. Gleichzeitig schien seine erste Verärgerung abzuflauen. Wahrscheinlich nicht zuletzt, weil Lilith in den Lichtkreis trat, der aus der Tür fiel, und er sie genauer erkennen konnte. Bisher hatte je dem Mann gefallen, was er sah. Der Priester rammte die Tür ins Schloß zurück und keuchte hinter Lilith her in die Stube. »Äh … bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit«, holte er Ver säumtes nach. »Sie werden verstehen, daß ich nicht auf … so char manten Besuch vorbereitet war.« Nun überzog sogar ein Lächeln seine wulstigen Lippen unter der unförmigen roten Nase. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ihnen wird doch gewiß kalt sein.«
Lilith verspürte zwar keinen Durst auf weltliche Getränke, wollte seine Freundlichkeit aber nicht zurückweisen. »Gern«, sagte sie des halb. »Einen heißen Grog?« fragte er und wies auf einen kleinen Kessel über dem Kaminfeuer. »Ich habe mir eben welchen aufgesetzt.« Keine zwei Minuten später saßen sie sich in gemütlichen Sesseln gegenüber, bauchige Tassen mit Rum und Zuckerwasser in den Händen. Lilith hatte aus naheliegenden Gründen darauf verzichtet, ihren Pelzmantel abzulegen. Sie tat so, als friere sie noch immer. »Nun«, brachte der Pope, der sich ihr als Pavel Stancu vorgestellt hatte, die Unterhaltung wieder in Gang, »was führt Sie also zu mir?« Lilith beschloß, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. »Sie wissen um die Existenz des Bösen?« fragte sie – doch nicht so ganz gerade heraus. Er zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Des Bösen? Sicher gibt es das Böse. An welche seiner mannigfaltigen Formen denken Sie, Fräulein?« »Vampire.« Lilith konnte sehen, wie der Pope zusammenzuckte. Fast hätte er den Grog über seinen grauen Bart verteilt. Seine Reaktion sprach Bände. »Sie müssen es nicht leugnen«, schlug sie einen vertraulichen Ton an. »Ich weiß von der Vampirsippe, die hier in der Gegend ihr Un wesen treibt. Ich bin hier, um sie unschädlich zu machen.« »Vampire?« Schweißtropfen glitzerten plötzlich auf seiner Stirn. »Es tut mir leid, aber ich weiß nicht –« »Sie können mir vertrauen«, unterbrach Lilith ihn und legte einen beschwörenden Unterton in ihre Stimme, ohne jedoch ihre hypnoti schen Kräfte einzusetzen. Sie war bestrebt, dieses Mittel nur dann
einzusetzen, wenn es anders nicht ging. »Wer schickt Sie?« fragte Stancu mit gepreßter Stimme. »Die Re gierung?« Warum nicht? »Ich … darf darüber keine Auskunft geben«, bestä tigte ihm Lilith seinen Verdacht. »Aber Sie sollten wirklich Ihr Wis sen mit mir teilen.« Für lange Augenblicke saß er nur reglos da und starrte sie an. Dann schien er sich zu einem Entschluß durchgerungen zu haben. Er stand ächzend auf und stellte die Tasse beiseite. »Bitte warten Sie hier«, bat er sie. »Ich hole einige Unterlagen von nebenan.« Und verschwand eilig durch eine Tür ins Nebenzimmer. Es dauerte geschlagene drei Minuten, bis Stancu zurückkehrte. Aber er trug weder einen Aktenordner noch anderweitige Unterla gen bei sich. Und er war auch nicht mehr allein. »Dies hier ist Lucian«, stellte er den grobschlächtigen Mann an sei ner Seite vor. »Er kennt sich bestens aus in den … Belangen, die Sie interessieren.« Der Mann, in einen Pelzmantel, eine derbe Leinenhose und hohe Lederstiefel gekleidet, drehte seinen breitkrempigen Hut in beiden Händen. Er trat einen Schritt auf Lilith zu, wischte seine Rechte um ständlich an der Hose ab und reichte ihr die Pranke, die Lilith un willkürlich an Randolph erinnerte. Sie erhob sich halb aus dem Sessel und gab ihm die Hand. Im nächsten Moment fühlte sie sich emporgerissen. Der Ruck he belte ihr fast den Arm aus dem Gelenk. Mit einem Schrei prallte sie gegen Lucian, der rasch mit der Lin ken nachgriff und sie packte. Alles ging so schnell, daß Lilith keine Zeit zur Gegenwehr fand. Der Kerl wirbelte sie herum. Sein Arm rutschte zu ihrer Kehle em
por und drückte sie zusammen. Im nächsten Moment reagierte der Symbiont. In ihrem Nacken schien der Pelz zu Stein zu erstarren, direkt unter Lucians Kinn. Dann weitete er sich blitzschnell nach oben aus. Der Schlag traf den Angreifer genau auf den Punkt. Lucian stöhnte auf, ließ Lilith los und taumelte zurück, geradewegs in die Arme des Popen, der hinter ihm gestanden und nicht mitbekommen hatte, was seinem Handlanger widerfuhr. Lilith nutzte die Chance, versetzte Lucian noch einen Stoß, der Stancu gleich mit zu Boden riß, und war mit ein paar schnellen Schritten bei der Tür. Sie hatte die Überraschung rasch überwunden. Obwohl sie nicht begriff, was sie verraten hatte. Aber die Menschen hier waren im Umgang mit Vampiren eben erfahrener als die Normalbevölkerung. Irgendwie mußte der Pope ihre wahre Identität durchschaut haben. Sie riß die Tür auf, die ins Freie führte. Und prallte im selben Moment wieder zurück. Vor dem Pfarrhaus hatte sich eine Menschenmenge versammelt, hauptsächlich Männer, aber auch einige Knaben und zwei, drei Frauen. Sie alle waren mit den verschiedensten Waffen bewehrt. Für einen Moment standen sie sich wie erstarrt gegenüber, die Menschenmenge und die Halbvampirin. Dann flog ein Messer auf Lilith zu und bohrte sich nur Zentimeter von ihrem Kopf entfernt ins Holz. Das war das Signal. Mit einem vielstimmigen Schrei stürmten die Menschen auf Lilith zu. In ihren Augen lagen Haß und blanke Mordlust. Zu spät, den Rückzug anzutreten. Vielleicht zu spät, lebend zu entkommen.
Aber nicht, sich so gut wie eben möglich gegen die Übermacht zu wehren. Lilith duckte sich und reckte fauchend die Arme vor. In Sekunden schnelle wuchsen ihre Fingernägel zu spitzen Krallen. Auch die Eck zähne im weit geöffneten Mund schoben sich vor. Ihre grünen Au gen schienen mit einemmal zu glühen. Ihr ganzes Gesicht nahm einen animalischen Zug an, eine Fratze, die zartbesaitete Gemüter allein in die Flucht zu schlagen vermochte. Auch auf die Dorfbewohner verfehlte die Metamorphose ihre Wir kung nicht. Aber sie fiel gänzlich anders aus, als Lilith es erwartet hatte. Der Vorsturm geriet ins Stocken und endete nach zwei weiteren Schritten ganz. Wieder erscholl ein vielstimmiger Schrei, doch dies mal ähnelte er einem devoten Jammern. Die Menschen in vorderster Front fielen vor ihr in den Schnee und schlugen die Hände über den Köpfen zusammen. Die Waffen – un ter denen sich, wie Lilith erst jetzt bemerkte, kein einziges Kreuz be fand – wurden davongeschleudert. Eben noch das Ende vor Augen, von einer wütenden Meute buch stäblich zerrissen zu werden, sah Lilith sich plötzlich einer völlig verängstigten Menschenmenge gegenüber. Ratlos blieb sie stehen, wo sie war. Bis sie in ihrem Rücken eine Bewegung bemerkte und, noch immer halb in ihrer Metamorphose begriffen, herumfuhr. Der Pope stand vor ihr, und er wirkte ebenso devot wie die restli chen Dorfbewohner. Jetzt fiel er sogar vor ihr auf die Knie. »Verzeiht mir, Herrin«, jammerte er. »Ich wußte nicht, daß Ihr uns prüfen wolltet. Verschont mein Leben … und das meiner Gemeinde«, fügte er rasch hinzu, als er sich seiner hiesigen Rolle be wußt wurde. Herrin? Prüfung?
Liliths Gedanken rasten. Was hatte das alles zu bedeuten? Doch sie schaltete schnell, auch wenn sie weit davon entfernt war, des Rätsels Lösung zu erkennen. »Erhebt euch«, befahl sie der Menge und verlieh ihrer Stimme einen harten Klang. »Geht nach Hause.« Die Menschen gingen nicht, sie krochen geradezu davon. Auch der Priester wagte sich nicht zu erheben. Aber wenigstens redete er wei ter wie ein Wasserfall. »Ihr müßt verstehen, Herrin«, jammerte er. »Ich habe Euch noch nie zuvor hier gesehen und konnte nicht wissen, daß Ihr zu den Herren gehört. Glaubt mir, daß wir alle hier wie ehedem nach Eu rem Willen handeln. Jeden Fremden, der in unser Dorf einkehrt, bringen wir den Herren zum Opfer, jeden, ohne Ausnahme. Ich dachte, auch Ihr wäret eine Fremde; verzeiht mir. Hätte ich gewußt –« »Genug!« befahl ihm Lilith. Sie hatte verstanden. Und wußte, wel che Rolle sie spielen mußte. Offensichtlich hatten die Vampire dieses ganze Dorf unter ihre Kontrolle gebracht. Die Bewohner waren keine Dienerkreaturen; das hätte Lilith sofort gespürt. Aber sie standen unter dem Bann der Sip pe. Wahrscheinlich hatte man sie mit dem Keim infiziert, ohne sie zu töten, und damit zu menschlichen Sklaven gemacht. Der Priester entblößte seinen Hals und reckte ihn in Liliths Rich tung. »Wollt Ihr von mir trinken, Herrin?« fragte er unterwürfig. Unfaßbar! Lilith schauderte. Die Vampire hielten diese Menschen wie Vieh, um sich aus ihnen zu ernähren! »Nein«, wies sie den Alten angewidert zurück. Es fiel ihr schwer, die Fassung zu bewahren. »Ich bin nicht durstig.« Sie deutete ins Haus. »Gehen wir wieder hinein.«
Als sie in die Stube traten, wieselte Lucian mit gebeugtem Kopf und ohne Lilith anzublicken an ihnen vorbei. Wahrscheinlich rech nete er jeden Moment damit, im Vorübergehen von ihr getötet zu werden für den Frevel, eine Herrin angegriffen zu haben. Als er un verletzt die Schwelle erreichte, gab er Fersengeld, daß der Schnee hinter ihm aufstob. Lilith schloß die Tür und wandte sich an Pavel Stancu. »Du hattest recht; ich war noch nie hier im Dorf«, sagte sie mit har ter Stimme. »Ich komme von einer anderen Sippe und bin auf dem Weg zu deinen Herren. Und ich werde ihnen berichten können, daß du getreu nach ihren Befehlen handelst.« Zufrieden sah sie, wie sich Erleichterung auf seinem Gesicht abzeichnete. Doch zuviel Zucker brot wollte sie ihm nicht zugestehen. »Aber ich erwarte auch unbe dingten Gehorsam mir gegenüber«, fuhr sie daher fort. Er beugte sein Haupt noch tiefer hinab. »Alles, was Ihr befehlt«, murmelte er. »Dann weise mir den Weg zur Sippe«, forderte Lilith ihn auf.
* Es war nicht nur eine Trutzburg im übertragenen Sinne; es war eine Burg. Lilith konnte ihre klobigen Mauern durch das Schneegestöber kaum erkennen. Nicht zuletzt, weil das Gemäuer fast mit dem Ge stein der Felsnadel verschmolz, an dessen Spitze es aufragte. »Dies ist der Ort«, sagte der Pope mit zitternder Stimme. Dichte Dunstschwaden wallten aus seinem Mund und brachten die Eiszap fen in seinem Bart zum Schmelzen. Er fror erbärmlich und trat fort während von einem Fuß auf den anderen. »Gut«, entgegnete Lilith und sah streng auf den Priester hinab.
»Nun geh zurück ins Dorf, bis wir dich wieder brauchen.« Dankbar und nach etlichen tiefen Verbeugungen wich der Pope zurück, drehte sich dann um und eilte, erstaunlich gewandt trotz seiner Leibesfülle, von dannen. Die Angst verlieh ihm Flügel. Das brachte Lilith zu ihrem Vorhaben zurück. Sie wandte sich wie der der Felsnadel zu. Die Residenz der Vampirsippe war geschickt gewählt. Der Felsen ragte gut vierzig Meter steil in die Höhe, und es gab keine Möglich keit, ihn ohne Hilfsmittel zu erklimmen. Wer die Burg erreichen wollte, mußte Flügel besitzen. Kein Problem für Lilith. Der Symbiont zog sich routiniert zurück, als sie die Transformati on zur Fledermaus einleitete. Nur der Zylinder um ihren Hals blieb unverändert. Auf Lederschwingen erhob sich Lilith in das nächtli che Schneegestöber. Obwohl es eher unwahrscheinlich war, mußte sie mit Wachtpos ten rechnen. Dementsprechend vorsichtig umkreiste sie den Felsen bis zu den Zinnen der Burg empor. Zwischen Mauer und Abgrund fand sie an einer Stelle einen wenige Zentimeter messenden Vor sprung. Hier ließ sie sich nieder, verwandelte sich zurück und ver anlaßte den Symbionten, die Form des schon bekannten schwarzen Catsuits anzunehmen. Dicht an die groben Steine gepreßt lauschte sie auf verdächtige Geräusche. Und tatsächlich registrierte ihr feines Gehör, das, wie alle ihre Sin ne, schärfer ausgeprägt war als bei sterblichen Menschen, jenseits der Mauer die Schritte zweier Männer. Lilith versuchte die Wortfet zen zu verstehen, die zu ihr herüberdrangen. »… bald zurück … Dann können wir … beenden«, sagte eine Stim me, und eine andere: »… dahin … ich mich … vergnügen …« Dann knarrte eine Tür in ihren Scharnieren, und das Gespräch endete ab
rupt. Behutsam erklomm Lilith die letzten Mauersteine und lugte zwi schen den Zinnen hindurch. Vor ihr lag, hinter einem schmalen Wehrgang, eine weitere Mauer, in die zwei große Butzenglasscheiben eingelassen waren. Offenbar handelte es sich bereits um den bewohnten Teil der Burg. Ange sichts des knappen Raums auf dieser Felsnadel – immerhin noch gut zwanzig Meter im Durchmesser – hatte man wohl auf einen Burghof verzichtet. Lilith glitt schattengleich über die Zinnen und duckte sich unter ei nem der Fenster. Deutlich fühlte sie die Anwesenheit von Vampiren. Daß die Bewohner sie nicht gleichfalls spürten, lag ganz einfach dar an, daß sich mehrere Blutsauger hier aufhielten. Vampire konnten zwar die Nähe eines Artgenossen erkennen, nicht aber dessen Iden tität. Einer mehr in der Menge fiel ihnen nicht auf. Für zwei Minuten blieb Lilith in ihrer Stellung, dann schlich sie ge duckt auf die Tür zu, in der schon die beiden Vampire vor ihr ver schwunden waren. Es war ein Wagnis, sie zu öffnen, aber unum gänglich, wollte sie ins Innere der Burg gelangen. Sie gab den Scharnieren keine Gelegenheit, sie zu verraten, indem sie die Pforte millimeterweise aufzog, und auch nur so weit, daß sie durch den Spalt schlüpfen konnte. Ein dunkler, etwa sechs Meter langer Gang nahm sie auf. Es roch stickig hier drinnen und nach verbranntem Talg. Vier weitere Türen zweigten von dem Korridor ab, an dessen Ende eine Treppe in en gen Windungen nach unten führte. Die Türen waren das eindeutig größere Risiko, also entschloß Li lith sich, der Wendeltreppe zu folgen. Nach jedem Schritt verharrend und auf jedes Geräusch lauschend, gelangte sie über ein Zwischenstockwerk mit einer weiteren Pforte
zum Fuß der Treppe und in einen neuerlichen Gang, ebenfalls von vier Türen durchbrochen. Bei der ersten blieb sie stehen und legte ihr Ohr an das rissige Holz. Dahinter herrschte absolute Stille. Lilith drückte die Klinke nieder. Die Tür war nicht verschlossen. Vages Licht fiel durch ein einzelnes Fenster in den Raum. Unwill kürlich mußte Lilith grinsen. War es Ironie oder ein bizarrer Scherz der hiesigen Sippe, daß das Fenster ausgerechnet die Form eines Kreuzes besaß? Nun, solange ein Priester es nicht geweiht hatte … Der Raum war voll mit Fässern und Kisten und unförmigen Eisen rohren. Erstaunt erkannte Lilith, daß es sich bei letzteren um alter tümliche Haubitzen handelte. In den Fässern wurde Schwarzpulver gelagert. Und als sie den morschen Deckel von einer der Kisten hob, wölbten sich ihr schwere, faustgroße Eisenkugeln entgegen. Kano nenkugeln! Sie war in der Waffenkammer gelandet – ganz offensichtlich ein seit Jahrhunderten nicht mehr genutztes Relikt der früheren Bur gherren, denn überall häufte sich eine zentimeterdicke Staubschicht und spannten sich uralte, ebenfalls verstaubte Spinnweben. Lilith verließ den Raum wieder und wandte sich der nächsten Tür zu. Verschlossen. Aber als sie noch versuchte, die Klinke niederzudrücken, vernahm sie aus der gegenüberliegenden Kammer ein schmerzvolles Stöhnen. Mit einem Satz überwand sie die Breite des Korridors und legt ihr Ohr an diese Tür. Das Stöhnen hörte nicht auf – und es schien aus einer weiblichen Kehle zu kommen! Eine gedämpfte Stimme mischte sich darunter. »Na komm schon, halt still!« zischte ein Mann, den Lilith bereits oben auf dem Wehrgang gehört hatte. Seine dortigen Wortfetzen fügten sich zu einem Bild zusammen: »… dahin … ich mich … ver
gnügen …« Vergnügen? Das schmerzvolle Keuchen der Frau sprach eine an dere Sprache! War es vielleicht gar Fees Stimme? Liliths Hand legte sich auf die eiserne Klinke – und zögerte. Was sollte sie tun, wenn sie erst den Raum betreten hatte? Blieb ihr genü gend Zeit, den Vampir bewußtlos zu schlagen? Und was, wenn er sich nicht mit Fee »vergnügte«, sondern mit einer Gefährtin oder ei nem menschlichen Opfer, das die ganze Burg zusammenschreien konnte? Müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Sie mußte es einfach wagen. Das Schloß sprang mit einem leisen Klacken auf, das wie Donner in Liliths Ohren widerhallte. Gleichzeitig aber wurden die Ge räusche der beiden Personen in der Kammer lauter. Lilith drückte vorsichtig die Tür auf und schlüpfte hindurch. Auch dieser Raum wurde von nur einem Fenster – diesmal in Rechteckform – mit trübem Licht erfüllt. Es genügte, Liliths vampiri sche Sinne jede Einzelheit überdeutlich erkennen zu lassen. Ein großer, muskulöser Mann mit heruntergelassenen Hosen lag halb über einem Frauenkörper, der sich unter ihm wand. Er drehte der Tür den Rücken zu, so daß Lilith einen weiteren unbemerkten Schritt wagen konnte. Die Bemühungen des Vampirs waren eindeutig; er versuchte in sein Opfer einzudringen, das sich so verzweifelt wie vergeblich wehrte. Nun zog es die Arme unter seinem Körper hervor … und Lilith erkannte die weiten Fledermausschwingen, die es anstelle der Arme trug. Es war Fee! Mit einem weiteren Schritt überwand Lilith die restliche Distanz,
verschränkte die Hände ineinander – und ließ sie mit aller Wucht auf den Hinterkopf des Vampirs niedersausen. Ihm blieb nicht einmal Zeit, vor Überraschung aufzuschreien. Sein Körper erschlaffte und stürzte über Fee. Aber dann geschah etwas, womit Lilith nicht gerechnet hatte. Blitzschnell wuchsen Medusenfäden aus den Handschuhen ihres Catsuits und bohrten sich in den Nacken des Vampirs. Der Symbi ont vollendete, was sie nicht hatte vollenden wollen! »Nein!« schrie Lilith auf und dämpfte im letzten Moment ihre Stimme. »Tu es nicht!« Vergeblich versuchte sie die durchsichtigen Fäden, durch die bereits das schwarze Blut des Vampirs auf den Symbionten überging, aus ihrem Gegner zu reißen. Sie dehnten sich einfach, ohne von ihm abzulassen. Und dann geschah es. Im endgültigen Sterben bäumte der Untote sich auf. Und setzte den Todesimpuls frei. Auch Lilith konnte ihn spüren; ein kurzer, heftiger Schmerz in ih rem Kopf, der das Wesen des Getöteten in Sekundenbruchteilen of fenbarte. Ein Impuls, den die anderen Sippenmitglieder ebenfalls spüren würden … Mit einem Ruck riß Lilith den leblosen Körper von Fee herunter. Die Fäden zogen sich zurück, jetzt, wo der Symbiont gesättigt war. »Fee! Ich bin es, Lilith! Komm schnell, wir müssen …« Sie stockte mitten in der Bewegung, mit der sie Fee hochzerren wollte. Leere Augen aus einem schmutzigen Gesicht blickten sie an. Fee grinste blöde. »Hallo!« rief sie fröhlich. »Willu … spieln?« Wie paralysiert starrte Lilith auf den nackten Körper der Vampirin
hinab, der sich vor ihr räkelte und ihr die mißgestalteten Arme ent gegenreckte. Ein Körper, der nur noch eine leere Hülle war. Sie hatten Fee den Verstand geraubt! Die Vampirin mit den Fledermausflügeln setzte sich auf und be gann ihre vollen Brüste hin und her zu schütteln. Ihr ehemals langes blondes Haar war kurzgeschoren und verfilzt. Ein Kichern quoll über ihre Lippen. »Spieln«, lallte sie. »Spiel mit mir.« Lilith stand noch unbeweglich da, als hinter ihr die Tür aufgeris sen wurde und drei, vier Männer in den Raum stürzten. Lilith sah sie nur durch einen Tränenschleier, den ihr menschliches Erbe über ihre Augen legte. Ihr Glück war, daß die Vampire nicht mit ihr gerechnet hatten – zumindest nicht mit einem zurechnungsfähigen Gegner. Sie mußten vermuten, Fee wäre es irgendwie gelungen, ihren Vergewaltiger tödlich zu verletzen, wohl mehr aus Zufall denn absichtlich. Lilith konnte später nicht sagen, wie lange sie der Meute gegen übergestanden hatte. Ihr kam es wie drei Ewigkeiten vor; in Wahr heit waren es wohl nur Bruchteile von Sekunden. Noch bevor die Vampire die Situation erfassen konnten, warf Li lith sich ihnen entgegen – und durch eine Lücke zwischen den mas sigen, grobschlächtigen Körpern hindurch. Im Sprung hinaus ergriff sie das Türblatt und schlug es zu. Es gab keinen Schlüssel, mit dem sie die Pforte hätte versperren können. Mehr als einen knappen Vorsprung konnte sie nicht gewin nen. Lilith hetzte den Gang zurück und die Treppe hinauf. Noch wäh rend sie den Wendelstufen folgte, hörte sie am oberen Ende lautes Rufen. Die vier Männer waren nicht die einzigen gewesen, die dem Todesimpuls folgten! Keuchend erreichte Lilith eine Ausbuchtung im Rund des Trep
penschachtes; das Zwischenstockwerk, in dessen Wand eine Tür eingelassen war. Von oben polterten bereits Schritte herab. Ihr blieb keine Wahl. Sie riß die Pforte auf, schlüpfte hindurch und bemühte sich, trotz aller Hektik die Tür lautlos wieder zu schließen. Noch bevor sie sich umwandte, um zu sehen, wohin es sie verschlagen hatte, hörte sie mehrere Personen die Stufen hinabeilen. Und im gleichen Moment ein Stöhnen hinter sich.
* Lilith wirbelte herum. Der etwa acht mal zehn Meter messende, fensterlose Raum wurde von einer einzelnen Fackel erleuchtet. Ihr Licht brach sich auf Gerätschaften, die überall verteilt standen und seltsam bizarr wirkten. Einige sahen fast wie Möbelstücke aus, wa ren aber um Eisenschnallen oder Schwungräder oder spitz aufra gende Metalldornen erweitert worden. Andere wiederum erinner ten an Sarkophage oder Stangengerüste. Von der Decke hingen schwere Ketten herab; einige endeten in Wannen, deren Inhalt rot schimmerte. Liliths Sinne verstärkten das flackernde Licht um ein Vielfaches; sie konnte jede absonderliche Einzelheit der hier versammelten Utensilien erkennen. Und auch die zwei nackten, gertenschlanken Körper fast am ge genseitigen Ende der Kammer, die mit Händen und Beinen an eine Vorrichtung gefesselt waren, deren Bedeutung Lilith nicht begriff – und auch nicht begreifen wollte. Entsetzen stieg in ihr auf, als sie sich den beiden jungen Frauen nä herte. Es waren zweifellos Menschen. Ihr rotes Blut, das aus mehre
ren Wunden zu Boden tropfte oder sich in Behältern sammelte, ver riet es. Sie mußten aus dem Dorf stammen. Beide waren in einem erbärmlichen Zustand, aber am Leben. Als sie Liliths Schritte vernahmen, schraken sie zusammen und began nen zu wimmern. Eines der Mädchen hob den Kopf. Eine schreckli che Wunde verlief quer über ihre Stirn und färbte das ehemals hüb sche Gesicht und ihr langes, bis zu den Hüften reichendes Haar rot. Den Blick, der Lilith traf, würde sie zeitlebens nicht vergessen kön nen. »Keine Angst«, preßte sie hervor. Das Sprechen fiel ihr schwer. »Ich tue euch nichts.« Ein undefinierbarer Ausdruck glomm in den Augen der jungen Frau auf. Hoffnung war es nicht. Die hatten die Unglücklichen längst verloren. Sie öffnete den Mund. »Wasser«, hauchte sie. Lilith sah sich um, konnte aber keinen Krug entdecken, der das Gewünschte enthielt. Hier war alles Blut. Blut und unendlicher Schmerz. Vorsichtig machte sie sich daran, die Fesseln des ersten Mädchens zu lösen. Dabei war sie gezwungen, ihm den Mund mit einem her umliegenden, blutverschmierten Tuch zu knebeln; die Schmerzens schreie hätten sonst die Vampirsippe alarmiert. Die Situation war ohnedies mehr als heikel. Jede Sekunde konnte die Tür aufschwingen und ihre Verfolger in den Raum einlassen. Li lith forcierte das Tempo ihrer Bemühungen. Schließlich hatte sie es geschafft und wandte sich dem zweiten Mädchen zu. Sie löste beide Fußfesseln und widmete sich dann dem linken Handgelenk, als ihr etwas bewußt wurde, das ihr in der Eile bislang gar nicht aufgefallen war. Sie hatte den Knebel vergessen!
Und trotzdem gab das Mädchen keinen Laut von sich. Alarmiert wandte sich Lilith dem Kopf zu und fühlte nach der Halsschlagader. Kein Puls. Die junge Frau war tot. Resigniert wollte Lilith sich abwenden – als die Tote ruckartig die Augen aufschlug! Mit einem schrillen Schrei riß sie den linken Arm herab, dessen Fessel Lilith schon zum größten Teil entknotet hatte. Das Seil löste sich ganz, und die Hand der Toten schwang herum und krallte sich in Liliths Kehle. Lilith stolperte zurück und zog die Dienerkreatur, zu der das Mädchen geworden war, halb mit sich. Ihre Hände versuchten die würgende Klaue zu lösen – vergeblich. Und noch immer hielt dieser grelle, furchtbare Schrei unvermin dert an. Ein Alarmsignal, das man meilenweit hören mußte. Lilith blieb keine Wahl. Sie drängte sich wieder an die Tote heran, ergriff deren Kopf mit beiden Händen – und drehte ihn mit einem Ruck herum. Das Genick brach. Der Körper der Dienerkreatur erschlaffte. Der Schrei endete. Zu spät. Durch das Wimmern des anderen, noch lebenden Mäd chens konnte Lilith die hastigen Schritte auf der Treppe hören. Se kunden später wurde die Tür aufgestoßen. Lilith saß in der Falle. Trotzdem weigerte sich irgend etwas in ihr, einfach aufzugeben. Vielleicht die Vorstellung, lebend in die Hände dieser Bestien zu fal len, nachdem sie einen Vorgeschmack auf die Grausamkeiten dieser verfluchten Sippe erhalten hatte. Hinter einem aufrecht stehenden, eisernen Sarkophag, der auf der
Innenseite mit spitzen Dornen bestückt war, ging sie in Deckung. Von hier aus sah sie, wie die Vampire vorsichtig, Schritt für Schritt, in den Raum eindrangen. Es waren fünf oder sechs, und sie kamen in breiter Front auf sie zu. Unmöglich, sie alle zu überwältigen oder zwischen ihnen durchzuschlüpfen. Doch dann kam Hilfe von unerwarteter Seite. Das überlebende Mädchen hatte sich von dem Gerüst, an das es bis jetzt gelehnt hatte, abgestoßen und machte einige taumelnde Schritte in den Raum hinein. Lilith wußte nicht, welche Kraft die Todgeweihte aufrecht hielt, aber sie erkannte ihre Chance. Die Auf merksamkeit der Vampire hatte sich in diesen Sekunden ganz auf die junge Frau konzentriert. Lilith sprang auf einen der absonderlichen Tische, stieß sich ab – und flog über die Reihe der Vampire hinweg. Noch bevor die Blut sauger herumgeschnellt waren, hatte sie die Tür erreicht und stürzte hindurch. Die Treppenstufen vor ihr und ein wehender Mantel am Rande ih res Gesichtsfeldes waren ihre letzten Eindrücke. Dann traf etwas mit brachialer Gewalt ihr Genick, schmetterte sie auf die Steinstufen und raubte ihr augenblicklich das Bewußtsein …
* Sie erwachte von einem heftigen Schmerz in ihrem Gesicht. Als sie die Augen öffnete, traf der flache Handrücken ihre andere Wange und riß Liliths Kopf zur Seite. »Sag uns, wer du bist!« zischte das Gesicht direkt vor dem ihren. »Du hast Juric umgebracht!« klang eine zweite Stimme jenseits ih res Gesichtsfeldes auf. »Warum verstößt du gegen den Kodex? Und
wie hast du es gemacht?« »Antworte!« brüllte die Fratze vor ihr. Eine Hand krallte sich in ihr langes schwarzes Haar und riß ihren Kopf in den Nacken. Lilith versuchte vollends, zu sich zu kommen. Sie registrierte, daß sie aufrecht stand, aber mit gespreizten Armen und Beinen. Dann spürte sie die Fesseln an ihren Gelenken. Man hatte sie an ein Gerüst in Form eines großen »X« gefesselt. Sie blinzelte die Nebel weg, die vor ihren Augen trieben, und be kam einen ersten Eindruck von dem Raum, in dem sie sich befand. Es war ein großer, gut fünfzehn Meter hoher Saal mit verblichenen Fahnen und rußig brennenden Fackeln an den Wänden, einem lan gen hölzernen Tisch mit mehreren Stühlen und einem offenen Ka min an der Stirnseite. Ein gewaltiger, von Kerzenwachs überzogener Kronleuchter hing, mit einem Seil befestigt, von der hohen Decke herab. Auf bizarre Art erinnerte dieser Saal Lilith an den Salon im Hause Robert Cravens. Nur der Prunk fehlte. Und die Gesellschaft war ungleich schlechter. Eine knochige Hand krampfte sich um ihr Kinn. Fauliger Odem schlug ihr ins Gesicht. »Du willst nicht antworten?« fauchte ihr Peiniger. »Du wirst ant worten! Janoc!« Das Gesicht verschwand; ein anderes tauchte auf. Lilith hätte es nicht für möglich gehalten, daß es das erste an Häßlichkeit und Bru talität noch übertreffen könnte. Aber noch schlimmer war, daß etwas um seinen schmutzigen Hals hing, das Lilith bei sich getragen hatte: der kleine Metallzylinder. Sie erstarrte. Hoffentlich hatte der Vampir den Mechanismus nicht betä tigt! »Was … habt ihr mit Fee … gemacht?« brachte sie zwischen blu tenden Lippen hervor.
»Sie ist deine kleine Freundin?« fragte der Vampir namens Janoc höhnisch. »Was habt … ihr Bastarde … mit ihr gemacht?« Janoc grinste und entblößte dabei seine weißen Eckzähne – ver mutlich die einzige gepflegte Stelle seines verkommenen Körpers. »Sie hat uns viel Freude bereitet«, säuselte er. »Natürlich erst, nach dem wir ihre Widerspenstigkeit gebrochen hatten. So wie wir es auch mit dir tun werden.« Er trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf Fee frei. Sie saß auf einem plüschbezogenen Stuhl Lilith gegenüber, hob und senkte ihre nutzlosen Flügel und lächelte selig. Ein weiterer Vampir trat hinter den Stuhl und umfaßte eine von Fees Brüsten mit festem Griff. Fee sah zu ihm auf und leckte sich die Lippen. Lilith schloß angewidert die Augen. Was waren das für Bestien? Selbst Vampire besaßen eine Art Moral, die sie vom Tier unter schied. Diese Kreaturen hier hatten dagegen alle Wertmaßstäbe auf gegeben. Lilith riß die Augen wieder auf, als sie eine Pranke auch an ihrer Brust fühlte. Janoc hatte sie ergriffen und preßte sie brutal zusam men. »Und nun wirst du uns antworten«, zischte er. »Oder die Nacht wird sehr, sehr lang für dich. Ich habe da –« Er verstummte und sah auf Liliths Busen hinab. Sie konnte fühlen, wie seine Hand zurückzucken wollte – und es nicht schaffte. »Was bei allen Verdammten …« Janoc wich von ihr zurück, doch seine Hand blieb, wo sie war. »Was ist los?« fragte der erste Vampir und trat näher, und auch Fees Peiniger ließ von seinem Opfer ab und kam um den Stuhl her um. Das war der Augenblick, in dem Janoc schmerzerfüllt aufschrie.
Gleichzeitig fühlte Lilith, wie ihr Catsuit sich blitzschnell zurückzog, um einen langen Tentakel auszubilden. Er traf den ersten Vampir mitten in die Brust und zerrte ihn näher heran. Janoc brüllte jetzt. Sein ganzer Arm war von der schwarzglitzern den Substanz des Symbionten umhüllt. »Josuah, hilf mir!« schrie er, doch der Vampir, der sich Fee gewidmet hatte, wich im Gegenteil wieder zurück. Fassungslosigkeit breitete sich auf seinen Zügen aus. In der Zwischenzeit hatte sich der Symbiont zwischen Liliths Haut und die Fesseln geschoben und sprengte sie alle vier zugleich. Von einem Augenblick zum anderen war Lilith frei. Oder wäre es viel mehr gewesen, wenn sie nicht über ihr Catsuit mit Janoc und dem anderen Vampir verbunden gewesen wäre. Doch deren Schreie erstarben im nächsten Moment. Der Symbiont schnellte zurück. Ein schweres Tor schlug zu. Als Lilith sich umblickte, war der überlebende Vampir verschwunden. Sie hörte ihn draußen den Gang entlangpoltern. Natürlich holte er Verstärkung. Noch steif in den Gliedern, bückte Lilith sich, zog Janoc den An hänger vom Hals und legte ihn sich selbst um. Dann humpelte sie zu Fee hinüber, die das Geschehen mit leerem Gesichtsausdruck verfolgt hatte. Sie versuchte es noch einmal, obwohl sie im Grunde wußte, daß es keinen Sinn hatte. »Fee, erkennst du mich?« fragte sie eindringlich und wandte dabei all ihre hypnotischen Kräfte auf in der vagen Hoffnung, damit Fees leeren Geist zu füllen. »Fee, erinnere dich! Ich bin es, Lilith!« Keine Reaktion außer einem flüchtigen Grinsen. Sie zerrte Fee aus dem Sessel hoch. Wie zum Teufel sollte sie die Vampirin hier herausschaffen? Es war schon schwierig genug, wäre Fee bei klarem Verstand gewesen. Erst mußte sie sich verbarrikadieren! Lilith ließ Fee stehen und eil
te zur einzigen Pforte des Saales. Sie konnte mit einem schweren Holzbalken gesichert werden, der jetzt in senkrechter Stellung ruhte. Lilith legte ihn um. Die oberste Holzschicht löste sich unter ihren Fingern; der Riegel war morsch. Lange würde er einem Ansturm nicht standhalten können. Lilith sah sich um. Ein großes, aus farbigem Glas kunstvoll gestal tetes Fenster am anderen Ende des Saales war der einzige verblei bende Fluchtweg. Es bestand aus zwei doppelt mannshohen Teilen mit einem senkrechten Balken in der Mitte. Lilith ergriff einen Stuhl und schleuderte ihn durch eine der Scheiben. Für die nach draußen splitternden Glasscherben drangen wirbeln de Schneeflocken herein. Noch immer tobte der Schneesturm, und er hatte an Stärke gewonnen. Jetzt Fee. Liliths Blick suchte die Vampirin und fand sie unter dem Tisch. Sie kniete nieder und griff nach Fee, doch diese entzog sich ihr, robbte zurück und stieß ein helles Lachen aus. »Fang mich!« jauchzte sie. Lilith flankte über den Tisch und verkürzte das Spiel, indem sie Fees Füße packte und die Vampirin rigoros hervorzerrte. Ein Poltern vom Tor her ließ Lilith herumfahren. Aufgeregte Stim men waren durch das massive Holz zu vernehmen. Dann krachte es erneut. Das Türblatt bebte. Lilith zog die sich sträubende Fee zu dem zerbrochenen Fenster. Eisiger Wind fauchte herein und ließ sie frösteln; im Gegensatz zu Fee, welche die Kälte gar nicht zu spüren schien. Sie beobachtete fas ziniert die Schneeflocken und begann nach ihnen zu haschen. Lilith blickte nach unten. Die Spitzen der hohen Tannen rings um die Felsnadel waren in Schneegestöber und Dunkelheit kaum zu er kennen. Über vierzig Meter ging es steil hinab. Als Fledermaus hätte dies kein Problem bedeutet. Aber Fees
Schwingen waren unbrauchbar; zu schwer, den humanoiden Körper zu tragen. Lilith blieb nichts anderes, als sie abzuseilen. Ihr Blick erfaßte den Kronleuchter – und das Seil, an dem er hing. Es lief über einen Ring an der Decke hinunter zur Seitenwand, wo es an zwei Haken festgezurrt war. So konnte man den Leuchter herab lassen, um die Kerzen zu entzünden. Während Lilith das Seil abwickelte, begann das Tor zu splittern. Ein freudiger, vielstimmiger Schrei erscholl jenseits der Holzbohlen. Der nächste Stoß löste einen der Metallverschläge, der lautstark zu Boden klirrte. Ihnen blieben nur noch Sekunden! Der Kronleuchter sirrte herab und zerschlug den massiven Tisch in zwei Teile. Lilith zerrte eine der Fackeln aus ihrer Halterung und brannte das Seil dicht über dem Gestell durch. Es schien ihr eine Ewigkeit zu dauern, bis die Flammen es so weit angenagt hatten, daß sie es mit einem Ruck zerreißen konnte. Das Tor zerbarst. Ein Pfahl, den die Vampire als Rammbock be nutzten, brach hindurch und blieb darin stecken. Daß sich dadurch die Pforte nicht sofort öffnen ließ, hielt die Blutsauger noch für ein paar Sekunden auf. Lilith rannte zum Fenster zurück, die Fackel in der Hand. Glückli cherweise war Fee so mit den Schneeflocken beschäftigt gewesen, daß sie sich noch immer dort aufhielt. Sie protestierte, als Lilith das Seil um ihre Hüften legte und verknotete. Das Balancieren auf der Fensterbank schien ihr dagegen zu gefal len. Lilith hatte kaum Mühe, Fee zu bewegen, auf den schmalen Sims zu klettern. Jetzt mußte sie nur noch das Seil um ein Hindernis herumlegen, um Fees Zuggewicht besser kontrollieren zu können. Mit der Fackel schlug Lilith auch die zweite Scheibe ein und schlang das Tau um den Mittelbalken.
Das Klirren übertönte fast das Krachen des Tores, deren linke Hälfte endgültig ihren Halt verlor und in den Saal stürzte. Dahinter strömten die Leiber der Vampire herein. Als Lilith herumfuhr, blick te sie in verzerrte, haßerfüllte Fratzen. Die Übermacht war erdrückend; die ganze restliche Sippe mußte sich hinter dem Tor eingefunden haben. Lilith verzichtete darauf, ihre Zahl zu überschlagen. Statt dessen wandte sie sich wieder Fee zu – und versetzte ihr einen Stoß. Mit hilflos flatternden Schwingen kippte die Vampirin durch das zerbrochene Fenster in die Nacht. Das Seil spannte sich abrupt; Li lith mußte sich gegenstemmen, um es zu halten. Hastig ließ sie es durch ihre Hände gleiten. Die Vampire hatten sie längst entdeckt und stürmten auf sie zu. Noch lag die gesamte Länge des Saales zwischen ihnen, aber der Abstand schmolz schnell dahin. Mit einer Hand hielt Lilith das Seil, mit der anderen griff sie nach der Fackel am Boden. Als der erste Blutsauger sie erreichte, ein hochgewachsener Kerl mit beinah aristokratischen Zügen, schmet terte sie ihm das pechgetränkte Ding mitten ins Gesicht. Mit einem schrillen Schrei stolperte der Vampir zurück, doch die Woge der nachfolgenden Meute konnte er nicht stoppen. Lilith blieb nur noch ein Weg. Sie schwang sich auf den Sims, wehrte einen weiteren Gegner mit der funkensprühenden Fackel ab – und ließ sich fallen. Der Sturz währte etwa fünf Meter. Dann wirbelte ein harter Ruck Lilith herum und ließ sie gegen die Außenmauer der Burg prallen. Aber sie umklammerte weiterhin das Seil, um Fee zu halten, auch wenn es sich schmerzhaft in ihre Hand fraß, als sie ein weiteres Stück nach unten rutschte. Für einen Augenblick drohte es ihr schwarz vor Augen zu werden, doch der Schmerz riß sie aus den
Fängen der Ohnmacht. Als sich ihr Blick klärte, sah sie buntes Glas direkt vor sich. Ein Fenster. In Form eines Kreuzes! Sich erinnern und handeln war eins. Lilith holte mit der Fackel aus und stieß sie in das Butzenglas hinein. Brennend und funkenschla gend prallte sie auf den Boden des dahinterliegenden Raumes und rollte noch ein Stück weiter. Lilith blickte nach oben, wo die Vampire sich über die Brüstung des zerbrochenen Fensters beugten und ihr verzweifeltes Ringen an der Mauer fasziniert beobachteten. Noch hatte sich niemand aufge macht, ihr als Fledermaus zu folgen. Dann blickte sie nach unten. Es waren noch immer über dreißig Meter bis zum Boden, aber Fee hing bereits auf halber Strecke. Mit etwas Glück überstand sie den Sturz unbeschadet. Lilith ließ das Seil los und stieß sich gleichzeitig von der Mauer ab. Noch im Sprung leitete sie die Metamorphose ein. Von oben erscholl ein wütender Schrei aus mehr als einem Dut zend Kehlen. Und einen Sekundenbruchteil später die Explosion, als das Schwarzpulver in der Waffenkammer zündete. Lilith spürte die Druckwelle, die ihren kleinen pelzigen Körper er faßte und haltlos davonwirbelte. Geblendet vom grellen Blitz der Detonation und betäubt durch den urgewaltigen Donner taumelte sie hinab, streifte einige nadelbewehrte Zweige und schlug schließ lich in eine Schneewehe. Trümmerstücke regneten ringsum nieder. Dicht neben ihr klatsch te ein abgetrennter Arm in den Schnee und färbte ihn mit schwar zem Blut. Dann schwanden ihr endgültig die Sinne.
* Sie wußte nicht, wie lange sie ohne Bewußtsein gewesen war. Als Lilith wieder zu sich kam, lag ihr Kopf – ihr menschlicher Kopf – halb im Schnee begraben. Ihre Glieder schmerzten, als hätte ein übelge launter Riese sie stundenlang gegen eine Wand gedroschen. Aber zumindest hatte sie keine schwerwiegenden Verletzungen davonge tragen, und die oberflächlichen Wunden begannen schon wieder mit unirdischer Geschwindigkeit zu heilen. Stöhnend richtete sie sich aus der Schneewehe auf, in die sie ge stürzt war, und blinzelte zu der Trutzburg der Vampire empor. Der Schneesturm hatte fast gänzlich aufgehört; nur vereinzelte weiße Flocken tanzen noch durch die eisige Nachtluft. Die Wolken decke war aufgebrochen, und der volle Mond beleuchtete ein Bild der Verwüstung. Wo sich vorhin noch die wuchtigen dunklen Mauern der Burg er hoben hatten, zeichnete sich nun eine gezackte, qualmende Ruine gegen den Sternenhimmel ab. Kaum ein Stein war auf dem anderen geblieben. Erleichtert ließ Lilith sich in den Pulverschnee zurückfallen – und schrak im nächsten Moment wieder auf, als die Erinnerung an Fee zurückkehrte. Mühsam kämpfte sie sich hoch. Ein beißender Schmerz war in ih rer Schulter, und eine breite, dunkelrote Spur den Arm hinab kün dete davon, daß hier eine breite Wunde geklafft haben mußte. Jetzt erinnerte nur noch ein verschorfter Wundrand daran. Lilith sah sich um. Keine Spur von Fee. Sie taumelte näher an die Felsnadel heran. Hier lag das Seil, mit dem sie die Vampirin den Felsen hinabgelassen hatte. Und die Ab
drücke im Schnee erzählten von einem Körper mit großen Fleder mausschwingen, der hier gelandet war. Lilith sah auch Spuren von Blut, aber nicht soviel, daß Anlaß zur Sorge bestanden hätte. Fees Selbstheilungskräfte waren noch weitaus besser als ihre eigenen. Sie befahl dem Symbionten, wieder die Form des Pelzmantels an zunehmen, und folgte kurvenreichen, ziellos hin und her strebenden Fußstapfen. Sie führten zum nahen Waldrand hin. Und dort fand sie Fee. Die Vampirin saß mit dem Rücken an einen mächtigen Stamm gelehnt – und schaufelte Schnee mit ihren Schwingen zu einer unförmigen Burg zusammen. Als sie Liliths ge wahr wurde, sah sie auf und lachte. Es klang so fröhlich und unbe schwert, daß Lilith ein kalter Schauer den Rücken herablief. Ohne ein Wort, die Lippen zu schmalen Strichen zusammenge preßt, zog sie die Schwachsinnige hoch und mit sich, dem nahen Dorf entgegen. Die schwelenden Trümmer der Vampirfeste blieben hinter ihnen zurück. Ein bizarres Mahnmal der Vergänglichkeit allen Lebens – auch wenn es von einem unheiligen Keim genährt wurde.
* Wie bei ihrer ersten Ankunft lag Râcâsdia wie ausgestorben vor Li lith. Doch diesmal war es eine andere Ruhe. Als hätte der Geist des Dorfes selbst den Atem angehalten und wäre zur Unbeweglichkeit erstarrt. Dann fand sie den ersten reglosen Körper im Schnee. Erst dachte sie, der in Felle gekleidete Mann wäre tot, doch als sie ihn auf den Rücken drehte, sah sie die dünne Rauhreiffahne, die aus seiner Nase stieg und im leichten Nachtwind zerfaserte. Der Mann
war bewußtlos. Doch wenn er lange hier liegenblieb, würde er er frieren. Lilith warf ihn sich über die Schulter. Dann mußte sie ein Stück zurücklaufen, um Fee einzufangen, die mit in den Nacken gelegtem Kopf übermütig durch den Schnee tanzte. Sie packte sie am Arm, ignorierte ihr Schmollen und zog sie mit sich auf die niedrigen Hüt ten zu, in denen kein einziges Licht brannte. Am Rand des Dorfplatzes lag der zweite Körper. Wieder ein Mann, und wieder bewußtlos. Trotz ihrer vampirischen Kräfte stöhnte Lilith unter der Last, als sie ihn sich auf die andere Schulter lud. Auch das Pfarrhaus lag im Dunkeln. Lilith hielt sich nicht mit Klopfen auf, sondern sprengte die Tür mit einem Fußtritt. Sie polter te in die Wohnstube und legte die beiden Ohnmächtigen auf der breiten Couch ab. Einer von ihnen murmelte unverständliches Zeug. Er schien allmählich zu sich zu kommen. Die Tür zum Nebenzimmer flog auf. Der Pope im geflickten Haus mantel stand unter dem Rahmen, einen Kerzenleuchter in der Hand. »Was zum …« Er verschluckte den Rest des Satzes, als er Fees ansichtig wurde. Beinahe wäre ihm der Leuchter entglitten. Eine nackte Vampirin mit Fledermausflügeln war sicher kein Anblick, mit dem er tagtäglich konfrontiert wurde. Lilith wollte Pavel Stancu eben befehlen, eine Decke für Fee zu ho len, als einer der Männer auf dem Sofa sich regte. »Was bei allen Heiligen ist geschehen?« brachte er zwischen blau gefrorenen Lippen hervor. Bei allen Heiligen? Lilith kniete vor ihm nieder.
»An was erinnern Sie sich?« fragte sie ihn auf rumänisch. Der Mann blinzelte sie verständnislos an. Dann wanderte sein Blick zum Popen und wieder zurück zu Lilith. Schließlich entschloß er sich zu antworten. »Ich … kann mich … kaum erinnern«, flüsterte er. »Ich hatte einen … Traum.« Er zögerte und schien in sich zu horchen. »Es muß ein Traum gewesen sein.« Er bekreuzigte sich hastig. »Blutsauger über fielen das Dorf und bissen mich in den Hals. Und da mußte ich ih nen dienen … in meinem Traum«, fügte er noch einmal bekräftigend hinzu. Er sah den Popen an. »Es war doch ein Traum, Pavel, nicht wahr? Ein furchtbarer Alptraum!« Lilith fing seinen Blick ein, in dem es verdächtig zu funkeln be gann. »Natürlich war es ein Traum«, sagte sie mit ruhiger, hypnoti scher Stimme. »Aber du bist daraus aufgewacht. Alles ist in Ord nung. Schlaf jetzt; es wird dir guttun.« Der Mann sank augenblicklich zurück und war nach einer Sekun de eingeschlafen. Lilith hatte begriffen. Darum also die Ohnmacht. Nun, da die Vampire vernichtet waren, fiel auch der Bann von den Menschen dieses Dorfes ab. Ihre Herren existierten nicht mehr; folg lich gab es auch keine Befehle mehr, die sie knechteten. Und da die Vampire sie nicht getötet, sondern nur aus ihnen getrunken hatten, konnten sie von nun an wieder ein normales Leben führen. Bis zu ihrem Tod … Lilith erhob sich und wandte sich an den Popen, der schweigend dastand und sie verwirrt anblickte. »Eine Vampirsippe hatte euch unter ihrer Kontrolle«, erklärte sie ihm. »Ich habe die Blutsauger vernichtet. Ihr seid jetzt wieder frei.« Der Pope schien noch nicht zu begreifen. »Du hast sie … vernich tet?« fragte er nach. Seine Stimme bebte.
Lilith legte ihre Hand auf seine Schulter. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben«, versicherte sie ihm. »Ich werde dir alles erklären. Aber zuerst«, sie wies auf Fee, die sich bei den glimmenden Holzscheiten am Kamin niedergehockt hatte und mit offenem Mund die Glut anstarrte, »mußt du dich dieser ar men Frau annehmen.« Sie entschloß sich, daß in diesem Fall die hal be Wahrheit die bessere Wahrheit war. »Sie ist keine Vampirin, son dern ein Opfer der Sippe«, fuhr sie fort. »Sie haben Experimente mit ihr angestellt und ihr den Verstand genommen. Bring ihr eine Decke und kümmere dich um sie. Ich habe noch draußen zu tun.« Und während sich Stancu zu Fee hinabbeugte, wandte Lilith sich um und trat wieder ins Freie. Erleichtert registrierte sie, daß in zwei, drei Häusern jetzt Lichter brannten. Die Menschen kamen langsam wieder zu sich. Sie würden viele Fragen haben. Lilith ging zur Mitte des Dorfplatzes. Hier nahm sie die Leder schnur mit dem zylindrischen Gegenstand vom Hals. Betrachtete man ihn genauer, konnte man erkennen, daß er aus zwei ineinan dergesteckten Teilen bestand. Lilith nahm ihn hochkant zwischen Daumen und Zeigefinger – und drückte ihn zusammen. Nichts geschah. Aber das hatte sie auch nicht erwartet. Trotzdem würde in diesem Moment, viele Meilen entfernt, ein kleiner roter Punkt auf einem Peilgerät aufleuchten. Wenn alles nach Cravens Plänen gelaufen war. Ansonsten würde sie in arge Schwierigkeiten kommen. Lilith drehte sich um die eigene Achse und überprüfte noch ein mal den Durchmesser des Platzes. Er würde genügen. Sie legte den Metallzylinder in den Schnee. Dann kehrte sie zum Pfarrhaus zu rück. Als sie in die Stube trat, bot sich ihr ein Bild des Friedens. Sie nahm es nach all den Gefahren und Wirrnissen dankbar in sich auf.
Die beiden schlafenden Männer auf der Couch. Das rötlich glim mende Licht aus dem Kamin, das dem Raum eine anheimelnde At mosphäre verlieh. Der dicke Pope in seinem zerschlissenen Mantel, der ihr den Rücken zuwandte und sich fürsorglich über Fee beugte. Mit einem leisen Seufzen schüttelte Lilith die Gedanken an Ruhe und Entspannung ab und trat auf Stancu zu. »Wie geht es ihr?« fragte sie leise. »Konnten Sie –« Der Pope fuhr herum. Für einen Sekundenbruchteil blickte Lilith in seine haßverzerrte Fratze, dann traf seine Faust ihre Schläfe und schleuderte sie zur Seite. Lilith wurde von dem Angriff völlig überrascht. Sie prallte mit dem Kopf gegen die steinerne Einfassung des Kamins. Sterne tanz ten vor ihren Augen, daß sie einen Moment dachte, geradewegs in die Glut gefallen zu sein. Ein weiterer Schlag, diesmal mit einem eisernen Gegenstand, traf ihre verletzte Schulter und ließ sie schmerzerfüllt aufschreien. Sie warf sich am Boden liegend herum. Der Pope stand über ihr, einen Schürhaken mit beiden Händen hoch über den Kopf erhoben. Im letzten Moment rollte Lilith zur Seite. Die Eisenstange klirrte auf Stein. Splitter platzten wie Geschosse weg. Stancu brüllte und riß die Stange wieder hoch. Doch nun war Li lith am Zuge. Sie zog ihre Beine an und ließ sie fast senkrecht in die Höhe schnellen. In den Unterleib getroffen, schrie der Pope – diesmal um einige Nuancen heller – auf, knickte ein und taumelte zurück. Der Schür haken entfiel seinen verkrampften Fingern. Nur beiläufig registrierte Lilith, daß Fee vor Vergnügen jauchzte und Beifall klatschte. Dann war die Halbvampirin wieder auf den Beinen und stellte sich Stancu.
Es war nicht mehr nötig. Der Pope war in sich zusammengesun ken; ein wimmerndes Bündel Mensch, das sich, die Hände um den Unterleib gekrampft, am Boden wand. Warum nur hatte er sie ange griffen? Die Frage beantwortete sich nur einen Moment später selbst. Als Lilith die Witterung aufnahm. Ein Vampir war in der Nähe! Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als das Fenster di rekt vor ihr in Myriaden winziger glitzernder Fragmente zersplitter te. Ein dunkler Körper flog herein, groß wie ein Mensch, aber mit den weiten Schwingen einer Fledermaus. Daß es ein flatternder Mantel war, erkannte Lilith, als der Körper gegen sie prallte und sie mit sich riß. Ein animalisches Fauchen be täubte ihre Ohren, modriger Odem ihre Nase. Ein Gesicht wie aus einem Alptraum tauchte vor dem ihren auf. Eine Fratze, in der rohes Fleisch glitzerte und in Fetzen von Wangen und Kinn hing und deren rechtes Auge als blinde Masse in der Höh le lag. Eine Fratze, die mit Pech verschmiert und schwarz verkohlt war. Nur mit Mühe konnte Lilith darunter das aristokratische Ant litz erkennen, in das sie die Fackel gestoßen hatte. »Duuuu …!« kreischte der Vampir und schlug nach ihr. Seine lan gen Krallen ritzten blutige Striemen in ihre Wange. Dann hatte Lilith den Schock überwunden. Sie stemmte die Arme gegen die Brust des Vampirs und stieß ihn zurück. Er prallte gegen die Couch mit den beiden Männern und stieß sie um. Lilith hatte eine kurze Atempause gewonnen. Keuchend kam sie hoch und wischte sich über die Wange. Dunkles Blut blieb an ihrem Handrücken kleben. Gleichzeitig spürte sie eine Aktivität des Symbionten. Er gab die Vorspiegelung eines Pelzmantels auf und modellierte das zerrissen
wirkende Riemenkleid, das zu seinen bevorzugten Erscheinungsfor men zählte. Einige der Riemen lagen nicht dicht am Körper, sondern faserten auf und bildeten dünne Medusenfäden. Als sie die Couch fast erreicht hatten, erschien der Kopf des Vam pirs über deren Rand. Es wurde offenbar, daß er um die Gefährlichkeit des Symbionten wußte. Mit einem Satz sprang er auf und durch das zersplitterte Fenster ins Freie. Lilith folgte ihm. Zumindest wollte sie das. Doch ein Aufschrei von Fee ließ sie her umfahren. Die Augen des Popen waren so leer wie die der Vampirin. Er hielt eine lange, gebogene Fensterscherbe in der Rechten, so fest, daß Blut zwischen seinen Fingern vorquoll. Er schien es nicht einmal zu spü ren. Er sprach auch kein Wort, doch die Art, wie er Fees Hals mit dem Glas ritzte, sagte genug. »So ist es gut!« kam eine haßerfüllte Stimme vom Fenster her. Die dunkle Silhouette des Blutsaugers ragte vor dem hellen Schnee auf. Er blickte zu Lilith hinüber. »Du hast viel gewagt, um die Irre zu be freien«, fuhr er fort. »Und das alles nur, um sie sterben zu sehen.« »Nein!« Lilith machte einen Schritt auf ihn zu – und stoppte ab rupt, als Fee wieder aufschrie. Die Scherbe drang in ihren Hals ein und ließ einen Strom dampfenden Blutes zwischen ihre Brüste rin nen. »Ich lasse sie am Leben, wenn du dich an ihrer Stelle opferst«, sag te der Vampir vor dem Fenster. Lilith sah gehetzt von ihm zu Fee und wieder zurück. Sie zweifelte keine Sekunde daran, daß ihr Gegner sie beide töten würde. Gnade gehörte nicht zum Repertoire von Vampiren. Sie mußte Zeit gewin nen – und auf eine Chance hoffen.
»Was soll ich tun?« fragte sie, scheinbar resigniert. Der Vampir lachte. »So einfach gibst du auf?« höhnte er. »Das muß ja wahre Freundschaft sein!« »Was soll ich tun?« wiederholte Lilith gereizt. »Nun, zunächst legst du dieses … Ding ab!« verlangte der Vampir. »Wirf es in die Glut!« Lilith wollte einwenden, daß es unmöglich sei, das Kleid abzulegen – aber sie wußte, daß er ihr nicht glauben würde. Also tat sie so, als würde sie es langsam abstreifen, in der Hoffnung, der Symbiont würde das Spiel mitmachen – bis zu einem gewissen Punkt zumin dest. Hilf mir! dachte sie konzentriert. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Sie sah, daß einer der Medusenfäden nicht mehr zum Fenster ge richtet war, sondern über den Boden auf Fee zukroch. Und von draußen erklang ein fernes Dröhnen, das rasch lauter wurde. Auch der Vampir hatte es gehört und wandte sich irritiert um. So entging ihm das Aufstöhnen des Popen in diesem Moment. Erleichtert erkannte Lilith, daß nicht Fee das Ziel des Medusenfa dens gewesen war, sondern Pavel Stancu. Der Strang des Kleides hat te sich am Popen emporgeschlängelt und war an seiner Stirn in den Schädel eingedrungen. Lilith kannte die Prozedur. So hatte der Symbiont auch schon zweimal die Kontrolle über ihren eigenen Körper an sich gerissen. Jetzt übernahm er den Popen. Stancu zog die Scherbe aus Fees Hals und schleuderte sie davon. Dann stand er ruckartig auf, drehte sich um und verließ wie ein Roboter den Raum. Der Medusenfaden schnellte in das Kleid zurück. Als der Vampir sich wieder dem Geschehen im Haus widmete,
mußte er erkennen, daß das Blatt sich gewendet hatte. Das Dröhnen über seinem Kopf, jetzt gepaart mit einem grellen Lichtkegel, der ihn ins Visier nahm, ließ ihn konfus werden. Lilith war mit einem Sprung am Fenster. Mit einem kurzen Blick erkannte sie den Hubschrauber, der eben über dem Dorfplatz ein schwebte. Gerade im richtigen Moment. Sie hatte den Vampir fast erreicht, als der sie kommen sah – und entschied, daß Flucht sein einziger Ausweg sei. Die Metamorphose setzte ein. Sein Körper schrumpfte in Sekun denbruchteilen und ordnete sich um. Ledrige Schwingen teilten die Luft. Mit wenigen Schlägen brachte er sich außer Reichweite der Symbiontenfäden. Doch er sollte nicht entkommen. Der Pilot des Helikopters hatte ihn im Strahl des Suchscheinwer fers behalten. Nun zog er die Maschine herum. Lilith wandte den Blick, als ein kurzes Reißen ertönte, gefolgt von einem Regen schwarzen Blutes und kleiner Fellstückchen. Ein letz tes, panisches Kreischen der Vampirfledermaus verwehte in der Nacht. Es wurde vom Knattern des landenden Hubschraubers über tönt.
* Sie war Randolph um den Hals gefallen wie einem alten Freund. Er berichtete ihr, was sie aus seiner puren Anwesenheit heraus schon wußte: daß Robert Cravens Plan funktioniert hatte. Randolph war als Tourist ganz regulär nach Rumänien eingereist und hatte sich auf dem Flughafen von Timisoara einen Helikopter gemietet. Damit bezog er zehn Kilometer nördlich von Râcâsdia auf einer Waldlich
tung Stellung, bis Lilith den Signalgeber aktivierte. Es konnte keine angenehme Wartezeit für den rotblonden Hünen gewesen sein; jetzt noch zitterte sein mächtiger Körper vor Kälte und Übernächtigung. Aber darüber verlor er kein Wort. Der Vampir, den er gewissermaßen im Vorbeiflug erledigt hatte, war der letzte Überlebende aus der hiesigen Sippe gewesen. Lilith hatte sämtliche Einwohner des Dorfes überprüft und war sich si cher, daß alle von vampirischer Beeinflussung frei waren. Auch der Pope, der wie einige andere Dorfbewohner bis zuletzt unter der Kontrolle des verbliebenen Blutsaugers gestanden hatte, war nach dessen Tod davon befreit. Er konnte sich kaum an die Ge schehnisse erinnern, und das war auch gut so. Lilith erklärte ihm und den anderen nur das Nötigste. Darunter fiel das Leben nach dem Tod. Da sie alle den Vampirkeim in sich trugen, würden sie nach ihrem Ableben zu Dienerkreaturen werden, auch wenn ihre »Herren« längst vernichtet waren. Pavel Stancu versprach unter Eid, eine neue alte Tradition in Râcâsdia ein zuführen; eine Tradition, wie sie der Sage nach in der Karpatenregi on Rumäniens noch heute Bestand hatte: Gleich nach ihrem natürli chen Tod würden die Einwohner gepfählt werden – so lange, bis eine neue Generation die letzten Spuren der Vampire getilgt haben würde. Randolph kümmerte sich um Fee, deren Verletzung schon fast wieder verheilt war, während Lilith sich von Stancu verabschiedete. Mit steinerner Miene hatte der Hüne zur Kenntnis genommen, was mit der Vampirin geschehen war. Jetzt grinste sie ihn blöde an und versuchte mit ihrer Zunge seine Wange zu erreichen, als er sie, in eine Decke gehüllt und auf beiden Armen tragend, zum Helikopter brachte. Er setzte sie auf einen der hinteren Sitze und schnallte sie fest, was
sich angesichts ihrer unförmigen Fledermausflügel nicht einfach ge staltete. Dann nahm er auf dem Pilotensitz Platz und ließ die Turbi ne warmlaufen. Lilith eilte unter den sich langsam drehenden Rotorblättern durch, stieg ins Cockpit und zog die Tür hinter sich zu. Randolph gab mehr Gas. Die Flügel rotierten schneller und wirbelten Schnee zur Seite. Das ganze Dorf hatte sich rings um den Dorfplatz versammelt und blickte nun dem Helikopter nach, als der sich majestätisch in die Lüfte erhob und nach Nordwesten schwenkte, fort von dem aufglü henden Morgenrot im Osten.
* In Robert Cravens Zügen war keine Regung abzulesen, als er von Fees Zustand erfuhr. Doch als er sich der Schwachsinnigen näherte und ihr behutsam über die Wange strich, glitzerte eine Träne in sei nem Augenwinkel. Lilith sah verstohlen zu Beth MacKinsey hinüber. Die Freundin nahm sie beiseite und flüsterte: »Er ist in Ordnung, glaub mir. Ich hatte drei Tage Gelegenheit, ihn genau unter die Lupe zu nehmen. Er führt nichts Böses im Schilde; im Gegenteil.« Fees Kichern lenkte die Aufmerksamkeit der beiden ungleichen Freundinnen wieder auf den Hexer und die Vampirin. Craven hatte ihr das strähnig verklebte Haar aus der Stirn gewischt. Fee beobach tete fasziniert, wie seine Hand in die Westentasche fuhr und ein kleines rundes Amulett hervorholte. Als er es ihr auf die Stirn preß te, verstummte sie abrupt und sah ihn mit großen Augen an. Lilith und Beth traten näher. Cravens Gesicht war aufs höchste an gespannt. Kleine Schweißperlen begannen auf seiner zerfurchten Stirn zu glitzern. Fees Miene nahm dagegen einen verlorenen, ent
rückten Ausdruck an. Ihr Mund klaffte auf, und ein dünner Spei chelfaden tropfte auf den Stoff des einfachen Kleides, mit dem Lilith ihre Blöße verhüllt hatte. Schließlich löste Craven mit einem Keuchen das Amulett von Fees Stirn. Er war so erschöpft, daß Randolph hinzuspringen und ihn stützen mußte. »Ihr Geist ist zerstört«, hauchte der Hexer mit atemloser Stimme. »Doch tief drinnen kann ich noch ein Echo ihres früheren Verstan des spüren. Nicht viel«, schränkte er sogleich ein, »nur ein schwa cher Abglanz von Wissen.« Er schob das Amulett mit der sternför migen Gravur darauf in die Tasche zurück. »Nichtsdestotrotz – viel leicht kann ich es freilegen.« »Sie meinen – Fee könnte geheilt werden?« fragte Lilith. Craven schüttelte den Kopf. »Nicht so, daß sie wird wie früher«, entgegnete er. »Sie müßte fast ganz von vorn beginnen. Aber den Schwachsinn kann ich vielleicht besiegen.« »Und Ihr Traum von Unsterblichkeit?« fragte Beth. Mitgefühl schwang in ihrer Stimme mit. Lilith spürte, daß die sonst so kaltblü tige Reporterin in den wenigen Tagen Vertrauen zu dem mysteri ösen Mann gefaßt hatte. Craven hob die Schultern. »Es wäre ein Risiko, den Keim jetzt von ihr zu empfangen – in die sem Zustand«, antwortete er. »Wenn ihr Schwachsinn magisch her beigeführt wurde, könnte jeder, der von ihr gebissen wird, Schaden nehmen.« Er straffte seinen ausgemergelten Körper. »Wenn Sie bei de einverstanden sind«, fuhr er fort, »behalte ich Fee hier bei mir. Ich verspreche, daß ich mein Möglichstes tun werde, sie zu heilen.« Lilith nickte. »Es wird wohl das beste sein«, sagte sie und blickte zu Beth, die ebenfalls ihr Einverständnis nickte. Randolph trat zu Fee, die ihm, noch verwirrt von Cravens geisti
gem Kontakt, ängstlich entgegenstarrte. »Kommen Sie.« Randolph legte seine Pranke sacht um ihre Schul tern. »Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Dort können Sie sich duschen und ausruhen.« Es war fraglich, ob Fee verstand, aber seine beruhigende Stimme zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Spieln?« meinte sie zaghaft. Randolph schüttelte den Kopf. »Ausruhen«, wiederholte er. Lilith, Beth und Craven sahen ihm nach, als er die schlanke Gestalt mit den Fledermausflügeln die Treppe hinaufführte. Craven atmete tief aus und wandte sich zu den beiden Frauen um. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, sagte er zu Lilith und reichte ihr die Hand. Sein Händedruck war, angesichts seines bibli schen Alters, noch erstaunlich kräftig. »Auch wenn die Heilungs chancen gering sind – ohne Sie hätte Fee gar keine Zukunft gehabt. Sie haben ihr und vielleicht auch mir einen unschätzbaren Dienst er wiesen.« Er trat an eine wuchtige Eichenholzkommode heran, die an einer Wand des Salons stand. »Ich möchte nicht, daß Sie es als Entgelt für Ihre Dienste auffassen«, sagte er und zog einen großen braunen Briefumschlag aus einer der Schubladen. »Nehmen Sie es als meinen aufrichtigen Dank an.« Und damit zauberte er ein karminrotes Heftchen aus dem Umschlag hervor und reichte es Lilith. Es war ein Reisepaß, der sie als britische Staatsangehörige aus wies. Mit ihrem Konterfei darin. »Wie –«, setzte Lilith an, wurde aber von Beth unterbrochen. »Ich habe einige Aktenordner mit Modefotografien gewälzt«, sagte sie. »Das bist nicht du – aber sie sieht dir verteufelt ähnlich, nicht wahr? Nachdem man dich nicht vernünftig fotografieren kann, war das die beste Lösung.«
Craven übergab ihr den Umschlag. »Hier drin sind alle Unterla gen, die Sie für die Einreise nach Japan benötigen. Außerdem liegen zwei weitere Pässe mit falschen Namen bei – für Notfälle.« »Japan?« echote Lilith und sah Beth an. Die hob die Schultern. »Warum nicht?« fragte sie. »Nach Sydney können wir nicht zu rück. Ich habe lange darüber nachgedacht. Die japanische Mytholo gie und der Menschenschlag dort haben mich schon immer faszi niert. Und wo könnte man besser untertauchen als in einer der größ ten Metropolen der Welt?« »Tokio?« schlußfolgerte Lilith. »Dort befindet sich Ihr neuer Wohnsitz«, sagte Robert Craven, und ein zufriedenes Lächeln kerbte sich um seine Mundwinkel. »Ich habe mir erlaubt, ein Penthouse für Sie zu mieten, im hundertsten Stockwerk des Schinrei-Building. – Schinrei bedeutet übrigens Ge borgenheit. Ich wünsche Ihnen beiden, daß es seinem Namen ge recht wird …«
EPILOG Die letzten Strahlen der Abendsonne wanderten langsam über die rußgeschwärzten Trümmer und füllten die Klüfte dazwischen mit nachtschwarzen Schatten. Der Rauch hatte sich längst verzogen, und nur der Geruch nach verbranntem Holz und Fleisch kündete noch von der verheerenden Explosion und den Untoten, die unter den zentnerschweren Steinen ihr endgültiges Grab gefunden hatten. Es war still. Der Wind schwieg, das Rauschen der Tannen war ei ner fast unwirklichen Ruhe gewichen. Als hielte selbst die Natur den Atem an. Das Poltern eines kleinen Trümmerstücks, das sich plötzlich vom Schutt löste und über einen schräg liegenden Gesteinsblock nach un ten rutschte, störte die Ruhe. Ein zweiter Stein folgte, dann hob sich der ganze Block ein Stück in die Höhe. Darunter kam eine zierliche Hand zum Vorschein. Sie tastete nach Halt und fand ihn an einem aufragenden, verbogenen Eisenrohr. Noch weiter hob der Block sich an, kippte schließlich in einer Wolke von Staub und Geröll zur Seite und gab einen schlanken, unbeklei deten Körper frei. Die Verletzungen der jungen Frau waren in der Zeit, die sie in ei nem Hohlraum unter den Trümmern begraben lag, verheilt. Nur die Stirnwunde hatte sich noch nicht vollends geschlossen. In ihren Au gen war kein Leben mehr. Trotzdem schob sie nun die letzten Hindernisse beiseite und rich tete ihren mädchenhaften Körper langsam auf. Eben versank am Horizont hinter dem Wäldermeer die rotglühende Sonne; ihre Strah len hatten nicht mehr die Kraft, der Dienerkreatur zu schaden. Die junge Frau ließ ihren toten Blick über das Feld der Verwüs tung schweifen. Etwas in ihr lauschte – nicht auf die Geräusche des Waldes, sondern nach innen.
Doch da waren keine Befehle, denen sie zu folgen hatte. Ihre Her ren waren nicht mehr. Es schien, als würde sie erst jetzt richtig erwachen. Als würde sie sich erst jetzt ihrer neuen Existenz bewußt. Die Erinnerung an die Vergangenheit war nurmehr ein fernes Echo ihrer Gedanken, die sich nun um andere Dinge drehten; Dinge, die sie in ihrem früheren, scheuen und züchtigen Leben mit Schrecken und Scham erfüllt hät ten. Ein besonderer Durst war in ihr erwacht. Sie blickte an sich herab. Ihr Körper war von Schmutz und geronnenem Blut besudelt. Sie strich zärtlich darüber, folgte dem Lauf ihrer schlanken Taille und malte kleine rote Muster auf ihre knospenden Brüste. Ein lüsternes Stöhnen löste sich von ihren Lippen, über die sich spitze Eckzähne schoben. Zu dem Durst gesellte sich Gier. Sie trat an den Rand des Trümmerplateaus, breitete die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken. Selbst der Himmel war wie in Blut getaucht. Der Widerschein der Sonne färbte die Wolken, die von Westen heranzogen und neuen Schnee mit sich trugen. Der aufkommende Wind brachte angenehme Kühle und spielte mit ihrem langen braunen Haar, das bis zu den Hüften herabfiel. Die junge Frau senkte den Blick. Gut eine Meile entfernt konnte sie aufsteigenden Rauch erkennen. Die Erinnerung kam nur zaghaft. Ihr Heimatdorf. Ihre Familie. Ihre Freunde. Ein grausames Lächeln spielte um ihre vollen Lippen. Es war Zeit zurückzukehren. ENDE
Der Blutschädel von Adrian Doyle Eigentlich wäre für Lilith und Beth jetzt der Weg nach Japan – und in eine neue Existenz – frei. Ist es Neugierde oder Sentimentalität, die die Halbvampirin veranlaßt, dennoch im Lande zu bleiben? Sie sucht das Geburtshaus ihres menschlichen Vaters auf. Hier macht sie eine erschreckende Entdeckung. Im nahen Dorf gilt das Anwesen als verflucht. Und der neue Besitzer des Hauses scheint kein Mensch zu sein! Auf der Suche nach einer Erklärung wagt sich Lilith zu weit vor. Die Türen des Hauses schließen sich hinter ihr. Für immer?