Der Hüter und das Kind von Timothy Stahl
Alaska, vor einigen Wochen Nathan Tulliver hatte geglaubt, alle Gesichter des...
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Der Hüter und das Kind von Timothy Stahl
Alaska, vor einigen Wochen Nathan Tulliver hatte geglaubt, alle Gesichter des Todes zu kennen. Sein Irrtum wurde ihm an diesem Morgen vor Augen geführt – auf drastische Weise. Der Leichnam lag zu seinen Füßen, Blut hatte den Schnee ringsum dunkel gefärbt, beinahe schwarz. Blut aus gräßlichen Schußwunden, die den Körper regelrecht zerrissen und verheert hatten. Doch das war nicht das eigentlich Schlimme an dem Anblick. Als viel furchtbarer empfand Tulliver die zuckenden Bewegungen, die den Toten durchliefen – und die Tatsache, daß er sich erhob.
Was bisher geschah Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer schrecklichen Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Gleichzeitig wird in einem Kloster in Maine, USA, ein Knabe geboren, der sich der Kraft und Erfahrung der todgeweihten Vampire bedient, um schnell heranzuwachsen. Die Epidemie macht auch vor dem Häuptling eines Stammes von Vampir-Indianern nicht halt, die sich vom Bösen abgewandt haben, indem sie geistigen Kontakt zu ihren Totemtieren, der Adlern, halten. Makootemane kämpft mit dem Traumbild der Seuche – einem Purpurdrachen – und drängt sie zurück. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Kindes erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Rund um den Erdball reagieren para-sensible Menschen, träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Rafael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie aus einer Traumwelt, in der die Vampire die Erde beherrschen, indem er sein Leben für sie opfert. Dann trifft Lilith auf einen Vampir in der Kutte eines Mönchs. Er gehörte vor gut 500 Jahren dem Illuminati-Orden an, der nahe Rom in einem unzugänglichen Kloster ein Tor bewachte (und es noch heute tut). Eines Tages wurde er von jenseits des Tores in Bann geschlagen. Zwar konnte er die Pforte nicht öffnen, lebte fortan aber als Vampir weiter. Lilith stellt sich ihm. Dabei hört sie erstmals von dem geheimnisvollen Tor … Einen zweiten Hinweis darauf erhält Lilith, als sie einer Stadt der Vampire zwischen den Dimensionen den Todesstoß versetzt. Hier
erfährt sie, daß eine Rasse gestaltwandlerischer Wesen seit tausend Jahren einen Dimensionsriß erweiterte, um »das Tor zu umgehen« – was der Untergang der Stadt verhindert. Eine weitere Aufgabe für Lilith wartet in New Orleans. Hier versanken im Jahre 1863 Hunderte von Soldaten und Zivilisten im Sumpf – und einer davon war ein Vampir. Der Morast konservierte ihn und seine Dienerkreaturen. Als der Sumpf trockengelegt wird, erwachen sie wieder zu unheiligem Leben. Doch Lilith Eden gewinnt auch diesen schier aussichtslosen Kampf. In der Zwischenzeit führt die Seuche einen zweiten Schlag gegen den Stamm der Vampir-Indianer. Hidden Moon, Makootemanes Schüler, macht sich auf, um die ebenfalls gute Halbvampirin Lilith Eden um Hilfe zu bitten – und rettet sie mit indianischer Magie aus den Klauen eines Dämons. Zum Dank steht sie dem Stamm der Arapaho gegen die Seuche bei, die jedoch alle Adler tötet. So zerstreut sich der Stamm auf der Suche nach neuen Totemtieren, und Hidden Moon (dessen indianischer Name Wyando lautet) schließt sich Lilith an …
Schüsse hatten Nathan Tulliver im Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen, doch der alte Inuit war nicht sofort aus dem Bett gesprungen. Als er schließlich doch durchs Fenster seiner Hütte hinaus in das trübe Zwielicht des jungen Tages spähte, waren die Schüsse längst verklungen. Stille hatte sich wie eine alles erstickende Wolke über Nuiqtak gelegt. Eine Wolke, die dem Alten vorgekommen war wie der Hauch des Todes, der sich zwar unsichtbar, aber dafür um so deutlicher spürbar auf eine Stelle da draußen im Schnee konzentriert hatte: Das jungfräuliche Weiß war dort besudelt und etwas Dunklem gewichen, und in der Mitte jenes Fleckes lag etwas. Jemand … Nathan Tulliver hatte seine Hütte nicht durch die Vordertür verlassen, sondern durch den Anbau, in dem sich seine Werkstatt befand. Dort hatte er im Vorübergehen seine Krummaxt aufgenommen. Normalerweise bearbeitete er damit Holz, schuf Kanus und Totempfähle daraus und hatte sich so den Ruf eines wahren Meister-Schnitzers seines Landes buchstäblich erarbeitet. Doch die Axt würde ihm heute vielleicht zum ersten Mal nicht nur als Werkzeug gute Dienste leisten … Leise war der Inuit aus der Werkstatt getreten und hatte seine Umgebung mit Blicken sondiert, so gut es die Morgendämmerung zuließ. Dann erst, als er keine Bewegung oder sonst etwas Verdächtiges wahrgenommen hatte, hatte er sich vorsichtig – und mit dennoch zum Schlag erhobener Axt – jener Stelle inmitten seiner »Sammlung« eindrucksvoller Totempfähle genähert, wo er vom Fenster aus den reglosen Körper entdeckt hatte. Reglos war der fürchterlich zugerichtete Tote auch geblieben, als Nathan Tulliver ihn erreicht hatte. Drei oder vier Sekunden lang. Dann hatte der Leichnam begonnen, sich zu bewegen. Tulliver hätte es für ein Wunder gehalten. Wenn er nicht mit jeder Faser seines Leibes und Seins gespürt hätte, daß etwas ganz und gar
nicht Wunderbares der »Beweggrund« war! Kälte fraß sich mit tausend winzigen, mörderisch spitzen Zähnen unter die Haut des Alten und tiefer. Eine Kälte, die allem hohnsprach, was Tulliver je an Minustemperaturen erlebt hatte. Sie ließ ihn nicht einfach nur frieren, sondern ummantelte alles in ihm mit wahrhaft beißendem Frost, der sich in eisigen Blitzen tief in jede Zelle verästelte. Und doch war die Angst, daran zu sterben, geradezu lächerlich gering im Vergleich zu jener, die ihm der bloße Anblick des »Toten« bescherte. In den Wunden, die vor nasser Schwärze glänzten, rührte sich etwas. Als würden Metastasen in widernatürlicher Geschwindigkeit darin wuchern, um die finsteren Löcher zu füllen und zu schließen. Und nichts anderes tat die schwammige Bewegung … Der grauenhafte Prozeß ging einher mit ekelhaft feuchten und schmatzenden Lauten, die dem Inuit schier in den Ohren dröhnten, in seinen Gedanken brüllten und seinen Verstand auf eine imaginäre Grenze zuhetzten, über die er nie mehr zurückkommen würde, wenn er sie einmal überschritten hatte … »Wahnsinn …«, wehte es von den bebenden Lippen seines lederhäutigen Gesichts. Die Furchen darin, die ihn in den Augen anderer selbst wie aus Holz geschnitzt aussehen ließen, bewegten sich wie von eigenständigem Leben beseelt. Im Gegenlicht der aufgehenden Sonne von einer glühenden Aureole umgeben stand der »Tote« da, und durch die tiefsten Brustwunden, die sich noch nicht geschlossen hatten, bohrten sich blutfarbene Lichtlanzen, auf denen er sich vor Schmerz zu winden schien. Dann wucherte die Schwärze auch in diesen Löchern und verschloß sie. Einer körperlosen Leibgarde gleich flankierten die Schatten der Totempfähle den Auferstandenen – – der selbst keinen Schatten warf! Nathan Tulliver wunderte sich, daß er in dem Chaos, das in ihm
tobte, überhaupt Muße und Gelegenheit für diese merkwürdige Beobachtung fand. Doch schon im nächsten Augenblick wurde er abgelenkt. Als der unheilige Heilungsvorgang auf das Gesicht des anderen übergriff. Eben noch eine formlose Fratze aus Blut und zerfetztem Fleisch, schienen sich mit einemmal unsichtbare Hände der amorphen Masse anzunehmen, um sie zu modellieren. Sie schufen einen noch lippenlosen Mund, der sich öffnete und all den Schmerz, der sich in dem Wiederbelebten aufgestaut hatte, in einem einzigen Schrei entließ. Tulliver erzitterte unter der Gewalt des Brüllens und wandte den Blick ab. Als er wieder hinsah – nach drei, allerhöchstens vier Sekunden –, hatten die Unsichtbaren ihr Werk vollendet. Der Inuit sah in ein wiederhergestelltes Männergesicht – doch auf eine Weise, die er selbst nicht in Worte fassen konnte, schien es ihm beinahe schlimmer als im zerstörten Zustand. Die Augen lagen im Schatten buschiger Brauen und tief in ihren Höhlen, doch ihre dunkle Färbung rührte nicht daher. Sie waren vielmehr von der Farbe eines sternenlosen Nachthimmels, und sie strahlten ebensolche Kälte aus, wie sie in den unbegreiflichen Weiten der Unendlichkeit herrschen mochte. Ein harter Zug lag um die Lippen des anderen, und doch verriet dieser Zug mehr als nur Härte oder auch Ingrimm. Er zeugte von unvorstellbarer Grausamkeit, von gnadenloser Brutalität, von abgrundtiefem Haß – und von vielen Dingen mehr, die zu benennen Nathan Tulliver nicht mehr die Zeit hatte. Denn der andere kam näher. Vielleicht war es die Kälte, die ihn immer noch in ihrem eisigen Griff hielt, vielleicht auch der Blick aus diesen glanzlosen Augen, die den Inuit lähmte und bannte und ihn die Krummaxt aus den Fingern fallen ließ. Als der andere ihm so nahe gekommen war, daß er den Geruch
des Todes, der ihm immer noch anhing, wahrnehmen konnte, registrierte Nathan Tulliver noch zwei Auffälligkeiten: Eine kreuzförmige Narbe, die auf der Wange seines Gegenübers prangte und wie in schwarzer Glut zu leuchten schien. Und zwei elfenbeinfarbene Spitzen, die sich unter seiner Oberlippe hervorschoben. Im nächsten Moment nahm der alte Holzschnitzer nur noch eines wahr. Schmerz. Doch auch der ließ nach, pulsierte im Takt seines immer müder schlagenden Herzens aus ihm heraus. Und er verebbte vollends, als Landru den letzten Tropfen Blut aus seinen Adern gesogen hatte.
* Auch anderenorts, auf der jenseitigen Hälfte des Erdballs in Indien, wurde der Tod betrogen. Seit vielen Nächten schon. Augen, die Jahrhunderte geschaut hatten, öffneten sich in einem finsteren Gewölbe. Ein Stöhnen wehte durch die Dunkelheit, doch es war nicht von jener Art, mit dem letzte Müdigkeit nach langem Schlaf wich. Vielmehr kündete es von Enttäuschung, und Schmerz schwang darin mit. Enttäuschung und Schmerz – weil sich der Tod einmal mehr nicht als endgültig erwiesen hatte. Der Vampir versuchte sich aufzurichten. Aber es dauerte lange, bis sein verwüsteter Leib den gedanklichen Befehlen gehorchte, und selbst dann wollte sich ihnen noch jedes einzelne Glied widersetzen. Weil selbst die geringste Bewegung Qualen bedeutete, die an dem bißchen Kraft, das noch in dem geschundenen Körper steckte, zehrte, ohne es indes zur Gänze zu verschlingen.
Etwas ließ nicht zu, daß jene allerletzte Neige von Energie aufgebraucht wurde. Jemand, der an diesem Rest von Leben hing, obwohl es nicht das seine war – und obwohl er dem Tode stets mehr zugetan gewesen war als dem Leben. Zu eigenen Lebzeiten … »Parasit …«, preßte Timot hervor. Selbst seine Stimme klang mürbe und kraftlos. Ein lautloses Lachen mengte sich zwischen seine Gedanken. Du bezahlst nur für das, was du mir angetan hast, wisperte es nicht nur im Schädel des Vampirs, sondern überall in ihm. Und für das, was du mir genommen hast … Timot schwieg. Doch die Erinnerung ließ sich auf diese Weise nicht unterdrücken. Wie in jeder Nacht stieg sie in ihm empor, brachte Bilder mit aus einer Vergangenheit, die noch gar nicht sehr lange zurücklag – und in der doch alles anders gewesen war … Die Vampire waren noch die geheimen Herrscher gewesen, überall auf der Welt, auch hier in Delhi. Stark und mächtig war die Alte Rasse, obgleich der Verlust des Lilienkelches wie ein Damoklesschwert über ihr gehangen hatte. Doch die Zeichen hatten sich gemehrt, daß sich ein anderer Weg auftun könnte, um vampirischen Nachwuchs zu schaffen. Die Delhi-Sippe – oder wenigstens doch ihr Führer, Tanor, und er selbst, Timot, – hatte ihr Scherflein dazu beigetragen. Sie hatten sich mit Landru, nachdem sie ihm sein Geheimnis entrissen hatten, verschworen, um diesen neuen Weg zu ebnen – – und hatten doch nichts anderes getan, als das Unheil heraufzubeschwören. So jedenfalls betrachtete Timot rückblickend die Ereignisse jener Nacht, in der sie in Landrus Auftrag die rätselhafte Opferschlange dem Nekromagier Sahya Patnaik übergeben hatten, damit er ihre Geheimnisse ergründete.* Patnaik – der wegen seiner besonderen Gabe, Tote auf unsagbare *siehe VAMPIRA H46: »Der bittere Kelch«
Weisen zu reanimieren, auch der »Erwecker« genannt wurde – hatte die Aufgabe nicht gelöst. Er war daran zerbrochen, und Timot hatte ihn getötet, als er, dem Wahnsinn anheimgefallen, über das Oberhaupt der Delhi-Sippe hergefallen war. Zuvor jedoch hatte Timot seine besondere Gabe, die Kraft und die Talente anderer zu seinen eigenen zu machen, eingesetzt und Patnaik im Moment des Todes etwas entrissen, das er später noch erproben wollte, um zu sehen, wie er es nutzen konnte … Nutzen hatte es ihm jedoch keinen gebracht. Statt dessen war ihm das Leichenfleddern zum Fluch geworden … Ein Fluch, der Timot zum Leben verdammte. Weil er nichts anderes wollte, als zu sterben – endlich und endgültig. Denn er starb durchaus – am Ende einer jeden Nacht holte der Tod ihn zu sich. Doch nur, um ihn mit dem Verlöschen des letzten Sonnenstrahls am Abend wieder in die Welt der Lebenden hinauszuweisen. In eine Welt, die nicht mehr die seine war, seit … Ja, seit was eigentlich? Seit alle seine Brüder und Schwestern auf qualvolle Weise krepiert waren – alle bis auf Tanor. Was immer ihren Tod verursacht hatte, es hatte ihren Blutvater verschont und ihn seine Kinder überleben lassen. In ihrem Volk hatte sich die Kunde verbreitet, daß es die Vampirsippen in aller Welt getroffen hatte. Und überall blieben die Oberhäupter, die ihr Blut einst in den Lilienkelch gegeben hatten, damit ihre Nachkommen daraus den schwarzen Keim vampirischen Seins empfingen, von der tödlichen Seuche verschont. Für sie hatte sich nichts geändert, während menschliches Blut die Angehörigen ihrer Sippen nicht mehr nährte. Sie erbrachen es, kaum daß sie es ihren Opfern genommen hatten, und so verdursteten sie an reich gedeckter Tafel, verfielen und gingen zugrunde. Timot war der letzte Überlebende der Delhi-Sippe, doch er empfand es nicht als Gnade. Er sehnte sich danach, das Schicksal seiner
Blutgeschwister zu teilen – und zu einem Teil tat er es auch. Er starb eben jenen leidvollen Tod, der auch ihr Dasein beendet hatte, denn auch Timot belebte das Elixier aus menschlichen Adern nicht länger. Doch er erwachte immer wieder, weil etwas ihn erweckte, und er war gezwungen, die Stunden der Nacht damit zu verbringen, auf den nächsten Tod zu warten … Ein schauderhaftes Grinsen verzerrte die verweste Fratze des Vampirs, als ihm ein von Menschen geprägter Spruch in den Sinn kam. Sie sprachen davon, daß jemand, der Höllenqualen auszustehen hatte, »tausend Tode starb« … Nun, er selbst würde diese Zahl irgendwann erreicht haben. Doch damit würde sein Sterben noch lange nicht zu Ende sein … Timot definierte den Begriff »Ewigkeit« seit kurzem anders. Er erschloß sich ihm in neuer, entsetzlicher Dimension …
* Es war nicht mehr gewesen als ein Spiel. Ein Spiel jedoch, das er verloren hatte. Und er hatte darauf reagiert, wie es wohl jedes Kind seines Alters tat. Gabriel war wütend geworden. Doch seine Wut war nicht die eines Kindes gewesen. Nicht einmal die eines Menschen … Der Zorn einer unsagbar fremden und unvorstellbar gewaltigen Macht hatte ihn erfüllt – und das Ausmaß dieses Gefühls hatte den Jungen beinahe selbst erschreckt. Weil er nicht gewußt hatte, daß er zu solchem Empfinden fähig war. Nicht gewußt …, echote es in dem Knaben. Es gab so vieles, was er nicht wußte. Obwohl das Wissen um so vieles spürbar in ihm war. Vielleicht alles Wissen der Welt – und mehr. Und doch vermochte er es nicht anzuwenden, nicht einmal zu verstehen. Etwas schützte dieses Wissen vor seinem Zugriff. Noch. Ir-
gendwann würde es anders werden, würde er das Wissen begreifen und nutzen dürfen. Wenn sein Geist bereit war, all dies zu verkraften. Wenn seine Macht groß genug geworden war, um mit all dem umzugehen, wie es Sinn und Zweck sein würde. Und auch dieser Sinn und Zweck würde sich ihm erst dann gänzlich erschließen. Das Kind hatte nicht warten wollen, bis es soweit war. Es hatte mit dem Teil der Macht, der ihm jetzt schon zugänglich war, gespielt. Wie es die Art eines Kindes war, hatte es Verbotenes versuchen wollen, hatte es diesem besonderen Reiz nicht widerstehen können. Niemand hatte den Knaben daran gehindert. Wer hätte es auch tun sollen? Niemand war auch nur diesem kleinen Teil jener Macht gewachsen. Niemand, der auf Erden weilte und wandelte … Auf die Insel, die von den Menschen Nova Scotia genannt wurde, hatte das Kind sich mit seiner Amme zurückgezogen. Dort hatte Gabriel in Ruhe und Geborgenheit in sich aufgenommen, was Jennifer Sebree ihm hatte geben können: Energien, die seine Reife anfachten. Zuvor, als Säugling noch, hatte er sich an Wesen gelabt, deren Seelenverwandtschaft er sofort erkannt hatte: Vampire. Aber es waren Todgeweihte, Sterbende gewesen, die ihn nur dank ihrer großen Zahl nähren konnten. Er hatte ihre ausgemergelten, verfaulenden Seelen in sich aufgenommen und war gewachsen, an Körper und Geist. Doch das war viel zu langsam und mühsam geschehen. Gabriel wußte, daß es auch andere Wege gab. Wege, die schneller ans Ziel führen würden. Er hatte schon gekostet von den Quellen solcher Energien, ohne sie vollends auszuschöpfen. Vielleicht, so hatte er hinter den Mauern jenes alten Schlosses, in dem er sich vor der Welt verborgen gehalten hatte, überlegt, sollte ich es tun. Erneut aus diesen Quellen trinken und sie bis zur Neige leeren … Den Entschluß hatte er mit kindlicher Spontaneität gefaßt. Den Plan
selbst mit perfider Bösartigkeit und in kalter Berechnung vorbereitet. Er hatte jene zu sich gelockt, deren Kraft er schon probiert hatte. Und sie waren gekommen. Es war so leicht gewesen. Seine Macht war ihm schon jetzt, da sie noch ganz am Anfang gestanden hatte, grenzenlos erschienen. Gabriel hatte sich die Zeit genommen, ihre Energien in besonderer Weise aufzubereiten. Er hatte mit ihnen gespielt, ehe er ihnen ihr Leben hatte nehmen wollen – und damit alles, was ihm selbst von existentieller Wichtigkeit war. Ihnen … Lilith Eden. Raphael Baldacci. Sie waren keine normalen Menschen gewesen. Natürlich nicht, sonst hätten ihre Energien ihn nie und nimmer reizen können. Es wäre die Mühen, sie sich nutzbar zu machen, nicht wert gewesen: schon gewonnene Kraft einzusetzen, um die ihre zu bekommen. Lilith Edens Kraft war von jener Art, die ihm seinerzeit den ersten Kräfteschub beschert hatten. Nein, nicht wirklich von dieser Art; sie war nicht wirklich eine Vampirin. Nicht ganz jedenfalls. Ein Teil von ihr stammte zweifelsohne von jener unsterblichen Rasse ab, der andere war das Erbe eines Menschen. Doch gerade diese Kombination machte den Reiz, den Genuß an ihrer Energie aus … Der andere, Raphael Baldacci, war von gänzlich anderer Natur. Ein Mensch, zweifelsohne. Aber in ihm war mehr als nur Menschliches. Etwas, das dem Kind vertraut erschienen war, verwandt beinahe. Als wären ihrer beider Energien von nicht völlig unterschiedlicher Art. Was Raphael Baldacci wirklich war, hatte der Junge nicht in Erfahrung bringen können … Ihre schlimmsten Alpträume hatte er den beiden heraufbeschworen. Und unter dem Keim der Angst waren ihre Energien in Wallung geraten, hatten sich selbst potenziert und wären dem Kind zum
Festmahl geraten. Beinahe … Für das Mischwesen namens Lilith Eden hatte der Knabe eine Welt erschaffen, in der ihr verhaßtes Stiefvolk das Regiment führte. Mit keiner furchtbareren Vision wäre sie mehr zu quälen gewesen. Sie, deren Leben ganz dem Kampf und der Vernichtung aller Vampire gewidmet war, war an der vorgegaukelten Wirklichkeit fast zerbrochen. Und den letzten Rest gab Gabriel ihr, indem er sie in »seiner« Welt mit ihrem ärgsten Feind vermählen, sie ihm auf ewig Untertan machen wollte … Es hatte nicht geklappt. Die Nicht-Welt war aus den Fugen geraten. Und dafür hatte nicht zuletzt Raphael Baldacci gesorgt. Auf einem Wege, den das Kind nicht hatte nachvollziehen können, war er aus der ihm bestimmten Welt entkommen und in die für Lilith erschaffene eingedrungen. Dort hatte er sie vor dem Schicksal, das der Knabe ihr beschieden hatte, bewahrt – und ihres Zweckes beraubt war jene Welt eingestürzt. Und Raphael Baldacci war in ihren Trümmern – gestorben? So schien es, und obgleich Gabriel nicht wußte, ob solches überhaupt möglich war, nahm er es als gegeben hin. Seine Zuneigung zu Lilith Eden hatte ihn das Leben gekostet. Was nichts daran änderte, daß das Spiel nicht funktioniert, der Plan nicht geklappt hatte! Raphael Baldaccis Kraft war verloren gegangen im Nichts. Lilith Eden war entkommen und verschwunden. Doch damit nicht genug, hatte der Knabe seinen Zufluchtsort im Chaos all jener Ereignisse aufgeben müssen. Sein eigenes Heil hatte plötzlich auf dem selbstinszenierten Spiel gestanden, und Flucht erwies sich als die einzige Möglichkeit, es zu retten, wollte er nicht den großen Plan gefährden … Und das durfte er nicht. Unter keinen Umständen. Wie ein Tier hatte Gabriel sich in den Tagen danach verkrochen.
Erschüttert angesichts dessen, was er entfesselt hatte. Scham vor sich selbst empfindend, als stritten sich in ihm tatsächlich das Wesen eines Kindes und etwas ungleich Älteres … Ruhe hatte in sein Denken einkehren müssen. Das Toben aufgewühlter Macht in ihm galt es zu besänftigen. Nichts hatte ihn dabei ablenken dürfen, und irgendwann war es vollbracht gewesen. Seine Kraft indes hatte unter all dem gelitten. Schon freigesetztes Wissen hatte sich wieder in Vergessen gehüllt. Das Trachten, fremde Energien zu gewinnen und sie zu seinen eigenen zu machen, war wieder alleinbestimmend geworden. Gabriel hatte den Schutz der Wälder verlassen und die Nähe von Menschen gesucht. Fast wahllos zunächst, mir um wieder zu vorheriger Stärke zu finden. Dann besonnener, die Wahl seiner Opfer mit Bedacht treffend. Jung mußten sie sein, von innerer Stärke und rein in ihren Gedanken. Als könnte nur, was wirklich Weiß war, in Schwärze verwandelt werden. Eine Spur des Todes zeichnete Gabriels Weg durch die Staaten des nordamerikanischen Kontinents nach. Bis er darüber nachzusinnen begann, daß es ein zielloser Weg war, den er ging. Doch in dem Moment, da er sich dessen bewußt wurde, brach sich neues Wissen in ihm Bahn. Das Wissen um sein Ziel. Oder wenigstens doch um die Richtung, die ihn dorthin führen würde. Das Mittel, diesen Weg zu beschreiten, fand er rasch.
* Aspen Hill, US-Bundesstaat Maryland Caitlin Appleton tat alles mit mechanisch anmutenden Bewegun-
gen. Sie registrierte es selbst als ungewöhnlich, doch irgendwie schaffte sie es nicht, lange genug darüber nachzudenken, um es als wirklich merkwürdig zu empfinden. Sie klappte die Briefmappe zu, nahm die einzelnen Schriftbögen von ihrem Schreibtisch und legte sie zu einem säuberlichen Stoß aufeinander. Dann frischte sie den violett schimmernden Farbton ihrer Lippen auf, verstaute das Kosmetiktäschchen in einer Schublade und öffnete schließlich die Tür ins »Allerheiligste«. Was ohne vorherige Ankündigung über die Gegensprechanlage niemand außer ihr durfte. Manchmal kam sie sich mehr wie Duncan Wambaughs Tochter denn wie seine Sekretärin vor. »Mister Wambaugh?« fragte sie, nur den Kopf durch den Türspalt streckend. Der weißhaarige Anwalt sah vom Aktenstudium auf. »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, würde ich …«, setzte die junge Sekretärin an, doch Duncan Wambaugh unterbrach sie. »Kommen Sie bitte noch für einen Moment herein, Caitlin, und schließen Sie die Tür«, bat er. In seiner Stimme schwang jener väterliche Ton, mit dem er vor Gericht die Geschworenen davon zu überzeugen pflegte, daß ihr Urteil über einen »verlorenen Sohn« (denn als solchen sah er jeden seiner Klienten) nicht anders als »nicht schuldig« lauten konnte. In Verbindung mit dem treuherzigen Dackelblick seiner etwas altersmüden Augen war dieser Tonfall geradezu unverschämt herzergreifend. Caitlin drückte die Tür hinter sich zu und sah den Anwalt fragend an. »Ja, bitte?« Duncan Wambaugh warf den Aktenordner achtlos auf einen Stapel, der sich neben seinem Schreibtisch türmte, und deutete auf den Stuhl gegenüber. »Setzen Sie sich, Kindchen.« Caitlin tat auch das. Wambaugh lehnte sich in seinem Ledersessel zurück, legte die Fin-
gerspitzen beider Hände gegeneinander und musterte darüber hinweg seine Sekretärin. Er tat es mit einem Blick, der so voller ernsthafter Sorge war, daß es sich dabei unmöglich um einen weiteren Trick aus »Duncan Wambaughs Zauberkiste der Emotionen« handeln konnte. Dennoch fühlte Caitlin Appleton sich nicht davon berührt, nicht wirklich jedenfalls. Und auf einer Zwischenebene ihres Denkens beunruhigte sie eben jene Feststellung – wie so viele Dinge in der letzten Zeit, von denen sie nicht wußte, woher sie rührten, ja, nicht einmal, worum es sich bei diesen »Dingen« im Grunde handelte. Sie waren einfach da, unsichtbar und namenlos, aber sie waren unleugbar in ihr! Seit … »Was ist los mit Ihnen, mein Kind?« Caitlin schrak aus ihren Gedanken und versuchte ihr Erschrecken hinter Verwunderung zu verbergen. Doch damit ließ sich ein Duncan Wambaugh nicht täuschen. Ein Duncan Wambaugh ließ sich allerdings auch nicht anmerken, wenn er jemanden durchschaut hatte … »Wie meinen Sie das, Mister Wambaugh?« Er lächelte, gütiger und milder, als er es in seinen juristischen »Dramödien« tat. »Sie wissen, wovon ich spreche, Caitlin«, sprach er aus, was er mit dem Blick seiner stets etwas schläfrig wirkenden Augen längst zum Ausdruck gebracht hatte. »Tut mir leid, aber das weiß ich nicht«, erwiderte sie – verwirrt, weil sie in diesem Moment zumindest das Gefühl hatte, es tatsächlich nicht zu wissen. Als würde etwas dieses Wissen fortwischen wie ein Schwamm die Kreide von einer Tafel. »Sie haben sich verändert, Kindchen«, wurde Duncan Wambaugh präziser. »Irgend etwas stimmt nicht mit Ihnen. Was ist geschehen? Haben Sie Probleme?« Caitlin Appleton schüttelte den Kopf, langsam und seltsam ruckartig. »Nein, Mister Wambaugh.«
»Sind Sie sicher? Ich meine – Sie wissen, daß Sie mit allem, was Sie bedrückt, zu mir kommen können. Duncan Wambaugh hilft in und aus jeder Situation.« »Nicht nötig, Mister Wambaugh. Es geht mir gut. Alles ist in Ordnung.« Alles in Ordnung, wenn ich nur tue, was er … »Wenn ich was …?« Erst Wambaughs fragender Blick zeigte Caitlin, daß sie ihren Überlegungen laut nachgegangen war. »Bitte?« fragte er. »Nichts, schon gut«, beeilte sich Caitlin zu sagen. »Kann ich jetzt …?« Sie wies über die Schulter zur Tür. Der längst im Pensionsalter stehende Anwalt nickte nachdenklich. »Ja, gehen Sie nur. Und –«, Caitlin hielt an der Tür noch einmal inne, »– nehmen Sie sich morgen frei. Ruhen Sie sich aus. Und bringen Sie in Ordnung, was immer nicht in Ordnung ist, ja? Und wie gesagt, wenn Sie Hilfe brauchen …« »Ich weiß. Danke, Mister Wambaugh«, fiel ihm Caitlin ins Wort, »und gute Nacht.« Sie schloß die Tür und blieb stehen. Und hätte Duncan Wambaugh sie jetzt gesehen, so hätte er nicht nur geahnt, sondern hundertprozentig gewußt, daß etwas mit seiner Sekretärin ganz und gar nicht in Ordnung war. Ihre Haut war mit einemmal von ungesunder Blässe, ihre Lider sanken, von einer Sekunde zur anderen scheinbar bleischwer geworden, herab. »Was ist mit mir los?« fragte sie sich. Die Worte rangen sich förmlich über ihre Lippen – – und wurden bedeutungslos, kaum daß sie es geschafft hatten. »Alles ist in Ordnung, wenn ich nur tue, was er mir aufgetragen hat. Wenn ich schütze, was er mir anvertraut hat«, flüsterte sie mit zwar fester, aber zugleich monotoner Stimme. Als hätte ihr jemand befoh-
len, diese Worte stets zu wiederholen, wenn ihr Zweifel kamen … »Zweifel …?« wunderte sie sich. »Zweifel woran …?« Doch schon in der nächsten Sekunde begann sie von neuem: »Alles ist in Ordnung …« Caitlin Appleton nahm Mantel und Handtasche und verließ das Bürogebäude in der Mitte des Zwanzigtausend-Seelen-Städtchens Aspen Hill, das noch im unmittelbaren Dunstkreis von Washington lag. Ihre Schritte klackten auf dem nebelfeuchten Asphalt des Parkplatzes, als sie auf ihren Kleinwagen zusteuerte. »Caitlin.« Die Stimme war nicht laut gewesen, trotzdem hörte Caitlin sie so deutlich, als hätte der andere ihr direkt ins Ohr gesprochen. Und sie hatte die Stimme erkannt. Weil Caitlin Appleton sie nie vergessen würde, nie im Leben … Sie war längst stehengeblieben und wandte sich in die Richtung, in der sie den anderen wußte, ohne ihn sehen zu müssen. »Herr?« flüsterte sie – erschrocken, ehrfürchtig und unterwürfig in einem. Eine hochgewachsene Gestalt löste sich aus den Nebeln, die wie Tücher aus schmutziger Gaze über dem Parkplatz hingen. »Ich bin zurück«, erklärte der Mann. Seine Stimme klang dunkel, eisig, bedrohlich – – wunderbar, fand Caitlin und fröstelte, als der Mann ihr gegenübertrat. »Endlich«, flüsterte sie schmachtend und bog ihren Kopf zurück, so daß sich die Haut ihres Halses straffte und das erregte Pulsieren ihrer Schlagader den Blicken des anderen schier aufdrängte. »Jetzt nicht«, knurrte Landru unwirsch. Er war nicht deswegen hergekommen. Nicht in erster Linie zumindest. »Bring mich zu ihm«, verlangte der mächtigste und älteste aller Vampire, und mit einem abgründigen Lächeln setzte er hinzu: »– Hüterin.«
* Das Summen der Triebwerke war im Innern des Flugzeuges kaum zu vernehmen. Nur Gabriel empfand es als störend. Seine Sinne waren nicht allein die eines Menschen. »Du bist ein tapferer junger Mann«, sagte eine Stimme neben ihm. Er wandte den Blick und sah der älteren Frau, die auf dem Sitz neben ihm hockte, ins Gesicht. »Bin ich das?« erwiderte er. »Wenn du ganz allein schon auf eine so große Reise gehst …«, sagte sie. »Kümmere dich um deinen Kram«, zischte Gabriel, die Frau nicht aus den Augen lassend. Ihr Gesicht verfiel, ein kleines bißchen nur. Kosmetik würde den »Schaden« beheben. Sie lächelte den Jungen in maskenhaft starrer Freundlichkeit an. »Du hast recht«, sagte sie, »das sollte ich tun.« Damit vertiefte sie sich wieder in die Lektüre ihrer Illustrierten. Gabriel schüttelte sich angewidert. Die Alte hatte gräßlich »geschmeckt«. Aber nichtsdestotrotz war er »auf den Geschmack« gekommen … Er sah sich suchend um. Wer kam in Frage? Unsichtbar griffen forschende Fühler hinaus – und wurden fündig. Gabriel konzentrierte sich auf das, was nötig war, um sein Vorhaben unauffällig in die Tat umzusetzen. Dann winkte er der blonden Stewardeß. Sie kam zu ihm, beugte sich herab. »Was gibt es, junger Mann? Wie kann ich dir helfen?« fragte sie. Gabriel verriet es ihr nicht. Noch nicht.
»Mir ist …«, begann er zögernd. »Du bist blaß, mein Junge. Bist du schon einmal mit einem Flugzeug geflogen?« Gabriel schüttelte den Kopf. »Nein.« Die Stewardeß lächelte ihm aufmunternd zu. »Dann bist du das Fliegen also nicht gewöhnt. Das wird dir ein bißchen auf den Magen geschlagen sein.« »Ja, ich glaube …«, sagte der Junge, den Ton seiner Hautfarbe noch eine Spur ins Käsige verändernd. »Du wirst sehen, beim nächsten Mal macht dir das nichts mehr aus«, meinte die Blonde. »Ich möchte nicht mehr fliegen«, erklärte Gabriel. »Oh, ich glaube, ich muß …« Er hielt sich hastig die Hand vor die Lippen, würgte. »Komm mit, mein kleiner Freund. Ich helfe dir.« Die Stewardeß reichte ihm die Hand und zog ihn sanft von seinem Sitz hoch. Auf scheinbar wackligen Beinen folgte er ihr in den vorderen Teil des Flugzeugs, wo der Arbeitsbereich des Bordpersonals lag. »Komm hier rein«, sagte die junge Frau und öffnete die Tür zu einem Waschraum, der noch winziger war als die für die Passagiere bestimmten. Der Junge schlüpfte durch die schmale Tür und ging vor der Toilette in die Knie. »Geht’s, kleiner Mann?« fragte die Stewardeß. Gabriel stöhnte mitleiderregend. Sie trat hinter ihn. Darauf hatte er gewartet. Wie von Geisterhand bewegt schlug die Tür zur Waschzelle zu. »Was …?« rief die junge Frau erschrocken und scheiterte bei dem Versuch, sich in der Enge hier drinnen zur Tür hindrehen zu wollen. Gabriel erhob sich. »Es ist alles in Ordnung«, meinte er ruhig. Die Stewardeß sah zu ihm herab. Ihre Blicke trafen sich. »Ja«, erwiderte sie leise, »natürlich. Alles in Ordnung.« Der Junge bedeutete ihr mit einer Geste, sich niederzuknien.
Sie tat es. Seine Hände berührten ihr Gesicht, sanft und zärtlich, nicht wie ein Kind, sondern wie ein erfahrener … … Mann? Erschrecken, das rasend schnell zu Entsetzen anschwoll, verzerrte ihre hübschen Züge zu einer Grimasse. Ihren Schrei erstickte eine kräftige Hand. Nicht die eines sechs- oder siebenjährigen Jungen. Denn vor ihr stand – – ein Mann? Nein, nur der Körper war der eines Mannes. Der Schädel jedoch war der eines … Tieres! Grauen ließ ihren Körper beben. Doch es vermochte sich in keinem Laut Ausdruck zu verschaffen. Stumm, aber aus weit aufgerissenen Augen starrte sie den anderen an. Beobachtete, was er tat. Mit ihr tat. Seine Hände öffneten die Knöpfe und Verschlüsse ihrer Uniform. Streiften sie ihr ab. Als sie nackt war, zog der andere sie in die Höhe, rauh und brutal. Sie stöhnte. Nicht länger vor Angst und Grauen jedoch. Und dann – endlich! – tat er mit ihr, wonach sie sich sehnte, seit sein Atem sich mit dem ihren verbunden hatte, seit der Blick seiner kalten Augen tief in sie gedrungen war … Als es vorüber war, fühlte sie sich – – nein, nicht glücklich und zufrieden, wie sie es sich vorgestellt hätte. Sie war nur müde, so sehr, daß es an Erschöpfung grenzte. »Danke«, sagte der Junge und verließ die enge Kabine. Sie nickte nur, lahm und kraftlos. Ihr Blick streifte das Gesicht im Spiegel über dem kleinen Waschbecken. Ein Gesicht, das nicht das ihre sein konnte. Denn es war – alt … Mit einem erstickten Schrei sank die Stewardeß zu Boden. Als man sie fand, konnten weder andere noch sie selbst sich erklä-
ren, was geschehen war. Der einzige, der es gekonnt hätte, tat es nicht. Gabriel schlief. Traumlos. Bis die Maschine auf dem Flughafen Leonardo da Vinci, dreißig Kilometer nördlich von Rom, landete. Der Junge verließ das Flugzeug als einer der ersten. Er fühlte sich gekräftigt. Er war auf dem richtigen Weg.
* Es lag nicht an Caitlin Appleton, daß Landru nicht recht genoß, was er mit ihr und vor allem sie mit ihm tat. Im Gegenteil, die Kleine mühte sich redlich, ihm Befriedigung zu verschaffen. Und sie selbst hatte ihre helle Freude daran – das war weder zu übersehen noch zu überhören … Der Grund war schlicht und ergreifend, daß Landru mehr als nur satt war. Seine »Wiederauferstehung« in Alaska hatte seine Energien fast bis zur Neige aufgezehrt, und um sie zu regenerieren, hatte es einer regelrechten Völlerei bedurft, der Landru noch vor Ort in Nuiqtak gefrönt hatte. Der Tod hatte reiche Ernte gehalten im Dorf der Inuit, und ein klein wenig hatte der Vampir mit dem Wüten auch seinem Zorn Luft verschafft – seiner grenzenlosen Verärgerung darüber, daß ihm das Hurenbalg Lilith Eden einmal mehr entkommen war und er sich von jenem Trapper, der in Begleitung der Halbvampirin gewesen war, hatte überraschen und niederschießen lassen.* Normalerweise stellte es für die Heilkräfte eines Vampirs kein Problem dar, selbst Schußverletzungen binnen kürzester Zeit vergessen zu machen. Doch dieser Kerl hatte Landru beinahe in Stücke geschossen, und das dunkle Wunder einer solchen Genesung hatte *siehe VAMPIRA T07: »Der Tod im Eis«
selbst ihn, dessen Kräfte die eines »normalsterblichen« Vampirs bei weitem übertrafen, an die Grenzen seines Machtpotentials getrieben. Zu gern hätte er den Trapper persönlich zur Rechenschaft gezogen für diese Schmach. Doch was Landru in Alaska erfahren und erlebt hatte, drängte ihn zur Eile. Die Hoffnung, die er in die Retorten-Vampire gesetzt hatte, mit denen er die Alte Rasse nach dem Grassieren der fürchterlichen Seuche neu begründen wollte, hatte sich zerschlagen. Diese »Neue Rasse« hatte sich als ebenso unwürdig wie untauglich erwiesen, als mordlüsterne Monstren, die nichts anderes im tumben Sinn hatten als die Befriedigung ihres Durstes. Mit ihnen war die geheime Herrschaft der Vampire weder aufrechtzuerhalten noch neu zu manifestieren. Allenfalls würden sie die Reste der Macht der Alten Rasse untergraben und schließlich vollends zum Einsturz bringen. Und so hatte Landru getan, was von Amtes wegen seine Pflicht gewesen war – er hatte die Gen-Vampire ausgerottet. Nun stand er wieder am Anfang seines Versuches, die Alte Rasse vor dem völligen Niedergang zu bewahren. Nicht mit leeren Händen zwar, aber was er in Händen hielt, schien für eine Rettung reichlich ungeeignet. Denn schließlich hatte damit der Untergang erst begonnen. Mit dem Lilienkelch … Einst war er das Unheiligtum der Vampire gewesen. Als Hüter war Landru tausend Jahre lang unerkannt von Sippe zu Sippe gezogen, hatte das Blut der Oberhäupter im Kelch aufgefangen und geraubte Menschenkinder daraus trinken lassen. Sie starben an dem schwarzen Blut – und erstanden mit schwarzem Blut, das fortan in ihren Adern zirkulierte und sie zu echten Vampiren machte. Dann, als seine Zeit als Hüter ablief und er das Unheiligtum der Vampire an seinen Nachfolger übergeben sollte, war Landru der Kelch gestohlen worden. Aus dem Hüter war in dieser Stunde der Jäger geworden. Fast dreihundert Jahre lang suchte er nach dem
verlorenen Lilienkelch, ohne den es keinen vampirischen Nachwuchs geben konnte. Er hatte es als sein Lebensziel betrachtet, den Kelch wiederzufinden und damit die Alte Rasse vor dem Aussterben zu retten. Doch als er ihm schließlich wieder in die Hände fiel, hatte er nichts anderes damit getan, als das Todesurteil über sein Volk zu verhängen. Beim ersten Kelchritual war das Menschenkind, dem der schwarze Trunk verabreicht worden war, nicht zu vampirischem Leben erwacht. Statt dessen hatte etwas den Kelch verlassen – purpurner Staub, der einen verderbten Keim in sich barg und jedes Sippenoberhaupt auf der Welt damit infizierte. Die Führer selbst hatten fortan den Tod auf ihre Nachkommen übertragen, und mittlerweile mußten wohl alle daran zugrunde gegangen sein. Der Zorn Gottes hatte sie ereilt … Landru schnaubte verächtlich bei dem Gedanken. Das Geräusch spornte Caitlin Appleton zu neuer Anstrengung an. Er wußte nicht sicher, ob es sich so verhielt – ob wirklich Er selbst hinter der Seuche steckte. Doch es gab kaum eine andere Möglichkeit. Landru hatte inzwischen zur Genüge Zeit und Muße gefunden, um darüber nachzudenken. Und er war stets wieder auf ein- und dieselbe Lösung gestoßen. Die Allmacht, die für das Vampirsterben verantwortlich war, konnte nur von Schöpfer selbst herrühren. Sich dieser Macht entgegenzustellen, zu tilgen, was sie gesät hatte – darin sah Landru nun seine Aufgabe. Weil es der einzige Weg war, der hinführen konnte zu einem Neubeginn. Nur mit dem Lilienkelch würde es möglich sein, die Alte Rasse neu zu mehren. Doch dazu mußte er … »Herr, ich bitte dich …« Landrus Gedankenkette riß vollends ab, als Caitlin Appletons Stimme dazwischendrängte. Er senkte den Blick, sah, wie sie flehentlich und voll mit unbändiger – wenn auch künstlicher – Lust zu
ihm aufblickte. Vielleicht, überlegte er, war es ja das, was ihm fehlte. Ein wenig Zerstreuung … Sein Blick war dem Mädchen Aufforderung, sich nach hinten auf das Bett ihres Schlafzimmers sinken zu lassen. Ihre Schenkel spreizten sich einladend, ihre Finger offenbarten Landru, was sie ihm zum Geschenk machen wollte. Der Vampir ließ sich nieder, sog den Duft ihrer Lust ein und mehrte ihn. Caitlin wand sich unter seinen Berührungen, doch sie hütete sich, zu weit von ihm abzurücken, nun, da er ihr Bitten erhört hatte und endlich daranging, das Feuer der Leidenschaft in ihr zu bekämpfen. Doch zuvor schürte er es weiter an. In einer Weise, die Caitlin nie zuvor erfahren hatte. Die seltsamen »Dinge«, die Landru bei ihrer ersten Begegnung vor Wochen in sie gepflanzt hatte, die Beunruhigung und das Gefühl, sich selbst mitunter fremd zu sein – sie waren längst verbrannt in jenen Flammen, die seine bloße Präsenz in ihr entfacht hatte. Jetzt hatte nur noch ein sehnsuchtsschwerer Gedanke in ihr Platz: Sie wollte bei ihm sein, eins mit ihm werden, er sollte in sie kommen … Und er kam. Sie spürte, wie er ihr Gesäß anhob, seinen mächtigen Pfahl dirigierte und (endlich!) in ihre vor noch ungestillter Erwartung fast schmerzende Grotte eindringen ließ. Doch dieser illusionäre Schmerz war nichts im Vergleich zu dem, den Landru nunmehr in ihr entfachte. Seine Männlichkeit schien sie regelrecht auszufüllen. Und doch waren Caitlins Schreie nicht klagend, sondern nur erfüllt von wildem Verlangen. Sie glaubte, unter seinen Stößen vergehen zu müssen – und flehte ihn doch an, nicht aufzuhören, nicht einmal innezuhalten. Längst rauschte das Blut Sturzbächen gleich durch ihre Adern,
machte sie taub für alles, was nicht Leidenschaft und animalische Lust war. Brodelnde Röte verschleierte ihren Blick. Und so sah sie nicht, weshalb ihr Schmerz plötzlich eine neue Qualität erlangte, auf seltsame Weise süßer wurde. Erst als Schwärze die roten Nebel durchwob, wurde ihr die Veränderung bewußt, kehrten die Ängste und alle Merkwürdigkeiten der vergangenen Wochen in ihr Denken und Fühlen zurück. Doch sie hielten sich nicht lange. Der Tod eilte mit Riesenschritten näher … Landru ließ von Caitlin ab, noch ehe alles Blut aus den Bißwunden gesprudelt war. »Wo?« fragte er nur. Sie wußte, was er meinte. Mit einer schwacher Geste wies sie zur Spiegelkommode. Landru erhob sich nackt und ging hinüber. Er öffnete die oberste Schublade, wühlte die seidige Wäsche beiseite. Er konnte die Nähe des Lilienkelches spüren – trotzdem er nicht mehr jener war, der ihn auf seiner tausendjährigen Reise begleitet hatte. Vorsichtig schloß seine sehnige Hand sich um das Gefäß und hob es heraus. Die Bewegung war zögernd, als erwartete er neues Ungemach, das von der bloßen Berührung des entarteten Unheiligtums herrühren konnte. Doch nichts geschah. Kalt und schwer lag der Kelch in seiner Faust, aus dunklem Material gefertigt, dessen Beschaffenheit an Metall erinnerte und doch etwas ganz anderes sein mußte. Die wahre Herkunft des Kelches hatte Landru nie ergründet. Aber vielleicht würde es nötig sein, dies nachzuholen … Ein freudloses Lächeln auf den Lippen, schloß der Vampir die Schublade. Ein banales, fast lächerliches Versteck war das für ein Artefakt, in dem unfaßbare Mächte schlummerten. Und doch hätte es perfekter nicht sein können. Wenn jemand nach dem Unheiligtum gesucht hätte – und Landru pflegte selbst das Unwahrscheinliche in Betracht zu ziehen –, dann hätte er es niemals hier getan.
Nicht einmal auf Caitlin Appleton wäre dieser potentielle Jemand gestoßen, da es keinerlei Verbindung zwischen Landru und ihr gab. Sie hatte schlicht das Pech gehabt, seinen Weg zu kreuzen in dem Moment, da er nach einem sicheren Aufbewahrungsort gesucht hatte, kurz bevor er von Washington aus nach Alaska aufgebrochen war. Er hatte ihren Geist mit seiner Macht gefügig gemacht und dauerhaft seinem Willen unterworfen und den Kelch in ihre Obhut gegeben. Die simpelsten Mittel und Wege hatten sich für Landru in mehr als einem Jahrtausend oft als die effektivsten erwiesen … Bei seiner Abreise damals hatte Landru noch gehofft, der Kelch könnte überflüssig werden, wenn er sein Ziel erreichte und den Gen-Vampir für seine Zwecke einspannen konnte. Nach dem Fehlschlag jedoch mußte er nun alle Hoffnung auf den Lilienkelch setzen. Zunächst aber mußte der Hüter in Erfahrung bringen, mit welchem Keim das Unheiligtum infiziert worden war – und vor allem, wie er ihn daraus entfernen konnte … Landru kleidete sich an, während Caitlin noch stöhnend und sterbend auf dem Bett lag. Bevor er aufbrach, ersparte der Vampir seinem Opfer die Ewigkeit, indem er Caitlin das Gesicht auf den Rücken drehte. Andernfalls wäre das Mädchen nach seinem Tod als Dienerkreatur erwacht und hätte, vom Durst nach Blut getrieben, Jagd auf Menschen gemacht. Doch ohne die Führung desjenigen, der sie zur Kreatur gemacht hatte, wäre ihre seltsame Existenz nicht lange ein Geheimnis geblieben. Und daraus resultierendes Aufsehen wollte Landru zur Zeit vermeiden. Erst mußten die grundsätzlichen Dinge wieder in geordneten Bahnen verlauten, dann konnte auch alles andere wieder seinen seit Anbeginn gewohnten Gang gehen. Ehe Landru den Kelch in jenem Beutel versenkte, in dem er auch die uralte Erde, die seinen Schlaf erholsam machte, mit sich führte, sah er noch einmal hinein in jene Schwärze, die von der nachgebil-
deten Lilienblüte umfaßt wurde. Wie etwas Greifbares nistete sie darin, undurchsichtig und ein düsteres Geheimnis bergend, das sich Blicken nicht erschloß. Doch Landru war entschlossen, dem Kelch das Geheimnis zu entreißen – oder vielmehr entreißen zu lassen. Denn es gab jemanden, der ihm dabei helfen konnte. Der einzige vielleicht, der Landru jemals etwas wie ein Freund gewesen war. Und dieser »Freund« wiederum kannte einen Mann, der selbst dem Tod seine Geheimnisse gestohlen hatte. Landru machte sich auf den Weg. Nach Indien.
* Italien, am Fuße der Abruzzen Wie immer, wenn Giuseppe Mazzano zu den Gipfeln der Berge aufsah, kam er sich winzig vor. Und wie immer fühlte er sich unbehaglich, als sein Blick sich an jener Stelle des Steilhangs verfing, an der etwas wie ein riesiger steinerner Adlerhorst aus dem Felsmassiv wuchs. Wolkenfetzen hingen wie das Gespinst einer gewaltigen Spinne um Monte Cargano. Doch unsichtbar schien noch etwas anderes das Kloster einer namenlosen Bruderschaft zu umwehen: etwas, für das Giuseppe sein Leben lang kein geeignetes Wort gefunden hatte; wohl deshalb, weil es keines gab – so wie es das, was es zu benennen gegolten hätte, nicht hätte geben dürfen. Und doch war es da, seit der Bauersmann denken konnte und zum ersten Mal zu jenem Bauwerk im Schoß der Wolken, zweitausendfünfhundert Meter über dem Rest von bella Italia, hinaufgesehen hatte. Und es war wohl schon lange zuvor dagewesen, vielleicht seit dem Anbeginn aller Zeit …
Giuseppe Mazzano versuchte, die düsteren und vor allem sinnlosen Gedanken zu vertreiben. Er hatte keinen Grund, sich wegen des Klosters oder der Mönche, die dort lebten, oder wegen sonst etwas Sorgen zu machen. Im Gegenteil, hätte es jene Brüder nicht gegeben, dann erst hätte er allen Grund zur Sorge gehabt. Denn sie waren es, die ihm den größten Teil dessen, was auf seinem kargen Boden wuchs, abkauften. So wie sie es schon seinem Vater und dessen Vater abgekauft hatten. Vermutlich reichte die Kette noch sehr viele Generationen weiter zurück. Wäre es anders gewesen, hätte es den Hof der Mazzanos längst nicht mehr gegeben. Denn die geringe Ernte lohnte kaum, sie in der Stadt auf dem Markt anzubieten. Allein die Transportkosten hätten den Erlös fast aufgefressen. So aber genügte es, den eigenen Tisch zu decken, und von dem Gold, das die Bruderschaft ihnen bezahlte, konnten sie sich das Notwendigste fürs Leben kaufen. Für ein karges Leben … Dennoch wäre Giuseppe nie auf die Idee gekommen, den Hof aufzugeben. Wie auch seine Vorväter es nie getan hatten. Vielleicht, ging es ihm durch den Sinn, hing es mit dem zusammen, was er manchmal spürte, ohne es zu sehen – mit jenem namenlosen Etwas, das von Monte Cargano ausging … Dennoch, überlegte er weiter, würde das Geben und Nehmen zwischen den Mazzanos und den Brüdern irgendwann ein Ende haben. Er, Giuseppe, und seine Frau würden das letzte Glied der Kette sein. Nach ihnen würde der Bauernhof nicht mehr bewirtschaftet werden. Nicht von den Mazzanos. Denn die Mazzanos würden mit ihnen sterben. Sie hatten keine Kinder, obgleich sie sich stets welche gewünscht hatten. Doch Gott hatte ihren Wunsch nicht erhört … Giuseppe grinste müde. Sollte er ruhig weghören, der alte Mann da oben; sie jedenfalls würden nicht aufhören, es zu versuchen. Sie waren noch längst nicht zu alt dafür. Und vielleicht waren es ja gerade diese unermüd-
lichen »Versuche«, die ihn und Livia jung hielten … Ein rauhes Lachen stieg in ihm auf, doch es erstickte, ehe es seine Lippen erreicht hatte. Ein Geräusch hatte ihn innehalten lassen. Es wiederholte sich, andere kamen hinzu, bis ein regelrechter Chor daraus wurde. Ein Chor von Tierstimmen, die von heller Aufregung kündeten. Giuseppe rannte los, schnappte sich im Laufen eine Mistforke und stürmte über den Hof zu den kleinen Stallungen hinüber. Es gab hier in der Gegend noch eine ganze Reihe räuberischer Tiere, die anderenorts längst als ausgestorben oder zumindest selten galten. Giuseppe wünschte sich, sie wären es auch hier – in Momenten wie diesen jedenfalls, wenn sie über sein Vieh herfielen. Als er einen Flügel des hölzernen, altersschwachen Tores aufriß, fegte ihm eine gefiederte Wolke entgegen. So kam es ihm zumindest vor, als die aufgeschreckten Hühner hervorflatterten und gackernd das Weite suchten. Als das Federvieh an ihm vorüber war, schaute Giuseppe Mazzano in den Stall hinein. Düsteres Zwielicht ließ ihn kaum etwas erkennen. Nur nervöses Schnauben, Grunzen und Blöken verrieten ihm, daß etwas nicht stimmte, daß etwas hier sein mußte. Mazzano fröstelte, ohne zu wissen, weshalb. Er wußte nur, daß wohl kein Raubtier in den Stall eingedrungen war. Dann nämlich hätte sich sein Vieh anders aufgeführt, aufgeregter, panischer … Der Bauer öffnete den zweiten Torflügel. Licht flutete den Stall, doch es blieben immer noch genug Winkel im Dunkeln, in denen sich jemand verstecken konnte. Giuseppe trat vor, packte die Forke fester. »Wer ist da?« rief er, nicht annähernd so laut, wie er es beabsichtigt hatte. Etwas schlug ihm entgegen. Er konnte es nicht einmal für sich selbst beschreiben, es schien ihm nur auf eigenartige Weise –
vertraut … Und er dachte, scheinbar zusammenhangslos, an Monte Cargano … Da! Rührte sich dort hinten nicht etwas im Schatten einer der lattenverschlagenen Boxen? Als würde ein Stück der dort nistenden Dunkelheit lebendig … Giuseppe ging noch zwei, dann drei Schritte näher, die Mistgabel vorgereckt. Und dann sanken die rostigen Zinken dem Boden entgegen, fiel alle Anspannung von ihm ab wie eine alte Haut. Er sah, was sich dort bewegt hatte. Und er wußte, daß weder ihm noch seinem Vieh irgendein Leid drohte. Nicht von einem kleinen Jungen, der sechs, allenfalls sieben Jahre alt sein mochte. Und schon gar nicht, wenn dieser Knabe das Gesicht eines Engels hatte …
* Indien, Neu Delhi Der Tritt, den Timot dem stinkenden Leichnam versetzte, neben dem er die Tage im Tod zu verbringen gezwungen war, sollte wütend sein. Doch seine Kraft reichte kaum, den fleckigen Körper auch nur nennenswert zu berühren. Allenfalls schien es dem Vampir, als veränderten sich die allmählich verwesenden Züge in Sahya Patnaiks bärtigem Gesicht zu einem hämischen Grinsen. Doch auch das war wohl nicht mehr als eine weitere Gemeinheit, die der »Erwecker« Timots Sinnen vorgaukelte, die nunmehr auch die seinen waren … Mit unendlich müden Schritten schlurfte der Vampir aus dem Raum, in den Patnaik ihn allmorgendlich zum Sterben zu gehen
zwang. Wie er ihn auch dazu veranlaßte, sein elendes Dasein in dem Haus an der Grand Trunk Road zu fristen, wo der »Erwecker« einst selbst gewirkt hatte. Tanor indes mußte seinen Blutsohn Timot für tot halten. Das Oberhaupt hatte sich von seinen Kindern ferngehalten, als das Ende unausweichlich geworden war. Vielleicht aus Angst, letztlich doch mit ihnen sterben zu müssen; vielleicht aber auch, weil er nicht mitansehen konnte oder wollte, wie mit ihnen auch ein Teil seiner Selbst verging … Timot wußte selbst nicht recht, weshalb er sein Schicksal Tanor gegenüber verheimlichte. Obwohl die Einsamkeit ihm arg zu schaffen machte. Wir sind nicht einsam, wisperte es in seinen Gedanken, sieh dich nur um … Der Vampir schloß demonstrativ die Augen. Trotzdem »sah« er, was Sahya Patnaik meinte. Die Bilder dessen, wozu ihn das geraubte Bewußtsein des »Erweckers« wieder und wieder trieb, hatten sich so tief in ihm eingebrannt, daß sie allgegenwärtig waren. Dazu hätte es nicht einmal der wie trunken im Haus umhertaumelnden Gestalten bedurft, an denen Patnaik seine Kunst hatte wirken lassen – durch Timots Hände … Nicht in jeder, aber doch in vielen Nächten brachten gedungene Helfer das schaurige »Material«, aus dem Timot unter der Anleitung des »Erweckers« in stundenlanger Arbeit das schaffen mußte, was Patnaik seit jeher der Gesellschaft lebender Menschen vorgezogen hatte. Das Haus des Nekromagiers hatte schon früher nicht nur nach Tod gerochen … Vor einem der zerbrochenen Fenster blieb Timot stehen. Das gespenstische Treiben der Toten hier drinnen war von draußen mitunter zu beobachten. Deshalb machten die Menschen seit langem schon einen Bogen, wenn ihr Weg sie in die Grand Trunk Road führte. Doch Timot war nicht auf Nähe angewiesen, um andere zu spü-
ren. Das war Teil seines Talents, und er nutzte es jetzt, da er am Fenster stand. Geistige Fühler fuhren hinaus, ignorierten das wilde Pulsieren abertausender Energieströme, die aus dem Lichtermeer, zu dem Delhi geworden war, in die Nacht emporstiegen. Unsichtbar griffen sie über die stinkenden Fluten des Ganges hinweg, bis sie jene Moschee erreichten, die in keinem Fremdenführer verzeichnet war und – zumindest in der Vergangenheit – doch immer wieder das Ziel neugieriger Besucher gewesen war. Weil jene, die unter dem entweihten Ort hausten, es zugelassen, sie mitunter gar hingelockt hatten. Über dreihundert Jahre hatte Timot selbst dort verbracht. Heute indes schien die Moschee verlassen, selbst vom letzten der DelhiSippe … Oder? Timots Kraft genügte längst nicht mehr, mühelos in viele Winkel zugleich vorzustoßen und zu sondieren. Heute war es das mühevolle Tasten eines uralten Blinden, der in quälender Langsamkeit fremdes Terrain erforschte. Und so dauerte es eine ganze Weile, ehe Timot die Schwingung wahrnahm, und noch ein kleines bißchen, bis er sie als vertraut erkannte. »Tanor …«, kam es kaum verständlich über rissige Lippen. Das Oberhaupt der einstigen Sippe lebte also nach wie vor unter der Moschee – – und Tanor war nicht allein! Timot empfing eine weitere Schwingung. Sie war ihm nicht wirklich vertraut, doch er kannte auch sie – beziehungsweise jenen, der sie aussandte, den sie umflorte. Sie war voller Macht, erfüllt von einer Kraft, die einzigartig war in ihrem Volk. Und schon allein deshalb hätte Timot sie unter Hunderten zu identifizieren vermocht. Dennoch erstaunte es ihn, daß er nach Delhi gekommen war. Nach allem, was er angerichtet hatte … Timot verspürte eine Regung, die er ob seines endlosen Siechtums
längst verloren geglaubt hatte. Neugierde. Und sie war nur drüben, am anderen Ufer des Ganges zu stillen. Sahya Patnaik konnte den Vampir, dessen Leib er teilte, nicht aufhalten, als er das Haus verließ. Auf dem Weg zur Straße hin ließ Timot den anderen, den eigentlichen Teil seines geheimnisvollen Talentes sich entfalten. Seine spezielle Kraft eilte ihm voraus und wurde zugleich an ihm wirksam. Er spürte die Veränderung. Etwas wie eine kalte Haut schob sich über sein zerstörtes Gesicht. Die Kühle vitalisierte ihn, weckte erstorbene Energien. Als er auf die Straße trat, war es nicht länger ein in der Verwesung erstarrter Vampir, der in Richtung der Gangesbrücke lief. Daß sich Passanten dennoch nach ihm umwandten oder ihm gar mit angewidertem Gesicht auswichen, lag daran, daß er selbst nach der illusionären Verwandlung ein erschreckendes Bild bot. Sahya Patnaik kannte dieses Gefühl noch sehr gut …
* Italien »Nun iß doch, mein Kleiner, hm?« Livia Mazzano ließ sich behutsam, als könnte eine allzu hastige Bewegung den Knaben erschrecken, auf dem freien Stuhl neben ihm nieder. Der Junge hielt den Löffel über den dampfenden Suppenteller, saß reglos an dem grob gezimmerten Küchentisch, wie versteinert. Erst als ihm die Bäuerin sanft übers lockige Haar strich, wandte er ihr den Kopf zu. Im Blick seiner tiefblauen Augen war etwas, das Livia Mazzano anrührte, nicht einfach an ihre brachliegenden Mutterinstinkte appellierte, sondern sehr viel tiefer ging; dorthin, wo der Blick eines Sechs- oder Siebenjährigen niemals hätte hinreichen dür-
fen … Die Frau schauderte. Doch es rührte nicht von einem unangenehmen Gefühl her … »Wo kommst du her?« fragte sie den Jungen. So vorsichtig sie sich in seiner Gegenwart bisher bewegt hatte, so leise sprach sie auch. Der Kleine schwieg, ließ nur den Blick unverwandt auf Livia ruhen, als studierte er jede Linie ihres Gesichtes, dem die harte Arbeit auf dem Berghof nichts von seiner herben Schönheit hatte nehmen können. Sie spürte seine Blicke wie das behutsame Tasten kleiner Finger auf ihrer Haut. »Er wird irgendwo ausgerissen sein«, meinte Giuseppe von der Tür her. Seine Stimme zerbrach den merkwürdigen Zauber, den irgend etwas um Livia und den Jungen gesponnen hatte. Und sie war fast dankbar dafür – nun, da es vorbei war. Sie blinzelte zwei-, dreimal hastig, als müßte sie ihren Blick vollends klären, um der Wirklichkeit ansichtig zu werden. »Möchtest du es uns nicht sagen?« wandte sie sich dann wieder an den Knaben, vermied es aber – fast unbewußt – ihn dabei direkt anzusehen. Schweigen. »Vielleicht kann er es nicht«, überlegte Giuseppe. »Du meinst –?« Ihr Mann nickte, noch immer am niedrigen Türstock lehnend. »Möglicherweise ist er ja stumm.« Livia streifte den Knaben mit einem nun wieder etwas längeren Blick. »Vielleicht«, meinte sie, »hat er irgend etwas Schlimmes erlebt, das ihm – nun, die Sprache verschlagen hat.« Giuseppe zuckte bedauernd die Schultern. »Nun, wir werden es nicht erfahren. Nicht von ihm jedenfalls.« Livia sah zu ihrem Mann hin, hastig und mit einem fast erschrockenen Flackern in ihren dunklen Augen. Etwas in Giuseppes Stim-
me alarmierte sie; etwas, das er nicht ausgesprochen hatte – noch nicht. »Was hast du vor?« fragte sie besorgt. »Na, was wohl?« antwortete Giuseppe. »Ich werde unseren kleinen Gast ins Dorf hinunter bringen. Wer weiß, vielleicht sucht man ja nach ihm. Oder es kennt ihn dort zumindest jemand.« Livia Mazzanos Arm glitt wie von selbst um die schmalen Schultern des Jungen und zog ihn näher zu sich. Er selbst hob das Gesicht und sah die Frau an – mit einem Ausdruck in den Augen, der nur zum Teil flehend war, zum anderen … Livia verfolgte den Gedanken nicht weiter, sondern wandte sich statt dessen an ihren Mann: »Giuseppe, laß ihn doch noch ein wenig hierbleiben. Nur für eine Weile. Vielleicht –«, sie stockte einen flüchtigen Moment lang, »– erzählt er uns ja doch noch, was ihn hierhergeführt hat, wo er herkommt, wie er heißt …« Giuseppe lächelte milde und sorgenvoll in einem. »Livia, wir müssen vernünftig sein. Vielleicht sorgt sich jemand um ihn, dann dürfen wir ihn nicht hierbehalten.« »Aber …« »Ich heiße Gabriel. Und niemand sorgt sich um mich.« Die Zeit schien für Augenblicke stillzustehen. Schweigen legte sich wie ein tatsächliches Gewicht über den Raum und erstickte jede Regung. »Siehst du?« sagte Livia schließlich strahlend. »Na gut«, erwiderte Giuseppe. Und für den kleinsten Teil einer Sekunde wunderte er sich, weshalb er das Thema so einfach abhakte. Er hatte doch etwas ganz anderes sagen wollen, aber … Egal, es war nicht wichtig. Livia stand auf und trat zu ihm. Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust, er senkte das seine in ihr schwarzes Haar. »Vielleicht ist er der Sohn, den wir uns immer gewünscht haben«, flüsterte sie. »Vielleicht hat Gott ihn uns geschickt …«
Giuseppe nickte. »Ja, vielleicht …« Hätten sie in diesem Moment in die Augen Gabriels gesehen, so hätten sie erkannt, daß keinesfalls Gott es gewesen sein konnte, der ihnen den Knaben geschickt hatte …
* Indien Wie bei jedem seiner vorherigen Besuche empfand Landru die indische Hauptstadt Delhi als gefräßigen Moloch, als Monstrum, das selbst ihm – nun, nicht wirkliche Furcht, aber doch ein Unbehagen verursachte, das sich nicht einfach abstreifen ließ. Womöglich lag der Grund auch darin, daß Landru hier in Delhi eine seiner vielleicht größten, in jedem Fall aber eine seiner bittersten Niederlagen bereitet worden war. Die hiesige Sippe hatte sich vor gar nicht langer Zeit unter der Führung Tanors gegen ihn erhoben und ihm seine ureigensten Geheimnisse entrissen. Bis dahin hatte kein Vampir der Welt gewußt, daß der mysteriöse Kelchhüter von einst und Landru ein- und dasselbe Wesen waren. Niemand hatte irgend etwas über Landru gewußt – bis die Delhi-Vampire sein Innerstes nach außen gekehrt hatten. Und fast mußte er ihnen dankbar sein, daß sie ihm »nur« seine Geheimnisse genommen hatten. Denn es wäre ihnen damals ein Leichtes gewesen, ihm alles zu nehmen … Während Landru durch die engen, nachtdunklen Gassen der alten Kernstadt am Rande der Ganges-Ebene ging, ertappte er sich bei dem geheimen Wunsch, sie hätten es getan. Wieviel wäre ihm erspart geblieben! Und die Alte Rasse wäre womöglich nie wirklich untergegangen … »Verdammt!« mahnte der Hüter sich selbst zur Ordnung und ver-
trieb das Gift aus seinen Gedanken. Solche Überlegungen waren nicht nur frevelhaft, sondern demütigend und selbstzerstörerisch. Und Delhi war gewiß nicht der Ort, an dem er sich neuerliche Schwächen erlauben durfte. Obschon er Tanor nach den damaligen Ereignissen zu seinem Freund, zumindest aber zu seinem Verbündeten erkoren hatte – weil er mit seinem frischerworbenen Wissen andernfalls zu Landrus Feind geworden wäre … Der Hüter war sich selbst nicht ganz im klaren, weshalb er den langen Weg zum verborgenen Versammlungsort der Delhi-Sippe (es bereitete ihm selbst in Gedanken noch Mühe, von seinem Volk nicht mehr in der Größenordnung von Sippen denken) wählte. Schneller wäre er gewesen, hätte er die Strecke in Fledermausgestalt zurückgelegt. Doch er hatte es nicht sehr eilig, und zudem ließ die solchermaßen gewonnene Zeit sich nutzen, um eigenen Überlegungen nachzugehen. Auch wenn er sich dabei auf Gedankenpfaden bewegte, die er in den vergangenen Wochen und Monaten bereits hundert Mal und öfter beschritten hatte – ohne indes wirklich zu einem Ziel zu gelangen oder auch nur tatsächliche Antworten zu finden. Seine Hand senkte sich unbewußt in den ledernen Beutel und strich über die poröse Oberfläche des Lilienkelches, als er einmal mehr über den todbringenden Keim, der darin saß, nachsann. Natürlich, für sich war er zu der scheinbaren Überzeugung gelangt, daß nur Gott selbst ihn hineingesät haben konnte. Aber akzeptierte er diese Möglichkeit nicht nur deshalb, weil sie ihn selbst unberührt ließ, seine Schuld an den Dingen in einem geringen Maße hielt? Denn es gab noch eine andere Möglichkeit, die nicht aufhörte, in Landrus Kopf umherzuspuken. Eine, die ihn selbst sehr viel mehr betraf, die ihm letztlich alle Schuld aufbürdete: War der Keim, der den Tod über die Sippen gebracht hatte, vielleicht die Strafe für ihn – den Mutter-Mörder? Mußten alle Kelchkinder für seine Untat büßen, nachdem er in ferner Zeit und doch erst »gestern« jene Macht gemeuchelt hatte, die hinter allem vampirischen Sein gestanden hatte: Lilith, Adams erstes Weib und die Mutter all derer, die später zu
Hütern des Kelches geworden waren und noch geworden wären?* Landru verbannte den Gedanken in die finstersten Tiefen seiner schwarzen Seele. Nicht an diesem Ort, rief er sich zur Räson, nicht in dieser Stadt, in der selbst dunkelste Geheimnisse unversehens ins Licht gerissen werden können … Er ließ die selbst für ihn bedrückende und gleichsam erstickende Atmosphäre der dunklen Winkel Delhis hinter sich, als er ans Ufer des Ganges trat. Übelriechende Dämpfe absondernd, wälzte sich der breite Strom träge zu seinen Füßen. Weder die Lichter der Stadt noch die der Sterne brachen sich auf der tiefschwarzen Oberfläche, als würde der Fluß selbst sie gierig verschlingen, so wie er die darin Badenden nach hiesigem Glauben auch von ihren Sünden reinwusch. Womöglich, dachte Landru, war in diesem Glauben ja tatsächlich ein Körnchen Wahrheit. Und vielleicht ruhte der kloakenartige Gestank ja daher … Der Hüter lächelte perfide. Um wieviel schlimmer müßte er dann erst werden, wenn er selbst, Landru, in die Wasser des Ganges gestiegen wäre …? Sein Lächeln mutierte zur Fratze, als sein Gesicht sich verwandelte, und mit ihm der Rest seines Körpers. Er schrumpfte binnen eines Lidschlages, verkrüppelte auf unmögliche Weise und wurde zu dem einer Fledermaus. Auf ledrigen Schwingen stieg er auf in die Nacht und flatterte über den Fluß hinweg, um ein Stück hinter dem jenseitigen Ufer niederzugehen, im Schatten jener Moschee, deren Anblick unselige Erinnerungen in ihm zu neuem Leben beschwor. Landru zerschlug sie mit einem geistigen Hieb, der so hart war, daß er selbst unter der Gewalt aufstöhnte. Dann erst ging er um das im Vergleich mit anderen seiner Art wenig auffällige Bauwerk herum und drückte die goldbeschlagenen *siehe VAMPIRA H50: »Das Erwachen«
Tore auf. Unweigerlich dachte er daran, wie er die Moschee beim letzten Mal betreten hatte, kurz nach dem ersten mißglückten Kelchritual in Kairo. Ein Bild von grauenhafter Abartigkeit hatte ihn erwartet – blutspeiende, sich vor Schmerz und dürstender Qual windende Kelchkinder erfüllten das Szenario; die ersten Auswirkungen des Kelchkeimes hatten sich gezeigt und dem Hüter auf ewig ins Gedächtnis gebrannt. Heute indes bot sich ihm der von früher gewohnte Anblick dar. Die Räume der Moschee waren leer, nur erfüllt von unheiliger Stille, die wie etwas Greifbares in ihnen lag. Und doch war diese Leere anders als zuvor – auf seltsame Weise wirklicher, tatsächlicher. Weil nichts von dem zu spüren war, das früher hinter ihr gelauert hatte; oder vielmehr unter ihr. Landru senkte den Blick. Das Geheimnis der Moschee hatte sich einst tief unter den kunstvollen Mosaikböden befunden. Ob es heute noch so war, wußte er nicht. Vielleicht hatte Tanor sich nach dem Tod seiner Sippe ja zurückgezogen … »Du?« Das eine Wort ließ die Stille zerbrechen und hallte wie der Schlag einer mächtigen Glocke durch die Moschee. Landru sah auf. Tanor war lautlos wie ein Schatten unter einen der Rundbögen am jenseitigen Ende dieses größten Raums getreten. Er hatte sich nicht verändert seit ihrer letzten Begegnung: Wie stets war er nach alter Yogi-Sitte gewandet, sein Schädel blank wie polierter Stein. »Ja, ich«, erwiderte Landru, nur um das eisige Schweigen zu brechen. Tanor machte keine Anstalten, näherzutreten. »Was willst du hier? Dich davon überzeugen, ob du ganze Arbeit geleistet hast, Narr?« Landru hatte Mühe, unter den anklagenden, beleidigenden Worten des anderen nicht sichtlich zusammenzuzucken. Und ebenso schwer
fiel es ihm, dem Delhi-Oberhaupt nicht kurzerhand an die Kehle zu springen für seine Frechheit. Die Dinge hatten sich verändert, Landrus Macht war nicht mehr von jener Größe, unter deren bloßer Präsenz sich einst alle geduckt hatten. Nicht mehr – oder noch nicht wieder; diese Formulierung gefiel Landru um vieles besser … »Wessen beschuldigst du mich?« knurrte Landru, seinem Mühen um Beherrschung zum Trotz ungehalten. »Alles versucht zu haben, um unsere Rasse vor der völligen Degeneration zu bewahren?« fuhr er im selben Ton fort. »Alles getan zu haben, um den Untergang abzuwenden? Wenn du das tust, dann sind dies wahrlich ›Vergehen‹, für die ich mich gerne anprangern lasse! Denn damit habe ich mehr für die Alte Rasse getan als alle anderen! Dich eingeschlossen, Tanor!« »Dennoch hast du unserer glorreichen Rasse nichts anderes gebracht als den Tod«, erwiderte Tanor. Das Lächeln seines schmallippigen Mundes jedoch war ein Zeichen dafür, daß er Landru nicht wirklich des Mordes an ihrem Volk anklagen wollte. »Wie hätte ich es verhindern können?« fragte Landru, durch die versöhnliche Geste des anderen selbst ein wenig besänftigt. »Nichts wies darauf hin, welche katastrophale Folge der Einsatz des Kelches nach sich ziehen würde.« Tanor zuckte die hageren Schultern. »Hättest du nicht vorher Zwiesprache mit dem Gral halten können?« meinte er. »Konntest du das früher nicht, als du …« »Schweig!« fuhr Landru ihn an. Tanors Frage war dreist, weil sie rein rhetorischer Natur war. Sie bedurfte keiner Antwort, weil er sie längst kannte. So wie er alles wußte, was das Verhältnis zwischen Hüter und Kelch einst ausgemacht hatte. Jedes Detail darüber hatte er damals in Landru gelesen, und Tanor würde nicht das geringste Quentchen dieses wertvollen Wissensschatzes je wieder vergessen. So wie Landru bis in alle Ewigkeit die Schmach nicht vergessen
würde, die Tanor und seine Sippe ihm damit angetan hatten … »Das Gift, mit dem der Kelch verseucht wurde, zeigte seine Auswirkung wohl auch bei mir«, gestand der Hüter schließlich ein. »Es zerstörte alle Gedanken an Vorsicht, ersetzte sie durch blanke Euphorie. Erst als es zu spät war, ließ der verfluchte Keim es zu, daß ich mich der Möglichkeit zur Zwiesprache entsann. Doch der Kelch schwieg, schien tot zu sein und leer, beraubt all dessen, was ihn einst zum Unheiligtum unserer Rasse erhoben hatte …« Landrus Gedanken irrten ab. Ja, beraubt erschien ihm der Kelch. Etwas hatte befreit, was in ihm gewesen war und ihn mit unbegreifbarem Leben erfüllt hatte – die Seelen all jener, die einst aus dem Gral getrunken hatten, waren nicht länger darin gefangen. Etwas (Jemand! schrie es in Landru) schien sie, deren Zahl in die Abertausende ging, von ihrem ewigkeitslangen Leid erlöst zu haben … Und doch schien der Kelch nicht völlig leer zu sein, wie Landru bei seinen Versuchen, geistigen Kontakt mit dem magischen Artefakt aufzunehmen, festgestellt hatte. Aber es war ihm nie gelungen, das wahre Wesen dessen, was sich darin befand und in Schwärze verbarg, zu ergründen. Es schien ihm nur – vertraut. Als wäre er ihm schon einmal begegnet. Vor gar nicht langer Zeit … »All das beantwortet meine Frage nicht, aus welchem Grund du mich aufsuchst«, drängte sich Tanors Stimme zwischen seine Gedanken. »Es wird kaum der bloße Wunsch nach Gesellschaft sein, obwohl die Welt dort draußen einsam geworden sein muß für einen, dessen Leben ein tausendjähriges Reisen von Sippe zu Sippe war.« Irgendwann, mein lieber Tanor, dachte Landru, voll von ingrimmiger Vorfreude, werde ich dir jedes einzelne deiner anmaßenden Worte in deinen verdammten Hals zurückstopfen. Und dann werde ich dir einen Knoten in den Kragen binden, damit du an deiner Unverschämtheit erstickst. Irgendwann … wenn ich dich nicht mehr brauche … Es fiel dem Hüter nicht schwer, ein dunkles Lächeln zur Schau zu tragen, das Tanor gründlich mißverstehen mußte.
»Nein, ich brauche deine Hilfe«, erklärte Landru knapp und trat näher. Tanors strichdünne Brauen wanderten eine Winzigkeit seine Stirn empor. »Ach?« machte er. »Wobei könnte ich dir helfen, was du nicht selbst längst geschafft hast?« Landru verstand die Geste des anderen, mit der er die leeren Räume der Moschee bezeichnete. »Nun laß es gut sein und Vergangenes ruhen«, verlangte der Hüter. »Hör mir zu …« Landru begann zu erzählen von all den Dingen, denen er in den vergangenen Wochen nachgespürt hatte; davon, wie er den Niedergang der Sippen in aller Welt beobachtet hatte; wie er festgestellt hatte, daß er selbst einem jeden Vampir den Tod brachte, dem er nahekam; von seiner Hoffnung, die er auf den Retorten-Vampir gesetzt hatte, und davon, wie sich diese Hoffnung zerschlagen hatte; und schließlich von seinen Überlegungen den Lilienkelch betreffend … Nur von seinem Gang durch den Korridor an den Anfang der Zeit, zur Wiege der Alten Rasse und hin zu seiner ureigenen Geburtsstatt berichtete er nicht. Dieses Geheimnis hatte Tanor ihm seinerzeit nicht entreißen können, weil Landru zu jenem Zeitpunkt selbst nichts von dieser seiner Vergangenheit gewußt hatte. Und so sollte es auch bleiben … »… etwas wurde in dem Kelch verankert und hat ihn unbrauchbar gemacht«, kam der Hüter zum Ende. »Aber was hineingegeben wurde, muß auch wieder zu entfernen sein. Doch dazu muß ich wissen, worum es sich genau handelt.« Tanor schwieg eine Weile. Aller Zynismus war aus seiner Stimme verschwunden, als er schließlich sagte: »Und wie, glaubst du, könnte ich dir dabei helfen, dieses Rätsel zu lösen?« Landru sah den anderen fest an. »Nicht du selbst«, erklärte er dann. »Sondern jener, der dir ver-
bunden ist und dem kein Geheimnis fremd bleibt. Der einst diesen Duncan Luther von den Toten erweckte und der in deinem Auftrag den Schlangenstab untersuchte.« »Sahya Patnaik?« fragte Tanor, auf abgründige Weise lächelnd. Landru nickte stumm. Tanor begann zu wandern, zwei Schritte hin, zwei her. Dann blieb er wieder vor Landru stehen. »Wenn du damals nicht so überhastet weitergezogen wärst, als du nach dem verfluchten Kelchritual hierher kamst«, sagte der barhäuptige Vampir, »dann hättest du dir den jetzigen Weg zu mir sparen können.« »Warum?« fragte Landru. Eine düstere Ahnung stieg in ihm auf, schmerzhaft, als würde sie sich wie etwas Körperliches mit stählernen Krallen aus seine? Eingeweiden hervorwühlen. »Weil Sahya Patnaik tot ist«, antwortete Tanor leichthin. »Wir mußten ihn töten, als der Schlangenstab ihn damals mit Wahnsinn infiziert hatte.« »Nein!« entfuhr es Landru. Das namenlose Ding in ihm schlug seine Klauen tiefer in alles hinein, was in Reichweite war. Und seine Arme schienen in jeden Winkel seines Leibes zu reichen. Der Hüter krümmte sich. »Nein.« Die Stimme kam von den offenstehenden Toren her, und für zwei, drei Sekunden erstarb jede Bewegung in der Moschee. Dann wandten sich Landru und Tanor synchron in die Richtung des Ausgangs. Wo Sahva Patnaik, der »Erwecker«, stand.
* Italien Die Tage vergingen. Doch das Gefühl, nunmehr einer »richtigen«
Familie vorzustehen, wollte sich bei Giuseppe Mazzano nicht einstellen. Nicht in der Art zumindest, wie er es sich früher ausgemalt hatte, wie es sein würde, ein Kind zu haben. Dennoch verfiel er nicht mehr auf den Gedanken, »seinen« Sohn fortzugeben, ins Dorf hinunterzubringen, um das Geheimnis seiner Herkunft zu ergründen. Etwas Fremdes fand sich seit Tagen im Boden seines Denkens, durchsetzte ihn und ließ solcherlei Gedanken nicht einmal keimen. »Möchtest du mir helfen?« Giuseppe war hinter den Knaben getreten, der auf einem Stein saß und unverwandt in die Höhe starrte, dorthin, wo Monte Cargano wie ein steinernes Geschwür aus der Flanke des Berges wuchs. Wie er es in all den letzten Tagen so oft getan hatte. Gabriel antwortete, ohne den Blick abzuwenden: »Wobei?« Er sprach selten mehr als drei oder vier Worte am Stück. Doch nach seinem anfänglichen Schweigen war Giuseppe schon froh darüber, daß er überhaupt den Mund aufbekam. »Wir müssen die Tiere füttern«, sagte er, bewußt von »wir« sprechend. Der Junge sollte spüren, daß Livia und er ihn als der Familie zugehörig betrachteten. Livia, ging es Giuseppe durch den Sinn. Sie gefiel ihm gar nicht in den letzten Tagen. Sie war stets müde, und sie schien auf seltsame Weise – gealtert … Vielleicht sollte er den Arzt aus dem Dorf holen … Gabriel sah zu ihm auf, und die Gedanken und Sorgen vergingen. »Gut«, sagte der Junge dann, und Giuseppe fragte sich einen Moment lang, was er damit meinte … Gabriel erhob sich von dem flachen Stein, doch ehe er in Richtung der Stallungen ging, sah er noch einmal hinauf zum Kloster – auf eine seltsame Weise überlegend, und der Ausdruck, der dabei schattengleich über seine engelhaften Züge huschte, ließ ihn für einen flüchtigen Moment älter aussehen, als er es an Lebensjahren war. Sehr viel älter …
Giuseppe folgte dem Jungen. Er wollte den Kopf schütteln über dessen merkwürdiges Verhalten, doch er vergaß, es zu tun, als Gabriels Finger seine Hand berührten. Seite an Seite liefen sie zu den flachen Stallungen hinüber, wo er den Jungen vor Tagen gefunden hatte. Noch immer wußte er nicht, wie Gabriel dorthin gelangt war. Auf ihre diesbezüglichen Fragen hatte der Knabe nie geantwortet. Trotzdem sprach Giuseppe das Thema ein weiteres Mal an, als er die Tore des Stalls aufzog. »Möchtest du mir nicht endlich sagen, weshalb du dich da drinnen versteckt hast?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil es nicht wichtig ist«, erklärte Gabriel. »Du hast recht«, erwiderte Giuseppe, »es ist nicht wichtig.« Überzeugung klang in seinen Worten, doch es war nicht seine eigene. Etwas hatte ihn überzeugt, wie all die Male zuvor. Und wie all die Male zuvor gab der Bauersmann sich damit zufrieden, ohne sich weiter darüber zu wundern. Er trat in den Stall und wandte sich nach links, wo die Futtervorräte lagerten. »Komm, laß uns anfangen«, sagte er über die Schulter. Der Junge folgte ihm. Und schlagartig begann es wieder. Unruhe breitete sich aus wie eine unsichtbare Wolke. In den Boxen begannen die Tiere nervös zu stampfen, keimende Furcht verschaffte sich immer lauter und lauter werdend Ausdruck. »Sie mögen mich nicht«, sagte Gabriel. Es klang nicht traurig, sondern – triumphierend … Giuseppe überhörte es. »Unsinn«, entgegnete er. »Sie kennen dich nicht, das ist alles. Sie werden sich an dich gewöhnen. Du darfst nur keine Angst haben.« »Ich habe keine Angst«, sagte der Junge. Auch die merkwürdige
Betonung in seinen Worten entging Giuseppe. Die Tiere wurden unruhiger. Kräftige Tritte und die Bewegung schwerer Körper erschütterten die Bretterverschläge entlang des Mittelganges. »Ruhig«, rief Giuseppe Mazzano den Tieren zu. »Euch geschieht doch nichts, ganz ruhig.« Seine Worte gingen unter im Schnauben, Blöken und Grunzen des Viehs. Er füllte einen Eimer mit Futter, nahm den Jungen bei der Hand und ging mit ihm weiter in den Stall hinein. »Sie beruhigen sich schon wieder«, meinte er, an Gabriel gewandt. Holz knirschte, direkt neben ihnen. Dann splitterte es mit einem Geräusch, das wie ein Schuß durch den Stall peitschte! Und zwischen den Brettern brach ein gehörnter Koloß hervor, die riesigen dunklen Augen weit aufgerissen, und stampfte brüllend auf den Mann und den Jungen zu! Giuseppe schrie erschrocken auf. Gabriel starrte nur. Das Rind kam zwei Schritte weit. Sein Leib blähte sich binnen einer einzigen Sekunde. Aus panischem Brüllen wurden das schmerzerfüllte einer todgeweihten Kreatur. Dann riß das Fell des Tieres unter dem Druck quellender Eingeweide, die in einer fast lautlosen Explosion auseinanderstoben. Blut und zerfetztes Gedärm regnete nieder, traf die anderen Tiere, die sich wie irrsinnig gebärdeten. Ein warmer Schwall durchnäßte Giuseppe vom Hals bis zu den Knien. Gabriels Gesicht wurde zu einer rotglänzenden Maske, in der die Augen wie unter innerer Weißglut glommen. Doch seine Züge blieben reglos, als er zu dem Mann aufsah.
»Das hätte es nicht tun dürfen«, sagte der Junge nur. Giuseppe schüttelte den Kopf und nickte zugleich. »Du hast recht. Das hätte es nicht tun dürfen«, bestätigte er fast teilnahmslos. Das Entsetzen war nicht mehr als ein eisiger Punkt tief in seinem Inneren. Etwas verhinderte, daß es sich Bahn brach. Doch er wünschte sich, es hätte ihn übermannt. Denn es spüren zu müssen, ohne es indes empfinden zu können, war ungleich schlimmer. Aber der Gedanke verging, folgte so vielen anderen nach, die in den vergangenen Tagen wie von unsichtbarer Hand aus seinem Bewußtsein gelöscht worden waren. »Geh ins Haus«, sagte er zu Gabriel. »Wasch dir das Gesicht und sieh nach Livia, hm?« »Ja, das tue ich gern«, erwiderte der Junge und ging. Vorfreude glitzerte in seinen blutumschmierten Augen, als er über den Hof lief. Vorfreude und Gier.
* Indien Sahya Patnaik bot einen absonderlichen Anblick. Wie er es schon immer getan hatte … … als er noch lebte! durchfuhr es Tanor. Doch das Erstaunen, das an der Grenze zum Erschrecken zögerlich verebbt war, ließ ihn stumm und starr stehen. Der »Erwecker« gemahnte eher an ein Tier denn an einen Menschen. Sein Haar hing als zottige Mähne weit auf den Boden hinab. Grauer Bartfilz wuchs um seinen seltsam unförmigen Mund herum und bis auf die eingefallene Brust hinab. Um die Hüften trug er ein mit Symbolen bemaltes Tuch, über dessen Rand der Bauch wie eine
Kugel hing, der in völligem Gegensatz zu seiner sonst dürren Statur stand. Amulette klimperten noch durch die Bewegung des Schrittes, der ihn über die Torschwelle gebracht hatte, überall an seinem Körper. Sein triumphierendes Lächeln entblößte schiefe Reihen gelblicher Zähne, in die winzige Figuren von abgründigem Charakter eingeschliffen waren. Landru fand die Sprache als erster wieder. »Was redest du, von wegen er sei tot?« stieß er hervor. »Das ist doch …« »… nicht Sahya Patnaik«, fiel Tanor ihm ins Wort. »Sieh hin. Sieh genau hin!« Landru tat, was Tanor gesagt hatte. Er konzentrierte sich, schärfte seinen Blick – und sah … … eine ebenso nackte wie haarlose Gestalt! Nackt war sie bis auf das, was einmal ihre Haut gewesen war. Nun war es nur noch eine ledrige, fleckige Hülle, die an manchen Stellen den Blick freigab auf rohes, schwärendes Fleisch. Das Gesicht war eine Kraterlandschaft aus Runzeln und schwarzen Rissen. Die Augen klebten wie austrocknende Geleekugeln in riesigen Höhlen. An der linken Schläfe war die Haut gerissen und schälte sich ab, darunter schimmerte das schmutzige Weiß des Schädelknochens. Der Mund stand zu einem dunklen Oval offen, in das zwei faulende Eckzähne ragten … »Bei den Hohen!« entfuhr es Landru. »Wer ist das?« »Timot.« In Tanors Stimme mengten sich Wut, Bedauern, Trauer und Erschütterung. In einer hilflosen Bewegung streckte er die Hand vor, als wollte er nach dem verlorenen Sohn greifen. Er ging einen Schritt auf den anderen zu und blieb dann doch stehen, vom Grauen gelähmt. »Wie ist das möglich?« fragte Landru tonlos. »Wie kann er …?« Sein Blick pendelte zwischen den letzten beiden Vampiren der Delhi-Sippe hin und her.
»Ich fürchte, ich weiß es«, erwiderte Tanor düster. Timot nickte, langsam, weil jede hastige Bewegung seinen Leib noch ärger verwüsten konnte. »Du irrst dich nicht«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Ich habe Sahya Patnaik seines Talentes beraubt, als ich ihn tötete. Und seither ›erweckt‹ er mich – Nacht für Nacht.« »Warum bist du nicht zu mir gekommen?« wollte Tanor wissen. »Hättest du denn Wert auf die Gesellschaft –«, Timot wies an sich herab, »– eines solchen Dings gelegt?« Tanor schwieg. »Was geht hier vor?« fragte Landru. »Wie ist das möglich?« Er wies auf den Vampir, dessen Leib sich die geraubten Jahrhunderte zurückerobert hatten. Tanor erzählte, was er vermutete, und Timot hatte dem nichts hinzuzufügen. Sein Blutvater hatte die Sache treffend erkannt. »Was ist das für eine Gabe, die er sein eigen nennt?« fragte der Hüter dann, mit einer Kopfbewegung zu Timot hindeutend. Tanor zuckte die Schultern und sagte: »Du weißt, daß es heute überall auf der Welt Menschen gibt, denen man ›paranormale Fähigkeiten‹ zugesteht. Solche Menschen wurden auch früher schon geboren, nur gab es damals nicht die Möglichkeiten, solcherlei Talente zu erforschen. Und wer um seine Gabe wußte, hielt sie geheim, weil er sonst Gefahr lief, der Hexerei bezichtigt zu werden. Timot muß einst eines dieser Kinder gewesen sein. Wohl unter dem Einfluß des schwarzen Blutes hat sein ›Para-Talent‹ sich dahingehend entwickelt, daß er es vermochte, andere über sein Aussehen zu täuschen, indem er ihnen fremde Gesichter und Gestalten vorzuspiegeln verstand.« Landru nickte. »So könnte es in der Tat gewesen sein.« Er machte eine kurze Pause, ehe er weitersprach. »Und nun trägt er also zusätzlich Kraft und Bewußtsein desjenigen in sich, den ihr den ›Erwecker‹ nanntet. – Inwiefern kannst du dich seiner Gabe bedienen?« wandte er sich direkt an Timot.
»Zur Gänze«, antwortete der Vampir. »Er zwingt mich, sein früheres Leben zu führen, sein einstiges Tun fortzusetzen.« Landru grinste verschlagen. »Dann steht meinem ursprünglichen Plan ja nichts im Wege«, meinte er und trat auf Timot zu. Seine Hand fuhr in den Lederbeutel, umschloß, was darin war, und kam wieder zum Vorschein. Seine Faust kam auf die rissige Brust des Vampirs zu, als wollte er ihm einen Stoß versetzen. »Nimm den Kelch und ergründe seine Geheimnisse«, verlangte er. »Was soll ich …?« begann Timot, der den Gral als solchen erkannte. Ein seltsamer Schimmer stahl sich in seinen trüben Blick, ein Abglanz der Ehrfurcht, die er selbst jetzt noch vor dem Unheiligtum seiner Rasse empfand. »Ich kann nicht …«, preßte er mühsam hervor. Es waren Timots letzte Worte. Sahya Patnaik übernahm Tun und Denken des Körpers, der zu seinem Kerker geworden war. Indem er an Timots Wissen teilhatte, wußte er, worum es sich bei dem bizarr geformten Kelch, den Landru ihm reichte, handelte. Und selbst spürte er, daß es mehr, viel mehr als ein leeres, totes Gefäß handelte. Es war weder leer noch tot … »Gib her!« Er riß Landru den Gral aus der Hand. Seine Blicke, nicht länger trüb und leer, sondern kalt und glitzernd, flirrten über die Oberfläche des Kelchs, die wie aus Tausenden winziger Splitter zusammengefügt schien; einer für jede Seele, die einst in ihm gefangen gewesen war … Gewesen …? Patnaiks Blick tauchte in die Schwärze der Kelchöffnung. Und mit ihm ein kleiner Teil seiner Kraft, so wenig, daß es ihm selbst kaum bewußt war. Einem hauchdünnen Tentakel gleich tastete die Energie in der Lilienblüte umher – – und berührte etwas!
Etwas erwachte. Wie aus todesähnlichem Schlaf … Wortlos wandte die Gestalt des Vampirs sich unter Patnaiks Befehl um. »Wohin gehst du?« rief Landru. »Nach Hause«, kam die Antwort, und es war nicht Timots mürbe Stimme, die aus seinem Mund sprach, »um zu tun, was du mir geheißen hast.« »Warte …« Landru wollte dem Davonhastenden folgen. »Nein«, antwortete Patnaik, »ich rufe euch, wenn ich seine Geheimnisse kenne.« Schleifende Schritte verklangen draußen in der Nacht. Ein auf ungute Weise vertrautes Gefühl bemächtigte sich Landrus. Ein Gefühl, das ihn schon einmal überkommen hatte, wenn auch ungleich mächtiger. Dieses hier schien ihm wie ein Echo des damaligen … Damals … Vor annähernd dreihundert Jahren. Als er den Lilienkelch verloren hatte …
* Italien Sein Anblick war nicht einfach nur häßlich. Er war grauenerregend. Und doch gab Livia Mazzano sich ihm mit Freuden hin. Denn er war ein Traum, und traumhaft war, was er mit ihr tat. Seit Nächten, wieder und wieder. Livia wußte selbst im Traum um den hohen Preis, den sie ihm zollen mußte für alle Wonnen, die er ihr bescherte. Aber sie war bereit, ihn zu zahlen – für den Himmel auf Erden … Sein männlicher Körper roch nach Schweiß und zugleich nach
dem Tier, dessen Gestalt er sich zum Teil geliehen hatte. Eine gleichsam betäubende und berauschende Mixtur, die Livia aufsog wie den edelsten aller Düfte. Er war Öl in das ohnehin schon hochlodernde Feuer ihrer Lust, und es wurde dadurch zu einer Gier, die sie nie verspürt hatte, wenn sie mit Giuseppe zusammen gewesen war. Ihre Nächte mit Giuseppe – sie waren nichts als kindisches Getue im Vergleich zu dem, was der Widderköpfige ihr bescherte. Trotzdem es nur im Traum geschah – aber in der Wirklichkeit seinen Tribut forderte. Im Traum fühlte Livia sich stärker und von mehr Leben erfüllt als je zuvor. Und sie war bereit, dem anderen jedes Quentchen davon zu opfern, wenn er sie nur wieder nahm. Als hätte er ihr lautloses Flehen und Sehnen erhört, kam er über sie. Sie spürte das Gewicht seines nackten, von dichtem Haar bewachsenen Körpers auf sich. Ihre Hände fuhren in seinen Nacken, gruben sich in borstiges Fell, wanderten höher und glitten über hartes Gehörn. Aufstöhnend zog sie den Widderschädel zu sich herab. Ihre Lippen berührten die seinen, die verhornt und rauh waren. Bereitwillig gab sie dem Drängen seiner harten Zunge nach, ließ sie in ihren Mund und ergab sich seinem erdig schmeckenden Kuß. Weit hielt sie die Augen geöffnet, erwiderte den Blick aus den seinen, die nicht die eines Tieres waren, sondern klar und voller Unschuld, wie die eines – Kindes … Seine Hände erkundeten indessen ihren Leib, folgten den Pfaden, die sie in den Nächten zuvor schon vorgezeichnet hatten. Wenig sanft walkte er ihre schweren Brüste. Zwischen ihren Schenkeln spürte sie, wie sein Glied zu jener Größe schwoll, die sie fürchtete und nach der sie doch zugleich verlangte. Fast ruckartig spreizte sie die Beine, damit er es nur nicht noch länger hinauszögerte. Aber er hielt sie weiter hin, ließ sie nur das Pochen seines prallen Schaftes an ihrer Scham spüren, ohne sich der
lockenden Feuchte zu ergeben. Dann – Endlich! schrie es in Livia – drang er in sie ein. Unendlich langsam, aber doch ohne Vorsicht. Jede Bewegung seiner starken Hüften bescherte ihr Schmerz. Doch sie genoß ihn, jeden Blitz, der ihre Nervenbahnen durchraste … »Livia.« Sie erwiderte die Nennung ihres Namens mit einem Stöhnen, wölbte ihr Becken seinen Stößen entgegen. »Livia!« Eine Hand berührte ihre Schulter, rüttelte sie sanft … Wie war das möglich? Sie spürte seine Hände nach wie vor an ihren Brüsten! »Livia, wach auf!« Sie öffnete die Augen. Der Widderköpfige verschwand. Ein Traum, nicht mehr … »Was …?« preßte sie hervor. Ein Gesicht erschien in den Nebeln, in die der Widderköpfige sich zurückgezogen hatte. »Giuseppe?« »Du hast geträumt, mein Liebling«, sagte ihr Mann. Seine Stimme war schwer vor Sorge. »Ja«, erwiderte sie müde, unendlich müde und schwach. »Wovon?« fragte Giuseppe. »Nichts«, antwortete sie leise. »Ich erinnere mich nicht.« »Ruh dich aus«, sagte Giuseppe, seltsam erstickt, als bereitete ihm das Sprechen Mühe. Livia schloß die Augen. Ihr Mann blieb noch neben ihrem Bett stehen. So lange, bis er ihren Anblick nicht mehr ertrug. Den Anblick einer mindestens achtzigjährigen Greisin, zu der sie in wenigen Nächten geworden war.
* Im Kelch … … war die Finsternis Nehrus Welt geworden. In dem Moment, da er gestorben war. Und doch war es nicht das Reich des Todes, in dem er – lebte …? Mit Schwärze hatte das Sterben begonnen. Sie war aus einem Kelch über die Lippen des Kindes geflossen, und mit ihr hatte es den Tod getrunken, der in neuem Leben münden sollte … »Wenn du nur wüßtest, wie bedeutsam, wie groß dieser Moment ist, mein Kleiner. Du würdest ihn genießen wie nichts zuvor in deinem jungen, armseligen Leben …« Nehru hatte nie erfahren, was der Fremde mit der Narbe im Gesicht gemeint hatte. Die Größe des Momentes hatte sich ihm nie erschlossen, und es war nichts gekommen, das er hätte genießen können. Denn das Gefühl, an der Grenze zum Tod gefangen zu sein, war nichts anderes als furchtbar. Obwohl er die Zeit dort in einem Zustand zubrachte, der wie Schlaf war – beinahe jedenfalls. Die Ähnlichkeit beschränkte sich darauf, daß Nehru sich nicht rühren konnte. Weil es nichts gab, was er hätte rühren können. Sein Körper war fort, er hatte ihn verlassen müssen, eingetauscht gegen die Schwärze, die nunmehr alles war für ihn. Doch sie war nicht unendlich. Nehru wußte es, obwohl er ihre Grenzen nicht erkannte. Und das lag nicht daran, daß ihm die Augen zu sehen fehlten. Mit dem, worauf er reduziert war, spürte er, daß die Finsternis sich auf einen im Grunde winzigen Raum konzentrierte – nicht größer als der Kelch, aus dem er die Schwärze hatte trinken müssen, nachdem der Fremde ihn entführt hatte … Und die Lichtlosigkeit um ihn her war nicht leer. Etwas war darin, eine Kraft, die ihm Trost spendete, ohne Worte zu sprechen oder gar irgend etwas zu tun. Sie war einfach nur da, umfing ihn in ganz ähnlicher Weise, in der Nehru einst die Liebe und Wärme seiner Mut-
ter empfunden hatte. Eine namenlose, aber seltsam vertraute Macht war es, und Nehru glaubte sie zu kennen – oder wenigstens schon von ihr gehört und vor allem an sie geglaubt zu haben. Seine Mutter hatte ihm oft aus einem dicken Buch vorgelesen, in dem von eben dieser Macht die Rede war … Und dann wurde urplötzlich alles anders! Nehru spürte, wie etwas durch die Schwärze um ihn herumfuhr, tastete – und ihn berührte. Das Fremde beendete seinen »Schlaf«, »erweckte« ihn nach einer Zeit, für die ihm der Maßstab fehlte – und mit einemmal schlug die Einsamkeit in erstickenden Wogen über ihm zusammen! Panische Angst flutete Nehrus Sein. Er wollte hinaus! Fliehen aus dem, was ihm zum Kerker, zu seinem ganz eigenen Jenseits geworden war. Doch es gab nichts, wohin er hätte flüchten, sich hätte retten können. Nehru brüllte in lautloser Verzweiflung. Seine Seele schrie flehend nach einer neuen Heimstatt. Aber es gab keinen solchen Ort. Noch nicht …
* Italien Gabriel lag auf dem Bett seiner kleinen Kammer, aber er schlief nicht. Er schlief nie. Statt dessen sah er wie in all den Nächten zuvor aus dem winzigen Fenster hinaus, in dem ein Teil der Berge wie ein gerahmtes Gemälde erschien. Und im Zentrum des Ausschnitts befand sich etwas, das wie bizarr verkrüppelter Auswuchs aus dem Fels dort oben ragte. Monte Cargano … Giuseppe Mazzano hatte ihm den Namen jenes Bauwerks dicht unter dem Himmel genannt. Der Name hatte etwas in Gabriel be-
rührt, aber er vermochte mit dem Gefühl nichts anzufangen. Als fehlten ihm die Hände, um danach zu greifen, die Ohren, es zu verstehen. Trotzdem konnte er nicht aufhören, dort hinaufzusehen. Weil dieses Kloster der Grund seines Hierseins war. Der Grund seiner unendlich weiten Reise vom beinahe anderen Ende der Welt in das Land, das die Menschen Italien nannten. Obgleich er nicht wirklich bewußt den Weg hierher gesucht hatte. Er hatte sich eher treiben lassen, darauf vertrauend, daß er sein Ziel schon erreichen würde – auf eine Weise, die er noch nicht zu verstehen imstande war, und geleitet von etwas, das in ihm war, ohne daß er es begriffen hätte. Da war so vieles in ihm, bereit, genutzt zu werden, und doch vermochte er es nicht zu tun. Weil seine Kraft noch längst nicht genügte, um all die Dinge zu beherrschen und all das Wissen zu begreifen und einzusetzen – doch zu welchem Zweck? Auch diese Erkenntnis spürte Gabriel in sich. Spürte sie … mehr nicht. Wie gebannt hing sein Blick an Monte Cargano … Mit jedem Quentchen fremder Energie, dessen er habhaft wurde, bröckelte die Schale um jene Geheimnisse in seinem Innersten ein kleines bißchen. Zu langsam! Gabriel setzte sich auf. Er erinnerte sich an die Anfänge. An die Zeit nach seiner Geburt, als er dem Schoße Mariahs entflohen war. Unmittelbar danach hatten ihn Energien genährt, die mit nichts anderem vergleichbar waren. Solcher Art mußten die Kräfte sein, die ihn nährten. Sie würden ihn reifen lassen in dem Maße, wie es sein mußte. Vampirische Kraft, vom dunklen Keim durchdrungen, brauchte er, wollte er! Er mußte ihre Quellen nur finden und sie ausschöpfen. Gabriel legte sich zurück, und diesmal schloß er die Augen.
Er träumte, ohne indes zu schlafen. Im Traum sandte er den Widderköpfigen aus, auf daß er fand, wonach ihn gelüstete. Und die Trauminkarnation wurde fündig. In einer Stadt, die man Rom hieß. Nicht weit entfernt. Gabriel erhob sich, schlich ohne besondere Vorsicht aus dem Haus und über den Hof. Am Tor angelangt, blieb er noch einmal stehen, wandte sich um. Ein Schrei schnitt durch die Nacht, schwer von Schmerz und Trauer. Giuseppe Mazzano weinte um seine Frau, die just an völliger Entkräftung gestorben war. Gabriel fuhr mit den Fingern über sein Gesicht. Es war das eines acht- oder neunjährigen Kindes. Und sein Denken hatte sich verändert, ein klein wenig. Wissen erschloß sich ihm. Er hob den Blick, sah hinauf zum Kloster. »Ich komme wieder«, flüsterte er in die Dunkelheit hinein. »Denn du bist mein Ziel …« Das zumindest wußte er. Was er an jenem Ziel zu tun hatte, wußte er nicht. Noch nicht … Vielleicht würde er es wissen, wenn er aus Rom zurückkehrte. Gabriel verschwand in der Nacht. Die Stadt am Tiber war nur einen Traum entfernt.
* Indien Sahya Patnaik trieb Timots Leib unbarmherzig voran. Es kümmerte ihn nicht, daß die Menschen ihm schreiend Platz machten auf dem Weg zur Grand Trunk Road. Nur der Kelch war ihm wichtig. Der Kelch – und das, was er darin erspürt und berührt hatte. Ganz flüchtig nur. Weder die Moschee der Vampire noch die Straße wa-
ren der rechte Ort, es weiter zu erforschen. Und erforschen wollte er es – o ja, nichts wollte er lieber! Selbst seinen eigenen Leib hätte er verschmäht, hätte man ihn vor die entsprechende Wahl gestellt. Denn Timots Körper taugte für das, was er zu tun hatte, ebenso gut. Es kam letztlich doch nur auf den Geist an, der darin wohnte und die Herrschaft führte. Und Timot schwieg. Weil die Kraft des »Erweckers« schier explodiert war und alles andere neben sich niedergekämpft hatte, als er das Fremde im Kelch ertastete – die Ahnung eines Geheimnisses, das größer war als alles, was er bislang erkundet hatte. Im Gral der Alten Rasse wartete eine Aufgabe auf ihn, die eines Magiers seiner Größe wahrlich würdig war. Und wenn es das Letzte war, das er je tat – diese Sache, diese Erkenntnis würde jedes Opfer wert sein … Patnaik ließ den fauligen Leib des Vampirs in das Haus an der Grand Trunk Road stürmen. Achtlos stieß er jene beiseite, die er sich zur Gesellschaft erschaffen hatte, und stieg die Treppe in die finsteren Kellergewölbe des Hauses hinab, wo er jenen Raum aufsuchte, in dem er seit jeher mit Vorliebe zu »operieren« pflegte. Das Gewölbe quoll über vor Gerätschaften und Instrumenten, deren bloßer Anblick einen normalen Menschen zumindest hätte frösteln lassen. Die steinernen Wände verschwanden hinter Regalen, die vollgestopft waren mit Tiegeln und Töpfen, in denen wiederum absonderlichste Mixturen vor sich hinstanken. Doch dieser Gestank war nichts im Vergleich zu dem, den die eingetrockneten Flüssigkeitsreste, die überall auf dem Boden und den Tischen klebten, absonderten. Die Treibhauswärme, die hier unten herrschte, trug ein Übriges dazu bei. »Perfekt«, murmelte Patnaiks Stimme aus fremdem Mund. Mit den Füßen schuf er in dem Durcheinander, das den Boden
übersäte, eine freie Fläche, die groß genug war, daß er sich darin mit überkreuzten Beinen niederlassen konnte. Daß die welke Haut und das faulende Fleisch an Timots Beinen dabei rissen, störte ihn nicht. Und den damit einhergehenden Schmerz überließ er dem Vampir allein. Alles Streben galt allein dem Kelch. Daß Sahya Patnaik wie unter fremdem, allmächtigem Willen handelte, drang ihm nicht zu Bewußtsein … Er stellte den Gral vor sich auf den Boden, genoß den Anblick im Licht blakender Kerzen und Fackeln sekundenlang. Dann reckte er den Kopf etwas vor, damit er in den Kelch hineinsehen konnte. Tief tauchte sein Blick in die Schwärze jenseits der Öffnung ein. Seine Fingerspitzen berührten das rauhe Material der Außenwand. Energie begann zu fließen; sichtbar flirrte sie wie schwaches Elmsfeuer von seinen Armen über die Hände und die Finger – – und berührte den Kelch, durchdrang ihn. Ein Schrei gellte, lautlos und dennoch alles erschütternd. Der Schrei einer Kelchseele. Der einzigen, die noch darin gefangen war. Noch …
* Italien, Rom Der doppelgesichtige Gott Janus sollte im Altertum diesen Hügel zu seinem liebsten Ort erkoren haben. Tinto wußte nicht, ob ein Körnchen Wahrheit in dieser Sage steckte, denn um es aus eigener Anschauung erfahren zu haben – so lange wandelte noch nicht einmal er auf römischem Boden. Aber wenn es so gewesen war, dann fühlte Tinto sich dem Zwei-
gesichtigen auch dadurch verbunden – denn die Eigenschaft, zwei Gesichter zu zeigen, war ebenso eine der seinen. Rom kannte ihn als lebensfrohen und sinnesfreudigen Charmeur, der seinen festen Platz in den Reihen der Oberen Zehntausend der Stadt vielleicht auch dann behalten hätte, wenn sein Reichtum sich unversehens in Nichts aufgelöst hatte. Dies war das eine Gesicht Tintos – das des Gönners und in Ehren ergrauten Playboys. Das andere durften nur wenige schauen. Und jene, die es taten, hatten hernach keine Gelegenheit mehr, davon zu berichten – mangels eigenen Willens die einen; die anderen, weil sie das Privileg schlicht nicht überlebten … Wie also auch der Gott Janus liebte Tinto den zweifellos schönsten der sieben Hügel Roms: Gianicolo. Nicht nur, weil von hier aus zu sehen war, daß Rom tatsächlich auf mehr als nur sieben Hügeln erbaut worden war. Die Zahl beruhte auf einem Übersetzungsfehler des Gelehrten Varro vor über zweitausend Jahren … Nein, Tinto lebte auch aus anderen Gründen seit nunmehr schon etlichen Jahrzehnten hier oben im Palazzo Gianicolo. Trastevere, das beliebteste Viertel Roms, lag ihm direkt zu Füßen und quoll vor allem in den Nächten schier über von pulsierendem Leben. So hatte er es nicht weit bis zur »Quelle« … Und das Haus war trotzdem abgelegen genug, daß seine Umtriebe nicht auffallen konnten. Wenngleich er Gesellschaft liebte und sich gerne Gäste einlud; wie auch heute. Gläserklirren und das noch gedämpfte Murmeln Dutzender Stimmen stiegen zu ihm herauf. Erst später würde die Stimmung – nun, gelöster werden … Tinto überprüfte mit raschen Blicken den korrekten Sitz seines Smokings, den ihm ein mehr als nur befreundeter Modedesigner auf den Leib geschneidert hatte. Ebenso überzeugte er sich davon, daß kein Blutfleck den Stoff verunzierte. »Va bene!« befand er zufrieden und rief dann: »Maurizio?«
Sein livrierter Leibdiener trat lautlos in den erlesen ausstaffierten Raum, das Gesicht wie immer ausdruckslos, der Blick der Augen trüb. »Sigñor?« fragte er lahm. Tinto wies auf das leblose Mädchen, das mit verrenktem Hals quer über dem Bett lag. »Schaff sie später weg, per favore.« »Si, Sigñor«, antwortete Maurizio. »Wie immer?« Tinto nickte nur. Der Tiber tilgte seit Jahrhunderten die Spuren seines Tuns. Gestärkt verließ der Vampir den Salon und trat hinaus auf die Galerie, die in weitem Bogen in gut zehn Metern Höhe um die riesige Empfangshalle im Erdgeschoß verlief. Tinto sah hinab auf ein Meer von Köpfen, und doch waren es seit geraumer Zeit weniger als in all der Zeit zuvor. Die Seinen waren nicht mehr dabei, wenn im Palazzo Gianicolo jene rauschenden Feste stattfanden, von denen anderntags stets ein paar Gäste weniger nach Hause gingen als am Abend vorher gekommen waren. Der Tod hatte schließlich jene ereilt, die ihn um Jahrhunderte betrogen hatten. Ein qualvolles Sterben war es gewesen, und Tinto mochte nicht länger darüber nachdenken. Es hätte ihm die Freude auf das Fest verdorben. Und Einsamkeit quälte ihn ohnehin nicht … Er stieg hinab und genoß das Bad in der Menge. Man nickte ihm zu, freundlich, überschwenglich, begeistert. Und wer den Blick seiner nachtfarbenen Augen auf sich spürte, mochte zwar frösteln, aber er glaubte es der Ehre wegen zu tun. Das taxierende Moment darin fiel niemandem auf. Der Vampir ließ sich Zeit mit seiner Wahl. Es blieben ihm noch Stunden zu entscheiden, wer ihm in dieser Nacht die Gunst erweisen durfte … Und die Stunden verstrichen. Die Stimmung der vornehmen Gesellschaft wurde ausgelassener.
Alsbald beschränkte sich das Geschehen nicht mehr nur auf die Halle im Erdgeschoß. Man zog sich zurück, Paarweise oder zu mehreren. Die Geräuschkulisse veränderte sich Helles Lachen aus jungen und dunkleres aus nicht mehr ganz jungen Kehlen wehte durch die Flure des Palazzos. Spitze Schreie zeigten, daß irgendwo der Gipfel der Lust erstürmt worden war. Dennoch leerte sich die Empfangshalle nicht. Die Zahl der Menge schwankte lediglich, und das an und abschwellende Raunen der Stimmen veränderte sich in seinem Volumen kaum, als versuchten jene, die hier zurückblieben, den Verlust auszugleichen, indem sie einfach lauter sprachen. Doch dann erstarben sie – mit einemmal, alle zugleich. Tinto erstarrte in grotesker Haltung – eine rothaarige Schönheit lag zurückgebeugt in seinen Armen, weil sie ihm ausgewichen war, als er (noch) spielerisch nach ihrem schlanken Hals geschnappt hatte … Ihr Kichern war das einzige Geräusch, das blieb, und es klang in der sonstigen Stille überlaut, schmerzte fast in den Ohren. Tinto setzte ihm ruppig ein Ende, während er sich schon umwandte. Die Menge teilte sich, wie es weiland das Rote Meer vor Moses’ Stab getan haben mochte. Eine einzelne Gestalt schritt in dem Spalier einher, klein und unscheinbar und völlig fehl am Platze – und doch wirkte jede seiner Regungen und Bewegungen auf absurde Weise bedrohlich. Der Vampir ging dem neuen »Gast« entgegen, begleitet von Blicken aus Dutzenden von Augenpaaren, in denen Unmut und Verwirrung sich die Waage hielten. »Was suchst du hier?« fragte Tinto streng, aber unüberhörbar auch verunsichert. »Dich«, antwortete Gabriel.
*
Im Kelch … … schrie Nehru! Aber es war nicht Schmerz, der ihn quälte. Sondern allein die Erkenntnis dessen, wozu er verdammt worden war. Des »Schlafes« beraubt, der ihn bislang vor diesem Wissen beschützt hatte, erkannte er nun, was ihm angetan worden war. Erfuhr, was es hieß, gestorben und doch nicht tot zu sein. Was es bedeutete, zwischen den Welten gefangen zu sein – körperlos, nur Geist und … … ALLEIN! Allein? Nehru suchte in der Schwärze – blind und taub – nach jener Kraft, deren Trost er »schlafend« gespürt hatte. Wo war sie? Verschwunden? Nein, sie war noch da. Doch sie offenbarte sich der Kelchseele nun ganz anders, zeigte ihr wahres Gesicht, das sie bisher hinter der Schwärze verborgen gehalten hatte. Sie brach aus der Finsternis hervor, explodierte darin, zerriß den tarnenden Kokon. Die grenzenlose Güte, die Wärme, die bedingungslose Liebe, die Nehru zuvor daraus erfahren hatte – dies alles verging. Machte etwas Platz, für das ihm nur ein Begriff einfiel: Zorn! Doch es war keine schlichte Wut, wie Nehru sie selbst zu Lebzeiten kennengelernt hatte. Dies hier war der Zorn eines … Gottes? Die Erkenntnis stand in völligem Widerspruch zu dem, was seine Mutter einst aus jenem Buch vorgelesen hatte. Stets war da von einem gütigen, liebenden Gott die Rede gewesen … Nehru, die einzige im Kelch verbliebene Seele, fand keine Gelegenheit, dies alles weiter zu ergründen. Die Kraft um ihn her entfachte einen Sturm, ließ die Schwärze brodeln und kochen.
Und in diesem Tosen erfuhr Nehru alles: die Hintergründe, die Beweggründe – den Plan eines zornigen Schöpfers … Das Wissen stürmte binnen einer nicht meßbaren Zeitspanne auf ihn ein. Doch blieb ihm nicht genug Zeit, es zu verarbeiten. Denn die tobende Kraft fuhr aus dem Kelch – und riß die einzige Seele darin mit sich. Hinaus. Dorthin, wo sie eine neue Heimstatt finden sollte. Doch es warteten derer mehr als nur eine. Nehru hing körperlos im Nichts, erspürte ein Dutzend verschiedener Richtungen, in die es seinen Geist zog und zerrte. Überall dort harrte seelenlose Leere darauf, gefüllt zu werden. Und Nehrus Seele – – zersplitterte! Zerriß unter dem Sog seelenberaubter Toter, die jeder ein Stück seines Ichs für sich beanspruchten. Und erhielten.
* Zwei Stimmen schrien aus einem Mund. Timot, der Vampir, unter dem brachialen Ansturm des heiligen Zornes des Verhaßten. Sahya Patnaik, der »Erwecker«, unter der Erkenntnis, nur benutzt worden zu sein. Der Kelch hatte kein Geheimnis geborgen. Keines jedenfalls, daß sich einem Nekromagier erschlossen hätte. Etwas hatte darüber gelegen, einer schwarzen Membran gleich, und ihr Zweck war es gewesen, im Zaume zu halten, was sich darunter verbarg. So lange, bis irgendein Frevler sich als närrisch genug erwies, das »Siegel« zu brechen – und die zornschwangere Kraft dahinter zu befreien. Der Lilienkelch hatte den Tod über die Sippen gebracht. Doch dies war nur ein Teil der Konditionierung des Grals gewesen. SEIN Plan hatte sich darin noch nicht erschöpft.
Nie mehr sollte dunkles Leben aus dem Kelch getrunken werden. ER hatte in allmächtiger Weitsicht Vorsorge getroffen für den Fall, daß jemand versuchen sollte, das Unheiligtum zu »reinigen«, um es wieder seinem alten Zwecke zuzuführen. Und diese Vorkehrung hatte Sahya Patnaik aktiviert … Der Schrei eines Kindes gellte lautlos in seinen Ohren, umtoste ihn einem Sturmwind gleich und zerstob dann in alle Richtungen. Doch damit war es noch nicht vorbei. Jener Schrei war kaum mehr gewesen als eine Begleiterscheinung des eigentlichen Geschehens. Ein Orkan wütete in dem unterirdischen Gewölbe. Scheinbar nie versiegend wurde seine Kraft aus dem Kelch gespeist. Der Leib des Vampirs, noch immer zweistimmig brüllend, wurde umhergewirbelt, als besäße er kein Gewicht mehr. Und so schien es auch. Denn seine Konturen verwischten, er wurde durchscheinend und immer mehr zu dem, was der Körper selbst nie gehabt hatte … … zu einem – Schatten. Doch nicht nur die Gestalt des Vampirs wurde ausgelöscht. Unter dem Sturm löste sich alles auf. Wie wegradiert verschwand alles in dem Raum. Einrichtung und Gegenstände verblaßten und vergingen schließlich. Aber auch dann ließ die Kraft des Kelchsturms noch nicht nach. Die steinernen Wände verloren ihre Maserung, als würden sie glattgeschliffen, wurden zu grauen Flächen, die schließlich in Nichts übergingen. Ein kleiner Teil der Wirklichkeit wurde ausgelöscht. Aber es war nicht Leere, die an ihre Stelle trat. Der Raum schien noch immer endlich, als der Sturm schließlich verebbte. Purpurflirrendes Licht füllte ihn, und unterschiedliche Schattierungen verliehen ihm Tiefe und Konturen. In der Mitte dieser Zone verdichteten sich dunkle Abarten des Purpurs zu einem einzigen Schatten. Zu einem Schatten von menschlicher Gestalt. Mit untergeschlagenen Beinen saß er da, starr,
körperlos und doch so stabil, daß er etwas in Händen halten konnte. Schattenfinger umschlossen den Lilienkelch.
* Das Haus an der Grand Trunk Road war vollends zum Geisterhaus geworden. Gespenstische Stimmen wisperten in der Dunkelheit, gegen die Kerzen und Fackeln fast vergebens ankämpften. Ihre Echos brachen und fingen sich an den Wänden und in den Winkeln der Korridore, eilten weiter, suchend nach etwas, an dem sie nicht abprallen würden, sondern in dem sie aufgehen konnten. Hätte jemand die Stimmen gehört, so hätte er vielleicht – wenn sein Geist nicht zerbrochen wäre an dem, was er hier hörte und sah – festgestellt, daß es ein- und dieselbe Stimme war, die da flüsternd und singend durch die Finsternis wehte. Die Stimme eines Kindes, in gleicher Weise zerrissen, wie es seine Seele war … Nehru suchte. Und er tat es auf einem Dutzend Wegen. Bis er fündig wurde. Taumelnde Schattengestalten, tot und seelenlos und ihres Herrn beraubt, hielten inne, als etwas sie traf – und durchdrang und erfüllte mit dem, was ihnen Sahya Patnaik nicht hatte zurückgeben können, obwohl er sie »erweckt« hatte. Dann kam wieder Bewegung in die Gestalten, deren grobgenähte Narben und verklebten Wunden die Finsternis gnädig verhüllte. Doch nun irrten sie nicht länger ziellos umher. Und auch die Stimme hob wieder an. Nicht länger körperlos jedoch, sondern aus noch fremden Mündern und doch gespenstischer als zuvor. »Endlich …«
»… wieder …« »… daheim …« »… laßt …« »… mich …« »… hinabgehen …« »… und …« »… eins …« »… werden.« Nehru stieg in die Tiefe des Kellers hinunter. Zwölfgestaltig.
* Landru erhob sich und leckte sich das Blut von den Lippen, während Tanor neben ihm noch schlürfend und saugend am Hals eines der beiden Mädchen hing, die sie nach Sonnenuntergang vor der Moschee abgefangen und in ihre geistige Gewalt gebracht hatten. Zwar fühlte der Hüter sich gekräftigt von dem Blutmahl, doch das Elixier hatte die Unruhe in ihm nicht ertränken können. Im Gegenteil schien sie ihm noch gesteigert, nun, da die Ablenkung ihren Reiz verloren hatte. Das Geräusch, mit dem Landru das Genick seines Opfers brach, schreckte Tanor auf. Er hob sein blutbeschmiertes Gesicht und verzog die Lippen zu einem wie aufgemalt wirkenden Lächeln. »Du bist schon fertig?« fragte er grienend. »Ich hatte dich als Genießer in Erinnerung …« »Spar dir deine Worte«, erwiderte Landru und winkte ab. »Du weißt, daß mir der Sinn heute nicht Plänkeleien steht.« Auch Tanor beendete sein Mahl, drehte »seinem« Mädchen mit einer beiläufigen Bewegung das Gesicht auf den Rücken und kleidete sich an. »Es sind kaum vierundzwanzig Stunden vergangen, seit –«, er zöger-
te kurz, »– Timot mit dem Kelch aufbrach. Es kann noch Nächte dauern, ehe er das Geheimnis des Grals enträtselt. Was immer darin steckt, es muß immens sein. Bedenke, was es anzurichten imstande war …« »Genau das ist es ja, was mich beunruhigt«, sagte Landru. Wie ein gereizter Tiger im Käfig lief er in dem finsteren Gewölbe unter der Moschee hin und her. »Vielleicht war es ein Fehler, jemanden wie deinen ›Erwecker‹ mit dieser Aufgabe zu betrauen. Er scheiterte, wie du gesagt hast, bereits daran, den Schlangenstab zu untersuchen. Wie könnte er es da mit der Macht aufnehmen, die dem Kelch innewohnt?« Tanor schnaubte abfällig. »Ich darf dich daran erinnern, daß es deine Idee war. Du bist mit dem Vorschlag zu mir gekommen, ihm den Kelch zu Forschungszwecken auszuhändigen, und du hast es schließlich getan. Ich hätte vermutlich einwenden können, was ich wollte – du hättest dich nicht von deinem Plan abbringen lassen. Die Zweifel daran, die dich nun plagen, teilte ich übrigens schon zuvor«, merkte er an. »Klugschwätzer«, knurrte Landru, und dann ergänzte er, versöhnlicher: »Das Ganze glich jener Euphorie, die mich damals beseelte, nachdem ich den Kelch endlich wieder in Händen hielt. Ich dachte nicht darüber nach, tat nur, was wie eingeflüstert in meinen Gedanken war.« »Was meinst du damit?« argwöhnte Tanor. »Daß ich nicht sicher bin, ob es wirklich meine Idee war, den Kelch zur Untersuchung an Patnaik zu geben«, erklärte der Hüter. Er ballte die Fäuste, daß die Knöchel knackten. »Verflucht sei Er«, zischte er ins Nichts. Und dann, an Tanor gewandt: »Bring mich zu Patnaiks Haus! Los!« Der andere hob beschwichtigend die Hände. »Ruhig Blut«, sagte er. »Wir sollten nichts überstürzen …« »Führ mich hin!« »Ich fürchte …« Der Rest seiner Worte blieb Tanor förmlich im
Halse stecken. Eine unsichtbare Riesenfaust schloß sich um seine Kehle und drückte unbarmherzig zu. Landrus Blick flammte. »Fürchtet euch nicht!« donnerte er. Dann stieß er Tanor von sich und entließ ihn aus seinem geistigen Griff. »Nun gut«, krächzte Tanor. »Wie du wünschst. Aber sage hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« »Schweig!« »Schon gut, schon gut.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stiegen sie aus den Gewölben in die Moschee hinauf. Wenig später flatterten zwei pechschwarze Schatten über das nächtliche Delhi hinweg. In der Grand Trunk Road gingen sie nieder. »Das ist es«, erklärte Tanor und wies auf den dunklen Klotz, der wie ein kantiges Geschwür inmitten eines verwilderten Gartens aus dem Boden wuchs. »Komm mit«, befahl Landru. Ohne Widerwort eilte Tanor dem Hüter nach. Der Gestank, der ihnen entgegenschlug, kaum daß sie die Eingangstür geöffnet hatten, nahm selbst ihnen, die den Tod als steten Begleiter in sich trugen, den Atem. »Was ist das hier?« fragte Landru angewidert. »Ein riesiges Mausoleum?« »Irgendwas Schlimmeres«, sagte Tanor. Landru sah sich in der kleinen Halle um. Das wenige Licht der Kerzen und Fackeln genügte ihm, um wie bei Tage zu sehen. Sein vampirischer Blick überzog alles wie mit rötlich fluoreszierendem Anstrich. Nichts regte sich, nichts war zu spüren. Stumm tastete er kraft seines Geistes nach dem Unheiligtum. Doch es reagierte nicht, so wie es seine Versuche der Kontaktaufnahme schon zuvor nicht beantwortet hatte. »Wo kann er stecken?« wollte er von Tanor wissen.
Der deutete schweigend auf ein dunkelrotes Viereck unterhalb des Treppenaufgangs in das obere Stockwerk. »Patnaik war stets im Keller zugange. Das wird sich mit dem Körperwechsel kaum geändert haben.« »Dann los!« Landru ging vor, Tanor folgte ihm wie ein Schattenersatz. Unten zweigten etliche Türen von einem schlauchartigen Gang ab. Hinter den ersten dreien fanden sie nichts. Nichts jedenfalls, was sie weitergebracht hätte. Erst hinter der vierten wurden sie fündig. Doch Landru fand keine Gelegenheit, das Szenario jenseits der Schwelle auch nur mit Blicken wirklich zu erfassen. Etwas anderes lenkte ihn ab. Tanor war durch einen übereilten Schritt an ihm vorbeigestürzt. Und starb.
* Womöglich war es auch etwas viel Schlimmeres, das Tanor widerfuhr. Seine fürchterlichen Schreie jedenfalls legten den Schluß nahe. Aber es ging alles viel zu schnell vonstatten, als daß Landru irgend etwas davon wirklich verstanden hätte. Er vermochte es ja kaum auch nur zu sehen. Es währte nur wenige Sekunden, und Landru hatte die Hälfte dieser Zeit allein damit zu tun, seinen Schrecken über die Plötzlichkeit der Ereignisse niederzuringen. Und dann war es auch schon vorüber. Tanor hatte einen einzigen Schritt in den Raum hineingetan. In einen Raum, der keiner war – und doch etwas mit Grenzen, mit sich fortwährend verändernden Ecken und Konturen aus purpurfarbenem Licht. Allein darüber auch nur im Ansatz nachzusinnen, trieb Landru auf einen bodenlosen Abgrund zu, aus dem es selbst für seinen Geist keine Wiederkehr geben würde.
Das Licht – oder was es auch war – hatte von Tanor Besitz ergriffen, noch in dessen Bewegung. Es hatte seine Haut in einem einzigen Augenblick verfärbt, jede Linie seines Leibes ausgefüllt, bis er selbst aus nichts anderem mehr als jenem Purpurlicht zu bestehen schien – und schließlich eins mit ihm geworden war. Es hatte ihn in etwas wie einen Schatten verwandelt, ihn für den Bruchteil einer Sekunde in dieser Gestalt belassen – und dann verschlungen, aufgesogen … was auch immer. Das rechte Wort dafür mochte es vielleicht nicht einmal geben. Doch Landru hatte auch keine Gelegenheit mehr, darüber nachzudenken. Denn die Purpurzone griff nun auch nach ihm! Die Zone selbst – – oder vielmehr: etwas darin! Landru spürte den Sog einer Kraft, nicht einmal besonders heftig, eher ein Locken, dem er sich nicht recht widersetzen konnte. Daß er ihm nachgab, lag aber an etwas anderem: Vages Entsetzen lähmte ihn für den Sekundenbruchteil, den er brauchte, um die Schwelle zu überwinden und in die Purpurzone hineinzutreten. Denn die Kraft, die auf ihn wirkte, war ihm vertraut … … und verhaßt! Seit Anbeginn! Sie hatte der Alten Rasse stets als Kontrapart entgegengestanden. Ihre Ausdünstung war der Schmerz seines Volkes gewesen, ihre Insignien die Waffen, mit denen es zu vernichten war. Und nun war jene Allmacht auf heimtückische Weise angetreten, um die finale Schlacht zu schlagen: Es zerstörte den Gral, der die Wiege der Unsterblichkeit gewesen war – und es wieder hätte werden können. Aber das hatte ER zu verhindern gewußt, indem er den Kelch nicht nur zur Seuchenquelle gemacht hatte. Sein Plan reichte weiter – bis hin zu einem bitteren Ende … Landru brüllte auf. Nicht vor Schmerz oder Enttäuschung, nicht im Gefühl, letztlich vollends gescheitert zu sein – sondern allein vor
rasender Wut. Sein Schrei bebte unter dem Zorn eines Gottes! Denn ein solcher war auch er einmal gewesen. Und Göttlichkeit verging nicht bis ans Ende allen Seins. Nie hatte Landru diese seine Macht wirklich genutzt. Das Wissen darum war tief in ihm verborgen gewesen. Erst seine Reise an den Anfang der Zeit, hin zum Anbeginn der Schöpfung hatte ihm alle Sinne für sein wahres Ich geöffnet. Jetzt entließ er die Kräfte eines finsteren Götzen zum ersten Mal. Es war – einfach. Und doch unendlich qualvoll. Sein Leib, jede Faser bis tief in sein Innerstes schien zu bersten unter dem Ansturm schwarzer Energien. Es war nichts im Vergleich zu dem, wenn er der vampirischen Bestie in sich alle Ketten löste. Er verwandelte sich in etwas, das nichts mehr mit Körperlichem gemein hatte. Landru wurde zu purer Macht. Und stürzte sich in einen Kampf, der doch mit dem Mittel aller Kämpfe ausgetragen wurde. Mit blanker Gewalt.
* Natürlich war es nicht der Schöpfer selbst, der sich Landru entgegenstellte. ER hatte nicht mehr als einen Bruchteil seiner Macht in den Lilienkelch hineingegeben, um ihn seinem ursprünglichen Zweck zu entfremden. Landru indes hatte schon mit diesem geringsten Teil genug zu tun. Aufgegangen in seiner eigenen Macht spürte er bald, daß das Purpurlicht nicht mehr war als Maskerade. Ebenso hätte ER sich hinter jeder anderen Fassade verbergen können. Daß ER es hinter Purpur tat, mochte allein daran liegen, daß diese Farbe und dieses Licht seit jeher zum Kelch gehörten.
Doch Landru ließ sich davon weder täuschen noch beeindrucken. Er riß der gegnerischen Macht die Maske ab. Unter den Hieben seiner unsichtbaren Krallen ging die Purpurtarnung in Fetzen, verbrannte in schwarzen Funken, die stählerne Klauen fauchend aus dem Licht schlugen. Aber Landru büßte noch im gleichen Moment dafür. Titanenfäuste prügelten auf ihn ein, und sie trieben ihn nicht einfach zurück, sondern verwandelten seine ganze Existenz in Schmerz, als träfen sie auf blankliegende Nerven – und auf alle zugleich! Dennoch war in Landrus Brüllen nichts anderes als Wut. Mit einem kleinen Teil seiner Kraft ließ er sich selbst taub werden für allen Schmerz. Den gewaltigen Rest lenkte er in die Schläge, mit denen er dem Gegner zu Leibe rückte. Wieder wurde Purpur zerrissen, und alsbald war kaum noch etwas davon übrig, alles vergangen in allgewaltiger Raserei. Landru wollte nicht innehalten, wollte sich auf das stürzen, was dahinter zum Vorschein kam: schlierige, unebene Wände, von unregelmäßiger Maserung durchwoben, sich bewegend wie unter dem Schlag eines riesigen Herzens. Zwei Gründe hielten ihn davon ab. Zum einen explodierte die Ahnung, worum es sich dabei handelte, in ihm unversehens zur Gewißheit. Zum anderen stoppte ihn die Stimme. »Nein …« »… tuu …« »… esss …« »… nichcht …« »… hörr …« »… mirr …« »… zzuu …!« Landru spürte, wie die Macht in ihm niederbrannte, im gleichen
Moment, da er aufhörte, sie zu gebrauchen. Er drehte sich um, in jene Richtungen, aus denen ein- und dieselbe Stimme zu ihm gedrungen war. Und er sah, was die ganze Zeit über schon dagewesen war. Doch nun endlich hatte er Gelegenheit, wirklich zu sehen. Ein schwarzglitzerndes, organisch aussehendes »Geschwür«, das in grotesk menschenähnlicher Form aus dem Boden wuchs und das etwas fast zur Gänze umwachsen hatte. Den Kelch. Umkreist wurde der abartige »Altar« von zwölf Gestalten, die ihr Recht auf Leben unübersehbar längst verwirkt hatten und dem Tod ihren Tribut doch verweigerten. Narbenübersät waren ihre nackten Leiber, und selbst die Münder erinnerten an nie verheilte Wunden. Münder, die sich nun wieder öffneten. »Hörr …« »… mirr …« »… zzuu …!«
* »Wer bist du?« fragte Landru. Doch er wußte es. Er erkannte es an der Aura, die wie ein Ring um die Untoten lag, die sich an den Händen haltend den Kelch umstanden. Er hatte diese Aura schon einmal – sterben gespürt … »Icch …« »… binn …« »… die …« »… letzzte …« »… Kelchchseele …« Die Antwort kam zersplittert aus vielen Mündern und vielen Richtungen, und es ging weiter. »Nunn …«
»… binn …« »… ichch …« »… derr …« »… letzzte …« »… HÜTER!« Landru knirschte: »Niemals! Das lasse ich nicht zu! Es gibt nur einen wahren Hüter – MICH!« »Nichcht …« »… mehrr.« Landru erwiderte nichts. Schweigend näherte er sich dem Kreis der Toten, in die sich die Seele jenes Jungen, den er in Kairo im ersten Ritual nach dem Wiederauffinden des Kelches getötet hatte*, geflüchtet hatte. Dazu auserkoren, den Gral fortan zu hüten und vor dem Zugriff seiner wahren Eigentümer zu schützen. Es bereitete ihm keine Mühe, ihren Ring zu durchbrechen. Vor dem schwarzen »Altar« kniete Landru nieder, streckte die Hände nach dem Kelch aus. »Tu …« »… esss …« »… nichcht!« »Wer sollte mich hindern?« fragte Landru, ohne den Blick vom Gral abzuwenden. Er mochte längst nicht gereinigt sein, aber er würde ihn nicht zurücklassen. Niemals. »Spürsst …« »… du …« »… esss …« »… nichcht?« Landrus Hände sanken herab. O doch, er spürte es. Er hatte es vorhin schon gespürt. Es – das, wozu die Purpurzone geworden war. Oder vielmehr: Was sie von Anfang an gewesen war. *siehe VAMPIRA T01: »Der Durst nach Blut«
Ein Teil von IHM, dem Schöpfer. ER hatte kraft dessen, was im Kelch zurückgeblieben war, eine Art »Blase« in der Wirklichkeit geschaffen. Riß man ihre Wände nieder, würde alles, was sich in ihrem Inneren befand, aufgehen in IHM. Schuf man auch nur ein winziges Loch darin – und genau das würde geschehen, wenn man den Kelch aus dem schwarzen »Ding« nahm –, würde es nicht anders sein. Kein Tod konnte schlimmer sein. Landru duckte sich unwillkürlich unter der bloßen Vorstellung. Mühsam, als laste das tatsächliche Gewicht seines Alters auf ihm, erhob er sich. Verloren … Nach all den Jahrhunderten der Jagd hatte er den Lilienkelch endgültig verloren, trotzdem er ihm zum Greifen nahe war. Das Gefühl von Bitternis breitete sich in seinem Mund aus wie der Geschmack üblen Blutes. Die Art, in der es geschah, war unwürdig. Nachdem sein Trachten und Denken weit über tausend Jahre allein dem Gral gegolten hatte, wollte Landru nicht, daß es so endete – unspektakulär, erbärmlich. Sein Blick versank in der Leere des Kelchs. Leere? Etwas war da noch … kam im selben Moment, da er selbst sich in das Unheiligtum vertiefte. Ein Zufall? Vielleicht. In jedem Fall erkannte Landru – – daß es noch nicht vorbei war! Denn etwas geschah. Etwas, das ein neuer Anfang sein mochte. In …
* … Italien, Rom
Der Palazzo Gianicolo hatte sich geleert. Die Gäste hatten das Fest verlassen, weil sie sich plötzlich müde gefühlt hatten, sehr müde. Als hätte ihnen etwas Kraft entzogen. Nicht viel; nur gerade genug, um sich zutiefst erschöpft zu fühlen. Gabriel hatte sich beherrscht. Der Tod so vieler Menschen hätte zum einen Aufsehen erregt. Und dazu war es noch zu früh. Zum anderen reichte seine Koordination noch nicht aus, um aus so vielen Quellen zugleich zu schöpfen. Deshalb hatte er sich auf die eine konzentriert, derentwegen er die Stadt am Tiber aufgesucht hatte. Stumm standen sie einander gegenüber, der Vampir und das Kind. »Nun gut«, sagte Tinto schließlich. Nicht, weil er das mit Blicken geführte Duell verloren hatte, sondern weil er die Situation als lächerlich empfand. Wer war das verdammte Balg, das sich anmaßte, seine Kreise zu stören? Aber er wollte noch wissen, wie der Knabe auf die selbstmörderische Idee verfallen war – bevor er ihn zur Rechenschaft zog … »Wer bist du?« fragte der Vampir. Gabriel lächelte. »Dein Tod?« erwiderte er dann, leichthin und in einem Ton, als spräche er übers Wetter. Tinto lachte – oder vielmehr: er wollte es tun. Doch die Bewegung seiner Lippen gefror zur Grimasse; das Lachen selbst mutierte zu einem stacheligen Kloß, der sich schmerzhaft in seiner Kehle verhakte. Etwas in der Stimme des Jungen – etwas, das nicht wirklich zu hören war, aber unleugbar da war – rührte eine Saite tief in Tinto an. Etwas, das er längst vergessen hatte – die Fähigkeit, Angst zu empfinden. Oh, er wußte durchaus, wie es war, Furcht zu haben. Oder hatte es zumindest einmal gewußt. Denn in Rom war die Angst lange Zeit ein steter Begleiter der Alten Rasse gewesen. Schließlich hatte die
hiesige Sippe in unmittelbarer Nachbarschaft zu den höchsten irdischen Vertretern der verhaßten Macht gelebt. Und die giftige Aura des Petersdoms hatte ihnen lange Zeit das unheilige Leben erschwert. Bis sie sich mit jenen Statthaltern des christlichen Glaubens arrangiert hatten. Schließlich waren sie allem Statusgehabe zum Trotz letztlich doch nur Menschen … Die stille Übereinkunft, einander zu dulden, hatte bislang noch jeden Wechsel an der Spitze des Vatikans überdauert. Wenn der weiße Rauch neben dem Petersdom aus dem unscheinbaren Kamin aufgestiegen war und von der Wahl eines neuen Papstes gekündet hatte, hatte meist ein kurzer Besuch genügt, um das »Bündnis« zu festigen … »Was hat das zu bedeuten?« fragte der Vampir endlich, nachdem er den Kloß im Hals mühsam hinabgewürgt hatte. »Wie ich es sage«, antwortete der Junge mit stillem Lächeln. »Ich bin gekommen, um dich zu töten. Doch fürchte dich nicht – du stirbst nicht umsonst.« »Das reicht!« Tinto fuhr auf, ehe das Etwas aus ihm zurückkehren und ihn in seinem Handeln beeinträchtigen konnte. Zornfunkelnden Blickes und schnaubend wollte er sich auf das vermessene Bürschlein stürzen. Bevor seine Hände ihn packen konnten, hob der Junge die Hand. Und was nicht sein konnte, geschah. Die Bewegung gebot dem Vampir Einhalt, ließ ihn innehalten, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand angerannt. »Was …?« entfuhr es ihm. Der Knabe lächelte ungerührt. »Bitte.« Er wies die marmorne Treppe hinauf und ging. Tinto folgte ihm nach wie ein Schatten.
*
Das Kind lag auf dem breiten Bett, von dem die Tote längst fortgeschafft worden war. Neben ihm ruhte Tinto. Mit geschlossenen Augen, schlafend und träumend. Doch er war nicht allein in seinen Träumen. Ein widderköpfiges Wesen war bei ihm. Genußvoll beobachtete Gabriel, wie die Züge des Vampirs zusehends verfielen. Die Linien in seinem Gesicht wurden zu Falten und schließlich zu Furchen, die wie mit dem Messer in die pergamenten werdende Haut hineingeritzt aussahen. Das Zucken der Augäpfel hinter den geschlossenen Lidern wurde schwächer, schließlich sanken die dünnen Häute ein, als der Ausdörrungsprozeß auch auf die Augen übergriff. Der Junge spürte, wie die Energie aus dem Körper an seiner Seite rann und in seinen eigenen floß. Und vielfach schneller, als menschliche Kraft es tat, rührte sie »Dinge« in ihm an. Wie aus Kapseln brach längst vorhandenes Wissen hervor, noch wirr, wie die Teile eines Puzzles, die erst geordnet werden mußten. Im gleichen Maße erwachende Kräfte gingen daran, es zu tun. Tinto verging. Sein Körper erinnerte nun zumindest vage daran, wie er eigentlich hätte aussehen müssen – wenn der Tod in all den Jahrhunderten sein Werk hätte verrichten dürfen. Gabriel schloß die Augen, legte sich zurück. Er stöhnte, als nun auch sein Körper verwertete, was ihm zugeflossen war. Knochen knirschten in plötzlichem Wachstum, schmerzten. Doch es war rasch vorüber. Und bei weitem nicht so schlimm, daß der Junge sich nicht gewünscht hätte, mehr von dieser ganz besonderen Energie zu erhalten. Er wünschte es sich mit all seiner noch jungen und doch uralten Macht. Mehr von dieser Kraft, flüsterte er in Gedanken. Ich brauche mehr. Muß danach suchen …
Etwas verließ ihn, ohne den Kontakt zu lösen. Fand einen Weg, ein Ziel … Gabriel öffnete die Augen. Ein fast runder Teil der Wirklichkeit erschien ihm einen Moment lang nur als dünnes Glas, durch das er hindurchsehen konnte. An einen fernen Ort. In ein Gesicht mit nachtfarbenen Augen.
* Indien Landru sah. Tiefblaue Augen. Ein engelsgleiches Gesicht. Ein Kind. Ein Kind? Das Kind! Im Kelch hatte der Hüter auch alles andere beobachten können. Er hatte das Haus gesehen – und erkannt. In all den Jahren war er selbst viele Male dort zu Gast gewesen. Und hätte noch Zweifel bestanden, so hätte ihm Tintos Anblick verraten, wo die Szenen, die der Gral ihm wies, sich tatsächlich ereigneten. In Rom … Das Kind hatte das Sippenoberhaupt der Stadt am Tiber getötet – auf eine Weise, die Landru wohl erspürt hatte, nicht jedoch hatte nachvollziehen können. Offensichtlich stärkte es sich. Sammelte Kräfte. Vielleicht die Kräfte aller noch lebenden Vampire, um sie zu bündeln und schließlich zu nutzen – für einen neuen Anfang? Schwäche füllte Landrus Körper als Folge einer überwältigenden Erkenntnis. Denn er glaubte zu wissen, was es mit jenem Kind auf sich hatte. Daß der Kelch es ihm gezeigt hatte, war ihm Indiz genug. Nach all den Jahrhunderten war es also endlich soweit. Es konnte
nicht anders sein. Landrus Gedanken eilten in der Zeit zurück, erreichten jenes Jahrtausend, da er noch unerkannt, getarnt mit einer lebenden Maske, die den Sippen seine wahre Identität verheimlicht hatte, als Hüter des Kelches um den Globus gezogen war, als Reisender in Sachen Tod und Leben. Bilder jener Zeit stiegen vor seinem geistigen Auge auf. Bilder seines Besuches in …
* … Shibam im Jemen, nach der ersten Jahrtausendwende Saduk, Herrscher über die Sippe der Unsterblichen in Shibam, hatte nach dem Hüter des Grals gesandt. Und Landru war dem Ruf gefolgt, wie es als Verwalter des Unheiligtums seine Pflicht war. Die Bitte indes, die Saduk an ihn herantrug, war von gewaltigem Ausmaß. »Fünfzig Kinder soll der Kelch dir schenken?« Landrus Verärgerung über die hohe Zahl von Täuflingen offenbarte sich dem anderen nicht. Seine Maske, die Fleisch war und von Blut belebt, verbarg jede wahre Regung des Hüters. Saduk nickte stumm, obwohl seine Kiefer sich bewegten. In monotonem Rhythmus mahlten sie auf Quat-Blättern, die er auch dem Hüter angeboten hatte mit den Worten: »Ainda – ma yuachzin yidschma samatan.« Quat kauen – den Verstand verdichten! Landru hatte abgelehnt, nicht einmal dankend. Sein Verstand arbeitete messerscharf, wie es sich dem hohen Amt geziemte. Und daß der Saft der Blätter den Verstand verdichtete, daran zweifelte er nach Saduks vermessener Bitte ohnehin. Eher schien das Zeug den Geist zu vergiften.
Fünfzig neue Nachkommen. Die Zahl war anmaßend. »Weshalb so viele?« fragte er Saduk, der sich in einem Meer von Kissen niedergelassen hatte. »Aus gutem Grund«, antwortete der Vampir. »Nenne ihn mir«, verlangte der Hüter. Saduk ließ eine wohl bemessene Weile verstreichen, ehe er erwiderte: »Weil ich die Heilige Stadt besetzen will.« Nun war es Landru, der nicht gleich antwortete. Nicht dramatischer Effekthascherei wegen, sondern weil Saduks Worte ihn erstaunten, beinahe erschreckten. Sein Vorhaben war – Wahnsinn. Und hochlöblich zugleich. »Du willst die Unsrigen in Jerusalem ansässig machen nach all der Zeit?« vergewisserte er sich dann. Saduk nickte abgründig lächelnd. »So ist es«, sagte er. »Die Zeit scheint mir reif, die dortige Hinterlassenschaft der uns feindlich gesonnenen Kraft vollends zu tilgen, auf daß die wahren Herrscher dort wieder einziehen können.« Landru zögerte, dann erwiderte er: »Ich bin nicht sicher, ob ich dein Vorhaben gutheißen kann. Die Spuren, die SEIN Sohn vor tausend Jahren in Jerusalem hinterließ, sind noch heute tief. Zu tief vielleicht, um ausgelöscht zu werden.« »Woher willst du das wissen?« fragte Saduk. »Weil ich selbst schon dort war auf meinen Reisen.« »Sollte es nicht auch Aufgabe des Hüters sein, den Fortbestand der Alten Rasse über die Kelchtaufe hinaus zu sichern?« wechselte Saduk nur scheinbar das Thema, wohl wissend, daß seine Worte den Gralsverwalter an einer empfindlichen Stelle treffen mußten. Oh, er wußte, daß er ein Spiel mit dem Feuer trieb. Denn wenn er den Hüter erzürnte oder auch nur provozierte, mochte der ihn strafen für seinen Frevel. Vielleicht. Denn nie hatte es zuvor jemand versucht. Niemand jedenfalls, der seine Erfahrung noch hätte verbreiten können …
»Wie könnte dein Plan der Alten Rasse in solcher Weise dienlich sein?« fragte Landru. »Weil ich mich nicht damit begnügen würde, Jerusalem zu besetzen«, erklärte Saduk. »Ich würde vielmehr eine Gegenkraft dort erzeugen, wo einst unser Gegner so machtvoll gewirkt hat. Ein dunkles Gegenstück gewissermaßen zu dem Mann, den erst Dornenkrone und Kreuz zur Räson zu bringen vermochten.« »Einen – Messias?« forschte Landru zweifelnd. Er mochte seinen Ohren kaum trauen. Und doch nickte Saduk mit einer Miene, deren Regung nicht Zufriedenheit allein diktierte. In seinen Augen glomm ein Funke, der zu Fanatismus werden konnte, wenn man ihn nur schürte. »Einen Messias für unser Volk«, bestätigte der jemenitische Vampir. Dunkler Quadsaft lief ihm mit Speichel vermengt übers Kinn. »Wie stellst du dir das vor?« wollte Landru wissen. »Woher sollte ein solcher Messias kommen?« Saduk grinste triumphierend. Er spürte, daß er das Interesse des Hüters geweckt hatte. »Es wird dereinst ein Kind geboren werden, das die Veranlagung dazu in sich tragen wird«, schilderte er seine Vision, unterstrich sie mit Gesten und flammendem Tonfall. »Und die Magie des Kelches wird seine Fähigkeiten fördern und das Kind schließlich zu dem werden lassen, was ihm bestimmt ist.« Landru lachte abfällig. »Es werden Tag für Tag Abertausende von Kindern geboren, in allen Winkeln der Welt. Wie sollten wir auf jenes eine, von dem du sprichst, aufmerksam werden?« »Dafür Sorge zu tragen möchte ich dich bitten«, erwiderte Saduk. »Dich und ihn.« Er wies auf den unscheinbaren Beutel, in dem unsichtbar das mächtigste Artefakt der Alten Rasse ruhte. Der Kelch. »Wie, meinst du, wäre das zu bewerkstelligen?«
»Nutze die Magie des Grals«, antwortete Saduk, in der Stimme jenen Anteil von Unterwürfigkeit, der den Hüter empfänglich machen mußte für seine Bitte. »Laß sie wirken in einem der fünfzig Kinder, die wir ihren Eltern nahmen, um sie mit schwarzem Blut zu taufen. Verleihe diesem einen die Gabe, zu erkennen. Ich werde es aussenden, auf daß es überall nach jenem Kind sucht, das für die große Aufgabe bestimmt ist. Und ich bin sicher, die Kraft des Kelches wird den Gesandten an die Wiege dieses Kindes führen, kaum daß es den ersten Schrei getan hat.« Landru schwieg lange. Scheinbar überlegend. Doch sein Entschluß stand längst fest. Saduk war ein Narr. Der Quat-Genuß mochte ihm den Verstand zerfressen haben. Seine Idee war ein Gespinst, nichts weiter. Einen solchen Messias würde es nie geben. Wäre seine Geburt vorgesehen oder ihm ein Platz in der Geschichte der Alten Rasse vorbestimmt gewesen – der Hüter hätte längst davon gewußt. Dennoch sagte er: »Nun gut, so sei es. Laß uns keine Zeit mehr verlieren. Taufen wir die Menschenbälger, auf daß sie des Lebens wahrhaft würdig werden.« Zum Schein tat Landru später, als würde er ein Kind tatsächlich anders konditionieren als seine Leidensgenossen. Es war das einzige Mädchen unter dem halben Hundert. Salena war ihr Name. Im neunten Jahr ihres neuen Lebens, log Landru, würde ihre Gabe sich angeblich entfalten. Saduk sandte Salena hinaus in die Welt, auf die Suche nach dem einen Kind. Sie wurde nie fündig.
* Die Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte waren vergangen, doch Saduks Vision war in den Gedanken des Hüters nie völlig untergegan-
gen. Und irgendwann hatte Landru begonnen, sich damit auseinanderzusetzen – und schließlich anzufreunden. Bis er Saduks Vision gar zu teilen bereit war. Er hatte Salena an seine Seite genommen und von da an gemeinsam mit ihr nach dem Auserwählten gefahndet. Erfolglos … Salena hatte sich Jahrhunderte später als Verräterin erwiesen. Sie hatte sich in Liebe mit einem Menschlichen eingelassen und war drauf und dran gewesen, der Frucht dieser Liebe Leben zu schenken. Landru hatte es im letzten Moment verhindert und Salena für ihren Frevel mit ewigem Sterben bestraft …* Doch die Idee hatte Landru nie aufgegeben, so lange er als Verwalter des Unheiligtums gewirkt hatte. Vor vielen Kelchritualen hatte er – teils offen, teils im Verborgenen – die Täuflinge geprüft, in der Hoffnung, daß er den Einen erkennen würde. Doch er war nie unter den geraubten Menschenkindern gewesen. Schließlich hatte er doch abgelassen von dem Gedanken, zumal die Suche nach dem verlorenen Kelch drei Jahrhunderte lang all seine Zeit und all sein Streben beansprucht hatte. Und nun – heute und hier – war es doch geschehen! Er war gekommen. Der Messias der Vampire. Es konnte nicht anders sein. Und es war nun, da es ihm offenbart worden war, auch nur logisch. In größter Not war der Alten Rasse ein Retter erschienen. »Uns ist ein Kind geboren«, flüsterte Landru andächtig. Unverwandt sah er hinab in die Öffnung des Kelchs. Ebenso unverwandt, wie das Kind seinen Blick erwiderte. Landru wußte nicht, wie es geschehen war noch was die wirklichen Folgen sein würden. Aber er würde es in Erfahrung bringen. *siehe VAMPIRA H36: »Der Geist der Vampirin«
Komm zu mir, flüsterte das Kind. »Ja«, antwortete Landru. »Ich komme.« Die Vision im Kelch erlosch. Leere füllte den Gral. Und vielleicht würde es nie mehr anders sein. Doch es war egal, zählte nicht länger. Das Unheiligtum mochte seinen Zweck endgültig erfüllt haben. Landru wandte sich ab und verließ den Raum. Die Stimme der letzten Kelchseele vernahm er schon nicht mehr. Die Münder begannen zu wispern, boshaft und hämisch. »Ja …« »… gehh …« »… nurr …« »… du …« »… NNNARRR!«
* Italien, Rom »Ja. Ich komme.« Der Kontakt brach ab. Unsichtbare Fühler zogen sich zurück, vereinten sich in Gabriel mit der Kraft, aus der sie sich entwickelt hatten. Schauer ließen seinen schmalen Leib beben. Diese Macht war unvorstellbar gewesen! Noch der Gedanke daran weckte etwas wie Ehrfurcht in ihm. Und Gier. Er mußte der Macht des Fremden, dessen Gesicht eine abscheuliche Narbe verunstaltet hatte, habhaft werden. Und er würde es. »Ja. Ich komme.« Der andere würde ihn finden. Gabriel war sicher. Wenn er sich dieses Kraftpotential einverleibte, würde schlagartig alles erwachen, was noch in Winkeln seines Seins verborgen lag. Dann endlich würde er alles erfahren, was er tief in sich lange schon
wußte. Schon der körperlose Kontakt zu ihm hatte an weiteren »Kokons« gerührt, dünne Risse in unsichtbare Schalen gezogen. Und hinter einem jener Risse sah Gabriel etwas. Ein Gesicht mit nachtfarbenen Augen. Und einer Narbe … Das Gesicht des Fremden. Er kannte es. Lange schon. Länger als er – lebte? Wie war das möglich? Dieses Wissen blieb ihm noch verwehrt. Der Gedanke verging, weil er nicht wichtig war. Noch nicht. Ein anderer trat an seine Stelle. Gabriel spürte, daß er zurück mußte. Dorthin, wo er seinem Ziel nahe war. Er schloß die Augen. Und verließ Rom.
* Monte Cargano »Du hast dich verändert.« »Das Leben ist Veränderung.« Salvats Blick kehrte aus unauslotbarer Ferne, die sich nur ihm allein erschlossen hatte, zurück. Wie aus tiefem Schlaf erwacht sah er aus schmalen Augen zu Elias hin. Der dunkelhäutige Bruder maß ihn mit sorgenvollem Blick. »Du vermagst mich nicht zu täuschen, Salvat.« »Versuche ich das denn?« erwiderte der Großmeister. Zum ersten Mal schien Elias das Gesicht des anderen nicht alterslos. Etwas hatte tiefe Spuren darin hinterlassen und ließ ihn älter aussehen, als er vermutlich war. Sein wahres Alter indes kannte niemand. Wie es so viele Dinge in Monte Cargano gab, die niemand wirklich kannte. Außer Salvat. Und selbst das hätte Elias nicht be-
schwören mögen. »Es sind nicht die Veränderungen, die das Leben mit sich bringt, die dich bedrücken«, meinte er. »Sondern?« »Der Tod.« Salvat schwieg. Doch es war ein Schweigen von jener Art, das mehr ausdrückte als jedes Wort. »Raphael Baldaccis Tod«, wurde Elias eine Spur konkreter, wohl wissend, daß er den wunden Punkt nicht nur traf, sondern tief in ihn drang. Der Großmeister der Illuminati schien zusammenzuzucken. »Er war nicht nur dein liebster Schüler.« Elias Worte waren eine Feststellung. Salvat antwortete noch immer nicht. »Was war er? Wer war er?« Salvat sah Elias fest an. Der Blick seiner Augen war nur an der Oberfläche kalt und teilnahmslos. Dahinter tobte das Leid eines … »Es gibt Geheimnisse, die Geheimnisse bleiben sollten«, sagte er. »Manche Geheimnisse sind leichter zu ertragen, wenn man ihr Gewicht teilt«, erwiderte Elias. »Nicht an diesem Ort.« Elias nickte schwach. Ja, Salvat hatte recht. Dieser Ort war geschaffen, um Geheimnisse zu wahren. Für eine Ewigkeit. Vielleicht durfte man hier nie damit beginnen, auch nur die kleinen Geheimnisse zu offenbaren. Denn irgendwann würde dann die Reihe auch an den großen sein. Und das durfte nie geschehen. Aus diesem und keinem anderen Grund gab es diesen Ort, nur dafür war Monte Cargano einst geschaffen worden. Und selbst dieses einst zählte schon zu jenen Geheimnissen … Der dunkelhäutige Bruder erhob sich. »Es ist an der Zeit«, sagte er. »Ich werde die Kammer der Träumer kontrollieren und nachsehen, ob unsere Brüder neue Erkenntnisse
gewonnen haben.« Es war eine Ausflucht, doch Salvat nahm sie ihm nicht übel. Er wollte allein sein, und im stillen war er Elias dankbar dafür, daß er ging. Außerdem konnte es nicht schaden, zu überprüfen, ob die Auswertung der Träume jener, die sie in aller Welt gefunden und hierher gebracht hatten, etwas Neues ergeben hatte. Ihre diesbezüglichen Bemühungen der vergangenen Wochen waren alles andere denn befriedigend. Die Gründe, weshalb das Gleichgewicht der Kräfte ins Schwanken geraten war, hatten sie noch nicht erkennen können. Zu unterschiedlich und vage waren die Visionen der »Para-Träumer«. Und lange würden sie diese Träume nicht mehr »anzapfen« können. Wahnsinn, hervorgerufen durch wochenlange Alpträume, machte sich in den Tiefen unter dem Kloster breit … »Gut«, meinte Salvat, als Elias schon fast an der Tür war. »Die Anstrengungen sollen vervielfacht werden. Ich würde ungern zu drastischeren Mitteln greifen.« Elias fröstelte, als er die Tür hinter sich schloß. Es mochte durchaus stimmen, daß Salvat es »ungern« tun würde. Aber es würde ihm andererseits auch nicht wirklich etwas ausmachen …
* Gabriel erreichte den Hof seiner »Eltern«, als die Sonne längst schon am Himmel stand. Lachend und strahlend und die Szenerie damit verhöhnend, die der Junge vorfand. Giuseppe Mazzano war etwas abseits des Hauses im Schatten einer uralten Eiche dabei, einen Erdhaufen abzutragen. Schaufel um Schaufel schleuderte er hinab in Livias Grab. Sein Schluchzen hörte Gabriel schon von fern. Neben dem Mann blieb der Junge stehen.
Giuseppe hielt für einen Moment inne, schien eine Frage auf den Lippen zu haben. Doch er vergaß sie, kaum daß sein Blick dem des Jungen begegnet war. »Möge sie in Frieden verrotten«, sagte Gabriel lächelnd. Alles in Giuseppe schrie auf! »Ja, das möge sie«, sagte er teilnahmslos, aber mit Tränen in den Augen. »Ich lege mich ein wenig hin«, erklärte der Junge. »Tu das, mein Sohn.« Giuseppe schaufelte weiter, während Gabriel zum Haus hinüberging. Sein Blick wanderte in die Höhe, bis er das Kloster am Berghang erreicht hatte. »Es ist an der Zeit«, meinte er. In seiner Kammer angelangt, legte der Junge sich aufs Bett, sah noch einmal zum Fenster hinaus und hinauf zu Monte Cargano. Dann schloß er die Augen. Und träumte.
* Salvat hatte sich nicht gerührt, seit Elias das Zimmer verlassen hatte. Nur seine Augen bewegten sich, zogen wieder und wieder dieselbe Bahn. Die Einrichtung der Kammer war so karg wie die eines jeden Bruders der Illuminati. Und doch erzählte ihm jedes Detail eine Geschichte, weckte schmerzliche Erinnerungen. An Raphael Baldacci, seinen Sohn. Seinen toten Sohn. Salvat schluckte hart. Er fühlte sich verantwortlich. Nicht schuldig, aber verantwortlich. Er hätte Raphael nicht seines Weges ziehen lassen dürfen. Er war noch zu jung, zu unerfahren gewesen. Seine Ausbildung war noch nicht abgeschlossen; er hatte noch nicht wirklich
gewußt, was es hieß, ein »Gesandter« zu sein. Und doch hatte er Raphaels Wunsch entsprochen. Wie es Väter eben taten, wenn ihre Söhne etwas um jeden Preis durchsetzen wollten. »Es war ein Fehler, ihn hierher zu holen«, murmelte Salvat im Selbstgespräch. »Ich hätte ihn nie aus seinem Leben reißen dürfen. Er hätte nie erfahren sollen, wer sein Vater ist …« Aber er wußte, daß ihm keine Wahl geblieben war. Denn hätte er es nicht getan, wäre Raphael längst tot gewesen. Weil andere gewußt hatten, wer sein Vater war … Salvat wußte nicht einmal wirklich, wie Raphael ums Leben gekommen war. Er wußte nur, daß er tot war. Und wo es geschehen war. Hinter dem Tor …* An sich ein Ding der Unmöglichkeit. Es hätte nicht sein dürfen! Und doch war es so gewesen. Auf welchem Weg mochte Raphael dorthin gelangt sein? Über diese Frage sann Salvat nach, fast unentwegt, Tag wie Nacht. Geschlafen hatte er kaum seitdem. Die Müdigkeit hing ihm zentnerschwer an. Er sah sie als eine Art Buße, die er zu tun hatte. Aber es gab noch etwas, das er tun konnte, um den Tod seines Sohnes zu sühnen. Einen Weg, der ihn auch zu den Antworten auf all jene Fragen führen würde, die er selbst nicht zu beantworten vermochte. Eine Frau würde sie ihm geben. Eine Frau, von der er nur das Gesicht, nicht aber den Namen kannte. Sie war kurz vor dem Tor erschienen, nachdem Raphael dort gestorben war. Vielleicht wußte sie nicht nur, was dort geschehen war; vielleicht trug sie sogar die Schuld daran. Wenn es so war, würde Salvat sie dafür bezahlen lassen. Wenn er sie gefunden hatte. *siehe VAMPIRA T08: »Im Bann des Kindes«
Eine erste Spur gab es. Sie tauchte in einigen der Bilder auf, die ein Teil der Brüder nach den Visionen der »Para-Träumer« malten und zeichneten … Aber noch führte diese Spur nirgendwo hin. Noch … Salvats Geduldsfaden war lang und lange nicht zu Ende. Jahrzehnte der Einsamkeit hatten ihn gesponnen. Auf seinen Stock gestützt, erhob er sich und begann einmal mehr, wie so oft in den vergangenen Tagen, seine Wanderung durch die kleine Kammer, in der bis vor kurzem Raphael Baldacci gelebt hatte. Salvat hatte nichts daran verändert. Fast nichts. Allein das Bild, das für Raphael der Grund gewesen war, sich auf den Weg zu machen, hatte er hierher bringen lassen. Das Motiv darauf sagte Salvat nichts. Es enthielt keinen Hinweis auf den Weg, den Raphael beschritten hatte. Keinen zumindest, der sich ihm erschloß. Das Bild zeigte die Rückansicht an einer nackten Frau, die sich an die Schulter eines Wesens lehnte, das zum Teil Mensch war. Der Kopf des Mannes jedoch war der eines Widders. Salvat wandte sich in Gedanken versunken danach um. Und erschrak! Denn das Bild hatte sich – verändert. Die junge Frau darauf lehnte nicht mehr an der Schulter des Tiermannes. Denn der Widderköpfige war – verschwunden!
* Elias fror. Nicht sehr; nur so, als befände sich etwas Eisigkaltes in seiner Nähe und als träfe ihn ein Hauch dieser Kälte. Aber dieses Etwas schien ihm auf Schritt und Tritt zu folgen, als er langsam durch den Saal schritt, in dem ein Dutzend Brüder des Ordens mit Zeichnen und Malen befaßt waren, während andere sich
über Schriftstücke beugten und versuchten, deren Sinn zu enträtseln. Elias gesellte sich zu zweien hinzu, die halblaut, aber nichtsdestotrotz aufgeregt miteinander diskutierten. »Was habt ihr?« fragte er. »Einen Namen«, antwortete einer der beiden. »Einen Namen? Welchen?« Elias spürte etwas wie einen Funken auf sich überspringen. Ein Name – das mochte eine Spur sein, eine konkrete Fährte … »Lilith«, sagte der andere der beiden Brüder. Elias schluckte. »Lilith«, echote er. »Adams erstes Weib …« »Was kann sie mit den Dingen zu tun haben?« fragte er sich, mehr selbst als die beiden Kuttenträger links und rechts von sich. »Es kann sich um eine zufällige Namensgleichheit handeln«, wandte einer von ihnen ein. »Glaubst du an Zufälle – in dieser Sache?« fragte Elias. »Nicht an diesem Ort«, antwortete der andere. Elias’ dünnes Lächeln verstand er nicht. »Macht weiter und gebt mir Bescheid, wenn ihr auf Weiteres stoßt«, sagte der dunkelhäutige Bruder und setzte seinen Weg fort. Nicht an diesem Ort … Keine Zufälle …, dachte Elias. Dann konnte es auch kein Zufall sein, daß sein Blick gerade jetzt eines jener Bilder streifte, auf denen sie zu sehen war. Die Brüder sprachen von ihr nur als sie, weil sie ihren Namen nicht kannten. Doch sie spielte in einigen Visionen, die kundige Mönche in Bilder umsetzten, eine Rolle. Sie hatte langes schwarzes Haar, das ihren Kopf fast mähnig umgab, beinahe unnatürlich grüne Augen – und war einfach atemberaubend schön. »Lilith«, flüsterte Elias für andere unhörbar. War das ihr Name? In jedem Fall bedeutete es etwas. Etwas, das Salvat erfahren mußte. Elias machte kehrt und eilte zur Tür, einen eisigen Schatten im Ge-
folge.
* Gabriel träumte. Er war seinem Ziel nahe, ohne es schon wirklich zu kennen oder gar zu wissen, was zu tun war. Er beobachtete – und lernte hinzu. Er sah mit den kalten Augen eines Tieres, nachdem er einem Mann in dunkler Kutte gefolgt war. In einen Raum, in dem sich viele aufhielten, die wie dieser eine gekleidet waren. Sie lasen in handgeschriebenen Texten, andere zeichneten und malten. Ein Name wurde genannt. »Lilith …« Ein Gesicht, das auf vielen Bilder zu sehen war, fiel ihm auf. »Lilith …« Gabriel kannte sowohl den Namen als auch das Gesicht. Lilith Eden. Er war ihr schon begegnet, vor gar nicht langer Zeit – – und vor sehr, sehr langer Zeit? Ihre Wege kreuzten sich – – heute wie damals? Gabriel fand keinen Sinn in diesen Gedanken, von denen er aber doch wußte, daß sie mehr als nur Gedanken waren. Erkenntnis. Wissen. Später, träumte er, später würde er den Sinn dahinter entdecken. Jetzt waren andere Dinge wichtig. Dinge, die es zu verhindern galt. Weil … Auch das wußte er nicht. Nur, daß es zu tun war. Und das genügte. Er ließ seinen »Boten« dem einen folgen, der eilends den Raum verließ.
*
Die Kälte nahm zu. Elias hatte den Eindruck, durch Gänge aus Eis zu laufen. Und er ertappte sich dabei, wie er verstohlen die Wände der leeren Korridore musterte, ob sie sich nicht verändert hatten. »Narr«, mahnte er sich selbst. Doch die Kälte wich nicht. Und etwas anderes gesellte sich hinzu. Schatten. Sie huschten lautlos über die Wände, und sie erstarrten stets dann, wenn Elias hinsah, unbewußt alarmiert von ihrer vagen Bewegung. Kaum wandte er den Blick ab, begann ihr Tanz von neuem. Elias blieb stehen. Nicht, weil er es wollte, sondern weil etwas ihn dazu aufforderte. Nein, nicht etwas – eine Stimme. Kichern geisterte durch den kahlen Flur, der in den Tiefen des Felsen lag, auf dem Monte Cargano erbaut war. Das Kichern – eines Kindes? »Das ist nicht möglich«, flüsterte Elias. Das Kloster war nur über einen Korb zu erreichen, der über eine Seilwinde bewegt wurde. Und das wiederum war nur von hier oben aus möglich. Niemand, der es nicht sollte, konnte Monte Cargano betreten. Und niemand hatte je seinen Fuß hinter die Mauern setzen dürfen, der nicht zum Orden der Illuminati gehörte. Elias ging weiter. Zögernd und lauschend. Da! Wieder dieses Geräusch. Unverkennbar ein kicherndes Kind. Elias wirbelte herum, obwohl er nicht sicher wußte, aus welcher Richtung das Kichern ihn erreichte. Aber es konnte nur hinter ihm … Etwas huschte um die Gangbiegung, um die er gerade gekommen war. Nicht mehr als ein Schatten. »Wer bist du?« Elias wollte rufen, aber es wurde nur ein Flüstern daraus. Zu ungeheuerlich war das, was hier geschah – wenn wirklich ein Fremder
in das Kloster eingedrungen war. Ein Kind … Kichern war die Antwort. Und dann ein gespenstisches Wispern: »Komm doch …« Elias zögerte einen Moment. Er überlegte, ob er nicht Salvat oder andere Brüder verständigen sollte. Aber bis dahin konnte der Eindringling sich längst wer weiß wo versteckt haben. Vielleicht sogar hinabgestiegen in die liefen Monte Carganos, zum Tor … Nein, er mußte handeln! Entschlossen lief Elias los, erreichte die Ecke, trat herum – und erstarrte. Er hatte sich nur zum Teil geirrt. Es war tatsächlich ein Fremder in das Kloster gelangt. Aber es war kein Kind. Nicht einmal ein Mensch. Kalte Augen funkelten ihn aus dem Dämmer heraus an. Dann senkte der Widderköpfige den Schädel – – und rammte Elias die Hörner in den Leib. Wieder und wieder.
* Gabriel fing einen Gedanken auf. Vielleicht sogar hinabgestiegen in die Tiefen Monte Carganos, zum Tor … Das Tor … Etwas, das sich hinter dem Wort verbarg, weckte eine Ahnung in ihm. In die Tiefen … Dort wollte, mußte er hin. Er ließ den Widderköpfigen tun, was zu tun war. Dann suchte er den Weg. In die Tiefen.
Zum Tor.
* Elias’ Schreie schienen noch immer von den Wänden widerzuhallen, trotzdem er schon seit Minuten tot war. Blutige Wärme stieg aus seinem Leib auf und erfüllte den Flur mit dem Geruch des Todes. Er und der Anblick der furchtbaren Wunden lähmte die umstehenden Brüder, die, aufgeschreckt von dem Brüllen des Sterbenden, herbeigeeilt waren. Niemand sprach ein Wort. Nie hatte Monte Cargano Totenstille in einem wahreren Sinne erfahren. Um so lauter klang das harte Ticken auf dem Stein, das näherkam, einhergehend mit ungleichen Schritten. Schweigend öffneten die Brüder ihren Kreis, um Salvat hindurchzulassen. Der Großmeister erstarrte. Doch sein Entsetzen war von anderer Art als das der anderen. Es ging tiefer und es rührte an Dingen, von denen Salvat gehofft hatte, daß sie ihn nie bewegen würden. »Nein!« schrie er auf, mit fast überkippender Stimme. Fast brutal stieß er die Brüder, die ihn starren Blickes und offenen Mundes anglotzten, beiseite und lief los. Den Gang hinunter, durch eine Tür, weiter über steinerne Treppen, die sich tief in den Leib des Berges hineinwanden. Salvats Gedanken rasten. Wer immer für Elias’ Tod verantwortlich war, er war nicht hierher gekommen, um den Ordensbruder zu ermorden. Elias mochte nur das Pech gehabt haben, ihm im Wege gewesen zu sein. Im Wege … Dieser Weg, wußte Salvat, konnte den Mörder nur an einen Ort führen. Zum Tor! Zum Geheimnis Monte Carganos.
Und wer immer es war, er konnte nur gekommen sein, um das Geheimnis zu lüften, das Tor zu öffnen! Das durfte nicht geschehen, nie! Nicht durch fremde Hand, nicht ohne Vorbereitung … Tiefer und tiefer stürmte Salvat hinab, durch ein Labyrinth von Gängen und Treppen, in dem sich jeder Unkundige rettungslos verirren mußte. Nie zuvor war ihm der Weg so lang erschienen. Womöglich war er ja auch nie so lang gewesen? Wer wußte schon, welcher Art der Eindringling war, über welche Macht er verfügte … »Ich komme zu spät«, flüsterte Salvat, ohne es zu wollen. Als wollte etwas Fremdes ihn mit Pessimismus quälen. Endlich erreichte er die Innere Halle. Beiderseits wuchsen die Säulen steinernen Bäumen gleich in die Höhe, um die in der Finsternis verschwindende Gewölbedecke zu stützen. Wie immer glommen die Wände ringsum in grünlichem Licht, woben das Heiligtum selbst in nebelhaftes Licht und zeichneten weich die Linien der Symbole und Hieroglyphen nach, die vor sehr, sehr langer Zeit in den Fels gemeißelt und bis heute nicht gedeutet worden waren. Auch das Heiligtum selbst bot den gewohnten Anblick: ein gewaltiges Tor aus geschwärztem Holz, das die gegenüberliegende Wand fast zur Gänze einnahm. Aus zwei Flügeln bestand es, und jeder war so riesig wie ein Haus. Mit Riegeln und Schlössern war es gesichert und über und über mit Nieten beschlagen, die aus der Entfernung betrachtet ein sinnverwirrendes Muster bildeten. Doch darin erschöpfte sich das gewohnte Bild auch schon. Alles andere – – war anders! Die zwölf Wächter des Tores lagen wie niedergeprügelt auf dem Boden der Halle. Und am Tor selbst hing … Salvat schrie gepeinigt auf. Als wäre es sein eigener Schmerz.
*
Gabriel fühlte, daß er am Ziel war. Und er begann zu ahnen, was zu tun war. Aber er wußte, daß es noch zu früh war. Zudem durchdrang etwas den Fels, das ihm mehr und mehr zu schaffen machte: lautlose Schreie, die doch wie Donner in seinen Ohren und tiefer schmerzten; und damit einher ging etwas, das an seiner noch so jungen Kraft zehrte. Wahnsinn … Der Wahnsinn vieler! Dennoch – er war ein Kind. Und der Reiz, seine Kraft spielen zu lassen, nur ein einziges Mal und nur ganz kurz, war zu verlockend, als daß er ihm hätte widerstehen können. Er tat es. Und schlug die Augen auf. Tief unter Monte Cargano, am Fuß des Berges.
* Aus der Distanz betrachtet wirkte die Gestalt wie ein Teil des geheimnisvollen Musters, das die Nieten auf das Tor zeichneten. Aber Salvat erkannte sie, als stünde er nicht viele Meter weit von ihr entfernt und tief unter ihr, sondern auf gleicher Höhe und durch nicht mehr als einen Schritt entfernt. Die Arme hielt sie seitlich ausgestreckt, die Füße lagen übereinander, am Holz des Tores durch Nägel gehalten. In der Haltung des gekreuzigten Heilands hing der andere am Tor. Der andere … Salvat verachtete sich dafür, daß er den Namen nicht einmal in Gedanken zu formulieren imstande war, so grenzenlos war sein Entsetzen. Das Entsetzen, das ihn angesichts des furchtbaren Anblicks wie
mit eisiger Kälte erfüllte und lähmte. Denn dort oben am Tor hing – sein eigener Sohn. Raphael Baldacci. Auferstanden von den Toten – nur um von neuem einen grausamen Tod zu sterben? »Nein«, flüsterte Salvat. »Bitte nicht …« »Vater …?« Die Stimme seines Sohnes wehte wie ein jenseitiger Hauch heran. »Du weißt es?« fragte Salvat, viel zu leise, als daß Raphael ihn über die Entfernung hätte hören können. Trotzdem tat er es. »Es gibt keine Geheimnisse hier«, antwortete der Gekreuzigte. »Hier?« echote Salvat. »Jenseits des …«, wisperte Raphael. »Du bist nicht dahinter, du bist hier!« rief Salvat erregt. Mit fiebrigen Blicken sah er sich um nach einer Möglichkeit, dort hinaufzusteigen, um … Er erstarrte erneut, als er wieder zum Tor hinsah. Es war – leer. Wie ehedem, wie seit jener Zeit, da er zum ersten Mal die Innere Halle betreten hatte, wie seit Anbeginn … Um ihn her entstand Bewegung. Die Wächter erhoben sich. Nicht müde oder am Ende ihrer Kräfte, sondern schnell und sicher, als hätten sie sich nur eben einmal hingelegt. »Was ist geschehen?« flüsterte Salvat. »Was soll geschehen sein?« fragte der ihm am nächsten Stehende. Ohne eine Antwort zu geben, ging Salvat auf das Tor zu. Mit jedem seiner Schritte schien es noch zu wachsen, doch er verlor die bewußte Stelle nicht aus den Augen. Doch nichts geschah. Die Stelle blieb leer, sah aus wie immer. Oder? Schimmerten die Nieten dort an drei Punkten nicht dunkler als alle anderen auf dem Holz? Als wären sie mit etwas bedeckt?
Wie mit … Blut verschmiert! Genau dort, wo sich Raphaels Hände und Füße befunden hatten! Salvat wandte sich um und lief hinaus, als säße ihm der Leibhaftige im Nacken. Oder etwas Schlimmeres …
* Als Hector Landers verließ Landru den Flughafen Leonardo da Vinci und ließ sich per Taxi die dreißig Kilometer bis nach Rom bringen. Der Hügel Gianicolo war sein Ziel. Der Palazzo Gianicolo war verwaist. Natürlich. Landru spürte die Leere und den Tod, noch bevor er das riesige Haus betreten hatte. Aber er war auch nicht gekommen, um sich davon zu überzeugen, ob Tinto tatsächlich krepiert war. Er war schließlich Zeuge seines Todes gewesen. Von dem Vampir war zwischenzeitlich nicht mehr übrig als Staub und Asche, die aus den Öffnungen seiner Kleider rieselten. Sie lagen noch so auf dem Bett im Obergeschoß, wie Landru das Sippenoberhaupt selbst in der Kelchvision dort hatte liegen sehen. Sogar die seidigen Laken daneben wiesen noch den Abdruck eines Körpers auf. Eines ungleich kleineren, schmäleren Körpers. Landru fuhr behutsam mit der Hand über die Stelle. Und er glaubte noch den schwachen Hauch einer Macht zu spüren. Einer Macht, die ihm fremd war, die er aber kennenlernen wollte. Gemeinsam mit dem, der sie in sich trug, würde er die Alte Rasse neu begründen. Nichts anderes konnte seine Bestimmung sein. All sein Streben, den völligen Untergang seines Volkes zu verhindern, würden schließlich von Erfolg gekrönt sein, wenn sie erst Seite an Seite waren. Der Hüter und das Kind.
* Das Kind saß auf seinem Stein und sah hinauf zum Kloster. Dinge waren dort in Bewegung geraten und wieder zum Stillstand gekommen. Trotzdem würde in Monte Cargano nichts mehr sein, wie es zuvor gewesen war. Und es würde sich noch viel ändern. Später … Zunächst standen andere Dinge an. Gabriel spürte, daß er Besuch bekommen würde. Bald schon. Er hatte Spuren hinterlassen, die der erkennen würde, dem er in jener Nacht »begegnet« war. Und den er schon so lange kannte. Es würde ihm ein doppeltes Vergnügen sein, die Bekanntschaft aufzufrischen – und dann mit einem Schlag zu beenden. Die andere Sache betraf jene, die er als Lilith Eden kannte. Auch sie hätte er nur zu gern ihrer Energie beraubt. Die andere Möglichkeit, die in ihrem Fall blieb, war, sie aus dem Weg zu schaffen. Gabriel entschied sich für letzteres. Denn die vom Widersacher Gesandte durfte ihm nicht erneut in die Quere kommen. Nicht nach all der langen Zeit … »Gabriel, kommst du? Ich habe uns etwas zum Mittagessen gemacht.« Der Junge wandte sich um und sah Giuseppe Mazzano unter der Tür des Hauses stehen. Längst nicht mehr so kräftig wie vor Tagen. Die Kräfte verließen den alten Mann … »Ich komme«, antwortete Gabriel. … und würden bald versiegt sein. ENDE
Hidden Moon von Adrian Doyle und Timothy Stahl Er war ein Vampir. Eigentlich hätte Lilith Eden sein Genick brechen und sein Blut trinken müssen, wollte sie ihrer Aufgabe gerecht werden. Doch Hidden Moon ließ sie ihre Pflicht vergessen. Er war anders. Mit der Natur im Einklang. Ein Adler war sein Totemtier, das ihn befähigte, die Macht des Bösen zu überwinden. So hatte er sogar der Seuche getrotzt, die über die Vampire gekommen war und sie bis auf wenige ausgerottet hatte. Diese wenigen zu vernichten war Liliths Bestimmung. Und Hidden Moon entschloß sich, sie dabei zu unterstützen. Wie hätten sie ahnen sollen, daß dies ihrer beider Untergang bedeuten könnte …?