Fred McMason Der Jonas
1. »Was, zum Teufel, soll ich sonst saufen, wenn wir kaum noch Wasser an Bord haben?« fragte Ed...
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Fred McMason Der Jonas
1. »Was, zum Teufel, soll ich sonst saufen, wenn wir kaum noch Wasser an Bord haben?« fragte Ed Carberry und setzte die Rumflasche ab, die Sam Roskill neidvoll betrachtete. Auf der ›Isabella VIII.‹ herrschte ein Bild des Friedens. Ein handiger Wind schob den ranken Rahsegler durch eine leichte Dünung. Elegant tauchte der Bug ein und schob einen weißen Bart vor sich her. Hasard hatte alles an Zeug setzen lassen, was die überlangen Masten der Galeone zu tragen vermochten. Auch die Blinde war prall vom Wind gefüllt. Auf dem Vordeck saß Will Thorne, der Dan O’Flynn beibrachte, wie ein Segel fachmännisch genäht wurde. Der Schimpanse Arwenack hockte daneben und sah aus seinen braunen Augen interessiert zu. Ab und zu grapschte er nach der starken Nadel, doch Will Thorne entzog sie ihm immer wieder, bis der Affe es schließlich aufgab und mit galligem Gesicht die Wanten aufententerte. Carberry, der Profos, nahm den nächsten Zug aus der Flasche, von denen sie mehrere erbeutet hatten. Dann reichte er sie Sam Roskill. »Aber nur einen Daumenbreit, klar?« Roskill quetschte seinen Daumen an die Flasche, damit er ja recht breit wurde und trank ebenfalls. Ihnen gegenüber standen der rothaarige Schiffszimmermann Ferris Tucker und Al Conroy, der Waffen und Stückmeister der ›Isabella‹. Tucker starrte schon seit geraumer Zeit die Flasche an, aber nicht weil er Durst hatte. Ihn, den ewigen Tüftler und Bastler, bewegten ganz andere Gründe, die der Profos nicht 2
durchschaute. Widerwillig gab er die Flasche weiter an Tucker, wobei sich sein Narbengesicht grimmig verzog. »Man sollte seinen Rum wirklich unter Wasser und ganz allein saufen«, murmelte der Profos. »Jeder glotzt einem die halbe Flasche weg, bis nichts mehr drin ist.« Auch Ferris Tucker trank einen Schluck, betrachtete die Flasche von allen Seiten und gab sie dann unter Carberrys leisen Verwünschungen an den schwarzhaarigen Stückmeister weiter. Vom Achterkastell sahen der Seewolf und Ben Brighton belustigt zu, wie der Flascheninhalt abnahm und der Profos sich insgeheim darüber ärgerte. »Wird höchste Zeit, daß wir eine Insel anlaufen und Wasser finden«, sagte Hasard zu seinem ersten Offizier Ben Brighton. »Der gestrige Sturm hat vier Fässer zerschlagen, viel haben wir nicht mehr.« Ja, daran entsann sich Ben Brighton nur noch ungern. Gestern hatten sie einen höllischen Sturm abgeritten, der sie zwei Segel gekostet hatte. Die Brecher waren über dem Schiff zusammengeschlagen wie Berge aus dunkelblauem Glas und hatten mit unvorstellbarer Wut an der Galeone gezerrt und gerissen. Aber die ›Isabella‹ hatte den wilden Orkan abgeritten und war Sieger geblieben. Sie war nicht umsonst das beste Schiff, das je eine englische Werft verlassen hatte. Ben Brighton blickte auf die Seekarte und nickte. »Gegen Mittag können wir eine der Caicos-Inseln anlaufen. Dort wird sich Wasser finden, oder wir versuchen es auf einer der kleinen Felseneilande.« In der Kuhl blickte Ferris Tucker wieder auf die Flasche, der der Profos gerade den letzten Schluck herauskitzelte. »Herr im Himmel«, murmelte er, »da ist doch nur ein schwacher Liter drin, der reicht doch nicht für alle.« Er lehnte sich ans Schanzkleid, packte die Flasche mit der 3
rechten Hand und holte zum Wurf aus. »Halt!« schrie Tucker. »Schmeiß sie nicht weg!« Der Profos erstarrte mitten in der Bewegung. Er schob sein Rammkinn in Tuckers Richtung, der mit einem Stück Lunte spielte. »Da ist nichts mehr drin«, versicherte er. »Das kann ich mir denken, aber gib sie mir trotzdem.« Er nahm die Flasche entgegen und ließ sich von Carberry auch noch den Korken geben. Mittlerweile hatten sich Jeff Bowie, Bob Grey, Luke Morgan und der alte Donegal Daniel O’Flynn um ihn herum in der Kuhl versammelt. Alle waren neugierig, denn Ferris Tucker hatte etwas mit der Flasche vor. Aber was, zum Teufel? Sie sollten es gleich erfahren. »Nur ein kleines Experiment«, erklärte Ferris. »Ich weiß allerdings nicht, ob es klappt. Ich möchte nur mal die Wirkung sehen.« Aus seiner Werkzeugkiste holte er zwei Hände voll alter Nägel, ein paar gehackte Bleistücke und etwas Pulver. »Was wird das, Ferris?« wollte Al Conroy wissen. »Das weiß ich selbst noch nicht. Mir ist gerade eine Idee gekommen. Wenn man Nägel, Blei und Pulver in die Flasche füllt, sie verkorkt und in den Korken eine Lunte schiebt, dann reißt es die Flasche doch auseinander, nicht?« Keiner sagte ein Wort, niemand gab Antwort. Gebannt schauten sie Tucker zu, bis sich auch der Seewolf dazugesellte, der die Spielereien des Schiffszimmermannes allerdings ernster nahm als die meisten anderen. Die dachten jetzt, Tucker hecke irgendeinen Blödsinn aus und wolle sie anschließend auf den Arm nehmen. Als er alles in die Flasche gefüllt hatte, bohrte er mit dem Marlspieker ein kleines Loch in den Korken und schob ein kurzes Stück Lunte hinein. Danach verkorkte er die Flasche, die er abschätzend in der 4
Hand wog. Sie hatte ein ganz beachtliches Gewicht. »Angenommen«, sagte Tucker und grinste dabei über das ganze Gesicht, »ich lasse die Flasche an Deck stehen und zünde die Lunte an. Was glaubt ihr wohl, was dann passiert?« »Bist du wahnsinnig, Ferris?« sagte Carberry. »Uns fliegen die Brocken nur so um die Ohren!« Plötzlich hatten sie alle begriffen, was Tucker wollte. »Das wollte ich nur wissen«, erklärte der Hüne zufrieden. »Wenn euch die Brocken um die Ohren fliegen, dann würden sie doch auch jedem verdammten Piraten um die Ohren fliegen, wenn man sie auf ein Schiff schleudert. Oder etwa nicht?« Der Seewolf sah seinen Schiffszimmermann an wie einen Geist. Er nahm die Flasche ebenfalls in die Hand und schüttelte den Kopf. »Wie der Schuß aus einer Drehbasse«, sagte er bewundernd. »Nur ist das Format handlicher und man kann die Dinger überall mitschleppen.« »Mensch, Ferris!« riefen ein paar Männer begeistert. »Wie bist du nur auf die Idee gekommen?« Tucker wandte sich verlegen ab. »Nur so, als ich die Flasche sah. Noch haben wir es ja nicht ausprobiert, vielleicht klappt es auch gar nicht.« Aber da geriet er an die Falschen. Conroy widersprach sofort energisch. »Natürlich klappt das, Ferris. Sobald die glimmende Lunte das Pulver erreicht, geht es hoch. Und da die Explosion sich nicht durch die Öffnung entladen kann, zerreißt es die Flasche, die ihren Inhalt nach allen Seiten verschleudert. Ich möchte jedenfalls nicht in der Nähe stehen, wenn sie explodiert.« »Man müßte sie noch verbessern«, überlegte Tucker. »Die Lunte genauer berechnen, wie lange sie brennt, Stoff oder Segeltuch um die Flasche wickeln, damit sie beim Aufprall nicht gleich zersplittert.« Der riesige Gambianeger Batuti trat hinzu. Seine Augen 5
rollten wild, als er die Flasche mit ihrem Inhalt sah. Das meiste von den Gesprächen der Männer hatte er begriffen. »Schlaues Mann, Ferris«, radebrechte er. »Großes Kopf mit viel Verstand. Batuti Flasche ausprobieren.« »In deiner Hosentasche, was?« sagte Tucker lachend. »Hier an Bord geht das nicht, es ist zu gefährlich.« »Batuti schmeißen in Wasser.« »Dann verlöscht die Lunte, Mann«, erklärte Dan. »Oder hast du schon mal gesehen, daß eine Lunte im Wasser brennt?« »Batuti wissen. Warten, bis Funke in Flasche rutscht. Dann werfen.« Er ließ sich nicht davon abhalten, und da Ferris nichts verlor, wenn sie die Flasche ausprobierten, entzündete er die Lunte. Er wollte sie selbst werfen, aber der Neger nahm sie ihm grinsend aus der Hand. »Wenn Flasche kaputt, du werden schwarz von Pulver«, sagte er zu Tucker. »Batuti sein schon schwarz, nix mehr können schwärzer werden.« »Sieh dich bloß vor mit dem Ding«, warnten die anderen. Doch Batuti stellte sich ans Schanzkleid, hielt die Flasche etwas von sich und blies aus voller Lungenkraft auf die Lunte, bis sie hellrot glühte. »Wirf sie weg!« schrie Tucker. »Schnell, über Bord damit!« Der Neger grinste noch immer. Mit großen Augen schielte er durch das Glas, sah, daß der letzte Teil der Lunte glomm und schleuderte dann die Flasche in einem weiten Bogen aufs Meer hinaus. Sie tauchte ins Wasser und war noch nicht ganz in dem Element verschwunden, als sie auch schon mit unvorstellbarer Wucht krepierte. Ein lauter Knall ertönte, und dann flogen ein paar Splitter bis dicht an die ›Isabella‹ heran. Hinter dem Schanzkleid gingen die verblüfften Männer in Deckung. Und dabei hatte Batuti die gefüllte Flasche immerhin 6
fünfzig Yards weit geworfen! »Donnerwetter«, sagte der Profos ehrfürchtig. Er sah in verwunderte Gesichter. Die Männer staunten nicht schlecht. Und dieses teuflische Ding hatte Ferris Tucker so einfach ersonnen? Aber es gab noch etwas anderes, das sie genauso überraschte. Weit hinter der ›Isabella‹ kamen ein paar Fische an die Oberfläche. Mit zum Himmel gedrehten Bäuchen trieben sie auf dem Wasser. »Die hat der Druck getötet«, sagte der Seewolf. Es war eine reine Feststellung, die ja auch den Tatsachen entsprach. Die Gespräche über die mit Pulver gefüllte Flasche rissen nicht ab. Jeder entwickelte die Idee weiter, und so nahm sich Ferris vor, eine neue zu konstruieren, mit der man etwas anfangen konnte, ohne daß sie einem in der Hand explodierte. Die ›Isabella‹ segelte auf ihrem Kurs in die Karibik weiter. Dan O’Flynn löste Stenmark im Ausguck ab. Am Ruder wechselten Pete Ballie und Gary Andrews. Zu tun gab es nicht viel, das Schiff war aufgeklart, die Geschütze geladen, kontrolliert und noch einmal nachgesehen. In diesem Teil des Atlantik war das lebenswichtig, denn hier wimmelte es von Freibeutern, Korsaren, Piraten und Schnapphähnen, die auf leichte Beute auswaren, und die jeden überfielen, den sie entdeckten. »Deck!« erscholl eine halbe Stunde später Dans Stimme aus dem Groß mars. »Land zwei Strich Backbord voraus!« »Aye, aye!« rief Ben Brighton zurück. »Das werden die Felseninseln sein. Halten wir darauf zu, Hasard?« »Ja. Die Schlangeninsel laufen wir vorerst noch nicht an, es sei denn, wir finden überhaupt kein Trinkwasser.« An der Kimm tauchten die Inseln auf. Kraterinseln, geboren durch unterseeische Vulkane, schroffe Felsen, die aus dem Meer ragten und vornehmlich von Vögeln aller Art bevölkert waren. Da die ›Isabella‹ die Felseninseln noch nicht 7
angelaufen hatte, wußte Hasard auch nicht, ob hier Trinkwasser zu finden war. »Sieht nicht so aus, als würde es dort Trinkwasser geben«, sagte Gary Andrews zu dem Seewolf. Seine Augen waren auf die Sanduhr gerichtet, und als aus dem oberen Teil der letzte Rest Sand nach unten lief, drehte er die Sanduhr für die nächste halbe Stunde um. »Einen Versuch ist es schon wert«, erwiderte Hasard. »Geh zwei Strich nach Backbord, Gary!« »Zwei Strich Backbord«, wiederholte Andrews. Die Felsen schienen auf dem Wasser heranzuschweben. »Deck!« schrie Dan O’Flynn wieder mit seiner lauten Stimme. »Auf den Klippen scheint ein Spanier gestrandet zu sein. Sieht verdammt nach einer Galeone aus!« Ein gestrandeter Spanier? Da gab es vielleicht etwas zu holen. Sofort enterten ein paar Männer in die Wanten auf, um eine bessere Aussicht zu haben. Hasard zog das Spektiv auseinander und blickte lange hindurch. Dann reichte er es an seinen Bootsmann weiter. »Scheint sich tatsächlich um eine spanische Galeone zu handeln. Aber die ist hinüber, teilweise auseinandergebrochen. Vermutlich hat sie der gestrige Sturm erwischt. Uns hat er ja auch ganz schön zugesetzt.« »Da steht doch ein Kerl an Deck«, murmelte Ben. »Es kann aber auch eine herabgestürzte Rah sein, so genau läßt sich das noch nicht erkennen. Hier, sieh dir das mal an!« Abwechselnd blickten sie durch das Spektiv, und einmal glaubte Hasard ebenfalls, einen Mann an Deck zu sehen. Aber es konnte sich wirklich um eine herabgefallene und senkrecht aufgestellte Rah handeln, wie Ben schon bemerkt hatte. Eine Rah, die mit Wucht in das Deck hineingeschmettert worden war. »Klar, ein verfluchter Don!« brüllte Smoky aus den Wanten. »Vielleicht hat er Silber oder Gold geladen. Den schnappen wir 8
uns!« »Immer langsam«, sagte Hasard lachend, »da wird nicht mehr viel zu schnappen sein. Eventuell ist der Kahn hier schon vor Jahren gestrandet und längst geplündert worden.« Das Wrack wurde immer deutlicher. Leichte Wellen zerrten pausenlos an ihm, die Masten waren geknickt, abgebrochene Stümpfe, die anklagend in den Himmel wiesen. Alles stehende Gut, Wanten und Pardunen, waren zerfetzt, lagen an Deck herum. Die abgerissenen Mäste trugen noch Teile ihrer Rahen mit zerfetztem Segeltuch. Und in der Mitte war die Galeone durchgebrochen. Immer wieder spülte Wasser in ihre Räume, nagte, fraß und bohrte daran. »Ich wird verrückt!« schrie Dan lautstark. »Da steht ein Kerl an Deck. Habt ihr gehört? Ein Kerl steht an Deck!« »Kein Grund so zu brüllen!« schrie Ferris Tucker zum Großmars hinauf, und er schaffte es, dabei wesentlich lauter zu brüllen als Dan. »Dann habe ich mich also doch nicht getäuscht«, sagte Ben. »Da lungert tatsächlich einer an Bord herum. Steif wie ein Ladestock. Der müßte uns doch längst bemerkt haben!« Aus dieser Entfernung schon fiel dem Seewolf der eigenartige Mann auf. Man sah ihn zwar noch nicht deutlich, vor allem sein Gesicht ließ sich noch nicht erkennen, aber es schien festzustehen, daß es sich um einen älteren Mann handelte. Lange, schlohweiße Haare flatterten im Wind. Der Mann stand stocksteif auf der Backbordseite am zerfetzten Schanzkleid und rührte sich nicht. Er wirkte, als hätte man ihn dort angenagelt. »Wir segeln etwa bis auf hundert Yards heran«, befahl Hasard. »Dann ankern wir.« »Aye, aye!« rief der Profos, und sofort scheuchte er die Männer an die Schoten. Die Segel wurden auf gegeit, bis die ›Isabella‹ merklich langsamer lief. Kräftige Hände zerrten an den Geitauen, holten weiter auf. »Im Gei hängen lassen!« dröhnte Carberrys Stimme. »Erst 9
nachher ganz auf holen!« »Als ob das nicht jeder Arsch an Bord wüßte«, sagte Luke Morgan zu Blacky, der grinsend in die Hände spuckte. »Laß ihn doch, wenn der Profos nicht befehlen, brüllen oder einem die Haut in Streifen vom Affenarsch ziehen kann, dann fühlt er sich nicht wohl.« Das traf haargenau zu. Es gab keinen an Bord, den der Seewolf nicht hart rangenommen hatte, und daher hätten sich derartige Befehle einfach erübrigt, aber der Profos konnte nun einmal nicht aus seiner Haut heraus, und außerdem war es für ihn unvorstellbar, daß niemand Befehle gab. Ein Profos war schließlich zum Brüllen da und nicht zum Rumstehen. Immer mehr verlor die Galeone an Fahrt, bis die Bugwelle nur noch leise gluckerte. Bei dem Manöver hatte niemand mehr so richtig Zeit, auf das Wrack zu achten, doch jetzt, nachdem das Kommando »Fallen Anker«, erscholl, und der Anker in die Tiefe rauschte, blickte jeder angestrengt zu dem gestrandeten spanischen Wrack hinüber. Langsam schwoite die ›Isabella‹ herum, bis sie fast parallel zu dem Spanier lag. Jetzt sahen ihn alle überdeutlich, diesen Mann, der da mit langen schlohweißen Haaren an Deck stand. Er trug nichts als eine zerfetzte, blaßblaue, an den Knien ausgefranste alte Hose. Sein nackter Oberkörper war ausgemergelt und von Sonne, Wind und Wetter gegerbt. Scharf zeichneten sich seine Rippen ab. Er hatte beide Arme zum Himmel erhoben und sein zerfurchtes Antlitz schien die Sonne anzubeten. Niemand an Bord sprach ein Wort. Alle schauten gebannt zu dem Mann hinüber, der jetzt langsam sein Gesicht wandte. Es war ein asketisches Gesicht, das eines Büßers, faltenreich, hager, ebenso ausgemergelt wie der ganze Körper. Seine Lippen waren schmal und zusammengepreßt, die Augen lagen tief in den Höhlen, und um seine Wangen spannte sich eine 10
dünne, fast durchsichtige Haut mit vielen kleinen, roten Äderchen darin. Das Schlimmste waren seine Augen, die jetzt erwartungsvoll auf die Männer gerichtet waren. Es waren stark nach oben verdrehte Augen wie die eines Blinden. Weißgelblich schimmerten sie unheilverkündend in den dunklen Augenhöhlen. »Augen eines Toten«, sagte Smoky und bekreuzigte sich hastig. »Der ganze Kerl scheint tot zu sein. Mit den Augen kann er doch nichts mehr sehen.« Pete Ballie neben ihm, starrte ebenfalls mit einem kalten Schaudern auf die ausgemergelte Gestalt. »Die Augen eines toten Fisches sind das, Smoky. Der - der Kerl kommt mir vor, wie-wie ...« »Hör auf«, flüsterte Smoky entsetzt. »Sprich nicht weiter! Ich weiß schon, was du sagen willst. Der Kerl bringt Unheil!« Da war es heraus, das Wort, das jedem im Mund lag, und obwohl Smoky es nur geflüstert hatte, schien es doch nachhallend über das ganze Schiff zu dröhnen. »Der Kerl bringt Unheil!« Dieser Satz huschte vom Vordeck in die Kuhl, zum Achterkastell und bis in die Wanten und erreichte den Affen Arwenack, der sich mucksmäuschenstill verhielt. Seine braunen Augen waren weit aufgerissen, das Tier schien die Gefahr stärker zu empfinden als alle anderen. Der Seewolf spürte, wie die Stimmung umschlug. Das Wrack, an dem unaufhörlich die Wellen nagten, die Geräusche des sterbenden Schiffes, das Knacken der Planken, das Klappen des hin und herschlagenden Kolderstocks, und dieser unheimliche Mann - das alles beschwor etwas Unheilvolles herauf. Selbst der abgebrühte Seewolf fühlte, wie ihm ein kühler Schauer über den Rücken rann. »Fiert das Beiboot ab!« erklang seine Stimme, die die Männer augenblicklich aus ihrer Erstarrung riß. 11
Ja, das lenkte sie ab von dieser unheimlichen Gestalt, und so drängte sich der größte Teil der Crew um das Beiboot, nur um den Anblick des Unheimlichen für kurze Zeit zu vergessen. Doch das ließ sich nicht vergessen, der Alte war da, er war dominierend, eine Persönlichkeit, die man nicht ignorieren konnte, und so warfen die Seewölfe immer wieder scheue Blicke hinüber. Immer noch stand er unverändert da, die Arme wie bittend zum Himmel erhoben, die mageren Hände wie erstarrt und verkrampft in der Luft haltend. Das Weiße seiner Augen wurde langsam wieder trüb, als er ein klein wenig das Gesicht wandte. Jeder fühlte, daß der Alte ihn sah, obwohl jeder wußte, daß ein normales Sehen mit diesen Augen unmöglich war. Aber der Alte sah »auf eine andere Art«, wie Smoky flüsternd versicherte. Fast alle taten sie unnötige Handgriffe beim Abfieren des Bootes, bis der Profos den Kopf schüttelte und laut werden wollte. Aber er brachte es nicht über sich, seinen Lieblingsspruch anzuwenden. Der paßte einfach nicht hierher, das fühlte er ganz deutlich. Hart schluckend wandte er sich ab, sah Hasard an, der es auch vermied den Alten anzublicken, und der doch immer wieder wie magisch von dieser ausgemergelten Gestalt angezogen wurde. Und dann sagte Batuti etwas, das den anderen wie ein glühendes Eisen in die Knochen fuhr. »Alter Mann ist Jonas!« »Batuti!« rief der Seewolf scharf, doch der riesige Gambianeger ließ sich nicht beirren. »Batuti immer sagen, was denken«, maulte er, »und Batuti sagen noch mal, altes Mann ist Jonas, und Jonas an Bord bringen Unglück. Sollen schnell weitersegeln und Jonas nicht mehr sehen.« Köpfe duckten sich, Münder verzogen sich, und jeder fühlte, 12
wie sich seine Haare im Nacken aufrichteten. Verdammt, Batuti hatte recht! Ein Jonas! Das fehlte gerade noch! Und das ausgerechnet wieder in jenem Teil des Atlantik, der bei allen Seeleuten ohnehin verschrien und nicht geheuer war: im Sargassomeer. Hasard fand keine Antwort. Er zuckte mit den Schultern und blieb auf dem Achterdeck stehen. Er mußte versuchen, diese unheilvolle Stimmung, die sich an Bord schlich, im Keim zu ersticken. Er drehte leicht den Kopf und sah den Alten mit den schlohweißen wirren Haaren scharf an. »Senor!« rief er laut hinüber, denn es konnte sein, daß dieser Alte ein Spanier war. Der Jonas gab keine Antwort. Er drehte nur ebenfalls langsam den Kopf in die Richtung, aus der er die Stimme vernahm. Seine erloschenen Augen schienen sich in das Gesicht des Seewolfs zu brennen, und dann verzogen sich zum erstenmal seine Lippen, und ein paar schwarze Zahnstummel wurden sichtbar. Sofort danach versank er wieder in Lethargie. Dan O’Flynn wagte keinen Blick zu dem Mann hin. Er hatte sich umgedreht und blickte angestrengt auf Deck hinunter, und so sah er auch nicht, was Hasard in diesem Augenblick sah, als eine kleine Welle die zerbrochene Galeone noch weiter krängen ließ. Auf dem Deck, dicht am Schanzkleid, lagen zwei tote Spanier. Sie trugen noch ihre Helme, in denen sich bei der leichten Bewegung kurz das Sonnenlicht spiegelte.
2. »Wer geht mit hinüber?« fragte Hasard, als das Beiboot im Wasser lag und leicht schaukelte. Niemand schien etwas gehört zu haben. Jeder begann damit, 13
eine Arbeit zu verrichten, die völlig unnötig war. Hätte Hasard gefragt, wer geht mit in die nächste Kneipe, um kräftig einen zu heben, wäre im Nu alles auf den Beinen gewesen und hätte sich um den Seewolf geschart. Hier aber wollte niemand mit. Der Jonas war ihnen unheimlich und flößte ihnen Angst ein. Gerade als Hasard zum zweiten Mal fragen wollte, überwanden sich Ben Brighton und schließlich auch der Profos. Danach meldeten sich sehr zögernd auch noch Tucker, Dan und Morgan. »Ed und Ben genügen«, sagte der Seewolf. In seiner Stimme klang leiser Spott mit. »Die anderen können die Nagelbänke klarieren, die sind sowieso in Ordnung.« »Wollen wir den Kerl etwa an Bord nehmen?« erkundigte sich der alte O’Flynn besorgt. »Sollen wir ihn etwa seinem Schicksal überlassen?« antwortete Hasard mit einer Gegenfrage. Old O’Flynn zog den Schädel ein. Er lehnte sich auf seine Krücke und kratzte sich mit der freien Hand über die Bartstoppeln in seinem verwitterten Gesicht. Old O’Flynn war abergläubisch, mehr noch als sie alle, und sein Gesicht sprach Bände. »Habe mal gehört, daß die Schiffe immer untergehen, die einen Jonas an Bord haben«, murmelte er. »Den besten Beweis sehen wir ja jetzt direkt vor uns.« Hasard blickte den alten O’Flynn kopfschüttelnd an. »Wer sagt denn, daß es ein Jonas ist? Kann genausogut auch ein völlig harmloser Irrer sein, der nach dem Untergang der Galeone den Verstand verloren hat.« »Nein, nein«, sagte O’Flynn heiser, »der Kerl ist nicht geheuer, der wird uns Unglück bringen!« Hasard spürte fast körperlich die Welle eisiger Ablehnung, die von der gesamten Mannschaft ausging. Niemand wünschte sich den Alten an Bord, sie wünschten ihn tausend Meilen weit 14
fort, sie wünschten sich, ihn nie gesehen zu haben. Am liebsten wären sie in aller Eile davongesegelt und hätten den Alten seinem Schicksal überlassen, so hart es sich auch anhören mochte. Hasard, Ben Brighton und Edwin Carberry sprangen ins Boot. Der Profos stieß es von der Bordwand ab und pullte die paar Yards hinüber. »Nur damit ihr darauf vorbereitet seid«, sagte Hasard beiläufig, »auf dem Deck der Galeone liegen zwei tote Spanier.« Ed Carberry nickte düster, Ben Brighton preßte die Lippen zusammen. Sie hatten schon viele Wracks gesehen, und ein auf die Klippen aufgelaufenes oder gestrandetes Schiff flößte ihnen keine Furcht ein, erst recht ein toter Spanier nicht. Der Jonas war es, um den ständig ihre Gedanken kreisten, der ihnen nicht aus dem Schädel ging. Carberry legte das Boot an jene Stelle, wo ein yardlanger Riß im Schiff klaffte, wo es auseinandergebrochen war, von wo aus man ins finstere Innere sehen konnte. Es roch nach fauligem Holz, nach Bilgewasser, See und geteerten Tauen. Er band das Tau fest und sah den Seewolf an. »Na los, auf was wartet ihr noch?« fragte Hasard. »Entern wir auf!« Die teilweise gebrochenen und zerstörten Planken boten guten Halt. Fast ließ es sich wie auf einer Leiter klettern. Dabei stellten sie auch gleichzeitig fest, daß die Galeone unverrückbar fest auf dem Felsen saß. Sie war aufgelaufen, oder der Sturm hatte sie hinaufgeschleudert und dann auseinandergebrochen. Teile des Bugs waren eingedrückt, ein Stück des Schanzkleides fehlte, und das große Holzkreuz am Bug war ebenfalls zerschmettert. Der Jonas sah sie nicht, oder nahm sie nicht zur Kenntnis, als sie nacheinander auf enterten. Hasard warf einen Blick zur ›Isabella‹ hinüber. 15
Da standen sie, stumm und erwartungsvoll, wie. eine Mauer, mit verschlossenen Gesichtern, abweisend und fast ängstlich. In keinem Gesicht regte sich ein Muskel. Aus der unmittelbaren Nähe wirkte der Jonas noch unheimlicher. Ein häßlicher, dürrer Alter, dessen schlohweiße lange Mähne unruhig im Wind flatterte. Wie ein Geist aus einer anderen Welt erschien er ihnen, wie er da so barfuß mit zerfetzter Hose am Schanzkleid lehnte. Einer Statue gleich, in der kein Leben war, wenn man von den flatternden Haaren absah. Hasards Blick fiel auf die beiden Leichen an Deck. Als er dem einen toten Spanier ins Gesicht sah, zuckte er unwillkürlich zurück. Das Gesicht unter dem Kupferhelm war schwarz angelaufen, die Augen in den Höhlen eingesunken, der Mund weit offen, aus dem eine schwarz verfärbte Zunge heraushing. Aber er konnte noch nicht sehr lange tot sein, genau wie der andere. Hasard ging auf den Jonas zu. Seit sie an Bord der spanischen Galeone waren, hatte noch niemand ein Wort gesprochen. Eine unheilvolle Atmosphäre lag auf dem Totenschiff, das in allen Verbänden ächzte und knarrte. Vor der ausgemergelten Gestalt blieb er stehen, streckte vorsichtig die Hand aus und berührte den Mann an der Schulter. Keine Reaktion. Der Jonas starrte mit seinen blicklosen, seltsam toten Augen in imaginäre Fernen, als sähe er Hasard gar nicht. »Glaubst du, er hat die beiden umgebracht?« fragte Ben in die lastende Stille hinein. Hasard drehte sich langsam um, als noch immer keine Reaktion bei dem Jonas erfolgte. »Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir nur sehr schlecht vorstellen. Weshalb hätte er sie umbringen sollen? Dieser eine hier«, Hasard wies mit der Hand auf den schwarzverfärbten 16
Leichnam, »sieht fast so aus, als wäre er an irgendeiner Krankheit gestorben.« Carberry wich in heller Panik zurück. »Die schwarze Pest etwa?« fragte er voller Entsetzen. »Auch das glaube ich nicht, sonst hätte es diesen, äh, Jonas sicher auch schon erwischt. Es muß etwas anderes gewesen sein.« »Da drüben liegt noch einer«, sagte der Profos mit seltsam belegter Stimme. Er wies zur Back hin, wo ebenfalls ein toter Spanier lag. Hasard ließ den Jonas stehen und wandte sich den beiden Männern zu. »Durchsuchen wir erst einmal das Schiff«, schlug er vor. »Vielleicht erfahren wir so, was sich hier abgespielt hat.« »Und was tun wir mit dem da?« flüsterte Brighton. »Der kann doch nicht bis in alle Ewigkeiten hier herumstehen.« »Das werden wir nachher sehen. Einmal wird er sich ja auch wieder bewegen. Der Jonas rührte sich immer noch nicht. Er sah aus wie ein schweigender Todesbote, der gelassen abwartete, was die Zeit brachte. Hasard glaubte an seiner Blickrichtung zu sehen, daß der unheimliche Mann jetzt angestrengt zum Horizont starrte, sofern er überhaupt sehen konnte. »Mir wird jetzt schon ganz mulmig in den Knochen, wenn wir den bei uns an Bord haben, Ben«, flüsterte der Profos so leise, daß Hasard ihn nicht verstehen konnte. Sie gingen zur Back. Dort fanden sich insgesamt noch vier tote Soldaten. Zwei hatte der Fockmast erschlagen, das sah man auf den ersten Blick, bei den anderen war keine besondere Todesursache zu erkennen. Auch sie waren noch nicht lange tot, Hasard sah keinerlei Anzeichen von Verwesung bei den Leichen. Auf den Klippen entdeckte der Profos ebenfalls zwei tote Männer, die vermutlich der Aufprall der Galeone auf die Felsen dort hinübergeschleudert hatte. 17
Im Mannschaftslogis sah es wüst aus. Planken waren zersplittert, Blechgeschirr lag auf dem Boden, und in einer großen Wasserlache lag ein weiterer Toter. Der Seewolf hatte immer noch keine Erklärung für das, was hier an Bord vorgefallen war. Weshalb hatte nur der Jonas das Unglück überlebt? Man konnte von einer Besatzungsstärke von annähernd zwanzig Mann ausgehen, und alle waren tot, bis auf einen, der ganz sicher nicht zur Crew gehörte. »Bleibt noch das Achterkastell«, sagte Hasard, als sie wieder nach oben stiegen. »Aber wenn dort jemand überlebt hat, dann hätte er sich längst gemeldet.« Sie durchquerten das wüste Durcheinander von abgesplitterten Rahen, Maststümpfen, zerfetzten Segeln und gerissenem laufenden Gut. Wieder mußten sie an dem Jonas vorbei, an dessen Haltung sich bis jetzt nicht das geringste verändert hatte. Noch einmal blieb der Seewolf stehen, stieß den Mann an und sprach zuerst ein paar Worte auf Englisch mit ihm. Keine Reaktion. Der Erfolg auf Spanisch war ebenfalls gleich Null. »Wie ein lebender Toter«, sagte Carberry leise. »Oder der Kerl ist wirklich wahnsinnig. Dann warne ich aber ernsthaft, ihn an Bord zu nehmen.« Hasard entgegnete nichts. Natürlich wollte er diesen Kerl auch nicht an Bord haben, aber andererseits befahl es ihm die reine Menschlichkeit den Unbekannten hier nicht allein zwischen all den Toten zurückzulassen. Er würde nicht lange überleben, denn schon morgen konnte die Galeone auseinanderfallen und dann war der Jonas auf der öden Felseninsel dem sicheren Tod ausgeliefert. Die drei Männer bahnten sich durch die Trümmer einen Weg zum Achterkastell der Galeone. In dem Augenblick ging ein harter Ruck durch das Schiff. Irgendwo brachen Planken, und tief unter ihnen begann es, leise zu gurgeln und zu plätschern. 18
Carberry blieb stehen und lauschte den Geräuschen. »Der Kahn bricht bald ganz auseinander«, sagte er. »Der hält nicht mal mehr den heutigen Tag durch.« Er hatte die Worte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als die Galeone leicht zur Seite kippte. Lautes Knirschen mischte sich mit dem Bersten von Holz. Die drei Männer verloren fast das Gleichgewicht. Von der ›Isabella‹ brüllten die Seewölfe aufgeregt herüber. »Paßt auf, der Kahn fällt auseinander!« Aber das Wrack beruhigte sich wieder, es neigte sich nicht weiter. Nur das Ächzen und Knarren blieb und das harte Knirschen, wenn der Kiel über den Felsen rieb, der sich in den Boden fraß und ihn stückweise auseinandernahm. Das Achterkastell bestand ebenfalls aus Trümmern. Die Tür zur Kapitänskammer war halb aus den Angeln gerissen. Quietschend bewegte sie sich hin und her, den Bewegungen der berstenden Planken folgend. Bevor Hasard die hölzerne Treppe hinunterstieg, warf er noch einen Blick auf den Jonas. »Was mag der nur am Horizont sehen?« murmelte er vor sich hin. Carberry und Brighton folgten. Die Kapitänskammer war üppig mit Holzschnitzereien ausgestattet. An den Wänden hingen Zeichnungen spanischer Galeonen. Hinter dem Tisch ragten Stiefel hervor. Hasard wußte schon jetzt, daß auch der Kapitän nicht mehr lebte. Außer dem Jonas lebte nichts mehr hier an Bord, nicht einmal mehr die Ratten. Der Spanier trug seine Uniform, als hätte er sie gerade eben angezogen. Sein Gesicht war friedlich und entspannt, nur die weit geöffneten Augen starrten glanzlos an die Decke. Unbehaglich sahen sich die drei Männer in der Kammer um. Hasard fragte sich zum wiederholten Male, woran die Männer wohl gestorben sein mochten, aber er fand keine Antwort 19
darauf. Er ging zögernd auf eine ausgebreitete Seekarte zu, die auf dem Tisch lag. Es war die Art üblicher Seekarten, die die Spanier zum Navigieren benutzten. Ein Kurs, der nach Havanna führte, war eingezeichnet. Trotzdem ging aus der Karte nicht hervor, ob der Spanier von dort kam, oder ob er dort hinwollte. Neben der Karte lag ein aus dünnen Blättern gefaltetes Heft, in dem spanische Worte standen. Zuerst wollte Hasard es achtlos beiseite legen, doch dann fiel ihm das Datum auf. Es war ein Logbuch, gleichzeitig Gedankenstütze des Kapitäns. Die flüchtigen Eintragungen begannen vor zwei Wochen, und umrissen jeweils einen kurzen Tagesablauf mit der zurückgelegten Strecke. Hasard blätterte flüchtig ein paar Seiten durch. Brighton sah ihm dabei über die Schulter. »Aufzeichnungen des Captain Domingo Romero«, las er halblaut vor. »Am Vormittag des achten September treibendes Floß mit Schiffbrüchigen gesichtet. Die See ist ruhig.« Hasard klappte die Seiten zu und steckte sie unter sein Hemd. »Damit werden wir uns nachher beschäftigen«, sagte er. »Vermutlich erhalten wir einigen Aufschluß über diesen merkwürdigen Mann. Sie haben ihn als Schiffbrüchigen an Bord genommen.« »Ist das nicht seltsam?« fragte Carberry, »jetzt nehmen wir ihn ebenfalls als Schiffbrüchigen an Bord, und später wird ihn wieder ein anderer als Schiffbrüchigen ...« »Hör auf, Ed! Ich will davon nichts mehr hören. Seht euch in der Kammer um, ob es noch etwas Brauchbares zum Mitnehmen gibt. Und dann werden wir sehen, was die Galeone geladen hat.« »Und Trinkwasser?« fragte Ben. »Werden wir vermutlich nicht finden.« 20
»Aber wir haben kaum noch etwas.« »Ich weiß. Finden wir keins, dann laufen wir doch noch die Schlangeninsel an, uns bleibt nichts anderes übrig.« Es gab nichts, das wertvoll genug war, um es mitzunehmen. Sie fanden nur den üblichen Kram. Lediglich einen Jakobsstab von knapp einem Yard Länge zur Bestimmung und Messung von Gestirnshöhen ließ der Profos mitgehen. Etwas später stiegen sie wieder an Deck. Ed Carberry öffnete eine der Ladeluken. Fauliger Gestank drang ihm in die Nase, ein Geruch der Übelkeit verbreitete. Das eingedrungene Seewasser hatte die Gewürze in den Laderäumen der Galeone verdorben, verfaulen und vergammeln lassen. Der Profos wandte sich naserümpfend ab. »In der Vorpiek waren wir noch nicht«, sagte Hasard. Wieder warf er einen Blick auf den Jonas, der immer noch einer Statue glich und sich nicht rührte. Er wirkte, als gehöre er zum toten Inventar der sterbenden Galeone. »Wasser!« schrie Carberry gleich darauf, als er aus der Vorpiek wieder erschien. »Die Dons haben mindestens noch zwanzig volle Fässer an Bord. Ein paar sind allerdings zertrümmert.« »Hast du es probiert?« »Natürlich, es ist einwandfrei. Das Wasser scheint noch ganz frisch zu sein.« »Gut«, entschied Hasard. »Dann lassen wir es sofort an Bord mannen und segeln weiter.« Carberrys Augen leuchteten auf. »Ein vernünftiger Gedanke«, sagte er lobend. »Ich habe doch gleich gewußt, daß wir diesen Kerl nicht ...« »Wir nehmen ihn mit, Ed, beruhige dich. Ich bringe es nicht über mich, ihn hier allein zurückzulassen.« »Sollen wir diesen Unglücksbringer vielleicht auch noch an Bord tragen?« erregte sich der Profos. »Der stirbt uns sowieso unter den Händen, die Mühe können wir uns sparen.« 21
Hasard warf dem Profos nur einen Blick zu, aber in diesem Blick lag alles, was ein anderer mit hundert Worten ausgedrückt hätte. Da drehte Carberry sich um, stieg ergrimmt in die Vorpiek und schleppte ein Wasserfaß an Deck. Dem schweigenden Jonas warf er einen wütenden Blick zu, doch den kümmerte das nicht, er war immer noch in sich selbst versunken. Zu dritt trugen sie die Fässer an Deck. Hasard überprüfte jedes einzelne, aber es gab nichts auszusetzen, das Wasser war frisch und klar - und sie brauchten es dringend. Den Proviant ließen sie unberührt. Davon hatten sie selbst genug an Bord, und außerdem sah das Zeug nicht besonders gut aus. Mehl, in denen dicke weiße Maden herumkrochen, und eine Grütze, die so roch, daß der Profos gleich wieder das Gesicht verzog. »Möchte wissen, weshalb die Dons kein Silber geladen haben«, brummte er vor sich hin. »Dann hätte sich dieser Ausflug wenigstens noch gelohnt.« »Vielleicht hätten sie es später von einem anderen übernommen«, sagte Ben Brighton. »Aber es gibt ja auch genügend Dons, die nur Gewürze und anderen Kram fahren.« Mit einem langen Tau ließen sie die Fässer über das Schanzkleid gleiten, bis sie im Beiboot lagen, das jetzt fast bis an den Rand gefüllt war. »Pull mit den Fässern hinüber, Ed. Wir werden inzwischen versuchen, unseren Freund wachzukriegen«, sagte der Seewolf. Das Wörtchen »Freund« stieß dem Profos sauer auf. Unter Freunden verstand er etwas ganz anderes, aber keinen, der nichts weiter als Unheil über Schiff und Mannschaften brachte. Während Carberry zur ›Isabella‹ hinüberpullte und die Fässer an Bord hieven ließ, näherten sich Hasard und Ben von neuem dem Jonas. »Hör zu, Mann«, sagte Hasard barsch und lauter, als es nötig gewesen wäre. »Du kannst hier nicht bis in alle Ewigkeiten 22
herumstehen. Das Schiff fällt auseinander, und dann wirst du jämmerlich ersaufen oder in die Klippen stürzen. Komm mit an Bord, wir bringen dich irgendwo an Land.« Hasard griff nach dem mageren Arm des Jonas und schüttelte ihn. Zum erstenmal kam Leben in die Gestalt. Der Jonas drehte sich um und stieß einen dünnen, klagenden Laut aus, der den beiden Männern durchs Mark fuhr. Unwillkürlich wich Hasard einen Schritt zurück, als er diesen Ton vernahm, der sich anhörte wie das Winseln eines kranken Hundes. Noch einmal brach dieses schaurige Klagen über die Lippen des Ausgemergelten, dann öffneten sich seine Augen, das Weiß darin verschwand, und er blickte Hasard an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Die Augen hielten ihn fest in ihrem Bann. Es waren merkwürdige, sehr helle Augen, wie Hasard sie noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Die Iris war riesengroß, und in dieser Iris funkelten golden gesprenkelte Sterne auf einem unwahrscheinlich hellen Untergrund. Hasard fühlte überdeutlich, wie etwas von ihm Besitz ergriff und in seinen Bann zog. Alle Weisheit dieser Welt schien in dem Blick der Augen zu liegen. Gleichzeitig aber glaubte der Seewolf darin auch etwas wie eine tiefe Resignation zu lesen. Er wurde aus diesem Mann nicht schlau, er war ihm unheimlich, jetzt, nachdem er die Augen gesehen hatte, wie sie wirklich waren. »Komm«, drängte der Seewolf, als er sah, wie Carberry schon wieder zurückpullte, um sie zu holen. »Wir haben nicht viel Zeit!« Der Jonas schien die Worte verstanden zu haben, obwohl er keine Antwort gab. Er setzte sich in Bewegung, langsam, steif, wie eine Marionette schritt er auf die Stelle zu, an der Ed Carberry eben anlegte. Hasard redete unterdessen beschwörend auf ihn ein. Dem 23
Jonas schien diese leise, unaufhörlich sprechende Stimme zu gefallen. Er lauschte fast verzückt, verdrehte die Augen, bis man das Weiße wieder sah, und ging unsicher weiter. »Kannst du allein ins Boot gehen?« fragte Hasard. Er hatte es auf Englisch versucht, dann auf Spanisch, aber Englisch schien der Jonas besser zu verstehen, wenn er auch nur mit Blicken darauf reagierte. Der Jonas bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit über die zerfetzten Planken. Er bot ein Bild des Jammers, wie er so dahinschlich, ausgemergelt, als hätte er wochenlang nichts mehr gegessen. »Was tun wir mit den Leichen, Hasard?« fragte Ben, der noch oben am Schanzkleid stand. »Sollen wir sie liegen lassen?« »Was sonst?« fragte der Seewolf zurück. »Noch besser wäre es, wir würden die Galeone in Brand stecken.« »Ja, das werde ich tun, murmelte Ben. Bei einem der toten Spanier fand er Stahl und Flintstein und auch ein Stück Lunte. Aus einem Pulverhorn, das an Deck herumlag, streute er etwas Pulver zwischen die Ritzen in den Planken und steckte es an. Zischend fraß sich eine kleine schwache Flamme auf dem Deck entlang, die in dem knochentrockenen Holz schnell und reichlich Nahrung fand. Ben Brighton vergewisserte sich, daß das Feuer nicht mehr ausgehen würde, erst dann verließ er ebenfalls das Wrack und stieg in das Beiboot hinunter. »Sie wird gleich Brennen«, sagte er. »Das ist wohl die beste Lösung, denn begraben können wir die Leute nicht.« Carberry pullte los.
3. Als das Beiboot zur ›Isabella‹ hochgehievt wurde, loderte auf 24
der spanischen Galeone der erste Brand auf. In der Kuhl brannte es, und die Flammen griffen immer schneller um sich. Bald brannten auch die Luken des Laderaumes. Der Jonas stieg vor den Zurückweichenden an Deck. Batuti rannte scheu weg, nachdem er dem Jonas in die Augen gesehen hatte. »Tod steigt an Bord«, flüsterte er Luke Morgan zu, dem Hitzkopf der Seewölfe, der auch gleich entsprechend reagierte. »Klar, das wird unsere letzte Fahrt«, versicherte er. »So wahr ich Luke Morgan heiße, dieser Kerl wird uns Unheil bringen. Bald schon wird die ›Isabella‹ genauso ein Wrack sein wie das da drüben! Man sollte den Kerl über Bord schmeißen.« »Batuti wissen, bald geben Unglück, bald. Todmann machen Schiff kaputt, Batuti fühlen.« »Hoffentlich fühlst du bald ein Tau in deinen Pranken!« brüllte der Seewolf mit Donnerstimme über Deck. »Batuti trotzdem wissen«, sagte der Neger leise, damit ihn niemand hören konnte. Die Segel füllten sich mit Wind. Der Anker war eingeholt, und die ›Isabella‹ legte sich leicht herum. Die Galeone brannte jetzt lichterloh. Die Flammen hatten das Achterkastell erfaßt und wüteten über dem Schiff, die der Wind langsam verwehte, bis nur noch das trockene Prasseln der Flammen zu hören war. Jetzt erst fielen die Blicke der Männer auf den Jonas. Ausgemergelt, selbst nur noch ein Wrack, stand er da, einem Häufchen Elend gleich, von Gott verachtet, von den Menschen gehaßt. Er, der Jonas, der Unglücksbringer, ein einsamer alter Mann! Dan O’Flynn schob sich an den Seewolf heran. Ein paarmal setzte er zum Sprechen an, bis Hasard ihn in die Seite knuffte. »Was, zum Teufel, druckst du ständig herum! Hast du etwas auszusetzen, fehlt dir etwas?« Stumm schüttelte der junge Mann den Kopf. Seine Augen 25
waren zusammengekniffen, seine Wangenmuskeln spielten erregt. »Du hast ihn an Bord genommen, Hasard, und du bist der Kapitän. Darf ich dich trotzdem kritisieren?« »Bitte«, sagte Hasard kühl. »Keiner von uns will diesen Kerl an Bord haben. Die anderen nicht, ich nicht, nicht einmal Shane will ihn haben. Dieser Kerl strahlt Unheil aus, sage ich dir, und er wird uns nur Pech bringen. Erinnerst du dich an den Seher der ›Marygold‹, damals unter Kapitän Drake?« »Klar, wo du den größten Mist deines Lebens gebaut hast, weil du alles besser wußtest als die anderen.« Daran mochte Dan gar nicht gern erinnert werden, und so entging ihm auch das spöttische Grinsen des Seewolfs. »Weiter ich höre!« »Nun«, druckste Dan herum. »Hat der Seher, der Jonas, Kapitän Thomas nicht auch Unglück gebracht?« »Ich höre immer noch«, sagte Hasard eisig. »Na - die ›Marygold‹ ist abgesoffen, mit Mann und Maus, nur weil der verdammte Kerl an Bord war. Alle haben um ihn immer einen großen Bogen geschlagen.« »Und wie viele andere Schiffe sind schon abgesoffen, die keinen Jonas an Bord hatten?« fragte der Seewolf mit sanfter Stimme. »Eine Menge«, murmelte Dan. »Hast du mir sonst noch etwas zu sagen, Dan?« »Nichts mehr, Sir!« Dan wandte sich beleidigt ab, doch der Seewolf hielt ihn zurück. »Er ist ein alter Mann, einer, den niemand haben will. Was wissen wir schon über sein Schicksal, was darüber, wie übel ihm das Leben mitgespielt hat? Wir wissen nichts über ihn, aber er hat es im Leben sicher nicht leicht gehabt. Jetzt ist er alt und verbraucht, und er will genauso leben wie du! Oder 26
leugnest du deine Existenzberechtigung? Wäre es dir lieber, wir würden ihn auf den Felsen wie einen räudigen Hund verrecken lassen?« Darauf wußte Dan nichts zu entgegnen. So hatte ihm der Seewolf schon lange nicht mehr ins Gewissen geredet. »Nein«, gab er zu, »natürlich ist er ein Mensch wie wir alle. Aber sieh dir nur sein Gesicht an. Um ihn herum steht wie eine Mauer die Luft, er verbreitet Angst und Schrecken, und ich möchte wetten, daß selbst der liebe Gott zornig auf ihn herunterblickt.« »Wir dürfen nicht ...« sagte Hasard gerade, als ihm die paar Seiten des Logbuches aus dem offenen Hemd fielen. Dan bückte sich, hob sie auf und wollte sie dem Seewolf reichen, als sein Blick auf die Eintragungen fiel. Dan O’Flynn konnte lesen und schreiben, und er sprach auch hervorragend Spanisch. Sekundenlang brannten sich seine Augen an der Schrift fest, dann zuckte er heftig zusammen. »Was habe ich gesagt«, hauchte er tonlos. »Lies mal, was da steht, Hasard, er hat ...« »Immer mit der Ruhe, Dan. Du weißt, daß ich dich für einen vernünftigen Mann halte. Ich möchte nicht, daß du zu den anderen darüber sprichst, klar?« »Ich verspreche es«, sagte Dan ernst. »Dann wollen wir mal lesen, was dieser Kapitän Domingo Romero zu berichten weiß«, sagte Hasard. Niemand von der Besatzung schenkte den beiden Männern Beachtung. Alle Blicke konzentrierten sich scheu und aus sicherer Entfernung auf den Jonas, der jetzt ebenfalls am Steuerbordschanzkleid lehnte und mit seinen durchdringend hellen Augen das Schiff musterte. Traf der Blick seiner unergründlichen Augen flüchtig den einen oder anderen, so bekreuzigte sich derjenige hastig und wandte sich ab. Um die Lippen des Fremden lagen harte, entsagungsvolle 27
Falten. Er wüßte, daß er nicht willkommen war, und so senkte er den Blick, weil ihm überall Abneigung, Feindseligkeit, ja sogar offener Haß entgegenschlugen. Nein, er wollte wieder weg von diesem Schiff, das ins Verderben fuhr, er wollte weg von diesen Männern, die ihn mißmutig und feindselig begegneten. Der Blick seiner Augen wurde trübe und verschwamm. Er breitete die Arme aus und starrte zum fernen Horizont. Seine Fähigkeit, weit darüber hinauszusehen, hatte ihn verhaßt gemacht. Ja, er beherrschte die Nauskopie, er konnte um die ganze Welt blicken, er sah die Schiffe schon Tage und Wochen vorher; die ihren Weg kreuzen würden. Und gleich darauf versank er wieder in dumpfer, brütender Starre. Sein Geist ging auf Reisen ... »Am Vormittag des achten September«, las der Seewolf leise vor, »treibendes Floß mit Schiffbrüchigem gesichtet. Die See ist ruhig. Wir nahmen den Schiffbrüchigen an Bord. Ein unheimlicher alter Mann, der nicht spricht. Die Besatzung geht ihm scheu aus dem Weg. 9. September. Dieser Fremde bringt Unglück über das Schiff. Die Leute murren. Heute stürzte Padre Albareza de Aragon vom Achterkastell und brach sich das Genick. Seine Leiche wurde der See übergeben. 10. September. Flaute bis zum Abend. Die Mannschaft ist unruhig. Sie macht den Fremden für den Tod Albarezas verantwortlich. Er steht nur an Deck herum, spricht nicht. Er sieht aus, als wäre er tot. 11. September. Zwei Männer schwer erkrankt, ein dritter ist spurlos verschwunden. Vier Stunden Kreuzfahrt. Vergeblich. Ich glaube, dieser Mann bringt wirklich Unheil über uns. Wir werden ihn bei nächster Gelegenheit aussetzen. 12. September. An Bord grassiert die Angst. Die rätselhafte Krankheit breitet sich weiter aus. Wir sind machtlos. Eine Leiche wurde der See übergeben.« 28
Daniel O’Flynn war bleich geworden. Verstört sah er den Seewolf an. Auch in Hasards Augen war ein eigentümliches Leuchten, als sein Blick schnell auf den Jonas fiel. Schon jetzt spürte er diese eigenartige Stimmung an Bord. Als würde die ›Isabella‹ geradewegs in die Hölle segeln. Ganz unmerklich auch hatte sich der Himmel verändert. Das strahlende Blau war einem bleigrauen Glanz gewichen. Tief an der Kimm standen ein paar niedrige dunkle Wolkenbänke. Selbst auf der ›Isabella‹ schien die Farbe Grau vorherrschend zu sein. Hasard empfand die Segel als grau, die Masten, das Deck und selbst die Gesichter seiner Männer hatten einen stumpfen grauen Ton. »Blödsinn«, sagte er laut und vernehmlich, so daß Dan neben ihm zusammenzuckte. Er las weiter, halblaut, damit die anderen es nicht hörten. Das würde ihre augenblickliche Stimmung nur noch mehr anheizen. »13. September. Wir müssen den nächsten Hafen anlaufen. Der größte Teil der Besatzung ist schwer erkrankt. Zwei weitere Männer sind gestorben. Diesen Fremden berührt das alles nicht. Er scheint über uns heimlich zu lachen. Hat er die Krankheit eingeschleppt? Wir wissen nicht mehr weiter. Er muß von Bord, ich denke, wir werfen ihn am besten ins Wasser. Ein schwerer Sturm kommt auf. Ich muß umkehren und versuchen, die Caicos anzulaufen.« Damit endeten die Aufzeichnungen des Captains Domingo Romero. »Alles andere wissen wir selbst«, sagte Hasard dumpf. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wolle er die Gestalt des Jonas damit gleichzeitig wegwischen. »Ja, sie sind umgekehrt, und der Sturm hat sie auf die Klippen geworfen«, sagte Dan. »Und an dieser verfluchten Krankheit ist der größte Teil der Crew gestorben. Wir sollten diesen Kerl wirklich so schnell wie möglich aussetzen. Ferris könnte ein 29
Floß zimmern, oder wir laufen die nächste Insel an. Ich wäre froh, wenn wir ihn bald wieder loswerden.« »Noch ist es nicht so weit, Dan.« »An einem Dreizehnten passierte es«, sagte Dan. »Ist dir das nicht auch aufgefallen?« Hasard wandte sich Dan brüsk zu. »Hör jetzt auf zu unken. Geh nach vorn und hol den Kutscher. Er soll sich den Mann einmal ansehen.« Hasard schritt unruhig auf dem Achterkastell auf und ab. Er gönnte Pete Ballie, der ihn aus neugierigen Augen ansah, keinen Blick. Natürlich waren das alles Hirngespinste, Aberglauben, Wahnsinn und Wasser auf die Mühlen der Spökenkieker, überlegte er. Und daß alles ausgerechnet an einem Dreizehnten passiert war, schürte die Stimmung nur noch mehr. Die meisten Seeleute konnten nicht über ihren eigenen Schatten springen, sie waren mit dem Aberglauben fest verwurzelt, und die, die schon bekehrt waren, fielen nur zu leicht und zu gern wieder in ihre Wahnvorstellungen zurück. Seine Gedanken wurden unterbrochen, als der Kutscher erschien. In einem weiten Bogen umschlich er den Jonas, sah ihn immer wieder an und wäre fast über ein Tauende an Deck gestolpert. Im allerletzten Augenblick hielt er sich an der Nagelbank fest und fluchte verhalten. Hasard sprach so knapp wie möglich. »Du warst lange genug bei Sir Freemont, Kutscher, daß du an solchen Quatsch mit dem Jonas nicht mehr glaubst. Sieh dir den Mann einmal aus der Nähe an. Ich will wissen, ob er krank ist. Befühle ihn, sprich mit ihm, er wird dich sicher nicht fressen.« Der Kutscher stand wie festgenagelt vor dem Seewolf. »Der Kerl scheint gesund zu sein«, meinte er. »Ach! Und das ist deine Meinung, was?« Hasard wurde regelrecht grantig, und gleichzeitig schwoll seine Stimme an. 30
»Das hast du einfach so aus der Ferne gesehen, wie? Los, beeil dich gefälligst!« Der Kutscher zog ein Gesicht wie ein getretener Hund. Mit hängendem Kopf ging er auf den Jonas zu, stieß ihn mit dem Zeigefinger an und zuckte sofort zurück, als er die seltsam toten Augen sah. Es kostete ihn eine ungeheure Überwindung, sich den Alten aus der Nähe zu betrachten. Er und der Jonas standen jetzt ganz allein auf dieser Seite am Schanzkleid. Alle anderen befanden sich drüben, und jeder war mit irgend etwas beschäftigt. Tucker und Will Thorne spleißten ein Auge in ein Tauende, die anderen hielten so weit Abstand, als befände sich an jeder Stelle eine riesige Pestbeule. »He, du!« fuhr der Kutscher den Jonas an. »Sieh mich an! Fehlt dir etwas? Hast du Beschwerden?« So leicht war der Kutscher, der immerhin bessere Manieren hatte als die anderen, nicht aus der Ruhe zu bringen. Er war aufgeschlossen und kannte sich in der Medizin gut aus, und er sah auch nicht, daß dem Jonas rein äußerlich etwas fehlte. Aber seine Scheu vor dem Mann wurde immer größer. Er wurde das Gefühl nicht los, als stünde er dem Leibhaftigen in einer anderen Gestalt gegenüber. Als der Jonas die Arme hob und sich sein Blick dem Kutscher zukehrte, sagte er ein paar Worte, die allen ein kaltes Grauen über den Rücken jagte. »Ich wußte, daß ihr kommen würdet«, tönte es krächzend und hohl aus seinem Mund. »Schon vor Tagen habe ich euch gesehen, aber da wart ihr noch weit hinter dem Horizont!« Den Kutscher überlief es fröstelnd. Eine Antwort auf seine Frage hatte er nicht erhalten, und so war für ihn der Fall erledigt. Er war froh, aus der Nähe des Unheimlichen verschwinden zu können. Außerdem sah der Kerl nicht krank aus, nur ausgezehrt war er, halb verhungert, sonst schien ihm wirklich nichts zu fehlen. 31
Er war froh, den Mann wieder verlassen zu können. Eilig begab er sich aufs Achterkastell, wo Hasard stand. »Ich wette, er ist ein Seher«, sagte der Kutscher. »Ich bin nicht so abergläubisch wie die anderen oder wie der alte O’Flynn zum Beispiel. Aber an diesem Kerl ist etwas dran, Sir, der kann hinter den Horizont blicken, wie er eben selbst sagte.« Hasard hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Aus schmalen Augen musterte er den Kutscher, dem es immer unbehaglicher zumute wurde. »Soso, er kann also hinter den Horizont sehen! Und du glaubst diesen Unsinn jetzt natürlich auch?« »Ja, ich glaube ihn. Dieser Mann ist kein gewöhnlicher Sterblicher, er ist anders. Vielleicht sogar ein Heiliger.« »Ein Heiliger, ein Verrückter, ein Seher«, murmelte der Seewolf leise. »Wenn man euch Burschen bloß diesen Unsinn austreiben könnte. Er ist nichts weiter als ein abgewrackter, alter Mann, der in eine Verkettung unglücklicher Umstände geraten ist.« »Wenn du das so siehst, Sir, dann will ich natürlich nicht widersprechen«, sagte der Kutscher würdevoll. Steif und ungelenk, als hätte er einen über den Durst getrunken, stelzte er zum Vordeck zurück. Hasard sah, wie er in einem weiten Bogen dem Jonas auswich. »Bring ihm eine Muck voll Brühe an Deck, Kutscher!« rief Hasard. »Er hat bestimmt Hunger.« »Aye, aye, Sir!« »Tut der nun so beleidigt, oder ist er es wirklich?« fragte Ben den verblüfften Seewolf. »Vielleicht ist er wirklich beleidigt, weil ich ihm sein Ammenmärchen auszureden versuchte.« Hinter sich donnerte der Kutscher das Schott der Kombüse zu, daß die Erschütterung bis in die Kuhl zu spüren war. Ferris Tucker tippte sich bezeichnend an die Stirn. 32
»Jetzt fängt wieder alles an zu spinnen«, sagte er zu dem Segelmacher Will Thorne. »Was - was glotzt der Bursche uns denn so an?« fragte er gleich darauf, als er den Blick des Jonas sah, der sich auf die abgezwackten Taureste konzentrierte, die an Deck lagen und vom Spleißen übriggeblieben waren. Will Thorne murmelte etwas, was der Schiffszimmermann nicht verstand. Auffallend schnell verdrückte er sich, als Jonas ein paar unbeholfen wirkende Schritte in ihre Richtung tat. Tucker sah den Alten ganz langsam auf sich zugehen. Als er in dessen Augen sah, hatte er das Gefühl, als wären seine Beine und sein ganzer Körper gelähmt. Er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Ratlos sah er dem unheimlichen Passagier entgegen. So ähnlich muß der Tod auf einen zurücken, dachte Ferris gelähmt. Vor dem gab es auch kein Entrinnen, dem konnte man nicht mehr ausweichen. Aber der Jonas hatte jetzt die Blickrichtung gewechselt. Seine Augen fixierten gebannt die Überbleibsel der Taue. Seine dürren Finger reckten sich vor, die ausgemergelte Gestalt sank langsam in die Knie. In diesem Augenblick erschien der Kutscher mit der Muck dampfender Brühe an Deck. Auf die Muck hatte er eine Scheibe Brot gelegt, und damit ging er jetzt auf den Jonas zu. Dicht vor ihm setzte er die Muck auf die Schiffsplanken und schob sie noch etwas näher heran. »Trink das!« forderte er den Alten auf. »Wenn du das verdrückt hast, bringe ich dir eine Schüssel voll Bohnen!« Während die Seewölfe stumm zuschauten, starrte der Alte mit verständnislosen Blicken die Tasse an, in der die heiße Brühe dampfte. Dann schüttelte er den Kopf, daß seine weißen Haare nach allen Richtungen flogen. Seine Krallenhand streckte sich weiter vor und nahm ein paar Tauüberreste auf. »He, trink die Brühe!« fuhr der Kutscher den Alten an. »Du 33
kannst ja kaum noch auf den Beinen stehen, Mann!« Der Jonas lächelte geistesabwesend, so daß sie seine gelblichbraunen Zahnstummel sehen konnten. Ein eigenartiges heiseres Glucksen drang aus seinem Mund, die ausgemergelte Gestalt schüttelte sich. Er pflückte die Taureste auseinander, bis er lange dünne Fäden in der Hand hielt. Sehr sorgfältig breitete er sie auf den Planken aus. Die Seewölfe, die sich von ihrem ersten Schreck langsam erholt hatten, rückten neugierig näher heran. Tucker wiegte seinen rothaarigen Schädel. Eine Hand in die Hüfte gestemmt, sah er dem Alten bei seiner merkwürdigen Tätigkeit zu. »Möchte wissen, was das werden soll. Ob er uns etwas mitteilen will?« Die Frage war an Carberry gerichtet, aber der Profos hob nur unschlüssig die breiten Schultern. Antwort gab er nicht. Wieder kicherte der Jonas. Es war ein Geräusch, das nicht von dieser Welt zu stammen schien. Unwirklich, wie aus einer Gruft hörte sich das Kichern an. Der Alte legte die Fäden, zusammen, richtete sie aus, fügte hier ein paar hinzu, veränderte andere. »Das sieht aus wie eine Karavelle«, durchbrach Tuckers Stimme die unheilvolle Stille an Bord. »Zwei Masten, die Segel, klar, das ist eine Karavelle. Aber was soll das?« Jetzt richtete der Alte sich auf, betrachtete noch einmal sein Werk und schritt wieder zum Schanzkleid hinüber. Sein dürrer, ausgestreckter Finger wies zum Horizont, der grau und verhangen war. »Ein Schiff!« sagte er heiser und in schwer verständlichem Englisch. »Karavelle. Da!« »Wo, verdammt, soll da eine Karavelle sein?« fragte Tucker. »Ich sehe weit und breit keine.« Er hob den Kopf und sah zum Großmars mit den prall 34
geblähten Segeln hinauf. »Dan!« rief er hinauf, wo O’Flynn in luftiger Höhe hockte und Ausguck hielt. »Siehst du ein Schiff am Horizont?« Eigentlich war diese Frage überflüssig, fand Ferris, denn wenn Dan im Großmars hockte, dann meldete er die Mastspitzen meist schon, bevor sie an der Kimm auftauchten. Mit seinen scharfen Adleraugen wäre ihm kein einziges Schiff entgangen. Und prompt erfolgte auch die Antwort aus luftiger Höhe. »Nichts zu sehen, oder glaubst du rothaariger Decksaffe vielleicht, ich hätte das nicht längst gemeldet?« Ferris Tucker schluckte seinen Ärger kommentarlos hinunter und wandte sich an die anderen, die den Jonas in gebührender Entfernung umstanden. »Nichts ist mit einer Karavelle«, murrte er. »Der Kerl sieht wirklich nur Gespenster, der macht uns alle noch verrückt!« Carberry tippte sich an die Stirn. »Ich sagte doch, der Kerl ist ein Spinner. Ein Verrückter, weiter nichts.« »Morgen«, stammelte dann der Jonas mit weitaufgerissenen Augen. »Morgen, Karavelle hier so!« Während sein einer Arm die Segelrichtung der ›Isabella‹ andeutete, zeigte der andere den Kurs der imaginären Karavelle an. Demnach segelten sie von der Steuerbordseite auf die Galeone zu. Hasard hatte ebenfalls den Worten gelauscht. Unbeachtet von den anderen war er auf dem Hauptdeck erschienen, in der rechten Hand das Spektiv, das er jetzt ins Hemd schob. Ohne ein Wort zu verlieren, enterte er die Wanten zum Großmast auf. Als er nach allen Seiten einen freien Blick hatte, zog er das Spektiv auseinander und blickte lange hindurch. Keine Mastspitze war zu sehen. Weit und breit gab es zur Zeit kein anderes Schiff in ihrer Nähe. Die Seewölfe warteten auf seine Antwort, als er wieder an 35
Deck stand. Hasard schüttelte nur den Kopf. »Auch mit dem Spektiv nichts zu sehen?« fragte Smoky. »Nicht das geringste. Laßt den alten Mann jetzt seine Brühe trinken, damit er zu Kräften kommt.« Die Scheu, die alle vor dem Jonas empfanden, hatte sich zwar immer noch nicht gelegt, aber sobald er den Blick senkte, sah er nicht mehr so unheimlich aus wie sonst, und so reichte ihm der Kutscher noch einmal die Muck mit der heißen Brühe und der Scheibe Brot darauf. Und diesmal trank der Jonas. Er nahm kleine Schlucke, dazwischen lächelte er sein entsagungsvolles kleines und scheues Lächeln, wie um sich zu entschuldigen, daß er sich hier an Bord befand. »Na ja«, Ferris Tucker brach endlich das Schweigen, »vielleicht sieht er bloß Gespenster. Das kam ja bei uns auch schon vor.« Kaum hatte der Jonas die Muck abgesetzt, verklärten sich schon wieder seine Augen. Er murmelte Wortfetzen vor sich hin, die niemand begriff, und stürzte erneut ans Schanzkleid. Aufgeregt deuteten seine Arme nach Steuerbord. »Schiff«, murmelte er dumpf. »Ein Schiff kommt, Karavelle. Kein Mensch ist an Bord. Schiff segelt allein.« Hasard stieß ihn leicht an der Schulter an. »Wie heißt denn das Schiff?« fragte er freundlich. »Ist es ein Spanier oder ein Engländer?« Ein paar Männer grinsten verstohlen. Natürlich war alles Humbug, was der Alte da von sich gab, denn wie wollte er ein Schiff sehen, das sich noch weit hinter dem Horizont befand? »›Foca‹ heißt es«, stieß der Jonas hervor. »Ein kleines, spanisches Schiff, niemand an Bord!« »Foca heißt Seehund«, sagte Hasard. Dann zuckte er ebenfalls mit den Schultern und ging wieder aufs Achterkastell. Natürlich glaubte niemand an diese Spinnerei des Alten, der 36
auch die Bohnensuppe verschmähte, die der Kutscher ihm brachte. Auch von dem Brot hatte er nichts gegessen. Carberry kratzte sich über seinen zwei Tage alten Bart. Es hörte sich an, als würde die Außenhaut des Schiffes abgeschmirgelt. »Wenn morgen eine Karavelle von Steuerbord unseren Kurs kreuzt«, sagte er grinsend, »und wenn diese Karavelle auch noch ›Foca‹ heißt, und wenn auf dieser verdammten Karavelle kein Mensch an Bord ist, dann ...« Der Profos überlegte angestrengt. »Was dann?« fragte Smoky. »Dann kriegst du dicke Augen, was? Oder ziehst dir selbst die Haut in Streifen von deinem Affenarsch, he?« Die anderen lachten im Chor. »Dann«, sagte der Profos grimmig und schob sein Rammkinn vor, »laß ich mir von Blacky drei Hiebe mit der Neunschwänzigen überziehen, denn das gibt es gar nicht. Solche Zufälle sind ausgeschlossen.« »Keine Angst«, sagte Blacky lachend, »das wird nicht geschehen, obwohl ich dir ganz gern mal eins überziehen würde.« Der Profos grinste, die anderen grinsten, nur der Jonas blieb ernst und verschlossen. Er verstand nicht, warum die Männer zweifelten, und er verstand erst recht nicht, weshalb sie die verlassene Karavelle nicht sahen. Er selbst konnte ganz deutlich den Namen am Bug lesen, und er sah auch, daß sich niemand an Bord befand. Und das Schiff segelte genau von Steuerbord auf sie zu. Ein paar Stunden später kam starker Wind auf. Die ›Isabella‹ knarrte und ächzte in allen Verbänden, als das Meer sie hochhob und wieder tief eintauchte. Blaugraue Wogen rollten heran, gischteten über Deck, donnerten bis in die Kuhl hinein, hämmerten kraftvoll an den Bug. Ben Brighton ließ Strecktaue spannen, denn der Weg von 37
vorn nach achtern wurde gefährlich und riskant. Nur der Jonas war durch nichts dazu zu bewegen, seinen Platz auf dem Deck zu verlassen. Seine Haare flatterten wild im Wind, sein ausgemergelter Körper hob und senkte sich im Rhythmus des rollenden Schiffes. Er hörte nicht den Sturm, der durch die Wanten und Pardunen pfiff, er spürte nicht die gischtenden Salzseen, die das Schiff überschütteten und ihn durchnäßten. Wie ein Geist aus einer anderen Welt klammerte er sich am Schanzkleid fest. Kein Brecher holte ihn von den Beinen, und wer es nicht anders wußte, der hätte angenommen, der Jonas wäre am Schanzkleid festgenagelt worden. Er stand da wie ein düsteres Mahnmal bis in alle Ewigkeit. Selbst in der Nacht verließ er seinen Platz nicht.
4. Am anderen Morgen hatte sich der Sturm gelegt. Eine leichte Brise schob die ›Isabella‹ vor sich her. Die Männer, die nachts Deckwache hatten und das Schiff steuerten, hatten nicht bemerkt, daß der Jonas auch nur eine Minute lang seinen sonderbaren Platz verlassen hatte. Auch jetzt, als sich die Sonne immer höher über die Kimm schob, stand er immer noch am Schanzkleid, die Augen geschlossen, die Hände um den oberen Abschluß des Schanzkleides verkrallt. »Der hat im Stehen geschlafen«, behauptete Dan ernsthaft, als Batuti scheu auf den Jonas deutete. »Batuti kann nicht glauben«, sagte der Gambianeger kopfschüttelnd. »Dann laß es bleiben«, murrte Dan. »Jedenfalls hat er sich nicht von der Stelle gerührt. Folglich muß er im Stehen geschlafen haben, oder nicht!« 38
Batuti sah das zwar ein, aber der Jonas wurde ihm dadurch nur noch unheimlicher. »Batuti nicht wissen. Batuti haben Angst vor Todmann. Werden froh sein, wenn altes Jonas wieder fort.« »Da bist du nicht der einzige, der froh ist. Ich löse Stenmark jetzt ab, den hat es heute nacht ganz schön durchgeschüttelt.« Als er aufenterte, kam Stenmark, der blonde Schwede, herunter. Auch er warf einen kopfschüttelnden Blick auf den Jonas, ehe er sich nach unten begeben wollte. »Jonas nicht schlafen heute nacht?« fragte Batuti. »Keine Minute«, versicherte Stenmark. »Der Kerl stand da wie festgenagelt. Entweder schläft er im Stehen oder überhaupt nicht. Übrigens braucht ein Heiliger keinen Schlaf, kapiert?« Batuti schluckte, seine Augen rollten wild hin und her. »Jonas Geist von anderes Mann«, verkündete er dumpf. »Vielleicht Geist von ertrunkenes Mann.« »Scheint mir auch so«, murmelte der Schwede. Dann ging er nach vorn, um sich ein paar Stunden in die Koje zu hauen. Der Tageslauf begann ganz normal. Der Kutscher hatte zwei riesige Portionen Eier mit Speck gebraten. Dazu gab es heißes Wasser mit einem Schuß Rum. Der Kutscher hielt auch dem Jonas einen Teller hin, doch der war jetzt hellwach und schüttelte stumm den Kopf. »Du mußt was essen, Jonas«, brummte der Kutscher. »Von einer Tasse Brühe kann man nicht zwei Tage lang leben. Hier nimm!« Der Alte zuckte zusammen, als er den Ausdruck Jonas hörte. Ein Zittern durchlief seine Gestalt, abwehrend streckte er die mageren Hände aus. Dann wandte er sich um und starrte wieder zum Horizont. In diesem Augenblick ertönte Dans Gebrüll von oben. »Deck! Mastspitzen Steuerbord voraus!« Die Männer, die sich teilweise auf dem Vordeck und in der Kuhl zum Essen versammelt hatten, blickten hoch. Pete Ballie 39
blieb der Bissen im Hals stecken, Batuti verschluckte sich fast, Gary Andrews begann leise zu fluchen, und der Profos sprang mit einem Satz hoch. Der Seewolf blickte aus zusammengekniffenen Augen zum Horizont. Wenn man scharf hinsah, konnte man zwischen den sich auf dem Wasser spiegelnden Sonnenstrahlen schwach zwei dünne Masten erkennen. Durch das Spektiv war allerdings zu sehen, daß es sich bei dem Schiff um eine Karavelle handelte, die früher oder später den Kurs der ›Isabella‹ kreuzen würde. Plötzlich schmeckte keinem das Essen mehr. Sam Roskill wischte sich seine Hände an der Hose ab, trat dann ans Schanzkleid und warf gleichzeitig einen etwas ängstlichen Blick auf den Jonas, auf dessen Gesicht ein stilles Leuchten lag. Batuti rollte wild mit den Augen. Der einzige, der jetzt ganz offen grinste, war Blacky. Er sah den Profos an und rieb sich die Hände. Sein Grinsen nahm etwas von der Spannung, die auch Hasard erfaßt hatte. »Dann laß mal schon die Hosen runter, Ed«, sagte Blacky, immer noch hinterhältig grinsend. »Ich hole inzwischen die Neunschwänzige.« Carberry traten die Augen aus den Höhlen. »Mach keinen Mist, Blacky«, hauchte er leise. »Nicht, daß ihr denkt, ich fürchte mich vor den drei Schlägen, ich habe nur Angst, daß es wirklich stimmt.« Hasard sah den Profos spöttisch an. Seine Mundwinkel verzogen sich leicht nach unten. »Wir sichten fast jeden Tag eine Karavelle, Ed. Das bleibt gar nicht aus, in der Karibik wimmelt es von Schiffen aller Art. Aber da sind noch zwei Fakten offen, die ganz bestimmt nicht zutreffen werden. Erinnerst du dich?« »Klar«, sagte Carberry erleichtert. »Wir wissen den Namen 40
noch nicht, außerdem darf die Karavelle keine Besatzung haben. Aber so wie es aussieht ...« Er brach ab, als er die Gesichter der anderen sah. Mittlerweise war der Zweimaster nähergerückt. Einwandfrei ließ sich die Lateinertakelung erkennen, und die Seewölfe, die ihr Handwerk im Schlaf verstanden, sahen auch gleich noch etwas anderes. Die Karavelle segelte ungewöhnlich hoch am Wind. So hoch, daß sie ständig in den Wind zu schießen drohte. Hasard wartete noch eine Weile, ehe er sehr langsam das Spektiv ans Auge hob und hindurchblickte. Auf seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen. Nur die Narbe, die von der Stirn zur linken Wange hinunterlief, nahm sich etwas dunkler aus als sonst. »Kannst du den Namen lesen, Hasard?« fragte Carberry heiser. Betont gleichgültig schob der Seewolf das Spektiv wieder zusammen. Immer noch las keiner eine Reaktion in seinem Gesicht, Er lächelte nur flüchtig, und dieses Lächeln erlosch schon, bevor es die Augen erreichte. »Das Schiff heißt ›Foca‹«, sagte er gleichmütig und drehte sich um. Carberry zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Blacky, der vorher noch so hinterhältig gegrinst hatte, wurde klein und häßlich. Ihnen allen lief es kalt über den Rücken, und diesmal wurde die Scheu vor dem Jonas größer, sie verwandelte sich in offene Angst. Hasard blieb stehen und sagte über die Schulter: »Und ich wette, daß die Kerle an Bord allesamt schlafen, oder habt ihr schon mal gesehen, daß eine Karavelle auf diese Art gesegelt wird? Höchstens von einem Anfänger!« Niemand sprach. Sogar aus dem Großmars erfolgte kein Kommentar. Dan O’Flynn hatte es ebenfalls die Sprache 41
verschlagen. Sie alle starrten auf die Karavelle, die immer größer wurde und jetzt im fast rechten Winkel auf sie zusegelte. Genau wie es der Jonas gestern abend prophezeit hatte - von Steuerbord! Hasard hatte ein Gefühl im Magen, als kröchen Tausende von Ameisen darin herum. Sein ganzer Körper kribbelte, je mehr sich die Karavelle näherte. An Bord war kein Mann zu sehen, keine Menschenseele zeigte sich, und jeden Augenblick drohte das Schiff in den Wind zu schießen. Erst in ein paar hundert Yards Abstand lasen jetzt alle deutlich den Namen. ›Foca‹ stand am Bug. Eine spanische Karavelle. Der Jonas stand am Schanzkleid und lächelte selig. Die Blicke, die ihn trafen, sah er nicht, er ahnte nicht einmal was sie bedeuteten. Er hatte den Segler doch ganz deutlich gesehen, auch den Namen erkannt und gewußt, daß es keine Mannschaft an Bord gab, deshalb verstand er die ganze Aufregung nicht. An Deck blickte jeder jeden an, und jeder hatte auch das gleiche mulmige Gefühl, diese dunkle Ahnung, daß ihnen allen noch viel mehr bevorstand, und dies nur der Anfang einer ganzen unheilvollen Serie war, die sich von nun an fortsetzen würde, solange dieser unheimliche Kerl an Bord war. »Hart Backbord, Shane«, sagte der Seewolf zu seinem väterlichen Freund Big Old Shane, der für zwei Stunden das Ruder übernommen hatte. »Was hast du vor, Hasard? Willst du die Karavelle etwa einfangen?« »Ich möchte mir dieses Schiff ansehen, das angeblich keine Besatzung hat. Anfangs vermutete ich einen Trick der Spanier, aber jetzt haben wir ja mittlerweile alle gesehen, daß sich keine Menschenseele an Bord befindet. Wir werden versuchen, längsseits zu gehen.« »Ein verdammt riskantes Manöver«, warnte Shane, der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack. 42
»Kommt drauf an, wie man segelt«, erwiderte Hasard knapp. Gleich darauf ging die ›Isabella‹ ebenfalls hart an den Wind. Als Rahsegler war sie der Kravelle gegenüber im Nachteil, aber da auf der ›Foca‹ nur zwei verhältnismäßig kleine Lateinersegel gesetzt waren, segelten die Galeone schneller. Hasard sah durch das Spektiv, daß eins der Segel leicht im Wind schlug. Der Baum hatte zuviel Spiel, und sobald der Wind nur ein wenig drehte, schlug er hin und her. Ein Wunder, daß die Karavelle noch nicht im Wind stand. Ben Brighton war von dem Vorhaben unterrichtet. Er ließ die Segel der Leebrassen so weit anholen, daß sie im spitzen Winkel zur Längsachse des Schiffes standen. Dadurch konnte die ›Isabella‹ noch höher an den Wind gehen und so fast mühelos dem harten Kurs der Karavelle folgen. Big Old Shane luvte noch etwas an. Jetzt jagte die ›Isabella‹ hinter der Karavelle her, die nur wenig Vorsprung hatte. »Eigentlich brauchen wir nicht anzulegen und dabei zu riskieren das Schiff zu beschädigen«, sagte Hasard. »Es genügt, wenn drei Männer an Tauen hinüberschwingen und die Segel bergen. Wer will das übernehmen?« Das unheimliche Schiff jagte vor ihnen her, und es sah so aus, als würde es von unsichtbaren Mächten gesteuert. Ein Geisterschiff - verlassen, einsam seinen Kurs segelnd wie der Fliegende Holländer. Dem Jonas brannten die Augen. Er starrte verlangend auf die Karavelle, hob die Hände, als wolle er sie herbeiziehen. Der fiebrige Glanz in seinen Augen redete eine Sprache, die keiner verstand. Als die ›Isabella‹ parallel zu dem verlassenen Schiff lag, standen Luke Morgan, Sam Roskill, Jeff Bowie und Bob Grey an den Tauen bereit zum Hinüberschwingen. Sie alle hatten ein sonderbares Gefühl, als sie das Deck des herrenlosen Schiffes betrachteten. 43
Big Old Shane segelte noch dichter heran. Die Entfernung betrug jetzt nur noch knapp zehn Yards. Da stieß Luke Morgan sich aus den Wanten ab. Sam Roskill folgte, Bob Grey und Jeff Bowie warteten noch einen Augenblick, damit sie nicht zusammenstießen. Wie beim Entern schwangen sie blitzschnell hinüber und ließen sich drüben auf das Deck fallen. Bob Grey rannte sofort zum Kolderstock, um die Karavelle auf einen anderen Kurs zu bringen. * Luke Morgan blickte auf zwei tote Ratten, die auf dem Vordeck lagen. Das Schiff war sauber, als wäre es erst kürzlich geschrubbt worden. »He, Sam!« rief er Roskill zu. »Laß uns unten nachsehen, ob noch jemand am Leben ist.« Die beiden stiegen hinunter, sahen sich um, ständig in der Erwartung, irgendwo Tote zu finden. Sie ließen auch die Vorpiek nicht aus. »Kein Mensch an Bord«, sagte Morgan heiser. »Verstehst du das?« »Seit der Jonas bei uns an Bord ist, verstehe ich überhaupt nichts mehr«, antwortete Sam Roskill und ihm war verdammt unbehaglich zumute. Er wurde das Gefühl nicht los, daß jeden Moment Besatzungsmitglieder auftauchen würden. Er zuckte heftig zusammen, als über ihnen Schritte polterten. Aber dann fiel ihm ein, daß es ja nur die eigenen Kameraden sein konnten, die da über Deck marschierten. »Kein Mensch an Bord!« rief Jeff Bowie hinunter. »Und wie sieht es bei euch aus?« »Auch niemand«, sagte Luke Morgan, als sie wieder an Deck standen und sich ratlos nach allen Seiten umdrehten. »Was jetzt?« rief Morgan zu der ›Isabella‹ hinüber. »Sollen 44
wir den Kahn versenken?« »Laßt ihn weitersegeln!« schrie Hasard zurück. »Habt ihr auch in den Laderäumen nachgesehen?« »Leer, nur ein paar alte Fässer.« Hasard konnte mit der kleinen Karavelle nichts anfangen. Versenken wollte er sie nicht, vielleicht konnte sie ein anderer brauchen. Bob Grey und Jeff Bowie holten ein Segel ein, laschten den Kolderstock fest und schwangen sich an den Tauen wieder zur Galeone hinüber. Nacheinander sprangen sie an Deck. »Wasser, Lebensmittel, alles ist da«, berichtete Luke Morgan. »Entweder hat sich der Kahn irgendwo losgerissen, oder ...« »... an Bord ist eine Krankheit ausgebrochen«, unterbrach der Kutscher die Worte. »Aber dann hättet ihr zumindest einen Toten finden müssen.« Hasard konnte das Rätsel auch nicht lösen, es war auch nicht sonderlich wichtig für sie. Das unheimliche Geisterschiff sollte weiter seine Bahn ziehen, absaufen, kentern oder irgendwo aufgefunden werden. Ihm war es egal. »Etwas abfallen, Shane«, sagte Hasard. »Wir gehen auf unseren alten Kurz zurück.« Niemand hatte auf Jonas geachtet, der mit offenem Mund am Schanzkleid stand und mit brennenden Augen auf die Karavelle sah. Ganz plötzlich griffen seine mageren Hände zu, sein Rücken krümmte sich, er sprang mit einem einzigen Satz aus dem Stand heraus aufs Schanzkleid, stieß sich ab und segelte in einem hohen Bogen zu der ›Foca‹ hinüber. Er landete hart an Deck, stand aber gleich wieder auf den Beinen und ließ das Tau los, das zur ›Isabella‹ zurückschwang. »Ist der Bursche wahnsinnig geworden?« schrie Carberry. »Was will er auf dem unheimlichen Kasten?« »Komm zurück, Mann!« schrie Hasard. »Du kannst nicht allein auf dem Schiff fahren!« 45
Ein hohles Lachen antwortete ihnen. Hochaufgerichtet stand der Jonas an Deck, blickte zur ›Isabella‹ hinüber und schüttelte den Kopf, daß seine weiße Mähne wild im Wind flatterte. »Ich bleibe hier!« rief er heiser zurück. »Laßt mich hier an Bord bleiben. Ich kehre nicht zurück - noch nicht!« Das war die längste Rede, die sie je von ihm gehört hatten. Und die verständlichste noch dazu. Bevor jemand etwas entgegnen konnte, trieben die beiden Schiffe schon auseinander. Jonas deutete mit der Hand auf die Galeone, zeigte aufgeregt ins Wasser und vollführte mit beiden Armen eine hektische Bewegung. Dann rief er etwas herüber, lachte hohl und schüttelte sich. »Er meint, daß wir bald auf Grund laufen werden«, sagte Hasard. »So jedenfalls könnte man seine Handzeichen auslegen. Wir segeln wieder heran, Shane, es geht nicht, daß der Mann allein an Bord des Schiffes bleibt, er kann es gar nicht bedienen.« Murren wurde laut. Proteste erfolgten von Dan, dem alten O’Flynn und Luke Morgan. Sie alle waren froh, den Jonas so schnell von Bord zu haben. Es war ihnen wie ein Geschenk des Himmels erschienen, und nun wollte Hasard ihn wieder zurückholen lassen? Shane legte dem Seewölf die Hand auf den Arm. »Laß ihn, Hasard«, sagte er bedächtig. »Er ist ein freier Mann, und es war seine freie Entscheidung. Er paßt nicht zu uns, wir alle fühlen das, und der Jonas fühlt es auch. Das Land ist nicht mehr fern, er wird irgendwo ankommen, und verhungern kann er auch nicht.« Hasard hatte Gewissensbisse. Er fühlte so etwas wie Verantwortung für den Alten, und er machte sich insgeheim Vorwürfe. Abrupt drehte er sich um und sah die Männer an, die aus der Kuhl schweigend und fast feindselig zu ihm hochblickten. 46
»Wer ist dafür, daß wir den Alten wieder an Bord nehmen?« Keine Hand rührte sich, niemand sprach. Erst der alte O’Flynn brach das Schweigen, indem er mit seinen Krücken nachdrücklich auf die Decksplanken pochte. »Laß ihn segeln, Hasard, das ist im Sinne aller. Wer weiß, ob er nicht doch ein Unglücksbringer ist. Wir sollten heilfroh sein, daß er verschwunden ist.« »Jawohl, das wollten wir!« rief die ganze Meute im Chor. »Ihm wird schon nichts passieren.« Die Blicke folgten der Karavelle, die langsam kleiner wurde. Hochaufgerichtet stand der Jonas an Deck. Die Männer glaubten, sein hohles Gelächter zu hören, wie er davonsegelte. »Wie ein Geist auf einem Geisterschiff«, sagte jemand leise. Es war Gary Andrews, der dem Alten fröstelnd nachblickte. Hasard sagte nichts. Auch er blickte dem Jonas nach, mit einem bangen Gefühl im Herzen. Hätte er den Alten nicht doch lieber zurückhalten sollen? Zum erstenmal seit langer Zeit war er unschlüssig. Er dachte an den seltsamen Mann mit seinen Prophezeiungen, der jetzt allein und verlassen dahinsegelte. Irgendwie ging dem Seewolf sein Schicksal nahe. Was wußten sie schon von diesem merkwürdigen Alten, der nicht von dieser Welt zu sein schien? Gar nichts wußten sie über ihn, den Jonas, den Unglücksbringer. Nur daß er ein einsamer alter Mann war, auf den selbst der liebe Gott noch zornig herabblickte, wie Dan es gesagt hatte.
5. Die Karavelle war seit einer knappen Stunde aus ihrem Blickfeld verschwunden, als der Kutscher aus seiner Kombüse stürzte, sich wild nach allen Seiten umsah und dann drohend die Faust in Richtung Horizont schüttelte. Dabei ließ der sonst 47
zu zurückhaltende Mann ellenlange Flüche vom Stapel. »Das Wasser ist verfault!« brüllte er. »Es ist grün mit langen Fäden drin und stinkt wie die Pest! Nicht ein einziger Schluck ist mehr genießbar. Das hat uns dieser verdammt Jonas eingebrockt, er hat uns verflucht!« »Bist du sicher?« fragte Carberry. »Glaubst du vielleicht, ich habe keine Augen im Kopf, du Hammel? Sieh doch selbst nach!« Carberry schluckte den »Hammel« kommentarlos und marschierte mit hart vorgeschobenem Rammkinn in die Vorpiek, wo die Trinkwasserfässer festgezurrt waren. Aus einer davorstehenden Muck goß er einen Viertelliter ein und brachte ihn an Deck, um ihn bei Tageslicht besser betrachten zu können. »Pfui Teufel!« hörten sie ihn fluchen. »Das Zeug sieht wie Gift aus und stinkt zum Himmel!« In der Muck schwammen dünne grünliche Fäden. Kein Gedanke daran, von diesem Wasser auch nur zu kosten. Carberry krempelte sich schon der Magen um, wenn er diese Brühe nur ansah. Hasard war von der Nachricht nicht gerade begeistert. Seine Lippen bildeten einen dünnen Strich, die Wangenmuskeln traten scharf hervor, und er schüttelte den Kopf. »Das scheint fast unmöglich zu sein«, sagte er halblaut. »Vor ein paar Stunden war das Wasser noch einwandfrei in Ordnung.« »Der Jonas hat es verhext«, ereiferte sich Luke Morgan. »Es gibt Leute, die mit einem einzigen Blick Wasser vergiften können.« »Und es gibt Idioten, die das auch noch glauben«, fuhr Hasard Luke Morgan unwirsch an. »Quatsch, das hat eine andere Ursache. Laßt die Fässer an Deck bringen und werft sie über Bord. Jetzt gleich! Anschließend laufen wir eine der Caicos-Inseln an, um frisches Trinkwasser zu übernehmen. 48
Und noch etwas: Laßt den Jonas aus dem Spiel, der hat mit dem verfaulten Wasser nicht das geringste zu tun.« Zwar widersprach niemand, aber Hasard sah es an ihren Gesichtern, daß sie fast alle dem Jonas die Schuld gaben. Weshalb sonst sollte das Wasser praktisch von einer Stunde zur anderen verfaulen? Während die Männer die auf der spanischen Galeone gefundenen Fässer an Deck brachten und ins Meer warfen, ließ der Seewolf den Kurs ändern. Die ›Isabella‹ segelte jetzt über Backbordbug liegend einer der zahlreichen Caicos-Inseln entgegen. Ein Faß nach dem anderen klatschte in die See und blieb treibend zurück. Und das Getuschel über den Jonas und das verfaulte Wasser nahm kein Ende mehr. Blacky grinste jedesmal den Profos an, sobald er ihm über den Weg lief, bis Carberry die Angelegenheit endgültig leid war. »Hol jetzt endlich die verdammte Neunschwänzige!« schrie er Blacky an. »Und zieh mir drei Hiebe über! Dann werde ich mich wieder wie neugeboren fühlen.« »Das kann doch nicht dein Ernst sein«, murmelte Blacky. Aber da kannte er den Profos schlecht. »Versprochen ist versprochen«, sagte Carberry. »Und wenn ich die drei auf dem Kreuz habe, wird mir bestimmt besser. Das ist dann so, als wäre alles gar nicht geschehen, verstehst du!« Blacky verstand zwar nicht, aber er nickte doch. Also holte er die Neunschwänzige, zumal der Profos ihm ernsthaft androhte, wenn er ihm nicht die versprochenen drei Hiebe überzog, würde Blacky von ihm zehn erhalten. Das gab den Ausschlag. Der Profos stellte sich breitbeinig an den Mast und grinste. »Hoffentlich fängst du bald an«, sagte er grollend. 49
»Ich weiß nicht mehr, was ich dazu sagen soll«, meinte der Seewolf zu Ben Brighton. »Nicht nur der Kutscher spielt verrückt - jetzt fängt auch noch der Profos damit an. Der Jonas hat eine heillose Verwirrung unter ihnen gestiftet.« Ben Brighton zuckte mit den Schultern. Gelassen sah er vom Achterkastell dem Schauspiel zu. »Laß ihn doch, wenn er sich danach besser fühlt. Außerdem kannst du Carberry jederzeit beim Wort nehmen. Zum Glück hat er nicht versprochen, den Mast zu fressen, sonst stünden wir jetzt schlecht da.« »Blacky wird ihm nur symbolisch drei überziehen«, versicherte Hasard, aber Blacky dachte nicht im Traum daran. Er zog dem Profos drei kräftige Hiebe übers Kreuz, und sie alle sahen, wie Carberry danach erleichtert aufatmete, sich eine Pütz voll Seewasser über das Kreuz goß und in aller Seelenruhe sein Leinenhemd wieder anzog. Jetzt grinste er ausgesprochen erleichtert, was bei Hasard, Ben und Shane nur noch größeres Erstaunen hervorrief. Hasard beschloß, den Vorfall schweigend zu übergehen. Wenn die Kerle wollten, sollten sie ruhig spinnen. Jetzt, da der Jonas weg war, würden sie auch bald wieder normal werden. Die ›Isabella‹ segelte weiter auf ihrem Kurs, bis am Nachmittag Matt Davies aus dem Großmars Land meldete. »Na also, dann haben wir es ja erreicht«, sagte Hasard. Eine jener kleinen Inseln tauchte auf, von denen sie nicht einmal den Namen kannten, denn alle waren in den Karten nicht verzeichnet. Eine weitgeschwungene Bucht kam in Sicht, Palmen, langer weißer Strand, dahinter undurchdringlich scheinendes Dickicht. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Die Fässer wurden an Deck gebracht und auf Sauberkeit überprüft. Ein Segel nach dem anderen wurde aufgegeit, bis die ›Isabella‹ mit nur ganz schwacher Fahrt in die Bucht einlief. 50
Dieser Teil der Insel sah wie ein Paradies aus, und jeder der Männer freute sich nach der langen Reise vom Mittelmeer, wieder einmal festen Boden betreten zu können. Zwei Kabellängen von dem Strand entfernt betrug die Wassertiefe nur noch vier Faden. Der Anker klatschte in das blaue Wasser, und die Galeone lief noch ein paar Yards weiter, ehe sie von der Trosse gebremst wurde. »Hier gibt es ganz bestimmt Wasser«, versicherte Hasard. »Zehn Mann pullen mit an Land, der Rest bleibt an Bord. Wenn wir die Hälfte der Fässer voll haben, wechselt die Mannschaft.« »Ob die Insel unbewohnt ist?« fragte Ben. »Alles sieht so friedlich und unberührt aus.« Ja, es sah wirklich friedlich und unberührt aus, dieses Eiland mit seinen hohen Kokospalmen und den weiten Stranden, den leuchtenden Büschen und den großen Kasuarinen. »Das werden wir gleich feststellen.« Zwei Beiboote wurden abgefiert und ins Wasser gelassen. Vor dem ersten Boot tauchte sogleich eine riesige Schildkröte auf, aber als Matt Davies sie fangen wollte, tauchte sie geschickt weg und verschwand in der blaugrünen Tiefe. Ihre Schwimmbewegungen konnten die Männer noch eine ganze Weile verfolgen. Fässer wurden über das Schanzkleid gereicht und im Boot verstaut. Die erste Gruppe unter Edwin Carberry löste sich von der ›Isabella‹ und pullte dem Strand entgegen. Sie hatte ihn gerade erreicht - und die ersten stiegen aus , da ging es ganz überraschend los. Ein Hagel von Pfeilen überschüttete die verdutzen Seewölfe. Sie sirrten aus den undurchdringlich scheinenden Büschen heraus. Einer der Pfeile bohrte sich in Matt Davies rechten Unterarm. »Zum Glück schmerzen diese Prothesen wenigstens nicht«, sagte er verdattert und riß den Pfeil mit einem Ruck aus seinem 51
künstlichen Arm. Da folgte schon die nächste Ladung. Von Unsichtbaren abgefeuert, mitten aus den Büschen heraus, flitzten die gefiederten Pfeile ihnen entgegen. Der größte Teil von ihnen blieb im Boot stecken. »Schnell, über Bord!« schrie Carberry. »In dem Boot erwischen sie uns sonst. Geht hinter dem Kahn in Deckung.« Die Überraschung war vollkommen. Niemand hatte mit einem so plötzlichen Angriff gerechnet. In aller Eile sprangen sie über Bord ins hüfthohe Wasser und kauerten sich hinter das Holz des Bootes. »Verdammt!« fluchte der Profos. »Und ich dachte, hier gibt’s keine Wilden. Der Teufel soll sie holen!« Er drehte seinen massigen Schädel im Wasser und wollte Hasard etwas zurudern, der mit dem zweiten Boot kam. Aber der Seewolf hatte schon rechtzeitig bemerkt, was passiert war. Er ließ das Boot ein Stück zurückpullen, bis es außer der Reichweite der Pfeile war. »Zieht euch langsam zurück, Ed!« rief er Carberry zu. »Wir haben keine Waffen mitgenommen, außer zwei Pistolen. Zieht euch im Schutz des Bootes zurück, bis ihr in tiefem Wasser seid!« Obwohl das Wasser angenehm warm war und niemand gegen ein Bad etwas einzuwenden hatte, fluchten die Männer pausenlos. Es hätte nicht viel gefehlt und einige von ihnen wären erwischt worden. Der Gegner zeigte sich immer noch nicht. Er lauerte versteckt hinter dem Dickicht und wartete auf die nächste Gelegenheit zum Angriff. Sobald sich ein Kopf etwas höher aus dem Wasser hob, schoß ein Pfeil heran und zwang ihn wieder in Deckung. »Hölle und Teufel!« schrie Carberry. »Was mögen das nur für triefäugige Kakerlaken sein, die anständige, unbewaffnete Männer aus dem Hinterhalt überfallen. Wenn mir einer dieser 52
verlausten Bastarde über den Weg läuft, dann werde ich ihm seinen verdammten ...« Der Rest ging in einem Gurgeln unter. Der Profos zog den Kopf unter Wasser, und weil er unter Wasser weiterfluchte und seinen Spruch von den Affenärschen wieder abließ, wurde ihm die Luft knapp. Ganz dicht neben seinem Kopf zischte ein Pfeil ins Wasser, gleich darauf folgte ein zweiter. Von der ›Isabella‹ scholl ein Ruf herüber. Ferris Tucker lehnte am Schanzkleid und hatte die Hände trichterförmig vor den Mund gelegt. »Sollen wir den Halunken eins mit der Drehbasse überbraten, Hasard? Alle Kanonen sind geladen! Wir könnten prächtig über euch weg in die Büsche ballern!« »Nein, warte noch!« schrie Hasard zurück. »Vielleicht ist alles nuf ein Mißverständnis!« »Schönes Mißverständnis«, knurrte der Profos und spie einen Strahl Wasser aus. »Ich möchte wissen, was es da miß zu verstehen gibt. Diese Halunken werden schon merken, was es heißt, von einer Drehbasse befeuert zu werden.« Aber Hasard gab diesen Befehl nicht. Sie brauchten Trinkwasser, sie hatten keinen Tropfen mehr an Bord, und er wollte wenigstens den Versuch unternehmen, mit den Eingeborenen zu verhandeln. Vielleicht gab es eine Möglichkeit dazu. Wenn man natürlich gleich mit allen Rohren zurückschoß, war alles verdorben. Dann würde es nie zu einer Einigung kommen. Hinter den Büschen rührte sich immer noch nichts. Die Seewölfe wußten nicht einmal, wie ihre Feinde aussahen, ob sie braun oder rot, groß oder klein waren, und das stimmte sie nervös. Aber jetzt befanden sie sich wenigstens aus der Reichweite ihrer heimtückischen Pfeile. Noch einmal schoß ein Hagel heran, dann trat ein dunkelhäutiger, großer schlanker Mann aus den Büschen hervor. In der Hand hielt er einen großen Bogen. Bekleidet war 53
er mit einer knielangen bunten Hose. Auf dem Kopf trug er lange schwarze Haare, die von einem bunten Band zusammengehalten wurden. Er rührte sich nicht, er blickte nur die beiden Boote an, legte dann einen Pfeil auf die Sehne des Bogens und ließ ihn losschnellen. Eine gewaltige Schußkraft lag dahinter. Der gefiederte Pfeil erreichte mühelos das Boot und blieb in den Planken zitternd stecken. Er hob die andere Hand, ballte sie zur Faust und drohte stumm herüber. »Scheint ganz schön geladen zu sein, der Kerl«, meinte Luke Morgan. »Dabei haben wir ihm gar nichts getan.« »Seit wir den Jonas an Bord hatten, geht doch bei uns alles schief«, bemerkte Jeff Bowie, »oder ist euch das noch nicht aufgefallen?« Hasard sann nach einem Ausweg. Leise beriet er sich mit Ben Brighton. Inzwischen hatten sich die Männer wieder an Bord der Boote gezogen und pullten in Richtung der ankernden ›Isabella‹. »Steigt in das andere Boot um«, sagte Hasard. »Ich werde allein an den Strand rudern, unbewaffnet. Sie werden nicht auf einen einzelnen Mann schießen, wenn sie sehen, daß sich die anderen still und ruhig im Hintergrund halten.« »Ich rate dir davon ab, Hasard«, sagte Ben. »Diese Wilden sind unberechenbar, sie haben uns deutlich zu verstehen gegeben, daß wir unerwünscht sind, und sie werden sich nicht scheuen, auch einen einzelnen Mann umzulegen, nur um ihre Kraft und Entschlossenheit zu demonstrieren.« »Ich glaube es nicht. Sie werden wissen, daß wir sie mit den Kanonen jederzeit in Grund und Boden schießen können, und daher ist es nur logisch, daß sie einem Mann nichts tun werden. Sie müssen dann mit einem Rachefeldzug rechnen.« Hasard überhörte alle weiteren Einwände. Er hatte es sich nun 54
einmal in den Kopf gesetzt, mit diesen Eingeborenen zu sprechen, und davon hielt ihn nichts ab. Widerwillig stiegen die Seewölfe in das andere Boot, und sahen Hasard mit gemischten Gefühlen nach, als er ruhig an den Strand ruderte und dem einzelnen Eingeborenen dabei seinen breiten Rücken zuwandte. Der hatte schon wieder den nächsten Pfeil auf der Sehne und blieb wie ein Denkmal stehen. Nur seine Fäuste waren um den Bogen verkrampft. Langsam zog er die Sehne zurück. »Bei Gott, das schwöre ich«, sagte Ben zähneknirschend und hob die Pistole etwas an. »Sowie der den Bogen noch weiter spannt, schieße ich ihm ein Loch in seinen verdammten Schädel!« »Und ich reiße den anderen die Affenärsche bis zum Kragen auf«, versicherte der Profos grimmig. Hasard ruderte weiter. Noch immer hatte sich keiner der anderen Eingeborenen gezeigt. Sie lauerten alle in den Büschen. Nur ihr Anführer war zu sehen, der sich nicht bewegte und mit starrem Gesicht dem Mann entgegensah, der mit kräftigen, energischen Schlägen auf den Strand zupullte. Hasard erwartete jeden Augenblick, daß ihn ein Pfeil traf. Trotz seiner angenommenen Überlegungen war er doch längst nicht davon überzeugt, daß der Eingeborene sich friedlich verhielt. Er hatte sich schon zu oft in Menschen geirrt, obwohl er sie zur Genüge kannte. Das Boot lief knirschend auf Sand. Sehr ruhig stand der Seewolf auf, dann hob er eins der leeren Fässer aus dem Boot und zeigte es dem Eingeborenen. Erst jetzt sah Hasard die große schwere Kette aus Haifischzähnen, die der Eingeborene um seinen Hals trug. Er schien ein tapferer Krieger zu sein, denn offensichtlich hatte er die Haie selbst erlegt, deren messerscharfe Zähne jetzt seinen Hals schmückten. Hasard sah aber noch etwas anderes: den gespannten Bogen 55
nämlich, den der Mann auf ihn gerichtet hielt. Die Spitze des Pfeils zeigte direkt auf sein Herz. Der Krieger ähnelte einem Neger, nur war er etwas hellhäutiger. Seine Augen drohten nachtschwarz herüber, und sein schmaler Mund verzog sich zu einer verächtlichen Grimasse. Hasard riskierte den nächsten Schritt. Dabei lächelte er leicht und sorglos, als wolle er einen guten Freund begrüßen. Er legte das Faß in den Sand, zeigte dann seine Hände mit den Handflächen nach oben und trat noch näher. Dabei vollführte er mit der rechten Hand die Gebärde des Trinkens, als hätte er Durst Die nachtschwarzen Augen des Mannes unterzogen Hasard einer schnellen Musterung, der Blick wanderte weiter zu den Männern in dem Boot und blieb schließlich kurz an der ›Isabella‹ haften, ehe er wieder den Seewolf traf. Jetzt geht ihm das alles durch den Schädel, was ich mir vor einer ganzen Weile überlegt habe, dachte Hasard. Er wartete ab. Der Krieger mit der Bronzehaut glitt zwei Schritte näher heran, dann, ganz plötzlich, schnellte der linke Arm zurück. Der Pfeil zischte von der Sehne und blieb haarscharf vor Hasard Stiefeln im Sand stecken. Dazu spie der Mann verächtlich in Hasards Richtung. »Don!« zischte er böse und rollte die Augen. Wieder spuckte er in Hasards Richtung und rief ein paar Worte in die Büsche. Um Hasard herum wurde es schlagartig lebendig. Wie eine Mauer schoben sich die Eingeborenen aus den Büschen und umringten ihn. Er befand sich inmitten eines Kreises aus Leibern. Speerspitzen und Pfeile zeigten von allen Seiten auf seinen Körper. »Genau das habe ich erwartet«, sagte in diesem Augenblick Ben Brighton. »Den Halunken ist nicht zu trauen. Ferris, zieh die Stückpforten hoch. Wenn ich den Befehl gebe, läßt du eine 56
ganze Breitseite auf die Palmen da vorn rechts feuern, klar?« »Verstanden, Ben. Eine Breitseite aus den Culverinen!« Hasard sah sich nicht um, und so entging ihm auch, daß auf der ›Isabella‹ die Geschützpforten hochgingen und die Rohre der Siebzehnpfünder sichtbar wurden. Was er nicht begriff, war die Tatsache, daß dieser Kerl ständig vor ihm ausspuckte, als würde er ihn wie die Pest verabscheuen. Und dann immer dieses eine wiederkehrende kurze Wort, bis es Hasard wie Schuppen von den Augen fiel. Das Wort »Don« war kein Bestandteil ihrer Sprache, es sollte vielmehr etwas ausdrücken, was den Eingeborenen schlimmer als die Pest verhaßt seinmußte. Die Dons! Spanier! Dons wurden sie von den Engländern genannt, und der Name hatte sich verbreitet. Natürlich, dachte Hasard erbittert, wo sie auftauchten, hatten Spanier Land und Leute ausgeplündert und sich den Haß ganzer Völkerscharen zugezogen. Auf ihren Beutezügen ließen sie Tod und Verwüstung zurück, und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hatten sie auch dieser CaicosInsel längst ihren Besuch abgestattet. Wie der ausgefallen war, las Hasard deutlich an den Gesichtern der Eingeborenen. Sie hielten ihn für einen Don! Klar, die ›Isabella‹ erinnerte an eine spanische Galeone, wenn es da auch für geschulte Augen eine ganze Menge Abweichungen gab. Und er, Hasard, war schwarzhaarig und ein großer Teil seiner Leute ebenfalls. »Nix Don!« Er schüttelte den Kopf. »Nix Spanier. England. Alle Dons so!« Sein Arm beschrieb einen weiten Kreis. Seine Hand vollführte eine Bewegung, die besagte, daß er jeden Don hängen würde. Die anderen, die ihn umringten, begriffen nicht. Aber in den Augen des Häuptlings glomm ein Funke Verstehen auf, als die anderen alle durcheinander schnatterten und Hasard auf den 57
Leib rücken wollten. Der Häuptling - Hasard hielt ihn zumindest für den Anführer - sorgte mit einer herrischen Geste für Ruhe. Dann fiel sein Blick auf den Armreif, den Hasard trug, und den er auf der Insel Mocha von der Schlangenpriesterin Arkana als Geschenk erhalten hatte. Wie hatte Siri-Tong damals auf der Schlangeninsel gesagt? Das Symbol des Schlangengottes träfe man in der Karibik häufig an. Ob es der Armreif war oder etwas anderes, das wußte der Seewolf nicht zu sagen. Jedenfalls ließ der Häuptling seinen Bogen sinken. Sein Gesicht entspannte sich etwas, die anderen traten auf einen weiteren Wink von ihm ein paar Schritte zurück und bildeten jetzt nur noch einen Halbkreis. Fragen prasselten auf den Seewolf ein, die er nicht begriff. Er verstand kein einziges Wort von dem aufgeregten Geschnatter. Er zeigte auf das leere Faß, dann auf das Boot draußen und deutete wieder die Geste des Trinkens an. Als Don hätte er auf dieser Insel bestenfalls einen Speer zwischen die Rippen gekriegt, aber keinen Tropfen Wasser, jetzt aber, da sich immer mehr herausstellte, daß er anscheinend doch keiner der verhaßten Spanier war, hatte sich die Stimmung gebessert, obwohl immer noch ein spürbares Mißtrauen in der Luft lag. Einer der Eingeborenen lief los, nachdem der Häuptling etwas zu ihm gesagt hatte, und kehrte gleich darauf mit einer halben Kokosnuß zurück, die mit Wasser gefüllt war. Der Häuptling nahm sie ihm aus der Hand und reichte sie dem Seewolf. Hasard bedankte sich mit einer leichten Verneigung gegen alle, setzte die Kokosnuß an und trank den Inhalt aus. Danach reichte er sie wieder zurück. Jemand befühlte seinen Arm, ein anderer seinen Stiefel. Hasard nahm ganz langsam sein Entermesser aus dem Gürtel, faßte es an der Klinge an und überreichte es dem Häuptling. 58
Jetzt ging ein Palaver los, das kein Ende zu nehmen schien. Alle schnatterten aufgeregt durcheinander. Niemand zielte mehr mit dem Bogen auf ihn. Der Häuptling starrte das Messer an, prüfte es, grinste dann von einem Ohr zum anderen, und damit war der Bann gebrochen. Soviel Hasard mitbekam, erlaubten sie ihm jetzt anscheinend, Wasser auf der Insel zu holen. Der Seewolf atmete erleichtert auf. Gerade hier hatte er keinerlei Schwierigkeiten erwartet, und gerade hier mußte er erleben, daß normalerweise sonst friedliche Eingeborene Fremde mit einem Hagel aus Pfeilen überschütteten. Und schuld daran waren die Spanier. Er ging ein paar Schritte hinunter und winkte mit der Hand, daß Ben Brighton an Land kommen möge. Keiner der Eingeborenen hatte etwas dagegen. Seit der Häuptling seine Ansicht geändert hatte, waren auch die anderen wie ausgewechselt und zahm wie die Tauben. Auf dem Boot war man der plötzlichen Wandlung verwundert gefolgt. Ferris Tucker ließ beschämt die Stückpforten schließen, als er sah, daß alles im Lot war. Ben Brighton ruderte unbehelligt an Land. Sofort wurden die Männer von den Eingeborenen umringt. Wieder schnatterte alles durcheinander, und wieder verstand keiner ein Wort. Aber es waren friedliche Laute, das sah man an ihren Gesten und Gebärden. »Sie hielten uns für Dons«, sagte Hasard. »Diese Kerle müssen hier ganz schön gehaust haben, oder sie statten der Insel immer noch regelmäßig Besuche ab, sonst wäre der Haß auf sie nicht so groß. Anscheinend sind wir akzeptiert.« »Und wir dachten schon, sie wollten dich umbringen«, sagte Ben erleichtert. Als Matt Davies aufkreuzte, ging ein Raunen durch die Reihen der Eingeborenen. Scheu betrachteten sie den 59
scharfgeschliffenen Haken, der seine rechte Hand ersetzte und der so gefährlich aussah. Immer wieder wurde er angefaßt, bestaunt, bewundert. Sonst konnte Matt das auf den Tod nicht ausstehen, aber hier war es etwas anderes. Hier glaubten die Eingeborenen immer noch, daß dieser Arm ihm gehöre, daß er angeboren sei, und dementsprechend wurde Matt Davies von ihnen hofiert. Grinsend zeigte er seinen Haken bei den Eingeborenen herum, hielt ihm auch den Häuptling vor die Nase und erklärte trocken: »Damit kann ich fast alles, Großer! In der Nase bohren, Haie angeln, Hälse aufschlitzen und dir den Arsch aufreißen.« Der Häuptling lachte. Den Sinn der Worte hatte er doch nicht begriffen, und als auch die Seewölfe zu lachen anfingen, stimmte die ganze Meute der Eingeborenen in ein fröhliches Geheul ein. Matt Davies war der Mann des Tages wie schon sooft bei Eingeborenen oder Wilden, wenn er mit seiner Hakenprothese aufgetaucht war. Carberry schob sein Rammkinn vor und räusperte sich. »Wollen wir jetzt hier bis in alle Ewigkeit herumstehen und uns totlachen, oder füllen wir die Fässer?« »Deshalb sind wir hier, Ed. Aber du kannst das nicht von einer Minute zur anderen übers Knie brechen«, sagte der Seewolf. »Wir müssen uns wohl ein bißchen Zeit lassen. Außerdem versäumen wir ja nicht viel, wenn ein halber Tag vergeht. Vielleicht bleiben wir auch über Nacht auf dieser Insel und segeln erst morgen weiter.« Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Der Häuptling zeigte auf die Fässer, die am Strand lagen, dann auf das Faß, das noch vor dem Seewolf lag, und bedeutete ihnen, ihm und den anderen zu folgen. In den Büschen gab es einen Pfad, und hier sah Hasard auch, welch vorzügliches Versteck dieses Dickicht bot. Wohl sah 60
man von hier alles, was draußen auf See vorging, aber von der anderen Seite her war nichts zu erkennen. Sie folgten dem Pfad ein paar Minuten lang, der ins Innere der Insel führte, dann blieb der Häuptling stehen und grinste. Das leise Raunen eines kleinen Wasserfalles war zu hören. Da, wo die Insel leicht anstieg, sprudelte eine frische klare Quelle aus Felsgestein, lief murmelnd über kleine Steine und plätscherten dann in einen flachen Teich. Ein großer bunter Vogel flatterte aufgeregt kreischend davon, ein zweiter, weniger farbenfroher, folgte ihm unter lautem Gekrächze. »Herrliches, frisches Wasser«, murmelte der Profos. »Wenn man es nicht hat, weiß man erst, was es wert ist.« »Ich denke, dir ist der Rum lieber«, sagte Luke Morgan grinsend. Mit den Händen schöpften sie aus der Quelle und tranken. Die Eingeborenen standen grinsend daneben. Dann wurden die Fässer gefüllt, eine Arbeit, die Zeit kostete und lange aufhielt. Als sie damit fertig waren, wurden am Horizont die ersten feinen Schleier sichtbar, die die Nacht ankündigten. Hasard ließ die ersten vollen Fässer zur ›Isabella‹ hinüberrudern. »Zwei Mann bleiben an Bord«, sagte er, »zwei Freiwillige, die anderen können mitkommen. Bringt noch ein paar Entermesser mit, auch einige Beile, wir wollen sie den Eingeborenen schenken, darüber freuen sie sich wie die Kinder.« Das Boot legte ab und wurde hinübergepullt. Ein paar Männer kamen mit zurück und brachten die Messer und ein paar Beile, die sie den Eingeborenen überreichten. Die Gegenleistung ließ nicht lange auf sich warten. Ein ganzer Trupp Eingeborener brachte Früchte an, frisches Obst, Kokosnüsse, Melonen, die Früchte der wilden Marau. Am Strand wurde ein Feuer entzündet, erlegtes Wild gebraten 61
und in Bananenblättern serviert. Erst gegen Mitternacht löste sich die Versammlung auf.
6. Hinter der ›Isabella‹ versank die Insel im leichten Dunst der aufgehenden Sonne. Ein handiger Wind wehte, der die Galeone rasch vorantrieb. Hasard hatte selbst das Ruder übernommen, weil es immer wieder eine Freude war, die schlanke Galeone zu segeln. Die Stimmung an diesem Morgen war heiter, unbeschwert und gelöst. Seit der Jonas von Bord war, hatten sie alle insgeheim erleichtert aufgeatmet. Ein paar dachten flüchtig an ihn, was er allein auf dem Schiff jetzt wohl tun würde. Vielleicht stand er an Deck, die blicklosen Augen zum Himmel erhoben, und tat gar nichts. Dan O’Flynn enterte in den Großmars auf, gefolgt von dem Affen Arwenack, der wie ein Schatten an ihm klebte. Arwenack hatte sich mit frischem Obst versorgt, ein paar Bananen und zwei halben Kokosnüssen, die zu irgendeinem ungünstigen Zeitpunkt wieder irgendwer an den Schädel kriegen würde. In der Kuhl sah der alte O’Flynn seinem Sohn nach, wie der aufenterte. »Die beiden passen zusammen«, murmelte Old O’Flynn, »die werden sich mit jedem Tag ähnlicher.« Matt Davies kratzte sich mit seinem Eisenhaken die Brust. »Einer von den beiden ist dein Sohn«, sagte er grinsend. »Hoffentlich kannst du sie immer auseinanderhalten.« »Paß auf, du lausiger Bock«, sagte der Alte und hob drohend seine Krücken hoch. »Du solltest die Dinger langsam ablegen, Old O’Flynn«, 62
sagte Matt Davies. »Das Holzbein, das Ferris dir verpaßt hat, ist so gut, daß du damit laufen kannst. Warum versuchst du es nicht einmal?« »Hmm, ich hab mich an die Dinger gewöhnt, verdammt. Und wie, zum Teufel, kann ich denn auf einem Holzbein laufen?« »Das geht«, widersprach Matt. »Ganz vorsichtig aufsetzen und dann einen Schritt nach dem anderen. Anfangs kannst du dich ja am Schanzkleid weiterziehen. Aber wenn du dich erst einmal daran gewöhnt hast, schmeißt du auch die Krücken über Bord. Ich konnte mit der Prothese anfangs auch nicht klarkommen, weil ich mich nicht daran gewöhnen konnte. Doch wenn man will, geht alles.« »Hmm, sagte O’Flynn wieder. Aus seinem zerknitterten Gesicht warf er Davies einen nachdenklichen Blick zu. »Gut, dann werde ich es einmal versuchen. Halt mal die verfluchten Dinger.« Die anderen feuerten O’Flynn an, der unter pausenlosem Gefluche in der Kuhl umherhumpelte, immer wieder strauchelte und sich schließlich stöhnend am Schanzkleid festhielt. »Na, es geht doch schon, Mann«, munterten sie ihn auf. Und es ging tatsächlich immer besser. Zwar hatte der alte O’Flynn noch starke Schmerzen von der ungewohnten Belastung, aber nach und nach lief er besser. Zwischendurch legte er immer mal eine kleine Pause ein, um sich auszuruhen. Am Vormittag frischte der Wind auf, die See wurde lebendig, die ersten Wellen, langgezogene Riesenkämme, rollten unter dem Rumpf der ›Isabella‹ hindurch und ließen das Schiff tanzen. »Deck!« rief Dan nach unten. »Fast genau voraus treibt ein Boot. Scheint zertrümmert zu sein, beschädigt jedenfalls.« Das gab wieder etwas Abwechslung. Ein Boot. Ein Schiffbrüchiger vielleicht? »In der Karibik gibt’s einfach keine Langeweile«, sagte 63
Stenmark. »Entweder steigt ein verrückter Spinner an Bord, oder es tauchen Piraten auf, oder wir fischen einen Schiffbrüchigen. Für Abwechslung ist jedenfalls ständig gesorgt.« Das weit voraus auf langgezogenen Wellenkämmen treibende Boot wurde deutlicher. Es war ein kleines Ruderboot, und selbst durch das Spektiv konnte Hasard nicht erkennen, ob sich jemand darin befand. Immer wieder schoben sich lange Wellen dazwischen, die ihm die Sicht nahmen. »Wir halten darauf zu, Pete«, sagte der Seewolf zu Pete Ballie, der wieder das Ruder übernommen hatte. »Aye, aye, Sir!« »Großsegel aufgeien!« rief Hasard. »Haltet euch mit ein paar Haken bereit, wir nehmen das Boot längsseits, falls sich jemand darin befindet.« Das Großsegel wurde aufgegeit, die Fahrt der ›Isabella‹ ging merklich zurück. Hasard wollte wegen des anscheinend leeren Bootes keine Wende fahren. Das Manöver war zu umständlich und mit viel Arbeit verbunden. Wenn zwei Männer die Haken hinüberwarfen, wurde das Boot mitgezogen, und dann konnte man es immer noch untersuchen. »Der Jonas!« gellte Dans Schrei über Deck. »Der Jonas hockt in dem gottverdammten Kahn!« Wie von Peitschenhieben getroffen, zuckten die Männer zusammen. Tatsächlich! »Alle Fürsten der Hölle!« schrie Carberry. »Jetzt begegnet uns dieser Kerl schon wieder!« In dem halb zertrümmerten Boot richtete sich eine nur zu bekannte Gestalt auf. Schlohweiße Haare flatterten im Wind. Der Asket schien zu lächeln, entsagungsvoll und unterwürfig. . Ferris Tucker starrte kreidebleich in die See. Gerade wurde das Boot von einer Welle hochgehoben, der Jonas fiel hin und 64
drohte jeden Augenblick über Bord zu gehen. »Mein Gott«, flüsterte Carberry, »werden wir den denn nie mehr los? Das ist ja der reinste Alptraum. Wenn der Kerl an Bord kommt, steige ich in das Boot um.« »Den nehmen wir nicht mehr an Bord«, sagte Luke Morgan hitzig. »Der Kerl würde uns nur Unglück bringen. Wir haben es ja selbst erlebt. Sogar das Wasser verfault in seiner Nähe.« Die ›Isabella‹ glitt dem Boot immer näher. Es war stark angeschlagen, ein paar Planken zersplittert, ein Teil des Spiegels fehlte, und im Innern schwappte das Wasser. Hasard war unbemerkt hinzugetreten. »Habt ihr die Haken bereit?« fragte er sanft. Er sah die mürrischen Gesichter, die abweisenden Mienen und fühlte überdeutlich die Welle von Antipathie, die dem Jonas entgegenschlug. »Wir nehmen ihn nicht an Bord«, sagte Carberry trotzig. »Soll der Kerl selbst die nächste Insel ansteuern.« »Uns bleibt wohl keine andere Wahl«, entgegnete Hasard. »Seht ihn euch doch an, er hat kein Trinkwasser, keine Lebensmittel, nichts mehr, um überhaupt existieren zu können. Die Haie umkreisen ihn, und bald säuft sein Boot ab.« »Wir saufen alle ab, wenn er wieder an Bord kommt!« »Werft die Haken rüber!« befahl der Seewolf mit einer Stimme, die selbst Carberrys brüllendes Organ bei weitem übertraf. Der Jonas hatte sich wieder im Boot aufgerichtet. Seine Augen leuchteten dankbar, als er die Männer sah. Seine mageren Arme reckten sich bittend vor. Hilflos stand er in dem schlingernden Boot, jedem Augenblick dem Tod preisgegeben. Carberry gehorchte, wenn auch nur widerwillig. Er las an den Gesichtern der anderen, daß sie alle seiner Meinung waren. Niemand wollte sich das Unheil selbst an Bord holen, das von diesem unheimlichen Mann ausging. Zwei Haken flogen hinüber, krallten sich in der Ducht fest 65
und rissen das treibende Boot in einem wilden Ruck mit. Der Jonas landete unsanft auf der im Wasser schwappenden Gräting. »Holt ein!« rief Hasard. Er packte selbst mit zu, bis das halb zertrümmerte Boot die Bordwand berührte. »Hätten ihn doch die Haie gefressen!« murmelte Bob Grey. »Den? Den frißt doch kein Hei, weil er sich sofort den Magen verderben würde«, sagte der hitzköpfige Luke Morgan. Der Jonas wurde an Bord gezogen. Keuchend blieb er auf Deck liegen, bis Hasard ihm auf die Beine half. Ein schneller Blick ins Boot überzeugte ihn davon, daß es nichts an Bord gab, überhaupt nichts. Nicht einmal die Riemen lagen darin. »Möchte wissen, wie er die Karavelle zu Schrott gesegelt hat«, wandte sich Carberry an die anderen, die in einem scheuen Bogen den unglücklichen Mann umstanden. »Ich wußte, daß ihr kommen würdet«, sagte der Jonas mit seiner hohl klingenden Stimme. »Ich habe euch gesehen.« Seine Stimme ging in ein Flüstern über, und wieder jagte es den Seewölfen einen Schauer nach dem anderen übers Kreuz. »Wir werden stranden, ich spüre es. Nicht mehr lange, dann werden wir aufsitzen.« Er sprach klar und ohne zu stocken. Sein Blick war auf die Decksplanken gerichtet. Einmal streifte er den Seewolf. Hasard fühlte etwas Unerklärliches von diesem Mann ausgehen. Der Blick seiner wasserhellen Augen übte einen Bann aus, dem er sich nicht entziehen konnte. Wenn der Jonas mit Bestimmtheit sagte, daß sie stranden würden, dann war Hasard jetzt schon sicher, daß dieser Fall früher oder später mit Sicherheit eintraf. Der Mann hatte das »zweite Gesicht«, daran bestand kein Zweifel. Er sah Ereignisse schon lange im voraus. »Kannst du mehr darüber sagen?« fragte Hasard. Da schüttelte der Alte den Kopf. 66
»Bald«, sagte er, »es wird nicht lange dauern.« Hasard spürte ein Würgen im Hals. Im Geiste sah er, wie die ›Isabella‹ auf die Klippen geschleudert wurde und zerschellte. Aber hier gab es keine Klippen. Untiefen? Er dachte darüber nach. Ja, Untiefen gab es hier genug. »Dan!« rief er in den Großmars hinauf. »Auf Untiefen achten. Halte die Augen offen! Du siehst sie, wenn das Wasser heller wird!« »Aye, aye, ich passe auf!« rief Dan zurück. Unter den Seewölfen ging das Murren weiter, Schon lag wieder die unheilvolle Stimmung in der Luft, die gute Laune war verflogen, seit dieser Kerl an Bord war. Er paßte nicht hierher, er war ein Fremdkörper, er atmete Tod und Verderben aus, wo er ging und stand. Hasard sah seine Männer der Reihe nach an. Seine Stirn hatte sich gefurcht, die Lippen waren nur zwei schmale Striche. Er verstand sie, aber das war noch lange kein Grund, den Alten im Stich zu lassen. Es wäre sein sicherer Tod gewesen. »Was ist mit der Karavelle passiert?« fragte er, und seine Stimme hörte sich so an, als käme sie aus weiter Ferne. »Sie ist gekentert«, murmelte Jonas. »Der Sturm hat sie umgeworfen. Ich wußte es.« Der Alte blieb reglos an Deck stehen. Er wagte nicht, den Männern in die Augen zu sehen, die ihn musterten, als wäre er ein giftiges Insekt. Der warme Wind trocknete seine zerrissene Hose. Der Kutscher wollte ihm etwas zu essen bringen, doch der Alte wehrte ab. Wie ein hohläugiges Gespenst blieb er an Deck stehen, völlig reglos, nur seine schlohweiße Mähne flatterte im Wind. Auch um die Mittagszeit nahm er keinerlei Nahrung zu sich. Das einzige, was er trank, war eine Muck Wasser. Tucker, Grey, Carberry, Blacky, Smoky und Batuti tuschelten 67
die ganze Zeit miteinander. Sie wollten den Alten so schnell wie möglich aussetzen. »Du könntest ihm doch ein Floß zimmern, Ferris«, schlug Luke Morgan gerade vor. »Wir laschen ihm ein Faß und genügend Proviant darauf fest, und dann soll er sehen, wie er an Land paddelt. Hier gibt’s doch genügend Inseln.« »Hasard erlaubt es nicht«, maulte Tucker. »Und wenn wir alle abstimmen?« »Hasard ist der Kapitän. In diesem Fall wird er es wohl kaum zu einer Abstimmung kommen lassen. Aber loswerden müssen wir diesen Verdammten. Ja, er ist ein Verdammter. Gott selbst hat ihn verdammt, überall das Unglück hinzubringen. Und diesmal hat es uns erwischt. Ich sage euch, uns stehen noch schwere Stunden bevor, solange er an Bord ist.« Alle nickten düster. Auch Batuti, dessen dunkle Stirn sich sorgenvoll umwölkt hatte. »Batuti sagen, dieser Mann ist böser Zauberer. Er wird das ganze Schiff verhexen. ›Isabella‹ wird untergehen, und Jonas wird wieder überleben.« Die unheilvolle Stimmung gegen den Jonas steigerte sich zusehends. Ein Verdammter an Bord! Ein Mann, der in die Zukunft sehen konnte, der Unglück, Tod und Verdammnis prophezeite. Hasards Blicke wanderten zwischen dem Häufchen Elend in der Kuhl und den Seewölfen hin und her. Er hörte, wie sie tuschelten, wie sich die Stimmung sogar gegen ihn selbst richtete. Das Unheil war buchstäblich zu riechen, das sich über der Galeone zusammenbraute. Er mußte energisch durchgreifen, es ging nicht anders. »Profos!« schrie er mit Donnerstimme. »Ich möchte dieses Geschwätz und Getuschel nicht mehr hören. Sorgen Sie auf der Stelle für Ordnung! Jeder geht seiner Arbeit nach. Haben Sie das verstanden, Profos!« Carberry schluckte, dann wurde er blaß. Wenn Hasard in 68
diesem Ton sprach, dann lag Gewitter in der Luft, dem gleich die harten Donnerschläge folgen würden. »Aye, aye, Sir«, sagte er leise. »Los, an die Arbeit, ihr Rübenschweine!« brüllte er. »Und daß mir hier keiner mehr herumsteht und dummes Zeug quasselt. Ist das klar, was, wie?« »Großmaul!« sagte Luke Morgan. »In Wirklichkeit denkst du ganz anders darüber!« Als der Profos wütend nach einem Belegnagel griff, zog Luke fluchend ab, in die Kuhl. Dem Jonas warf er einen Blick zu, der alles Gift dieser Welt enthielt. »Die Kerle drehen regelrecht durch«, sagte Hasard zu Ben Brighton, der neben ihm auf dem Achterdeck stand. »Wenn das so weitergeht, werde ich mal wieder eine Großübung ansetzen, damit sie von ihren Gedanken abgelenkt werden. He, warum sagst du nichts?« Ben Brightons Gesicht war verschlossen. Er starrte vor sich hin. »Mir wäre es auch lieber, dieser Kerl würde verschwinden. Der bringt an Bord durch seine bloße Anwesenheit alles durcheinander. Du siehst ja selbst, wie die Burschen sich aufführen. Mit denen ...« Dans Stimme unterbrach ihr Gespräch. »Backbord voraus befindet sich seichtes Wasser!« rief er aus dem Großmars. »Eine Sandbank vermutlich!« »Danke, Dan!« Die Untiefe war gut zu erkennen, aber wenn die ›Isabella‹ auf dem jetzigen Kurs blieb, hatte sie genügend Wasser unter dem Kiel, und deshalb sah Hasard auch von einer Kursänderung ab. Weiter vorn kräuselte sich an manchen Stellen leicht das Wasser. Die Wellen brachen sich an der flacheren Zone. »Auf Kurs bleiben, Pete!« herrschte der Seewolf den Rudergänger an. »Du hast doch eben selbst gehört, was ...« In diesem Augenblick lief die ›Isabella‹ aus dem Ruder, als würde sie mit aller Gewalt von der Untiefe angezogen. 69
Pete Ballie wurde bleich. Wie wild drehte er am Ruder, das ihm leicht durch die Finger glitt. »Verdammt!« schrie Hasard. Mit zwei schnellen Sätzen war er am Ruder, packte zu und drängte den Rudergänger zur Seite. Das Rad drehte durch, ohne den geringsten Widerstand. Die Galeone reagierte auf das Ruder nicht mehr. Hasard stieß einen ellenlangen Fluch aus, als die ›Isabella‹ immer weiter nach Backbord abfiel und auf die Untiefe zulief. Ben Brighton hatte die Gefahr ebenso schnell erkannt. »Runter mit den Segeln!« schrie er laut. »Sofort runter damit! Jeder Mann an die Geitaue!« Hasard lief ins Unterdeck und sah die Bescherung. Der Bolzen der Übertragungskette war gebrochen. Wieder einmal! Das erste Mal war es vor den Azoren geschehen. Da hatte der Bolzen nachgegeben und war gebrochen. Der gleiche Fall lag hier vor. Im Augenblick konnte er nichts unternehmen. Das mußte Ferris Tucker später wieder hinbiegen. Er hatte sich schon vorsorglich mit Bolzen eingedeckt, sie waren der schwache Punkt an der neukonstruierten Ruderanlage. Tausend Gedanken schossen dem Seewolf in diesem Moment durch den Kopf. Der Jonas! Er hatte es vorausgesagt! Und jetzt war es soweit. Sie liefen mit hoher Fahrt auf die Sandbank zu! Er hetzte an Deck, griff selbst mit zu, bis ein Segel nach dem, anderen im Gei hing. Zum Glück hatten sie alle sofort reagiert, und so wurde die Fahrt der ›Isabella‹ ziemlich schnell gebremst. Wenn sie jetzt auf die Sandbank liefen, die immer näherrückte, würde es nicht mehr so schlimm werden. Als die Segel, einschließlich der Blinde, im Gei hingen, war es soweit. Ihnen blieb nur das hilflose Zuschauen, tun konnte keiner mehr etwas. Eine verdammte Situation! Nur noch auf einer kleinen Bugwelle reitend, schob sich der Bug der ›Isabella‹ langsam auf die Untiefe. Zum Glück waren es keine Korallen, sie hätten den Rumpf der Galeone der Länge 70
nach aufgeschlitzt. Ein sanfter Anprall folgte. Der Bug stieg leicht nach oben, es gab einen leichten Ruck. Dann saß die ›Isabella‹ fest. Die Seewölfe sahen sich verstört an, dann blickten sie auf den Jonas, dessen Körper sich in lautlosem Gelächter schüttelte. Der hohlwangige Mann lachte lautlos, dann brach ein Schrei von seinen Lippen, bis er leise wimmerte. »Ich könnte ihm den Hals umdrehen!« schrie Dan, der aus dem Großmars längst abgeentert war und zeigte auf den Jonas. »Weshalb nur sind wir dazu verdammt, mit diesem Kerl zu segeln?« »Glaubst du vielleicht, er hat den Bolzen der Ruderkette zerbrochen?« fragte der Seewolf scharf. »Glaubst du das wirklich, Donegal Daniel O’Flynn? Dann sag es hier und vor allen Männern! Los, auf was wartest du noch?« »Das - das habe ich nicht behauptet. Aber seit er an Bord ist, häufen sich die Unglücke. Vorher ist uns so etwas nie passiert. Und jetzt sitzen wir fest.« »Wir wären auch ohne ihn auf die Sandbank gelaufen. Los, Leute, wir wollen keine Zeit verlieren. Die See hat sich beruhigt, wir werden das Schiff leichtern, während Ferris und Shane einen neuen Bolzen einziehen. Ich selbst sehe mir an, ob wir kein Leck haben. An die Arbeit!« »Wir werden es über den Heckanker versuchen«, sagte Ben Brighton. »Fiert die Beiboote ab, bringt den Anker achteraus, so lang wie die Trosse ist. Zwei Mann zum Lenzen in die Vorpiek. Batuti und Smoky, ihr übernehmt das. Lenzt jeden Tropfen Wasser heraus.« Der Arbeitseifer, der jetzt vorgelegt wurde, lenkte die Männer von dem Jonas ab. Sie kamen nicht dazu, länger darüber nachzudenken, und das war gut so, sonst hätten sie ihn noch in einer Anwandlung von Zorn über Bord geworfen. Die Beiboot wurden abgefiert, der achtere Anker ins Boot verladen und ausgebracht. Es war eine Knochenarbeit. 71
Batuti und Smoky, der Decksälteste, lenzten das Bilgewasser aus der Vorpiek, um den Bug zu leichtern. Hasard hatte seine langen Stiefel ausgezogen und sprang über Bord. Tucker lauerte mit einer geladenen Muskete am Schanzkleid, bereit sofort zu feuern, falls sich eine dreieckige Flosse zeigen sollte. Der Seewolf schwamm zum Bug, tauchte dann und sah sich den Schaden an. Die ›Isabella‹ lag nur mit dem Bug auf dem Sand. Es gab keine gebrochene Planke, kein Leck. Nur hatte sie sich ziemlich tief hineingesetzt. Als ihm die Luft knapp wurde, tauchte er wieder auf. »Nur ein paar Muscheln haben wir weniger«, berichtete er. »Die hat der Sand abrasiert, nicht mehr als ein kleiner Kratzer.« Auf dem Vordeck wurde das Ankerspill klariert, die Trosse vom Stockanker entfernt und ein langes Tau über Deck gezogen, das mit der Trosse des achteren Ankers verbunden wurde. Wenn die Galeone vorn vom Bilgewasser geleichtert war, wollten sie versuchen, sich mittels des ausgebrachten Ankers und des Spills langsam von der Sandbank freizuziehen. Wenn das nicht klappte, mußte das ganze Schiff rigoros geleichtert werden. Dann stand ihnen eine verdammte Schufterei bevor. Um den Jonas kümmerte sich niemand. Vergessen stand er an Deck, wie in Trance versunken. Nur ab und zu zuckte sein schmächtiger, ausgemergelter Körper wie unter einem Hieb zusammen. Sein Geist ging wieder auf eine unerklärliche Reise in die nahe Zukunft. Der Jonas sah sie vor sich. Eine schlimme Zukunft, die Tod und Verderben bringen würde.
7.
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Am Nachmittag war es geschafft. Mit Hilfe des Heckankers hatten die Seewölfe ihre Galeone von der Sandbank gezogen. Die ›Isabella‹ war wieder frei und setzte ihre Reise fort. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich wieder unwillkürlich auf den Jonas, der aus seiner Lethargie erwacht war und jetzt auf dem Schiff herumwanderte. Alles sah er sich an, als würde er Neues entdecken oder hätte das Schiff noch nie gesehen. Nur das Essen lehnte er kategorisch ab, das der Kutscher ihm von Zeit zu Zeit brachte. Dafür trank er eine Muck voll Wasser. Scheele Augen musterten ihn, und wenn er ein Gespräch in seiner holperigen Art anfing und sie seine Stimme hörten, dann wandten sich die Seewölfe schweigend ab oder starrten ins Leere. Der Nachmittag verging, ohne daß etwas geschah. Die Galeone segelte wieder raumschots, mit von backbord einfallendem Wind. Gary Andrews löste Dan O’Flynn im Großmars ab. Zusammen mit Dan enterte auch der Affe ab, und sogleich wurden anzügliche Bemerkungen über die beiden laut. Gary Andrews hing noch in den Wanten, da verfehlte er eine der Webleinen, griff mit der Hand haltesuchend um sich und stieß einen erschreckten Schrei aus. Seine Hand griff unerklärlicherweise ins Leere, er konnte sich nicht mehr halten. Alle sahen, wie Gary stürzte, und alle sahen zu, ohne helfen zu können. Es ging alles viel zu schnell. Der Profos sprang im selben Moment wie Dan, um den Sturz des Körpers etwas zu mildern, aber beide kamen zu spät. Schwer schlug Gary Andrews auf den Schiffsplanken auf. Hasard, der Kutscher, Carberry alle waren sofort zur Stelle. Der Kutscher beugte sich über ihn, hob Garys Kopf etwas an und zog sein Augenlid hoch, »Bewußtlos«, murmelte er betroffen. »Das hat ja richtig 73
geknallt, als er an Deck fiel.« »Dann helf ihm doch, verdammt!« sagte Carberry. »Da kann ich nicht viel helfen. Gary hat wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Wir müssen ihn vorsichtig unter Deck bringen, helfen kann ich nicht, das kuriert sich von allein.« Carberry trug den bewußtlosen Mann nach unten. Vorsichtig bewegte er sich über die Stufen des Niedergangs und legte Gary dann in die Koje. Der Kutscher blieb bei ihm, um notfalls sofort zur Stelle zu sein, wenn Gary Andrews erwachte. Oben an Deck ging die Diskussion los. Diesmal war es Tucker, der damit anfing. »Ist bei uns schon mal jemand aus den Wanten gestürzt?« fragte er grimmig und blickte in die Runde. Hasard hatte die Arme in die Hüften gestemmt und wartete ab. Er wußte, was jetzt folgen würde. »Na also«, sagte Tucker. »Noch niemand, jedenfalls unter normalen Umständen nicht.« »Ganz recht«, mischte sich der Profos ein, »ich weiß auch, was du damit andeuten willst. Er ist schuld - er!« Sein Zeigefinger wies auf den Jonas, der an allen Gliedern zitterte, die Männer aus weitaufgerissenen Augen ängstlich ansah. »Sind das jetzt nicht genug Beweise?« schrie Carberry weiter. »Damit ist doch klar, wer für das ganze Unheil verantwortlich ist. Der Jonas zieht das Unglück an, er ist ein menschlicher Geist, der das Schiff in seinen Klauen hält. Er wird noch mehr Unheil bringen, das schwöre ich euch, denn wo er auftaucht, passiert etwas! Ich verlange jetzt eine klare Entscheidung. Der Kerl muß von Bord, so schnell wie möglich. Ferris soll ihm ein Floß zimmern, wir haben schon einmal darüber gesprochen. Niemand will ihn haben, niemand will, daß wir wegen dieses Kerl absaufen. Entweder er geht von Bord oder ich!« Carberry hatte sein Rammkinn vorgeschoben und blickte dem Seewolf entschlossen in die Augen. 74
Und diesmal standen sie alle auf des Profos Seite. Hasard stand wieder einmal auf Stützen. Er konnte nicht riskieren, daß die Mannschaft meuterte, denn genauso sah es jetzt aus. Andererseits brachte er es nicht über sich, den armen alten Kerl einfach auf einem Floß auszusetzen. Doch wenn er genau darüber nachdachte, mußte er sich eingestehen, daß die ›Isabella‹ tatsächlich noch nie so vom Pech verfolgt war wie ausgerechnet jetzt, da der Jonas sich an Bord befand. Jedenfalls erwarteten sie eine Entscheidung von ihm, jetzt da die Stimmung langsam den Siedepunkt erreichte. »Ich weiß, wie euch zumute ist«, sagte er ruhig. »Und ich verstehe dich, Ed. Nur solltet ihr alle euch einmal in die Lage dieses alten Mannes versetzen. Es wäre unverantwortlich von uns, ihn auf einem Floß auszusetzen. Damit fällen wir ein Todesurteil, und das steht keinem von uns zu, denn der Jonas hat nichts getan, überhaupt nichts. Er ist nur anwesend, wir haben ihn aus Seenot gerettet. Er selbst ist für das Unglück nicht verantwortlich, er kann es nur im voraus sehen, also ist er für uns sogar eine Hilfe, denn wir können uns darauf einrichten. Wenn ihr also glaubt, ihn aussetzen zu müssen, dann empfehle ich euch eins: Schlagt ihn vorher tot, damit er nicht unnötige Qualen erdulden muß!« Hasard wandte sich ab und lächelte dem Alten freundlich zu, der immer noch zitterte und sich ans Schanzkleid duckte. Aber er wußte, wie die Worte des Seewolfs aufzufassen waren. Für die anderen war Hasards kurze Rede wie ein Peitschenhieb. Beschämung stand in ihren Gesichtern. Carberry kratzte sich verlegen das stoppelige Rammkinn, Tucker verschwand, ohne ein Wort zu sagen, aufs Achterdeck. »Jaja«, sagte er lahm, »wenn man das natürlich so sieht.« »Scheiße«, sagte der jähzornige Luke Morgan andächtig, ehe er sich nach vorn trollte. Dan O’Flynn übernahm für Gary die nächste Wache am 75
Ausguck. Die Leute in der Kuhl zerstreuten sich, und als der Kutscher mit der Meldung erschien, Gary wäre erwacht und wieder bei sich, legte sich die gefährliche Stimmung etwas. Das hielt jedoch nicht länger als eine Stunde an, dann gab es den zweiten Vorfall. Der Wind legte sich und schlief ein. Spiegelglatt lag die See da. Kein Lüftchen rührte sich. Die Segel hingen schlaff an den Rahen. In Carberry loderte der Zorn. Natürlich war der Jonas wieder an der Flaute schuld, die so überraschend gekommen war. Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete er den Mann und sah, daß Hasard gefade von dem Achterkastell in seine Kammer ging. Der Profos hatte die mächtigen Arme über der Brust verschränkt. Und dann sah er etwas, das er zuerst nicht glauben konnte. Der Jonas ging mit hängenden Schultern zum Fockmast, sah sich scheu nach allen Seiten um, ob ihn niemand beobachtete, und hob dann die dürre Hand. Mit dem krummen Zeigefinger kratzte er dreimal hintereinander am Fockmast! In dem Augenblick gingen Carberry die Nerven durch. Am Fockmast kratzen, das hieß, den Sturm herbeizurufen, das Unglück herauszufordern! Carberry sah rot. Wie ein Wilder stürmte er zum Fockmast, packte den dürren Hals des Jonas, schüttelte den Alten hin und her, hob ihn hoch und warf ihn über Bord. Auf der ›Isabella‹ schien die Zeit stehenzubleiben. Aus starren Augen sahen die Männer den Alten in der spiegelglatten See verschwinden. Kaum tauchte er auf, als ihn zwei Haie umkreisten, die der ›Isabella‹ schon eine ganze Weile gefolgt waren, seit der Kutscher verdorbenen Speck über Bord geworfen hatte. Der Schreck fuhr ihnen derart in die Knochen, daß sie wie erstarrt dastanden und sich nicht rührten. Der Jonas gab keinen Ton von sich. Er paddelte wie ein Hund 76
im Wasser genau auf die beiden Haie zu. Das Bild brannte sich den Männern in die Seele. Träumten sie, oder gab es das wirklich? Die beiden gefräßigen Räuber schossen auf ihn zu, schienen mit dem Alten zu spielen, stießen ihn mit ihren mächtigen Nasen an und wiederholten ihr Spiel, als hätten sie einen Artgenossen vor sich. Und der Alte kümmerte sich gar nicht um sie! Seelenruhig paddelte er auf die Bordwand zu, begleitet von den Haien, die ihn spielerisch umkreisten. Tucker erwachte aus seiner Erstarrung. Er ergriff ein Tau, warf es über Bord und zog den Alten hoch, der sich daran festklammerte. Kein Hai schnellte aus dem Wasser, fast enttäuscht drehten sie ab. Carberrys Magen krampfte sich zusammen, als er auf den Alten zuging und ihm die Hand auf die Schulter legte. »Tut mir leid«, sagte er rauh. »Mir sind die Nerven durchgegangen, das wollte ich nicht.« Der Jonas lächelte verständnisvoll, etwas schmerzlich. »Es war nicht das erste Mal«, sagte er krächzend. »Aber ihr habt recht, ich scheine Unglück zu bringen. Nicht mehr lange«, setzte er geheimnisvoll hinzu, »nicht mehr lange, dann wird der Jonas eine weite Reise antreten.« Sie wurden aus dem Alten nicht schlau, sie verstanden seine Andeutungen nicht, und sie begriffen erst recht nicht, warum die Haie ihn nicht zerrissen hatten. Aber in ihnen hatte sich ein Schuldkomplex gebildet, ganz besonders in Carberry, der sein unüberlegtes Handeln längst bereute. Seltsam, aber jetzt akzeptieren sie ihn alle, und als Hasard an Deck erschien, war die Crew wie ausgewechselt. Jeder wollte dem Jonas etwas Gutes tun.
8.
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Nachts kam wieder Wind auf, und die ›Isabella‹ segelte weiter auf ihrem Kurs in die Karibik. Hasard war sich noch nicht schlüssig, ob er nicht doch zuerst die Schlangeninsel anlaufen sollte. Vielleicht hielt Siri-Tong sich da auf, oder er stieß auf Jean Ribault. Doch die Entscheidung, ob er die Insel anlaufen oder noch ein paar spanische Galeonen rupfen sollte, wurde ihm abgenommen. Er hatte sich seit einer Stunde zum Schlafen hingelegt und war erst vor kurzer Zeit in einen unruhigen Schlummer geglitten, da wachte er plötzlich auf. Er spürte, tiaß er nicht allein in der Kammer war. Um ihn herum war etwas Fremdes, eine knisternde Aura, als wäre die Luft mit Elektrizität geladen wie bei einem gleich losbrechenden Gewitter. Langsam wandte er den Kopf. Silbern fiel das Mondlicht durch die Fenster der Heckgalerie und beleuchtete den Jonas, der mit erhobenen Armen in der Kammer stand und Hasard genau ins Gesicht blickte. Er wirkte verstört, stammelte etwas, das der Seewolf nicht verstand und trat mit bleichem Gesicht und ausdruckslosen Augen näher. Wie ein Geist aus einer anderen Welt stand er da, unheimlich und fremd. Und hinter ihm erschien ein Schatten. Batuti, der Neger, der gesehen hatte wie der Jonas in Hasards Kammer geschlichen war. »Batuti wollen Mann rausschmeißen«, sagte er energisch. »Laß ihn, ich glaube, er will mir etwas mitteilen.« Batuti nickte und verschwand wieder. Der Jonas vollführte aufgeregt Bewegungen mit beiden Händen, doch Hasard begriff nicht, was er wollte. Vermutlich hatte er wieder etwas »gesehen«, ein neues Unglück vielleicht. Hasard stand auf und folgte dem aufgeregten Alten an Deck. Dort blieb der Jonas stehen, blickte auf Hasards Armreif und murmelte Worte in einer Sprache, die der Seewolf noch nie gehört hatte. 78
Immer wieder deutete er auf den Armreif, das Mondlicht im bleichen Gesicht, hinter sich die spiegelnde Wasserfläche. »Ich verstehe kein Wort«, sagte Hasard. »Laß dir Zeit, sprich etwas langsamer.« Die Deckwache scharte sich um die beiden Männer, aber niemand begriff, was der Alte in seiner merkwürdigen Sprache mitzuteilen hatte. Es waren und blieben unverständliche Worte, Hasard wurde daraus nicht schlau. Hasard blickte ihn nachdenklich an. Was, bei allen Klabautermännern, konnte der Alte nur mit dem Armreif meinen? Er legte ihm die Hand auf die Schulter und versuchte, einen Blick aus den Augen auf zufangen. Vergeblich. »Geh unter Deck, geh schlafen«, sprach Hasard beruhigend auf den aufgeregten Mann ein. »Das Meer, stammelte der Jonas. »Ich sehe Gefahren. Das Meer wird aufbrechen, es wird uns verschlingen, uns alle. Das Meer wird viele Menschen töten.« Jetzt waren seine Augen weit aufgerissen, als sähe er all die Schrecknisse deutlich vor sich. Und er sah sie auch. Er sah wie das Meer aufbrach, wie eine Riesenwoge aus dem Nichts entstand und ihren tödlichen Lauf begann. Ein Lächeln glitt über sein schweißnasses Gesicht. Ein Zucken der Mundwinkel begleitete es, der Alte wurde von einem fiebrigen Schauer geschüttelt, kraftlos sanken seine eingefallenen Schultern nach vorn. Hasard stützte ihn, auch Batuti griff mit zu. Diese schrecklichen Visionen, die der Jonas hatte, konnten leicht Wirklichkeit werden, dachte Hasard entsetzt. Ein Seebeben hatte der Alte wahrscheinlich gemeint. »Meinst du ein Seebeben?« »Das Meer wird aufbrechen«, wiederholte der Alte zitternd. »Wann wird das sein?« »Morgen, übermorgen, ich kann es nicht erkennen, aber ich 79
sehe es ganz deutlich. Schiffe, Tote, Ertrunkene«, stammelte er. »Felsen stürzen, Insel Insel ...« Der Rest ging in einem Stammeln unter. Danach schwieg er erschöpft. »Gnade uns Gott, wenn das stimmt, und wir gerade auf See sind«, sagte der Profos mit Grabesstimme. »Eine Vision«, sagte Hasard in dem Versuch, die Worte des Alten abzuschwächen. »Auch er kann sich irren.« »Ich glaube nicht, daß er sich irrt«, meinte der Profos. »Es hat schon zu oft gestimmt. Sollten wir nicht lieber eine Insel anlaufen, damit wir für ein paar Tage in Sicherheit sind?« Hasard wollte es nicht so offen zeigen, aber die Worte des Alten waren so bestimmt und sicher, daß auch er nicht mehr daran zweifelte. Außerdem ging von dem Jonas eine fast unwirkliche Macht aus, sobald man in seiner Nähe stand und er diese Visionen hatte. Hasard fühlte sich seltsam davon angezogen. »Vielleicht laufen wir doch die Schlangeninsel an, da kann uns wirklich nichts passieren. Auch ein Seebeben wird sie nicht zerstören, wenn es nicht gerade in unmittelbarer Nähe stattfindet. Aber jetzt bringt ihn unter Deck, er soll sich ausruhen, und vor allem soll er etwas essen, der verhungert uns ja noch an Bord.« »Ich erledige das«, versicherte Carberry, und dann hob er den Alten, der leicht wie ein Kind war, einfach auf, nahm ihn auf die Arme und trug ihn nach unten. Sofort sorgte er dafür, daß der alte Jonas etwas zu essen erhielt. Er war seit dem Vorfall überhaupt rührend um ihn besorgt, wie Hasard feststellte. Er hatte das Geschehnis wortlos übergangen. Auch einem Edwin Carberry durften einmal die Nerven durchgehen. An Deck berieten sie noch darüber, ob sie die Schlangeninsel anlaufen sollten. Einerseits, war Hasard dazu bereit, andererseits hatte er das Gefühl, sich an Bord lächerlich zu machen, wenn er den Hirngespinsten des alten 80
Mannes sofort die Tat folgen ließ. Aber waren es wirklich Hirngespinste? Er ließ auf dem alten Kurs weitersegeln, parallel zur Schlangeninsel, denn bis dahin war es ja nicht mehr weit. Morgen früh wollte er die Entscheidung treffen. Er ging wieder in seine Kammer und legte sich hin. Aber einschlafen konnte er immer noch nicht. Die Worte des Alten, die so eindringlich geklungen hatten, gingen ihm nicht aus dem Sinn. Als er schließlich einschlief, träumte er davon, wie das Meer aufbrach und wie sich himmelhohe Flutwellen über Schiffe und Länder ergossen, alles vernichtend, alles zermalmend, was sie überrollten. Schweiß gebadet erwachte er. * Es war heller Tag, die Sonne war über den Horizont gekrochen wie ein dickes gelbrotes Tier, das sich anschickt, in den Himmel zu steigen. Hasard hörte Getrappel an Deck, Rufen und aufgeregtes Getuschel. Mit einem Satz sprang er aus der Koje und ging an Deck. Der Kutscher reichte ihm eine Pütz Wasser, die Hasard sich kurzerhand über den Schädel goß. Danach schüttelte er sich. »Was ist los, Kutscher? Was macht Gary?« »Der kann spätestens morgen wieder aufstehen, dem geht es schon ganz gut. Bloß der Jonas geht uns langsam auf die Nerven. Nicht, daß ich etwas gegen ihn hätte«, sagte er abwehrend, als er Hasards Gesicht sah. »Der Kerl will etwas von dir, er rennt schon seit Stunden unruhig an Deck hin und her. Da kommt er, ich glaube, er hat schon wieder eine seiner schrecklichen Visionen. Keiner wird daraus schlau.« Der Jonas stand auf dem Vordeck. Seine Augen waren weit 81
aufgerissen, er starrte zum Achterkastell hin, und als er den Seewolf sah, bewegte er sich schnell durch die Kuhl über den Niedergang zum Achterkastell. »Herr«, stammelte er aufgeregt, »ich habe etwas gesehen. Es wird noch mehr Unheil geben.« Hasard legte ihm beruhigend den Arm auf die Schulter. Diese Geste schien den Jonas tatsächlich immer leicht zu beruhigen, und er sprudelte die Worte nicht mehr so hastig hervor. »Habt ihr eine Seekarte, Herr?« »Ja, natürlich. Du meinst, das Seebeben ...« »Das Seebeben, Herr? Ja, das auch. Holt eine Karte, Herr!« Schweiß lief dem Alten übers Gesicht, rann bis auf seine magere, eingefallene Brust. Ein Zittern überlief seine knochige Gestalt, und seine Zähne schlugen aufeinander. »Schnell, Herr, ich sehe etwas!« Dazwischen stammelte er wieder Wortfetzen in einer unbekannten Sprache, krümmte sich, hielt sich mit zitternden Händen an der Schmuckbalustrade fest. Hasard war beeindruckt von der Kraft, die der Alte verströmte. Sie schien sich auf alle Männer zu übertragen, ließ sie nervös und fahrig werden. Unruhig scharrten sie mit den Füßen. Die Aufregung steckte auch den Seewolf an, obwohl er versuchte, kühl und ruhig zu bleiben. Sein Blick wanderte rasch über das Meer. Es gab nichts Ungewöhnliches zu sehen, eine lange Dünung ging, die Segel waren prall gefüllt. Auf dem Meer herrschte Friede, soweit das Auge reichte. »Holt die Karte, Herr!« rief der Jonas drängend. Hasard nickte. Trotz der Ruhe schien etwas in der Luft zu liegen, etwas Beunruhigendes. Er ging ins Achterkastell und holte die Seekarte, die den Teil des Meeres zeigte, in dem sie jetzt segelten. Auf dem Deck breitete er sie aus und strich sie glatt. Der Jonas kniete sich neben ihn. Immer noch rann ihm der 82
Schweiß übers Gesicht, immer noch zitterten seine Hände. Sein Mund öffnete und schloß sich aufgeregt, seine schlohweiße Mähne wurde wild vom Wind geschüttelt. »Wo - wo sind wir jetzt, Herr?« fragte er stammelnd. Harards Finger fuhr auf der Karte entlang und zeichnete den Kurs nach, den sie zurückgelegt hatten. »Hier etwa«, sagte er, »auf Backbord liegen die CaicosInseln. Wir segeln daran vorbei, sie liegen hinter dem Horizont!« Der Alte fuhr mit dem Finger den Kurs nach, aber seine Hand zitterte so stark, daß er über die ganze Karte geriet. »Nur ruhig«, sagte Hasard. »Beruhige dich! Versuche uns mitzuteilen, was du sagen willst.« Immer aufgeregter wurde der Jonas. Seine Augäpfel verschoben sich, bis nur das Weiße zu sehen war und sein Blick in unendliche Fernen abschweifte. Die Augen sahen aus wie bei einem toten Fisch. Dann wurde seine Hand ruhiger, und obwohl er nichts sah oder nach Meinung aller nichts sehen konnte, landete sein Finger diesmal zielsicher auf der Karte. Shane blickte Hasard an, er fühlte sich mitgerissen von der Beklemmung des Alten, und der alte Schmied sah, daß es Hasard und den anderen Männern, die den Jonas umstanden, ebenso ging. »Was will er uns nur mitteilen?« flüsterte Shane. Niemand gab eine Antwort. Der dürre Zeigefinger des Alten deutete auf die Insel Hispaniola, wanderte dann weiter, zeigte auf Cuba, fuhr über die Insel weg und blieb schließlich an deren südlichem Ende auf einem kleinen Punkt haften. Dort verharrte er für kurze Zeit, bis der Finger sich löste und dann energisch auf immer dieselbe Stelle pochte. »Little Cayman«, sagte Hasard erstaunt. Smoky beugte sich vor und erschrak. »Das ist doch das Auge der Götter, der kreisrunde See und ...« 83
»... und da liegt auch der schwarze Segler El Diabolos«, ergänzte der Seewolf verwundert. Alle blickten auf den Jonas. Der lag jetzt auf den Knien und in seinen schrecklichen weißen Augen spiegelte sich das Sonnenlicht. Seine Hände hoben sich wie unter einem fremden Zwang und begannen undeutliche Konturen in die Luft zu zeichnen. »Eine Frau«, klang es hohl aus seinem Mund, als spräche ein Geist aus der Unterwelt. »Sie ist schön - langhaarige Frau, schöne, schwarze lange Haare sie...« Er brach ab, ein Krampf schüttelte seinen Körper, Schaum trat in die Mundwinkel, und mehrmals setzte er zum Sprechen an. In wilder Hast zeichneten seine Hände wieder die Konturen, die Umrisse einer Frau in die Luft. Hasard glaubte, feinen Nebel von den Fingerspitzen des Alten ausgehen zu sehen, sekundenlang schwebten die Konturen der Frau in der Luft. Er wischte sich über die Augen und schaute wieder den Alten an, dessen Stimme jetzt leiser klang. »Gefahr, große Gefahr, die Insel, die Frau ...« Sinnlose Worte schienen es zu sein, die der Alte stammelte, wirre Worte, die scheinbar keinen Sinn ergaben, und dennoch waren sie trotz aller Sinnlosigkeit so eindrucksvoll, daß sie noch lange in Hasards Ohren nachhallten. Mehr als eine Minute verging, in der die Lippen des Jonas zuckten, in der sein Körper bebte, in der sein Finger immer wieder auf die Insel Little Cayman zeigte. »Was kann er nur meinen?« fragte Smoky entsetzt. »Erst hat er prophezeit, daß das Meer aufbrechen wird, jetzt befindet sich eine Frau in Gefahr. Er scheint das deutlich zu sehen.« Bis auf den Rudergänger und den Ausguck hatten sich alle um den Jonas versammelt. Jetzt tat der Alte ihnen leid, wie er verkrümmt da hockte, etwas sagen wollte, und die Worte doch nicht über seine 84
Lippen kamen. Die Anstrengung wurde zu groß für ihn. Er krümmte sich auf den Decksplanken zusammen und kippte zur Seite. Carberry fing ihn auf und legte ihn vorsichtig aufs Deck. Hasard fühlte sich innerlich stark aufgewühlt. So gut er konnte, versuchte er dieses tobende Gefühl zu unterdrücken. »Er scheint Siri-Tong mit der schwarzhaarigen Frau zu meinen«, sagte er in die Stille hinein. »Vielleicht ist sie tatsächlich auf dem Weg nach Little Cayman, eine andere Erklärung habe ich nicht.« »Er sprach so eindringlich, daß man es einfach glauben muß«, sagte Ben Brighton. »Was versäumen wir eigentlich, wenn wir seinen Ahnungen folgen? Ich werde das Gefühl nicht los, als ginge von Little Cayman eine riesige Gefahr aus.« Auch Big Old Shane nickte. Sehr nachdrücklich deutete er auf die Karte. »Wir haben nichts zu verlieren, außer ein paar Tagen Zeit. Und wie du schon sagtest, Hasard, er scheint wirklich die Rote Korsarin zu meinen. Ob das mit dem Seebeben zusammenhängt?« Hasard zwang sich erneut zur Ruhe. Merkwürdig, dachte er, wie leicht ich mich umstimmen lasse. Nicht von meinen Leuten, der Alte ist es, der mich völlig umkrempelt. Er verspurte ein wildes Verlangen danach, auf der Stelle nach Little Cayman zu segeln. Sein Verstand sträubte sich zwar noch dagegen, doch die innere Stimme war mächtiger. Sie befahl und drängte, sie malte ihm Schreckensbilder vor, so als sähe auch er jetzt ganz deutlich die große Gefahr vor sich. Hart schluckend wandte er sich an den Jonas, aber der war noch nicht ansprechbar, das »Sehen« hatte ihn total erschöpft. Ein Seebeben, Siri-Tong in Gefahr - Little Cayman. Ja, was versäumten sie eigentlich? Hasard entschloß sich schnell, als auch noch Ferris Tucker, Ed Carberry und Smoky zustimmend nickten. 85
»Na klar«, sagte der Profos. »Was versäumen wir schon? Wenn der Alte Hirngespinste gesehen hat, sind wir in der Nähe von Cuba, und dort können wir gleich die Dons auf die Schippe nehmen. Wir sind dann sozusagen in der Höhle des Löwen.« »Bis dorthin brauchen wir etwas mehr als zwei Tage«, sagte Hasard. »Wenn wir pro Etmal bei gutem Wind und unter vollem Zeug hundertachtzig Meilen zurücklegen, sind wir übermorgen dort. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät, jetzt werde ich auch das Gefühl nicht mehr los, als würde sich dort etwas Schreckliches abspielen. Wir gehen auf neuen Kurs, durchsegeln die Paso de los Vientos und segeln an der cubanischen Küste weiter bis zum Caymangraben. Seid ihr damit einverstanden?« Alle nickten beklommen, obwohl manchen sofort ein unheimliches Gefühl überkam. Die Paso de los Vientos, das war die Windward-Passage, ein berüchtigtes Seegebiet. Dort waren sie mit Caligu aneinander geraten, der jetzt sein Piratenleben in der Hölle fortsetzte, und da war auch der geheimnisvolle Winkinger Torfin Njal mit seinem Schiff untergegangen, als er ihnen zu Hilfe geeilt war. Das lag zwar schon lange zurück, aber das Bild entstand wieder vor ihrem geistigen Auge. Pete Ballie erhielt den Befehl zur Kursänderung. Die ›Isabella‹ schwang nur um ein paar Strich herum, als sie Kurs auf die Windward-Passage nahm. Langsam kam der Jonas wieder zu sich. Er stand auf, etwas zittrig noch und warf einen Blick zum Himmel. Hasard sah ihm in die Augen. Das Weiße darin war verschwenden, er sah sich verwundert um. »Ich fühle mich schwach«, sagte er mit matter Stimme. Zu Hasards Erstaunen bemerkte der Alte jedoch, daß der Kurs leicht geändert war. »Ihr habt gut daran getan, den Kurs ändern zu lassen, Herr.« »Ja, wir segeln nach Little Cayman«, erwiderte der Seewolf 86
ausdruckslos. Dabei musterte er den Alten scharf und zeigte mit dem Finger auf die Seekarte. In den Augen des Alten blitzte Erleichterung auf. Er schien in seiner Erinnerung zu kramen, bis ein plötzliches Leuchten auf seinem Gesicht lag und er ausrief: »Ihr segelt richtig, Herr! Wenn Gott ein Einsehen hat, wird er euch verschonen. Aber ihr müßt euch beeilen, Herr, es ist später als ihr denkt!« Die Seewölfe sahen sich betroffen an. Ausnahmslos allen lief es kalt übers Kreuz. Dieser Alte schien mit dem Fürst der Hölle im Bund zu stehen, oder er war wirklich ein Heiliger und hatte nur vorübergehend Menschengestalt angenommen.
9. Am nächsten Tag lief die ›Isabella‹ bei handigem Wind, über Steuerbordbug liegend, nahe Guantãnamo vorbei. Hasard blieb dicht unter der Küste, er hatte die Warnung des Alten nicht vergessen. Das Schiff war feuerbereit wegen der vielen Spanier, die ebenfalls auf diesem Kurs liefen. Der Seewolf hatte allerdings nicht die Absicht, einen der Dons anzugreifen. Er ging ihnen nach Möglichkeit sogar aus dem Weg. An Steuerbord lagen die schroff ansteigenden Felsengebirge der Sierra Maestra. An Deck herrschte das gewohnte Treiben, die meisten schienen die Vorhersagen des Alten schon wieder anzuzweifeln oder hatten sie vergessen. Nur Hasard nicht, der dem Alten immer wieder einen Blick zuwarf. Schon eine ganze Weile sah er ihm zu, wie er in der Kuhlgräting hockte, ruhig, gelassen, die Beine in der halbzerfetzten Hose gespreizt, eine Hand vor das Gesicht geschlagen. Er schien im Sitzen eingeschlafen zu sein. Kein Wunder, dachte Hasard. Die Sonne strahlte herab, der handig wehende Wind war warm, und die Geräusche des 87
Wasser, das Knarren der Blöcke, das Singen in den Wanten konnte einen schon zum Dösen verleiten. Gerade wollte er den Blick abwenden, als der Jonas plötzlich aus seiner Ruhe aufschreckte. Mit einem Satz war er auf den Beinen und sah sich nach allen Seiten um. Hasard war sofort hellwach. Die Gedanken an Siri-Tong verwischten. Jetzt stand der Alte am Schanzkleid und witterte wie ein Hund, der eine interessante Fährte entdeckt hat. »Gleich fällt er wieder in seinen tranceartigen Zustand«, sagte der Seewolf. »Sieht ganz danach aus«, erwiderte Carberry. »Er wird immer unruhiger, er scheint etwas zu riechen.« Sie beobachteten ihn. Immer unruhiger wurde der Alte, aber seinen »Zustand« schien er nicht zu kriegen, er verdrehte auch die Augen nicht. Seine Finger trommelten nervös ans Schanzkleid. Ganz unmerklich hatte der Wind gedreht. Er begann leicht zu schralen. Carberry blickte hoch, als das Großsegel einmal kurz flatterte. »Der Alte riecht den Wind, bevor er aus anderer Richtung einfällt«, sagte er. »Aber das ist doch kein Grund zur Beunruhigung. Ich werde die Schoten etwas dichter holen lassen. Kein Wunder, wenn wir uns so dicht unter Land bewegen.« »Tu das!« sagte der Seewolf. Der Wind fiel jetzt in spitzerem Winkel ein. Carberry scheuchte ein paar Männer an die Schoten und kurz darauf waren die Schoten dichter geholt. Niemand regte sich darüber auf, das gehörte zum ganz normalen Tagesablauf eines Seglers, denn der Wind war unberechenbar. Noch eine halbe Stunde später, und die ›Isabella‹ lief nur noch wenig Fahrt. Immer mehr legte sich der Wind, er schlief ein, bis die Segel wie leere Säcke von den Rahen hingen. 88
Das war durchaus nicht normal, fand Hasard. Eine so plötzliche Kalme hatten sie hier noch nie erlebt. Aus einem unbekannten Grund glaubte er, sein Herz laut in der Brust pochen zu hören, und als er den Alten sah, der sich jetzt wie ein Verrückter gebärdete, wußte er, daß ihnen etwas Schlimmes bevorstand. Der Jonas raufte sich die weißen Haare, fing laut an zu klagen, und wenn Ferris Tucker ihn nicht festgehalten hätte, dann hätte er sich über Bord gestürzt. Das Wasser hatte Bleifarbe. Nicht die geringste Welle war zu sehen, nicht einmal ein Kräuseln der Oberfläche kündigte sich an. Die ›Isabella‹ schwamm in einem riesigen Bottich aus flüssigem Blei. »Verdammt«, sagte Carberry leise zu Tucker. »Selbst die Vögel sind verschwunden, Ferris. Und der Kerl will mit aller Gewalt über Bord springen. Ist er denn von Sinnen?« Tuckers Augen waren weit aufgerissen. Stahlklammern schienen seine Brust einzuengen, er glaubte, keine Luft mehr zu kriegen. Der Jonas tobte in seinen Armen, wand sich und versuchte, sich aus der Umklammerung zu lösen. »Laßt mich an Land!« schrie er. »An Land! Das Wasser kommt!« »Immer mit der Ruhe«, sagte Carberry, dem sich die Windstille ebenfalls beklemmend auf die Lungen legte. Die Stimme des Jonas schrillte jetzt in den höchsten Tönen. »Segelt!« kreischte er. »Segelt dem Teufel ein Ohr ab, oder wir sind verloren. Ihr müßt weiter an Land.« »Erst mal können, Alter. Es geht kein Wind mehr!« »Dann rudert - oder verlaßt das Schiff! Das Wasser kommt!« Hasard schluckte. Er stand auf dem Achterdeck, sah sich immer wieder um und empfand Furcht. Er gestand es sich ehrlich ein. Jetzt lagen sie hier hilflos vor der Küste und konnten sich nicht bewegen. 89
Rudern! Wie sollten sie rudern? Indem sie die Beiboote abfierten und sie vor die Galeone spannten? Diese Möglichkeit bestand, und er entschloß sich gerade, den Befehl dazu zu geben, als ein leichter Windstoß ganz überraschend die See kräuselte. Die Segel blähten auf, sanken wieder schlaff zurück. Gleich darauf folgte der zweite Windstoß. »Setzt alles, was wir an Segel haben!« rief Hasard. »Pete, auf die Felsen zuhalten, ich glaube, jetzt wird es ernst.« Jeder an Bord fühlte es, jeder spürte es, daß sich gleich etwas Unheilvolles zusammenbraute. Es schien von allen Seiten zu kommen, und kaum hatte die ›Isabella‹ ein wenig Fahrt aufgenommen und die ersten Ausläufer der schützenden Berge erreicht, da geschah etwas, was den Männern buchstäblich die Haare aufstellte. Jeder sah es deutlich, und jeder war vor Entsetzt wie gelähmt. Von der Back dröhnte ein Schrei über das ganze Schiff. Smoky, der Deckälteste, hatte ihn in heller Panik ausgestoßen. »Seht das Wasser!« schrie er mit überkippender Stimme. Totenblasse Gesichter sahen zum Ufer hin, wo hinter dem kurzen Strand himmelhohe Klippen und Berge aufragten. Das Wasser zog sich vom Strand zurück, als würde es weit ins Meer zurücklaufen. Ein gewaltiger Sog zog und saugte es in die offene See hinaus. Ferris Tucker schloß entsetzt die Augen. Neben ihm kreischte der Jonas, bis er wimmernd zusammenbrach. Sein Gesicht war vor Angst zu einer grauen Fratze verzerrt. Die ›Isabella‹ wurde Vierkant von einem unterseeischen Sog mitgezogen und danach abrupt gestoppt. Kräfte zerrten an dem Schiff, es knackte und krachte in allen Verbänden. Im Wasser entstanden kleine Wirbel, Trichter wie bei einem Mahlstrom, die sich schnell verliefen. Ein dumpfes Grollen entstand, das sich rasch näherte. Bösartig und wild hörte es sich an. Den Seewölfen zitterten die 90
Knie. Und das war nur das Vorspiel, das Präludium der Hölle, die sich jetzt auf tat, um alles zu verschlingen, was sich ihrem Rachen bot. An der Kimm entstand ein leises Rumoren, das rasch zu einem Tosen anschwoll, in ein Brausen überging, dann in ein helles Klingen. Dazwischen grollte es wieder. Hasard stand wie eine Statue auf dem Achterdeck. Alle seine Glieder waren gelähmt, er kam nicht von der Stelle, und er brachte auch den Schrei nicht heraus, der ihm über die Lippen wollte. Eine Wand wuchs an der Kimm auf, ein dunkler, gläserner Berg aus brüllendem, tobendem Wasser, eine Mauer, die in den Himmel wuchs und die sich immer höher aus dem Wasser hob. Auf ihrem Gipfelpunkt neigte sich die Mauer nach vorn zum tödlichen Angriff und begann zu rollen. Immer schneller. Sie war vor der Insel Inagua aus dem Meer gewachsen und bewegte sich jetzt mit zunehmender Geschwindigkeit auf die Windward-Passage zu. Sie würde Cuba an der östlichen Flanke mühelos überrollen, und sie würde sämtliche Schiffe, die sich noch in der Passage befanden, unter sich begraben oder hoch in den Himmel schleudern. »Wir können nur noch beten«, sagte Ben Brighton mit totenblassem Gesicht. »Aber auch das wird nicht mehr helfen.« Das gläserne Ungestüm raste weiter, unaufhaltsam türmte es sich weiter auf, wuchs, überschlug sich am oberen Teil und schob ihn schäumend mit unvorstellbarer Kraft vor sich her. Tucker schloß die Augen, ein paar andere bekreuzigten sich, und Luke Morgan warf sich an Deck. Leichenblaß enterte Dan aus dem Großmars ab, gefolgt von dem heulenden Affen, der kreischend an Deck herumsprang und laut zeterte. »Aus und vorbei« stöhnte der Schiffszimmermann. »Uns bleiben nur noch ein paar Sekunden.« Und die Riesenwelle, mehr als siebzehn Yards hoch, rollte, 91
donnerte fauchte und schäumte mit Urgewalten heran, einem Inferno gleich, das die ganze Erde verschlingen wollte. Das Grollen wurde so laut, daß alle anderen Geräusche erstarben. Das wilde bedrohliche Zischen rückte immer näher, jagte einen Sturm vor sich her, der die Segel der ›Isabella‹ knallend blähte und die Masten bis ins Kielschwein erzittern ließ. Pete Ballie vergaß vor lauter Angst, die winzige Chance auszunutzen und das Ruder zu ergreifen. Er hatte sich und die anderen längst aufgegeben. Was nutzten ihnen noch hundert oder zweihundert Yards, die sie vielleicht schaffen würden? Hasard erwachte aus seiner Erstarrung. Auch er hatte längst mit dem Leben abgeschlossen, doch zu seiner Verwunderung reagierte er jetzt eiskalt. Er wirbelte das Ruder herum, bis die ›Isabella‹ hart krängte, daß die Männer an Deck den Halt verloren und durcheinander brüllten. Er jagte das Schiff auf Biegen und Brechen auf die Felsen zu, ließ das Ruder nicht aus den Fäusten, knüppelte die schlanke Lady erbarmungslos durch das Wasser, das immer noch still und ruhig blieb, obwohl es hätte kochen müssen. Aber der heulende, zischende Wind, der der Riesenwoge vorauseilte, konnte die Rettung sein. Und wenn die Lady zum Teufel ging, sollte sie in den Felsen zerschellen, dachte er, das war immer noch besser, als von dieser fürchterlichen Riesenwelle, dem mächtigen Gebirge aus Wasser, zermalmt zu werden. Er sah, wie der Jonas mit einem wilden Schrei aufsprang, und in die Wanten enterte, sah das verzerrte Gesicht, hörte ein Lachen, das ihn erschauern ließ, und die Stimme, die sich mit dem Zischen des wilden Sturmes mischte. »Ich wußte es!« schrie er aus Leibeskräften. »Ich habe es geahnt! Wir segeln in die Hölle! Hahaha!« erklang es schaurig aus den Wanten, in denen festgeklammert der Jonas hing, irre 92
lachend, schreiend und kreischend. Wie der leibhaftige Klabautermann sah er aus, wie ein Teufel, der am Mast rüttelte, der die Wanten mit bloßen Händen zerreißen wollte. Seine Schreie verwehten und gingen unter in dem Höllenlärm, der nun losbrach, der das Inferno einleitete. Massig, rasend schnell, alles verschlingend, raste der himmelhohe Wellenberg durch die Windward-Passage, getrieben von unsichtbaren Gewalten, heraneilend wie ein Rachegott. Ein Kauffahrer, der mit schlaffen Segeln in der See trieb, war das erste Opfer der Welle. Mit Schaudern sahen die Seewölfe, was passierte. Die Segel blähten sich schlagartig, platzten, fetzten weg, die Masten knickten wie Strohhalme. Das Schiff tanzte wild, ehe der überbrechende Teil der Welle es in einen quirligen Strudel riß. Tausend Teufelskrallen hoben es in den Himmel und drehten es um, bis er auf dem schäumenden Kamm der Welle ritt. Von hier aus war deutlich zu sehen, wie die Menschen aus dem umgedrehten Schiff in tiefe Abgründe fielen, in kochende Höllenschlünde, die sie gierig fraßen. Das Schiff wurde in die bodenlose Tiefe geschleudert und von der Welle begraben. Nach allen Seiten flogen Fetzen davon. Hasard versuchte immer noch, seine Chancen kühl abzuwägen, obwohl er sich sagte, daß es diese Chancen nicht mehr gab. Sie würden mit der Woge Bekanntschaft schließen, Bekanntschaft mit dem nassen Tod. Zwar wäre ihre urgewaltige Kraft etwas geschwächt durch die Felsen, aber dennoch würde es ausreichen. Hilflos sahen sie dem Ungetüm entgegen, das sich immer höher auftürmte, das immer breiter wurde, hörten durch das Brüllen der Elemente die spitzen Schreie des Jonas, vernahmen sein grausiges Gelächter und wurden von wahnsinniger Angst geschüttelt. 93
Der unmittelbare Untergang stand bevor. Nichts und niemand konnte ihn mehr aufhalten. Selbst der liebe Gott konnte seinen Daumen nicht mehr schützend dazwischen halten. * Alles weitere erschien ihnen wie ein Alptraum. Sie erlebten es im Angesicht des nahenden Todes nur noch unbewußt. Das grollende Untier hatte nun das Land erreicht und wälzte sich brüllend und vor Wut schäumend in die Felsen, die es mühelos überrannte, auseinandersprengte, zerriß und zerfetzte. Der Druck und die ungeheure Masse der Welle waren stärker als die Felsen, die bis ins Innerste erzitterten und bebten. Die Gischt sprühte so hoch, daß sie die Sonne verdunkelte. Dazu donnerte und rumorte es, da knirschte hartes Gestein, wurde unter dem unbarmherzigen Druck zermalmt, zur Seite geschleudert. Es ergoß sich zwischen den Felsen, schäumte heran, kochte und brodelte. Felsenstücke wurden hoch empor geschleudert, riesige tonnenschwere Brocken stürzten herunter und prasselten in die brüllende Welle, die sie mitnahm und immer weiter schleuderte. Der erste Ausläufer der Woge, die zwischen den Felsen heranschoß, erreichte die ›Isabella‹. Hasard war es gelungen, sie zwischen eine Felsgruppe zu segeln, an der sie jeden Moment zerschellen konnte. Der fürchterliche Wind hatte sich gelegt, den die Welle vor sich hergeblasen hatte. Eine Zone der Windstille folgte, in der das Meer wieder ganz ruhig lag. Doch das alles währte nur ein paar Sekunden, eine Zeitspanne, in der keiner der Seewölfe auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte. Jetzt war sie heran und bahnte sich ihren Weg, um die ›Isabella‹ zwischen den Felsen herauszuholen und zu zermalmen. 94
Hasard blickte hoch, und in diesem Moment schien wieder die Zeit stillzustehen. Hoch über ihm türmte sich der Vorläufer der Welle auf. Die vormals so schnelle Woge schien still und ruhig zu verharren. Ihr immer noch gewaltiger Kamm mit Tausenden von Tonnen Wasser hatte sich gekrümmt und stürzte nun aus großer Höhe hinab. Der Seewolf sah die Bewegungsabläufe deutlich und sehr langsam. Es war wie ein Traum, der einem vorgaukelt, daß man nicht laufen kann, daß man in einer zähen Masse steckt. Und so verhielt es sich mit dieser Welle, die sich hoch über den Felsen zum zweiten Male brach und die zögerte, ihre Massen auszuschütten. Jetzt erreichte sie die Masten, überschüttete sie langsam und hob den Jonas sanft aus den Wanten, der jetzt nicht mehr schrie. Hasard atmete unwillkürlich tief aus, er vergaß in diesem Augenblick sogar das Luftholen. Seine Reflexe waren gelähmt. Nein, es war nicht der Kamm der Woge, dachte er betäubt. Das hier war nur ein weiterer Vorläufer. Plötzlich kehrte sich alles um. Die Zeit raste, die Bewegungsabläufe wurden schneller, rotierten mit rasendem Tempo. Ein vielstimmiger Schrei brandete über Deck. Und dann brach es über die Galeone mit Höllengewalten herein. Felsbrocken prasselten von der Steuerbordseite herüber. Kopfgroße Brocken flogen in die Segel und polterten an Deck, das sich steil in den Himmel hob und seinen Teufelsritt zwischen den Felsen begann. Wie aus hundert Culverinen hagelte es. Die Blinde zerfetzte, das Großsegel zerriß kreischend und laut protestierend. Steine krachten an den Mast, auf der Back schrie jemand laut und gellend. Dicht vor Hasard schlug es ein, als hätte ein Zwanzigpfünder das Deck getroffen. Instinktiv klammerte sich der Seewolf an der Schmuckbalustrade fest und bedeckte mit einer Hand sein 95
Gesicht. Sanft wie eine Feder wurde die Galeone gleich darauf hochgehoben. Die es sahen, vergaßen den furchtbaren Anblick ihr ganzes Leben lang nicht. Jetzt befanden sich die Felsen tief unter ihnen. Die Woge hatte sie erfaßt, dieser rollende, brüllende, sich wie wahnsinnig gebärdende Berg aus wildem Wasser. Tief unter der Galeone befand sich ein Tal, in das sie jetzt, mit dem Bug voran, hineinstürzte. In der Kuhl kotzte sich Blacky vor Angst die Seele aus dem Leib. Mal waren riesige Wassermassen hoch über ihm, mal befand er sich in luftiger, brausender Höhe, mal fegte ihn ein Wasserschwall hilflos hin und her und dann begann sein Magen zu revoltieren, als der Höllenritt losging. Die ›Isabella‹ hatte ihren Höhenflug beendet. Jetzt folgte das Ende. Und das führte in eine Tiefe, die nicht aufhörte. Um sie her begann sich die Welt in Trümmer zu verwandeln, eine rasende Sturzfahrt setzte ein, ein Aufprall auf flaches Wasser dann würde die Galeone an den Felsen zerschmettert werden. Der Bug klatschte in die brüllende See, mit unvorstellbarer Gewalt knallte er hinein. Es dröhnte, als würde die Galeone in sämtliche Teile zerrissen. Die Männer schrien wieder ihre Todesangst hinaus, die ein riesiger Schwall erstickte, der über das Deck jagte. Und immer noch stand ein Teil der Woge fast senkrecht über ihnen. Dabei war die Hauptmasse der Welle längst weitergeeilt, und dies war nur ein schwächerer Ausläufer, der sich ein letztes Mal austobte. Sie schaffte es nicht mehr, ihren Bug aus dem Wasser zu heben. Der Anker knallte laut an die Felsen, wurde zurückgeworfen, und sofort danach stürzten unvorstellbare Mengen Wasser über die ›Isabella‹, hielten sie fest, drückten sie nieder. 96
Carberry erstickte fast, er wußte längst nicht mehr, wo er sich befand, vorn oder achtern oder in der Kuhl. Er hatte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. Der Kutscher war der einzige, der nicht an Deck war, außer Gary Andrews, den es in seiner Koje hin und her wirbelte. Das Schott der Kombüse ließ sich nicht mehr öffnen, von außen drückten die Wassermassen machtvoll dagegen, schossen durch die Ritzen, schlugen sich eine Bresche in das harte Holz. In der Kombüse stieg das Wasser blitzartig an. Pfannen und Töpfe flogen dem brüllenden Kutscher um die Ohren. Er schrie in blinder Panik, wollte raus, nicht hier jämmerlich ersaufen, aber gleich darauf konnte er in der Kombüse schwimmen. Das Chaos war vollkommen. Harte Schläge erschütterten das Schiff immer härter, einmal ertönte ein kurzes Knallen vom Bug her, dann wieder schien das Schiff auf Felsen aufzuprallen. Es krängte, eine weitere Welle überrollte es. Nein, das würde die ›Isabella‹ nicht überstehen, das dachte jeder, sofern er noch einen Gedanken fassen konnte. Hasards Körper war voller Schmerzen, als eine wilde Schlingerbewegung ihn wegriß. Er konnte sich nur eine Sekunde lang halten, dann wurde er vom Achterkastell in die Kuhl geschleudert. Überall waren Wasser, Rauschen, Brüllen, Schreien, und dann ein Knirschen, als risse der Rumpf auf. Gurgelnd und schreiend versuchte er, wieder auf die Beine zu kommen, und als ihm das gelang, spürte er jeden Knochen im Körper. Er riß die Augen auf. Die Wassermassen liefen ab, teils durch die Speigatten, teils durch kopfgroße Löcher in dem Schanzkleid. Er sah die Welle davoneilen, sah die geplagten Männer und fragte sich angstvoll, wie viele von ihnen wohl über Bord gegangen waren. Carberry taumelte hoch, Tucker war da, blutverschmiert, Smoky hielt sich den Schädel, und hinter der Nagelbank entdeckte er Dan und den restlos geschockten Arwenack. 97
Gleichzeitig sahen sie aber noch etwas anderes. Auf dem Kamm der Welle, ganz oben auf dem höchsten Punkt, hockte der Jonas wie ein Reiter. In rasender Eile wurde er davongetragen, hysterisch lachend, die Arme zum Himmel gekehrt, hockte er wie der Leibhaftige da oben, der gerade zur Hölle fährt. Ganz deutlich war er zu erkennen, der unheimliche Mann, der aussah, als hielte er die Welle an riesigen Zügeln und könne sie lenken, wohin er wollte. Er ging nicht unter, er sank auf dem Wasser nicht ein, aber das war nicht weiter verwunderlich, denn die Kraft der Welle war zu stark, und sie war zu schnell. Sie ließ ihn wie einen Korken tanzen, hob ihn spielerisch noch höher, und der Alte schien sich darüber zu freuen, wie vor ein paar Tagen, als die blutrünstigen Haie mit ihm gespielt hatten. »Er reitet in die Hölle«, flüsterte Carberry mit zuckenden Lippen. Dem Jonas konnte niemand mehr helfen, keiner hatte die Macht dazu. In die plötzliche Ruhe mischte sich mit dem leisen Brausen nur sein verklingendes Gelächter, das immer leiser wurde, bis es endgültig verstummte und der Jonas mit der Welle verschwand. Aufgewühlt durch das eben Erlebte war keiner in der Lage, sich selbst zu bemitleiden. Sie alle starrten gebannt dem unheimlichen Mann nach - dem Teufel oder dem Heiligen , der in rasender Fahrt vor ihren Augen für immer verschwand.
10. Erschöpft, ausgelaugt und kaputt standen die Seewölfe an Deck. Immer noch lief Wasser aus den Speigatten gurgelnd ab, und es dauerte lange, bis sie sich über die Lage des Schiffes 98
klar wurden. Die ›Isabella‹ lag zwischen Felsen fest. Herabgestürzte Felsbrocken hatten sie eingeklemmt, aber gleichzeitig hatten die Felsen sie auch vor der totalen Vernichtung bewahrt. Dort hatte sich die Kraft des Wassers gebrochen. »Mein Gott, wie sieht der Kasten bloß aus«, sagte Tucker unsäglich müde. Kraftlos lehnte er am Schanzkleid. Der Seewolf stand in der Kuhl. Sein rechtes Ohr blutete, den linken Arm konnte er nur sehr schlecht bewegen, und in seinem Kreuz, wo ihn ein Felsstück getroffen hatte, tobte ein irrsinniger Schmerz. »Sehen wir lieber nach den Männern, ob noch alle da sind. Wenn einer über Bord gegangen ist, dann gibt es für ihn keine Rettung mehr. Alle sollen sich in der Kuhl versammeln, Ben! Sag das weiter, ich kriege kaum noch Luft.« Ben Brighton, genau so lädiert und von Prellungen heimgesucht, ließ die ermatteten Männer sich in der Kuhl und auf dem Hauptdeck versammeln. »Der Kutscher fehlt und Gary auch«, sagte Bob Grey. Den Kutscher brauchten sie nicht zu suchen, sie hörten sein höllisches Fluchen, als das Kombüsenschott aufging und er, grün und blau im Gesicht, heraustaumelte. »Beinahe wäre ich neben dem Herd abgesoffen«, sagte er. »Ich habe nach Gary gesehen, es geht im gut.« Er ließ sich auf die Knie niederund erbrach einen Schwall Meerwasser, gleich darauf noch einen. Tucker versuchte zu grinsen, es wurde nur eine Grimasse. »Wie kann man denn in der Kombüse ersaufen?« fragte er kopfschüttelnd. »Genausowenig kann man auf dem Achterdeck in einen Kochtopf fallen, Mann!« »Wir sehen prächtig aus«, sagte der Seewolf. »Prellungen, Hautabschürfungen und Rißwunden. Am besten wird es sein, jeder versorgt sich selbst, so gut es geht. Alle sind vollzählig, bis auf den Alten, den die Welle mitgenommen hat. Gott sei 99
seiner Seele gnädig, ich glaube, er hat uns das Leben gerettet. Wir sollten ein stummes Gebet für ihn sprechen.« Das taten sie. Jeder ahnte, daß er dem Alten das Leben zu danken hatte, denn er hatte sie so energisch vorangetrieben und sie in diese Ecke dirigiert. Anschließend wurde die ›Isabella‹ inspiziert. Das Schiff sah wüst aus, sie kannten es kaum wieder. Die stolze ranke Lady hatte kein einziges Segel mehr. Vier Rahen waren zersplittert, die Blinde zerrissen, der Besan, den sie erst kürzlich einem Piraten geklaut hatten, leicht beschädigt. Im Schanzkleid befanden sich auf der Steuerbordseite fünf kopfgroße Löcher, eine Pardune war gerissen, ein paar Webleinen aus den Wanten gefetzt und eins der Beiboote hatte etwas abgekriegt. Das waren nur die Schäden, die man auf den ersten Blick sah. Das andere war noch schlimmer. Nach der Inspektion sah der Seewolf seine Leute der Reihe nach an. »Die Welle hat uns zwischen die Felsen geworfen und eine Menge Gestein zwischen beiden Felswänden aufgetürmt. Wir können nicht vor und nicht zurück, wir sitzen fest, obwohl wir keine Grundberührung haben. Ferris, wie sieht es innen aus?« »Kein Wassereinbruch, kein Riß. Ich habe alles nachgesehen, nur die Kammern sind verwüstet. In der Kombüse sieht es am schlimmsten aus, die Lebensmittel sind zum größten Teil überschwemmt, die Vorpiek ist halbvoll gelaufen. Das Schiff sieht aus wie ein Wrack, es wird eine Menge Arbeit geben.« »Ja, das fürchte ich auch. Aber wir wollen versuchen, unsere Fahrt so schnell wie möglich fortzusetzen, und deshalb werden wir uns zuerst gegenseitig verarzten, ehe wir uns das Schiff vornehmen. Shane und Tucker werden die Arbeiten einteilen. Glaubt einer, daß er nicht durchhält?« »Wenn wir diese Woge überstanden haben, dann stehen wir auch alles andere durch«, versicherte Dan und knuffte seinen Vater in die Rippen, der griesgrämig an Deck starrte. Auch der 100
alte O’Flynn hatte eine Menge abbekommen, aber er zeigte es nicht. Der Kutscher holte sein Verbandszeug, Salben und Desinfektionsmittel. Rasch und geschickt ging er an die Arbeit, desinfizierte dort, wo Risse waren, mit Alkohol und verband die Wunden. Die Prellungen und Blutergüsse blieben unbeachtet, die heilten von allein. Danach wurde an Deck über Holzkohlenfeuer eine kräftige Mahlzeit gekocht und jeder erhielt auf den ausgestandenen Schrecken einen Becher Rum zum Nachspülen. Anschließend wurde die Arbeit eingeteilt. Der Kutscher räumte seine Kombüse auf, dazu bedurfte er keiner fremden Hilfe, das war seine Angelegenheit, und er ging mit Feuereifer daran. Batuti, Shane und Tucker kümmerten sich um die Zimmermannsarbeiten. Hasard räumte seine eigene Kammer auf und kümmerte sich anschließend um die feuchtgewordenen Pulvervorräte der ›Isabella‹. Das Schiff mußte gefechtsklar bleiben, wenn auch im Augenblick nicht zu befürchten war, daß Spanier aufkreuzten. Die hatten nach der Katastrophe sicherlich andere Sorgen und waren mit sich selbst genügend beschäftigt. Die Männer schwitzten und keuchten. Ferris Tucker und Shane schlugen neue Rahen an. Eine der alten war noch zu gebrauchen, drei wurden von den Ersatzteilen genommen, die sie mit sich führten - für alle Fälle. Es gab keine Hand an Deck, die sich nicht rührte. Sogar der verletzte Gary Andrews erschien an Deck und half mit. »Mann, o Mann«, sagte er zu dem Kutscher, »und ich habe von dem ganzen Zauber kaum etwas gesehen. Wie lange glaubst du, werden wir hier zubringen müssen?« Der Kutscher stieß ein meckerndes Lachen aus. »Vielleicht für immer«, brummte er unwirsch. »Sieh dich doch einmal um, ringsum nichts als Felsen und Trümmer. Sobald an Deck alles klariert ist und Will Thorne neue Segel 101
genäht hat, geht es dort draußen weiter. Dann können wir Steinchen schleppen, bis wir umfallen.« Gary Andrews spähte über das Schanzkleid. Sein Schädel schmerzte immer noch, sobald er ihn bewegte. »Um Himmels willen«, stöhnte er erschüttert. »Da - da unten ist ja noch gewachsener Fels.« »Klar, daran kauen wir, bis unsere Zähne stumpf sind. Ich weiß selbst nicht, wie Hasard das alles wegräumen will.« »Er wird schon eine Lösung haben.« Hasard hatte aber keine. Dieser Fels um die ›Isabella‹ herum bereitete ihm eine Menge Sorgen. Er wollte sich später noch selbst davon überzeugen, wie tief er reichte. Die Galeone hatte es dort hineingeklemmt wie bei einer Maßarbeit. Am späten Nachmittag überzeugte er sich von dem Ausmaß der Felsbrocken und Steine. Ferris Tucker sah ihm mit besorgtem Gesicht zu, als Hasard an einem Tau hinunterglitt. Er trug nur eine kurze Hose, ließ sich dann am Ruderblatt hinunter und stieg ins Wasser. Massenhaft lagen Felstrümmer herum, die es zermalmt hatte. Mitunter waren es nur kopfgroße Brocken, andere aber ließen sich nicht einmal mit der Kraft von drei Männern bewegen. Und auf der Backbordseite war der Fels gewachsen. Es war ein Wunder, daß sich das Schiff nicht den Rumpf aufgerissen hatte. Prustend tauchte er wieder auf und holte tief Luft. »Es sieht nicht allzu schlecht aus, Ferris, wir sind wie in einem großen Becken gefangen. Wenn es uns gelingt, am Heck einen Teil der Felsen wegzusprengen, können wir das Schiff über den Achtersteven langsam hinausziehen. Aber wie können wir so dosiert sprengen, ohne daß wir uns selbst ein Loch in den Rumpf jagen?« Tucker besah sich die Lage. Neben ihm auf den lose angehäuften Felsbrocken stand Al Conroy, der ebenfalls verzweifelt nach einer Lösung suchte. 102
Da ging ein Strahlen über das Gesicht des rothaarigen Schiffszimmermanns. Er tippte sich an die Stirn. »Haben wir noch genügend Flaschen an Bord?« fragte er. »Wein und Rumflaschen«, erwiderte der Seewolf. »Aber - ah, jetzt verstehe ich. Du denkst an die Flasche, die du ...« »Ganz recht«, sagte Tucker. »Allerdings gibt es dabei noch ein kleines Problem. Schließlich können wir den guten Wein oder den herrlichen Rum nicht einfach ausschütten. Was tun wir nur?« »Wirklich, eine schwere Entscheidung«, gab Hasard zu. »Da wird uns wohl kaum eine Lösung einfallen.« »Wir könnten die Flaschen doch ganz einfach leersaufen«, schlug Al Conroy ernst vor. »Oder seid ihr auf die Idee noch nicht gekommen, eh?« Das dröhnende Lachen Hasards und Tuckers ließ ihn zusammenfahren. »Ein kluges Kerlchen«, lobte Ferris. Er schlug dem verdutzten Stückmeister krachend auf die Schulter. »Auf die Idee wären wir nie verfallen, Al. Da muß erst so ein Genie wie du nachdenken!« »Heute abend bei einem kleinen Umtrunk werden wir das Problem lösen. Verdient haben wir einen Schluck nach unserer Neugeburt. Und Al kriegt natürlich zwei Flaschen, weil er den einmaligen Einfall hatte. Mann, was haben wir für weitschauende Männer an Bord«, lobte der Seewolf und begleitete seine Worte wiederum mit einem dröhnenden Gelächter, das ansteckend und befreiend wirkte. Al Conroy wurde von den anderen Männern in alle Himmel gelobt und merkte erst am späten Abend, daß ihn die »verlausten Himmelhunde«, wie er sich ausdrückte, die ganze Zeit auf den Arm genommen hatten, weil angeblich niemand auf die Idee verfallen war, volle Flaschen einfach »leerzusaufen«. 103
In dieser Nacht schliefen alle tief und traumlos, bis auf die zwei Mann, die Wache gingen und sich alle zwei Glasen ablösten, damit jeder zu seinem Schlaf kam. Es passierte auch nicht mehr in dieser Nacht. * Der nächste Morgen brachte die härteste Knochenarbeit mit sich, an die sich die Seewölfe erinnerten. Die lose herumliegenden Felsstücke wurden abgetragen und etwas weiter wieder ins Wasser befördert. Das dauert bis zum Mittag, obwohl ausnahmslos jeder mithalf, selbst der alte Donegal Daniel O’Flynn, der auf seinem Holzbein herumstakte und jeden Felsbrocken hundertmal verfluchte, ehe er ihn mit Schwung ins Wasser warf. Carberry und Tucker bereiteten ihre Flaschen vor, und Tucker hatte dabei einen neuen Trick ersonnen, wie man die Flaschen unter Wasser zündete, damit sie genügend Sprengkraft entwickelten. Er ließ etwas Luft in den Flaschen, packte Werg auf das Pulver, warf dann ein Stück glimmende Lunte hinein und verstaute die Dinger in den Rissen der Felsstücke. Bis der Funke sich durch das Werg gefressen hatte, reichte die Luft, dann flog ein paar Sekunden später die Flasche in die Luft und nagte an dem Felsen. Ab und zu explodierte eine Flasche vorzeitig und einige andere verpufften wirkungslos und wirbelten große Fontänen hoch. Am dritten Tag wurde die ›Isabella‹ geleichtert, der ganze Krempel auf die Felsen gebracht und das Schiff langsam über das tückische Riff achteraus ins freie Wasser gezogen. Ein donnerndes »Hurra« begleitete die neugewonnene Freiheit, die ›Isabella‹ schwamm wieder und konnte sich frei bewegen. Das neuerliche Einladen war eine Kleinigkeit. Aber es kostete genug harte Arbeit, Schweiß und Flüche. 104
Am späten Nachmittag wurden die Segel gesetzt, als wieder ein raumer Wind wehte. Stolz zog die ›Isabella‹ davon, die meisten Blessuren waren ausgebessert, ein paar kleine Schönheitsfehler blieben, doch die sah man nur, wenn man genau hinblickte, und darauf kam es auch gar nicht an. Hasard hatte es eilig, nach Little Cayman zu segeln. Die Warnung des alten Jonas, den das Meer geholt hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf und ließ ihn nicht ruhen. Wenn es stimmte, daß Siri Tong in Gefahr war und das hatte der Jonas damit ja angedeutet, dann konnten sie gar nicht schnell genug hinsegeln. Jede Minute zählte, sie hatten Zeit genug versäumt. Stimmte es nicht - nun, dann waren da noch die Spanier. Der Seewolf wollte sie ohnehin wieder einmal kräftig zur Ader lassen. Sie hatten lange genug ihre Ruhe gehabt und würden sich über die Abwechslung freuen, die er ihnen bot. Mit Kurs auf den Caymangraben segelten sie weiter.
ENDE
Am Auge der Götter von Fred McMason
Little Cayman, die Insel in der Karibik, barg ein Geheimnis, und es wurde von zwei fanatischen Indianern bewacht. Der Weg zu diesem Geheimnis war mit Skeletten und Totenschädeln gesäumt - den Überresten jener, die es gewagt hatten, zum Auge der Götter vorzudringen. Und dann lief die ›Isabella VIII.‹ die geheimnisvolle Insel an, 105
und die Seewölfe gerieten in eine tödliche Falle ...
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