Der Kult Version: v1.0
Süßlicher Rauch stieg zur Decke des Tempels empor. Sechs Gestalten in roten Kutten umstanden ei...
12 downloads
820 Views
966KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Der Kult Version: v1.0
Süßlicher Rauch stieg zur Decke des Tempels empor. Sechs Gestalten in roten Kutten umstanden ein magi sches Geflecht, in dem sechs nackte Menschen wie fette Fliegen in einem unsichtbaren Spinnennetz hingen. Das siebente Opfer ließ auf sich warten. Als es endlich zum Tor hereingetragen wurde, brach Chaos aus. Etwas nie Dagewesenes war geschehen: Eine Auser wählte war tot, bevor sie sterben durfte! Das Ritual war dadurch nicht gefährdet, aber am Ende dieses Mondum laufs würde eine Seite der CHRONIK fehlen! Was dies für den weiteren Weltengang bedeutete, war unabsehbar. Onan mußte entscheiden. Die Göttliche mußte erweckt werden …
Was bisher geschah Landru spürt Lilith mittels des konservierten Schrumpfkopfs ihres Vaters auf. Und als sie zu Esben Storm aufbricht, heftet er sich an ihre Fersen. Storm nimmt Lilith mit auf die Traumzeitreise. Sie be treten den Garten und entdecken eine große Anzahl Menschen, die sich die Früchte eines Apfelbaumes, der im Zentrum wächst, voll ständig in den Hals pressen und danach verschwinden. Das Grab von Liliths Mutter ist leer, das Haus hat seine Struktur völlig verändert, seit Lilith es verließ. Entsetzt bittet sie Storm, sie wieder zurückzubringen – aber er ist verschwunden. Das Haus will Lilith auch als reinen Astralkörper nicht mehr hergeben. Und schlimmer noch: Sie spürt, daß es auch ihren Körper holen will! Das geschieht genau in dem Moment, als Landru Lilith in seine Gewalt bringen will. Sie löst sich vor seinen Augen auf. Aus Rache zündet er den Laden des Aboriginals an. Storms Astralleib kehrt zurück, ehe das Haus Lilith vollständig binden kann. Er kappt die »Nabel schnur«, und Lilith wacht benommen in einer Gasse Sydneys auf. Liliths Mißmut gegen Storm ändert sich erst, als sie zu seinem La den zurückkehrt und diesen abgebrannt vorfindet. Nun stellt sich natürlich die Frage, was aus dem Aboriginal geworden ist. Der Vampir Habakuk, der Landru beeindrucken will, greift Lilith in einem Park an – und wird von ihr besiegt. Sie preßt mit Hilfe des Symbionten-Kleideswichtige Informationen aus ihm heraus. Landru indes erhält Besuch von einer alten Freundin: Nona, eine Werwölfin. Während die beiden auf die Jagd gehen, dringt Lilith in den Sitz der Vampire ein, eine entweihte Kirche. Sie findet Landrus Kammer – und den Schrumpfkopf ihres Vaters, den sie nicht zu be rühren vermag. Gerade als sie Landrus Karte aus Menschenhaut
entdeckt, auf der sein Ziel in Indien vermerkt ist, kehren er und Nona zurück. Während Landru und die Wölfin sich lieben, kann Li lith entkommen. Doch Hekade, eine Vampirin, heftet sich unbe merkt an ihre Fersen … Lilith ruft Luther an. Sie treffen sich im Park, nicht ahnend, daß Beth Luther heimlich gefolgt ist. Sie wird von Hekade gekidnappt und gegen Lilith als Faustpfand benutzt. Doch Beth kann die Gegne rin mit ihrem Blitzlicht blenden; Lilith erledigt den Rest. Nun kom men Luther und sie nicht mehr darum herum, Beth reinen Wein ein zuschenken. Inzwischen entdeckt Landru, daß Lilith sein Ziel an der indischnepalesischen Grenze kennt. Damit sie ihm nicht zuvorkommt, reist er sofort dorthin. Als er an einem jungen Mädchen seinen Durst löscht, ahnt er nicht, daß er eine Auserwählte tötet … In Sydney taucht ein veränderter Jeff Warner in Codds Büro auf – und gibt dessen Sekretärin, die wie Codd eine Dienerkreatur der Vampire ist, auf mysteriöse Weise ihre Menschlichkeit zurück …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und einer Vampirin, dazu ge zeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. 98 Jahre lag sie in einem Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Bastard sehen, bis sie sich ihrer Bestimmung bewußt wird. Da bei hilft ihr ein Kleid, das seine Form beliebig ändern kann – ein Symbiont. Duncan Luther – ein Priester-Aspirant, der Lilith vor einem Exor zismus seines Paters gerettet hat und ihr verfallen ist. Als Pater Lor rimer ums Leben kam, floh er mit Lilith. Jeff Warner – ein Detective auf heißer Spur. Er fand heraus, daß eine Serie von Genickbruch-Morden eine feste Tradition in Sydneys Historie hat. Als er Polizeichef Virgil Codd informierte, schickte der ihn zu einem ganz besonderen Einsatz: in den Garten des versunke nen Hauses, wo Lilith erwachte und in dem schon etliche Menschen verschwunden sind. Beth MacKinsey – Journalistin. Bei ihr fanden Duncan und Lilith Unterschlupf. Von Warner bekam Beth die »Genickbruch-Liste« zu geschickt, bevor er im Garten in der Paddington Street verschwand. Esben Storm – ein geheimnisvoller Aboriginal-Schamane. Er beob achtet Lilith seit Jahrzehnten, gibt aber nicht preis, ob er Freund oder Feind ist. Landru – Mächtigster der alten Vampire. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann. Gerade hat er eine Rei se nach Indien unterbrochen.
Rani öffnete die Augen. Zuerst glaubte er, ein Mondstrahl habe sei ne Nase gekitzelt. Lücken im Dach gab es genug, und die silberne Sichel hing majestätisch über dem Schattenkranz der Siebentausen der. Doch dann wiederholte sich das Geräusch, das er noch nie zu vor in seinem Leben gehört hatte. Vorsichtig richtete sich der Junge auf. Seine Ellenbogen versanken tief im Stroh. Die Wolldecke rutschte bis zum Nabel. Es war eine Nacht voll behaglicher Kälte, knapp über dem Gefrier punkt. Da Rani selten fror, empfand er die Klarheit der Luft als höchst angenehm. Er habe gutes Blut, hatte ihm schon sein Vater versichert; nicht ganz ernsthaft gemeint vielleicht, aber Rani hielt sich gern an solchen Sätzen fest. Mehr als die Erinnerung und die Aufgabe war ihm von seinem Vater, der auch sein Vorgänger gewe sen war, nicht geblieben. Die Aufgabe an sich war scheußlich. Rani wurde nicht gern an sie erinnert, obwohl er sie gestern erst zum zweitenmal erfüllt hatte. Mit einem Sack voller Scherben hatte er den Pfad zu den Tempelan lagen erklommen und den Inhalt des heiligen Obelisken eine Meile über dem Dorf in den vorgesehenen Felsspalt geschüttet. Als er Stunden danach ohne die fluchbeladene Last zurückkehrte, war noch nicht bekannt gewesen, wen aus ihrer Mitte das »Scher bengericht« diesmal getroffen hatte. Spätestens nach Tagesanbruch aber würde es sich wie ein Lauffeuer in den Hütten, auf den Plätzen und in den Reisfeldern herumsprechen. Rani sah sich um. Seine Augen gewöhnten sich an das karge Ster nenlicht. Mutter und Geschwister schliefen in greifbarer Nähe. Sie waren von den seufzenden Klängen nicht erwacht, obwohl deren Lautstärke beharrlich anschwoll. Nichts, was als Verursacher der unheimlichen Töne hätte gelten
können, hielt sich in der überschaubaren Hütte auf. Rani erhob sich. Das löchrige Hemd, in das er schlüpfte, begleitete ihn seit Jahren überall hin. Ebenso die fadenscheinigen Stoffschuhe, deren abgelaufene Sohlen fast mit einer Briefmarke konkurrieren konnten. Ehe er die Hütte verließ, band Rani die Kordel fest um die Hüfte zusammen, um zu verhindern, daß ihm seine Hose auf die Knöchel fiel. So trat er in die klare Nacht hinaus. Eine Sternschnuppe zog ihre Spur über das Firmament – und erlosch. Irgendwo scharrten Hufe von Pferden oder Ochsen in offenen Pferchen. Der Ursprung der seufzenden Stimmen war immer noch nicht zu bestimmen. Aber Rani sah etwas anderes, was seinen Atem stocken ließ. Etwa in der Mitte des Dorfes glomm ein fremder Schein, der sich hartnäckiger hielt als der der Sternschnuppe von eben. Eines der ge duckten Häuser war von einer gespenstischen Aura umgeben! Rani war noch nie mit etwas Unheimlicherem konfrontiert wor den. In seiner Aufregung kam er gar nicht auf den Gedanken, sofort auf dem Absatz kehrtzumachen und seine Familie zu alarmieren. Kein Ton drang über seine Lippen. Die Beine setzten sich wie von allein in Gang. Sie zwangen den Jungen auf das glutrot erhellte Steinhaus zu, obwohl es ihn in diesen Augenblicken vor nichts mehr grauste als vor gerade diesem Spuk! Der Seufzerchor dröhnte unter Ranis Schädeldecke. Vergeblich fragte er sich, warum er der einzige war, der ihn hörte und etwas unternahm. Durch die schwindende Nacht eilte er auf das Haus zu. Er hatte Angst wie nie zuvor. Kalter Schweiß glitzerte auf seiner Haut, und doch spürte er weder ihn noch die niedrigen Temperaturen. Die Tür des Hauses stand einladend offen. Dahinter war ein roter
Schein. Die Öffnung atmete Rani förmlich ein, und zum erstenmal zog er in Betracht, alles nur zu träumen. Der erste Raum, in den er stolperte, war verlassen. Doch kurz dar auf begegnete der junge Nepali dem Tod in seiner scheußlichsten Gestalt. Ein Wahnsinniger mußte die Bewohner des Hauses – die Rani kannte wie jeden anderen im Ort – getötet und sich dabei offensicht lich in einen Blutrausch gesteigert haben. Er hatte die Menschen nicht einfach nur ermordet, sondern hingemetzelt. Alle Brustkörbe waren geöffnet worden. Rani konnte nicht fliehen. Er wachte auch nicht aus einem Alp traum auf. Er wankte weiter – und fand im nächsten Raum die ge raubten Herzen derer, die er zuvor entdeckt hatte. Sie waren wie zu einem Ritual übereinandergeschichtet worden. Gerade als sich Rani mit Grausen abwenden wollte, trat etwas hin ter den blutigen Organen hervor. Obwohl es eigentlich viel zu groß war, als daß es sich dahinter hätte verbergen können. Im selben Mo ment verstummten die Seufzer in Ranis Kopf, von denen er wie bei läufig begriff, daß es Seufzer der Ermordeten sein mußten. Die Gestalt, die sich dem Jungen näherte, war in eine rote Kapu zenkutte gehüllt. Wenn man die Größe als Maßstab nahm, handelte es sich zweifelsfrei um einen Erwachsenen. In Ranis Bauch bildete sich ein Knoten. Er ahnte, daß er der nächs te war, der sterben würde. Aber auch diese Überzeugung verlieh ihm nicht die Kraft, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Aus ge weiteten, starren Pupillen erwartete er das Unausweichliche. Unter der weiten Kapuze schimmerte es zunächst wie rauhreif überzogene, gefrorene Schwärze. Als die Gestalt die Arme ausbreitete, fiel die Dunkelheit wie ein Vorhang von ihrem Gesicht.
Was dahinter zum Vorschein kam, ließ Rani fast das Blut in den Adern gerinnen. Der Kopf der Gestalt war vollständig von etwas umgeben, das wie gegerbte Tierhaut aussah, die jemand mit etwas Garn zu einer schrecklichen Maske zusammengenäht hatte. Nur Augen und Mund waren frei. Aber was durch die Schlitze schimmerte, wirkte nicht einmal entfernt menschlich. Eine Hand, ebenfalls mit Haut überzogen, fuhr dem Jungen entge gen und legte sich schwer auf sein Haupt. Rani ging in die Knie. Die Last des ganzen Hauses schien ihn plötzlich niederzudrücken. Fremde Gedanken mischten sich unter seine eigenen. Er erfuhr, was er zu tun hatte. Als er den Ort des Massakers verließ, war die lockende Aura um das Haus verschwunden. Rani wartete bis zum Morgengrauen, ehe er die Bewohner des Dorfes zusammenrief und ihnen von der Freveltat berichtete. In diesen Stunden verlor er endgültig seine Unschuld. Mit seinen zehn Jahren war er über Nacht gereift, und Freunde von gestern kannten ihn nicht mehr …
* Er kam aus den Schatten. Und war selbst nicht viel mehr als ein Schemen, die Illusion eines Mannes. Doch mit jedem Schritt, den er näherkam, wurden seine Konturen deutlicher, gewann sein nackter Körper an Substanz. Die junge Frau blickte ihm erwartungsvoll entgegen. Auch sie war bar jeder Kleidung – und nicht nur das. Ebenso nackt waren ihre Gedanken. Sie war ohne jede Erinnerung … ja, sie wußte
nicht einmal, wer sie selbst war. Ihr ganzes Denken war vollständig auf die hochgewachsene, schlanke Gestalt fixiert, den Mann, der sie nun erreichte, den rechten Arm hob und über ihre Wange strich. Sie ließ es geschehen. Sie hatte keinen eigenen Willen. Sie existierte nur für den Augenblick. Er lächelte. Sein feingeschnittenes Gesicht spiegelte einen enormen Erfahrungsschatz wider. Besonders auffällig war ein fingerlanges, kreuzförmiges Stigma auf der linken Wange, das wie rohes Fleisch schimmerte. Sie fuhr mit einem Finger darüber, während seine Hand tiefer glitt, ihren Hals entlang, hinab zu einer ihrer vollen Brüste. Sie stöhnte auf, als er die Brustwarze berührte, sie zwischen zwei Finger nahm und sanft massierte. Auch seine zweite Hand ging jetzt auf Entdeckungsreise, fuhr über ihren Bauch und erreichte ihr Schamhaar. Hitze wallte in ihr auf, als seine forschenden Finger noch tiefer glitten und sie im Zentrum der Lust berührten. Ein Prickeln wie von kochendem Blut erfüllte ihren ganzen Körper. Blut... Ein Erinnerungsfragment tauchte in der Leere auf, die ihren Geist ausfüllte, doch sie war nicht fähig, danach zu greifen und es festzu halten. Sein Gesicht war jetzt ganz dicht vor dem ihren. In seinen Augen schien ein Feuer zu brennen, das sie bannte. Das Sehnsüchte in ihr erweckte, die sie nie gekannt hatte. »Nona«, flüsterte er heiser, und seine Lippen näherten sich den ih ren. Nona? Ihr Name? Irgend etwas war falsch, ohne daß sie hätte sagen können, was. Es war nicht ihr Name. Sie wußte es mit einer Bestimmtheit, die keinen
Zweifel zuließ. Trotzdem erwiderte sie seinen leidenschaftlichen Kuß. Sein kundi ger Finger drang weiter in sie ein und weckte neue, schwindelerre gende Gefühle. Seine andere Hand lag über ihrer Brust und preßte sie zusammen. »Schließ die Augen und liefere dich mir aus. Ich will deine AlphaHerrin sein – wie immer, wenn wir uns begegnen …« Erst im nachhinein kam ihr zu Bewußtsein, daß die Worte aus ih rem Mund gekommen waren. Worte, die ihr fremd waren, deren Sinn sie nicht begriff. Es schien, als habe etwas Fremdes in ihr ge sprochen, nicht sie selbst. Der Mann löste sich von ihr und ließ sie behutsam auf den Boden sinken. »Du darfst alles«, sagte er. »Nur nicht enttäuschen. Was habe ich zu tun?« Er breitete die Arme aus, wies die leeren Handflächen und demonstrierte unmißverständlich, daß er sich ihr – zumindest sym bolisch – ergab. Ihr Blick wanderte an ihm empor und verharrte auf seinem hoch gereckten Glied. Es war gewaltig. Zu der unbändigen Lust gesellte sich ein neues Gefühl. Würde er sie nicht verletzen, wenn er …? Falsch. Eine falsche Sicht. Wieder blitzte eine Erinnerung vor ihrem geistigen Auge auf. Das Gefühl, dies alles schon einmal erlebt zu haben. Aber aus einem an deren Blickwinkel. Nicht aktiv, sondern … passiv? Der Mann ließ sich vor ihr auf den Boden nieder, drehte sich und legte die Handgelenke hinter dem Rücken aufeinander. »Ich werde meine Zelte hier abbrechen, zumindest vorüberge hend«, sagte er wie beiläufig, während sie (nein, nicht sie: ihr Körper!) nach einem dünnen Schleier griff, der neben ihr lag, und damit seine Handgelenke kunstvoll zusammenflocht. »Es könnte fatale Folgen
haben, noch mehr Zeit zu verschwenden. Das Balg läuft mir nicht fort. Sollen sich einstweilen andere an ihr versuchen …« »Von wem redest du ständig?« fragte ihre Stimme ohne ihr Zutun. Anscheinend verspürte er keine Lust auf Diskussionen. Trotz der Fesselung schnellte er sich ihr entgegen und riß sie mit sich zu Bo den. Seine Lippen bedeckten ihren Körper mit unzähligen Küssen. Sie tastete nach seiner Männlichkeit und umschloß sie mit ihrer Hand. Kalt. Leblos. Der Gedanke ließ die Lust in ihr verpuffen. Er fühlte sich … tot an, nicht wie ein lebendes Wesen. Und plötzlich empfand sie auch seine Küsse nurmehr wie die Berührungen toten Fleisches. Ihr Körper hingegen kümmerte sich nicht um die Empfindungen. Sie wand sich laut stöhnend unter ihm. Sein Glied drängte gegen ihren Schoß, begehrte Einlaß. Doch sie wollte es auf ihre Weise. Nach den Gewohnheiten ihrer Art. Sie drehte sich auf alle viere und preßte ihren Oberkörper zu Bo den. Seine Fingernägel fuhren schmerzhaft über ihren Rücken und fachten die Begierde nur noch weiter an. Dann war er hinter ihr. Und obwohl sie ihn in dieser Position gar nicht sehen konnte, glaubte sie doch, ihn vor sich zu haben. So als wenn sie gar nicht am Boden läge, sondern … Hinter ihm wäre, einige Meter entfernt. In einem … Schrank!? Im gleichen Moment konnte sie spüren, wie er in sie eindrang. Der plötzliche Schmerz zerriß den Schleier um ihre Erinnerungen. Der Mann war … »Landru!« Sie schrak mit einem Schrei hoch. Um sie herum war Dämmer
licht. Und vor ihr … eine Sessellehne? »Ganz ruhig«, klang neben ihr eine Stimme auf. Eine Hand legte sich schwer auf ihre Schulter, und im ersten Moment zuckte sie pa nisch unter der Berührung zusammen. »Was ist mit dir, Lilith?« Endlich gelang es ihr, die Verwirrung abzuschütteln. Sie wandte den Kopf. Neben ihr saß Duncan Luther und lächelte sie beruhigend an. Um sie herum herrschte die gedämpfte, schläfrige Atmosphäre eines großen Passagierflugzeugs auf Nachtflug. Lilith erinnerte sich jetzt. Die Anspannung fiel von ihr ab. Sie at mete tief ein und versuchte das Lächeln zu erwidern. Es gelang ihr nur schlecht. »Ist schon wieder in Ordnung.« Ihre Stimme klang heiser und zit terte leicht. »Ich hatte einen … bösen Traum.« Doch tief in ihr meldete sich eine gehässige kleine Stimme. War es das wirklich: nur ein Traum? Sie erinnerte sich nur allzu deutlich an die Szene: Als sie in Land rus Kammer in der entweihten Kirche eingedrungen war und ihn und die Werwölfin aus einem Versteck heraus beim Liebesspiel be obachtet hatte.* Nur im Traum hatte sie sich nicht als Beobachterin erlebt. Sie war Landrus Geliebte gewesen. Das schien zu bestätigen, was sie schon bei ihrer ersten Begegnung mit den Mächtigsten der Vampire zu fühlen glaubte und was sie schon damals in Verwirrung gestürzt hatte: Landru war nicht nur ihr größter Gegner, der verhaßte Feind, dessen Pläne sie durchkreu zen und den sie vernichten mußte. Ebenso wie er sie abstieß, faszinierte er sie auch. Etwas in ihr, ein dunkler Teil ihres Erbes, fühlte sich unwiderstehlich zu ihm hinge *siehe Vampira 6: »Blutspur«
zogen. Und das erfüllte sie mit einem tieferen Schrecken, als daß sie es einfach nur als Traum abtun konnte …
* Geisterhaftes Licht erfüllte den Tempelraum, wo der Schrein seit un denklichen Zeiten aufbewahrt wurde. Die Inkarnationen umstanden ihn in roten Kutten. Durch seine ge schlossenen Wände hatten sie erste Anweisungen erhalten und un verzüglich weitergeleitet. Die Menschen im Dorf wußten Bescheid. Das Erwecken Onans war ein langwieriger Prozeß. Nun stand er kurz vor dem Ende. Stein rieb auf Stein. Der Deckel des Schreins glitt zentimeterweise zur Seite. Ein Geräusch ertönte, als würde Luft in ein Vakuum strö men. Es war die einzige, kurze Unterbrechung völliger Lautlosig keit. Dann zerfiel der Deckel zu Staub, noch ehe er vollständig zur Seite geschoben war. Auch das geschah lautlos. Die Inkarnationen rückten näher. Nicht einmal ihre Kutten ra schelten. Sie blickten in den Schrein wie in eine mit gefrorener Schwärze gefüllte Wanne. Das kompakte, frostige Dunkel begann zu schmelzen. Zu tauen. Verflüssigte sich. Die Kuttenträger warteten geduldig. Seit Jahrtausenden hüteten sie die Tempel und ihre Schätze. Und pflegten den KULT. Plötzlich schoß aus der tintigen Schwärze ein Arm mit einer ge
ballten Faust hervor. Den Tempel durchlief ein Beben. Die Inkarnationen verharrten ohne Furcht. Eine zweite Faust folgte. Eine neue Bebenwelle, vielleicht bis hinunter ins Tal spürbar, ließ die Tempelanlage erzittern. In ihrem weitläufigen Komplex waren noch sechs andere Schreine verborgen. Sie alle würden diesen Vor gang unbeschadet überstehen. Nur Onan erwachte. Noch nie waren mehrere Schläfer gleichzeitig geweckt worden. Noch nie war der KULT auf diese Weise verhöhnt worden! ZEIGT MIR DIE TOTE! sang die eine Faust. ICH WILL IN IHR LE SEN! fügte die andere Faust hinzu. Bimal wurde hereingetragen. Ihre Nacktheit diente dazu, nichts zu beschönigen. Langsam wurde der geschändete Körper den Fäusten übergeben, die ihn mit zu sich in den Pool aus Schwärze zogen. ICH LESE UND VERSTEHE, wisperte es in den Leibern der Inkar nationen. Dann tauchte Onan in ihrer Gesamtheit aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Die Beben hörten auf.
* Neu Delhi Ein fremdes Land. Eine Fremde …
Die schwarzhaarige junge Frau im lachsfarbenen Kleid stockte. Nachdem sie die tunnelartige Verbindung zwischen der gelandeten Boeing 747 und dem Empfangsterminal hinter sich gebracht hatte, überkam sie ein höchst merkwürdiges Gefühl. Spontan entsann sie sich an das, was sie Tage zuvor aus Landrus Mund gehört hatte. Ihr Feind führte auf seinen Reisen rund um den Globus stets ein Säckchen Heimaterde mit – um sich auch in der Fremde heimisch zu fühlen. Lilith Eden verließ zum ersten Mal das, was andere als »Heimat« bezeichneten. Erde hatte sie nicht dabei … Konnte diese vorübergehende Verunsicherung wahrhaftig an der Verbundenheit mit einem Flecken Erde liegen, auf dem sie 98 Jahre zuvor geboren worden war, aber die meiste Zeit geschlafen hatte …? Ihr Begleiter erfaßte sofort, daß sie ein Problem hatte, und lenkte sie in »ruhigere Gewässer« – quer durch die Empfangshalle. »Was war denn?« fragte Duncan Luther. Der sportive Look stand ihm gut. Besser als die Soutane, für die er sich vor ihrem Kennenler nen ums Haar entschieden hätte. Der große Blonde lenkte die Halb vampirin sofort weiter. Keiner der nachfolgenden Passagiere be merkte ihre Verunsicherung. Das Paar zog sich in einen ruhigeren Winkel der hellerleuchteten Halle zurück. »Mir war nur einen Moment lang komisch zumute«, antwortete Lilith etwas verspätet. Ihre grasgrünen Augen glommen. »Komisch?« echote er. Ihr feingeschnittenes Gesicht verzog sich beifällig. Die Züge deute ten auf slawische Vorfahren hin. Sie waren voller Anmut und ge prägt von hohen Wangenknochen, leicht schräg stehenden Augen und einer marmornen Blässe, die von dem rabenschwarzen, vollen Haar noch unterstrichen wurde. Dort, wo die Maschine der Indian Airlines gestartet war, galt Bläs
se längst wieder als »in«. Australien litt von allen Nationen bereits am spürbarsten unter dem Schwund der schützenden Ozonschicht. Downunder war längst nicht mehr erste Adresse für Sonnenanbeter und, seit Liliths Erwachen, auch nicht mehr für Vampire. Die altein gessenen Vampirsippen mußten sich vorsehen in der ehemaligen britischen Kronkolonie. Liliths Haß gegen die, die keine Schatten warfen, war tief in ihr verwurzelt und hatte mit ihrer Bestimmung zu tun, von der sie noch immer nichts Genaues wußte. Als lebendig geborenes Kind einer Vampirin und eines sterblichen Menschen war sie gezeugt worden, um den Kampf gegen ihr eige nes Stiefvolk aufzunehmen, welches seit Urzeiten unter den Men schen lebte und sie nach Belieben manipulierte. Diese uralte Rasse hatte Liliths Mutter Creanna verfolgt und verstoßen und ihren leibli chen Vater, einen Schotten namens Sean Lancaster, brutal ermordet. Inzwischen kannte Lilith den Mörder namentlich und persönlich. Er hieß Landru und war der legendenumwobenste aller Vampire. Ihm waren sie nach Indien gefolgt. Von einem gefangengenommenen Vampir hatte Lilith erfahren, daß Landru seit zweieinhalb Jahrhunderten quer über alle Kontinen te hetzte, um etwas zurückzugewinnen, das von existenzieller Be deutung für die Alte Rasse war. Landru war im Besitz einer auf gegerbte Menschenhaut geschrie benen Karte, von der er sich erhoffte, daß sie ihn zum Lilienkelch, dem gestohlenen Unheiligtum der Vampire, führen würde. Um diesen Kelch ging es. Als es Lilith auf abenteuerliche Weise gelungen war, sich in den Besitz einer Kopie der Karte zu bringen* hatte sie nicht gezögert, sich an Landrus Fersen zu heften. *siehe Vampira 6: »Blutspur«
Ob sie sich über Duncans Begleitung freuen sollte, wußte sie im mer noch nicht sicher. Was ihn anging, wurde sie von zwiespältigen Gefühlen geplagt. Der Aufwand, um Australien ohne Aufsehen und Komplikationen zu verlassen, war immens gewesen. Ohne »Macbeth«, die Reporte rin des Sydney Morning Herald, hätten die Vorbereitungen noch be deutend mehr Zeit verschlungen. Sie war es auch gewesen, die Li lith durch den Behördendschungel gelotst hatte. Trotzdem wäre es ohne das besondere Talent der Halbvampirin, Menschen zu »über zeugen«, nicht ganz so flott und unbürokratisch möglich gewesen, an falsche Ausweispapiere für sie und Duncan zu gelangen. Er hieß nun Luther Keaton, während Lilith selbst keinen Anlaß sah, ihren Namen zu ändern. Warum auch – schließlich war sie nirgends regis triert. Auf ähnliche Weise hatten sie anschließend ihre Visa ergaunert. Last but not least hatten sie die Finanzfrage klären müssen. Mac beth wollten sie zu allen Ungelegenheiten, die diese bereits erlitten hatte, nicht auch noch ausräubern. Und Duncans bescheidene Mittel waren eingefroren und hätten sich nur auf das hohe Risikio hin ab heben lassen, daß er verhaftet wurde. Lilith löste das Problem auf ihre Weise. Moralische Bedenken kannte sie nicht. Sie brauchte das Geld schließlich nicht für irgend welchen persönlichen Firlefanz, sondern um den Vampiren das Kostbarste zu nehmen, das sie besaßen – oder bald wieder besitzen würden, wenn sie nicht handelte. Der Lilienkelch wurde von der Alten Rasse dringend gebraucht, um Nachwuchs zu »zeugen«. Wie Lilith inzwischen wußte, konnten Vampire beim Stillen ihres Durstes zwar den Keim weitergeben, um willenlose Sklaven zu erschaffen – sogenannte Dienerkreaturen –, aber diese Kreaturen verfügten über keinerlei magische Kraft. Sie wurden von ihren Schöpfern deshalb keineswegs als »gleichwertig«
angesehen. Ihr Handeln beschränkte sich auf einen einzigen Zweck: das Dienen! Liliths spontane Absicht, nachdem sie davon erfahren hatte, war, den Lilienkelch vor Landru aufzuspüren und ihn für alle Ewigkeit zu vernichten. Er durfte kein Unheil mehr ausschütten! Ein kühner Gedanke, bedachte man, daß Lilith rein gar nichts über die Struktur dieses Gegenstandes wußte. Ein Mächtiger wie Landru suchte seit rund 250 Jahren vergeblich danach; die Vorstellung, sie könnte praktisch im Handumdrehen schaffen, was ihm bislang mißlungen war, schien auf den ersten Blick anmaßend. Liliths Optimismus war aber seit Landrus über stürzter Abreise aus Sydney gestiegen. Sein Verhalten wies darauf hin, daß er womöglich selbst fürchtete, jemand – Lilith! – könnte die Früchte seiner Anstrengungen vor ihm ernten … Diese Vorstellung gab Lilith Auftrieb. Den unerwarteten Zwischenfall beim Versuch, Geld »abzuheben«, hatte sie schon wieder verdrängt. Zum zweitenmal nach Pater Lorri mer hatte ein Mensch nicht auf ihre hypnotischen Kräfte angespro chen! Die Bankangestellte hinter dem Devisenschalter hatte nur zynisch die Mundwinkel verzogen, als Lilith sie eindringlich »bat«, ihr doch bitte fünftausend amerikanische Dollar von einem Phantasiekonto auszuzahlen. Lilith hatte den mißglückten Versuch gerade noch als Scherz ausgeben können und es in der nächsten Bank neu versucht. Dort hatte es dann problemlos funktioniert. Später hatte sie sich mit Macbeth und Duncan über das Problem unterhalten. Die beiden hatten die Theorie vertreten, daß unter schiedliche Menschen auch ganz unterschiedlich auf konventionelle Hypnose ansprachen. Klüger war Lilith danach nicht; sie wußte nun lediglich, daß sie sich offenbar schon zu sehr daran gewöhnt hatte,
ihren Willen bei Bedarf jedem Menschen aufzwingen zu können. In Zukunft würde sie mit weiteren Rückschlägen rechnen müssen … »Das muß er sein!« Duncans Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. Ohne Bean standungen hatten sie alle Kontrollen passiert. Sie reisten mit leich tem Gepäck. Außer dem, was sie am Leibe trugen, und einer einzi gen Tasche, die als Handgepäck durchgegangen war, führten sie nichts weiter mit sich. Liliths Blick schweifte durch die Besucherhalle, wo reges Treiben herrschte. »Wo?« Er wies die Richtung, und im gleichen Moment erspähte auch sie die Person, die Macbeth ihnen vermittelt hatte. Durch ihren Job ver fügte sie über beste Verbindungen zu etlichen Auslandskorrespon denten des Sydney Morning Herald. Der Mann im hellen Anzug hieß Himachal Pradesh. Er hielt ein Schild mit dem rotgedruckten Namen der Zeitung hoch. Beth hatte ihn als pointenreichen Kenner seiner Heimat und der herrschenden Gepflogenheiten empfohlen. Aber sie hatte nicht erwähnt, wie attraktiv er war. Sein an und für sich schon dunkler Teint wurde von einem streng gescheitelten, rabenschwarzen Haarschopf betont. Markante Ge sichtszüge und ein gepflegter, tiefschwarzer Schnurrbart nahmen Li lith sofort für ihn ein. Ihr flammender Blick blieb von Luther unbemerkt. Er war zu sehr auf das Einmann-Empfangskommando fixiert. Taschenschwenkend eilte er Pradesh entgegen. Lilith folgte in einigem Abstand, wobei sie sich nicht zum ersten mal fragte, was geschehen würde, wenn Luther eines Tages dahin terkam, daß ihre sexuellen Vorlieben nicht mit menschlichen Maß stäben zu messen war. Daß sie – kurz gesagt – nicht treu sein konn
te… Kurz vor ihrem Abflug wäre es beinahe zu ersten Intimitäten mit Beth gekommen, die Lilith schon seit geraumer Zeit ganz kribbelig machte. Nur der Zufall hatte verhindert, daß es nicht geklappt hatte. Vorläufig. Auch davon ahnte »Luther Keaton« nichts. Dementsprechend peinlich war es, daß Himachal Pradesh fast nur Augen für Lilith hat te und Luther lediglich im Rahmen purer Höflichkeit beachtete. Er bemerkte dies wohl, womit künftige Konflikte vorprogrammiert schienen. Dennoch konnte Lilith ihre galoppierende Phantasie kaum zügeln. Himachal Pradesh überragte Luther um einen guten halben Kopf. Er hatte ein schmales, sensibles Gesicht und feingliedrige Hände, denen die Zärtlichkeit geradezu anzusehen war. Der Bronzeton sei ner Haut und der sauber gestutzte Oberlippenbart verliehen ihm et was Aristokratisches. Mehrere Ringe schmückten die Finger. Vor der Brust baumelte offen ein silberner Talisman. Wie nicht anders erwartet, sprach er fließend Englisch, aber er hielt sich nicht lange mit Floskeln auf. Daß er Liliths ausgestreckte Linke bei der Begrüßung ausdrücklich übersah, verzieh sie ihm. An dere Länder, andere Sitten. »Sie müssen völlig übermüdet sein«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Ich bringe Sie in Ihr Hotel.« Draußen wartete eine warme Nacht mit exotischen Düften, die es allerdings schwer hatten, sich gegen den Gestank von verbranntem Diesel und Kerosin zu behaupten. Eine Sechseinhalb-MillionenStadt wie Delhi fand nie wirklich zur Ruhe. Luther hatte etwas mißmutig neben Lilith im Fond eines klappri gen Mercedes Platz genommen. Die Fahrt in die zehn Meilen ent fernte Innenstadt verlief ungewohnt schweigsam. Auch Pradesh be
schränkte sich aufs Nötigste. Er taute erst kurz bevor sie das Hotel in der Mansingh Road erreichten wieder auf. Neu Delhi präsentierte sich seinen ausländischen Gästen als kaum entwirrbarer Ameisenhaufen. Dreirädrige Motorroller, Fahrrad-Rik schas, normale Fahrräder, Taxis, Schienenfahrzeuge und natürlich Autos – keines offenbar jünger als 20, 30 Jahre – quälten sich selbst bei Nacht zu Tausenden durch die breiten und dennoch viel zu en gen Straßen. »Überall werden schon Vorbereitungen für die Große Parade ge troffen«, erklärte Himachal Pradesh den Trubel. »In drei Wochen findet das jährliche Fest zum ›Tag der Republik‹ statt, ein Feiertag im ganzen Land …« Als Korrespondent einer ausländischen Zeitung gehörte Pradesh fraglos zu den Besserverdienenden innerhalb der indischen Gesell schaft. Warum er sich kein luxuriöseres Gefährt leistete, beantworte te sich angesichts des herrschenden Verkehrschaos von selbst. TAJ MAHAL lockte endlich die Leuchtschrift über dem Portal ei nes wahren Touristenpalastes. »Als allererstes muß ich mal für kleine Jungs«, setzte Luther sich kurzerhand ab, kaum daß sie das Foyer betreten hatten. Zu diesem Zeitpunkt stand Liliths Entschluß bereits fest. Sie war tete die erstbeste Gelegenheit ab, um Pradesh unauffällig etwas zu zuflüstern. Über dessen Gesicht huschte ein verblüffter Ausdruck; er hatte sich jedoch rasch wieder unter Kontrolle. Als Luther zurückkehrte, fragte er ungnädig: »Wo ist der Typ? Hat er sich verdünnisiert?« Lilith verneinte mit Schmetterlingen im Bauch. »Er ist an der Re zeption, unseren Schlüssel holen.« »So ein Lackaffe …« Sie schwieg.
Dann kehrte Pradesh zurück. Schon von weitem machte er eine Geste des Bedauerns. »Was ist?« fragte Luther. »Probleme?« Seinem Ton zufolge wartete er nur darauf, sich bei Pradesh zu revanchieren. »Leider«, räumte der Inder ein, blickte aber nur Lilith an. »Man hat meine Reservierung offenbar mißverstanden.« »Kein Zimmer …?« fragte Luther. Laut der Uhr in der Lounge war es mittlerweile genau 3:07 Uhr morgens, und die Müdigkeit machte ihn noch mürrischer. »Doch.« Himachal Pradesh nickte. »Aber statt des gewünschten Doppelzimmers hat man zwei Einzelzimmer bereitgehalten, und lei der sind alle Doppelzimmer inzwischen belegt …« »Wir werden es überleben«, mischte Lilith sich ein und wandte sich an Luther: »Nicht wahr?« Er knurrte etwas Unverständliches; es klang wenig freundlich. »Ich kann gern noch herumtelefonieren«, erbot sich Pradesh. »Vielleicht findet sich irgendwo in der Nähe noch etwas anderes …« »Nicht nötig. Wir sind flexibel«, versicherte Lilith. »Es tut mir wirklich sehr leid. Ich lasse Sie zum Frühstück wecken. Dann besprechen wir alles weitere …« Mit diesen Worten verließ Pradesh sie. Luther kniff die Lippen zusammen. Noch mehr, als er feststellen mußte, daß ihre Zimmer auf verschiedenen Etagen lagen. »Phantastische Organisation!« murmelte er. »Vielen Dank, Mister Pradesh!« »Sei nachsichtig.« Lilith lächelte besänftigend. »Möchtest du lieber dieses Zimmer oder das weiter oben …?« Er pflückte einen der Schlüssel aus ihrer Hand und wandte sich dem Aufzug zu. »Sehen wir uns noch?«
»Ich bin hundemüde …« Er nickte. Die Liftkabine schloß sich und trug ihn in die oberste Etage des Wolkenkratzerhotels, das in Indiens chaotische Haupt stadt paßte wie die berühmte Faust aufs Auge …
* 3:20 Uhr Es klopfte leise. Er verliert keine Zeit, dachte Lilith und schürzte die Lippen. Sie lehnte mit dem Rücken gegen die kühle Zimmertür und fragte sich, ob sie nicht doch einen Schritt zu weit gegangen war. Sie wußte, daß sie noch einen Rückzieher hätte machen können. Doch als es abermals klopfte, öffnete sie. Sie konnte sich nicht selbst belügen. Sie hatte ihre Triebe einfach nicht im Griff. Himachal Pradesh glitt selbstbewußt an ihr vorbei. Lilith schloß hinter ihm die Tür und drehte den Schlüssel. Nur eine schwache De ckenleuchte brannte. Der Inder brachte lächelnd seine bisher hinter dem Rücken verborgene Hand zum Vorschein, in der er eine Flasche und zwei hochstielige Gläser hielt. Die Geschicklichkeit, die er dabei demonstrierte, legte den Verdacht nahe, daß er die Wirkung dieser Geste nicht zum erstenmal testete. »Wie originell«, ging Lilith dennoch darauf ein. »Leider muß ich verzichten – zumindest darauf. Ich mag keinen Alkohol. Und offen gestanden dachte ich, Alkohol sei Indern streng verboten …« »Erstens bin ich einfach verdorben. Und zweitens handelt es sich nicht um Alkohol«, beteuerte Pradesh, »sondern um Champagner. Die Hausmarke.«
Lilith löste sich von der Tür. »Danke, ich habe andere Vorlieben.« »So …?« Der Inder ließ sich nicht davon abhalten, den Korken zu entfernen und beide Gläser zu füllen. Die nach oben steigende Säure prickelte hörbar. Pradesh hob sein Glas und prostete ihr zu. »Wirklich nicht? Ein winziges Schlückchen …?« Sie schüttelte den Kopf. Noch während er trank, begann sie, den Knoten seiner Krawatte zu lösen. Dabei blieb ihr Blick an dem Talis man hängen, von dem eine unerklärliche Faszination ausging. »Hat es damit eine besondere Bewandtnis?« fragte sie. Himachal Pradesh lächelte. Der Schmuck bestand aus stumpf ge wordenem Silber, das eine Politur vertragen hätte. Es zeigte einen Tiger mit aggressiv geöffnetem Rachen. »Ich bin Hindu und Anhän ger des Saktismus«, sagte Pradesh. Seine Augen forschten, ob sie mit diesem Begriff etwas anfangen konnte. Als es nicht der Fall zu sein schien, fuhr er fort: »In meiner Freizeit praktiziere ich den TantraKult …« Die indische Götterwelt und Religion war ihr nicht völlig unbe kannt, obwohl sie sich während des Flugs nur grob darüber hatte in formieren können. Luther hatte einschlägige Reiseliteratur besorgt; darin wurden alle möglichen Themen oberflächlich gestreift. Es reichte, um sich vorstellen zu können, wovon Pradesh sprach. Viel leicht basierte der Zwang, ihn vernaschen zu wollen, nicht unwe sentlich auf dem Wissen über die enge Verflechtung von Religion und Erotik, über die sie gelesen hatte. »Der Tantra-Kult«, erläuterte Pradesh, wobei offensichtlich wurde, daß seine eigenen Worte ihn zunehmend erregten, »sieht in der kör perlichen Vereinigung von Mann und Frau eine Nachahmung der einstigen Weltenschöpfung durch Shiva und seine Göttergemahlin Paravati.«
Lilith wurde erneut an Esben Storm und ihre Erlebnisse mit dem australischen Ureinwohner erinnert. Allmählich bekam sie aus eige ner Erfahrung Eindrücke vom Variantenreichtum irdischer Mythen und Religionen. Was für die Aborigines ihre Wondjinas waren, schi en bei den Indern – je nach Glaubensauffassung – wesentlich viel schichtiger untergliedert zu sein. Hier gab es viele individuelle Gott heiten, darunter die von Pradesh angesprochenen Shiva und Para vati. Der Inder nahm das silberne Amulett zwischen die Finger und drehte es. »Jede unserer Gottheiten besitzt ein individuelles, charak terisierendes Tragetier. Deshalb der Tiger.« »Wem ist er zugeordnet? Shiva?« Himachal Pradesh verneinte. Erstmals verrieten seine Züge eine Anspannung, die kaum etwas mit der Intimität der Situation zu tun hatte. »Der Tiger wird Kali zugesprochen.« »Der furchtbaren Göttin Kali …?« »Der oft mißverstandenen Göttin Kali«, relativierte Pradesh. »Kali ist die shakti Shivas – die ihm zur Seite gestellte weibliche Energie, die erst die volle Entfaltung seiner Macht ermöglicht und nichts mit seinem wahren Weib, Paravati, zu tun hat …« Er schwieg, stellte das in einem Zug geleerte Glas neben die Flasche zurück und wechselte danach das Thema. »Ich muß gestehen, daß ich einigermaßen ver blüfft über Ihre Offerte war. Ich dachte, Sie und Ihr junger Freund seien …« Lilith half ihm aus dem Jackett. Auch als sie das blütenweiße Hemd darunter hastig aufknöpfte, bewahrte Pradesh seine Selbstbe herrschung. Obwohl ihre Forschheit für einen Menschen seines Kul turkreises sehr ungewohnt sein mußte. Anerkennend strich er – nicht nur mit Blicken – über Liliths Busen, der sich unübersehbar unter dem lachsfarbenen Kleid abzeichnete. Es war unverkennbar,
daß sie keinen BH benötigte, um die Rundungen perfekt zur Gel tung zu bringen. Pradeshs Blick bekam nun doch allmählich etwas Gläsernes. Eher halbherzig erkundigte er sich: »Was würde er sagen, wenn er erfüh re, daß ich das Doppelzimmer erst vorhin an der Rezeption in Ein zel-Apartments umgewandelt –« »Warum und von wem sollte er es erfahren?« unterbrach ihn Li lith. »Doch nicht von dir …« »Natürlich nicht.« »Na also …« Die Hose überließ sie seiner eigenen Geschicklichkeit. »Ich mache mich nur schnell etwas frisch …« Sie nickte in Richtung Bad und ließ ihn allein. Als sie zurückkehrte, war es endgültig um Pradesh geschehen. Sie war, bis auf einen Zierschleier, der die untere Gesichtshälfte spiele risch verhüllte, splitterfasernackt. Der Schleier war in Wahrheit der Symbiont, der sich gehorsam verwandelt hatte. Das rätselhafte, lebende Geschenk ihrer Mutter begleitete Lilith, seit sie ihrem Sydneyer Geburtshaus den Rücken gekehrt hatte. Es war Fluch und Segen in einem. Auf der einen Seite hatte es Li lith mehrfach das Leben gerettet, als sie sich der eigenen Stärke noch nicht hinreichend bewußt gewesen war. Andererseits tat es nichts umsonst. Es kümmerte sich selbst um seinen Lohn für »gute Taten«. Schwarzes Vampirblut schien sein Elixier zu sein. Aber es hatte beinahe hundert Jahre ohne einen Tropfen davon gewartet, daß es nach Creanna – Liliths Mutter – einen neuen »Wirt« erhielt. Allein dies bewies, daß Lilith noch nicht annähernd hinter das Wesen ihres ständigen Begleiters gekommen war. Vielleicht war dies für die we nigen Tage, die sie einander im wahrsten Sinne des Wortes »ertru gen«, auch schlicht zuviel verlangt.
Der Symbiont mußte Hunderte von Jahren alt sein. Er hatte mit Si cherheit unendlich viel mehr gesehen und erlebt als Lilith, deren Le ben beinahe nur aus Träumen und gefälschten Erinnerungen be stand. Wahrscheinlich besaß er auch einen Eigennamen; daraus machte er jedoch ein ebensolches Geheimnis wie aus den Namen von Liliths Eltern, die sie erst von Esben Storm, dem Aboriginal, er fahren hatte. Doch nun warf sie alle störenden Gedanken über Bord. Sie wollte endlich jenes Verlangen stillen, das sich seit der Begegnung mit Pra desh in ihr aufgebaut hatte. Da sich auch der gutaussehende Inder zwischenzeitlich von allen störenden Textilien befreit hatte und sie auf dem Bett liegend erwar tete, sprach nichts mehr dagegen. Lilith glitt zu ihm. Sie wußte zu bannen, ohne Hypnose einzusetzen. Sie hatte Pra desh allein mittels ihrer Weiblichkeit »verhext«. »Was muß ich tun«, flüsterte sie, »um in den vollen Genuß dieses ›Tantra‹ zu kommen?« Ihre Lippen strichen durch den Schleier hindurch warmen Atem über seine nackte Brust. »Wir fangen mit etwas an, was dir bestimmt nicht ganz fremd ist …«, erwiderte er ebenso leise. Sie wollte mit der Linken nach seinem Glied greifen, aber er zuck te wie von der Tarantel gestochen zurück. »Du mußt lernen«, preßte er hervor, »daß die linke Hand unrein und allenfalls gut genug für die Toilette ist. Eines Mannes Lingam damit zu berühren, könnte man dir sehr, sehr übelnehmen …« Er legte sich flach auf den Rücken und dirigierte sie im sanften Licht der Nachttischlampe, bis sie, den Rücken zu ihm gewandt, ritt lings über ihn kam.
Sehr flink, und sehr geschickt, drang er in sie ein. Mittlerweile hat te sich seine Männlichkeit zu voller Größe entwickelt, und er ani mierte sie nun mit sanfter Hand, ihr Becken kreisen zu lassen. Als sie das Tempo verschärfte, stöhnte er zum ersten Mal. Auch Liliths Atem beschleunigte. »Wie – nennt man – diese Stel lung …?« Seine Hände kneteten ihr Hinterteil. »Garuda«, seufzte er heiser und fügte hinzu. »Reittier … Gottes …« Die letzten Worte hörte sie kaum noch. Voll Inbrunst genoß sie das ewige Spiel zwischen Mann und Frau. Namen gab es dafür viele. Ei nes jedoch blieb immer gleich: Die Lust. Der Rausch. Die Ekstase. Auch das, was sie auf dem Höhepunkt ihrer Begierden – wenn ihr Opfer am wehrlosesten war – überkam, hatte viele Namen und viele Gesichter, lief aber am Ende auf dasselbe hinaus: Das Böse. Das Dunkle. Der Tod!
* 4:03 Uhr Duncan Luther alias Luther Keaton wurde brutal aus seinem Schlaf gerissen, als in unmittelbarer Nähe eine Scheibe barst. Um ihn herum war Bewegung, die er nur ahnen, nicht aber sehen
konnte. Von draußen kam kaum Helligkeit, weil das Zimmer im höchsten Stockwerk des Taj Mahal lag – wohin selbst die Illuminati on der Riesenstadt nur noch schwach reichte. Er handelte instinktiv und rollte vom Bett, das an einer Wand des Raumes stand. Im Fallen riß er das Bettzeug mit sich und schleuder te es in Richtung Fenster. Dort war das Glas zersplittert. Von dort näherte sich die Gefahr! Deutlich war zu hören, daß die Laken und Kissen auf etwas trafen, das nicht rechtzeitig auswich. Die Stimme, die keine drei Schritte von Luther entfernt aufklang, wurde wie ein langer rostiger Nagel in sein Gehör getrieben. Es waren keine menschlichen Laute. Etwas Vergleichbares hatte Luther zuletzt an jenem Tag gehört, als er in Leichhardt den Mördern seiner Eltern begegnete. »Kaarz paari!« Was war das? Ein Fluch, der Gültigkeit über alle Ländergrenzen hinweg hatte, weil er für Geschöpfe galt, die keine Grenzen kannten? Um was für eine Sprache handelte es sich? Um IHRE Sprache, du Narr! kratzte sein Innerstes am eigenen Ego. Zeit, darüber zu grübeln, wie sie ihn aufgespürt hatten, blieb nicht. Seinem Gegner – Luther war nicht sicher, ob es einer oder mehrere waren – machte die Dunkelheit nichts aus. Damit war er klar im Vorteil. Und klar war damit auch, was Luther zuerst ändern mußte, wenn er den Hauch einer Chance haben wollte. Lilith war nicht da. Und den Dolch des Vampirjägers, vor dem so gar Lilith Respekt gehabt hatte, besaß er nicht mehr. Er war bei dem Kampf in Leichhardt verbrannt.
Da griff es nach ihm. Packte ihn am Hals und wirbelte ihn wie eine Puppe durch die Luft …! In seiner Not erinnerte sich Luther an das, woran er ungern zu rückdachte. Er hatte mit der Kirche abgeschlossen … … und mit GOTT, du dreimal verfluchter Narr! Das stimmte. Spätestens nach dem so sinnlos erscheinenden At tentat auf seine Eltern hatte er sein Gottvertrauen verloren. Das schloß nicht aus, daß er immer noch an Gott glaubte. Er glaubte nur nicht länger an die verklärende Sicht der Kirche. Ein edler Gott hätte nicht zugelassen, was sich tagtäglich auf der Erde ereignete. Wenn schon Gott, dann orientierte sich Luther an den Aussagen des Alten Testaments. Dort war nie die Rede von ei nem weisen alten Mann mit Rauschebart gewesen. Dort wimmelte es von Berichten, wie Gott strafend über die Menschen gekommen war. Die Vertreibung aus dem Paradies. Die Sintflut. Sodom und Gomorrha … Schlechte Zeiten für Theoretiker, dachte Luther – und schleuderte dem Angreifer das einzige entgegen, was ihm noch verblieben war: Worte! Ein kurzes, heruntergeleiertes Gebet, so simpel, daß er es als Kind schon beherrscht hatte. Aber manchmal waren es wirklich die ein fachsten Dinge, deren Durchschlagskraft verblüffte. Auch hier. Etwas krümmte sich vor Luther. Klauenhände zuckten zurück. Er stürzte hart zu Boden und robbte dorthin, wo er die Tür vermu tete. Und den Lichtschalter. Seine Finger strichen über die Tapete und fanden sekundenschnell
das Gesuchte, während er laut die Namen der zwölf Apostel auf zählte. Seine Faust hämmerte im Aufstehen gegen den Plastikschalter. Flackernd füllte Licht den Raum. Vor Luther tauchte das Gesicht des Feindes auf. Es war nicht die erste Vampirfratze, die er sah. Aber es konnte die letzte sein. Die Gebete reichten nicht, den Angreifer zu vertreiben. Sie verur sachten ihm Unbehagen, Schmerzen. Aber es waren Nadelstiche. Nichts, was ihn dauerhaft stoppen oder in die Flucht schlagen konn te. Obwohl es nur ein einzelner Blutsauger war … Mehr Aufwand bin ich ihnen offenbar nicht wert, dachte Luther. Und begriff im nächsten Moment, daß sich die anderen womöglich schon um Lilith kümmerten. Mit Sicherheit gab es diese »anderen«. Um Lilith zu warnen, war es vermutlich bereits zu spät. Luther konzentrierte sich auf das, was er überhaupt noch tun konnte. Er mußte sich seiner eigenen Haut erwehren. Verzweifelt sah er sich nach einer geeigneten Waffe um. Da war – nichts … Das schien auch der Vampir zu wissen. Er lachte, obwohl ihm Hu mor vermutlich fremd war. Dem Äußeren nach sah er aus wie ein Angehöriger einer gehobenen Kaste. Wie er es geschafft hatte, in dieses entlegene Stockwerk einzudrin gen, stand außer Frage. Luther wußte längst, daß die Blutsauger ihre Gestalt nach Belieben wechselten. Dieselbe Magie gestattete es ihnen offenbar, sich sofort nach der Rückverwandlung in ihrer bevorzug ten Kleidung zu präsentieren. Dieser hier trug einen dunklen Seidenanzug.
Blutspritzer würden darauf nicht zu sehen sein. Klug gewählt, dachte Luther sarkastisch. »Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie?« Er brach die Gebete ab und versuchte, auf andere Weise Zeit zu schinden. Umsonst. Der Eindringling kannte kein Pardon. Vermutlich dauerte ihm al les schon viel zu lange. Auch Killer besaßen ein – oft ganz spezielles – Ehrgefühl. Seine spitzen Reißzähne schimmerten voller Heim tücke. Der Vampir warf sich ihm entgegen. Verdammt, dachte Luther höchst irrational. Das ›Abenteuer Indi en‹ hat doch noch gar nicht richtig begonnen. Und war schon vorbei. Wie das Leben …
* 4:06 Uhr Die Lust gerann. Liliths Sinne tauchten in einen Feuersturm. Himachal Pradesh brüllte vor Entsetzen. Er wußte am wenigsten, wie ihm geschah, als Lilith von ihm herunterzerrt und zu Boden ge schleudert wurde. Leise Schatten hatten sich genähert, und nun waren sie beide um zingelt von einem halben Dutzend Gestalten, in denen Lilith mühe los ihre Erzfeinde erkannte. Vampire von indischem Geblüt.
Eine Sippe wie in Sydney, nur hier, im Brennpunkt der Weltbevöl kerungsexplosion ansässig, wo sie wie die Maden im Speck hausen konnte! Im nachhinein erschien es Lilith unentschuldbar, nicht damit ge rechnet zu haben. Landru hatte dieses Land aller Wahrscheinlichkeit nach vor ihr er reicht. Es gab nur zwei nennenswerte Flughäfen für Nonstop-Flüge von Australien aus: New Delhi und Calcutta. Delhi war günstiger für die Weiterreise. Folglich würde auch Landru diese Möglichkeit gewählt haben. Und als »wandelnde Le gende« war es ihm gewiß nicht schwergefallen, die hiesige Sippe zu unterweisen, ihm den Rücken freizuhalten. Daß dies geschehen war und man den Internationalen Flughafen offenbar rund um die Uhr beobachtet und Ankömmlinge aus Syd ney genau unter die Lupe genommen hatte, bewies ganz nebenbei auch, daß Landru sehr wohl wußte, daß sich Lilith auf seine Fährte gesetzt hatte! In voller Konsequenz bedeutete dies, daß er vermutlich auch seine ursprüngliche Absicht, Lilith lebend in die Finger zu bekommen, auf gegeben hatte. Der Lilienkelch war ihm wichtiger … Als sich einer der Eindringlinge auf Pradesh stürzte, handelte Li lith instinktiv. Sie wollte nicht, daß er für ihre Fehler büßte. Entschlossen warf sie sich auf die schmächtige Männergestalt in goldgelber Kleidung und trieb sie unter der Wucht des Aufpralls von Pradesh weg. Sofort setzten die anderen nach. Lilith brauchte nicht hinzusehen. Sie kannte die typischen Ge räusche. Ihr Schleier fächerte auseinander. Der Symbiont griff ein!
Der Angriff der Vampire geriet ins Stocken. Auch davor wurden sie gewarnt, dachte Lilith enttäuscht. Im nächsten Moment schrak sie zurück. Wer gewarnt war, traf auch Vorkehrungen. Und die Delhi-Sippe hatte vorgesorgt. Landru mußte ihnen geraten haben, es mit Feuer zu versuchen. Noch während Lilith mit dem einen Vampir rang, sah sie, wie die anderen Blutsauger Gegenstände aus den Taschen zogen, die wie Spraydosen aussahen. Spraydosen, vor deren Auslaßdüsen brennende Feuerzeuge gehal ten wurden! Es zischte, als sich die Ventile öffneten. Halbmeterlange Feuerstrahlen leckten auf den Symbionten zu. Die Vampire mußten sich vor den entfesselten Flammen nicht fürchten. Schon Tageslicht machte ihnen nichts aus. Nur Dienerkreaturen waren anfällig dafür … Lilith stöhnte, als die Vampire mit ihren improvisierten Flammen werfern auf sie eindrangen. Dadurch, daß sie ihre Aufmerksamkeit auf verschiedene Dinge gleichzeitig richten mußte, konnte sie ihre Kräfte nicht konzentrieren. Der Vampir hätte längst Staub sein müssen. Sie hatte die Macht dazu! Lilith besaß Körperkräfte, mit denen sie jedem Menschen überle gen war – auch wenn man es ihrem zarten Körper nicht ansehen mochte. Trotzdem war es der Symbiont, der jetzt die Initiative über nahm. In höchster Bedrängnis sah sie, daß ihr Kleid »Medusenfäden« ab sonderte und im Körper des Blutsaugers versenkte. Dieser versuchte sich kreischend zu lösen, doch es war zu spät für ihn. Während der Symbiont sein Opfer lähmte und aussaugte, schnell
te Lilith vom Boden hoch. Die Feuerlanzen hatten sie fast erreicht. Lilith tastete um sich, bekam ein Kissen zu fassen und schirmte sich damit gegen die Flammen ab. Natürlich fing der Seidenstoff so fort Feuer. Lilith warf das brennende Kissen den Vampiren entge gen, die ausweichen mußten und die Flammenzungen nicht mehr auf sie konzentrieren konnten. Der Symbiont hatte sich von dem Vorgang nicht im mindesten be irren lassen. Als der Körper des Vampirs vor ihr zu Staub zerfiel, wußte Lilith, daß das Kleid ihn bis auf den letzten schwarzen Bluts tropfen ausgesogen hatte. Sofort kehrten die hauchdünnen Tentakelableger zu ihr zurück. Lilith trug ihr bevorzugtes schwarzes Catsuit – ihren »Kampfan zug«. Die zurückgedrängten Angreifer formierten sich neu. Doch mitt lerweile begann Rauch den Raum zu füllen. Das brennende Kissen hatte den Teppich und die Vorhänge in Brand gesetzt. Und als die Vampire zur nächsten Attacke starten wollten, bekam Lilith Hilfe von gänzlich unerwarteter Seite: In der Decke öffnete sich eine verborgene Sprinkleranlage, und während sich künstlicher Regen ergoß, heulte von irgendwoher Feueralarm durch das Taj Mahal. Nicht, daß sich das verbliebene Quintett dadurch von seiner ur sprünglichen Absicht abhalten ließ. Die ersten wandelten bereits ihre Gestalt und zeigten ihre animalische Natur nun auch nach au ßen hin. Ehe aber der erste seine Metamorphose beenden konnte, bellten ohrenbetäubende Schüsse in dem engen Raum auf. Zwischen Rauchschwaden taumelte Himachal Pradesh hervor, der von niemandem mehr beachtet worden war. Er hatte die Zeit nicht zur Flucht genutzt, sondern um zu seinen Kleidern zu gelangen.
Warum er einen geladenen Revolver bei sich trug, wußte nur er al lein. In diesem Moment jedenfalls war Lilith für jede Hilfe dankbar. Die Kugeln fuhren peitschend in die Leiber der Vampire. Die Ein schläge schleuderten sie zurück – aber viel mehr war mit normalen Projektilen nicht auszurichten. Während Pradesh noch damit haderte, daß er zwar traf, aber of fensichtlich keine Wirkung erzielte, wurden draußen auf dem Flur Schritte laut. Da endlich wandten sich die Vampire zur Flucht Richtung Fenster. Hier hatten sie Einlaß gefunden – und hier nahm der Spuk auch sein feuriges Ende. Der Qualm wurde immer stärker. Jemand hämmerte von draußen gegen die Zimmertür, aus deren Ritzen fetter Qualm auf den Korridor kroch. Lilith öffnete. Mehr noch als das Chaos hinter ihr schien den Hotelangestellten sie selbst und der nackte Himachal Pradesh zu interessieren – zu mindest einen flüchtigen Moment lang. Eine offenbar vom Hotel unterhaltene Feuerwehrgarde bahnte sich mit tragbarem Gerät eine Gasse durch die im Gang gestaute Men schenmenge und vollendete, was die Sprinkleranlage allein nicht be wältigen konnte. Zugleich sorgte man dafür, daß keine Panik unter den übrigen Hotelgästen aufkam. Kein einfaches Unterfangen. Liliths Augen suchten nach Duncan Luther. Als sie ihn nicht fand, war sie erleichtert. Wenn er sie hier mit Pradesh ertappt hätte … Doch Sekunden später schob sich etwas anderes als ihr schlechtes Gewissen in den Vordergrund. Die Sorge um ihn. Noch während Pradesh lautstark mit dem Hotelmanager palaver
te, setzte Lilith sich ab. Sie hatte sich Luthers Zimmernummer ge merkt. Da der Lift blockiert war, mußte sie sich zu Fuß in den obers ten Stock vorarbeiten. Auch hier waren die Stufen vielerorts von aufgeschreckten Hotelgästen blockiert. Sie kam nur zäh voran. Und als sie endlich die Spitze des Taj Mahal erreichte, öffnete Duncan auf ihr Klopfen nicht. Lilith ließ sich nicht aufhalten. Es wurde ihr kaum bewußt, daß sie mit übermenschlicher Kraft die Tür aus dem Rahmen sprengte. Sie taumelte in den Raum und sah die über Duncan gebeugte Ge stalt. Mit einem wilden Schrei warf sie sich auf den Vampir, der sofort herumwirbelte. Messerscharfe Klauen fuhren Lilith entgegen. An seinen Lippen klebte kein Blut. Lilith fühlte vage Erleichterung, bevor sie den Schwarzgekleideten mit sich zu Boden riß. Der Kampf währte nur kurz. In Lilith entlud sich die ganze angestaute Sorge um Luther. Schnell gewann sie die Oberhand über den Vampir und zwang ihn auf den Bauch. Den Rest übernahm der Symbiont, dessen Hunger noch nicht gestillt schien. Blitzschnell durchbohrte ein Ableger den Rücken des untoten Ge schöpfes und drang von dort aus direkt in das in unmenschlichem, quälend langsamen Takt pochende Herz. Sekundenlang hing ein schrecklicher Schrei im Raum. Dann verdorrte der Vampir unter Lilith und zerfiel zu Staub. Der Symbiont zog sich zurück. Lilith stand auf, machte ein paar Schritte und beugte sich zu Lu ther, der immer noch bewegungslos am Boden lag. »Steh auf, es ist vorbei!«
Als ihr klar wurde, welch fatalem Irrtum sie aufgesessen war, ver sagten ihr die Beine. Einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. In ihrer Brust schien eine kleine, kalte Explosion stattzufinden. Duncan lag da, als würde er schlafen. Aber er würde nie wieder aufstehen. Er schlief nicht. Der Vampir hatte sein Blut verschmäht. Aber sein Rückgrat wie ein Spielzeug zerbrochen …
* Dolpo, West-Nepal In den Dörfern grassierte das Grauen. Wohin Rani in diesen Tagen auch kam, jedermann begegnete ihm schroff und abweisend. Kein Zweifel, man schnitt ihn. Der Todesbote war zu allen Zeiten unbeliebt gewesen, obwohl er nichts anderes tat als das von allen Bewohnern eines Ortes gesprochene Urteil einzu sammeln und weiterzuleiten. Aber in solchem Maße wie jetzt war diese Abneigung noch nie gezeigt worden. Die Nerven lagen blank. Neben dem Scherbengericht, das allmonatlich hier und in sechs anderen Dörfern ein Opfer verschwinden ließ, trieb neuerdings auch noch ein Mörder sein Unwesen. Der Tod ging um! Mit Padam und dessen Familie hatte es begonnen. Sie waren hin gemeuchelt aufgefunden worden; Padam draußen im Auwald, seine
Angehörigen in ihrem Haus. Die Toten im Haus hatte Rani gefun den, als er frühmorgendlich dem »Geisterchor« gefolgt war. Der Mörder mußte ein Fremder sein. Niemand aus der Gemein schaft hätte sich zu einer solchen Bluttat hinreißen lassen! Beinahe noch schwerer wog jedoch, was Rani von dem Unheimli chen in roter Kutte erfahren hatte: Auch Bimal, Padams Verlobte, sollte sich unter den Mordopfern befunden haben, und ausgerechnet Bimal hatte das geheime Femegericht als Monatsopfer auserkoren …! Zunächst hatte niemand Rani glauben wollen. Inzwischen, zwei Tage später, kam man kaum mehr darum herum. Der beste Beweis für den Wahrheitsgehalt seiner Behauptung war, daß niemand sonst aus der Dorfgemeinschaft vermißt wurde. Schnell hatte sich der unerhörte Frevel bis in die Nachbardörfer herumgesprochen. Heute erst war die Meldung eingetroffen, daß in Birethanti, zwei Meilen entfernt, ebenfalls ein grausam verstümmel ter Leichnam entdeckt worden sei! Der Tod ging um … Als sogar seine eigene Mutter ihn wegen einer Kleinigkeit unge recht behandelte, wußte Rani sich nicht anders zu helfen, als nach Birethanti zu wandern und den alten Swani aufzusuchen. Swani war der dortige Todesbote. Er war es schon zu Zeiten von Ranis Vater gewesen. »Hallo, Leidensgenosse«, grüßte Swani launig und forderte ihn auf, einzutreten. Er hielt sich allein in der Küche seiner Hütte auf und scheute sich nicht, ein Haschischpfeifchen zu schmauchen. Rani lehnte Alkohol und Drogen ab, aber er konnte sich vorstellen, daß er – wenn er einmal Swanis Alter erreichte – anders darüber denken würde. Manchmal legte man hehre Vorsätze mit den Jahren ab, statt sie stärker zu verfechten. Rani hatte es bei Erwachsenen oft
genug beobachtet. Swani war ein Hindu, während Ranis Dorf überwiegend aus Bud dhisten bestand. Deswegen hatte es aber noch nie Probleme gege ben. »Namaste«, fügte der knochige Alte, der mit untergeschlagenen Beinen vor einem kleinen Feuer kauerte, hinzu und drückte dem Jungen anschließend sein Beileid aus. »Ich habe vom Unglück dei nes Vaters gehört. Er war mein Freund.« Rani wartete, bis er aufgefordert wurde, dann ließ er sich ebenfalls vor dem heiligen Feuer nieder. Die Schuhe hatte er schon vor Betre ten des Hauses ausgezogen. »Ich weiß«, sagte er. »Dasselbe sagte er immer von dir.« Er wartete ab, bis Swani gedankenverloren nickte. »Er hat mir ir gendwann auch gesagt, daß ich – wann immer er einmal nicht da wäre – stets zu dir kommen könnte, wenn ich ein Problem habe.« Swanis Blick, der die ganze Zeit scheinbar nur dem Pfeifenrauch gefolgt war, senkte sich überraschend in die Augen des Jungen. »Wo drückt der Schuh?« fragte er geradeheraus. Rani zögerte. Doch dann erzählte er dem alten Mann, wie sehr er immer noch unter dem unheimlichen Erlebnis von vor zwei Tagen litt. »Ich kann mit niemandem sonst darüber reden«, schloß er. »Alle haben Angst, und bei einigen frage ich mich, ob sie mich nicht ver dächtigen, mitverantwortlich an den Vorgängen zu sein …« Obwohl er es hatte vermeiden wollen, traten ihm Tränen in die Augen. Er stickt sagte er: »Wenn nur Vater noch lebte …!« Swani ließ ihn so lange weinen, bis er sich von selbst wieder beru higte. Schließlich sagte er: »Du bist sehr jung. Niemand sollte ein Kind zum Herrn über Leben und Tod machen.« Verwundert blickte Rani auf. So wie Swani gesprochen hatte, hatte es geklungen, als ahne er nicht nur, was aus den Auserwählten des
Scherbengerichts wurde, sondern als wüßte er es! »Ich habe … Angst«, gestand Rani. »Vor dem Mörder, der umgeht?« fragte Swani und legte die Pfeife beiseite. »Vor allem und jedem«, schluchzte der Junge. »Alle scheinen mich zu hassen. Dabei habe ich mir doch nicht ausgesucht, was ich tue!« »Niemand hat das.« Rani schien tieferen Trost zu suchen. »Kann ich – kann ich diese Nacht hier verbringen?« »Wann wird übermorgen?«
bei
euch
neu
gewählt?
Hörte
ich
richtig:
Rani nickte eingeschüchtert. »Dann kannst du diese Nacht bleiben«, gestand Swani ihm zu. »Es ist keine schlechte Gelegenheit, dich zu unterweisen. Wenn mein Gefühl nicht trügt, kam dein Vater vor seinem Tod nicht mehr da zu.« »Worin unterweisen?« fragte Rani rauh. Ohne daß er Einfluß dar auf zu nehmen vermochte, begann sein Herz wie wahnsinnig zu trommeln. »In Sinn und Zweck unseres Tuns.« Swani nahm seine Pfeife wie der auf, paffte ein paar Züge und sagte dann mit vitalerer Stimme als zuvor: »Wenn jemals ein Außenstehender, und damit meine ich jeden, der kein Bote ist, davon erfährt, wird man dich wirklich has sen, mein Junge, und es wäre nur allzu verständlich …!« Ein dünnes Lächeln umschmiegte seine eingefallenen Wangen. »Aber geh jetzt, laß mich allein. Ich will noch meditieren. Komm nach Einbruch der Dunkelheit wieder. Dann reden wir über die Din ge, die du wissen mußt …« Rani gehorchte mit einem unguten Gefühl.
Die Stunden bis zur Dämmerung trieb er sich in der Umgebung herum. Die Leute von Birethanti beäugten ihn mißtrauisch. Es war wie daheim. Rani erschauderte.
* Nachdem die Sonne versunken war, sandte der Halbmond sein fah les Licht ungehindert vom wolkenlosen Himmel. Rani näherte sich Birethanti von Westen über eine schaukelnde Hängebrücke. Er hatte die Blicke der Dörfler nicht mehr ertragen und die Stunden bis zum Abend außerhalb der Ortschaft verbracht. Seine Gebete, mit denen er versucht hatte, sich Rat von seinem verstorbenen Vater zu holen, waren unerwidert geblieben, und nun war seine tiefe Melancholie sogar noch schwerer erträglich. Als er die Dorfgrenze überschritt, erkannte er, daß es hier wie zu Hause war: Nach Einbruch der Dunkelheit wagte sich in diesen Ta gen kaum ein Mensch mehr vor die Tür. Solange niemand dem un bekannten Schlächter das Handwerk legte, würde die Furcht bestän dig anwachsen. Schon jetzt ist das Klima völlig vergiftet, dachte Rani. Er wußte nicht, wie es weitergehen sollte. Swanis Hütte kam in Sicht. Aus dem Rauchabzug löste sich nebel artiger Qualm. Es brannte kein Licht, was an sich nichts Ungewöhn liches war. Der betagte Mann bildete dennoch in vielerlei Hinsicht eine Aus nahme. Nicht nur seines Alters wegen. Folgenschwerer war, daß er keine Nachkommenschaft besaß. Er hatte sich, wie man erzählte, zeitlebens geweigert, eine Familie zu gründen. Hartnäckig hielten
sich auch Gerüchte, er sei nicht zeugungsfähig. Darüber, was nach seinem Tod passieren würde, wurde spekuliert, solange Rani zu rückdenken konnte. Vermutlich würde von IHNEN ganz unspektakulär eine neue Fa milie auserkoren werden … Rani trat unter das Vordach. Vor ihm gähnte die Rechtecköffnung, deren Tür offenstand. Der Junge blieb stehen, als er Stimmen hörte. Daran war nichts Verwunderliches, aber Rani wollte nicht in etwas hineinplatzen, was ihn nichts anging. Seine Meinung änderte sich rapide, als er gequältes Wimmern ver nahm. Swani? Gedankenschnell huschte Rani zum nächstgelegenen Fenster, des sen Flügel nur angelehnt war. Als er den Kopf vorsichtig hob, wur den die Stimmen deutlicher. Nach kurzer Umgewöhnung war er im stande, vage zu erkennen, was sich im Innern abspielte. »Noch einmal, alter Mann: Verrate mir, was da oben in den Tem peln geschieht – verrate es mir! Ich weiß nicht, warum du mir wi derstehen kannst, aber du wirst es bereuen, solltest du dich nicht rasch anders besinnen …!« Die Stimme klang scharf. Schroff. Sie redete in Ranis Sprache, aber der Akzent blieb ungewohnt. Der Junge spähte angestrengter in die Hütte, wo das Mondlicht Mühe hatte, sich gegen die Schatten durchzusetzen. Das Feuer in der Mitte war fast niedergebrannt; von ihm war keine Unterstüt zung zu erwarten. Über Ranis Lippen drängte ein Stöhnen, als er den alten Swani im
Würgegriff des seltsam gekleideten Mannes sah. Der Junge konnte sich gerade noch beherrschen, um nicht lauthals aufzuschreien. Die Angst kam wie ein Sturzbach über ihn. »Rede, oder ich töte dich!« sagte der Fremde. Rani begriff plötzlich, um wen es sich nur handeln konnte: Um den Mörder, der die Dörfer in Atem hielt! Er war seltsam gekleidet. Schwarz von Kopf bis Fuß. Nur das ge rüschte Halstuch und eine Weste unter dem altmodisch steifen Wams hatten eine andere Farbe. Rani hatte Bilder der alten Kolonialherren gesehen. Sein Großvater hatte sie in einer Schatulle hinterlassen. Die Männer auf den vergilb ten Schwarzweißfotos hatten diesem Mann in ihrer Aufmachung stark geähnelt … Aber das waren Beiläufigkeiten. Etwas anderes war viel bedeu tungsvoller: Swani steckte in Schwierigkeiten! Wenn es sich tatsächlich um den skrupellosen Schlächter handelte, der bereits mehrere Nepali auf dem Gewissen hatte (falls er etwas wie ein Gewissen besaß), steckte Swani sogar in ganz verfluchten Schwierigkeiten …! »Du – kennst die – Tempel?« krächzte Swani. Er schien sich der Gefahr, in der er sich befand, durchaus bewußt zu sein. »Ich war dort.« »Du warst – dort und – lebst …?« Der Fremde drückte fester zu. »Ich will Antworten, keine Fragen!« Swani zappelte wie eine Schlange, deren Kopf bereits abgeschla gen war und deren Leib eine Weile weiterzuckte. Rani war plötzlich sicher, daß der alte Freund seines Vaters diesen ungebetenen Besuch keinesfalls überleben würde. Woher diese Ge
wißheit kam, spielte keine Rolle. Ich muß etwas tun! dachte er. Hilfe holen! Zugleich war er jedoch der abstrusen Überzeugung, daß Swani so lange leben würde, wie er, Rani, sich nicht vom Fleck weg bewegte. Wenn er ging und mit anderen zurückkehrte, würde er nur noch Swanis Leiche finden … Von dieser kindlichen Logik gebannt, harrte er aus. Bis zuletzt. »Im Tempel«, wimmerte der alte Mann, »leben die – Priester …« »Welche Priester?« »Es sind – Schriftgelehrte … sagt man.« Diese Auskunft schien den Fremden zu enttäuschen. »Hast du – und jetzt höre genau zu, alter Mann, denn es ist die letzte Frage, die ich dir stelle – hast du jemals von einem Kelch gehört, der die Form einer Blume besitzt? Er muß sich im Besitz dieser Priester befinden!« Swani gab seine Antwort, ohne zu zögern. »Nein«, sagte er. Und starb. Rani hörte das trockene Knacken bis draußen. Danach erhob sich der Fremde vor der Feuerstelle und trat die geringe Glut aus, die dort noch schwelte. »Du kannst jetzt hereinkommen«, sagte er.
* Rani wollte sich zur Flucht wenden, aber schneller, als er sich um drehen konnte, kam Swanis Mörder aus der Hütte geschossen und packte ihn am Arm. »Kein Schrei!«
Der Griff war von solcher Härte, daß der Junge im ersten Schock fürchtete, den Arm nie wieder benutzen zu können. Überraschend lockerte der Unbekannte rechtzeitig seine Finger. »Welch ein Glück du hast, mein Junge, daß du noch ein Kind bist«, seufzte er. Seine Stimme war jetzt frei von Aggression – ganz anders als zuvor bei Swani. Hätte Rani nicht mit eigenen Augen gesehen, daß er den alten Mann umgebracht hatte, er hätte in diesem Moment nicht umhin ge konnt, ihn sympathisch zu finden! Zu seiner endgültigen Verblüffung erklärte der Fremde: »Bei dir war ich schon letzte Nacht – du erinnerst dich nur nicht mehr. Auch an das, was du gerade belauscht hast, wirst du dich gleich nicht mehr entsinnen können.« Rani wußte nicht, wie er es schaffte, überhaupt einen Ton heraus zubringen. Aber er fragte: »Sie waren – bei mir…?« Der Fremde sah sich kurz um. Dann zog er Rani ins Innere der Hütte und drückte ihn zu Boden. Er selbst setzte sich ihm gegen über. Obwohl es dunkel war, glaubte Rani die Augen des Mannes wie die eines Tieres in der Finsternis glimmen zu sehen. Die Todes furcht kehrte zurück. Er zitterte so heftig, daß seine Zähne hörbar aufeinanderschlugen. »Genug!« zischte der Unbekannte. »Ich bin wahrhaftig kein Men schenfreund. Aber ich töte keine Kinder, sie sind tabu – du kannst unbesorgt sein!« Nach allem, was Rani beobachtet hatte, wußte er nicht, warum er einem Mörder hätte Glauben schenken sollen. Aber genau das tat er. Er spürte, wie sich der Klumpen in seinem Bauch verflüchtigte. »Haben Sie – auch die anderen umgebracht?« Der Ton des Mörders wurde beinahe so, wie man sich unter guten Freunden unterhielt. »Ich mußte es tun. Was sollte ich hier oben mit
Dienern anfangen, die ich auf Dauer doch nicht kontrollieren könn te? Ihr dezimiert euch doch schon untereinander – womit wir beim Thema wären.« Er machte eine kurze Pause. »Bei dem Thema, über das du – ich weiß es seit gestern Nacht – selbst noch keine Ahnung hast …« Rani wurde schmerzlich daran erinnert, daß der alte Swani ihn über Sinn und Zweck seiner Aufgabe als Todesbote hatte aufklären wollen. Das würde nun nicht mehr geschehen. »Ich weiß, daß du nichts weißt«, fuhr der Fremde fort. »Deshalb werde ich dich jetzt verlassen. Es gibt noch andere Dörfer. Einer wird mir die Auskünfte schon geben, die dieser alte Narr mir ver weigerte …!« Schwungvoll erhob sich Swanis Mörder vom Boden. Rani spürte den Luftzug. Er war froh, daß er, seit das Feuer erloschen war, die Leiche im Dunkeln nicht mehr sehen konnte. »Komm her!« kam der Befehl aus der Finsternis. Rani gehorchte willenlos. Eine kalte Hand legte sich auf seinen Kopf. Dann senkte sich Vergessen über seinen Geist.
* Neu Delhi Später wußte sie nicht mehr, was im einzelnen geschehen war. Aber ohne Himachal Pradesh wäre sie wahrscheinlich hoffnungslos in die Behördenmühlen geraten. Er war es, der Entscheidungen traf und Erklärungen abgab, als es darauf ankam. Daß Duncan tot war, begriff Lilith in voller Tragweite erst, als sie am Morgen nach dem Überfall in fremder Umgebung zu sich kam.
Pradesh saß vollständig bekleidet neben ihrem Bett. Offenbar hatte er nur gewartet, daß sie aufwachte. »Wo – bin ich?« »Nicht mehr im Hotel.« »Wo dann?« »In der Wohnung eines Freundes«, sagte er ruhig. »Aber wir sind allein. Wir können ungestört über alles reden.« Lilith blickte ihn verstört an. Die Worte aus seinem Mund klangen befremdlich. Plötzlich keimte Hoffnung in ihr auf. »Habe ich am Ende alles nur geträumt? Ist Luther gar nicht …?« Pradesh schüttelte bedauernd den Kopf. »Er ist tot. Für ihn kam jede Hilfe zu spät. Diese Bestien haben ihn …« »Nein! Rede nicht darüber.« Er verstummte. Ihr Mund verzog sich zu etwas, von dem sie selbst nicht wußte, was es war. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, ob sie weinen konnte. Auch jetzt trat keine Träne in ihre Augen, aber in ih rem Herzen saß ein dumpfer Schmerz und trieb seinen Stachel tief hinein. Pradesh stand auf, setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. Die Geste half ihr, weil sie spürte, daß sie ehrlich gemeint war. Der Inder gab ihr immer größere Rätsel auf. Als sie den Blick vor Scham senkte, verstand er auch das. »Ich schätze«, sagte er leise, »damit müssen wir beide, jeder für sich, fertig werden …« Sie wußte, was er meinte. Aber es gab keine Entschuldigung dafür, daß es genau zu der Zeit passiert war, als sie beide sich geliebt hat
ten. Es gab keine Entschuldigung, weil nichts zu entschuldigen war. Pradesh berichtete ihr von dem, was als Lücke in Liliths Gedächt nis klaffte. »Ich habe einen guten Draht zu den Behörden, da ich im mer fair mit ihnen umgesprungen bin. Deshalb konnte ich es mir auch leisten, dich noch vor Eintreffen der Polizei aus dem Hotel zu schleusen. Du warst dermaßen fertig und hast kaum noch etwas wahrgenommen, deshalb dachte ich, wir unterhalten uns erst ein mal in Ruhe unter vier Augen und sprechen uns über das ab, was wir aussagen wollen. Danach können, nein, müssen wir Verbindung mit der Polizei aufnehmen.« »Nein!« sagte Lilith. »Nein?« Sie setzte sich im Bett auf. Zu ihrer Überraschung trug sie das Kleid, mit dem sie in Delhi angekommen war. Der Symbiont mußte sich irgendwann während ihres Blackouts zurückverwandelt haben. »Hast du dich eigentlich schon mal gefragt, was eigentlich passiert ist?« Sie gab sich die Antwort selbst. »Wenn ich dich so ansehe, kann ich es mir kaum vorstellen. Oder begegnest du täglich Vampi ren?« Er musterte sie schweigend. Dann schüttelte er den Kopf. »Normalerweise«, fuhr sie fort, »müßtest du doch an deinem Ver stand zweifeln. Du hast gesehen, wer uns überfiel. Es waren keine –« »Menschen.« Pradesh nickte. »Das ist mir klar.« »Das ist dir klar, und es macht dir nichts aus …?« Er wiegte den Kopf. »Sagen wir: Es fasziniert mich mehr, als daß es mich erschreckt.« Lilith seufzte. »Ich bin auch kein normaler Mensch«, sagte sie, ohne es näher auszuführen. Sie riskierte es einfach. Pradesh gab sich den Anschein, als könnte ihn gar nichts aus der Fassung bringen,
womit er dieses Teilgeständnis geradezu provozierte. »Das war anzunehmen«, sagte er. »Bitte?« »Ich habe nicht nur die Bestien gesehen, die meine Kugeln schluckten, als bestünden sie aus Pappmaché. Ich habe auch das Ding gesehen, das erst Schleier war, dann zu einer amorphen Masse wurde und sich schließlich auf dem Weg hierher zu dem formte, was du gerade trägst.« Lilith zuckte zusammen. »Das hat es getan? Vor deinen Augen?« »Vor meinen Augen.« Es war eigentlich kein Thema, über das es sich im nachhinein zu wundern oder aufzuregen lohnte. Das einzig wirklich Schlimme war und blieb Duncans Tod. »Verrate mir die Zusammenhänge«, forderte Pradesh auf. »Ich bin neugierig.« »Du bist kalt wie eine Hundeschnauze!« »Das bin ich ganz und gar nicht«, verwahrte er sich kopfschüt telnd. »Ich habe nur gelernt, meine Gefühle im Zaum zu halten und das Unmögliche zu glauben.« War es Zufall, daß Liliths Blick ausgerechnet jetzt wieder an sei nem Talisman hängen blieb? Der silberne Tiger reflektierte das Licht, funkelte sie an und – ver ursachte zum erstenmal bewußt Unbehagen. Lag es am Silber oder an der Tigerdarstellung? Kalis Tragetier … »Daß ich nicht lache«, sagte sie. »Deine Gefühle im Zaum halten … Das weiß ich besser – und du weißt es auch!« »Was zwischen uns beiden geschah, war Schicksal.« Die Sicherheit, mit der er sprach, verblüffte sie fast mehr als das,
was er sagte. »Warum sind wir in der Wohnung eines Freundes?« fragte sie. Er zuckte die Achseln. »Es kann kein Zufall sein, daß Luther und wir überfallen wurden. Diese Bestien müssen uns gefolgt sein, seit wir den Flughafen verließen. Wer so planmäßig vorgeht, dem fällt es auch nicht schwer, über das Wagenkennzeichen oder sonst ein Detail meine Identität herauszufinden – falls diese nicht ohnehin längst bekannt war. Ich hatte wenig Lust auf eine baldige Wiederbe gegnung mit den Jungs – deshalb die Wohnung eines Freundes.« Lilith nickte anerkennend. »Gut kombiniert. Du übersiehst den noch etwas ganz Entscheidendes.« »Und das wäre?« »Du solltest dich nicht auf deine sogenannten ›guten Beziehungen‹ bei der Polizei verlassen!« Die Art, wie sie ihn ansah, half ihm auf die Sprünge. »Du meinst …?« »Sie sind überall.« Lilith lächelte humorlos. »Sie können jedenfalls überall sein. Deshalb werde ich mich auf keinen Fall an die hiesige Polizei wenden. Außerdem reiste Duncan unter falschem Namen.« Himachal Pradesh atmete hörbar aus. »Das hört ja gar nicht mehr auf.« »Halte deine Gefühle im Zaum und glaube an das Unmögliche«, konterte sie spitzzüngig. Er lächelte. Dann wurde er schlagartig wieder ernst. »Was schlägst du also vor, was wir tun sollen?« »Wir?« Sie schloß kurz die Augen. Als Duncans Gesicht vor ihr auftauchte, drängte sie es zurück. Sie wußte, daß der wahre Schmerz erst noch kommen würde. »Kann ich telefonieren?« fragte sie.
Neben ihrem Bett stand ein Telefon. Er machte eine einladende Geste. »Jederzeit. Ich werde dich so lange allein lassen.« Sie wartete, bis er gegangen war. Dann ließ sie sich mit Sydney verbinden. Als Beth nach mehreren Versuchen abhob, fiel es Lilith schwer, die richtigen Worte zu finden.
* Rani rannte. Rani floh. Er hatte den alten Swani tot in seiner Hütte gefunden. Das Gesicht des Greises war ganz nach hinten gedreht gewesen. Obwohl der Leichnam nicht annähernd so scheußlich massakriert gewesen war wie einige der Opfer, die Rani zuvor in seinem Heimatort gefunden hatte, überfiel den Jungen kaltes Grausen. Fluchtartig hatte er Hütte und Dorf verlassen. Irgend etwas hatte ihn gehindert, Alarm zu schlagen. Er wollte nur fort. Seither rannte er. Die Nacht hatte sich wie ein mondlichtzerfressenes Leichentuch über die zerklüftete Bergwelt gesenkt. Jeder Schritt wurde zum Wagnis. Aber auch damit beschäftigte sich Rani keine Sekunde. Er rannte, stolperte, fiel, rappelte sich wieder auf, hetzte weiter … Nur sein Gefühl warnte ihn, daß er sich falsch verhielt. Doch je desmal, wenn er den Zipfel einer Begründung zu erhaschen glaubte, war er wieder verschwunden. Seine Lungen schmerzten; es war empfindlich kalt geworden, und er trug nur ein dünnes Hemd über der zerschlissenen Hose. Beide
Knie waren bei einem Sturz aufgeschlagen. Der Hosenstoff scheuer te bei jedem Schritt auf der offenen Wunde. Dieser Schmerz steigerte sich allmählich zu einem Martyrium. Rani sah vor Tränen kaum noch den Pfad. Als er eine schwankende Hängebrücke überquerte, glaubte er am anderen Ende eine geisterhafte Gestalt zu sehen, die ihm zuwinkte. Vater? Als er das nächste Mal hinschaute, war der Spuk verschwunden. Aber die Erinnerung an seinen Vater trieb Rani in noch größere Ver zweiflung. Seit dessen Tod fühlte er sich völlig allein. Zu seiner Mutter hatte er nie ein solch inniges Verhältnis gehabt. Als er endlich das Heimatdorf erreichte, herrschte dort trotz fort geschrittener Stunde helle Aufregung. Man hatte Fackeln und ein großes Feuer nahe dem Obelisken an gezündet. Rani näherte sich dem Treiben voller Angst. Konnte es sein, daß der Mörder, der Swani heimgesucht hatte, auch hier ein neues Opfer gefunden hatte? Aber der Grund für den Aufruhr war ein anderer, wie sich heraus stellte. Das halbe Dorf umstand die nackte Tote, die jemand mitten auf dem Platz abgelegt hatte. »Bimal …!« rann es über Ranis Lippen. Irgend etwas war mit ihr geschehen. Ihr Körper, sagten die, die ihn zu berühren wagten, war hart wie Holz. Die schweren Verlet zungen, an denen sie gestorben war, waren immer noch sichtbar. Aber kein Blut oder Schmutz klebten an ihr. Sie sah unschuldig und unirdisch schön aus. Padam wäre stolz auf seine Braut gewesen.
Aber auch Padam war tot. Im Vergleich zu ihr geradezu häßlich tot. Rani fand seine Mutter unter den Versammelten. Er bahnte sich den Weg zu ihr und schmiegte sich an ihre Hüfte. Als sie zögernd mit der Hand durch sein Haar kämmte, überkam ihn ein Anflug flüchtigen Glücks. Dann begriff er, warum sie ihn streichelte. Sie hatte Angst und suchte Nähe. Wie alle anderen.
* Am nächsten Morgen war Lilith nach unruhigem Schlaf entschlos sen, Himachal Pradeshs Angebot anzunehmen. Er war nach ihrem Telefonat, das sie mit Beth geführt hatte, zurückgekehrt und hatte ihr versichert, ihr auch weiterhin jede Unterstützung bieten zu wol len. »Du bestimmst, was geschieht«, hatte er gesagt. »Und warum tust du das?« Ihr Mißtrauen war hartnäckig. Sie wußte immer noch nicht, was aus der reinen Bettgeschichte, zu der sie sich hatte hinreißen lassen, werden sollte. »Ich hetze, seit ich denken kann, den Dingen hinterher, die man nicht erklären kann. Letztlich bin ich deshalb bei einer Zeitung ge landet.« »Es scheint dir aber nicht zu genügen.« »Nein«, hatte er geantwortet. »Was hast du mit Kali zu tun? Bist du ein Anhänger von ihr?« »Ich habe einen Anhänger von ihr.« Er hatte gegen seinen Talisman getippt. »Das ist nicht verboten. Und auch nicht anstößig.« Es fiel ihr schwer, sich so mit ihm auseinanderzusetzen, wie er es
verdient hätte. Oder wie es zu ihrer eigenen Sicherheit wichtig ge wesen wäre. Sie hatte Beth noch einmal auf den Inder angesprochen, nachdem die Reporterin die Nachricht von Duncans Tod wie einen unverdau lichen Brocken geschluckt hatte. Dabei hatte sich herauskristallisiert, daß Beth Pradesh auch nur vom Telefon und seinen Artikeln her kannte. Ein verbindliches Urteil über seinen Charakter hatte sie ab gelehnt. Zuguterletzt hatte Lilith sich erkundigt, ob in Sydney alles in Ord nung sei. Beth hatte ausweichend geantwortet. Alles in allem hatte das Telefonat eher ungute Gefühle hinterlas sen. Die Sache mit dem »von der Seele reden« mochte in der Theorie schön und gut klingen. In der Praxis bewährte sie sich nicht immer. »Ich bin praktisch mittellos«, sagte sie, als Pradesh und sie sich am Frühstückstisch niedergelassen hatten und er sich wunderte, daß sie weder Essen noch Trinken zu sich nahm. »Duncans und mein Geld befindet sich noch im Hotel. Ebenso das Kartenmaterial, das wir uns besorgt hatten, um uns an Ort und Stelle zurechtzufinden. All das muß ich wohl abschreiben. Zum Glück habe ich das Material auf dem Herflug oft genug studiert, um alles wiederzuerkennen, sobald ich eine neue, detailgenaue Karte von Nepal besorgt habe.« »Wo genau in Nepal liegt das Ziel?« fragte er. »Die Region nennt sich Dolpo. Sie liegt weit im Westen an der Grenze zu Indien.« »Das sagenhafte Dolpo«, murmelte er. »Bitte?« »Nichts.« Er winkte ab. »Du weißt hoffentlich, daß du mir ausge liefert bist. Auf Gedeih und Verderb.« »Hoffentlich mehr auf Gedeih.« Sie ließ ihm seinen Irrglauben.
»Am Geld soll es nicht scheitern«, sagte er. »Ich habe genug auf der Kante. Die indischen Lebenshaltungskosten sind eher gering, und der Sydney Morning Herald zahlt gut. Ihr wolltet von hier aus weiter nach Rampur als nächste Station, sagte Beth in ihrem Fax. Hattet ihr schon die Tickets?« Lilith verneinte. »Wir wollten sie vor Ort besorgen.« »Worauf warten wir dann noch? Wenn ich richtig verstanden habe, liegt das Endziel in Dolpo.« Sie schenkte es sich, Überraschung zu mimen. Sie sagte nur: »Der Flughafen wird vermutlich immer noch observiert.« »Nicht der, den ich meine.« Sein Ton wurde – falls eine Steigerung überhaupt möglich war – noch selbstsicherer. Lilith hatte bisher nicht versucht, ihn zu beeinflussen. Sie verzich tete auch jetzt darauf, obwohl es eine Möglichkeit gewesen wäre, ihn und seine Absichten kritisch zu hinterleuchten. Aber es hätte ins Bild gepaßt, daß Pradesh auch noch zu den uner kundeten Ausnahmen gehörte, die ihrer Suggestion widerstanden … Wie sich herausstellte, hatte Pradesh bereits alle Vorbereitungen für eine Reise getroffen. Gleich nachdem er sich eine kleine exoti sche Stärkung einverleibt hatte, konnten sie starten. Während der Fahrt aus der Stadt heraus fiel Lilith diesmal das Heer von Bettlern in den Straßen auf. Erstaunlich viele Kinder präg ten dieses Mileu. Als sie eine Bemerkung dazu machte, wies Pradesh darauf hin, daß manche dieser Bettelexistenzen am Monatsende mehr »Verdienst« mit nach Hause schleppten als ein Schwerstarbei ter. Als der Verkehr einmal fast zum Stocken kam, war der Wagen in Sekundenschnelle von Halbwüchsigen umringt. Sie sprangen nicht gerade zimperlich mit dem Eigentum anderer um. Lautstark ver
langten sie nach Kugelschreibern oder ausländischen Münzen. Sie hatten mit untrüglichem Gespür sofort erkannt, in welchem der vie len eingekeilten Fahrzeuge ein Fremder saß. Erst als Pradesh ihnen ein paar Bonbons nach draußen warf und sie mit erhobener Stimme vertrieb, konnten sie den Weg ungehindert fortsetzen. Was gesche hen wäre, wenn der Stau noch etwas länger angehalten hätte, wollte Lilith lieber nicht wissen. Ehe sie den Stadtkern ganz verließen, stoppte Pradesh noch vor ei ner Bank, um sich mit nötiger Währung zu versorgen. Bei seiner Rückkehr formte er die Notenbündel zu zwei gleich di cken Rollen und spießte sie mit Stecknadeln zusammen. Eine Rolle überließ er Lilith mit den Worten: »Nie eingerissene Scheine andre hen lassen! Löcher, die von Nadeln stammen, sind okay – aber keine Risse!« Obwohl Lilith andere Sorgen hatte, ließ sie ihn reden. Ein gutes Stück außerhalb der Vororte erreichten sie nach stunden langer Fahrt dann einen Flughafen, der nur von ein paar vorsintflut lichen Modellen frequentiert wurde. An Vertrauen in die hier gepflegte Technik schien es Pradesh je doch nicht zu mangeln. Lilith versuchte, es ihm gleichzutun. Die kleine Chartermaschine, mit der sie schließlich auf Pradeshs Kosten ihre Reise von Delhi nach Rampur fortsetzten, ließ jeden Komfort missen. Der Weiterflug am selben Tag von Rampur nach Dolpo mit einer kleinmotorigen Propellermaschine der VayudootGesellschaft stellte dann aber alles in den Schatten, was Lilith sich vorher an Reise-Ungelegenheiten hatte ausmalen können. Der Pilot war ein Hasardeur. Bis dies aber erkennbar wurde, be fanden sie sich schon auf halber Strecke. Der »ferne Westen«, wo die Nepali an den schroffen Hängen der
Fünf- bis Siebentausender in noch weitgehend unverwässerter Tra dition lebten, rückte unaufhaltsam näher. Schon vor Jahrhunderten hatten Hindus und Buddhisten ihrer in dischen Heimat aus mannigfachem Beweggrund den Rücken ge kehrt, um sich hier niederzulassen. Wer damals den Schritt gewagt hatte, hatte sich den herrschenden Gegebenheiten angepaßt, statt neue schaffen zu wollen. »Noch ein einziger Looping«, knirschte selbst Pradesh irgendwann auf dem unruhigen Flug, »und ich werfe ihn aus seiner eigenen Ma schine!« »Und ich«, unterstrich Lilith ohne jeden Scherzgedanken, »werfe ihm noch den Tank hinterher!« Pradesh lachte schallend. Eine knappe Stunde später wurden sie ein letztes Mal – aber dafür um so kräftiger – durchgeschüttelt, als sie in 1700 Meter Höhe auf holpriger Sandpiste landeten. Neben ein paar Wellblechverschlägen kam die Chartermaschine zum Stehen. Lilith revanchierte sich beim Aussteigen auf ihre Weise für den Katastrophenflug. »Was ist denn jetzt in den gefahren?« fragte Pradesh. Sie waren be reits unterwegs zu den Gebäuden hinter den Baracken, als er sich noch einmal umdrehte. »Der grinst ja, als hätte er heimlich am Mar meladentopf genascht …!« »Keine Ahnung«, gab sie sich unschuldig, obwohl sie genau wuß te, was sie dem armen Kerl mit ein paar leisen Worten vorgegaukelt hatte. Als Belohnung für den Folterflug durfte er nun für ein paar Stunden im Irrglauben schwelgen, ein fürstliches Trinkgeld von ihr erhalten zu haben. In Wahrheit waren die Scheine, die er wie einen Schatz gegen sei ne Brust gepreßt hielt, nicht mehr als einige Papiertaschentücher.
Die Ernüchterung würde nicht ausbleiben. Spätestens dann, wenn er sein »Vermögen« sinnlos verprassen wollte, mußte ihn das Un verständnis seiner Mitmenschen einholen … Ihr Etappenziel für diesen Tag hieß Surkhet und lag fast noch am Fuß des Siebentausenders, der Liliths Ziel war. Landrus Karte be schrieb diese Gegend in den Hochregionen des Himalaya-Massivs. Lilith hatte die Orientierungspunkte in aller Ruhe verglichen. In etwa dreitausend Metern Höhe lagen verstreut sieben Ortschaf ten, die besonders klar auf der Karte vermerkt gewesen waren. Und noch einmal tausend bis zweitausend Meter höher lag das Ziel, wo hin auch Landru strebte! Hier unten in Surkhet, von wo aus es nur noch beschwerlich zu Fuß weiterging, fand sich dank der Flugpiste noch relativ problem los ein Beherbergungsbetrieb. Aber obwohl es auch eine Sherpa-Station gab, gelang es Pradesh bei allem guten Zureden an diesem Tag nicht mehr, einen Sirda auf zutreiben, der sie in die Hochregionen des Himalayas führen wollte. Noch weniger Anklang fanden ihre Versuche, Näheres über das herauszufinden, was sich knapp unter dem Gipfel des Siebentausen ders befinden sollte. Die Antworten derer, die sie befragten, waren nicht einfach nur ausweichend, sondern offen feindselig! »Ich habe das komische Gefühl, als wären wir bereits hier nicht sehr willkommen«, seufzte Pradesh, als sie sich im Zimmer zusam mensetzten, um das weitere Vorgehen zu planen. Lilith teilte seine Einschätzung. Auch ihr war die ablehnende Hal tung der Bevölkerung aufgefallen. Aber darüber wollte sie nicht mit Pradesh diskutieren. Die Strapazen des Tages hatten ihre Spuren hinterlassen. Sie waren beide bestrebt, früh schlafen zu gehen. Pradesh unterließ – ganz Gentleman – jeden Annäherungsversuch, der unweigerlich das vorzeitige Ende ihrer sensiblen Partnerschaft
bedeutet hätte.
* Rani erwachte durch das Flüstern seines Namens hinter der Wand des Schlaflagers. Er war sofort hellwach und glaubte, erneut vom Ruf derjenigen er eilt worden zu sein, die ihn Nächte zuvor schon einmal geweckt hat ten. Rani hatte die unheimliche Gestalt in der roten Kutte nicht ver gessen. Leise schlich er aus der Hütte. Seine Mutter und Geschwister schliefen tief. Niemand bemerkte, daß er fortging. Vor der Hütte sah er sich suchend um. Nirgends war ein Zeichen wie jenes zu entdecken, das ihm den Weg ins Haus der Ermordeten gewiesen hatte. Dafür hörte Rani er neut deutlich seinen Namen und konnte auch die Richtung bestim men, aus der die Stimme kam. Erstaunlicherweise hatte er bedeutend weniger Angst als noch vor Tagen. Zielsicher fanden seine Füße den Weg aus dem Dorf heraus. Als er die letzten Häuser hinter sich ließ, kroch ihm dann doch eine Gänsehaut über den Rücken. Er mußte an den Mörder denken, der immer noch nicht gefunden war. Was, wenn er ihn gerufen hatte? Rani war stehengeblieben. Tief atmete er die kühle Luft ein. Das fahle Dunkel schien die üblichen Geräusche der Nacht seltsam zu dämpfen. Die lockende Stimme war verstummt.
Rani überlegte, ob ihm vielleicht nur seine angegriffenen Nerven einen Streich gespielt hatten. Er stand kurz davor, kehrtzumachen und ins Stroh zurückzukriechen. In diesem Augenblick legte sich von hinten eisern eine Hand auf seinen Mund. Zuerst war er wie gelähmt. Und als er sich endlich aufraffte, sich zur Wehr zu setzen, waren weitere Gestalten heran und zwangen ihn brutal zu Boden. Er hatte keine Chance. Binnen Sekunden war er gefesselt und gek nebelt, und ganz nebenbei hatte er auch noch jede Menge Fußtritte und Fausthiebe einstecken müssen. Die Angreifer waren maskiert. Es waren primitive Masken, dennoch vermochte Rani nicht dahin terzublicken. Niemand sprach. Am Ende zerrten sie ihn wieder von der Erde hoch und stülpten ihm einen Sack über den Kopf. Völlig blind wurde er aus dem Dorf getrieben. In diesem Moment glaubte er nicht, noch einmal zurück zukehren. Daß man nichts Gutes mit ihm vorhatte, stand außer Zweifel.
* Was für ein merkwürdiger Traum, dachte Lilith. Sie schwebte in kalter, kristallklarer Luft. Unter ihr breitete sich ein malerisches, nächtliches Szenario aus. Nebelverwünschene Täler reihten sich an Gebirge, deren ferne Gipfel in ewiges Eis gehüllt wa ren. Obwohl der Mond am Himmel nicht mehr als eine schlanke Si chel war, wob er zwischen den Bergriesen ein geheimnisvolles Licht.
Höher! dachte Lilith. Die Art ihres Sehens war fremd, aber ihre Schwingen gehorchten traumhaft schnell und sicher. Daß ihrer Keh le schrille Laute entwichen, deren rückkehrendes Echo von ihrem empfindlichen Gehör aufgefangen und ausgewertet wurde, drang ihr kaum zu Bewußtsein. Es war ja nur ein Traum. Peitschende Flügel trugen sie höher. Die Luft wurde dünner. Lilith »sah« sich um. Sonartöne schufen ein abstraktes Bild ihrer Umgebung neben der gewohnten Sichtweise. Lilith sah die wunderbare Bergwelt »dop pelt«. Es war der schönste Traum, den sie je gehabt hatte. Frei wie ein Vogel strich sie zwischen den Gebirgsgiganten dahin. Manchmal sah sie sogar kleine Gebäudeansammlungen, die von ih rer Warte aus wie Nester an den steilen Hängen zu kleben schienen. Sie wünschte, der Traum würde nie enden. Alle Sorgen waren von ihr abgefallen. Sie fühlte sich frei und stark, als könnte sie es mit der ganzen Welt aufnehmen … Das mußt du auch! Der Gedanke bohrte sich wie ein glühendes Eisen in ihr Bewußt sein. Vorbei war die Unbeschwertheit. Die Wirklichkeit hatte sie wie der. Sie strauchelte. Im Traum? Als sie begriff, daß sie weder träumte noch schlief, änderte sich al les. Die Leichtigkeit, mit der sie sich hier oben in eisiger Luft hielt, schwand schneller als ein Wassertropfen auf einer heißen Herdplat te.
Die Erkenntnis, daß ein langgehegter Wunsch endlich in Erfüllung gegangen war, bot keinen Trost. Denn Lilith wußte ihren verwan delten Fledermauskörper nach dieser Erkenntnis nicht mehr zu handhaben. Als sie noch zu träumen meinte, hatte sie es gekonnt. Intuitiv. Dann kam es noch schlimmer: Die Tarngestalt entglitt ihrer Kon trolle! Lilith fühlte ihren wahren Körper zurückkehren, und dieser hatte keine Flügel. Wild mit Armen und Beinen rudernd, stürzte sie wie ein Stein in die gähnende Tiefe. Und unter ihr wartete kein sanftes Polster, das sie auffangen konn te, sondern mörderisch zerklüftete Felszacken – einige durchaus ge schaffen, Lilith beim Aufprall nach klassischer Methode zu »pfäh len«… Sie kämpfte. Sie stemmte sich gegen den Schwerkraftsog. Ihre Fallgeschwindigkeit wuchs noch weiter an. Böen zerrten wie tollwütige Hunde an ihrem Körper. Nur noch Sekunden, dann … Der Symbiont schwieg und veränderte auch nicht seine Form. Als hätte er sich längst in das Unvermeidliche ergeben! Konnte ihn der erwartete Aufprall überhaupt töten? Lilith bezwei felte es. NEIN! Etwas in ihr zog sich zusammen. Sie wollte noch nicht sterben! Es gab noch so viele Erfahrungen und Erlebnisse, die nur darauf warteten, von ihr erschlossen zu werden …! Sie konzentrierte sich mit aller Macht, versuchte das Wissen um den Tod, der sie jeden Moment ereilen mußte, aus ihrem Denken zu
verbannen. Ich – kann – fliegen! Nichts geschah. Aber vorhin, im Traum, hatte sie es doch gekonnt! Warum sollte es nicht wieder klappen? Sie suggerierte anderen Menschen fast nach Belieben, was sie zu tun oder zu lassen hatten. Nun wandte sie denselben Trick bei sich selbst an. »Ich kann fliegen!« Ihr Schrei verlor sich im Fallwind. Die Worte wurden ihr von den kalten Lippen gerissen. Der Boden war schon so nahe, daß er das gesamte Gesichtsfeld ausfüllte. Der geröllübersäte Berghang zuckte ihr wie eine Betonwand entgegen. Lilith wurde von Panik angesprungen. Erinnerungen an vorhin, als sie eine Fledermaus gewesen war, kehrten bruchstückhaft zu rück. Fremdartige Empfindungen. Fremdes Sehen … Wie eine Er trinkende griff sie danach, krallte sich an den Erinnerungsfetzen fest. Und plötzlich … wurde ihr Sturz gebremst. Abrupt. Flügelschlagend. Erneut wurden zwei Sehweisen eins. Und der verhaßte Tod in sei ne Schranken verwiesen! Lilith genoß die Enge ihres neuen Körpers wie eine Auferstehung. Dennoch hatte sie es eilig, den sicheren Boden zu erreichen. Bevor ihr jedoch eine Landung in unbekannter Region gelang, kam es zu einem neuerlichen Vorfall. An Liliths feines Gehör drangen Schreie. Eine Kinderstimme. Sofort orientierte sie sich um. Der eigene Schrecken darüber, daß sie plötzlich in anderer Gestalt agieren konnte, war halbwegs überwunden. Zu sehr hatte sie sich in den letzten Wochen gewünscht, diese Metamorphose vollziehen zu kön nen, als daß es sie jetzt noch wirklich hätte schocken können. Vor ihr tauchten vermummte Gestalten auf, die eine andere Per son mißhandelten, niederknüppelten.
Ein Junge … ein Kind noch! Lilith handelte ohne besondere Strategie. Die Bande unter ihr war ihr auch in dieser Gestalt unterlegen. Lilith kam über sie. Mit peitschendem Schwingenschlag, schrillen, ultrahohen Schreien und gespreizten Krallen wirbelte sie den feigen Haufen durcheinan der. Die, die nach ihr zu greifen oder zu schlagen versuchten, büßten es mit blutigen Striemen in Gesichtern, an Armen und Händen. Lilith bekam ein Gefühl für die Stärke und Wendigkeit, die auch in dieser Tarngestalt steckte. Eine ungeheure Kraft, jeder echten Fle dermaus um ein Vielfaches überlegen! Das bekamen auch die Ver mummten zu spüren. Panische Augen starrten ins Dunkel. Versuchten zu erfassen, was da über sie herfiel. Diejenigen, die zu erkennen glaubten, um was es sich handelte, waren danach noch verwirrter. Schon nach kurzer Zeit flohen sie. Lilith verfolgte sie nicht. Das Opfer hatte Vorrang. Etwas unge schickt, weil der Umgang mit diesem Körper ungewohnt war, lande te sie neben dem reglosen Bündel. Eine Weile äußerster Konzentrati on folgte. Ein erstickter Schrei in der Ferne verriet, daß mindestens einer der Flüchtigen stehengeblieben war, um abzuwarten, was passierte. Es war die Sekunde, in der Lilith sich in ihrer wahren Gestalt vom Boden erhob und zu voller Größe aufrichtete. Das Mondlicht verfing sich in ihren Zügen. Sie hörte, wie die Gestalt, die hinter den Felsen ausgeharrt hatte, nun doch die Flucht ergriff.
Sie wartete das endgültige Verklingen der Schritte nicht ab, son dern beugte sich über den bewußtlosen Jungen, neben dem zusam mengeknüllt eine Art Sack lag. Vorsichtig löste sie die Fesseln. Der Symbiont schmiegte sich indessen als wärmender Mantel um ihre Haut. Irgendwie mußte er die ganze Zeit – auch während des Fledermausflugs – da gewesen sein. Vielleicht als winziger Schal um mein pelziges Hälschen, dachte die Halbvampirin sarkastisch. Wieder einmal deutete alles darauf hin, daß der Symbiont ihre verborgenen Fähigkeiten besser kannte als sie selbst. Ihre Verwand lung im Schlaf hatte ihn nicht beeindrucken können. Er gibt mich nicht mehr frei – ganz gleich, welche Gestalt ich annehme, dachte sie. Ihre Mutter hatte dieses unfaßbare »Geschenk« bis zu ihrem Tod selbst getragen und es anschließend Lilith vermacht. Es war ein Mi mikrykleid, Waffe und Fluch in einem. Ihr Verhältnis zueinander konnte man am ehesten als »Zweckgemeinschaft« umschreiben. Aber Freunde, das wußte Lilith sicher, würden sie nie werden. Ihre Versuche, den Symbionten loszuwerden oder auch nur für kurze Zeit abzustreifen, waren sämtlich gescheitert. Der Junge am Boden war etwa zehn Jahre alt. Er schien mit der Stirn gegen einen wie ein Stalagmit hochragenden Stein geprallt zu sein und dabei die Besinnung verloren zu haben. Lilith kümmerte sich behutsam um ihn. Trotz spürbarer Kälte und dünner Kleidung schien er nicht an Unterkühlung zu leiden. Nachdem Lilith ihm mit einem Stoffstreifen, den sie von seinem Hemd abriß, notdürftig das Blut vom Gesicht und den anderen Schrammen entfernt hatte, sah sie, daß die Verletzungen halb so schlimm waren wie zunächst befürchtet. Kurz darauf erlangte er in ihrem Arm das Bewußtsein zurück.
Schrecken malte sich in sein Gesicht. Von Erleichterung keine Spur. Lilith beruhigte ihn. »Wie ist dein Name?« versuchte sie das Eis zu brechen. »Rani«, kam es zögernd – aber erst, nachdem sie sanft mit etwas Hypnose nachgeholfen hatte. »Was ist passiert, Rani?« »Wer – sind Sie?« Seine Lider flatterten. Im fahlen Licht der Gestir ne sah er gewiß keine Einzelheiten. Aber was er sah, genügte, sein Mißtrauen erneut aufflammen zu lassen. »Ich heiße Lilith. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.« Er schwieg. »Wer waren diese Menschen, die dich schlugen?« Er erbleichte. »Ich – weiß nicht …«, kam es matt. »Sie überwältig ten mich und schleppten mich hierher. Erst hier nahmen sie den Sack von meinem Kopf und entfernten den Knebel …« »Gibt es in der Nähe ein Dorf, aus dem du kommst?« Rani nickte scheu und wies die Richtung mit ausgestrecktem Arm. Lilith strich ihm mitfühlend über das Gesicht. »Dorthin ver schwanden die feigen Kerle. Sie scheinen also aus deinem Dorf zu stammen. Hast du ihnen etwas getan?« Er zögerte. Schüttelte dann den Kopf. »Sie entführten und schlugen dich grundlos …?« Er sank noch mehr in sich zusammen. Daß es sich bei denen, die ihn mißhandelt hatten, um Leute aus seinem eigenen Dorf handelte, schien ihn tief zu deprimieren. »Kannst du aufstehen und alleine gehen?« fragte Lilith. Er versuchte es. Wie durch ein Wunder schien er sich nichts gebro
chen, nicht einmal verstaucht zu haben. »Ich begleite dich in dein Dorf«, bot Lilith an. Der Junge schien nicht sehr erbaut von ihrem Angebot zu sein. Ihren einmal gefaßten Entschluß berührte das in keiner Weise. Um Himachal Pradesh, der vielleicht noch gar nichts von ihrem Verschwinden ahnte, machte sie sich die geringsten Sorgen. Er hatte bewiesen, daß er so schnell durch nichts aus der Bahn zu werfen war. Und wer, wie er, auf die Idee kam, mit »Kalis Tragetier« als Talis man herumzulaufen, war ohnehin in keine bekannte Schublade zu pressen …
* Die Ansammlung von strohgedeckten Steinhütten wirkte auf den ersten Blick so verlassen wie ein »Dorf auf dem Mond«. Hinter kei nem der Fenster brannte Licht. Die Straße lag still vor ihnen. Von denen, die Rani aufgelauert hatten, fand sich keine Spur mehr. »Wo wohnst du?« fragte Lilith. Der Junge zeigte geradeaus. Er hatte noch immer nicht gefragt, woher Lilith so plötzlich ge kommen war, um ihm aus der Bredouille zu helfen. Seine Verstört heit war zwar begreiflich, aber sie förderte nicht gerade das »zarte Pflänzchen Freundschaft«, gegen das Lilith nichts einzuwenden ge habt hätte. Erst ein paar Schritte vor den ersten Hütten hatte sie den Namen des Dorfes erfahren: Yakshamalla.
Sie liefen über gepreßten Lehmboden zwischen den geduckten Bauten hindurch. Die meisten Dächer waren mit flachen Felsbro cken beschwert, damit ein unverhoffter Sturm sie nicht so leicht ab decken konnte. Auf einem weiten Platz in der Mitte von Yakshamalla ragte ein denkmalähnliches Gebilde auf, etwa so hoch wie ein aufrecht ste hender Erwachsener. Es lief pyramidenförmig spitz nach oben zu. Flächen und Kanten waren völlig glatt und sahen aus wie unter großer Hitzeeinwirkung geschmolzen und danach wieder erstarrt. »Was ist das?« fragte Lilith. Rani lief einfach stumm weiter. Lilith akzeptierte es. Sie beeilte sich, ihn einzuholen. Doch als sie kurz darauf an einer Art Scheiterhaufen vorbeikamen, ließ sie sich nicht mehr so billig abspeisen. Deutlich sah sie mehrere mumienhaft in Tücher gewickelte Körper über die dicke Holzschicht gebahrt. »Verbrennt ihr eure Toten?« fragte sie. Rani nickte. Lilith hielt ihn am Arm fest. »Ich zähle vier Leichen – gibt es eine ansteckende Krankheit, die euch zu schaffen macht?« Er versuchte sich freizumachen. »Nein«, sagte er gepreßt, als es nicht gelang. »Woran sind sie dann gestorben? Ihr wartet doch nicht, bis mehre re Tote zusammenkommen, ehe ihr sie nach eurer Tradition bestat tet …?« Seine nächsten Worte trafen sie trotz gewisser Ahnungen wie eine kalte Dusche. »Man hat sie – ermordet. Ein Mörder treibt seit Tagen sein Unwe sen …« Lilith ließ sich nicht anmerken, was die Worte in ihr auslösten. »Wie wurden sie ermordet? Weißt du darüber Bescheid?«
Er wand sich. Bis sie sanft mit ihren Suggestivkräften nachhalf. »Ich habe sie gefunden«, gestand er schließlich. »Bis auf Bimal und Padam … Sie alle waren grausam zugerichtet. Wie Swani …« »Swani?« »Ein alter Mann. Er lebte im Nachbardorf.« »Wie sahen die Wunden aus?« Ihre Stimme wurde rauher. In dieser Hinsicht war ihr Rani jedoch keine große Hilfe. Obwohl er die Toten gefunden hatte, konnte er nicht viel über das sagen, was sie getötet hatte. Als er sie fand, hatten sie förmlich in Blut ge schwommen. Lilith ließ es gut sein. Sie begleitete den Jungen auch noch das rest liche Stück zu seinem Elternhaus. Als sie sich von ihm verabschiede te, wirkte er regelrecht erleichtert. Er fragte nicht, ob sie sich wieder sehen würden. Sie wartete, bis er im Innern der Hütte verschwunden war, dann ging sie langsam den gerade gekommenen Weg zurück. Beim Scheiterhaufen verharrte sie. Alles war vorbereitet. Vermut lich war die Feuerbestattung für den kommenden Tag vorgesehen. Wenn Lilith Antwort auf ihre drängenden Fragen haben wollte – und das wollte sie –, durfte sie nicht warten, bis es zu spät war. Nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, daß sich nichts in der Nähe bewegte, kletterte sie geschickt auf das zusammenge zimmerte Gerüst, auf dem die Toten wie auf einem Tisch nebenein andergereiht lagen. Lilith zögerte nicht, die Gestalt, die ihr am nächsten lag, aus dem farbenprächtigen Tuch zu wickeln, das die erwarteten Verstümme lungen gnädig verhüllte. Es war die Leiche eines jungen Mannes, wie sich herausstellte.
Lilith sah sofort, daß er vollständig ausgeblutet war. Grund waren die längs seiner Adern angesetzten Schnitte, durch die das Blut in entsetzlich kurzer Zeit komplett aus dem Körper ge sprudelt sein mußte! In Lilith breitete sich trotz des grausigen Anblicks auch dunkles Behagen bei dem Gedanken an den Saft aus, der hier vergeudet worden zu sein schien. Sie hatte etwas anderes zu finden erwartet, wie sie sich bereitwillig eingestand. Ihr erster Gedanke, als sie von Rani von der Mordserie gehört hatte, war gewesen: LANDRU. Aber dies hier deutete auf eine menschliche Bestie hin. Nicht auf einen Vampir. Keine Bißmale. Um sich zu vergewissern, wickelte sie noch eine zweite Gestalt aus. Dabei stockte ihr das Herz. Schon beim Entfernen der Tücher hatte sie gespürt, daß sich etwas seltsam Hartes darunter befand. Nun wurde sie mit etwas nie Gesehenem konfrontiert. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht geahnt, daß dem Tod auch eine »schöne Seite« abzugewinnen war. Das Antlitz aber, das sie aus den Tüchern schälte, leuchtete ihr in unirdischer Schönheit entge gen! In Lilith ballte sich kalte Wut über den, der dieses … Kunstwerk zerstört hatte. Zugleich fand sie unumstößliche Beweise, daß der Tod dieses jun gen Mädchens nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Auch ihr Körper wies diese mißverständlichen Längsschnitte auf. Zugleich aber hatte er sich in etwas verwandelt, das sich nun wie versteinertes Holz anfühlte … Wie etwas, das nie gelebt hatte! In diesem Zustand, ahnte Lilith, würde der Leichnam problemlos
eine Ewigkeit überdauern, und es war zweifelhaft, ob ihm das Feuer etwas anhaben konnte … Ihre Gedanken stockten, als machtvoll die Erinnerung an ihre tote Mutter wach wurde. Sie hatte Creanna ähnlich unversehrt und unverwest in ihrem Grab im Keller des Hauses 333, Paddington Street liegen sehen. Auch Liliths Mutter schien von einer unbekannten Kraft wider die Natur konserviert worden zu sein. Andere Vampire zerfielen zu Staub, wenn ihrem vom Blut über die Epochen geretteten untoten Dasein eines Tages ein jähes Ende bereitet wurde. Bei Creanna schien dies nicht der Fall gewesen zu sein, auch wenn Lilith das Grab bei einem späteren Besuch dann leer vorgefunden hatte. Lilith weigerte sich, an einen Zusammenhang zu glauben. Ein Ozean lag zwischen diesem Phänomen hier und dem, das ihre Mut ter betraf. Sie begann damit, die Körper wieder einzuwickeln und verräte rische Spuren zu beseitigen. Sie wollte nicht den Zorn von Men schen auf sich ziehen, die die letzte Ruhe ihrer Freunde oder Ange hörigen gestört wähnten. Erst als sie wieder von der Konstruktion herunterstieg, sah sie, daß sie schon eine Weile beobachtet worden war. Ein Mann, nicht mehr jung, aber auch noch nicht sehr alt, trat aus der Deckung des Scheiterhaufens. Er schien keine Scheu vor ihr zu empfinden. »Namaste«, sagte er ruhig. Seine Augen waren stumpf. »Namaste«, erwiderte Lilith reflexartig. »Stören wir die Ruhe der Toten nicht länger«, sagte der Mann. Als er sich ohne weiteren Kommentar abwandte und auf eine be
stimmte Hütte in der Nähe zuging, war dies eine Aufforderung, ihm zu folgen. Lilith ging darauf ein, weil sie längst nicht mehr glauben mochte, daß ihr nächtlicher »Ausflug« rein zufällig zustande gekommen war. Irgend etwas – und sei es ein noch so instinktives Gefühl – hatte sie an diesen Ort gelockt, von dem sie kaum noch Zweifel hatte, daß er auf Landrus Karte zwar nicht namentlich, aber dennoch deutlich vermerkt war …
* Sydney Die Hiobsbotschaft von Duncans Tod war nicht das einzige, woran Elisabeth MacKinsey in diesen Stunden zu knabbern hatte. Sie war noch nicht lange über Liliths wahres Wesen informiert, und es berei tete ihr immer noch größte Mühe, an Vampire und den ganzen da mit verbundenen »Überbau« zu glauben. Andererseits war das, was sie erfahren hatte, die Erklärung für so viele Rätsel, die sich seit der Straßenblockade in der Paddington Street wie Mauern aufgetürmt hatten. Nicht nur Beth biß sich die Zähne an der Informationspolitik der Stadtobrigkeit aus – alle ihre Kollegen bei Funk, Fernsehen und in den Zeitungsredaktionen litten unter demselben Manko. Aber längst nicht alle waren in der Vergangenheit so penetrant zäh an die bohrenden Fragen herangegangen wie Macbeth. Ihr Spitzname war ihr eine Verpflichtung. Shakespeare’sche Hexe zu sein, mußte man sich verdienen. Unter anderem durch Penetranz!
Als es an der Tür ihres Apartments läutete, sprang sie wie von ei ner Rotrückenspinne gebissen auf. Unkonzentriert hatte sie vor ih rem Powerbook gesessen und ein paar ältere Dateien abgerufen. Es gab immer wieder Storyrecherchen, die irgendwann versandeten. Bei denen man nicht richtig vorankam. Aber es konnte schon depri mierend sein zu sehen, wie viele dieser Kategorie sich davon allein im Lauf der letzten Monate angehäuft hatten und nun wertvollen Speicherplatz wegnahmen. So spät in der Nacht erwartete Beth keinen Besuch mehr. Entsprechend vorsichtig war sie. »Wer da?« rief sie durch das Türblatt, ohne auch nur einen Spalt aufzumachen. Das dröhnende Organ war unverkennbar und hatte den Vorteil, daß es gar nicht imitiert werden konnte. Von niemandem. Moskowitz war einzigartig. Beth öffnete. »Kommen Sie rein … Was führt Sie zu mir?« Sie war tete, bis der redaktionsberüchtigte Stänkerer und Meisterfotograf (in dieser Reihenfolge) seinen nicht molligen, sondern radikal fetten Körper durch die Tür gezwängt hatte. »Die korrekte Frage wäre: Wer führt mich zu Ihnen!« Das Unikum im fortgeschrittenen Pensionsalter warf einen kritischen Blick auf Beth’ Inneneinrichtung und dachte nicht daran, sich seinen Senf dazu zu verkneifen: »Verscherbelt MacDonald’s inzwischen auch Möbel?« Beth’ Augen verschleuderten Blitze. Einen Moment sah es aus, als wollten die heute nicht gerade pas send gewählten sanftbraun getönten Haftschalen abheben. »Ich kenne Ihre Wohnung nicht«, gab sie grimmig Paroli. »Aber ich kann mir vorstellen, wie sie aussieht, und dagegen kann das hier –« sie machte eine ausholende Geste, »– locker mithalten!«
Moskowitz legte den Kopf schief wie ein Uhu. Er klang ehrlich neugierig, als er fragte: »So? Wie, meinen Sie, sieht meine kuschelige Kemenate aus?« »Das Mobiliar dürfte«, versetzte Beth boshaft, »aus übereinander gestapelten Zigarrenkisten bestehen, und die Wände leben vermut lich vom Charme zentimeterdicker Nikotinschichten!« Moskowitz lächelte entwaffnend. Er kannte seine Schwächen. »Fast«, sagte er. »Es klingt, als hätten wir uns schon mal zu einem kleinen Plausch bei mir getroffen.« »Bewahre!« preßte sie hervor. Das ganze Geplänkel täuschte ein wenig darüber hinweg, daß sie sich im Grunde prächtig verstanden, seit sie ein paarmal enger zu sammengearbeitet hatten. Moskowitz hatte sich sogar als verkappter Kavalier entpuppt und verzichtete seit geraumer Zeit darauf, seine gefürchteten Lungentorpedos in ihrer Nähe zu zünden. Das mußte er auch, wenn er Wert auf ihre Nähe legte. »Kaffee?« fragte sie und nickte zur Espressomaschine. Er wehrte ab. »Keine Zeit!« Nach einem knappen Lächeln fügte er hinzu: »Wir beide haben keine Zeit!« »Wer sagt das?« »Ich – und Moe.« Beth stöhnte. Sie kannte nur einen Moe: Moe Marxx, ihren Chefre dakteur bei der Zeitung. Und jeder – außer Moskowitz – weigerte sich aus Gründen ungewollter Vermenschlichung, diesen Kotzbro cken beim Vornamen zu nennen! »Was heißt das konkret?« »Das heißt, daß der gute Moe einen Narren an uns beiden gefres sen zu haben scheint, seit wir den ollen Pater gemeinsam so fein in eine enge Zeitungsspalte gepreßt haben …«
Obwohl Beth wußte, worauf er anspielte, rief sie entschieden: »Der spinnt!« »Deshalb ist er ja wohl Chef geworden, oder …?« griente der fette Zeitungsfotograf. Sein Blick blieb an einer Kamera hängen, die auf Beth’ Kommode lag. Er hatte sie ihr kürzlich für den »unwahrscheinlichen Fall« über lassen, daß er einmal »unpäßlich« sei, wenn es drauf ankam. Worauf, hatte er verschwiegen. Beth jedenfalls bekam eine Serie von Gänsehäuten, als sie an das Geschehen erinnert wurde, das mit dem Apparat verbunden war.* Moskowitz stakste auf die Kamera zu. Der Boden bebte. »Was waren das eigentlich für Bilder, die ich in meinem Labor ent wickelt habe? Dachte erst, es wären Fehlbelichtungen. War aber was drauf …« Beth bezweifelte, daß es ein guter Zeitpunkt für einen Infarkt war. Deshalb umschiffte sie die Wahrheitsklippe, bei der sie selbst an ihre Grenzen gestoßen war. »Ich dachte, wir hätten es eilig?« Moskowitz legte achselzuckend sein ausgemustertes Stück zurück. »Haben wir«, nickte er. »Dann los.« Sie schnappte sich eine Jacke und hielt ihm vorsorg lich die Tür auf. »Können wir mit Ihrem Wagen fahren?« fragte er, als sie in den Lift stiegen, dessen zulässiges Tragegewicht nur knapp unterschrit ten wurde. »Warum? Ist Ihrer immer noch in der Werkstatt?« Moskowitz besaß angeblich ein Oldsmobile, aber niemand hatte ihn in den letzten Jahren darin fahren gesehen. Allmählich festigte sich das Gerücht, daß dieses Gefährt längst unter ihm zusammenge *siehe Vampira 6: »Blutspur«
brochen und – um weitere Zwischenfälle auszuschließen – ver schrottet worden war. Wie Beth’ »Sardinenbüchse« ihn verkraftete, war und blieb ein Rätsel. Die Häufigkeit, mit der er neuerdings bei ihr mitfuhr, ließ fast den Verdacht auf eine masochistische Ader bei ihm aufkom men. Jedem Tierchen sein Pläsierchen, dachte Beth, ehe sie sich konkret schildern ließ, um was es bei ihrer Co-Arbeit ging. »Wir sind das aktuelle Spezialistenteam für Blut und Tränen«, er klärte er mit Reibeisenstimme. »Moe will ein paar gepflegte Sätze und Bilder zu einem bestialischen Mord in pikantem Milieu.« »Wo?« Die Straße, die er nannte, kannte Beth nicht. Er lotste sie. Kurz bevor sie das Ziel erreichten, fragte Moskowitz fast beiläufig: »Schon das neueste Gerücht gehört?« »Nein. Worüber?« »Über die Paddington Street«, sagte er. »Das dortige Sperrgebiet.« Beth’ Finger schlossen sich fester um das Lenkrad. Dank Lilith wußte sie inzwischen, was die Behörden mit immensem Aufwand zu vertuschen versuchten. Sie wußte wahrscheinlich sogar noch we sentlich mehr als die Behörden selbst. Aber mit diesem Wissen hau sieren zu gehen, konnte gefährlich werden. Sie hatte sich noch nicht entschieden, wie sie es in Zukunft handhaben wollte. »Was erzählt man sich Neues darüber?« fragte sie. Moskowitz beobachtete sie von der Seite. Natürlich wußte er, daß sie sich wie jeder andere die Zähne daran ausgebissen hatte, die Gründe für die Mobilmachung in dem genannten Wohnbezirk her auszufinden. »Das Sperrgebiet«, dehnte er, »soll in den nächsten Tagen wieder
der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die, die ihre Häuser räumen mußten, können zurückkehren. Man hat – so heißt es – den Gefahrenherd für die Umgebung beseitigt. Das Haus, das diese Ge fahr ausstrahlte, wurde dem Erdboden gleich gemacht.« »Das Haus?« echote Beth. »Die Nummer dreihundertdreiunddreißig ist drauf gegangen, heißt es. Jemand hat die Information gestreut, ein wahnsinniger Sprengstoff-Fan hatte sich dort verbarrikadiert. Man habe ihn ohne Blutvergießen ausgehungert und müsse das Kellerlager noch räu men. Danach könne alles wieder seinen gewohnten Gang nehmen …« Beth verriet nicht, wie sehr sie diese Darstellung verunsicherte. Von Lilith wußte sie einiges um die wahre Beschaffenheit des Grundstücks, auf dem das Geburtshaus der Halbvampirin gestan den hatte. Zuletzt hatte sich dort statt des Hauses ein Baum erhoben. Das Ge bäude war spurlos verschwunden gewesen … Sie wußte nicht, was sie davon halten sollte. Die Ankunft in einer von Sydneys »Geldgegenden« lenkte sie nachhaltig ab. Moskowitz schaffte das Kunststück, noch vor ihr auszusteigen, was die Frage auf warf, ob er irgendwo heimlich trainiert hatte. Die Presseausweise ebneten ihnen den Weg zum Tatort. Ein paar Scheinchen unter der Hand taten ein übriges. Das Nobelapartment, das sie kurz darauf betraten, hatte schon bessere Tage gesehen. Jemand hatte systematisch alles verwüstet. Höhepunkt war eine Frauenleiche im Badezimmer. Sie war noch nicht weggepackt, als sie ankamen. Beth fühlte sich unsanft daran erinnert, was sie die letzten zwei
Tage alles zu sich genommen hatte. Würgend drehte sie ab. Moskowitz war weniger zart besaitet. Er zündete ein Blitzlichtge witter. Als sie mit dem Ermittlungsbeamten sprachen, hatte Beth sich wie der unter Kontrolle. »Täter?« fragte sie knapp. »Flüchtig.« »Name des mutmaßlichen Täters?« »Leroy Harps«, kam es ohne Zögern. »Beruf?« »Pornoproduzent.« Beth hielt es für einen schlechten Witz. Moskowitz’ Grinsen und die gerade noch rekonstruierbare Ursprungsatmosphäre der Woh nung belehrten sie jedoch eines Besseren. »Wir haben Berge von jugendgefährdenden Videos sichergestellt, falls es Sie interessiert …« Der Hinweis des Polizisten klang nicht nur anbiedernd. Er schien auch auf Beth’ Reaktion gespannt zu sein. Sie musterte ihn vom Scheitel bis zu den Zehen. »Wenn Sie es brauchen, nehmen Sie sich doch ein paar mit nach Hause! Dort wird ja vermutlich niemand auf Sie warten!« Den Rest dessen, was sie für eine Story nach Marxx’ Geschmack brauchte, besorgte sie sich anderweitig. »Die hat Haare auf den Zähnen, was?« hörte sie Moskowitz noch anerkennend sagen. »Ich liebe, liebe, liebe die Kleine. Wenn Sie diese Liebe nicht teilen, kann ich es allerdings nachvollziehen …« »Verschwinden Sie!« Moskowitz schloß zu ihr auf. »Ein neuer für Ihre Sammlung«, grinste er.
»Sammlung?« »Man erzählt sich, Sie lägen bald mit jedem Polizisten der Stadt im Clinch.« »Wäre das positiv oder negativ zu bewerten?« Moskowitz schlug sich auf die dicken Schenkel. »Erwähnte ich schon mal, daß ich Ihren Humor mag? Köstlich!« Kopfschüttelnd wandte sie sich der Befragung von Mitbewohnern des Hauses zu. Eine Stunde später erreichte sie mit Moskowitz die Redaktion, wo er sich ins verlagseigene Labor zurückzog, um seine Bilder zu entwi ckeln, während sie sich an ein x-beliebiges Allgemeinterminal setzte und ihren Sermon herunterhämmerte. Marxx sollte bekommen, was er wollte: Subtiles Grauen, das der Wahrheit nur unzureichend gerecht wurde, aber in sein »seriöses« Blatt paßte. Beth brauchte zwei Stunden. Als sie das Geschriebene in der ver waisten, vollverglasten Chefredaktion, dem »Aquarium«, deponiert hatte, schaute sie noch kurz bei Moskowitz vorbei und fragte, ob sie ihn irgendwo absetzen sollte. Höflichkeitshalber. »Ich bleibe hier«, verneinte er feixend. »Ist gemütlicher als in mei ner nikotinbeschichteten Zigarrenkisten-Kemenate …« Beth ließ es so stehen. Als sie zu Hause die Wohnungstür aufsperrte, läutete gerade das Telefon. Sie sprintete hin. Lilith, war ihr erster Gedanke, da um diese Zeit immer noch die meisten Menschen, die sie kannte, schliefen.
Auf den Anrufer, der wirklich an der Strippe war, hatte sie vergeb lich gewartet, seit sie das Apartment wieder allein bewohnte. »Endlisch«, sagte eine seltsam verzerrte Stimme. »Dscheff Warner hier … Wir müschen unsch treffen! Unbedingt …!«
* Yakshamalla, West-Nepal Draußen graute der Morgen. Bahadur (mehr als seinen Namen hatte er Lilith noch nicht verra ten) hatte Tee aus frischen Blättern aufgegossen und verteilte ihn nun in zwei winzige Porzellantassen, die aussahen, als gehörten sie in eine Puppenstube. Der Raum war vollgestopft mit Dingen, die von Menschen westli cher Prägung wohl schlicht als »Gerümpel« abgetan worden wären. Lilith bezweifelte jedoch, daß ihr Gastgeber es so empfand. Die Wände waren mit religiösen Symbolen geschmückt, ohne daß Lilith sich davon in irgendeiner Weise beeinträchtigt fühlte. Das war erstaunlich, da vergleichbare christliche Symbole ihr sehr wohl zu zusetzen vermochten. Aber ähnlich war es ihr auch bei Himachal Pradeshs Talisman ergangen. Ein Kruzifix hätte ihr Schmerzen zuge fügt, spätestens bei direkter Berührung. Auf ein Symbol der indi schen Götterwelt traf dies offenbar nicht zu. Warum, wußte sie nicht. Sie hatte sich längst ihre Gedanken über gewisse Zusammenhänge und Wechselspiele, unter denen sie zu leiden hatte, gemacht. Aufs höchste unbegreiflich war ihr immer noch eines:
Wenn die Alte Rasse, wie sich die Vampire selbst nannten, tatsäch lich die wichtigsten Schaltzentren menschlicher Macht kontrollier ten, und dies seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden, warum war es ihnen dann in all der Zeit nicht gelungen, so gefährliche Institutio nen wie die christliche Kirche aus der gemeinsamen Lebenssphäre zu verbannen? Sie hätten – stark vereinfacht ausgedrückt – die Kirche einfach ver bieten und ihre Anhänger unter einem Vorwand systematisch aus merzen können! Daß sie es nicht getan, sondern lediglich mit der Gefahr umzuge hen gelernt hatten, deutete darauf hin, daß sie eben doch nicht alles nach Belieben manipulierten! Oder steckte etwas ganz anderes, viel Abgefeimteres dahinter …? Als Bahadur mit den Tassen anrückte und sich neben Lilith auf ei ner mitten im Raum liegenden Matratze niederließ, sagte er: »Du bist mit dem Boten gekommen. Ich habe euch gesehen.« Lilith sah in seine dunklen Augen und wunderte sich über das, was sie darin las: Dieser Mann hatte Angst vor ihr – und trotzdem lud er sie in sein Haus ein …? »Ich bin mit einem kleinen Jungen gekommen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, warum du ihn einen Boten nennst.« Er schien ihr nicht zu glauben. Lilith ergänzte: »Er wurde von mehreren Vermummten außerhalb eures Dorfes verprügelt – ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn ich nicht rechtzeitig eingeschritten wäre.« Über Bahadurs Gesicht zog ein Leuchten. Dann sagte er etwas, was Lilith schockierte: »Er hat es nicht besser verdient! So tut sich also doch endlich etwas …!« Lilith spürte, daß sie ihn nicht künstlich zu weiteren Erklärungen ermutigen mußte. Er hatte sie eingeladen, weil er etwas loswerden
wollte. »Du stammst nicht aus den Tempeln …?« »Welche Tempel?« Er nippte vorsichtig an seinem Tee. »Wie ich sagte: Ich habe dich beobachtet. Jemand wie du war hier noch nie. Du brachtest Rani heim und bist dann zu den Toten geklettert. Du hast sie dir angese hen und wohl auch erkannt, daß etwas nicht mit ihnen stimmt. Be sonders mit Bimal …« »Ist das das Mädchen, das sich anfühlte wie … Holz?« Er nickte und senkte den Blick. Als er wieder aufsah, glänzten sei ne Augen feucht. Plötzlich schüttelte es ihn von innen heraus. Die Tasse fiel ihm aus den Händen, aber das schien ihm egal. Er beugte sich vor und vergrub das Gesicht in den schwieligen Händen. »Sie erinnert mich so an Satya, meine arme Tochter …« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Es genügte. Lilith hatte kein Problem, ihn akustisch zu verstehen. Nur mit dem Verste hen selbst haperte es zunehmend. Um die Sache zu beschleunigen, drängte sie: »Beruhige dich. Er zähle mir der Reihe nach. Und komme zum Punkt: Warum hast du mich eingeladen?« Bahadur atmete tief ein und aus. Seine Hände fielen herab, aber sein Oberkörper straffte sich. Er schien sich wieder gefangen zu ha ben. »Du sagst, du weißt nicht, was ein Bote ist … Dann weißt du auch nicht, was hier geschieht! Warum bist du aber gekommen?« »Ich suche etwas.« »Und das wäre?« Lilith hatte keine Scheu, das Kind beim Namen zu nennen. »Ein besonderes Gefäß. Einen Kelch, der einer Blume nachempfunden ist.
Ich glaube, man nennt ihn den Lilienkelch. Hast du je etwas darüber gehört?« Bahadur verneinte. »Wozu sollte dieses Gefäß gut sein?« »Es ist ein Werkzeug dunkler Mächte.« »Dann«, nickte er, »könnte es sehr gut hier irgendwo stecken.« »Warum?« »Weil alles hier dem Bösen geweiht ist!« »Erzähle!« Bevor Bahadur beginnen konnte, ertönte von außerhalb der Hütte großes Geschrei. Der Nepali sprang auf und öffnete eines der Fenster. Als er zu Li lith zurückkehrte, zitterten seine Lippen, hin und her gerissen zwi schen Gefühlen. »Feuer!« keuchte er. »Eine der Hütten brennt!« Er leckte sich über die spröden Lippen. »Es ist das Haus des Boten …«
* Lilith rannte sofort ins Freie. Das halbe Dorf befand sich schon auf den Beinen. Es wirkte nicht länger verlassen, sondern wie ein Taubenschlag, in den ein Fuchs eingefallen war. Alles strömte in die Richtung, in der sie sich von Rani getrennt hatte. Wie Bahadur sich verhielt, wartete Lilith nicht ab. Sie war sicher, daß sie diejenigen, die den Jungen verprügelt hatten, unterschätzt hatte. Das Feuer war absichtlich gelegt worden. Von jenen, die Lilith in Fledermausgestalt in die Flucht getrieben hatte! Diese Überzeugung beflügelte sie. In atemberaubendem Spurt
überholte sie die meisten eher zögerlich dahintrottenden Dorfbe wohner. Als Ranis Zuhause in Sicht kam, spürte Lilith ein kurzes, aber heftiges Ziehen in der Brust. Auslöser war die Art und Weise, wie die Leute gegen die Flammen vorgingen. Sie rückten nicht vor rangig dem brennenden Haus zu Leibe, sondern kümmerten sich wesentlich engagierter um die Nachbarhütten, die sie mit eilends herbeigeschleppten Wassereimern begossen, um ein Übergreifen des Feuers zu erschweren. Die Wut verwandelte Lilith in eine Furie. Besonders als sie Schreie aus dem Innern der Hütte hörte, die auch andere hören mußten, wenn sie nicht taub waren. Aber niemand griff ein. Lilith stieß mehrere Personen zur Seite und bahnte sich den Weg auf das brennende Gebäude zu. Aus mehreren Fenstern schlugen Flammen und fette Rauchsäulen. Auch das Dach brannte lichterloh. Plötzlich torkelte eine hustende, halberstickte Frau aus der Tür, rechts und links zwei Kleinkinder unter dem Arm. Rani war nicht dabei. Lilith kümmerte sich nicht darum, was mit den dreien geschah, die sich aus eigener Kraft gerettet hatten. Sie entriß einem Nepali den gefüllten Wassereimer, mit dem er sonstwohin hasten wollte, und schüttete sich den Inhalt über den Kopf. Klatschnaß rannte sie weiter ins Haus. In ein Inferno aus Qualm, Feuer, einstürzendem Gebälk und glühendem Stroh! Die Schreie waren verstummt. Natürlich bestand die Möglichkeit, daß Rani hatte fliehen können. Aber Lilith wollte Gewißheit, ehe kein Stein mehr auf dem anderen stand. Es knirschte in den Wänden. Die Hitze sprengte den Mörtel, und der Rauch machte auch der Halbvampirin zu schaffen. Er be hinderte ihre Sicht und schaffte damit, was normale Dunkelheit
nicht vermochte. Die Rettungsaktion wurde zum Hindernislauf. Ständig mußte sie in Regionen ausweichen, die noch nicht Opfer der Flammen gewor den waren, und diese Zonen wurden immer kleiner. Als es allerhöchste Zeit wurde, die Feuerhölle wieder zu verlassen, stolperte Lilith fast zufällig über Rani, der halb zugedeckt unter fun kenstiebenden Trümmern lag. Lilith zerrte ihn darunter hervor, hob ihn auf und legte ihn über beide Arme. Sein Atem ging flach. Sein Herz auch. Der Ausgang stand bereits in Flammen, aber zum Umdenken blieb keine Zeit mehr. Lilith riskierte alles. Mit Rani tauchte sie in die Flammen. Jetzt! dachte sie. Der Symbiont fächerte auseinander. Umhüllte sie mit einem Schild aus kalter Schlangenhaut. Lilith stürmte nach draußen zu der aufgebrachten Menge. Kaum waren sie im Freien, teilte sich der Symbiont und umwehte sie fortan wie ein normaler Umhang. Kein menschliches Auge konnte der Verwandlung folgen. Außer dem herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Lilith legte den Jungen vorsichtig auf den Boden und wartete, daß er aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte. Als sie nach einer Weile aufblickte, stellte sie fest, daß sie von ei nem Ring aus Menschen umstellt war. Nicht einer blickte freundlich auf sie und den Jungen herab. »Wer ist sie?« hörte sie jemanden die argwöhnische Frage.
»Eine Hexe!« antwortete einer, in dem Lilith mühelos einen der Feiglinge wiedererkannte, die Rani mißhandelt hatten. Er wußte nicht, daß sie ihn identifizierte. Vielleicht wäre er sonst weniger vorlaut gewesen. »Daß ihr euch nicht schämt!« hob sie die Stimme und legte genau die Gefühle hinein, die in diesem Moment in ihr brodelten. Einige zuckte zurück; viele harrten eisern aus. »Was sagt sie?« »Sie ist verrückt! Eine verrückte Hexe …!« Lilith ließ es sich nicht länger gefallen. Sie fuhr hoch. Ihre grünen Augen wechselten ins Rötliche. Nur die Tatsache, daß Rani stöh nend zu sich kam, hielt sie davon ab, noch mehr aus sich heraus zu gehen … Der Junge war endgültig verstört. Anklagend blickte er von einem zum anderen. Aber er brachte kein Wort über die Lippen. »Das Haus anzuzünden«, rief Lilith, »war schon feige genug. Sich jetzt nicht dazu zu bekennen, ist noch erbärmlicher!« Einige senkten die Blicke. Es waren wenige. Lilith wäre nicht verwundert gewesen, wenn sie sich gebückt hät ten, um Steine aufzuheben und gegen sie und den Jungen zu schleu dern … In diesem Moment bahnte sich der Mann, den Lilith bei den aufge bahrten Toten getroffen hatte, den Weg durch den Ring. Bahadur. »Laßt sie in Ruhe!« fauchte er. »Ist nicht schon genug geschehen?« Lange Sekunden sah es nicht danach aus, als könnte ihm gelingen, was Lilith vergeblich versucht hatte. Doch dann kam Bewegung in die, die lieber ihre eigenen Hütten geschützt hatten, als sich zu be
mühen, die Familie des Jungen zu retten. Es war unglaublich. Keiner von ihnen sah aus wie ein Hasenfuß. Sie hätten für jeden anderen ihr Leben riskiert – nur nicht für Rani, er kannte Lilith fröstelnd. Langsam zerstreuten sie sich. »Kommt«, sagte Bahadur. Er schaute nur Lilith in die Augen, nicht Rani. Ehe Lilith gehorchte, sah sie sich nach der Mutter und den Ge schwistern des Jungen um. Sie waren nirgends zu entdecken. Lilith fror noch mehr, als sie begriff, daß Ranis eigene Familie ihn offenbar verstoßen hatte. Warum? Wer konnte so grausam gegen ein Kind sein …?
* Rani kauerte in einer Ecke des Raumes. Er hatte sich von Lilith ent fernt, als wollte er demonstrieren, daß er auch allein zurechtkam. Ganz allein. Bahadur legte einen Scheit Holz ins Feuer, um neuen Tee aufbrü hen zu können. »Bevor wir unterbrochen wurden«, sagte er, »wollte ich dir erzäh len, was ich über die Tempel über dem Dorf und die unmenschli chen Gesetze derer weiß, die dort oben, nah am Himmel, thronen.« Er schielte zu dem Jungen hinüber, der sein Gesicht zwischen ange zogenen Knien verborgen hatte. »Was ich darüber nicht weiß, kann vielleicht er beisteuern …«
Nachdem er abgewartet hatte, ob eine Reaktion erfolgte, fuhr er fort: »Es gibt sieben Dörfer am Fuß der Tempel, die uns seit vielen Generationen mit Terror und Angst regieren.« »Wer terrorisiert euch, und was geschieht dort oben?« »Wer sie sind, die ›über den Wolken wohnen‹, weiß ich nicht. Auch nicht, was dort oben geschieht. Niemand, der es zu erfahren versuchte, lebt noch. Ich weiß nur, was hier unten geschieht. Allmo natlich. Jahr um Jahr. Als ewiger Kreislauf!« Lilith nickte ihm zu. »Rede!« Rani hob in der Ecke langsam den Kopf. Schatten tanzten über sein Gesicht, das plötzlich uralt aussah. »Man zwingt uns zum Scherbengericht«, sagte Bahadur düster. »Man zwingt uns, jeden Monat einen Nachbarn, Familienangehöri gen oder sonst jemanden zu denunzieren!« Im Gegensatz zu Lilith schien Rani ganz genau zu wissen, wovon Bahadur sprach. Er krümmte sich. »Was ist das ›Scherbengericht‹?« Bahadur schloß kurz die Augen. »In der Mitte des Dorfes gibt es einen Platz mit einem Obelisken.« »Dieses … Ding wurde von ihnen aufgestellt.« Er nickte zur Decke, und Lilith begriff, daß er die Bewohner der Tempel meinte. »An ei nem bestimmten Tag im Monat muß jeder Bewohner der sieben Dörfer eine Tonscherbe mit dem Namen einer ihm –«, er stockte kurz, als müßte er sich überwinden, das Wort auszusprechen, »– mißliebigen Person in die Öffnung des Obelisken werfen. Die am häufigsten genannte Person wird damit einem Schicksal ausgelie fert, von dem niemand – bestimmt auch er nicht –« wieder blickte er zu Rani, »– weiß, wie es aussieht. Aber wir alle ahnen, daß die auser korene Person Schreckliches erwartet. Warum sonst sollten die Templer uns mit Gewalt dazu zwingen, die Wahl Monat für Monat
neu durchzuführen? Niemand kann sich ihr entziehen. Jedes Kind erhält nach seiner Geburt eine Scherbe, und bis zu seinem fünften Lebensjahr schreiben seine Eltern einen Namen für es auf!« Lilith hatte ihm immer ungläubiger zugehört. Es schien ihr unbegreiflich, daß ein System, wie er es gerade ent warf, seit so langer Zeit funktionieren sollte, ohne daß sich die Men schen, die darunter litten, dagegen auflehnten. »Wie erfahren die ›Ausgewählten‹, daß es sie getroffen hat? Und wie gelangen die Scherben in die Tempel?« »Wen es getroffen hat«, sagte Bahadur rauh, »der verschwindet über Nacht. Nie hat jemand gesehen, wie es geschah, daß er ›ging‹. Am Tag nach der Abgabe der Scherben fehlt jemand aus unserer Mitte – so war es immer.« Er starrte sekundenlang ins Leere. »Jedes Dorf hat jemanden, der die Scherben einsammelt und hinauf ins Ge birge zu einer Stelle trägt, die nur er kennt. Man nennt diese Über bringer der Scherben Boten oder, noch treffender, Todesboten!« In Liliths Brust staute sich ein brennendes Gefühl. Ihr Blick schweifte zu Rani – dann kehrte er zu Bahadur zurück. Kopfschüt telnd sagte sie: »Er ist ein Kind!« Ebenso brüsk antwortete Bahadur: »Danach wird nicht gefragt! Vor ihm tat sein Vater dasselbe. Er starb vor Wochen plötzlich.« Sei ne Zähne knirschten. »Ein Unfall … Danach mußte der Erstgeborene die Aufgabe übernehmen!« Lilith schauderte unter dem jähen Ausbruch von Haß. »Der Junge hatte, wenn ich es recht verstehe, keine Chance, sich gegen sein ›Amt‹ zu wehren. Er tut auch nichts anderes, als das Urteil weiterzu befördern, das die Mehrheit des Ortes fällte … Es ist absurd, ihm dann eine Schuld anlasten zu wollen …!« Bahadur lachte heiser. Sein Arm machte eine ruckartige, ausholen de Geste, als wollte er das ganze Dorf einschließen. »Viele hier den
ken anders darüber. Ein Bote ist immun. Er selbst kann nicht ge wählt werden – er steht außerhalb derer, die sich Monat für Monat neu fürchten und sich nach jeder Wahl irgendwo verkriechen, weil sie nicht gefunden werden wollen! Genützt hat es noch niemandem …« Lilith schüttelte abermals den Kopf. »Warum bleibt ihr hier? Warum verlaßt ihr diese Stätten des Terrors nicht?« Bahadur steigerte sich noch mehr in ein Lachen, das an Bitterkeit alles übertraf, was Lilith bis dahin vernommen hatte. »Oh, das ver suchten manche! Man fand ihre Gebeine tags darauf auf dem Dorf platz! Über die Jahrhunderte geschah es immer wieder … So etwas gräbt sich ein. Tief, tief ein!« Beim Versuch, sich das Ausmaß des Regimes, unter dem die Men schen hier lebten, vorzustellen, streikte Liliths Vorstellungsvermö gen. Rani hatte leise zu wimmern begonnen. »Du erwähntest deine Tochter Satya … Wo ist sie?« Lilith ahnte die Antwort. Dennoch wollte sie aus Bahadurs Mund die Bestäti gung. »Sie verschwand vor einem Jahr!« Das war es. Das war der Grund für den unversöhnlichen Haß, mit dem er Rani begegnete. Und offenbar dachten viele im Ort ähnlich verquer. »Sie sah dieser Bimal ähnlich, sagtest du …« »Sie war noch hübscher. Es war die Schönheit der Unschuld! Sie hatte keine Feinde, und doch …« Lilith hatte plötzlich einen schlimmen Verdacht, den sie jedoch vor dem Jungen nicht aussprechen wollte. _ »Welches Ereignis hat das Faß zum Überlaufen gebracht?« fragte sie nur. »Warum vergreift ihr
euch an einem kleinen Jungen, anstatt vereint gegen die zu rebellie ren, die euch wirklich terrorisieren?« »Du verstehst nicht«, jammerte Bahadur. »Vielleicht besser, als du denkst«, entgegnete sie. Er knetete seine Hände. »Nie war die Furcht größer als in diesen Tagen«, sagte er gepreßt. »Niemand versteht, was geschehen ist und warum SIE es zuließen. Daß sie es taten, weckte in einigen von uns Zweifel an ihrer Allmacht – und zugleich die Hoffnung, die Zeit könnte reif sein für Veränderungen … Deshalb kamen einige wohl auf die Idee, sich den Jungen vorzuknöpfen …« Lilith akzeptierte den kläglichen Versuch einer Rechtfertigung nicht. »Hör auf, in Rätseln zu sprechen!« herrschte sie ihn an und setzte unbemerkt ihre hypnotischen Kräfte ein. »Sag mir ohne Ausflüchte, was passiert ist!« »Ein Wahnsinniger haust in den Dörfern :.. mordet wahllos! So dachten wir zunächst. Inzwischen sind Zweifel gestattet, denn eines seiner Opfer war Bimal – und Bimal, das hat Rani uns als IHR Sprachrohr wissen lassen, stand zuletzt auf den meisten der abgege benen Scherben!« Bahadur hatte das Interesse an seinen Händen verloren. Er stand wie erstarrt im Raum. Nur seine Lippen bewegten sich weiter. »Die Bestie, die seit Tagen mordet, hat gewollt oder un gewollt eine Erwählte getötet, und die Templer akzeptieren keine Toten. Sie brachten Bimals Leiche zu uns zurück – und verkündeten über Rani, daß noch vor dem nächsten Gerichtstag ein Ersatz für Bi mal gewählt werden müsse!« »Seid ihr dem gefolgt?« »Die Wahl wurde für morgen festgesetzt«, sagte Bahadur. »Nach der Verbrennungszeremonie.« Lilith lockerte ein wenig die Zügel. Sie stand auf und ging zu dem
Jungen, der ihr ängstlich entgegensah. Sie beschwichtigte mit Gesten und Worten, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Als sie neben Rani in die Hocke ging, fiel er ihr schluchzend in die Arme. Lilith ließ ihn sich ausweinen. Sie selbst hatte ihm die Scheu ge nommen. Er hatte ausgesehen, als würde er sonst an dem Druck, der von allen Seiten auf ihn ausgeübt wurde, ersticken. Sie versuchte weiter, hypnotisch auf ihn einzuwirken und sein Selbstbewußtsein zu festigen. In diesem Moment stieß sie auf eine Barriere. Eine unsichtbare Schranke, die Teile von Ranis Geist abschirmte …! Lilith wußte längst nicht genau, wie ihre Gabe, Menschen zu beein flussen, funktionierte. Doch sie erkannte die »Arbeit« eines anderen, wenn sie darauf stieß. Ihr Herz schlug höher, als sie begriff, daß Rani vor ihr schon einem anderen begegnet war, der diese Art der Hypnose beherrschte. Also doch! Landru …!? Sie versuchte, die Barriere behutsam zu entfernen. Doch dann durchschaute sie die Tücke des Vampirs. Hinter der Schranke, die er erschaffen hatte, lauerte nicht nur Wissen, das er damit unterdrück te, sondern auch eine Flut von Wahnsinn, die nur darauf wartete, mit Beseitigung der Sperre über Rani hereinzubrechen! Welch perfider Trick! Unter diesen Umständen verzichtete Lilith darauf, ihren Wissens durst zu stillen. Sie glaubte jetzt zu wissen, daß sie sich am richtigen Ort befand. Auch Landru war hier – oder hier gewesen. Offenbar galt sein In teresse den Tempeln, die Bahadur erwähnt hatte …
Sie verordnete Rani einen erholsamen Schlaf. Der Junge kippte seitlich weg. Als sie sicher sein konnte, daß er nichts mehr sah oder hörte, wandte sie sich dem Mann zu, der seine Tochter an das Femegericht der Scherben verloren hatte. »Verrate mir zwei Dinge«, erzwang sie mit glühendem Blick be dingungslose Offenheit. »Aus welchem Grund hast du mich zu dir geholt?« »Dein Verhalten gab mir Hoffnung, daß du auch an Antworten in teressiert bist. Du wirktest auf mich gleich wie jemand, der stur sein Ziel verfolgt …« Lilith nahm es als Kompliment. Wichtiger war ihr jedoch seine Antwort auf ihre nächste Frage: »Könnte es sein«, flüsterte sie, »daß Ranis Vater, der die Scherben mit Satyas Namen den Berg hinauf trug, nicht einfach einen Unfall hatte, sondern daß jemand nachge holfen hat?« Bahadur nickte. »Jemand, den du sehr gut kennst?« Auch das bejahte er.
* Sydney Macbeth nahm einen Umweg in Kauf, um zu ihrer Verabredung zu gelangen. Obwohl es sie eine gute halbe Stunde kostete, streifte sie das Gebiet um die Paddington Street. Sie wollte erkunden, was von Moskowitz’ Bemerkung zu halten war.
Die Absperrung knapp hinter der Hausnummer 329 bestand noch immer. Der einzig erkennbare Unterschied zu sonst war, daß hinter der streng bewachten Blockade eine Menge geparkter Militär-Trucks mit geschlossenen Container-Aufliegern parkten. Es war offensichtlich, daß weit hinten – dort, wohin keine direkte Sicht bestand – etwas verladen wurde. Beth fühlte sich hin und her gerissen zwischen zwei Ereignissen, die beide das Zeug zu einer Sensation hatten. Die eine aber noch eine Idee mehr … Warner hatte sich gemeldet! Police-Detective Jeff Warner, der Mann, der hinter der anonym an sie verschickten »Totenliste« steckte! Seit ihren Gesprächen mit Lilith wußte Beth, daß es sich um eine Auflistung von Vampiropfern im Großraum Sydney über einen Er fassungszeitraum von rund hundert Jahren handelte. Alle Personen daten, die ein Polizeicomputer ausgespuckt hatte, gehörten zu Op fern, die nach derselben Methode umgebracht worden waren: durch Genickbruch. Zudem wiesen sie grausame Verstümmelungen auf, die nur einem einzigen Zweck dienten: den Vampirbiß unkenntlich zu machen! Die Nachricht von Duncans Tod war Beth so sehr auf den Magen geschlagen, daß sie vor Verlassen ihrer Wohnung zwei Beruhi gungspillen geschluckt hatte, um der Begegnung mit Jeff Warner ge wachsen zu sein. Irgend etwas stimmte mit dem Polizisten nicht, der vor etlichen Tagen spurlos von der Bildfläche verschwunden war. Fast mysteriöser als sein Verschwinden war sein Wiederauftau chen. Von Phil Asgard, einem ihrer Informanten im Herzen der Polizei behörde, hatte Beth erfahren, daß Warner auf persönliche Anwei
sung von Virgil Codd eines Nachts zum Grundstück 333, Padding ton Street aufgebrochen war. Der Chief und er sollten zuvor einen Disput wegen der »Totenliste« ausgefochten haben. Seit jener Nacht wurde Warner vermißt. Das war zwar nur eines von vielen Rätseln in Zusammenhang mit der Sperrzone. Aber Beth hatte seit dem ersten Anruf Warners nicht mehr richtig schlafen können. Er war auf dem Grundstück von Liliths Geburtshaus verschwun den. Dort, wo – laut der Halbvampirin – etwas so Ungeheuerliches in Gang gesetzt worden war, daß nicht einmal sie selbst sich der Be drohung gewachsen fühlte … Jetzt war der, der sich länger als jeder andere dort aufgehalten hat te, zurückgekehrt! Und hatte gedrängt, Beth zu treffen! Ich muß von allen guten Geistern verlassen sein, dachte sie. Die Gefahr, in die sie sich freiwillig begab, ließ sich nicht annä hernd abschätzen! Aber sie war keine Reporterin geworden, weil sie Risiken scheute. Im Gegenteil. Mir wird es nicht wie Duncan ergehen! schwor sie sich. Er war vor Jahren ihr bester Freund gewesen. Einer, der sich damit arrangiert hatte, daß zwischen ihnen nichts laufen würde. Beth hatte sich schon damals sexuell ausschließlich zum eigenen Geschlecht hingezogen gefühlt. Aber die Pause, während der sie sich aus den Augen verloren hat ten, hatte ihre Beziehung verändert. Beth hatte eine Weile gebraucht, es sich einzugestehen. Und jetzt war sie fast dankbar dafür. Wenn es noch wie früher gewesen wäre, hätte sie die Todesnach
richt in ein tiefes Loch gestürzt! Es war auch so noch schlimm genug … Sie lenkte den Wagen zum Hafen. Es war früher Morgen. Fischkutter kehrten vom nächtlichen Fang zurück. Ein paar touris tische Frühaufsteher schlenderten die Kaimauern entlang. Jachten dümpelten. Möwen kreischten. Beth stellte den Wagen in der Nähe der Docks ab. Es war ein etwas merkwürdiger Ort für ein Treffen, aber auch ir gendwie passend. Beth stieg aus und quittierte die Zurufe einiger Hafenarbeiter, die sie gesichtet hatten, mit saftigen Gegenkommentaren. Danach herrschte Ruhe. Auf den Mund gefallen war sie nicht. Und daß ein Frauenrock an diesem Ort, gleich zu welcher Tageszeit, beim malo chenden Volk für Fluchtgedanken aus dem Alltäglichen sorgte, war ihr klar. Sie beeilte sich, zu dem Schuppen zu gelangen, dessen Nummer Warner ihr genannt hatte. In ihrer Jackentasche befand sich neben dem obligatorischen Dik tiergerät auch eine Pistole. Keine für alle Fälle, wie sie fürchtete. Die Tür der Holzbarracke, die sie wenig später erreichte, war ver schlossen. Auf ihr Klopfen hörte sie jedoch Schritte, die sich drinnen näherten. Ein Schloß schnappte zurück. Beth zögerte ein paar Sekunden, dann drückte sie die knarrende Tür auf. Dahinter herrschten Zwielicht und der Geruch von fauli gem Fisch. »Warner?« rief Beth. Eine Gestalt tauchte hinter dem Türblatt auf.
Beth fuhr zusammen. Mit dem Warner, den sie flüchtig und von Berufs wegen kannte, hatte diese Geisterbahn-Figur nur noch wenig gemein! Aber er war es. Zweifellos. Trotzdem sein Gesicht »schief« hing und seine Augen den Glanz besserer Tage missen ließen! »Großer Gott, was ist mit Ihnen passiert?« Das Mitleid obsiegte. Sie trat auf ihn zu. Er wich zurück. Tiefer ins Zwielicht. »Nischt. Kommen Schie mir nischt tschu nahe!« Sein Mund bewegte sich wie bei einer ausgehängten Puppe. Beth kam nicht mehr aus ihrer Gänsehaut heraus. Warner flehte gepreßt: »Helfen Schie mir!« »Wie?« Die Antwort brachte sie vollends aus der Fassung.
* Nepal Der Tag begann mit einer beklemmenden Prozession. Die Dorfbe völkerung zog zu den aufgebahrten Toten. Lilith stand hinter einem der Fenster von Bahadurs Haus. Sie hatte nicht versucht, sich in eine Fledermaus zurückzuverwan deln und auf diesem Weg vielleicht zu Himachal Pradesh zurückzu kehren. Was der Inder tun würde, wenn er ihr Verschwinden ent deckte, wußte sie nicht. Die Prioritäten hatten sich in einer einzigen Nacht verschoben.
Lilith fühlte mit jeder Faser, daß sie Landrus ursprünglichen Vor sprung beinahe wettgemacht hatte. Der älteste aller ihr bekannten Vampire trieb sein Unwesen in den Dörfern nahe der sagenhaften Tempel. Obwohl die Toten, die heute verbrannt werden sollten, kei ne typischen Vampirmale aufwiesen, schrieb Lilith sie Landrus Kon to »gut«. Der Beginn der Mordserie ließ sich problemlos auf den Tag zu rückdatieren, da Landru dank seiner überragenden Fähigkeiten hier eingetroffen sein mußte. Ein Mensch hätte eine wesentlich längere Anreise in Kauf nehmen müssen. Aber spätestens seit ihrem Fleder maus-Flug wußte Lilith, was einem Vampir möglich war. Der hypnotische Block in Ranis Bewußtsein bewies außerdem, daß Landru Erkundigungen über den hier herrschenden Kult eingezo gen hatte. Und dieser Kult stand in enger Verbindung zu den omi nösen Tempelanlagen, von denen Bahadur gesprochen hatte, ohne konkret werden zu können. Bahadur, der Mörder. Er hatte den Tod seiner Tochter am schwächsten Glied in der Kette gerächt: an Ranis Vater. An die ominösen Templer hafte er sich nicht herangewagt. Lilith ahnte, daß er auch in ihr nur ein mögliches Mittel sah, es »je nen dort oben« heimzuzahlen. Sie lächelte bitter, als sie daran dach te, daß Bahadurs Rechnung hoffentlich aufgehen würde. Nicht we gen dem Nepali, sondern wegen ihr. Sie wußte, daß sie den Berg hinaufsteigen würde. Landru war ihr in dieser Hinsicht vermutlich immer noch einen Schritt voraus. Er war hinter dem Lilienkelch her wie der Teufel hinter der armen Seele. Und er schien sicher, das ge stohlene Unheiligtum an dem auf der Karte vermerkten Ort zu fin den. Solange nichts Gegenteiliges bewiesen war, teilte Lilith diese Zu
versicht. Nach allem, was sie nun aus Bahadurs Mund erfahren hatte, war ein Plan in ihr gereift, der eng mit der für heute angesetzten Wahl des »Ersatzopfers« zusammenhing. Deshalb hoffte sie, die Feuerbestattung möge schnell vorüberge hen. Als sie hinter sich Geräusche hörte, sah sie Rani, der sich reckte und streckte, um die Steifheit aus den Gliedern zu vertreiben. An schließend beäugte er mißtrauisch Bahadur, der neben dem heiligen Küchenfeuer hockte und zu meditieren schien. Lilith wußte es besser. Sie hatte ihre Ruhe haben wollen und den Mörder von Ranis Vater deshalb ruhiggestellt, bis sie weitere Informationen von ihm benö tigte. Sie war wütend auf ihn. Der Schmerz über den erlittenen Ver lust seiner Tochter gab ihm nicht das Recht, anderen den Vater und Ehemann zu nehmen! Was aus Bahadurs Frau geworden war, wollte sie nicht wissen. Er lebte ganz offensichtlich allein. Rani kam zu ihr. Er musterte sie eine Weile und quetschte dann ein leises »Danke!« heraus. Lilith winkte ab. »Geht es dir wieder besser?« fragte sie. Er nickte, aber der Ausdruck seiner Augen verriet etwas anderes. Er mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um zum Fenster hin auszuschauen. Als er sah, daß der Scheiterhaufen bereits in Brand gesetzt worden war und die Flammen hungrig nach den Toten zu lecken begannen, zitterte er leicht. Lilith verriet ihm nicht, was sie vorhatte. Aber sie fragte sich, was aus ihm werden sollte, wenn sie fortging. In diesem Moment schien der Scheiterhaufen zu explodieren.
Die Flammen hatten gerade eine der in Tücher gehüllten Leichen erreicht und sorgten für allgemeinen Schrecken. Es war keine Explosion, die alles durcheinanderwirbelte. Etwas verpuffte einfach – und danach fehlte ein Leichnam auf dem Haufen! Lilith nahm an, daß es sich um Bimals sterbliche Reste handelte. Sie hatte den Körper des Mädchens inspiziert und die unerklärliche Verwandlung erkannt. Das Mädchen hatte nicht mehr aus Fleisch und Blut bestanden. Etwas Unheimliches war mit ihr geschehen. Offenbar war Bimal nur in ihr Dorf zurückgebracht worden, um die Lebenden noch mehr einzuschüchtern. Das spektakuläre Verschwinden ihrer Leiche vom Scheiterhaufen jedenfalls erfüllte seinen Zweck. Die Bewohner von Yakshamalla flohen zunächst von Grausen erfüllt in ihre Hütten. Später am Tag schlich dann jeder mit einer Scherbe zum Obelisken. Lilith ließ auch Bahadur wählen. An ihm sollte das Vorhaben nicht scheitern.
* Rani näherte sich dem Obelisken im Schutz der Dunkelheit. »Ich kann es dir nicht ersparen«, hatte die Frau gesagt. »Es tut mir leid. Ich habe es versucht, aber es gelingt mir nicht, Zugang zu erhalten.« Natürlich nicht, dachte Rani. Sie ist kein Bote. Nur Boten haben Zugriff auf die Scherben des Femegerichts. Er war Bote. Aber er war täglich weniger stolz darauf. Er hatte Angst. Angst, endgültig den Fluch auf sich, seine Angehö rigen und alle zu laden, die mit ihm in der Gemeinschaft lebten. Was die Gemeinschaft ihm angetan hatte, verdrängte er.
Er schob seine Hand in den Stein, und es war, als tauchte er in eine enge, feuchte, aus frühesten Kindheitstagen vertraute Höhle. Der Dorn tat weh. Zum dritten Mal, seit Rani die Aufgabe übernommen hatte, stieß die unsichtbare Spitze scharf in die Kuppe seines Mittelfingers. Der Schmerz verging, aber dafür setzte etwas anderes ein. Beim erstenmal hatte Rani noch geglaubt, sich zu täuschen. Nun, bei der dritten Wiederholung, ließ es sich kaum noch leugnen oder abtun. Ihm war, als lecke eine rauhe Zunge und als sauge zugleich ein zärtlicher Mund an seinem blutigen Finger. Dann ging alles sehr schnell. Der Obelisk teilte sich, ohne daß er dabei sein eigentliches Ge heimnis preisgab. Rani sah lediglich den Auffangbehälter für die Tonscherben. Aber er sah nichts, was für die zwiespältigen Wahr nehmungen Sekunden vorher verantwortlich hätte gemacht werden können. Nicht einmal jenen Dorn. Der Junge fühlte sich nur – wie auch die vorangegangenen Male – vorübergehend etwas ge schwächt. Als er direkt hinter sich ein Geräusch hörte, wußte er, wer es war. »Danke«, sagte die Frau. »Trete zur Seite. Ich werde versuchen, mich zu beeilen.« Er gehorchte nicht nur, sondern drehte ihr sogar den Rücken zu. Er wollte nicht hinsehen. Niemand anderem hätte er erlaubt, was sie zu tun im Begriff stand. Er war in ihrer Schuld. Und, redete er sich ein, sie wollte nichts Böses … Wollte sie das wirklich nicht? Er hörte, wie die Scherben aneinanderrieben. Minuten später kehr te die Stille zurück. Als er sich umwandte, war die Frau verschwunden.
Der Junge spürte keine Erleichterung. Die Angst, SIE könnten an irgendeinem Indiz erkennen, daß jemand vor IHNEN die Scherben gelesen hatte, schwoll zu einem steten, bedrohlichen Rumoren in Ranis Unterbewußtsein an. Wie in Trance begann er, die Scherben in seinen Tragesack umzu schichten. Er verließ den Dorfplatz mit dem Obelisken und tat, was er tun mußte.
* Lilith war Rani noch eine Weile mit Blicken gefolgt. Jetzt konnte sie sich nicht länger bezähmen. Sie kehrte in Bahadurs Haus zurück. »Wer ist Usha?« fragte sie. »Die Frau Pramods«, antwortete Balladur. »Sie lebt am Nordrand des Dorfes.« Er gab ihr die verlangte, genaue Wegbeschreibung. Danach zwang sie ihn, ihr zu helfen, ihre Haartracht den örtlichen Gegebenheiten anzupassen. Er stellte sich nicht sehr geschickt an, aber für kurze Zeit mochte es reichen. Ehe sie aufbrach, beschäftigte sie sich eine volle Stunde mit Baha dur – länger, als sie je hypnotisch auf einen Menschen eingewirkt hatte. Es kostete sie sehr viel Kraft. Dennoch verzichtete sie darauf, die verschwendete Energie von ihm zurückzufordern. Er gefiel ihr weder als Mensch noch als Mann, nicht einmal als »Blutspender«! Als sie die Hütte verließ, hoffte sie, daß die Befehle, die sie Baha dur hinterlassen hatte, ein Leben lang anhielten. Nach Ranis Rück kehr ins Dorf würde er den Jungen an Sohnes Statt aufnehmen und all das wieder gutmachen müssen, was er ihm angetan hatte. Er
würde auch Ranis Mutter, der er den Mann genommen hatte, fra gen, ob sie ihn als neues Familienoberhaupt akzeptierte. Es sollte ihre freie Entscheidung sein. Die Heimtücke, die Lilith sich nicht hatte verkneifen können, be stand darin, daß sie Bahadur für den Fall, daß weder Rani noch der Rest der Familie ihn annehmen würde, befohlen hatte, Hand an sich selbst zu legen … Binnen Minuten erreichte sie das Haus, in dem die Frau lebte, de ren Namen Lilith auf der überwiegenden Zahl der Tonscherben ge funden hatte. Usha. Sie und ihr Mann waren noch wach, als Lilith in ihr Haus ein brach. Die Nervosität ließ viele in der Nacht nach dem »Gerichtstag« nicht schlafen. Es konnte jeden treffen. Und die meisten fürchteten sich davor. Als Lilith schattenhaft am Schlaflager des kinderlosen Paares auf tauchte, mochten die beiden glauben, SIE seien gekommen. Usha schrie erstickt. Ihr Mann sprang auf und nahm die Pose eines furchtlosen Kämp fers ein, der sich nicht passiv in den eigenen oder den Untergang seiner Ehefrau fügen wollte. Was Lilith sah, gefiel ihr. Nicht nur charakterlich. Pramod hatte ein viel attraktiveres Äußeres als Bahadur. Auch Usha war hübsch. Lilith verlor keine Zeit mehr. Sie konnte nur Vermutungen anstel len, wie es ablaufen würde, wenn Usha geholt werden sollte. Nie mand, auch Bahadur nicht, hatte ihr sagen können, woran sich die Templer orientierten, um zu ihrem Opfer zu finden. Hatten sie alle
Namen der Dorfbewohner im Kopf? Lasen sie deren Gedanken? Es gab keine Gewähr dafür, daß Liliths Plan funktionierte. Sie hat te keinerlei Ähnlichkeit mit einer Nepali. Aber vielleicht half die Nacht bei der Täuschung. Es war ein Versuch, den Verantwortlichen dieses grausamen Kults, dessen Sinn und Zweck immer noch im dunkeln lag, ein Bein zu stellen! Mit ihrer verbliebenen Kraft suggerierte sie Usha, sich in einem Schrank zu verstecken und noch vor Morgengrauen mit ihrem Mann aus dem Dorf hinunter in die Ebene zu fliehen. Bis er sie aus dem Schrank befreite, sollte sie jeden Gedanken an ihre Identität un terdrücken. Ob das half, würde sich zeigen müssen. Nachdem Usha eingeschlossen war, wandte sich Lilith Pramod zu. Ihn beeinflußte sie ähnlich wie Usha. Mit einem Unterschied: Für die Dauer, die Lilith sich zu ihm legte und die Stelle seiner Frau ein nahm, sollte er vollkommen überzeugt sein, daß sie Usha war! Als Gegenleistung dafür, daß Lilith das Leben der Frau und das Glück des Paares zu retten versuchte, sah sie sich berechtigt, auch ihrerseits etwas zu fordern. Da jeden Moment mit dem Erscheinen eines Templers gerechnet werden mußte, bediente sie sich zunächst von Pramods Blut. Er ließ es wehrlos geschehen, daß sie ihre Zähne in seinen Hals senkte. Hin und wieder ein Stöhnen aus seinem Mund ließ erkennen, daß er so gar morbiden Gefallen an ihrem Tun fand. Auch Lilith fühlte sich davon aufs äußerste angeregt. Sie mußte an sich halten, um nicht mehr als nötig von seiner Lebenskraft zu for dern. Als ihre Kleidung sich dem anpaßte, was Usha am Leib trug, wuß te sie, daß der Symbiont damit auch ihrem geheimen Wunsch ent sprach, nach der »Pflicht« nun zur »Kür« überzugehen.
Lüstern versiegelte sie die Male an Pramods Hals mit einem letz ten Kuß. Danach legte sie sich in seinen Arm und gab ihm Zeit, das in ihr zu sehen, was sie wollte. Als seine Hand ihren Busen durch den »Stoff« ihres Gewandes hindurch zu kneten begann, verhärteten sich die Knospen ihrer Brüste sofort. Ein wohliger Seufzer aus ihrem Mund leitete zum an genehmen Teil über. Lilith verbannte den Tod, der ihr seit ihrer Ankunft in Indien auf mannigfache Weise begegnet war, aus ihrem Denken. Ich bin Usha! suggerierte sie sich. Für einen verlorenen Freund wie Duncan war hier und jetzt kein Platz mehr. Ebensowenig für einen – möglicherweise – neuen Freund wie Himachal Pradesh. Ich bin Usha! »Liebe mich!« keuchte sie, als seine Hände immer verlangender wurden. Er zog sie über sich. Seine Finger waren überall. Seine Lippen küß ten ihren entblößten Busen. Ich bin Usha … Sie liebkoste sein Glied, das unter ihren Händen zu beachtlicher Größe anwuchs. Als er in sie eindrang, erschauerte sie. Er schenkte ihr soviel Zärtlichkeit, daß sie sich fast wieder schlecht zu fühlen be gann. Nur mit Mühe konnte sie den Betrug aufrechterhalten. Ich bin – ETWAS KAM. Etwas absolut Fremdartiges stürmte den Raum. Pramod erstarrte über Lilith. Es war, als würde die Zeit in und um die Halbvampirin einfrieren. (… Usha … ich bin Usha …!)
Selbst ihre Gedanken wurden von Rauhreif und Frost ummantelt. Wurden träge und zäh und – erloschen! Es war A U S …
* Ein vierbeiniger Jäger in silbergrauem Fell näherte sich den Türmen des Tempels, der absonderlicherweise von der Luft aus nicht zu er kennen war. Der Wolf hatte es herausgefunden, als er versuchte, in Gestalt einer Krähe zu kundschaften. Es war Landrus zweiter Versuch, hinter das Geheimnis dieses Or tes zu kommen. Vor Tagen war er gescheitert, weil er die Macht de rer, die sich hier verschanzt hatten, unterschätzte. Durch sofortige Flucht hatte er seine Existenz wahren können. Die anschließenden Versuche, in den untenliegenden Dörfern mehr über die Templer herauszufinden, waren gescheitert. Aus nahmslos. Keiner von denen, die sich Boten nannten, hatte gewußt, wem er eigentlich diente. Um endlich weiterzukommen, mußte er erneut das höchste Risiko eingehen. Nur Landru wußte, warum er für das Unheiligtum der Vampire alles andere zurückstellte. Nur er wußte, welche Schuld er auf sich geladen hatte.
Der Tempel zog ihn magisch an …
* Wo bin ich? Sie hing in einem Gespinst gefangen, das sie von allen Seiten um schlang. Um sie herum war es strahlend hell. Das Licht fraß sich in die Poren ihres Körpers und von dort aus weiter bis in die kleinste Zellstruktur. Lilith begriff nicht, daß sie nackt war. Wirklich nackt. Wo war der Symbiont geblieben? Jemand hatte ihre Gedanken aus- und wieder angeknipst wie elek trischen Strom. WER? Während sie sich umsah, begriff sie, daß sie ihr vorrangiges Ziel offenbar erreicht hatte. Aber um welchen Preis? Sie schwebte unter einer Kuppe, die einen domartigen, großen Raum überwölbte. Die Decke schimmerte golden. Das Licht war … golden. Am Boden unter Lilith brannte geruchloses Räucherwerk ab. Far bige Wolken kräuselten empor und verschwanden irgendwo über Lilith spurlos. Auch der Rauch drang in jede Pore ein, machte die Haut weich und geschmeidig. Um Lilith herum herrschte Stille, bis eine Prozession – viel merk würdiger als jene, die Lilith in Yakshamalla, als man die Toten ver brannte, beobachtet hatte – den Tempel betrat. Gestalten in roten Kutten trugen eine geschlossene, kunstvoll ver zierte Sänfte herein und stellten sie vor dem Räuchergefäß ab.
Als die Tür der Sänfte aufschwang, geschah etwas, womit Lilith überhaupt nicht gerechnet hatte. Sie sah nicht mehr, wer ausstieg. Sie fühlte nur die rasende Veränderung, die damit einherging. Mauern aus Dunkelheit errichteten sich um sie herum. Das gerade noch unsichtbare Gespinst umschloß sie plötzlich von allen Seiten wie ein unentrinnbares Gefängnis. Dann stachen Bilder wie glühen de Lanzen aus der Dunkelheit heraus in ihren Geist. Mit den Bildern kam die Erkenntnis: Ich habe mich geirrt. Vielleicht auch Landru? Oder wußte er, daß der Kelch selbst nicht hier ist? Vor ihr materialisierte ein aufgeschlagenes, monströses Buch. Die Seiten bestanden aus Menschenhaut und waren mit Menschenblut beschrieben. Lilith erkannte Piktogramme, die nirgends mehr auf der Welt Ver wendung fanden – außer hier. Und das Irrwitzige war: Sie vermochte diese Zeichen zu lesen! Das Buch hatte einen Anfang, aber kein Ende. Es wurde ständig fortgeschrieben. Auch jetzt! Woher die Erkenntnis sie überkam, wußte Lilith nicht. Aber sie be griff schaudernd, daß sie die nächste Seite dieses Buches werden sollte. Und eine Stimme sagte: »HÄUTET SIE JETZT!« ENDE
Die Blutbibel von Adrian Doyle Eigentlich sollte die Karte aus Menschenhaut direkt zum Lilienkelch führen. Doch als Landru sein Ziel erreicht, muß er erkennen, daß das Unheiligtum der Vampire nicht hier ist – hier in diesem Tempel auf dem Dach der Welt, wo nicht einmal mehr die Naturgesetze Be stand zu haben scheinen. Statt des Kelches wird ein Buch in den Tempelmauern aufbewahrt. Landrus Enttäuschung verfliegt, als er die Bedeutung des Buches er fährt. Es ist die Blutbibel, die EWIGE CHRONIK. Eine Schrift, die dem, der sie zu lesen versteht, unendliche Macht verleiht. Doch Landru ist nicht der einzige, der bis hierher vorgedrungen ist. Lilith weilt bereits mitten unter den Herren des Tempels. Ihr Todesurteil ist gerade verkündet worden …