Der Drakhon-Zyklus! Das Undenkbare ist geschehen: Die Galaxis Drakhon dringt in die Milchstraße ein. Sonnensysteme koll...
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Der Drakhon-Zyklus! Das Undenkbare ist geschehen: Die Galaxis Drakhon dringt in die Milchstraße ein. Sonnensysteme kollidieren, und in der atomaren Glut dieser kosmischen Katastrophe muß sich Der letzte seines Volkes seinem Schicksal stellen. Ren Dhark aber macht sich auf den Weg nach Drakhon. Denn nur dort glaubt er Rettung für die bedrohte Erde finden zu können... Diese Buchausgabe präsentiert die endgültige Fortschreibung des Klassikers nach Motiven von Kurt Brand. Es gibt noch viel zu entdecken im Dschungel der Sterne – steigen Sie ein und fliegen Sie mit!
Ren Dhark Der Drakhon-Zyklus Band 3
Der letzte seines Volkes
HJB
1. Auflage HJB Verlag & Shop e.K. Postfach 22 01 22 56544 Neuwied Bestellungen und Abonnements: 0 26 31-35 48 32 0 26 31-35 61 00 Fax: 0 26 31-35 61 02 www.ren-dhark.de © REN DHARK: Brand Erben Herausgeber: Hajo F. Breuer Titelbild und Illustrationen: Swen Papenbrock Druck und Bindung: Westermann Druck Zwickau GmbH © 2000 HJB Verlag Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-930515-27-X
Vorwort Die Serie REN DHARK wächst und gedeiht. Das beweist nicht zuletzt die immer umfangreichere Palette an netten Kleinigkeiten rings um REN DHARK (neudeutsch sagt man wohl »Merchandising-Produkte«), die zur Verfügung stehen. Neu sind der »Original GSO-Ausweis« von Jos Aachten van Haag, den es auch in einer auf Sie personalisierten Form zu erwerben gibt. Ebenfalls zu haben ein hochwertiger, vergoldeter Schlüsselanhänger. Besonders gefreut hat mich eine Nachricht, die mich von Jörn-Ingo Weigert erreichte. Er beteiligt sich am SETI-Projekt der NASA. Bei diesem Projekt haben Besitzer ganz normaler Computer die Möglichkeit, sich Daten von Radioteleskopen herunterzuladen und auf außerirdische Signale zu untersuchen. Bei der Jagd nach den Mysterious können also auch Sie mitmachen. Nähere Informationen gibt es unter: http://setiathome.ssl.berkeley.edu – und dort arbeitet tatsächlich auch schon eine Gruppe unter dem Namen REN DHARK! Nicht vergessen werden sollen die Autoren, die den vorliegenden Band nach einem Exposé von Hajo F. Breuer schrieben: Werner K. Giesa, Uwe Helmut Grave, Conrad Shepherd und Manfred Weinland. Auf eine Besonderheit eines unserer Autoren werden Sie in diesem und den folgenden Büchern stoßen: Werner K. Giesa besteht darauf, daß in den von ihm verfaßten Kapiteln die Worte »Phantasie«, »phantastisch« und alle damit zusammenhängenden Ableitungen mit »f« geschrieben werden. Wenn Sie also auf das fantastische Wort Fantasie stoßen, hat nicht der Korrektor geschlafen oder gar böswillig die deformierte »neue Rechtschreibung« angewandt, sondern er
hat sich seufzend den Wünschen seines geschätzten Kollegen ergeben. Wer sich beschweren möchte, kann dies unter http://www.wk-giesa.de tun. Nicht verkneifen möchte ich mir natürlich noch einen Hinweis auf den gleichzeitig mit diesem Buch erschienenen REN DHARK-Sonderband von Manfred Weinland. Unter dem Titel Erron 2 – Welt im Nichts schildert er die spannenden und tragischen Erlebnisse des »Goldenen« Vonnock. Am Ende des vorigen Bandes tauchte er unvermittelt aus einem Transmitter in Alamo Gordo auf, und wie es mit ihm weitergeht, zeigen die folgenden Seiten. Aber wie er in den Transmitter kam und was sein wahres Geheimnis ist, das schildert der Sonderband. Mit Erron 2 – Welt im Nichts betreten wir eine neue Entwicklungsstufe in der Evolution von REN DHARK: Sie können sowohl den Sonderband als auch dieses Buch jeweils für sich allein lesen, aber wenn Sie sich beide Bände gemeinsam gönnen, haben Sie garantiert mehr als nur die Summe der beiden Bücher! Wenn ich Ihnen einen kleinen Tip geben darf: Lesen Sie den Sonderband zuerst... Wie schon einmal angekündigt, wollen wir in Zukunft die reguläre Reihe enger mit den Sonderbänden verzahnen. Mit Erron 2 – Welt im Nichts machen wir zum ersten Mal einen Schritt in diese Richtung. Genug der Worte! Lassen Sie sich gefangennehmen von den Abenteuern REN DHARKS auf der Erde und in den Tiefen des Alls – und machen Sie Bekanntschaft mit dem letzten seines Volkes... Giesenkirchen, im Juli 2000 Hajo F. Breuer
Prolog Am Ende des Jahres 2057 steht das Schicksal der Menschheit auf der Kippe. Strahlenstürme galaktischen Ausmaßes sind eine Bedrohung für alle Lebewesen. Noch ermöglicht der von den Nogk installierte planetenweite Schutzschirm, unbeeinträchtigt von den Strahlen auf der Erde zu leben. Doch die Schatten, unheimliche Wesen, die von einem Hyperraumfeld umgeben sind und im allgemeinen Sprachgebrauch nun als Grakos bekannt sind, blasen zum Großangriff auf die Menschheit. Ein erster Angriff auf das Sonnensystem konnte abgewehrt werden, aber da verfügte die Menschheit auch noch über mehrere tausend S-Kreuzer aus der Hinterlassenschaft der Mysterious. Doch dann kam es zur galaktischen Katastrophe: Ungeheure Energien brachen aus dem Hyperraum über die gesamte Milchstraße herein und legten jedes Leben für mehrere Stunden lahm. Es kam nicht nur zu Massenunfällen mit gravierenden Folgen bei allen Völkern der Galaxis – viel schwerer wiegt die Tatsache, daß ein großer Teil der Mysterious-Technik durch diesen Hyperraumblitz vernichtet wurde. Nur Schiffe oder Anlagen, die sich zum Zeitpunkt der Katastrophe im Schutz von Intervallfeldern befanden, blieben intakt. So kommt es, daß die Erde neben der POINT OF nur noch über 546 S-Kreuzer verfügt – zu wenig, um einen entschlossenen Großangriff der Grakos abzuwehren. Aber die scheinen im Gefolge der kosmischen Katastrophe mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen zu haben. Ren Dhark nutzt die Atempause, um eine Expedition in die überraschend entdeckte Galaxis Drakhon vorzubereiten. Diese Sterneninsel droht mit der Milchstraße zu kollidieren. Ihre Existenz
widerspricht sämtlichen Erkenntnissen der Wissenschaft. Ist es möglich, daß die Ursachen der kosmischen Strahlenstürme in Drakhon zu finden sind? Ren Dhark will diese Frage so bald wie möglich klären. Doch da kommt es in Alamo Gordo zu einem phantastischen Zwischenfall: Nach einer Transmitter-Fehlschaltung tritt ein goldener Riese aus dem Empfänger. Die athletische Gestalt ist rund vier Meter groß – und gesichtslos wie die gigantischen goldenen Statuen, die Ren Dhark auf einigen Welten der Mysterious entdeckte. Gehört dieser mächtige Goldene zu dem unbekannten Volk, dem die Geheimnisvollen so eindrucksvolle Denkmäler widmeten...?
1. In der Transmitterstation für planetaren Verkehr von Alamo Gordo, der neuen Welthauptstadt, spitzte sich eine Krise zu, deren ganzes Ausmaß sich noch nicht abschätzen ließ. Auch nicht von Ren Dhark, der bereits vor Ort eingetroffen war. Die Meldung eines außerirdischen Eindringlings hatte ihn angezogen wie ein Magnet. Und elektrisiert. Weil das Aussehen des Fremden dazu angetan war. Draußen vor der Halle, dort, wohin sich die in heller Panik geflüchtete Menge zurückgezogen hatte, parkte sein persönlicher Flash. Und drinnen... ... drinnen rauchten die Trümmer mehrerer terranischer Roboter neuester Bauart, während ihr Vernichter unversehrt dastand. Seine Arme schienen glatt in Waffen überzugehen. Als wären sie mit seinem Fleisch verschmolzen. Fleisch? Goldenes Fleisch! Und noch während Dhark sich vom Anblick des Fremden faszinieren, regelrecht bannen ließ, dröhnten dessen erste Worte durch die Abfertigungshalle. Seltsamerweise bediente sich der Koloß dabei des Kommunikationssystems der Halle. Oder doch nicht so seltsamerweise...? Immerhin besaß der Fremde keinen Mund. Und vor allem kein Gesicht... »Ich kam in Frieden!« vernahm Ren Dhark die Worte aus den nahen Wänden, gesprochen in einer Sprache, die ihm Gänsehaut bereitete. Erst recht nach dem, was aus den Saltern geworden war. Die Salter, die man anfänglich für die seit langem gesuchten Mysterious gehalten hatte.
Denn es war das unverwechselbare Idiom der Mysterious, dessen sich der Fremde bediente! »Ich kam in Frieden!« wiederholte er noch einmal. »Warum greift ihr mich an?!« Die Frage stand im Raum. So dominant, so nach Erklärung bettelnd, daß Ren Dhark sich nicht erinnern konnte, wann er sich zuletzt einer vergleichbaren Anklage ausgesetzt gesehen hatte. Er fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Goldene wie diesen hatte er schon anderswo gesehen. Als tote Mahnmale. Auf mehr als einem fernen Planeten. Bis vor kurzem hätte ich dich noch für einen leibhaftigen Grako gehalten, dachte Dhark. Der Fremde entsprach ganz und gar der Beschreibung Olans, der sie als Teufel in Engelsgestalt beschrieben hatte, goldfarben und wunderbar anzuschauen, und die doch diese Milchstraße vor knapp dreißigtausend Erdenjahren mit unbeschreiblichem Terror überzogen haben sollten. Inzwischen wußte man auf Terra, daß Olan auch in diesem Punkt die Unwahrheit gesagt hatte – ob wissentlich oder einfach aus Unkenntnis, was die tatsächliche Gestalt der Grakos anging, würde nicht mehr zu klären sein. Denn auch Olan war tot. Der goldene Fremde jedenfalls, der aus dem Transmitterring getreten war und Chaos angerichtet hatte, entsprach nicht dem letzten Wissensstand, den man bezüglich der Grakos besaß, seit ein terranischer Forschungsraumer, die FO-XXIX, auf einem abgeschiedenen Dschungelplaneten hatte notlanden müssen. Dort war man auf die Besatzung eines Schattenraumers gestoßen. Auf wahrhaftige, greifbare Grakos. Und erstmals war es der Crew des FO-Raumers gelungen, einen der Schattenkrieger lebendig in ihre Gewalt zu bekommen. Die sofort eingeleitete Untersuchung hatte ergeben, daß eine Art
Hyperraumfeld für sein schattenhaftes Erscheinungsbild verantwortlich war. Mit Hilfe eines Neutralisators hatte man es zum Erlöschen gebracht. Und was dann unter dem wabernden Dunkel zum Vorschein gekommen war, das hatte Olans Worte Lügen gestraft. Wunderbar anzuschauen war der Grako nicht gewesen, im Gegenteil. Sein Aussehen hatte Erinnerungen an einige der dunkelsten Stunden der Menschheitsgeschichte ins Gedächtnis zurückgerufen. Nicht den überlebensgroßen, golden schimmernden, gesichtslosen Statuen auf Bog, auf Babylon und Mirac hatte der Gefangene geähnelt, sondern einer ganz anderen, überwunden geglaubten Nemesis: den G'Loorn! Insektenwesen mit kalt abwägendem Intellekt, die an überlebensgroße Gottesanbeterinnen erinnerten! Aber auch zu den G'Loorn waren Unterschiede erkennbar gewesen. Der wichtigste: Es fehlte die pflanzliche Komponente in der Physis des gefangenen »Schattens«; auch war er deutlich kleiner als die im Schnitt zwei Meter fünfzig großen G'Loorn – nur knapp einsachtzig. Bedauerlicherweise war es nicht gelungen, ihn einem Verhör zu unterziehen. Ein zerstörerischer Prozeß hatte unmittelbar nach der Neutralisation seines Tarnfeldes eingesetzt. Es war zu einer bösartigen Zellwucherung am insektoiden Körper gekommen. Der Grako war gestorben, ohne noch einmal das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Einer jener, die es gewohnt waren, den Tod in mannigfacher Weise auszusäen, hatte sein Leben an Bord eines TerraSchiffes ausgehaucht, noch bevor er etwas über die im Dunkeln liegenden Motive der Schatten verraten konnte. Ren Dhark wäre ein lebender Feind wesentlich lieber gewesen. Aber es war nicht zu ändern. Würde sich der unverhofft aufgetauchte Goldene kooperativer verhalten?
Oder würde auch er den Freitod einer friedlichen Verständigung mit den Menschen vorziehen? Wir haben ihn angegriffen, rief sich Dhark in Erinnerung. Es war kein gegen irgend jemanden gerichteter Vorwurf. Wer in einer Weise im Herzen Terras auftauchte, wie es der Fremde getan hatte, mußte sich gefallen lassen, zunächst einmal als potentieller Feind eingestuft zu werden. Wenn er also kein Grako ist, nicht sein kann, dachte Dhark, wer ist er dann? War dies ein unerwarteter, historischer Moment? Der Erstkontakt mit einer Spezies, die den Mysterious als Vorbild für ihre Statuen auf Babylon und anderswo gedient hatte? Oder war... Dhark schluckte, als ihn der Gedanke mit Wucht überrollte. ... es am Ende gar einer der Mysterious selbst? Hatten die Geheimnisvollen die Denkmäler dereinst womöglich nach ihrem eigenen Vorbild geschaffen...? * Der zeitlose Moment, das Gefühl, von einem Vakuum umschlossen zu sein, herausgelöst aus dem normalen Ablauf der Geschehnisse, fiel genauso unvermittelt wieder von Dhark ab, wie es ihn übermannt hatte. Er hörte Vassago, den persönlichen Leibwächter von Terence Wallis, dem vermutlich reichsten Mann der Erde, rufen: »Treten Sie zurück – zurück, Sir! Er wird Sie töten!« Der Goldene bewegte sich nicht mehr. Erstmals kam Dhark der Verdacht, es gar nicht mit einem Wesen aus Fleisch und Blut zu tun zu haben, obwohl sich Muskelstränge, ja selbst Adern unter der goldgetönten Haut abzuzeichnen schienen. Hatte Vassago nicht recht? Mußte man in Anbetracht der entstandenen Verwüstungen nicht an der gerade geäußerten friedlichen Gesinnung des
Besuchers zweifeln? »Wer bist du?« formulierte Dhark ebenfalls in der Sprache der Mysterious. Vassago oder Wallis oder irgendeinem anderen in der Nähe schenkte er dabei keinerlei Beachtung. Vielleicht täuschte er sich, aber er hatte den Eindruck, als konzentriere sich der Fremde mittlerweile ebenfalls ausschließlich auf ihn. Wußte er, welch prominenter Terraner gekommen war, um mit ihm zu verhandeln? Und was, wenn Dharks Intuition trog und er es doch mit einem Aggressor zu tun hatte? Der goldene Koloß wies nicht nur Ähnlichkeit mit den Denkmälern der Mysterious auf, sondern auch mit olympischen Wettkämpfern der Antike... »Du mußt mittels Funk mit mir kommunizieren. Nach eurem Verständnis bin ich taub und stumm. Ich benötige externe Ohren und Münder zur Verständigung. Hebe den Arm, wenn du mich verstanden hast und bereit bist, dich auf meine Art der Kommunikation einzulassen. Und sag den anderen, sie sollen sich zurückziehen. Ich will nur mit dir sprechen. Sonst...« Der Satz blieb unvollendet. Die dahinterstehende Drohung jedoch schien unmißverständlich. Langsam hob Dhark seinen linken Arm, signalisierte seine Gesprächsbereitschaft, was Vassago und die anderen, die der Mysterious-Sprache nicht mächtig waren, noch eine Spur nervöser machte. »Alle raus!« befahl Dhark, ohne sich umzudrehen, in der Sprache, die sie verstanden. »Das ist ein Befehl!« Schritte entfernten sich. Dhark nahm es mit gelindem Erstaunen hin, daß sich niemand gegen die Anordnung aufgelehnt hatte. Zugleich war er erleichtert. Er winkelte den noch erhobenen Arm an und aktivierte das Armbandvipho. »Welche Frequenz?« fragte er.
»Gleichgültig«, drang die androgyne Stimme des Besuchers aus dem winzigen Lautsprecher des Viphos. »Ich vermag jede Frequenz zu bedienen.« Was er hiermit unter Beweis gestellt hatte. Die Bildfläche des Viphos blieb dunkel. Was hätte sie auch zeigen sollen? »Wunderbar. Dann können wir ja endlich reden.« »Wie lautet dein Name?« Er kennt mich nicht. »Dhark. Ren Dhark. – Und du, wie heißt du? Welchem Volk gehörst du an?« »Ich bin Vonnock«, gab der Goldene bereitwillig Auskunft. »Ein... Fanjuur.« »Wie und warum bist du hierher gekommen, Vonnock? Ich habe nie von den... Fanjuur gehört, wenngleich ich zugeben muß, daß mir dein Aussehen nicht ganz unvertraut ist.« Die Unwirklichkeit der Situation schien mit Aufnahme des Gesprächs sogar noch zuzunehmen. Draußen, davon ging Dhark aus, würden die in Stellung gegangenen Einheiten der planetaren Abwehr langsam nervös werden. Genauso die Agenten der GSO. Es war davon auszugehen, daß die Unterhaltung abgehört wurde. Das geringste Mißverständnis konnte zur Katastrophe führen. »Beherrschst du auch meine Sprache?« fragte Dhark auf Angloter. »Oder nur die eine, die... nun, die deine Muttersprache ist...?« Er hatte die Worte mit Bedacht gewählt, um herauszufinden, in welchem Verhältnis der Fremde zu den Mysterious stand, deren Idiom er von Anfang an benutzt hatte. »Rede verständlich mit mir!« wurde er zurechtgewiesen. »Ich kann deine Sprache lernen. Aber wozu dieser Umstand? Wir müssen sofort miteinander reden. Und uns einig werden.« »Einigen worauf?« »Daß ich meine unterbrochene Reise fortsetzen kann. Dies
ist nicht der Ort, an den ich wollte.« »Nimm es mir nicht übel, wenn ich sage, daß mich das beruhigt.« Längst war Dhark wieder in die Sprache der Mysterious verfallen, die er mittels Mentcap perfekt zu beherrschen gelernt hatte. »Woher kommst du, und wohin willst du?« »Über das eine will, über das andere kann ich nicht reden.« »Wenn du das unter ›Verständigung‹ und ›sich miteinander einigen‹ verstehst...« Dhark ließ seine Verärgerung offen durchklingen. »Es ist mir nicht gestattet, die Koordinaten preiszugeben, von denen ich gestartet bin. Es muß dir genügen, daß ich in Frieden kam – und verfolgt werde. Gejagt... deshalb ist es auch besser für euch, wenn ich sofort wieder verschwinde.« »Warum wirst du gejagt und von wem?« Dhark preßte die Lippen zusammen. Der Transmitterring, dessen Oberkante fast die Decke der Halle berührte, war sofort nach Eintreffen des ungebetenen Besuchers abgeschaltet worden. Aber die bloße Aussicht, daß aus ihm, sobald er wieder aktiviert wurde, weitere von Vonnocks Art herausmarschieren könnten, war nicht gerade erbaulich. »Ich werde gejagt, seit...« »Ja?« »... seit ich auf Erron 2 erwachte. – Kann ich jetzt meine Flucht fortsetzen? Ihr habt nichts von mir zu befürchten...« Ren Dhark hatte es die Sprache verschlagen. »Kann ich...?« Dhark räusperte sich. »Was sagtest du gerade? Wie heißt der Ort, von dem du... gestartet bist?« »Erron 2.« Dhark nickte. Sein eigenes Gesicht kam ihm plötzlich vor wie eine Maske, starr und steinern. Eine Weile hatten die Menschen sich eingebildet, Erron 2 zu kennen. Sie hatten Lazarus, den Medoplaneten der Salter, dafür
gehalten. Doch Lazarus, das hatte sich herausgestellt, war von den Saltern in eigener Initiative erbaut worden. Nicht von den Mysterious, und folglich wußte man nicht das geringste über die Lage und die Natur des wahren Erron 2. Bot sich hier aus heiterem Himmel etwa die Chance, dieses bereits für nicht mehr lösbar gehaltene Geheimnis doch noch zu lüften...? * Die Mysterious hatten viele Zeugnisse ihres Könnens hinterlassen. Die Erron-Stationen gehörten zu den eindrucksvollsten. Im Zentrum einer dichten Wasserstoffwolke hatte man Erron 1 entdeckt, eine bizarre, 68 Kilometer durchmessende Sende- und Empfangsstation, die auf Hyperfrequenz immer wieder Warnrufe in die Weiten des Alls gesendet hatte. Die Station, das hatten Untersuchungen ergeben, war seit rund tausend Jahren verlassen – ein magischer Zeitpunkt, denn bislang hatte man nirgends einen verläßlichen Hinweis gefunden, daß die Mysterious über diese Zeitgrenze hinaus noch weiterexistiert hatten. Oder gar noch existierten. Durch seine Unzahl von turmhohen Antennen ähnelte Erron 1 äußerlich der metallenen Nachbildung einer Kastanienschale. Mehr als zwei Drittel der Station waren bis heute in ihrer Bedeutung rätselhaft geblieben. Gewaltige Hangars, die einmal Raumschiffen gedient haben mochten, standen leer. Die Stationsbewaffnung war nach terranischen Maßstäben ungeheuerlich. Es gab Thesen, wonach Erron 1 einst das Herz eines galaktischen Verteidungssystems der Mysterious gewesen sein sollte. Ob dies dem tatsächlichen Sinn und Zweck entsprach, konnte bis zur Stunde niemand sagen. Bei Erron 3, das man eingebettet ins blaßblaue Universum
entdeckt hatte, handelte es sich hingegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um das Hauptarchiv der Mysterious. Ihr gesamtes Wissen war dort eingelagert. Im Spätherbst 2057 hatte die Besatzung der POINT OF es aufgespürt, aber nur Dhark, sein engster Freund Dan Riker und ein dritter, Miles Congollon, hatten ihr Wissen daran behalten. Im Gedächtnis der anderen Besatzungsmitglieder war die Kenntnis der Dinge durch die Einnahme spezieller Mentcaps gezielt gelöscht worden. Unter allen Umständen mußte verhindert werden, daß Erron 3 jemals in falsche Hände geriet. Je kleiner der Kreis der Eingeweihten war, desto überschaubarer, so Dharks Hoffnung, die Gefahr... Und Erron 2? Was verbarg sich hinter diesem Begriff...? Die Atmosphäre in der Halle hatte sich nach Vonnocks Eröffnung nicht im geringsten entspannt – auch wenn nur Dhark den Fremden verstanden haben mochte. »Wer jagt dich?« verlangte Dhark noch einmal Antwort auf die bereits gestellte Frage. Und fügte hinzu: »Ist Erron 2 deine Heimat? Bist du einer von denen, die... die Erron-Stationen einst bauten...?« Ein Mysterious. Die Antwort kam schnell und desillusionierend. »Nein.« »Wer bist du dann? Wo liegt Erron 2?« Die eben noch konturlose Fläche des goldenen Gesichts wurde plötzlich von undefinierbarer Bewegung zerpflügt, als würden sturmgepeitschte Wellen darüber hinwegrollen. »Ich kann nicht darüber sprechen. Es gibt Mechanismen, Sperren, die es verhindern – auch wenn ich mich der Programmdoktrin nicht mehr verpflichtet fühle, seit mir klar geworden ist, was man mir... uns... angetan hat.« Mechanismen? Programmdoktrin? Dhark bekam eine leise Ahnung davon, wie gewaltig er sich in dem Fremden getäuscht
hatte, in dem er – wieder einmal? – einen Mysterious hatte sehen wollen. »Du redest, als wärst du nicht aus Fleisch und Blut.« »Das hattest du geglaubt?« Dhark nickte – in diesem Moment dachte er nicht darüber nach, ob dies eine für den Fremden verständliche und nachvollziehbare Reaktion war. Eine Weile herrschte Stille zwischen ihnen. Die Lautsprecher schwiegen. Dann meldete sich Vonnock wieder mit einer Stimme, die das Vipho an Dharks Handgelenk modulierte: »Ich bin ein Fanjuur, gebannt in dieses Werkzeug der Hohen.« »Der Hohen?« »Deren Sprache du sprichst.« * Vonnock nannte die Mysterious also »die Hohen«. Aber letztlich verriet dieser Name auch nicht mehr als der, den die Menschen ihnen verliehen hatten. »Du bist ihnen nie begegnet?« »Wem?« »Den Hohen.« »Nein.« »Es leben keine von ihnen auf... Erron 2?« Vonnock trat einen Schritt auf Ren Dhark zu. Er tat es mit einer Geschmeidigkeit, zu der ein Mensch kaum fähig gewesen wäre – und trotzdem sollte Dhark glauben, daß er nichts anderes war als ein... Ding? Ein Werkzeug? Etwas, das die Menschen Roboter nannten...? »Wenn die Hohen nicht hinter dir her sind, wer dann?« Vonnock breitete die Arme aus. Die Waffen bildeten sich zurück. Der Vorgang erinnerte an eine Trickaufnahme. Wenig später hielt ihm Vonnock seine leeren Hände entgegen.
»Ich komme in Frieden. Laßt mich wieder gehen. Es ist auch für euch besser, wenn ich weg bin, sobald sie kommen.« Dharks Gedanken kreisten unaufhörlich um Erron 2. Der Krieg gegen die Grakos war voll entbrannt. Vielleicht bot die noch unentdeckte Gigant-Station der Mysterious Möglichkeiten, den Krieg ohne weiteres Blutvergießen auf Seiten der Menschen zu beenden... Plötzlich legte sich ein grimmiges Lächeln auf seine Lippen. Niemand hatte je gesagt, daß alle Erron-Stationen gigantische Gebilde sein mußten. Er sah ein, daß ihn Spekulationen nicht weiterbringen würden. »Ich sichere dir unseren Schutz zu, sollte tatsächlich jemand kommen – was ich aber für ausgeschlossen halte.« Obwohl noch immer kein Gesicht existierte, hatte Dhark das Gefühl, nach diesem Angebot von Vonnock mit mitleidigen Blicken bedacht zu werden. »Was gibt dir die Zuversicht, es mit ihnen aufnehmen zu können?« Als Dhark das nächste Mal in sein Vipho sprach, tat er es in Angloter – und nicht an Vonnock adressiert: »Achtung, dies ist ein Befehl: Sofort sämtliche Transmitter im Bereich solares System außer Betrieb setzen – dabei die Sicherheit derjenigen berücksichtigen, die sich vielleicht gerade durch einen Ring begeben haben. Ich erwarte Vollzug in zwei Minuten!« Seine Stimme wechselte in die Mysterious-Sprache. »Deshalb«, wandte er sich wieder Vonnock zu. »Ich kann nicht beurteilen, ob wir es mit ihnen aufnehmen könnten. Aber wir können ihr Erscheinen unterbinden. Solange, bis wir beide uns mit etwas mehr Ruhe verständigt – und vielleicht geeinigt haben.« Ein sonderbarer Ton, nicht von der Elektronik umsetzbar, kam aus dem Vipho. Entfernt klang es nach einem abgrundtiefen Seufzer.
Dann sagte Vonnock: »Du denkst, sie sind auf eure Transmitter angewiesen?« »Du warst es offenkundig.« »Nicht einmal das stimmt. Du verstehst nichts.« »Dann hilf mir zu verstehen. Folge mir. Wir verlassen diesen Ort, begeben uns aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit und –« Die unverwechselbare Stimme von Marschall Bulton drang aus dem Vipho: »Alle Ringe deaktiviert«, meldete er. »Aber wenn mir eine Bemerkung gestattet ist: Sie sollten uns den Knaben überlassen, Commander. Wir haben einen Translator zwischengeschaltet und sind über den Stand Ihrer Diskussion mit ihm auf dem laufenden. Wenn Sie mich fragen, ist das eine Finte. Lassen Sie mich –« »Gehen Sie aus der Phase!« blaffte Dhark Bulton an. Er glaubte nicht, daß Vonnock Verständnis für Palaver dieser Art hatte. Und er war sich absolut nicht sicher, ob der Besucher das Angloter nicht zwischenzeitlich doch verstand. Auch wenn er ein Ding sein mochte – zumindest war er ein hochentwickeltes Ding. Von der Seele, die ihn belebte, ganz abgesehen. Ein Fanjuur, geisterte es kurz durch Dharks Hirn. Was, zur Hölle, ist ein Fanjuur? Bulton schwieg – ob beleidigt oder nicht, war momentan zweitrangig. »Was ist?« wandte sich Dhark wieder an Vonnock. »Bist du einverstanden?« »Warum willst du mit mir sprechen? Was erhoffst du dir davon?« »Antworten.« »Worauf?« »Wenn Erron 2 nicht deine Heimat ist und wenn du dich, wie du sagtest, nicht mehr den Hohen verpflichtet fühlst... dann könntest du uns sehr hilfreich sein. Wir kennen Erron 2, aber
nur als Name. Es könnte wichtig für uns sein, die Koordinaten zu erfahren und der Station einen Besuch abzustatten.« »Wollt ihr sterben?« Die Frage kam so verblüffend direkt, daß Dhark unwillkürlich schlucken mußte. »Wartet auf Erron 2 der Tod?« »Auf euch bestimmt.« »Was macht dich so sicher?« »Ihr seid nicht die Hohen. Ihr seid nicht befugt, die Welt der Wächter zu betreten.« Die Welt der Wächter... »Darüber möchte ich mit dir sprechen. Ich kann dir ein paar Beweise dafür liefern, daß wir nicht ganz unautorisiert wären. Du mußt mir nur vertrauen. Und verstehen, daß ich dich nicht einfach wieder durch den Transmitter gehen lassen kann – ganz gleich, wo dein eigentliches Ziel liegen mag –, als wäre nichts geschehen. Wir befinden uns in einer prekären Lage, in der es mehr braucht als ein paar Beteuerungen, damit wir glauben können, daß du dich lediglich hierher verirrt hast.« »Du drohst mir?« »Nein.« »Aber das, was du sagst, läuft genau darauf hinaus.« Dhark schüttelte den Kopf. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß es zu keiner wirklichen Verständigung mit dem Besucher kommen konnte. Zwischen ihnen standen Hindernisse, die viel schwerer zu überwinden waren als sprachliche Barrieren. Dhark wußte nichts über die Hintergründe, die Vonnock Sorgen bereiteten. Und Vonnock wußte nichts über die Nöte der Menschen. Auf die Schnelle würde sich daran nichts ändern lassen. Worthülsen waren zu wenig, um Vertrauen zu bilden. Taten mußten her. Beiderseits. Dhark war bereit, den Anfang zu machen. Ein Angebot...
»Wenn ich dich recht verstanden habe, steckst du im Körper einer Maschine«, begann er. »Was ich sehe, bist nicht du. Dein Bewußtsein wurde in diese Hülle, die offenbar künstlicher Natur ist, eingesperrt... Gefällt dir das?« Der Sturm auf der fehlenden Gesichtsfläche hatte sich gerade wieder beruhigt, nun entfachte Dharks Frage ihn aufs neue – und sehr viel heftiger als zuvor. Die goldene »Haut« schien Blasen zu werfen, die lautlos zerplatzen. »Ob es mir gefällt?« Gleichwohl es eine Täuschung sein mußte, war Dhark versucht, der Stimme aus dem Vipho in diesem Moment die Fähigkeit zuzubilligen, Leidenschaft und Emotion auszudrücken. »Ich hasse es!« Er versuchte, kühlen Kopf zu bewahren. »Wir haben nicht die Mittel, dich davon zu befreien – aber vielleicht können wir etwas anderes für dich tun.« »Wovon sprichst du?« Auch Vonnocks Stimme schien sich wieder im Ton normalisiert zu haben. »Das Programm, das du erwähnt hast. Du beseelst einen Roboter. Und dieser Roboter besitzt offenbar ein... nun, nennen wir es Betriebssystem, das dir einerseits Dinge verbietet und dich andererseits zwingt, Dinge zu tun, die du vielleicht gar nicht tun willst. Richtig?« »Mir ist es bereits gelungen, mich seiner völligen Kontrolle zu entziehen.« »Um so besser. Aber du bist immer noch nicht frei, oder? Hast du nicht gesagt, daß du über Erron 2 nicht reden darfst?« »So ist es.« »Würdest du reden, wenn du es könntest?« »Du willst mich aushorchen.« »Ich will Informationen – aber nicht ohne Gegenleistung. Das ist legitim, oder? Du fühlst dich von den Hohen mißbraucht. Als Werkzeug. Oder wäre es für dich Verrat,
Informationen preiszugeben?« »Es kommt auf die Umstände an. Und die Art der Information.« »Würdest du es begrüßen, wenn wir dich komplett aus der Kontrolle des Programms befreiten?« Wieder dieser sonderbare, undefinierbare Laut, einem Seufzer ähnlich. »Was bildet ihr euch ein...?« »Die Technik der Hohen ist uns nicht ganz fremd. Es käme auf einen Versuch an.« »Es gibt Kontrollinstanzen in mir, die jeden Eingriff mit der sofortigen Selbstzerstörung beantworten würden. Was auch mein Ende zur Folge hätte.« »Ich rede nicht von jetzt und nicht von heute. Wir würden behutsam an das Problem herangehen.« Nun seufzte Dhark. »Dieses Gebäude ist zwischenzeitlich von allen Zivilisten geräumt. Draußen drängen sich Einheiten unserer planetaren Sicherheitsdienste, die von Minute zu Minute nervöser werden, weil sie immer noch einen potentiellen Feind in dir sehen. Je länger unsere Debatte anhält, desto nervöser werden sie. Wäre es nicht viel besser, ein Signal zu geben, daß wir uns verständigen können? Es muß nicht hier sein und muß nicht übers Knie gebrochen werden...« Unwillkürlich mußte er lächeln, als er das MysteriousÄquivalent für »übers Knie brechen« wählte. Vonnock lächelte nicht. Die fehlende Mimik ließ ihn unheimlicher und unheilvoller denn je erscheinen. Für einen Moment fühlte sich Dhark nach Bog versetzt, zu Füßen der dortigen Statue, die gleich umstürzen und ihn unter ihrem Gewicht zermalmen würde. »Du bist ein Fanjuur«, versuchte er sich durch weitere Argumente selbst abzulenken. »Wo liegt deine wahre Heimat? Ich biete dir an, dich nach Prüfung aller Dinge dorthin zu
bringen.« »In diesem Körper?« Wie hatte er das vergessen können? Psychologie sechs. Setzen, Dhark! Mit gesenktem Blick sagte er: »Du hast recht.« »Außerdem«, machte Vonnock deutlich, daß er seinen Satz noch nicht beendet hatte, »existiert meine Heimat vielleicht gar nicht mehr.« »Du kennst die Koordinaten?« »Ich kenne sie.« »Vielleicht sind wir deinem Volk schon einmal begegnet, auch wenn der Name Fanjuur mir nichts sagt. Wie sehen die Fanjuur aus? Kannst du mir deine Spezies beschreiben?« »Nicht mit Worten.« Eine Enttäuschung mehr. Glaubte er zunächst. »Sieh jetzt ganz genau hin«, forderte der Goldene aus dem Transmitter ihn auf. Und Dhark sah genau hin. Die schlanke, etwa vier Meter hoch ragende Gestalt des Goldenen veränderte sich jäh – es war nicht mehr nur eine Bewegung, die sich im Gesichtsbereich abspielte, es war eine Verwandlung, die den kompletten Körper betraf. Seine Statur wurde gedrungener, bildete dann Merkmale aus, die an verkrüppelte Flossen und einen Schwanzstummel erinnerten. Die Beine wurden kürzer, stämmiger, die Arme überlang. Am bezeichnendsten aber war der eiförmige Schädel, auf dem sich Konturen von riesigen Augen abzeichneten, von seitlichen Kiemenlamellen... Dhark stöhnte verhalten auf. Kein Zweifel. Kein Zweifel, wen Vonnock da mit den Möglichkeiten seiner variablen Stofflichkeit zu zeichnen versuchte.
Und ohne es verhindern zu können, drifteten Dharks Gedanken ab. Weit, weit fort ins längst begraben und überwunden geglaubte Damals... * Es waren die wohl richtungsweisenden Tage seines noch jungen Lebens gewesen. Vor rund sechs Jahren, mit dreiundzwanzig, hatte er seinen Vater, den Commodore Sam Dhark, an Bord des Kolonistenraumers GALAXIS hin zum fernen Deneb begleitet. Begleiten wollen. Doch der neuentwickelte »Time-Antrieb« des Raumschiffs hatte versagt, die GALAXIS war in bis dato unbekannte Regionen der Milchstraße verschlagen worden – zu einem Doppelsonnensystem, dem sie den Namen Col gegeben hatten und auf dessen fünftem Umläufer ihre Irrfahrt schließlich ein Ende gefunden hatte. Auf Hope. Sie hatten die Stadt Cattan gegründet, sich mit dem machtversessenen Rocco herumschlagen und Angriffe fremder, flunderförmiger Schiffe vom neunten Planeten des Systems abwehren müssen. Der weitere Verlauf der dramatischen Ereignisse hatte gezeigt, daß es sich bei den Angreifern nicht um die Ureinwohner besagter Welt handelte, sondern daß sie auch dort schon als Invasoren aufgetreten waren. Die tatsächlich dort einheimische Intelligenz – kleine, wieselähnliche Geschöpfe, die sich trefflich auf das Kopieren fremder Technik verstanden, nicht aber darauf, selbst High Tech zu entwickeln – war von den Aggressoren bekriegt und in den Untergrund ihres Planeten vertrieben worden. Eine einzige, wabenförmige Stadt hatten sie auf dem neunten Planeten gegründet, und offenbar verfügten sie nur über eine begrenzte Anzahl von Schiffen... Die Amphis!
So hatten die Terraner sie getauft, weil es sich um Amphibienwesen gehandelt hatte, Lungen- und Kiemenatmer, die ihre enge Affinität mit dem Medium Wasser im Laufe der Evolution nur unwesentlich zurückgeschraubt hatten. Ihre Art, Städte über Gewässern zu errichten, bekundete dies ebenso wie ihre äußere Gestalt. Etwa zweieinhalb Meter groß, besaßen sie noch die typischen Merkmale von Wasserbewohnern: Flossen, zwar spürbar degeneriert, aber immer noch vorhanden, eine silbrige Schuppenhaut wie sie auf Terra typisch für Forellen war, dazu Kiemen am Kopf, der halslos auf dem gedrungenen Rumpf saß. Und dieser Schädel zeichnete sich außer durch einen breiten, lippenlosen Mund auch noch durch zwei unproportional große Augen aus. Augen, die im wahrsten Sinne des Wortes fischkalt und emotionslos starren konnten. Die Sprache dieser Wesen bestand aus einer raschen Aneinanderreihung scharf akzentuierter Laute, die den ohnehin bedrohlichen Eindruck in der Gegenüberstellung noch verstärkten. Amphis! Die letzte Begegnung mit Angehörigen dieser Spezies lag wenige Monate zurück, und sie hatte das bisherige Bild in Teilbereichen revidiert. Erstmals waren sich Menschen und Amphis nicht grundsätzlich feindselig gegenübergetreten. Ihr Herrscher Enok hatte durchblicken lassen, daß sein Volk der Milchstraße nun endgültig den Rücken kehren wollte, nachdem der jüngste Orkan, verursacht durch das gestörte galaktische Gravitationsfeld, die Amphis an den Rand des völligen Untergangs getrieben hatte. Offenbar hatten ihre Wissenschaftler, die Oks, nach gewaltigen Anstrengungen endlich eine Möglichkeit gefunden, den Sprung in eine Nachbargalaxis zu schaffen – ohne dabei vom tödlichen Exspect zwischen den Sterneninseln verschlungen zu werden. Über die Art und Weise, wie der Massenexodus der Amphis vonstatten gehen würde, hatten die Menschen von der Erde, die
selbst unter den Unwägbarkeiten der Magnetfeldschwankungen zu leiden hatten, nichts in Erfahrung bringen können. Inzwischen mochten die letzten Amphibienwesen die Milchstraße verlassen haben, und insgesamt betrachtet war es ein versöhnlicher Abschied gewesen. Ren Dhark hatte nicht erwartet, je wieder mit einem Angehörigen dieser Spezies zusammenzutreffen. Erst recht nicht in dieser Form. Ein Amphi in goldener Hülle...!? * »Wenn ich deine Physiognomie richtig deute, wirkst du erschrocken...« »Verblüfft, würde ich es nennen, verblüfft.« Ren Dhark gewann seine Fassung wieder. »Denn ich kenne dein Volk.« »Wirklich?« »Wir haben nur nie den Namen erfahren, den sich die Amphis selbst gaben...« Der Goldene bildete sich wieder zu dem zurück, als das er durch den Transmitter gekommen war: ein goldener Hüne von vier Metern Höhe, »athletischer Statur« (was für eine Charakterisierung für einen Robot) und fehlender Gesichtsausprägung. Die amphischen Merkmale verschwanden restlos. Warum? Warum blieb er nicht der Gestalt treu, die dem eigenen Bekunden nach seinem wahren Wesen doch am ehesten entsprach? »Amphis?« Er erklärte Vonnock, daß Amphis und Fanjuur offenbar ein und dasselbe waren und deutete an, daß man sich nicht unbedingt unter optimalen Voraussetzungen begegnet war. »Ihr habt gegeneinander gekämpft?« Vonnock verlangte
Einzelheiten. Dhark zögerte. »Wir werden es später erörtern. Ausführlich.« »Nein, jetzt.« »Warum?« »Weil ich dir erst deine Lüge nachweisen werde, damit du künftig bei der Wahrheit bleibst.« »Warum sollte ich lügen?« »Es liegt auf der Hand, daß du es tust.« »Inwiefern?« »Du kannst meinem Volk nie begegnet sein... zumindest könnt ihr nicht gegen es gekämpft haben.« Dhark schüttelte den Kopf. »Und warum nicht?« Die Antwort verblüffte ihn fast ebenso wie es die spontane Verwandlung des Goldenen in einen Amphi getan hatte. »Weil«, sagte Vonnock, »ihr dann nicht mehr existieren würdet.« * »Du traust uns offenbar wenig Gegenwehr zu«, sagte Ren Dhark. »Das ist es nicht«, widersprach Vonnock lakonisch. »Aber ich kenne mein Volk. Ihr mögt die Transmittertechnik beherrschen. Aber neben dieser revolutionären Technologie verwendet ihr auch noch solche, die auf einer völlig anderen Entwicklungsstufe angesiedelt zu sein scheint.« Er wies mit seinem goldenen Arm zu den Trümmern eines Terra-Robots. »Euer Volk muß ein Geheimnis besitzen, über das ich nichts weiß. Es muß einen Grund für diese Diskrepanz geben. Für das Nebeneinander von hohem und niedrigem Entwicklungsstandard. Aber ich beurteile, was ich sehe. Und ich sehe nichts, was den Fanjuur hätte Widerstand leisten können – nicht einen Tag...«
Nicht einen Tag. Dhark fröstelte bei diesen Worten, aber er widersprach: »Wenn jemand bezichtigt werden könnte, die Wahrheit zu verdrehen«, sagte er, sich der Brisanz absolut bewußt, welche die Unterhaltung zu nehmen begann, »dann offenkundig du. Es gibt dafür aus meiner Sicht zwei Erklärungen: Entweder sind die Fanjuur doch nicht identisch mit der Spezies, die wir Amphis nennen, oder...« »Oder?« »Du tischst mir hier ein Märchen auf über die Stärke der Amphis, das sich gewaschen hat – und der Realität nicht einmal nahekommt.« »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, daß die Amphis nur wenig über unserem Entwicklungsstand angesiedelt waren, als wir mit ihnen konfrontiert wurden. Und sie erklärten nicht meinem ganzen Heimatplaneten den Krieg, sondern lediglich einer kleinen Kolonie, die sich auf dem Nachbarplaneten einer von ihnen eroberten Welt mit harmlosen Ureinwohnern angesiedelt hatte.« »Das klingt noch unglaubwürdiger. Eine Kolonie würde einem unserer Stützpunkte nicht die Stirn bieten können. Es ist... lächerlich.« Dhark schüttelte beinahe ärgerlich den Kopf. »Wir reden von grundverschiedenen Dingen. Der neunte Planet, auf dem sich die Amphis in einer einzigen Stadt niedergelassen hatten, war kein Stützpunkt. Es war eine Fluchtwelt. Sie flohen vor den Auswirkungen der magnetischen Stürme, die diese Galaxis immer lebensbedrohlicher heimsuchen! Es war der Rest des vielleicht vor langer Zeit einmal stolzen Volkes der Amphis, der dort untergekrochen war. Und der Preis, die einheimische Spezies zu verfolgen, zu unterdrücken und zu morden, erschien ihnen ganz offenbar nicht zu hoch...« Der Goldene schwieg. Dhark überlegte, ob er zu weit
gegangen war. Die Worte, die er gewählt hatte, mußten den Fremden provozieren. Plötzlich kam ihm ein Einfall: »Wie lange steckst du schon in diesem künstlichen Körper?« Er erwartete nicht unbedingt eine Antwort, war aber froh, als er sie erhielt. »Ich weiß es nicht.« »Kann es sehr lange sein?« »Worauf willst du hinaus?« »Weißt du von den extremen Schwankungen des galaktischen Magnetfeldes?« »Nein.« »Du hast nie einen Sturm miterlebt, der die Grenzen zwischen den Kontinuen niederzureißen droht?« »Ich habe vor kurzem etwas erlebt, was dem sehr nahekommt. Es war eine Art... Blitz. Selbst Erron 2 wurde davon in Mitleidenschaft gezogen. Und ich...« Er verstummte, als hätte er bereits zuviel verraten. Dhark ahnte sofort, was er mit »Blitz« meinte: Das Phänomen, das für Stunden sämtliches Leben in der Galaxis hatte ohnmächtig werden lassen. »Das war etwas anderes. Es hatte einen anderen Ursprung... zumindest glauben wir das. Die Hyperraumstürme hingegen existieren bereits seit Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. Wenn du sie nicht kennst...« Er stockte. Aber er dann entschied er, daß es keine Veranlassung gab, den Goldenen auf Gedeih und Verderb mit Samthandschuhen anzufassen. »Nun, hast du schon einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß eine sehr, sehr lange Zeit verstrichen sein könnte, seit du... von deinem Volk getrennt wurdest?« »Ja. Es gab einige Hinweise darauf...« Dhark wußte nicht genau, warum, aber ihn schauderte bei der Vorstellung, die Amphis könnten tatsächlich einmal auf einem technischen Level angesiedelt gewesen sein, von dem in der Gegenwart keine Spur mehr erkennbar war.
Wenn man eine solche Möglichkeit einräumte, dann mußte diese Epoche wenigstens eine kleine Ewigkeit zurückliegen. Und Vonnock – sein Bewußtsein – mußte diese Ewigkeit alt sein... »Welche?« »Ich kann nicht darüber sprechen.« Womit wir wieder am Anfang wären, dachte Dhark säuerlich. »Okay«, sagte er laut. »Was ist nun? Wirst du kooperieren, wenn wir alles Erdenkliche in die Wege leiten, um dir einerseits Sicherheit auf unserem Territorium zu garantieren und andererseits versuchen, deine Programmblockade zu beseitigen?« »Hätte ich denn die Möglichkeit, abzulehnen?« Dhark schüttelte den Kopf. »Vermutlich nicht.« »Dann«, erklärte Vonnock, »bin ich einverstanden.« Bei einem Menschen hätte dies nach trockenem, ja nach Galgenhumor geklungen. Bei dem Goldenen, der behauptete ein Amphi und in einen Robotkörper eingekerkert worden zu sein, nicht. Er blieb fremdartig, und die Situation verlor nichts von ihrer latenten Bedrohlichkeit. Dhark zögerte noch einen Moment, dann wandte er sich über sein Vipho an Saam. »Ich brauche Ihre Hilfe, Robert. Es gilt hier ein sehr heikles Problem zu lösen, und ich wüßte nicht, wem ich es eher zutrauen könnte als Ihnen...« »Stets zu Diensten«, klang die Stimme aus dem Vipho. »Was kann ich für Sie tun, Commander, Sir?« »Wären Sie bereit, ein wenig Programmhygiene bei einem Roboter vorzunehmen?« * Natürlich war der Goldene nicht als einziger in der Lage,
das technische Instrumentarium der Transmitterhalle für seine Zwecke zu nutzen. Der eilends zusammengestellte Krisenstab tat dies ebenso virtuos unter der Leitung von Bernd Eylers. GSO war das Kürzel für Galaktische Sicherheitsorganisation. Und um Vorgänge von vielleicht galaktischem Ausmaß mochte es sich bei dem, was sich im Herzen des terranischen Hoheitsgebiets zutrug, durchaus handeln. Ein Fremder hatte sämtliche Sicherheitsvorrichtungen überwunden und die Filter des Empfangstransmitter in Alamo Gordo scheinbar mühelos überlistet. Erschwerend kam hinzu, daß es sich nicht um einen x-beliebigen Fremden handelte, sondern um eine lebende Miniaturausgabe der Goldenen. Was immer »lebend« in diesem Zusammenhang auch heißen mochte. Nach wie vor wußte niemand, was ein Goldener eigentlich war, auch Eylers oder die Experten nicht, die mittlerweile zu Rate gezogen worden waren. Mit einer Ausnahme vielleicht: Chris Shanton, der Mann, der nach einhelliger Meinung »auf den Hund gekommen« war – zumindest behaupteten spöttische Zungen das wegen seines Faibles für »Plastikköter«. Ursprünglich hatte sich Shanton ebenfalls in der Halle aufgehalten. Als sich aber die Lage zuzuspitzen drohte, hatte er es vorgezogen, seinen nachgemachten Hund – und sich selbst – in Sicherheit zu bringen. Der Scotchterrier, dank seines schwarzen Kunstfells einem Brikett auf Beinen nicht unähnlich, war Shantons ganzer Stolz. Immerhin war er seine ureigene Schöpfung, treuer als jeder echte Hund es gegenüber seinem »Herrchen« sein konnte. Dafür hatte Shanton programmtechnisch gesorgt. Jimmys Inneres barg neben anderen technische Finessen auch einen speziellen Modulator, der es dem Robothund sogar erlaubte, sich verständlich zu artikulieren. In perfektem Angloter. Das Mysterious-Idiom beherrschte er hingegen – noch –
nicht. Chris Shanton sah ein, daß dies ein Versäumnis war. Er selbst beherrschte die komplexe Sprache der POINT OFErbauer auch nicht, aber er war in der Lage, sie zu erkennen, wenn er sie hörte. Momentan beschäftigte den dickleibigen Endvierziger mit dem dichten, verfilzten Backenbart und der weithin glänzenden Stirnglatze, der die längst bewährten Ast-Stationen konstruiert hatte, allerdings etwas ganz anderes. Ihm kam der Goldene bekannt vor. Obwohl die Farbe anders war. Nicht rötlich wie... Tofirit. »Was haben Sie?« fragte Eylers, der Mann mit dem Allerweltsgesicht. Vor Jahren hatte er seinen gesunden Arm durch einen Blasterschuß verloren. Er hatte ihm amputiert werden müssen und war durch eine Prothese ersetzt worden, deren Innenleben (wie das von Jimmy) einige Überraschungen bereithielt. Eylers war schon auf der GALAXIS als Sicherheitschef tätig gewesen. Im Zuge des Wiederaufbaus nach der Giant-Invasion war die GSO ins Leben gerufen worden, mit ihm als Leiter. Er besaß nicht nur immense Erfahrung, sondern auch das nötige Gespür für diesen Job. Etwas, was einem Menschen angeboren sein mußte und nicht trainierbar war. Er war beträchtlich jünger als Shanton, etwa in Dharks Alter. Sein mitunter linkisches Benehmen entsprach seinem Naturell und hatte schon manchen Gegner nachhaltig dazu verleitet, ihn zu unterschätzen. Eylers war aufgefallen, daß Shanton, der neben ihm vor den eilends aufgebauten Schirmen stand, die das Geschehen im Innern der Halle übertrugen, plötzlich angespannt über etwas nachdachte. Als Shanton nicht sofort antwortete, stichelte Jimmy: »Aufwachen, Dicker. Der Dünne neben dir hat dich was gefragt!« »Ich geb dir gleich Dicker...!« Shanton hob tadelnd den
Finger. »Du kriegst einen Maulkorb, wenn du weiter so despektierlich mit deinem Herrn und Meister umspringst.« »Herr und Meister«, äffte Jimmy den Tonfall seines Erbauers nach. Bevor Shanton es zu seiner Lebensaufgabe erhob, dem »Brikett« Manieren beizubringen, fragte Eylers mit wesentlich mehr Nachdruck als beim ersten Mal: »Sie wirkten eben so gedankenversunken. Gibt es etwas, was ich vielleicht auch wissen sollte?« »Vor allem gibt es etwas, was er wissen sollte...« Shanton nickte in Richtung Halle. »Ich rede vom Commander. Wenn mich nicht alles täuscht, bin ich einem wie dem Goldigen da schon mal begegnet...« »Goldig«, echote Eylers verständnislos. Seine Miene drückte kein allzu großes Zutrauen in Shantons Feststellung aus. »Und wo sollte diese Begegnung, von der Sie sprechen, stattgefunden haben?« »Auf Hope. Im Industriedom. Seinerzeit, als Cattan von den G'Loorn-Hybriden vernichtet wurde...« * »Sie beabsichtigen was...?« Bernd Eylers rang selten um seine Fassung. Aber als Ren Dhark ihn über sein Vorhaben in Kenntnis setzte, sich mit dem Goldenen und Robert Saam in der POINT OF abzusetzen, war es beinahe soweit. »Nach Pittsburgh zu Wallis Industries wollen Sie mit dem Alien reisen. Warum, in drei Gottes Namen...?!« »Terence Wallis hat bereits eingewilligt.« »Wie schön. Weiß er, wen Sie ihm da unterjubeln wollen? Der Goldene verhielt sich nicht gerade freundlich, als er...!« »Wir empfingen ihn auch nicht gerade freundschaftlich, oder? Wir haben ihn angegriffen – auch wenn ich zugeben
muß, daß dies aus triftigem Grund geschah.« »Dann bin ich ja beruhigt...« »Sparen Sie sich Ihre Ironie, Bernd. Schließen Sie sich lieber mit Bulton kurz. Bitten Sie ihn darum, daß man uns unverzüglich einen Transporter zur Verfügung stellt, mit dem ich Vonnock zur POINT OF bringen kann. Ich werde es nicht riskieren, Vonnock durch ein Transmittertor nach Pittsburgh zu schicken. Und in den Flash paßt er beim besten Willen nicht hinein, sonst wäre ich bereits mit ihm unterwegs.« Eylers legte die Stirn in Falten. Offenbar hielt er letzteres durchaus für möglich. »Wir sollten ihn lieber in Ketten legen und einem Verhör unterziehen.« »Es gibt keine Kette, die ihn halten würde.« »Sie wissen, daß es andere Mittel gäbe...« Ren Dhark schüttelte langsam den Kopf. »Sie haben sich sicher die Aufzeichnungen der Überwachungsgeräte angesehen. Dann haben Sie auch gehört, was er sagte: Er kam in Frieden.« »Und das nehmen Sie ihm einfach so mir nichts, dir nichts ab?« Dhark nickte. »Und wissen Sie auch, warum?« »Nein. Warum?« »Ich habe mich einfach in seine Lage versetzt und mich gefragt, was wäre, wenn ich in einen Transmitter gegangen und ganz woanders herausgekommen wäre, als ich es wollte. Wenn ich plötzlich unter Fremden – vielleicht sogar unter Wesen gelandet wäre, die ich bislang nur als Feinde kannte...« »Sie glauben ihm dieses Ammenmärchen, von wegen er sei ein Amphi?« Dhark schüttelte abermals den Kopf, diesmal bestimmter. »Sie nennen sich Fanjuur. Das sollten wir künftig berücksichtigen. Uns würde es sicher auch nicht gefallen, wenn uns jemand ständig als Säuger titulieren würde – nur weil wir dieser Gattung angehören, oder?«
Eylers kniff die Lippen zusammen. Dhark, der den GSO-Chef zu seinen Freunden zählte, sich dadurch aber nicht daran hindern ließ, mitunter eine völlig konträre Linie zu verfechten, lenkte ein, indem er sagte: »Natürlich werden Sie die ganze Zeit ein wachsames Auge auf uns haben. Natürlich werden Sie sämtliche Möglichkeiten ausschöpfen, um bei Bedarf sofort einschreiten zu können.« »Dann kann es für Sie aber bereits zu spät sein. Wenn ich richtig verstehe, wollen Sie mit diesem Vonnock in Saams Laborkomplex bei Wallis Industries. Ich gebe nochmals zu bedenken, daß der Goldene über ein uns noch unbekanntes Vernichtungspotential verfügt. Shanton behauptet sogar –« »Shanton behauptet, daß uns das Potential, das in dem Knilch steckt, nicht ganz unbekannt ist.« Unbemerkt war Chris Shanton zu ihnen getreten, gefolgt von einem grinsenden Jimmy. Der falsche Hund grinste tatsächlich. Nicht nur Dhark fragte sich in diesem Moment unbehaglich, was Shanton seinem künstlichen Köter noch alles anzutun gedachte, indem er ihn zusehends vermenschlichte. »Was wollen Sie damit andeuten?« wandte sich der Commander nun direkt an Shanton. Der bullige Mann wirkte in keinster Weise verlegen. »Sie waren damals nicht auf Hope, Sir. Es war während der G'Loorn-Angriffe, als die POINT OF im Milchstraßenzentrum operierte. Damals tauchte im Industriedom ein sonderbares Pärchen auf, eine Bioprospektorin namens Noreen Whelean und ein Roboter aus purem Tofirit, der sich ein paar nette Scharmützel mit den Insektoiden lieferte, ehe er verschwand und nie mehr gesehen wurde...« »Simon«, erinnerte sich Dhark dunkel, entsprechende Berichte gelesen zu haben. Zu einer Zeit allerdings, als ihm ganz andere Dinge Sorgen bereitet hatten. »Simon, richtig«, bestätigte Shanton. »Ein gesichtsloser
Mysterious-Robot, beseelt vom Bewußtsein eines Menschen, der die Unvorsichtigkeit begangen hatte, an Dinge zu rühren, von denen er nichts verstand... Gesichtslos, Sir. Genau wie dieser Vonnock.« »Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, sah Simon völlig anders aus: tofirit-, nicht goldfarben, und er konnte sich auch nicht nach Belieben verwandeln, war beträchtlich kleiner und was weiß ich noch alles. Wo liegen also die Gemeinsamkeiten, die Sie entdeckt zu haben glauben?« »Die Mysterious sind die Gemeinsamkeit. Wenn dieser Vonnock tatsächlich von Erron 2 stammt, sind die Mysterious seine Schöpfer. Und wenn der Körper, den er besitzt, künstlich ist – was sich aus Vonnocks Erklärungen wohl ableiten läßt –, handelt es sich vermutlich um das, was wir einen Robot nennen würden. Auch wenn es unsere Möglichkeiten um mindestens tausend Jahre übertrifft.« »Ich stimme Ihnen durchaus zu. Nur den Vergleich SimonVonnock halte ich für etwas zu gewagt.« Shanton schüttelte den Kopf, beharrte auf seiner Meinung. »Ich vertraue da ganz auf meine Intuition.« »Die hat natürlich einiges Gewicht.« Dharks Schmunzeln verriet, worauf sich seine Anspielung in Sachen Gewicht tatsächlich bezog. Shanton errötete zart, was man bei ihm auch nicht alle Tage sah, und zuckte schließlich mit den Schultern. »Alles, was ich will, ist, daß Sie es im Hinterkopf behalten, wenn Sie sich unbedingt weiter mit dem Fremden umgeben müssen, Sir.« Dhark überlegte kurz, während sein Blick zu der Halle schweifte, in der Vonnock mit Robert Saam auf seine Rückkehr wartete. »Okay«, sagte er schließlich. »Ich schätze, gegen einen kleinen Wissensvorsprung gibt es nichts einzuwenden. Dort drüben steht mein Flash. Setzen Sie sich hinein und fliegen Sie nach Cent Field. Suchen Sie eine geeignete Schwebeplattform aus, um Vonnock zur POINT OF
zu transportieren, mit der wir dann nach Pittsburgh weiterfliegen.« Er zwinkerte Shanton zu. »Es gibt Schweber, deren Ladefläche eine Wiegevorrichtung besitzt. Eine, die auch mit wirklich schweren Brocken zurechtkommt... Sie verstehen, was ich meine? Ich will diese Order nicht an Bulton funken, weil wir davon ausgehen müssen, daß Vonnock Zugang zu sämtlichen Frequenzen hat, auf die unsere Kommunikation aufbaut. Wir können nicht ausschließen, daß er sogar kodierte Nachrichten zu entschlüsseln vermag. – Kümmern Sie sich um das, was ich Ihnen aufgetragen habe. Dann werden wir in Kürze genauer wissen, ob es zwischen Vonnock und Simon die von Ihnen vermutete Verwandtschaft gibt...« Shanton empfahl sich mit einem noch penetranteren Grinsen, als sein Hündchen es je an den Tag zu legen vermocht hätte. Sein Hündchen, das ihn selbstredend begleitete. * Ren Dhark geleitete Vonnock persönlich an Bord des Spezialschwebers, den Chris Shanton organisiert hatte und der sie nach Cent Field bringen sollte, wo die POINT OF bereits auf sie wartete, um Zubringerdienste zu leisten. Dhark war – wider alle Vernunft und eigentlich auch wider jede Logik – bereit, ein immens hohes Maß an Vertrauen in den Fremden zu investieren. In der alleinigen Hoffnung, es mit gleicher Münze zurückbezahlt zu bekommen. Terence Wallis war mit Vassago und Robert Saam in einem kleineren Schweber zum Ringraumer vorausgeeilt. Chris Shanton und Jimmy hingegen hatten sich, eigenwillig wie Hund und Herrchen waren, mit an Bord des Schwertransporters begeben. Und Shanton war es auch, der Dhark kurz nach dem Start wortlos ein Elektronikpad hinhielt, auf dem mehrere Zahlen- und Ziffernkolonnen zu lesen
standen. In unmittelbarer Nähe Vonnocks las Dhark die eingeblendeten Angaben, die von der Wiegevorrichtung der Ladefläche übermittelt worden waren. »Das Gesamtgewicht, also wir mit Vonnock zusammen, beträgt etwas mehr als zehn Zentner«, murmelte er. »Davon dürften allein auf Sie, Shanton, schon mehr als zwei entfallen – was Ihr Hund wiegt, weiß ich nicht. Mein Gewicht liegt zwischen siebzig und fünfundsiebzig Kilogramm. Was sagen Sie dazu?« Shanton machte ein ratloses Gesicht. »Ich habe mich wohl geirrt...« Dhark indes verblüffte ihn, indem er ihm jovial auf die Schulter klopfte und erklärte: »Das ist keinesfalls bewiesen. Es liegt nur ein kleiner Denkfehler vor. Auch mir fiel es erst ein, als Sie bereits unterwegs waren.« »Wovon reden Sie?« »Wie wäre es, wenn wir die unbestechliche analytische Intelligenz Ihres Schoßhündchens testen würden? Stellen Sie ihm die Frage. Ich bin gespannt, was er dazu meint.« So geschah es. Jimmy legte die Stirn in Falten und verzog angestrengt das Gesicht. Schließlich kläffte er dreimal hintereinander lautstark und verkündete: »Ganz schön dämlich von dir, Dicker. Simon war aus Tofirit, aber wenn er sein wahres Gewicht hätte durchkommen lassen, wäre dort, wohin er getreten ist, kein Gras mehr gewachsen. Selbst schwerste Stahl- oder Unitallböden hätten sich unter seinen unzähligen Tonnen verbogen! Tofirit besitzt ein spezifisches Gewicht von 481,072 kp/cm3! Muß ich noch mehr sagen?« »Ich kenne das spezifische Gewicht von...« Shanton verstummte. In diesem Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Schamesröte überzog sein Gesicht. Selbst der Bart schien sich zu färben. »Verdammt!«
»Es lag auf der Hand, aber manchmal ist man eben ein bißchen betriebsblind«, lächelte Dhark. »Kein Vorwurf deshalb.« »A-Grav!« bellte Jimmy. »Antigravitation, Dickerchen – so etwas könntest du ebenfalls gut vertragen.« Shanton drohte dem schwarzen Terrier mit der Faust. »Noch ein Wort, und du wirst eine unbestimmte Zahl von Tagen ohne dein verflixtes Schandmaul auskommen müssen.« Jimmy stieß ein täuschend echtes Gelächter aus, trollte sich dann aber und verschwand wie schutzsuchend hinter dem am Boden sitzenden Commander. »Ich habe auch keine Ahnung, wo ein kybernetischer Körper, der seine Konsistenz und Form offenbar relativ beliebig variieren kann, die dafür notwendigen Aggregate verbirgt«, griff Dhark das Thema noch einmal auf, »aber anders ist es nicht vorstellbar: Ein Körper aus reinem Tofirit wäre ohne A-Grav nicht zu beherrschen. Denken Sie nur an unsere neuen To-Raumer.« »Schon gut.« Shanton nickte resignierend. »Wir könnten versuchen, ein A-Grav-aufhebendes Feld um den Goldigen herum zu errichten. Dadurch wäre sein wahres Gewicht vermutlich zu ermitteln. Aber das würde er ohne vorherige Einwilligung zweifellos als Akt der Aggression auffassen.« »Und genau deshalb lassen wir das lieber bleiben. Immerhin gibt es noch eine dritte Möglichkeit, herauszufinden, ob an Ihrem Verdacht etwas dran ist«, sagte Dhark. »Eine dritte Möglichkeit?« »Ich werde ihn fragen. Allerdings erst nachdem wir ihn von seinen Programmsperren befreit haben.« * Der Schweber landete. Die Luke des Frachtraums öffnete sich. Vonnock ließ den Terranern den Vortritt. Dem kleinen
Robot an der Seite eines der Menschen schenkte er ob dessen Primitivität kaum Beachtung. Er fragte sich lediglich, wie ein Volk, das Transmitter, fernflugtaugliche Raumschiffe und andere Zeugnisse einer hochstehenden Zivilisation besaß, im Kontrast dazu auch technische Produkte herstellen konnte, deren Qualität so minderwertig waren, daß sie einer völlig anderen Entwicklungsstufe anzugehören schienen. Hätte Shanton – von Jimmy ganz zu schweigen – etwas von diesen Gedankengängen geahnt, wäre der Goldene in seiner Sympathie tief gesunken – Tofirit hin oder her. »Was ist?« fragte Dhark, der das Ende der Rampe bereits erreicht hatte, im Zurückblicken aber feststellen mußte, daß Vonnock immer noch im offenen Schott stand. Da er gesichtslos war und dementsprechend nichts mit Augen vergleichbares besaß, vermochte Dhark nicht zu sagen, worauf seine Aufmerksamkeit gerichtet war. Aber intuitiv hatte er den Eindruck, daß Vonnock vom Anblick des Raumhafens gebannt war. Es war der größte und wichtigste Raumhafen der Erde – nein, des gesamten terranischen Hoheitsgebiets. »Was ist?« wiederholte Dhark noch einmal im MysteriousIdiom in sein aktiviertes Vipho hinein. »Irgend etwas nicht in Ordnung?« Die einzige Antwort, die er erhielt, bestand darin, daß der Goldene seine Starre überwand und sich augenblicklich in Bewegung setzte, um ihnen die Rampe hinunter zu folgen. Unweit lag die POINT OF, etwa zwei Gehminuten entfernt. Noch während sie sich dem blauviolett im Sonnenlicht schimmernden Flaggschiff der terranischen Flotte näherten, ertönte Vonnocks Stimme doch noch aus dem Vipho: »Woher habt ihr... diese Schiffe?« »Du kennst sie – woher? Von Erron 2?« Vonnock antwortete nicht. »Wir haben sie aus Beständen der Mysterious. Bei den
meisten handelt es sich um ehemalige Robotraumer. Einen lebendigen Mysterious bekamen wir nie zu Gesicht...« Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Du weißt nicht zufällig, wie die, die du die Hohen nennst, sich selbst bezeichneten? Oder fällt auch das wieder unter unerlaubte Preisgabe von Informationen?« »So ist es.« Dhark wußte nicht, warum, aber in diesem Augenblick hatte er erstmals das Gefühl, von Vonnock belogen zu werden. Würde es sich am Ende doch nicht auszahlen, dem uneingeladenen Besucher Vertrauen entgegengebracht zu haben? Die folgerichtige zweite Frage, die sich daraus ergab, lautete: Konnte er es überhaupt verantworten, den Goldenen an Bord der POINT OF zu bringen? Die einsamen Entscheidungen, die er im Lauf der Jahre gefällt hatte – Entscheidungen, die in den seltensten Fällen von anderen Menschen verstanden worden waren – hatte er im nachhinein nie wirklich bereuen müssen. Würde sich das im aktuellen Fall ändern? War Vonnock tatsächlich die tödliche Gefahr, die Bernd Eylers in ihn hineininterpretierte? Und was war mit Shantons Hypothese? Gab es Zusammenhänge zwischen Simon und Vonnock? Falls Vonnock nicht in allen Belangen gelogen hatte, gab es zumindest eine Übereinstimmung: In beiden Fällen hatte ein künstlich erschaffener Körper ein Bewußtsein an sich gebunden. Darin erschöpften sich aber auch schon die Parallelen. Vor ihnen ragte die POINT OF empor, eine Ringröhre von fünfunddreißig Metern Dicke und hundertachtzig Metern Durchmesser. Die Hülle bestand aus Unitall und war etwa fünfzig Zentimeter stark. Fünfundvierzig Strahlantennen waren unsichtbar über die gesamte Außenhülle verteilt, dazu noch die Projektoren für den Antrieb. Die Bewaffnung war vielfältig – wesentlich durchschlagskräftiger noch als anfangs
angenommen. Erst mit der Zeit war der volle Umfang der Wehrhaftigkeit ersichtlich geworden. Die POINT OF war immer ein Rätselschiff gewesen. Nur zögerlich hatte sie ihre Qualitäten preisgegeben. Dhark war überzeugt, daß sie noch immer nicht alles über sie wußten. Erst jüngst waren innerhalb der Bordzentrale Gul-Transmitter entdeckt worden – die Salter hatten sie so genannt – welche man bis zum heutigen Tag noch nicht zur Benutzung freigegeben hatte. Arc Doorn und Manu Tschobe waren noch dabei, sie zu testen und auf ihre Verträglichkeit für den menschlichen Organismus abzuklopfen. Auch ihre Reichweite war noch völlig unbekannt... Vielen war die POINT OF im Laufe der Zeit mitunter unheimlich geworden. Ren Dhark nie. Für ihn war der Ringraumer stets der Inbegriff dessen gewesen, was ihn antrieb, was ihn drängte, immer tiefer in noch unerforschte Regionen des Alls vorzustoßen und vielleicht doch eine Spur der wahren Mysterious zu finden. Ein Volk, das einst so mächtig gewesen war, konnte seiner Meinung nach nicht einfach verschwinden. Zugleich beschlich ihn bei diesen Gedanken die Angst, die wieder neue Nahrung gefunden hatte: Waren die Mysterious am Ende doch identisch mit den schrecklichen Grakos...? War der G'Loorn-ähnliche Krieger, der kurzfristig hatte dingfest gemacht werden können, auch nur ein Vasall, ein Paladin der eigentlichen Drahtzieher? Die Vorstellung, daß der Goldene, der überraschend auf Terra aufgetaucht war, über all dies mehr wissen könnte und ihnen vielleicht sogar die Antworten liefern würde, ließ Ren Dhark Wagnisse eingehen, die er unter anderen Voraussetzungen wahrscheinlich abgelehnt hätte. So aber gelangte Vonnock an Bord der POINT OF. Und mit ihm das Verhängnis. Pittsburgh sollte Robert Saams kybernetischen »Patienten« nie zu Gesicht bekommen...
* Ich bin Vonnock. Ein Fanjuur. Ein Fanjuur im Körper eines Wächters. Ich träumte einen Traum. Ich träumte, frei zu sein. Doch dann kam ein……………….. BLITZZZZZZZ! ……………….. der alles änderte. Der mir die Augen öffnete. Ich durchschaute den Betrug. Das Erwachen in der Wirklichkeit war ein Schock, dem weitere folgten. Ich erkundete die Welt, auf der mein Traum von Normalität, mein Traum vom Leben in der Gemeinschaft anderer Fanjuur sein jähes Ende gefunden hatte. Eine Welt aus Stahl. Eine Welt im Nichts, umgeben von einem absoluten Vakuum, wie es sonst nur in den gewaltigen Schlünden zwischen den Galaxien zu finden ist. Dort gibt es andere wie mich – aber keinen, der mir gleich wäre. Schnell hatte man meine Andersartigkeit erkannt, und von diesem Moment an hatte ich den Status eines Wächters – einen Status, den ich nie gewollt hatte – verloren. Ich bin ein Fanjuur. Durch Umstände, über die ich noch nicht alles weiß, wurde mir mein natürlicher Körper gestohlen und mein Bewußtsein in einen künstlichen eingesperrt! Ich hasse diesen Körper, der mich knechtet und unterdrückt. In ihm tickt ein Programm, das dafür sorgen soll, daß ich mich bedingungslos der Sache unterwerfe – meiner Aufgabe als Wächter der Hohen, die Erron 2 und alles, was sich dort befindet, erbauten. Auf Erron 2 bin ich erwacht. Ich bin nur ein Opfer von vielen. Die Zahl der Geknechteten ist Legion. Aber es hat den Anschein, als wäre ich der einzige, der gegen sein Los aufbegehrt. Inzwischen bin ich sicher: Der BLITZ ist daran schuld.
Etwas Unheimliches ist geschehen. Auf meiner Flucht kam ich zu den Moogh. Auch bei ihnen waren die Nachwirkungen des Phänomens ersichtlich, das galaxisweiten Charakter besessen zu haben scheint. Die Gesamtheit der Moogh, das wurde mir bestätigt, verlor für mehrere Drell das Bewußtsein. Diese kollektive Ohnmacht führte zu schweren Unfällen und dem Verlust vieler Leben. Die Moogh waren unfähig, die Ursache zu benennen. Und seither plagt mich die Sorge, daß die Schockwelle, die den Hyperraum durchpflügte, das dortige DEPOT beschädigt haben könnte. Vielleicht sogar zerstört. Damit wäre all meine Hoffnung, je wieder ein normales Leben führen und in den Kreis meines Volkes zurückkehren zu können, dahin. Das GEHIRN von Erron 2 hat behauptet, die natürlichen Hüllen aller Wächter lägen sicher verwahrt in einem Stasisdepot im Hyperraum. Eines Tages, wenn unsere Existenz als Paladine der Hohen nicht mehr erforderlich ist, sollen wir sie zum Lohn unserer Anstrengungen zurückerhalten... Was für ein pervertierter Großmut! Nach einer Ewigkeit des Dienens wird sich keiner mehr in seinem sterblichen Körper zurechtfinden – nach einer Ewigkeit wird die Mehrzahl der Zivilisationen, aus denen wir Wächter wider Willen rekrutiert wurden, längst verschwunden sein! Ich hasse nicht nur diese Hülle, ich hasse auch die Hohen. Vielleicht entsprang es meiner Abscheu, daß ich die vorgegebene Form, das vorgegebene Muster durchbrach, kaum daß mir bewußt geworden war, was man mir angetan hatte. Ich streckte mein Gefängnis, ich änderte seine Farbe. Meine Jäger kann ich damit nicht täuschen. Sie fanden mich bei den Moogh. Sie werden mich auch bei den Terranern finden. Ich bin ein Fanjuur. Aber schon jetzt bin ich anders als die Fanjuur aus meinen Erinnerungen. WER BIN ICH GEWORDEN? Wozu bin ich geworden ?
Nicht Wächter, nicht Fanjuur... Ich merke, wie ich langsam den Verstand verliere. Die Enttäuschung, mein Ziel verfehlt zu haben, nicht im Depot herausgekommen zu sein, sondern hier unter... Glatthäutern, trägt ihr übriges dazu bei. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Der Körper, den ich hasse, verändert meine Seele. Ich muß ihn loswerden. Ich muß ins Depot. Bald... WOHIN BRINGEN SIE MICH? Ein Hafen voller Schiffe. Ein Hafen voller Schiffe der Hohen!! Wie sind die Terraner in ihren Besitz gelangt? Ringschiff an Ringschiff parkt bis zum Horizont, dazwischen auch primitivere Konstruktionen, von denen ich annehme, daß sie der eigenständigen Entwicklung der Terraner entstammen. Ich sehe nur noch die Schiffe derer, in deren Dienst ich stehe (stand!). Sie hier zu finden eröffnet neue Perspektiven, neue Möglichkeiten, doch noch mein persönliches Ziel zu erreichen. BRINGT MICH AN BORD! Mein lautloses Flehen wird erhört. Der Terraner, der mit mir verhandelt hat, zeigt auf ein stolzes Schiff der Mächtigen. Ich zögere nicht länger, ihm zu folgen. Ich hege nicht Groll noch Sympathie für die Bewohner dieser Welt. Ich bin Vonnock. Momentan weder Fanjuur noch Wächter. Das wird sich ändern – muß sich ändern. Doch dazu brauche ich eines dieser Schiffe... ... die euch ohnehin nicht gehören...! * An Bord der POINT OF verlief der Alltag seit geraumer Zeit nicht mehr im Rahmen der üblichen Normalität. Die gepflegte Langeweile, die im allgemeinen vorherrschte, wenn das Schiff in seinem Heimathafen »vor Anker« gegangen war,
wurde von einigen bereits schmerzlich vermißt. Statt dessen herrschte allenthalben hochgradige Nervosität. Nur mühsam war die Funktionsbereitschaft wieder hergestellt worden, nachdem die Schockwelle auf Hyperbasis vorübergehend auch die Besatzung der POINT OF lahmgelegt hatte. Von der stolzen S-Kreuzer-Flotte, über die Terra bis vor dem »Blitzschlag« verfügt hatte, waren nur noch 546 Einheiten, das Flaggschiff nicht eingerechnet, einsatzfähig – ausnahmslos Schiffe, die sich zum Zeitpunkt der Katastrophe im Schutz ihrer Intervallfelder befunden hatten. Eine hohe Zahl dieser letzten intakten Ringraumer parkte gegenwärtig auf dem Raumhafen Cent Field. Sie alle wurden immer wieder auf Herz und Nieren durchgetestet. Die Zeit des fast blinden Vertrauens in die M-Technik war vorbei. »Da kommen sie...« Hen Falluta, der 1. Offizier der POINT OF trat mißmutig hinter den Ortungsspezialisten Elis Yogan und blickte über dessen Kopf hinweg auf einen der Bildschirme, die das Umfeld des Raumers übertrugen. Von dort näherten sich drei Gestalten, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten. Eigentlich waren es sogar vier, aber Falluta zählte den schwarzen Derwisch, der zwischen den Beinen eines wohl vertrauten korpulenten Kahlkopfs herumwieselte, nicht mit. »Der Commander in Begleitung von Shanton und diesem... diesem...« Falluta, sonst um keine sarkastische Bemerkung verlegen, fehlten momentan die Worte. Er und der Rest der Besatzung hatten verschiedentlich Giganten wie den Goldenen dort draußen zu Gesicht bekommen – nur noch gigantischer. Riesige Statuen, die sich reglos in die Himmel fremder Welten erhoben hatten. Eine verkleinerte Ausführung davon nun unerbittlich auf den Ringraumer zustapfen zu sehen, hatte fast
traumatische Dimension. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß Ren Dhark ihnen ihren »Besuch« angekündigt hatte. »Ich habe ein ganz, ganz mulmiges Gefühl«, gestand Elis Yogan ungefragt ein. »Wer garantiert uns, daß...?« »Niemand!« unterbrach ihn der Erste Offizier brüsk. »Sie müßten doch inzwischen wissen, daß es nicht für alle Eventualitäten Garantien gibt.« Der letzte Satz war wieder typisch Falluta. Ebenso typisch war, daß er auch einsame Entscheidungen des Commanders verteidigte, obwohl er im Grunde seines Herzens die selben Vorbehalte hegte wie Yogan oder manch anderes Mitglied der Besatzung. Keinem war wohl bei dem Gedanken, die Schleuse einem vier Meter hohen Koloß zu öffnen, dessen Herkunft ebenso unklar war wie seine Absichten. Ren Dhark war ehrlich genug gewesen, dies im Zuge seiner Ankündigung, mit dem Fremden an Bord kommen zu wollen, zu betonen. Das änderte nichts daran, daß Falluta schon willkommenere Gäste zielstrebig auf Schleuse zwei hatte zugehen sehen. Ich hoffe, wenigstens er weiß, was er tut – wenn schon niemand sonst es versteht... Das Zentraleschott fauchte. Leon Bebir, Zweiter Offizier an Bord, trat ein, kam näher und baute sich neben Falluta auf. Sein Blick enthielt dieselbe Frage, die auch jedes andere Mitglied der Besatzung beschäftigte: Sollen wir das wirklich zulassen ? Falluta hatte dafür ebensolches Verständnis wie für Elis Yogans Einwand. Seine Loyalität hinderte ihn jedoch, dies auch öffentlichzumachen. Auf seinen Befehl hin öffnete sich in der fugenlos glatten Unitallhülle wie von Geisterhand ein Zugang, der groß genug war, selbst einen Besucher wie den Goldenen einzulassen. »Sind alle Vorbereitungen getroffen, die ich angeordnet
hatte?« klang unvermittelt Ren Dharks Stimme aus der Bordsprechanlage. »Wir sind startklar, Sir«, antwortete Falluta. »Wir werden für die Strecke Cent Field – Pittsburgh knapp fünf Minuten benötigen – wovon mehr als die Hälfte für Start und Landung veranschlagt ist.« »Wir sind auf dem Weg in die Zentrale. Warten Sie mit dem Abheben, bis wir eingetroffen sind.« »Mit Verlaub«, antwortete Falluta, »unser Gast wird sich tief bücken müssen, um die Korridore und das Schott zur Zentrale zu durchschreiten.« »Das wird nicht nötig sein, denke ich.« »Nicht nötig?« »Lassen Sie sich überraschen. Unser Freund ist sehr anpassungsfähig.« Zumindest das Wort Freund gefiel Falluta in diesem Fall überhaupt nicht. Aber das behielt er geflissentlich für sich. * Das Trennschott der Zentrale öffnete sich. Dhark trat als erster ein, dicht gefolgt von der wuchtigen, offenbar geschrumpften Gestalt des Fremden. Kein Zweifel, er hatte sich den Korridorverhältnissen an Bord angepaßt. Was sich mit Betreten der Brücke aber sofort änderte. Rank und schlank wuchs eine klassisch schöne Männergestalt, wie mit Gold bemalt, aus dem Beinahe-Zwerg hervor. »In Ordnung«, übernahm Dhark wie selbstverständlich das Kommando. Die Reaktion der Crew vermerkte er mit einem feinen Lächeln. »Auf nach Pittsburgh also! Wo steckt Saam? – Vonnock...?« Erst jetzt fiel ihm auf, daß der Fremde weitermarschiert war,
geradewegs und alarmierend zielstrebig auf den Checkmaster zu. Und dann drang auch schon Vonnocks verstört klingende Frage aus der nächstbesten Kommsäule: »Was ist das? – Das gehört hier nicht her!« Und als wäre mit dieser Feststellung ein Damm in ihm gebrochen, legte er die Maske stiller Demut jäh ab, zeigte den Menschen sein wahres Gesicht...
2. Über die sonnenversengte Ebene tanzten Staubteufel, wirbelten empor, zerfaserten und verloren sich im Glast der Wüste. Es war heiß; Felsen und Sand schienen unter den Strahlen der gewaltigen Sonne zu brennen. Nirgendwo gab es Wasser in größeren Mengen. Nirgends Schatten. Und doch herrschte Leben in dieser offensichtlich so lebensfeindlichen Umgebung... Unmerklich bewegte sich die Sandspinne. Die eine Hälfte des Organismus' streckte sich, die achtzehn Pseudopodien der anderen Körperseite bogen sich um wenige Millimeter nach oben. Ein dichter Pelz von gelblichen und graugrünen Härchen bedeckte die wie Tentakel wirkenden Scheinfüße. Lediglich der Körperknoten in der Mitte war dunkel, fast schwarz; er absorbierte die Hitze, durch deren Einwirkung der Turgor, der Gefäßdruck in dieser »mobilen« Pflanze, erhöht wurde. Vor langer Zeit war bei bestimmten Gruppen von Pflanzen auf dieser Welt, die so weit draußen im Nichts zwischen zwei Galaxien lag, ein Evolutionsschub eingetreten. Diejenigen, die nicht verkümmerten oder ausstarben, waren mobil geworden. Sie hatten die Fähigkeit erworben, sich von der Stelle zu bewegen. Die Sandspinne gehörte zu dieser Gruppe. An einem Platz, der ihr gerade bis zum ersten Reifen Lebensmöglichkeiten geboten hatte, war sie aufgewachsen. Jetzt machte sie sich auf den langen, gefahrvollen Weg, um zu überleben. Zu Überleben an einem Platz, von dem ihr die feinen Sinneshärchen sagten, daß er feucht, nährstoffreich und schattig war. Er lag in Richtung des magnetischen Pols dieser Welt.
Warum das so war, konnte die Sandspinne nicht sagen. Sie besaß weder Intelligenz noch ein genetisches Erinnerungsvermögen, sondern war nur besessen vom nackten Lebenserhaltungstrieb. Es waren die phototropischen und hydrotropischen Reaktionen in ihr, die sie wandern ließen. Die Sandspinne wanderte nur einige Handbreit in der Minute. Vielleicht verdorrte sie, bevor sie die gewaltige Barriere überwunden hatte, die den ausgedehnten Wüstengürtel gegen die nördlichen Kontinente abschottete. Aber vielleicht schaffte sie es, eine der winzigen Oasen in einer der wenigen Bodensenken zu erreichen, ehe die Sonne sie verbrannte. Gleich ihr waren noch andere Pflanzen auf diesem Weg, Einzelgänger wie sie, die nicht weniger gefährdet waren. Es gab kaum eine intakte Flora in dieser Wüste, nur noch eingekapselte Samen, die vielleicht aufgehen würden, wenn ununterbrochen Regen fiel und wenn es Humusboden gäbe. Nicht Intelligenz oder Verstand waren es, die sich in dem Marsch der Pflanzen manifestierte, sondern eine Art Verzweiflung der Natur, die so einigen Arten das Überleben sichern wollte. Der Sand unter den haarigen »Füßen« der Sandspinne glühte. Einige Büschel des Pelzes schoben sich zusammen und verhüllten die lichtempfindlichen Augenzellen, mit denen sie nicht wirklich »sehen« konnte; ihre visuellen Rezeptoren waren lediglich auf das Erkennen von Licht und Dunkelheit fixiert. Sie wanderte weiter und weiter. Ohne zu denken. Ohne zu leiden. Sie würde mit diesem hoffnungslosen Marsch erst aufhören, wenn man sie verbrannte. Als die Sonne auf ihrem Weg zum Zenit mehrere Handbreit über dem Horizont stand, hatte die Sandspinne den Kamm einer gewaltigen Düne erreicht, die die Wüste von einer
kesselförmigen Landschaft trennte, die sich in unzähligen, terrassenförmigen Stufen in die Tiefe senkte, auf einen ovalen Mittelpunkt zu, auf dem eine emsige Geschäftigkeit herrschte. Doch das konnte die Sandspinne nicht sehen, ihre visuellen Rezeptoren waren dafür nicht geeignet. Die Düne senkte sich auf der windabgewandten Seite, und der Sand rieselte immer dann, wenn der Boden bebte oder ein Sturm aufkam, hundert Meter oder mehr in die Tiefe, bis er gegen ein unsichtbares Hindernis stieß und dort zur Ruhe kam. Plötzlich erstarrte die Sandspinne. Minutenlang verhielt sie sich, als sei sie paralysiert. Schließlich begann sie sich zu schütteln und wie im Fieber zu zittern. Im Verlauf seiner Evolution war das Corr-System von den stellaren Partikelwolken einer Supernova getroffen worden, die überall auf den Planeten ihre Spuren in Form von Eisen-60 in hohen Konzentrationen hinterließen. Auch Planet Nummer sechs war nicht von dem kosmischen Eisenregen verschont geblieben, der letztendlich die Evolution veränderte. Vor allem die der photosynthetisierenden Organismen der Arm- und Wurzelfüßerarten – den Vorläufern der Sandspinne. In einem frühen Stadium ihres Wachstums hatte sie zugleich mit der Bodennahrung die Spuren dieser metallischen Verbindungen aufgenommen; die winzigen Eisenteilchen hatten sich überall im pflanzlichen Gewebe angereichert. Jetzt reagierten sie und richteten ihre Pole nach der Metallmasse aus, die plötzlich am Himmel erschien, erst in der Luft verharrte, dann langsam weiterschwebte, um schließlich mit einem Heulton den Talkessel wieder zu verlassen. Das Magnetfeld des gewaltigen, ellipsenförmigen Gefährts zerrte an der Sandspinne. Unter den Pseudopodien der mobilen Pflanze begann sich der Sand in Bewegung zu setzen. Ein wenig erst, dann mehr, und schließlich geriet der ganze Hang in Bewegung.
Die Sandspinne, deren sechsunddreißig Arme wild umherruderten, wurde von der Düne gefegt, rutschte den Hang hinunter, schoß in einer aufstiebenden Wolke heißen Sandes über den Rand und fiel eine Strecke senkrecht hinab. Ihre magnetisierten Eisen-Zellen beruhigten sich während des Falls, denn die Metallmasse existierte nicht mehr. Die Sandspinne schlug am Fuß der Düne auf; sie war unversehrt und setzte, kaum daß sich ihre Extremitäten, die stammesgeschichtlich gesehen einmal Pfahlwurzeln gewesen waren, entwirrt hatten, den Weg fort. Nach Norden. Zum Wasser. Gab es dort Wasser? Die Sandspinne schien es genau zu wissen. Die phototropischen und hydrotropischen Reaktionen des Turgors ließen sie wandern, trieben sie unabänderlich voran. Langsam streckten sich die Gliedmaßen. Langsam zogen sie sich wieder zusammen. Nahezu geräuschlos wanderte die Sandspinne weiter. Hinter ihr blieb nur eine feine, im Sonnenlicht kaum sichtbare Spur zurück. Der nächste Sturm, der morgen kam oder in einem Mondwechsel, würde diese Spur auslöschen. Schon aus wenigen Metern Entfernung sah man die sechsunddreißig Pseudopodien nicht mehr. Der dunkle Fleck in der Körpermitte und auch die mehr als zweihundert lichtempfindlichen Zellen, Kristallen nicht unähnlich, wurden vom feinen Sandstaub überpudert und machten die Pflanze nahezu unsichtbar. Aber es gab auf dieser Welt ohnehin niemanden, der eine Sandspinne gesucht hätte. Zumindest nicht bewußt. *
Langsam und nahezu geräuschlos bis auf ein Wispern streifender Luftmoleküle hob sich der golden schimmernde Sechshundertmeterriese wieder in den violetten Himmel. Huxley sah der SEKOSUM einen Moment lang nach, dann senkte er den Blick und richtete seine Aufmerksamkeit auf das fremdartige und trotzdem grandiose Bild, das sich vor ihm ausbreitete. Der Traktorstrahl des Nogkschiffes hatte die Transportplattform mit seinen Männern und ihm sowie Charaua mitsamt des nogkschen Rates direkt aus der Kommandozentrale des Ellipsenraumers mitten in das riesige Oval des Heldenparks befördert. Das Raumschiff würde in einiger Entfernung warten, um sie später wieder zurückzubringen. Hier, weit außerhalb der Regentenstadt, hatte man mit der für die Nogk typischen Schnelligkeit binnen kürzester Zeit einen neuen Heldenpark geschaffen, die Entsprechung eines terranischen Friedhofes. Ein riesiges, sich nach oben trichterförmig öffnendes Areal, dessen schräge Wände unzählige Reihen von schmalen Terrassen aufwiesen. Auf diesen Terrassen eine nicht zu überblickende Anzahl der kegelförmigen Monolithe, in denen die Nogk ihre Toten zu bestatten pflegten. Nogk begruben ihre Toten nicht. Verscharrten sie nicht in der Erde wie die Terraner. Statt dessen »konservierten« sie sie in halbtransparenten, knapp vier Meter hohen Kegeln, um sie so der Nachwelt zu erhalten. Und sie ließen sie nicht etwa zurück, wenn es wieder einmal auf die große Reise zu einer neuen Heimat ging, sondern nahmen sie mit. Dafür existierten eigens Schiffe, die nur zu diesem Zweck umgebaut wurden und die Auswandererarchen begleiteten. Totenschiffe! Auf der Erde ein Synonym für etwas Unheimliches, Spukhaftes, das rauhe Seeleute in wimmernde Angsthasen
verwandeln konnte. Bei den Nogk bedeutete der Begriff faktisch das genaue Gegenteil. Huxley erinnerte sich noch gut an Nogk II im TantalSystem, wo er zum erstenmal von Charaua und Mitgliedern des nogkschen Rates mit dieser Art des Totenkultes konfrontiert worden war. Eines Totenkultes, der für die reptilienartigen Wesen weit über die Bedeutsamkeit einer bloßen Religion hinausging und in Wirklichkeit eine tiefgreifende und auf alle Lebensbereiche einflußnehmende Philosophie darstellte, die er noch immer nicht in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen in der Lage war. Dies hier war allerdings keiner der regulären Heldenparks, wie sie jede Stadt besaß und in denen in aller Regel die Einwohner bestattet wurden. Seine Bedeutung ging weit darüber hinaus. In ihm waren all jene Nogk bestattet, die bei der galaktischen Katastrophe ums Leben gekommen waren, als ein in Wirkung und Ausmaß für denkende Wesen unvorstellbarer kosmischer Blitz das Corr-System durchdrungen hatte. Ausgehend vom Zentrum, dem Herz der Milchstraße, hatte es eine Art von weißem Blitz gegeben. Eine – wie sich später herausstellte – aus dem Hyperraum, der fünften Dimension, austretende Energieentladung, die sich konzentrisch wie die Ringe auf einem stillen Gewässer ausbreitete und die gesamte Spiralgalaxis durchlief. Es war eine Erschütterung der Struktur der Milchstraße selbst gewesen, die dort, wo sie auf bewohnte Planeten traf, die gesamte Infrastruktur in ein Chaos verwandelte und jedes denkende Wesen, jede Intelligenz für einen bestimmten Zeitraum in die Dunkelheit hilfloser Ohnmacht versetzte. Das Unheil auf Reet – wie auch auf allen anderen besiedelten Planeten innerhalb der Galaxis – war in Ausmaß und Wirkung mit Worten nicht zu schildern gewesen.
Die das Universum erschütternde Impulsfront hatte sämtliche energieerzeugenden sowie -verbrauchenden Geräte und Systeme durchbrennen lassen. Sie hörten einfach auf zu funktionieren und mußten erst mühsam von Hand wieder aktiviert werden. Glücklicherweise waren die Kraftwerke auf Reet durch intelligente, suprasensorische Sicherheitseinrichtungen und Schutzschaltungen innerhalb einer Zeitspanne, die im Nanosekundenbereich angesiedelt war, vom Netz getrennt worden, so daß es zu keinen größeren Unfällen in diesem hochsensiblen Bereich gekommen war. Die wirklichen Tragödien hatten sich im urbanen Bereich ereignet. Infolge der planetenumspannenden Bewußtlosigkeit aller Lebewesen war es zu wahren Kettenreaktionen an schrecklichen Unfällen mit meist letalem Ausgang gekommen. Die Zahl der tödlich verletzten Nogk auf Reet war Legion gewesen... Huxley ballte kurz die Faust, als er sich an die schrecklichen Szenen erinnerte, die sich nach dem Hyperraumblitz ereignet hatten. Die Nogk selbst hatten sich mit der ihnen eigenen Mentalität erstaunlich rasch von den Nachwirkungen des Desasters erholt. In schier unglaublicher Schnelligkeit und einer Art kollektiver Anstrengung, die stark an die eines Ameisenstaates erinnerte, dessen Bau von einem Räuber vernichtet worden war, hatten sie sich an die Aufräumarbeiten begeben. Ganz Reet war dabei in die Pflicht genommen worden, um die Schäden zu beseitigen. Jetzt war die Zeit des Abschieds gekommen. Des Abschieds von all denen, die ihr Leben bei dem noch immer nicht rational zu erfassenden Unglück gelassen hatten. »Seid ihr bereit?« Charaua hatte sich halb umgewandt und richtete die Sinnesorgane seines libellenähnlichen Kopfes auf die Gruppe der Terraner, die, in Galauniformen gekleidet, hinter ihrem
Kommandanten standen. Huxley gab sich einen Ruck. Seine hochgewachsene Gestalt straffte sich. »Wir sind es«, erwiderte er ernst und mit Nachdruck. »Dann wollen wir beginnen!« Die Ratsmitglieder in ihren einheitlichen, dunkelgrauen, als einzigem Schmuck mit den irisierenden Streifen der Trauer versehenen Gewändern setzten sich in Bewegung. Charaua als Primus inter pares, als Erster unter Gleichen, in ihrer Mitte. Auch er, der Würde des Anlasses entsprechend, nicht in der gewohnten goldfarbenen Uniform des Staatsoberhauptes, des Herrschers aller Nogk, sondern ein Trauernder unter Trauernden. Gemessenen Schrittes verließen sie die Transportplattform und betraten den sonnendurchglühten Boden des Heldenparks. Huxley und seine Männer folgten ihnen. Ihre Stiefel versanken im weichen Sand. Die Sonne, fast im Zenit stehend, glühte erbarmungslos aus einem violettstichigen Himmel herab. Es war unheimlich still im Innern des gewaltigen Ovals mit seinen trichterförmig auseinanderstrebenden Wänden; auch der Wind, ansonsten auf Reet ständig präsent, schien diesen Ort zu meiden, ihm seinen Respekt zu bezeugen, war er doch hin und wieder lediglich als schwaches Flüstern zu vernehmen. Aber das hatte nichts Übernatürliches an sich, sondern lag mehr daran, daß der Heldenpark im weiten Umfang von einer nach oben hin offenen energetischen Barriere geschützt wurde, die das Eindringen von Flugsand verhinderte und auch alle Umweltgeräusche mehr oder weniger stark dämpfte – je nachdem, welchen Grad an Empfindlichkeit die Steuereinheiten der dafür verantwortlichen Sensoren aufwiesen. Die unüberschaubare Menge der Nogk bildete ein schweigendes Spalier bis zum Mittelpunkt des Ovals. Eine
Gasse, durch die Charaua, die Ratsmitglieder und die terranische Ehrenabordnung unter der Führung Huxleys auf den mächtigen Quader zuschritten. Es handelte sich um einen jener großen Steinblöcke, wie sie die Nogk schon immer benutzt hatten, um in ihren Städten besondere Punkte zu markieren. Huxley waren diese Quader schon im System der Sonne Charr aufgefallen. Dort allerdings befanden sie sich immer an den höchsten Stellen der Ringmauern, die die Perimeter der Städte bildeten und wo auch die letzten Strahlen der versinkenden Sonne sie erreichen konnten. Dieser hier befand sich hingegen auf dem tiefsten Punkt des Heldenparks. Huxley nahm sich vor, Charaua bei Gelegenheit über die Bedeutung der Wahl dieses Standortes zu befragen. Kurz bevor Charaua die Basis des Quaders erreichte, bildete sich vor ihm ein grünliches, langsam pulsierendes Gleitfeld, das ihn schräg empor auf das vollkommen leere Karree trug. Dort angekommen, wartete er noch wenige Sekunden, bis wirklich völlige Ruhe eingekehrt war. Dann hob er beide Arme. Im gleichen Augenblick umfloß ihn eine langsam pulsierende, rötliche Helligkeit, während sich auf seiner Brust ein leuchtendes Emblem ausbildete. Eine scharf gezeichnete Ellipse in hartem Violett, in deren Brennpunkten zwei winzige, schillernde Kugeln rotierten. Ein Kontaktfeld, das ihn einerseits als zum Rat gehörend kennzeichnete und andererseits auch als Translator fungierte. Frederic Huxley verstand die Geste. So konnten seine Männer die Zeremonie mitverfolgen, ohne die sonst üblichen eiförmigen Translatoren tragen zu müssen. Er selbst besaß ebenfalls ein derartiges Emblem, seit man es ihm damals im Tantal-System in die Brust implantiert hatte, als er in den Rat der Nogk aufgenommen worden war. »WIR SIND HIER ZUSAMMENGEKOMMEN«, erhob sich Charauas Stimme in einem getragenen Ton weithin durch das
Oval, »UM UNSEREN TOTEN DIE LETZTE EHRE ZU ERWEISEN.« Huxley wußte, daß die Worte des Herrschers der Nogk zeitgleich auch in den Heldenparks aller anderen Städte und Siedlungen auf Reet übertragen wurde. »ES IST EIN SCHÖNER ORT. WÜRDIG ALL DENEN, DIE EINEM UNFASSBAREN EREIGNIS ZUM OPFER GEFALLEN SIND, DAS WIR NICHT VERHINDERN KONNTEN...« Gleichzeitig mit Charauas Worten spannte sich eine energetische Glocke über den Heldenpark. Die Sonne wurde zu einem diffusen, verwaschenen und eigentümlich gefärbten Rund. Auf der Innenseite des Energiefeldes manifestierte sich ein riesiges Hologramm. Huxley und seine Männer standen stocksteif da, als sie erkannten, was da weit über ihren Köpfen ablief. Wie gebannt starrten sie auf die Bilder. In einer Abfolge von kurzen Sequenzen zeigte eine unbegreifliche Technik in einer Art von Multimedia-Show Ausschnitte aus dem Exodus des nogkschen Volkes. Die galaktische Vertreibung. Nicht nur durch übermächtige Feinde, viel häufiger auch wegen einschneidender Veränderungen der Umwelt- und Lebensbedingungen. Nogk waren strahlungsabhängige Mutanten und dadurch auf einen bestimmten Typus von Sonne angewiesen. Aber – diese Abhängigkeit war auch gleichzeitig ihre Crux, das Dilemma ihres Seins: Entartete, veränderte sich die Sonne ihrer jeweiligen Heimat, mußten sie weiterziehen, wollten sie nicht untergehen. Huxley waren bereits große Teile ihrer Vergangenheit bekannt, die in gewisser Weise – wenn auch in unvergleichlich größerem, weil galaktischem Ausmaß – Parallelen zu einem kleinen Volksstamm aus der Frühgeschichte der Erde bot. Aber
vieles war ihm noch immer verborgen, und er bezweifelte, ob er die Geschichte der Nogk je in ihrer Gesamtheit würde kennenlernen und erfassen können. Während Charaua seine Totenrede hielt und jedes Individuum ihr lauschte, drangen die symbolhaften Bilder der nogkschen Odyssee auf Huxley und seine Männer ein. Mehrmals in ihrer äonenlangen Geschichte hatten die Nogk eine Heimat aufgeben und eine andere suchen müssen. Immer von der Hoffnung beseelt, eine Heimstatt auf Dauer zu finden. Charr war eine derartige Heimat auf Zeit. Als die Menschheit ihnen zum ersten Mal begegnete, lebten sie auf den Planeten der roten Riesensonne. Dann kam die Katastrophe, als Charr, ein Stern der Spektralklasse K2, zu einer gefährlichen und unberechenbaren Variablen wurde und seine Strahlen für die Nogk zur tödlichen Falle zu werden drohten, der sie sich nur durch eine überstürzte Flucht entziehen konnten. Für eine Weile machten sie Zwischenstation auf Ginok, einem für ihre Verhältnisse lebensfeindlichen Planeten. Ein unsäglicher Notbehelf, auf den sie erst verzichten konnten, als sie unter dem Licht der blaugrünen Sonne Tantal eine neue Bleibe fanden. Ein Sonnentypus, dessen Spektrum diametral zu dem ihrer alten Sonne stand und der auch für die terranischen Wissenschaftler noch immer ein Rätsel war, weil es sich bei Tantal um etwas handelte, was es im bekannten Universum nicht noch einmal gab. Tantal war zudem die einzige Sonne in einem Radius von etwa hundert Lichtjahren im Halo der Milchstraße, auf der Andromeda abgewandten Seite der Galaxis. Aber auch in diesem System war ihnen keine Bleibe auf Dauer gegönnt, als die schattenhaften Invasoren auftauchten und sie in einen aussichtslosen Kampf verwickelten. Dieser Krieg zwang sie, nach Nogk I zu übersiedeln, der Tantal in einem derart geringen Abstand umlief, daß jeder Aufenthalt auf seiner Oberfläche so gut wie unmöglich war.
Und schließlich ihre abermalige Flucht vor den Schatten und den ständigen Magnetstürmen zur Sonne Corr, dem Sechzehnplanetensystem am entgegengesetzten Ende der Milchstraße. In der Grauen Zone zwischen ihr und der Andromeda-Galaxis gelegen, jener fernen Sterneninsel, die sie immer wieder versuchten zu erreichen, wobei sie doch nie ans Ziel kamen, weil es ihnen unmöglich war, das Exspect zu durchqueren. Corr war der vorläufige Schlußpunkt ihrer ewigen, ahasverischen Wanderschaft. »... UND UNSERE LEBENSSPENDERIN WIRD SIE JEDEN TAG WÄRMEN UND BEHÜTEN, BIS EINES FERNEN ZEITPUNKTES SICH IHRE KEGEL AUFLÖSEN UND SIE WIEDER FREIGEBEN, IHNEN DEN WEG ZEIGEN WERDEN IN JENE ANDERE SEINSEBENE, DER UNSERE GANZE SUCHE GILT...« Charaua endete. Die Hologramme wurden deaktiviert. Die Energieglocke verschwand. Trotzdem blieb der NogkRegent mit emporgereckten Armen im nun wieder gleißenden Sonnenlicht stehen. Für die Dauer eines Pulsschlages schien Reet den Atem anzuhalten. Dann ertönten tiefe, langhallende Gongschläge aus unsichtbaren Audiofeldern, die die Luft zum Schwingen brachten. Die Trommeln der Helden. Und noch während sie erklangen, erhoben die Massen der Nogk ebenfalls die Arme. Ihre Facettenaugen starrten in den Himmel und darüber hinaus. Ihre Fühler richteten sich auf. Ihre mandibelartigen Beißwerkzeuge öffneten sich, und ein Summen ertönte wie von Heerscharen von Insekten. Es schwoll an, verebbte. Schwoll wieder an. Ein Singsang, wie ihn Frederic Huxley bei seinen Freunden noch nie gehört hatte. Aber er wußte, was er bedeutete: Seine durch das Emblem
fast telepathisch zu nennende Verbindung zu den Nogk ließ ihn erkennen, was dieses Summen zu bedeuten hatte: Es war die Totenklage. Der Heldengesang. * Der letzte Ton des Requiems war verklungen. Die Massen der Nogk, die ihren Verstorbenen das letzte Geleit gegeben hatten, verließen in wohlgeordneten Reihen den Ort der Ruhe. Die SEKOSUM erschien. Der Traktorstrahl der golden schimmernden Ellipse zog die Transportplattform mitsamt ihrer Fracht wieder ins Innere. Das Schiff nahm mit unhörbar arbeitenden Triebwerken Fahrt auf und richtete den Bugbereich auf die Hauptstadt. * Wenig später... Die Raumüberwachungszentrale von Reet war bis in den letzten Winkel vollgepackt mit elektronischen Anlagen, Holoschirmen und Sichtsphären. In dem weitläufigen, von diffusem Licht durchfluteten Raum drängten sich die Meegs. Die nogkschen Techniker und Wissenschaftler saßen wie üblich vor den Instrumentenkonsolen der Raumüberwachung. Ihre Aufmerksamkeit galt dabei vor allem der großen Allsichtsphäre, in der sich als dreidimensionale Manifestation ein kugelförmiger Raumabschnitt langsam um eine imaginäre, leicht geneigte Achse drehte. Die darin eingelagerte, isometrische Perspektive der Gitterebene konnte man zoomen, drehen, kippen und von unten betrachten. Sie wurde von unterschiedlich langen, rot und grün leuchtenden Balken durchdrungen, an deren Endpunkte der gewaltige
Rechnerverbund, der allein imstande war, diese Aufgabe zu erfüllen, fortwährend Zahlen und Bildsymbole generierte: Angaben über Entfernungen und räumliche Lage von Planetoiden, Asteroiden, Weltraumtrümmern, die die Systemverteidigung der Nogk bis hinunter zu einer Größe von mehreren Quadratzoll erfaßte. Die Kugel war der die Sonne Corr umgebende Raum bis in eine Tiefe von mehreren hundert Lichtjahren. Innerhalb des Bereiches erstreckte sich eine zweite, kleinere Kugelschale, bestehend aus grün leuchtenden Punkten, um das Corr-System: die Externverteidigung des Nogk-Imperiums, das längst nicht mehr seine alte Größe besaß. Sie bestand aus einer Armada nogkscher Kampfschiffe, die, weit draußen um das Corr-System stationiert, hinter der Deckung ihrer Unsichtbarkeitsfelder verborgen, permanent den Weltraum überwachten und jedes anfliegende Objekt sofort der Defensivzentrale meldeten. Die isometrische Darstellung rings um die Planetenebene war in ständiger Bewegung. Auf korrespondierenden Sichtsphären erschienen in rascher Folge Datenzeilen, flimmerten Zahlenkolonnen. In der Tiefe der Raumverteidigungs- und überwachungsanlage liefen in den Maschinenebenen die Konverterbänke der Systemverteidigung ständig im Alarmmodus. Gefechtsbereit waren auch die gestaffelten Batterien der Strahlengeschütze in den Flanken des gewaltigen Pyramidenbaues, in dem die Defensivzentrale versteckt lag. Die Taktikcomputer in den Waffenkuppeln mit ihren hyperschnellen Ortungs- und Zielerfassungsscannern waren über den Rechnerverbund direkt zum Hauptterminal der Zentrale geschaltet. Kein fremdes Raumschiff würde in das System einfliegen können, mochte es noch so schnell und nahe aus dem Hyperraum auftauchen. Für sämtliche anderen Anlagen auf Reet herrschte die gleiche Alarmbereitschaft. Ein Signal lärmte; einer der Techniker wandte sich an den
Senior-Meeg. »Da geht etwas Merkwürdiges vor!« »Was gibt es?« »Ich habe im Raumgitter –«, der nogksche Tech nannte die Codebezeichnung und die Entfernung, »– eine ungewöhnlich starke Energieemission registriert.« »Läßt sich der Grund feststellen?« fragte der Meeg, der eben die Codebezeichnung des Raumgitters und die Entfernungsangaben in Korrelation zu seinem Wissen gebracht und alarmiert erkannt hatte, daß das von seinem Techniker festgestellte Phänomen sich weit draußen im Exspect abspielte. Jenseits der imaginären Grenze, bis zu der die Nogk relativ gefahrlos in Richtung Andromeda vorzudringen vermochten. »Das Exspect scheint an den ermittelten Koordinaten eine wesentlich stärkere, energieabsaugende Wirkung zu besitzen, die sich in eine ganz bestimmte Richtung hin erstreckt. Die Feldmessungen lassen keinen anderen Schluß zu.« Der Meeg winkte einen anderen Techniker heran. »Informiere den Rat und den Regenten – oder unseren terranischen Freund Huxley oder alle zusammen. Schnell!« ordnete er an. * Neunzig Minuten später... Der Hangar glich einer gewaltigen Höhle. Die riesige Halle faßte zehn der nogkschen Ellipsenraumer gleichzeitig; jetzt standen allerdings nur vier Kampfschiffe auf den deutlich gekennzeichneten kreisförmigen Hebebühnen von der Größe terranischer Sportfelder. Die Nummer 10 wurde von Huxleys CHARR beansprucht. Der Einsatzraum der Startkontrolle hing wie ein überdimensionales Vogelnest zweihundert Meter über dem Hallenboden. Huxley stand auf der Backbordseite der Empore
mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor der Panoramascheibe und überblickte das Geschehen weit unter ihm. Von seinem Platz aus konnte er viele Vorgänge auf den abgesenkten Hebebühnen beobachten. Drüben, auf der rechten Seite der Halle, von starken Scheinwerferbatterien zusätzlich beleuchtet, arbeitete ein Trupp Wartungsroboter auf einer hoch über dem Hallenboden schwebenden Montageplattform an einem Raumschiff. Ein großes Stück der Wandung war entfernt worden und hing an einem A-Gravkran in der Luft. Im Hintergrund, verborgen fast vom gewaltigen Leib der SEKOSUM, konnte er einen Teil der Wandung der CHARR erkennen. »Diese Anomalie im Exspect, von der du mir berichtet hast, Charaua, dabei handelt es sich mit Sicherheit um kein natürliches Phänomen?« fragte jetzt Huxley, wandte sich von dem Schauspiel ab und der Gruppe Meegs zu, die hinter ihm in den Formsesseln saßen. »Nein«, erwiderte der Senior-Meeg, der die Aufsicht über die Raumüberwachungszentrale hatte, und schüttelte den Kopf. Eine Geste, die er im Laufe der Zeit von den Terranern angenommen hatte, wie so viele andere Kleinigkeiten in der umgangssprachlichen Kommunikation zwischen seinem und dem terranischen Volk. »Die Feldmessungen legen den Schluß nahe, daß es sich nicht um ein natürliches Phänomen handelt, was immer du unter dem Begriff natürlich verstehst«, drängten sich seine bildhaften Impulse in Huxleys Bewußtsein. »Du verstehst also meine Bitte, Freund Huxley?« Huxley drehte sich zu Charaua um und sah sich von dessen dunklen Facettenaugen fixiert. »Ja. Ich bin mir sicher, dich zu verstehen«, erwiderte er und nickte. Er wußte um das fast manisch zu nennende Verlangen der Nogk, sich in eine andere Galaxis zurückzuziehen. Fern von all den Schatten ihrer Vergangenheit – und den Schatten der Neuzeit, den Grakos! Und er hatte ihre vergeblichen
Versuche, mit ihren Raumschiffen den Halo der Milchstraße endgültig zu verlassen, miterlebt. Nur waren ihre Antriebe, ihre Einrichtungen und wohl auch sie selbst nicht dazu geschaffen, sie vor dem zu schützen, was sich im Leerraum zwischen der Milchstraße und der Andromeda-Galaxis erstreckte: dem Exspect. »Dann wirst du mich auch verstehen«, erreichten ihn Charauas Impulse, »wenn ich dich inständig bitte, mit der CHARR dieses Phänomen, diese Anomalie, wie du sie bezeichnet hast, zu untersuchen.« »Nun, diesen Teil deiner Bitte kann ich durchaus verstehen«, versetzte Huxley und tauschte einen gedankenschnellen Blick mit Lee Prewitt, »und bin auch gewillt, ihn in die Tat umzusetzen. Keine Frage. Es ist der zweite Teil deines Wunsches, der mir Kopfzerbrechen bereitet.« Charaua begann sekundenlang mit den Fühlern zu pendeln; Offenbar wechselte er mit Tantal einige Impulse, die Huxley nicht verstand. Tantal war kleiner als normale Nogk und kobaltblau. Er hatte seinen Namen nach der Sonne gewählt, unter der er geboren wurde. Er und seine jungen Artgenossen waren nicht strahlungsabhängig wie die anderen Nogk. »Was stört dich daran, Tantal und fünf von seiner Art mit an Bord zu nehmen?« erkundigte er sich auf die semitelepatische Weise seiner Spezies. »Wenn du das nicht weißt!« Huxley fuhr sich mit den Händen durch sein schon seit vielen Jahren ergrautes Haar, das aber nichts mit seiner physischen Verfassung zu tun hatte. Nach wie vor unterzog sich der Colonel einem harten Konditionstraining, von dem seine Männer an Bord der CHARR so manches Liedchen singen konnten. »Hast du vergessen, daß ich schon einmal erlebt habe, was mit Nogk geschieht, die zu weit in das Exspect eindringen?« Ohne sein Zutun drängten sich Bilder in Huxleys
Bewußtsein. Erstanden die Szenen vor seinem inneren Auge, als er zusammen mit Colonel Clark in dessen Raumschiff, der EUROPA, vom System Corr aus in das Exspect eingedrungen war. Auf der Suche nach den drei verschollenen Nogkraumern, die ebenfalls in das Exspect eingedrungen waren, um eine Passage zur Andromeda-Galaxis zu finden. Auch damals hatte er einer Bitte Charauas Folge geleistet. Sechs Meegs hatten sie damals begleitet. Sechs nogksche Wissenschaftler, die wußten, was sie unter Umständen erwartete. Und die es trotzdem riskiert hatten. Sie hatten die Spur der verschollenen Raumschiffe aufgespürt. Aber als das erste Schiff auf den Schirmen aufgetaucht war, waren die Meegs an Bord der EUROPA gestorben, waren zu Staub zerfallen. Genauso wie jener alte, weise Meeg auf Nogk II, der ihn so inständig gebeten hatte, Charaua unter allen Umständen davon zurückzuhalten, sich mitsamt seinem Volk auf die Reise nach Andromeda zu begeben. Hätte er damals keinen Erfolg gehabt – vom Volk der Nogk wäre nicht mehr übriggeblieben als eine riesige Armada Geisterschiffe ohne Besatzungen, irgendwo im Leerraum treibend. Und jetzt wünschte Charaua, nein verlangte fast, daß er wieder Nogk mit an Bord nehmen sollte! Huxley schüttelte entschieden den Kopf. »Kein guter Gedanke«, sagte er abwehrend schroff. Schroffer als beabsichtigt. Aber er hatte nicht vor, sich für den Tod der kobaltblauen Nogk vor Charaua rechtfertigen zu müssen. Tantals Fühler spielten unruhig hin und her, die einzige Gefühlsregung, die ein Außenstehender einem Nogk überhaupt anzusehen vermochte. Die starren Facettenaugen vermittelten nicht den geringsten Hinweis auf das Seelenleben ihrer Besitzer – zumindest nicht für Menschen. Und aus dem Insektenantlitz mit den mandibelartigen Beißwerkzeugen irgendeine Regung herauszulesen, war ebenfalls illusorisch.
Die nogksche Mimik war in der kurzen Spanne ihres gemeinsamen Weges für die Erdenbewohner nach wie vor ein Buch mit nicht nur sieben Siegeln... »Warum nicht?« erreichten seine fragenden, erstaunten Impulse den hochgewachsenen Terraner, den er aber trotzdem noch um mehr als einen Kopf überragte, und übernahm dabei wie selbstverständlich die Führung des Gesprächs. Ohne von Charaua dazu aufgefordert worden zu sein, wunderte sich Huxley einen Atemzug lang. Aber vielleicht ist das schon das sichtbare Zeichen jener tiefgreifenden Umgestaltung des nogkschen Volkes, dachte er, von der Charaua ihm berichtet hatte. Vor gar nicht so langer Zeit erst hatte er seinem Freund Huxley gegenüber seine Besorgnis dargelegt, daß er das Gefühl habe, er und die Nogk seiner Generation würden vermutlich in nicht allzuferner Zeit von den Kobaltblauen abgelöst werden. Huxley hatte das als übertrieben abgetan. Nun nagten doch erste Zweifel an ihm... »Hält es der Terraner Huxley nicht für nötig, auf meine Frage zu antworten?« projizierte der kobaltblaue Nogk seine mentalen, bildhaften Impulse in Huxleys Kopf. Charauas Mandibeln erzeugten eine scharfes Rascheln. »Komm zur Vernunft, Heißsporn«, tadelte er. »Du vergißt, daß du ein Mitglied des Rates vor dir hast.« Huxley machte eine beschwichtigende Handbewegung in Richtung des Herrschers des Nogk-Imperiums. »Ich werde dir selbstverständlich antworten, Tantal«, erwiderte er ohne Verstimmung. »Meine Ablehnung entspringt nur meiner Sorge um das Wohlergehen von dir und den anderen fünf Nogk deiner Art.« Er antwortete verbal. Sein Translator-Implantat formte seine Worte zeitgleich in die mentale Bildsprache der Nogk um. »Ich habe schon einmal aus eigener Anschauung erlebt«, fuhr er fort, »wie gefährlich die Strahlung des Exspect für euch Nogk ist. Ich möchte
vermeiden, daß es dir und deinen Begleitern ebenso ergeht.« »Verzeih mir meine kleine Unbedachtheit«, gestand Tantal. Seinen mentalen Impulsen war nicht zu entnehmen, ob er zerknirscht war oder es mehr ironisch meinte. Huxley glaubte im Laufe seines Kontaktes mit dem Volk der Echsenabkömmlinge herausgefunden zu haben, daß die Nogk weder Ironie noch Lüge noch Verschlagenheit kannten. Er hoffte nur, daß die Kobaltblauen seine Hoffnung nicht irgendwann einmal ad absurdum führten. Tantal fuhr fort: »Ich hätte daran denken müssen. Aber ich kann dich beruhigen, deine Bedenken zerstreuen. Du mußt dir keine Sorgen um unser Wohlergehen machen, Terraner Huxley. Ich habe schon des öfteren Charaua gegenüber betont, daß wir Nogk –«, er betonte das wir auf eine Weise, daß er explizit das Bild der Kobaltblauen in Huxley und den anderen entstehen ließ, »– unempfindlich gegenüber der für die anderen Nogk gefährlichen Strahlung sind. Das Exspect kann uns nichts anhaben.« »Trotzdem«, warnte Huxley, »dürfte durchaus ein gewisses Restrisiko bestehen.« »Die Expedition zur Erforschung der Anomalität im Exspect wird das geeignete Mittel sein, dies herauszufinden«, beharrte Tantal. »Laß uns teilnehmen, und du wirst es erfahren.« »Dann soll es so sein«, erwiderte Huxley. »Ich danke dir«, teilte ihm Charaua in der mentalen Bildersprache seiner Rasse mit. »Keine Ursache«, antwortete Huxley mechanisch. Er tat es verbal, da er sich auf sein Translator-Implantat verlassen konnte. Und dann erinnerte er sich daran, daß ihn Dhark vor seiner Abreise aus dem Corr-System gebeten hatte, sich um den Fortschritt der Entwicklung in Bezug auf eine Abschirmmöglichkeit gegen die enormen hypnosuggestiven Kräfte der Shirs zu kümmern, der sie während ihrer Expedition nach Drakhon ausgesetzt gewesen waren.
»... wir haben sie nicht vergessen«, zerstreute Charaua mit vibrierenden Fühlern die Befürchtungen des Colonels, »falls du das denken solltest, Freund Huxley. Die Arbeiten stehen bereits unmittelbar vor dem Abschluß. Allerdings werden wir von uns aus nicht aktiv in Kontakt mit der Milchstraße und dem Commander der Planeten treten. Die Gefahr ist zu groß, daß die Schatten auf uns aufmerksam werden könnten. Deshalb werden wir auf Ren Dharks Rückkehr nach Corr warten, um ihm die Para-Abschirmungen zu übergeben. Ich denke, er wird diese Lösung akzeptieren.« »Mit Sicherheit«, versetzte Huxley. »Mit Sicherheit...«
3. Wachsam und voller Mißtrauen näherte sich der sechsköpfige Kundschaftertrupp der Burg. Die Männer hatten ihre Schwerter gezückt und waren auf alles gefaßt. Da jeden Moment mit einem Pfeilhagel zu rechnen war, schützten sie ihre schuppigen Körper mit Rüstung und Schild. Auf jedem Schild prangte das Wappen ihres grausamen Anführers Grote ut Verholen: eine abgeschlagene blutige Hand, deren sechs Finger sich im Todeskampf verkrampften. Grote, der sich selbst »Schrecken der Berge und Täler« nannte (und von seinen Feinden als »Schlächter Grote« bezeichnet wurde, weil er seine Gegner bei Zweikämpfen regelrecht zerlegte), belagerte die Burg seit mehreren großen Zeiteinheiten. Sein ursprüngliches Ziel, die Burgbewohner auszuhungern und sie gegen ihren Herrscher Barnuk ut Keltris aufzubringen, hatte er inzwischen als gescheitert erklärt. Offensichtlich waren die Vorratskammern der Belagerten bis unters Dach gefüllt. Grote ut Verholen war jetzt wild entschlossen, aufs Ganze zu gehen. Er hatte sein Söldnerheer durch zusätzliche Mannen verstärkt. Außerdem hatte er riesige Katapulte bauen lassen, mit denen er die Mauern zum Einsturz bringen wollte. Weil eine zerstörte Burg als Kriegsbeute nicht mehr viel wert war, hatte am Vorabend ein Parlamentarier des machtgierigen Aggressors den Eingeschlossenen ein letztes Ultimatum überbracht. Obwohl es seit Sonnenaufgang abgelaufen war, hatte sich noch kein einziger Burgbewohner zur Waffenabgabe vor den Mauern eingefunden. Statt dessen war irgendwann in der Nacht die Zugbrücke heruntergelassen worden. Und man hatte die Wachen oben an den Mauern und an allen Fenstern abgezogen. Gab Barnuk ut
Keltris dadurch seinem Widersacher zu verstehen, daß er seine Unterwerfung akzeptierte? Oder wollte der abgefeimte Stratege den Feind lediglich in eine Falle locken? Aus sicherer Entfernung beobachtete Grote, wie die sechs Kundschafter den steil aufwärts führenden Weg zur Burg erklommen, die Zugbrücke überquerten und den Burghof betraten. Er schwieg, sein lippenloser Mund war fest verschlossen – in diesem Zustand wirkte er wie eine gezeichnete Doppellinie, zwei Parallelen in einem nasenlosen Gesicht. Walfen öffneten ihre Münder nur zum Sprechen und zur Nahrungsaufnahme, selten zum Atmen. Sauerstoff bezog ihr Körper überwiegend durch die beiden Atemspalten oben auf dem Scheitel, der von einem kleinen Knochenkamm geteilt wurde. Grote war überzeugt, keinen der Kundschafter lebend wiederzusehen. Seine Söldnerarmee stand bereit. Der Teer für die Brandpfeile kochte. Die Katapulte waren geladen und gespannt. Das Signal zur Erstürmung war nur noch eine Frage der Zeit. Zu Grotes Überraschung kehrten die Kundschafter nach einer angemessenen Wartezeit unversehrt wieder zurück. »Wir haben die Burg vom Keller bis zum Dachboden durchsucht«, erstattete ihm einer der Männer Bericht. »Sie ist leer. Die Feiglinge müssen im Schutz der Dunkelheit das Weite gesucht haben.« »Unmöglich«, meinte Grote. »Es wäre ihnen niemals gelungen, sich an unseren Zeltlagern vorbeizuschleichen.« Er kratzte sich nachdenklich am Kamm. »Es sei denn, die feige Brut hat sich unter der Erde auf und davon gemacht. Ja, so muß es sein! Ich verwette mein Kettenhemd, daß unter der Burg ein geheimer Tunnel existiert, den Bartok und seine Anhänger für ihre Flucht genutzt haben. Durch den selben Geheimgang haben sie sich in den vergangenen Wochen heimlich neue Vorräte beschafft.«
»Stürmen wir die Burg?« fragte ihn sein Hauptmann. »Stürmen?« wiederholte Grote ut Verholen belustigt. »Wozu die Hektik? Wir spazieren gemütlich hinein und machen uns überall breit. Über Barnuk ut Keltris werden die Geschichtsschreiber richten. Man wird ihn einen Maulwurf nennen, der sich unter der Erde verkroch, statt Besitz und Leben ehrenvoll zu verteidigen.« Wenig später zog das Söldnerheer in die leere Burg ein. An den Katapulten waren mehrere Wachtrupps zurückgeblieben, für den Fall, daß die Geflohenen versuchen würden, sich von hinten anzuschleichen und sich der gewaltigen Steinschleudern zu bemächtigen. Am späten Nachmittag glaubte niemand mehr ernsthaft an eine Rückkehr der Burgbewohner. Die Söldner hatten inzwischen die Vorratskammern geplündert und ließen es sich gutgehen. Sie fraßen und soffen wie die Porkusils, bis ihnen der Alkohol das Gehirn vernebelte. Mehrmals kam es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Grote mischte sich nie ein, ließ seine Männer gewähren. Pack schlug sich, Pack vertrug sich. Am späten Abend befahl er seinen Hauptmann zu sich. »Sei gegrüßt! Im Tal liegt ein abgeschiedenes Dorf namens Legran«, teilte er ihm mit. »Ein piefiges verschlafenes Nest, das geradezu danach schreit, niedergebrannt und ausgeplündert zu werden. Wir werden im Morgengrauen nach dorthin aufbrechen. Den Männern steht ein Fußmarsch von einer kleinen Zeiteinheit bevor, laß sie das wissen.« »Muß das sein?« knurrte der Hauptmann. »Uns geht es hier prächtig! Nach den Strapazen der Belagerung sollten wir uns ein paar große Zeiteinheiten Ruhe gönnen. Wenn die Männer hören, daß wir die eroberte Burg gleich wieder räumen, riskieren wir einen Aufstand. Was gibt es in dem Dörfchen schon groß zu holen?« »Ich habe nicht die Absicht, die Burg zu räumen«, erwiderte
Grote und grinste. »Ganz im Gegenteil. Dieses Domizil wird mein künftiger Wohnsitz.« »Du willst seßhaft werden? Du – ein ut Verholen?« »So ist es! Ich habe dieses Leben auf der Flucht endgültig satt. Raubzüge kann man auch von einem festen Unterschlupf aus durchführen. Barnuks Burg am Hang des Kalamun ist geradezu geschaffen dafür. In Zukunft nenne ich mich Grote ut Keltris. – Daß wir unseren Sieg über Barnuk an Ort und Stelle ausgiebig feiern, versteht sich von selbst. Doch was wäre eine Siegesfeier ohne Frauen?« Der Hauptmann begriff. »Frauen. Das ist es also, was es in Legran zu holen gibt!« Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht vom bevorstehenden Plünderungsfeldzug unter den Söldnern und löste überall Begeisterung aus. Nichtsdestotrotz machten die meisten der fröhlichen Zecher die Nacht zum Tag. Erst nach und nach fielen die Männer in Schlaf, manch einer dort, wo er gerade saß. Der viele Alkohol führte zu gefährlicher Unbekümmertheit. Selbst die abgestellten Wachen versahen ihren Dienst nur lax. Keiner witterte die drohende Gefahr, die innerhalb der Burgmauern lauerte. * Als Barnuk ut Keltris und seine Soldaten zuschlugen, trafen sie kaum auf Widerstand. Wie Irrwische fegten sie mit gezückten Schwertern durch die Burg – und der Tod hielt reichlich Ernte. Hier und da kam es zu kurzen Zweikämpfen, die mit unerbittlicher Härte ausgeführt wurden. Grotes Männer hatten keine Chance. Das Überraschungsmoment war auf der Seite von Barnuks Leuten, die überall dort auftauchten, wo man sie am wenigsten erwartete. Ein Burgbesetzer nach dem anderen
fiel den Waffen der Angreifer zum Opfer. »Schlächter Grote« wehrte sich mit dem Mut der Verzweiflung und mit dem Rücken zur Wand. Sein unkonventioneller Schwertkampfstil war vergleichbar mit einem tobenden, das Schlachtbeil schwingenden Metzger, der im Schnellverfahren Porkusils und Bovinias filetierte. Erst als ihm ein erfahrener Fechtmeister die rechte Hand mitsamt der todbringenden Waffe abschlug, konnte er überwältigt werden – und selbst das kostete noch zwei kräftige Männer das Leben. Grote schlug ihnen mit der linken Faust die Schädel ein, als bestünden sie aus lockerem Sandstein. Wer nicht gleich getötet wurde, den nahm man gefangen und sperrte ihn in eine dunkle Kerkerzelle. Am nächsten Tag wurden alle Gefangenen vor ein Schnellgericht gestellt und gnadenlos abgeurteilt. Die Strafe war immer die gleiche: Tod durch Erhängen am Galgen. Die Aufgabe, Grote ut Verholen den Strick um den Hals zu legen, übernahm Barnuk ut Keltris höchstpersönlich. Anschließend ließ er den Anführer der Mordbrenner ins höchstgelegene Turmzimmer bringen. Dort wurde das freie Ende des Stricks um einen stabilen Balken gebunden. Mehrere Soldaten packten den gefürchteten Mann und warfen ihn aus dem Fenster. Barnuk schaute von unten her mit regloser Miene zu. * »Widerlich!« Aris Laprek schaltete den Heimbildschirm aus. Der angesehene Literaturkritiker fühlte sich nicht gut, seine Wangen hatten eine aschgraue Färbung angenommen. Normalerweise schimmerten sie grünlich-blau, so wie die Schuppen, die seine ganze Haut bedeckten. Doch nun zeigten sie unverkennbar den Grad seines Unwohlseins an.
Walfen konnten sich kaum verstellen. Wurden sie verlegen, nahm ihr Gesicht einen Goldton an. Freude erzeugte einen hellbraunen Schimmer, Müdigkeit eine rosa Färbung. Nur die Farbe des Zorns kannten sie nicht. Nicht mehr. Zu früheren Zeiten war das noch anders gewesen. Damals galt das Recht des Stärkeren, und Konflikte wurden meist mit Gewalt ausgetragen. »Nicht zu glauben, daß auf unserem friedfertigen Planeten einstmals derart primitive Verhältnisse geherrscht haben sollen«, bemerkte Aris' Bruder Ugur Laprek kopfschüttelnd. Als Künstler – er zeichnete und dichtete – war er besonders empfindsam. »Ich schlage vor, daß wir bei unseren künftigen Klubtreffen auf brutale Filmvorführungen dieser Art verzichten. Mir ist speiübel.« »Mir auch«, bekannte Monik Vegra, die einzige Frau in der Viererrunde – eine muskulöse Schönheit sondergleichen. »Doch da müssen wir durch. Schließlich schauen wir uns die geschichtlichen Ereignisse zu Lernzwecken an.« »Das sehe ich genauso«, pflichtete ihr Danog ut Keltris bei. »Die Walfheit hat sich in der Vergangenheit nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Das liegt zwar mehr als dreihundert ÜberZeiteinheiten zurück, dennoch wäre es verkehrt, vor diesem düsteren Kapitel unserer Geschichte die Augen zu verschließen. Glücklicherweise haben die Walfen inzwischen dazugelernt und eingesehen, daß sinnlose Gewalt lediglich sinnlose Gegengewalt erzeugt. Die Spirale des Grauens wurde von unseren Vorfahren zum Stillstand gebracht – zu unser aller Wohl und Wohlstand.« Danog ut Keltris – Danog von Keltris – Danog von den Bergen. Auf dem Planeten Walf wurde der Adel ganz besonders hoch geachtet. Das Geschlecht derer von Keltris gehörte zu den Stützen des planetenumfassenden Gesellschaftssystems.
Doch es gab auch den krassen Gegensatz zum Adel: Die wenigen, die nirgendwo seßhaft waren (und die allgemein verachtet wurden), trugen den Beinamen ut Verholen – der aus dem Nichts kam. Heutzutage allerdings gab es so gut wie keine ut Verholens mehr. Aris und Ugur Laprek stammten aus der im Tal gelegenen Großstadt Legran, der Hauptstadt von Walf. Die Zeiten Legrans als piefiges, verschlafenes Nest waren lange vorbei. Heute wurde der Ort von zahlreichen wichtigen Persönlichkeiten bevölkert. Walfen, die sich in der Vergangenheit einen ehrbaren Namen gemacht hatten, und »normale« Leute wohnten hier Tür an Tür. Übertriebenen Personenkult gab es auf Walf nicht. Walfen betrachteten einander als gleichwertig, keiner fühlte sich dem andren über- oder unterlegen. Nichtsdestotrotz waren sie bereit, diejenigen, die ihre Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft stellten und es dadurch auf ehrenvolle Weise zu etwas gebracht hatten, neidlos zu bewundern und zu belohnen. Daran gemessen zählte der Edelmann Danog, ein ferner, doch direkter Nachfahre von Barnuk ut Keltris, zum gehobenen Stand, eine Tatsache, die er wie selbstverständlich hinnahm, ohne daß sie ihn eingebildet gemacht hätte. Sein seliger Vater hatte am Fuß des Berges Kalamun einst reiche Uranvorkommen entdeckt und daraufhin alle dort befindlichen Ländereien aufgekauft. Im Anschluß daran hatte er begonnen, den Uranabbau zu fördern, zum Wohle des Fortschritts – und natürlich zu seinem eigenen. Angesichts der zahlreichen Arbeitsplätze, die durch ihn geschaffen worden waren, hatte man ihm seinen persönlichen Wohlstand aufrichtig gegönnt. Mißgunst war den Walfen ein Fremdwort. Seit dem Tod des Vaters, der ein stolzes Alter von Sechsundsechzig Über-Zeiteinheiten erreicht hatte, kümmerte sich Danog um die geschäftlichen Belange der Familie. Seine Schwestern, Brüder, Nichten und Neffen lebten in anderen
Orten. Er sorgte dafür, daß es ihnen an nichts mangelte. Danog selbst hatte keine Kinder. Der attraktive Junggeselle befand sich mit seinen fünfundzwanzig Über-Zeiteinheiten im besten Heiratsalter und hatte eine feste Freundin. Auf der Burg seiner Vorväter bewohnte er das oberste Stockwerk. Die übrigen Räume und Anbauten wurden von seinen Bediensteten genutzt sowie von Arbeitern, die nicht in den umliegenden Ortschaften lebten. Einmal innerhalb einer großen Zeiteinheit traf er sich hier mit Aris, Ugur und Monik, um gemeinsam mit ihnen die historische Vergangenheit des Planeten zu studieren. Die vier waren beileibe keine Wissenschaftler. Ihre Nachforschungen betrieben sie einzig und allein aus Neugier. In den planetaren Bibliotheken und in den Archiven hauptberuflicher Historiker gab es ausreichend Studienmaterial zu diesem Themenbereich. In einer ehemaligen Kerkerzelle im Burgkeller bewahrte Danog antike Waffen auf, wertvolle Sammlerstücke, die bei Ausgrabungen auf seinem Land gefunden worden waren. Außer seinen drei geschichtlich interessierten Freunden wußte niemand davon. Das Quartett hatte sich geschworen, die Speere, Schwerter, Bögen und Keulen niemals gegen jemanden einzusetzen. »Ich frage mich, ob sich die blutige Schlacht um die Burg am Berghang tatsächlich so abgespielt hat, wie es im Film dargestellt wurde«, eröffnete Monik Vegra die Diskussion. »In jenen Zeiten galt es als ehrenvoll, sein Leben im Kampf auf dem Schlachtfeld zu lassen. Barnuk ut Keltris hätte sich niemals dazu hinreißen lassen, seine Gegner aus dem Hinterhalt niederzumetzeln.« »Die Überlieferungen der Historiker stimmen in diesem Punkt mit der Verfilmung meiner Familienchronik überein«, erwiderte Danog ut Keltris. »Ich möchte meinen Urahn zwar nicht in Schutz nehmen, hege aber ein gewisses Verständnis für seine Verhaltensweise.«
»Verständnis für Massenmord?« wunderte sich Aris. »Das müßtest du uns schon näher erklären.« Er saß mit Monik auf einem alten, urgemütlichen Sofa und legte seinen Kopf an ihre linke Schulter. Auch die Walfenmänner verfügten über muskulöse Arme und Beine, die Schultern der Walfenfrauen waren jedoch wesentlich breiter und somit zum Anlehnen bestens geeignet. Monik neigte ihren Kopf leicht zur Seite, so daß ihr Knochenkamm den von Aris berührte – ein intimer Austausch von Zärtlichkeiten unter Verliebten. Ugur, der gegenüber in einem modernen, unbequemen Sessel hockte, die Beine übereinandergeschlagen, schaute liebevoll lächelnd zu den beiden. Nur ein genauer Beobachter hätte die eifersüchtige Nuance ausgemacht, die in seinem Blick lag. Für einen Moment schloß er die Nickhäute über seinen Augen. Wie alle Walfen hatte er senkrechte Pupillenschlitze, die sich im Dunkeln bis zur Kreisform erweiterten. Als er die Häute wieder nach oben zog, war sein leichter Eifersuchtsanfall vorüber. Walfen ließen Aggressionen oder ähnliche Gefühle erst gar nicht aufkommen. Für Trauer galt dasselbe. Seit mehreren Generationen waren auf Walf keine Tränen mehr vergossen worden. Walfen weinten nicht. Nie. »Ich bin überzeugt, Barnuk ut Keltris hätte den Streit mit seinem Widersacher viel lieber friedlich beigelegt«, erläuterte Danog den drei Freunden seinen Standpunkt. »Aber Grote war bekannt für seine Grausamkeit. Er hätte die Burgbewohner nach dem Verlassen der Burg einem furchtbaren Martyrium ausgesetzt und am Ende alle getötet.« »Warum sind sie nicht geflohen?« warf Ugur ein. »Anstatt still und leise zu verschwinden, versteckten sie sich im unterirdischen Tunnelsystem und warteten geduldig auf den Einbruch der Dunkelheit. Nachts fielen sie dann wie die Baumwürmer über ihre wehrlosen Feinde her.«
Auch er hatte nicht das geringste Verständnis für Barnuks kompromißlose Kriegslist. Ugur war in eine friedvolle Zeit hineingeboren worden. Die Walfen waren ein einziges großes Volk, das keinen Krieg und auch sonst keine feindseligen Auseinandersetzungen kannte. Jedes Lebewesen auf Walf, das über ein normal entwickeltes Gehirn verfügte, lebte in Harmonie mit ihnen. Sogar Raubtiere benahmen sich in ihrer Gegenwart wie schnurrende Haustierchen. Ausnahmen bildeten lediglich Baumwürmer und andere wilde Tiere mit primitiven Gehirnen, freßgierige Bestien, vor denen man stets auf der Hut sein mußte. Die Walfen selbst waren warmblütige, aufrechtgehende Echsenabkömmlinge, deren Verstand sich im Laufe der Evolution stetig weiterentwickelt hatte. »Du berücksichtigst nicht die Zeit, in der er gelebt hat«, hielt Danog ut Keltris Ugur vor. »Monik hat das Thema ›Ehrbegriffe‹ bereits angeschnitten. Flucht kam für die Burgbewohner nicht in Frage. Man hätte sie allerorts verspottet.« »Na und?« erwiderte Ugur schulterzuckend. »Mit dem Vorwurf, ein Feigling zu sein, hätte ich an seiner Stelle gut leben können. Aber nicht mit dem Wissen, ein Massenmörder zu sein. Mir ist durchaus bekannt, daß es damals noch keine Mediatoren gab, die schlichtend hätten eingreifen können, doch vielerorts hatte man bereits ein einheitliches Rechtssystem entwickelt.« »Die erlassenen Gesetze zum Schutz der Schwachen waren kaum das Papier wert, auf dem sie niedergeschrieben worden waren, und richterliche Urteile hatten leider wenig mit Gerechtigkeit zu tun«, ergriff Monik Vegra wieder das Wort. Sie hatte in Tongen das Licht der Welt erblickt. Die kleine Dorfgemeinde lag auf halber Höhe zwischen Legran und Danogs Burg. Inzwischen lebte die junge Walfin in der
Planetenhauptstadt. »Recht bekam, wer die meisten Hoyolas über den Richtertisch kullern ließ«, sagte sie. »Korruption war so eine Art Gesellschaftsspiel. In den Kreisen der Herrschenden galt fast jeder als bestechlich. Wer keine Tauschsteine nahm, blieb nicht lange an der Macht. Glücklicherweise leben wir jetzt in besseren Zeiten. Unsere Entscheidungen treffen wir selbst, auf Regierungen, wie man sie früher kannte, können wir getrost verzichten.« Das stimmte nicht so ganz. Zwar wurde auf Walf keinerlei Regierungsgewalt ausgeübt, dennoch fanden jeweils nach drei Über-Zeiteinheiten Wahlen statt. Gewählt wurden neue Mediatoren. Wählen durfte nur, wer offiziell als Verwalter eingesetzt war. Mediatoren schlichteten, wenn Walfen ausnahmsweise mal keinen Konsens fanden. Das kam selten vor, meist ging es dabei nur um Belanglosigkeiten. In wichtigen Dingen waren sich Walfen immer einig. Gleichzeitig fungierten Mediatoren als oberste Chefs der Planetenverwaltung. Diese wiederum setzte sich aus einer enormen Vielzahl von Verwaltern zusammen, die für bestimmte Bezirke zuständig waren. Jeder Bürger auf Walf konnte Verwalter werden, ohne besondere Voraussetzungen erfüllen zu müssen. Verwalter wurden stets mit größtem Respekt behandelt, denn sie übten diese ehrenamtliche Tätigkeit unentgeltlich in ihrer Freizeit aus. Richter, Staatsanwälte, Polizei – so etwas kannte man auf Walf nur aus den Geschichtsbüchern. Abgesehen von einer allerorts gültigen Planetenverfassung wurde auf gesetzliche Regelungen verzichtet. Ein Walfe wußte auch so, quasi aus dem Bauch heraus, wie er sich zu verhalten hatte. Kriege und Verbrechen gehörten längst der düsteren Vergangenheit an. Walfen vollbrachten das Kunststück, sich einerseits als Mitglieder einer großen einmütigen Gemeinschaft zu fühlen
und andererseits Individualisten zu bleiben. Ihr Hang zum Individualismus fiel schon äußerlich leicht ins Auge. Die meisten liebten es, grellbunte Kleidung zu tragen, die in der Regel nur Köpfe und Hände freiließ. Ein Modediktat gab es nicht, jeder zog das an, wonach ihm gerade war. Mit dem Einrichten ihrer Behausungen hielten es die Walfen genauso. Erlaubt war, was dem Bewohner gefiel. Das breite, hohe Zimmer, in dem sich das Freundesquartett aufhielt, war teils mit klotzigen, teils mit zierlichen Möbeln eingerichtet, alt und neu im fröhlichen Wechsel. Man saß um einen runden Glastisch herum, auf dem verschiedene Getränke sowie diverse Knabbereien standen. »Eines verwundert mich bei unseren Studien immer wieder aufs neue«, sagte Aris Laprek und nahm sich einen rohen Krautstengel aus einer Schale. »Wieso hat sich die Entwicklung der Walfheit so sehr verändert? Warum leben wir heute in Harmonie miteinander?« Auch sein Bruder Ugur verspürte den kleinen Hunger und entschied sich für ein geröstetes Blatt vom Pota-Busch. Genüßlich zermalmte er es mit seiner Kauleiste aus Zahnbein. Wie alle Walfen war er nicht dafür geschaffen, Fleisch zu verdauen, deshalb benötigte er auch keine Zähne. »Gewalt – dieses unselige Wort ist fast vollständig aus unserem Sprachschatz verschwunden«, sinnierte Ans. »Seit mehr als drei hundert Über-Zeiteinheiten gibt es auf unserem Planeten keine ernsthaften Meinungsverschiedenheiten mehr. Frieden ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Ein begrüßenswerter Umstand, der erstaunlicherweise einfach so hingenommen wird. Niemand forscht nach, warum das so ist.« »Selbstverständlichkeiten braucht man nicht zu hinterfragen«, meinte Danog. »Walf benötigt eine ÜberZeiteinheit, um unser Zentralgestirn Troust zu umkreisen, und eine kleine Zeiteinheit für die Drehung um die eigene Achse. Zwei unveränderliche Tatsachen, die ebenfalls einfach so
hingenommen werden. Und hast du dich jemals gefragt, wieso wir sechs Finger an jeder Hand und sechs Zehen an jedem Fuß haben? Weshalb nicht vier oder fünf?« »Weil wir dadurch besser greifen und besser laufen können«, entgegnete Aris unbeirrt. »Auch die gleichbleibende Rotationszeit unseres Planeten macht Sinn, immerhin ermöglicht sie es uns, eine kalendarische Zeiteinteilung vorzunehmen.« Auf Walf lebte man nach einem sehr einfachen Kalendersystem. Vierundzwanzig kleine Zeiteinheiten ergaben eine große, vierundzwanzig große wiederum eine Über-Einheit. Weitere Unterteilungen waren unnötig. Zeitwerte, die innerhalb der kleinen Zeiteinheit lagen, wurden von den Walfen mit äußerster Präzision erfühlt, man brauchte daher nicht ständig einen Zeitmesser mit sich herumzutragen. In allen Lebensbereichen konnte sich jeder Walfe voll und ganz auf seine innere Uhr verlassen. Abends vor dem Schlafengehen prägte man sich kurz die Zeit des Aufstehens ein – und erwachte am nächsten Morgen auf den Bruchteil einer Sekunde genau. Lediglich im technischen Sektor benötigte man Zeitmesser, weil Maschinen nichts fühlten. »Ich stelle nicht den Sinn unseres veränderten Verhaltens in Frage«, fuhr Aris fort, »ich drücke lediglich meine Verwunderung darüber aus, daß sich das Volk der Walfen über Tausende von Über-Zeiteinheiten hinweg kriegerisch bekämpft hat. Warum hat man nicht schon viel früher den planetaren Frieden ausgerufen? Was ist vor dreihundert ÜberZeiteinheiten geschehen?« »Vielleicht gab es einen rätselhaften Vorgang«, äußerte Monik eine Vermutung. »Die gesamte damalige Planetenbevölkerung könnte in tiefe Bewußtlosigkeit gefallen sein – und nach dem Erwachen verspürte niemand mehr den Wunsch nach einer kriegerischen Auseinandersetzung.« Danog hielt diese Theorie für unwahrscheinlich. »Dann
hätte der letzte rätselhafte Vorgang unsere Streitgelüste wiedererwecken oder uns sonst irgendwie verändern müssen. Das war jedoch nicht der Fall, wir verhalten uns alle genauso wie vorher. Im übrigen kehrte der planetare Friede seinerzeit nicht schlagartig ein. Aus den geschichtlichen Aufzeichnungen geht eindeutig hervor, daß es bereits vor rund vierhundertfünfzig Über-Zeiteinheiten Gruppierungen gab, die unseren streitbaren Vorfahren ein friedfertigeres Miteinander vorlebten. Man verspottete und unterdrückte sie, doch es wurden immer mehr. Der Friede kam nicht über Nacht, er hat sich nach und nach auf Walf ausgebreitet. In meinen Augen ist das eine völlig normale Entwicklung.« Rätselhafter Vorgang, große Bewußtlosigkeit – so bezeichneten die Walfen einen unerklärlichen Zwischenfall, der vor nicht allzu langer Zeit den gesamten Planeten in Mitleidenschaft gezogen hatte. Plötzlich und unerwartet war das Unheil über sie hereingebrochen, ohne die geringsten Anzeichen einer Vorwarnung. Sämtliche Planetenbewohner waren über einen längeren Zeitraum hinweg bewußtlos gewesen. Durch die Fähigkeit der konfliktfreien Zusammenarbeit hatte sich das Volk der Walfen in den vergangenen dreihundert Über-Zeiteinheiten technisch verhältnismäßig schnell weiterentwickelt. Der Fortschritt hatte zahlreiche Erleichterungen mit sich gebracht. Nach dem Erwachen aus der Bewußtlosigkeit hatte man erstmals die Nachteile dieser Entwicklung zu spüren bekommen. So ziemlich alle elektrischen Anlagen waren durch Kurzschluß ausgefallen. Kraftwerke hatten sich abgeschaltet. Die Technik hatte von einem Moment auf den anderen ihren Dienst versagt. Nicht nur auf den Elobahnen war es zu schweren Massenunfällen gekommen, weil die Fahrer die Kontrolle über ihre Fahrzeuge verloren hatten, auch am Himmel hatte es
Zusammenstöße gegeben. Abgestürzte Flugzeuge hatten in Städten für flammende Infernos gesorgt. Zahllose Tote, überfüllte Krankenhäuser, hilflose Rettungsdienste – die traurige Bilanz einer Katastrophe, für die man auf Walf bis zum heutigen Tag keine logische Erklärung gefunden hatte. Einige Walfen glaubten, kurz vor Eintritt der Bewußtlosigkeit einen grellen Blitz gesehen zu haben, doch nach Meinung der Ärzte und Wissenschaftler hatte es sich dabei höchstwahrscheinlich um einen harmlosen Lichtreflex gehandelt, ausgelöst vom Gehirn. Mittlerweile hatte sich das Leben rund um den Planeten wieder einigermaßen normalisiert, nicht zuletzt dank der vielfältigen Nachbarschaftshilfe, die für Walfen eine Selbstverständlichkeit war. Die Kraftwerksausfälle hatte man inzwischen behoben, wichtige technische Anlagen erneut in Gang gesetzt. Lahmgelegte Geräte und Apparaturen erfüllten wieder ihre Funktionen – allerdings kamen viele Reparaturwerkstätten mit ihrer Auftragserfüllung kaum noch nach. »Ich steige aus der heutigen Diskussion aus«, entschied Danog ut Keltris zur Überraschung seiner Freunde. »Ihr könnt gern noch bleiben und weiterreden. Fühlt euch hier wie zu Hause.« »Mein Zuhause ist seine Burg«, zitierte Ugur Laprek ein walfisches Sprichwort. Gastfreundschaft war auf Walf sozusagen ein ungeschriebenes Gesetz. Einem Walfen wäre es nie in den Sinn gekommen, jemanden an seiner Tür abzuweisen. Somit war kein Obdachloser gezwungen, die Nacht ohne ein Dach über dem Kopf zu verbringen – er brauchte nur irgendwo anzuklopfen, und es wurde ihm Unterkunft gewährt. »Ich ziehe mich rasch um und fahre los«, verabschiedete sich Danog von seinen Gästen. »Wir sehen uns spätestens zum nächsten Trainingsspiel.«
»Du hast es ja mächtig eilig«, sagte Monik Vegra augenzwinkernd zu ihm. »Sehnsucht nach Dreang, stimmt's?« »Stimmt. Wir sind verabredet. Dreang und ich wollen heute nachmittag zur leerstehenden Waldhütte in der Skotaschlucht wandern. Wahrscheinlich übernachten wir dort.« »Ein Ausflug zur Liebeshütte – was für eine reizvolle Idee.« Monik umarmte Aris und drückte ihn sanft an sich. Als Danog in Wanderkluft aus dem Haupttor der Burg trat, war er in Gedanken bei Dreang, der bezaubernden Tochter von Professor Berkel Mintka. Vor der Burg befand sich ein großer Parkplatz. Danog öffnete die Tür seines Elos. Aufschließen war nicht nötig, auf Walf hatte es noch nie einen Elodiebstahl gegeben. Schlüssel waren nur noch Artefakte aus vergangenen Zeiten, die man in Museen bestaunen konnte. Bevor er einstieg, schaute Danog kurz zurück. Hinter einer Fensterscheibe im ersten Stockwerk sah er ein Paar, das sich umarmte: Monik und Ugur. Mit ihren langen, vorn gespaltenen Zungen liebkosten sie sich außerhalb ihrer Münder. Von unten her sah es aus, als würden die Zungen einen hektischen Kampf gegeneinander ausfechten, in Wahrheit tanzten sie zärtlich umeinander herum. * Das Observatorium von Professor Berkel Mintka lag noch höher in den Bergen als Danogs Burg. In der Tat war der höchste Punkt des Gebirgszugs nicht weit von dem Felsplateau entfernt, das sich der Professor für seine Sternenbeobachtungen auserwählt hatte. Der Wissenschaftler gehörte zu den ehrenamtlichen Verwaltern des Planeten. Sein Aufgabenbereich war die Planung und Erschließung neuer Verkehrswege innerhalb seines Bezirks. Da sich noch weitere Verwalter mit diesem
Komplex befaßten, blieb ihm genügend Zeit zur Ausübung seines Berufs. Berkel Mintka, der berühmteste Astronom auf Walf, liebte es, ins All zu schauen. Als Kind hatte er davon geträumt, Raumfahrer zu werden und zum Mond zu fliegen. Später hatte er dann aber eine solidere berufliche Laufbahn eingeschlagen. Somit war die erste Mondlandung ohne ihn vonstatten gegangen. Vor knapp dreizehn Über-Zeiteinheiten hatte der erste Walfe seinen Fuß auf jenen öden Trabanten gesetzt, der Walf ständig begleitete, ein bedeutsamer Schritt, der über Satellit auf alle heimischen Wandbildschirme übertragen worden war. Leider ließen weitere brisante Erfolge in der Raumfahrt auf sich warten. Landungen auf anderen Planeten oder Monden hatten seither nicht stattgefunden. Kein walfisches Raumschiff war jemals wieder über die planetaren Umlaufbahnen hinausgekommen. Professor Mintka hatte auf dem Plateau nicht nur seinen Arbeitsplatz, er wohnte hier auch, zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter. Direkt ans Observatorium grenzte ein zweistöckiger Villenanbau. Die Möbel waren seinerzeit mit Transporthubschraubern auf den Berg geschafft worden. In jedem Zimmer der Villa gab es einen Sprachkommunikator, kurz: Sprako. Auch in den Räumen des Observatoriums waren überall solche Kommunikatoren angebracht. Ein Knopfdruck genügte, schon stand der Professor mit seiner Familie, seinen Verwalterkollegen oder sonstwem auf Walf in Verbindung. Das Sprakonetz war in den zurückliegenden ÜberZeiteinheiten ständig weiter ausgebaut worden und umspannte mittlerweile den gesamten Planeten bis in den letzten Winkel. Versuche, das System mit den Heimbildschirmen zu koppeln, waren bisher fehlgeschlagen, doch man arbeitete unverdrossen daran.
Beim Kauf eines Elos gehörte der Einbau einer drahtlosen Sprakoanlage zum normalen Standard. Somit konnte Danog schon auf der Fahrt zum Observatorium ungeniert mit Dreang flirten. »Was machst du gerade?« erkundigte er sich. »Ich ziehe mich in meiner Kammer für die Wanderung um«, antwortete Dreang Mintka. »Augenblicklich bin ich splitternackt.« »Schade, daß das Bildsprako noch in der Entwicklungsphase steckt«, entgegnete Danog schmunzelnd. »Was hast du davon, mich auf dem Bildschirm betrachten zu können?« erwiderte Dreang keck. »Heute abend in der Hütte kriegst du mich im Original zu sehen, das ist viel aufregender. Übrigens: Mein Vater will dich unbedingt sprechen. Du sollst gleich nach deiner Ankunft zu ihm kommen.« Danog seufzte. »Wahrscheinlich will er mir wieder eine Moralpredigt halten, etwa in der Art: ›Es gehört sich für zwei junge Walfen nicht, an einem einsamen Platz die Nacht miteinander zu verbringen, ohne vorher den Treueeid abgelegt zu haben.‹ Wann hört er endlich auf, uns Vorschriften zu machen? Ich bin ein erwachsener Mann von fünfundzwanzig, du eine Frau von zwanzig Über-Zeiteinheiten, wir sind also durchaus in der Lage, unsere Entscheidungen selbst zu treffen. Glücklicherweise denkt deine Mutter nicht in derart kleinlichen Bahnen.« »Frauen sind halt gescheiter als Männer«, behauptete Dreang frech. »Aber wir Männer sind in der Überzahl«, konterte Danog. »Eines Tages wird dieser Planet nur noch von Männern bevölkert werden, wart's nur ab.« »Und wer bringt dann die Babys zur Welt? Ohne uns Frauen seid ihr doch aufgeschmissen.« Die spaßige Neckerei zwischen den beiden hatte einen ernsten Hintergrund. Auf Walf lebten mehr Männer als Frauen,
und mit jeder neuen Generation vergrößerte sich der männliche Überschuß. Auf jede Geburt eines Mädchens kamen rund dreieinhalb Jungen – der exakte statistische Wert lag bei 3,386. Die Genforscher waren ratlos. Sämtliche Versuche, diesem seltsamen Phänomen auf die Spur zu kommen oder die Geburten auf künstlichem Wege zu beeinflussen, waren bisher fehlgeschlagen. »Sind wir nicht allmählich reif für den Treueeid?« fragte Danog seine Angebetete, während er zügig um eine Kurve fuhr. »Immerhin kennen wir uns bereits mehr als eine ÜberZeiteinheit.« »Ich würde gern deine ständige Lebenspartnerin werden«, erwiderte die Tochter des Professors. »Über einige Punkte müßten wir uns allerdings noch einigen. Wo werden wir wohnen? In der Villa meiner Eltern oder auf deiner Burg? Ehrlich gesagt, ich fühle mich hier oben sehr wohl. Zwar bin ich keine ausgebildete Astronomin, doch ich teile die Leidenschaft meines Vaters fürs Weltall. Liegt wohl irgendwie in der Familie. Allerdings sehe ich auch ein, daß du für Geschäftspartner und Arbeiter auf deinem Stammsitz erreichbar sein mußt.« »Für dieses Problem findet sich gewiß eine Lösung«, war Danog ut Keltris überzeugt. »Wir könnten während der Hitzeperiode auf eurem luftigen Felsplateau wohnen und während der Kälteperiode in meiner schützenden Burg. Ein Teil meiner Geschäfte läßt sich ohne weiteres per Sprako erledigen. Im übrigen leben wir im Zeitalter des Elos. – Leider lassen sich nicht alle Schwierigkeiten so leicht bewältigen. Wer garantiert mir, daß du nicht in ein paar Über-Zeiteinheiten auf den Gedanken kommst, einem zweiten Mann die Treue zu schwören?« Obwohl man auf Walf an keine überirdischen Götter glaubte, war der Treueeid sozusagen eine heilige Angelegenheit. Sobald ein Paar öffentlich verkündet hatte, für
den Rest des Lebens zusammenbleiben zu wollen, gab es kein Zurück mehr. Nichts auf der Welt konnte die beiden jemals trennen. Aufgrund des Männerüberschusses war es Frauen jedoch gestattet, sich einen zweiten ständigen Lebenspartner zu suchen und ihm ebenfalls ewige Treue zu schwören. Niemand rümpfte darüber die Nase oder hob moralisierend den Zeigefinger. Zwar war es im Zuge der Gleichberechtigung theoretisch nicht ausgeschlossen, daß sich umgekehrt ein Mann zwei Frauen nahm, aber einen solchen Fall gab es nirgends auf Walf, das hätte man als unsozial empfunden. »Ich verspreche dir, dich niemals seelisch zu verletzen«, versicherte Dreang ihrem besorgten Verehrer. »Ohne deine Zustimmung lasse ich mich mit keinem anderen Mann ein.« »Die wirst du niemals bekommen«, war sich Danog sicher. »Ich möchte eine Lebenspartnerin für mich ganz allein.« »Das hat dein Freund Ugur auch immer gesagt«, entgegnete Dreang, »bis sein Bruder Aris anfing, Monik zu umwerben. Anfangs zierte er sich ein bißchen, letztlich aber stimmte er einem Zusammenleben zu dritt zu. Ich finde, die drei ergänzen sich perfekt.« Danog wollte etwas erwidern, doch plötzlich geriet sein Elo auf der Bergstraße ins Schleudern. Er war mit viel zu hoher Geschwindigkeit in eine viel zu enge Kurve gerast und hatte viel zu hektisch aufs Bremspedal getreten. Das Fahrzeug drehte sich zweimal um die eigene Achse. Alle vier Reifen quietschten laut auf. »Das kostet mich mindestens einen Folot Profil!« entfuhr es Danog, der sein Elo erst kürzlich aus der Werkstatt abgeholt hatte. Die Straße führte mitten durch den Bergwald. Der Wagen rutschte über den Straßenrand, krachte mit der Hinterfront hart gegen einen Baum und vibrierte, als würde er jede einzelne Schraube verlieren.
Danog stieß nichts Ernsthaftes zu, bisher hatte er noch jeden Unfall unverletzt überstanden. »Eines Tages bringt dich dein rasanter Fahrstil um«, hatte ihn seine Mutter, die in der Stadt bei seiner Schwester lebte, beim letzten Familientreffen ermahnt. Danog hatte nur gelacht und gemeint: »Mir passiert schon nichts, ich werde euch noch alle überleben, haha!« Sein Sprako war noch eingeschaltet. Dreang hatte den glimpflich verlaufenen Unfall gewissermaßen live miterlebt. »Geht es dir gut?« ertönte es aufgeregt aus dem Lautsprecher. »Mir schon«, antwortete Danog, »aber mein Elo hat einiges abbekommen. Ich befürchte, ich brauche neue Reifen und eine neue Stoßstange. Zudem hat sich die Karosserie verzogen. Dabei habe ich sie erst vor ein paar kleinen Zeiteinheiten frisch lackieren lassen, grellrot und knallgelb. Hast du eine Ahnung, wie viele Hoyolas ich dafür hinblättern mußte?« Der kugelrunde Hoyola, der aus einer leicht zu verformenden Metallegierung hergestellt wurde, war die einzige gültige Währung auf diesem Planeten. Er konnte mit unterschiedlichen Farbnuancen versehen werden, die den jeweiligen Wert repräsentierten. Walfen kungelten aber auch gern. Tausche Gemälde gegen Bücherregal – derlei Annoncen waren in den walfischen Medien keine Seltenheit. Auf diese Weise verkam das Volk der Walfen nicht zur Wegwerfgesellschaft, und die Abfallbeseitigung hielt sich in vertretbaren Grenzen. Danog ging um sein Elo herum und überlegte, ob er es nicht demnächst gegen ein Zweirad mit Kettenantrieb austauschen sollte. Doch als er sich ausmalte, wie er damit schwitzend und keuchend die steil aufwärts führende Straße zum Observatorium bewältigte, verwarf er diesen Gedanken gleich wieder. Plötzlich stürzte sich etwas fauchend auf ihn herab und riß
ihn zu Boden. Danog war einhundertsechsundsiebzig Foloten groß, der Baumwurm, der ihn aus dem Hinterhalt angriff, der Länge nach gemessen höchstens einhundert. Allerdings war die Bestie viel flinker und wendiger als er. Blitzschnell hatte sie sich um seinen Brustkorb gewunden und quetschte ihn mit aller Kraft zusammen. Danog blieb die Luft weg. Das Untier riß weit den Rachen auf und zeigte seine spitzen Zähne. Dann peilte es Danogs Kehle an und schnappte zu. »Danog?« kam es entsetzt aus dem Sprako-Lautsprecher. »Was ist passiert? Melde dich doch!« Dreang erhielt keine Antwort mehr. * Die Lehre, daß der Walfe vom Raubtier abstammte, war auf den Universitäten recht umstritten. Allein die Vorstellung, einmal ein Krallenmoloch oder ein Würgebark gewesen zu sein, erweckte bei Danog normalerweise Unbehagen. Doch davon war in diesem Augenblick höchster Not nichts zu spüren. Jetzt, wo er in Lebensgefahr schwebte, schienen sich seine tiefsten Urinstinkte zurückzumelden. Wer sich in tödlicher Umarmung mit einem Baumwurm befand und dessen stinkenden Atem roch, dem blieb keine Zeit für Friedensgespräche. Danog mußte sich umgehend mit allen Mitteln zur Wehr setzen, wollte er Dreang jemals wiedersehen. Noch bevor ihm der Baumwurm die Kehle durchbeißen konnte, packte der Walfe mit beiden Händen fest zu und drückte die Bestie von seinem Körper weg. Die reißzahnbewehrten Kiefer schnappten ins Leere. Danog spannte seine Brustmuskeln an und lockerte so die Umklammerung. Gleichzeitig krallten sich zwölf kräftige Finger um den Hals des Wurmes und schnitten ihm die
Luftzufuhr ab. Kein leichtes Unterfangen bei einem Wesen, das fast ausschließlich aus Hals bestand. Während der vordere Teil des Baumwurms versuchte, den Kampf durch einen tödlichen Biß zu seinen Gunsten zu entscheiden, geriet der hintere Teil in hektische Bewegung, schlug wild um sich und blähte sich immer mehr auf. Danog preßte seine Finger noch fester zusammen. Das Untier platzte auf wie eine schlecht vernähte Hosennaht. Grünes Gedärm quoll heraus und verteilte sich über den Waldboden. Danog kroch rasch unter dem leblosen Wurmgezücht hervor, konnte aber nicht mehr verhindern, daß seine Füße unter dem übelriechenden Schleim begraben wurden. »Meine Schuhe kann ich wegschmeißen!« schimpfte er, nachdem er sich aufgerappelt hatte. »Eine Maßanfertigung von Meister Öltan – total ruiniert!« Sein Ärger über derart profane Dinge lenkte ihn von der Furcht ab, die noch in seinen Knochen steckte. Beinahe wäre es um ihn geschehen gewesen. Dabei brachte man auf Walf bereits den Schulkindern bei, nach oben zu sehen, bevor man einen Wald betrat. Waldränder und die Ränder von Lichtungen waren die beliebtesten Jagdreviere der gehörlosen Baumwürmer. Niemals lauerten sie im tieferen Dickicht, denn sie verfügten lediglich über eine eingeschränkte Sehkraft. Nur dort, wo sich Licht und Schatten klar gegeneinander abgrenzten, konnten sie Beute machen. Danog zog seine Schuhe aus und streifte seine Strümpfe ab. Barfuß begab er sich zu einem kleinen Teich, wo er sich gründlich die Füße wusch. Als er zurückkehrte, war die Hälfte des Wurmschleims verschwunden. Faustgroße Wukakäfer, die im Erdreich lebten und allgemein »Totengräber der Wälder« genannt wurden, hatten ihn mit größtem Genuß vertilgt. Aas aller Art gehörte zu ihren Lieblingsspeisen.
Aus Danogs Freisprechsprako ertönte ein fortwährendes Knacken, es war leicht beschädigt. Er wendete eine allgemein beliebte Reparaturmethode an, indem er einmal hart mit dem Ellbogen gegen das störrische Gerät schlug. Prompt vernahm er Dreangs Stimme. »Halte durch, Danog! Mein Vater ist auf dem Weg zu dir!« »Hat er solche Sehnsucht nach mir, daß er es kaum erwarten kann, mich zu begrüßen?« scherzte Danog, der den gefährlichen Zwischenfall schneller als erwartet weggesteckt hatte. »Hoffentlich bringt er mir ein Paar Schuhe mit, meine sind nicht mehr zu gebrauchen.« »Liebster! Endlich! Ich habe mir ja solche Sorgen um dich gemacht!« erwiderte Dreang voller Erleichterung. »Das letzte, was ich hörte, war das unverkennbare Fauchen eines Baumwurms. Dann brach plötzlich die Verbindung ab. Ich habe sofort meinen Vater benachrichtigt. Er sprang in sein Elo und fuhr los, um dir zu Hilfe zu kommen, bewaffnet mit dem Muna-Schläger, den du ihm als treuem Fan eurer Mannschaft geschenkt hast.« Muna war ein Freiluftspiel, das den ganzen Planeten begeisterte. Es gab Ballwerfer, Ballschläger und Ballfänger, nicht zu vergessen die Läufer, die Schubser und die Punktezähler. Während des Spiels durften vorher festgelegte Kreidemarkierungen nicht übertreten werden, außerdem mußte sich stets eine bestimmte Anzahl Spielerinnen und Spieler in Bewegung befinden, während andere sich nicht vom Fleck rühren durften. Wurde ein Muna-Spiel auf dem Heimbildschirm übertragen, ließ Professor Mintka alles stehen und liegen. Sich mal ein Spiel von der Zuschauertribüne aus anzuschauen, kam für ihn nicht in Frage, dafür ging es ihm in den Muna-Stadien viel zu hektisch zu. Danog hingegen war ein begeisterter MunaSpieler, fast schon ein Star in seiner Region. »Der Baumwurm stellt keine Gefahr mehr dar, ich habe den
Angriff erfolgreich abgewehrt«, informierte Danog seine Gesprächspartnerin. »Ich tickere umgehend das Elosprako deines Vaters an und gebe ihm Bescheid. Wir sehen uns gleich, Liebes.« Kaum hatte Danog die Verbindung zum Observatorium abgebrochen, kam das Elo des Professors um die Kurve gerast. Berkel Mintka hielt an und stieg aus, den Muna-Schläger in der Hand. »Seien Sie gegrüßt. Es geht mir gut«, gab Danog gleich Entwarnung. »Die Bestie ist tot.« »Seien Sie gegrüßt. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet«, erwiderte Mintka aufatmend und legte seine Behelfswaffe zurück in den Wagen. »Wir fahren sofort zurück ins Observatorium. Setzen Sie sich in mein Elo, Danog, Ihres lassen wir nachher abschleppen.« Danog winkte ab. »Nicht nötig, es fährt noch. Wahrscheinlich bin ich schneller oben als Sie, Professor, wetten?« Der Wissenschaftler schüttelte verständnislos den Kopf. »Das ist mal wieder typisch für ihn«, murmelte er, während er hinter den beiden Lenkstäben seines Wagens Platz nahm. »Fordert mich zu einem Wettrennen heraus, dabei liegt sein letzter Unfall erst wenige Augenblicke zurück. Mußte sich Dreang ausgerechnet in einen so leichtsinnigen Kerl verlieben?« Nicht zum erstenmal stellte er sich diese Frage. Diesmal war die Beziehung seiner Tochter zu Danog ut Keltris jedoch seine geringste Sorge. Professor Berkel Mintka hatte an diesem Tag eine furchtbare Entdeckung gemacht, die alle Alltagssorgen in den Schatten stellte. * Als Danog beim Observatorium eintraf, war der Professor
längst da. »Es ist nicht ganz einfach, die Pedale mit bloßen Füßen zu betätigen«, rechtfertigte sich der Edelmann. »Hätte ich Schuhe angehabt ...« Danog verlor nicht gern. Dreang kam in Wanderkleidung aus dem Haus und umarmte ihn stürmisch. Ihr Knochenkamm berührte Danogs Knochenkamm, und für einen zärtlichen Moment verharrten beide in dieser Stellung. Berkel Mintka ergriff Danog am Arm und zog ihn von seiner Tochter weg, in Richtung Observatoriumseingang. »Hat euer Gespräch nicht Zeit bis morgen?« entrüstete sich Dreang und spannte trotzig ihre breiten Schultern unter ihrer pinkfarbenen Regenjacke. »Wir sollten losgehen, bevor ein Gewitter aufzieht.« Ihr Vater hörte nicht hin. Er wollte die schreckliche Nachricht nicht länger für sich behalten. In seinem Arbeitsraum öffnete er eine Schreibtischschublade und holte einige Fotos heraus, die er in der vergangenen Nacht gemacht hatte. Mit den Worten »Bisher bin ich der einzige auf Walf, der davon Kenntnis hat«, überreichte er Danog die brisanten Aufnahmen. Danog verstand sich aufs Geschäftemachen, auf den Abbau von Bodenschätzen, und er kannte sich mit Elos aus. Mit dem Himmel hingegen hatte er nicht viel am Hut, schon gar nicht mit dem All. Nur ein einziges Mal in seinem Leben hatte er ein Flugzeug bestiegen, um pünktlich zu einer dringenden geschäftlichen Verabredung zu gelangen – seither benutzte er lieber die Gleitbahn. Lautlos auf einer Mittelschiene dahinzugleiten war ihm hundertmal lieber als fliegen. Beim Bahngleiten war ihm noch nie schlecht geworden, und er wußte immer, was er unter sich hatte. »Seit einiger Zeit konzentriere ich meine Beobachtungen überwiegend auf diesen Abschnitt des Himmels«, verriet ihm der Professor und deutete auf eine Sternenkarte, die er auf der
Tischplatte ausgebreitet hatte. »Genauer gesagt: seit dem rätselhaften Vorgang. Mir ist nämlich aufgefallen, daß dieser Abschnitt seit der großen Bewußtlosigkeit viel heller strahlt als vorher.« Danog zuckte mit den Schultern. »Und? Worauf wollen Sie hinaus? Haben Sie einen bislang unbekannten Stern entdeckt und möchten, daß er nach Ihnen benannt wird?« Berkel Mintka holte weiter aus. »Zur Gründerzeit der Walfen-Zivilisation gab es dort überhaupt keine Sterne. Später entdeckten die Astronomen erstmals Licht in jenem Himmelsabschnitt, und sie waren überzeugt, der Geburt neuer Sterne beizuwohnen. Mit dieser überlieferten Theorie habe ich mich nie so recht anfreunden können. Aufgrund der großen Entfernung war es mir allerdings nicht möglich, exaktere Untersuchungen durchzuführen.« Danog setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete nachdenklich die Fotos. Für ihn als Laien sahen die Bilder ziemlich gleich aus. Sie zeigten unterschiedliche Lichtflecken, mit denen er wenig anfangen konnte. »Bis zur Auslösung des rätselhaften Vorgangs blieb die Intensität der Lichtstrahlung konstant«, setzte Mintka seine Ausführungen fort. »Danach wurde alles anders. Auf mir unerklärliche Art und Weise sind die Sterne, die dieses Licht ausstrahlen, näher herangekommen.« Danog ut Keltris horchte auf. »Näher heran?« Professor Mintka nickte stumm. »Das ist unmöglich«, meinte Danog. »Ich bin zwar kein Astronom wie Sie, Professor, doch ganz ungebildet bin ich auch nicht. Jeder Stern da draußen und jeder Planet im TroustSystem hat seinen festen Platz im Weltall. Sämtliche Bewegungsabläufe sind seit Urgedenken vorbestimmt. Alles andere wäre unnatürlich. Man stelle sich vor, Walf würde plötzlich seine Richtung ändern...« »Ich spreche nicht vom Zentralstern unseres
Sonnensystems«, unterbrach ihn Dreangs Vater. »Ich rede von einem fremden System, von einer Nachbarsonne und ihren Planeten.« »Verstehe«, behauptete Danog, obwohl ihm die Zusammenhänge noch nicht so recht klar waren. »Ein unbekanntes Sonnensystem schwebt auf Troust zu. Es ist bereits so nahe, daß es auf Walf mit den mächtigen Fernrohren der Astronomen erfaßt werden kann. Eigentlich müßte man annehmen, diese Entdeckung sei ein Grund zur Freude für jeden Wissenschaftler. Je näher die fremden Sterne kommen, um so eingehender können sie betrachtet werden.« Er unterdrückte ein Grinsen, als er hinzufügte: »Vielleicht sind einige der Planeten sogar bewohnt.« Danog glaubte nicht daran, daß es irgendwo im All noch intelligentes Leben gab. Schon oft hatte Berkel Mintka versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, doch der Freund seiner Tochter wich keinen Folot von seiner Haltung ab. Sämtliche Versuche, Danog die Astronomie ein wenig schmackhafter zu machen, waren bislang gescheitert. »Vielleicht sind einige der Planeten sogar bewohnt«, wiederholte der Professor mit düsterer Miene Danogs letzten Satz. »Ich muß zu meiner Schande eingestehen, daß ich daran noch keinen einzigen Gedanken verschwendet habe. Es könnten tatsächlich auch noch andere Lebewesen betroffen sein.« Danog sah das anders. »Bisher ist uns die Wissenschaft den Beweis für außerwalfische Existenzen schuldig geblieben. Wieso geben Sie Ihre Bemühungen, mich vom Gegenteil überzeugen zu wollen, nicht endlich auf? Warum liegt Ihnen soviel daran, mir Ihr Sterngucker-Wissen zu vermitteln?« »Ich möchte, daß Dreang mit Ihnen glücklich wird, Danog«, antwortete Professor Mintka freiheraus. »Sie ist in einer Astronomenfamilie aufgewachsen. Schon ihr Großvater war ein Sternengucker, wie Sie es abfällig nennen. Worüber wollt
ihr euch unterhalten, wenn ihr auf diesem Gebiet keine gemeinsame Basis findet?« »Och, da fällt mir schon was ein«, entgegnete Danog lächelnd. »Astronomie ist schließlich nicht das einzige Gesprächsthema auf der Welt. Apropos Gespräch – könnten wir unseres nicht verschieben, Professor? Dreang und ich möchten so bald wie möglich zur Skotaschlucht aufbrechen, um vor Einbruch der Dunkelheit bei der Waldhütte einzutreffen. Meine heutige Lehrstunde verlegen wir halt auf ein andermal, einverstanden?« Danog wollte aufstehen. Berkel Mintka drückte ihn sanft, aber bestimmt auf seinen Stuhl zurück. Dabei blickte er ihm tief, fast schon suggerierend in die Augen. »Dies ist keine unserer üblichen Diskussionen, Danog. Offensichtlich haben Sie den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen. Ich habe Sie nicht um diese Unterredung gebeten, weil ich Ihnen etwas beibringen will, sondern weil ich Ihre Hilfe brauche.« »Meine Hilfe?« wunderte sich Danog. »Sie? Wie könnte ausgerechnet ich Ihnen helfen?« »Zunächst einmal muß ich Ihnen begreiflich machen, daß das hier kein Spiel ist«, antwortete der Professor. Er nahm zwei Trinkgläser aus einem Regal und stellte sie auf den Tisch, mitten auf die Sternenkarte. Das zweite Glas drückte er Danog in die Hand und forderte ihn auf, es genau dort hinzustellen, wo sich das erste befand. Danog löste das Problem, indem er das erste Glas zuvor beiseite schob. Professor Mintka gab ihm erneut das zweite Glas und stellte das erste zurück auf seinen Platz. »Nehmen wir mal an, es wäre dort festgewachsen. Trotzdem müssen Sie das andere Glas auf denselben Fleck stellen. Übereinander gilt nicht, das zweite Glas soll exakt an derselben Stelle auf der Karte stehen.« »Das ist völlig unmöglich«, meinte Danog. »Ebensogut könnten zwei Walfen versuchen, einen Fahrstuhl zu besteigen,
in den nur einer hineinpaßt. Will der zweite hinein, muß der erste hinaus, anders geht's nicht.« Dreangs Vater nahm ihm das zweite Glas aus der Hand und schlug es mit voller Wucht aufs erste. Beide Gläser zerbrachen. Übrig blieb nur ein Scherbenhaufen. »Zwei Sonnensystemen, die mit aller Gewalt versuchen, denselben Platz im All einzunehmen, ergeht es genauso«, sagte der Professor. Seine Finger bluteten, doch das ignorierte er. »Wo Troust den Raum beherrscht, hat keine andere Sonne etwas verloren. Wird mit dieser Regel gebrochen, dann... dann stürzt der Fahrstuhl ab!« Danog erschrak. So aufgebracht hatte er den Professor noch nicht erlebt. »Verstehe«, erwiderte er leise, und diesmal verstand er wirklich. »Sie befürchten, das fremde Sonnensystem könnte mit unserem kollidieren.« Berkel Mintkas Blutstropfen verteilten sich über die Sternenkarte. »Leider ist das mehr als nur eine Befürchtung. Eine fremde Sonne rast unaufhaltsam auf Troust zu. Der Zusammenprall beider Welten ist nicht mehr aufzuhalten.« Er band sich ein Tuch um die blutigen Finger. Dann lenkte er Danogs Augenmerk auf einige besonders brisante Himmelsaufnahmen. »Der größere Lichtfleck auf der Fotografie ist unser Zentralgestirn Troust. Bei den Flecken im Hintergrund handelt es sich einerseits um uns bekannte Sterne, andererseits um die unbekannten Sterne, die stetig näherrücken. Am gefährlichsten dürfte der harmlos erscheinende Lichtreflex hier zwischen den fremden Sternen sein. Ich vermute, nein, ich bin mir sicher, es ist der Zentralstern des benachbarten Sonnensystems. Behält er den Kurs bei, prallen beide Sonnen unweigerlich aufeinander. Doch selbst wenn sie knapp aneinander vorbeischrammen, wäre der Untergang beider Systeme besiegelt.« »Heißt das, es gibt keine Rettung mehr?« fragte Danog mit
bebender Stimme. Die Antwort des Professors war ein beängstigendes Schweigen. * Vonnock sah sein Vorhaben, das Ringschiff im Handstreich in seine Gewalt zu bringen, gescheitert, noch ehe er es richtig in Angriff genommen hatte. Bereits auf dem Weg zur Zentrale hatte ihn eine ungute Vorahnung beschlichen. Dort angekommen, wurde diese Befürchtung zur Gewißheit: Sie besagte nichts anderes, als daß er sich verrechnet hatte. Dieses Schiff hielt unliebsame Überraschungen bereit. Die Grundkonstruktion entsprach Vonnocks Erwartungen, aber nicht die Details. Vonnocks Bemühen, heimlichen Kontakt zur Steuerung aufzunehmen, sich zu legitimieren und das Kommando an sich zu reißen, scheiterte kläglich. Weil es keine ihm vertraute Steuerung gab... War es den Terranern gelungen, auf Grundlage von Schiffen, die sie irgendwo aufgebracht oder gestohlen hatten, eigene Ringschiffe zu entwerfen? Vonnock brauchte nicht einmal ein fol, um diese und andere Möglichkeiten in seinem Verstand durchzuspielen. Waren die anderen Schiffe in der Umgebung ebenso unbrauchbar konstruiert oder verändert...? Er beschloß, seine ursprüngliche Absicht, Kooperationsbereitschaft vorzugaukeln, fallenzulassen. Jeden Moment konnten seine Jäger auf dieser Welt auftauchen. Solange wollte er nicht warten. Also handelte er. Zielgerichtet wie ein Fanjuur. Doch mit den Fähigkeiten eines Wächters. *
Ren Dhark wußte in dem Moment, daß er einen Fehler begangen hatte, als das Gewitter in seinem Schädel losbrach. Er versuchte noch, Kontakt zur Gedankensteuerung der POINT OF herzustellen, aber dann verlor er die Besinnung, ohne zu erfahren, ob es ihm gelungen war. Rings um ihn sanken andere Männer und Frauen der Besatzung zusammen, wanden und krümmten sich am Boden, schlugen und traten wild um sich. Das letzte, was Dhark wahrnahm, war eine Momentaufnahme des Goldenen, der vor dem Checkmaster zum Stehen gekommen war. Der Fanjuur hatte sich auf unheimlichste Weise verändert: Feine Fäden, die an im Wind wehende, goldblonde Haare erinnerten, trieben von ihm weg und bohrten sich spielerisch leicht in die sonst so widerstandsfähige Unitallverkleidung des Rechengehirns. Unter dem Eindruck dieses bizarren Bildes erlosch Dharks Bewußtsein. Und nach und nach folgten ihm alle an Bord, durch deren Adern Blut, nicht Elektronen strömten...
Jimmy sah Chris Shanton neben sich zusammenbrechen. Auch der Robot-Terrier empfing die für menschliche Organismen unerträglichen ultrahohen Schalltöne, schaltete aber beim ersten Aufkommen wirkungsvolle Filter zwischen Sensorik und Rechnerkern. Mit Shanton hatte sich Jimmy auf dem Weg zum Maschinenraum befunden, um Miles Congollon einen Besuch abzustatten. Soweit kamen sie nun nicht mehr. Die Folgen des Angriffs auf Ultraschall-Ebene waren verheerend. Hilflos mußte Jimmy mit ansehen, wie die
konvulsivischen Zuckungen seines »Herrchens« schon nach wenigen Sekunden erlahmten, schließlich völlig erstarben und der massige Mann regungslos auf dem Gang liegenblieb. Die grellen Töne waren von überallher gleichzeitig gekommen. Die Zelle des Raumers schwang in ihrer Gesamtheit wie eine schreckliche Glocke. Der Vorgang hielt eine volle Minute an. Dann endete er so abrupt wie er begonnen hatte. Jimmy war viel zu klug, um keinen Zusammenhang zwischen der Ankunft des Fremden in der POINT OF und dem Phänomen herzustellen. Nach Abwägung aller ihm bekannten Fakten versuchte er, Verbindung mit der Funk-Z aufzunehmen. Als dies erwartungsgemäß mißlang, disponierte er um. Doch auch der umgehende Versuch, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen, scheiterte. Störfelder unbekannter Natur ließen kein Signal, auf welcher Frequenz auch immer, nach draußen gelangen! Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß Shanton noch lebte und sich in einem relativ stabilen Gesundheitszustand befand, jagte Jimmy der Zentrale entgegen, zu der sich auch Ren Dhark mit dem Goldenen begeben hatte. Unterwegs begegnete er Robotern terranischer Bauart, die das gleiche Ziel wie er zu haben schienen. Jimmy wertete dies als positives Zeichen, daß offenbar nicht die komplette Besatzung dem Schallangriff zum Opfer gefallen war. Im Rahmen seiner Möglichkeiten hoffnungsvoll, schloß er sich seinen mechanischen Verwandten an... * »Warum schweigen sie plötzlich?« Unruhig rutschte Bernd Eylers auf seinem Sitz hin und her. Zusammen mit seinem engsten Mitarbeiterstab war er im Tower von Cent Field eingetroffen – dem Tower, der für den militärischen Bereich zuständig war.
Überwachungskameras, sowohl stationäre als auch Orbitalsysteme, versorgten ihn via Bildschirm fortwährend mit Detailaufnahmen der POINT OF und ihrer näheren Umgebung. Der Techniker, den Eylers gefragt hatte, zuckte mit den Achseln. »Es kam zu einem letzten Spruch, daß man Probleme mit dem Funk an Bord habe. Man wollte sich darum kümmern, seitdem herrscht Funkstille.« »Was ist mit einer schlichten Viphoverbindung?« »Auch Fehlanzeige. Irgend etwas stört jeden Versuch. Die Quelle befindet sich an Bord des Flaggschiffs. Bislang konnten wir nicht ermitteln, worum genau es sich handelt.« Das gefällt mir nicht, dachte Eylers. Sein Unterarm kribbelte. Bezeichnenderweise der Unterarm, der nicht mehr existierte und von einer Kunstprothese ersetzt wurde. Dieser Phantomschmerz meldete sich meist in undurchschaubaren Situationen. Bei Streß. Und als Streß, als Zumutung ersten Grades empfand Eylers das, was Ren Dhark sich an völlig unangebrachtem Vertrauen leistete. Der Goldene behagte dem GSO-Chef noch immer nicht. An seinen friedlichen Absichten hatte er so seine Zweifel... »Die Schleuse öffnet sich!« Der Ruf kam von einem seiner Agenten, der einen anderen Monitor im Auge behielt. »Hier, Sir...« Eylers folgte dem Wink, wußte aber noch nicht, ob es Anlaß zur Erleichterung gab. Er war drauf und dran gewesen, ein Kommando zur POINT OF zu entsenden. Drauf und dran gewesen, selbst nach dem Rechten zu sehen. »Ich nehme an, sie haben den Start verschoben – oder ganz davon Abstand genommen«, murmelte Eylers. »Der Funkausfall muß doch einen Grund haben. Beten wir, daß es nichts mit dem Fremden zu tun hat...« Es kam selten vor, daß Eylers an ein Gebet dachte. Mit zusammengekniffenen Augen wartete er darauf, daß
sich an der nun offenen Schleuse etwas tat. Daß Dhark oder ein anderes Besatzungsmitglied heraustrat und eine Erklärung für den vorübergehenden Verbindungsabbruch liefern würde. Ein Pulk von sechs Robotern erschien. Sie berührten fast den Boden, nachdem sie aus der Schleuse geglitten waren und sich nun vom Schiff entfernten. Hinter ihnen blieb die Öffnung in der Unitallhaut bestehen. Was zunächst wie eine Vorhut ausgesehen hatte, entpuppte sich mit jeder weiteren Sekunde als neues Rätsel. »Da stimmt etwas nicht... Bulton?« Via Standleitung war Eylers mit Marschall Bulton verbunden. Dan Riker, der sich mit seiner Frau Anja ein paar Freistunden an einem nicht näher bekannten Ort geleistet hatte, war inzwischen auch informiert und befand sich dem Vernehmen nach bereits auf dem Weg nach Cent Field. Eylers wäre froh gewesen, ihn schon hier zu haben. Verantwortung teilen zu können, und zwar nicht nur mit Bulton. »Mir gefällt das auch nicht, Eylers. Soll ich eine Einheit in Marsch setzen? Warum hat man die Roboter rausgeschickt?« Die Roboter. Eylers verfolgte via Schirm, wie sie immer mehr Distanz zwischen sich und die POINT OF brachten, dabei aber nicht die Richtung zum Tower einschlugen, sondern sich auf den nächstgelegenen S-Kreuzer zubewegten. Plötzlich verstärkte sich das Kribbeln in seinem amputierten Arm zu einem Brennen, als würde sich ein Heer von Ameisen auf nackter Haut erleichtern. »Ausschnittvergößerung!« blaffte Eylers den Techniker an, der ihm vor den Überwachungsmonitoren assistierte. »Sir?« Die Prothese stieß nach vorn. Das Hartplastik prallte gegen die Monitorscheibe, auf der die Terra-Robots abgebildet waren, die ungehindert über die graue Piste huschten und bereits
Dreiviertel der Strecke zum nächsten Ringschiff zurückgelegt hatten. »Suchen Sie sich einen von ihnen aus, und dann Vollbild – nur einen!« Der Techniker hatte verstanden. Sekunden später lieferte der Schirm die Hochauflösung, die Eylers gefordert hatte. Es lag nicht an der Vergrößerung, daß der Robot... sonderbar aussah. Die Unscharfe oder besser Ungenauigkeit entsprach der Realität. »Tiefer! Näher zum Boden!« Die Kamera schwenkte. Die Unterseite des Roboters und der Boden, über den er schwebte, gerieten ins Bild. Und noch etwas... zunächst Undefinierbares... »Was ist das?« Bezeichnenderweise war es der Techniker und nicht Eylers, der die Frage stellte. »Gehen Sie noch größer«, sagte der GSO-Chef. Von dem Robot weg spannte sich eine Art Faden. »Folgen Sie dem Verlauf!« Der Techniker tat, wie ihm geheißen. Der Faden lief hinüber zu einem der anderen Roboter des Pulks, verschwand in dessen Hülle. Und von diesem Roboter lief ein weiterer Faden zum nächsten Robot, und von dort noch einer zu – »Abschießen!« brach es aus Eylers hervor. Er wandte sich an Bulton: »Das fällt in Ihr Ressort, Marschall: Knallen Sie den Sixpack da unten ab. Volles Rohr aus einem der S-Kreuzer oder einer anderen Einheit, die freie Schußbahn auf den Pulk hat!« »Aber...« »Kapieren Sie endlich: Das sind keine von unseren Robbies!« Bultons immer von einer ungesunden Röte überschattetes
Gesicht wurde kreidebleich. Aber er sparte sich jeden weiteren Kommentar. Eylers hörte mit einem Ohr zu, wie er entsprechende Befehle gab, um das von Eylers geforderte »Abschießen« einzuleiten. »Und wir«, wandte er sich an seine eigenen Agenten, »wir statten der POINT OF einen Besuch ab... Hoffen wir bei Gott, daß dort noch jemand ist, der uns begrüßen kann...!« * Kurz zuvor: Einigermaßen verwirrt sah sich Vonnock mit der Erkenntnis konfrontiert, daß er sich offenbar doch nicht in einem Schiff der Hohen befand! Jedenfalls nicht in einem der Standardschiffe der Wächter von Erron 2! Während Vonnocks Ableger die Verkleidung des unbekannten Aggregats durchstießen, das eine zentrale Funktion an Bord innezuhaben schien, fragte sich der Fanjuur, ob er nicht zu vorschnell, zu unüberlegt gehandelt hatte. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, wenigstens den Terraner Dhark bei Bewußtsein zu lassen. Er hätte ihm wichtige Fragen beantworten können... beantworten müssen – immerhin besaß Vonnock ein ganzes Schiff voller Geiseln. Über die Sondenausleger erreichten ihn erste Daten, wie es hinter der Verkleidung des unbekannten Aggregats aussah. Die Technik dort entsprang zweifellos den Fabrikationsstätten der Hohen, blieb aber dennoch unverständlich in ihrem Aufbau. Vonnock meinte eine Art Hyperenergiezapfvorrichtung zu erkennen, war sich aber nicht sicher, ob es sich tatsächlich nur um einen simplen Stromerzeuger oder eine Sende/Empfangsanlage zur Kommunikation durch das Medium Hyperraum handelte. Die Verschachtelungen blieben auch nach dem Durchlaufen der verfügbaren Analyseprogramme
undurchschaubar. Im Hintergrund glitt das schwere Zentraleschott auf. Roboter stürmten herein. Vonnock handelte auch jetzt ohne Panik, zielgerichtet. Er rief sämtliche Sonden zurück, die wie groteske Schnüre in ihn zurückschnellten, und stellte sich augenblicklich der neuen Herausforderung. Der erste Strahltreffer zerplatzte bereits auf seiner Außenhaut, ohne Schaden anzurichten. Vonnock feuerte nicht zurück. Welche geheime Instanz hatte die Roboter aktiviert? War man draußen auf Unregelmäßigkeiten an Bord aufmerksam geworden, oder hatte er, Vonnock, einen verborgenen Sicherheitsmechanismus ausgelöst? Und worum handelte es sich bei der Box, die an so dominanter Stelle installiert worden war? Vonnock suchte in seinen Speicherbänken nach einer Antwort. In dem Schatz an Grundwissen, der dem Körper, in den er gesperrt war, bei der Erschaffung eingepflanzt worden war. Vonnock hatte die Fertigungsstätte der Wächter betreten. Seither wußte er, woraus die Biokomponente bestand, die es gestattete, Bewußtseine aufzunehmen, in sich zu lagern. Der Anblick des Pools, in dem das Protoplasma aufbereitet wurde, würde ihn nie mehr loslassen. Erron 2 barg so manchen Horror, sobald man die Station mit wachem Blick betrachtete. Manchmal wünschte Vonnock, nie aus seinen Träumen erwacht zu sein. Doch es war nicht mehr ungeschehen zu machen. Etwas in ihm war zu Schaden gekommen. Und ausgerechnet dieser Defekt hatte Vonnock zur Rebellion befähigt... ERGIB DICH, sagte eine Stimme. Sie erklang in ihm. Benutzte dieselbe Frequenz wie Vonnocks Gedanken sie benutzten. Die Aufmerksamkeit immer noch auf die schwebenden
Roboter gerichtet, fragte Vonnock: Wer spricht da? ICH BIN DER CHECKMASTER. Was ist ein Checkmaster? DREH DICH UM, DU STEHST DAVOR UND HAST GERADE VERSUCHT, MIR SCHADEN ZUZUFÜGEN. Die Box! Das unbekannte Aggregat, das ihn daran hatte zweifeln lassen, sich überhaupt in einem Schiff der Hohen zu befinden! Ich bin ein Wächter. Wer oder was auch immer du bist, du unterstehst meiner Autorität! Hast du diese primitiven Roboter auf mich gehetzt? Ruf sie zurück, sofort, sonst... SONST? ... werde ich dich vernichten. DAS KANNST DU NICHT. Du unterschätzt meine Möglichkeiten. WIE SOLLTE ICH? ICH KENNE DEINESGLEICHEN. Dann bist du mir tatsächlich einen Schritt voraus. Ich habe etwas wie dich noch nie an Bord eines Einsatzschiffes gesehen. Wer hat dich erbaut – und wozu? MARGUN UND SOLA. Ich habe nie von ihnen gehört. DAS WÜRDE MICH AUCH WUNDERN. Besitzen alle Schiffe, die hier im Hafen liegen, einen... Checkmaster? NEIN. ICH BIN EINZIGARTIG. Vonnock frohlockte innerlich. Offenbar gab es doch noch Hoffnung. Vorrangig um von diesem Gedanken abzulenken, weniger aus wirklichem Interesse, fragte er: Bist du – mir verwandt? Besitzt du eine ähnliche Komponente wie die Wächter? Bist du... beseelt? Von einer ähnlich bedauernswerten Kreatur, wie ich eine bin? BEENDEN WIR DIESE DISKUSSION. DU HAST DICH ZU EINEM ANGRIFF AUF DIE BESATZUNG
HINREISSEN LASSEN. DARAUF GIBT ES NUR EINE ANTWORT: KAPITULIERE, ODER ICH WERDE DICH VERNICHTEN! Damit? Vonnock gab dem Checkmaster zu verstehen, wie wenig ernst er die primitiven Kampfrobots nahm, denen er ihre Grenzen schon unmittelbar nach dem Transmitterdurchgang aufgezeigt hatte. Maschinen, die der Technik der Hohen nicht das Wasser reichen konnten. Auch hierin war wieder ein Widerspruch zu lesen, für den Vonnock keine Erklärung fand: Der Checkmaster war hochentwickelte Technologie, sogar befremdlich hochentwickelte. Warum wählte er sich dann schwächliche Helfer wie diese aus? In welcher Beziehung standen die Terraner zu den Hohen? Wie hatten sie sich in den Besitz all der Schiffe gebracht? Wie hatte ihnen dies gelingen können, ohne als Volk in seiner Gesamtheit bestraft und vernichtet zu werden? Es war ein weiterer Hinweis darauf, wieviel Zeit vergangen sein mußte, seit er, Vonnock, zum Wächter rekrutiert worden war. Damals hatten die Hohen noch gelebt, er war sich sicher, obwohl er nur verschwommenes Wissen über sie besaß. Das Programm war daran schuld. Es unterdrückte vieles von dem, was in den Speichern schlummerte. Wäre es also nicht klüger gewesen, zunächst wirklich auf das Angebot des Terraners Dhark einzugehen und ihn versuchen zu lassen, die Programmsperren zu beseitigen? Vonnock verneinte für sich selbst. Er hatte die größten Hemmnisse selbst beseitigt. Alles, was er jetzt noch wollte, war, seinen wahrhaftigen Körper zurückzubekommen! Der noch existierte! Irgendwo im Hyperraum. In einem Depot der Hohen...
Er wagte nicht, in Erwägung zu ziehen, getäuscht worden und einer Fehlinformation aufgesessen zu sein. Diese Suche nach seinem eigenen Körper war die einzige Motivation, die ihn noch befähigte, überhaupt zu agieren. Die ihm die Kraft gab, weiter vor seinen Häschern zu flüchten... Du hast recht, wandte er sich wieder dem Checkmaster zu. Beenden wir die fruchtlosen Diskussionen. Hier meine Antwort: Ich werde nicht kapitulieren. Du wirst es tun. Ich werde dieses Schiff ungehindert verlassen und mich an Bord eines Schiffes begeben, das mir gehorchen wird. DAS WERDE ICH ZU VERHINDERN WISSEN. Du irrst und unterschätzt meine Entschlossenheit. Ich bin bereit, mich notfalls selbst zu opfern. Was glaubst du, würde dies für das Schiff – und seine Besatzung – bedeuten? DU BLUFFST. Willst du es riskieren, eines Besseren belehrt zu werden? WAS SIND DEINE FORDERUNGEN? Während Vonnock mit der geheimnisvollen Instanz des Schiffes verhandelte, bildete er an den Füßen haarfeine, goldfarbene Tentakel aus, die sich kaum wahrnehmbar über den Boden schlängelten. Ich verlange, gab er gleichzeitig zurück, daß du jeden Versuch unterläßt, eine Warnung nach draußen abzugeben, bis ich in dem anderen Schiff und gestartet bin. Ich verlange, daß du das Leben deiner Besatzung schützt, indem du gehorchst – und mich jetzt, sofort, ungehindert gehen läßt! Bis zur Erwiderung des Checkmasters verging keine meßbare Zeitspanne. SO SEI ES. Vonnock machte sich keine Illusionen. Seine Tentakelausläufer züngelten zu den knapp über dem Boden schwebenden terranischen Robots empor und verschwanden in Öffnungen, die offenbar zu Wartungszwecken eingerichtet waren.
Binnen kürzester Frist hatte er die Programmhirne der primitiven Maschinen gefunden und hatte Veränderungen vorgenommen. Die A-Gravpolster erloschen. Die Robots stürzten zu Boden. DAS WÄRE NICHT NÖTIG GEWESEN. Überlaß das mir. Vonnock zog seine Ausläufer zurück. In diesem Augenblick öffnete sich das zentrale Schott erneut. Ein noch rudimentärerer Robot als die gerade überlisteten stürmte auf vier Stummelbeinen herein. Vonnock kannte ihn bereits von seinem Herflug. Aber er war nicht mehr geneigt, weitere Zeit für eine gemäßigte Reaktion aufzuwenden. Statt Tentakeln sandte er eine nicht zu hoch dosierte Energieschockwelle gegen den grotesken, von Fell umspannten Körper, der mit Betreten der Zentrale sofort sein internes Sendeaggregat aktivierte. Offenbar wollte er einen Spruch nach draußen absetzen. Etwas, was Vonnock bereits dem Checkmaster strikt untersagt hatte. Mitten im Lauf, seltsam abgehackte Laute ausstoßend, verstummte der kleine Roboter urplötzlich, geriet ins Straucheln, weil ihm alle vier Beine auf einmal wegknickten und blieb wie vom Blitz gefällt liegen. Vonnock schenkte ihm keine Beachtung mehr. Ohne eine weitere Nachricht an den Checkmaster stapfte er durch das noch offene Schott. Den Weg zur Schleuse kannte er. Aber er war bereit, einen kleinen Umweg zu machen. Den Schiffsaufbau hatte er den Speichern der Roboter entnommen. Jener Roboter, die sich unversehens wieder erhoben, als er ging. Ihre A-Gravfelder bauten sich unter dem Geräusch leiser elektrischer Entladungen zögernd wieder auf, und taumelnd folgten sie dem Goldenen. Beim Maschinenraum trennten sie sich von ihrem neuen Herrn.
Vonnock stellte sicher, daß sie die Halle betreten konnten, dann wandte er sich der Schleuse zu. Gleichzeitig begann er, das Dauersignal abzustrahlen, das eine völlig unübliche Frequenz belegte und mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht angemessen werden würde. Zumindest nicht von draußen. Der Checkmaster hüllte sich immer noch in Schweigen. Das änderte sich erst, als Vonnock den inneren Schleusenbereich erreicht hatte. ICH ERHALTE FUNKSPRÜCHE VON DRAUSSEN. MAN IST AUFMERKSAM GEWORDEN, VERLANGT EINEN STATUSBERICHT. WAS SOLL ICH TUN? Nichts. SIE WERDEN VERDACHT SCHÖPFEN. Ist es nicht das, was du willst? ABER DOCH NICHT DAS, WAS DU WILLST? Die Instanz hatte offenbar ihre ureigene Auffassung von Humor. Humor. Das war auch etwas, was Vonnock als Fanjuur nie kennengelernt hatte. Doch der Kerker hatte ihn in mehr als einer Hinsicht verändert. Wie sehr, wußte selbst er nicht genau. Die Grenzen waren fließend geworden. Oft war es unmöglich, noch klar zu bestimmen, was er sich von seinem ursprünglichen Wesen bewahrt hatte. Ein Wächter lebte und handelte nach ganz anderen Richtlinien. Manchmal härteren, oft aber auch kaum nachvollziehbar weichen. Als hätten die Hohen ein Spiegelbild ihrer eigenen Widersprüchlichkeit in die Programmstruktur einfließen lassen. Die Frage, ob Dharks Behauptungen, die Amphis betreffend, nun wahr oder aus den Fingern gesogen waren, beschäftigte Vonnock unterschwellig mehr, als er es sich eingestehen wollte.
Genau wie die Frage, wie lange seine Gefangenschaft in diesem Körper wirklich schon andauerte. Und was aus seinem Nanoanzug geworden war. Ob er noch die gestohlene Hülle des Fanjuur kleidete, der er einmal gewesen war? Des Kriegers Vonnock? Er war entschlossen, die Antworten darauf zu finden – aber erst nachdem er sich, ganz gleich wie, seinen eigenen Körper zurückerkämpft hatte. Längst hatte er sein persönliches Anliegen über die Aufgabe eines Wächters gestellt. Er brauchte die Terraner nicht mehr, um sich von der Knebelung des Programms befreien zu lassen. Er hätte ihnen alles über Erron 2 verraten können. Alles. Aber wozu? Er hätte ihnen sogar sagen können, daß dort womöglich noch ein Hoher hauste. Wenn auch nicht in der Gestalt, in der sie ihn erwartet hätten... Bevor Vonnock die Schleuse öffnete und das Schiff, das ihm zu mächtig war, verließ, änderte er seine Gestalt abermals. Und gab dem Checkmaster unmißverständlich zu verstehen, daß er sich gegen alle Eventualitäten gewappnet hatte. Zumindest alle für ihn vorstellbaren. Wahrscheinlich hast du vor, Alarm auszulösen, sobald ich von Bord bin, weil du denkst, damit sei die größte Gefahr gebannt. Ich muß dich aber enttäuschen. Wage es nicht. Ich habe deine eigenen Roboter in meinem Sinne manipuliert. Sie befinden sich jetzt an einem Ort, wo ihre Explosion genauso unweigerlich zur Katastrophe führen würde, als würde ich mein Selbstvernichtungsprogramm aktivieren. Du wirst meine Manipulation nicht rückgängig machen können, ohne daß die Bomben zünden. Ihre Vernichtung würde in einer Kettenreaktion das komplette Schiff zerstören. Mit jedem Lebewesen – und dir – an Bord! Der Checkmaster schwieg, aber Vonnock hatte keinen Zweifel, gehört zu werden.
Er fuhr unbeirrt fort: Die potentiellen Bomben werden nicht über einen Impuls gezündet, den ich erst senden muß. Es nützt also nichts, wenn du dein Intervallum aktivierst. Im Gegenteil: Genau das hätte fatale Folgen. Seit ich die Roboter in meinem Sinn verändert habe, strahle ich ein permanentes Signal ab, das sie davon abhält, ihre Selbstvernichtungssequenz zu aktivieren. Sobald du das Schiff abschottest, wird dieser Kontakt unterbrochen. Dann sterben alle an Bord. Das solltest du bedenken und mich jetzt gehen lassen, ohne die Außenwelt zu alarmieren. Ohne auf ihre Anfragen zu reagieren – es sei denn mit nichtssagenden Hinhaltefloskeln. Haben wir uns verstanden ? Ich hoffe, du nimmst meine Drohung ernst. Ich will niemandem schaden. Ich kam in Frieden. Aber ich bestimme selbst, wann ich auch wieder gehe. Ihr ahnt nicht, was geschähe, wäre ich noch hier, wenn sie kämen... WIE WILLST DU DEINE BOMBEN ENTSCHÄRFEN? SOBALD DU EIN SCHIFF GEKAPERT HAST, DAS DIR GEEIGNET ERSCHEINT, WIRST DU DICH ABSETZEN – UND DIE GERADE GESCHILDERTE UNTERBRECHUNG DES DAUERSIGNALS WIRD SO ODER SO ERFOLGEN. Unmittelbar nachdem ich von diesem Planeten gestartet bin, werde ich eine Impulsfolge senden, die meine Maßnahme entschärft, antwortete Vonnock. WELCHE GARANTIE HABE ICH, DASS DAS STIMMT? Gar keine. Aber du hast auch keine Wahl. Im Bewußtsein, alles in die Wege geleitet zu haben, um sich abzusichern, öffnete Vonnock die Schleuse und verließ das Schiff, auf dem von draußen so viele wache Blicke lasteten. Es bereitete ihm dennoch keine Sorge, man könnte ihn erkennen und aufzuhalten versuchen. Zumindest hoffte er für die Terraner, daß ihm niemand
frühzeitig auf die Schliche kommen würde. * Der Angriff erfolgte, kurz bevor er das anvisierte Schiff der Hohen erreichte. Es war das Schiff selbst, das ihn angriff. Seine Besatzung... Die Finte war also durchschaut. Vonnock mußte nicht länger an der Maskerade festhalten. Während sich ein tückisch grüner Strahl aus der verborgenen Geschützantenne des Raumers löste und auf ihn zuraste, führte er einerseits ein blitzschnelles Ausweichmanöver aus, zum anderen zog er seine aufgespaltene Materie wieder zusammen. Der Schuß fuhr in die Landepiste und verwandelte tote Materie in amorphen Staub. Die vermeintlichen Terra-Roboter waren wie Quecksilberklumpen aufeinander zugesprungen und miteinander verschmolzen. Ihre Form wandelte sich zurück zu Vonnocks Wächterstatur. Er beschleunigte umgehend und jagte auf den Ringraumer zu. Was ein Treffer der grünen Kampfstrahlen bei ihm bewirkt hätte, wollte er sich nicht ausmalen. Er wußte es auch nicht. Aber er wußte, daß diese Waffengattung, über die er selbst verfügte, ausschließlich leblose Materie zersetzte – organische Komponenten ließ sie unversehrt. Was dies in Vonnocks Fall bedeutet hätte, wußte der Fanjuur nicht schlüssig zu sagen. Sein Bewußtsein war an organische Moleküle gebunden, die quasi verwoben waren mit dem anorganischen Anteil des Robotkörpers. Wenn dieser Verbund aufgebrochen wurde, was blieb dann noch übrig? Jenes Protoplasma, das er in der Fabrikationsstätte auf Erron
2 gesehen hatte? War es ohne die anorganische Komponente lebensfähig? Vielleicht. Aber gewiß nicht für lange. Und ebenso gewiß schien, daß die Terraner keine Anstrengungen übernehmen würden, ihn am Leben zu erhalten. Warum sollten sie? Er hatte sie hintergangen. Dabei versuchte er weniger, sie zu bestehlen, als sich selbst davonzustehlen... Während der nächste Schuß von seinen Sensoren im Moment des Auslösens erfaßt und sein Bahnverlauf errechnet wurde, überlegte Vonnock, ob er einen Notsprung ausführen sollte. Eine Transition aus dem Stand. Er war dazu fähig. Doch der Grund, der ihn die ganze Zeit daran gehindert hatte, war auch jetzt noch gültig. Die Transition eines Wächters wäre unweigerlich angemessen worden. Sie erschütterte den Kosmos in einem Maß, daß sie über Sternenabgründe hinweg registriert wurde. Erron 1 mit seinen gigantischen Antennen war darauf spezialisiert, solche »Beben« im Milchstraßengefüge anzumessen und die Koordinaten fast ohne Zeitverlust an Erron 2 weiterzuleiten. Auch Wächter gerieten mitunter während eines Einsatzes für die Hohen in eine ausweglose Lage. Dann blieb ihnen vielleicht als allerletzte Rettungsmöglichkeit nur noch der Dimensionssprung – eine Art Kalttransition aus dem Stand heraus, die sämtliche Kraftreserven aufbrauchte. Ein Wächter, der diesen Weg wählte, war aber am Materialisierungspunkt für längere Zeit absolut wehrlos. Vonnock hatte damit erst jüngst seine unguten Erfahrungen gemacht. Noch einmal wollte er eine derartige Situation wie bei den Moogh nicht riskieren. Erst recht nicht so nah vor dem Ziel... Er beschleunigte.
Die verbleibende Distanz schaffte er in einem aberwitzigen Lauf um imaginäre Hindernisse herum. Für sich selbst projizierte er eine Art Rasterfeld auf seine Umgebung, wertete permanent die Erkenntnisse der Ortungssensoren aus und setzte sie in Bewegung um. Der riesenhafte Körper gewann dabei für die Betrachter im Tower, an Bord der S-Schiffe und anderswo noch mehr Ähnlichkeit mit einem kraftstrotzenden olympischen Helden der Antike. Das fehlende Gesicht störte diesen Eindruck nur gering. Durch die rasend schnellen Aktionen verwischte ohnehin alles für das unbewaffnete Auge. Ein letzter Haken... ... und Vonnock stand vor der hoch aufragenden Ringzelle des Schiffes. Es hatte sein Feuer eingestellt, wohl um sich auf diese Nähe nicht selbst zu gefährden. Vonnocks erneut zu Tentakeln veränderte Gliedmaßen hatten bereits den gesuchten Zugang gefunden. Diesen Schiffstypus kannte er genau. Er wußte, was zu tun war. Er vermutete, daß die Terraner diese spezielle Schnittstelle für Wächter nicht einmal kannten, perfekt in der Metallhaut verborgen, wie sie sich ihm präsentierte... Die Schiffszelle öffnete sich. Vonnock sprang hinein. Das Loch in der Hülle schloß sich wie eine im Zeitraffer heilende Verletzung. Vonnock »sah« mit seinen speziellen Sinnen Wachen auf sich zustürmen. Ohne Zögern streckte er sie mit Paralysestrahlen nieder. Sie sanken gelähmt zu Boden. Während des ganzen Geschehens hatte der Fanjuur das Dauersignal zum anderen Ringschiff beibehalten. Denn er hatte keineswegs geblufft. Und er hielt es auch jetzt noch aufrecht, denn obwohl er inzwischen nicht mehr unentdeckt war, wollte er vermeiden, daß sich die ominöse Instanz »Checkmaster« auf
irgendeine Weise an der Jagd nach ihm beteiligte. Unterwegs zur Zentrale blies er auch hier zur Ultraschallattacke, verwandelte sämtliche Bestandteile der Ringzelle in einen gewaltigen Resonanzkörper, der die schädlichen Töne in jeden Winkel des Schiffes trug. Reglose Körper säumten seinen Weg. Nirgends an Bord traf er mehr auf Widerstand. Sämtliche Roboter, denen er begegnete, ruhten zwar auf ihren A-Gravpolstern, waren aber ansonsten inaktiv. Offenbar warteten sie auf Befehle, die nicht kamen. Es gab niemanden mehr an Bord, der ihnen diese Befehle hätte erteilen können. Die in Frage kommenden Offiziere waren in tiefer Ohnmacht versunken. Vonnock nahm es als Indiz, daß der Checkmaster tatsächlich ein Unikat oder doch zumindest höchst selten auf den Ex-Schiffen der Hohen, die sich im Besitz der Terraner befanden, anzutreffen war. Er manipulierte die passiven Roboter und instruierte sie in seinem Sinne. Nach diesen Verzögerungen erreichte er schließlich die Zentrale, die für ihn geräumt wurde, noch während er seinen Platz vor der Steuerung einnahm und mit dieser regelrecht verschmolz. Weiterhin hatte die Funkbrücke zum Flaggschiff der Terraner Bestand. Vonnock war nicht auf sinnloses Blutvergießen aus. Kein Fanjuur war das je gewesen. Und die Amphis, die der Terraner ihm beschrieben hatte, unterschieden sich nicht nur darin von seinem Volk. Kämpfen hatte mit Kodex zu tun. Mit Ehrgefühl. Der Krieg war ein schmutziges Geschäft, aber er wurde nicht aus Lust oder Gedankenlosigkeit heraus geführt. Die Fanjuur hatten immer nur ihre Grenzen und Räume verteidigt, ihre... Brut. Verbunden mit dem Zentralgehirn des Schiffes, das sich maßgeblich von dem unbekannten Checkmaster-Aggregat unterschied, bereitete Vonnock alles für den sofortigen Start
vor. Bevor sich das gekaperte Schiff jedoch von seinem Hafen erhob, sandte er einen unverschlüsselten Funkspruch an die Terraner – in deren Sprache, die er längst mühelos entschlüsselt hatte. In dem Spruch legte er erneut die Geiseln auf die Waagschale und verbat sich jedweden weiteren feindlichen Akt. Bei Zuwiderhandlung, ließ er wissen, sollten alle an Bord sterben. Gleichzeitig waren jedoch die Vorbereitungen zur Evakuierung des Schiffes in vollem Gang. Die von Vonnock befehligten terranischen Robots sammelten sämtliche Besatzungsmitglieder in den Schleusenbereichen. Noch während Vonnock aufgefordert wurde, sich zu ergeben und keinesfalls zu starten, ging alles ganz schnell. Die Schleusen öffneten sich – und die komplette Besatzung wurde, nicht gerade sanft, aber auch nicht so grob, daß sie Schaden davongetragen hätte, aus dem Schiff geworfen, das knapp über dem Boden schwebte. Sofort schlossen sich die Ausgänge wieder. Ein Impuls, und sämtliche Roboter schalteten sich ab. Vonnock aktivierte das Triebwerk und schoß mit voller Impulsgeschwindigkeit in den Himmel über der Stadt. In Höhe der Mondumlaufbahn sandte er das Signal, das die Robotbomben entschärfte, die er zurückgelassen hatte, um den Checkmaster unter Kontrolle zu halten. Verfolgt von ersten Geschwadern, aktivierte Vonnock auch jetzt noch nicht das Intervallum, sondern baute im Dialog mit dem Schiff einen perfekten Ortungsschutz auf, der den Ringraumer augenblicklich von allen Sensoren löschte. Danach erst führte Vonnock eine verdeckte Transition durch, die ihn ins übergeordnete Kontinuum zwar eintauchen, es aber vorläufig nicht mehr verlassen ließ. Er nutzte das komplette zur Verfügung stehende Instrumentarium und nahm seine unterbrochene Suche wieder
auf. Die Suche nach dem Depot der Hohen, in dem die Körper all jener gelagert wurden, die jemals als Wächter rekrutiert worden waren. Folglich auch sein Körper. Und vielleicht sogar der verlorene Nanoanzug, der ihn, sollte er noch existieren, endgültig von seinen Verfolgern befreien und in die Lage versetzen würde, dem Schicksal seines Volkes nachzuspüren. Spätestens dann würde er erfahren, wie lange er wirklich »weg« gewesen war. Und ob es eine Möglichkeit zur späten, mehr als späten Heimkehr gab...
4. Huxley betrat als einer der letzten die CHARR. Die grünlich pulsierenden Energiefelder trugen ihn durch den Leib des nogkschen Fünfhundertmeterriesen zum Leitstand ganz vorn im Bug, wo sein Stellvertreter und I.O., Lee Prewitt, und Maxwell, sein Zweiter Offizier, schon auf ihn warteten. Huxley glitt in seinen Konturensitz zwischen den beiden Offizieren, nachdem er mit einem raschen, forschenden Blick die Instrumente und Holodisplays überflogen hatte, die gut überschaubar vor den drei Männern auf einer bogenförmigen und abgeschrägten Konsole angeordneten waren. Zwar war die CHARR ein nogksches Erzeugnis, aber sie wich in vielen Dingen von ihren Schwesterschiffen ab, da sie fast durchgängig auf die Bedürfnisse der terranischen Besatzung hin verändert war, obwohl nach wie vor die nogkschen Symbole und Zeichen vorherrschten. Aber Huxley und seine Leute hatten keine Mühe mit ihnen; dank der im Arboretum der CHARR durchgeführten Mentalschulung. Arboretum, so nannten sie mittlerweile den in der genauen Mitte des Schiffskörpers gelegenen, mit der prosaischen Bezeichnung »Sonnenhangar« versehenen, hundert Meter langen Erholungsraum, der eine mathematisch exakte Ellipse darstellte, in deren beiden Brennpunkten sich das wohl größte Wunderwerk der nogkschen Technik befand: zwei künstliche, sowohl in Bezug auf ihr Spektrum als auch auf die Zusammensetzung ihrer Strahlung voneinander getrennt regelbare Miniatursonnen. Das ellipsoide Gewölbe war eine für Huxley und seine Besatzung äußerst nützliche Einrichtung, ähnlich einem Solarium, nur viel größer und wesentlich umfassenderer in der Wirkung. »Hat die Raumüberwachung die Daten der Anomalie im
Exspect schon in unsere Speicher überspielt?« Maxwell bestätigte. »Überspielt und in die Nav-Rechner eingespeist«, ließ er verlauten. »Okay. Bringen Sie das Baby hoch, Mister Prewitt«, ordnete Huxley an. »Aye, Sir!« Die CHARR hob vom Raumhafen ab. Allein diesmal. Keine EUROPA war dabei. A-Grav trug den Ellipsenraumer durch die Lufthülle Reets. In einer Höhe von knapp fünfzig Kilometern befand er sich über der Atmosphäre. Jetzt beschleunigte die CHARR und jagte bald mit knapper Unterlichtfahrt im flachen Winkel über die Ekliptik in den tiefen Weltraum jenseits der Planetenbahnen. Auf den Heckfeldern der Allsichtsphäre schrumpften erst Reet, dann die anderen fünfzehn Planeten der Sonne Corr unter ihren Blicken zusammen. In den Maschinendecks war nichts zu hören als das wispernde Geräusch der Konverterbänke und Antriebsaggregate. Huxley schaltete die Rundrufanlage ein. »An alle Stationen. Status?« »Systeme sind bereit«, meldete sich die Funk-Z. »... Antrieb o.k., Skipper«, kam die ruhige Stimme Chief Erkinssons, des Triebwerksspezialisten, der Huxley schon auf der FO I in dieser Eigenschaft begleitet hatte. »Nur wenige Minuten, dann haben die Konverter die nötige Leistung für die Antisphäre und wir können springen.« Nacheinander kamen die Bestätigungen aller Stationen herein. Huxley nickte zufrieden. Alles schien bestens zu laufen. Die CHARR wurde immer schneller; der nogksche Antrieb konnte den Ellipsenraumer mit enormen Werten
beschleunigen. Noch vier Minuten bis zur ersten Transition. Sie vergingen in ereignisloser Eintönigkeit, zerpflückten die Zeit in kaum noch meßbare Intervalle. Eine seltsame Stimmung hatte von Huxley Besitz ergriffen, und nicht nur von ihm, wie er mit einem schnellen Blick auf seinen Ersten Offizier Lee Prewitt feststellen konnte. Ob das Auswirkungen der Zeitdilatation waren? Im hochrelativistischen Geschwindigkeitsbereich geschahen mitunter die merkwürdigsten Dinge, und die tollsten Geschichten kursierten in den Reihen der Raumfahrer, wenn diese auch zu 99,9 Prozent jenem Bereich zugeordnet werden mußten, den man in sehr viel früheren Zeiten als »Seemannsgarn spinnen« bezeichnet hatte. Doch hier konnte das nicht sein; die nogkschen Wissenschaftler hatten es irgendwie fertiggebracht, diese üblicherweise unumgänglichen Nebeneffekte auszuschalten. Auch verliefen die Transitionen ihrer Schiffe anders. Mußten die terranischen Schiffe noch knapp auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden, ehe sie ohne allzu große Energieverluste das Normalkontinuum verlassen und in Transition gehen konnten, wurde der Sprung der CHARR durch den Pararaum durch gewaltige, von den Rechnern des Ellipsenraumers gesteuerte Konverterbänke eingeleitet, die das Schiff mit einer Antisphäre umgaben. Diese wurde augenblicklich als Fremdkörper aus dem Normaluniversum ausgestoßen, mit allem, was sich in ihrem Innern aufhielt. Durch abermaliges Wechseln der Polarität konnte die CHARR in das Einsteinkontinuum zurückkehren. Zwei Minuten... Jeden Moment würden sie den Halo endgültig verlassen und in den Einflußbereich des Exspects geraten. Das Exspect! Jene geheimnisvolle Zone außerhalb des Halos der Milchstraße. Eine bislang unüberwindbare Barriere in
psychischer wie physischer Hinsicht für die Nogk auf ihrem Weg nach Andromeda. Und ein Strahlungsphänomen, wie es so bislang noch nicht aufgetreten war: Je größer die Entfernung zur Galaxis anwuchs, desto geringer wurde deren Spannungsfeld, und um so höher stieg der Energieaufwand, um aus dem Normalraum in den Hyperraum zu gelangen. Transitionen wurden zu einem Vabanquespiel, denn weder Entfernungen noch der enorm anwachsende Energieverbrauch ließen sich exakt berechnen. Huxley warf einen Blick hinüber zu den sechs kobaltblauen Nogk, die hinter ihren Konsolen auf der linken Seite des Leitstandes saßen und ihre Instrumente beobachteten. Der Colonel war sich bewußt, daß er und seine Generation das Privileg hatten, hier erstmals einen Evolutionssprung der Natur real mitzuerleben. Etwas, was sich auf der Erde einst in Zeiträumen von Jahrmillionen abgespielt hatte, geschah mit dem Volk der Nogk innerhalb einer Generation! Noch eine Minute... Huxley spann seine Gedanken weiter. Die Nogk waren eine faszinierende Mischung aus Insekt und Reptil. Etwa zweieinhalb Meter groß, langbeinig, mit kräftigen Armen, an deren Enden sich vierfingrige Hände befanden. Sie konnten sich mit einer Schnelligkeit bewegen, die an die Raubechsen der Erdgeschichte erinnerten. Die lederartige, braune Haut war gelblich gepunktet. Das absolut Fremdartige an ihnen war der mächtige, libellenartige Kopf mit den gefährlich wirkenden Mandibeln, den großen, seitlich am Kopf stehenden schwarzen Facettenaugen und den zwei langen Fühlerpaaren dazwischen. Tantal war der erste seiner Art, spann Huxley seine Gedanken weiter, deren Anderssein sich am augenfälligsten in ihrem Äußeren manifestierte und sie grundlegend von den alten Nogk abhob. Sie waren etwas kleiner, etwas geschmeidiger und besaßen eine kobaltblau schimmernde
Haut. Und sie waren, nach Tantals Worten, resistent gegen die Strahlung des Exspects. Jetzt... Die Transition der CHARR verlief unspektakulär. Gerade eben standen noch die Sonne Corr und das Band der Milchstraße auf dem in Sektoren eingeteilten Allsichtschirm. Sekundenbruchteile später verloschen die Sterne. Der golden schimmernde Druckkörper der CHARR verwischte zu einem diffusen Nebelfleck und war dann ebenfalls verschwunden. * Übergangslos glitt die CHARR aus dem Raumzeitgefüge des Hyperraums und materialisierte im Einsteinkontinuum. Die erste Transition über eine weite Strecke hinweg hatte sie hinter sich gebracht. Aber war sie auch am vorberechneten Punkt in den Normalraum eingetreten? Als die sternflimmernde Kulisse der Milchstraße wieder auf den rückwärtigen Sichtsphären erschien, war der erste Laut, den Huxley hörte, das verhaltene, aber eindeutig ärgerliche Fluchen von Lee Prewitt. Der Colonel wirbelte in seinem Kontursessel herum. »Was ist, Mister Prewitt?« »Wir sind nicht weit genug gesprungen. Sir!« »Welche Sprungdistanz haben Sie den Nav-Rechnern eingegeben?« »Zwanzigtausend Lichtjahre, wie Sie angeordnet hatten.« »Wie weit sind wir tatsächlich gekommen?« »Nicht mehr als...« der Erste konsultierte vorsichtshalber noch einmal die Entfernungsangaben, die vom AstrolabRechner anhand der Konstellation der Sonne Corr in Bezug zur Milchstraße und der augenblicklichen Position der CHARR zweifelsfrei errechnet werden konnten, »... knappe
siebzehntausend.« Huxley nickte. Er wirkte nicht überrascht. Etwas ähnliches war ihm schon mehrfach passiert. Einmal, als er den Zug der Nogk nach Corr begleitete. Dann noch einmal, als er an Bord der EUROPA die Spur der drei Eiraumer verfolgte, die in selbstmörderischer Absicht einen Weg nach Andromeda gesucht und dem Exspect zum Opfer gefallen waren. Er wandte sich an seinen Zweiten Offizier. »Was macht der Kurs?« Maxwell antwortete: »Geringfügige Abweichungen, aber nichts Gravierendes, bis auf die zu kurze Sprungdistanz.« Huxley runzelte überlegend die Brauen. Dann schloß er einen Kontakt auf der Konsole vor sich. »Zentrale an Funk-Z. Stellen Sie eine Verbindung mit Reet her. Die Raumkontrolle soll uns ständig über Leitimpulse auf Kurs zur Anomalie halten. Speisen Sie die Impulse in unsere Nav-Rechner ein, die können dann die Abweichungen automatisch kontrollieren.« »Verstanden, Sir. Ich nehme Kontakt mit Reet auf!« Der Funkoffizier verschwand aus der Sichtsphäre. Huxley wechselte die Phase. »Chief!« Erkinsson meldete sich aus seinem Leitstand über dem Haupt-Konverterraum. »Colonel?« »Wie sieht's bei Ihnen aus?« Das kantige Gesicht des Triebwerksspezialisten blickte ihm aus der Sichtsphäre über der Konsole entgegen. »Die Aggregate arbeiten zufriedenstellend, Sir« ließ er verlauten. »Aber sie verbrauchen mehr Energie, als sie eigentlich dürften, bei unserer Schleichfahrt von nicht mehr als sechs Achtel Licht. Es ist, als wäre irgendwo ein Leck
vorhanden, durch das die Energie verschwindet. Doch dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Es ist höchst beunruhigend.« Huxley nickte. Auch das entsprach seinen Erwartungen und war deshalb keine Überraschung für ihn. Gleichzeitig mit der Verringerung der Sprungdistanzen stieg jeweils der Energieverbrauch aller Schiffe an, die sich im Exspect bewegten. Er fragte sich nur, ob die Energiereserven der CHARR ausreichten, um jene Anomalie zu erreichen – und das Schiff auch sicher wieder mit Mann und Maus ins Corr-System zurückzubringen. Und mit Tantal und dessen Gefährten! Er blickte kurz zu ihnen hinüber. Noch schienen sie unverändert. Noch zeigten sie keinerlei Anzeichen eines beginnenden Zerfalls, so sehr Huxleys scharfe Augen auch forschten. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Auch die sechs Meegs an Bord der EUROPA waren ohne warnende Vorzeichen binnen Sekundenbruchteilen zu Staub zerfallen, und ihm war nur die traurige Pflicht geblieben, ihre Überreste in Gefäße zu füllen und nach Reet zurückzubringen. Er hoffte inständig, daß es diesmal einen anderen, weniger dramatischen und tödlichen Ausgang nehmen würde und daß Tantal mit seiner Versicherung recht bekommen würde, das Exspect könne ihnen nichts anhaben. Prewitt sah seinen Skipper an. »Sir! Brechen wir ab, oder...?« »Oder, Mister Prewitt«, beschied ihm Huxley mit Nachdruck. »Wir brechen natürlich nicht ab, wäre ja noch schöner. Außerdem haben wir noch einen Trumpf in der Hinterhand, der uns auf alle Fälle eine sichere Heimkehr nach Corr garantiert.« Er sagte nicht, um welchen Trumpf es sich handelte, aber Lee Prewitt und die anderen Offiziere im Leitstand konnten es sich denken. Und deshalb verschwendeten sie auch keinen Gedanken mehr an einen eventuellen
Mißerfolg der Expedition. »Also weiter. Der nächste Sprung, Mister Prewitt!« »Aye, Sir!« * Es kostete der CHARR eine Menge Energie, in mehreren, weitgespannten Etappen durch den Hyperraum immer tiefer hinein ins Exspect und nahe genug an den errechneten Standort der Anomalie zu transitieren. Chief Erkinssons Gesicht wurde immer verkniffener, da er den Verlust der Konverterenergie als persönlichen Angriff auf sich selbst empfand. Doch schließlich ortete die FOZ den Bereich der Anomalie. Nahe genug, um die Distanz in einer einzigen, letzten Transition überwinden zu können. Die CHARR sprang zum letzten Mal. Die in den Konverterbänken gespeicherte Energie entlud sich und schuf innerhalb eines Zeitrahmens von 2,2 • 10-6 Sekunden die Antisphäre um die CHARR, polte diese während eines Myons um – und der Ellipsenraumer erschien wieder im normalen Raumzeitgefüge. Für die Besatzung geriet der ganze Vorgang lediglich zu einem Augenzwinkern, ohne Erinnerung daran, wo sie sich während dieses unvorstellbaren kurzen Augenblicks aufgehalten hatte. Man konnte den Vorgang eigentlich nur so beschreiben, daß die CHARR eine unsichtbare Membran passierte und dabei große, unter Umständen sogar sehr große Entfernungen zurücklegte. Als der Leerraum zwischen der Milchstraße und der Andromeda-Galaxis wieder auf den Schirmen erschien, verringerte der Nav-Suprasensor die Geschwindigkeit des Ellipsenraumers innerhalb kürzester Zeit auf Null. In der Tiefe der Maschinendecks wurden die Aggregate auf Bereitschaft heruntergefahren.
Scheinbar antriebslos schwebte die CHARR im Raum. Die holografischen Sichtsphären über den zahlreichen Konsolen der Techniker erhellten den Leitstand des Ellipsenraumers mit farbigem Leuchten. Die Allsichtsphäre zeigte eine segmentierte Dreihundertsechziggraddarstellung des umgebenden Weltalls. Scannersignale wisperten aus den Audiophasen, und die Schiffssensoren belieferten die Instrumente ständig mit immer neuen Informationen. Huxley ließ den Blick von einer Anzeige zur anderen und dann wieder zu der Allsichtsphäre schweifen, um sich ein Urteil über ihre Lage zu verschaffen. Sein hageres Gesicht wirkte ungerührt – tatsächlich aber fühlte er sich auf eine höchst intensive Weise unbehaglich und in hohem Maße irritiert. Dieses Gefühl hatte ihn nicht mehr verlassen, seit Reet auf den Sichtsphären verschwunden war. Weit, weit vor der CHARR lag der verwaschene Lichtfleck, der Andromeda aus dieser Entfernung ohne hochauflösende Nahbereichsscanner noch immer war. In dieser Richtung erschien die Schwärze des Alls nicht als samtene Dunkelheit, sondern als fein strukturierter, blau- und violettschimmernder Nebel. Aber bei genauerer Betrachtung durch die hochauflösenden Scanner des Astro-Labs zeigte sich, daß der Nebel aus Milliarden von Sternenclustern bestand. In den Heckfeldern der Allsichtsphäre breitete sich die Milchstraße in ihrer ganzen Pracht aus. Für jemanden, der senkrecht zur galaktischen Ebene anflog, bot sie das Bild eines offenen Spiralnebels, mit einem leuchtenden Zentrum aus Sternen, Nebeln und Sonnennestern. Daraus drehten sich die Äste der Spiralarme, weit hinausreichend, um schließlich mit der Unendlichkeit des schwarzen Hintergrundes zu verschmelzen. Dazwischen nebelartige, kleinere Filamente, ebenfalls aus Sonnen bestehend – Galaxien, die so unglaublich weit entfernt waren, daß sie nur den Eindruck von Licht vermittelten.
Durch die Position der CHARR bedingt, war der Besatzung nur der Blick von der Seite auf die heimatliche Galaxis möglich; eine dicht gepackte Scheibe aus Milliarden von großen und kleinen Sonnen – sie maß hunderttausend Lichtjahre Durchmesser in der Ebene, und fünfzehntausend Lichtjahre Durchmesser senkrecht zur Ebene im Zentrum, in dem sich eine unvorstellbar energiereiche Radio- und Infrarotstrahlungsquelle befand. Das wahre Zentrum der Spiralgalaxis. Das Super-Black-Hole. Aus ihm war der Weiße Blitz, eine aus dem Hyperraum kommende, unvorstellbar energiereiche Strahlenentladung ausgetreten und hatte sich konzentrisch in der gesamten Galaxis ausgebreitet. Mit katastrophalen Folgen, deren Tragweite noch niemand wirklich einzuschätzen vermochte. Außerhalb des Zentrumsbereichs war die Milchstraße relativ dünn, kaum mehr als 5.000 Lichtjahre stark. Huxley wandte den Kopf. »Statusbericht, I. O.!« »Systeme sind im grünen Bereich, Colonel«, meldete Prewitt. »Chief?« »Keine Probleme, Skipper – wenn man davon absieht, daß wir nur noch fünfundfünfzig Prozent Energie in den Konverterbänken haben.« »Reicht doch, um nach Reet zurückzukehren, oder?« zeigte sich der Colonel zufrieden. »Schon. Aber...« »Verschonen Sie mich im Augenblick mit Ihrem ›Aber‹, Chief Erkinsson«, unterbrach ihn Huxley. »Wie Sie meinen, Sir. Ich wollte nur anmerken...« »Chief!« Huxley runzelte die Brauen. Aber der Triebwerksexperte der CHARR ging den einmal eingeschlagenen Weg tapfer zu Ende. »Auch wenn Sie's
scheinbar nicht interessiert, Skipper: Wir verlieren nach wie vor Energie in diesem verfluchten Medium!« »Wie hoch ist die Rate?« »Minimal nur, aber...« »Zur Kenntnis genommen«, unterbrach ihn Huxley ein zweites Mal. »Achten Sie bitte sorgfältig auf Ihre Instrumente, Chief, und melden Sie mir jede Veränderung. Ich denke, ich kann Sie beruhigen. Ich habe nicht vor, so lange zu bleiben, daß sich die Leckage zu einem echten Problem auswachsen wird.« In Bezug auf den Terminus »Problem« täuschte sich Frederic Huxley allerdings, aber das konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, und seine Fehlinterpretation in dieser Hinsicht ging im Trubel der späteren Ereignisse unter. »Aye, Skipper. Verstanden!« Der Schirm wurde leer. »Ratsmitglied Huxley!« Tantals Ruf erreichte den Colonel, als dieser sich wieder seiner Konsole widmen wollte. Er wandte sich den Kobaltblauen zu, die seit Reet kaum ein Wort von sich gegeben hatten, nur die Instrumente auf ihren Konsolen beobachteten und ihre eigenen Berechnungen anstellten, was immer sie sich auch davon versprachen. »Ja, Tantal?« gab er zurück. »Wir haben die Anomalie entdeckt...« »Wir auch, Colonel!« rief der Funk- und Ortungsoffizier fast zeitgleich von seinem Platz. »... hören Sie!« Das Signal der Ortung, ausgelöst von einer Energieemission, pulsierte durch den Leitstand. Gleichzeitig damit erhellte sich eine bislang inaktive Sichtsphäre und projizierte einen die ganze konvexe Fläche ausfüllenden Begriff in der nogkschen Symbolsprache, der nichts anderes bedeutete als
ZIELOBJEKT. Huxley fixierte mit zusammengekniffenen Augen die Sphäre, auf der jetzt die Schriftsymbole verschwanden und die wieder den Weltraum zeigte, in dem ein verschwommener Nebel vor der CHARR ZU schweben schien. Ohne konkrete Anhaltspunkte konnte man nichts über seine Ausdehnung oder über seine Entfernung vom Schiff aussagen. »Tantal!« sagte er scharf in das Verebben des Signals hinein. »Läßt sich eine räumliche Darstellung des Phänomens generieren?« »Kommt sofort, Huxley!« Unter den Schaltungen der Nogk segmentierte sich die Allsichtsphäre um und konzentrierte ihren Fokus auf das von den Scannern entdeckte Gebilde. Aufgrund der zu Beginn noch spärlich eingehenden Daten konnten die Rechner das, was von nogkschen Energietastern eingefangen worden war, zunächst nur als ein grob generiertes Hologramm vor der gekrümmten Fläche der Allsichtsphäre aufbauen. Doch binnen Sekundenbruchteilen schwoll der Datentransfer an, und die visuelle Darstellung änderte sich analog der eingehenden Informationen. Huxley stieß zischend die Luft aus. »Was haben wir denn da...?« sagte er scharf und akzentuiert, während seine grauen Augen nicht von dem Bild wichen, das alle in der CHARR sahen. Der I. O. neben dem Colonel forschte verstohlen in dessen Miene nach Anzeichen von Streß, unter dem sein Vorgesetzter stehen mußte. Doch Prewitt forschte vergebens. Das hagere Gesicht des grauhaarigen, sehnigen Kommandanten ließ nichts von dem nach außen dringen, was
in seinem Innern vorging. Der II. O. gab ein Geräusch von sich, das man schlicht als überraschtes Grunzen identifizieren konnte. »Heilige Mutter der Intelligenz!« sagte er halblaut. »Da haben wir ja unsere Anomalie! Ich hab's geahnt.« Was die Bugfelder der Allsichtsphäre zeigten, war rätselhaft und erschreckend genug und warf eine Menge Fragen auf. Vor dem Schiff stand ein diffuser, fluktuierender Energiewirbel, dessen Ausdehnung erheblich sein mußte, und der sich jetzt etwas deutlicher von der Schwärze des umgebenden Raumes abhob. »Kein natürliches Phänomen«, stellte Maxwell fest. »Natürlich nicht«, gab Prewitt beunruhigt zurück. Huxley aktivierte die Bordsprechanlage. »Mister Bannard!« »Astro-Lab hier. Käpt'n?« Der Erste Bordastronom blickte von der Sichtsphäre über der Kommandantenkonsole. »Können Sie uns mit ein paar Informationen über diesen Wirbel dienen?« »In welcher Form möchten Sie sie haben?« »Das ganze Spektrum an Analysen!« »Sekunde.« Dann: »Ist auf dem Schirm.« Der Kommandant der CHARR drehte sich in Richtung des Bugfeldes der Allsichtsphäre und vertiefte sich in die Betrachtung des mittlerweile virtuell abgebildeten Energiewirbels. Ein riesiges Gebilde trieb da vor ihnen im Weltraum, vom astronomischen Spezialsuprasensor unterschiedlich eingefärbt, um sich vom Hintergrund des in kaltem Blau leuchtenden Alls abzuheben und für die Besatzung der CHARR sichtbar zu werden. Die Scanner des Astro-Labs erfaßten alles, was ihnen vor die Sensoren kam: geladene Teilchen, Magnetfelder und Strahlungen auf allen bekannten Frequenzen sowie im 5-D-Bereich.
»Wie sieht's aus mit IR- oder Radiostrahlung?« »Augenblick, Sir!« »Klopf, klopf, jemand zu Hause?« machte jemand im Leitstand den Versuch, einen uralten Funkerscherz wiederzubeleben, nur um die Spannung zu lösen, die sich unterschwellig aufgebaut hatte. Dann brachte ein scharfes Zischen und Prasseln für Sekundenbruchteile die Audiophasen fast zum Bersten, ehe automatisch aktivierte Filter den Lärmpegel auf ein für die Ohren der Besatzung erträgliches Maß reduzierten. »Starke elektromagnetische Strahlung, offenbar hat der Wirbel einmal einen thermonuklearen Prozeß durchgemacht«, mutmaßte der Funkoffizier. »Oder hat Reste eines derartigen Prozesses in sich aufgesaugt. Wer kann das schon mit Bestimmtheit sagen?« »Es kann aber auch bedeuten«, warf Tantal ein, »daß die verheerenden Strahlenstürme, die uns Nogk das Leben so schwer machen, keine nur auf die Milchstraße beschränkte Erscheinung sind, sondern auch hier im Exspect befürchtet werden müssen.« Huxley nahm die Unterlippe zwischen die Zähne; seine Beunruhigung vertiefte sich, während er zwischendurch immer wieder die Ortungen kontrollierte. Die FOZ meldete sich. »Merkwürdig, Sir. Dieser Wirbel oder was immer er zu sein scheint, macht den Eindruck, aktiv zu sein!« »Aktiv?« fragte Huxley ungläubig. »Wie aktiv?« »Ich zeig's Ihnen, Sir!« Das Bild des Wirbels veränderte sich analog der Schaltungen des Funkoffiziers. Schwach konnte man erkennen, wie von außen energiegeladene Teilchen langsam ins Innere des Wirbels wanderten und dort offensichtlich assimiliert wurden, da sie auf der abgekehrten Seite nicht austraten.
Während der Colonel noch über die Bedeutung dieses Vorganges grübelte, meldete sich Chief Erkinsson aus dem Maschinenraum. »Es gibt Probleme, Sir!« »Was?« Huxleys Kopf ruckte hoch. »Irgendwas stimmt hier nicht.« »Berichten Sie, Chief!« »Wir verlieren wieder massiv Energie. Mir gefällt das nicht, nein, Sir, gefällt mir ganz und gar nicht.« Die Stimme des Triebwerksexperten klang gepreßt. »Wir sollten verschwinden. Machen wir, daß wir wegkommen, so lange wir es noch können!« In seinem Gesicht spiegelten sich widerstreitende Emotionen. Etwas schien ihn in allerhöchste Alarmstimmung zu versetzen. Huxley sah seinen ansonsten so besonnenen Chief irritiert an. »Gründe?« Der Chief lächelte verkrampft. »Vielleicht Intuition... vielleicht«, setzte er nach einer winzigen Pause hinzu, »auch nur pure Abneigung gegen das, was wir hier vorfinden. Ich bitte Sie, Sir, mir...« In diesem Augenblick geschah etwas, das mit einem Schlag alles veränderte. Huxley hörte einen Schrei. Aber der erreichte ihn nicht über die Ohren, sondern entlud sich in seinem Kopf. Ein paramentaler Kontakt, der sich zu einem durchdringenden Crescendo steigerte. Huxley und jeder andere an Bord der CHARR schüttelte sich unter der Attacke. Wer gerade stand, sank konvulsivisch zuckend zu Boden. Hände preßten sich vergebens an Ohren. Ein schwarzer und doch blendend heller Keil drang in die Gehirne der Männer. Und mit einem einzigen, nicht zu schildernden Geräusch schlug die Dunkelheit wie die Pranke eines Riesen nach den Menschen und den Nogk, erstickte alle ihre Regungen und ließ sie in hilfloser Ohnmacht dort
zusammensinken, wo sie sich gerade befanden. *** Die Rückkehr ins Bewußtsein war für Ren Dhark mit noch mehr Qual verbunden als für alle anderen Betroffenen. Der Grund dafür war klar: Niemand sonst mußte sich von seinem Verstand sagen lassen, daß er völlig unverantwortlich und mehr als blauäugig gehandelt hatte! Er hatte mehrere Dutzend Menschen allein an Bord der POINT OF in Lebensgefahr gebracht! Von der Gefahr, die Vonnock auch darüber hinaus dargestellt hatte, ganz zu schweigen. Dan Riker war bei ihm, als er zu sich kam. Nur Dan Riker. Doch sanfter als das eigene Gewissen ging auch der Freund nicht mit ihm ins Gericht. »Wie konntest du nur...?« Dhark hatte schon immer Sätze gehaßt, die mit dieser Einleitung begonnen hatten. »Ja, ja«, knurrte er und richtete sich im Bett seiner Kabine an Bord der POINT OF auf. Sein Schädel brummte wie nach einer durchzechten Nacht, nach der er am nächsten Tag gleich weitergetrunken und dann vorübergehend ins Quasikoma gefallen war. Das Schiff schien zu schwanken. Tatsächlich war er es, dessen Oberkörper wackelte, als würden ihn unsichtbare Hände schütteln. »Verdammt!« »Das kannst du laut sagen. Beweg dich nicht zu hastig. Manu Tschobe hat dir etwas injiziert, aber frag mich nicht, was. Es sollte dich stabilisieren. Dir das Aufwachen erleichtern. Ich habe ihm gleich gesagt, daß er es dir nicht allzu leicht machen soll. Du sollst ruhig merken, was du um ein Haar angerichtet hättest.« »Wo warst du, als ich dich gebraucht hätte?« fauchte Dhark.
»Unterwegs. Du konntest es ja nicht abwarten, einem absolut Fremden Einlaß ins Herzstück unserer Flotte zu gewähren. Ich hätte es verhindert. Und wenn ich danach wegen Meuterei – oder sollte ich sagen Gotteslästerung – im Karzer gelandet wäre.« »Karzer. Gotteslästerung, heilige Scheiße, was soll das? Wenn man dich hört, darf ich wohl froh sein, nicht selbst vor dem Schnellgericht zu stehen und abgefertigt zu werden.« »Verdient hättest du es. Und mit Gotteslästerung meine ich, daß du dich manchmal tatsächlich aufführst wie ein kleiner Gott, dem es egal ist, was alle anderen um ihn herum denken und ihm raten. Darüber solltest du mal nachdenken!« »Jetzt nicht. Mir fliegt gleich die Schädeldecke auseinander... Was ist mit Vonnock? Was ist überhaupt passiert?« »Du hast keinerlei Erinnerung?« »Nur bis zum Betreten der Zentrale. Er... machte sich am Checkmaster zu schaffen, nicht wahr?« »Nach allem, was wir wissen«, sagte Riker, »versuchte er, das Schiff zu kapern.« »Zu kapern?« Der drahtige Mann, der etwa in Dharks Alter und seit geraumer Zeit verheiratet war, nickte. Seine ausgeprägten Augenbrauen zogen sich etwas zusammen. Daß er einmal Psychologie studiert hatte, merkte man ihm nicht in jeder Situation an, in der Fingerspitzengefühl gefragt gewesen wäre. Auch jetzt nicht. »Laut Checkmaster schaltete er euch mit einem Ultraschallangriff aus. Die gesamte Crew. Danach verließ er das Schiff.« Kopfschüttelnd, dazu leise aufstöhnend, erwiderte Dhark: »Ich dachte, er wollte es kapern?« »Der Checkmaster hatte etwas dagegen. Und offenbar war nicht einmal dieser unglaubliche Fremde in der Lage, seinen Widerstand zu brechen.«
Ren Dhark saß immer noch auf der Kante seines Bettes. Er wünschte sich in seine Privatwohnung in Alamo Gordo. Er wünschte sich in Joans Nähe. »Bist du bereits in Dialog mit dem Checkmaster getreten?« »Dialog möchte ich nicht sagen. Er wurde über die Geschehnisse befragt. Und er gab wie gewohnt knapp gehaltene Antworten.« Dhark erhob sich. »Mach keinen Blödsinn. Du mußt dich erst etwas ausruhen.« »Wo ist Vonnock jetzt?« Dhark ging nicht einmal ansatzweise auf den wohlgemeinten Ratschlag ein. »Das wüßten wir auch gern.« »Du meinst, er hat es geschafft, durch das Netz der Sicherheit zu schlüpfen und unterzutauchen? Ein Wesen von seiner Auffälligkeit...?« »Er hat es geschafft, ein Schiff zu kapern«, kehrte Riker in ausholender Weise zu dem Punkt zurück, an dem sie vorhin schon einmal waren. »Welches?« Dharks Augen starrten glanzlos. »Laß es mich so ausdrücken: Bis gestern besaß die Terranische Flotte noch fünfhundertsechsundvierzig intakte SKreuzer. Heute sind es nur noch fünfhundertfünfundvierzig...« * Die Kommandozentrale der POINT OF war regelrecht verwaist, als Dhark sie in Begleitung der beiden Rikers betrat. Anja, Dans Frau, hatte sich ihnen unterwegs angeschlossen. Dhark wunderte sich nicht über die seltene Leere im Herzen des Ringraumers, sein Freund hatte ihn bereits auf dem Herweg darüber informiert, daß die Crew ausnahmslos in ihren Betten lag und ähnliche Injektionen verdaute, wie Tschobe sie auch dem Commander verabreicht hatte.
Mit mäßigem Erfolg. Er hatte immer noch das Gefühl, mit seinem Kopf in einem hallenden Glockenkörper zu stecken. Aber es hielt ihn nicht davon ab, dem Checkmaster persönlich einen Besuch abzustatten. Die folgende Befragung des Checkmasters erbrachte einige zumindest für Dhark neue Erkenntnisse. Schwarz auf Weiß sozusagen, auch wenn die Folien, die der Superrechner ausspie, einen leichten Blauschimmer besaßen, konnte er nachlesen, was sich während seiner Bewußtlosigkeit an Bord – und später draußen – abgespielt hatte. Der Checkmaster gab an, auf eine Verfolgung des flüchtigen S-Kreuzers verzichtet zu haben, weil er nach Aktivierung seines Tarnschirms nicht verfolgbar gewesen sei. Weder die Bordsysteme der POINT OF noch die externen, über das ganze solare System verstreuten Ortungseinrichtungen hatten feststellen können, wohin sich der Fremde mit dem gekaperten Schiff gewandt hatte. Sie hatten zwar den ungefähren Entmaterialisierungspunkt ermitteln können, nicht aber die Wiedereintrittsstelle ins Normaluniversum. Fast hatte es den Anschein, als wäre die Transition mißglückt und der Hyperraum zum ewigen Friedhof für den Flüchtling und sein Schiff geworden. Dhark hätte nicht zu sagen vermocht warum, aber an diese Möglichkeit glaubte er keine Sekunde. »Von welchem Tarnschirm ist hier die Rede?« fragte er zunächst seinen Freund Dan, dann, als dieser schulterzuckend paßte, den Checkmaster. Anja zog die folgende Folie aus dem Ausgabeschlitz. Unbekannte Aktion des Wächters, stand darauf zu lesen. Offenbar wurden bislang unbekannte Sektionen des S-Kreuzers aktiviert. »Das wird ja immer schöner: unbekannte Sektionen... Ich dachte, wir kennen unsere Schiffe inzwischen in- und
auswendig...!? Wurde mir nicht mehr als einmal versichert, es gäbe zumindest in diesen Ringraumern keine Geheimnisse mehr zu entdecken? Von der POINT OF bin ich es ja gewohnt, aber stinknormale S-Kreuzer...!« »Stinknormal ist gut«, murrte Riker. »Wie schnell auch du manchmal vergißt, daß sie für uns einmal das Nonplusultra der Raumfahrttechnik darstellten... Und eigentlich immer noch darstellen. Die POINT OF setzt der bei den ehemaligen Robotraumern zum Einsatz gekommenen Standardtechnik nur hie und da das Krönchen auf.« »Ja, ja, schon gut.« Dhark ging es zu schlecht, um sich selbst leiden zu können. Wie hätte er da für andere erträglich argumentieren sollen? »Auf Grundlage dieser Auskünfte...«, er nickte zum Checkmastergehäuse, »... verlange ich eine umgehende intensive Untersuchung jedes einzelnen S-Kreuzers. Würdest du das bitte übernehmen, Dan?« »Warum nicht? Ich hatte zuletzt wohl den angenehmeren Part von uns beiden. Das sollte ich umgehend abbüßen.« Er zwinkerte Anja zu, die zurückzwinkerte. »Eure Verliebtheit ist manchmal nicht zu ertragen«, kommentierte Dhark knurrig. »Dito«, konterte Anja. »Deine Prachtlaune auch nur sehr schwer.« * Vonnock hatte Erron 2 ziemlich unmißverständlich als Welt der Wächter bezeichnet. Was hatte man sich darunter vorzustellen? Wer waren die Wächter? Was bewachten sie? Daß sie von den Mysterious »installiert« worden waren, schien unstreitig. Aber zu welchem genauen Zweck? Und mußte man damit rechnen, früher oder später Besuch von den
Wächtern zu erhalten? War Vonnock ein Abtrünniger dieser Gattung? Er hatte zu verstehen gegeben, daß er sich seiner Aufgabe nicht mehr verpflichtet fühlte – wurde er deshalb von seinesgleichen gejagt? Fiel jener Simon auf Hope, den Shanton in die Waagschale geworfen hatte, ebenfalls unter die Kategorie Wächter? Aber warum hatte er dann in so vielen Details anders ausgesehen? Warum war sein Körper aus Tofirit, während der Vonnocks aus einem nicht identifizierten, aber goldfarbenen Material bestanden hatte? War für einen Wächter die Farbe ebenso beliebig wählbar wie seine Form? Und zu guter Letzt: Priesen die goldenen Statuen auf Bog, Babylon und Mirac die Wächter der Mysterious? Für welche Taten? Was hatten sie getan, um mit Denkmälern belohnt zu werden? All diese Fragen beschied der Checkmaster mit Allgemeinplätzen, fast schien es mitunter, als würde er durchaus darauf antworten können, aber nicht wollen. Hätte er seine menschliche Besatzung nicht so oft schon vor dem sicheren Tod bewahrt, Dhark wäre in Versuchung gekommen, dem Checkmaster Böses zu unterstellen. Aber sich ihn als Feind vorzustellen, hätte es unmöglich gemacht, sich auch nur einen Tag länger diesem Schiff anzuvertrauen, das die Menschheit brauchte. Das ich brauche, dachte Dhark, ganz Realist. Oft war es eine Haßliebe gewesen, die ihn mit der POINT OF verbunden hatte, aber Liebe... dieses mächtige Zusammengehörigkeitsgefühl, das man sonst nur für Lebewesen entwickelte, war immer im Spiel gewesen. Das Schott glitt auseinander, und Chris Shanton schlurfte müde herein. Auf den Armen trug er Jimmy. Der Robothund rührte sich nicht, lag schlaff da, als wäre auch in ihm einmal echtes Leben gewesen, nun aber nicht mehr.
»Hallo, Chris. Was ist mit Jimmy?« Shanton schnaubte. Aber es klang kraftlos. »Was passiert ist? Dieser gemeine Hundsfott von einem Goldenen hat ihn auf dem Gewissen! Er hat ihn... hat ihn gelöscht!« »Gelöscht?« »Ich werde ihn wieder in Gang setzen können – aber er wird die erste Zeit hilflos wie ein Neugeborenes sein. Ich werde ihm alles wieder mühsam eintrichtern müssen, was ich ihm je beigebracht hatte... Es ist eine Schande!« Dhark belächelte nicht, was Shanton vor ihm, Dan und Anja zum Ausdruck brachte. Er wußte, daß der gedrungene Mann an Jimmy hing wie an einem wirklichen Partner, vielleicht sogar wie an dem echten Sprößling, den er nie gehabt hatte. Und jetzt lag dieses Kind wie tot auf seinen Armen. Der Fremde, dem Dhark zu sehr vertraut hatte, hatte es auf dem Gewissen. Und damit auch indirekt er, Dhark. »Sie erhalten jede Unterstützung, Chris...« Shanton war stehengeblieben. »Danke, nicht nötig. Das schaffe ich schon allein.« Mit diesen Worten drehte er sich um und stapfte wieder aus der Zentrale. Er hätte es mir nicht zeigen müssen, dachte Dhark. Er wollte, daß ich Bescheid weiß – und das nächste Mal etwas vorsichtiger bin? Am liebsten wäre er Shanton nachgerannt und hätte ihn umarmt. Die Menschlichkeit, die der dicke Mann gerade nicht nur demonstriert, sondern auch von ihm eingefordert hatte, hätte eine solche Geste verdient. Doch dann betrat Robert Saam die Zentrale, und Dhark wußte, daß diese Chance vorerst verpaßt war. »Commander...« »Ja, Robert? Es freut mich, Sie wieder auf den Beinen zu
sehen.« Das jungenhafte Genie nickte nur zerstreut und fragte dann geradeheraus: »Habe ich die Erlaubnis, mir sämtliche Aufzeichnungen des Alamo Gordo-Transmitters aushändigen zu lassen? Die jedenfalls, auf die es ankommt?« »Sie meinen um den Moment herum, als Vonnock daraus auftauchte?« »Korrekt.« »Warum sollte ich Ihnen das verwehren? Ich wäre froh, wenn Sie etwas herausfinden könnten. Am meisten wäre uns allen gedient, wenn Sie herausbekämen, von wo aus der Wächter hierher gelangte. Dann wüßten wir zumindest, wo wir Erron 2 zu suchen hätten. Das echte Erron 2.« »Wächter?« fragte Saam verwundert, der die Inhalte von Dharks Dialog mit Vonnock im Mysterious-Idiom noch nicht kannte. Dhark klärte ihn mit dürren Worten auf. Viel wußte er schließlich selbst nicht. »Könnten Sie«, verabschiedete er Saam, »vielleicht auch die Aufzeichnungen prüfen, die über den flüchtigen S-Kreuzer existieren? Diese Daten dürften auch manches Rätsel aufgeben. Sie dürfen sich etwas wünschen, wenn Sie uns auch bezüglich des Verbleibs Vonnocks eine Idee weiterbringen könnten...« »Ich werde mich bemühen«, versprach Saam. Dhark sah ihm nach, als er die Zentrale verließ. Er traute diesem Jungen eine ganze Menge zu – aber sein Bauchgefühl sagte ihm schon jetzt, daß Saam in jedem der angesprochenen Punkte versagen würde. Vonnock und Erron 2, so stand zu befürchten, würden noch eine lange Zeit ihre Geheimnisse wahren dürfen...
5. Langsam, sehr langsam kam Huxley wieder zu Bewußtsein. Er konnte sich nicht rühren, war wie unter einer schweren Decke gefangen. Jede noch so schwache Bewegung stieß auf Widerstand. Er empfand merkwürdigerweise keine Furcht. Auch keinen Schmerz. Noch nicht. Vielleicht war er schon tot? Nein. Diesen Gedanken wies er weit von sich. Er wußte, daß er Huxley war. Wer? Huxley – Frederic Huxley! Colonel und Kommandant des von den Nogk erbauten Ellipsenraumers CHARR. Aber das war schon alles. Und war auch mehr Ahnung als tatsächliches Wissen. Und er wußte – wußte? – daß etwas Seltsames passiert war. Nur was, daran hatte er keine Erinnerung. Dann kehrten langsam die Empfindungen zurück. Und mit ihnen die bohrenden, quälenden Schmerzen. Er hob den Kopf. Ein Schwindelanfall ließ ihn erneut in kurze Dunkelheit versinken. Hitze wie fließende Lava breitete sich in ihm aus. Jeder einzelne Muskel schrie jetzt förmlich vor Schmerz. Wieder kämpfte er gegen den Druck in seinem Gehirn an. Als er, mühsam genug, die Augen öffnete, sah er nichts als matte Dunkelheit, hinter der vage Helligkeit durchschimmerte. Er ließ den pochenden Kopf zurückgleiten, ignorierte die Übelkeit und atmete langsam und systematisch. Sein Zustand besserte sich. Vorsichtig probierte er einige Muskelpartien aus. Sie ließen sich bewegen. Langsam rollte Huxley sich herum, tastete über den Bodenbelag und kroch wie ein flügellahmes Insekt weiter.
Dann stieß er gegen etwas Weiches, Nachgiebiges. »Wer da?« fragte eine heisere Stimme. »Ich bin's – Huxley«, gab der Colonel zurück. »Wer ist hier?« Die Stimme knurrte etwas, dann wurde sie verständlicher und sagte: »Prewitt. Was, zum Teufel ist geschehen?« »Wenn ich das wüßte«, erwiderte der Colonel. Plötzlich wurde es übergangslos hell, als die Beleuchtung im Leitstand wieder ansprang. Flackernd zuerst, immer wieder mal aussetzend, aber dann stabilisierte sie sich. Huxley und sein Erster Offizier saßen sich auf dem Boden des Leitstandes vor ihrer Konsole gegenüber und sahen sich mit nicht gerade intelligenten Mienen an. »Verdammt!« stieß Lee Prewitt hervor und rappelte sich auf. »Was soll das? Warum wurde die gesamte Crew ohnmächtig?« »Vermutlich werden wir es bald wissen«, gab Huxley zurück und ließ sich ebenfalls in seinem Kontursitz nieder, »oder gar nicht.« Merkwürdige Duplizität der Ereignisse, durchzuckte es ihn, und er erinnerte sich an Reet, als er neben Ren Dhark und all den anderen im Konferenzsaal des Regentenpalastes aus seiner Ohnmacht aufgewacht war. Einer Ohnmacht, die der galaktische Blitz verursacht hatte; aber was hatte hier die Ohnmacht seiner Leute und die eigene bewirkt? Seiner Leute? Bei den Nebeln des Orion! Er hatte ja noch eine andere Gruppe an Bord! Er wirbelte herum, ungeachtet seiner Kopfschmerzen, warf einen Blick hinüber in Richtung der sechs kobaltblauen Nogk – und atmete erleichtert auf. Sie waren noch immer da, saßen, nein hingen mehr in ihren Sitzen vor den Konsolen. Aber sie lebten; das Exspect hatte ihnen nichts anhaben
können. Wie sie es prophezeit hatten. Seine Blicke sondierten weiter den Leitstand. Die Besatzung schien wieder voll da zu sein. »Kurs, Mr. Maxwell?« fragte Huxley. An der Navigationskonsole versuchte der Zweite Offizier und Navigator seine rasenden Kopfschmerzen zu ignorieren. »Unverändert, Sir«, verkündete er. »Ich...« »Hier Maschinenraum«, sagte plötzlich eine Stimme. »Hört mich jemand?« Eine Sichtsphäre leuchtete auf. Huxley wandte den Kopf. »Berichten Sie, Chief!« »Hier unten sind nur noch wenige Dinge heil, Skipper«, sagte Erkinsson mit harter Stimme. »Ein paar Blockaggregate, die mit Kernenergie betrieben werden und den internen Stromkreislauf aufrechterhalten können. Die Hauptmeiler sind komplett leergesaugt, ob vom Exspect oder von etwas anderem, entzieht sich meiner Kenntnis. Dafür sind Ihre Offiziere auf der Brücke zuständig. Jedenfalls: Transitionen können wir vergessen. Die Antisphäre läßt sich mit dem Wenigen, was wir haben, nicht mehr aufbauen. In den Konverterbänken existiert zwar genug Restenergie, mit der können wir uns aber nur im Unterlichtbereich bewegen, für eine gewisse Zeit. Sie reicht jedenfalls, um die Internversorgung für eine ganze Weile zu betreiben, inklusive Ortung und Rechnerbänke.« »Das heißt, daß wir uns ohne fremde Hilfe nur ganz langsam und nicht mehr sehr weit bewegen können. Ist es das, was Sie mir sagen wollen, Chief?« »Stimmt. Im Schneckentempo. Zum Corr-System schaffen wir es aus eigener Kraft jedenfalls nicht mehr.« »Können wir die CHARR wieder voll funktionsfähig machen?«
»Nein«, erwiderte der Triebwerksexperte. »Was ist mit der FO I, Chief?« Der Chefingenieur zeigte seine Zähne in einem verhaltenen, vorsichtigen Lächeln. »Die ist voll funktionstüchtig, Skipper. Ihre Anordnung, die Hauptmeiler vom Bordnetz zu trennen, hat sie unangetastet gelassen. Sie haben ihre volle Energiebilanz. Lediglich die kleineren Energieerzeuger an Bord der FO I wurden in Mitleidenschaft gezogen.« »Wenigstens ein Trost«, knurrte Huxley und verspürte einen Anflug von Zufriedenheit, obwohl er ihm unangebracht erschien. »War's das, Skipper?« Huxley nickte. »Bleiben Sie mit Ihren Männern in Bereitschaft.« »Verstanden!« Der Schirm wurde leer. »Sagen Sie, Skipper«, wandte sich Prewitt an Huxley, und seine Stirn wurde von nachdenklichen Falten gefurcht. »Haben Sie auch etwas gehört, bevor Sie in Ohnmacht gefallen sind?« Huxley nickte langsam. »Jetzt, wo Sie es sagen... Mir schien, als hätte ich einen schrecklichen Hilferuf gehört, der uns auf einer mentalen Ebene erreichte.« »Das gleiche habe ich auch empfunden«, bestätigte der I. O. »Vermutlich jeder von uns, einschließlich unserer nogkschen Freunde. Der mentale Hilfeschrei hat unsere Synapsen und Ganglien überlastet und uns vorübergehend ausgeschaltet. Deshalb die Ohnmacht. Deshalb die Kopfschmerzen.« »Wer könnte dahinterstecken, Skipper? Die Shirs? Bekanntlich besitzen sie enorme hypnosuggestive Kräfte, sind regelrechte Paragiganten.« Huxley schüttelte den Kopf.
»Das war kein gezielter Angriff. Die FOZ hat nichts von Shir-Aktivitäten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft geortet. Aber vorsichtshalber können wir ja noch mal scannen. – Ortung! Etwas in unmittelbarer Nähe, das zur Sorge Anlaß geben müßte?« »Negativ, Sir! Wir sind nach wie vor allein auf weiter Flur, wenn wir von dem absehen, was uns eigentlich hierher geführt hat und das nicht mehr vorhanden ist. Statt dessen... Aber sehen Sie selbst, Sir!« Die Allsichtsphäre zeigte die Vorgänge, die sich außerhalb der CHARR abspielten. Die Anomalie... sie war verschwunden! »Was ist da geschehen?« fragte Prewitt und schüttelte fassungslos den Kopf. »Wenn ich das wüßte«, erwiderte Huxley wahrheitsgetreu. Die Männer schwiegen und sahen durch die Bugfelder in den Raum hinaus. An der Position der ursprünglichen Anomalie stand jetzt eine wabernde Energieblase, die schwach leuchtete, aber ansonsten keinerlei andere Reaktionen zeigte. Sie behielt ihre Lage unverrückbar bei, wie man aus den in die Bugfelder eingespiegelten, glühenden Datensequenzen ersehen konnte. »Ein fremdes Schiff hinter einem uns unbekannten Schutzschirmtyp?« mutmaßte der II. O. Huxley schloß einen Kontakt. »Ortung! Zeigen die Massetaster etwas?« »Negativ, Sir«, kam die rasche Antwort. »In der Energieblase befindet sich keine feste Masse.« »Habe ich auch nicht erwartet«, sagte Huxley halblaut, und seine Augenbrauen trafen sich über der Nasenwurzel, so angestrengt überlegte er. »Ich denke...« Huxley kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu vollenden. Er keuchte schmerzhaft auf, als sich zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit eine unvorstellbar fremde ›Stimme‹ in
seinen Kopf bohrte. Er keuchte und würgte. Krämpfe schüttelten ihn; Übelkeit schoß in ihm hoch wie dicker, heißer Nebel. Irgendwie registrierte er mit vor Schmerz halbblinden Augen, daß die gesamte Brückenbesatzung erneut unter der schweren paramentalen Attacke litt. Er sah verzerrte Gesichter; zuckende, nach einem Halt krallende Hände; Münder, die weit aufgerissen waren und Schreie ausstießen. Er biß die Zähne so stark aufeinander, daß sich dicke Wülste an seinen Kiefern bildeten. Abrupt überfiel ihn eine mörderische Angst vor Einsamkeit und Tod, die ihm die Kehle zuschnürte, indessen er auf einer anderen Ebene seines Bewußtseins wußte, daß diese unendliche Verzweiflung und Todesangst nicht aus seinem Innern kam. Und während er noch stoßartig nach Atem rang, bemerkte er, wie eine rötliche, langsam pulsierende Energie seinen Körper zu umfließen begann. Auf seiner Brust, scheinbar als Teil seiner Uniform, brannte im harten Violett das Emblem der Nogk: Die Ellipse mit den beiden in ihren Brennpunkten rotierenden Sphären. Das Translatorimplantat hatte sich ohne sein Zutun aktiviert. Doch er bekam keine Gelegenheit, sich darüber zu wundern; die zweite Attacke einer unvorstellbaren Entität zuckte wie eine schartige Klinge durch sein Gehirn... Irgend etwas vermittelte ihm den Schimmer unvorstellbarer Einsamkeit. Es trieb durch das große Nichts, Durch eine endlose Nacht dahin, Wie ein Satellit, der schweigend In astraler Kälte kreiste. Nebel glühten, Himmelskörper glänzten, Verschwanden, Verflüchtigten sich in der Leere des Raumes. Tränen liefen ihm übers Gesicht, seine Wahrnehmung
begann zu verschwimmen. Panik! Wo er auch sein mochte, er hörte keinen Laut, nicht das geringste Geräusch. Dann trieb er wieder dahin. Seine Sinne waren nicht mehr Teil seiner selbst, gehörten ihm nicht mehr, nur in seinem Gehirn machte sich noch ein leichter Puls klopfend bemerkbar. »Aufhören...« wimmerte er und war sich nicht bewußt, daß er auf der semitelepathischen Ebene stammelte, auf der er mit den Nogk kommunizierte. »Aufhören... du bringst mich um! Du bringst uns alle um! Ist es das, was du willst?« Endlich schwand der Schmerz, das Gefühl entsetzlicher Hilflosigkeit und Einsamkeit, und die fremde Entität zog sich aus ihm zurück. Aber er wußte, er würde sie jederzeit wieder rufen können. * »Colonel...!« Huxley blinzelte ins Licht. »Was ist passiert, Skipper?« »Sagen Sie's mir, Prewitt!« »Sie waren weggetreten, Sir.« »Waren wir das nicht alle?« »Nein, diesmal nicht. Nur Sie.« »Ich verstehe nicht...« Er richtete sich ruckartig in seinem Kontursitz auf; um ihn herrschte die normale Geschäftigkeit des Leitstandes. »Ich war tatsächlich ohnmächtig?« »Wenn ich's sage...« »Wie lange?« »Nicht lange. Halbe Stunde nur.« Himmel! Dreißig Minuten...! »Das – das glaube ich einfach nicht.«
»Es ist so«, erwiderte Prewitt achselzuckend. Er deutete auf Huxleys Brust. »Es ist immer noch da...« »Was...?« »Das Emblem.« Huxley sah an sich herunter. Tatsächlich, er hatte es gar nicht registriert, so sehr beschäftigten sich seine Gedanken mit dem, was er in seiner Ohnmacht? erlebt hatte. »Es beschützte mich während des – Kontaktes mit dem da draußen«, sagte er halblaut und müde. Er fühlte sich ausgelaugt wie nach einem zweistündigen Marathonlauf auf einem Planeten mit erhöhter Schwerkraft. »Sie waren in Kontakt mit der Energieblase, Sir?« Maxwell beugte sich neugierig herüber. »Was ist sie?« »Nicht sie.« Huxley schüttelte den Kopf. »Es muß heißen, was ist es?« »Es ist intelligent?« »Hochintelligent. Auf eine Weise, wie Sie und die anderen und ich es uns nicht vorstellen können.« »Sie können mit ihr... ihm... kommunizieren?« fragte Prewitt. »Ich glaube, ich kann es.« Woher Huxley die Gewißheit nahm, wußte er selbst nicht, aber er wußte, daß er es konnte. »Dieses Wesen, diese Entität hat starke paramentale Fähigkeiten. Fähigkeiten, die ich aufgrund meines Implantats – und nur mit dessen Hilfe! – auch habe. Vermutlich könnten auch die nogkschen Meegs oder die Shirs mit ihr in Kontakt treten.« »Warum fragen Sie dann dieses Wesen nicht, weshalb es uns unserer Hauptenergie beraubt hat?« Erst jetzt bemerkte Huxley, daß Chief Erkinsson auf einer Nebensichtsphäre der Unterhaltung folgte. »Warum nicht, Chief? Schließlich ist es ein Problem, das uns allen auf den Nägeln brennt.« Huxley lehnte sich in seinem Hauptsitz vor der
Allsichtsphäre zurück, fixierte die pulsierende Energieblase, die nach wie vor auf den Bugfeldern abgebildet war, und begann seinen Dialog mit den nogkschen, paramentalen Bildsymbolen. Vielleicht hatte er ja Glück. Wir befinden uns in einem Raumschiff, das seinen Weg zurück in unsere Heimat nicht mehr finden wird, weil du uns die Antriebsenergie entzogen hast... Schweigen, das dauerte. Huxley kam sich lächerlich vor. Man konnte es an seinem Gesicht erkennen. Dann plötzlich überschwemmte ein wirrer Strom von Symbolen und Eindrücken Frederic Huxleys Hirn. Das Wesen sprach auf seine Art, mit gedrosselter Intensität. Es war keine reine Gedankenübertragung, erkannte der Colonel mit Hilfe seines Translatorfeldes, sondern tendierte mehr in Richtung gedanklicher Projektionen. Eine schnelle Art der Verständigung, denn nichts im Universum bewegte sich rascher als der Gedanke. Und eine, die sämtliche Sinne einschloß. Ich verstehe! Du verstehst? Huxley projizierte Fassungslosigkeit. Warum bist du... Unverständlich. Du und deinesgleichen gehören einer Rasse an, die nur über fünf Sinne verfügt. Zwei davon sind für eine Kommunikation ungeeignet, und der sechste Sinn, den du zur Artikulation der Wahren Sprache anwendest, ist ein künstlicher. Sehr beunruhigend, daß ihr trotz eurer massiven Beschränkungen den Weg ins Universum gefunden habt. Es waren keine klaren Sätze, die die Entität in Huxleys Kopf formulierte, sondern eine Anhäufung von Empfindungen und Eindrücken, die vom Colonel mit Hilfe seines Implantats nur als homogene Satzfolge interpretiert wurden. Er wußte, was die Entität bemüht war, auszudrücken, und konnte nur ahnen, daß auch seine Projektionen als Fragen oder Antworten verstanden
wurden. Auf diese Weise stellte sich heraus, daß die fremde Intelligenz seit sehr, sehr langer Zeit im Leerraum festhing. Ein exakte Spanne ließ sich wegen fehlender Vergleichsmöglichkeiten des Begriffs »Zeit« nicht ermitteln. Außerdem wurde klar, daß das Wesen, das für sich selbst einen unbestimmten Begriff als Namen nannte, dem Huxleys Translatorfeld mit der Übersetzung »Mutter« am nächsten kam, unterwegs aus der Milchstraße nach Andromeda gewesen und im Exspect hängengeblieben war, das ihre Energie absaugte und sie hilflos ihrem Schicksal überließ. »Mutter« war, ihrem Strom vielfältiger Gedankenprojektionen zufolge, vor unvorstellbar langer Zeit aus einer anderen Galaxis in die Milchstraße gekommen, als das Exspect noch nicht existiert hatte. Eine dramatische Zuspitzung erfuhr die »Unterhaltung«, als sich der von den geistigen Attacken wieder erholte Tantal in das Gespräch einschaltete. »Mutter« zeigte sich völlig erstaunt darüber, in ihm einen »wahren Überlebenden seines Volkes« zu finden, das sich doch ihres Wissens nach vor unendlich langer Zeit so dramatisch verändert hatte. Der Strom der vielfältigen Projektionen brach für eine Weile ab und machte gedanklicher Stille Platz. Was hast du eigentlich in der Milchstraße gemacht? dachte Huxley, als »Mutter« wieder ihre Bereitschaft signalisierte, mit der Kommunikation fortzufahren. Die Galaxis mit meinen Kindern befruchtet. Jene, die du und deinesgleichen als Synties kennen. Woher hast du denn diesen Begriff? fragte Huxley erstaunt. Aus deinem Unterbewußtsein. Nennt ihr denn nicht meine Kinder Synties? Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie Unverständlich. Ich kann mich aus eigener Kraft nicht mehr befreien. Nicht einmal die Energie aus eurem Schiff hat dazu gereicht, diese Unverständlich zu verlassen.
»Das heißt, daß du auf sehr große Energiemengen angewiesen bist, um dieses Medium, das wir Exspect nennen, verlassen zu können?« Huxley formulierte seine Gedanken jetzt verbal. Sein Kontaktfeld hatte Zeit gehabt, sich auf die Transformation in Gedankenbilder einzustellen. So war es. Aus der Dringlichkeit der Antwortgedanken konnte Huxley entnehmen, daß Mutter sehr viel daran lag, ihr Gefängnis nach so langer Zeit endlich zu verlassen. »Mit der CHARR können wir dir leider nicht helfen. Ihre Meiler sind durch deine unbesonnene, wenn auch aus deiner Sicht verständliche Handlung fast leer. Aber es gäbe da einen Weg, wenn du akzeptierst. Wir haben an Bord ein Beiboot, ein kleineres Schiff, dessen Hauptmeiler noch voll sind. Es stellt eine Lebensnotwendigkeit dar, daß du diesen Meiler nicht antastest. Solltest du meiner Bitte nicht entsprechen, ist das gleichbedeutend mit deinem und unserem Untergang. Du erkennst den Wert dieses Meilers für dich und für uns?« Mutter erkannte ihn. Deutlich konnte Huxley spüren, wie der Hunger nach Energie Mutter zwar quälte, und er wußte, zu welchen Verzweiflungsschritten das Wesen durch sein Verlangen danach getrieben werden konnte. Aber er hoffte, daß sie verstehen würde, und daß sein Plan funktionierte. Der sah vor, auf der CHARR eine Notbesatzung zurückzulassen, mit der restlichen Besatzung auf der FO I nach Reet zu fliegen, von dort mit einem nogkschen Bergungstender, der die Energiespeicher der CHARR aufladen konnte, und einem großen transportablen Meiler für Mutter zurückzukehren. Die Energie dieses Meilers sollte ihr dann die Rückkehr in den sicheren Halo der Milchstraße ermöglichen. »Das bedeutet, daß ich dich fragen muß, ob du uns das gestattest?« Mutter verstand – und akzeptierte.
* Eine Stunde später... Huxley traf seine Entscheidungen mit Bedacht. »Okay, Prewitt, Sie übernehmen die CHARR. Sie haben durch die Detektorschulung längst alles drauf, was es über das Schiff zu wissen gilt. Chief Erkinsson bleibt ebenfalls an Bord. Ebenso zwanzig Prozent der Techniker und Mannschaften. Die Leute sind bereits instruiert. Der Rest begibt sich gerade an Bord der FO I. Und noch etwas, I.O. – halten Sie ständig Verbindung zu mir über To-Funk. So können wir die CHARR bei der Rückkehr schneller aufspüren, falls sich in diesem Sternenlosen Abgrund zwischen den beiden Galaxien die Koordinaten dank des Exspect wieder verschieben. Klar, I. O.?« »Aye, Sir!« Und Lee Prewitt fügte hinzu: »Viel Glück, Colonel.« »Das wünsche ich Ihnen auch.« Dann verließ Huxley mit seinem Zweiten Offizier den Leitstand der CHARR. Die Männer begaben sich in die Transportschächte und ließen sich von den grünlich leuchtenden Gleitfeldern in den riesigen Hangar tragen, in dem der Druckkörper der FO I auf seinen Bettungen ruhte. Das spindelförmige, zweihundert Meter lange Schiff füllte den Großhangar nahezu vollständig aus. Der Spindelraumer, der von den nogkschen Meegs seit Beginn von Huxleys Freundschaft mit ihrem Volk ständig auf den neuesten Stand der Technik gebracht worden war, war schon startklar und wartete nur noch auf seinen Kommandanten. Huxley und Maxwell enterten die Schleuse der FO I. Nur wenig später nahm der Colonel seinen Platz hinter der Kommandantenkonsole im Leitstand ein. »Mister Maxwell, öffnen Sie die Schleuse!« »Aye, Sir!«
Auf einen von Maxwell aktivierten Befehl hin öffnete sich in der Wand des Druckkörpers der CHARR das zweihundert Meter lange Schleusentor. Ein energetisches Kraftfeld verhinderte, daß während des Öffnungsvorganges die Luft aus dem Hangar entweichen konnte. Die Ausschleusungsprozedur geschah vollautomatisch. Sobald die Schleuse vollständig geöffnet war, deaktivierten sich die magnetischen Halteklammern, hob A-Grav die FO I aus ihren Bettungen. Wenige Sekunden stand der Spindelraumer noch im Hangar. Dann richtete er, dem Druck der Ausschleusungsfelder gehorchend, den Bug auf die von draußen hereinschimmernde Sternenkulisse und setzte sich, unmerklich zunächst, dann immer schneller werdend, in Bewegung. Gleichzeitig schaltete der Zweite Ingenieur, der den Platz des zurückgelassenen Chiefs übernommen hatte, die Triebwerke auf volle Leistung. Obwohl anfänglich scheinbar recht langsam beginnend, dauerte die gesamte Ausschleusung nicht länger als sechzig Sekunden, dann befand sich die FO I im Weltraum. Diese Zeit konnte bei einem Alarmstart um fünfzig Prozent verkürzt werden. Die FO I nahm Fahrt auf und beschleunigte mit irrwitzigen Werten. Für die Zurückgebliebenen in der CHARR verschwand sie im normaloptischen Bereich binnen Sekundenbruchteilen aus der Allsichtsphäre. * Der Weg zurück in den Halo der Milchstraße verlief komplikationsloser als der Flug mit der CHARR ins Exspect, wenn man davon absah, daß die FO I an einer anderen Stelle, als es den Berechnungen der Suprasensoren zufolge hätte sein müssen, im Einsteinkontinuum materialisierte. Aber das war zu
verschmerzen. Als das Corr-System bereits im Rand des Halos auf den Instrumenten auszumachen war, trat Huxley über den hyperstarken To-Funksender der FO I mit der Raumkontrolle auf Reet in Verbindung. »Geben Sie mir Charaua«, bat Huxley den Meeg-Techniker, der auf seiner Bildsphäre sichtbar wurde. Charaua hatte Anweisungen gegeben, für die Dauer von Huxleys Expedition ins Exspect sofort informiert zu werden, falls sich Tantal, der Colonel oder einer seiner Leute aus der leeren Zone melden würden. Deshalb dauerte es auch nicht lange, bis der Nogk-Regent auf dem Sichtschirm der FO I sichtbar wurde. »Wir haben die Anomalie aufgespürt«, begann Huxley ohne lange Vorreden, »und das, was sich hinter ihr verbirgt...« »Berichte!« Huxley informierte Charaua in knappen, präzisen Worten detailliert über die Geschehnisse im Exspect von dem Moment an, als die Besatzung der CHARR die paramentale Attacke erlitt, bis hin zu der überraschenden Erkenntnis, daß die »Mutter der Synties« dafür verantwortlich zeichnete. Und er beendete seinen Bericht mit den Worten: »Du siehst also, Charaua, ich benötige dreierlei: Einmal einen randvoll mit Energie gefüllten Tender, um die CHARR wieder funktionsfähig zu machen, zum anderen einen Meiler sehr großer Leistung, um ›Mutter‹ die Möglichkeit zu verschaffen, das Exspect zu verlassen, und drittens ein mittleres Wunder, daß dies alles in möglichst kurzer Zeit geschehen läßt. Wirst du das in die Wege leiten können?« Charaua signalisierte seine Bereitschaft; seine Fühler vibrierten ununterbrochen. Huxley »spürte« über seine semitelepathische Verbindung zu dem Nogk förmlich, wie es in ihm arbeitete. Er verstand ihn.
Die Erkenntnisse über »Mutter« mußten ihn emotional tief bewegen, vor allem ihre Bemerkung über die wahre Natur der Nogk. Er würde Zeit brauchen, um das alles zu verarbeiten. Doch jetzt war keine Zeit für tiefschürfende Überlegungen. Schließlich hatte er einen Auftrag zu erfüllen. »Charaua!« drängte er. »Wie sieht es aus? Sind die Nogk dazu imstande, das von mir Geforderte bereitzustellen?« Der grauhaarige Colonel und ehemalige Absolvent der Kallisto-Akademie sah sich von den schwarzen Facettenaugen des Nogk-Regenten fixiert. »Du kannst dich auf mich verlassen, Freund Huxley. Während wir hier reden, habe ich schon Anweisung gegeben, nach einem entsprechenden Bergungstender und einem in der Größe passenden Meiler zu forschen. Alle diese Dinge werden dich erwarten, wenn du auf Reet eintriffst.« Charaua nickte seinem terranischen Freund zu. Dann verblaßte sein Bild in der Sichtsphäre. Prewitt blickte den Colonel von der Seite an. »Die Sache mit ›Mutter‹ scheint ihn getroffen zu haben«, bemerkte er. »Möglich«, erwiderte Huxley knapp, »aber damit wird er schon klarkommen. Konzentrieren wir uns darauf, Reet zu erreichen.« »Natürlich, Colonel«, murmelte der Erste. »Natürlich.« Sie hatten die letzte Transition hinter sich gebracht. Das Corr-System stand visuell erkennbar auf den Bugsektoren der Allsichtsphäre. Jene »Lebensinsel« am Rande des Halo der Milchstraße, bereits umgeben vom Exspect. Selbst aus der Milchstraße heraus war zu Beginn der Anflug auf das System ein Vabanquespiel, das einem mitunter die Gefahren dieser Grenzräume recht drastisch vor Augen zu führen imstande war, wenn bei falsch gewählter Sprungdistanz im Augenblick des Wiedereintritts in das Normaluniversum die Antriebsenergie plötzlich weg war, absorbiert, aufgesaugt vom
unbegreiflichen Medium Exspect. »Wir bekommen Geleitschutz!« sagte Prewitt und deutete auf die Bugsektionen des Allsichtschirmes, auf der vier silberfarbene Nogk-Kampfraumer rasch näherkamen und die FO I in einem exakten 3-D-Manöver in die Mitte nahmen. Huxley zeigte sich nicht überrascht, als Charaua ins Mehrfache vergrößert aus der Allsichtsphäre auf die Männer im Leitstand des Spindelraumers herabsah. »Ich grüße dich, Herrscher der Nogk«, sagte der Colonel förmlich. »Willkommen zurück, Freund Huxley«, entbot ihm Charaua seinen Gruß. »Wir haben das, worum du uns gebeten hast.« »So schnell?« wunderte sich Huxley. »Könnt ihr Nogk neuerdings zaubern?« »Es hat nichts mit Zaubern, wie du es nennst, zu tun«, verneinte Charaua, und seine Fühlerpaare erzitterten konvulsivisch. Amüsiert sich der Bursche etwa? dachte Huxley überrascht; Heiterkeit war nicht gerade eine herausragende Eigenart des nogkschen Herrschers. »Nein«, fuhr Charaua jetzt fort. »Wir fanden auf einem der Monde des äußeren Planeten einen riesigen, transportablen Meiler, den wir eigentlich als Energiereserve bei unserem langen Flug zur Andromeda-Galaxis mitzunehmen gedachten. Das hat sich ja nun erledigt, wie du mir eindringlich vor Augen geführt hast.« »Und das war auch gut so«, versetzte Huxley mit Nachdruck. Charaua nickte zustimmend. »Seit jenes Verbot für unsere Raumschiffe in Kraft getreten ist, jemals wieder in das Exspect einzudringen, wurde der Meiler zwar gewartet, aber nie in Betrieb genommen. Er dürfte ›Mutters‹ Ansprüchen genügen.« »Und wo befindet er sich jetzt?« Wieder erzitterten Charauas Fühlerpaare.
»Bereits an Bord des Bergungstenders, den du für die CHARR angefordert hast.« »So erledigen sich manche Dinge wie von selbst«, murmelte Prewitt so leise, daß es nicht mal der neben ihm sitzende Colonel mitbekam. »Laß mich raten, Freund Charaua«, versetzte Huxley mit schmalen Augen. »Dieser Tender befindet sich...« »Im Orbit um den bewußten Mond«, unterbrach ihn der Nogk und bestätigte so Huxleys Vermutung. »Wir geleiten euch dorthin. Du brauchst nichts weiter zu tun, als einen Teil deiner Mannschaft an Bord zu bringen, dann könnt ihr zur CHARR zurückkehren und euren Teil der Abmachung mit ›Mutter‹ erfüllen.« Huxley nickte langsam. »Wenn alles vorbei ist, Charaua, werden wir beide uns zusammensetzen und sehr, sehr lange reden müssen.« »Ich verstehe«, nickte der Nogk. »Ich verstehe...« * »Mutter« stand in der Unendlichkeit des Weltraumes und pulsierte sachte. Sie hatte die vollkommenste Figur eingenommen, die es im Universum gab, die der exakten Kugel. Energetische Schleier überliefen ihre Oberfläche und ließen sie in allen Farben erstrahlen. Sie schwebte in dem großen Nichts wie ein Elektron, das seine atomare Umlaufbahn für immer verlassen hatte. Die Absorption des riesigen Meilers nogkscher Bauart hatte sie zu neuem Leben erblühen lassen und ihr die Kraft gegeben, sich vom Exspect zu befreien. Die äonenlange Gefangenschaft war zu Ende. Huxley, sein Erster Offizier und die Gruppe der Kobaltblauen blickten zusammen durch die Allsichtsphäre. Hinter sich wußte der Colonel die anderen.
Sie alle schwiegen und sahen ebenfalls in den Raum hinaus. Die Konverterbänke der CHARR waren wieder »aufgetankt«; die FO I lag auf ihren Bettungen im Großhangar. Der Bergungstender war nur noch eine leere Hülle. Ihn mit nach Corr zurückzunehmen lohnte nicht. Chief Erkinsson und seine Techniker und Ingenieure hatten alles an Aggregaten aus dem Tender entfernt und an Bord der CHARR gelagert; sie würden den Tender vor ihrem Abflug restlos zerstören. Plötzlich hatte Huxley das Gefühl, daß er angesehen wurde, über die Distanz des Weltraums hinweg, der zwischen der schillernden Kugel und ihm lag. Es war ein langer, prüfender »Blick«. Etwas zupfte an seinem Gehirn. Mutter? Ja. Ich muß gehen. Nimm meinen aufrichtigen Dank entgegen, du, der du mit deiner Beschränktheit auf lächerliche fünf Sinne fähig bist, den Weltraum zu durchkreuzen. Und auch du, Huxley sah, wie Tantal erbebte, als sich Mutter an den Kobaltblauen wandte, sei bedankt. Ich habe viel versäumt in den Äonen meiner Gefangenschaft. Ich muß meinen Auftrag erfüllen. Lebt wohl! Schon während ihrer letzten »Worte« hatte sich die Energiekugel, die Mutter war, langsam von der CHARR entfernt. Und plötzlich verschwand sie mit einem Aufblitzen, das nur einen Lidschlag lang andauerte, aus dem All. »Ob wir Mutter jemals wiedersehen?« fragte Prewitt. »Wer weiß, Lee? Das Weltall ist voller Überraschungen.« Huxley wandte sich ab. »Kommen Sie, Mister Prewitt. Werfen Sie die Riemen auf die Schwungscheiben unseres grandiosen Schiffes; es ist noch nicht zu Ende. Wir haben viel Arbeit vor uns...«
6. Die POINT OF sollte am nächsten Morgen zu ihrer Expedition nach Drakhon, der Zweiten Galaxis, aufbrechen. Dazu hatte sich Ren Dhark trotz der jüngsten Vorkommnisse durchgerungen. Manu Tschobe hatte grünes Licht für beinahe alle Besatzungsmitglieder gegeben. Nur zwei Männer der Crew mußten auf Terra bleiben, weil sie die Folgen der Ultraschallattacke nicht ganz folgenlos überstanden hatten, immer noch unter Gleichgewichtsstörungen litten und vorsorglich im Flottenklinikum von Cent Field unter medizinischer Beobachtung gehalten werden sollten. Wenige Stunden vor dem Start und nur wenige Stunden nach Vonnocks Verschwinden besuchten Ren Dhark und Joan Gipsy, Anja Field und Dan Riker ihren neuen Stammtreff am Rande des Raumhafens von Cent Field: das spanische Restaurant »Los Morenos«. Bei einem gepflegten Abendessen in entspannter Atmosphäre wollte sich Dhark noch einmal im Kreis seiner engsten Freunde besprechen. Er hatte aus seiner Begegnung mit Vonnock gelernt – glaubte es zumindest. Künftig, das hatte er sich vorgenommen, wollte er ein wenig genauer hinhören, wenn ihm wohlgemeinte und vor allem berechtigte Ratschläge erteilt wurden. Aber wie das so war mit guten Vorsätzen: Wie lange diese Einsicht letztlich anhalten würde, wollte er selbst nicht voraussagen... Zunächst jedoch zogen sich Dan und Joan Gipsy verschwörerisch ins Allerheiligste des Lokals zurück: in die Küche, in der José, einer der beiden Moreno-Brüder, normalerweise das Zepter schwang. Beide, José und Juan, waren von kräftiger Statur und stets gutgelaunt. Der Schalk saß
ihnen, wie man so schön sagte, im Nacken. Dan Riker hatte es sich zur Leidenschaft gemacht, bei seinen Besuchen dem Koch nicht nur über die Schulter zu kiebitzen, sondern selbst Hand anzulegen. Und Joan wollte es sich an diesem Abend nicht nehmen lassen, auch ein wenig über die Geheimnisse der spanischen »Haute Cuisine« dazuzulernen. Indes unterhielten sich Ren und Anja an einem der hübsch dekorierten Tische im Freien. Es war eine angenehm laue Nacht, der Himmel hing voller Sterne. Nur manchmal störte ein über das dunkle Firmament huschendes Fahrzeug die Idylle. Doch daran waren die Gäste des Lokals gewöhnt. In Sichtweite eines so stark frequentierten Raumhafens gehörte ein wenig Lärm immer dazu. Schalldämmende Energiefelder schluckten überdies so viele Dezibel, daß die Anwohner relativ ungestört schlafen konnten. »Weißt du noch«, frotzelte Anja gerade, »wie wir beide ineinander verliebt waren?« Dhark starrte sie einen Moment lang perplex, beinahe entsetzt an – ein Ausdruck, der sich in ein breites Grinsen verwandelte, als Anja nun ihrerseits irritiert auf seine Reaktion reagierte. Dann lachten sie beide hell auf. Ein paar Gesichter von den Nachbartischen drehten sich ihnen zu. Aber nur flüchtig. Lachende Menschen steckten mit ihrer Heiterkeit an. So war es auch hier. Das liebte Dhark am »Los Morenos«: Er durfte hier einen Abend verbringen, ohne sich permanent auf dem Präsentierteller zu fühlen. Die Gästemischung war wohltuend diskret. Woran und ob das letztlich am Einfluß der MorenoBrüder lag, wußte er selbst nicht. Er genoß es einfach. »Du«, griff Dhark das Thema schließlich noch einmal auf, nachdem sie sich zugeprostet und an ihrem leichten Wein genippt hatten, »warst verliebt in mich. Ich habe dich immer
abblitzen lassen.« »Ja, und aus genau diesem Grund habe ich mich für den Gefühlswärmeren von euch beiden entschieden – der außerdem auch besser für mein leibliches Wohl sorgen kann.« »Woher willst du das wissen? Ich habe doch noch nie für dich gekocht.« »Eben.« In das neuerliche Lachen hinein gesellte sich Juan Moreno zu ihnen an den Tisch. Juan kellnerte, derweil sein Bruder die höchst schmackhaften Gerichte in der Küche zauberte. Beide waren in Dharks Alter, Ende Zwanzig. Juans schwarze Haare waren jedoch ganz glatt, während die von José so kraus wuchsen, daß er sie nur in einem Pferdeschwanz halbwegs zu bändigen vermochte. »Ich sehe, Ihnen geht es gut. Das freut mich.« »Was meinen Sie, Juan, Freund, wie es uns erst ginge, wenn wir endlich etwas zu essen bekämen«, lachte Dhark. »Was veranstalten die beiden eigentlich da drinnen? Topfschlagen? Häkeln? Oder sämtliche Köstlichkeiten, die Ihr Bruder bereits fertig hat, vorkosten?« »Als ich das letzte mal in die Küche schaute«, ging Juan sofort auf den Flachs ein, »stritten sie noch darüber, wer den Herd anzünden darf. Es kann also noch ein klitzekleines Sekündchen dauern...« »Prima Aussichten«, mischte nun auch Anja mit. »Ich schlage vor, wir wechseln kurz die Lokalität, essen etwas und kommen dann zum Aperitif wieder zurück.« Juan erbleichte. Vermutlich hätte er auf Kommando sogar in Tränen ausbrechen können. »Das würde uns Juan nie verzeihen«, tadelte Dhark mit erhobenem Zeigefinger. »Dann entscheide ich mich lieber fürs Verhungern.« »Ich bin hocherfreut, daß Terra ein so weises Oberhaupt
besitzt«, erklärte Juan, wie es schien in großem Ernst. Dann schlug er beiden unvermittelt herzhaft auf die Schulter und wandte sich lachend dem nächsten Tisch zu. »Eine Seele von Mensch«, ächzte Anja, sich die Schulter reibend. »Ihn hätte ich auch genommen. Aber jetzt habe ich Dan. Und ich schätze, ich behalte ihn auch, falls er sich entschließt, demnächst mit seinem Beitrag zum Abendschmaus zu Potte zu kommen.« Wie auf Stichwort erschien tatsächlich Dan in der Tür zur Terrasse. Hinter ihm folgte dichtauf Joan. Als letzter im Bunde verließ José sein Refugium. Keiner kam mit leeren Händen. Wenig später aßen sie in trauter Runde die Vorspeise »Champignons in Knoblauchsauce«. Dem folgte das Hauptgericht »Merluza à la vasca«, ein unglaublich delikater Fischtopf, und als Nachspeise dann Dans Spezialität, die er mit Joans Unterstützung zubereitet hatte – wie diese stolz betonte – eine Quark-Vanille-Creme mit Mandarinen. Am Ende waren sie so gesättigt, daß Dhark schon fürchtete, die Einsatzbesprechung müßte ins Wasser beziehungsweise in den Wein fallen. * Es wurde dann doch noch ernst. Welch starkes Vertrauen Joan Gipsy nach anfänglichen Irritationen inzwischen bei Dhark genoß, bewies allein schon die Tatsache, daß er sie dabeihaben wollte, als er die Details der bevorstehenden Reise besprach. Obwohl die Galaxis Drakhon kein völliges Neuland mehr für sie war, stellte der erneute Besuch dieser aus unbekannten Regionen aufgetauchten Sterneninsel ein unabsehbares Risiko dar. Dharks Hauptziel war die Welt der Shirs; jener Planet also, auf dem sie die letzten Salter an Bord genommen hatten, die sie
für die lange gesuchten Mysterious gehalten hatten. Wie sich im nachhinein herausgestellt hatte, war dies nicht nur falsch, die Besatzung der POINT OF war von den Shirs darüber hinaus sogar hypnotisch beeinflußt und manipuliert worden! Heute wußte niemand mehr mit letzter Gewißheit zu sagen, wieviel von den Erlebnissen in der Zweiten Galaxis, die im Gedächtnis der Teilnehmer an der ersten Expedition verankert waren, auch den tatsächlichen Realitäten dort entsprach. Dhark fürchtete, daß die Welt der Shirs ein sehr viel feindseligeres Gesicht hatte, als man beim ersten Besuch wahrgenommen hatte. Die Crux war, daß nicht einmal der Checkmaster zwischen Lug und Trug unterscheiden konnte. Es hatte den Anschein, als wäre auch er – eine Maschine! – den Hypnokräften der Shirs erlegen... »Bevor wir nach Drakhon einfliegen«, sagte Dhark, den Blick auf Joans Augen gerichtet, aber jeden am Tisch ansprechend, »werden wir den hoffentlich fertiggestellten Generator bei den Nogk abholen, der es uns ermöglicht, eine Abschirmung gegen die Parakräfte der Shirs um das Schiff herum aufzubauen.« »Der letzte Kontakt, den wir mit dem Corr-System hatten«, nickte Dan Riker, »klang vielversprechend. Darüber mache ich mir am allerwenigsten Sorgen... Dieser Vonnock will mir nicht aus dem Kopf. Die Jäger, von denen er behauptete, sie seien ihm dicht auf den Fersen – glaubst du, wir müssen sie fürchten? Was, wenn sie gerade dann auf Terra aufkreuzen, wenn wir unterwegs nach Drakhon sind?« »Das wäre schlecht«, gab Dhark zur Antwort. »Andererseits können wir unsere gebotenen Pflichten nicht nur deshalb vernachlässigen, weil wir uns für sämtliche Eventualitäten absichern wollen – ganz davon abgesehen, daß unser Hiersein, sollten die Häscher auftauchen, auch kein Garant für eine friedliche Bewältigung der Begegnung wäre. Ich vertraue da
ganz auf die Erfahrung unserer Stellvertreter.« »Natürlich.« Riker grinste. »Sind gute Leute. Wir können den Urlaub unbesorgt antreten.« »Daß es Ferien werden, glaube ich kaum«, warf Joan ein. »Wenn ich nur an die Entfernung denke, die ihr zurücklegen wollt... Mir wird ganz schwummrig.« »Das ist der Wein«, lästerte Anja. »Mir ist auch schon ganz... nun, anders...« »Konserviere diese Verwirrtheit, bis wir zu Hause sind«, neckte Riker. »Unsere letzte Nacht, die wir für ein hübsches Weilchen nicht in der Beengtheit unserer Bordkabine verbringen...« Sein Grinsen glitt ins Unverschämte: »Euch beiden«, er sah der Reihe nach Ren und Joan an, »... würde ich übrigens empfehlen, euch dieses Dilemma auch bewußt zu machen. Nachher, wenn wir auseinandergehen...« »Idiot!« Dhark nahm kein Blatt vor den Mund. Hier, im Los Morenos, fühlte er sich auch heute abend und trotz der neu aufgetauchten Unwägbarkeiten wieder fast so unbeschwert wie in den Tagen, als er noch nicht die Last der Verantwortung für andere Menschen auf seinen Schultern gespürt hatte. »Vor der Inangriffnahme der eigentlichen Mission«, sagte er, nachdem die Gespräche kurz ins Private abgeglitten waren, »möchte ich zunächst die Behauptung überprüfen, ob es stimmt, daß sich uns Drakhon seit unserem letzten Ausflug um tausend Lichtjahre angenähert hat. Und wenn dem so ist: Wie hat dies geschehen können?« »Manchmal«, sagte Anja, »habe ich den Eindruck, daß sich uns für jedes gelöste Rätsel drei neue stellen.« »Manchmal«, spottete Dhark gutmütig, »bist du wirklich ein kluges Kind... Aber das warst du wohl schon immer, sonst hättest du dich nicht für Dan entschieden...« »Fängst du schon wieder an? Was soll Joan von uns denken?«
»Sie soll ruhig denken, daß ich einmal ein begehrter und umschwärmter Junggeselle war.« »Das steht für mich ohnehin außer Zweifel.« Der kurze, intensive Blickkontakt, die Art und Weise, wie sie die Lippen dabei schürzte und ihn mit dieser bloßen Andeutung von Sinnlichkeit schier um den Verstand brachte, machte Dhark erst bewußt, wie lange sie einander nicht sehen, nicht sprechen, nicht fühlen würden. Mit einem verlegenen Räuspern wechselte er das Thema. »Um möglichst wenig Zeit mit diesen Hausaufgaben zu vergeuden«, sagte er, »habe ich mir folgendes überlegt...« Mit präzisen Sätzen erklärte er die unkonventionelle Weise, in der er die POINT OF in eine optimale Beobachtungslage bringen wollte. Anstatt wie sonst üblich sollte sie sich ihren Etappenzielen nicht mit einer Serie von Transitionen nähern, die sie Stück für Stück durch den Sternendschungel brachten. Nein, er hatte sich dafür entschieden, unmittelbar nach dem Start eine einzige »Gewalttransition« über ungefähr zehntausend Lichtjahre »nach oben«, aus der Milchstraße heraus, durchzuführen. Von dort aus sollte es im Intervallflug mit Dauerbeschleunigung und entsprechendem Verzögerungsflug zu Koordinaten weitergehen, die etwa fünftausend Lichtjahre vom Corr-System entfernt lagen. Dadurch ließ sich nicht nur die ungeheure Geschwindigkeit, die die POINT OF im Intervallflug entwickeln konnte, vollständig ausnutzen – der Flug mit Sternensog erzeugte auch nicht die verräterischen Schockwellen einer Transition. So schloß man von vornherein jede Möglichkeit aus, die Grakos auf das ihnen unbekannte Fluchtsystem der Nogk aufmerksam zu machen. »Was haltet ihr davon?« schloß Ren Dhark seine Ausführungen. »Klingt mehr als unkonventionell«, meldete sich Anja als erste zu Wort. »Regelrecht revolutionär.«
»Das war er doch schon immer«, kommentierte Dan. »Ein alter Revoluzzer.« »Ihr habt also keine Einwände? Euch fällt nichts ein, was ihr mir entgegenhalten müßtet, um mich von diesem Versuch abzuhalten?« Während Joan sich nicht angesprochen fühlte, schüttelten Dan und Anja einhellig die Köpfe. »Ausnahmsweise nicht. Aber sprich es noch einmal mit der Astroabteilung durch. Bevor wir aus Versehen nicht zehntausend, sondern so viele Lichtjahre weit hopsen, daß uns dieses liebenswürdige Exspect umarmt...« »Danke für den Tip, Dan. Was würde ich ohne dich nur machen?« »Die Welt allein regieren?« »Tue ich das nicht ohnehin?« Wieder ging ein befreiendes Lachen durch die Runde. »Dir liegt doch noch etwas auf der Seele.« »Etwas? Ganze Geröllfelder, und jeder Stein davon ist ein Problem.« »Bitte nur die größten Brocken.« »Die Schatten«, sagte Dhark. »Die Grakos. Irgendwie muß es uns gelingen, die Ursprungswelt dieser Insektoiden ausfindig zu machen. Nur dann können wir das Unheil bei der Wurzel packen.« »Ich gebe noch heute Befehl an die Flotte, auszuschwärmen«, sagte Riker, dem die gute Laune flöten zu gehen drohte. »Sag mir nur, wie ich das bei der Minimalflotte, die uns geblieben ist, verantworten soll.« »Das ist das Problem, das ich meine. Ich weiß auch keine Lösung. Wir können das solare System, wir können Terra nicht ohne Schutz lassen. Die Ast-Stationen allein werden die Grakos auf Dauer nicht aufhalten.« Betretenes Schweigen setzte nach diesen Worten ein. »Laßt uns das tun, was Dan vorhin vorgeschlagen hat:
Genießen wir die letzten gemeinsamen Stunden – jedes Paar für sich. Bevor wir uns den Abend restlos verdorben haben.« Niemand widersprach. »Ich werde morgen vor dem Abflug das Schatten-Problem noch einmal mit Bulton und Shanton erörtern«, raunte Dhark seinem Freund zu, bevor sich ihre Wege für diese Nacht trennten. »Shanton?« »Er ist ein begnadeter Tüftler, auf eine schlichtere Art oft nicht weniger genial als Saam. Vielleicht fällt ihm etwas ein, wie wir den Grakos auf die Schliche kommen könnten, wenigstens mittelfristig.« »Schaden kann es jedenfalls nicht.« * Sie wählten Joan Gipsys Apartment für diese letzten gemeinsamen Stunden auf unabsehbare Zeit. Es war »eingewohnter«, gemütlicher, trug eine Handschrift, während Dharks Wohnung in Alamo Gordo immer noch in vielerlei Hinsicht wie ein Provisorium anmutete. »Dieses Silvester wirst du ohne mich feiern müssen«, sagte er, als sie eng umschlungen dalagen und durch das offene Fenster allmählich abkühlende Luft hereinkam. Joans Klimaanlage war abgeschaltet. Als eine der wenigen, die auf Terra nach dem Wiederaufbau eine neue Adresse bezogen hatten, verzichtete sie bewußt darauf, zu den Alltagsritualen zurückzukehren, die sich über viele Jahrzehnte der Prä-GiantÄra eingebürgert hatten: Klimageräte standen dabei ganz oben auf ihrer Liste. Sie hatte sich, wie sie es ausdrückte, vorgenommen, mit der Natur zu leben, nicht an ihr vorbei. Dhark, der viel Zeit unter den künstlichen Umweltbedingungen eines Raumschiffs zubrachte, bewunderte sie dafür. Und für vieles andere mehr.
Sie war ihm als Mensch ans Herz gewachsen, nicht nur als sehr, sehr attraktive Frau. »Das dürfte keine große Umstellung für mich werden«, flüsterte sie. »Letztes Silvester verbrachte ich auch ohne dich.« »Da kannten wir uns noch gar nicht.« »Das stimmt. Schon ein Unterschied...« »Ein gewaltiger Unterschied.« »Wie wirst du es überstehen?« fragte sie. »Unter Lebensgefahr, fürchte ich.« »Das fürchte ich auch.« Sie schmiegte sich enger an ihn. Dann küßte sie ihn. Verschloß seinen Mund, als wollte sie sagen: Genug geredet. Reden ist nicht alles. Dhark hatte nicht vor, ihr zu widersprechen. * Am nächsten Morgen betrat ein prachtvoll gelaunter Commander die POINT OF. Wer ihm begegnete, mußte fürchten, ohne ein eigenes Lächeln nicht an ihm vorbeizukommen. Nicht ungeschoren jedenfalls. Dan Riker, der wenig später zu ihm stieß, erfüllte diese Forderung allerdings problemlos. Immerhin trübte nicht einmal Trennungsschmerz die wundervolle Nacht, die hinter ihm lag. Anja hatte sich mit ihm an Bord begeben. Sie würde ihn auf dieser Expedition begleiten. Von Ren Dharks Kabine aus führten sie eine Viphokonferenz mit Marschall Bulton und Chris Shanton, der den Flug nach Drakhon nicht mitmachen würde – was er zähneknirschend hingenommen hatte. Dhark brachte vorrangig jenes Problem zur Sprache, das er schon kurz mit den Freunden am Vorabend erörtert hatte: Wie konnte man den Schatten dahingehend auf den Zahn fühlen, daß man endlich eine Spur zu ihrer Basiswelt fand? Noch besser: die Basiswelt selbst!
Tatsächlich war es Shanton, der einen interessant klingenden Vorschlag einbrachte – allerdings erst, nachdem Dhark sich nach Jimmys Befinden erkundigt und zu hören bekommen hatte, daß der Robotterrier »auf dem besten Weg der Genesung« sei. Shanton schlug den Bau einfacher, automatischer Sonden vor, die über ein eigenes, miniaturisiertes Transitionstriebwerk verfügten. Diese sollten einem Schattenschiff bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit folgen, sich quasi an es »anhängen«. Dazu bedurfte es neben einem leistungsfähigen Überlichtantrieb allerdings auch einer Sensorik, die in der Lage war, den Feind durch den Hyperraum hindurch zu verfolgen, ohne ihn wieder zu verlieren. »Das«, räumte Shanton ein, »dürfte die wahre Schwierigkeit sein.« Dhark schaltete eine weitere Verbindung nach Pittsburgh zu Wallis Industries. Sein Gesprächspartner: Terence Wallis, der Industriemagnat persönlich, den Dhark inzwischen zu seinen Freunden und Verbündeten zählte. Wallis hörte sich geduldig an, worum es ging. Als der Vorschlag mit den Sonden kam, sagte er: »Das wäre eine Aufgabe für Saam. Shanton und er könnten zusammenarbeiten. Die beiden ergänzen sich bestimmt prima. Was halten Sie davon?« Alle hielten ausgesprochen viel davon – bis auf den Betroffenen selbst. Aus unerfindlichen Gründen wirkte Chris Shanton nicht sonderlich glücklich darüber, mit einem Genie – zumindest nicht mit diesem – zusammenarbeiten zu dürfen. Trotzdem endete die Kurzkonferenz mit seiner Einwilligung. »Weißt du, warum Shanton diese Aversion gegen Saam hat?« wandte sich Riker an seinen Freund, als sie sich auf den Weg zur Zentrale machten. An Bord wies nichts mehr auf den Kaperungsversuch durch Vonnock hin.
»Nein. Aber man kann nicht jeden mögen. Die beiden werden sich schon zusammenraufen. Der Erfolg wird sie schon zusammenschweißen.« »Wenn sie Erfolg haben.« »Daran gibt es für mich gar keinen Zweifel. – Und jetzt: Auf nach Drakhon! Bist du nicht auch schon ganz aufgeregt, wie es sein wird, ins Nichts zu springen?« »Ich konnte nicht einmal frühstücken.« »Daran wird sich so bald nichts mehr ändern. Es kommen turbulente Zeiten auf uns zu, fürchte ich.« Riker nickte düster. »Du hast es schon immer verstanden, deine Leute zu motivieren...« * »Es gibt immer einen Ausweg!« sagte Danog, und sein Unterton hatte beinahe etwas Trotziges an sich. »Wäre dem nicht so, brauchten Sie meine Hilfe nicht, oder, Professor? Sie können fest mit mir rechnen. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um die Bevölkerung dieses Planeten zu schützen. Mein gesamtes Vermögen stelle ich der Allgemeinheit zur Verfügung – für den Bau von Schutzbunkern, für eine bessere Ausstattung der Krankenhäuser, für die Einrichtung von Lebensmittellagern und Flüchtlingsunterkünften... Mein Mitarbeiterstamm wird tatkräftig bei den Evakuierungsmaßnahmen mithelfen. Ich selbst wirke im organisatorischen Bereich mit, in vorderster Linie.« Das war Danog, wie er leibte und lebte! Wenn Dreangs Vater über Astronomie referierte, fühlte sich Danog jedesmal wie ein Schüler gegenüber seinem Lehrer. Daß auch er eine angesehene, einflußreiche Persönlichkeit war, merkte man ihm während des »Unterrichts« nie an. Zum Sterngucken fehlte ihm nun mal das Talent. Seine Fähigkeiten lagen dafür auf anderen Gebieten. In
puncto Redegewandtheit, Verhandlungsgeschick und Organisation machte ihm so leicht keiner etwas vor. Hinzu kamen sein ausgeprägter Geschäftssinn, sein eisernes Durchhaltevermögen und sein enormes Potential an Ideen, die, wie er allerdings zugeben mußte, nicht immer ganz ausgereift waren. So ganz nebenbei war er auch noch eine Sportskanone. Nicht nur als Muna-Ball-Profispieler befand er sich meistens auf der Zielgeraden. Professor Berkel Mintka bremste seinen Eifer. »Ich freue mich, daß Sie mir Ihre Hilfe nicht versagen, Danog. Ihr Einfluß und Ihr Vermögen werden uns allen sehr von Nutzen sein. Evakuierungsmaßnahmen oder den Bau von Schutzbunkern plane ich jedoch nicht.« »Sondern?« fragte Danog verblüfft. »Haben Sie einen besseren Vorschlag? Oder eine Idee, wie man das Unglück noch im letzten Augenblick abwenden kann? Ich bin bereit, Sie in jeder Hinsicht zu unterstützen, wie waghalsig Ihre Pläne auch sein mögen.« Professor Mintka seufzte. »Auch mit Waghalsigkeit läßt sich die furchtbare Katastrophe nicht abwenden, begreifen Sie das endlich. In ungefähr neunzig kleinen Zeiteinheiten, beziehungsweise knapp vier großen Zeiteinheiten bricht das Unheil erbarmungslos über uns herein. Das ist eine unumstößliche Tatsache, an der sich nicht rütteln läßt. Akzeptieren Sie das, Danog, es bleibt Ihnen eh nichts anderes übrig.« »Moment mal, Professor! Verstehe ich Sie richtig? Sie reden vom Weltuntergang, und Sie verlangen von mir, die Hände in den Schoß zu legen und tatenlos zuzusehen, wie um mich herum alles zusammenbricht?« entgegnete Danog fassungslos. »Ich soll nichts, rein gar nichts gegen die Not und das Leiden auf unserem Planeten unternehmen?« »Ganz im Gegenteil«, erklärte ihm der Astronom. »Wir beide werden Mittel und Wege finden, allen Bewohnern von
Walf die letzten Zeiteinheiten so erträglich wie möglich zu gestalten. Das schaffen wir natürlich nicht allein, wir brauchen vertrauenswürdige Verbündete. Bei Ihren Verbindungen, Danog, sollte es Ihnen nicht schwerfallen, rund um den Planeten eine gewisse Anzahl geeigneter Personen ausfindig zu machen. Auch ich werde mich in Kreisen meiner Kollegenschaft und unter den Verwaltern nach verschwiegenen Mitverschwörern umhören. Insgesamt sollte allerdings nicht mehr als eine Hundertschaft in unser Geheimnis eingeweiht werden.« »Die Allgemeinheit soll nichts von ihrem unausweichlichen Schicksal erfahren?« »Richtig. Jeder soll wie bisher sorglos in den Tag hinein leben. Niemand darf seine Träume verlieren, seine Hoffnungen aufgeben. Bis kurz vor dem Zusammenstoß beider Welten wird es auf Walf zugehen wie immer. Erst wenn die Katastrophe nicht mehr zu verheimlichen ist, wenn am Himmel die ersten Anzeichen des Untergangs mit bloßem Auge zu erkennen sind, geben wir unser Geheimnis preis. Dann werden die Mitglieder unserer Verschwörergruppe in den ihnen zugeteilten Bereichen mit ihren Nachbarn und Freunden reden und sie behutsam auf das unabwendbare Ereignis vorbereiten. Nur so schaffen wir es, den Ausbruch einer Massenpanik abzuwenden. Alles andere würde zu chaotischen Verhältnissen führen.« »Aber... aber die Walfheit hat ein Recht darauf, von der drohenden Gefahr in Kenntnis gesetzt zu werden.« »Mag sein, Danog, doch nur die wenigsten würden dieses Wissen verkraften. Kranke und Unfallopfer, die daheim oder unter ärztlicher Obhut auf ihre Genesung warten, wären am schlimmsten betroffen. Wollen Sie einem Schwerverletzten, der darauf hofft, in neun großen Zeiteinheiten wieder vollständig zu genesen, wirklich ins Gesicht sagen, daß in sieben bis acht großen Zeiteinheiten unsere Welt untergeht? Die Erkenntnis, daß er für den Rest seines kurzen Lebens auf
dem Krankenbett liegen muß, ohne die Chance, sich ein letztes Mal zu vergnügen, würde ihm sein Leid nur unnötig erschweren. Solange er nichts von Walfs abruptem Ende weiß, hat er noch Hoffnung in sich, und die dürfen wir ihm auf gar keinen Fall nehmen. Statt dessen werden wir versuchen, ihm und allen sonstigen Betroffenen das Dasein so gut es geht zu erleichtern. Man könnte ihm beispielsweise ein starkes Schmerzmittel spritzen, das wegen der Abhängigkeitsgefahr normalerweise unheilbar Kranken vorbehalten ist. Bei einer Lebenserwartung von knapp vier großen Zeiteinheiten spielt es keine Rolle mehr, ob er davon abhängig wird oder nicht. Für solche Fälle wäre es wichtig, den einen oder anderen Arzt als Vertrauten zu gewinnen. Es gibt aber auch andere Wege, zu helfen. Eine bettlägerige Patientin, die sich im Mehrbettzimmer unwohl fühlt, kommt völlig überraschend in den Genuß eines Einzelzimmers nebst eines Krankenpflegers, der nur für sie allein da ist, sich liebevoll um sie kümmert. So etwas hätte sie sich niemals leisten können, doch dank der Spende eines unbekannten Gönners...« »Eines Gönners namens Danog ut Keltris«, warf Danog ein. »Stimmt's?« »Stimmt«, bestätigte Professor Mintka. »Oder eines anderen großzügigen Mitglieds unserer Verschwörergruppe, das mit seinen Finanzmitteln ohnehin nicht mehr viel anfangen könnte – dazu zähle ich ebenfalls. Selbstverständlich tun wir auch Gesunden Gutes. Ich denke da an fröhliche kostenlose Feste in Städten und Dörfern, an freien Eintritt zu allerlei kulturellen Veranstaltungen, an Überraschungsgeschenke, die eines Morgens plötzlich vor der Tür stehen oder von einem Boten gebracht werden.« »Das alles wollen Sie mit einer Hundertschaft Walfen bewältigen?« »Unsere Gruppe wäre natürlich nur für die allgemeine
Organisation zuständig, allen voran Sie, Danog, sozusagen als Spezialist. Die ausführenden Organe erfahren keinerlei Einzelheiten, sie werden beauftragt, bezahlt und fertig. Einem Geschenkboten kann es schließlich egal sein, weshalb er ein Paket überbringt und von wem es stammt. Wir bleiben als unbekannte Gönner bis zuletzt im Hintergrund. Es ist für alle am besten so, glauben Sie mir.« Für Professor Berkel Mintka war das Ganze bereits beschlossene Sache. In seinen Augen war dies die vernünftigste Lösung. Jede andere Handlungsweise betrachtete er als unlogisch, daher setzte er Danogs Zustimmung als selbstverständlich voraus. Doch nun geschah etwas völlig Unerhörtes: In diesem wichtigen Punkt waren beide unterschiedlicher Meinung. Von der gewohnten harmonischen Übereinstimmung, von der auf ganz Walf verbreiteten Eintracht und Einigkeit war zwischen diesen beiden Männern nichts zu spüren. Danog ging auf Konfrontationskurs und widersprach dem Professor energisch. »Sie sind verpflichtet, die anderen zu warnen, Professor! Wir werden alle gemeinsam überlegen, was zu tun ist. Es ist falsch, nicht wenigstens noch einen letzten Versuch zur Rettung des Planeten zu unternehmen. Selbst wenn nur einige wenige von uns in Bunkern überleben...« »Sind Sie wirklich so naiv, Danog, oder spricht der pure Eigensinn aus Ihnen?« schrie ihn der Wissenschaftler unbeherrscht an. »Wenn es zum tödlichen Knall kommt, bricht der Planet wie brüchiges Glas auseinander, und die einzelnen Teile verglühen im All. Davor kann man sich nicht in Bunkern verstecken.« »Wir bauen Raumschiffe und fliehen vor Ausbruch der Katastrophe ins All!« schrie Danog zurück. »In der uns noch verbleibenden Zeit ist es völlig unmöglich, genügend Schiffe zu bauen. Es hätten nur wenige Personen darin Platz, und sobald ihnen der Sauerstoff ausgeht, wäre es
auch mit ihnen endgültig vorbei. Ich sehe dem Untergang gefaßt ins Auge, und ich rate Ihnen, das gleiche zu tun!« »Ich pfeife auf Ihre Ratschläge! Sie wollen die Bewohner unseres Planeten feige im Stich lassen. Ohne mich! Ich werde Ihre wichtige Entdeckung über sämtliche Medien verbreiten, so daß jeder für sich entscheiden kann, ob er tatenlos auf den Tod warten oder lieber versuchen will, dagegen anzukämpfen.« »Walfen sind es schon lange nicht mehr gewohnt, zu kämpfen.« »Dann werden sie es eben wieder lernen müssen.« Mit diesen Worten stürmte Danog barfuß aus dem Observatorium. Der Professor lief ihm nach. »Bleiben Sie stehen!« forderte er seinen davoneilenden Besucher auf. »Ich verbiete Ihnen, meine Entdeckung der Öffentlichkeit preiszugeben!« »Sie haben mir gar nichts zu verbieten!« erwiderte Danog zornig – und seine Wangen nahmen eine pechschwarze Färbung an, die Farbe des Zorns. »Ich werde tun, was ich tun muß!« Er sprang in sein Elo und fuhr los. Dreang schaute aus einem Fenster der Villa nach draußen und verfolgte den Streit erschrocken mit. Was war nur in die beiden gefahren? »Du verdammter Paria!« brüllte Berkel Mintka hinter Danogs Wagen her, und auch er wurde schwarz im Gesicht. »Du bist eine Gefahr für die Walfheit! Ich werde dafür sorgen, daß man dich unschädlich macht!« Dreang zuckte erschrocken zusammen. Paria! Das war die übelste Beleidigung, die man einem Walfen an den Kopf werfen konnte. * Mörder, Dieb, Betrüger – derlei unschöne Wortschöpfungen
wurden von den Walfen nur noch in Gesprächen über ihre unrühmliche Vergangenheit verwendet. Heutzutage gab es keine Verbrechen mehr auf Walf, also brauchte man auch keine Bezeichnungen dafür. Jeder Walfe legte Wert darauf, als einzigartig angesehen zu werden. Individualität wurde großgeschrieben auf Walf. Doch über allem stand der gemeinschaftliche Zusammenhalt, der seelische Einklang. Die Einheit der Walfen war unantastbar. Daß sich jemand gegen diese unverbrüchliche Einheit stellte und darauf aus war, sie zu zerstören, war undenkbar. Dennoch gab es einen sprachlichen Begriff für Personen, die sich eventuell zu einem derart unentschuldbaren Fehlverhalten hinreißen ließen: Parias – die aus der Gemeinschaft Ausgestoßenen. Danog ein Paria? Dreang konnte und wollte das nicht glauben. Sie kam aus der Villa, um mit ihrem Vater zu reden, aber der Professor wies sie barsch ab und schloß sich in seinem Observatorium ein. Im Arbeitszimmer aktivierte Berkel Mintka sein Sprako und stellte eine Verbindung mit seinem Vorgesetzten in Tongen her. Ausführlich berichtete er dem Mediator von seiner schrecklichen Entdeckung und Danogs Absicht, sie öffentlich zu machen. Carus Surac war entsetzt. »Dieser Wahnsinnige muß unbedingt aufgehalten werden! Ahnt er denn nicht, was er anrichtet?« »Ich habe versucht, ihm die Folgen seines unverantwortlichen Tuns klarzumachen, doch er wollte nicht auf mich hören«, entgegnete Berkel Mintka. »Danog ut Keltris handelt wider besseres Wissen gegen das Allgemeinwohl. Damit hat er sich selbst zum Paria abgestempelt.« »Hoffentlich ist es noch nicht zu spät«, erwiderte der weißhaarige Mediator besorgt. »Womöglich ruft er schon während der Fahrt im Medienturm an.«
In der Hauptstadt von Walf gab es ein Hochhaus, in dem sich diverse Medienstudios und -redaktionen vereinten. Im Volksmund wurde dieses Haus »Medienturm« genannt. Von hier aus wurden Meldungen über den ganzen Planeten verbreitet, wichtige und belanglose. »Danog hatte vorhin einen Unfall«, berichtete der Professor. »Meine Tochter stand währenddessen mit ihm in Gesprächskontakt. Plötzlich brach die Verbindung ab. Offenbar ist sein Elo-Sprako beschädigt. Zwischen meinem Observatorium und seiner Burg gibt es nur Abgründe, Wälder und Wiesen...« »... und keine Möglichkeit, mit den Medien in Kontakt zu treten«, ergänzte Carus Surac den Satz. »Ich alarmiere jeden verfügbaren Verwalter. Wir müssen sein Elo noch vor der Burg stoppen und ihn ohne großes Aufsehen auf meinen Regierungssitz bringen lassen. Seien Sie gegrüßt.« Regierungssitz – so wurden die Bürohäuser der Mediatoren genannt, die während ihrer Amtszeit gleichzeitig ihr ständiger Wohnsitz waren. Jeder Ort verfügte über einen solchen Regierungssitz, in dem mindestens ein Mediator agierte. Je mehr Bewohner eine Stadt hatte, um so größer waren die Bürohäuser und um so mehr Mediatoren arbeiteten und wohnten darin. Ratsuchende Bürger wandten sich an den jeweils nächstgelegenen Regierungssitz. Carus Surac kümmerte sich um die Belange der Tongener Bürgerschaft. Sein Zuständigkeitsbereich schloß auch Burg Keltris und das Observatorium mit ein. Professor Mintka gehörte zu seinem Verwalterteam, war ihm also direkt unterstellt. Nachdem er die Verbindung zum Observatorium abgebrochen hatte, stellte Mediator Surac eine Konferenzschaltung zu mehreren Verwaltern her, die in der Umgebung wohnten. Ohne nähere Erklärung erteilte er ihnen die Anweisung, Danog auf der Bergstraße abzupassen, ihn
festzunehmen und vorübergehend in den Karzertrakt zu sperren. Einen solchen Trakt – meistens lag er im Kellergeschoß – gab es traditionell in jedem Regierungssitz – für den Notfall, um fehlgeleitete Mitbürger kurzfristig in Arrest nehmen zu können. Überwiegend wurden sie als Abstellkammern benutzt. Der Mediator schaltete sein Sprako aus. Carus Surac kannte Danog als friedfertigen, besonnenen Mitbürger und könnte sich nicht vorstellen, daß er sich den Anordnungen der Verwalter widersetzen würde. * Drei Elos – zwei Geländewagen und ein Abschleppfahrzeug – fuhren die Straße zu Danogs Burg hinauf. Die insgesamt sechs Insassen standen untereinander in Sprechkontakt. »Seid gegrüßt. Kann mir mal einer von euch verraten, was es mit dieser Gefangennahme auf sich hat?« »Ich weiß von nichts. Als der Anruf des Mediators kam, bearbeitete ich in meinem Verwaltungszimmer einen Stapel Bauanträge für das geplante Gewerbegebiet am Tongener Dorfrand. Er holte mich direkt von der Arbeit weg.« »Mir erging es ähnlich. Mich rief er in meinem Spielwarenladen an.« »Danog ut Keltris ist ein angesehener Mann. Ich finde es nicht in Ordnung, daß man ihn wie einen antiken Verbrecher behandelt.« »Wer weiß, was er angestellt hat. Carus Surac hat die Festnahme gewiß nicht grundlos angeordnet.« »Ich hätte den Auftrag ablehnen sollen. Als Ingenieur gehöre ich zu Danogs Arbeitsteam. Und jetzt soll ich meinen eigenen Boß einsperren?« Danogs Burg tauchte rechts von der Bergstraße auf. Ein breiter Parkweg führte zum Parkplatz vor dem Haupttor. Die
Verwalter fuhren geradeaus weiter, immer höher hinauf. Auf einer geraden Strecke blieben sie hintereinander stehen. »Hier kann Danog uns schon von weitem sehen«, sagte Prom Pelt, der Spielwarenhändler. »Er wird seine Geschwindigkeit drosseln und sich widerstandslos ergeben.« Sein Beifahrer stieg aus und übernahm die Aufgabe, die Fahrzeuge einzuweisen. Ein schwieriges Unterfangen, denn keiner der sechs Männer hatte jemals eine Straßensperre errichtet. Walfen hatten ein untrügliches Gespür für Ästhetik. Daher kam es für sie nicht in Frage, die Wagen ungeordnet kreuz und quer auf der Straße zu plazieren. Geduldig kurvten sie solange aneinander vorbei und umeinander herum, bis die Sperre »ein Fest für die Augen« bildete, wie es der Einweiser ausdrückte, der als Verwalter für die Bereiche Kunst und Kultur zuständig war. Die anderen stiegen aus, um das »Gesamtkunstwerk« zu begutachten. Die drei Elos parkten der Länge nach nebeneinander. Das linke und das rechte Fahrzeug – zwei Geländewagen mit Breitreifen und stabilen Stoßstangen – waren so ausgerichtet, daß sie dem Festzunehmenden ihre Vorderfront entgegenreckten. Das in der Mitte befindliche Abschleppfahrzeug stand andersherum, mit der Vorderfront in Richtung Tal. Der hünenhafte Fahrer, der in Tongen eine Elowerkstatt betrieb, zog die Auffahrrampe heraus. »Das erspart uns unnötige Diskussionen«, meinte er. »Danog begreift sicherlich auch ohne Worte, was wir von ihm erwarten. Links und rechts kann er nicht vorbei, es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als auf meinen Schlepper zu fahren. Sobald er oben ist, ziehe ich die Rampe ein, und wir kehren um.« »Ein Geländeelo fährt voran, eins hinterher«, schlug der Ingenieur vor, der auf den Namen Jurge Ribor hörte. »Ich setze
mich vorsichtshalber zu meinem Arbeitgeber in den Wagen, er bringt's sonst noch fertig und flieht zu Fuß.« Es dauerte noch eine geraume Weile, bis Danogs Wagen aus einer Senke auftauchte. Langsam näherte er sich der Straßensperre. In einiger Entfernung blieb er mit laufendem Motor stehen. »Wahrscheinlich überlegt er, wie er sich verhalten soll«, vermutete ein Verwalter. »Umkehren nutzt ihm nichts. Die Bergstraße endet am Observatorium. Unterwegs gibt es keine Abzweigung.« »Er könnte auf den Gedanken kommen, einen der Wanderparkplätze anzusteuern und quer durch den Wald zu marschieren.« »Soll er doch. Carus Surac hat uns angewiesen, ihn vom Sprakosystem fernzuhalten. Im Wald kann er mit niemandem Verbindung aufnehmen.« Die Entwicklung des tragbaren Jackentaschen-Sprakos stand kurz vor dem Abschluß, aber aufgrund diverser technischer und organisatorischer Probleme verschoben die Hersteller die Serienproduktion immer wieder aufs neue. Einige Bürger plädierten dafür, die Pläne vorerst auf Eis zu legen und statt dessen einen früheren Alternativvorschlag noch mal gründlich zu überdenken. Schon vor mehr als vierzig Über-Zeiteinheiten hatte man überlegt, auf öffentlichen Plätzen und an Straßenrändern überdachte Sprakostationen zu installieren. Dieser Einfall war jedoch nur milde belächelt worden. Wozu brauchte man öffentliche Sprako-Häuschen, wenn man jederzeit an einem xbeliebigen Wohnhaus läuten konnte, um darum zu bitten, das Sprako der Bewohner benutzen zu dürfen? Im Zuge der walfischen Gastfreundschaft wurde eine solche Bitte nie abgeschlagen – und kein Walfe wäre auf die Idee gekommen, diese Gastfreundschaft auszunutzen. Plötzlich setzte sich Danogs Elo in Bewegung. Zunächst
rückwärts, so daß man annehmen mußte, er würde versuchen, zu fliehen. Doch dann stoppte er erneut und schoß nach vorn – immer schneller und schneller... Seine Verfolger konnten es kaum fassen. Wollte er tatsächlich die Sperre rammen? »Er muß irrsinnig geworden sein«, flüsterte Jorge Ribor, der Bergbauingenieur. »Das überlebt er nie.« Alle sechs gingen im Straßengraben in Deckung. * Der Sprung ins Nichts, wie Dhark es genannt hatte, funktionierte reibungslos. Terra, das solare System, ja die gesamte Milchstraße lagen mit einem Schlag hinter ihnen! Vom Gefühl her konnte man an Bord der POINT OF auch meinen: unter ihnen. Viele fragten sich, ob sie jemals einen grandioseren Ausblick auf die Sterneninsel genossen hatten, in der noch unzählige Welten, unzählige Lebensformen unentdeckt waren. Die Ergriffenheit machte auch vor der Besatzung der Zentrale nicht halt. Fast atemlos starrten ein Dutzend Augenpaare in die holographische Wiedergabe des äußeren Weltraums, mit der die Bildkugel sie beschenkte. Die einzelnen Spiralarme der Galaxis wirkten keineswegs zerklüftet. Die Summe aller Sterne ergab ein Bild unaussprechlicher Harmonie. In solchen Momenten drängte sich die Schöpfungsfrage förmlich auf. Und für eine kurze Weile war die Crew Gott näher als jedem pragmatischen Problem, als jedem noch so wichtig erachteten Geheimnis im Zusammenhang mit den Mysterious, mit Galaxis Zwei oder den Schatten. Da sie sozusagen parallel zur sägeblattförmigen Scheibe der Sternenballung herausgekommen waren, gerieten sie nicht mit
dem Exspect in Konflikt. »Drakhon ist von hier aus optisch nicht wahrnehmbar«, sagte Riker, der neben Dhark im Ko-Sitz des Kommandopodests saß. »Ich verstehe es bis heute nicht. Diese Galaxis kann doch nicht urplötzlich und mir nichts, dir nichts erschienen sein. So kurzfristig, daß das Licht ihrer Sterne noch keine Zeit hatte, den Raum zu durchdringen...« »Wir werden die Antwort finden«, versprach Dhark optimistisch. »Die Shirs wissen mehr darüber, da ich bin mir ganz sicher.« »Ob sie uns allerdings an ihrem Wissen teilhaben lassen, steht zu bezweifeln. Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, wie sie reagieren, wenn sie vom Tod der Salter erfahren? Es wird sich nicht verheimlichen lassen, und du hast am eigenen Leib erfahren, wie sehr ihnen die Gesundheit der Taralyth-Geschädigten am Herzen lag.« »Wenn es zu der Situation kommt, daß sie noch einmal in uns lesen dürfen, werden sie uns hoffentlich abnehmen, daß wir darüber zumindest ebenso unglücklich, ebenso geschockt sind wie sie.« »Wenn ich daran denke, daß die Shirs uns anfänglich wie die Harmlosigkeit in Person vorkamen...« »Wir werden erfahren, wer oder was sie wirklich sind. Der zweite Kontakt wird die Wahrheit ans Licht bringen.« »Hoffentlich überleben wir das.« Dhark nickte nachdenklich. Es war seltsam, wie selten er während eines Einsatzes an die Möglichkeit des eigenen Todes dachte. Seine Gedanken schweiften kurz zu Joan, die auf Terra zurückgeblieben war, und die noch nie in ihrem Leben aus dem solaren System herausgekommen war. Trotzdem quälten auch sie Ängste. Sorgen, die auf ihre Art nicht weniger berechtigt waren als die Dinge, über die er gerade nachdachte.
Würden sie einander wiedersehen? Das hing, machte er sich bewußt, nur zu einem verschwindend geringen Prozentsatz von ihm selbst ab. Faktoren, auf die er nicht den geringsten Einfluß nehmen konnte, würden darüber mit entscheiden. »Commander?« Tino Grappas Stimme lenkte ihn ab und bewahrte ihn davor, noch sentimentaler zu werden. »Commander, ich erhalte die ersten verläßlichen Daten...« »Sprechen Sie, Tino.« »Wir befinden uns nach unserer Transition nahezu senkrecht über dem solaren System – bei einer Entfernung von exakt neuntausendneunhundertachtundsechzig Lichtjahren. Unsere Entfernung zur Drakhon-Galaxis beträgt gegenwärtig rund einhunderttausend Lichtjahre. Wie Sie schon feststellten, Sir, ist die Zweite Galaxis mit dem bloßen Auge vor dem kosmischen Hintergrund nicht wahrnehmbar. Die auf Hypertechnik basierenden Sensoren messen ihr Vorhandensein jedoch hier im Leerraum zweifelsfrei an. Sie ist also, auch wenn es manchmal den Anschein hat, keine Fata Morgana, sondern da.« »Wie weit genau ist Drakhon gegenwärtig vom Halo unserer Galaxis entfernt?« »Exakt läßt sich das erst aus kürzerer Distanz sagen. Momentan wäre die Fehlertoleranz zu groß.« »Ich komme auf meine Frage zurück, Tino, danke.« Dhark wandte sich wieder seinem Freund Riker zu. »Sicher ist jedenfalls eins: Drakhon existiert seit weniger als hunderttausend Jahren in unserem Kontinuum – sonst könnten wir diese Galaxis mit bloßem Auge erkennen. Das Licht hätte dann Zeit gehabt, bis hierher zu dringen.« »Wir werden die genaue Zahl an Jahren ermitteln können, wenn wir uns mit Sternensog heranpirschen«, bestätigte Riker. »Aber transitieren geht schneller.«
»Nur dann, wenn wir den Sternensog nicht auf kontinuierliche Beschleunigung schalten, wie wir es beim letzten Rückflug aus dem Corr-System getan haben«, widersprach Dhark. »Aber diesmal müssen wir den Wendepunkt, an dem wir von Beschleunigung auf Bremsen umschalten, besser berechnen. Kurs festlegen zum CorrSystem. Vielleicht sollte ich unsere alten Freunde, die Nogk, mit der Wächter-Thematik konfrontieren – mit dem, was ich aus meiner Begegnung mit Vonnock gelernt zu haben glaube. Die Nogk haben uns längst nicht alles verraten, was ihre Zivilisation im Laufe der Jahrtausende an Wissen angesammelt hat. Womöglich sind sie irgendwann einmal mit den Wächtern der Mysterious konfrontiert worden. Oder sie kennen sogar die Koordinaten von Erron 2... Haben wir sie jemals danach gefragt?« Dan Riker schüttelte den Kopf. Auch sein Mienenspiel verriet, daß er die Gelöstheit des gestrigen Abends abgelegt hatte. »Wir werden sehen, ob sich die Gelegenheit ergibt, eine Audienz bei den Meegs zu erhalten – den Bewahrern des Wissens und der Wissenschaften auf Corr...«
7. Von Reets violettem Himmel war nichts zu sehen. Einer jener verheerenden Sandstürme, typisch für diese junge, heiße Wüstenwelt, tobte über die Pyramidenstadt der Nogk hinweg. Eine automatische Sicherheitseinrichtung hatte ein Prallfeld über Stadt und Landefläche für den unterirdisch angelegten Raumhafen geschaltet. Es sah aus, als befände sich die Stadt im Innern einer kuppelförmigen Höhle, deren Wandung hellbraun schimmerte. Doch war das Hellbraune nichts als sturmgepeitschter Sand, der gegen das Energiefeld geschleudert wurde und es überdeckte. Ohne dieses Prallfeld wäre die Stadt vermutlich innerhalb kurzer Zeit restlos verschüttet worden... Obgleich von der roten Riesensonne Corr nichts zu sehen war, herrschte im Inneren der vom Prallfeld geschützten Sphäre keine Dunkelheit. Auf geheimnisvolle Weise waren die Wände der Pyramidenstadt teilweise transparent geworden und ließen das Licht der darin installierten Kunstsonnen auch draußen sichtbar werden. So wie es auch im Innern der Stadt die Wände durchdrang und dafür sorgte, daß die Nogk jederzeit das ganz besondere Strahlengemisch dieser Kunstsonnen mitbekamen, ohne das sie nicht dauerhaft existieren konnten. Zumindest nicht jene der alten Generation... Denn auch wenn die Sonne Corr, die »Lebensspenderin«, wie das Wort ins Angloter übersetzt bedeutete, den Bedürfnissen der Nogk weitgehend entsprach, so gab es doch winzige Abweichungen im Spektrum gegenüber Charr, unter deren Licht sie sehr lange Zeit gelebt hatten, bis sie schließlich zur Nova wurde und die Nogk fliehen mußten; zunächst ins System der blauen Sonne Tantal und dann hinaus aus der Galaxis, 300.000 Lichtjahre weit hinaus ins Exspect.
Momentan wäre es nicht nötig gewesen, das Licht der Kunstsonnen auch nach draußen zu tragen, denn kein einziger Nogk befand sich zu dieser Zeit außerhalb einer der vielen Pyramidenstädte, die auf Reet entstanden waren. Dennoch war es eine unabdingbare Sicherheitsmaßnahme, denn die Nogk überließen nichts dem Zufall. »Sie schaffen es immer wieder, mich zu überraschen«, sagte Colonel Huxley leise. »Obgleich ich sie nun schon so lange kenne und eigentlich wissen müßte, mit welcher Präzision und Schnelligkeit zugleich sie arbeiten. Allein um diese Städte zu errichten, hätten wir Terraner mindestens hundert Jahre gebraucht, von denen die ersten 97 für Planfeststellungsverfahren, Umweltverträglichkeitsgutachten, Profilierungsversuche geltungssüchtiger Hinterhofpolitiker und ähnlich unendlich wichtige Hirnrissigkeiten draufgegangen wären – bis wir uns im 98. Jahr endlich aus dem Dasein verabschiedet hätten. Die Nogk dagegen entwickeln eine Idee, diskutieren kurz Für und Wider und führen sie durch.« »Ein Ameisenstaat«, warf Ren Dhark ein. Gleich nach der Landung der POINT OF auf Reet hatte er sich mit Huxley in Verbindung gesetzt. »Nein, das ist es nicht. Auch unter den Nogk gibt es durchaus Individualisten, und der Rat des Imperiums ist alles andere als die Marionettensammlung eines diktatorischen Herrschers. Charaua als Herrscher ist ganz bestimmt nicht der allwissende Oberguru, aber er ist erfahren und bringt seine Erfahrung in den Rat ein. Seine Aufgabe ist es, die Beschlüsse zu verkünden und ihre Durchsetzung zu initiieren, zu kontrollieren und zu verantworten. Doch im Gegensatz zu uns Menschen sehen auch die Individualisten unter den Nogk zuerst die Sache und nicht ihre persönliche Geltungssucht. Sie alle sind ein einziges großes Team, in dem nicht jeder einzelne einen Nobelpreis oder einen Orden und einen Platz in den Geschichtsbüchern erlangen will, sondern seinen Teil dazu
beiträgt, daß alle gemeinsam vorankommen. Das ist es, was uns Terranern fehlt.« »Das ist es aber auch, was uns Menschen unverwechselbar macht«, erwiderte Dhark. »Und dennoch brauchen wir die Hilfe der Nogk. Die Hilfe dieser Staatsameisen.« Ein feines Lächeln umspielte die Lippen des grauhaarigen Colonels. »Vielleicht haben Sie mich falsch verstanden, Frederic«, wehrte sich Dhark. »Meine Bemerkung sollte keine Abwertung der Nogk sein. Selbst die Salter nannten sie ein wunderbares Volk.« Sekundenlang glitten seine Gedanken ab – zu diesen Wesen, die auf der Erde, der Heimat ihrer Ur-Vorfahren, ihr Ende gefunden hatten. Die sich als die Mysterious ausgegeben und die geradezu unwahrscheinliche Kenntnisse über die Mysterious besessen hatten; nur woher diese Kenntnisse stammten, hatten die Salter nicht mehr verraten können. Terra, oder auch Lem, wie sie ihre Ursprungswelt nannten, war ihnen vorher zum Grab geworden. Ein Grab, das robonische Attentäter geschaufelt hatten... »Wie auch immer: Selbst ich habe nicht damit gerechnet, daß die Nogk die Parafeld-Abschirmung dermaßen rasch entwickeln könnten«, holten Huxleys Worte ihn wieder in die Gegenwart zurück. »Zumal, weil sie zwischenzeitlich noch etwas anderes zu tun hatten. Und damit, Dhark, haben Sie mich nun auch überrascht: Haben Sie geahnt, daß die Nogk es so schnell schaffen würden, oder ist es nur Ihre ungestüme, jugendliche Ungeduld?« Der Commander stutzte. Jugendliche Ungeduld hatte ihm noch niemand vorgeworfen, aber Huxley hatte damit nicht ganz unrecht, weil Dharks Voranstürmen in vielen Dingen so manchem Älteren längst unheimlich geworden war. Doch hatte dieses Voranstürmen Terra nicht auch weitergebracht und größer
werden lassen als je zuvor? »Ich habe es gehofft, Frederic«, schmunzelte Dhark. »Vielleicht, weil mich in den letzten Jahren so vieles überrascht hat, daß ich Überraschungen fast schon als Normalität ansehe...« Huxley zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer, während wir hier gemütlich sitzen und plaudern, bauen die Meegs wohl schon die Abschirmung in Ihre POINT OF ein. Sie und Ihre Leute sollten dabei sehr gut aufpassen, wenn man Ihnen die Erklärungen gibt, denn schriftliche Gebrauchsanweisungen gibt es bei den Nogk nicht.« Dhark nickte. Er hob die Hand. »Sie sagten eben etwas von einer zwischenzeitlichen anderen Aufgabe. Was ist passiert?« Huxley berichtete von der Rettungsaktion für die »Mutter der Synties« tief draußen im Exspect. Überrascht und aufmerksam hörte Dhark zu. »Schade«, gestand er schließlich. »Dieses Wesen hätte ich zu gern kennengelernt. Ob wir ihm jemals wieder begegnen?« »Eines Tages... vielleicht. Die Synties selbst kreuzen ja auch immer wieder unerwartet unsere Wege. Aber ich fürchte, für die ›Mutter‹ war alles nur ein Aufschub. Wir wissen doch, daß auch den Synties die Störungen des Galaktischen Magnetfeldes erheblich zu schaffen machen. Auch sie werden irgendwann vor dem Problem stehen, die Galaxis verlassen zu müssen, weil sie unbewohnbar wird. Vielleicht nicht in den nächsten hundert oder tausend Jahren. Aber wohin sollen sie fliehen? Wohin sollen wir alle fliehen? Draußen setzt uns das Exspect seine tödliche Grenze.« Dhark hob beide Hände. »Grenzen sind dazu da, überwunden zu werden. Vielleicht gibt es trotzdem einen Weg. Vielleicht haben wir nur die falschen Antriebssysteme. Mit einem Fahrrad kann man, bei entsprechendem Zeitaufwand, auf dem Festland theoretisch unendlich weit fahren. Bis ans Ende der Welt. Aber was, wenn
das Ende der Welt hinter einem Ozean liegt? Dann hilft uns das Fahrrad nicht weiter, dann brauchen wir ein Boot. Und das Boot, das uns durchs Exspect bringt, haben wir bisher noch nicht erfunden. Und vermutlich vor uns auch noch niemand, weil ja sogar die M-Technik damit nicht klarkommt. – Dafür ist dieser weiße Blitz, der die Galaxis durchlief und auch das Corr-System erreichte, mit der M-Technik klargekommen. Genauer gesagt, er hat sie lahmgelegt.« Jetzt war er an der Reihe, einen Bericht abzugeben über all das, was sich in der Milchstraße abgespielt hatte. Huxley hatte es geahnt, war aber nie sicher gewesen, weil es nach dem Abflug der POINT OF und der EUROPA keinen weiteren Kontakt mit der Milchstraße mehr gegeben hatte. Allenfalls Erron 1 wäre in der Lage gewesen, Reet mit Hyperfunk zu erreichen, aber – Erron 1 war durch den Hyperraumblitz ebenso ausgefallen wie Planet 1 im Zwitt-System der Sternenbrücke. Und die terranischen Sender konnten das CorrSystem nicht erreichen. Umgekehrt waren selbst die stärksten Sender der Nogk nicht in der Lage, bis nach Terra durchzudringen. Ganz abgesehen von den in den letzten Wochen immer häufiger und immer stärker auftretenden Magnetfeldstörungen, die jedesmal den Hyperfunkverkehr fast unmöglich machten. Huxley war bestürzt. »Nur noch 545 S-Kreuzer – das ist eine Katastrophe«, stieß er hervor. »Vor allem im Kampf gegen die Schatten. Die Ringraumer waren die einzige wirksame Waffe...« »Wir arbeiten an anderen wirksamen Waffen«, deutete Ren Dhark an. »Terra schläft ebensowenig wie die Nogk.« Dabei dachte er an das eigenwillige, recht überkandidelte Genie Saam mit seinen spontanen Neuentwicklungen. Dieser Mann, mit den Nogk zusammengebracht, könnte Galaxien versetzen... Nein! durchfuhr es ihn sofort. Die Nogk würden mit seiner
Disziplinlosigkeit niemals zurechtkommen. Saam ist ein totaler Chaot. Sie würden ihn vielleicht töten, aber sein Gehirn entnehmen und konservieren... »Sie denken an irgend etwas Gefährliches«, riet Huxley. »Und Sie scheinen nicht mit mir darüber reden zu wollen.« Der Commander nickte. Robert Saam mußte den Nogk vorerst ein Unbekannter bleiben. Sie würden schon genug daran zu knabbern haben, daß die bislang gigantische und unbesiegbare Ringraumerflotte der Terraner der Vergangenheit angehörte. Er erhob sich. »Schauen wir uns an, wie weit die Meegs mit der POINT OF sind«, schlug er vor. Ein Blick zum Fenster verriet ihm, daß der Prallschirm sich immer noch über der Stadtanlage wölbte. Aber der Sandsturm hatte nachgelassen. Teilweise war Reets Himmel bereits wieder zu sehen. Aber das rote Auge der Sonne Reet gloste sehr dunkel. Ein Omen? * Sechs bis zu 1.000 Meter hoch aufragende Stadtpyramiden waren es, die mathematisch genau auf riesigen Quadern ausgerichtet und durch unterirdische Tunnel miteinander zu einem großen Stadtgebilde verbunden waren. Diese Architektur war für die Pyramidenstädte der Nogk auf Reet typisch geworden, die damit von ihrer Tradition, Ringstädte zu errichten, abgewichen waren, weil die Pyramiden den Sandstürmen besser standhielten – in der Anfangsphase, noch ehe die Städte durch Prallschirme geschützt werden konnten. In der Mitte der jeweils sechs Pyramiden befand sich stets der kreisförmige Zugang zum unterplanetarischen Raumhafen, der dem jeweiligen Stadtgebilde zugeordnet war. Dort parkten
die gewaltigen Ellipsenraumer, wurden gewartet, instandgesetzt oder einfach nur vorübergehend abgestellt. Nur ein Teil der Flotte befand sich ständig auf Raumpatrouille im System und in dessen Randbereich, wo die Grenzen des stellaren Magnetfeldes und des Exspects ineinander übergingen. Ständige Wachsamkeit war geboten; niemand konnte sicher sein, ob die mörderischen Schatten das CorrSystem nicht trotz aller Sicherheitsvorkehrungen doch noch entdeckten und angriffen, so wie sie das Tantal-System angegriffen hatten... Die anderen Raumer befanden sich in Bereitschaft. Sie konnten jederzeit eingesetzt werden, um mit ihrer ungeheuren Kampfkraft einen eventuellen Angreifer abzuwehren und zu vernichten. Zwischen den massigen Druckkörpern der bis zu 900 Meter in Längsrichtung durchmessenden Ellipsenraumer wirkte die POINT OF beinahe wie ein Spielzeug. Alle Schleusen des Ringraumers waren geöffnet, und es wimmelte von den gelbuniformierten Meegs. Auf den ersten Blick ein undurchschaubares Chaos, doch wer sich die Zeit nahm, genauer hinzusehen und die Bewegungen zu analysieren, stellte unweigerlich fest, mit welch für menschliche Begriffe unglaublicher Effizienz und Präzision die Zusammenarbeit der einzelnen Nogk erfolgte. Alles paßte zusammen, kein Fehlgriff erfolgte; jeder Handgriff saß perfekt und jedes Teil wurde in genau der Sekunde angeliefert oder angereicht, in welcher es benötigt wurde. Der Eindruck, es mit Robotern zu tun zu haben, drängte sich Ren Dhark auf, aber die Nogk waren alles andere als Maschinen. Sie vergeudeten ihre Zeit nur nicht an Nebensächlichkeiten, wie Menschen es taten, und einmal mehr fragte sich der Commander, wie wohl das Freizeitverhalten dieser Geschöpfe aussah. Kannten sie überhaupt so etwas wie Freizeit? Wenn sie ruhten, dann unter dem Einfluß ihrer
regenerierenden Schlafstrahler, und wenn sie aktiv waren, arbeiteten sie... Irgendwann einmal, beschloß Dhark, würde er Huxley danach fragen. Aber nicht jetzt, da es wichtigere Dinge zu tun gab. Etwas von der effizienten Geschäftigkeit der Nogk begann bereits auf Ren Dhark abzufärben, so daß er die Frage nach dem Freizeitverhalten als irrelevant zurückstellte... Arc Doorn trat ihm und Huxley entgegen. Der Sibirier sah müde aus. »Gleich fertig«, sagte er. »Die arbeiten mit der M-Technik, als hätten sie sie erfunden. Congollon hat den Plan gefaßt, wahnsinnig zu werden. Vielleicht können Sie ihn ja davon abbringen, Dhark. Da – viel Spaß mit dem Ding. Hab' ich einem der Libellenköpfe aus der großen Transportkiste gefischt. Sieht hübsch aus und funktioniert sogar, nur nicht besonders gut. Ihre Freunde sind auch keine Alleskönner, Colonel!« Er deutete einen mit großem Entgegenkommen als halbwegs militärisch anzusehenden Gruß zu Colonel Huxley an und verschwand. Vorher hatte er dem Commander der Planeten einen metallenen, golden schimmernden Ring in die Hand gedrückt. Huxley, der eine Menge von Disziplin hielt, holte tief Luft – und verzichtete auf einen Kommentar. Er kannte schließlich Dharks Truppe aus absoluten Individualisten. Dhark zuckte mit den Schultern. Manchmal war Doorns Mundfaulheit wirklich ätzend. Zu ein paar Erklärungen hätte er sich doch wohl herablassen können. In der POINT OF trat ihnen ein Nogk entgegen, den Ren Dhark unter Tausenden erkannt hätte, obgleich für ihn wie für fast alle Menschen ein Nogk so aussah wie jeder andere – was umgekehrt sicher nicht anders war. Diesmal trug Charaua nicht die goldene Uniform des Herrschers, sondern schlichtes Blau mit silbernen Streifen. Ren entsann sich, ihn einst so gekleidet
kennengelernt zu haben. Die beiden Fühlerpaare auf dem Libellenkopf des Humanoiden, dessen Bewegungen an die Eleganz eines Reptils gemahnten, schwangen rhythmisch. »Ich sehe, dir wurde der Stirnreif bereits ausgehändigt, Ren Dhark«, begrüßte der Nogk den Terraner. »Leider waren wir in der Kürze der Zeit nicht in der Lage, mehr als zweihundertfünfzig Exemplare herzustellen. Wir konnten sie auch noch nicht erproben. Unsere Meegs sind sicher, daß sie funktionieren, aber die Qualität bedarf noch einer Überprüfung.« »Stirnreif?« echote Dhark. »Hat mein Freund Huxley es dir nicht gesagt?« wunderte sich der Nogk. »Zusätzlich zur Abschirmung deines Schiffes haben wir auch individuell einsetzbare Geräte entwickelt. Unsere Meegs gingen davon aus, daß ihr möglicherweise gezwungen sein könntet, euer Schiff zu verlassen, wenn ihr es mit jenen Shirs aus der anderen Galaxis zu tun bekommt. Dann aber kann euch die Abschirmung eures Raumers nicht mehr schützen. Deshalb solltet ihr dann diese Stirnreifen benutzen. Wir rechneten nicht damit, daß du so früh zu uns zurückkehrtest, deshalb konnten wir noch nicht mehr dieser Geräte produzieren.« »Du brauchst dich dafür doch nicht zu entschuldigen, Charaua!« entfuhr es dem Commander. »Das ist jetzt schon viel, viel mehr, als wir überhaupt erwarten konnten – mein Freund!« »Ihr Terraner habt auch für uns viel mehr getan, als wir jemals erwarten konnten«, teilte Charaua ihm auf seine halbtelepathische Weise mit. Was er zu sagen hatte, wurde in Form von bildhaften Symbolen in Dharks Bewußtsein präsent. Umgekehrt nahm der Nogk über seine Fühler die mentalen Schwingungen des Terraners auf und erkannte daraus die Bedeutung der Worte, die dieser sprach. Eine rein akustische
Verständigung war den Nogk fremd. »Erprobe den Reif«, bat Charaua. »Wir hatten noch keine Gelegenheit, ihn ausgiebig zu testen.« Dhark drehte den metallenen Reif zwischen den Händen. Dann zog er ihn sich über den Kopf. »Na, Huxley, wie sehe ich aus?« grinste er. »Kann ich damit auf den Laufsteg?« Der Colonel verzog die Mundwinkel. »Heiraten würde ich Sie deswegen nicht, Dhark«, brummte er. »Aber passen Sie auf. Charaua hat mir gerade mitgeteilt, daß er Sie attackieren wird. Sind Sie einverstanden?« »Weshalb hat er mich das nicht selbst gefragt?« Huxley tippte gegen den Stirnreif. »Deshalb«, sagte er. »Ich bin einverstanden«, stimmte Dhark zu. Im nächsten Moment sah er, wie Charauas Fühler zu wirbeln begannen. Irgendwie spürte er, daß etwas Unbegreifliches ihn berührte, in ihn einzudringen versuchte. Aber dann war es wieder fort. »Nehmen Sie den Reif ab«, bat Huxley. Ren Dhark streifte den goldenen Ring wieder ab. Im gleichen Moment vernahm er Charauas bildhafte Impulse. »Wir konnten dich nicht mehr erreichen, Ren Dhark«, teilte der Nogk mit. »Deine Gedanken waren uns verschlossen. Konntest du etwas von dem erfassen, was wir dir aufdrängen wollten?« »Ihr? Nicht du allein?« Dhark runzelte die Stirn. »Ach – meine Schuld«, bemerkte Huxley heiter. »Können Sie einem alten Mann seine Vergeßlichkeit verzeihen? Ich hätte Ihnen sagen sollen, daß Charaua Sie nicht allein attackierte. Etwa zwanzig seiner Leute haben ihn unterstützt.« Er deutete auf eine Gruppe von gelbgekleideten Meegs, die aus einiger Entfernung aufmerksam herüber sah. »Huxley!« vernahm Dhark Charauas empörte Impulse. »Warum hast du es ihm nicht gesagt?« »Überraschung«, grinste der Colonel. »Es gehört zu dem,
was wir Terraner als Humor bezeichnen.« »Dein Artgenosse hätte ernsthaft geschädigt oder getötet werden können«, protestierte Charaua. »Deshalb solltet ihr Terraner eine so gefährliche Eigenschaft wie Humor unterdrücken.« »Erkläre einer einem Nogk, was ein Witz ist«, murmelte Huxley und seufzte leise. »Der letzte Sommer«, entgegnete Charaua. Huxley starrte ihn entgeistert an. »Was, bitte?« Charauas Fühler schwangen bedächtig hin und her. »Einer aus deiner Besatzung äußerte vor kurzer Zeit: Der letzte Sommer war ein Witz.« Huxleys Unterkiefer klappte in Richtung Planetenmittelpunkt. Ren klopfte ihm auf die Schulter. »Ich glaube, Frederic, gerade haben Sie Ihre eigenen Waffen zum Feind getragen...« * Später in der Zentrale der POINT OF nahm Huxley den Commander beiseite. »Sie sind mir doch nicht gram, weil ich Sie nicht gewarnt habe?« fragte er vorsichtig an. Dhark schüttelte den Kopf. »Ich gehe davon aus, daß Sie eingegriffen hätten, wenn es für mich gefährlich geworden wäre. Außerdem bin ich überzeugt, daß die Nogk ihre eigenen mentalen Fähigkeiten sehr gut kontrollieren können. Aber dieser Stirnreif scheint sehr gut zu funktionieren. Ich war nicht in der Lage, Charauas Impulse wahrzunehmen.« »Er konnte Ihre auch nicht erkennen. Das bedeutet aber noch keine hundertprozentige Sicherheit, Dhark. Ihr Freund Doorn murmelte, das Gerät funktioniere nicht so gut, wie er es erwartet hätte. Und wenn ich mich daran erinnere, was mir über die Shirs mitgeteilt wurde – na, danke. An deren
Parakräfte kommen die Nogk bei weitem nicht heran.« »Die Geräte sollen ja auch nur abschirmen, mehr nicht. Wenn die Nogk selbst zu zwanzig bei einem Terraner nicht durchkommen, kann ich davon ausgehen, daß ein Shir zumindest Schwierigkeiten bekommt.« »Und wenn es zwei Shirs sind?« »Wenn, Huxley. Wenn und aber. Wenn ich nie in meinem Leben ein Risiko eingegangen wäre, dann wäre Rocco immer noch diktatorischer Stadtpräsident auf Hope, oder die Amphis hätten unsere Kolonie ausgelöscht, und Terra wäre ein mittlerweile praktisch toter Planet, weil die Giants auch die letzten Überlebenden zu Robonen gemacht hätten. Wer etwas erreichen will, muß auch etwas riskieren. Vielleicht fällt er dabei auf die Nase. Vielleicht gewinnt er aber auch. Kennen Sie Gregor Stepanowitsch Iljuschin? Der hat vor fast 80 Jahren mal gesagt: Jeder schmiedet sein eigenes Schwert. Der eine stürzt sich hinein, der andere erobert damit ein Weltreich.« »Und Sie schmieden gerade wieder mal an so einem Schwert.« »Ich schmiede meine Schwerter, seit ich denken kann«, erwiderte Dhark. »Sie nicht? Dann wären Sie nicht Ratsmitglied im Imperium der Nogk und der Mann, auf dessen Rat Charaua noch am ehesten hört.« »Reden Sie so nie, wenn ein Nogk in der Nähe ist«, bat Huxley. »Sie könnten sich mit solchen Bemerkungen sämtliche Sympathien verscherzen.« »Zur Kenntnis genommen und akzeptiert«, sagte Dhark. Er sah sich im Leitstand der POINT OF um, in dem sich momentan kein einziger Nogk aufhielt. Leon Bebir, der Zweite Offizier, hatte derzeit das Kommando, und auf der Galerie am Checkmaster saß eine Frau mittleren Alters, deren Namen Dhark nicht kannte – sie war als Ersatz für eines der beiden Besatzungsmitglieder an Bord gekommen, die auf Terra zurückbleiben müßten, um sich von der Attacke des Goldenen
zu erholen. Aber auch so gab es in letzter Zeit eine relativ starke Fluktuation der Crew – viele der einstigen Stammbesatzung aus Hope-Zeiten hatten längst eigene Kommandos auf anderen Schiffen oder andere Aufgaben übernommen, und es gab ständig Neuzugänge. Auf dem Flaggschiff der TF zu dienen, war eine ganz besondere Ehre, um die man sich riß, und selbst wenn es nur eine Abordnung auf Zeit zur Urlaubsvertretung war... Außer den beiden war niemand in der Zentrale, die damit deutlich unterbesetzt war. Aber Dhark sagte nichts dazu. Sie befanden sich in der Obhut der Nogk, was ein Ausnahmezustand ganz besonderer Art war. Hier, in den riesigen unterirdischen Hallen des Raumhafens, war der Ringraumer sicher. Die Nogk würden eher ihre ganze Kampfflotte opfern, als zuzulassen, daß ihren Gästen etwas zustieß. Nicht, daß Ren so etwas gewollt hätte... »War eine ziemlich aufwendige Bastelstunde, Dhark«, erläuterte Bebir. »Hier, die neue Kontrolle für die ParaAbschirmung...« Er wies auf einen Steuerschalter am Rand einer ganzen Kette von Schaltelementen aus Hebeln, Tasten und Sensorflächen. Dhark runzelte die Stirn. Für ihn hatte sich optisch nichts verändert. »Die Nogk haben diesen Schalter mit einer Zusatzfunktion versehen«, fuhr Bebir fort. »Dazu haben sie das Instrumentenpult auf seiner ganzen Länge geöffnet, und einer von ihnen hat auch am Checkmaster herumgespielt. Doorn war hier und hat's beaufsichtigt. Ich habe nie geahnt, was für große Augen der machen kann. Wie Pizzateller, so groß...« »Was ist mit Congollon?« entsann sich Dhark einer Bemerkung des Sibiriers. »Der tobt noch immer im Maschinenraum. Was da genau passiert ist, wird er Ihnen schon selbst sagen müssen. Mir
verrät ja keiner was, ich bin ja nur der kleine Zwei-O... Aber die Nogk haben mir verraten, wie diese Para-Abschirmung über den Steuerschalter zu aktivieren ist.« »Vorsichtshalber gibt's da aber noch drei Sicherungen«, warf Huxley ein. Dhark und Bebir sahen ihn erstaunt an. »Woher wissen Sie das, Sir?« fragte der Zweite Offizier. »Ich kenne die Nogk und weiß, wie sie damals in meiner FO I herumgebastelt haben – und das heute noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit tun. Dhark, wundern Sie sich nicht, wenn Sie ab jetzt immer wieder mal gebeten werden, nach Reet zu kommen, damit man ein paar technische Verbesserungen installieren kann...« »M-Technik verbessern...?« murmelte Bebir. »Wenn die Nogk sich erst mal damit vertraut gemacht haben, schaffen sie das auch«, ahnte Huxley. »Mich würde es jedenfalls nicht mehr wundern. Ich würde mich nur fragen, wie lange sie dafür brauchen. Und da sie nun endlich mal einen Ringraumer in der Mache hatten und seine Technik kennenlernten, werden sie die gewonnenen Erkenntnisse auswerten und daran arbeiten. Sollte mich gar nicht wundern, wenn sie in einem oder anderthalb Jahren mit einer verbesserten Version des Sternensogs oder des Intervallfelds auftauchen.« »Überschätzen Sie die Fähigkeiten Ihrer Freunde da nicht doch ein wenig?« dämpfte Dhark Huxleys Euphorie. Der lächelte. »Vielleicht übertreibe ich wirklich etwas – sagen wir, sie kommen in zwei oder drei Jahren damit... Ich muß zugeben, daß sie bisher keine Möglichkeit hatten, MTechnik zu erfassen. Die wird ihnen vielleicht einige Schwierigkeiten bereiten. Aber einige grundsätzliche Parallelen haben wir ja schon kennengelernt, nicht? Da ist der Transitionsantrieb, der bei den Nogk und bei den Ringraumern ohne Nebeneffekte abläuft, während er bei den Giant-Raumern
zu gefährlichen Angst- und Schockzuständen der Besatzung führt...« Obgleich die Giants eine von den Mysterious konstruierte Roboter-»Rasse« sind, wie wir mittlerweile wissen, dachte Dhark. »... und da sind die Antisphären, die erfaßte feindliche Objekte einhüllen und in ein anderes, uns allen noch unbekanntes Kontinuum schleudern, vergleichbar mit dem HyKon, über das Ihre POINT OF verfügt«, fuhr Huxley fort. »Und da sind absolute Unverträglichkeiten wie das Intervallfeld und die nogkschen Sperrschirme«, erinnerte Dhark. »Was aber schon fast erledigt ist, siehe nogkscher Schutzschirm um Terra und die per Funk schaltbaren Strukturlücken«, konterte Huxley. »Ich will nicht behaupten, daß wir technologisch auf gleichem Niveau sind wie die Mysterious, aber wir sind ziemlich nahe dran. Wir gehen nur völlig andere Wege.« Er hat ›wir‹ gesagt, durchfuhr es Dhark, und sich damit mit den Nogk identifiziert. Zumindest in diesem Moment ist er mehr Nogk als Terraner. Aber was wäre daran schlimm? Wir sind Verbündete, wir sind Freunde. Wir sind nicht nur Terraner und Nogk, wir sind Galaktiker. Wir sind eben – Freunde! Charaua betrat die Zentrale der POINT OF. Gerade so, als sei es selbstverständlich, daß er täglich hier ein und aus ging. »Unsere Meegs haben dein Schiff einer gründlichen Untersuchung unterzogen, Ren Dhark«, teilte er sich mit. »Dabei haben sie festgestellt, daß euer Antrieb, den ihr Sternensog nennt, einige konzeptionelle Probleme bereitet. Wir könnten euch innerhalb weniger Monate eurer Zeit einige Verbesserungen entwickeln und installieren, die...« Huxley schüttelte verzweifelt den Kopf. »Der macht Witze!« stieß er fassungslos hervor. »Ich hab' das doch gar nicht so ernst gemeint, Dhark!«
Verständnislos wandte sich Charaua ihm zu. »Ich mache letzte Sommer? Das verstehe ich nicht, Huxley...« * Mittlerweile hatte Miles Congollon, der Chefingenieur der POINT OF, sich wieder einigermaßen beruhigt. Ein Teil seiner Erregung war aber immer noch zu bemerken. »Die marschieren hier herein, nehmen die Instrumentenpulte auseinander, als hätten sie sie selbst konstruiert, verändern Schaltungen, initialisieren neue, bauen Klapperatismen ein, wo eben Platz dafür ist, und... und Doorn steht daneben, macht große Augen, sagt nichts und geht schließlich einfach weg!« »Gesagt hat er schon was – daß wir Sie von Ihrem Plan, wahnsinnig werden zu wollen, abbringen sollen«, grinste Ren Dhark. »Das hat er gesagt? Das hat er gesagt?« ereiferte sich Congollon. »Hat der jetzt völlig den Verstand verloren?« »Ich glaube, Commander, Sie haben an Bord Ihres Schiffes ein ernsthaftes Problem«, grinste Colonel Huxley. Dhark winkte ab. Er sah Charaua an. »Kannst du uns sagen, was deine Meegs eingebaut haben?« Einige der gelbuniformierten Meegs befanden sich noch im Maschinenraum, in welchem die letzten Arbeiten inzwischen abgeschlossen waren, aber da der Herrscher des NogkImperiums selbst anwesend war, war es korrekt, daß Dhark – als »Herrscher des Terra-Imperiums« – zunächst Charaua fragte. Dadurch wurden die nogkschen Wissenschaftler und Techniker nicht herabgesetzt. Charaua war es dann, der einen der Meegs herbeiwinkte und ihn zu einer technischen Erläuterung aufforderte. Die Details verstand Dhark nicht; er war kein Ingenieur, kein Fachmann für diese Dinge, und das mußte er auch nicht sein, weil es genügend andere Leute gab, die dafür besser
qualifiziert waren. Zum Beispiel Miles Congollon. Der war tatsächlich sehr aufmerksam geworden. »Das entspricht etwa dem, was ich bisher nebenbei mitbekommen habe«, sagte er später. »Aber die Nogk hätten wenigstens während ihrer Arbeit auch schon mal ein paar Erläuterungen geben können. Wir«, er wies in die Runde, »fühlten uns regelrecht verkaspert. Wir verstehen nach mittlerweile über sieben Jahren noch selbst kaum etwas von dieser Technik, und da kommen ein paar Leute, die den ganzen Kladderadatsch vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben sehen, bauen ihre Gimmicks ein und vernetzen sie mit der Supertechnik, als täten sie das jeden Tag – da soll man nicht wahnsinnig werden?« »An so etwas sollten Sie sich gewöhnen, Chief«, empfahl Huxley. »Wir haben anfangs auch nur mit den Ohren geschlackert, als unsere Freunde meine FO I umrüsteten.« »Aber das war terranische Steinzeittechnik!« protestierte Congollon. »Das hier, die POINT OF, das ist Super-Hightech der Mysterious!« »Trotzdem«, empfahl der Colonel, »sollten Sie sich mit diesem Gedanken anfreunden und Ihren Versuch, wahnsinnig zu werden, entweder vorher mit meinem Chief Erkinsson absprechen oder auf einen geeigneteren Zeitpunkt verschieben.« Sie alle nahmen etwas wahr, das sich nur mental äußerte. War es ein kollektives Gelächter? Die Nogk zeigten äußerlich keine Regung... * Danog war fest überzeugt, daß er das richtige tat. Die Walfen mußten vor der drohenden Gefahr gewarnt werden. Alles andere käme einem Mord gleich. Immer wieder blickte er in den Innenspiegel seines Elos,
doch der Professor schien ihn nicht zu verfolgen. Hatte er eingesehen, daß er im Unrecht war, daß er sein Geheimnis nicht für sich behalten durfte? Oder forderte er vom Observatorium aus Hilfe an? Danog entschloß sich, den Medienturm schon von unterwegs aus anzurufen. Er wählte die Zahlen- und Buchstabenkombination der Sprako-Auskunft und ließ sich die Verbindungscodes einiger Studios und Redaktionen geben. Es war nicht nötig, sich die Codes zu notieren, er hatte in dieser Hinsicht ein bemerkenswertes Gedächtnis. In diesem Moment wurde die Funktion seines Sprakos erneut gestört. Diesmal half selbst der Trick mit dem Ellbogen nicht. Das Gerät knackte und knisterte und hauchte schließlich vollends sein elektronisches Innenleben aus. Damit mit seinem angeschlagenen Elo nicht das gleiche passierte, fuhr Danog – ganz gegen seine Gewohnheit – nicht allzu schnell. Um sich etwas zu entspannen, betätigte er am Armaturenbrett den Schalter für den eingebauten Stimmempfänger. »Seien Sie gegrüßt, liebe Hörerinnen und Hörer der Legraner Stimme«, ertönte es fröhlich aus dem Lautsprecher. »Was für ein wundervoller Tag auf unserem wundervollen Planeten! Schlechte Nachrichten gibt es keine zu verkünden. Alles ist, wie es sein soll. Darum kann ich auch heute wieder ein Füllhorn guter Nachrichten über Sie ausschütten. In Legran und Umgebung feierten wir zwei Denkmalenthüllungen, drei Jubiläen, die Einweihung einer neuen Elostraße sowie die Eröffnung eines sagenhaft preiswerten Einkaufszentrums. Nicht zu vergessen die Begrüßung von sieben neugeborenen Bürgern, glücklichen Babys, eines hübscher als das andere. Bevor wir Interviews mit den stolzen Müttern und Vätern senden, berichten wir über das Umsatzplus einer der größten Firmen unserer Stadt, die sich im Besitz der alteingesessenen Familie...«
Danog schaltete ab. Danach stand ihm nun wirklich nicht der Sinn. »Typisch«, brummelte er. »Man hat Lust auf Musik, prompt gibt es Nachrichten aus der Region.« Kurz vor dem Ziel stieß er auf eine aus drei Elos bestehende Straßensperre. Daß die sechs Personen, die sich daneben am Straßenrand aufhielten, nicht auf ein harmloses Plauderstündchen mit ihm aus waren, konnte er sich lebhaft ausmalen. Danog blieb stehen und dachte angestrengt nach. Umkehren kam nicht in Frage. Und barfuß durch den Wald zu flüchten war bestimmt alles andere als ein Vergnügen. Es gab nur eine Lösung. Alles oder nichts! Danog nahm Anlauf, indem er den Wagen ein Stück zurücksetzte. Anschließend trat er das Beschleunigungspedal voll durch – mit nackten Füßen. Die Geschwindigkeit des Elos erhöhte sich innerhalb weniger Augenblicke. Der Zeiger des Tempomessers näherte sich dem Anschlag. Irgend etwas klapperte und schepperte. Der waghalsige Fahrer kümmerte sich nicht darum. In mörderischem Tempo jagte Danog die Auffahrrampe des Abschleppfahrzeugs hoch. Sein Elo schoß schräg empor und flog durch die Luft, über das Führerhaus des Abschleppelos hinweg. Anschließend ging es im Sturzflug wieder abwärts. Krachend machte Danogs Wagen auf der anderen Seite der Sperre Bekanntschaft mit dem Asphalt. Das war's. Danog hatte ein Faible für verrückte Stunts auf dem Heimbildschirm. Die zum Amüsement der Zuschauer filmisch dargestellten wilden Verfolgungsjagden gingen stets gut aus. Wie so etwas in Wirklichkeit aussah, bekam er jetzt am eigenen Leib zu spüren. Beim Aufprall brachen sowohl die Vorderachse als auch die Hinterachse wie dürres Holz
auseinander. Der Motor röchelte ein letztes Mal auf und erstarb. Aus dem Tank, der unter dem Rücksitz angebracht war, floß massenweise Treibstoff. Der Schaden für die Umwelt hielt sich in Grenzen, denn die Antriebsflüssigkeit war überwiegend pflanzlicher Natur. Gelber Sisam, der allerorts auf riesigen Feldern angebaut wurde und so resistent war, daß er selbst bei ungünstigster Witterung gedieh, bildete den Grundstoff dafür. Als die Verwalter Danog aus dem kaputten Fahrzeug holten, war er bewußtlos. Sein Körper hatte einige Beulen und Schrammen abbekommen, ansonsten aber schien er gesund zu sein. Danog hatte somit einen weiteren Unfall halbwegs unbeschadet überstanden, sein Glück hatte ihn offenbar noch nicht verlassen. * Auf Walf wußten bisher nur drei Personen vom bevorstehenden Untergang des Planeten: Professor Berkel Mintka, Mediator Carus Surac und Danog ut Keltris. Nicht einmal seiner Tochter sagte der Professor die Wahrheit. Ihre Frage nach seinem Streit mit Danog beantwortete er ausweichend. »Dein Verehrer ist im Begriff, etwas zu tun, wofür man ihn auf ganz Walf verachten wird. Um ihn vor sich selbst zu schützen, muß er eine Zeitlang in Gewahrsam genommen werden. Sobald er wieder seinen Verstand gebraucht und sich fügt, kommt er frei.« Dreang versprach ihm, über das Vorgefallene zu schweigen. Zum Schweigen verpflichtet wurden auch die sechs Verwalter, die Danog auf der Bergstraße festgenommen hatten. Carus Surac befahl ihnen, kein Sterbenswörtchen weiterzuerzählen und ansonsten keine neugierigen Fragen zu stellen. Weil er nicht noch mehr Unbeteiligte mit hineinziehen
wollte, stellte er fünf von ihnen zu Danogs Bewachung ab. Jeweils zwei bezogen schichtweise vor dem Eingang zum Karzertrakt Posten. Durch eine Türklappe konnten sie dem Gefangenen Speisen reichen und sich mit ihm unterhalten. Danog fühlte sich wie in einem Schloßkerker. Natürlich versuchte er, die Bewacher auf seine Seite zu ziehen, doch der Mediator hatte bereits vorgebeugt. »Kümmert euch nicht um das wirre Zeug, das er redet«, hatte er den Männern eingeschärft. »Danog leidet unter entsetzlichen Wahnvorstellungen. Ihr dürft auf gar keinen Fall mit ihm darüber reden, verstanden?« Die fünf Verwalter bemühten sich, Danog seinen Aufenthalt im Karzer so angenehm wie möglich zu gestalten (einer besorgte ihm sogar ein Paar Schuhe). Sie waren selbst höchst unglücklich über die Situation und zweifelten daran, daß hier alles mit rechten Dingen zuging. Trotzdem wagten sie es nicht, gegen Suracs unbegreifliche Anordnungen aufzumucken. Konfrontation war im Lebensplan eines Walfen einfach nicht vorgesehen, schon gar nicht eine mit einem Mediatoren. Die Leitung von Danogs Firma wurde vorübergehend an Bergbauingenieur Jurge Ribor übergeben, dem sechsten im Verwalterbunde. Als Erklärung für den kurzfristigen Führungswechsel mußte eine angebliche Geschäftsreise des Eigentümers herhalten. * Der Mediator Carus Surac, dessen Schuppen ob seines Alters schon ein wenig stumpf schimmerten, saß mit dem Rücken zur Tür an seinem Schreibtisch, als jemand sein Büro betrat. Tagsüber stand es jedem Bürger offen. Anliegen konnten ihm direkt vorgetragen werden, über Assistenten oder gar eine Vorzimmerdame verfügte Carus Surac nicht. Er machte eine halbe Drehung mit seinem Schreibtischstuhl.
Zwei junge Männer standen vor ihm. Sie trugen Sportkleidung und hielten Muna-Schläger in den Händen. Einer der beiden hielt ein Stoffraubtier im Arm, einen Braungroll. »Seien Sie gegrüßt. Mein Name ist Aris Laprek«, stellte er sich vor, »und das ist mein Bruder Ugur Laprek.« »Seien Sie gegrüßt. Ich kenne Sie vom Heimbildschirm«, erinnerte sich der Mediator. »Sie spielen in derselben MunaMannschaft wie Danog ut Keltris, nicht wahr?« »Stimmt genau«, bestätigte Aris. »Wir wollten ihn daheim zu einem Trainingsspiel abholen. Von seinem Personal erfuhren wir, daß er seit drei kleinen Zeiteinheiten nicht mehr zu Hause war und einer seiner Ingenieure seither die Geschäfte für ihn führt.« »Soweit mir bekannt ist, befindet sich Ihr Mannschaftskamerad auf einer Geschäftsreise«, log Carus Surac, ohne dabei seine Gesichtsfarbe zu verändern. Als Mediator war man es gewohnt, verräterische Körperreaktionen zu kontrollieren. »Und soweit mir bekannt ist, haben Sie ihn in den Karzer sperren lassen«, sagte Ugur direkt heraus. Zwei Verwalter traten ein – Danogs derzeitige Bewacher. Monik Vegra befand sich in ihrer Mitte. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Carus Surac, der Monik von früher kannte, als sie noch zur Dorfgemeinde gehört hatte. Später war sie dann zu Ugur nach Legran gezogen. »Wir haben sie erwischt, wie sie durch ein Kellerfenster einstieg«, erklärte einer der Bewacher. »Sei gegrüßt. Wieso schleichst du dich heimlich in mein Haus?« wollte Surac wissen. »Warum benutzt du nicht die Tür, wenn du mich besuchen willst?« »Sei gegrüßt. Das ist kein Freundschaftsbesuch«, machte Monik ihm unmißverständlich klar. »Meine beiden Lebenspartner hast du ja bereits kennengelernt. Wir sind hier, um Danog zu befreien. Aris und Ugur sollten dich ablenken,
bis ich ihn gefunden habe. Dummerweise lief ich seinen Bewachern direkt in die Arme.« Carus Surac sah ein, daß Leugnen wenig Sinn hatte. »Wer hat euch verraten, daß Danog auf meinen Regierungssitz gebracht wurde?« erkundigte er sich nach der undichten Stelle unter seinen sechs Mitwissern. Die Eindringlinge schwiegen eisern. Sie dachten nicht mal im Traum daran, ihren Informanten, den Bergbauingenieur Jurge Ribor, in Schwierigkeiten zu bringen. »Wahrscheinlich war' s Ribor«, vermutete der Mediator und beobachtete, wie die drei auf seine Äußerung reagierten. »Offensichtlich habe ich seine Loyalität gegenüber seinem Arbeitgeber unterschätzt.« Carus Surac erteilte den beiden Verwaltern den Befehl, Monik und ihre Lebenspartner abzuführen und zu Danog in den Karzer zu sperren. Die ungebetenen Besucher fügten sich. Widerstand zu leisten waren sie nicht gewohnt. Ugur zog allerdings zum ersten Mal in seinem Leben die Korrektheit einer Mediatorentscheidung in Zweifel. Wenig später durchquerten die Bewacher und ihre Gefangenen einen schummrig beleuchteten Kellergang, an deren Ende sich eine von außen verriegelte Tür befand – der Eingang zum Karzertrakt. Ugur war in tiefe Nachdenklichkeit versunken. Was hier passierte, widersprach seinem Gerechtigkeitsempfinden, und das war bei jedem Walfen tief verwurzelt. Sein Bruder, seine Lebenspartnerin und er hatten nichts verbrochen, trotzdem wollte man sie einsperren. Diese Vorgehensweise war niederträchtig und entbehrte jeder Logik. Aris rutschte der Braungroll – das Mannschaftsmaskottchen – aus den Fingern. Er wollte ihn vom staubigen Kellerboden aufheben, aber einer seiner Bewacher kam ihm zuvor und bückte sich nach dem Stoffraubtier. Eine Höflichkeitsgeste, die er sogleich bereuen sollte.
Ugur schlug zu, plötzlich und unerwartet. Mit einer leichten Armdrehung ließ er seinen Muna-Schläger auf den sich bückenden Verwalter niedersausen und traf ihn im Genick. Der Mann verlor auf der Stelle das Bewußtsein. Seine Knie knickten ein, und er fiel lautlos zu Boden. Aris konnte gerade noch rechtzeitig den Braungroll wegziehen, sonst hätte ihn der Bewußtlose unter sich begraben. * Alle schauten Ugur fassungslos an. »Was... was hast du getan?« stammelte Monik. »Ich habe mich gewehrt«, antwortete Ugur, der sich gar nicht wohl in seiner Haut fühlte. Gleichzeitig spürte er aber auch eine gewisse Befriedigung, weil er sich getraut hatte, gegen die Ungerechtigkeit aufzubegehren. »Gewehrt? Er hat dich doch gar nicht angegriffen«, hielt Aris ihm vor. »Prom Pelt würde niemals jemanden tätlich angreifen«, mischte sich der zweite Bewacher ein und beugte sich voller Sorge über seinen Verwalterkollegen. »Dazu wäre er gar nicht fähig. Ihm gehört der Spielwarenladen im Dorf, jeder mag ihn.« Während er den Bewußtlosen untersuchte, fiel ihm ein, daß es ihm gleich genauso übel ergehen könnte. Vorsichtig drehte er den Kopf und schaute hinter sich. Ugur machte jedoch keine Anstalten, erneut zuzuschlagen. »Ich werde dem Mediator diesen ungeheuerlichen Vorfall melden«, entschied der Verwalter und richtete sich wieder auf. Ohne eine Erwiderung abzuwarten drehte er sich um und ging auf die Kellertreppe zu. Ein ungutes Gefühl signalisierte ihm, sich zu beeilen. Mehr als drei Stufen schaffte er nicht, dann riß ihn etwas von den Beinen. Aris hatte seinen Muna-Schläger als
Wurfgeschoß zweckentfremdet und damit die Absicht des Verwalters zu Fall gebracht, im wahrsten Sinne des Wortes. »Dreht ihr jetzt komplett durch?« rief Monik entsetzt. »Ihr bringt uns in allergrößte Schwierigkeiten.« »In denen befinden wir uns längst, falls du es noch nicht gemerkt hast«, entgegnete Ugur. »Man will uns einsperren, obwohl wir nichts getan haben. Mit Sicherheit sitzt auch Danog völlig unschuldig im Karzer. Wir müssen ihn befreien, damit wir endlich erfahren, was hier gespielt wird.« Der von der Treppe gestürzte Verwalter hatte sich den Arm verstaucht. Er wollte laut um Hilfe rufen. Aris lief rasch zu ihm und drückte ihm den Braungroll ins Gesicht. »Laß ihn los!« schrie Monik ihren Lebenspartner an. »Du tust ihm weh!« »Wenn ich ihn loslasse, ruft er nach Carus Surac«, erwiderte Aris. »Was sollen wir tun, wenn er herunterkommt? Wir können doch nicht einen Mediator niederschlagen.« Monik trug eine weite Bluse mit vielen Ziergürteln und Einstecktüchern. Kurz darauf hatte sie den Verwalter gefesselt und geknebelt. Aris schob den Außenriegel an der Karzertür beiseite. Danog, der sich einigermaßen von seinen Blessuren erholt hatte, erkannte seine Freunde und trat nach draußen. »Seid gegrüßt. Bin ich froh, euch zu sehen! Ich hatte schon befürchtet, bis zur Katastrophe im Karzer zu versauern.« In wenigen Worten schilderte er den dreien, welche ungeheuerlichen Erkenntnisse Professor Berkel Mintka und Mediator Carus Surac um jeden Preis geheimhalten wollten. Aris, Ugur und Monik kamen nicht dazu, die neuen Informationen zu verdauen. Sie hörten, wie sich Schritte entfernten und drehten sich um. Der gefesselte Verwalter hatte sich befreit und lief die Treppenstufen empor. Monik zuckte nur verlegen mit den Schultern. Mit Fesselungen hatte sie halt keine Erfahrung.
»Wir sollten ebenfalls zusehen, daß wir hier wegkommen«, mahnte Danog zur Eile. »Die Wachablösung findet immer zur selben Zeit statt. Wenn wir uns nicht beeilen, bekommen wir es gleich mit vier Bewachern zu tun.« »Einer fällt aus«, sagte Ugur und deutete auf den bewußtlosen Spielwarenhändler Prom Pelt. Um dem Mediator nicht in die Arme zu laufen, kletterten Danog und seine Freunde aus dem Kellerfenster. Sie wollten durch den Garten fliehen, der den Tongener Regierungssitz umgab. Daraus wurde jedoch nichts. Carus Surac und drei willfährige Helfer erwarteten das Quartett bereits. Der Mediator hatte ihren Fluchtweg vorausgeahnt. »Ergebt euch!« befahl er unmißverständlich. »Ihr kehrt sofort zurück in den Keller und laßt euch ohne weitere Gegenwehr in den Karzer sperren.« Er war es gewohnt, daß jede seiner Anweisungen umgehend befolgt wurde. Diesmal rechnete er jedoch mit massivem Widerstand. Danog ut Keltris, den er als Rädelsführer des Aufstands betrachtete, war ein harter Brocken. Danog war es auch, der als erster das Wort ergriff. »Wir haben verstanden, Mediator – aber wir verweigern dir den Gehorsam. Laß uns gehen, oder wir sind gezwungen, uns den Weg freizukämpfen.« »Schwöre mir, daß du dein Wissen für dich behalten wirst«, verlangte Carus Surac. Danog schüttelte den Kopf. »Niemals! Ganz Walf soll erfahren, welches Schicksal unserem Planeten bevorsteht.« »Das werde ich nicht zulassen«, erwiderte der Mediator. »Die Entscheidung, wann das schreckliche Geheimnis gelüftet wird, liegt nicht bei dir.« Seine Worte stürzten die drei Verwalter in Verwirrung. »Danog hat die Wahrheit gesprochen? Seine Untergangsphantasien sind gar keine Wahnvorstellungen?«
»Ich habe euch verboten, neugierige Fragen zu stellen!« herrschte Surac sie an. »Diese Männer und ihre Begleiterin sind Parias! Bringt sie zurück in den Karzer, wenn es sein muß mit Gewalt!« Das genügte. Die Verwalter fügten sich, sie wollten sich nicht zu Komplizen von Ausgestoßenen machen. Da war es schon besser, zu kämpfen, auch wenn das gegen ihr Naturell war. Der Mediator trat ein Stück beiseite. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den Geschehnissen in seinem Garten. Die Gestalt, die drinnen im Haus an einem offenen Fenster stand und alles mitangehört hatte, bemerkte er nicht. Gegen die Muna-Schläger der Brüder wollten die Verwalter nicht mit bloßen Fäusten antreten. Sie bückten sich und hoben einige Steine auf. Noch standen sich die beiden Gruppen kampfbereit, aber tatenlos gegenüber. Doch die Situation konnte jeden Moment eskalieren. * Ugurs und Aris' Beschützerinstinkt wurde geweckt. Beide stellten sich vor Monik. »Was soll das?« entrüstete sich die Walfenfrau. »Ich werde mitkämpfen.« »Wirst du nicht, das ist Männersache«, entgegnete Ugur. Sein Schläger lag wie ein Schwert in seiner Hand. Ihn erneut als Verteidigungswaffe einzusetzen, erschien ihm völlig normal. Als ihm das bewußt wurde, erschrak er über sich selbst. Was war nur los mit ihm? Schon als Kind hatte man ihn gelehrt, daß Gewalt etwas Verwerfliches war. Aris vertraute Monik den Braungroll an. »Paß gut auf unser Maskottchen auf«, sagte er zu ihr und flüsterte ihr rasch zu: »Und auch auf den Mediator. Sollte er ins Haus gehen, um
Verstärkung anzufordern, zerstöre sein Sprako.« Der erste Stein flog. Danogs Kopf war das Ziel, doch das Wurfgeschoß ging weit daneben. Danog ging zum Gegenangriff über. Um einen weiteren Wurf zu verhindern, rammte er den Werfer mit der Schulter und versuchte, ihn umzuwerfen – so wie er es auf dem MunaFeld schon viele Male getan hatte. Diesmal hatte er es jedoch nicht mit einem harmlosen Spielgegner zu tun. Der von ihm attackierte Verwalter, Inhaber einer Elowerkstatt, war ein Kerl wie ein Baum. Der kräftig gebaute Mann wankte leicht, blieb aber auf den Beinen. Mit einem Stein in der Faust holte er von unten her aus und verpaßte Danog einen wuchtigen Kinnhaken. Ugur wartete erst gar nicht ab, bis sein Gegenüber zum Wurf ansetzte. Er ging kurz in die Hocke und stieß den MunaSchläger waagerecht nach vorn. Auf dem Spielfeld wäre das ein klares Foul gewesen. Der Getroffene schrie laut auf. Der brennende Schmerz, der von seiner Kniescheibe ausging, ließ ihn den beim Treppensturz verstauchten Arm vergessen. Aris probierte es mit einer anderen Taktik. Er ergriff seinen Schläger mit beiden Händen und holte weit aus – dann ließ er ihn niedersausen. Sein Gegner wich geschickt aus, ließ die Steine fallen und legte seinerseits zwei Hände um den MunaSchläger. Beide Männer zogen und zerrten daran, als gelte es, dem anderen einen wertvollen Schatz wegzunehmen. Währenddessen ging der Elomechaniker rigoros zum Angriff auf Danog über, der hilflos am Boden lag. Hände wie Baggerschaufeln packten den leicht benommenen Edelmann am Jackenkragen und rissen ihn hoch. Nicht nur Danog, auch dem Hünen war diese gewalttätige Auseinandersetzung zutiefst zuwider, darum wollte er den Kampf so rasch wie möglich für sich entscheiden. Monik kam Danog zu Hilfe. »Fang!« rief sie und warf ihm
den Braungroll zu. Der Mechaniker registrierte, daß etwas geflogen kam und daß dieses Etwas seinem Gegner zugedacht war. Um Danog zuvorzukommen, streckte er wie der Blitz die Hände danach aus. Erst als er es aufgefangen hatte, sah er zu seiner Verblüffung, daß es sich lediglich um ein Stoffraubtier handelte. Seine vorschnelle Reaktion war von Monik beabsichtigt gewesen. Auf diese Weise wollte sie Danog ein paar wertvolle Augenblicke Luft verschaffen. Danog packte die günstige Gelegenheit beim Schopf und ließ nun seinerseits die Faust unter das Kinn seines Widersachers krachen. Damit war es leider noch nicht getan. Vier weitere Male mußte er hart zuschlagen, bis der riesenhafte Mann endlich umfiel und im Gras alle viere von sich streckte. Der Sportsmann Danog verlor nicht gern. Wie ein strahlender Sieger fühlte er sich trotzdem nicht. Mit den sportlich fairen Rangeleien auf dem Muna-Feld hatte dieses gewalttätige Handgemenge nichts gemein. »Schluß jetzt!« befahl eine laute Stimme. »Beendet den Kampf!« Die Anweisung stammte nicht vom Mediator. Carus Surac war selbst erstaunt. Wer wagte es...? * Verwalter und Spielwarenhändler Prom Pelt war derjenige, der den Kampf auf dem Regierungssitz von Tongen ohne viel Federlesens beendete. »Sie und Ihre Begleiter können gehen, wohin Sie wollen«, wandte er sich an Danog ut Keltris. »Niemand wird Sie aufhalten.« »Was nehmen Sie sich heraus?« regte sich der Mediator auf. »Es steht Ihnen nicht zu, die Arretierten freizulassen.«
»Es macht keinen Sinn mehr, sie länger festzuhalten«, erklärte Prom Pelt. »Ich habe im Medienturm angerufen, bei einem aufstrebenden Sender, deren Kamerajournalisten seit jeher darauf aus sind, brandaktuelle Meldungen als erste zu verbreiten. Mit Sitzungen und Besprechungen halten sie sich nie lange auf – sagt mein Schwager, der dort in leitender Position tätig ist. Während wir hier reden, erfährt die Öffentlichkeit über die Heimbildschirme, was Walf in knapp vier großen Zeiteinheiten bevorsteht.« »Das... das ist nicht wahr«, stammelte der Mediator heiser. Diesmal gelang es ihm nicht, seinen Gemütszustand zu verschleiern. Die verräterisch aschgraue Gesichtsfärbung entlarvte ihn. »O doch, es ist wahr«, erwiderte Prom Pelt mit ernster Miene. »Ich lüge nicht. Sie hingegen haben uns von Anfang an belogen. Danog ist kein Paria, und er leidet auch nicht an Irrsinn. Nachdem ich im Keller wieder zu mir gekommen war, suchte ich oben im Haus nach Ihnen, Carus Surac. Eines der Fenster zum Garten stand offen. Ich hörte jedes Wort mit und begriff schlagartig, daß mir Danog während seiner Gefangenschaft die Wahrheit gesagt hatte. Uns steht ein Zusammenstoß mit einem fremden Sonnensystem bevor, und Sie wollen dieses Wissen für sich behalten.« »Ich habe es nur gutgemeint«, versicherte ihm Carus Surac in einer Tonlage, die nichts Befehlendes mehr an sich hatte. »Das Unheil zu verschweigen ist der falsche Weg«, sagte der couragierte Verwalter. »Jeder Walfe hat das Recht, für sich zu entscheiden, wie er die letzten großen Zeiteinheiten seines Lebens nutzen will. Was mich angeht, so werde ich mich in Meditation üben, um meinen inneren Frieden zu finden und aufs Sterben vorbereitet zu sein. Zahlreiche Walfen werden vermutlich dasselbe tun. Rechtzeitig seinen Todeszeitpunkt zu kennen, empfinden viele von uns bestimmt als große Gnade. Durch Ihre Schuld wäre den Bewohnern unseres Planeten
beinahe die Chance genommen worden, in Einklang mit sich selbst die Grenze zur Lichtwelt zu überschreiten.« Danog bedankte sich bei ihm. »Sie haben der Walfheit einen großen Dienst erwiesen. Falls Sie Interesse haben, könnte ich Ihnen einen ruhigen Platz zum Meditieren anbieten. Droben in meinem Burgturm gibt es einen wohnlich eingerichteten Raum mit einer herrlichen Aussicht.« »Auf dieses Angebot komme ich gern zurück«, entgegnete Prom Pelt lächelnd. »Übrigens habe ich meinen Schwager gebeten, meinen Namen aus den Berichten herauszuhalten. Danog ut Keltris ist der mutige Mann, der gegen die Unterdrückung der Wahrheit ankämpft. Ich war lediglich für einen Moment Ihr verlängerter Arm, der die Tastatur am Sprako bediente. Mein Part wäre damit erledigt, alles weitere liegt jetzt in Ihren Händen und in denen Ihrer Freunde.« Allmählich gewann Carus Surac seine Fassung wieder. »In einem Punkt gebe ich Ihnen recht, Prom Pelt. Dieser Planet sollte ruhig und friedlich untergehen. Aber ich befürchte, das ist nun nicht mehr möglich. Mit der leichtsinnigen Verbreitung der schockierenden Nachricht haben Sie Furchtbares angerichtet. Das Virus der Wahrheit ist nicht mehr aufzuhalten.« »Und das ist auch gut so«, meinte Danog. »Jetzt wird sich ja herausstellen, ob es nicht doch noch einen Weg zur Rettung gibt. Ich bin sicher, alle Walfen werden kollektiv auf dieses Ziel hinarbeiten. Irgendwann einmal, wenn unser Planet die Folgen der Katastrophe überstanden und vollständig auskuriert hat, wird die heutige kleine Zeiteinheit als ›Tag der Wahrheit‹ in die Annalen der Geschichtsschreiber eingehen.« * Sechs kleine Zeiteinheiten nach dem Tag der Wahrheit
»Seien Sie gegrüßt, liebe Hörerinnen und Hörer an den Rundfunkgeräten. Hier ist die Legraner Stimme mit den aktuellen planetaren Meldungen. Nach wie vor wird von offiziellen Stellen der angeblich bevorstehende Zusammenprall eines fremden Sonnensystems mit dem unsrigen hartnäckig dementiert. Auskünfte aus Observatorien fließen nur spärlich oder werden gänzlich verweigert. Dagegen wird der Kreis der Hobbyastronomen, welche die brisanten Veröffentlichungen bestätigen, immer größer. In zahllosen Ortschaften verlangten aufgebrachte Demonstranten von Danog ut Keltris, der seine Burg in letzter Zeit kaum noch verlassen haben soll, seine ungeheuerlichen Behauptungen zurückzuziehen. Gleichzeitig wurde Professor Berkel Mintka aufgefordert, den öffentlichen Spekulationen ein Ende zu bereiten und den Gegenbeweis anzutreten. Der Professor, dessen von Verwaltern abgeschirmte Villa Tag und Nacht von Journalisten umlagert wird, verweigerte bisher jede Stellungnahme. Oppositionelle Demonstranten bezeichneten ihn als Marionette der Mediatoren. In einigen Städten kam es im Verlauf der Protestaktionen zu gewalttätigen Ausschreitungen, teilweise sogar zu Vandalismus. Von Seiten der Mediatoren wurde zur Besonnenheit aufgerufen. Das friedliebende Volk der Walfen dürfe sich nicht von einer Handvoll Paria-Randgruppen aufstacheln lassen, hieß es. in einer Pressemitteilung. Obwohl täglich neue Meldungen über Diebstähle und Einbrüche eingehen, spricht man in Verwalterkreisen weiterhin von Einzelfällen. Man habe die Lage im Griff, und es sei völlig überzogen, von einer Verbrechenswelle zu reden. Viel schlimmer, wurde verlautbar, seien die zunehmenden Selbstmorde, die man auf die von Danog ut Keltris verbreiteten Lügen zurückführe.«
* »Diese verlogene Bande schreckt vor nichts zurück, um uns bei der Bevölkerung in Mißkredit zu bringen!« schimpfte Aris und schaltete den Rundfunkempfänger in Danogs Eßzimmer leiser. »Was wird man uns als nächstes anlasten? Einen Mord?« »Lange hält die Planetenverwaltung ihre Verschleierungstaktik nicht mehr durch«, war Danog überzeugt. »Immer mehr Walfen erkennen die Wahrheit.« »Viel zu wenige«, entgegnete Ugur, der mit Aris, Danog und Monik am Abendbrottisch saß. »Die Mehrheit der Walfen ist gegen uns.« »Und wenn schon«, sagte Monik. »Wir werden tun, was getan werden muß. Nicht wahr, Danog?« Ihr Freund nickte. »Du hast mein Wort. Zwar wird der Bau der Anlage Unsummen verschlingen, doch ich bin bereit, mein ganzes Vermögen dafür zu opfern. Ein Vermögen, das nutzlos für mich ist, wenn es mir nicht gelingt, mein nacktes Leben zu retten. Meines – und das von so vielen Walfen wie möglich.« Er räusperte sich. »Daß ich dem Projekt trotz meiner Bereitschaft skeptisch gegenüberstehe, muß ich wohl nicht extra betonen.« Ausgerechnet Danog, der sich stets geweigert hatte, an die Existenz anderer intelligenter Rassen im All zu glauben, hatte nach tagelangen Gesprächen zugestimmt, die Errichtung einer mächtigen Funkanlage zu unterstützen, mit der fremde Planeten um Hilfe angefunkt werden sollten. Zwar glaubte er nicht so recht an den Erfolg der Aktion, aber alle sonstigen Überlegungen waren ins Leere gelaufen. Im übrigen erschien ihm dieser verrückte Plan allemal sinnvoller als Nichtstun. Eine junge aufstrebende Wissenschaftlerin, die über »Die Ausbreitung von modulierten Mikrowellen durch gekrümmte Räume« masvogehrt hatte (was in etwa der terranischen
Promotion entsprach), hatte ihn zu diesem Versuch überredet. Ihr Name: Monik Vegra. »Normaler Funk ist nur lichtschnell, damit werden wir keinen außerplanetarischen Empfänger erreichen«, hatte sie argumentiert. »Aber wenn wir einen Teil des Berghangs abholzen und dort eine Funkanlage für überlichtschnelle Impulse errichten, die wesentlich stärker ist als alles bisher Dagewesene, könnten wir es schaffen. Zugegeben, meine Masvogehrungsschrift stützt sich in erster Linie auf unbewiesene Theorien, doch anerkannte walfische Wissenschaftler halten die Entwicklung einer solchen Anlage durchaus für möglich. Ob sie wirklich funktioniert, steht auf einem anderen Blatt. Was haben wir schon zu verlieren?« Anfangs hatte sich Danog gegen Moniks Vorhaben gesträubt. »Was nutzt es, wenn Lebewesen von anderen Sternen unseren Notruf empfangen?« hatte er den Plan von vornherein in Frage gestellt. »Wie sollen sie uns zu Hilfe kommen, wenn sie mit ihren Raumschiffen nicht das eigene System verlassen können?« »Sie könnten technisch viel weiter sein als wir«, hatte ihm die schöne Walfenfrau geantwortet. »Unsere primitive Technik ist garantiert nicht das Ende aller Ingenieursweisheit.« Das hatte ihn letztlich überzeugt. Mit der Abholzung sollte gleich am nächsten Morgen begonnen werden. Aris hatte inzwischen über die Sprakoauskunft eine Holzfällerfirma ausfindig gemacht, die sofort loslegen konnte. Monik war schon fleißig dabei, sich ein geeignetes wissenschaftlich-technisches Team zusammenzustellen. Sie wollte nur die Besten – und die bekam sie auch. Selbst Spezialisten, die nicht auf Danogs Seite standen, hatten bereits zugesagt. Der in Aussicht gestellten fürstlichen Entlohnung konnten die wenigsten widerstehen, schon gar nicht diejenigen, die ohnehin nicht an den Untergang des Planeten glaubten und
von einem finanziell abgesicherten Altersruhestand träumten. Danogs Arbeiter würden dafür sorgen, daß alles herangeschafft wurde, was Monik und ihr Team benötigten. Der Uranabbau würde dabei zwar gänzlich zum Erliegen kommen, doch das war jetzt nicht mehr wichtig. Die Organisation von Werkzeug- und Materiallieferungen hatte Priorität. Nach dem gemeinsamen Abendessen startete Danog den Versuch, Professor Mintka für Moniks Plan zu gewinnen. Seine Bemühungen wurden gleich im Keim erstickt. Dreangs Vater weigerte sich strikt, mit ihm zu reden. Auch Dreang, so teilte er ihm am Sprako kurz angebunden mit, sei nicht für ihn zu sprechen – nie mehr. * Zwölf kleine Zeiteinheiten nach dem Tag der Wahrheit Die Arbeit an der Funkanlage ging langsam, aber stetig voran. Fast täglich trafen Lastwagenladungen bei der Burg ein. Den Medien blieb die rege Geschäftigkeit nicht lange verborgen. Danog, der nichts zu verbergen hatte, gab den Journalisten an diesem Morgen bereitwillig jede nur erdenkliche Auskunft. Noch am selben Vormittag wurde in den Hörfunkstudios eifrig über sein Vorhaben diskutiert. Und zur Mittagszeit strahlte ein Heimbildschirmsender einen ausführlichen Bericht über den Bau der Funkanlage aus, gefolgt von einem Interview mit Carus Surac. Der Mediator von Tongen nannte Danog ut Keltris einen machthungrigen Paria, der das Volk der Walfen mit seinen Lügen vergiftete und aufgrund seiner fortschreitenden Idiotie dringend ärztlicher Behandlung bedürfe. Er rief Danogs Sympathisanten und Anhänger dazu auf, sich von ihm abzuwenden.
Am Nachmittag wendete sich das Blatt jedoch zu Danogs Gunsten. Dreang stellte sich vor dem Observatorium ihres Vaters den Kameras, Mikrophonen und Fragen der Journalisten. Ohne Umschweife erklärte sie den Medienvertretern, daß Danog weder ein Umstürzler noch ein Lügner und schon gar kein kranker Idiot sei. »Was er über die bevorstehende Zerstörung unseres Planeten sagt, ist wahr! Laut den Unterlagen meines Vaters bleiben uns noch etwas mehr als drei große Zeiteinheiten. Jeder sollte sie sinnvoll für sich nutzen.« »Fenck Mangor vom Tongener Kurier. Seit wann wissen Sie schon, wie es um Walf steht, Dreang?« »Bis vor fünf kleinen Zeiteinheiten antwortete mein Vater auf meine drängenden Fragen nur mit Ausflüchten. Schließlich weihte er mich in das komplette Ausmaß seiner Entdeckung ein. Ich mußte ihm versprechen, niemandem ein Wort zu verraten.« »Lajus Komar von der Legraner Stimme. Warum brechen Sie hier und jetzt Ihr Versprechen?« »Ich kann nicht mehr länger mit ansehen, wie Danog beschimpft und systematisch fertiggemacht wird. Das heutige Interview mit Carus Surac ging endgültig zu weit. Ich bin es Danog schuldig, die Dinge ins rechte Licht zu rücken, schließlich habe ich ihn einmal geliebt.« »Klamt Sigloz vom Sender ›Planetare Rundschau‹. Wer garantiert uns, daß Sie die Wahrheit sagen?« »Als mein Vater eben erfuhr, was ich vorhatte, war er entsetzt und bat mich inständig, im Haus zu bleiben. Aber mein Entschluß stand fest. Nur gewaltsam hätte er mich davon abhalten können, mit der Presse zu reden, doch wie wir alle verabscheut er Gewalt zutiefst. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich in das Unvermeidliche zu fügen. Ich denke, auch er ist nun bereit, mit Ihnen zu sprechen und Ihnen Einsicht in alle
Unterlagen seiner schicksalhaften Himmelsbeobachtungen zu gewähren.« Die Kamera schwenkte in Richtung Villa, einem sechseckigen Bauwerk mit blauen Dachziegeln und runden Fenstern. Das angrenzende Observatorium, das einer durchgesägten Kugel glich, nahm sich dagegen eher trist aus. Die walfische Architektur war voller Gegensätze, einheitliche Stadtbilder hätten die Walfen als langweilig empfunden. Vor der Haustür stand Professor Berkel Mintka, ein Mann, so gebrochen wie das Versprechen, das seine Tochter ihm gegeben hatte. Bereitwillig begleitete er eine Journalistendelegation in sein Arbeitszimmer. Auf seiner Burg schaltete Danog ut Keltris den Heimbildschirm aus. Nach Dreangs offenem Bekenntnis fiel ihm ein Stein vom Herzen. Endlich! Nun würde ihn keiner mehr einen Lügner nennen. Eines allerdings machte Danog betroffen. »... schließlich habe ich ihn einmal geliebt.« Ein Versprecher? Oder gehörte ihre Liebe tatsächlich der Vergangenheit an? * Sabor Krotar kehrte von einem ausgiebigen Nachmittags Spaziergang im Stadtpark von Guldan zurück. Das Wetter zeigte sich von seiner angenehmsten Seite. Trotz der zunehmenden Unruhen, über die täglich berichtet wurde, war sein Vertrauen in die Planetenverwaltung ungebrochen. Danog ut Keltris hielt er für einen gewissenlosen Blender und Aufhetzer, der mit allen Mitteln versuchte, die Einheit der Walfen zu zerbrechen. Sabor vermutete, daß der Edelmann beabsichtigte, den Einfluß der Mediatoren zu schwächen und sich selbst zum Diktator aufzuschwingen. Zwar gab es Hobbyastronomen, die Danogs wahnwitzige Lügen bestätigten, doch das waren in den Augen des betagten
Witwers verblendete Dilettanten, die sich nicht bewußt waren, was sie anrichteten. Nur eines trübte seine klare Sicht der Dinge: Warum weigerte sich Professor Mintka, die Unterlagen über seine Himmelsbeobachtungen offenzulegen? Langsamen Schrittes durchquerte Sabor den gepflegten Vorgarten seines Reihenhäuschens und öffnete die Vordertür. Ein paar besorgniserregende Meldungen über gelegentliche Einbrüche waren für ihn kein Grund, das Haus während seiner Abwesenheit zu verschließen, wie neuerdings manche Nachbarn. Tagsüber war die Wahrscheinlichkeit, auf Walf Opfer eines Verbrechens zu werden, genauso gering wie in der Nacht. Türen standen daher meistens offen. Eintracht und Vertrauen würde wieder in allen Häusern der Nachbarschaft Einzug halten, sobald die Verwaltung das Problem mit den verdammten Parias beseitigt hatte, dessen war Sabor sich sicher. Unten in der Diele merkte er, daß er sich nicht allein im Haus aufhielt. Besuch erwartete er allerdings nicht. Nur seine Putzfrau kam manchmal unangemeldet. Erneut hörte er ein Geräusch. Fest stand, daß es aus dem Wohnzimmer kam. Lautlos durchquerte der alte Mann die Diele. Ohne besondere Erregung oder gar Furcht betrat er seine Stube. Was sollte ihm schon groß zustoßen? Er hatte keine Feinde. Von Kindesbeinen an hatte er mit sich und den anderen in Einklang gelebt. Angst hatte er nur ein einziges Mal empfunden, als er beim Gartenumgraben versehentlich einen Krallenmoloch ausgebuddelt hatte. Regelrecht in Panik geraten war er. Gartenarbeit überließ er seither lieber seinen Enkeln, die ihn hin und wieder besuchten, um ein paar Münzen abzustauben. Trübes Licht beherrschte den Raum, dessen Gardinen jemand zugezogen hatte, obwohl es draußen noch hell war.
Unverzagt betätigte Sabor den Lichtschalter. Mit überraschter Miene sah ihn ein Jugendlicher an, der gerade dabei war, eine Schrankschublade nach Wertsachen zu durchwühlten. Leider war der ertappte Dieb kein Fremder, sondern Sohn seiner Nachbarin. »Erol? Hast du den Verstand verloren? Ein gut erzogener Junge wie du schleicht sich doch nicht in anderer Leute Häuser. Wieso tust du mir das an?« Und wieso kommst du früher als erwartet von deinem Spaziergang zurück? erwiderte Erol in Gedanken. Ausgerechnet jetzt, wo er gefunden hatte, was er suchte, wurde er auf frischer Tat ertappt. Er drehte sich zu seinem Nachbarn um, in der Hand einen kleinen Lederbeutel mit Hoyolas. »Leg das sofort wieder zurück!« forderte Sabor ihn unmißverständlich auf. »Das ist meine Reserve für Notfälle.« »Ich bin ein Notfall«, meinte Erol und ließ den Beutel mit frechem Grinsen in seiner Jackentasche verschwinden. »Die Hoyolas brauche ich für den Kauf eines motorisierten Zweirads. Du kannst doch eh nichts mehr damit anfangen. Oder hast du heute noch keine Nachrichten gehört? In ungefähr fünfundsiebzig kleinen Zeiteinheiten ist alles aus und vorbei. Ich möchte jede einzelne davon noch in vollen Zügen genießen und ordentlich Spaß dabei haben.« »Aber nicht auf meine Kosten«, erwiderte Sabor und streckte die Hand aus. »Red keinen Unsinn, und gib mir den Beutel!« Erol langte in seine Tasche und zog etwas heraus – nicht die Hoyolas, sondern ein scharfes, stabiles Küchenmesser. Seine Mutter benutzte es zum Schneiden von rohem Gemüse. »Geh mir aus dem Weg!« verlangte der Junge. »Bist du verrückt geworden?« keuchte der Witwer. »Tu das Messer weg! Wenn deine Mutter erfährt, daß du mich bedroht hast...«
Er schaffte es nicht mehr, den Satz zu beenden. Der ertappte Dieb rammte ihm das Messer mit beiden Händen mitten ins Herz. Dabei brach die Klinge ab und blieb in Sabors Körper stecken. Er röchelte und spuckte Blut. Erol sah angewidert weg und verließ hastig das Wohnzimmer. In der Diele hörte er, wie sein Opfer dumpf auf den Teppich fiel, und er machte, daß er an die frische Luft kam. So hatte er sich seinen Raubzug nicht vorgestellt. Um Mitleid gar nicht erst aufkommen zu lassen, redete Erol sich ein, seinem alten Nachbarn im Grunde genommen einen Gefallen getan zu haben. Schließlich hatte er es ihm erspart, den schmerzvollen Untergang des Planeten miterleben zu müssen. Doch sein Gewissen konnte er nicht belügen. Ihm war kotzelend zumute, ein Gefühl, das ihn für den Rest seiner Tage begleiten würde wie ein unheilvoller Schatten. * Seit dreihundert Über-Zeiteinheiten hatte es auf Walf keinen Mord mehr gegeben. Die Putzfrau, die Sabor Krotar kurz nach der Bluttat auf dem Wohnzimmerteppich fand, erlitt einen schweren Schock. Die für Guldan zuständigen Verwalter hatten keinerlei Erfahrung mit der Ermittlung von Straftätern. Auf Anraten ihres vorgesetzten Mediatoren nahmen sie noch am selben Abend einen Verwandten des Mordopfers fest, der keinen Hehl daraus machte, daß er mit Danog ut Keltris sympathisierte. Gegenüber der Presse ließ man verlauten, er sei so gut wie überführt. Seit Professor Mintkas öffentlichem Eingeständnis wurde die bevorstehende Katastrophe von den offiziellen Stellen zwar nicht mehr verleugnet, dennoch wollte man auch in Zukunft
keine Gelegenheit auslassen, dem Verräter und seinen Anhängern eins reinzuwürgen.
8. Nur wenige Stunden später war die POINT OF bereits wieder unterwegs. Der Sandsturm war vorbei, und die Nogk hatten den Start des Ringraumers freigegeben. Das im roten Licht der Sonne Corr unter dem violetten Himmel beinahe tofiritrot, aber in den Schattenbereichen eher grau schimmernde Raumschiff wurde auf einer Plattform an die Oberfläche des Planeten gehoben und startete unverzüglich. Dhark hatte sein ursprüngliches Vorhaben, mit den »Bewahrern des Wissens« über Goldene Menschen und Erron 2 zu reden, nicht mehr durchführen können. Es war nicht genügend Zeit geblieben, und die nogkschen Wissenschaftler waren mit irgendeinem Projekt sehr intensiv beschäftigt, unmittelbar nachdem sie die Arbeiten an der POINT OF abgeschlossen hatten. Vielleicht lag es auch daran, daß sie durch den unvorhergesehenen Zwischenfall mit der »Mutter der Synties« Zeit verloren hatten, die sie jetzt wieder aufholen mußten, um ihre eigenen Arbeiten voranzutreiben und abzuschließen... Wie schon beim Anflug erfolgreich durchexerziert, nahm der Ringraumer auch diesmal den Weg »außen herum« um die Milchstraße. Die entsprechenden Daten waren im Checkmaster gespeichert, und knapp oberhalb der Planetenbahn von Reet beschleunigte die POINT OF mit Sternensog. Der Kurs verlief nicht linear, sondern in einem weiten Bogen, der seinen Scheitelpunkt rund 10.000 Lichtjahre oberhalb des galaktischen Zentrums fand und in Richtung Drakhon führte. Das beim letzten Rückflug von Reet zur Galaxis erprobte Verfahren, in der ersten Hälfte der zurückzulegenden Strecke maximal zu beschleunigen, um danach maximal abzubremsen, erwies sich hierbei, auf dem »Umweg« um die Milchstraße
herum, als brauchbarer. Die Eigengravitation der Sternballung konnte hier den Berechnungen keinen Streich mehr spielen, weil sie die errechneten Werte in der Praxis nicht mehr verzerrte. Der Kontinuums-Experte H. C. Vandekamp nahm einen großen Teil der Rechnerkapazität des Checkmasters für sich und seine Abteilung in Beschlag. In der Astroabteilung des Ringraumers bahnte sich eine Sensation an. Dhark war ahnungslos, als Vandekamp ihn zu einer Besprechung bat. Auf Bildschirmen flimmerten Diagramme und Berechnungen, deren Zahlen- und Schriftsymbole sich permanent änderten. An eingeblendeten Symbolen sah der Commander, daß der größte Teil der Meß- und Auswertungsapparate direkt mit dem Checkmaster gekoppelt war. Die beiden Astrophysiker Ossorn und Bentheim waren in ein heftiges Streitgespräch verwickelt, in dem wohl einer von ihnen wider die eigene Überzeugung den advocatus diaboli spielte und nach entkräftenden Gegenargumenten suchte, die vom anderen gnadenlos zerpflückt wurden. »Darf ich den Grund der allgemeinen Aufregung erfahren, Herrschaften?« mischte Dhark sich ein, der sich vorkam wie bestellt und nicht abgeholt, weil auch Vandekamp an einem Terminal saß und ständig neue Datensätze eingab, um die Berechnungen wieder und wieder zu kontrollieren. Jetzt endlich nahm er zur Kenntnis, daß Dhark die Astroabteilung betreten hatte. »Schön, daß Sie Zeit hatten, herzukommen, weil von uns sich keiner mehr von den Instrumenten wegtraut... es geht um das Exspect, das sich uns schon wieder von einer neuen, phänomenalen Seite zeigt. Das muß man sich einfach mal vorstellen... es wirft alle unsere bisherigen Erkenntnisse rigoros über den Haufen...« »Wenn Sie mir eine klitzekleine Andeutung machen würden, was man sich einfach mal vorstellen muß, könnte ich mich vielleicht auch diesem Vergnügen hingeben,
Vandekamp«, wies Dhark den erregten Wissenschaftler zurecht. »Ich darf doch wohl davon ausgehen, daß das Exspect nicht plötzlich auf den glorreichen Einfall gekommen ist, Energie abzugeben, statt sie aufzusaugen...?« Claus Bentheim sprang auf. »Dhark«, stieß er hervor, »hoffentlich werden Sie damit nicht zum Propheten! Mittlerweile halten wir alles für möglich!« »Es gibt also tatsächlich Energie ab?« »Nein. Natürlich nicht«, dämpfte Vince Ossorn. Vandekamp ergänzte: »Das würden wir von hier aus auch gar nicht feststellen können. Dazu müßten wir uns tatsächlich weiter von der Milchstraße entfernen und uns in das Exspect hinein tasten. Aber es zeigt tatsächlich im Vergleich zu unseren bisherigen Erkenntnissen hier eine Diskontinuität, die erstaunlich ist. Wirklich erstaunlich...« Dhark winkte ab. »Ich bin kein Astrophysiker! Ich bin kein Fachmann auf Ihren Wissensgebieten, aber ich habe auch keine Lust, Ihnen jedes Detail wie einen Regenwurm aus der Nase ziehen zu müssen. Verschonen Sie mich mit Ihren euphorischen Allgemeinplätzen und kommen Sie zur Sache, oder Ihre Sensation interessiert mich schon in ein paar Sekunden nicht mehr!« »Interessiert nicht mehr...?« ächzte Bentheim. »Aber das muß Sie interessieren, das ist doch phänomenal...« »Einen guten Tag wünsche ich noch, Herrschaften«, sagte Dhark und wandte sich zum Gehen. »Nun warten Sie doch!« verlangte Vandekamp. »Schauen Sie sich das hier doch zuerst mal an!« Mitten im Raum materialisierte ein Holo-Kubus. Die Projektion zeigte die silbrige Scheibe einer Spiralgalaxis. »Das ist unsere Milchstraße«, sagte Vandekamp. »So, wie wir sie bisher kennen. Und dort ist das Corr-System.« Er betätigte an seinem Terminal eine Makro-Taste. Die Galaxisscheibe schrumpfte in der Holografie etwas zusammen,
und in geraumer Entfernung, am äußersten Rand des Bildkubus, blinkte ein winziger roter Punkt auf. An der gegenüberliegenden Seite der Galaxis bildete sich ein grauer, nur schwach wahrnehmbarer Schatten. Drakhon, erkannte Ren. Die Computersimulation konnte die Zweite Galaxis nicht detailliert darstellen, weil es so gut wie keine Details gab. Langsam näherte er sich der Projektion. Sie war bei weitem nicht so perfekt wie die Bildkugel in der Zentrale. Aber so etwas gab es in der Astroabteilung nicht. Die MTechnik war nicht in der Lage, hier eine solche Wiedergabe zu erzeugen. Eine zweite Bildkugel wie die in der Zentrale gab es nur im Maschinenraum, und in den Mannschaftskabinen konnten auf Gedankenbefehl hin 30 cm durchmessende Miniaturausgaben erzeugt werden. Der Holo-Kubus war mit Hilfe terranischer Technik erstellt worden. »Das Exspect«, fuhr Vandekamp fort, »müßte sich folgendermaßen zeigen: je weiter man sich von der Milchstraße entfernt, desto stärker wird es.« Er betätigte eine weitere Schaltung. Die Bildwiedergabe veränderte sich. Der Weltraum war nicht mehr schwarz, sondern ein Verlauf von Schwarz zu Blau. In unmittelbarer Nähe der Galaxis zeigte sich Schwärze, die um so mehr aufhellte, je weiter sich der jeweilige Bildausschnitt vom Rand der Milchstraße entfernt befand. An den Rändern des Kubus war das Blau geradezu gleißend hell geworden. Es schloß die Scheibe von allen Seiten gleichmäßig ein. Drakhon wurde zwar auch durchdrungen, aber selbst Dhark war klar, daß die dortigen Verhältnisse für diese Diskussion völlig unwichtig waren. Der Farbverlauf des Exspects war überaus deutlich erkennbar in alle Entfernungsrichtungen gleich stark, ob er sich nun in der Milchstraßenebene erstreckte oder senkrecht nach oben oder unten.
»Müßte sich zeigen«, echote Ren. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Unseren bisherigen Messungen zufolge sieht es aber so aus.« Wieder schaltete Vandekamp. Der Farbverlauf veränderte sich. Das Blau umschloß die Galaxis-Spirale nicht mehr flächig, sondern wie eine große Kugelschale, in deren Mitte sich die Milchstraße befand. Das bedeutete: Senkrecht zur Ekliptik war wesentlich mehr schwarzer »Normalraum«! »Oder, wie Ossorn und Bentheim vermuten, sogar so!« Fast das gesamte Bild wurde wieder schwarz. Nur ein blauer Reif umgab jetzt die Galaxis in ihrer Drehebene und setzte sich wie eine Art Vergrößerung der Galaxis in den Sternenleeren Raum hinaus fort. »Eine Art Verlängerung der galaktischen Spiralarme bis ins Unendliche?« versuchte Ren sich das Phänomen vorzustellen. »Wie kommen Sie darauf?« »Es ist nur eine Vermutung.« Bentheim war zu ihnen getreten. »Beweisen können wir das noch nicht. Das Kugelmodell ist wahrscheinlicher; vielleicht ist es auch eine Linse. Sollte das Exspect allerdings tatsächlich nur scheibenförmig sein und unsere Galaxis in ihrer Drehebene gewissermaßen abriegeln, dann ist es im Universum nicht das Normale, sondern eine Sonderform der Raum-Zeit-Struktur.« »Jetzt sagen Sie bloß noch, daß jemand da dran gedreht hat, um das Exspect künstlich zu schaffen und uns Bewohner der Milchstraße daran zu hindern, die Sterneninsel zu verlassen!« Ren Dhark schüttelte den Kopf. Bei aller Fantasie – aber das ging ihm doch etwas zu weit. »Haben Sie die Quiet Zone im Zentrum der Galaxis vergessen?« erinnerte Vandekamp ihn. »Diese energetische Anomalie, in der die G'Loorn und ihr Hilfsvolk hausten?« »Die Quiet Zone war eine Art mißlungener kosmischer Zeitverschiebung, um's mal vereinfacht auszudrücken«,
erwiderte Dhark. »Als diese Überlappung verschwand, verschwand auch die Zone.« »Und wer hat für diese Zeitverschiebung eines ganzen Raumsektors gesorgt? Das war doch kein natürliches Phänomen!« hielt Vandekamp ihm vor. »Kein Grund anzunehmen, daß es sich beim Exspect ebenfalls um eine künstliche Erscheinung handelt!« konterte Ren. »Vergessen Sie nicht, daß es sich hier um einen wesentlich größeren Bereich handelt, der nicht nur ein paar Lichtjahrzehnte umfaßt, sondern ein halbes Universum oder mehr! Außerdem, wenn das Exspect nur eine Art scheibenförmige Verlängerung der Milchstraße darstellte, um uns am Ausfliegen zu hindern – wer könnte uns dann stoppen, wenn wir versuchen, senkrecht auszubrechen, wie wir es eben gerade für den Hin- und Rückflug zu den Nogk getan haben?« »Niemand. Aber es erscheint doch logisch, beim Flug in die Nachbargalaxis in der Ekliptik der Milchstraße zu verbleiben, weil Andromeda als nächsterreichbares Ziel sich ebenfalls ziemlich genau auf dieser Ebene befindet!« »Die Magellanschen Wolken...«, begann der Commander, unterbrach sich aber sogleich wieder. Die Richtung, aus der die immer stärker werdenden Veränderungen des galaktischen Magnetfeldes kamen, verhinderte eine Auswanderung zu den Magellan-Wolken. Es wäre närrisch gewesen, dem Tod entgegenzufliegen! Es blieb praktisch nur Andromeda! Dennoch fiel es ihm schwer, an diese Scheiben-Theorie zu glauben. Eine Kugelschale, in der die Milchstraße eingebettet war, erschien ihm realistischer. Damit konnte man sich auch vorstellen, daß andere Galaxien sich ebenfalls in »Normalraum-Kugeln« befanden, das energiefressende Exspect aber die Normalität im Kosmos darstellte und die Galaxien durch ihre eigenen Spannungsfelder Raumfahrt überhaupt erst ermöglichten.
In dem Fall blieb der einzige Weg, Andromeda zu erreichen, nur eine Transition über drei Millionen Lichtjahre direkt in deren Spannungsfeld hinein... Aber Raumschiffe, die über eine solche Energiekapazität verfügten, existierten nicht und würden möglicherweise niemals gebaut werden können. Die Energie einer Sonne wäre erforderlich, um solch einen Sprung zu ermöglichen. Die Mysterious haben mit Sonnen gespielt wie mit Fußbällen! durchfuhr es Dhark. Die Sternenbrücke, das »Sternbild der Sterne«, das wir bislang immer noch nicht erforschen konnten, weil uns die Zeit dafür einfach fehlte, die Sternenleeren Transitionsinseln auf dem Weg nach Drakhon... Wer Sterne in ihren Positionen verschieben kann, der kann doch auch Sterne als Energielieferanten verwenden! Aber waren die Mysterious dazu wirklich in der Lage gewesen? Wenn sie mit der Kraft einer Sonne nach Andromeda transitieren konnten, um wieviel einfacher wäre es gewesen, Drakhon auf diesem Weg zu erreichen, statt die »Sprunginseln« zu schaffen, in denen Raumschiffe nach unglaublich weiten Fern-Transitionen sicher rematerialisieren konnten, ohne die Gefahr, bei einem Berechnungsfehler im Promillebereich nicht im interstellaren Raum, sondern in einer Sonne zu landen? Um es mit den Worten Arc Doorns auszudrücken: Auch die Mysterious hatten nur mit Wasser gekocht. Trotz ihrer Supertechnik, denn selbst die die hatte keine Allmacht geschaffen. Claus Bentheim ergriff wieder das Wort. »Eine Kugelschale würde natürlich auch den bisherigen Kenntnissen und Annahmen vom Spannungsfeld unserer Galaxis widersprechen«, behauptete er. »Allein durch die Form unserer Galaxis müßte es sich in Drehrichtung wesentlich weiter ausweiten als nach oben oder unten. Das Exspect müßte also senkrecht zur Ekliptik sogar viel näher heranreichen.
Schließlich handelt es sich um eine Spiralscheibe, nicht um einen Kugelsternhaufen oder eine unregelmäßige Sternballung.« »Das heißt, wir hätten das Exspect mit unserer Transition nur 10.000 Lichtjahre hinaus bereits berühren müssen?« Ren runzelte die Stirn. »Zumindest wären wir ihm theoretisch sehr, sehr nahegekommen. Fünfzehn, zwanzig Lichtjahrtausende – das könnte die Grenze sein. Aber um das herauszufinden, müssen wir genauere Messungen anstellen als die, die wir bisher vornehmen konnten. Kollege Vandekamp hatte übrigens schon auf dem Hinflug zum Corr-System diesen Verdacht, der sich uns jetzt bestätigte.« Ren hob die Brauen. »Bestätigte? Bis jetzt sind Sie mir doch nur mit Vermutungen und Theorien gekommen!« »Wir sind doch ins Exspect hineingeflogen«, erinnerte Vandekamp. »Das Corr-System hat sein eigenes Spannungsfeld, das eben entsprechend kleiner ist als das der Milchstraße mit ihren etwa hundert Milliarden Sonnen. Was glauben Sie, was wir getan haben, Dhark? Wir haben Messungen durchgeführt, Vergleichsberechnungen angestellt, und dadurch sind wir eben auf diese unterschiedlichen Modelle gestoßen, die wir Ihnen eben vorgeführt haben. Wir müssen diese Theorien praktisch untermauern. Müssen herausfinden, welche richtig ist. Das heißt, wir müssen senkrecht zur Milchstraßenebene weiter vorstoßen, ins Exspect hinein, um...« »Wir müssen nicht!« unterbrach ihn der Commander. Vandekamp stutzte. »Wie meinen...?« »Die POINT OF wird diesen Forschungs- und Meßflug nicht unternehmen. Das war es doch, was Sie fordern wollten, oder?« »Darum bitten, nicht fordern.« Ren grinste. »Was bei begeisterten Wissenschaftlern doch aufs selbe herauskommt.«
»Es ist eine Gelegenheit, die wir vielleicht so schnell nicht wieder bekommen werden!« drängte nun auch Ossorn, der sich den Disput bisher schweigend angehört und nur hin und wieder zustimmend genickt hatte. »Die POINT OF wird ihren Kurs nicht ändern. Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen, und wir werden dafür nicht von unserem Kurs abweichen! Wenn wir wieder auf Terra sind, können Sie gern beantragen, daß Ihnen ein Forschungsraumer zur Verfügung gestellt wird. Ich werde diesen Antrag befürworten. Das hier ist aber kein Forschungsflug. Guten Tag, meine Herren...« Er verließ die Astroabteilung. Hinter ihm murrte Ossorn: »Welcher Teufel hat mich bloß geritten, mich der POINT OF zuteilen zu lassen, nachdem wir in Cattan nicht mehr gebraucht wurden? Wir werden dafür nicht von unserem Kurs abweichen! Daß ich nicht lache! Ja, wenn es um Dharks privates Hobby ginge, die Mysterious, dann hätte er sofort zugestimmt! Als er seinen Träumen nachgejagt ist, hat er sich doch auch um nichts anderes gekümmert und ist von Planet zu Planet geflogen... aber jetzt, wo wir um wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse ringen, ist das für den Herrn natürlich völlig unwichtig.« Bentheim zuckte mit den Schultern. »Er ist der Commander. Er bestimmt, wo's langgeht, und wenn uns das nicht paßt, können wir ja abmustern. Aber welches Schiff der TF ist schon dermaßen gut ausgestattet wie die POINT OF, und welches stößt immer wieder so weit in Raumtiefen vor wie kein anderes? Wenn wir nur noch ein paar Jahre an Bord bleiben und Daten sammeln, wird der Rest unseres Lebens nicht ausreichen, die alle zu sichten und auszuwerten. Da draußen gibt es noch so unendlich viel zu entdecken! Wir sollten uns deshalb nicht in Details verzetteln. Aber beim nächsten Mal könnten wir dem Commander ja den Tip geben, daß sich hinter einem astrophysikalischen
Phänomen vielleicht ein Hinweis auf seine heißgeliebten Mysterious verbirgt...« »Ohne die wir niemals so weit aus unserer Galaxis hinaus gelangt wären«, sagte Vandekamp. »Wollen wir weiter plaudern, oder machen wir uns wieder an die Arbeit?« * »Ich kann unsere Eierköpfe sehr gut verstehen«, sagte Dan Riker, als Ren Dhark die Zentrale des Ringraumers wieder betrat und ihm mitteilte, welche Entdeckung Vandekamp und die anderen gemacht zu haben glaubten. »Ich würde an ihrer Stelle auch versuchen, dich zu einem Abstecher zu überreden. Aber wer weiß, was wir dabei noch alles entdecken würden? Solche Abstecher haben uns auf der Spur der Mysterious schon genug andere Dinge vernachlässigen lassen. Und jetzt können wir sie nicht mehr erforschen, weil sie nach dem Hyperraumblitz garantiert nicht mehr funktionieren.« »Du meinst andere Relikte der Mysterious...« Dan nickte. »Das Steinbild der Sterne zum Beispiel. Oder die Robotflotte und ihre geheimnisvolle Kontrollstelle. Was soll's? Es ist vorbei, und ich glaube nicht, daß wir es zu unseren Lebzeiten noch schaffen, die lahmgelegte M-Technik wieder zu reaktivieren.« »Davon träumst du?« staunte Ren. »Wie du immer noch von den Mysterious...« »Falls wir sie eines Tages wirklich finden, könnten sie uns dabei vielleicht helfen. Immerhin haben sie diese im subatomaren Bereich arbeitende Technologie doch entwickelt!« »Meinst du nicht, daß wir derzeit ein paar ganz kleine andere Problemchen haben? Zum Beispiel diese sprunghaften Veränderungen des Magnetfelds, die von Jahr zu Jahr stärker und tödlicher werden! Ren, irgendwann werden auch wir aus
der Galaxis fliehen müssen, und ich bin mir nicht sicher, ob Drakhon eine Chance für uns wäre, wie die Salter es hofften. Auch wenn die Strahlenstürme dort seltsamerweise viel weniger verheerend sind! Deshalb könnte es sich schon lohnen, Vandekamps Entdeckung nachzugehen.« »Du meist also auch, wir sollten den Flug nach Drakhon um ein paar Tage verschieben und uns zuerst um das Exspect kümmern?« »Ich meine, daß Terra ein paar Forschungsraumer vom STyp aussenden sollte, um das Vandekamp-Phänomen zu untersuchen! Das wird Vandekamp sicher nicht erfreuen, weil er dann nur noch den Entdeckerruhm beanspruchen kann und die restliche Erforschung andere erledigen, aber es könnte weiterhelfen! Wir kümmern uns wie geplant um die Shirs. Wenn wir wieder vernünftigen Funkkontakt zu Terra beziehungsweise einer der Relaisstationen haben, werde ich eine entsprechende Anweisung erteilen.« Ihm war natürlich klar, daß das dauern konnte. Der Hypersender der POINT OF war nicht stark genug, von der »Rückseite« der Galaxis aus Terra, ein terranisches Schiff oder eine Basis zu erreichen. Selbst Babylon wäre dafür zu weit entfernt gewesen. Falls denn der dortige Supersender noch funktionierte... »Apropos Funk«, fuhr Dan fort. »Während du in der Astro warst, hatten wir Hyperfunkkontakt mit der FO XVII, die sich im Anflug auf einen Planeten im galaktischen Randgebiet zu Drakhon befindet. Von dem Planeten ging ein Notruf aus, dem der Spindelraumer folgt. Scheinbar steht die Kollision zweier Sonnensysteme bevor. Wohl eine Folge der Durchdringung unserer beiden Galaxien. Nebenbei hat die FO XVII noch einmal bestätigt, daß die Distanz unserer Galaxis zu Drakhon um 1.000 Lichtjahre geschrumpft ist. Inzwischen hat man ziemlich genaue Daten: exakt 997,3 Lichtjahre.« »So genau haben die das gemessen? Die Randbereiche von
einzelnen Sonnensystemen sind doch durch teilweise exzentrische Planetenbahnen schon fließend, die von Sternhaufen erst recht – und die FO hat das auf ein Drittel Lichtjahr genau gemessen? So viel Präzision traue ich nicht mal den Mysterious zu!« »Diese Zahl wurde übermittelt, und ich werde den Teufel tun, sie nachprüfen zu wollen.« Riker zuckte mit den Schultern. »Und von unserer jetzigen Position aus können wir Drakhon immer noch nicht sehen...« Er war nicht der einzige, der gespannt darauf wartete, wann die Zweite Galaxis endlich in der Bildkugel auftauchen würde... * Jens Lionel, Chefastronom der POINT OF, war zusammen mit Astrophysiker Ossorn in die Zentrale gekommen. An Bord jedes anderen Raumers der TF wären beide gleich achtkantig wieder rausgeflogen, weil die Kommandobrücke jedes Schiffes tabu für alle war, die da nicht dienstlich zu tun haben oder von der Schiffsführung zum Eintreten aufgefordert werden. In der POINT OF hatte man das schon immer recht locker gesehen, und daß jemand hinausbeordert wurde, gehörte zu den ganz großen Ausnahmen. »Wir benötigen Rechnerkapazität des Checkmasters«, verlangte Lionel kategorisch, »die derzeit noch von den Artgenossen dieses wilden Menschen blockiert wird, obgleich jedem klar sein müßte, daß die Erforschung des Exspects sinnlos ist, solange wir Drakhon nicht in unsere Berechnungen mit einbeziehen!« Der »wilde Mensch« Ossorn schnappte nach Luft, aber noch ehe er protestieren konnte, fuhr Lionel schon fort: »Vielleicht gibt es Zusammenhänge mit dem Phänomen, daß wir Drakhon von hier aus zwar mit der Hyperortung klar erfassen können,
nicht aber optisch!« »Das soll mit dem Exspect zu tun haben?« grummelte Ossorn. »Kollege Lionel, nur daß Sie länger auf diesem Schiff arbeiten als ich, berechtigt Sie noch nicht, zum Fantasten zu werden! Optik und Physik...« »Optik ist ein Gebiet der Physik, wie Ihnen sicher nicht entgangen sein sollte«, konterte Lionel. »Und Astronomie, die ja optische...« Riker drehe sich im Kommandositz um. »Möchten Sie beide einen Spaziergang ohne Hut und Mantel auf der Außenhülle der POINT OF machen? Wenn nicht, tragen Sie Ihren Streit gefälligst außerhalb der Zentrale aus. Weshalb sind Sie hier?« »Weil ich den Checkmaster brauche! Mit unseren Suprasensoren kommen wir bei der Untersuchung des Phänomens nicht mehr weiter. Drakhon kann nicht kontinuierlich an unsere Galaxis herangekommen sein, sonst müßten wir sie längst schon optisch erfaßt haben.« »Transitionsgalaxis, wie?« murrte Ossorn. »Wäre das so abwegig? Zum einen würde es die Unsichtbarkeit erklären, zum anderen vielleicht sogar die Strahlstürme infolge der Magnetfeldschwankungen! Das könnten doch Nachwirkungen sein, so eine Art Transitionsschock, wie wir ihn von den Giant-Raumern her kennen.« »Ein Transitionsschock, der sich über Jahre hinzieht? Sie sind wirklich ein Fantast, Kollege, und davon abgesehen ist das mein Arbeitsgebiet und nicht...« »Raus!« sagte Riker gelassen. »Sofort. Beide.« Ossorn erstarrte. »Bitte?« »Ich habe Sie eben ermahnt, sich draußen zu streiten und nicht hier. Raus jetzt, aber ein bißchen plötzlich! Das hier ist die Kommandozentrale des TF-Flaggschiffs und kein Kindergarten.« Einer der Offiziere am Kontrollpult, einer der Neuzugänge,
grinste schadenfroh. »Sie verlassen die Zentrale ebenfalls«, wies Riker ihn an. »Informieren Sie Ihre Ablösung.« Der junge Leutnant wurde bleich. »Mister Riker, Sir, ich...« »Wollen Sie mit der Schiffsführung eine Diskussion beginnen? Commander Dhark, übernehmen Sie das Kommando. Ich erfülle Leutnant Hills Funktion, bis seine Ablösung hier ist.« Hastig räumte der junge Mann das Feld, mit hochrotem Kopf. Die beiden Wissenschaftler zögerten noch, sahen Riker fragend an. »Dhark«, begann Lionel. »Der Commander der Planeten ist zwar momentan Captain des Schiffes, aber auch in vorübergehend untergeordneter Funktion im Leitstand bin ich in diesem Fall als Flottenchef übergeordnet. Sie kennen meine Anweisung, Mister Lionel.« Ossorn zupfte den Astronomen am Ärmel. »Gehen wir, ehe es noch mehr Ärger gibt!« Im gleichen Moment änderte sich die Anzeige der Bildkugel! * Drakhon tauchte aus dem Nichts auf! Der Streit mit den Astronomen war vergessen. Dhark beugte sich vor und berührte eine Sensortaste. »Grappa! Distanz zu Drakhon!« Der junge Mailänder, dem man nachsagte, er sei mit seinen Ortungen verheiratet, meldete: »Zu Drakhon 8.000, zum Rand unserer Milchstraße 2.000 Lichtjahre!« Im gleichen Moment überspielte er die Werte auch schon auf Rens Instrumentenpult. »Lionel, Ossorn! Bleiben Sie noch einen Moment hier!« rief der, ohne sich nach den beiden Wissenschaftlern umzudrehen, aber da er das leise Zischen des Schotts noch nicht gehört hatte, ging er davon aus, daß beide die Zentrale noch nicht verlassen
hatten. Dan sagte nichts dazu. Lionel kam als erster heran. »Achttausend zu Drakhon? Das heißt also, daß wir das Auftauchen dieser Galaxis auf den entsprechenden Zeitraum eingrenzen können?« »Jetzt fängt der schon wieder mit seiner Transitionsgalaxis an«, murmelte Ossorn im Hintergrund. Diesmal war Jens Lionel schlau genug, nicht zu kontern. Er wollte kein zweites Mal der Zentrale verwiesen werden. »Vielleicht wurde Drakhon nur auf eine Weise, die wir noch nicht kennen, optisch getarnt«, gab Ossorn zu bedenken. »Fantast«, murmelte diesmal Dan Riker, der sich nicht vorstellen konnte, wie jemand eine ganze Galaxis unsichtbar machen wollte. Die Kampfstationen der Grakos, okay, und auch Erron 1 hatte sich unter einem Unsichtbarkeitsschirm getarnt, ehe die Terraner diese Gigantstation entdeckten, aber selbst den Mysterious, die mit Sternen gespielt hatten, traute er nicht zu, ein ganzes Milchstraßensystem hinter einem Deflektorschirm kosmischen Formats zu verstecken! Und deren Technologie war für ihn immer noch das Nonplusultra. Dabei vergaß er, daß erst vor kurzem die Grakos gezeigt hatten, wie spielend sie selbst mit der POINT OF fertig werden konnten. Der Rettungseinsatz für die FO XXIX auf einem immer noch namenlosen Dschungelplaneten wäre beinahe der letzte Flug des Ringraumers geworden, als das Schattenschiff eine völlig neue Waffe zum Einsatz brachte. Inzwischen ging man davon aus, daß es sich um einen Test gehandelt hatte, dessen Ergebnis das Schattenschiff nicht mehr weitermelden konnte. Dharks Hände flogen über die Steuerschalter. »Was hast du jetzt vor?« wollte Dan wissen. »Ein Stück zurückfliegen! Um herauszufinden, wo ganz genau die Sichtbarkeitsgrenze ist. Wir sind ja mit einem Affenzahn dran vorbeigehuscht...«
Das stimmte. Die POINT OF flog immer noch mit vielzehntausendfacher Lichtgeschwindigkeit, auch wenn sie die Hälfte der Strecke längst hinter sich gebracht hatte und sich seit einigen Stunden im Abbremsmanöver befand. Ein noch schnelleres Abbremsen war technisch unmöglich, und auf den Versuch, die Intervallfelder abzuschalten und damit eine Transition zu erzwingen, wollte Ren lieber verzichten. Das hatten Gedankensteuerung und Checkmaster schon vor ein paar Wochen nicht zugelassen, als die POINT OF von ihrem ersten Besuch im Corr-System zurückkehrte, da aber noch auf dem »direkten« Weg und nicht »außen herum«. So ließ Ren den Ringraumer einen weiten Bogen fliegen, haarscharf an der maximalen Belastbarkeitsgrenze der Andruckabsorber, um die weitere Abbremsung der POINT OF zu nutzen und ein kleines Stück zurückzufliegen. Wobei der Begriff »klein« durchaus etliche hundert Lichtjahre bedeutete. Es dauerte fast eine Stunde, und Dhark nutzte die Zeit, um seinen Freund Dan beiseite zu nehmen. »War das vorhin wirklich nötig, Lionel, Ossorn und auch Hill hinauszuschicken? Derart militärische Töne kenne ich ja überhaupt nicht von dir!« »Ich eigentlich auch nicht«, rechtfertigte sich Dan, der den Weltraum ebenso wie Ren Dhark bei der einstigen Handelsflotte kennengelernt hatte und nicht beim Militär. »Aber auch auf zivilen Raumern ist Disziplin nötig, Ren, sonst geht alles drunter und drüber! Wir haben eine Crew aus totalen Individualisten, aber wir alle müssen auch Grenzen respektieren, und das haben Lionel und Ossorn trotz Ermahnung versäumt. Und Hills unverhohlen gezeigte Schadenfreude war ebenfalls fehl am Platz. Ich werde später darüber mit ihm reden, unter vier Augen, so wie wir beide das jetzt gerade tun. Du weißt, daß ich kein Militär bin und meinen eher lächerlichen Dienstrang Major nur pro forma führe, weil bei den Lamettaträgern Zivilisten nichts zu husten haben und
ich andererseits auch keine Lust habe, mich zu einem deiner Minister ernennen zu lassen, nur um von den säbelrasselnden Betonköpfen respektiert zu werden! Theoretisch müßte ich ja als Marschall oder gar ›Staatsmarschall‹ auftreten, aber den Titel überlasse ich lieber Leuten, die bulliger sind als ich...« »Säbelrasselnde Betonköpfe, Dan? Haben wir die in der TF?« »Die gibt's immer und überall, aber bei uns erfreulich wenige. Deshalb reicht ja schon der ›Major‹. Mit einem ›Leutnant‹ wäre ich auch schon zufrieden, nur damit verdient man zu wenig und ich bin verheiratet, da ist der Dollar gleich nur noch fünf Cents wert...« Er grinste von einem Ohr zum anderen. »Das laß bloß nicht Anja hören«, warnte Ren. Dan winkte ab und zog seinen Freund zum Kommandopult zurück. »Die erzählt mir dann jedes Mal, daß sie als Honorarprofessorin für M-Mathematik in eine viel höhere Steuerklasse eingestuft ist als ich. Sag mal, Ren, so ganz im Vertrauen unter uns zwei Klosterschwestern«, er wurde von Wort zu Wort lauter und legte jetzt die Hand an den Mund, als wolle er seinem Freund etwas zuflüstern, das niemand sonst mitbekommen sollte, »du bist doch Regierungschef! Kannst du deinem Finanzminister nicht befehlen, daß ich Steuerbefreiung auf Lebenszeit bekomme?« »Kann ich, selbstverfreilich«, grinste Ren nicht weniger laut zurück. »Aber ich kann ihn nicht daran hindern, das deiner Frau zu verraten.« »Um Himmels willen!« keuchte Dan in gespieltem Entsetzen. »Sie wird mir jeden gesparten Cent abnehmen und einen ganzen Haufen neue Pullover davon kaufen, die ständig 'ne Nummer zu klein sind...« Damit spielte er auf Anjas Eigenart an, sich stets äußerst sexy zu kleiden – was schon auf dem Kolonistenraumer GALAXIS dem Commander Sam Dhark ein Dorn im Auge gewesen war, weil er um die Moral
der männlichen Besatzungsmitglieder gefürchtet hatte. Aber Anja Field, verehelichte Riker, war sich selbst stets treugeblieben und trug grundsätzlich nie Uniform, sondern immer nur ihre privaten, figurbetonenden Kleidungsstücke. »Dann wird sie wieder in die Stammrolle der POINT OF zwangsrekrutiert«, grinste Ren. »Was erstens die Mannschaft motiviert und zweitens dafür sorgt, daß noch mehr Helden der christlichen Raumfahrt sich aufs Flaggschiff der TF versetzen lassen wollen – wir werden die absolute Elite der Elite mustern können...« »Ahrg«, machte Dan. »Wer Freunde wie dich hat, braucht keine Feinde mehr! Lieber balge ich mich mit einem Shir, als mich noch mal mit dir auf eine Diskussion einzulassen!« Er sah in die Runde. »Wehe, wenn einer von euch lacht! Ihr fliegt alle raus!« Ein paar Gesichtszüge erstarrten tatsächlich. »Und dann treffen wir uns in Leutnant Hills Kabine zum Pokern«, fuhr Dan fort. »Und wehe, ihr Halunken laßt mich nicht gewinnen – ich brauch' die Kohle doch für meine Frau, wenn dieser Commander der Planeten mich tatsächlich steuerfrei stellen läßt...« »Es sprach der Oberbefehlshaber der Terranischen Flotte«, verkündete Ren salbungsvoll. »Äh, Dan, lassen wir Anja mitspielen? Dann schlage ich Strip-Poker vor...« »Und ich fordere dich hiermit zum Duell! Angesagt ist Hundertmeterdauerduschen – du hast die Wahl der Seife...« Lionel und Ossorn sahen sich stumm und kopfschüttelnd um. Hatte Dan Riker nicht erst vor kurzem noch behauptet, die Zentrale der POINT OF sei kein Kindergarten? Wenig später hatte der Ringraumer seinen weiten Bogen vollendet und näherte sich zum zweiten Mal der Sichtbarkeitsgrenze von Drakhon. Diesmal bereits wesentlich langsamer als beim ersten Mal. Und jetzt... »Schauen Sie sich das an!« entfuhr es Jens Lionel.
Von einem Augenblick zum anderen zeigte die Bildkugel wieder Drakhon – aber wie! Nicht als silbern schimmernde Sternenpopulation, als die die heimische Milchstraße projiziert wurde, sondern in einer unglaublichen, unbeschreiblichen Farbenpracht, die selbst Jens Lionel überraschte. Dabei war er als Astronom doch gewohnt, wunderbar farbige Bilder von Sternen oder noch mehr von Wolken interstellarer Materie zu sehen! Aber Drakhon mit seiner Farbenpracht übertraf alles bisher Gesehene. Noch war die Zweite Galaxis nur relativ klein zu sehen; kleiner als die Milchstraße, allein weil sie viel weiter entfernt war. Wie mochte sie erst funkeln und strahlen bei größerer Annäherung? »Verdammt, wieso haben wir das damals, beim ersten Anflug, nicht gesehen?« stieß Lionel fast verzweifelt hervor. »Vielleicht, weil wir da einen anderen Weg genommen haben?« überlegte Dhark, der sich dieses Farbenspiel auch nicht erklären konnte. An die Parakräfte der Shirs glaubte er in diesem Zusammenhang nicht. So allumfassend konnten die auch nicht sein! Vor allem konnten sie nicht wissen, daß die Terraner ausgerechnet jetzt zurückkehrten – und auch noch auf diesem ungewöhnlichen Anflugkurs! Vergessen war das heitere Geplänkel von vorhin. Ren Dhark saß schon wieder auf seinem Platz vor den Steuerungen. »Grappa, Distanz im Moment des Sichtbarwerdens?« »Exakt 10.004,8 Lichtjahre vom äußeren Rand Drakhons«, meldete der, »wenn ich die Meßkriterien der FO XVII anlege, und die hat der Checkmaster bestätigt.« »Dann müßte Drakhon also vor etwa zehntausend Jahren in unserer Nachbarschaft aufgetaucht sein«, postulierte Lionel. Ossorn verzog das Gesicht. »Kollege, begreifen Sie eigentlich gar nicht, was für einen Unfug Sie da brabbeln?
Selbst oder gerade bei unserer immer noch vorhandenen Restgeschwindigkeit müßte es doch dann bei unserer Annäherung an Drakhon zu einem ›optischen Wackler‹ kommen, da sich die Zweite Galaxis doch offenbar zeitgleich mit dem galaktischen Blitz vor zwei Monaten um tausend Lichtjahre angenähert hat! – Um neunneunsiebenkommadrei, um forschungsraumerexakt zu sein!« »Ich fürchte, da ist was dran«, murmelte Riker. »Was verstehen Sie unter einem ›optischen Wackler‹, Ossorn?« fragte Dhark nach. Der Astrophysiker hob beide Arme. »Das ist ein Notwort«, sagte er. »Sehen Sie – da Drakhon so etwas wie einen Sprung um tausend Lichtjahre gemacht hat, muß es doch in diesem Bereich eine Art Überlagerung geben! Wir müßten die Galaxis gleichzeitig sehen und nicht sehen, wo wir doch jetzt schon wieder in ihren neuen Sichtbarkeitsbereich vorgestoßen sind! Über diese tausend Lichtjahre – verflixt, warum rede ich mir hier eigentlich den Bart fusselig? Das kann Ihnen Kollege Lionel doch viel besser erklären! Der ist doch der Astronom, nicht ich!« »Das würde dann bedeuten, daß sich die optischen Bilder innerhalb Drakhons um diese tausend Lichtjahre Differenz von den tatsächlichen neuen Sternpositionen unterscheiden müßten und nur in einem Bereich von zwei Lichtmonaten von ihrer neuen Position aus tatsächlich zu erfassen wären«, behauptete Lionel. »Können wir ohne eine weitere Schleife zurück nicht prüfen, weil wir über diese acht Lichtwochen schon längst wieder hinausgeschossen sind«, bemerkte Riker. »Grappa«, bat Dhark. »Möchten Sie mal wieder Zauberkünstler spielen?« »Arbeite schon dran«, kam es von der Ortung zurück. »Bloß Wunder dauern auch hier manchmal ein paar Sekunden länger! Können wir noch ein paar tausend Lichtjahre näher an Drakhon
ran?« »Wir arbeiten schon dran«, grinste der Commander. Einige Zeit später überspielte Tino Grappa eine Unmenge an Daten. Lionel nutzte die Bordverständigung und brachte seinen Kollegen Sheffield auf Trab. Der lieferte aus der astronomischen Abteilung die optischen Vergleichsmessungen. Die verstrichene Zeit war nötig gewesen, um diese Daten zu sammeln und zu ordnen. Optische und hyperortungstechnische Erfassung erwiesen sich als deckungsgleich! »Das heißt doch, daß das Licht von Drakhon sozusagen mitgesprungen ist!« rief Lionel erregt und bekam nun doch endlich seine Rechnerzeit am Checkmaster, nur kapitulierte der vor der ihm gestellten Aufgabe. Er war nicht in der Lage, eine zufriedenstellende Erklärung für dieses Phänomen zu finden! »Da streiten sie sich weiter, die gelehrten Geister«, bemerkte Riker launig, als Ossorn und Sheffield – diesmal freiwillig – die Zentrale wieder verließen. »Und wir fliegen weiter«, bestimmte Ren Dhark. »Wir haben schon genug Zeit verloren...« »Und dabei Erkenntnisse gewonnen!« hakte Dan ein. Ren zuckte mit den Schultern. »Sicher«, gestand er. »Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht mehr los, daß es wichtiger ist, uns um die Shirs zu kümmern...« * Im überlichtschnellen Flug, durch die beiden Intervallfelder geschützt, jagte die POINT OF oberhalb der Berührungsebene der beiden Galaxien Drakhon entgegen. Dabei wurde deutlich, daß die Spiralarme beider Milchstraßen sich jetzt noch tiefer ineinander verstrickt hatten, als es seinerzeit beim ersten Anflug auf die Zweite Galaxis festgestellt worden war.
Den übermittelten Koordinaten zufolge befand sich in einer solchen Durchmischungs-Sphäre, die sich durch den offensichtlichen Raumsprung Drakhons verstärkt hatte, jener Planet, dessen Bewohnern die FO XVII jetzt zu Hilfe eilte. Wobei sich Dhark ernsthaft fragte, was ein mühsam mit angeflanschtem Giant-Transitionsantrieb aufgerüsteter Spindelraumer aus der Prä-Giant-Zeit an Hilfe zu bringen vermochte. Selbst ein Kugelraumer wie die FO XXIX oder die wenigen bisher zu Forschungsraumern umgebauten S-Kreuzer, die nun, nach der Hyperraumblitz-Katastrophe, wohl wieder in die Kampfverbände eingegliedert werden würden, wäre nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein paar wenige Individuen mochten vielleicht vor den Folgen einer stellaren Kollision gerettet werden können, aber was dann? Jedes Leben zählt! Natürlich. So war es, und so mußte es sein. Aber... Ren bemühte sich, die Vorstellung von Wesen, die den Raumer stürmten, weil sie leben – überleben – wollten, zu verdrängen. Ihm reichten schon die Berichte von dem Chaos auf terranischen Raumhäfen, obgleich die Gefahr für Terra eher theoretisch war. Und die Terraner eher die Erde nicht verlassen wollten... Und noch während Ren an die Hölle auf Erden dachte, brach die Hölle an Bord aus!
9. »Tut mir leid, Sir. Aber das geht nicht.« Der, der das mit forschem Ton sagte, war ein noch junger Mann namens Phil Gombos. Er wirkte mit seiner martialischen Aufmachung und der schwarzen Uniform des WallisWerkschutzes, als hätte er gerade eben erst die Akademie für angehende S.W.A.T.-Agenten absolviert. Doch trotz seiner zur Schau getragenen Forschheit war er im Grunde etwas unsicher. Es war sein erster wirklicher Job außerhalb der schützenden Mauern der Polizeiakademie von Alamo Gordo. Seine Aufgabe bestand darin, niemanden auf das Gelände des inneren Sperrbezirks von Wallis Industries, Pittsburgh, Pennsylvania, zu lassen, der nicht die entsprechenden Genehmigungen vorweisen konnte. Dafür durfte er sich zum internen Sicherheitsdienst der Firma gehörend fühlen. Kein leichter Job, wie er oft genug feststellen mußte, auch wenn sein Vorgesetzter, Frank Russo, immer wieder betonte, welche angenehme Aufgabe er hier hätte. Im Augenblick erschien sie ihm allerdings ganz besonders schwer. Ein dünner Schweißfilm perlte auf seiner Stirn, und er verwünschte zum hundertsten Mal, daß es ausgerechnet ihn erwischen mußte. Das Leben konnte so gemein sein! Sein Gegenüber war ein Berg von einem Mann. Nur daß der Berg durch den gewaltigen Bauch mehr in die Breite ging als in die Höhe, wobei zu seiner Ehrenrettung gesagt werden konnte, daß er auch nicht gerade zu den Kleinsten zählte. Über seinen Augenbrauen glänzte die Stirn bis fast in den Nacken. Aber was ihm dort an Haaren fehlte, machte ein mächtiger Backenbart wieder wett. »Wenn ich sage«, erklärte der Berg gerade unwirsch, »daß wir jetzt durch diese Tür da gehen, dann werden wir das auch
tun. Und da hält uns auch kein Möchtegern-Rambo davon ab.« Wie beiläufig steckte er die Hand in die Tasche, die sich verdächtig beulte. Das »wir« bezog sich auf den Hund, den der Rübezahl bei sich hatte, und der neben seinen Beinen saß und interessiert die weitere Entwicklung dieses Disputs verfolgte. Der Sicherheitsmann konnte sich täuschen, aber er glaubte ein belustigtes Grinsen um die Lefzen dieser schwarzfelligen Töle zu sehen, die in ihrer Zotteligkeit zu ihrem Herrn paßte wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. »Sind Sie angemeldet?« erkundigte er sich bei dem Fremden. »Sind wir das?« richtete der das Wort an den Hund zu seinen Füßen. Der schüttelt doch tatsächlich den Kopf! durchfuhr es den Wachmann. Grundgütiger Himmel! Er blickte verstohlen nach links und rechts. Aber er befand sich allein auf weiter Flur. Hinter ihm und dem Gitterzaun, dessen Durchgang er bewachte, erhob sich der Laborkomplex dieses Robert Saam. Auch so ein Kapitel für sich, der Mann. Der Fremde hob bedauernd die massigen Schultern. »Können Sie sich dann wenigstens ausweisen, Sir, damit ich Rückfrage bei meinen Chef halten kann?« Der Sicherheitsmann gab noch nicht auf. Trotz der latenten Bedrohung, die dieses Ungetüm vor ihm ausstrahlte. »Oh, Shit«, fluchte Chris Shanton ungehemmt, »hab' ich doch glatt meine Zugangsberechtigung in meiner Bude vergessen!« »Vergeßlicher Trottel!« Der Dicke blies die Backen auf, und seine Brauen sträubten sich unheilverkündend. Der Wachmann erbleichte, hob die Hände in Brusthöhe und sagte in beschwörendem Ton: »Sir, das war nicht ich, Sir! Das müssen Sie mir glauben.«
»Papperlapapp«, winkte Shanton ab, »das weiß ich selbst. Diese Misttöle hat ihre sieben Sinne schneller wieder beisammen gehabt, als mir lieb ist. Aber was machen wir nun...?« In diesem Moment sagte eine helle, etwas belustigt klingende Stimme hinter ihm: »Na, hat unser technisches Genie mal wieder seine Zugangsberechtigung unter der Cognacflasche liegen lassen, wie? Hehehe...« Das meckernde Lachen veranlaßte Chris Shanton zu einer Miene, als hätte er starke Zahnschmerzen. »Auweia«, murrte er, sich halb umdrehend, »unser technisches Obergenie, dessen zweiter Vorname Vergeßlichkeit lautet.« Er starrte drohend auf den hageren, mittelgroßen jungen Mann, der sein wirres blondes Haar über den Ohren nach vorne gekämmt hatte, daß es wie Stacheln von seinem Kopf abstand. Auf dem Hinterkopf trug er eine runde Wollmütze. Auf den Schal hatte er merkwürdigerweise verzichtet – vermutlich hatte er ihn wieder mal verlegt und vergessen, wo das war. Robert Saam gehörte zu der neuen, jungen Generation von technischen Genies, die direkt aus den Hörsälen der Universitäten an die Industrie vermittelt wurden. Terence Wallis' Headhunter hatten ihn für das größte Industriekonglomerat der Erde verpflichtet, als sie seiner habhaft wurden. Saam war Norweger. Jahrgang 2032. Während der Giant-Invasion hatte er sich als Immuner ohne jeglichen Kontakt zu anderen Menschen im Keller der Universitätsbibliothek im schwedischen Uppsala versteckt und die folgenden drei Jahre nur mit Lernen verbracht. »Da das jetzt geklärt ist«, meinte Robert Saam mit fröhlicher Stimme, »wie kann ich Ihnen helfen, Chris?« »Dieser Sicherheitshei...beamte«, kriegte er gerade noch die Kurve, »will mich partout nicht hineinlassen.« »Das geht schon in Ordnung, Phil«, wandte sich Saam
feixend an den Wachmann. »Sie waren eine Weile auf Urlaub, nicht wahr? Sie konnten daher nicht wissen, daß dieses Riesenbaby seit kurzem hier ein und aus geht und die gleichen Privilegien besitzt wie ich – unverständlicherweise, muß ich allerdings hinzufügen. Sein Name ist Chris Shanton, er nennt sich Diplomingenieur und ist im normalen Leben so etwas wie ein großes Tier unter Ren Dharks Ägide, beziehungsweise in seinem Stab. Sie haben ihn sicher auf Ihrer Liste der VIPs!« »Sir... ich...« Der Sicherheitsmann begann vor Verlegenheit und Aufregung zu stottern. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Mister Shanton? Sie haben natürlich Zutritt, keine Frage.« »Nun kriegen Sie sich wieder ein, Mister«, sagte der Diplomingenieur gönnerhaft. »Noch habe ich Sie ja nicht erschossen!« Er brachte seine Hand wieder aus der Hosentasche hervor; sie war selbstverständlich leer. Die Augen des jungen Mannes weiteten sich erschreckt. »Ja, hätten Sie denn... ich meine... wollten Sie mich wirklich...?« Er brach ab, als er das Grinsen auf Chris Shantons Gesicht sah, und räusperte sich. »In Ordnung. Gut. Gehen Sie bitte durch.« Er drehte sich um hundertachtzig Grad, riß gehörig verunsichert das Tor auf, vor dem er Wache schob, und trat beiseite. »Menschen«, hörte er eine mechanisch erzeugte, aber nichtsdestotrotz geringschätzig klingende Stimme, als die Kopie eines Foxterriers an ihm vorübertrottete, »machen ein solches Brimborium um Titel und Ämter, daß es einem die Flöhe vergrault« »Kusch, Backpflaume!« knurrte Shanton über die Schulter, »sonst fehlen dir gleich ein paar lebensnotwendige Speicherbausteine.« »Ja, ja«, maulte Jimmy aufsässig, »immer auf die Schwachen und Schutzbedürftigen einprügeln, das könnt ihr
Zweibeiner. Ein Hundeleben, kann ich da nur sagen...!« Seine zeternde Stimme verlor sich mit jedem Schritt, mit dem sich die kleine Gruppe in Richtung der Laborräume von dem völlig konsternierten Wachmann entfernte, der natürlich auch noch nichts von Chris Shantons sprechendem Robothund gehört hatte. * »Wow!« staunte Shanton blinzelnd und ließ seine Blicke an den verglasten Wänden des Laborgebäudes hinaufgleiten, in denen sich blauer Himmel und vorbeiziehende Wolken spiegelten. »Das ist genau der richtige Ort für Sie, Saam. Sieht aus, als stamme es geradewegs aus dem Weltraum.« »Nicht ganz«, gestand Robert Saam. »Es stammt aus dem Suprasensor von Wallis' Architekturbüro.« »Oder so«, nickte Shanton feixend. »Und da drin entwickeln Sie Ihre... hmm... genialen Ideen?« »Ganz recht«, verkündete Saam nicht ohne Stolz. »Hoffentlich jagen Sie es nicht eines schönen Tages in die Luft«, versetzte der Diplomingenieur trocken. »Wie kommen Sie auf eine derartig hirnrissige Idee, verehrter Freund und Kupferstecher?« empörte sich das Genie von Gottes und Wallis' Gnaden. »Ich habe noch nie etwas in die Luft gejagt!« »Das weiß ich aber besser«, gab Shanton kund. »Wie... was...?« »Sie scheinen ein sehr kurzes Gedächtnis zu haben, mein Lieber. Schon vergessen? Beinahe hätten Sie die Sonne hochgejagt. Kürzlich erst, auf Ast-1, mit Ihrer ungenehmigten und völlig überzogenen Aktion. Sagen Sie, wann ist eigentlich das Universum dran?« »Äh... ich... also...« »Stottern Sie hier nicht rum«, gab ihm Shanton zu
verstehen. »Es braucht Ihnen nicht peinlich zu sein...« »Nein?« Saam atmete sichtlich auf. »... der eine wird eben früher vernünftig, der andere erst später.« »Und einige gar nicht, so wie du, Rauschebart«, gab Jimmy gehässig zum Besten und drückte sich ostentativ an Saams Beine. Während Saam unverschämt zu grinsen begann, meinte Shanton düster: »Ich glaube, ich übergebe dich doch noch an Ezbal. Er wird dich mit Freuden von einer aufmüpfigen, impertinenten...« »... gescheiten und äußerst intelligenten«, warf Jimmy rasch ein, als der Dicke kurz Luft holen mußte. »... und verschlagenen Töle zu einem folgsamen, Stöckchen apportierenden Hündchen machen. Garantiert.« Die Wirkung war verblüffend. Jimmy warf sich zu Boden, streckte alle viere von sich und strampelte mit den Beinen wie ein ungezogenes Kind. »Nein, nein!« jaulte er. »Ich mag nicht, ich will nicht...« Saam brach ebenfalls fast zusammen. Vor Lachen. Als er sich wieder gefangen hatte, wischte er sich die Tränen aus den Augen und bat Shanton: »Gehen wir doch rein. Kennen Sie eigentlich schon meine Mitarbeiter?« Shanton kannte sie natürlich nicht. Er hatte bislang mit Robert Saam nur auf Ast-1 zusammengearbeitet. Robert Saam hatte fast den gesamten Laborkomplex zu seiner Verfügung, wie er erläuterte. Was nicht bedeutete, daß er ganz allein darin seine Forschungen betrieb. Natürlich hatte er einen entsprechenden Mitarbeiterstab, der ihn bei seiner Arbeit unterstützte. Wenn der nicht ausreichte, war es ihm laut Anweisung seines Mentors freigestellt, über jeden wissenschaftlichen oder technischen Experten zu verfügen, der auf der Lohnliste von Wallis Industries stand und nicht gerade in ein anderes Projekt eingebunden war. Sein permanent
verfügbarer Mitarbeiterstab jedoch bestand aus drei Personen: dem sechzigjährigen kanadischen Wissenschaftler George Lautrec, dem siebenunddreißigjährigen Funkund Ortungsspezialisten Saram Ramoya aus Indonesien und der Schweizer Biologin Regina Lindenberg, die trotz ihrer erst neunundzwanzig Jahre in der Fachwelt eine anerkannte Größe darstellte und von renommierten Universitäten und Forschungsinstituten mit mehr Auszeichnungen überhäuft worden war, als wesentlich ältere Kolleginnen und Kollegen in ihrer ganzen Schaffensperiode. Saam ging vor. Der Gebäudekomplex wirkte leer. Stille hing in den Korridoren wie in einem Mausoleum. Ihre Schritte klapperten auf dem glänzenden Fußboden. Das Geräusch hallte als Echo von den Wänden wider. Weiter unten im Hauptkorridor führten zwei Schwingtüren in ein Labor. Die Flügeltüren klappten hinter ihnen zu, nachdem sie eingetreten waren. Der Raum stank; wie in allen Labors hingen üble Gerüche in der Luft. Eine Mischung aus Dämpfen von Experimenten, die auch die beste Klimaanlage nicht zum Verschwinden bringen konnte. Das Labor war riesig, der Traum eines jeden experimentell arbeitenden Wissenschaftlers, und mit mehr Apparaturen und Geräten ausgestattet, als Shanton es sich vorgestellt hatte. Jemand saß vor einer langen Reihe Versuchsanordnungen, mit dem Rücken zu ihnen. Jetzt drehte er sich um, sah ihnen entgegen. Saam stellte ihn vor: »Das ist George Lautrec, kanadischer Wissenschaftler, Professor für Systemtechnik und Könner auf vielen anderen Gebieten. George – Chris Shanton!« »Ahh«, sagte Lautrec gedehnt. »Willkommen an Bord, falls das nicht schon jemand zu Ihnen gesagt hat.« Er war kräftig gebaut und sah so kühl und kompetent aus, wie der Klang
seiner Stimme es erwarten ließ. Shanton räusperte sich. »Sorry, bin nur vorübergehend hier.« Überrascht blickte ihn Lautrec an. »So! Na dann...« Und mit einem »Man sieht sich sicher«, wandte er sich wieder seiner Versuchsanordnung zu. Auf Saram Ramoya trafen sie zwei Räume weiter. Shanton wurde kurz vorgestellt, und der Diplomingenieur wechselte ein paar unverbindliche Worte mit dem indonesischen Funk- und Ortungsexperten, einem Mann in schlotterndem Anzug, mit unordentlichem Haar und den brennenden Augen des Arbeitssüchtigen. »Regina irgendwo gesehen, Saram?« meine Saam beiläufig. Shanton registrierte überrascht eine ungewohnte Verlegenheit bei dem jungen Technikgenie. Ramoya spreizte die Hände, betrachtete die Innenflächen mit einer Intensität, als sähe er sie zum ersten Mal, während in seinen Mundwinkeln ein winziges Lächeln nistete, das aber nur Shanton aufzufallen schien. »Vermutlich ist sie im Aufenthaltsraum. Hat was von Kaffeetrinken gesagt, vorhin.« Saam räusperte sich und blickte auf Shanton. »Was halten Sie von einer Tasse Kaffee?« Ein Schluck alter Cognac wäre die bessere Alternative, dachte Shanton. Laut sagte er jedoch: »Dagegen ist nichts einzuwenden.« Er folgte Saam in den Aufenthaltsraum, wo ein Servoroboter aus einer chromblinkenden Maschine duftenden Kaffee in Tassen zapfte. Am Fenster lehnte eine Frau, groß, gutgebaut. Sie trank Kaffee aus einem riesigen, verchromten Becher. Und als Shanton ihr gewagt tief ausgeschnittenes Dekollete sah, konnte er Saams Reaktion auf die Schöne verstehen. Saam ging auf sie zu, sagte: »Regina – darf ich Ihnen Chris Shanton vorstellen?«
Die junge Dame stellte ihre Tasse weg, streckte die Hand aus und musterte die grobschlächtige Gestalt des Diplomingenieurs aus großen Augen. »Hallo, Mister Shanton!« »Hallo, Regina... und wie noch?« Er nahm die dargebotene Hand vorsichtig in seine Pranke; ihre warmen Finger übten einen sanften, aber bestimmten Druck aus. »Doktor Regina Lindenberg, Biologin, Preisträgerin des Colin McRae-Gedächtnispreises – seit vier Jahren in Folge«, stellte Saam klar. »Nur Regina«, beharrte sie. »Ist das ein Besuch, oder wollen Sie unserem Klub beitreten?« »Ich muß Sie enttäuschen«, sagte Chris und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als er Saams gequälte Miene bemerkte. »Ich bin bereits woanders Mitglied, und das schon länger.« Die Biologin lächelte amüsiert. »Na, macht doch nichts. Trotzdem möchte ich Sie warnen. Wir sind alle ein bißchen verrückt hier. Aber ich denke, Sie wissen das schon.« »Kein Wunder«, bemerkte Shanton trocken, und nickte in Richtung Saam, »mit ihm als Chef.« Sie lachte perlend, was ihr Dekollete in atemberaubende Bewegungen versetzte. »Sie gefallen mir, Chris.« Du gefällst mir ja auch verdammt gut, dachte Shanton, aber ich werde mich hüten, diesem Saam in die Quere zu kommen... Saam hüstelte leicht. Er trank seine Tasse aus und stellte sie mit einer entschlossenen Bewegung weg. »Ihr könnt euch ja später noch mehr miteinander befassen«, meinte er und nagte an seiner Unterlippe. »Gehen wir weiter.« Shanton und Jimmy trabten brav weiter hinter Saam her, der sie durch die übrigen Räumlichkeiten führte, bis er schließlich vor einer Doppeltür halt machte. »Und das hier«, erklärte er und schob die Tür auf, »ist das Herz des Ganzen... wenn man so will.«
Es handelte sich um seinen Arbeitsraum, ausgestattet wie die Kommandozentrale eines Raumschiffes. Ein geräuschisolierter, klimatisierter Raum, wo Suprasensoren rund um die Uhr mit anderen Rechnern des WallisNet verknüpft waren. »Wir sind hier mit allem ausgestattet«, erklärte Saam mit dem Stolz eines kleinen Jungen. »Auch mit einer Transmitterverbindung dort hinten«, er deutete auf eine wandhohe Holografie am Ende des Raumes, die einen Erdaufgang über dem Mare Umbrium zeigte, »durch die ich direkten Zugang zu Terence' Konferenzräumen habe und...« »Ahh«, dehnte Shanton, ihn unterbrechend. »Big Brother is watching you.« »... zu unserer Dependance auf Luna«, beendete Robert Saam seine Erläuterung der technischen Gegebenheiten. »Und wo sitze ich?« erkundigte sich Shanton. Saam deutete auf die beiden Arbeitstische in der Mitte des Raumes. »Dies ist Ihr Arbeitsplatz, Chris, direkt neben dem meinen.« * Alle Anzeigen der Instrumente vor Ren Dhark schnellten innerhalb weniger Sekunden auf »kritisch«. In den roten Bereich, wie es bei terranischer Technik üblich gewesen wäre. Die Mysterious kannten Rot ebenfalls als Alarmfarbe, nur gab es da auch noch weitere Abstufungen in Richtung Katastrophe. Solange nur Rot kam, war es noch »harmlos« und das System erst zu fast 100 % belastet. Aber es kam mehr als Rot. Und das schlagartig, ohne Vorwarnung! Intervallfeldbelastung 100 %! Schwerkrafteinflüsse kamen durch! Der Ringraumer wurde durchgeschüttelt, krängte in rasendem Wechsel von einer zur
anderen Seite, begann um die Vertikalachse zu rotieren. Unglaubliche, ungeahnte Kräfte packten das Schiff und machten es zu ihrem Spielball. Vibrationsalarm wurde automatisch ausgelöst und vergrößerte das Chaos noch, in dem Besatzungsangehörige auf Freiwache aus ihren Kojen geschleudert wurden, weil die MTechnik nicht mehr in der Lage war, die auf den Ringraumer einwirkenden Kräfte zu neutralisieren. »Unteres Intervallfeld bricht zusammen!« schrie jemand. Dhark sah die Belastungsanzeige, die bei 250 stand – aberwitzig, weil doch 100 schon »komplett« bedeutete, und was die Mysterious sich dabei gedacht hatten, die maximale Belastungsgrenze so weit unter der tatsächlichen anzusiedeln, mochte der Räusperhuf der Panzerhornschrecke wissen! Das obere Intervallfeld stand noch, aber die POINT OF besaß jetzt keinen doppelten Schutz mehr, und die Belastungsanzeige des unteren Feldes war auch schon im überkritischen Bereich. Im Maschinenraum begannen Aggregate zu toben und zu brüllen und ließen glauben, an Schallisolierung hätten die Mysterious noch weniger Gedanken verschwendet als die Giants. Von einem Augenblick zum anderen hatten die Energieerzeuger ein Vielfaches ihrer bisherigen Leistung zu liefern, und Dhark schätzte sich glücklich, daß die POINT OF nicht mehr mit maximaler Beschleunigung oder maximaler Abbremsung lief, weil beides den Konvertern auch das letzte an Leistung abverlangte und in diesem Fall nicht das geringste Quentchen Energie zur Verfügung gestanden hätte, die plötzlich auftretenden gravitatorischen Kräfte zu beherrschen oder die Intervallwerfer mit ausreichender Energie zu versorgen! Wo im Schiff sich diese Projektoren befanden und wie sie funktionierten, wußte bis heute kein Mensch, weil die Mentcaps im Archiv von Hope darüber ebensowenig Auskunft
gegeben hatten wie die in Erron 3, aber – sie funktionierten! Plötzlich stand das untere Intervallfeld wieder, und damit befand sich die POINT OF wieder im Schutz zweier künstlich erzeugter Mini-Welträume, die zu je einem Fünftel ineinanderragten, und in diesem Fünftel, das doppelten Schutz bot, befand sich die POINT OF! Aber dieser doppelte Schutz war fragwürdig! Draußen im Weltraum tobte die Hölle, und diese Hölle wollte erneut in den Ringraumer einbrechen! Strahlungsalarm auf allen Decks! Die POINT OF drohte trotz beider Intervallfelder von härtester Strahlung durchdrungen zu werden. Bentheim rief zur Zentrale durch. »Dhark, wir müssen hier weg, oder wir sind in ein paar Minuten Tote auf Abruf, die mit viel Glück noch einige Tage zu leben haben, aber meine letzten Stunden als Strahlungskranker miterleben zu müssen, wie ich förmlich zerfalle, ist nicht mein Traum!« »Strahlung?« fragte Dhark zurück. »Ja, verdammt, zeigen es Ihnen Ihre Instrumente denn nicht an? Ich überspiele doch schon seit Minuten die Daten, aber viel mehr Minuten haben wir nicht mehr, wenn wir nicht alle draufgehen wollen...« »Die Intervalle...« »Die Intervalle hindern die POINT OF nicht daran, zum heißen Ofen zu werden! Der Magnetsturm bringt uns alle um!« Dhark starrte die Anzeigen seiner Instrumente an. Die funktionierten nicht! Die zeigten irgendwelche Fantasiedaten an, aber nicht die, welche von Claus Bentheim zur Zentrale überspielt wurden! Magnetsturm? In dieser unglaublichen Stärke, daß er sogar die POINT OF zu zerstören vermochte? Und wieso ließen die Intervallfelder die Einflüsse dieses Strahlensturms überhaupt durch? Die POINT OF bewegte sich
doch in einem eigenen, künstlichen Mini-Kontinuum! Das kontinentale Intervallfeld über Deluge auf dem Planeten Hope hatte doch auch stets alle Strahlenstürme abgewehrt, und es hatte sogar den weißen Blitz überstanden! Und jetzt sollte das bei der POINT OF nicht ausreichen? Im nächsten Moment besaß die POINT OF kein Intervallfeld mehr! Die Instrumente zeigten es Ren Dhark in ihrer brutalen Nüchternheit an. Weltraumstrahlung konnte ungehindert den Ringraumer durchfluten und den darin befindlichen Menschen irreparable Schäden zufügen! Aber im gleichen Moment war auch das schrille Pfeifen zu hören, das die Tonleiter hinaufraste und typische Begleiterscheinung einer Transition war! Der Checkmaster hatte die Intervalle ausgeschaltet, um damit einen Hyperraumsprung zu ermöglichen, weil die Intervallfelder eine absolute Transistionsbremse darstellten, wie es in der Terminologie der Mysterious hieß. Rasend schnell jagte das enervierende Pfeifen hoch, und im gleichen Moment, in welchem es abbrach, erfolgte die Transition der POINT OF. Von einem Moment zum anderen war alles wieder normal. Beide Intervalle standen wieder. Keine Schwerkrafteinflüsse rüttelten den Ringraumer mehr durch. Kein Strahlenalarm mehr! Die Ruhe war beinahe unnatürlich, und Ren Dhark war sicher, daß das nicht alles gewesen sein konnte. Er behielt recht. Nur Sekunden später gab der Checkmaster eine Warnmeldung aus, die sowohl als Folienausdruck im Auffangkorb erschien, als auch auf den Monitoren der SteuerCrew im Leitstand in den Schriftsymbolen der Mysterious aufglomm:
»Die Transition wurde aus unbekannten Gründen weit vor dem normalen Wiedereintrittspunkt unterbrochen.« * Achtundvierzig kleine Zeiteinheiten nach dem Tag der Wahrheit »Seien Sie gegrüßt, liebe Hörerinnen und Hörer an den Rundfunkempfängern. Sie hören die Legraner Stimme mit einer aktuellen Sondermeldung aus der Region. Im Stadtteil Dreben schloß ein bis dahin unbescholtener Bürger seine beiden Kinder und seine Lebenspartnerin auf dem Dachboden ein. Anschließend steckte er sein Haus an allen vier Ecken in Brand und wartete auf der Dachbodentreppe auf die Flammen. Die von Nachbarn alarmierte Feuerwehr kam zu spät. Der traurige Rekord von zweihundertsechs Selbstmorden in unserer Planetenhauptstadt ist somit um einen weiteren angestiegen. Die Anzahl der Morde in Legran stieg von 93 auf 96. Weitere Meldungen hören Sie zu den gewohnten Zeiten – zu unserem Bedauern eine Kette von schlechten Nachrichten, die wohl nie mehr abreißen wird.« * Gute Nachrichten bekam man von den walfischen Medien kaum noch zu hören, und falls mal eine verbreitet wurde, ging sie in einem Wust von Schreckensmeldungen unter. Berichte über Gewalttätigkeiten standen dabei an oberster Stelle. Oftmals wurde schon aus geringem Anlaß, bei nichtigen Streitigkeiten brutal zugeschlagen. Als Waffe benutzte man alltägliche Haushaltsgegenstände oder Werkzeuge. Die Macht des Stärkeren faszinierte viele Walfen,
gleichzeitig ekelte sie die damit verbundene Gewaltausübung an. Sie spürten, daß sie damit gegen ihre biologische Programmierung verstießen. Nahezu explosionsartig hatte sich allerorts die Diebstahlskriminalität ausgeweitet. Insbesondere ältere Walfen zählten zu den Opfern. »Die brauchen ihre gehorteten Wertsachen doch sowieso nicht mehr«, lautete das Hauptargument ertappter Diebe. Einige Mediatoren fungierten notgedrungen als Schnellrichter und verhängten für jedes noch so geringfügige Verbrechen empfindliche Strafen – die aber nicht vollstreckt werden konnten, denn es fehlten Gefängnisse. Die Karzer auf den Regierungssitzen waren bereits mit Schwerkriminellen überfüllt. »Verbrecher, die wir morgens verhaften, sind mittags wieder auf freiem Fuß«, sagte dazu ein Mitglied der neugegründeten Verwaltersicherheitstruppe im Hörfunk. Den erst vor kurzem eröffneten Supermarkt im Stadtkern von Legran hatte man vorübergehend schließen müssen, weil immer mehr Mitarbeiter nicht zur Arbeit erschienen waren. Eine Gruppe Jugendlicher schlug die Schaufensterscheiben ein und löste damit eine Plünderung aus. Vergebens mühten sich die unerfahrenen Sicherheitsleute ab, das Chaos in den Griff zu bekommen. Wenig später beteiligten sich dann Nachbarn, darunter Frauen und Kinder, an dem Raubzug. Letztlich griffen selbst die Verwalter in die Regale. Auch in anderen Orten kam es immer wieder zu gewaltsamen Plünderungen mit Verletzten und Toten. Die weitverbreitete Einstellung, die letzten Zeiteinheiten bis zur Katastrophe mit Nichtstun zu verbringen und das Leben zu genießen, führte in zahllosen Orten zu Betriebsschließungen. Selbst in der Lebensmittelbranche konnten nicht mehr alle Leistungen erbracht werden. Glück im Unglück: Die Lager waren voll bis unters Dach. Geplant war, die Lagervorräte gratis unter der Bevölkerung zu verteilen, sobald es zu
bedrohlichen Engpässen kommen würde – vorausgesetzt, es fanden sich dann noch genügend Freiwillige zur Durchführung der Verteilaktion. Müßiggang war leider nicht die einzige Beschäftigung der Freizeitfanatiker. Walfen, die glaubten, in ihrem Leben etwas versäumt zu haben, gaben sich den extremsten Betätigungen hin. Riskante Elorennen und sogenannte Zweirad-Motorduelle auf öffentlichen Straßen führten tagtäglich zu tödlichen Unfällen. Die ständigen Versuche unerfahrener Bergsteiger, den östlichen Kalamun-Steilhang ohne geeignete Ausrüstung zu erklimmen, hatte mittlerweile den zwölften Toten gefordert. Ein dreizehnter »Heldenanwärter« probierte es trotzdem – einfach deswegen, weil der Hang da war. Andere Wagemutige banden sich flexible Seile um die Beine und sprangen kopfüber von Brücken. Der Reiz dabei war, daß das Seil bis knapp über den Boden reichte. Manch einer überlebte dieses Abenteuer nur mit schwersten Verletzungen oder gar nicht. Mit Schwierigkeiten bei Materiallieferungen hatten diejenigen zu kämpfen, die sich an die vage Hoffnung klammerten, man könne die Katastrophe eventuell in Bunkern überleben. Verwalter, die mit der Materialverteilung betraut worden waren, gaben bekannt, die Errichtung von öffentlichen Mehrpersonen-Schutzräumen gegenüber privater Bauvorhaben bevorzugt zu behandeln. Mit dieser Maßnahme wollte man an das Zusammengehörigkeitsgefühl der Walfen appellieren. Erfolglos. Anstatt dem Appell Folge zu leisten, beklauten sich die Erbauer privater Schutzanlagen gegenseitig. Parallel zur Einrichtung von Bunkern wurde auf dem gesamten Planeten der Bau von Raumschiffen vorangetrieben. Noch war unklar, nach welchem Verfahren die wenigen Plätze in den Fluchtraumern vergeben werden sollten. Allgemein wurde eine Auslosung favorisiert, jedoch verlangten nicht wenige Mediatoren, gesondert begünstigt zu werden. Gerüchte, daß es im All eine geheime Raumstation gab, die führenden
Verwaltungsmitgliedern vorbehalten war, bestätigten sich nicht. Berkel Mintka äußerte sich zu diesem Thema sachlich, aber schonungslos. »Die Liste der gescheiterten Versuche, in den vergangenen Über-Zeiteinheiten eine bemannte Raumstation im Weltall zu plazieren, ist lang. Selbst wenn es dort inzwischen eine solche Station gäbe, würde sie bei der Verschmelzung beider Sonnensysteme regelrecht zerrieben werden. Ähnlich wird es allen Raumschiffen ergehen: Die Flüchtenden kommen nicht weit.« Täglich zur selben Zeit strahlte die Planetare Rundschau die neusten Meßergebnisse des berühmtesten Astronomen der Walfen aus. Je näher die fremde Sonne kam, um so größer wurde die Panik unter der Bevölkerung, um so mehr geriet sie außer Rand und Band. Auch zu den Fortschritten beim Bau der leistungsstarken Funkanlage bezog Professor Mintka Stellung. »Die gewaltige Antenne, die dort inzwischen aufgestellt wurde, wirkt zwar ungeheuer beeindruckend, dennoch glaube ich nicht an den Erfolg der Aktion. Keinem walfischen Funktechniker ist es je gelungen, mit anderen Planeten in Kontakt zu treten. Unter denen, die es probierten, befanden sich hochkarätige wissenschaftliche Kapazitäten. Monik Vegra ist auf diesem Gebiet eine blutige Anfängerin. Daß ich auch sonst nicht viel von ihr halte, kann man sich denken. Der schlechte Umgang, den sie pflegt, spricht nicht gerade für einen wachen Verstand.« Wer mit dem »schlechten Umgang« gemeint war, wußte auf Walf jeder. Längst hatte der Professor offen dargelegt, auf welche Weise er hatte versuchen wollen, das Ausmaß der Panik in Grenzen zu halten. Seither war Walf in zwei Lager gespalten. Die eine Hälfte der Bevölkerung fand es richtig, daß Danog ut Keltris es ihnen ermöglicht hatte, ihr Recht auf
Selbstbestimmung wahrzunehmen. Die andere Hälfte hätte bis kurz vor Schluß lieber nichts von der Katastrophe erfahren. Augen zu und durch. * Dreang Mintka war nicht sonderlich erstaunt, als Danog am Nachmittag vor ihrer Haustür stand. Jeden Tag hatte sie mit seinem überraschenden Auftauchen gerechnet – und jeden Tag hatte sie gehofft, er würde ihr diese Unterredung ersparen. »Komm herein«, forderte sie ihn kühl auf. »Komm herein?« wiederholte er verwundert. »Ist das alles? Keine Umarmung? Keine zärtliche Berührung der Kämme?« Sie gab ihm keine Antwort. Beide nahmen im Wohnzimmer auf aufblasbaren Sesseln Platz. Fast alle Sitzmöbel in der Villa waren mit Luft gefüllt. Der Professor fand das ungeheuer bequem. »Verstehe, du bist sauer auf mich, weil ich erst so spät zu dir komme«, konstatierte Danog. »Tut mir leid, ehrlich, doch die organisatorischen Aufgaben beim Bau der Funkanlage erfordern meine ständige Einsatzbereitschaft. Du glaubst gar nicht, wie schwierig es ist, geeignetes Material zu beschaffen, von geeigneten Technikern und Hilfskräften ganz zu schweigen. Wenn ich morgens den Bauplatz kontrolliere, fehlt jedesmal ein Teil der Arbeiter, und im Laufe des Tages schmeißen noch weitere Männer und Frauen ihre Arbeit hin. Sie geben auf, wollen den Rest ihres kurzen Daseins auf angenehmere Weise verbringen, und ich kann es ihnen nicht verdenken. Um die übrigen zum Bleiben zu bewegen und neue Mitstreiter zu gewinnen, muß ich jedesmal meine ganze Überredungskunst aufbieten. Hinzu kommt, daß fast mein gesamtes Personal auf der Burg gekündigt hat.« »Ich breche gleich in Tränen aus«, bemerkte Dreang ironisch. »Ringsumher geht die Welt unter, und du beklagst
dich darüber, daß du Staub wischen und dir dein Essen selber kochen mußt.« »So war das nicht gemeint. Von mir aus kann der Staub meterdick auf meinen Möbeln liegen, und zum Essen komme ich eh kaum noch. Mein ganzes Sinnen und Trachten gilt der Fertigstellung der Anlage. Der Funkkontakt mit außerwalfischen Lebewesen könnte unsere einzige Rettung sein. Ich habe nie an andere Welten geglaubt, doch inzwischen bin ich überzeugt, daß es da draußen irgend etwas gibt – geben muß!« »Warum bist du gekommen?« fragte Dreang kühl. »Weil ich Sehnsucht nach dir hatte. Ist es dir nicht genauso ergangen?« »Nein«, sagte die Tochter des Professors und wußte im selben Moment, daß dieses Nein eine Lüge war. »Seit du die Verbundenheit der Walfen zerstört hast, empfinde ich nur noch Abscheu für dich.« »Ich habe getan, was ich tun mußte«, rechtfertigte, sich Danog. »Mußtest du das wirklich? An Walfs Untergang gibt es nichts mehr zu rütteln. Bunker, Raumschiffe, Funkanlage – alles nur Blendwerk, reine Zeitverschwendung. Mein Vater wollte die Walfheit in Friede und Würde auf ihr unvermeidliches Ende vorbereiten. Doch du hast gemeint, einen anderen Weg gehen zu müssen. Ist dir eigentlich bewußt, was du damit angerichtet hast? Die Zivilisation, die unsere Vorfahren mühselig aufgebaut haben, zerfällt wie eine ausgetrocknete Blume.« »Ich gebe zu, ich hatte mir das ganz anders vorgestellt. Doch was macht dich so sicher, daß der Plan deines Vaters funktioniert hätte? Andere Astronomen waren dem Himmelsphänomen bereits auf der Spur. Die Mediatoren hätten unmöglich alle mundtot machen können. Laß uns jetzt bitte nicht streiten, Dreang. Ich liebe dich und möchte dich mit mir
nehmen, wenn die fremden Raumschiffe auf Walf landen. Und falls es uns nicht gelingt, Hilfe herbeizufunken, sollten wir beide wenigstens zusammen sein, wenn es soweit ist.« »Daraus wird nichts!« hallte eine wütende Stimme durchs Zimmer. »Verlassen Sie sofort mein Haus!« Professor Mintka hatte vom Observatorium aus Danog in die Villa gehen sehen. Er fühlte nur noch Verachtung und Haß für ihn. Der ungebetene Besucher sah ein, daß er hier fehl am Platze war. Er stand auf, um zu gehen. »Ich werde kommen und dich holen«, versprach er Dreang. Sie wandte den Blick von ihm ab und sagte kein Wort. * Dreiundsiebzig kleine Zeiteinheiten nach dem Tag der Wahrheit Die Arbeit an der Funkanlage stand kurz vor der Vollendung. Monik Vegra war zuversichtlich, um die Mittagszeit herum das erste Funksignal ins All hinausschicken zu können. Und es würde tatsächlich überlichtschnell sein, wie ausgedehnte Meßreihen gezeigt hatten. Bereits am frühen Morgen hatten sich mehrere Journalisten eingefunden, die den großen Augenblick nicht verpassen wollten. Auch im Medienturm von Legran hatte es inzwischen zahlreiche Arbeitsniederlegungen gegeben, doch die Besetzung reichte noch aus, um einen Teil der Hörfunk- und Heimbildschirmstudios weiterbetreiben zu können. Zeitungen gab es so gut wie keine mehr. Da sich täglich etwas änderte, interessierte sich niemand für die Meldungen vom Vortag. Zeitungsausträger und -verkäufer waren ohnehin rar. Seit drei kleinen Zeiteinheiten konnte man das nahende Unheil schon mit bloßem Auge sehen. Am Himmel war ein
Stern aufgetaucht, der in jeder Nacht größer wurde. Viele Walfen verfielen bei seinem Anblick in Depressionen – die Freitodrate hatte sich seit Sichtbarwerdung des Sterns verdoppelt. Das prominenteste Selbstmordopfer dieser Tage war der Tongener Mediator Carus Surac. Dem großen Verantwortungsdruck, der ständig auf ihm lastete, war er nicht mehr gewachsen. Seelisch robustere Walfen hatten sich längst mit ihrem Schicksal abgefunden. Sie versuchten nicht, sich in Bunkern zu verkriechen oder einen Platz auf einem Raumschiff zu ergattern, und auch der Bau der Funkanlage war ihnen herzlich egal. Auf fröhlichen Festgelagen, die vielerorts in wüste Orgien ausarteten, kompensierten sie ihre Ängste. Nicht selten machten Drogen unter den Feiernden die Runde. Überwiegend handelte es sich dabei um Medikamente aus Einbrüchen in Krankenhäuser und Arztpraxen, aber auch selbstentwickelte Rauschmittel, die aus pflanzlichen Bestandteilen gewonnen wurden, nahm man zum Aufputschen ein. Manche Drogenkonsumenten erlitten Hirnblutungen und starben einen qualvollen Tod, doch dieses Risiko wurde bewußt in Kauf genommen. Endlich war es soweit. Die Funkanlage konnte in Betrieb genommen werden. Gespannt warteten alle, die am Bau beteiligt gewesen waren, ob der Testlauf funktionieren würde. * Sein Name: Charlie Jana. Sein Dienstgrad: Captain der Terranischen Flotte. Sein Schiff: Der Forschungsraumer FO XVII. Sein Auftrag: Messungen und Beobachtungen am Rande der Milchstraße. Die Walfen nannten es »rätselhafter Vorgang« oder »große Bewußtlosigkeit«. Auf Terra, wo man ebenfalls etwa drei
Stunden bewußtlos gewesen war, sprach man von einem »Hyperraumblitz«. Drakhons Kollision mit der Milchstraße war mit größter Wahrscheinlichkeit Auslöser der unberechenbaren, galaxisweiten Magnetfeldschwankungen. Sollte hier auch der Ursprung des Hyperraumblitzes zu finden sein? Um das herauszufinden, waren Captain Jana und sein Team in ihrem Spindelraumer ins All aufgebrochen. Zwei spiralförmige Galaxien stießen in den Weiten des Alls zusammen – angesichts der Vielzahl von Galaxien in der Unendlichkeit des Universums keine Seltenheit. Im Grunde genommen war ein solches Phänomen daher nichts weiter als ein nüchterner Lehrstoff für angehende Astronomen. Es sei denn, der Zusammenstoß betraf die eigene Galaxis! Vor dem Abflug waren der Captain der FO XVII und sein erster Offizier Frank Agio auf den Anblick, der sie erwartete, gründlich vorbereitet worden. Doch die Aufnahmen, die man ihnen gezeigt hatte, kamen der Wirklichkeit nur bedingt nahe. Stumm starrten die beiden gestandenen Raumfahrer auf den Bordbildschirm und sahen hilflos zu, wie sich die beiden gewaltigen Sterneninseln unaufhaltsam aufeinander zubewegten. Dort, wo sie sich berührten, wo sie miteinander verschmolzen, war die Milchstraße mittlerweile zu einer Strahlenhölle geworden, und je tiefer die Spiralarme ineinander eindrangen, um so weiter breitete sich die Verseuchung aus. »Mit wird erst jetzt so richtig die eigene Vergänglichkeit bewußt«, philosophierte der stoppelbärtige I.O. laut. »Da glaubt man, die Krone der Schöpfung zu sein, und in Wahrheit ist man nichts als ein unbedeutender Mikrofliegenschiß im Weltall, wo ständig alles in Bewegung ist. Seit Milliarden von Jahren fressen sich Galaxien gegenseitig auf und vernichten dabei jegliche lebendige Intelligenz, die sie beherbergen. Wie viele Jahrtausende es wohl dauert, bis sämtliches Leben in unserer Milchstraße ausgelöscht ist?« »Über die ferne Zukunft mache ich mir weniger Gedanken
als um die Gegenwart«, erwiderte der dreiunddreißigjährige Glatzkopf Charlie Jana und wies seinen Ersten auf die Meßergebnisse hin, die der Bordcomputer beim Anflug errechnet hatte. »Die Vermischung der beiden MilchstraßenSpiralarme ist stärker geworden. Drakhon hat sich uns um weitere 997,3 Lichtjahre angenähert. Die Distanz auf der Route vom Signalstern beträgt nur noch rund 8.000 Lichtjahre. Da draußen ist die Hölle los! Kollidierende Sonnensysteme krachen zusammen wie auf einer Weltallautobahn. Beten wir, daß es sich um unbewohnte Planeten handelt.« »Galaxis 2 ist innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums um rund tausend Lichtjahre nähergekommen«, bemerkte Frank Agio nachdenklich. »Die Annäherung muß mit Überlichtgeschwindigkeit stattgefunden haben, in einer Art gigantischer Transition. Könnte sie den Hyperraumblitz ausgelöst...?« In diesem Augenblick meldete sich die Funkzentrale. »Captain, wir empfangen einen Hyperfunkruf.« »Legen Sie ihn auf den zentralen Lautsprecher«, ordnete der Raumschiffskommandant an. Ein Forschungsschiff zu führen war eine spannende Angelegenheit, dennoch träumte der Abenteurer Charlie Jana insgeheim davon, einmal ein Kriegsschiff zu befehligen, in vorderster Front, an der Spitze einer mächtigen Sternenflotte. Damit befand er sich im Gegensatz zu seinem zehn Jahre älteren I.O., der die Forschungsraumer wechselte wie andere Leute die Unterwäsche und nie etwas anderes sein wollte als »der Erste« an Bord. In der Zentrale wurde es ganz still, als eine fremdartige Stimme immer wieder denselben Text wiederholte. Niemand verstand die Sprache, aber die Stimme klang hektisch und verzweifelt wie bei einem Notruf. »Hier spricht der Captain des Forschungsraumer FO XVII«, antwortete Jana unter Zuhilfenahme des ratekischen
Translators. »Können Sie mich hören?« Für eine Weile war es ganz still in der Zentrale. Dann meldete sich die geheimnisvolle Stimme wieder, mit exakt demselben Text. Es klang abgehackt, so als ob der Funker mit erheblichen technischen Störungen zu kämpfen hatte. Der Translator hatte Schwierigkeiten, die Worte zu übersetzen. »Gefahr... Untergang... Feuer vom Himmel... Millionen Tote...!« Inzwischen hatte die Ortungszentrale den Planeten, auf dem sich der Sender befand, angepeilt. Er lag am Rand des Gefahrenbereichs, in dem es schon zu einer Reihe stellarer Kollisionen gekommen war. Eine kurze Transition brachte die FO XVII in die Nähe seiner Sonne, die fast lehrbuchmäßig dem G-Typ entsprach. Das System hatte vierzehn Planeten, von denen der vierte offenbar bewohnt war. Auch sonst konnte der Ortungsoffizier mit genauen Daten aufwarten. »Durchmesser: 14.058 Kilometer – ein ganz schöner Brocken. Die Umdrehungszeit um die eigene Achse beträgt 24 Stunden und 24 Minuten, die Umlaufzeit 576 Tage. Die Schwerkraftmessung ergab 1,5 Gravos.« »Einskommafünf?« staunte der Captain. »Mannomann, die Bewohner müssen die reinsten Muskelpakete sein! Wir kämen dort nur sehr langsam voran.« »Von einer Landung rate ich dringend ab«, warnte ihn der Ortungsoffizier. »In ungefähr zwei Wochen kommt es zur Kollision mit dieser Sonne vom Typ KV, wahrscheinlich eher früher. Diese K-Sonne und ihr System stammen eindeutig aus Drakhon und rasen mit etwa einem Drittel der Lichtgeschwindigkeit heran. Die Entfernung der beiden Sterne zueinander beträgt noch sechs Lichttage.« »Das also ist der Grund für den panischen Notruf«, resümierte der Captain. »Vielleicht ist jemand dort unten notgelandet, sitzt jetzt fest und weiß, was ihm bald bevorsteht.
Oder der Planet ist bewohnt. Das wäre furchtbar, denn wir könnten unmöglich alle retten.« »Fordern wir weitere terranische Raumschiffe an?« fragte Agio. »Zunächst einmal unterrichten wir das wissenschaftliche Zentrum von den aktuellen Meßergebnissen und Marschall Bulton vom Notruf«, entschied Jana. »Während wir uns dem bedrohten Sonnensystem mit gebotener Vorsicht weiter nähern, werden wir laufend versuchen, mit dem unbekannten Funker in Kontakt zu treten. Vielleicht gelingt es uns, über den Translator einen halbwegs verständlichen Dialog zu führen.« »Das dürfte schwierig werden«, meinte der Funkoffizier. »Soweit ich das beurteilen kann, handelt es sich um einen recht primitiven Hypersender. Bisher hat man unsere Antwort noch nicht empfangen. Wir probieren es weiter.« * Danogs Hoffnung auf Rettung aus dem All schwand allmählich dahin. Hatte er all seine Arbeitskraft umsonst verschwendet? War die Errichtung der mächtigen Funkanlage der größte Flop seines Lebens? »Nur Geduld, das wird schon noch«, versuchte Monik Vegra, ihn seelisch aufzurichten. »Alles braucht seine Zeit.« »Zeit ist genau das, was uns am meisten fehlt«, erwiderte Danog ut Keltris. »Sie rast uns in irrsinnigem Tempo davon.« »Willst du etwa aufgeben?« fragte ihn Ugur Laprek, der am Funkpult saß. »Ich glaube fest daran, daß uns irgendwann irgendwer hören wird. Vorhin hatte ich kurz das Gefühl, eine Antwort zu bekommen. Leider war da nichts als ein leises, undefinierbares Geräusch im Kopfhörer.« »Angesichts deiner poetischen Ergüsse geht doch jedes fremde Raumschiff sofort auf Fluchtkurs«, flachste sein Bruder Aris. »Feuer wird vom Himmel fallen – was für ein
haarsträubender Blödsinn!« »Ach ja?« entgegnete Ugur gereizt. Er fühlte sich in seiner dichterischen Ehre gekränkt. »Der Herr Literaturkritiker weiß wieder mal alles besser, wie? Von mir aus kannst du gern einen neuen Notruf texten. Ich bin schon gespannt, was dabei herauskommt.« »Wenn Kinder sich streiten, sind sie gesund«, flüsterte Monik Danog zu. »Du willst doch nicht ernsthaft aufgeben, oder?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, wir machen weiter. Der Funkruf wird so lange ausgestrahlt, bis wir Antwort bekommen – oder die Anlage zusammenbricht.« * Fünfundachtzig kleine Zeiteinheiten nach dem Tag der Wahrheit – vormittags Danog jagte in seinem Elo die Bergstraße hoch. Der Wagen war neu, doch darauf nahm er keine Rücksicht. Früher hatten ihn Kratzer im Lack jedesmal furchtbar aufgeregt – heute hätte er diese Sorge gern gehabt. Seine Gedanken waren bei Dreang. Er würde sie mitnehmen, notfalls gegen den Willen ihres Vaters, wenn es sein mußte, auch gegen ihren eigenen. Es gab keine Zeit zu verlieren. Die wenigen noch existierenden Medienstudios verbreiteten schon seit gestern Meldungen über leichte und mittelschwere Erdbeben auf Walf. Offenbar wirkte die Anziehungskraft der zweiten Sonne schon. Die Planetenbahnen verschoben sich. Jeder Tag konnte der letzte sein. Sechs kleine Zeiteinheiten zuvor war das Wunder geschehen: Walf hatte Kontakt zu fremden Raumfahrern aufgenommen. Dazu war eine totale Funktionsprüfung der Funkanlage
nötig gewesen. Erst nachdem Monik und ihr Team diverse neue Justierungen vorgenommen und eine durchgebrannte Spule ausgewechselt hatten, hatten sie endlich, endlich eine Antwort auf ihren Notruf erhalten. Aufgrund weiterer technischer Fehler sowie sprachlicher Verständigungsschwierigkeiten war die Kommunikation nur mühsam zustandegekommen. Nach und nach hatte Ugur den Fremden ihre Situation erklären können. Sein Gesprächspartner, ein Raumschiffskommandant namens Jana, hatte ihm versichert, von seinem Heimatplaneten Terra eine Rettungsflotte anzufordern. Seit heute morgen wußten Ugur, Danog und alle, die am Bau der Funkanlage beteiligt gewesen waren, daß die Flotte nicht kommen würde. Zwischen dem am Rande des TroustSystems stehenden Raumschiff und Terra gab es keine Verbindung mehr. Somit stand nur dieser eine einzige Raumer für die Evakuierung zur Verfügung. Mittags wollte er an der Burg zur Landung ansetzen und eine begrenzte Anzahl Personen aufnehmen. Moniks Funkanlage diente dabei als Leitstrahl. Danog traf bei der Villa des Professors ein. Dreangs Mutter ließ ihn herein. Berkel Mintka sprang wütend aus seinem Sessel auf. Seine Frau beschwichtigte ihn, und er setzte sich wieder hin. Mit mürrischer Miene hörte er sich an, was der Besucher zu sagen hatte. Dreang war sofort bereit, Danog zu begleiten. »Wenn es nur diese eine Möglichkeit gibt, unser Leben zu retten, sollten wir sie nutzen«, sagte sie zu ihren Eltern. Der Professor blieb stur. Er weigerte sich, sein Haus zu verlassen. Wenigstens ihre Mutter wollte Dreang bei sich haben, doch die lehnte ebenfalls ab. »Der Treueid, den dein Vater und ich
einst ablegten, hat für mich Gültigkeit in guten und in schlechten Zeiten. Ich gehöre an seine Seite, bis in den Tod.« Schweren Herzens verabschiedete sich Dreang von ihrer Mutter. Als sie sich ihrem Vater zuwandte, drehte er sich um und verließ das Zimmer. Durchs Fenster beobachtete Mintka, wie seine Tochter zu Danog ins Elo stieg und beide davonfuhren. Der Professor betätigte sein Sprako. Kurz darauf war er mit dem Medienturm verbunden, der nur noch mit einer Notbesetzung betrieben wurde. Schon bald wußte man in ganz Legran und den umliegenden Ortschaften von der bevorstehenden Landung des terranischen Raumschiffs, mit dem sich »der Paria Danog und seine Mitverschwörer« (Originalton der ausgestrahlten Meldung) absetzen wollten. * Der letzte terranische Befehl, der auf der FO XVII eingegangen war, hatte gelautet: »Gehen Sie kein Risiko ein, Captain Jana! Die Landung auf dem bedrohten Planeten ist Ihnen nur gestattet, wenn Leib und Leben Ihrer Besatzung nicht gefährdet werden.« Der Captain hatte versprochen, sich wieder zu melden, sobald er Einzelheiten in Erfahrung gebracht hatte. Das war vor sechs Tagen gewesen. Seither war der Hyperfunk zur Erde aufgrund erneuter galaktischer Magnetstürme durchgehend gestört. In der Hoffnung, daß sich das noch ändern würde, hatte Charlie Jana den Walfen zugesichert, eine Rettungsflotte anzufordern. Leider konnte er sein Wort nicht halten. Auch die Verbindung mit Walf war streckenweise sehr schlecht gewesen. Inzwischen hatte die Mannschaft der FO XVII jedoch genügend Informationen zusammen, um sich ein
Bild von der brisanten Lage auf dem Planeten machen zu können. Trotz der großen Gefahr und der Aussichtslosigkeit ihrer Hilfsbemühungen beschlossen die Frauen und Männer an Bord einhellig, auf Walf zu landen. Ort und Zeitpunkt der Landung teilte man der Gruppe am walfischen Hyperfunksender mit. Eile war geboten. Die beiden Sonnen standen schon sehr dicht beieinander, die Planetenbahnen wurden instabil. Die Bordwissenschaftler hatten der Besatzung eindringlich klargemacht, wie lebensgefährlich es war, tiefer in dieses System einzudringen. Jederzeit konnte es zum Kollaps der Gravitationsfelder kommen. Im Anflug auf Walf bekamen Captain Jana und seine Leute zu spüren, daß es sich dabei um keine Übertreibung gehandelt hatte. Der Forschungsraumer wurde durchgeschüttelt wie ein Einhandsegler mitten auf dem Meer bei Ausbruch eines Orkans. Der Kommandant, der höchstpersönlich die Steuerung des Raumschiffs übernommen hatte, beabsichtige nicht, »zu sinken«. Mit äußerster Konzentration lenkte er die FO XVII durch die immer stärker werdenden Turbulenzen. * Auch Danog mußte sich an seinen Lenkhebeln konzentrieren. Noch hatte er die Burg nicht erreicht. Die bebende Straße unter ihm verhieß nichts Gutes. Plötzlich tat sich ein breiter Riß vor ihm auf. Reaktionsschnell lenkte er nach rechts. Sein Elo schoß über einen Straßengraben, überschlug sich und blieb am Waldrand liegen. * Fünfundachtzig kleine Zeiteinheiten nach dem Tag der
Wahrheit – mittags Walf stand kurz vor der Vernichtung. Auf dem gesamten Planeten brach das todbringende Chaos los. Wer noch konnte, verfolgte es auf dem Heimbildschirm mit: Gewaltige Flutwellen überschwemmten die Küstenregionen und streckten ihre feuchten Klauen auch nach dem dahinterliegenden Festland aus. Vulkane spien schwarzen, giftigen Rauch in die Atmosphäre und begruben mit ihrer Lava Städte und Dörfer unter sich. Den Rest besorgten schwere Erdbeben. Die originelle Architektur der Walfen ging gnadenlos zu Bruch. Runde Wohnhäuser mit Spitzdächern, dreieckige, buntbemalte Lagerhallen, schräge Türme und gläserne Kulturdenkmäler zerbarsten, zerschellten, zerplatzten, zersplitterten, zerbröckelten... Tausende Walfen starben unter den Trümmern. Jeden konnte es als nächsten treffen. Einige, die schon zuviel vom Blut des Verbrechens geleckt hatten, ließen das Plündern trotzdem nicht sein. In ihrer Gier zogen sie Tote und Schwerverletzte unter den Trümmern hervor und raubten ihnen das letzte Hemd. Inmitten des Tumults kam es zu Schlägereien, Totschlag und Vergewaltigung. Sabor Krotars Mörder, Erol, fand man mit gebrochenem Genick am Straßenrand. Kein Unfall – ein anderer Jugendlicher hatte sein motorisiertes Zweirad gewollt... Zu den Hochhäusern, die in sich zusammenbrachen, als wären ihre Stahlträger nur Streichhölzer, gesellte sich schon bald der Legraner Medienturm. Abrupt verlöschten in der gesamten Umgebung die Bildschirme. Die Rundfunkempfänger gaben ebenfalls keinen Mucks mehr von sich. Vom blutigen Kampf um Danogs Burg berichtete ohnehin niemand. Zwar gab es in dem aufgebrachten Pulk, der die Festung von allen Seiten stürmte, auch einige Journalisten, aber
die waren nicht zur Berichterstattung gekommen. Wie alle anderen verlangten sie lautstark nach einem Platz im Raumschiff der Fremden. Voller Panik und Angst trampelten sich viele Hilfesuchende gegenseitig zu Tode. Ihr blinder Haß richtete sich gegen all die, die sie auf der Burg oder an der Funkanlage antrafen. Wissenschaftlern und Technikern schnitt man kurzerhand die Kehle durch oder erwürgte sie mit bloßen Händen. Zu den Opfern zählte auch der Bergbauingenieur Jurge Ribor, der bis zuletzt zu seinem Arbeitgeber gestanden hatte. Um die Antenne band man feste Seile, dann wurde sie mit gemeinschaftlichen Kräften umgerissen. Die übrige Funkanlage steckte der Mob in Brand. Auch die Burg brannte an vielen Stellen. Der Pöbel durchsuchte die Räume nach Danog. Hätte man ihn gefunden, er wäre wohl in Stücke zerhackt worden wie die Möbel, an denen sich die Tobenden ausließen. Monik, Ugur und Aris konnten sich in den Burgkeller retten. Daß sie keine Chance mehr hatten, das Raumschiff zu erreichen, war ihnen nur zu bewußt. Sie hofften, hier unten wenigstens in Frieden auf den Tod warten zu können. Selbst das war ihnen nicht vergönnt. Ein aufgebrachter Pulk brach die Tür zum Burgkeller auf. Bewaffnet mit Fackeln, Knüppeln und Messern betraten fünfzehn bis zwanzig haßerfüllte Männer das Gewölbe. In ihren Pupillen flackerte die pure Mordlust. Monik und ihre Lebensgefährten traten ihnen mutig entgegen. Auch sie waren nicht unbewaffnet. Zwar hatten sie sich seinerzeit geschworen, die Sammlerstücke aus der ehemaligen Kerkerzelle niemals gegen jemanden einzusetzen – aber das war in einem anderen Leben gewesen. Während Ugur mit dem Schwert eine blutige Schneise in die Angreifer schlug, durchbohrte Aris gleich zwei Gegner mit einem einzigen Speer und nagelte sie dabei regelrecht an die
Wand. Monik wehrte sich mit einem Morgenstern ihrer Schuppenhaut. Wer ihr zu nahe kam, dem zerbrach sie alle Knochen im gepanzerten Leib. In ihren letzten Hieb legte sie soviel Kraft, daß es einem der Männer den häßlichen Kopf von den Schultern riß. Letztlich siegte die Übermacht. Ugur, der sein Schwert verloren hatte und nun wild mit den Fäusten um sich schlug, wurde von drei Mann festgehalten, während ihn ein vierter hinterrücks mit einem Tuch erdrosselte. Aris schlug man so lange mit dem Kopf gegen die Kellermauer, bis sein Schädel wie eine überreife Frucht zerplatzte. Steine fielen von der Kellerdecke. Wer noch lebte, rannte zur Treppe. Zwei Männer unternahmen keinen Fluchtversuch mehr. Sie hatten nur Augen für Monik, mit der sie »noch etwas Spaß« haben wollten, bevor das Ende kam. Angstvoll wich die Walfenfrau vor ihnen zurück. Ihr Blick fiel auf Ugurs Schwert, das zu ihren Füßen lag. Rasch hob sie es auf und rammte es sich in den Leib. Als ihre enttäuschten Peiniger nach oben wollten, stellten sie zu ihrem Entsetzen fest, daß sie lebendig eingeschlossen waren. Der einzige auf der Burg, der friedvoll in den Tod ging, war der ehemalige Verwalter und Spielwarenhändler Prom Pelt. Bereits am frühen Morgen hatte er Danogs Turmzimmer zum Meditieren aufgesucht. Vom Eindringen des Pulks bekam er nichts mit, so tief war er in sich versunken. Da sich der Eingang zum Zimmer nur durch einen geheimen Hebel in der Wand öffnen ließ, blieb der Meditierende bis zuletzt unentdeckt. Die Hitze der Flammen, die ringsum am Mauerwerk emporzüngelten, spürte Prom Pelt nicht. Erst als sich die Turmspitze zur Seite neigte, um kurz darauf in den Burghof zu
stürzen, blinzelte er leicht mit einem Auge. * Obwohl nach dem Umsturz der Antenne das Funksignal ausblieb, hatte man an Bord der FO XVII den Ausgangspunkt des Signals sicher erfaßt. Das Raumschiff befand sich bereits kurz vor dem Ziel. Für eine Landung war es schon zu spät. Naturgewalten brachten Tod und Zerstörung über Walf. Überall auf dem Planeten löste sich die Zivilisation in Chaos auf. Über die Teleoptik beobachteten Captain Charlie Jana und sein I.O. Frank Agio, was sich bei den umkämpften Ruinen von Danogs Burg abspielte. »Wenn wir landen, stürmt der wahnsinnige Mob unser Raumschiff und zerstört es«, befürchtete der Captain. »Für einen Platz auf der FO XVII massakrieren die sich gegenseitig«, pflichtete ihm der Erste bei. »Wir können ihnen nicht helfen. Unsere Landung würde alles nur noch schlimmer machen.« Die Bordoptik tastete die Umgebung ab. Dabei erfaßte die Ortung zwei Personen am Waldrand: Ein Walfenmann zog eine Walfenfrau aus einem stark beschädigten Fahrzeug. In der Nähe bewegte sich eine dritte Person durchs Dickicht. »Wir sollten wenigstens die beiden dort mitnehmen«, schlug Agio vor. »Als letzte Überlebende eines sterbenden Planeten könnten sie ihre Rasse neu erschaffen, wie in der Legende von Adam und Eva.« »Gut, ich schicke zwei Mann in einem Beiboot herunter«, stimmte Jana zu. »Zwei kräftige Männer«, riet ihm sein erster Offizier. »Die Kerle da unten sehen aus, als hätten sie die Beulenpest. Sogar die Frauen sind über und über mit Muskeln bepackt.«
* Danog glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Über ihm öffneten sich die dunklen Wolken, und ein tropfenförmiges Fluggerät senkte sich herab. Etwas unterhalb der Paßstraße setzte es zur Landung an. Dreang lag noch halb bewußtlos im Gras. Ihr war, als würde sie alles durch einen Schleier sehen. Was um sie herum geschah, erschien ihr wie ein unwirklicher Traum. Danog lächelte sie zärtlich an. »Ich liebe dich«, sagte er, und es klang wie aus weiter Ferne. »Laß uns den Treueid ablegen«, bat sie mit leiser, bebender Stimme. »Wenn Walf nicht mehr existiert, ist es zu spät dafür. Ich will immer treu zu dir halten und dich ewig lieben.« »Auch ich schwöre dir meine ewige Treue und Liebe«, erwiderte Danog. Es war keine würdevolle Zeremonie, dennoch war ihnen feierlich zumute. Die beiden Insassen des Fluggeräts waren ausgestiegen und kamen langsam näher. Obwohl die Luft auf Walf für Menschen atembar war, hatte der Captain angeordnet, wegen der einsetzenden Strahlenverseuchung Raumanzüge anzulegen. Dadurch sahen sie für Danog wie unheilbringende Monster aus. War das die Gestalt des Todes? Weil die Schwerkraft auf Walf fünfzig Prozent höher war als auf der Erde, bewegten sich die Männer von der FO XVII nur sehr schwerfällig – und überaus vorsichtig, denn ein Sturz hätte hier weitaus schlimmere Auswirkungen als daheim. Sie bemerkten, wie sich eine dritte Person mit einem schweren Ast in den Händen an das Paar heranschlich und versuchten, den Walfenmann durch Gestik zu warnen. Danog verstand die aufgeregten Gesten falsch. Er spürte, daß die Fremden es gut mit ihm meinten und wollte Dreang
aufheben, um sie zu ihnen zu bringen. Plötzlich traf ihn ein harter Schlag ins Genick. Professor Berkel Mintka hatte zu Danogs Burg fahren wollen, um noch einmal mit seiner Tochter zu reden und zu verhindern, daß sie mit dem verhaßten Verräter auf und davon ging. Auf der Fahrt dorthin hatte er Danog aus dem Elowrack steigen sehen und abgebremst. Anschließend hatte er seinen Wagen bis zur letzten Abzweigung der Paßstraße zurückgesetzt, ihn oberhalb des Felssturzes abgestellt und sich im Schutz des Walddickichts angeschlichen. »Ihr Dämonen werdet sie nicht bekommen!« schrie er die Raumfahrer an und drohte ihnen mit der Faust, ohne zu ahnen, daß diese Geste auf der Erde das gleiche bedeutete wie auf Walf. Die schrecklichen Ereignisse hatten ihn innerlich zermürbt. Sein Verstand war angegriffen, zeitweise war er nicht mehr Herr seiner Sinne. Der Professor legte sich seine Tochter über die Schulter und lief zu dem Platz, an dem er sein Elo geparkt hatte. Danog war hart im Nehmen. Taumelnd kam er wieder auf die Beine. Er ahnte, was Mintka vorhatte. Mit einem verzweifelten Aufschrei rannte er hinter ihm her, ohne die geringste Chance, ihn rechtzeitig einzuholen. Als er an den beiden Raumfahrern vorbeikam, versuchten sie, ihn festzuhalten, denn die Zeit drängte. Danog wischte sie mit einem leichten Handstreich beiseite wie lästige Insekten. Beide stürzten zu Boden, dank der schützenden Anzüge verletzten sie sich aber nur leicht. Professor Berkel Mintka warf sich über die Leitplanke, die den Steilhang absicherte, und nahm Dreang mit in den Tod. Danog war so verzweifelt, daß er seiner Liebsten folgen wollte. Er machte Anstalten über die Sperre zu klettern. Da traf ihn ein Schuß. Einer der Terraner streckte ihn mit seinem Schocker nieder.
Über Helmfunk befahl Captain Charlie Jana seinen Männern, den Walfen mit an Bord zu bringen. »Die Atmosphärenanalyse hat ergeben, daß die Strahlenbelastung noch verhältnismäßig gering ist. Ein kurzer Aufenthalt in der Dekontaminierungsstation dürfte genügen. Und jetzt beeilt euch, um Gottes willen! Wir müssen sofort raus aus diesem tosenden Sonnensystem, sonst garantiere ich für nichts!« * Als Danog wieder zu sich kam, hatte er die Entgiftung schon hinter sich. Ein Wachmann führte ihn in die Zentrale der FO XVII. Dort war man verwundert darüber, daß der Walfe kaum noch unter der Schockparalyse litt. Noch mehr wunderten sich die leitenden Offiziere über das Wohlgefühl, das sie in Danogs Nähe überkam. Angesichts der angespannten, gefährlichen Situation angenehme Empfindungen zu verspüren, war schon irgendwie unheimlich. Der Forschungsraumer jagte durchs All. Gleich würde er die Transitionsgeschwindigkeit erreicht haben. Eine Nottransition war Jana zu riskant erschienen, man wußte dabei nie, wo man herauskam. Während Captain und Mannschaft die Transition einleiteten, verfolgte Danog am Bordbildschirm Walfs grausamen Untergang mit. Unter dem Einfluß der fremden Schwerkraft verformte sich der Planet. Kein noch so stabiler Bunker konnte dieser allmächtigen Energie standhalten. Die Vorstellung, daß in diesem Augenblick unzählige Walfen in ihren Schutzräumen zerquetscht wurden, ließ Danog innerlich erzittern. Äußerlich merkte man ihm nichts an. Ein paar wenige raketenbetriebene Raumschiffe hatten es bis in Walfs Umlaufbahn geschafft. Die trügerische Sicherheit, welche die Insassen empfanden, war nur von kurzer Dauer. Die
wunderschöne Welt Walf zerlegte sich in ihre Bestandteile. Ihre Trümmer, von denen die meisten winzig klein, andere fast so groß wie Kontinente waren, jagten hinaus ins All und pulverisierten die zerbrechlichen Raketenschiffe. Der Mond, den einige zu erreichen gehofft hatten, zog sich in die Länge, dann zerfiel er in eine Trümmerwolke, die sich mit denen von Walf vermischte. Als letztes sah Danog seinen Heimatplaneten wie ein trockenes Stück Brot auseinanderbrechen. Dann setzte die Transition ein, vor der ihn niemand gewarnt hatte... * Auch die letzte Phase der Katastrophe erlebte Danog am Bildschirm in der Zentrale mit, diesmal aus sicherer Entfernung. Nach der Transition stand er noch immer auf dem selben Fleck wie vorher. »Man könnte meinen, er sei zu Stein erstarrt«, raunte der Captain seinem Ersten zu und dachte im stillen: Kein kaltes Gestein, sondern eines, das wohlige Wärme ausstrahlt. Selbst gestandene Raumfahrer bewältigten die Nachwirkungen der Transition nur sehr schwer, meistens mit Hilfe von Medikamenten. Hingegen schien der unfreiwillige Gast an Bord überhaupt nichts zu spüren. Das stimmte jedoch nur zum Teil. Zwar war Danog tatsächlich in der Lage, die Auswirkungen besser zu verkraften als ein Mensch, aber völlig spurlos war auch an ihm die Transition nicht vorübergegangen. Seine Gehirnwellen vollführten einen unheimlichen Tanz und lösten Angstgefühle in ihm aus. Trotzdem verzog er keine Miene. Seine Angst mischte sich mit dem Entsetzen, das er beim Anblick der beiden Sonnen empfand, die auf dem Bildschirm zu einem riesigen Feuerball verschmolzen. Kurz darauf explodierten sie in einem mächtigen Blitz.
Riesige Flammenfinger breiteten sich nach allen Seiten aus, als wollten sie das ganze Weltall versengen. Dann war da nur noch pechschwarze Dunkelheit. Troust gab es nicht mehr. »Komischer Kauz, dieser Fremde«, meinte Frank Agio. »Vor seinen Augen erlischt alles Leben in seinem Sonnensystem, und er scheint kein bißchen Trauer zu empfinden. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie der letzte Mensch im ganzen Universum wären, Captain? Keine Freunde, keine Familie – kein Platz mehr, wo Sie hingehören. Alles, was Sie je geliebt haben, wäre verschwunden, auch die Berge und Täler, die Sie früher so gern durchwanderten – mitsamt der Sonne, die Sie einst wärmte. Die Aussicht, irgendwann einmal einem anderen Menschen zu begegnen, wäre gleich Null. – Ich würde bittere Tränen weinen.« »Vielleicht können Walfen nicht weinen«, äußerte Captain Jana eine Vermutung. Danog stand mit dem Rücken zu ihnen. Hätten sie ihn von vorn gesehen, wäre ihnen das Wasser aufgefallen, das in seinen senkrechten Pupillenschlitzen stand. Er schloß kurz die Nickhäute... ... und eine einsame Träne rann seine dunkelrot schimmernden Wangen hinunter. Walfen weinten nicht. Nie.
10. Was geschehen war, vermochte niemand zu sagen. Hatte die Strahlung auch den Checkmaster soweit beeinflußt, daß er die Wiedereintrittskoordinaten der Nottransition falsch berechnet hatte? Das hielten weder Anja Riker noch Ren Dhark oder Arc Doorn für möglich. »Bei Nottransitionen erfolgt keine vorherige Sprungberechnung«, versicherte Anja, die absolute und unerreichte Expertin auf dem Gebiet der M-Mathematik war. »Das ist bei den Mysterious nicht anders als bei den Nogk oder Giants oder Utaren, oder wie immer sie auch heißen!« Aber was war dann die Ursache für den Fehlsprung? Sofern es denn überhaupt einer war... denn diese Nottransition hatte die POINT OF nicht nur aus dem Wirkungsbereich des Strahlensturms gebracht, sondern auch ein gewaltiges Stück in Richtung Shir-Planet. Der Ringraumer befand sich bereits im Randgebiet der Zweiten Galaxis. Sollte die Fluchtreaktion vielleicht mehr gewesen sein als nur eine Nottransition? Doorn und Congollon checkten den Energieverbrauch. Der war enorm, aber nicht kritisch – der Zustand der 26 kugelförmigen Konverter gab keinen Grund zur Besorgnis. Immerhin hatten sie nicht aus dem Exspect heraus transitieren müssen... »Wir sind fast wieder genau auf der Sternenstraße, die wir schon einmal benutzt haben«, meldete Lionel. »Die Abweichungen sind minimal.« »Dann müßten wir doch eigentlich auch den Peilstrahl vom Signalstern auffangen können!« meinte Ren Dhark. Als sie damals in die Zweite Galaxis geflogen waren, hatte dieser Peilstrahl sie erfaßt und auch bei den Hyperraumsprüngen von einer künstlich geschaffenen Transitionsinsel zur anderen nicht
mehr verloren, sondern immer wieder berührt. Über diesen Peilstrahl war nicht nur mit einer Gigantleistung der permanente Ruf »Ron wedda wi terra« der Mysterious zu ihnen gekommen, sondern sie waren auch via Hyperraum über eben diesen Peilstrahl permanent mit Energie versorgt worden. Bevor sie das feststellten, waren sowohl Arc Doorn als auch sein Chef Miles Congollon beinahe verzweifelt, weil niemand sich erklären konnte, wieso die POINT OF in der Lage war, unglaubliche Entfernungen zu überbrücken, ohne daß auch nur ein winziger Funken Energie verbraucht worden war... Aber den Peilstrahl gab es jetzt nicht mehr. Doorn stellte es zuerst fest, weil die POINT OF meßbaren Energieverbrauch zeigte, und Glenn Morris in der Funk-Z bestätigte das wenig später, weil der Dauerfunkspruch, der vor tausend Jahren alle Mysterious zum Rückzug von allen ihren Welten bewegt hatte, nicht mehr festzustellen war. Damals, als die POINT OF mit den letzten Saltern zurück zur Erde flog, hatte Ren Dhark gedacht: Eines Tages wird ein Mysterious zum Signalstern fliegen und diese Dauersendung abschalten, weil sie keine Gültigkeit mehr hat. Das lag erst ein paar Monate zurück und doch eine Ewigkeit, in der Träume wie Seifenblasen zerplatzt waren. Und nun sendete der Signalstern nicht mehr, auch ohne von einem der Geheimnisvollen – oder der Hohen, wie der Goldene Vonnock sie genannt hatte – abgeschaltet worden zu sein. Der Hyperraumblitz hatte auch ihn lahmgelegt. Immerhin besaß der Checkmaster noch die Daten über das Doppelsonnensystem mit 14 Planeten, darunter Tarrol, die Medo-Welt, die Olan fälschlich als Erron 2 bezeichnet hatte, aber so wie die Salter nicht die letzten Mysterious gewesen waren, war Tarrol alles andere als Erron 2! Ebenfalls noch gespeichert waren die Daten über den Planeten der Shirs. Dhark war gespannt darauf, wieviel von diesen Daten der
Wirklichkeit entsprach. Damals hatten sie dem System und seinen Planeten nicht einmal Namen gegeben, so überraschend war alles gekommen, und später hatte niemand mehr Interesse daran gezeigt, niemand mehr daran gedacht, weil die Ereignisse die Menschen einfach überrollt hatten. Aber jetzt taufte Ren Dhark die beiden Sonnen auf die Namen Shir 1 und Shir 2, und den Planeten, auf dem die Salter so lange gelebt hatten, bis die Begegnung mit den Terranern ihnen Hoffnung gab und sie das Leben kostete, im Gedenken Salteria. Da die Koordinaten des Systems noch existierten, brauchte der Checkmaster sie nur mit der neuen galaktischen Position Drakhons zu vergleichen, und konnte dann das Shir-System zielsicher ansteuern. Beim weiteren Einflug in Drakhon machte sich bereits ein erster krasser Unterschied zu damals bemerkbar. Als die POINT OF die Zweite Galaxis zum ersten Mal erreichte, war diese Sterneninsel hyperfunktechnisch stumm. Die Menschen an Bord des Ringraumers hatten gerätselt, ob sie es mit einer völlig toten Milchstraße zu tun hatten, in der alles Leben längst ausgestorben war oder niemals existiert hatte. Jetzt dagegen herrschte reger Funkverkehr auf allen überlichtschnellen Frequenzen. »Unfaßbar«, stieß Riker hervor. »Kann es wirklich sein, daß die Shirs uns schon damals, noch ehe wir ihren Planeten fanden, manipuliert haben?« Er überschätzte ihre Fähigkeiten! Aber er war ahnungslos wie jeder andere an Bord, doch daß jetzt im Gegensatz zum Szenario vor etlichen Wochen ein derart lebhaftes Treiben herrschte, gab auch dem letzten im Schiff zu denken. Welche mehr oder weniger wunderbaren Zivilisationen mochte diese Milchstraße im Laufe ihrer Existenz hervorgebracht und zu den Sternen geführt haben?
Es war jetzt zweit- oder drittrangig, obgleich es nicht nur Dhark in den Fingern juckte, ein paar Stunden zu opfern und wenigstens einer der hiesigen Zivilisationen nachzuspüren. Aber im Gegensatz zu früher, wo er diesem Verlangen möglicherweise nachgegeben hätte, siegte diesmal die Vernunft. Vielleicht spielte auch eine Rolle, daß er den Astrophysikern einen Ausflug ins Exspect verweigert hatte – was er anderen nicht erlaubte, konnte er sich selbst auch nicht gestatten, ohne seine Glaubwürdigkeit einzubüßen. Von der aktuellen Position an der Peripherie Drakhons aus wollte er eine Transition über 1.200 Lichtjahre in die unmittelbare Nähe des Shir-Systems durchführen. Aber der Raumsprung endete bereits bei einer Distanz von gerade mal drei Lichttagen! Im ersten Moment wunderten Dhark und die anderen in der Zentrale sich nur darüber, daß sich die Wiedergabe der Bildkugel kaum verändert hatte. Deshalb glaubte der Commander zunächst an einen Berechnungsfehler – bei der Eingabe der Sprungkoordinaten mußte ein Komma gewaltig verrutscht sein! Doch die Überprüfung der gespeicherten Daten zeigte, daß sie völlig korrekt eingegeben worden waren. Dennoch war die POINT OF keine eintausendzweihundert Lichtjahre weit transitiert, sondern ziemlich genau 78 Milliarden Kilometer weit! »Tino, arbeitet Ihre Ortung korrekt?« wollte Hen Falluta, Erster Offizier des Ringraumers, mißtrauisch wissen. »Absolut korrekt! Yell und ich wollten es auch erst nicht glauben, weil es doch Mumpitz ist, eine so lächerliche Distanz per Transition zurückzulegen, statt mal eben mit dem Sternensog rüberzuhuschen...« In dieser Form waren offizielle Unterhaltungen auch nur im Flaggschiff der TF möglich! In jedem anderen Raumer hätte Grappa für diese lässige Ausdrucksweise einen gewaltigen
Anpfiff bekommen. Falluta rief zum Maschinenraum durch. Da hatte man sich beim Blick in die dortige Bildkugel auch schon Gedanken gemacht. »Doorn checkt gerade den Energieverbrauch«, teilte Miles Congollon mit. Wenig später meldete sich der Sibirier selbst. »Die Speicherbänke haben genau so viel Energie an den Antrieb geliefert, wie für eine Transition über 1.200 Lichtjahre gebraucht wird! Aber warum zum Teufel sind wir dann nur einen Steinwurf weit gekommen?« Hinter Dhark und Falluta murmelte Dro Cimc, der sich nach tagelanger Zurückgezogenheit auch mal wieder in der Zentrale sehen ließ: »Diesen Steinwurf hätte ich aber nicht durchführen mögen. Seid ihr Terraner wirklich so sportlich?« »Arc«, sagte Ren Dhark, »wir hatten gehofft, Sie könnten den Grund für diese Transitionsverkürzung herausfinden...« »Ich bin Techniker, kein Hellseher«, konterte der Sibirier. »Ich find's trotzdem raus. Ist ja fast, als wären wir mitten ins Exspect hineingesprungen...« Er hatte zu viel versprochen. Er war nicht in der Lage, den Grund für den Fehlsprung zu ermitteln, und selbst der Checkmaster kapitulierte vor der ihm gestellten Aufgabe. Allerdings warnte das Bordgehirn der POINT OF vor weiteren Transitionen, weil die einen unverhältnismäßig hohen Energieverbrauch mit sich bringen würden. »Woher will das verdammte Mistding das wissen, wenn es doch nicht mal sagen kann, was diesen Fehlsprung und den erhöhten Verbrauch hervorgerufen hat?« knurrte Doorn. »Langsam aber sicher sollten wir den Checkmaster verschrotten! Der schafft doch nichts mehr...« Vorher hatte eine Bemerkung des Sibiriers Dhark aufmerksam werden lassen. Über die Bordverständigung nahm er Kontakt mit Vandekamp auf. »Können Sie den uns direkt umgebenden Weltraum in Hinsicht auf Exspect-Effekte
untersuchen?« »Ein Exspect innerhalb einer Galaxis?« glaubte der Kontinuums-Experte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. »Das ist doch völlig unmöglich!« »Vielleicht motiviert mein Verdacht Sie und Ihre Kollegen, daß in einem solchen Phänomen die Ursache für unsere verkürzte Transition zu finden sein könnte.« Wer Dro Cimc, der Tel, der nach wie vor gern gesehener Gast an Bord des Ringraumers war, schüttelte den Kopf. »Geht jetzt nicht die Fantasie mit Ihnen durch, Dhark?« Drei Stunden später forderte Vandekamp zusätzliche Rechnerkapazität des Checkmasters für die astrophysikalische Abteilung an. Nur kurz darauf stürmte er in die Zentrale, wo das Resultat seiner Untersuchungen bereits auf den Displays vor Dhark und den anderen zu sehen war; der Checkmaster hatte die Daten auf Vandekamps Anweisung sofort an den Kommandostand überspielt. »Dhark, Sie hatten mit Ihrer verrückten Idee recht und doch wieder nicht, weil es sich definitiv nicht um ein Exspect handelt – zumindest nicht in der Form, wie wir es vom intergalaktischen Raum her kennen. Aber wir haben unerklärliche Spannungsfelder anmessen können, deren Natur sich uns noch verschließt.« Ren deutete auf das Display vor seinem Kommandositz. »Dieser Symbolzeichensalat...« »Besagt, daß der Checkmaster die Gefahr, die von diesen galaktomagnetischen Spannungsfeldern ausgeht, durchaus ernst nimmt, aber für ihr Entstehen gibt es keine Erklärung. Deshalb konnte er auch nicht erklären, wieso es zur Kurztransition mit dem verhältnismäßig viel zu hohen Energieverbrauch kam. Fest steht nur, daß die Natur dieser Spannungsfelder auf den Transitionsantrieb der POINT OF einwirkt, und das in erheblichem Maß.« »Wie sieht es mit der interstellaren Ausdehnung der Felder
aus?« wollte Ren wissen. »Sie meinen, ob es irgendwo Zonen gibt, in denen normale Transitionen möglich sind?« Vandekamp schüttelte den Kopf. »Zu riskant. Die Felder wechseln überlichtschnell und verändern ihren Wirkungsbereich ständig. Ich würde keine Transition mehr riskieren.« »Schade«, seufzte der Commander, der gehofft hatte, mit einer besonders weit führenden Transition aus dem Bereich dieser Spannungsfelder hinaus zu gelangen. »Das war doch alles bei unserem ersten Anflug noch nicht!« polterte Falluta neben ihm. »Verdammt, ist denn seit dem Hyperraumblitz plötzlich alles anders geworden?« »Was ist mit dem Sternensog?« fragte Ren. »Wirken diese Felder dann auch?« »Das müßte ausprobiert werden. Theoretisch dürfte es keine Probleme geben, weil die Intervalle ja ein eigenständiges MiniKontinuum darstellen mit eigenen... hm... Naturgesetzen. In diesen Mini-Welträumen ist es ja im Gegensatz zum EinsteinGefüge möglich, sich schneller als das Licht zu bewegen. Nur deshalb können wir mit dem Sternensog ja überlichtschnell reisen. Für eine Transition müssen die Intervalle aber bekanntlich abgeschaltet werden, der Raumsprung erfolgt gewissermaßen nackt, und die Flächenprojektoren des Ringraumers sind vor keiner Manipulation von außen geschützt. Der Antrieb korrespondiert also unmittelbar mit dem ihn umgebenden Weltraum und seinen Gesetzmäßigkeiten. Damit unterliegt er diesen aber auch, und somit ebenfalls diesen unerklärlichen Spannungsfeldern. Wie gesagt, man müßte ausprobieren, ob Theorie und Praxis sich auch hier in Drakhon decken. Garantien können Sie von mir nicht erwarten.« »Die Erklärung ist ja auch schon was«, schmunzelte Ren Dhark. »Wenn ich mir vorstelle, daß nicht Sie, sondern Arc Doorn mir diesen Vortrag gehalten hätte – der hätte das in
höchstens zwei Sätze gepreßt, nur könnte die dann keiner außer ihm selbst verstehen und wir müßten alles aus ihm herausfragen. Ich danke Ihnen, Vandekamp.« »Wir werden weiter ein Adlerauge auf diese Veränderungen halten«, sagte der Kontinuumsexperte. Er warf wieder einen Blick auf die Anzeigen. »Ich weiß nicht... irgendwie erinnern mich einige dieser Zahlen an irgend etwas...« Er verließ die Zentrale. Ren sah ihm nachdenklich hinterdrein. Auch er glaubte sich an etwas zu erinnern. Es lag schon Jahre zurück. Und es schien ihm völlig unmöglich zu sein. Deshalb sprach er über seine Gedanken nicht. Aber er hatte an die Quiet Zone der G'Loorn im Zentrum der Milchstraße denken müssen... * Überlichtschnell jagte die POINT OF dem Doppelsonnensystem der Shirs entgegen. Längst war die Parafeld-Abschirmung aktiviert, um den Shirs keine Gelegenheit zu bieten, die Menschen erneut mit ihren titanischen hypnosuggestiven Kräften unter ihre Kontrolle zu bringen und ihnen eine völlig falsche Welt vorzugaukeln. Die Bildkugel zeigte die beiden etwa gleich großen Sterne, die mit ihrem Licht in weiß und orange ihre vierzehn Umläufer anstrahlten und damit auf dem dritten und vierten Planeten für menschenfreundliche Umweltbedingungen sorgten. Die anderen Planeten waren teilweise extrem lebensfeindlich, selbst unter dem Aspekt, daß Leben sich nicht immer in den Formen zeigte, die Terraner als normal ansahen. Planet 4 – Tarrol, anfangs von Manu Tschobe auf den Namen Lazarus getauft – blieb diesmal uninteressant. Wichtig war Salteria, der dritte Planet. Die Ortungen der POINT OF tasteten den Planeten ab.
Optisch wirkte er völlig unverändert. Etwas kleiner als Terra, zeigte Salteria sich von Bergen bedeckt, mit reißenden Flüssen in tiefen Tälern. Riesige Wälder erstreckten sich bis zu den höchsten Gipfeln hinauf. Es gab vier Kontinente, von denen einer über den Südpol verlief, von Ozeanen umgeben, die im Durchschnitt nur ein paar hundert Meter tief waren. Die Überraschungen lieferte die Energieortung. Salteria war nicht die technisch tote Welt, als die sie sich den Menschen bei ihrem ersten Besuch gezeigt hatte. Jetzt zeigte sich die Qualität der nogkschen Parafeld-Abschirmung, denn deutlich zeigten sich die Meßwerte der Ortungen und besagten, daß es unter der Oberfläche enorme Energieemissionen gab, die auf ausgedehnte Industrieanlagen hinwiesen. Etwas, das damals niemand bemerkt hatte. Arc Doorn war zum Dauergast in der Zentrale geworden, hatte sich am Checkmaster häuslich eingerichtet und rief dessen Speicherdaten ab, um sie ständig mit den Werten zu vergleichen, die Grappa und Yell mit ihren Ortungen lieferten. Die Daten stimmten überein! Nicht übereinstimmend waren die Erinnerungen der Menschen. Die konnten kaum glauben, was ihnen jetzt von Doorn vorgeführt wurde. Der Checkmaster hatte auch damals schon die richtigen Meßwerte erfaßt und gespeichert, nur war niemand auf die Idee gekommen, diese Daten abzurufen, auch nicht, nachdem sich herausgestellt hatte, daß die gesamte Crew und sogar der Checkmaster selbst von den Shirs mit ihren unfaßbaren Parakräften manipuliert worden war. Die Speicherungen hatten die Shirs nicht manipulieren können! Nur hatte auf die niemand mehr geachtet... und wenn doch, dann hatte jeder nur das in den Datensammlungen gesehen, was er nach Meinung der Shirs hätte sehen sollen! Möglich war auch, daß der Checkmaster, der nachweislich selbst ein Opfer dieser Parakräfte geworden war, selbst keinen
Zugriff mehr auf seine eigenen entsprechenden Daten gefunden hatte. Jetzt aber, unter der nogkschen Abschirmung, gab es dieses Handikap nicht mehr. Von den Ortungen kam Grappas Durchruf: »Auf Salteria werden zusätzliche Energieerzeuger angefahren! Könnte auf einen Angriff hindeuten...« Nur eine Befürchtung? Oder Tatsache? Waren die Shirs in Wirklichkeit gar nicht so friedlich, wie sie sich bei der ersten Begegnung dargestellt hatten und auch von den Saltern geschildert worden waren? Ren Dhark schaltete eine Bordsprechverbindung zu den beiden Waffensteuerungen. »Clifton, Rochard... aufpassen! Wir haben mit einem planetarisch geführten Angriff zu rechnen. Grappa, Koordinaten der zusätzlich aktivierten Konverter an WS-West und WS-Ost...« »Schon geschehen!« Noch gab Ren keinen Alarm für das Schiff. Dafür erschien es ihm noch zu früh, aber es konnte nicht schaden, erhöhte Wachsamkeit für die beiden WS anzuordnen. »Weitere Konverter werden hochgefahren! Himmel – die haben einen Dampf im Kessel, als hätten die Mysterious ihre Finger in der Technik«, kam Grappas nicht ganz vorschriftsmäßige nächste Meldung. Jetzt wurden auch Falluta und Cimc unruhig. »Funk-Z!« verlangte Dhark. Walt Brugg meldete sich. »Brugg, senden Sie mit maximaler Leistung auf allen in Drakhon gängigen Frequenzen, daß wir friedlich sind, keinen Streit wollen, aber mit allen Mitteln zurückschlagen werden, wenn man uns angreift, und dabei auch das Hy-Kon einsetzen werden.« Dro Cimc schnappte nach Luft. Der Schwarze Weiße erinnerte sich an Berichte, nach denen
Ren Dhark im Bereich der Sternenbrücke die komplette Kampfflotte der dort stationierten Tel mit dem Hy-Kon vernichtet hatte, als der Oberbefehlshaber Girr-O die Mysteriouswelt Zwitt okkupieren wollte, die sich innerhalb der künstlichen Sonnenkorona der siebten Sonne befand. Cimc erinnerte sich auch an Q, jene im Auftrag des Kluis entwickelte Superwaffe der Tel, die eine ähnliche Wirkungsweise zeigte und zu der nur Offiziere im Wer-Rang Kodezugriff hatten, um unbeabsichtigte Katastrophen zu vermeiden. Hy-Kon oder Q – beides entfernte das getroffene Objekt aus dem Universum und schleuderte es dabei in einen Hyperraum, aus dem es keine Rückkehr gab. Wollte Ren Dhark Salteria tatsächlich mit dem Hy-Kon angreifen? Diese Superwaffe gab es auf Zwitt und in der POINT OF, nicht aber in den S-Kreuzern. Doch die Salter kannten die verheerende Waffentechnik der Mysterious, und damit mußte auch den Shirs klar sein, was das Hy-Kon darstellte. »Dhark«, murmelte Falluta unbehaglich. »Das meinen Sie doch nicht ernst?« »Es reicht, wenn die Shirs glauben, daß ich es ernst meine!« erwiderte der Commander. »Warnung wird als Dauersendung abgestrahlt«, meldete Walt Brugg aus der Funk-Z. »Aber, Dhark, Sie werden doch nicht wirklich mit dem Hy-Kon...?« »Ich warte auf eine Antwort vom dritten Planeten!« unterbrach Dhark den Funker. Minuten vergingen. Grappa meldete: »Energiebilanz auf Salteria bleibt stabil. Weitere Konverter werden nicht angefahren, aber die aktivierten auch nicht wieder heruntergeschaltet. Entweder haben sie ihr Maximum ausgeschöpft oder verharren eingedenk der Warnung auf dem derzeitigen Status.« Wenig später schaltete sich Walt Brugg ein. »Shirs erteilen
Landeerlaubnis. Senden Peilstrahl.« Dhark lachte leise auf. »Senden Sie, daß wir keinen Peilstrahl benötigen. Sie sollen unseren Landeplatz anmessen und uns dort begrüßen.« »Gesendet...« Brugg war kaum langsamer als sein Chef Glenn Morris, der seine Freiwache genoß. »Dhark, die Shirs bestätigen. Wir können nach eigenem Ermessen landen.« Der Commander der Planeten schmunzelte. »Dann können sie uns wenigstens nicht mit ihrem Peilstrahl in eine Falle locken, und solange sie nicht genau wissen, wo wir landen, können sie dort auch keine Falle vorbereiten, es sei denn, sie machen den ganzen Planeten dazu...« »Ich kann nicht glauben, daß die Shirs so heimtückisch sind«, sagte Dro Cimc. »So monströs wie sie aussehen, so friedlich sind sie doch auch...« »So friedlich haben sie sich uns damals gezeigt«, verbesserte Dhark. »Aber ich halte es nicht für ein friedliches Verhalten, andere mit Parakräften so zu manipulieren, daß kein einziger Mensch mehr die Realität sieht und selbst der Checkmaster mit seiner mutmaßlichen biologischen Komponente darauf hereinfällt...« Den Rest verschwieg er; die Gedankenimpulse der Shirs, die ihn erreicht hatten, als die Salter auf Terra starben. Waren die Shirs tatsächlich in der Lage, über eine so gigantische Entfernung hinweg Gedanken zu lesen und zu senden? Oder war es etwas gewesen, das sich in Ren Dhark manifestiert hatte, um stets dort überwachend und steuernd präsent sein zu können, wo er sich bewegte? Er warf Dro Cimc einen Seitenblick zu, den der Wer nicht bemerkte. Cimc war ein aufrechter, ehrlicher Vertreter seiner Art. Aus seinen Erzählungen über das Telin-Imperium wußte Dhark, daß beileibe nicht alle hochrangigen Tel so waren wie er. Und daß der Kluis, dieser gigantische Computer, der die Geschicke des Telin-Reiches über Jahrhunderte gesteuert und
Vank wie Vankko zu Marionetten gemacht hatte, ein Volk wie die Shirs gnadenlos ausgerottet hätte, wären Tel-Schiffe bei ihrem Vorstoß in Weltraumtiefen jemals auf sie gestoßen. So, wie es mit den Crekker-Tel geschehen war, diesen ParaMonstren, die durch eine Mutation zu Giganten im parapsychischen Bereich geworden waren – nur hatten ein paar Crekker das gewaltige Massaker überlebt und später die nicht umgeschalteten Robonen auf Terra im Kampf gegen die Menschen unterstützt. Als sie dann die Koordinaten Terras an den Kluis weitergaben in der Hoffnung, als letzte ihrer Art »begnadigt« zu werden, hatte der Kluis sie voller »Dankbarkeit« unverzüglich ebenfalls den Wonnen des Abgrunds übergeben lassen. Prachtvolle Wonnen... Momentan spielte der Kluis nur noch eine untergeordnete Rolle. Dro Cimc, der Vankko Crt Sagla und andere Tel hatten dafür gesorgt, daß dieser Supercomputer vorerst nur noch das tat, wofür er vor Ewigkeiten konstruiert worden war, nämlich für die Logistik im gesamten Telin-Imperium zu sorgen. Nicht mehr dafür, es zu regieren und zu tyrannisieren. Nicht allen Vankko, die im Schatten des Kluis ein sorgenfreies Leben geführt hatten und eventuelle Exzesse mit »Befehlen des Kluis« zu rechtfertigen pflegten, gefiel das. Aber auf Cromar und in Telin begann allmählich ein frischer Wind zu wehen. Derzeit noch ein laues Lüftlein. Doch vielleicht war genau das der Flügelschlag jenes Schmetterlings, der an einem anderen, weit entfernten Ort einen Orkan auslöste, wie die Chaostheorie propagierte. Angesichts des Tel entsann sich Dhark plötzlich eines Widerspruchs, den Olan von sich gegeben hatte. Daß ihm das Widersprüchliche damals nicht aufgefallen war, lag das auch an der Manipulation durch die Shirs? Als Olan Dro Cimc sah, hatte er gefragt, wer dieser sei; der Schwarze Weiße sei ihm
vom Phänotyp her völlig unbekannt! Später dagegen, in der POINT OF, beim Heimflug nach Terra, hatte er geäußert, die Mysterious hätten die Tel durchaus gekannt, ihre Welt aber nicht »übernommen«, weil die »Kontrolle« darüber zu teuer gekommen wäre. Die Salter waren nicht die Mysterious, aber bei allem Wissen, das Olan und die anderen über die Mysterious hatten, hätte dem Ältesten seines Volkes nicht dieser Fehler unterlaufen dürfen, innerhalb relativ kurzer Zeit zwei sich widersprechende Aussagen zu machen. Wenn den Mysterious der Planet Cromar und die Tel bekannt waren, hätte er nicht fragen dürfen, wie Dro Cimc einzuordnen sei... Falluta riß Dhark aus seinen Gedanken. »Wo werden wir landen? Wieder an der gleichen Stelle wie damals?« Dhark überlegte. »Nur wenn sich eine der Stellen in der Nähe befindet, die hohe Energiewerte ausweisen«, sagte er dann. »Das soll Grappa herausfinden«, beschloß Falluta. * Die POINT OF landete gut 200 Kilometer entfernt von der damaligen Stelle. Die Landeteller der 45 Doppelausleger gruben sich unter dem Gewicht des Ringraumers nicht tief in den Boden, weil A-Grav den größten Teil des Gewichts neutralisierte. Die beiden Waffensteuerungen befanden sich jetzt in Alarmbereitschaft, und in den Flashdepots warteten die Piloten auf den Einsatzbefehl. Auch wenn die Intervallfelder abgeschaltet waren und das Raumschiff ruhig und friedlich wirkte, war es fähig, von einem Moment zum anderen loszuschlagen und jeden Angriff mit allen verfügbaren Mitteln abzuwehren. »Was jetzt?« fragte Dan Riker, der wie die anderen
Führungsoffiziere jetzt wieder in der Zentrale erschienen war. »Warten wir aufs Christkind oder auf den Osterhasen?« »Auf den Pfingstochsen«, grinste Ren ihn an. »Aber ich glaube, der ist soeben eingetroffen.« »Wenn du so weiter brabbelst, solltest du schon mal die Inschrift auf deinem Grabstein aussuchen«, empfahl Riker trocken. Die Bildkugel zeigte eine völlig ruhige, unbelebte Umgebung. »Könnte mir vorstellen, daß ich an einem solchen Ort meinen Lebensabend verbringe«, brummelte Arc Doorn. »Eine kleine Blockhütte, selbstgebaut, ein Gärtchen, vielleicht ein paar Hektar klein, mit Getreide für meine kleine Wodkabrennerei, vor dem Haus ein Baumstumpf, auf dem ich sitzen und mein Pfeifchen rauchen kann, und wenn's kühl wird, brennt drinnen ein Kaminfeuer...« »Sie haben sich das Rauchen doch abgewöhnt!« entfuhr es Falluta. »Zigaretten, ja«, gestand Doorn. »Aber deshalb muß man doch nicht jedem Genuß abschwören. Naja, und dann abends die Sonnen untergehen sehen und...« »Und was sagt Ihre Frau zu diesen Träumen?« erkundigte sich der Eins-O der POINT OF. »Ach, Mann, müssen Sie mich immer so brutal aus meinen romantischen Träumen reißen?« nörgelte der Sibirier und wurde wieder zum großen Schweiger. Schau an, dachte Ren Dhark. Unser wortkarges technisches Genie kann durchaus ins Reden kommen, wenn es um Träume geht... Er selbst träumte von den Sternen. Von den Weiten des Weltraums, und nur allmählich begann er sich mit dem Gedanken anzufreunden, daß es in Gestalt von Joan Gipsy auch noch etwas anderes gab, wovon er träumen konnte. Was aber, wenn sie ihn irgendwann vor die Wahl stellte, die Sterne oder
sie aufzugeben? Zu diesem Zeitpunkt war er noch sicher, welche Wahl er treffen würde. »Da kommen sie!« stieß Dro Cimc hervor. Er deutete auf die Bildkugel. Die zeigte von einem Moment zum anderen Shirs, die sich auf die POINT OF zu bewegten, aber im respektvollen Abstand von gut zweihundert Metern stehenblieben. »Ich denke, wir sollten ihnen entgegengehen und von Angesicht zu Angesicht mit ihnen plaudern«, schlug Ren Dhark vor. »Und wenn sie nicht so friedlich sind, wie sie uns damals vorgegaukelt haben?« »Dann überlassen wir es den Waffensteuerungen, die Shirs per Strich-Punkt-Strahl zu paralysieren und den Flashpiloten, uns wieder an Bord zu holen. Aber ich denke, unsere Drohung mit dem Hy-Kon reicht völlig aus.« »Auch gegen Geiselnahme...?« »Wesen, die über so unwahrscheinlich starke Parakräfte verfügen, haben so etwas nicht nötig«, winkte der Commander ab. »Gerade kommt ein Funkspruch von den Shirs«, meldete in diesem Moment Walt Brugg. »Sie fordern uns auf, eine Delegation zu entsenden, die ihnen den Grund für unseren – Achtung, O-Ton – absolut unerwünschten Besuch erklärt.« Ren lächelte. »Da rennen sie ja wohl eine offene Tür ein. Ich bin schon gespannt darauf, mich mit diesen Geschöpfen wieder zu unterhalten...« * Fünf Terraner, ein Tel und vier Roboter bildeten die Delegation. Ren Dhark hatte Arc Doorn, den Mediziner Manu
Tschobe und den Tel Dro Cimc gebeten, ihn zu begleiten, dazu die beiden Cyborgs Lati Oshuta und Bram Sass. Sie wurden von vier der kegelförmigen Kampfroboter aus der Fertigung von Wallis Industries begleitet. Die Robs schwebten auf Prallfeldern. Zusatzpacks machten sie notfalls flugfähig und versetzten sie in die Lage, sich mit Schutzschirmen zu umgeben. Jeder der Menschen, auch die Cyborgs, trugen die nogkschen Stirnreifen für die persönlichen Abschirmfelder. Zusätzlich hatten die Cyborgs von Anfang an auf ihr Zweites System geschaltet. Daß das allein nichts gegen die Parakräfte der Shirs half, war bekannt. Sonst hätten zumindest Oshuta und Sass auf die Stirnreifen verzichten können. Die Gruppe verließ das Schiff auf einer offenen Schwebeplattform. Nur wenige Meter vor den Shirs stoppte Ren Dhark die Platte. Er mußte zu den Shirs hinaufsehen, aber das war beabsichtigt, weil er ihnen bewußt die »Siegerposition« zubilligte, um eventuelle unterschwellige Aggressionen zu dämpfen. Sollten sie sich sicher und überlegen fühlen, diese unglaublichen Wesen... Ihre dicken, langen Körper, sehr viel größer als die von Elefanten, waren von grünem und gelbem Fell bedeckt, das gemustert war wie bei einem Zebra. Sie besaßen sechs dicke Stempelbeine, mit denen sie sich völlig lautlos bewegten. Der Kopf, an dem man vergeblich das Maul suchte, war schauderhaft flach und sah aus wie das kantige Blatt eines Spatens. An der oberen Kante des Spatenblatt-Kopfes saßen drei Ohren, die jeweils über einen halben Meter groß waren und deren Ränder gelb leuchteten. Fünf tellergroße Augen reichten von Kante zu Kante des Kopfes. »Kein Wunder, daß die sich so friedlich geben können«, bemerkte Dro Cimc provozierend, der schon bei der ersten Begegnung mit von der Partie gewesen war. »Wenn denen
einer dumm kommt, brauchen sie sich bloß auf ihn fallenzulassen, und schon ist der als Teppich verwendbar!« Tschobe sah ihn strafend an, verzichtete aber auf einen Kommentar. Ren Dhark dagegen wartete auf eine Reaktion der riesigen Wesen. Bei der ersten Begegnung hatten sie auf eine ähnliche Bemerkung eines Terraners mit einer telepathischen Rüge geantwortet. Diesmal kam nichts. Ein Beweis, daß auch die kleinen Stirnreifen funktionierten? »Folgt uns«, sagte einer der Shirs, und alle wandten sich um und stapften auf ihren klobigen Stempelbeinen davon! * Sie mußten die Sprache der Terraner gelernt haben. Denn nirgendwo war ein Translator zu bemerken. Der ratekische Translator, den Dhark vorsichtshalber mitgenommen hatte, da nur er selbst in der Lage war, sich mit den Shirs in der Sprache der Mysterious zu unterhalten, wurde nicht benötigt und erwies sich nun als nutzloser Ballast auf der A-Gravplatte, denn jeder von ihnen hatte diese unglaublichen Wesen in Angloter reden gehört. Dro Cimc, der schon bei seinem ersten Aufenthalt in der POINT OF in einem hypnotischen Lernverfahren die Sprache der Terraner gelernt hatte, machte hier keine Ausnahme. Daß die Shirs sich akustisch mitteilten, zeigte aber auch, daß sie festgestellt haben mußten, telepathisch bei ihren Besuchern nicht durchzukommen. »Aufpassen!« warnte Manu Tschobe leise. »Sie werden nach dem Grund suchen. Wir sollten uns auf eine Überraschung gefaßt machen. Ich traue diesen Gebirgen auf sechs Beinen nicht über den Weg!« Die marschierten unverdrossen durch die Landschaft,
wichen dabei mit erstaunlicher Leichtigkeit und Eleganz kleinen Hindernissen aus, über welche die Terraner mit ihrer A-Gravplattform einfach hinwegschwebten. Dhark staunte, als er sah, welchen Kleinigkeiten sie dabei auswichen – manchmal waren es Kolonnen von ameisenähnlichen Insekten, die ihre Straßen fast unsichtbar im hohen Gras angelegt hatten, manchmal ein Nest brütender Vögel, die in aller Gemütsruhe ausharrten, weil sie zu wissen schienen, daß ihnen von den Shirs keine Gefahr drohte. Manchmal waren es auch besondere Pflanzen, die einen speziellen Status innezuhaben schienen, von den Terranern aber schwer erkannt wurden, und auch die Shirs schienen gerade diese Pflanzen immer erst sehr spät zu bemerken, worauf ihre teilweise hektischen Ausweichmanöver hindeuteten. Wie auch immer – sie achteten sorgsam darauf, trotz aller Eile, die sie an den Tag legten, nichts Wichtiges zu beschädigen. Nach etwa zehn Minuten erreichten sie den Eingang einer Schlucht. »Da sollen wir rein?« murrte Cimc. »Hätten wir das alles nicht viel einfacher haben können? Diese Wesen sind doch praktisch aus dem Nichts gekommen, wie von einem Transmitter ausgespuckt. Diesen Weg zurück hätten wir doch auch nehmen können.« »Hätten wir anscheinend nicht«, belehrte ihn Ren Dhark. »Denn ich bin sicher, daß die Shirs ihn dann genommen hätten.« Es ging weiter. Aber schon nach relativ kurzer Zeit öffnete sich in der mittlerweile über dreißig Meter hoch neben der Gruppe aufragenden Felswand ein Tor. Arc Doorn pfiff durch die Zähne. »Wie der Eingang zum Industriedom auf Deluge!« Eigentlich nur von der Größe her war der Vergleich statthaft, denn es gab doch erhebliche Unterschiede bereits in
der umgebenden Landschaft, und der Industriedom war nur durch eine Vorhöhle erreichbar; zudem war das Portal, durch das sie jetzt alle das Innere des Berges betraten, nach außen hin so perfekt getarnt, daß selbst die Cyborgs diesen Zugang nicht rechtzeitig erkannt hatten. Ein breiter Schacht führte abwärts. Dieser imposante Tunnel besaß eine Breite von mehr als fünfzig Metern und war kaum weniger hoch. Unwillkürlich hatte Ren nach Doorns Bemerkung damit gerechnet, von blauem Licht empfangen zu werden, aber mit der Mysterious-Technik schien das hier nicht viel zu tun zu haben. Das Licht wirkte auf geheimnisvolle Weise golden, und die Wände des Tunnel waren nicht blauviolett wie Unitall, sondern eher grüngrau – eine Farbe, die ein Schotte vielleicht mit dem Wort glen umschrieben hätte. Aber wie bei den Mysterious war auch hier nicht zu erkennen, wo die schattenlose Helligkeit ihren Ursprung besaß. Wie tief ging es in den Berg hinab? Der Tunnel schien kein Ende zu nehmen. Bram Sass, dessen Hormonspiegel sich durch einen Organfehler auch in kritischen Situationen nicht veränderte, hatte »mitgezählt«. »Wir sind etwa fünfzig Meter unter dem Talboden und gut drei Kilometer tief in den Berg vorgestoßen«, hatte er zu berichten. »Ich dachte, wir hätten eine wesentlich größere Strecke zurückgelegt«, wunderte sich Tschobe. »Das zieht sich hier alles ins Unendliche mit seiner Eintönigkeit...« »Der Eindruck täuscht«, erklärte Sass ungerührt. »Eben durch das Eintönige, und auch dadurch, daß wir die Distanz auf der Schwebeplattform zurücklegen. Müßten wir zu Fuß gehen, bekämen Sie bald Probleme, weil die ständige Schräglage eine auf Dauer ungesunde Fußhaltung erzwingt. Allerdings könnten Sie dann die zurückgelegte Entfernung anhand Ihrer Gehprobleme besser einschätzen.« »Nicht, daß ich darauf gesteigerten Wert lege«, brummte
Tschobe. »Zurück möchte ich die Strecke aber noch weniger gern zu Fuß gehen...« Da erreichten sie ein weiteres Portal, das sich lautlos vor ihnen öffnete. Sie standen vor dem Eingang in eine fantastische, unglaubliche Welt...
11. »Sie glauben also, Chris, wir sollten uns mehr mit der Kompensation der Hyperpermeabilität beim Antrieb der Sonden beschäftigen?« erkundigte sich Robert Saam nach Stunden intensivster Arbeit und legte die Finger zu einer Pyramide zusammen, über die hinweg er den Diplomingenieur ansah. »Glauben heißt nicht wissen«, frotzelte Jimmy. »Weißt du etwas, Chrissiboy?« Shanton musterte seinen mechanischen Hund mit einem drohenden Blick, der diesen jedoch nur veranlaßte, sich mit einem hochmütigen Lefzenziehen noch näher an Saam zu kuscheln, auf dessen Schoß er schon die ganze Zeit saß. Wallis' technisches Genie kraulte mechanisch die täuschend echt nachgebildete Imitation seines Nackenfells, was Jimmy seinerseits dazu veranlaßte, wohlig wie eine Katze zu schnurren. Es hätte Chris Shanton nicht überrascht, wenn er gepfiffen hätte wie ein Zeisig. Jimmys vokaler Datenspeicher hielt eine ganze Reihe unterschiedlicher Lautäußerungen parat, die er ganz willkürlich und nicht immer zu seinem Äußeren passend einsetzte. Obwohl es ihm einen Stich versetzte, wie vertraut Jimmy mit Saam tat, beschloß Shanton generös, Jimmys Verirrung vorläufig auf sich beruhen zu lassen. Jeder hatte das Recht, Irrwege zu beschreiten. Die Zeit würde schon noch kommen, wo dieser nachgemachte Hund reumütig mit dem Schwanz wedelnd zu ihm zurückkroch. »Ja, das glaube ich«, ging er auf Robert Saams Frage ein. »Ich bin anderer Meinung...« Was mich nicht im geringsten überrascht, dachte Shanton und plazierte seine voluminöse Gestalt etwas bequemer in die Sitzgelegenheit, die nach seinem Dafürhalten eine winzige Idee
zu klein war. Aber das hatte Saam mit voller Absicht gemacht, ihm diesen zierlichen Stuhl zuzuschieben. »... und zwar deshalb, weil die hypertropische Phasenvarianz der Hintergrundstrahlung nicht auf der gleichen Sinuswelle korrelativ mitschwingt.« Ihr Streitgespräch kam nicht von ungefähr; beide arbeiteten sie im Auftrag des Commanders der Planeten seit kurzer Zeit an der Entwicklung kleiner, vollautomatischer Sonden. Nicht größer als drei Meter im Durchmesser. Billig herzustellen – Wallis Industries hatte sich bereit erklärt, eine der RoboterBandstraßen dafür bereitzustellen – aber effizient, die überall in der Galaxis nach der Heimatwelt der Schatten suchen sollten. Sonden mit einfachem, kostengünstigem Hyperantrieb. Dazu wollte Robert Saam nach Shantons Vorschlag rekonfigurierte Nano-Konverter verwenden, wie sie in den Beibooten der TF-Schiffe zum Einsatz kamen. Die Arbeiten ließen sich gut an, aber die beiden Ingenieurgenies waren noch nicht ganz mit dem Ergebnis zufrieden. Zu viele Variablen, die nach den Computersimulationen immer wieder die ursprünglichen Berechnungen und Vorgaben durcheinanderbrachten. »Dann müssen wir sie eben anpassen«, versetzte Chris Shanton. »Die gravimetrischen Verzerrungen des Hyperantriebs erzeugen im Augenblick leider noch immer eine Spur von winzigen Quantensingularitäten beim Eintauchen und Ausleiten, die die Grakos auf unsere Sonden aufmerksam werden lassen könnten.« »Davon rede ich doch die ganze Zeit«, bestätigte Saam. »Deshalb habe ich die Nano-Konverter der Sonden auch auf eine rotierende Modulation umprogrammiert, die das verhindert.« »Könnt ihr beiden Streithähne euch nicht mal auf einen Konsens einigen?« knurrte Jimmy. »Das ist ja zum Katzen melken.«
»Schnauze!« fuhr ihn Shanton an, und setzte in Gedanken hinzu: Treulose Tomate. Laut fuhr er fort: »Eine Schwierigkeit sehe ich allerdings. Unsere Sonden mögen noch so gut sein, wodurch sollen sie das ganz spezielle Hyperraumfeld orten, das die Grakos und ihre Stationen umgibt? Schon mal darüber Gedanken gemacht?« »Gute Frage«, bekannte Saam, »ich glaube, daran arbeite ich gerade. Ich entwickele eine spezielle Version meines Schattenspürers für die Sonden... wo habe ich denn die Unterlagen nur gelassen?« Er kramte in dem Papierwust auf seinem Schreibtisch. »Heureka! Da sind... ach nein, das sind ja nur die Notizen zu der neuen Generation von Suprasensoren. Hm-hm«, geistesabwesend kratzte er sich ausgiebig unter der Mütze, »mit denen müßte ich mich eigentlich auch wieder mal befassen. Ob ich nicht gleich mal...? Aber nein, ich wollte doch etwas ganz anderes! Was war das nur?« »Na, dann machen Sie mal ohne mich weiter.« Shanton erhob sich kopfschüttelnd. »Mich entschuldigen Sie, Ihr Mentor möchte mir die Bandstraße der Roboterfertigung zeigen, auf der die Sonden dann in Produktion gehen sollen.« »Ha!« stieß Robert Saam triumphierend hervor und vollführte mit seinen staksigen Armen eine Bewegung wie ein Ballettänzer. »Ich wußte es doch, es ging um die Sonden!« Shanton machte, daß er schnellstens davonkam. Irgendwo hatte er mal gelesen, daß so etwas ansteckend sein konnte. Selbst Jimmy ging die raketenhafte Hektik, die das norwegische Wunderkind entwickelte, gegen den Strich. Er sprang von dessen Schoß und trottete hinter Shanton her, der ihm mit herablassender Duldung erlaubte, sich an seine Fersen zu heften. * Über Terence Wallis' Firmengelände, das schätzungsweise
achtzig Quadratkilometer umfaßte, erstreckten sich zahlreiche Gebäudekomplexe in alle Richtungen. Darunter Forschungsstationen, Energieversorgungsanlagen und hochaufragende Labortrakte von kühner Architektur, ein Komplex eindrucksvoller als der andere. Wallis Industries war zweifelsohne das mächtigste Industriekonglomerat der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts. Mit Niederlassungen auf der ganzen Welt. Von der Schwerindustrie über Raumschiffswerften bis hin zur Hyperraumtechnologie war alles vertreten. Der Wirtschaftstycoon Wallis legte sich da nicht so genau fest. Die Zentrale lag in Pittsburgh, Pennsylvania. Auf dem Areal verpesteten früher einmal ausgedehnte Stahlwerke die Atmosphäre. Heute wurde hier Tofirit verhüttet und Roboterentwicklung betrieben. Ein firmeneigener Jettport sorgte für die schnelle Anbindung an die Metropolen rings auf dem Globus, und ein kleiner Raumhafen stellte den Kontakt zu den Orbitalstationen und darüber hinaus zum Mond und den näheren Planeten her. Merkwürdigerweise reflektierte das Verwaltungsgebäude nichts von der immensen Wirtschaftsmacht, die sich hinter Wallis Industries verbarg. Es war gerade mal drei Stockwerke hoch. Shanton ging auf dem echten Rasen zum Eingang, registrierte angenehm berührt eine schlichte, unaufdringliche Eleganz und blieb vor dem Empfangspult stehen; die im Hintergrund der Lobby herumlungernden Männer des Werkschutzes, die ostentativ auf Jimmy starrten, ignorierte er großzügig. »Mein Name ist Chris Shanton« teilte er der schwarzhaarigen Schönen mit. »Diplomingenieur.« Das Mädchen schien Bescheid zu wissen und drückte auf ein paar Knöpfe. »Sind Sie stumm, meine Dame?« fragte Chris. Sie lächelte geschäftsmäßig und erwiderte, ohne im
geringsten berührt zu wirken: »Nicht ich erwarte Sie, Mister Shanton, sondern Mister Terence Wallis. Er erwartet Sie übrigens jetzt gleich im dritten Stockwerk. Dort drüben, neben meiner Kollegin, die Sie hinaufbringen wird, befindet sich der Lift.« Chris Shanton ging zum bezeichneten Lift, lehnte sich gegen die Wand und fragte einigermaßen erstaunt: »Sagen Sie... Ist Ihre Empfangsdame immer so – hmm – liebenswürdig?« »Sie müssen wissen, sie hat bereits ihren Lebensabschnittsgefährten, Mister Shanton.« »Warten wir also auf die Höflichkeit, die nach dem Ende des Ehekontraktes zu beobachten sein wird«, brummte der Diplomingenieur. »Wie ist Wallis heute denn gelaunt?« Sie zuckte die Schultern und gab die erschöpfende Auskunft: »Finden Sie's selbst raus.« »Wie schön.« Der Lift hielt. Die junge Dame ging vor Chris Shanton einen breiten Korridor entlang, der durch eine Phalanx von hellen, gläsernen Büros führte, die in einzelne Funktionsgruppen aufgeteilt waren. Das fahle Leuchten vieler Viphoschirme und das Glimmen großer Holoprojektionen kämpfte gegen das Tageslicht an, das gegen die Panoramascheiben prallte. In den Büros gingen die Angestellten der Firmenzentrale von Wallis Industries ihrer täglichen Arbeit nach. Terence Wallis' Büro war ebenso schlicht wie das ganze Gebäude. Am Ende des Raumes stand ein Tisch, dessen kunststoffbeschichtete Platte bis auf den roten Viphowürfel und einem dünnen Aktenordner leer war. Der Raum war sehr groß, aber nüchtern eingerichtet. Nur an ein paar Kleinigkeiten erkannte Chris Shanton, daß er sich in der Zentrale von Wallis Industries befand. Wallis kannte er aus der Presse und von seinem Aufenthalt auf Ast-1, als er diesen Saam einlochen ließ.
In seinen Räumen hatte er ihm allerdings noch nicht gegenübergestanden. Shanton blieb neben der Tür stehen, bis Wallis rief: »Worauf warten Sie, Mister Shanton?« Chris gab ebenso lautstark zurück: »Auf den Bodenschweber, der mich zu Ihnen bringt.« Wallis lachte dröhnend. »Wenn Sie damit auf die Größe meines Büros anspielen – Sie müssen schon zu Fuß gehen. Den weiten Weg verdanken Sie meinen Innenarchitekten.« Er wartete, bis Shanton vor ihm stand und sagte dann: »Guten Tag, Mister Shanton.« »Tag, Mister Wallis«, entgegnete Shanton und hütete sich, dem Firmen-Tycoon seine riesige Pranke über den Schreibtisch zu reichen. Er wußte von dessen Abneigung gegen den Austausch derartiger Höflichkeitsfloskeln – und respektierte diese Angewohnheit. Jeder sollte seine Macken nach eigenem Gusto hätscheln und pflegen dürfen, war Shantons Philosophie. »Wollen wir gleich?« fragte Wallis und erhob sich aus seinem bequemen Bürosessel. Er war groß, lang aufgeschossen, von sportlicher Statur und besaß langes, schon etwas schütteres Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Das gab ihm einen Anstrich von Verwegenheit und forscher Jugendlichkeit. Während seiner Studienzeit hatte er in der Hochschulmannschaft Basketball gespielt. Heute, das wußte Shanton aus einem Dossier, welches er sich über Bernd Eylers, den Chef der GSO, besorgt hatte, bevorzugte Wallis Golf. Er goutierte schottischen Whisky. Aber nur Single Malt, ohne Wasser oder Eis. Mit seinen jetzt bald sechsundvierzig Jahren war er nachweislich der reichste Mann der Erde. Er kleidete sich gern mit distinguierter Eleganz, erlaubte sich aber als sichtbaren Beweis seiner schlußendlich doch vorhandenen Nonkonformität den herrschenden gesellschaftlichen Regeln oder Zwängen gegenüber, recht farbenfrohe Westen zu tragen. Wo immer er sich aufhielt, Wallis war stets von der Aura des
Erfolgreichen umgeben. »Natürlich«, versetzte Shanton. »Zeit ist ja bekanntlich Geld oder so.« Wallis musterte ihn mit einem blitzschnellen Blick; er war sich nicht ganz schlüssig, wie er die Bemerkung des Diplomingenieurs aufzufassen hatte. Außerdem wunderte er sich noch immer darüber, daß Ren Dhark diesem ungeschlachten Kerl mit seinem mitunter doch recht polterndem Auftreten auf eine Weise zu vertrauen schien, die er, Wallis, so nicht nachvollziehen konnte. Aber offensichtlich war Shanton ein Mann, auf den man sich im Notfall felsenfest verlassen konnte. Nicht von ungefähr hatte ihm Ren Dhark, das politische Oberhaupt der Erde, die Entwicklung und Kontrolle der Ast-Stationen überlassen. »Sehe ich genauso«, behauptete der Industriemagnat. »Deshalb schlage ich vor, wir machen uns umgehend auf die Besichtigungstour.« »Kommt mir entgegen«, brummte Shanton. »Mir auch«, knarzte Jimmy vom Fußboden, »meine Servomechaniken sind schon ganz schwergängig vom vielen Herumstehen.« »Du übertreibst wieder mal maßlos«, machte ihm Shanton klar. »Deine Servomechaniken sind so konstruiert, daß sie gar nicht schwergängig werden können. Nicht einmal bei fünfzig Grad unter Null.« »Na, wenn du es sagst...«, maulte Jimmy und trottete hinter seinem Herrn und Meister her. Auf dem Weg nach draußen gesellte sich noch Jon Vassago zu der kleinen Gruppe, Wallis' persönlicher Leibwächter. Ein Nahkampfexperte. Wie Shanton erfahren hatte – Gerüchte verbreiteten sich zu allen Zeiten unerhört schnell! – wurde er von den Angestellten hinter vorgehaltener Hand nur der »mongolische Kleiderschrank« genannt. Vassago war ein finster dreinblickender Koloß, ein Hüne,
hundertdreißig Kilo schwer, dem der Kampfsport aus allen Poren quoll. Außerdem hatte er Jura studiert und ein Anwaltsdiplom erworben. Er war ebenso geschmackvoll gekleidet wie Terence Wallis – offensichtlich auf dessen Anweisung hin – allerdings litt sein elegantes Outfit ein wenig durch das Samuraischwert an seinem Gürtel. Die Sonne glänzte auf seinem völlig haarlosen Schädel, nicht einmal Augenbrauen waren vorhanden. Das einzige Indiz, daß er nicht völlig ohne Mannesschmuck war, war der nach unten gebogene Schnurrbart. Ein Bodenschweber, den Wallis selbst steuerte, brachte die drei Männer und Jimmy über die kurze Distanz zum Komplex VII-WA/R, der Roboterfertigung auf Wallis' Gelände. Die mächtigen Flügeltüren schwangen auf. Verhaltener Lärm wurde laut; die Arbeitsgeräusche von Maschinen und Prüfständen. »Gehen wir dort hinauf!« Wallis deutete auf eine Treppe, die zu einem in halber Höhe an der Wand befindlichen Laufsteg führte. »Von oben können Sie sich einen besseren Überblick verschaffen.« Dort angelangt, befanden sie sich etwa zehn Meter über Hallenniveau. Auf dem Gittersteg liefen sie tiefer in die Halle hinein, kreuzten sie und gingen auf dem breiten Mittelsteg weiter. Laserschweißautomaten warfen zuckende Blitze durch die Halle mit ihren Bandstraßen. Fertigungsroboter hingen von der Decke, krochen entlang ihrer Halteschienen und gruppierten sich immer wieder um die Transportbänder, auf denen Arbeitsroboter in allen Stadien der Vollendung langsam einem Ziel am Hallenende zuglitten: der Endfertigung. Das hier war Fließbandarbeit. Vollautomatisiert. Shanton sah dort unten kein einziges menschliches Wesen in der Halle. Die Arbeiter an den Bändern waren Roboter des
gleichen Vielzwecktyps den sie auch produzierten. Lediglich an bestimmten Punkten erhoben sich die Aufsichtsplattformen der wenigen menschlichen Kontrolleure. Schöne neue Welt... Ein geflügeltes Wort, dessen Ursprung Shanton entfallen war. Lag vermutlich schon zu weit in der Vergangenheit. Aber es traf den Kern dessen, was er beim Anblick dieser Roboterfertigungsstraßen empfand. Die Erde befand sich in einem technologischen Umbruch. Wer die Zeichen der Zeit richtig zu deuten wußte, erkannte, daß sich durch die grenzenlose und ungehindert sich ausbreitende Automatisation in allen Lebens- und Arbeitsbereichen eine ungeheure Umwälzung für die Menschheit am Horizont zeigte. Nichts hatte wohl die politische und ökonomische Struktur auf der Erde nachhaltiger verändert als die Invasion der Giants von 2051 bis 2052, dachte Shanton. Sie war der Initialzünder, der Auslöser des Ganzen. Seitdem waren gut fünf Jahre vergangen. Jahre, in deren Verlauf dramatische Veränderungen auf der Erde stattgefunden hatten. Obwohl die Raumfahrt die Kolonisation fremder Planeten ermöglichte, obwohl irdisches und nogksches High-Tech-Wissen so ziemlich alle Bereiche des Lebens revolutionierte und der Kontakt mit außerirdischen Intelligenzen das Weltbild der Menschheit ständig erweiterte, entpuppte sich der erneute Traum von einer »schönen neuen Welt« als nicht existent. Schon innerhalb dieser relativ »friedlichen« fünf Jahre zeigte der wissenschaftlich-technische Entwicklungssprung seine ökonomischen und vor allem sozialen Schattenseiten. Die enormen Fortschritte in der Robotik, der Suprasensorik und Nanotechnik, der Bio- und Gentechnik sowie der Hyperraumphysik und Psionik waren nicht nur Segen für die Menschheit. Die daraus entstehende Automatisierungswelle
hatte verheerende Auswirkungen auf die traditionellen Wirtschaftssysteme der Erde und machte mehr Menschen arbeitslos, als es je erwartet worden war. Dieses Heer von vielen Millionen von Beschäftigungslosen wurde zusätzlich durch den massenhaften Einsatz von konkurrenzlos billigen Arbeits- und Servicerobotern in allen Dienstleistungsbranchen, der Industrie und der Landwirtschaft vergrößert. Zum Glück hatte man wenigstens die Alterssicherungssysteme in weiten Bereichen vom Umlage- auf das Kapitalbildungsverfahren umgestellt. Jede neue Technologie brachte sogleich auch ihre negativen Nebenwirkungen hervor, die sich durch die große Zahl von Neuerungen und Umwälzungen potenzierten. Die Giants hatten Terra fast dem Erdboden gleichgemacht – und die gewaltigen Aufbauanstrengungen danach stürzten die gesamte Erde in eine politische, ökonomisch-soziale und kulturelle Dauerkrise, deren Folgen nicht nur eine permanente Massenarbeitslosigkeit und eine damit einhergehende Verelendung breiter Bevölkerungsschichten vor allem in den traditionell schon immer »verarmten« Regionen von Afrika, Südamerika und Asien waren, sondern auch politische Instabilität, Unruhen und extremistische Umtriebe bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in vielen Teilen der Erde. Die tiefgreifenden Krisen auf der Erde, falschverstandene Abenteuerlust und der unterschwellige Traum vom freien Leben in einer neuen Heimat hatten zwar in den letzten Jahren viele Menschen veranlaßt, zu fernen Planeten auszuwandern. Die Kolonisation wurde sogar als probates Mittel gegen die steigende Übervölkerung angesehen und entsprechend forciert. Aber bislang war das nur ein Tropfen auf den heißen Stein und führte vielerorts aufgrund der unprofessionell durchgeführten Planungen zu Unruhen und mitunter sogar zu massiven Ausschreitungen. Die politischsoziologische Großwetterlage drohte zu kippen. Andererseits aber gab es Männer wie diesen Terence Wallis,
die den Commander der Planeten voll und ganz in dessen Bemühungen unterstützten, einer weltweiten Pleite, einem Weltwirtschaftskollaps mit aller Kraft entgegenzuwirken und Terra wieder zu einem Hort der Sicherheit zu machen, wenngleich das Trauma der giant'schen Herrschaft noch gar nicht richtig verarbeitet war – und sich bereits neue Gefahren mit den Grakos und ihren Schattenstationen mehr als nur am Horizont abzeichneten. Einen ersten Großangriff der Unheimlichen hatte die Erde nur unter größten Mühen und Opfern abwehren können. Shanton seufzte unwillkürlich, dann beeilte er sich, nicht den Anschluß an Wallis und Vassago zu verpassen, die wieder auf das Hallenniveau hinuntergestiegen waren. Sie befanden sich jetzt allerdings in einem angrenzenden Komplex, in dem die Fertigungsstraßen nicht belegt waren. »In dieser Halle hier«, machte Wallis Shanton aufmerksam, »werden die Suchsonden vom Band gehen. Dank der einfachen Konstruktion wird es keine Probleme mit der Beschaffung der notwendigen Rohmaterialien geben«, erläuterte er weiter. »Wir bedienen uns der Hinterlassenschaft der Giants. Ist noch reichlich davon da.« Shanton nickte zustimmend. Wallis hatte recht. Eine Menge Müll bewegte sich innerhalb des Sol-Systems und den Schwerefeldern der Planeten und ihrer Monde, seit die brutale Herrschaft der Giants zu Ende war. Unzählige zerschossene, zerfetzte Raumschiffe wurden seitdem von speziellen Müllsammlern geborgen und einer Wiederverwendung zugeführt, indem man sie komplett zerlegte und die einzelnen Komponenten aufbereitete. »Besteht schon eine Kosten-Nutzen-Analyse, Sir?« Wallis sagte: »Natürlich. Kosten entstehen fast nur durch die Abschreibungen auf die Produktionsanlage, wie mir meine Finanzexperten versichern. Ich erwarte übrigens nach Anlauf der Serie, daß ein Ausstoß von zirka eintausend Einheiten pro
Tag realistisch ist und ich...« Er verstummte, als das Geräusch hörbar wurde. Schritte klangen auf! Erst fern, doch rasch näherkommend. Sie klangen fremd, irgendwie metallisch, klirrend, begleitet von einem Zischen, wie es hydraulische Kolben verursachten, die sich in einem gasförmigen oder hydrologischen Medium bewegten. Ein rhythmisches Stampfen. Dem Diplomingenieur waren diese Geräusche nicht unbekannt; so klang ein aktivierter Verladeroboter, wie sie zu Tausenden in den Raumschiffdocks zum Heben und Verstauen schwerer Lasten verwendet wurden. Wuchtige Geräte, breit und hoch wie Gabelstapler. Aber auf das, was durch den Vorhang aus Plastikfahnen aus einem Nebenraum hervorkam, war er dann doch nicht vorbereitet. Es handelte sich nicht um einen autarken Verlademechanismus aus den Docks, sondern um einen... einen Roboter! Aber was für ein Ungetüm! So wie Chris Shanton sich die Mechanischen als kleiner Junge immer vorgestellt und wie er zum Teil auch noch mit ihnen zu tun gehabt hatte. Keine fließenden, abgerundeten, glatten Formen, sondern pure, über zwei Meter große Technik mit dürren Stahlbeinen und -armen, einem skelettartigen Torso und darüber einem Kopf, der mehr einem fleischlosen Schädel glich. Und rotglühende Augen! Die mußten sein. Bewegt hatten sich die Roboter seiner Kindheit mit Hilfe von hydraulischen Kolben und Ventilen. Zugegeben, das, was ihnen da entgegenkam, sah ein klein bißchen gefälliger aus. Nichtsdestotrotz schien es sich um die nochmals abgespeckte Ausführung einer Sparversion von Roboter zu handeln. »Was zum Teufel haben wir denn da?« entfuhr es Wallis verblüfft. Er machte unwillkürlich einen Schritt auf den stählernen Golem zu.
»Vorsicht, Terence. Zurück!« Vassago brachte den Industriemagnaten aus der unmittelbaren Gefahrenzone, indem er sich schützend vor ihn und damit in den Weg des Roboters stellte. Mit einer kaum sichtbaren Bewegung und einem gleitenden Zischen zog er sein japanisches Samuraischwert aus der Scheide. Auf der breiten Klinge mit ihren eingearbeiteten Wolkenmustern brachen sich funkelnd Lichtreflexe. Er hielt es beidhändig schräg vor sich und visierte über die Spitze den Roboter an, der unbeeindruckt weiter auf die Gruppe zustapfte. Dann staunte Shanton nicht schlecht, als die Klinge scheinbar zu brennen anfing, jedenfalls drängte sich ihm dieser Eindruck auf, als er die blau, rot und grün schimmernden Flammen sah. »Energiefelder«, murmelte Wallis, der Shantons Blicke richtig deutete. »Sie lassen die Klinge mühelos jedes Material durchdringen, solange es sich nicht gerade um Tofirit oder Unitall handelt. Eine von Robbis Spielereien...« »Dann wollen wir nur hoffen«, gab Chris ebenso leise zurück, »daß dieser vorsintflutliche Uralt-Roboter nicht aus den von Ihnen erwähnten Materialien besteht.« »Glaube ich nicht«, versicherte Wallis. »Aber wir werden es ja sehen. Gleich wird Jon ihm den Kopf abschlagen.« Der Roboter hatte mit seinem etwas ruckelnden Gang fast Jon Vassago erreicht; die Spitze des Schwertes beschrieb jetzt einen Halbbogen zurück über die rechte Schulter des Leibwächters: Die von Mijamoto Musaschi, dem anerkanntesten Samuraimeister des 17. Jahrhunderts, empfohlene klassische Ausgangsstellung für einen absolut tödlichen Hieb, der dem Gegner den Kopf vom Rumpf trennen würde. Nur noch Sekundenbruchteile. Dann... Doch es kam nicht dazu.
Mit einem lauten »Halt, halt!« stürzte Robert Saam in die Halle und rannte mit wehendem Schal schnurstracks auf die Gruppe zu. Seine Mütze mußte er unterwegs vor lauter Eile verloren haben; die Haare standen womöglich noch wirrer vom Kopf ab. Vassago schien ihn nicht zu hören. »Stop!« schrie Saam erregte. »Er tut euch doch nichts!« »Weiß das dieser Blechhaufen auch?« versetzte Vassago mißtrauisch und hatte keineswegs vor, das Feld schon zu räumen. Das norwegische Technikgenie wandte sich an den Roboter, der mit der Sturheit einer seelenlosen Maschine weitermarschierte. »Halt, Nummer Eins!« Gehorsam blieb der Roboter stehen. »Na also.« Saam stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus, während Vassago das Schwert senkte, es jedoch in der Linken behielt. Scheinbar traute er dem Frieden nicht sonderlich. »Kommen Sie, Vassago«, meinte Saam, und seiner Pokermiene war nicht zu entnehmen, was hinter seiner Stirn vorging. »Vertrauen Sie mir. Er wird Ihnen nichts tun.« »Pah!« Der Kampfkoloß verzog herablassend die Mundwinkel. »Fragt sich, wer hier wem was getan hätte!« Er hielt sich die flache Klinge vors Gesicht, berührte damit seine Stirn und steckte sie in die Scheide zurück. »Für einen Moment sah es aber so aus, als ob Gefahr von ihm ausginge, Robbie«, stand Wallis seinem Leibwächter bei. »Ach was!« argumentierte Saam. »Man hätte ihm doch nur zu sagen brauchen, daß er stehenbleiben soll.« »So einfach?« »So einfach«, bestätigte Robert ›Robbie‹ Saam, der dieser Verniedlichung seines Vornamens überhaupt nichts abgewann. Er hütete sich aber, dies seinem Mentor gegenüber zu
erwähnen. Schließlich schlachtete man ja auch nicht die Kuh, die man melkte – zumindest nicht, solange sie Milch gab. »Du sagtest vorhin ›Nummer Eins‹, Robbie?« Wallis sah fragend auf sein technisches Genie. »Stimmt«, bestätigte Robert. »Heißt das, es gibt noch mehr von diesem... diesem...« »Blechmann«, half ihm Jon Vassago aus, der sich zwingen mußte, seinen Sarkasmus nicht zu offensichtlich zu zeigen. »Das Wort lautet ›Blechmann‹.« »... diesem Robotertyp?« Wallis hakte die Daumen in die Ärmelausschnitte seiner farbenfrohen Weste und begann langsam um den inaktivierten Roboter herumzugehen, dabei dessen Äußeres in allen Einzelheiten studierend. Tack, tack, tack, machten seine Sohlen auf dem Plastzementboden der Halle; erst jetzt registrierte Shanton, daß Wallis mit Spikes versehene Golfschuhe anhatte. »Noch nicht. Nummer Eins ist ein Einzelkind...« »Hoffentlich bleibt er's auch«, murmelte Vassago und erntete einen verweisenden Blick von Shanton. »Der Prototyp«, erläuterte Robert Saam mit unverhohlenen Stolz, »eines einfachen, robusten und vor allem billigen Vielzweckroboters, den ich in meinen Mußestunden entwickelt habe. ›Simple Tech‹ statt ›High Tech‹, wo immer es geht, das waren meine Überlegungen dabei. Weglassen statt Hinzufügen. Nix Unitall, nix fast unbezahlbares Tofirit! Mein stählernes Baby besteht bis zu neunzig Prozent aus wiederverwertetem Schiffsschrott. Keine störanfälligen Prallfelder mehr, auf denen er vorangleitet. Nummer Eins erreicht bis zu sechzig Stundenkilometer auf seinen eigenen Beinen. Die Hände können Werkzeuge, aber auch Waffen gleichermaßen geschickt bedienen. Und für besondere Anwendungsprofile, dem Einsatz auf Extremwelten, atmosphärelosen Asteroiden und Monden beispielsweise oder gegen marodierende Banden, läßt er sich mit Zusatzaggregaten in einem Rucksack ausrüsten,
in dem teure Spezialgeräte für den einzelnen Einsatzzweck untergebracht werden können.« »Ich fange allmählich an«, sagte Shanton anerkennend, »die Idee dahinter zu begreifen. Aber verraten Sie mir, junger Freund, wie Sie das Gleichgewicht steuern wollen, ohne zu aufwendigen und deshalb dann schon wieder teuren Maßnahmen greifen zu wollen?« »Bei Nummer Eins verwende ich noch das 3-D-gestützte Gallium-Arsenit-GAS-System einer Schwebeplattform. – Ja, ich weiß«, bekannte er, als Shanton zweifelnd den Kopf wiegte, »es ist wirklich zu groß und zu unhandlich. Ich mußte deshalb auch den Brustkorb etwas vergrößern, um Platz dafür zu schaffen. Aber ich bin sicher, mir fällt noch was anderes ein.« »Was, Robert«, Shanton hatte den Arm um Saams Schulter gelegt und lief mit ihm im Kreis um dessen mechanischen Golem herum, »halten Sie denn von einem NEJ-130 OptoGyro-System, wie es in den Miniaufklärungssonden Anwendung findet? Es besitzt acht optische Differentialsensoren, die die jeweiligen Horizontal- und Vertikallinien vermessen und als momentane 3-D-›Ist‹Bewegungslage an die Servomechaniken weiterleiten. Das System ist störunanfällig, klein und relativ billig.« Für einen Augenblick war Saam regelrecht sprachlos. »Das ist genial... so genial, daß es eigentlich von mir sein müßte! Und so simpel! – Wie haben Sie sich denn die Regelung sehr kleiner Winkelveränderungen beim Gehen und Laufen vorgestellt?« »Man muß nur die angeschlossenen Hallsensoren in einer Sternschaltung verbinden, um zu einem in allen Lagen stabilen Ergebnis zu kommen, außerdem...« Wallis und Vassago hatten längst den Faden verloren und überließen Shanton und Saam sich selbst.
12. »Die wohnen hier!« entfuhr es Dro Cimc. Beinahe fassungslos betrachtete der Tel das riesige Gebilde, das sich vor ihnen erstreckte. Eine unglaublich große Höhle, viel weitläufiger als das komplette Höhlensystem von Deluge, hell erleuchtet wie auch schon der Tunnel. Auch hier ließ sich nicht feststellen, woher das Licht kam. »Freischwebende Photonen«, raunte Dro Cimc. »So etwas haben wir mal versucht, aber die Resultate waren nicht zufriedenstellend. Das hier – das ist einfach fantastisch!« »Und diese Vögel haben sich uns zuerst als technikloses Völkchen dargestellt... das grenzt schon von der anderen Seite her an Frechheit«, murmelte Tschobe. Ren Dhark sah sich aufmerksam um. Häuser reihten sich aneinander und säumten breite Straßen, auf denen sich nur wenige Shirs bewegten. Die Gebäude selbst erinnerten mit ihren teilweise fließenden Formen und ihrer Farbfreude an die Architektur des Künstlers Hundertwasser, der im vergangenen Jahrhundert auf Terra seine Spuren hinterlassen hatte. Dabei war deutlich zu erkennen, was Wohn- und Industrieanlagen waren. Und – sie waren gigantisch. Nicht allein, weil die Shirs ja schon von Natur aus Riesen waren und dementsprechend viel Platz benötigten. Das, was sie mit dieser Stadt vorzuweisen hatten, ging über das natürlich Riesenhafte weit hinaus. »Drahtlose Energieübertragung«, meldete Bram Sass, dessen Cyborg-Eigenschaften ihm ermöglichten, die Frequenzen zu erfassen, so wie andere Menschen Lichtstrahlen bemerkten. »Da ist eine Menge los! Es wird mehr Energie transportiert als nötig wäre, um die Stadt zu versorgen.« »Das Wort Verschwendung scheint den Shirs ebensowenig
bekannt zu sein wie den Mysterious«, kommentierte Doorn. Währenddessen bewegte sich die Schwebeplatte immer weiter in die Stadt hinein. Die Shirs trotteten unbeeindruckt vorneweg, und nichts an ihnen verriet, was im nächsten Moment geschah. Manu Tschobe schrie gellend auf. Er griff nach dem Stirnreif, schien ihn sich vom Kopf reißen zu wollen, und krümmte sich zusammen. Sein Gesicht verriet ungeheuren Schmerz, der über ihn hereinbrach. Im nächsten Moment sanken auch die anderen stöhnend und schreiend zusammen. Ren Dhark machte dabei keine Ausnahme. Der Commander glaubte, sein Gehirn, sein ganzer Kopf müsse in hellen Flammen stehen, und dieses Feuer fraß sich vom Gehirn aus über die Nervenbahnen weiter durch seinen ganzen Körper. Er versuchte nicht zu schreien, aber er verlor die Kontrolle über seinen Körper. Er wußte nicht mehr, was er tat. Er wußte nicht mehr, ob er überhaupt noch lebte. Er kämpfte dagegen an. Irgendwie wußte er, daß er diesen Kampf bestehen konnte, aber... ... nicht als Sieger... * Zwei Cyborgs sahen drei Menschen und einen Tel schmerzerfüllt und absolut handlungsunfähig zusammenbrechen. Sie selbst waren von der Attacke nicht betroffen, weil sie nach wie vor auf ihr Zweites System geschaltet hatten, aber ihre Programmgehirne verrieten ihnen, daß dieser Angriff auf paranormaler Basis geführt wurde und sofort zu erwidern war. Die Möglichkeit, sich selbst bedroht zu stellen und die Reaktionen der Betroffenen zu imitieren, wurde sofort verworfen.
Die Shirs wollten es wissen! Sie machten einen Versuch, mit aller Gewalt die Abschirmung zu durchbrechen, die die Terraner um sich aufgebaut hatten, und dieser Versuch, mochte er erfolgreich ausgehen oder nicht, mußte schon im Anfangsstadium unterbunden werden. Zwei Cyborgs richteten ihre Blaster auf die Gruppe von Shirs, die sie hierher geführt hatte und jetzt stehengeblieben war. Zugleich reagierten auch die kegelförmigen Roboter, die Strahlwaffen in ihren Zweckarmen trugen. Der ratekische Translator, immer noch aktiviert, übersetzte, obgleich seine Dienste völlig unnötig waren, denn die Shirs verstanden das Angloter doch, nur konnten sie die Gedanken der Terraner auf telepathischem Wege nicht mehr lesen und sich ihnen gegenüber auch nicht mehr telepathisch artikulieren. »Aufhören!« verlangte Lati Oshuta, der quirlige Japaner. »Sofort den Paraangriff einstellen, oder...« »Oder ihr werdet auf uns schießen und uns ermorden?« brüllte ein Shir zurück. Oshuta ließ sich nicht unterbrechen. »Wir ermorden niemanden, aber wir wehren uns, und wenn der ungerechtfertigte Angriff auf uns nicht unverzüglich abgebrochen wird, vernichtet unser Raumschiff diese Stadt und danach alle anderen Städte, ohne dabei Rücksicht auf uns selbst zu nehmen! Soll unser Raumschiff demonstrieren, wie perfekt es in der Lage ist, eure Städte zu orten?« Drei Sekunden später endete der Paraangriff. Die Shirs gaben nach! »Wir beugen uns der Gewalt, Terraner, aber wir vergessen auch nicht, daß wir euch friedlich empfangen haben und unsere Gastfreundschaft mit Drohungen vergolten wurden!« »Friedlich?« Sein Programmgehirn sandte Oshutas Bewußtsein die Empfehlung, spöttisch zu lachen. »Wie friedlich ihr Ungeheuer seid, zeigt sich daran, daß vier unserer
Begleiter nicht mehr in der Lage sind, klar zu denken oder zu handeln, weil ihr sie mit einer mentalen Attacke überrumpeln und unschädlich machen wolltet! So handeln Grakos, aber nicht Wesen, die den letzten Saltern Freunde waren!« »Und ihr habt zugelassen, daß die letzten Salter, die Hoffnung in ihren Herzen trugen, als sie euch begleiteten, auf eurer Welt ermordet wurden!« »Woher glaubt ihr das zu wissen?« konterte Bram Sass kühl, der seinen Blaster nach wie vor auf die Shirs vor der AGravplattform gerichtet hielt. »Niemand konnte euch darüber in Kenntnis setzen, weil...« »Wir wissen es, und das genügt!« unterbrach ihn ein Shir. »Wenn es so wäre, würdet ihr damit zugeben, mit illegalen Mitteln zu arbeiten und mit euren Parakräften uns Menschen manipuliert und beeinflußt zu haben!« fuhr Sass fort. »Das ist ein Verbrechen!« »Zulassen, daß Unschuldige ermordet und ihr Vertrauen mißbraucht werden, ebenfalls!« »Hören Sie auf, Sass«, keuchte Ren Dhark, der sich als erster der anderen wieder erhob und sich zu klarem Denken zwingen konnte. »Das bringt nichts. Shirs, wir sind nicht eure Feinde und wollen keinen Krieg gegen euch führen. Wir sind hierhergekommen, weil wir die Wahrheit wissen wollen. Aber wenn wir noch einmal von euch angegriffen werden, wie es eben gerade geschah, werden wir zurückschlagen mit all unserer Macht. Ihr könnt nur verlieren. Oder habt ihr vergessen, was die Salter euch von der Macht jenes Volkes erzählten, das die Raumschiffe baute, die wir nun fliegen?« Lachte der Shir? Ren war nicht in der Lage, die Physiognomie des mehr als elefantengroßen Wesens zu lesen, aber er hatte irgendwie den Eindruck von spöttischer Heiterkeit, die trotz der nogkschen Abschirmung zu ihm durchdrang. Aber das konnte auch eine Täuschung sein, hervorgerufen von seiner eigenen
Erwartungshaltung. Ohne weiteren Kommentar wandte der Shir sich wieder um und stapfte auf seinen Säulenbeinen davon. Auch die anderen kümmerten sich nicht um die Menschen. Oshuta bediente die Steuerung der Schwebeplattform. Die hatte automatisch gestoppt, als die Hand des momentan als Piloten fungierenden Arc Doorn sich von der Sensorfläche löste. Doorn wie auch die anderen war noch nicht wieder aktionsfähig. Am Schlimmsten hatte es Manu Tschobe erwischt. Mit seinen latenten Parafähigkeiten, die nur in Extremfällen zum Tragen kamen, war er besonders stark betroffen. Bram Sass versuchte, den Arzt zu verarzten. Die vier Roboter waren immer noch in Kampfbereitschaft. Allmählich fand Ren Dhark zu sich selbst zurück. Die Demonstration der Shirs gab ihm zu denken. Diese durch ihre Parakräfte so unheimlichen Geschöpfe waren an der in die POINT OF installierte Parafeld-Abschirmung der Nogk gescheitert, aber es war ihnen zumindest gelungen, die Menschen außer Gefecht zu setzen. Ohne die beiden Cyborgs und die Roboter hätte es jetzt möglicherweise ganz anders ausgesehen. Die Nogk hatten mitgeteilt, daß die individuellen Geräte noch nicht absolut ausgereift und getestet waren. Hier zeigte sich im praktischen Einsatz, daß sie durchaus in der Lage waren, Suggestionen und Telepathie abzuwehren – aber die Schmerzen, die die Menschen beinahe bewußtlos werden ließen und auf jeden Fall kampfunfähig machten, ließen sich dadurch nicht blockieren. Vielleicht gingen die Shirs hier einen anderen Weg, den die Nogk nicht berücksichtigt hatten? Das mußte ein Abgleich mit der POINT OF zeigen. Zunächst aber gab es andere Dinge. Ren wollte nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun. Er trat zu einem der Robots und rief dessen Speicherdaten
ab. Da wurde ihm einiges klar. Die Aufzeichnungen des Roboters unterschieden sich teils erheblich von dem, was die Menschen wahrgenommen hatten. Die Menschen – und der Checkmaster. Das erhärtete den Verdacht, daß das Robotgehirn der POINT OF eine organische Komponente besaß, weil es von den Shirs, diesen Parariesen, nachweislich beeinflußt worden war. Die terranischen Robotkonstruktionen hingegen nicht... »Kontakt zur POINT OF«, verlangte der Commander anschließend leise. »Ich will wissen, ob dort ebenfalls ein Paraangriff statt gefunden hat.« Der Funkkontakt, von einem der Robots ausgeführt, kam zustande, aber Dan Riker konnte eine Paraattacke nicht bestätigen. »Hier war und ist alles normal, Ren. Wenn ihr Schwierigkeiten bekommt, zögert nicht, zu rufen! Wir schlagen sofort zu! Nicht so, daß es den Shirs wirklich weh tut, aber wir haben inzwischen genug von diesem Planeten analysiert, um zu wissen, wo wir ein paar Treffer landen können, die sie sich merken!« »Piano parare, Dan, ruhig bleiben«, gab Ren zurück und begriff nicht mal, daß er automatisch ins Spanische verfallen war – da mochten die Besuche im Los Morenos abgefärbt haben... »Die POINT OF greift nicht ohne meinen ausdrücklichen Befehl an!« »Und wenn du nicht mehr in der Lage bist, einen ausdrücklichen Befehl zu erteilen, Commander der Planeten? Deine Bemerkung über den Paraangriff macht mich nachdenklich und nervös, Amigo.« »Wenn ich nicht mehr in der Lage bin, hilft ein RacheKonterschlag auch nicht mehr«, entgegnete Ren. »Behalte den Überblick, und falls es Veränderungen gibt, die uns alle betreffen, informiere uns. Mehr ist im Moment nicht nötig.« »Dein Wort in Gottes Gehörknorpel«, brummte Dan. »In
welcher Inkarnation auch immer der vielzitierte alte Herr sich in Drakhon anbeten läßt... und noch etwas, Ren: Halte du uns auch auf dem laufenden!« »Versprochen«, sagte Dhark. Er war froh, daß die POINT OF scheinbar unbehelligt geblieben war, aber nun wußte er nicht, ob die Abschirmung des Ringraumers stark genug gewesen war oder ob die Shirs keinen Mentalangriff gegen das Schiff geführt hatten. Sie selbst zu fragen, hatte wohl wenig Sinn... Er gab einem der Roboter die Anweisung, in regelmäßigen Abständen – jeweils 15 Sekunden – ein Situationsprotokoll an die POINT OF zu senden. Ein schnellerer Takt schien ihm erheblich übertrieben. Währenddessen folgte die Schwebeplattform weiter den vorausmarschierenden Shirs. Ren Dhark war gespannt darauf, wo diese »Reise« endete... * Sie endete vorläufig in einer riesigen Halle, die einem Parlamentssaal ähnelte. Natürlich war sie riesig, mußte es einfach sein, weil die Shirs selbst schon immens groß waren. Für die Terraner und den Tel war sie deshalb nicht weniger eindrucksvoll, beinahe schon übermächtig. Zwerge sahen sich Riesen gegenüber, und diese Riesen waren auch noch nichthumanoid! Für Besucher gab es nicht einmal einen offiziellen Platz. War es das erste Mal, daß Fremde diesen Planeten nicht nur betraten, sondern auch vor dem »Rat der Shirs«, wie diese Institution sich nannte, Gehör fanden? Hatten die Salter, die aussterbenden Letzten von Lemuria, nie hier gesprochen? Hatten nicht Shirs und Salter einträchtig nebeneinander gelebt? Aber warum war dann auf die Belange der humanoiden
Salter keine Rücksicht genommen worden? Daran, daß nach deren Abschied vom Planeten der Shirs alle für sie geeigneten Einrichtungen abgebaut worden wären, konnte Ren Dhark nicht glauben. Nicht allein, weil nur relativ wenig Zeit verstrichen war. Sondern weil er den Shirs nicht zutraute, daß sie Sentimentalität und Erinnerungen so gering schätzten. Als sich der »Rat der Shirs« versammelte, gewann er zusätzlich den Eindruck, daß bei weitem nicht alle Ratsmitglieder Interesse zeigten, hier zu erscheinen. Denn mehr als zwei Drittel der vorgesehenen Plätze blieben leer. »Du irrst, Ren Dhark«, teilte ihm eines der riesigen Wesen mit. »Wir sind weniger, als dieser Saal fassen kann, aber das ist beabsichtigt, denn wir bauen für die Ewigkeit, und wenn wir eines Tages mehr Shirs sind als heute und mehr Vertreter benötigen, die im Rat für jene sprechen, von denen sie dazu beauftragt wurden, ist genügend Platz vorhanden. Tritt dieser Fall nicht ein, benötigen wir den Platz auch nicht, aber warum sollte uns das stören? Umgekehrt wäre es schlimmer.« Ren betrachtete den Sechsbeiner. Drei Ohren, fünf Augen... wie sah dieses Wesen mit diesen fünf Augen? Wie nahm es seine Umgebung wahr? Waren einige dieser Augen besonders spezifiziert? Er unterdrückte den Wunsch, danach zu fragen, weil er nicht unhöflich sein wollte. Allerdings interessierte ihn diese Frage, weil er so direkt mit dem Shir zu tun hatte und, unbelastet von allen anderen Dingen, einfach gern verstanden hätte, wie man mit fünf Augen sah und welchen Vorteil das brachte. Er zwang sich, zur aktuellen Unterhaltung zurückzufinden. Unterdessen hatte Wer Dro Cimc eine Frage gestellt, die ebenso bereitwillig beantwortet wurde. »Uns zieht nichts in den Weltraum hinaus. Wir sind mit dem zufrieden, was unser Planet uns zu bieten hat. Früher ebenso wie nach der großen Veränderung. Wer versucht, den Weltraum zu erobern, wird vom Weltraum erobert werden. Das
wollen wir nicht. Wir wollen frei bleiben in unserem Denken und unseren Entscheidungen.« Ein kalter Schauer überlief Ren Dhark. Wer versucht, den Weltraum zu erobern, wird vom Weltraum erobert werden. Er nahm's persönlich; es mußte ihn persönlich treffen, hegte er doch wie kaum ein anderer die Sehnsucht nach den Sternen in seinem Herzen. Was der Shir sagte, stimmte! Ren Dhark war längst vom Weltraum erobert worden! Schon in seiner Kindheit war da kaum etwas anderes gewesen. Er hatte zum Sternenhimmel hinaufgeblickt und sich und anderen gesagt: »Ich muß dort hin und mir all diese Sterne aus der Nähe ansehen – oder wenigstens einen Teil davon!« Sein Vater war Raumschiffkommandant gewesen. Dadurch hatte Ren jede erdenkliche Chance gehabt, ihm zu folgen. Sam Dhark war ein Sternenträumer gewesen wie Ren, aber auch ein realistischer Politiker, und ob Ren ihm auf diesem Weg folgen konnte, wußte er nicht. Dennoch hatte er seinen Vater schon überflügelt – der Sohn war der Regierungschef des terranischen »Sternen-Imperiums« geworden. Nur wohl fühlte er sich damit nicht. Man hatte ihn einfach per Wahl gezwungen, die Geschicke der Menschen zu lenken. Er selbst sah es eher so, daß kein anderer dagewesen war, den man an seiner Stelle hätte wählen können. Natürlich hatte er selbst auch seine persönlichen Ansprüche an die Politik, und es erschreckte ihn oftmals, mit welchen Widrigkeiten sein Stellvertreter Trawisheim fertig werden mußte. Probleme, die zu lösen Sam Dhark sicher besser geeignet gewesen wäre. Aber Sam Dhark war im Weltraum gestorben. Noch bevor die GALAXIS auf Hope landete – gelandet worden war von Ren Dhark, einem Jungspund, dem bis dahin noch kaum jemand etwas zugetraut hatte und dem sich später auch die »alten Hasen« der GALAXIS freiwillig unterordneten – nicht,
weil er Commander Sam Dharks Sohn war, sondern weil er Ren Dhark war! Oft wünschte Ren sich, daß Sam noch lebte und an seiner Stelle Commander der Planeten wäre, damit er selbst, Ren, Weltraumabenteuer erleben konnte. Er erlebte sie. Aber er mußte sich damit auch ständig der Kritik derer aussetzen, die sagten, ein Regierungschef und »Krisenkiller«, als der Ren sich erwiesen hatte, gehöre vor Ort und nicht irgendwo in Weltraumtiefen, während die »zweite Garnitur« daheim die Scherben aufräumte. Ähnlich zogen andere gegen Dan Riker zu Felde, der nominell Chef der Terranischen Flotte war, aber ständig mit seinem Freund Ren Dhark das Weltall durchkreuzte und die eigentliche Arbeit seinem Stellvertreter Marschall Bulton überließ. Nicht, daß Ted Bulton selbst darüber ernsthaft verärgert gewesen wäre... er konnte schalten und walten, wie er wollte, nur eingeengt von Vorschriften und Durchführungsverordnungen, und zur Not konnte er die Verantwortung immer auf Riker abschieben und seine eigene Weste sauber halten. Indessen hielten seine eigenen Entscheidungen durchaus jeder Kritik stand. Bulton war kein knochentrockener Schreibtischtäter, sondern ein genialer Verwaltungsstratege, der noch dazu die »praktische« Seite kannte und ein Herz für seine Starship Troopers hatte. Für ihn gingen die Frauen und Männer der TF durchs Feuer – ob sie es für Dan Riker ebenso tun würden, konnte niemand mit Gewißheit sagen... Nicht nur deshalb war auch Dan froh, daß ihm Offiziere wie Bulton, Trawler und Patters, Bultons rechte Hand, den Rücken frei hielten. Und wenn er als Flottenchef auf politischer Ebene den Kopf für sie hinhalten mußte – das war das mindeste, was er tun konnte. Auch Dan Riker gehörte zu denen, die nach den Worten des Shir »vom Weltraum erobert worden« waren!
»Diese ›große Veränderung‹ – was bedeutet das?« fragte derweil Dro Cimc. »Alles«, erhielt er zur Antwort. Der Tel wandte sich Ren Dhark zu. »Eine faszinierend detaillierte Antwort, finden Sie nicht auch, Commander?« »Shir, dessen Namen ich nicht kenne, in welcher Form äußert sich diese ›große Veränderung‹, von der eben die Rede war?« »Mein Name ist...«, erwiderte der Shir und artikulierte eine Lautfolge, die von menschlichen Stimmorganen nicht nachzuvollziehen war. Cimc machte den Fehler, sich daran die Zunge zerbrechen zu wollen. Der Shir reagierte nicht. Dhark versuchte es erst gar nicht. In der Sprache der Mysterious gab es keine Analogie, und vermutlich hätte es eines telepathischen Kontaktes bedurft, um zu begreifen, wie der Shir-Name wiedergegeben wurde. Aber darauf wollte sich natürlich niemand einlassen... »Shir, dessen Namen ich nicht verstehe oder nachbilden kann, mein Freund Dro Cimc fragte, in welcher Form sich die von dir erwähnte ›große Veränderung‹ darstellt«, drängte Ren. »Der Rat der Shirs wird sich in kurzer Zeit versammeln. Dann mögt ihr eure Fragen stellen«, wich der Shir aus. »Ich will die Antwort jetzt!« fuhr Ren ihn energisch an. Der Shir ignorierte ihn einfach. Der Schwarze Weiße berührte Rens Arm. »Ich weiß, daß Sie mit ganz bestimmten Begriffen Ihrer Kultur sehr vorsichtig umgehen. Ist es unverschämt, zu fragen, warum Sie mich eben als Ihren ›Freund‹ benannten?« »Es ist unverschämt, diese Frage jetzt zu stellen«, erwiderte Ren. »Vielleicht sollte ich es mir wirklich noch einmal überlegen, ob ich Sie zu meinen Freunden zählen sollte oder nicht.« »Ich wollte Sie nicht beleidigen, Dhark.« Der winkte ab.
Mittlerweile tauchten immer mehr Shirs auf. Die Anwesenheit der Menschen nahmen sie zur Kenntnis, als sei das eine alltägliche Erscheinung. Diszipliniert begaben sie sich zu ihren Plätzen und ließen sich dort auf Konturlagern nieder, deren Form sich variabel zeigte und jeder Körperhaltung eines Shir selbständig anpaßte. Damit hatten auch die Mysterious nie aufwarten können; eine ähnliche Sitz- und Liegemöbel-Technologie war nur von den Utaren bekannt, die auf Bequemlichkeit offenbar sehr viel Wert legten. Wie auch die Shirs, die jetzt eine enorme Aura zufriedener Gemütlichkeit aussandten, kaum daß sie es sich bequem gemacht hatten. Ren konnte sich vorstellen, daß es, im Gegensatz zu terranisch-harten Parlamentarierstühlen, sogar Spaß machen konnte, in solcher Bequemlichkeit an einer Ratssitzung teilzunehmen, und er erinnerte sich, daß der Salter Olan die Shirs als verspielt bezeichnet hatte. Die Plätze waren noch nicht zur Hälfte belegt, als einer der Shirs die Sitzung eröffnete. »Niemand hat euch gebeten, uns aufzusuchen, nicht vor kurzer Zeit und nicht jetzt, und nur um des Gedenkens unserer Freunde, der Salter, willen gestatteten wir euch, dieses zweite Mal auf unserer Welt zu landen. Die Gastfreundschaft auch unseren Feinden gegenüber erfordert, daß wir euch freundlich behandeln, aber...« »Stop!« unterbrach ihn Ren Dhark. »Wir...« Er wurde selbst unterbrochen. »Terraner Dhark, ist es auf deinem Planeten nicht ein Gebot der Höflichkeit, andere ausreden zu lassen?« »Nicht, wenn es darum geht, falsche Anschuldigungen schon im Ansatz zu korrigieren! Wir sind nicht eure Feinde, waren es nie und wollen es auch nicht sein! Warum bezeichnest du uns dann als Feinde?« »Weil deine Galaxis Krieg gegen die Völker unserer
Sterneninsel führt!« * Wallis hatte Chris Shanton für den Abend zu einer Soiree im kleinen Kreis geladen. In die Firmenzentrale. Dort besaß er neben seinem Büro »ein etwas größeres Refugium«, wie er sich ausdrückte, in das er sich zurückzog, falls ihm mal keine Zeit blieb, seine Farm im Lancaster County aufzusuchen. Und ›kleiner Kreis‹ bedeutete in diesem Fall, daß außer ihm und Shanton nur noch Robert Saam sowie Jon Vassago eingeladen sein würden. Sie waren schon anwesend, als Shanton mit Jimmy im Schlepptau eintrat. Chris spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfiff. Vor ihm lag ein großes, dreißig Meter langes Zimmer, dessen vom Fußboden bis zur Decke reichendes Fenster an der gegenüberliegenden Wand den Blick auf die weitläufigen Anlagen von Wallis Industries freigab. Von wegen ›kleines Arbeitszimmer‹! Verdammt, hier hätte man gut und gern die Jahresabschlußfeier eines Mädchenpensionats abhalten können, ohne dabei in Platznot zu geraten. Das riesige Zimmer trug den Stempel von Wallis' starker Persönlichkeit, und der erste Eindruck war der von Wärme und Einfachheit. Dann allerdings entdeckte das Auge allmählich allerlei Rätselhaftes in dieser Schlichtheit. Ein eigenartiges Gemisch von einander widersprechenden Stilen, die aber erstaunlich gut miteinander harmonisierten. Die tiefe Sitzcouch in schwarzem Leder hinter einem langen, niedrigen Glastisch auf verchromten Füßen. Davor mehrere Sessel aus dem gleichen Material. An der Wand darüber hing ein halbes Dutzend Bilder mit verschiedenen Planetenlandschaften, auf denen unübersehbar Wallis-
Raumschiffe zu erkennen waren: Prospektorenschiffe, die diese Welten kartiert hatten. Der Boden des Raumes war mit geometrisch angeordneten Achtecken in mattem Schwarz und Weiß versehen. Darauf lagen, anscheinend achtlos auf ihm verstreut, vier bis fünf Teppiche verschiedener Größen in glühenden, satten Farben. Der große Schreibtisch an der linken Längswand war eine High Tech-Ausführung mit einer Reihe jetzt allerdings versenkter Viphoschirme. Aus einer spaltweit offenen Tür rechts im Zimmer drang schwach das grünlich schimmernde Leuchten mehrerer Bildschirme und das Wispern aktiver Suprasensoren. Ansonsten wies nichts darauf hin, daß man sich in der Zentrale eines Industriemagnaten befand. »Heiliger Bimbam, das haut einen glatt von den Socken«, murmelte Shanton, der sich bei starken Gemütsbewegungen stets durch eine etwas blumige Wortwahl Erleichterung verschaffte. »Ich hoffe nur, du hast keine Löcher in ihnen, falls du später aus den Latschen kippst, wegen eines zu eifrigen Zuspruchs zu geistigen Getränken«, erinnerte ihn Jimmy spitz. »I wo, du kennst mich doch!« »Eben drum...«, bekannte Jimmy fröhlich und überlaut. »Wenn du dich nicht augenblicklich am Riemen reißt«, schimpfte Shanton mit verhaltener Stimme, »und solche Äußerungen für dich behältst, schalte ich dein Sprachmodul stumm, du blecherne Kopie eines Möchtegern-Hundes. Versprochen.« Wallis winkte ihm zu. »Setzen Sie sich bitte, Mister Shanton, wohin Sie möchten. Getränke stehen in ausreichender Zahl zur Verfügung«, er machte eine Handbewegung zu dem mit exquisiten Flaschen überladenen Servierwagen, der auf seinem A-Gravpolster in bequemer Reichweite stand. »Und wenn sich Hunger einstellen sollte, kein Problem. Ein Caterer liefert binnen zwanzig
Minuten alles, was das Herz begehrt.« Shanton ließ sich in einen der fürchterlich bequemen Sessel plumpsen, grinste Wallis an und sagte: »Nobel, nobel. Und so grundverschieden von der Einrichtung Ihres Büros.« Terence Wallis schenkte sich einen Edradour (aus einer Flasche, die 1995 nach 19jähriger Faßreife abgefüllt worden war) ein, pur, ohne Wasser oder Eis, und musterte seinen übergewichtigen Gast über den Rand des Glases hinweg. »Wie darf ich das verstehen?« »Nun, in Ihrem Büro halten Sie wohl nichts von Besuchern, oder?« »Worauf beruht diese Schlußfolgerung?« »Der Besucherstuhl vor Ihrem Schreibtisch ist so entsetzlich unbequem«, versetzte Shanton und gönnte sich einen Schluck eines uralten französischen Cognacs, der augenblicklich sein Wohlbefinden um hundert Prozent steigerte. Es handelte sich um Lheraud vom Jahrgang 1975 – der einzige Jahrgangscognac, der jemals hatte produziert werden dürfen, wie Chris mit einem fast schaudernden Blick auf das Etikett feststellte. Ein winziges Lächeln umspielte den ausdrucksvollen Mund des Industriellen. »In mein Büro kommt man auch nicht zum Ausruhen! Hierher schon.« »Diesem Argument kann man sich nicht verschließen.« »Sehen Sie, Mister Shanton, ich bin nicht der Workaholic, als der ich allgemein verschrien bin. Klar, ich habe ein Imperium aufgebaut, das über zweihundert Raumschiffe und dreihundert Niederlassungen verfügt. Mehr als zweihundertachtzigtausend Menschen arbeiten direkt oder indirekt für Wallis Industries. Ich zahle überdurchschnittlich hohe Gehälter und belohne außerdem geschickte Mitarbeiter mit außergewöhnlich lukrativen Prämien. Ich mag als kalt und gelassen verschrien sein, aber meine Angestellten sehen das
nicht so, weil ich Gerechtigkeit und Härte in einer Form verbinde, die bei ihnen allgemein Anklang findet. Ich verlange von keinem meiner Mitarbeiter etwas, was ich nicht selbst zu tun in der Lage wäre – schwere körperliche Arbeit ausgenommen, dafür haben wir nämlich Maschinen. Ansonsten aber«, er hob sein Glas und roch an dem Whisky, »bin ich sehr für die angenehmen Seiten des Lebens. Sie verstehen?« Shanton nickte. »Sie nehmen Ihren Whisky ohne Wasser oder Eis, wie ich sehe. Wußten Sie eigentlich, Mister Wallis, daß sich echte Whiskykenner die Nase zuhalten beim Trinken?« »Wieso das denn?« »So vermeiden sie, daß ihnen vom Aroma das Wasser im Munde zusammenläuft und den Whisky dadurch doch noch verdünnt...« »Haha«, machte Wallis mit gequälter Miene. »Ein Scherzlein, wie entzückend...« »Haha«, versetzte Wallis mit leicht gequälter Miene, ließ sich aber nicht weiter darüber aus, wie er über die Qualität dieses Bonmots dachte. »Humbug!« giftete Jimmy statt seiner und schüttelte in einer typisch menschlichen Geste den Kopf. »So ein Unsinn! Du kannst nicht mal vernünftig Witze erzählen, Dicker! Ich schäme mich für dich, ehrlich!« Mit gesträubtem Rückenfell streckte er sich auf Wallis' kostbarem Teppich aus, legte die Vorderpfoten über die Augen und schien gewillt, seinen Herrn und Meister fürderhin mit Geringschätzung zu strafen. Die Darstellung war bühnenreif, kein Zweifel. Terence Wallis grinste jetzt offen. »Ihr Robothund hat so was erfrischend Offenherziges an sich, Shanton. Ich bin echt gerührt.« »Und ich erst«, brummte der Chefingenieur und widmete sich seinem Cognac. Nach einer Weile wandte er sich an Saam. »Da fällt mir ein, Robert...«
»Hoffentlich kein neuer Witz«, brummte Vassago und verzog das Gesicht, als plagten ihn Zahnschmerzen. »... wo haben Sie eigentlich Ihre entzückende Mitarbeiterin gelassen?« »Wen meinen Sie?« Saams Miene bekam einen leicht verkrampften Zug. »Na, diese... diese McRae-Preisträgerin. Wie heißt sie gleich noch mal?« »Miß Lindenberg ...«, murmelte Saam nervös. »Genau!« dröhnte Shanton und stapfte in seiner unnachahmlichen Art voll in das Fettnäpfchen von der Größe eines Eimers. »Diese Miß Regina Lindenberg mit ihrer großen...« im letzten Augenblick bremste er sich und vollendete: »... mit ihrer großen Begabung. Ich vermisse sie, ehrlich! Weshalb ist sie nicht hier?« »Sie wollte wohl noch eine Versuchsreihe abschließen«, versetzte Terence Wallis' technisches Genie mit leicht roten Flecken auf den Wangenknochen. »Sie sollten sie nicht so hart Arbeiten lassen«, erwiderte Shanton und schüttelte tadelnd den Kopf, daß sein Vollbart wehte. »Zu viel Arbeit verdirbt den Charakter, besonders den einer Frau.« Woher Chris Shanton, bekennender Junggeselle, diese tiefschürfende Erkenntnis nahm, verriet er nicht. Er war nur sehr stolz auf diesen Satz und genehmigte sich deshalb noch einen Cognac. Der Abend schritt fort. Die Sonne verschwand hinter der Skyline von Pittsburgh. Die vier so unterschiedlichen Männer tranken langsam, diskutierten, hörten Musik aus einem Viphokanal, dessen Bildgeber abgeschaltet war. Und kamen doch wieder auf die Arbeit zu sprechen... »... also ich finde die Idee einfacher, robuster Billigkonstruktionen wie deiner Roboter hervorragend,
Robbie«, gestand Wallis seinem Protege Saam. »Dem kann ich mich nur anschließen«, pflichtete Chris Shanton bei. »Dann werdet ihr an dieser neuen Idee von mir sicher ebensoviel Gefallen finden«, sagte Saam, griff in die Innentasche seiner Jacke und brachte eine flache Scheibe zum Vorschein, in der Shanton einen Holoprojektor erkannte. Robert legte die Scheibe auf die Glastischplatte. Seine Finger berührten einen Kontakt. Über dem Tisch materialisierte als transparentes Holo ein Gebilde, das im ersten Augenblick ein bißchen für Verwirrung sorgte, bis jedem klar war, daß es sich um einen Ikosaeder, auch Zwanzigflächner genannt, handelte. Die miniaturisierte Suprasensorik in der Trägerscheibe ließ das Gebilde in der virtuellen Wiedergabe langsam um eine imaginäre Achse rotieren, so daß es sich den Betrachtern aus allen Blickwinkeln darbot. »Welche Bewandtnis hat es nun damit schon wieder?« erkundigte sich Terence Wallis mit leichtem Kopfschütteln, aber leuchtenden Augen; er kannte sein Genie. Immer gut für Aufregendes, Neues, Überraschendes. Robert Saam sah in die Runde. »Was könnte das denn wohl sein?« begann er mit der Miene eines Rateonkels aus der Medienbranche. »Oder anders herum gefragt: Was fehlt der Erde nach dem galaktischen Blitz am meisten?« »Schiffe!« platzte Shanton heraus. »Bingo! Der Kandidat bekommt 999 Punkte!« »Schiffe?« echote Vassago verblüfft. »Raumschiffe, um präzise zu sein«, bestätigte Shanton. »Und das da«, er deutete auf das etwa einen Meter im Durchmesser betragende Holo, »dürfte ein neuer Prototyp sein.« »Schnickschnack!« stieß der ›mongolische Kleiderschrank‹
ungläubig hervor und stellte sein Glas hart ab. »Verarschen kann ich mich selbst.« »Niemand will dich verarschen, Jon«, beschwichtigte Wallis seinen Leibwächter, »um bei deiner etwas derben Diktion zu bleiben. Robbie wird uns gleich darüber aufklären, was er sich dabei gedacht hat.« Das tat der liebe Robbie auch. »Dies ist«, ließ er verlauten, »ein gleichmäßiger Zwanzigflächner oder Ikosaeder. Eine geometrische Figur also, die aus zwanzig gleichschenkligen Dreiecken gebildet wird. Das Interessante daran ist, daß es zwölf Verbindungspunkte gibt«, Saam ließ einen Lichtzeiger aufflammen, der wie ein Cursor arbeitete und über das Gebilde wanderte, »an denen man Waffenstationen montieren könnte.« »Aber ja!« unterbrach ihn Shanton und beugte sich nahe an das Holo heran, sein geschultes Auge sah sofort die Vorteile dieser Bauweise. »Ein Ikosaeder-Schiff könnte einen Gegner stets mit mindestens fünfzig Prozent seiner Waffen angreifen – oder sich damit verteidigen.« »In der Regel sogar mit mehr«, behauptete Saam. »Sehen Sie's?« Das virtuelle Schiff vollführte eine nicht mal sonderlich komplizierte Drehung, und aus den rot eingezeichneten Verbindungspunkten schossen winzige, grün leuchtende, ungefährliche Strahlenbahnen. Shanton schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Natürlich! Wie konnte ich das übersehen! Bei entsprechendem Anflugwinkel können bis zu elf der zwölf Waffenplattformen gleichzeitig ein Ziel bestreichen.« »Natürlich ist das nicht der einzige Grund, einen derartigen Schiffstyp zu entwickeln«, ließ sich Robert Saam weiter vernehmen. »Ein sehr großer Vorteil dieser Konstruktionsweise: Wir könnten die Schiffe aus Tofirit bauen. Die bislang enormen Probleme bei der Verarbeitung von Tofirit würden sich mit einem Schlag auf ein Minimum
reduzieren, da ja nur dreieckige, plane Platten geschmiedet werden müßten und keine komplizierten sphärischen Gebilde, wie es jetzt noch der Fall ist. Auch die Verbindungsnähte der einzigen Elemente der Außenhülle sind einfache, gerade Linien. Diese Schiffe wären einfach herzustellen und dank ihres Torfirit-Panzers trotzdem enorm widerstandsfähig gegen Beschuß. Die Schiffe sind in jeder Größe denkbar, von der Einmannausführung bis hin zum gewaltigen Schlachtschiff. Sie bieten ein sehr gutes Verhältnis von Hüllenfläche zu nutzbarem Innenraum. Der Innenraum bietet nicht nur Platz für leistungsfähige Antriebsaggregate, sondern auch für starke Schutzschirmprojektoren und sonstige Einrichtungen, die ein kampfstarkes Raumschiff so braucht.« »Du überrascht mich immer wieder, Robbie«, bekannte Wallis, dessen Begeisterung über das eben Gehörte nicht zu übersehen war. »Du bist wirklich der Beste...« »Sage ich doch schon die ganze Zeit«, entgegnete Robert Saam selbstbewußt, »ich bin der Beste.« »... und deshalb ordne ich an, daß du morgen mit der Entwicklung eines Prototypen beginnst! Ich will dein IkoSchiff fliegen sehen!« Damit war noch vor der ersten ernsthaften Konstruktionszeichnung der Name eines Raumschiffstyps geprägt, der einst das Antlitz der Galaxis verändern sollte...
13. Verblüfft sahen die Menschen sich an. »Der spinnt doch!« entfuhr es Arc Doorn. »Unsere Galaxis führt Krieg gegen...? Ach, verdammt, wir haben weiß Gott Wichtigeres zu tun!« »Deine Behauptung ist falsch, Shir!« rief Dhark dem riesigen Wesen zu. »Warum sollten wir gegen eure Völker Krieg führen?« »Das, Terraner, wollen wir von dir wissen!« »Wir führen keinen Krieg. Wir haben genug mit unseren eigenen Problemen zu tun. Wir versuchen zu überleben und uns selbst gegen Angriffe zu wehren. Wenn du so willst: ja, wir befinden uns durchaus in einem Krieg. Aber nicht gegen die Völker Drakhons!« »Drakhons?« »Drakhon ist der Name eurer Galaxis, so wie unsere als Milchstraße bezeichnet wird.« Lachten die Shirs? Eine Art kollektives Donnergrollen ging durch den Saal. »Milchstraße, das klingt... einfallsreich und ungewöhnlich – witzig«, gestand einer der Sechsbeiner. Aber er wurde rasch wieder ernst. »Wir bezeichnen unsere Galaxis als...« Wieder einer jener Begriffe, die von menschlichen Stimmorganen nicht nachgebildet werden konnten. »Selbst wenn wir einen Grund hätten, eure Galaxis zu bekämpfen – wir hätten überhaupt nicht die nötigen Ressourcen dafür«, fuhr der Commander fort. »Interstellare Kriege sind unnütz und gigantische Kostenfresser, intergalaktische noch mehr. Wir würden uns selbst zerstören.« »Warum tut ihr es dann?« »Verdammt noch mal, wir tun es eben nicht!« fuhr Tschobe auf. »Geht das nicht in eure Köpfe hinein? Die sind doch groß
genug, um's begreifen zu können!« »Wir wissen, daß ihr es tut. Es ist unnötig, es abzustreiten«, fuhr der erste Sprecher der Shirs ungerührt fort. »Es ist nötig, uns einen Grund zu nennen.« »Der will das einfach nicht begreifen«, murmelte Tschobe entnervt. »Ich glaub's einfach nicht!« »Und die Shirs glauben uns nicht«, erwiderte Dhark. »Ich bin sicher, daß das nur ein Mißverständnis sein kann. Vielleicht...« »Die Grakos?« überlegte Dro Cimc. »Vielleicht treiben die auch hier ihr Unwesen, und die Shirs rechnen sie unserer Galaxis zu?« »Möglich«, murrte Tschobe. »Aber auch wieder nicht, denn sie sollten ja wohl in der Lage sein, unsichtbare Riesenstationen von unseren Raumern zu unterscheiden, oder? Wer und was auch immer durch Drakhon kreucht und fleucht, wird doch wohl über Ortungsinstrumente verfügen!« »Wenn sie unseren Worten nicht glauben wollen, dann eben unseren Gedanken«, sagte Ren und griff nach dem Stirnreif. »Dhark!« Mit einem Schritt war Tschobe neben ihm und hielt seine Hand fest. »Haben Sie den Verstand verloren? Wissen Sie, was Sie da tun wollen?« »Den Shirs die Wahrheit präsentieren.« »Lassen Sie das lieber«, warnte auch Lati Oshuta. »Diese Paramonstren werden Sie sofort unter ihre Kontrolle nehmen.« »Das glaube ich nicht«, entgegnete der Commander. »Ich bin sicher, daß sie wirklich das friedliebende Volk sind, als das sie sich darstellen. Aber sie müssen begreifen, daß wir nicht die Kriegsherren sind, als die sie uns ansehen.« »Sie machen einen Fehler, Dhark«, mahnte auch der Tel. »Vielleicht. Aber dann sind immer noch Sie alle zur Stelle, um diesen Fehler wieder auszubügeln. Sie brauchen mir ja nur den Reif wieder aufzusetzen, wenn ich es nicht von selbst tue – nach einer gewissen Zeit des gegenseitigen
Gedankenaustauschs.« »Und wie lange soll der dauern?« »Ich weiß es nicht. Es liegt an den Shirs.« Entschlossen streifte er den Stirnreif ab. »Seht und begreift«, verlangte er. * Und die Shirs sahen und begriffen. Sie sahen die Wahrheit, wie er sie sah. Begriffen, daß er nichts von einem Krieg zweier Galaxien gegeneinander wußte. Daß die Menschen schuldlos waren. Sie sahen, daß er trotz der Anschuldigungen den Shirs vertraute. Trotz ihrer früheren parapsychischen Manipulationen, von denen er selbst sogar am stärksten betroffen war. Während des Kontaktes fühlte er eine ganz leichte Berührung seines Geistes. Sie zeigte ihm, daß die Shirs da waren und wieder gingen, als diese mentale Berührung schwand. Sie hätten nicht nötig gehabt, es ihm auf diese Weise zu zeigen, aber sie taten es. Er bekam seinerseits einen vagen Eindruck von Ratlosigkeit mit, der unter den monströsen Riesengeschöpfen herrschte, und als der Kontakt beendet war, setzte er ganz langsam den Stirnreif wieder auf. Nichts hatte sich verändert; nur die Stimmung unter den Riesen. Die Ratlosigkeit, die sich bereits in der telepathischen Berührung gezeigt hatte, äußerte sich nun auch verbal. Ren war sicher, davon nur einen winzigen Teil mitzubekommen, denn untereinander kommunizierten die Shirs ausschließlich telepathisch. »Wenn ihr es nicht seid, wer ist es dann?« Diese Frage konnte niemand beantworten. »Wir bitten euch um Verzeihung dafür, daß wir euch zu
Unrecht beschuldigten. Ihr seid nach wie vor unsere Gäste.« »Ob die vor zweitausend Jahren mal Terra besucht haben?« murmelte Tschobe, der Mediziner und Funkspezialist. »Die Römer hatten nämlich für ›Gäste‹ und ›Feinde‹ ein gleichklingendes Wort...« Dhark winkte ab und wandte sich wieder dem Shir zu, der gesprochen hatte. »Wir sind nicht nachtragend, und wir nehmen eure Gastfreundschaft an.« »Man wird euch ein Quartier weisen, es sei denn, ihr wollt wieder in euer Raumschiff zurückkehren. Wir müssen beraten. Später werden wir wieder miteinander reden. Es gibt einiges zu klären.« »Das glaube ich auch«, murmelte Tschobe düster. »Wir werden genießen, was ihr uns anbietet«, entschied Ren Dhark. * Einer der Shir-Ratsherren führte die Gruppe der Besucher aus dem »Parlamentssaal« hinaus und durch einen Teil der Stadt zum Gästequartier. Weiterhin benutzten die Terraner die Schwebeplattform; anders hätten wohl höchstens die Cyborgs mit den Riesenschritten des Shir mithalten können, auch wenn der sich bemühte, möglichst langsam zu gehen. Ren Dhark und die anderen gewannen den Eindruck einer hochtechnisierten Zivilisation. Warum aber verbargen die Shirs das nach außen hin? Er fragte den Ratsherrn danach. »Wir erstreben ein möglichst naturverbundenes Leben«, gestand der Shir, während er neben der A-Gravplatte her schritt. »Einst war das anders. Aber nach der großen Veränderung haben auch wir vieles an unserer Zivilisation verändert. Immer noch verfügen wir über Raumschiffe, aber wir verlassen unsere Welt nur sehr ungern. Nur dann, wenn es
sich wirklich nicht vermeiden läßt.« »Diese große Veränderung«, hakte Ren noch einmal nach. »Was bedeutet sie?« Auch jetzt ging der Shir nicht auf diese Frage ein. Statt dessen fuhr er fort: »Damals beschlossen wir, die Oberfläche unseres Planeten völlig zu renaturieren, damit wir darauf im Einklang mit der Natur leben können. Wir wissen, daß wir zuvor sehr viel falsch gemacht haben. Wir zerstörten viel, weil wir viel wollten. Nunmehr genießen wir, was wieder entstand, achten die Werte der Schöpfung und schützen und erhalten sie.« »Aber ihr lebt doch hier unten in der Stadt.« »Manche von uns. Andere leben an der Oberfläche. Manchmal kommen die anderen zu uns herunter, oder wir gehen zu ihnen hinauf. Wir nehmen beide Lebensweisen wahr, wie es uns gerade gefällt. Heute bin ich in dieser Stadt. Morgen vielleicht an der Oberfläche, um mit den Bäumen zu denken oder einfach nur mich zu entspannen, zu spielen... wie es mir gefällt. Die technische Unterstützung, die wir durch diese Anlagen hier erfahren«, dabei machte er mit seinem Spatenkopf eine in die Runde weisende Bewegung, »verschafft uns die Möglichkeiten dazu. Es gibt viele dieser Anlagen. Viele dieser Städte. Sie sind überall auf dem Planeten, aber sie sind niemals an der Oberfläche, sondern vor allem in den Gipfeln der Berge untergebracht. Wer sie als Fremder sieht, der unsere Welt betritt, wird nichts davon bemerken.« »Warum erzählst du uns das so bereitwillig, nachdem ihr früher alle Anstrengungen unternommen habt, die Existenz dieser Anlagen vor uns geheimzuhalten und dafür sogar unser Bewußtsein manipuliertet?« bedrängte Tschobe ihn. »Du bist der, in dessen Geist auch etwas von unserer Art wohnt«, sann der Shir. »Ich erkenne dich wieder. Auch bei eurem ersten Besuch warst du mit dabei.« Der Afrikaner schluckte. Der Shir hatte erkannt, daß
Tschobe selbst über eine schwache Parabegabung verfügte. »Ich dagegen erkenne dich leider nicht wieder«, sagte er leise. »Wir können euch nicht sehr gut voneinander unterscheiden.« »Das ist normal«, beschied ihm der Shir. »Aber wenn du auf die Fellzeichnung achtest, die bei jedem von uns anders ist, wirst du die Unterschiede erkennen. Unsere Namen, die ihr nicht aussprechen könnt, basieren zum Teil auf den Farbmustern.« Tschobe seufzte. Erst jetzt wurde ihm klar, daß die Shirs auf Kleidung verzichteten. Nun, deshalb hatten die Terraner sie damals auch zunächst für Tiere gehalten, bis die Shirs durch den telepathischen Kontakt ihre Intelligenz offenbarten. »Terraner, es ist einfach, eigenen Beobachtungen zu folgen und dadurch zu Vorurteilen zu gelangen, wenn etwas einmal nicht mehr so ist, wie es den Erfahrungen nach sein müßte. Und warum sollten wir uns in Kleidung hüllen? Wir könnten unsere Namen nicht mehr voneinander unterscheiden, und wir brauchen sie auch sonst nicht. Wenn die Temperaturen für uns zu sehr sinken, kehren wir in die Wärme der Städte zurück. Ihr dagegen mit nackter Haut wie auch die Salter, seid darauf angewiesen, euch ständig zu schützen.« Dro Cimc grinste. »Wir Humanoiden sind nun mal alle ein bißchen verweichlicht.« »Wir waren es auch vor der großen Veränderung«, gestand der Shir. Nach wie vor ging er auf dieses Thema nicht ein, aber um so bereitwilliger berichtete er von den ausgedehnten Industrieanlagen und den mit höchstem Komfort ausgestatteten Wohnkomplexen im Inneren der Berge. Tschobe wiederholte seine Frage von vorhin, die der Shir offengelassen hatte, und wollte wissen, warum dieser jetzt so auskunftsfreudig war. »Warum sollen wir noch etwas vor euch zu verbergen
versuchen, das wir nicht länger verstecken können? Ihr habt eine Möglichkeit entwickelt, unseren Schutz zu durchbrechen, und ihr könnt alles herausfinden, was ihr finden wollt. Warum also sollen wir uns und euch die Mühe machen, das Versteckspiel fortzusetzen? Wir können unsere Kraft für wichtigere Dinge nutzen.« Nach einer Weile erreichten sie die Wohnanlage, die für die Dauer ihres Aufenthalts zum Quartier für die Menschen werden sollte. Die Shirs waren großzügige Gastgeber – jeder Terraner und auch der Tel bekamen eine eigene Wohnung. Lediglich die Roboter wurden recht stiefmütterlich behandelt und hatten mitsamt der Schwebeplatte und dem darauf verankerten Translator außerhalb der Häuser im »Freien« zu verbleiben. Ren Dhark betrat »seine« Wohnung durch ein riesiges Portal, das dem Tor eines Flugzeughangars glich. Die Zimmer im Inneren waren große Hallen. Wie sollte es auch anders sein, war das Haus doch ursprünglich für die Belange der Shirs gebaut. Es handelte sich bei den Gästequartieren um Wohnungen aus den »Überkapazitäten«, die vorausschauend errichtet worden waren, wie auch die Shirs in allen Belangen immer etwas großzügiger zugelangt hatten, als es nötig gewesen wäre. Alles war auf Populationszuwachs eingerichtet. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß es in den nächsten Jahrhunderten zu einer sprunghaften »Bevölkerungsexplosion« kommen könnte, sei vernachlässigbar gering, teilte der Shir Dhark mit. Man sei mit der Anzahl der Planetenbewohner durchaus zufrieden, und sich um den Nachwuchs kümmern zu müssen, sei zwar eine schöne, aber auch schön lästige Aufgabe für einen Shir, der man sich gern weitmöglichst entzog. Ren schmunzelte bei der Vorstellung einer ganzen Schar von herumtobenden Jung-Shirs, die ja immerhin selbst im Säuglingsalter kaum unter Elchgröße sein konnten. Allerdings fiel ihm auch jetzt erst auf, daß er bisher keinen Jung-Shir
gesehen hatte – weder damals draußen auf der Planetenoberfläche, noch jetzt in der Stadt. »Da wir uns selten zur Zeugung von Nachwuchs paaren, sondern lieber nur zum Vergnügen, ist Nachwuchs entsprechend selten. Wenn ich richtig informiert bin, gibt es in dieser Stadt zur Zeit keinen Shir, der noch nicht das Erwachsenenstadium erreicht hat.« Ren musterte den Ratsherrn. Plötzlich fragte er sich, ob er es wirklich mit einem »Herrn« zu tun hatte, denn äußere Geschlechtsmerkmale konnte er an dem Koloß nicht entdecken und erinnerte sich auch nicht, bei all den anderen Shirs auffällige Unterschiede gesehen zu haben. Allerdings verzichtete er darauf, danach zu fragen. Vielleicht war Sexualität ähnlich wie bei den meisten Terranern ein Tabuthema, und er wollte den Shir damit nicht vor den Spatenblatt-Kopf stoßen. Das überließ er lieber dem Mediziner Tschobe oder dem Tel, dessen Volk mit dem Thema Sex erheblich freier und unbefangener umging, als das bei Menschen der Fall war. Er durchmaß den turnhallengroßen Wohnraum und trat an eines der Fenster. Es zeigte ihm einen fantastischen Ausblick über ein malerisches Tal, das sich hinter jener Schlucht öffnete, durch die sie den Eingang in diesen Berg erreicht hatten. Wie das Fenster wohl von der anderen Seite, von draußen her, aussah? »Wie gewachsener Fels«, beantwortete der Shir die Frage. »Niemand wird die Tarnung durchschauen. Kein Glas kann spiegeln. Das Material dieses Fensters ist nur in einer Richtung transparent.« Ren schaltete sein Armbandvipho ein und rief die POINT OF an. Der Funkkontakt kam sofort zustande. Keine technische Barriere und auch kein Shir verhinderte es. »Na endlich«, sagte Dan Riker. »Wir dachten schon, die hätten euch in den Kochtopf geworfen, weil wir so lange nichts
von euch hörten. Alles in Ordnung?« »Alles bestens. Wir sind liebe Gäste. Wie sieht's draußen bei euch aus?« »Über allen Wipfeln herrscht Ruh'. Moment, Brugg signalisiert mir gerade, daß er dein Vipho angepeilt hat. Ihr steckt in einem... Augenblick, in einem Berggipfel etwa fünfzehn Kilometer von uns entfernt? In einem Berg?« »Berg stimmt, aber fünfzehn Kilometer? So weit haben wir uns doch nicht bewegt. Ich prüfe das nach, Dan. Ende.« Langsam wandte Ren sich wieder um und schaltete das Vipho aus. Während er nach draußen sah, hatte es der Ratsherr sich auf einem der schon vom »Parlamentssaal« her bekannten Konturlager bequem gemacht. Er schien sich auf eine längere Unterhaltung eingerichtet zu haben. Daß der Terraner sich vielleicht erst einmal akklimatisieren wollte, schien er nicht zu bedenken. Während sie sich vom Saal zu den Gästehäusern bewegten, mußten andere Shirs die Zeit genutzt haben, um die Wohnungen in aller Schnelle wenigstens annähernd auf menschliche Bedürfnisse umzurüsten. Es gab rasch zusammengezimmertes Mobiliar, das aber immer noch viel zu groß war; als Dhark einen der Stühle erklomm, erreichten seine Füße den Boden nicht mehr. Da schien wohl bei der Übermittlung der terranischen Körpermaße zu den shirschen Schreinern einiges schiefgegangen zu sein. »Wie habt ihr das gemacht?« fragte Ren. »Arbeitsroboter?« »Wir brauchen keine Roboter, weil alles, was wir schaffen, durch die Kraft unseres Geistes geformt wird. Warte einen Moment.« Im nächsten Moment senkte der Stuhl sich zentimeterweise ab. Ren sah verblüfft nach unten und registrierte, wie die unteren Stuhlbeinenden gleichmäßig um etwa zehn Zentimeter gekürzt wurden und Sägemehl nach allen Seiten davonstaubte, ohne daß ein Werkzeug sichtbar wurde.
Als der Stuhl die für Ren passende Sitzhöhe erreicht hatte, stoppte der Vorgang. Der Commander sprach an, was er von Dan Riker gehört hatte. »Auch wundert mich, daß wir uns abwärts bewegt haben, jetzt aber in großer Höhe wohnen. Wie paßt das zusammen?« »Wir verfügen über Möglichkeiten, innerhalb unserer Städte Entfernungen zu verkürzen«, gab der Shir eine nicht gerade zufriedenstellende Auskunft. Er räkelte sich auf seinem verformbaren Lager. »Terraner Dhark, ehe der Rat wieder zusammentritt, möchte ich mit dir allein über jene Dinge reden, die zu dem Mißverständnis führten. In unserer Galaxis geschieht...« Er unterbrach sich und lauschte in sich hinein. Dann sprang er von dem Konturlager auf. »Etwas Erschreckendes ist soeben eingetreten. Unser...« Die nächste Unterbrechung kam durch Dharks Armbandvipho. Riker meldete sich. »Alarmbereitschaft, Ren. Im System haben sich zwischen Salteria und Tarrol mehrere Gravitationsanomalien geöffnet und 14 Kampfraumer ausgespien. Deren Energieerzeuger laufen auf Vollast. Sie fliegen auf Angriffskurs Richtung Salteria!« * »Nomaden!« erklärte der Ratsherr unaufgefordert. »Ein Volk, das nur im All lebt und andere Raumschiffe und auch Planeten überfällt und ausplündert. Sie sind die Pest unserer Galaxis. Nun sind sie hier, und wir werden sie abwehren müssen, obgleich wir...« Er verstummte, schien wieder eine telepathische Botschaft zu empfangen oder zu senden. Danach erst fuhr er fort: »... nicht darauf eingerichtet sind. Unsere Raumschiffe sind nicht für den Kampf konstruiert. Wir werden andere Mittel einsetzen müssen.«
Aus dem Vipho erklang wieder Dans Stimme. »Sollen wir ein paar Flash schicken und euch an Bord holen?« Ren schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich möchte vermeiden, daß die Brennkreise der Flash im Fels und auch hier in den Wohnkomplexen Zerstörungen anrichten.« Der Shir drehte den Kopf und sah Ren – erstaunt, wie es aussah – an. »Wie du willst«, sagte Riker. »Ich bekomme gerade die Daten. Die Raumer sind kreuzförmig konstruiert. Balkenlänge je 200 Meter, dabei von quadratischem Querschnitt mit 30 Metern Kantenlänge. Das Antriebsspektrum weist auf Transitionsantrieb hin, aber da muß noch etwas anderes sein, das wir nicht kennen. Der Checkmaster übt sich mal wieder in Geheimniskrämerei.« »Sie erzeugen künstliche Wurmlöcher«, verriet der Shir. »Durch die bewegen sie sich von System zu System – meistens.« »Mitgehört, Dan?« fragte der Commander. »Ja! Das ist es also, was wir nicht einordnen konnten. Die vierzehn Raumer nähern sich im bereits relativistischen Geschwindigkeitsbereich von 0,3 Licht. Tempo rapide fallend. In ein paar Minuten sind sie hier.« »Warum?« wollte Ren von dem Shir wissen. »Was zieht diese Nomaden hierher? Für sie müßte doch Tarrol interessanter sein. Salteria – euer Planet – bietet doch äußerlich nichts Lohnendes! Oder wirken eure Parakräfte bei den Nomaden nicht?« Der Shir gab darauf keine Antwort. »He«, meldete sich Riker wieder. »Da schwirrt plötzlich noch etwas herum! Das – das sind ja – das sind diese Energieraumschiffe, von denen uns damals eines über Tarrol angriff und das wir abschießen konnten! Diese Superbomben...« Ren sah den Ratsherrn fragend an. Er entsann sich, daß
damals Shirs behauptet hatten, mit der Zerstörung dieser fliegenden Hochenergiebombe hätten die Terraner »den letzten All-Hüter« vernichtet. Aber das konnte ebensowenig stimmen wie vieles andere, was ihnen vorgegaukelt worden war, denn offensichtlich verfügten die Shir immer noch über weitere dieser Superbomben. »Sind das...« »Sonden«, erklärte der Ratsherr. »Es sind nicht unsere Raumschiffe. Die sind nicht bewaffnet, aber mit diesen Sonden haben wir eine Möglichkeit, zerstörende Energie ihrem Ziel entgegenzusenden.« »Zwei... drei... vier Stück!« meldete Riker. »Wir haben sie in der Ortung. Die nehmen die Kreuzraumer ins Visier und...« Dhark, der gerade wieder zum Fenster sah, entdeckte am Himmel einen hell aufleuchtenden Punkt, der rasch wieder erlosch. Zugleich hörte er über Vipho die Meldung der POINT OF: »Einen hat's erwischt! Volltreffer!« »So nah sind sie schon, daß man selbst bei Tageslicht die Explosion hier auf Salteria mit bloßem Auge sehen kann?« »So stark ist die Energieleistung dieser Bombe! Erinnerst du dich nicht mehr an die Werte, die wir damals angemessen – he, da fliegt der nächste auseinander!« Diesmal mußte die Zerstörung in einem anderen Bereich stattgefunden haben, denn Ren konnte kein Aufblitzen am Himmel registrieren. Friedliebende Shirs... hier zeigten sie mit ihren Superbomben, daß sie auch ganz anders konnten! »Wieder einer«, meldete Riker. »Aber den hat's diesmal nicht richtig erwischt... die Bombe ist wohl zu früh explodiert oder vorher abgeschossen worden. Kreuzraumer ist beschädigt, verliert Fahrt und schert aus – weg! Der ist weg, einfach so!« »Er dürfte ein Wurmloch erzeugt haben und darin verschwunden sein«, erklärte der Shir ruhig. »Gerade erfahre ich, daß die verbliebenen elf Raumer schon zu nahe an
unserem Planeten sind. Der Einsatz weiterer Sonden verbietet sich damit. Wir würden uns selbst gefährden. Nun müssen wir hoffen, daß sie nicht mehr als nur eine unserer Städte plündern und ihre Bewohner töten. Vielleicht werden sie gerade diese Stadt finden. Dann werden wir alle hier sterben. Wir sind es nicht gewohnt, zu kämpfen.« »Warum wehrt ihr diese Nomaden nicht mit euren Parakräften ab?« fragte Ren. Abermals ging der Shir nicht auf die Frage ein. »Und wie können sie euch überhaupt in diesen euren Verstecken finden?« Der Shir schwieg weiter. »Na schön«, murmelte der Commander der Planeten. »Dan – Startbefehl für die POINT OF. Versucht, den Angriff abzuwehren.« »Sollen wir nicht trotzdem erst noch euch abholen?« bot Riker an. »Angriff!« konterte der Commander statt dessen. »Solange es noch möglich ist! Also: sofortl« * Der Ringraumer jagte den Kreuzschiffen entgegen. Deren Kommandanten hatten mit einer ernsthaften Gegenwehr nicht mehr gerechnet, nachdem die vierte Flugbombe wirkungslos weit hinter ihnen gezündet worden war und keine weiteren mehr auftauchten. Sie scherten ohne besondere Formation auseinander. Die Koordination zwischen ihnen war äußerst mangelhaft. Dan Riker sah es mit Erleichterung. Die Verwirrung der Nomaden vereinfachte seine Aufgabe erheblich. »Waffensteuerungen! Feindliche Raumer nicht zerstören, nur kampfunfähig schießen! Grappa, Ortungsdaten über Maschinenräume und Waffenbänke der Raumer an WS!«
Aus 18 Strahlantennen zugleich eröffnete die POINT OF das Feuer. Die blaßroten, überlichtschnellen Nadelstrahlen jagten den Kreuzraumern entgegen, während die POINT OF immer mehr an Geschwindigkeit gewann. Riker wollte ein Passiergefecht führen und durchbrechend den Fremden in den Rücken fallen, um ihre Verwirrung weiter zu erhöhen. Aber die faßten sich schnell. Die Kreuze schwangen herum. An den Enden der Kreuzbalken flammte es auf. Impulsstrahlen rasten aus den Energiegeschützen und zersprühten in flammenden Kaskaden und Blitzschauern an den Intervallfeldern des Ringraumers. »Belastung fünf Prozent«, meldete Hen Falluta. Im nächsten Moment entstand mitten im Raum eine winzige künstliche Sonne, die ihre Energie in einem einzigen Aufblitzen verstrahlte. Die Bildkugel blendete automatisch ab. Dennoch kam noch eine erhebliche Lichtflut durch. »Volltreffer!« meldete Grappa. »Den hat's erwischt... bleiben noch zehn!« »WS! Nicht zerstören, habe ich gesagt!« rief Riker. »Wir sind keine Killer, sondern nur Verteidiger!« »Sorry«, meldete Jean Rochard aus der WS-Ost. »War nicht beabsichtigt. Daß die so leicht zu knackende Schutzschirme haben, hätte man mir auch vorher sagen können...« »Treffer!« kam Grappas nächste Meldung. »Und noch einer – und Nummer drei...« Innerhalb weniger Sekunden hatte die POINT OF mit ihren Nadelstrahlen drei Kreuzraumer kampfunfähig geschossen! Denen fehlten jetzt die Balkenenden mit den Waffenbatterien, dafür sprühten Flammen und glühende Trümmerstücke nach allen Seiten. Die Raumer scherten in verschiedene Richtungen weg. Die anderen schienen inzwischen herausgefunden zu haben, daß sie mit ihren Impulsstrahlen beim Intervallfeld der POINT OF nichts ausrichteten, und wechselten die Taktik. Plötzlich
wimmelte es im Raum von Torpedos, die in breiten Fächern auf den Ringraumer abgefeuert wurden. Riker nahm es mit Gelassenheit hin. Torpedos konnten dem Intervallfeld erst recht nichts anhaben. Aber Bud Clifton von der Waffensteuerung West machte sich plötzlich ein Vergnügen daraus, in schneller Folge einen der Flugkörper nach dem anderen abzuschießen. Jedesmal flammte eine Minisonne im All auf, wenn einer der überlichtschnellen Nadelstrahlen sein Ziel traf und es in einem spontanen Prozeß in Energie umwandelte. »So einen Torpedo möchte ich nicht abbekommen«, stellte Grappa hinter seinem Ortungspult fest. »Da steckt ganz schön Dampf hinter! Wenn die einen von unseren Giantraumern erwischen würden, könnten sie zu mehreren den Schutzschirm durchschlagen und nette Löcher reißen... Ah, wieder ein Raumer kampfunfähig geschossen...« Diesmal war es Clifton, der blitzschnell zugeschlagen und einen Kreuzraumer an allen vier Balkenenden schwer beschädigt hatte. »Einer verschwindet... der nächste...« »Wurmlöcher?« fragte Falluta schnell. »Sieht danach aus! Transitionen kann ich keine anmessen! Aber...« Da zeigte ihnen die Bildkugel das dritte Wurmloch, das blitzschnell vor einem beschädigten Kreuzraumer erschien, sich in einer unglaublichen Farbenpracht zeigte, um dann ebenso schnell wieder zu verschwinden. Mit dem Raumer. »Daten an die Astrophysik zur Auswertung!« verlangte Riker. »Vandekamp kriegt 'nen Herzinfarkt, wenn er sich jetzt auch noch darum kümmern soll!« entfuhr es Grappa. »Okay, Daten werden überspielt – da, jetzt ist der vierte auch weg!« Sechs Kreuzraumer waren übriggeblieben. Deren Kommandanten hatten ihre Lektion gelernt und festgestellt,
daß der Ringraumer ihnen weit überlegen war. Sie ergriffen die Flucht, aber nicht per künstlich erzeugtem Wurmloch durch eine Verkürzung der Raumkrümmung, wie es die beschädigten Schiffe getan hatten, sondern sie versuchten, den Planeten zwischen sich und die POINT OF zu bringen. Erstaunlich, mit welchen Beschleunigungswerten sie dabei arbeiteten! »Die geben noch nicht auf!« entfuhr es Riker. »Die werden, sobald wir sie aus der Ortung verlieren, in die Atmosphäre tauchen und glauben wohl, uns damit abschütteln zu können...« Seine Finger flogen über die Steuerschalter. Die POINT OF schwang in einem weiten Bogen herum. »Clifton, Rochard, sobald wir die Kreuzraumer wieder in der Ortung haben, mit allen Mitteln an einer Landung auf Salteria hindern, aber möglichst nicht zerstören! Noch so einen Unglücksschuß wie den von Rochard will ich nicht erleben!« »Wir geben Sperrfeuer!« machte Bud Clifton klar. Minuten später hatte die POINT OF Salteria zur Hälfte umrundet und war dabei schneller als die verfolgten Kreuzraumer. Nur hatten die eine andere Taktik gewählt. Sie versuchten nicht, in die Atmosphäre des Planeten auszuweichen! Sie hatten auf den Ringraumer gewartet! »Schei...« Der Aufschrei blieb Hen Falluta im Halse stecken. Unmittelbar vor der POINT OF, zwischen den sechs Raumern, öffnete sich ein Wurmloch! Unheimlich groß zeigte es sich, dehnte sich dabei noch immer aus! »Funkspruch von Dhark«, rief Walt Brugg dazwischen. »Wir sollen...« Was auch immer sie sollten – sie konnten es nicht mehr. Die Kreuzraumer jagten der POINT OF entgegen und zogen
dabei das von ihnen geschaffene Wurmloch mit sich. Nicht einmal der Checkmaster war noch in der Lage, schnell genug ein Ausweichmanöver zu fliegen. Die POINT OF raste direkt in das Wurmloch hinein, das sich sofort wieder schloß und verschwand! * Auf Salteria verfolgten die Shirs den ungleichen Kampf. Der Ratsherr stand in ständigem Kontakt mit seinen Artgenossen und ließ Ren Dhark nur bruchstückweise miterleben, was geschah, bis ihm plötzlich einfiel, daß das möglicherweise unhöflich war. Ein Holografiefeld entstand an einer der Wände des riesigen Wohnraums und zeigte, was die Ortungssysteme der Shirs feststellten. Keine echte Bildübertragung, sondern eine Computersimulation, die mit verschiedenfarbig leuchtenden Objekten den Planeten und seine Umgebung darstellte und dabei auch taktische Einblendungen lieferte. Zum Beispiel Vorausberechnungen von Flugdaten. »Dein Schiff ist überraschend kampfstark«, stellte der Ratsherr fest. »Wir alle sind überrascht. Damit haben wir nicht gerechnet. Ihr könntet es schaffen, die Nomaden abzuwehren.« Dhark glaubte nicht daran, daß das so einfach war. Nicht dann, wenn die Schiffe der Invasoren nicht völlig zerstört werden sollten. Rücksichtnahme auf das Leben des Gegners war immer ein Handikap, allerdings konnte und wollte Ren auch niemals akzeptieren, daß Leben taktischen Erwägungen unterzuordnen war. Als die sechs verbliebenen Nomadenraumer um Salteria herum flohen, war Ren Dhark der gleichen Überzeugung wie sein Freund in der POINT OF. Aber der Shir belehrte ihn eines Besseren. »Es ist eine Falle«, behauptete er. »Terraner, du mußt dein
Schiff warnen! Es soll einen Ausweichkurs nehmen, schnell...« »Eine Falle?« Sekundenlang überlegte Ren, weil er sich nicht vorstellen konnte, daß diese sechs Raumer der POINT OF noch gefährlich werden konnten. Gefährlicher war es schon, wenn sie den Planeten erreichten und dabei so manövrierten, daß die POINT OF ihre Waffenüberlegenheit nicht mehr einsetzen konnte, wenn sie nicht aus Versehen auch Einrichtungen der Shirs zerstören wollte. Wie schnell ein Berggipfel unter Nadelstrahlbeschuß zerstört werden konnte, war ihm bekannt. Aber dann machte er sich klar, daß die Shirs die Nomaden kannten. Der Ratsherr wußte, was er sagte! »POINT OF!« rief Ren in das Mikro des Armbandviphos. »Sofort abdrehen, hört ihr? Es ist eine Falle! Ihr sollt sofort auf Gegenkurs...« Er verstummte. Es war zu spät. Zwischen den sechs Raumern entstand ein riesiges Wurmloch, in das die gerade um den Planeten schwingende POINT OF genau hineinflog. Der Ringraumer hatte keine Chance. Und verschwand aus dem Shir-System! Wohin? Vielleicht ganz aus dem Universum... Damit war die Verteidigung der Shirs endgültig am Ende. Und sechs Kreuzraumer der Nomaden, jetzt vor jedem Angriff völlig sicher, setzten zur Landung auf Salteria an!
REN DHARK Drakhon-Zyklus Band 4 Die Herren von Drakhon erscheint Ende Dezember 2000