YVES GANDON DER LETZTE WEISSE Roman ERSCHIENEN IM PORT VERLAG URACH Übertragen von Robert Brandt Copyright 1948 by Port ...
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YVES GANDON DER LETZTE WEISSE Roman ERSCHIENEN IM PORT VERLAG URACH Übertragen von Robert Brandt Copyright 1948 by Port Verlag, Urach 1.— 10. Tausend G. M. Z. F. O. Visa N° 4019/Lf de la Direction l'Education Publique Automation N° 3968 de la Direction de l'Information
DEM ANDENKEN an meinen Bruder Luden Gandon vom 167. R..I.. gefallen im Walde von Villen-Cotterets am 1. Juni 1918, und an meinen Schwager Maurice Grymonprez vom 245 .R. A. L, gefallen in Coussegrey am 15. Juni 1940 Gescannt von c0y0te
OH! MAN WIRD SICH DIESES PLANETEN ERINNERN! Villiers de l'Isle-Adam
April 1941. Die Dämmerung senkte sich über die Straßen von Paris und hüllte sie allmählich in die von der deutschen Besatzung vorgeschriebene Dunkelheit. Ich sprach mit einem Freund über die Ereignisse, die unser unglückliches Land zu Boden geworfen hatten. Frankreich erlebte neben der Schande einer fremden Besatzung die Schrecken der Bombardements und die verheerenden Folgen der Teuerung. Entwaffnet, ohnmächtig, geknechtet durch den Feind und seine bezahlten Helfershelfer, mußten wir mit gebundenen Händen, Wut im Herzen, der Fortsetzung dieses erbarmungslosen Krieges zusehen, bei dem selbst im günstigsten Falle für alle beteiligten Völker nur Ruinen und ein furchtbares Chaos übrig bleiben konnten. »Wie kommt es nur«, sagte ich zu meinem Freund, »daß die Menschen noch immer nicht begriffen haben, daß sich der Krieg, um die bereits klassisch gewordene Formulierung anzuwenden, nicht bezahlt macht? Der erste Weltkrieg sollte angeblich der letzte sein, und siehe da, wir erleben einen zweiten noch viel
schrecklicheren. Werden die Kriege wirklich erst mit dem Ende der Menschheit auch ihr Ende finden? Inzwischen scheint dieser hier bis zum letzten Europäer, bis zum letzten Weißen durchgekämpft zu werden.« Bis zum letzten Weißen — das Wort ging mir im Kopf herum. Am nächsten Morgen dachte ich an einen Roman, der sich auf diesem gewaltigen Thema aufbauen ließe, und ich begann Notizen aufs Papier zu werfen. Eine Woche später machte ich mich ans Werk. »Der letzte Weiße« stellt also in erster Linie eine Untersuchung der eigenen geistigen Einstellung dem Krieg gegenüber dar, der ja nur als Phänomen eines kollektiven Irreseins betrachtet werden kann. Die Weißen werden nicht von den Schwarzen oder Gelben ausgerottet, sondern durch ihren eigenen Wahnsinn, und man wird in diesem Buch, ohne damit weitergehende Vergleiche ziehen zu wollen, etwas von dem philosophischen Geist finden, dem Voltaire in seinen unsterblichen Erzählungen Ausdruck verliehen hat. Die durch den Krieg verursachte Folge von Katastrophen wird allerdings zum größten Teil vom letzten Weißen selbst erzählt. Der letzte Weiße ist ein Durchschnittsfranzose, aber ein Franzose von jener guten Art, die man trotz des Tiefstandes der allgemeinen Moral auch heute noch finden kann. Mit der Schilderung seines persönlichen Mißgeschicks malt er gleichzeitig das tragische Bild des Untergangs der ganzen weißen Rasse. So bleibt dieser utopische Roman ein menschlicher Roman, und der Autor hat sich bemüht, ihm vor allem durch die Betonung des Gefühlsmäßigen den größtmöglichen Eindruck der Wahrheit oder doch mindestens der Wahrscheinlichkeit zu verleihen. Aber selbst wenn man dieses Buch als reine Utopie betrachtet, so handelt es sich im vorliegenden Fall nicht um eine phantastische Träumerei etwa nach Art der Erzählungen von H. G. Wells. Das Außergewöhnliche ist hier nicht der Feind des Möglichen. Die »weiße Pest«, welche die Nachkommen Sems und Japhets dahinrafft, ist auf eine staatlich angeordnete Impfung ohne genügende Vorsichtsmaßnahmen zurückzuführen, die eine verheerende Epidemie verursacht. In seinem auf die Anregung mehrerer hervorragender Spezialisten entstandenen Werk »Die französischen Vorkämpfer auf dem Gebiet der infektiösen Pathologie« schreibt Georges Duhamel in bezug auf den großen Charles Nicolle: »Die Pockenimpfung kann eines Tages zu einer schweren Krankheit führen.« Allerdings fügt er gleichzeitig hinzu: »Doch die Welt braucht sich nicht; zu beunruhigen, man wird etwas anderes finden, um
die Impfung zu ersetzen.« Ärztlicher Optimismus. Aber wenn dieses »Andere« nicht gefunden wird oder zu spät kommt? Hier liegt der Ausgangspunkt, von dem aus ich die letzten Konsequenzen entwickle. Und nun möge der »letzte Weiße« seinen Weg unter die Menschen nehmen, vorausgesetzt, daß sie noch Augen haben, zu sehen, und Ohren, zu hören. COLOUR CITY Der weiße Mann zog den Tapetenvorhang hoch, der das Zement-Glasfenster verbarg, und drückte auf einen Knopf. Die Fensterflügel glitten in ihre Schlitze. Der Lautsprecher der elektrischen Uhr hatte soeben mit seiner blechernen Stimme, die dem Bewohner dieses Raumes an den Nerven riß und an die er sich nie gewöhnen würde, verkündet: »Acht Uhr! Es ist genau acht Uhr!« Er beugte sich hinaus und sah auf die Straße hinunter. Atsuo und Choy, die kleinen Japse, marschierten wie die Ameisen mit ihren kurzen, schnellen Schritten heran. Als sie vor dem Tor angekommen waren, blieben sie wie erstarrt stehen und grüßten, die Strahlenpistolen gen Himmel gerichtet, ihre beiden Kameraden, die sie ablösten. Der weiße Mann seufzte. Die breite Straße belebte sich. Wagen, die alle die Form von Zigarren mit ihren zugespitzten Enden hatten, glitten fast geräuschlos vorüber und ließen von Zeit zu Zeit ein Signal, ein schrilles Läuten ertönen. Die Luft erzitterte von dem Gebrumm der Flugzeuge, die wie Farbflecke im klaren Äther schwebten. Es war schon sehr warm, und der wolkenlose Himmel versprach einen brennend heißen Tag. Der weiße Mann lehnte am Fenster und ließ seinen Blick über die trostlose Perspektive der schnurgeraden Avenue schweifen, auf deren beiden Seiten sich die Häuserblocks mit dreißig oder vierzig Stockwerken reckten. Der Anblick dieser wimmelnden Bienenkörbe in ihrer gräßlichen. Monotonie verursachte ihm ein unbeschreibliches Heimweh. Er brauchte nur eine Sekunde die Augen zu schließen, um die kleinen Häuser von Avallon, seiner Geburtsstadt, vor sich zu sehen mit ihren Schindel- und Ziegeldächern, die selbst in der Gluthitze des Hochsommers einen angenehmen, kühlen Schutz boten. Sein Schritt würde nie mehr über das Pflaster des friedlichen VaubanPlatzes hallen, er würde niemals wieder in der Dämmerung auf einer Bank der Wallpromenade sitzen, von der aus man in der Ferne die Hügel des Morvan mit ihren dichten Wäldern am Horizont verschwimmen sieht. Die Sankt Lazarus-Kirche, den Beurdelaine-Turm, die Martins-Kirche, den Turm von
Escharguet — er brauchte nur halblaut ihre Namen vor sich hinzumurmeln, die dem Knaben William Durand so vertraut waren, und er konnte sich nicht von dem Gedanken befreien, daß sie früher einmal zu einem Kapitel der Menschheitsgeschichte gehörten, das nun unter dem Staub der Jahrhunderte begraben lag. Und doch trennten nur zehn Jahre das Heute von seiner letzten Reise nach Avallon. Seine letzte Reise drei selige Tage eines wundervollen, goldenen Herbstes. Er liebte diese blonde Manette mit ihren Veilchenaugen und ihrem zarten, weißen Körper bis zum Wahnsinn. Sie hatte in die Hände geklatscht, als er ihr vorschlug, drei Tage auszureißen. Das geschah der Firma Marcel und Maurice (Modehaus ersten Ranges) ganz recht, bei der ihre schlanke Linie die mittelst der Schönheits-Chirurgie und der finnischen Massage mühsam entfettete Kundschaft zur Verzweiflung brachte, wenn sie als Mannequin die neuesten Modelle vorführte. Ach, diese Tage im Tal des Cousin, in dem die Forellen wie silberblaue Blitze schnellten, mit seinen kleinen Pfaden am rauschenden Bach, auf denen die herbstlichen Blätter welkten, den rostbraunen Wäldern, durch die ein goldener Sonnenstrahl zitterte, bis man schließlich die wilden Felsen des Crot de la Foudre erreichte. Unvergeßliche Manette, mit deinem Lächeln und deinen Küssen im Boot mit dem flachen Boden auf dem See von Moulin Cadoux! Die Ruder klatschten in musikalischem Rhythmus ins schwere Wasser, ein safrangelbes Blatt wirbelte über unseren Köpfen, fiel auf deinen Schoß, und du erklärtest, daß dieses vom Himmel gefallene Gold Glück bedeute. Und wenige Tage später — Zehn Jahre waren seither vergangen, zehn Jahre, die für diese weiße Rasse, die so eitel auf ihre Große war, mehr als zwanzig Jahrhunderte bedeuteten, zehn Jahre, die das alte Europa zu einem leeren Begriff gemacht hatten, wie Ninive oder Memphis. Nun sprießte Unkraut zwischen den Fliesen von Notre Dame und der Westminster-Abtei. Die Wiener Hofburg, der Kreml der Zaren, das Schloß Sanssouci und die römischen Paläste waren nur noch der Unterschlupf für Scharen von Krähen und Geiern. In New York, das jetzt Colour City hieß, bewohnte William Durand, der letzte noch lebende Sproß aus dem Geschlecht Japhets, den bescheidenen Teil eines Hauses, das zwischen zwei riesenhaften Gebäuden der Fünften Avenue eingeklemmt war und dessen Fassade einen griechischen Tempel vorzutäuschen versuchte. Auf dem Giebel dieses lächerlichen Tempels glänzte in Buchstaben aus Platin die Inschrift: Museum des weißen Menschen. William Durand seufzte noch
einmal, dann schob er eine Tablette Peyotl-Kaugummi zwischen die Zähne. Dieses im Geschmack reichlich fade Zuckerwerk verschaffte ihm eine Reihe farbiger Halluzinationen, die zwar seine Ansichten über die Welt verbesserten, aber doch nicht ausreichten, um in seinen Augen die unheilbar gelbe oder schwarze Haut der neuen Herren des Planeten zu bleichen. »Acht Uhr fünfzehn Minuten! Es ist genau acht Uhr fünfzehn Minuten«, schnarrte hinter ihm die sprechende Uhr. Er ballte vor Wut die Faust. Er war überzeugt, daß er eines Tages dieses lästige Instrument zerschlagen würde. Aufgeschreckt aus seinem enttäuschenden Traum wollte er eben das Fenster verlassen, als er auf der Straße die Neger Jonathan und Gordon bemerkte. Sie hatten sich um eine Viertelstunde bei der Ablösung verspätet, was aber die beiden Bambulas keineswegs zu beunruhigen schien. Sie schlenderten langsam daher, und zweifellos erzählte Gordon seinem Begleiter eine lustige Geschichte; denn Jonathan blieb plötzlich stehen, schlug dem Sprecher auf"die Schulter, und seine weißen Zähne funkelten aus seinem pechschwarzen Gesicht, während er herzhaft lachte. Da habe ich ja meine Leibwache, fuhr William Durand in seinen Gedanken fort, zwei Gelbe, zwei Schwarze, ich, der bescheidene Fotograf vom Boulevard de Batignolles, der schlichte Erfinder des »natürlichen Porträts« und durch einen glücklichen Zufall, bei dem mein persönliches Verdienst nicht die geringste Rolle spielt, der keineswegs geniale Präparator des Professors Balanche, des berühmten Mikrobiologen. Der Professor Balanche war, darüber besteht gar kein Zweifel, eine Leuchte der Wissenschaft, während ich ein Nichts war. Und trotzdem bin ich heute berühmter als er. Sollte ich wirklich der Letzte der Degenerierten sein (meine Loyalität nötigt mich zu dieser Richtigstellung), so wird die Neugierde der ganzen Welt an meine Person gekettet bleiben. Es ist nicht das Individuum William Durand, das die Menge interessiert, vielmehr das, was die primitiven Indianer als »Bleichgesicht« bezeichneten. Ich bin der letzte Weiße, der, wie man gerne zugeben wird, ebenso wertvoll ist wie das letzte Iguanodon oder der letzte Pithecanthropus. Man überwacht mich mit einer Sorgfalt, die mir früher die Haare hätte zu Berge stehen lassen, die ich aber heute, Gott sei's geklagt, schweigend über mich ergehen lassen muß. Wenn ich mein Gefängnis verlassen will, dieses Museum, dessen einziges und unersetzliches Ausstellungsstück ich bin, umgeben mich meine vier Argusse wie einen Verbrecher, halten mit mir Schritt und weichen mir nicht von den Fersen.
Dieser üble Scherz dauert nun schon länger als neun Jahre, und es ist vorauszusehen, daß er bis zu meinem Ende dauern wird. »Oh, Sie werden ein schönes Begräbnis haben, Herr Durand!« versicherte mir neulich mit einem Grinsen der kleine Choy. »Ich habe aus sicherer Quelle erfahren, daß sich der Gelbschwarze Großrat bereits mit der Angelegenheit befaßt hat. Man wird Reden an Ihrem Grabe halten, und feierliche Zeremonien sind vorgesehen. Denken Sie doch! Das Begräbnis des letzten Weißen! Man hat davon gesprochen, Sie einzubalsamieren und in einem Mausoleum in einem Kristallsarg zur Schau zu stellen wie einst den Russen Lenin in Moskau.« Diese gelbe Meerkatze ist sonst etwas zartfühlender. Sie schien überrascht zu sein, daß ich ihre Auslassungen übel aufnahm wie etwas, das dem guten Geschmack zuwiderläuft. Ein schallendes Gelächter ertönte aus dem Parterre herauf. »Die sind vergnügt«, sagte sich William Durand. »Es ist wahr, diese coloured men haben keinen vernünftigen Grund, wie ich Trübsal zu blasen. Ihre Rasse gedeiht und läuft nicht Gefahr auszusterben.« Er zog eine weiße Flanelljacke an. Das Peyotl begann zu wirken. Der Sonnenstrahl, der schräg in den Raum fiel, verwandelte sich in einen Strom von Gold, durch den sich blaue, grüne und zartlila Fäden zogen. Die verhaßte Uhr aus verchromtem Metall wurde zu einem graziösen Vogel, dessen diamantene Federkrone funkelte, und als er seine Hand betrachtete, die er nach einer Bürste ausgestreckt hatte, schienen seine Finger eine lustige Metamorphose durchzumachen. Er zog sie vorsichtig zurück und entdeckte an ihrer Stelle fünf ganz gleiche Männchen, die bizarre rosa Seidenhütchen aufhatten. Das erste lüftete höflich seine Kopfbedeckung, und die ändern folgten seinem Beispiel. Es war ein unbeschreiblich komischer Anblick. Schade, daß die Ration an PeyotlKaugummi nur eine einzige Tablette pro Woche betrug, die so schwach dosiert war, daß ihre Wirkung schnell wieder verflog. Schon begann die bezaubernde Trunkenheit nachzulassen. Das letzte Männchen setzte sein rosa Hütchen auf, das sogleich das Aussehen eines gepflegten Fingernagels annahm. Die Uhr wurde wieder zu dem, was sie war, zu einem unerträglichen mechanischen Gebilde, aus dem in wenigen Sekunden von seinem Registrierstreifen die vorgesehene Meldung ertönen würde: »Acht Uhr dreißig Minuten! Es ist genau acht Uhr dreißig Minuten!« Für William Durand blieb bis zum Abend nichts zurück als eine übersteigerte Empfindlichkeit des Auges, die ihm das Spiel von Licht und Schatten noch
greller erscheinen ließ. »Wenn die kleine Hannah nur früher kommen möchte«, dachte er, »ich wäre im Stande, sie für die Königin von Saba zu halten.« Hannah Pierce war trotz ihrer zweiundzwanzig Jahre (seit ihrer kühnen Reportage über die Ruinen von London) die umworbenste Mitarbeiterin der «Colour City Times«. Welch ergreifendes Bild der Apokalypse hatte sie von der riesigen toten Stadt mit ihren tausenden zusammengestürzten Häusern, den verstreuten menschlichen Gebeinen, dem Anblick der Skeletthaufen, die auf den versumpften Straßen moderten, gezeichnet! Wie hatte sie es verstanden, erschütternde Einzelheiten hervorzuheben, den Kastanienbaum, der seine Wurzeln unter der zerborstenen Decke der Halle geschlagen hatte, die einstmals der Lesesaal des Britischen Museums war, die Schar verwilderter Hunde, die mit blutunterlaufenen Augen und schäumender Schnauze aus einem klaffenden Riß des ehemaligen Saint James-Palastes herausgestürzt war! (Hätte die kühne Hannah nicht ihre Strahlenpistole zur Hand gehabt, wäre sie unweigerlich zerrissen worden.) Eine der packendsten Schilderungen für William Durand war die des Hyde-Parks, der nur noch eine undurchdringliche Grassteppe bildete, auf der die Reporterin den einzigartigen Kampf eines Tigers und einer Pythonschlange beobachtet hatte. (Ohne Zweifel stammten die Tiere aus dem früheren Zoo.) Durch ihren Erfolg ermutigt, hatte sich Hannah Pierce in den Kopf gesetzt, eine andere Expedition zu den Ruinen von Paris zu unternehmen. Und da man beim Journalismus immer eine Steigerung bringen muß, wenn man seinen Ruhm bewahren will, hatte sie vor, sich bei dieser Reise vom besten Führer der Welt, jedenfalls dem originellsten, begleiten zu lassen, von William Durand selbst, dem letzten Weißen, der bekanntlich vor vielen Jahren in der Hauptstadt dieses Landes, das einst Frankreich hieß, gelebt hatte. Um die Sache durchzusetzen, mußte man sehr geschickt zu Werke gehen, vor allem den Gelbschwarzen Großrat ins Spiel einbeziehen; eine schwierige Angelegenheit, aber Hannah liebte Schwierigkeiten. Man mußte zunächst einmal Stimmung für das Unternehmen machen, und so kam es, daß William Durand eines Tages den Besuch der jungen Dame erhielt. Grundsätzlich bezeugte er wenig Gefallen an der schwarzen Venus, der er, da ja nichts Besseres zu haben war, eine zierliche gelbe vorgezogen hätte. Aber Hannah Pierce erregte bei ihrem ersten Erscheinen sein Wohlgefallen. Man konnte sich schlechterdings keine hübschere Negerin denken. Ihre Haut war nicht
rabenschwarz, sondern aschfarbig und glatt wie Bronze. Ein leichtes, helles Kleid brachte ihre schlanke Taille, die langen, wohlgeformten Beine, die volle, straffe Brust trefflich zur Geltung. Ihr offenes Gesicht ließ auf eine lebhafte, freimütige Natur schließen. Eine hohe, gewölbte Stirn, ihre keineswegs breite, gradlinige Nase mit zitternden Flügeln, ihre großen, glänzenden Augen waren sehr anziehend. Die hellen, schön geschwungenen Lippen straften das Gerede von den wulstigen Lippen der afrikanischen Negerinnen Lügen. »Herr Durand«, begann Hannah, während der weiße Mann einen mit Kautschuk überzogenen Duraluminium-Sessel herbeiholte, »wissen Sie, daß wir sozusagen Landsleute sind?« Er vermochte schwer ein Lächeln zu unterdrücken, aber sie erklärte ihm, daß sie aus Neu-Timbuktu stamme, das vor der großen Pest in Europa NeuOrleans hieß. »Wurde Neu-Orleans nicht von den Franzosen begründet? Und Timbuktu, nicht wahr, bildete doch einen Teil von dem, was Ihr Eure Kolonien nanntet?« Die Einleitung war nicht übel. Sie fuhr fort: »Würden Sie nicht glücklich sein, Ihr Land wiederzusehen?« Der Weiße fuhr zusammen, was Hannah keineswegs überraschte. Sie begann sofort, ihm ihre Idee zu entwickeln, das Projekt einer Reportage über die Ruinen von Paris, die sie ohne ihn nicht durchführen wollte. Aber er verzog nur skeptisch den Mund. »Sie träumen, Miß Pierce. Die Bonzen im Großrat werden mich niemals freigeben. Denken Sie nur, wenn ich nach Frankreich zurückkäme und dort bliebe! Was gäbe das für ein Geschrei in der F.U.A. (Federation Unicolour of Africa) und in der U.Y.P. (Union of Yellow Peoples).« »Aber Mister Durand, Sie wissen sehr gut, daß die alte Welt eine unbewohnbare Wüste geworden ist. Sie können in Frankreich ebensowenig leben wie in irgend einer anderen Gegend Europas.« »Zumindest könnte ich dort sterben.« Hannah Pierce nahm von diesem Einwurf keine Notiz. Mit zweiundzwanzig Jahren betrachtet man den Tod nicht als ernste Angelegenheit, und sie hielt sich noch lange nicht für geschlagen. »Sie werden mir auf alle Fälle erlauben«, fuhr sie fort, »einige Auskünfte von Ihnen zu erbitten—« Sie steuerte sehr geschickt auf ihr Ziel los und ließ ihre Augen mit vollendeter Kunst spielen, so daß William zwar nicht ihre Hautfarbe übersah, aber gleichzeitig feststellte, daß sie, auch wenn sie weiß gewesen wäre, nicht anziehender hätte sein können. Der schönen Hannah war es auf diese Weise gelungen, zahlreiche Eroberungen zu machen, und als die Neger Jonathan und Gordon sich respektvoll zurückzogen, um sie vorüber zu
lassen, blieb ihnen der Atem weg, und die Augen quollen ihnen fast aus dem Kopf. Worüber sprach William Durand mit Hannah Pierce? Er legte sich darüber keine Rechenschaft ab und äußerte sich sehr rückhaltlos. Seine Besucherin erschien ihm so verständnisvoll! Sie hörte ihm mit geradezu schmeichelhafter Aufmerksamkeit zu. Er erinnerte sich der glücklichen Tage, von denen ihm manche, als er sie erlebte, farblos erschienen sein mochten, weil der Mensch selten sein Glück zu erkennen vermag. Hannah lächelte so bezaubernd, und er ließ sich von ihrer Liebenswürdigkeit bestricken. Daß sie ihren ganzen Charme entwickelte, bedeutete augenscheinlich keineswegs, daß sie irgend eine Neigung für ihn empfand. Nur die Neugierde leitete sie, und auch er bemühte sich, nicht zu vergessen, daß er eine Journalistin vor sich hatte. Aber es war so angenehm, sich in die früheren Zeiten zu versetzen! Selbst die trüben Tage weckten seine Sehnsucht nach dem Vergangenen, und das hübsche Mädchen hatte es so gut verstanden, ihm durch die Schilderung ihrer eigenen Jugend Vertrauen einzuflößen. Hannahs Vater, Samuel Pierce, leitete eine wandernde Schauspielertruppe, in der ihre Mutter der Star war. In Begleitung der Eltern hatte sie in frühester Kindheit ganz Amerika bereist. Auf dieses Nomadenleben führte sie die Sehnsucht nach immer neuen Horizonten und ihre Berufung als Journalistin zurück. Sie wurde gerade zwölf Jahre alt, als die aus Europa eingeschleppte weiße Pest ausbrach. Damals kamen auf einen Schwarzen zehn Weiße. Nach einigen Monaten hatte sich das Verhältnis ins Gegenteil verwandelt, und schließlich waren die Weißen völlig verschwunden. Die Entvölkerung des Planeten von denen, die ihn unzählige Jahrhunderte hindurch beherrscht hatten, war in dem Augenblick vollendet, in dem Hannah in die höhere Schule eintrat. Sie erinnerte sich noch genau der feierlichen Ansprache, die die Direktorin, eine riesige Matrone von kaffeebrauner Farbe, bei diesem Anlaß hielt: »Meine Kinder, wir erleben den glorreichen Anfang eines neuen Kapitels der Menschheitsgeschichte. Die weiße Rasse ist von der Erdoberfläche verschwunden, die christliche Ära ist abgeschlossen. Dieses Jahr wird offiziell als erstes des Zeitalters der Befreiung bezeichnet werden. Vergeßt niemals, daß die Weißen als Opfer ihres teuflischen Hochmuts zu Grunde gegangen sind, der die Habgier und die Tollheit hervorrief, die ihnen im Blute lag. Ihr schreckliches Ende mag uns eine Lehre sein. Die Welt gehört von nun ab den farbigen Rassen; sie werden mit Klugheit für die harmonische Entwicklung
einer neuen Zivilisation zu leben wissen.« Im Besitz zahlreicher Diplome verließ Hannah mit zwanzig Jahren die Universität und verdiente sich ihre Sporen als Journalistin. Monatelang beachtete niemand ihre Artikel, bis sie durch die Reportage über London mit einem Schlag berühmt wurde. William Durand war verblüfft von der Gradlinigkeit dieser Geschichte. »Sonst gab es nichts in Ihrem Leben?« fragte er mit leisem Lächeln. »Was soll es denn noch gegeben haben?« erwiderte sie mit unschuldigem Augenaufschlag. »Aber jetzt sind Sie an der Reihe.« Der weiße Mann ließ sich nicht lange bitten. In seinem Munde bekam eine versunkene Welt Leben und Farbe, eine seltsame Welt, absurd und beneidenswert zugleich, in der man eine kleine Reise einfach zum Vergnügen machen konnte, ohne darüber einen Schreibmaschinen-Bericht mit drei Durchschlägen machen zu müssen, der dem Chefinspektor der ersten Untergruppe der Tagespresse, der Leiterin des Überwachungsausschusses über die moralische Haltung der intellektuellen weiblichen Jugend und der Frau Sekretärin des Wohnblocks 42 lediger Journalistinnen zur Begutachtung vorgelegt werden mußte. Hannah hörte ihm begierig zu und protestierte liebenswürdig, als er sich plötzlich entschuldigte, weil er vom Thema abgeschweift war. Das Reglement des Museums schrieb vor, daß ohne Spezialgenehmigung keine Unterhaltung mit dem weißen Mann länger als eine Viertelstunde dauern dürfe. Aber Hannah Pierce erfreute sich einer Ausnahmestellung. Ihre Unterhaltungen dauerten bisweilen länger als zwei Stunden, ohne daß die Wächter Einspruch zu erheben wagten. Hatte sie genug von dem weißen Mann, oder nahm sie an, daß bei ihm nichts mehr zu holen sei? Seit zwei Wochen hatte sie sich nicht mehr blicken lassen, und William Durand hatte den Mut, sich einzugestehen, daß er ihr Fernbleiben bedauerte. »Acht Uhr dreißig Minuten. Es ist genau acht Uhr dreißig Minuten!« buchstabierte die unerbittliche Uhr. Im gleichen Augenblick erhob sich ein neues Gelächter, diesmal ganz in der Nähe. Man konnte deutlich das laute Gewieher des schwarzen Riesen Jonathan von dem krampfartigen Glucksen des kleinen Japaners Atsuo unterscheiden. Eine Glocke ertönte. William Durand drückte auf einen Knopf, und die zwei Flügel der Tür öffneten sich. Er hatte sich nicht getäuscht. Jonathan und Atsuo traten ein. Jeder hatte zum Gruß die rechte Hand aufs Herz gelegt; der Weiße erwiderte diese Höflichkeit
und fügte ein kurzes Neigen des Kopfes hinzu. Jonathan war ein prachtvoller brutaler Kerl, groß wie ein Turm, mit dem funkelnden Gebiß eines Kannibalen und den Händen eines Mörders. Atsuo, ganz sein Gegenteil, verblüffte durch die Kleinheit seiner Gestalt, die selbst für einen Japaner auffallend war. Er hatte ein Gesicht wie ein Wiesel, und seine Augen bildeten nur einen schwarzen Strich, glänzend und kalt wie Quecksilber zwischen den engstehenden Lidern. Einen Morgen wie den ändern, zur gleichen Stunde, erschienen zwei Wärter, ein gelber und ein schwarzer, um festzustellen, ob der weiße Mann die Nacht gut verbracht hatte, und um sich nach seinen Plänen für den Tag zu erkundigen. Diese waren übrigens einem genauen Reglement unterworfen. Zwei Stunden blieben den Besuchen vorbehalten, denen sich der Insasse des Museums so wenig entziehen könnte wie die Bestie im Käfig eines Zoo. Strengstes Verbot, die Mahlzeiten außerhalb des Hauses einzunehmen. Es stand ihm indessen frei, am Nachmittag in der vorgeschriebenen Begleitung seiner Leibwächter einen Spaziergang von höchstens drei Stunden zu unternehmen. Gleich bei ihrem Eintritt bemerkte an diesem Morgen William Durand, dem das Peyotl den Blick schärfte, daß der kleine Atsuo ihn mit besonderen Augen ansah. Ein verschmitztes Lächeln glänzte auf dem sonst so unveränderlichen Gesicht, in den pechschwarzen Pupillen, während Jonathan mit seinen großen runden Augen, die Achatkugeln glichen, durch das Grinsen, das auf seinen wulstigen Lippen lag, noch die geräuschvolle Freude verriet, der er soeben recht laut und deutlich Ausdruck gegeben hatte. Ein Magazin mit knallbuntem Umschlag blickte aus seiner Tasche hervor. »Befindet sich der weiße Mann in guter Verfassung? Hat er angenehm geträumt?« fragte Atsuo. Jonathan lachte hierauf schallend wie ein richtiger gutmütiger Wilder. »Der weiße Mann«, sagte er seinerseits, »hat vielleicht von der Pest geträumt, als noch die bleichen Gesichter auf den Straßen ebenso zahlreich waren wie die Reiskörner in einem Sack.« Er rieb sich vergnügt die Hände und schien von seinem Vergleich außerordentlich befriedigt zu sein. William Du-rand zuckte die Achseln. Was war denn bloß heute morgen mit seinen Wächtern los? Was mochte hinter dieser an Frechheit grenzenden Ironie stecken? »Jonathan, mein Freund«, sagte er kühl, »Sie scheinen heute besonders geistreich zu sein. Erlauben Sie
mir, Sie bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam zu machen, daß Sie auf Ihrer Schulter einen Fettfleck haben.« Der Neger wurde verlegen, verrenkte seinen Hals, um den Fleck zu entdecken, und sein Gelächter erstarb in einem mechanischen Kichern. Atsuo, der sich wie immer beherrschte, kam ihm zu Hilfe. »Sie dürfen Jonathan das nicht übel nehmen«, sagte er, »die Geschichte Ihres Lebens hat ihm so viel Spaß gemacht.« »Wie bitte?« Jonathan faßte sich, holte das Magazin aus seiner Tasche und hielt es Durand hin. »Ja«, sagte er, und seine Augen drehten sich lebhaft in ihren Höhlen, »wissen Sie nicht?« William öffnete das Magazin und las auf der ersten Seite: »Das Leben und die Liebschaften des letzten Weißen. Originalberichte, zusammengestellt von Hannah Pierce.« Ein brennender Zorn stieg in ihm hoch. Er hatte sich also von der kleinen Negerin an der Nase herumführen lassen. Unter dem Vorwand einer herzlichen Anteilnahme hatte sie ihm vertrauliche Bekenntnisse entlockt, um aus ihnen einen Brei nach ihrem Geschmack in der blöden Zeitschrift zu kochen. Er biß die Zähne zusammen, um den Farbigen nicht seine Wut zu zeigen, die vor Vergnügen in die Luft gesprungen wären und die Sache in ihrem täglichen Bericht vermerkt hätten. Er bemühte sich also, einen möglichst gleichgültigen Ton anzunehmen, und antwortete: »Natürlich weiß ich das. Hannah Pierce hat ja mein Leben nicht erfunden. Übrigens ein reizendes Mädel, was, Jonathan?« Der Schwarze trat von einem Fuß auf den ändern und stotterte eine konfuse Zustimmung. Dann zog Atsuo ein Notizbuch aus der Tasche und sagte mit seiner trockenen Stimme: »Der weiße Mann wird heute zwei wichtige Besuche empfangen: Herrn Hakashu Yosano, den berühmten Präsidenten des Institutes für vergleichende Anthropologie in Tokio, und den ehrenwerten Herrn Samory, Staatsrat der F.U.A.« »Sehr gut«, sagte William Durand. »Und Sie fragen mich garnicht, ob ich nicht auszugehen beabsichtige, wie es mir nach Artikel 21 des Reglements zusteht?« »Ich wollte Ihnen eben die Frage stellen«, erwiderte Atsuo plötzlich sehr förmlich.
»Nun, ich gedenke zu Haus zu bleiben«, sagte der Weiße, »und wenn mir der gute Jonathan sein Magazin leihen würde, damit ich mir die Langeweile vertreiben kann, so wäre das der Gipfel der Liebenswürdigkeit.« Der Neger grinste zustimmend und überreichte ihm das Heft. »Und jetzt, meine Herren, will ich Sie nicht länger aufhalten«, sagte William Durand mit eisiger Miene. Die beiden Wächter zogen sich zurück, nicht ohne vorher schweigend die rechte Hand zum Herzen geführt zu haben. Nachdem er die Tür versperrt hatte, warf sich William seufzend aufs Bett und schloß die Augen. Rote und grüne Spiralen bildeten sich unter seinen Lidern, bewegten sich immer schneller im Kreise und formten sich schließlich zu einem vergnügten Neger, aus dessen Mund, Nase und Augen Flammen zuckten, als ob sich in seinem krausen Schädel ein brennender Holzstoß befände. Er gab sich dieser Phantasmagorie einige Minuten lang hin, da schellte es, und eine Stimme, die er als die Atsuos erkannte, drang in den Raum. Er richtete sich auf seinem Lager auf und bemerkte im Rahmen, der auf der Wand vor ihm hing, den kleinen Japs. »Miß Hannah Pierce«, sagte er, »gibt sich die Ehre, .den weißen Mann davon zu verständigen, daß sie ihm heute nachmittag einen Besuch abstatten wird, wenn er die Freundlichkeit hat, sie zu empfangen.« William Durand drehte den Schlüssel des teleoptischen Apparates und antwortete: »Die Ehre ist ganz auf meiner Seite,« Dann unterbrach er die Verbindung. »Sie will mir ihr Meisterwerk bringen«, dachte er, »aber sehen wir gleich mal nach, ob die hübsche Schwarzbraune mein Vertrauen nicht mißbraucht hat.« »Neun Uhr! Es ist genau neun Uhr!« tönte es vom Kamin her. Wütend nahm er einen Würfel aus rotem Quarz, der ihm als Briefbeschwerer diente, und warf ihn quer durch das Zimmer. Das Glas, das das Zifferblatt schützte, splitterte ohne zu brechen, aber dieser Gewaltakt beruhigte seine Nerven. Er öffnete das Magazin und fand gleich auf der ersten Seite eine Reihe von Fotografien, die ihn in verschiedenen Lebensaltern darstellten, von vorn, von der Seite, dreiviertel Profil, in verschiedenen Anzügen, sogar völlig nackt, was er umso geschmackloser empfand, als es sich um eine Trickaufnahme handelte. Er schüttelte den Kopf und machte sich an die Lektüre. LIEBLICHES AVALLON Dem eigentlichen Bericht ging folgendes mit den Initialen H. P. gezeichnete Vorwort voraus: »Kein Bürger unserer ruhmreichen gelbschwarzen
Föderation, der nicht wenigstens dem Namen nach das Museum des weißen Mannes kennt. Dieses Museum, um das uns die F.U.A. und die U.F.Y.P. beneiden, beherbergt den letzten bekannten Vertreter einer Rasse, die einstmals groß war und die das Schicksal zum Untergang verdammte. Unser weißer Mann ist l Meter 72 groß, gut gebaut, breitschultrig, und schlank in den Hüften. Er ist 45 Jahre alt, macht aber allgemein den Eindruck, zehn Jahre jünger zu sein und hat noch einen dichten Haarwuchs von der Farbe des reifen Getreides, die in der historischen Epoche bei den Weißen der nördlichen Länder sehr verbreitet war. Er besitzt enzianblaue Augen, einen kleinen Mund, wohlgeformte, an gewisse Seemuscheln erinnernde Ohren. Unsere Ethnologen sehen in ihm bei Berücksichtigung der Rassenmerkmale einen Typ, der dem Durchschnittsweißen aus der Zeit der großen Pest fühlbar überlegen ist. Der berühmte Dr. Thorp vom interföderalen Rassenforschungsinstitut erklärte mir auf mein Befragen mit jenem Lächeln, dessen zuweilen auch das ernste Gesicht der Wissenschaft fähig ist: ,Der Zufall hat hier seine Sache gut gemacht. Selbst wenn wir in der Lage gewesen wären, uns ein Exemplar auszusuchen, wir hätten kein besseres finden können/ Diese für unseren weißen Mann so schmeichelhafte Meinung hat mich in meinem Plan bestärkt, einen wahrheitsgetreuen Bericht über sein Leben zu schreiben. Ich habe ihn also wiederholt aufgesucht und ihm einzelne Fragen vorgelegt, dann habe ich ihn sprechen lassen. Mit größtem Entgegenkommen erzählte er mir seine Vergangenheit, in die er sich mit einer gewissen Bitterkeit versenkte, die aber trotzdem für ihn etwas Rührendes, Schönes gehabt haben muß. So schmeichle ich mir, der Öffentlichkeit heute die Schilderung eines für uns ganz ungewöhnlichen Lebens über-' geben zu können. Ich versichere, nichts Eigenes hinzugefügt zu haben, wie ich mich denn auch jeglichen Kommentars enthalte. Ich unterbreite dem Leser ein Dokument. Am Rande einer ungeheuren Katastrophe erscheint das Leben dieses letzten Weißen wie eine verkorkte Flasche, die man während eines rasenden Zyklons ins Meer geschleudert hat. Das Schiff ist in die Tiefe gesunken, aus der es kein Wiederkommen gibt; sie allein ist erhalten geblieben, bis sie die Welle des Zufalls an den Strand einer friedlichen Küste gespült hat. Man braucht die Flasche nur zu öffnen, um die Geschichte des Schiffbruches lesen zu können. Ich beanspruche kein weiteres Verdienst und überlasse das Wort dem Helden
dieser Geschichte.« William Durand unterdrückte ein fast boshaftes Lächeln, Im ganzen genommen schilderte ihn die liebenswürdige Hannah sehr günstig, und wenn er sich nicht gewissermaßen verpflichtet gefühlt hätte, über diese Art von Sensationsmache, die ihn überall verfolgte, in Wut zu geraten, so hätte er das Abenteuer sicher pikant gefunden. Er machte es sich bequem,, legte sich auf dem elektropneumatischen Diwan auf den Bauch, stützte seinen Kopf in die Hände und begann zu lesen: Wenn ich Ihnen erzähle, daß ich in Frankreich, in einer kleinen Kreisstadt des Departements Yonne namens Aval-Ion geboren bin, fürchte ich, Ihnen nur eine sehr vage Vorstellung zu geben. Es war die Zeit zwischen dem dritten und vierten Weltkrieg, kurz nach jener Epoche, die in meinem Vaterland das »Zweite 89« genannt wurde. Die Franzosen der Restauration beklagten ihre jungen Zeitgenossen, weil diese nicht die »guten, alten Zeiten« erlebt hatten, worunter sie die letzten Jahre der absoluten Monarchie verstanden..Die Bürger von 1925 behaupteten, die gute, alte Zeit sei am 2. August 1914 zum Teufel gegangen, und so erfindet jede Generation eine friedliche, idyllische Oase, die sie berechtigt, über eine erbärmliche Gegenwart zu schimpfen. Aber merkwürdigerweise erkennen die Menschen, welche zu Zeiten einer Oase leben, diese garnicht als solche. Ich erblickte also das Licht der Welt in einem derartigen, günstigen Zeitpunkt. Frankreich hatte eben eine seiner dunkelsten Perioden hinter sich. Ein Regime brutalster Unterdrückung hatte ein Jahrzehnt lang geherrscht. Das Denunziantentum wurde durch eine Armee von Polizisten und wahren Heuschreckenschwärmen von Beamten begünstigt. Europa glich einem riesigen Gefängnis, in dem jeder Staat, jede Provinz, jede Stadt, jedes kleine Dörfchen eifrigst bestrebt war, besondere Kerker zu bauen. Man nannte diese Welt der Zuchthäuser und Verordnungen stark, männlich und, nach einem Schlagwort der damaligen Zeit, »realistisch«. Der »Realismus« bedeutete für die armen Europäer die blinde Unterwerfung unter einen Plan, der das Individuum erfaßte, einreihte und es ein für allemal, für Gegenwart und Zukunft nach seiner sozialen Fähigkeit in ein Räderwerk einspannte, aus dem es kein Entrinnen gab. Frankreich war das letzte Land, das sich diesem finsteren System anschloß, gegen das seine Söhne, geborene Aufrührer, sich sofort erhoben. Ein Volk, das erst einmal in seiner Geschichte die Vernunft zur Göttin erhoben hat,
glaubt an keinen Gottesstaat mehr. Jede politische Organisation wird sich nur so lange halten können, wie sie imstande ist, der menschlichen Herde, für die sie sorgen muß, erträgliche Lebensbedingungen zu bieten. Die Franzosen waren mit ihrem Schicksal unzufrieden. Sie erinnerten sich wehmütig der drei Worte, die seit langem von allen öffentlichen Gebäuden entfernt worden waren: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Man hatte diesen Worten vorgeworfen, daß hinter ihnen nur unbestimmte Begriffe stünden. »Unbestimmte vielleicht«, sagten sie sich, »aber nur, weil sie eben sehr vieles bedeuten können«, und sie bewahrten sie im Herzen. Freiheit — die der Gedanken in erster Linie, das Grundrecht (man sollte damals nicht mit seinem, eigenen Verstande, sondern nach den Vorschriften des Staates denken). Gleichheit — jawohl, alle gleich, wenn schon nicht nach Geburt und Vermögen, aber wenigstens vor Recht und Gesetz. Brüderlichkeit — das edelste der Symbole. Man hatte in vergangenen Zeiten diese drei Worte reichlich mißbraucht. Der Kapitalismus, ein schamhaftes Synonym für die Herzlosigkeit, blutete wie eine offene Wunde im Körper der Nationen. Es war nötig, seinen Exzessen zuvorzukommen, ohne das freie Spiel der Kräfte zu behindern. Das Leben lehrt die Menschen, daß es keine allgemeingültige Wahrheit gibt, sondern nur individuelle und zeitweilige Wahrheiten. Das war der Grund, warum die Franzosen sich an den Begriff der Freiheit klammerten. In diesem impulsiven Volke sollte jeder das Recht haben, sein Licht leuchten zu lassen. Es blieb also nur zu verhindern, daß die Freiheit in Anarchie ausartete. Wahrhaftig, dieses Frankreich war ein gutes Land trotz der zahlreichen Irrtümer und Schwächen, seine Geschichte eine der erhabensten der Menschheit. Es war ein friedfertiges Land, das nur einen großen Fehler hatte, nämlich den, an das menschliche Glück zu glauben. Ja, es glaubte so fest an diese Chimäre, daß es sich eine Bedrohung garnicht vorstellen konnte. Infolgedessen wurde es völlig überrascht, als es sich plötzlich vor die Notwendigkeit gestellt sah, seine Ideale zu verteidigen. (Daß dieses Glück von keiner sehr hohen Qualität war, änderte nichts an der Tatsache.) Aber die Franzosen erhoben sich schließlich als einzige in ganz Europa gegen ein Regime, das auf dauernde Unterdrückung begründet war. Das »Zweite 89« hatte ihnen mitten unter den ohnmächtigen Nachbarn die Freiheit des Denkens, die Freiheit der Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit gebracht. So vergingen zwanzig Jahre jenes ungestörten Glückes, in dem sie
das eigentliche Ziel menschlichen Daseins erkannt hatten und das einem garnicht bewußt werden darf, wenn es vollkommen sein soll. Ich verbrachte achtzehn Jahre in meiner Vaterstadt und zwei in Paris. Man kann sich nicht vorstellen, was damals das Leben in einer Kleinstadt Frankreichs bedeutete. Meine Mitbürger waren selbstverständlich auch keine Heiligen, aber ihre Fehler, ja selbst ihre Laster hatten immer noch etwas Liebenswürdiges. Die Atmosphäre dieser Stadt war heiter, leicht, erfrischend und stärkend, sie spiegelte sich in den Handlungen und Ansichten der Bewohner wider. Man konnte in Avallon lügen, seine Frau prügeln, die eines anderen begehren, seinen Lastern frönen wie in Kalkutta oder am Ufer des Sambesi. Wenigstens endeten alle diese mit der Moral und der Gesellschaftsordnung schwer zu vereinbarenden Handlungen immer undramatisch. Um sein Leben zu genießen, glaubte ein Avalloneser damals, es nicht allzu ernst nehmen zu müssen. Die Frühlingsabende mit ihrer zarten Dämmerung waren gewiß noch reizvoller, wenn man sich vorstellte, daß man so etwas nur einmal und nie wieder erleben könne. Eine am Rost gebratene Forelle zerging noch schmackhafter im Munde, wenn man daran dachte, daß ihr Fang und die Zubereitung gewissermaßen dem Wohlwollen des Schicksals zu verdanken war. Jeder Augenblick des Daseins ist einmalig, und man sollte sich hüten, ihn zu verdunkeln oder durch trübsinnige Gedanken zu verderben. Das gelang den Avallonesern vortrefflich. Jeder Tag war ein Meisterwerk, dessen Entstehung man nur zu überwachen brauchte. So besaßen die braven Bürger Frankreichs in den vielen kleinen Städten das wahre Rezept des Glücklichseins, in dem Klugheit und Einbildungskraft miteinander verschmolzen. Mein Vater war ein blonder Riese mit dröhnender Stimme, der seine Neigung den Frauen und einer guten Flasche Wein gleichermaßen widmete. Die Frauen beanspruchten anfangs allein sein Interesse. Mit zwanzig Jahren hatten ihn die schönen Augen eines angelsächsischen Kindermädchens veranlaßt, dem Vaterland den Rücken zu kehren und als Chauffeur eines Baronets sich im mittleren England eine neue Heimat zu suchen. Achtzehn Monate genügten, um ihm die sanften Blicke des Mädchens weniger verführerisch erscheinen und ein Land, in dem die Eingeborenen keine anderen Getränke als labbrigen Tee und dickes Bier kannten, nach seinem eigenen Ausspruch »nicht rauchbar« finden zu lassen. Immerhin verdankte ich den Erinnerungen meines Vaters an England meinen Vornamen, denn sein Herr hieß Sir William. Kaum war er nach Frankreich
zurückgekehrt, als der .zweite europäische Krieg ausbrach, der dann später die ganze Welt umfaßte. Er kam zur Infanterie. Dieser Krieg war für ihn in der Erinnerung ein ungleicher, zuweilen aufflackernder und wieder erlöschender Kampf inmitten hunderttausender fliehender Zivilisten auf den Landstraßen und eine Reihe von Gewaltmärschen, die ihn innerhalb eines Monats von einem Ende Frankreichs zum anderen geführt hatten. Dann folgte eine lange Hungersnot unter der feindlichen Besatzung, an die er noch viel lebhafter erinnert wurde: er verlor damals ein Viertel seines Gewichts. Nach dem Kriege hatte ihn sein Beruf als Chauffeur im Dienste fragwürdiger Herren, die früher oder später hinter Schloß und Riegel kamen, fünfzehn Jahre lang kreuz und quer durch Europa geführt. Angewidert von dieser Tätigkeit — nicht einmal die Stubenmädchen vermochten ihn mehr durch ihre Reize zu fesseln — beschloß er, diesen Beruf aufzugeben, als der dritte Weltkrieg ausbrach und ihn zwang, wieder die Uniform anzuziehen. Die Kriege folgten einander, aber sie glichen sich nicht. Der letzte begann wie ein Krieg im Mittelalter. Die Städte wurden durch Eisenbetonmauern und unterirdische Befestigungsanlagen geschützt, denen die Panzer nichts anhaben konnten. Die Landheere erschöpften sich in unzähligen Belagerungen, während sich die Luftwaffen blutige, aber wirkungslose Kämpfe lieferten. Im Verlauf des dritten Jahres kam man auf den Gaskrieg zurück. In sechs Monaten verlor Europa die Hälfte seiner Bewohner. Eine gesunde Reaktion jagte alle Regierungen der beteiligten Länder zum Teufel, und der Friede war da ohne Vertrag. Die Völker weigerten sich einfach, weiter zu kämpfen. Jeder ging nach Hause, ohne sich um seinen Nachbarn zu kümmern. Zwei Jahre später proklamierte Frankreich die Fünfte Republik. Es begann die Zeit jenes »Zweiten 89«, das die Welt in Erstaunen versetzte, die Zeit der Freiheit, wiedererobert durch die vernünftige Herrschaft des »moralischen Kapitalismus«. Man hatte zwar das Recht, reich zu sein, aber man konnte es nicht, ohne im Geruch der Unsauberkeit zu stehen. Wo begann diese und wo hörte sie auf? Das Genie des Gesetzgebers hatte das unzweideutig festgelegt. Eine gerechte Kontrolle über alle Vermögen, die eine bestimmte Summe überschritten, wurde durchgeführt. Es handelte sich hauptsächlich darum, zu verhindern, daß das Geld den einzelnen in die Möglichkeit versetzte, sich auf Kosten der Allgemeinheit Vorteile und eine soziale Stellung zu verschaffen, die in keinem Verhältnis zu seinen Leistungen standen. Das Einkommen Raymond Durands, meines Vaters, hielt sich in bescheidenen Grenzen. Das
Chauffieren erforderte keine besonderen Fähigkeiten. Er vereinigte sie mit einem gewissen Geschick als Mechaniker. Warum beschloß er, das Lenkrad und den Schraubenschlüssel aufzugeben und von nun an hinter dem Schanktisch einer Wirtschaft zu thronen? Erstens, weil er, wie er öfters wiederholte, nicht mehr der »Trottel von ändern« sein wolle, außerdem, weil ihm meine Mutter, Francoise Lehugeur, die Tochter eines Weinbauern aus Chablis, eine Mitgift ins Haus brachte, die einem begabten Menschen die Möglichkeit gab, sich unabhängig zu machen, und schließlich, weil er selbst gerne einen hinter die Binde goß und in seinen Augen ein Kaffeehausbesitzer eine Persönlichkeit war. Mein Vater war wirklich sehr tüchtig, und er bewies es sofort in seiner neuen Tätigkeit. Er trank mit seinen Gästen, wußte immer einen guten Witz, spielte gerne Karten und machte zum Vergnügen der Anwesenden von seinen Kräften Gebrauch, indem er die Betrunkenen, die zu laut wurden, eigenhändig vor die Tür setzte. Das Geschäft, das er für einen Pappenstiel gekauft hatte, blühte derart, daß er es nach einem Jahr für den doppelten Preis verkaufen konnte. Er hatte seinen Beruf entdeckt. Die Spezialität seines ganzen Lebens mit Ausnahme der allerletzten Jahre war, zugrunde gegangene Geschäfte seiner Kunden aufzukaufen. Nach ein paar Monaten hatte er sie wieder auf die Höhe gebracht und veräußerte sie weiter. Bei diesem Unternehmen unterstützte ihn meine Mutter, eine fleißige, schweigsame Arbeitsbiene von schwächlichem Aussehen, aber verläßlich wie ein Felsen, mit einem Eifer, der als Belohnung nur ein flüchtiges Lächeln ihres Herrn erwartete. Dieses Lächeln wurde ihr abends gewährt, wenn sie die Kasse ablieferte. Meine Jugend verlief also im Schatten der Aperitif-Flaschen mehrerer kleiner Provinz-Cafes. Obwohl mir meine Mutter ein für allemal verboten hatte, mich im Gästeraum aufzuhalten, mußte ich ihn doch zuweilen durchqueren. Wenn ich aus der Schule kam, rief mich mein Vater manchmal zu Hilfe, wenn allzu viele Gäste anwesend waren. Meine Tätigkeit beschränkte sich übrigens darauf, die Flaschen im Keller zu füllen und wieder herauf zu bringen, denn es paßte sich nicht für einen Knaben, der auf dem Gymnasium Latein lernte, Gläser zu spülen oder die Pferdehändler zu bedienen. So ein Kaffeehaus ist ein guter Beobachtungsposten, um die Menschen kennen zu lernen. Zeigen sie sich dort nicht, wie sie sind, und gleichzeitig, wie sie sein möchten?. Sie kommen dorthin, um ihre Sorgen und ihren häuslichen Ärger loszuwerden, und geben sich dem typisch französischen
Vergnügen hin, hemmungslos über alles zu sprechen, was ihnen durch den Kopf geht. Sie sind nacheinander, manchmal sogar gleichzeitig, Sektierer, freisinnig, geldgierig, verschwenderisch, langmütig, reizbar, Revolutionäre und Prinzipienreiter, aber selten zurückhaltend. Zwei Freunde, die sich an einem Kaffeehaustisch gegenüber sitzen, glauben sich in eine andere Welt versetzt, in der es keinen Zwang gibt, und das Vergnügen, beisammen zu sein und sich eine beliebige Quantität mehr oder minder starken Alkohols einverleiben zu können, gibt ihnen vorübergehend die Illusion, Herren ihres Schicksals zu sein. Das waren etwa die Eindrücke, die ich damals im väterlichen Kaffeehaus sammelte. O schöne Zeit, die jedem Franzosen die Möglichkeit bot, glücklich zu sein. Mit achtzehn Jahren war ich Abiturient. Ich genoß im Gymnasium den Ruf eines durchschnittlichen Schülers und gehörte zur anonymen Masse derer, die nie ein Meisterwerk schreiben oder eine epochale, das menschliche Leben umwälzende Erfindung machen würden. Nichts ließ darauf schließen, daß ich jemals ein Führer der Menschheit, ein Großindustrieller oder ein genialer Künstler würde. Ich liebte die Schriftstellern, aber eben wie ein Dilettant, ich aquarellierte ganz hübsch, und diese Geschicklichkeit hätte mich zu Illusionen verführen können (was später wirklich eintraf), aber ein guter Beurteiler wäre nicht getäuscht worden. Um die Wahrheit zu gestehen, die Mittelmäßigkeit meiner Begabung war kein Hindernis für meinen brennenden Ehrgeiz, der eine weitverbreitete Eigenschaft unter meinen Landsleuten ist. Man möge mich entschuldigen, wenn ich mich wiederhole, kurz gesagt, ich sehnte mich nach dem Glück, ich wollte glücklich werden, wie es mein Vater, meine Mutter und all die friedlichen Bürger von Avallon waren, die ich Jahre lang mit kennerischem Genießen die spritzigen, blumigen Weine der Yonne schlürfen sah. Und doch war mir klar, daß mein Leben nicht im gleichen Rhythmus wie das ihre verlaufen würde. Mein Vater war viel gereist und kannte nun kein größeres Vergnügen, als zu Haus zu bleiben. Die einzigen Abenteuer, zu denen er sich noch verführen ließ, waren die Forellenfischerei und die Rebhuhnjagd. So kam es, daß ich während meiner Studienzeit nicht ein einziges Mal über die Grenzen unseres Departements hinausgekommen bin. Oh, ich weiß, daß so ein kleines Heimatland, inmitten des Vaterlandes das Herz eines Kindes mit Entzücken zu erfüllen vermag. Das alte Gemäuer der Schutzwälle erzählte mir Geschichten von Heldentaten, Schlachten, dem Lärm der Donnerbüchsen und
Feldschlangen; ich dachte an die Eimer mit kochendem öl und geschmolzenem Blei, die man aus den Schießscharten auf den Feind schüttete, an das Schwirren der mit der Armbrust abgeschossenen Pfeile oder das Pfeifen der Musketenkugeln. Karl VII. war in seinen Schnabelschuhen und seinem blauen, mit goldenen Lilien bestickten Samtmantel über das Pflaster der Stadt gewandert, Ludwig XII. hatte sich nach seiner eigenen Schilderung nirgend anderwärts an so guten knusprigen Oblaten ergötzt wie an denen, so ihm seine allzeit getreuen und geliebten Untertanen zu Avallon darboten, worauf er ihnen alsogleich das Bürgerrecht zugestand. Eine andere schöne Geschichte war die vom protestantischen Prinzen Wolfgang, der, da er die Stadt im Sturm nicht nehmen konnte, die Vororte anzündete, nachdem er auf Karren alle Weinfässer des Landes fortgeschafft hatte. Von diesem gestohlenen Wein trank der Prinz so viel, daß er daran starb. Ein wackerer, tapferer Krieger, dieser Wein! Außerhalb der alten Mauern dehnten sich vor den Toren der Stadt die Täler mit ihren murmelnden Bächen, die grünen und gelben Wälder, kühler als die Kirchen, mit ihren alten Bäumen, in denen man herumkletterte und die Eichhörnchen mit dem Netz fing wie die Schmetterlinge. In der Stadt selbst gab es die Volksfeste mit Zirkus und Buden, in denen man Apfelzucker, Lebkuchen und Nugat verkaufte oder mit uralten Gewehren nach dem Ei schoß, das auf dem Strahl eines kleinen Springbrunnens tanzte, oder die Wurfbuden, in denen man mit großen Stoffbällen alles kurz und klein werfen konnte. Schließlich endete das Fest spät in der Nacht mit einem Tanz bei Lampionbeleuchtung. Im Sommer fanden sonntagabends Konzerte im Stadtpark statt. Der Kapellmeister wartete mit erhobenem Taktstock auf das helle Summen am Himmel, das pünktlich um 20 Uhr 30 das Stratosphärenflugzeug New York—Konstantinopel anzeigte. Es war ein merkwürdiger, echt französischer Akkord, dieses Geräusch des Meteors, der da oben durch die Kumuluswolken sauste, und die Klänge, die dieser schwunglose Taktschläger seinem Orchester entlockte. Er war im bürgerlichen Leben Registraturbeamter und ein richtiger Stubenhocker. Während das städtische Orchester von Avallon mit der Ouvertüre zu »Dichter und Bauer« oder »Lakme« loslegte, beklagte sich mein Klassenkamerad Antoine Hurion, der Sohn eines Uhrmachers auf der Hauptstraße, über das grausame Schicksal, das ihm dieses rückständige Avallon, das noch nicht einmal einen Flugplatz besaß, als Geburtsort zugewiesen hatte, denn Antoine Hurion fühlte schon in frühester Jugend eine
unwiderstehliche Berufung zur Fliegerei. Sein Vater war auf diesem Ohr taub. Wozu hatte er seinen einzigen Sohn, wenn er nicht das väterliche Geschäft übernehmen sollte? Antoine ließ ihn reden und war fest entschlossen, wenn der Zeitpunkt gekommen sei, seinen Kopf durchzusetzen. Ich sehe ihn immer noch vor mir, mit seinem schwarzen Lüsterkittel, seinen roten Haaren, seinen Sommersprossen, den lebhaften Lakritzenaugen, wie er mit seinem Taschenmesser unter der Schulbank an einem Flugzeugmodell herumschnitzte, das selbstverständlich das schnellste der Welt werden würde. Wenn das Stratosphärenflugzeug verschwunden war, so konnten die Musiker im Kiosk noch so verzweifelt in ihre Blechinstrumente blasen, sie verloren in den Augen Antoines jedes Interesse. Mein Kamerad steckte seinen Zeitmesser in die Tasche und seufzte: »Tolle Maschinen, Willi! Nie mehr als höchstens 20 Sekunden Verspätung!« Es war tatsächlich nur ein einziges Mal vorgekommen, daß das »New York—Konstantinopel« auf dem Rückflug über unserer Stadt fünf Minuten Verspätung hatte. Aber der Rundfunk gab am gleichen Abend bekannt, daß in der Türkei eine Revolution ausgebrochen sei. Und Antoine fuhr fort: »Das Stratosphärenflugzeug ist schon eine Sache. Aber erst das interastrale Flugzeug! Sag mal, glaubst du, daß ich der erste Mensch sein werde, der auf dem Planeten Mars landen wird?« Ich erwiderte lachend: »Verständige mich rechtzeitig, damit ich mitfliegen kann.« Dann überließ ich ihn seinen Träumen und schlängelte mich durch die eisernen Parkstühle und die Gruppen der glücklichen Bürger von Avallon, die da ein bißchen steif, mit vorgeschobenem Bauch, die Hände auf dem Rücken, herumstanden, bis ich die kleine Marie-Jeanne Deniau, die Tochter Pepin Deniaus, des Eigentümers des Hotels zur Post, gefunden hatte. Pepin Deniau, ein guter Freund meines Vaters, war von kleiner Gestalt, daher sein Spitzname Pipin der Kurze. Er hatte die rote Gesichtsfarbe, die ein zu hoher Blutdruck verleiht, eine große Nase und ein gewaltiges dreifaches Kinn, seine kleinen, lebhaften Augen ähnelten Schuhknöpfen und verschwanden fast in den Fettwülsten des Gesichts. Seine Tochter Marie-Jeanne, vier Jahre jünger als ich, hatte ihre Mutter bei der Geburt verloren und war graziös und zart, sie besaß große schwarze Augen und lange Wimpern, die den Blick beschatteten, eine offene Stirn, milchweiße Haut, und zu all dem ein engelgleiches Lächeln. Wenn Pepin .Deniau meinen Vater auf die Jagd mitschleppte — er war der einzige, der das fertig brachte —, wurde Marie-Jeanne meiner Mutter anvertraut. Wir verstanden uns ausgezeichnet, und ich betrachtete sie ein
wenig wie meine Schwester. Wenn ich mich mit Antoine Hurion in den Wäldern herumgetrieben hatte, freute ich mich, sie bei uns zu Hause anzutreffen. Ich erzählte ihr unsere Streiche, und sie hörte mir mit liebenswürdigem Erstaunen zu, das nicht frei von Furcht war. Die brutalen Spiele der Knaben erschreckten sie stets. Sie hatte eine angenehme Stimme, und in ihren Augen blitzte zuweilen eine Schelmerei auf, die mich verwirrte. Zu den Musikabenden im Stadtpark brachte sie ihr Vater, der förderndes Mitglied des Avalloner Stadtorchesters war, immer mit. Sie lernte Klavierspielen und spielte schon ganz nett, aber der Donner der Blechinstrumente irritierte sie. Mein Erscheinen begrüßte sie freudig, wir flüsterten uns vertrauliche Bemerkungen zu, und schließlich bewegte MarieJeanne ihren Vater, den Stadtpark zu verlassen. Wir wanderten zu dritt durch die stillen Gassen, die nach Kamillen und Burgundertrester dufteten. Vor den Türen schöpften die braven Bewohner Luft, und die Kinder hüpften auf einem Bein auf dem Trottoir herum. Die Schwalben zwitscherten, und der Himmel färbte sich zart violett. Ich hielt Marie-Jeanne bei der Hand oder schlang meinen Arm um ihre Schultern. Hinter uns schritt, seine Zigarre im Mund, würdevoll, soweit es sein Körperumfang gestattete, Pipin der Kurze. Der Spaziergang führte am Cafe Durand vorbei, und mein Vater brachte sofort etwas zur Erfrischung. Zuweilen setzte er auch einen runden Strohhut auf und schloß sich uns zu einem Abendbummel durch die Stadt an. Ich erinnere mich lebhaft dieser Dämmerstunden im Sommer, das Leben war so einfach und angenehm, mit einem freundlichen Wort grüßte man im Vorübergehen seine Freunde und Bekannten, ich höre noch das laute kräftige Lachen meines Vaters und das dünne, meckernde Pipins des Kurzen, ich spüre noch die kleinen Schritte Marie-Jeannes an meiner Seite, und über uns schwebten die langgestreckten rosa und violetten Abendwolken, bis langsam und würdevoll der Mond aufging. Die beiden Väter verband eine ehrliche, aufrichtige Freundschaft, die in der Verschiedenheit ihrer Charaktere begründet lag. Raymond Durand war ebenso impulsiv und hitzig, wie Pepin Deniau systematisch und vernünftig. Wenn sie schließlich immer einer Meinung waren, so kamen sie auf recht verschiedenen Wegen zu diesem Resultat. Unter ihren vielen Debatten ist mir eine, zweifellos, weil sie meistens in denselben Redewendungen geführt wurde, in Erinnerung geblieben. Es muß sich um das Budget der nationalen Verteidigung gehandelt haben, das für meinen Vater das rote Tuch war. »Ich
habe sechs Jahre lang Uniform getragen«, sagte er, »zwei Jahre normale Dienstzeit, ein Jahr im ersten, drei im zweiten Weltkrieg. Der dritte hat glücklicherweise die Menschen, zur Vernunft gebracht. Der dritte große Krieg im 20. Jahrhundert war bestimmt der letzte überhaupt. Also wozu noch Maschinen fabrizieren, um sich gegenseitig umzubringen?« Pipin der Kurze zuckte friedfertig die Achseln. »Weil die Menschen noch immer Viecher sind«, erklärte er. »Weil sie immer irgend einen blödsinnigen Grund finden werden, um sich zu schlagen, und weil der Krieg für sie eine ebenso natürliche und unvermeidliche Sache ist, wie Regen und Sonnenschein oder Leben und Tod. Wenn man vermeiden will, daß einen der Blitz trifft, baut man vor allem einen Blitzableiter. Wenn man die Schäden eines unvermeidlichen Krieges einschränken will, dann zerbricht man sich den Kopf darüber, wie man ihm vorbeugen kann. Aber warum findet man sich damit ab, daß der Krieg unvermeidlich sei? Weil man zugeben muß, daß die Torheit eben verbreiteter ist als die Vernunft.« »Herrgottsdonnerwetter«, schrie mein Vater, »wenn noch mal ein Krieg ausbricht — (er ballte seine großen Fäuste), dann doch lieber gleich krepieren!« »Das wäre nur eine ganz individuelle Lösung«, sagte Pepin. Während dieser Unterhaltung flüsterte mir Marie-Jeanne leise zu: »Was möchtest du später einmal machen, Willy?« Ich wußte im Augenblick nicht recht, was ich antworten sollte. Ich zögerte ein bißchen, und dann erklärte ich etwas unwillig, damit sie über den Ernst meiner Absichten nicht im Zweifel sei: »Auf alle Fälle werde ich das tun, was mir Spaß macht.« Marie-Jeanne betrachtete mich halb bewundernd, halb ungläubig. »Also mein Junge«, sagte mein Vater seinerseits, als ich mein Abiturientenexamen bestanden hatte, »was hast du für Pläne für die Zukunft?« Ich hatte in all den Jahren Muße genug gehabt, darüber nachzudenken, aber meine völlige Unentschlossenheit war geblieben. Welchen Platz sollte ich in der menschlichen Gesellschaft einnehmen? Um die Wahrheit zu gestehen, ich wußte genau, was ich nicht wollte, zum Beispiel hatte ich um keinen Preis die Absicht, Aperitif in einem Cafe auszuschenken. Bisher war ich in einer Kleinstadt eingesperrt gewesen, nun wollte ich die Welt kennen lernen, und die Welt sollte mir die Frage beantworten, was sie von diesem Kandidaten ihrer Gunst erwartete. Wie könnte man aber einem Vater wie dem meinen ein so sonderbares Glaubensbekenntnis ablegen? Er erwartete von mir einen
vernünftigen Entschluß. Wenn ich ihm erklärt hätte, ich möchte Rechtsanwalt oder Arzt oder Notar oder Professor werden, so hätte ihm das zweifellos geschmeichelt, und er hätte mit Vergnügen die nötigen Opfer gebracht. Aber ich wollte nur frei sein, nach meiner Vorstellung leben, und ich mochte nicht lügen. »Na«, sagte er, »du antwortest mir nicht? Willst du vielleicht von deinen Renten leben?« Er begann spöttisch zu lächeln, schlug mir auf die Schulter und goß mir ein Glas Kognak ein. »Stärk dich, mein Junge!« Ich goß das Glas in einem Zug hinunter und sagte zuversichtlich: »Also, ich möchte Geschäfte machen, lernen, wie man sich selbst weiter helfen kann, wie du's auch gemacht hast in meinem Alter. Ich bitte dich nur um eine Empfehlung an einen deiner Lieferanten in Paris.« »Und noch ein paar Banknoten in die Brieftasche obendrein«, rief mein Vater aus, »und: es lebe das Leben!« Er war nicht enttäuscht, wie ich fürchtete, und machte mir keine Schwierigkeiten. Die Szene hatte eines Abends in unserem Speisezimmer Henry II. nach Schluß des Cafes stattgefunden. Er rief meine Mutter, die gerade Geschirr in der Küche abwusch. »Weißt du schon, meine Liebe«, sagte er zu ihr, »daß dein Söhnchen nach Paris will, um Kommis zu werden?« Meine Mutter trocknete sich die Hände an der Schürze, riß die Augen auf und ersuchte um eine Erklärung. Als sie ihr mein Vater gegeben hatte, blickte sie mich konsterniert an und sagte: »Du willst uns also verlassen, Willy?« Ihre Hände hingen schlaff über ihre blaue Schürze, wie die Marionetten nach Schluß der Vorstellung über den Rahmen des Kasperletheaters. »Na, Mutter«, sagte mein Vater, »nun mach mal nicht so ein Gesicht wie bei einer Beerdigung. Jugend muß sich umtun. Wie wär's, wenn wir jetzt mal eine gute Flasche Wein aufmachten?« Und mit einem gutmütigen Lachen stieg er in den Keller. ZEHN MINUTEN VERSPÄTUNG Jahrhundertelang war Paris die magische Stadt, das Ziel der Sehnsucht aller Völker. Für den englischen Lord oder den indischen Prinzen, für den baltischen Baron, den rumänischen Grafen, für den argentinischen Farmer, den Bergwerksbesitzer aus Alaska, für den abessinischen Fürsten und den Businessman vom Broadway gab es kein anderes Vergnügen als Paris. Seinen Lebensunterhalt verdiente man anderwärts, aber sein Leben genießen — oder
was man so unter genießen verstand —, das konnte man nur auf dem geheiligten Pflaster der großen Boulevards, des Montmartre, des Montparnasse und des Etolle-Viertels. Worauf beruhte eigentlich diese Vorliebe, diese allgemeine Einstellung Paris gegenüber, die erst mit dem Untergang der Stadt ihr Ende finden sollte? Gelehrte Spezialisten mit Brillen, Diagrammen und jener umfangreichen, komplizierten Apparatur für die mathematische Analyse bewaffnet, schrieben diese Tatsache den atmosphärischen Verhältnissen im Seinebogen zu, dem Ozongehalt der Luft, der Eigenschaft des Lichtes, der idealen Verteilung der Bauten, der Bäume und des Wassers. Die Zeiten änderten zwar immer wieder das Bild, ohne jedoch seine ursprüngliche Harmonie zu zerstören. Mir scheint aber, daß ihre glanzvollen Erkenntnisse eines der fundamentalsten Elemente übersahen, nämlich den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte war Paris mehr als einmal vom Feinde besetzt worden. Doch während der ganzen Besatzungszeit konnte der enttäuschte Sieger die Stadt seiner Träume nicht erkennen. Der lebendige Charme, die einzigartige Atmosphäre waren verschwunden; denn Paris ist, oder, wie man nun leider sagen muß, war nur durch die Liebenswürdigkeit seiner Bewohner Paris, und wie man sich nur für willkommene Gäste in Unkosten stürzt, so offenbarte sich Paris auch nur denen, die es liebte. Alle diese Überlegungen existierten für mich nicht, als ich im Vollbewußtsein meiner achtzehn Jahre zum ersten Male in der Hauptstadt landete, mit offenen Augen und offenem Herzen für alles Abenteuerliche. Ich muß ehrlich zugeben, daß ich in dieser Stadt, die für das Glück der Menschen geschaffen schien, in keiner Weise vom Schicksal besonders begünstigt wurde. Aber damals konnte man in Paris unter den bescheidensten Bedingungen, selbst unter den anspruchslosesten Verhältnissen glücklich sein, und in diesem Zustand lebte ich dort viele Jahre hindurch. Wie ich schon einmal sagte, verfügte ich tatsächlich über keinerlei besondere Begabung, und es ist wohl hinlänglich bekannt, daß ein Abiturientenzeugnis noch nie viel genützt hat. Andererseits war mir der Gedanke unerträglich, jenem Grossisten in Bercy, dem Freund und Lieferanten meines Vaters, das Empfehlungsschreiben zu überreichen, das mir den Zugang zur glanzvollen Karriere eines Buchhaltungsgehilfen erleichtert hätte. Auch gab mir der Zehrpfennig, den man mir bei meiner Abreise aus Avalion gegeben hatte, die Möglichkeit, mehrere Monate zuzuwarten. Das tat ich denn auch, ohne mich weiter über die Zukunft zu beunruhigen: einige Monate erscheinen einem im Alter von
zwanzig Jahren — und mit achtzehn erst recht — wie eine Ewigkeit. Ich hatte mich in einer Mansarde des etwas verfallenen Montparnasse-Viertels eingerichtet, das seit dem Auszug der Maler und Bildhauer, oder wie sie es in ihrer Sprache nannten, seit ihrer »Landflucht« nach Montrouge und ArcueilCachan heruntergekommen war. Meine Kenntnisse als Provinzler hinkten dabei wie üblich um ein gutes Vierteljahrhundert hinten nach. Mit mehr oder weniger Eifer besuchte ich die Kunstschulen in der Rue de la Gran-deChaumiere und fachsimpelte angesichts zahlreicher Bierschoppen tagelang und heftig über die verschiedensten Dinge, über Farbwerte, Mosaikbilder der Maler des Quattrocento, über die Nachteile, Zinkweiß mit Preußischblau auf der rohen Leinwand zu mischen, über die Brüste der Venus von Milo und andere ebenso schwerwiegende Themen. Ich besaß eine verstellbare Staffelei, meine Pinsel standen in einem Fettopf, ich war Eigentümer von Palettemessern, eines Zeichenblocks und eines Pfeifenständers; ich sprach mit viel Sachkenntnis über Materie, Volumen, den Goldenen Schnitt und Komposition. Ein kleines Modell mit nachgezogenen Augenbrauen und hochgestellten Brüsten war gelegentlich bereit, mir eine Nacht lang in meiner Dachkammer Gesellschaft zu leisten. Das genügte mir, mich als Künstler zu bezeichnen. Auf den Terrassen der Kaffeehäuser wurde um mich herum in allen Sprachen dieses Planeten gesprochen. Ich brauchte nur die Augen zu schließen, um mich mit etwas Einbildungskraft in Wien, in Vancouver, in Buenos Aires oder in Nagasaki zu wähnen. Mit wenig Mitteln war mein Wandertrieb befriedigt, und dieses Leben erschien mir als das schönste auf der Welt. Der Tag kam jedoch, an dem ich gezwungen war, auf das Künstlerleben zu verzichten. Den väterlichen Zehrpfennig hatte ich verbraucht, und ehe ich mich auf die Malerei selbst stürzte, bevor ich mich mit scheinheiligem Interesse an den plastischen Formen eines hübschen Modells begeisterte, bevor ich also wirklich zu malen anfing, mußte ich vor allem erst einmal leben, und leben heißt Geld verdienen. Darauf war ich ziemlich schlecht vorbereitet, aber ich hatte meinen gesunden Menschenverstand nicht ganz verloren. Meine Malversuche hatten noch nie die Begeisterung der Massen oder der seltenen Kunstliebhaber erweckt und würden sie auch nie erwecken. Wenn mir die Laien das zusprachen, was man unter einem flotten zeichnerischen Strich versteht, so war doch in meinen Versuchen keine Spur von Genie, nicht einmal der Schatten eines Talentes zu finden. Ein
angenehmes Künstlerleben zu führen bedeutet noch lange nicht, daß einem der göttliche Funke in die Wiege gelegt wurde. Ich war klug genug, das bei Zeiten zu erkennen, und machte mich auf die Suche nach einer Beschäftigung. Einen Beruf hatte ich nicht erlernt. Innerhalb von zwei Jahren übte ich wohl ein halbes Dutzend der verschiedensten Tätigkeiten aus, ich war Schreiber in einer Lebensversicherungsgesellschaft, Stallbursche inMaisons-Laffitte, Empfangsgehilfe in einem großen Hotel, Reiseführer eines Touristenbüros, Öl- und Seifenvertreter. Meine kenntnishungrige Jugend liebte die Abwechslung, aber meine fünf ersten Stellungen haben trotz ihrer reizvollen Vielseitigkeit nur sehr verworrene Bilder in meiner Erinnerung zurückgelassen, die eigentlich kaum erwähnenswert sind. Auf Grund einer Zeitungsannonce trat ich schließlich als Gehilfe bei einem Fotografen ein. Mein Arbeitgeber hieß Anatole Pinche und war ein Mann in den Fünfzigern. Sein kahler, glänzender Schädel war von einer graumelierten Haarkrone umgeben, die aussah, als wäre sie mit der Brennschere behandelt worden. Er war fett, feierlich und kurzatmig. Als ich mich ihm vorstellte, begann er um mich herumzulaufen und stützte dabei sein Kinn in die Hand. Plötzlich blieb er stehen und sah mich ziemlich aufgeregt an. »Sind Sie Künstler?« fragte er mich mit tiefer Stimme. »Jawohl, das bin ich«, antwortete ich ohne Verlegenheit. »Das wollen wir einmal sehen«, sagte er mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Jeder Anfänger kann den Auslöser eines Fotoapparates bedienen, aber im Fluge den wahren Ausdruck eines Angesichts zu erhäschen oder, besser noch, den Ausdruck einas Antlitzes hervorzurufen, in dem ein menschliches Wesen sich in all seinen Eigenschaften, seinen Fehlern, Leidenschaften und Lastern spiegelt, das erfordert ganz besonderes Talent; dazu ist Intelligenz notwendig, mein Herr, Inspiration, mein Herr; ja, ich wage sogar zu sagen, daß ein Körnchen Genie dabei nicht schaden kann.« Er sprach mit einer derartigen Begeisterung, daß er in seinem Schwung fast violett geworden war. »Ganz einverstanden, Herr Pinche«, entgegnete ich friedfertig. Hatte er vielleicht daran gedacht, mich zu entmutigen? Meine Zustimmung schien ihn zu überraschen. In kurzen Abständen schlug er sich an die Brust, als wollte er wieder zu Atem kommen; denn sein Fett hinderte ihn beim Luftholen. Dann fuhr er fort: »Vor Ihnen hatte ich verschiedene Gehilfen, mein Herr, absolut qualifizierte Fachleute, Virtuosen der Dunkelkammer, die sich brüsteten, ein Porträt
aufnehmen zu können. Zweifellos genügte ihre unpersönliche Gewandtheit zur Anfertigung eines Ausweisbildes, ja sogar jener Bildnisse neu vermählter Paare, bei denen jeder Kunde sich von vorn herein damit abfindet, sein Leben lang den Kopf eines Zuchthäuslers oder Geistesgestörten zur Schau zu tragen. Aber alle diese Leute waren unfähig, aus dem Angesicht eines Menschen dessen Schicksal bildl:ch zu gestalten. Ich sage Ihnen lieber gleich, daß ich ein unfehlbares Mittel hatte, sie zu beurteilen: ich verlangte von ihnen ein Porträt von Frau Pinche. Nun, keiner von ihnen hat es je vermocht, diese so offensichtlich einfache Aufgabe zu lösen, nämlich das Bild einer schönen Frau aufzunehmen.« Er durchschritt das Atelier, öffnete eine Tür und rief: »Sidonie!« Sidonie Pinche war eine gut aussehende Person von fünf-unddreißig Jahren. Ihre kleine Gestalt machte ihr viel Kummer, sie gab sich große Mühe, diesen Nachteil durch übertrieben hohe Absätze auszugleichen. Aber die graziösen Rundungen, die sie andererseits zeigte, waren keine künstlichen. Sie hatte einen frischen Teint, sinnliche Lippen, reiches Haar, das in seiner dunklen Farbe an Füllfederhaltertinte erinnerte, und schwarze, blitzende Augen. Mit wiegenden Hüften trat sie in das Atelier, und ich hatte sogleich das Gefühl, ihr nicht zu mißfallen, denn sie lächelte mir schelmisch zu. »Das ist Herr Durand, mein neuer Gehilfe«, sagte Anatole Pinche. »Er ist Künstler und behauptet, daß ihm dein Porträt gelingen werde.« »Wirklich?« entgegnete sie mit gurrender Stimme. »Warum auch nicht?« fuhr der Fotograf fort. »Im übrigen, ich lasse euch allein. Herr Durand, Sie können sofort mit den Vorstudien für das Porträt meiner Frau beginnen. Ich nehme wohl zu Recht an, daß ein Künstler wie Sie sich nicht auf das Modell stürzt wie ein Hund auf einen Knochen.« (Er grinste dabei recht eigenartig.) »Es ist nicht sehr eilig, vergessen Sie das nicht, Sie können sich Zeit lassen. Verschwenden Sie nicht zu viel Platten, aber verbrauchen Sie, was notwendig ist. Glauben Sie ja nicht, verpflichtet zu sein, mir das Ergebnis Ihrer Bemühungen zu zeigen, ehe Ihnen nicht ein Abzug gelungen ist, der Sie wirklich befriedigt. Was die laufende Arbeit anbelangt, so beginnt sie morgens um 9 Uhr.« Er kratzte sich noch immer am Kinn und verließ ächzend und grinsend das Atelier, während sich ein immer breiter werdender rötlicher Fleck mitten auf seiner Stirn zeigte wie die Spuren eines Faustschlages. So begann meine Tätigkeit in der fotografischen Kunst, in der ich mir später
einen gewissen Namen machen sollte. Wenn ich diese Episode etwas ausführlich erzähle, so geschieht es nicht allein deshalb, weil sie auf mein Berufsleben einen entscheidenden Einfluß hatte, sondern auch, weil diese Komödie bald durch ein Drama abgelöst wurde. Die Menschheit stand damals schon am Rande des Abgrundes und vergeudete ihre letzte Chance eines glücklichen, zufriedenen Daseins. Als ich mich auf Wunsch ihres Gemahls mit Sidonie Pinche allein befand, zog sie ein Schmollmäulchen, näherte sich mir, blickte mir tief in die Augen, reckte einen Arm nach vorn, den anderen nach hinten, senkte den Kopf mit einem verzweifelten Ausdruck auf die Schulter und behauptete, eine Odaliske darzustellen, die das Wohlgefallen ihres Herrn und Gebieters zu erregen wünscht. Ihre wohlgeformten Brüste zitterten, und mit gespitztem Mund flüsterte sie mir ins Ohr: »Nun, Hern Durand, was würden Sie zu dieser Pose sagen?« Ich muß es mir wirklich als Verdienst anrechnen, daß ich in diesem Augenblick nicht laut herausplatzte. Ich erklärte ihr sogar kaltblütig, ich würde es für den Anfang vorziehen, sie in einer weniger gezwungenen Stellung aufzunehmen. »Wie Sie wünschen«, erklärte sie mir in gereiztem Ton. Ich machte an diesem Tag drei oder vier Aufnahmen, die sie, genau der Wirklichkeit entsprechend, als schnippisches Frauenzimmer zeigten. Ich hütete mich natürlich, ihr oder ihrem Gatten die Abzüge vorzulegen. Diese tägliche Fronarbeit war unvermeidlich, wenn ich meine Stellung behalten wollte. Daher mußte ich an allen folgenden Tagen dasselbe Theater über mich ergehen lassen. Unter dem Vorwand, mich auf das rein fachliche Gebiet zu beschränken, erklärte ich der Ehefrau Pinche allen Ernstes, bei einem guten Porträt komme es vor allem darauf an, daß der Fotograf einen günstigen Moment erwische. Man müsse dabei berücksichtigen, daß die Kunst, diesen Augenblick herbeizuführen, der Qualität des Aufzunehmenden entspräche. Nun, was die Qualität anbelangt, so verstand es sich von selbst, daß Sidonie Pinche keine Konkurrenz zu fürchten brauchte. Diese kleine, vollschlanke Person war von Natur ziemlich mißtrauisch. Aber bei ihr übertraf die Eitelkeit ihre Vorsicht, so daß sie meine Redensarten für bare Münze nahm. Täglich änderte sie mindestens einen Teil ihrer Kleidung, obwohl ich ihr mehrfach erklärt hatte, daß meine Studien sich allein auf ihr Gesicht bezögen. »Aber gehen Sie!« sagte sie mir in zweideutigem Tone, »ihr Männer wäret schön hereingefallen, wenn die Frauen nur aus einem Kopf bestünden.«
Manchmal trat während einer Sitzung der Chef in das Atelier und rieb sich die Hände. »Na, macht das Porträt Fortschritte? Bitte glauben Sie ja nicht, daß ich Ihnen die Pistole vor die Brust halte. Wenn nur meine Frau zufrieden ist, dann bin ich es selbstverständlich auch.« Eines schönen Tages erschien Sidonie Pinche in einem weite^ Morgenrock aus karmesinfarbigem, großblumigem Satin. Ich forderte sie auf, eine ihr genehme Stellung einzunehmen, und sie streckte sich lässig auf einem alten Ripssofa aus. Ich hatte meinen Kopf unter das schwarze Tuch gesteckt, um die richtige Einstellung zu finden, und wollte gerade den Apparat mittels der Rollfüße vorschieben, als ich auf der Mattscheibe, die das Bild der Schönen umgekehrt wiedergab, sehen mußte, wie sie sich ihrer Hüllen entledigte und mit selbstverständlicher Schamlosigkeit in vollkommen entschleiertem Zustande darbot. Die Situation war sehr heikel. Anatole Pinche konnte jeden Augenblick erscheinen — wie würde sich dieser eigenartige Ehemann wohl verhalten? Offensichtlich tat er alles, um mich in die Arme seiner Frau zu treiben, aber die Reaktionen eines Hahnrei sind nie vorauszusehen. Andererseits war Sidonie Pinche, wie ich schon einmal bemerkt habe, äußerst anziehend, umsomehr jetzt, wo ich auf der Mattscheibe ganz nach Herzenslust all ihre Reize einzeln genießen konnte. Ihr unberechenbarer Charakter aber genügte, mich vor einer Handlung zu bewahren, die möglicherweise mehr Enttäuschungen als Vorteile nach sich gezogen hätte. Ich tauchte also aus meinem dunklen Versteck auf und sagte, ohne ein Zeichen der Verwirrung oder der Verlegenheit zu verraten, in möglichst natürlichem Ton: »Madame, Sie hatten mir nicht gesagt, daß es sich um ein Aktfoto handeln sollte.« Sie schien ebenfalls nicht verlegen, lächelte gezwungen und gab mir ein Zeichen näherzutreten. »Kommen Sie doch näher, Sie großer Dummkopf!« Ich näherte mich ihr, sie griff nach meiner Hand und drückte sie auf ihre feste, wohlgeformte Brust. »Fühlen Sie, William, spüren Sie, wie mein Herz schlägt?« Zum ersten Mal nannte sie mich beim Vornamen. Ich versuchte, mich freizumachen, aber sie drückte meine Hand noch fester. »Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie ihrer kleinen Freundin Treue geschworen haben?« Ihre Augen brannten wie Feuer, ihre Lippen öffneten sich, die matte Haut atmete den Duft der Brünetten aus. Meine Kehle wurde seltsam trocken, fast erlag ich der Versuchung, als ein Geräusch von der Türe
her mich zusammenfahren ließ. Ich riß mich los. »Wenn Sie einverstanden sind, Madame, werden wir zuerst die Einstellung vollenden.« »Einfaltspinsel!« rief sie aus. Ihr Gesicht war vor Zorn ganz entstellt. Mit einem Satz sprang sie auf, und ich fragte mich tatsächlich im Augenblick, ob mir die Potiphar nicht mit gezückten Nägeln ins Gesicht springen wollte. Vielleicht hätte sie es auch getan, wenn nicht plötzlich die Türe aufgegangen und Herr Pinche eingetreten wäre, der mit hochgezogenen Augenbrauen, aber ohne andere Zeichen der Empörung mit gütiger, fast jovialer Stimme sagte: »Ach, diese Künstler! Sie bevorzugen immer das Nackte, sie sind wirklich unverbesserlich.« Und zu seiner Frau gewandt: »Nun? Bist du wenigstens zufrieden, mein Täubchen?« »Weder mit dir noch mit deinem keuschen Joseph!« entgegnete die zornerfüllte Sidonie und zog sich den Morgenrock über. Sie ging hinaus, die Tür schlug laut hinter ihr zu. Anatole Pinche senkte den Kopf und wandte sich mit verzweifelter Miene nach mir um. »Sie sehen, auch Ihnen ist das Kunststück nicht gelungen, und gerade in Sie setzte ich einige Hoffnung. Ich gestehe, daß Sie mir sogar Vertrauen einflößten. Die Frauen sind aber Wesen, die einem Enttäuschungen bereiten, und Sie selbst werden verstehen, daß ich auf Ihre Mitarbeit verzichten muß.« Welch zweideutige Rolle mochte dieser närrische Kauz wohl spielen? Für mich stand fest, daß er an der Ateliertüre gelauscht hatte, um im gewünschten Augenblick eintreten zu können. Traurig kehrte ich in meine Mansarde zurück. Es war an einem der goldenen Tage Mitte September, mit denen der Pariser Sommer zu Ende geht und, wie um seinen Abschied schmerzlicher zu gestalten, noch einmal seine Gaben verschwenderisch zur Schau stellt. In den Augen aller Frauen leuchtet das Versprechen des Vergnügens oder des Glücks. Nein, es erscheint unmöglich, daß die schönen Tage enden könnten. Es liegt so viel Beschwingtes in diesem tanzenden Licht, das liebevoll Gestalt und Antlitz plastischer erscheinen läßt. So viel Leichtigkeit liegt in der durchsichtigen Luft, in. der die zarten Seidenwolken schweben, und es wird so recht augenscheinlich, daß der Mensch dazu geschaffen ist, in Frieden die süßen Früchte dieser Erde unter der strahlenden Sonne zu genießen. Dabei vergißt man, daß das Leben zwar schön, aber vergänglich ist, daß der Duft der Blumen nur einen Atemzug währt, daß jener Baum, der sich sanft gegen das Blau des Himmels abhebt,
daß der in der Mittagshöhe schwebende Vogel, diese Frau mit veilchenblauen Augen und verheißendem Munde nur eine Handvoll Staubes im Winde sind. Ich spreche von den Sommern in Paris, als ob mein unbeständiges, armseliges Menschenherz leugnen möchte, daß sie niemals wiederkehren. Aber ihr Verschwinden besteht für mich nicht, da ich sie ganz nach Belieben in meiner Erinnerung wieder aufleben lassen kann. Ein Telegramm erwartete mich zu Hause: »Mutter schwer erkrankt. Anwesenheit sofort erforderlich. — Durand.« Noch am gleichen Abend traf ich in Avalion ein, aber meine Mutter war schon am frühen Morgen plötzlich gestorben. Meinen Vater fand ich am Totenbett seiner treuen Gattin, der unersetzlichen Lebensgefährtin; der große starke Mann war völlig zusammengebrochen. Tränenerfüllt standen wir uns gegenüber, und ich wunderte mich, daß er weinen konnte. Pipin der Kurze war beim Verlassen des Friedhofs von einer Blässe, die bei diesem starken Sanguiniker erstaunlich erschien. Er klopfte meinem Vater tröstend auf die Schulter und wollte uns mit aller Gewalt in das Hotel zur Post zum Mittagessen mitnehmen. Marie-Jeanne ging an meiner Seite. Anfangs glaubte ich, sie nicht mehr zu erkennen. Ein Kind hatte ich verlassen, eine Frau fand ich wieder. Aber ihre großen, schwarzen Augen waren die gleichen geblieben, ebenso ihre verstohlenen Blicke, die nun von plötzlichem Erröten begleitet waren. Bei Tisch suchte sie mich wie einen Bruder zu trösten, während mein Vater schmerzgebeugt vor seinem Teller saß. Einige Tage später sollte mir dieses brüderliche Verhältnis, das die vergangenen Jahre überdauert hatte, noch stärker zum Bewußtsein kommen. Da ich meine Stellung bei Meister Pinche verloren hatte, trieb mich nichts zur Rückkehr nach Paris. Mein Vater litt unter dem Verlust meiner Mutter über alles Erwarten, er entdeckte nachträglich die Tugenden seiner verstorbenen Frau. Warum hatte er sie zu ihren Lebzeiten nur ausgenützt, statt ihren wahren Wert zu erkennen! Meine Anwesenheit war ihm in seinem Kummer ein Trost. Nach vierzehn Tagen schien er sich wieder so weit um seine Geschäfte zu kümmern, daß ich ihm ohne weiteres meine baldige Abreise anzeigen konnte. Als ich mit ihm darüber sprechen wollte, unterbrach er mich nach den ersten Sätzen. »Höre gut zu, William: der Tod deiner Mutter hat mich alt gemacht; ich fühle wohl, daß ich nicht mehr der gleiche bin. Es kann nicht mehr die Rede davon sein, das Kaffeehaus weiterzuführen. Ich möchte es verkaufen und mich von den Geschäften zurückziehen. Das Allein-- sein könnte ich allerdings nicht ertragen. Wie wäre es, wenn wir zusammen blieben?«
»Darüber wäre ich sehr glücklich«, antwortete ich ihm, »und ich möchte dir einen Vorschlag machen: ich nehme dich nach Paris mit. Mit deiner Hilfe werde ich mir ein Foto-Atelier einrichten; ich glaube, auf diesem Gebiet neuartige Ideen zu haben, und bin meines Erfolges fast sicher.« Er zuckte die Achseln mit einer Ungeduld, die mich an den keinen Widerspruch duldenden Riesen meiner Jugendjahre erinnerte. Doch er fing sich sofort wieder. »Wie lieb von dir, mein Junge! Aber ich habe etwas Besseres für dich im Sinn. Ich habe spät geheiratet, und das war wohl ein Fehler. Lerne aus meiner Erfahrung und nimm dir an mir kein Vorbild. Was würdest du zu Marie-Jeanne sagen?« Ich war so wenig auf diesen Vorschlag gefaßt, und der Name, der mir da mit so betonter Liebenswürdigkeit genannt wurde, versetzte mich in eine derartige Bestürzung, daß ich im Augenblick nichts zu erwidern wußte. Mein Stillschweigen ermunterte meinen Vater fortzufahren: »Pipin denkt wie ich, er würde gern dabei behilflich sein, und ich habe guten Grund zu der Annahme, daß er in dir einen idealen Schwiegersohn sieht. Das Hotel zur Post ist, wie du wohl weißt, das beste unserer Stadt. Überdies hat es eine geschichtliche Vergangenheit, da Napoleon dort eine Nacht geschlafen hat. Marie-Jeanne wird das Hotel als Mitgift erhalten. Für dich wäre das eine gesicherte Zukunft, und du hättest gleichzeitig eine in jeder Beziehung vollkommene kleine Frau. Sie erinnert mich lebhaft an deine verstorbene Mutter. Ihr kennt euch seit frühester Jugend, also habt ihr keine Überraschungen zu befürchten.« Ich hätte meinem Vater antworten können, daß gerade dieses gegenseitige Sichkennen ein wesentliches Hindernis für die von ihm beabsichtigte Vereinigung bedeutete. Meine Freundschaft zu Marie-Jeanne schloß Liebe aus. Dieses Wesen, in dem ich trotz der Veränderung immer noch das kleine Mädchen meiner Kindheit erblickte, würde in mir nie irgendein Verlangen erwecken. Darüber hinaus bedeutete die Heirat mit Marie-Jeanne ein endgültiges Verschwinden in der Versenkung. Marie-Jeanne war eine richtige Provinzlerin, und das war in meinen Augen ein nicht wiedergutzumachender Fehler. Trotz meiner prekären Situation hatte ich von Paris noch keineswegs genug. Ich bildete mir ein, nirgendwo anders leben zu können, und es kam mir garnicht zum Bewußtsein, daß mich gerade diese Naivität als Provinzler kennzeichnete. Und schließlich spürte ich in mir keinerlei Berufung zum Hotelier. »Nun«, sagte mein Vater, »warum antwortest du mir nicht?«
Ich hielt es für diplomatischer, ihn nicht durch eine glatte Absage zu verstimmen, daher beschränkte ich mich darauf zu bemerken, daß ich mich noch zu jung fühle, um ein eigenes Heim zu gründen, daß mich sein Vorschlag überrasche und ich darüber nachdenken müsse. »Nun gut«, antwortete er, »aber überlege nicht zu lange, Marie-Jeanne ist anziehend genug, um schnell einen Freier zu finden.« Ich blieb also eine weitere Woche bei ihm, sah Marie-Jeanne wieder und fand meine Meinung bestätigt. Dieses liebenswürdige und gesunde Mädchen ließ mich kalt wie Marmor. Mein Gott, was war da zu machen? Auch meinen Kameraden Antoine Hurion traf ich wieder, der in seinem väterlichen Laden, eine Uhrmacherlupe ins Auge geklemmt, vor lauter Langeweile vertrocknete. Er hatte die Sonntage und Ferien dazu benützt, in Auxerre sein PilotenExamen zu machen, und wollte nach seiner Volljährigkeit seine Karriere in der Handelsluftfahrt beginnen. »In sechs Monaten werde ich 21 Jahre alt«, sagte er. »Weißt du, wovon ich träume? Eines Tages das Flugzeug New-York — Konstantinopel zu fliegen.« Das Stratosphärenflugzeug, das ihm, als er noch ein mittelmäßiger Schüler der sechsten Klasse des Gymnasiums in Avalion war, so viel Seufzer entlockt hatte, überflog noch immer jeden Abend zur selben Stunde die Stadt. Der Dirigent des städtischen Orchesters wartete nach wie vor das gewohnte Brummen ab, ehe er seine Musiker entfesselte. Um den Musikpavillon herum standen noch immer die Bürger von Avallon mit ihren vom heimischen Wein geröteten Gesichtern, den gleichen runden Strohhüten und den gleichen Uhrketten auf ihren dicken Bäuchen. Inmitten dieser Menschen sollte ich leben? Dann doch tausendmal lieber meine Mansarde auf dem Montparnasse! Dort nahm ich also meine alten Gewohnheiten mit umso größerer Genugtuung wieder auf, als mein Vater, ohne mir meine Zurückhaltung Marie-Jeanne gegenüber nachzutragen — im Stillen hoffte er wohl, mich doch noch zu seinen Absichten zu bekehren —, sich keineswegs knauserig gezeigt und meine Finanzen wieder in Ordnung gebracht hatte. Mit dem kleinen Bündel Geldscheine, das ich jetzt besaß, hätte ich ganz nach Belieben mehrere Monate ein sorgenfreies Leben führen können. Aber ich zog es vor, ein geschäftliches Wagnis zu unternehmen, dessen Erfolg mir die Unabhängigkeit versprach. Ich hatte nicht nur so leichthin, oder um mich interessant zu machen, mit meinem Vater über neue Wege auf dem Gebiet der fotografischen Kunst gesprochen. Meine erste Unterhaltung mit Anatole
Pinche hatte mir den Gedanken des »natür-1ichen Porträts« eingegeben, der sich nun bewähren sollte. Ich möchte nicht behaupten, daß es eine geniale Idee war, aber wenigstens war sie vom geschäftlichen Standpunkt aus lebensfähig, und gleichzeitig büßte die Kunst dabei nichts ein, im Gegenteil. Zum Start erschien mir eine wohlüberlegte Werbung unentbehrlich, aber dazu wären mehr Geldmittel nötig gewesen, als ich besaß. Die väterliche Großzügigkeit gestattete mir indessen, ein repräsentatives Atelier auf dem Boulevard Batignolles zu mieten und gleichzeitig die Einrichtungskosten zu tragen. Nach einem Monat war es so weit. Ich wollte in Aktion treten und mein Glück versuchen — aber die Götter hatten es anders bestimmt. Nach einem wundervollen Sommer voll zitternder Lichter spannte ein üppiger Herbst gleich jenen Frauen, deren Schönheit vor ihrem Absterben einen noch süßeren Glanz ausstrahlt, über Paris einen klaren und warmen Himmel aus. Unterdessen schwebte über Europa, das durch die schlimmsten Erfahrungen nicht zur Vernunft gekommen war, ein neues schweres Unheil. Wieder einmal sprach man vom Krieg, wieder einmal glaubten die leichtsinnigen, in der Mehrzahl allzu leichtsinnigen Franzosen nicht an ihn. Heute, nachdem das weiße Übel — das soll wahrhaftig kein ironisches Scherzwort sein, dazu hätte ich nicht das Herz — verschwunden ist, hat sich die Welt in drei weitverzweigten Staatenbünden organisiert, die ihrerseits einem obersten Rat zur Schlichtung ihrer gegenseitigen Streitfälle unterstellt sind, und man kann sich schwerlich die unvernünftige Aufteilung in feindlich eingestellte Nationen vorstellen, in der sich Europa während der ganzen Dauer seiner glanzvollen Geschichte befand und die schließlich seinen Untergang vollenden sollte. Jedesmal, wenn diese Krankheit ausbrach, erklärten die beiden Parteien, der Krieg sei unvermeidlich; die Regierungshäupter schworen, alles getan zu haben, um ihn zu bannen; die Hammelherden der Völker ließen sich in der Überzeugung ihrer gerechten Sache willenlos zur Schlachtbank führen. Die bemitleidenswerten Europäer verloren zweifelhafter Vorteile wegen, in deren Genuß jedenfalls Millionen unter ihnen nie kommen sollten, da sie ja ihr Leben lassen mußten, fröhlichen Herzens ihr Hab und Gut, obwohl sie keineswegs sicher waren, es je ersetzen zu können. Dieser Wahnsinn wird verständlich, wenn man bedenkt, daß diejenigen, die über den Krieg entscheiden, und diejenigen, die kämpfen müssen, nie dieselben sind. Unter den Drahtziehern hatten einige vielleicht an einem früheren Kriege teilgenommen, aber ihre nutzlosen Leiden vergessen.
Vielleicht empfanden sie eine geheime und uneingestandene Befriedigung in dem Glauben, der Krieg sei ein chronisches Leiden, und sie könnten, da sie selbst nicht mehr unmittelbar betroffen wurden, ohne Skrupel und Reue ihre jüngeren Jahrgänge in den Abgrund stürzen, vor dem sie bewahrt geblieben waren. Als Durchschnittsfranzose verschloß ich in größter Dummheit Augen und Ohren vor den Anzeichen der kommenden Katastrophe. Wenn einmal ein vernünftiger kritischer Freund mich aufzuklären versuchte, zuckte ich mit überlegenem Lächeln die Achseln. Mein Vater hatte mir doch schon vor langer Zeit erklärt, der dritte große Krieg des 20. Jahrhunderts sei wirklich der letzte aller Kriege gewesen. Ein Mensch, der innerhalb eines Vierteljahrhunderts zweimal gekämpft hatte, mußte doch wohl genau wissen, was er sagte. Es kam mir dabei nicht in den Sinn, seine Ansicht könne weniger auf seinem Verstand als auf seinen Wünschen beruhen. Also, mein Atelier war eingerichtet, eine schöne schwarze Marmorplatte kündete am Eingang in goldenen Buchstaben an: »Das natürliche Porträt. Kunstatelier«, und ich redigierte einen Werbeprospekt, der den Bewohnern der zwanzig Pariser Arrondissements bekanntgeben sollte, William Durand sei einer der seltenen Fotografen auf der Welt, der im Namen der Kunst die Technik keineswegs vernachlässige. Da erhielt ich einen Brief aus Avallon. In herzlichen Worten brachte mein Vater zum Ausdruck, wie sehr ich ihm fehle und daß er mich zu sehen wünsche. Er fügte hinzu, ich möge ihm ruhig schreiben, wenn er mir in irgend einer Weise helfen könne. Dazu sei er da. Der Ton dieses Briefes rührte mich, ich reiste am nächsten Morgen ab. Bei meiner Ankunft bezeugte mein Vater große Freude, aber ich war noch keine vierundzwanzig Stunden da, sprach er wieder von Marie-Jeanne. Ich verbarg so gut wie möglich den Ärger, den er durch seine Beharrlichkeit in mir hervorrief, und sprach mit Antoine Hurion über das, was ich als »Heiratsverfolgung« be-zeichnete.Die Reaktion meines Kameraden überraschte mich. »Dein Vater hat recht«, sagte er, »Marie-Jeanne ist das reizendste Mädchen, das ich kenne, und du spielst allzu sehr den Kostverächter.« »Ja, warum heiratest du sie denn nicht selbst?« erwiderte ich lebhaft, Er sah mich mit einem sonderbaren Ausdruck an. »Weil sie dich liebt, mein Freund.« Ich zog vor, die Unterhaltung zu wechseln. Gewiß war Marie-Jeanne reizend, aber man tat alles, um sie mir unerträglich zu machen. Bei jeder Mahlzeit fand mein Vater diese oder jene Gelegenheit, mit feuchtem Blick (an
dem die nach wie vor beliebte Weinflasche nicht ganz unschuldig war) die Vorzüge seiner Kandidatin herauszustreichen. Nach vierzehn Tagen hatte ich genug und erfand eine Ausrede für meine beschleunigte Abreise nach Paris. »Und Marie-Jeanne?« sagte mein Vater. »Hast du nun endlich eine Entscheidung getroffen?« »Noch nicht«, antwortete ich und zwang mich zur Ruhe. Er schüttelte bedauernd sein Haupt, wiederholte aber seine Lobrede nicht. Trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit gab der Musikverein von Avallon in Anbetracht des ausnahmsweise milden Wetters an jenem Abend ein Konzert im Pavillon. Ich ging mit Antoine Hurion und meinem Vater, der Kopfschmerzen hatte und sich von einem kleinen Spaziergang Erleichterung versprach, in den Stadtpark. Auf der hell erleuchteten Place Vauban trafen wir Pipin den Kurzen und seine Tochter. Marie-Jeanne lächelte mir zu, und da ich am nächsten Morgen abreisen wollte, fiel es mir nicht schwer, mich ihr gegenüber etwas aufmerksamer als üblich zu zeigen. Entschlossen, unter allen Umständen auf sie zu verzichten, stellte ich mir doch vor, wie sich mein Leben an der Seite dieses schönen Mädchens gestalten würde, von dem Antoine behauptete, daß sie mich liebe, und eine Art Heimweh ergriff mein Herz. Meine Aufmerksamkeiten machten Marie-Jeanne sichtbar glücklich. Ihre Augen glänzten vor Freude, und als ich absichtlich meinen Blick auf ihr ruhen ließ, zeigte sie wieder jene rasche Bewegung der Augenlider, die mir aus ihrer Kinderzeit in Erinnerung geblieben war. Warum verbarg sich mir hinter diesem schüchternen Mädchen die erblühte und begehrenswerte Jungfrau? So war es tatsächlich, und ich konnte es nicht ändern. Seit einigen Minuten schlenderten wir auf dem Platz herum, und ich entsinne mich noch, daß mein Vater mit Pipin über seine »verflixte« Migräne sprach, die er nicht mehr los werde, als ich sah, wie Antoine aus seiner Westentasche eine flache Uhr hervorzog, die er erstaunt betrachtete, ehe er sie ans Ohr hielt. «»20 Uhr 35«, sagte er in eigentümlichem Ton. Wie ich beobachten konnte, schienen im Pavillon die Musiker nicht bei" der Sache zu sein. Mehrmals schon hatte der Dirigent, um sie vorzubereiten, mit dem Taktstock auf* das vor ihm stehende Pult geklopft, ihn aber unbegreiflicherweise immer wieder sinken lassen. Auch er sah auf die Uhr, lüftete seine mit Goldborten geschmückte .Mütze und kratzte sich am Hinterkopf. »20 Uhr 40«, sagte Antoine. »Es ist unglaublich.« Das Stratosphärenflugzeug hatte schon zehn Minuten Verspätung.
»Ich weiß mir keine andere Erklärung als ein Unglück«, fuhr mein Kamerad fort. Kaum hatte er das gesagt, als ein Gebrumm wie von einem Bienenschwarm am Himmel anschwoll und das Flugzeug New York — Konstantinopel über unseren Häuptern geräuschvoll dahinflog und wieder verschwand. Erschreckt blickte ich Antoine an, als habe sich ein außergewöhnliches Ereignis abgespielt. Welches Ereignis? Es bestand in der einfachen Tatsache, daß das Orchester in mysteriösem Schweigen verharrte. Eine merkwürdige Bewegung enstand im Pavillon, der Dirigent hatte sein Pult verlassen, um mit einem kleinen, dicken, atemlosen Mann zu sprechen, in dem jedermann Herrn Mollard, den Gemeindesekretär, erkannte. Der Kapellmeister legte seinen Taktstock nieder und näherte sich dem Lautsprecher, der hinter ihm stand. Es genügt, Menschen in ihren täglichen Gewohnheiten zu stören, um in ihnen das Gefühl eines kommenden Unheils zu erwecken, und man darf nicht vergessen, daß seit fünfzehn Jahren die ersten Takte des Standkonzertes immer mit dem Vorbeiflug des Stratosphärenflugzeuges zusammenfielen. Die Katastrophe war offensichtlich nur zu nahe. »Meine Damen und Herrn!« sagte der Dirigent in unsicherem Tone, »unser Land ist soeben das Opfer eines verabscheuungswürdigen Angriffes geworden. Etwa zehn französische Städte werden seit einer Stunde schwer bombardiert. Der Krieg ist ausgebrochen, und wir bittten um Entschuldigung, wenn das vorgesehene Konzert heute abend nicht stattfindet.« Eine noch größere Stille als vor dieser Rede trat ein und ließ die Bewohner von Avallon in ihrer Bestürzung verharren. Und mitten in dieser Stille, während die Rücken sich beugten und unter dem harten Licht der Bogenlampen die Sorgenfalten auf den Stirnen erschienen, hörte ich neben mir ein dumpfes Stöhnen und das Geräusch eines Sturzes. Mein Vater hatte soeben einen Schlaganfall erlitten. Zu dem allgemeinen Drama kam für mich ein weiteres, persönliches. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie ich diesen schweren, wie vom Blitz getroffenen Körper mit Hilfe des bestürzten Pepin Deniau zur benachbarten Apotheke schaffte. Aber ich rieche noch den Äther und höre noch die hinter den altmodischen grünen und roten Kugeln der Schaufenster von dem Todgeweihten mit übermenschlicher Anstrengung gestammelten Worte: »Du -------Marie-Jeanne«, während er mich mit brechendem Auge anblickte. Noch im Todeskampf sorgte sich dieser zu Lebzeiten verkannte Vater um meine Zukunft, um mein Glück.
Die allgemeine Lage ließ mir kaum Zeit und Muße, ihn zu betrauern. Ein Krieg löscht wahllos und schnell im Buch der Zeit das Gute wie das Schlechte aus, das vor ihm Geltung hatte. Ich war gerade einundzwanzig Jahre alt geworden, und der Militärdienst rief mich. Über mein Schicksal machte ich mir keine Illusionen. Der dritte große Krieg des 20. Jahrhunderts war so mörderisch gewesen, daß ein junger Mann meines Alters logischerweise damit rechnen mußte, unter den Opfern dieses neuen Blutbades zu sein. Das Durcheinander, das, wie schon so oft, bei der Organisation der Landesverteidigung in meiner Heimat herrschte, schenkte mir einen Aufschub von vierzehn Tagen, bevor ich nach Auxerre zu meinem Mobilisationsdepot fuhr. (Antoine rückte, obwohl wir gleichaltrig waren, »sofort und ohne Verzug« ein, um in der üblichen Militärdienstsprache zu reden.) Nachdem ich den Sarg meines Vaters mit Weihrauch besprengt hatte, überfiel mich eine tiefe Niedergeschlagenheit. Meine Eltern waren tot, nichts band mich mehr an Avalion, mit ihnen hatte sich mein ganzes früheres Leben in nichts aufgelöst. Wie lange aber würden mich die Wechselfälle des Krieges noch verschonen? Und hatte das Leben in der kommenden furchtbaren Zeit überhaupt noch einen Sinn? Könnte einen der Abschied von der einem blutigen Wahnsinn geweihten Welt noch reuen? In dieser grauenvollen Stimmung erinnerte ich mich der letzten Worte meines Vaters. Sein Wunsch, mich mit Marie-Jeanne verehelicht zu sehen, war in ihnen erneut und besonders stark zum Ausdruck gebracht, sie erschienen mir wie eine Verpflichtung, ja fast wie ein Zwang. Ich sollte ohne große Hoffnung auf Rückkehr Avallon verlassen — warum einem Gequälten im Schattenreich die Ruhe nicht geben, nach der er sich sehnte? Bei den ersten Worten, die ich mit ihm darüber sprach, strahlte Pepin Deniau vor Vergnügen. »Nur deine Heirat mit Marie-Jeanne vermag mich über den Tod deines Vaters einigermaßen zu trösten«, sagte er. »Und der Krieg rechtfertigt sie trotz deiner Trauer.« Seine Augen wurden feucht, sein dreifaches Kinn zitterte. Ich war ein wenig verlegen, denn ich wurde den Gedanken nicht los, daß ich MarieJeanne nicht so liebte, wie er es sich wohl einbildete. Diese Beweise seiner Zuneigung verdiente ich also nicht. Aber würde ich damit nicht zwei Menschen glücklich machen, ganz abgesehen von dem unsichtbaren Zeugen? Der wackere Mann umarmte mich und klopfte mir auf die Schulter. Dann rief er seine Tochter und schob mich zu ihr hin. Marie-Jeanne, eine aufrechte und blasse Minerva mit herabhängenden Armen,
seufzte tief, als ich sie an meine Brust zog. Ihr Gesicht war verkrampft, ihre großen schwarzen Augen hatten einen Glanz, der auf nahe Tränen schließen ließ. Als ich ihre Wange mit meinen Lippen berührte, war es, als verginge sie in meinen Armen. Sie gab mir den Kuß mit einer scheuen und linkischen Bewegung zurück. Meine Rührung hatte aber nichts oder fast nichts mit dieser zitternden Jungfrau zu tun, sie bezog sich auf den Toten, der zweimal an einem Kriege teilgenommen hatte, eine Wiederholung dieses Unheils nicht ertragen konnte und dessen Schatten auf uns ruhte. Unsere Hochzeit wurde ohne Zeremonie am Tag meiner Abreise nach Auxerre gefeiert. Vor den Menschen war Marie-Jeanne jetzt meine Frau. Aber bis zu unserem Abschied auf dem Bahnhof hatte ich es so eingerichtet, daß wir nicht einen Augenblick allein waren. Ich verließ sie unberührt. DIE ZEIT MARIE-JEANNES Liebe, Arbeit, Heirat, Freundschaft, Tod — das sind die einfachen Worte, die das ganze Schicksal des gewöhnlichen Sterblichen umreißen. Einer von ihnen war ich. Ich war einer jener Franzosen, die es immer' gab, solange Frankreich existierte, die in einem geordneten Leben ein Kunstwerk erblickten, das einen vernünftigen Menschen befriedigen konnte. Dieses Kunstwerk schloß keineswegs hervorragende Leistungen, sei es auf dem Gebiet des Handwerks oder der geistigen Tätigkeit, aus. Sie mochten im Hinblick auf die Gesamthaltung des Jahrhunderts wertvoller erscheinen, aber im Grunde genommen waren sie für den Verlauf eines etwa sechzigjährigen Lebens, das sich vor allem im glücklichen Gleichgewicht des Herzens und des Verstandes abspielen sollte, von geringer Bedeutung. Vernünftige Menschen haben leider in den Zeiten der geschichtlichen Katastrophen wenig zu sagen. Die Entscheidung liegt bei den Erleuchteten, bei den Besessenen, die die Fäden der hohen Politik ziehen und sich, ohne mit der Wimper zu zucken, als Quartiermacher des Unheils bewähren. Ich wüßte wirklich nicht mit Gewißheit zu sagen, warum dieser Krieg, der Europa aufs neue zerfetzen sollte, eigentlich ausbrach. Man weiß nie recht, warum Kriege ausbrechen. Jeder der Beteiligten hat darüber seine eigene Meinung, die er für die richtige hält, und glaubt, es sei notwendig, sich für sie umbringen zu lassen. Der Staat verfügte immer über die nötigen Gewaltmittel, die Zögernden, die Haarspalter und ewigen Opponenten zum Mitmachen zu zwingen. Zu allen Zeiten fand man für den Krieg Ursachen und Vorwände. Die
Ursachen bezogen sich ohne Ausnahme auf das Gesetz des Urwaldes, das in unmittelbarem Zusammenhang mit den sogenannten »wirtschaftlichen Verhältnissen« stand. Ist mein Nachbar fett, so beleidigt er damit meine Magerkeit; also verspeisen wir ihn einfach. Da existiert ein reiches Land, während das meine arm ist. Warum sollte man es nicht mit Gewalt annektieren, da es das Verbrechen begeht, glücklich zu sein? Diese brutale Gier hat man natürlich nicht immer offen zugegeben. Man mußte den Schein wahren, indem man vom Recht sprach. Erhob man nicht Anspruch auf hohe Zivilisation? Es machte auch keine Schwierigkeiten, durch einen x-beliebigen Vorwand die Überlegenheit der eigenen Rasse nachzuweisen. Die angegebenen Vorwände bezogen sich meist auf die Ehre der Nation. Wo begann und wo enidete die Verletzung dieser Ehre? Das war eine reine Frage der Empfindlichkeit der Haut, und eine sogenannte höhere Rasse war natürlich viel empfindlicher und glaubte, eine um so größere Rücksichtnahme erwarten zu dürfen, je vollendeter ihre militärischen Vorbereitungen waren. Der Vorwand zum vierten großen Krieg war meiner Erinnerung nach einer der fadenscheinigsten. Zwei Angehörige des Angreiferstaates waren in einem obskuren Lokal mit zwei Franzosen in Streit geraten. Diese vier Männer landeten nach einem regelrechten Boxkampf auf einem Polizeikommissariat. Einer der Fremden war allerdings Diplomat. Gleich nach seiner Entlassung erklärte er, daß sich die beiden Franzosen in beleidigender Weise über seine Regierung geäußert und die Polizeibeamten mitgemacht hätten. Es war anzunehmen, die unmittelbar ausgesprochene offizielle Entschuldigung würde den Konfliktstoff im Keime ersticken. Wie sollte man erwarten, daß sich zwei große Nationen wegen einer Schlägerei unter Betrunkenen kaltblütig vernichten würden? Aber eine Pressekampagne hatte Wochen hindurch die Atmosphäre vergiftet, und der Feind im Osten ließ durch die Stimme seines Diktators im Rundfunk erklären, ein Volk von hoher geschichtlicher Tradition könne die ihm zugefügte Beleidigung nicht straflos hinnehmen und müsse aus Gründen der Ehre zu den Waffen greifen. Gleichzeitig erschienen die ersten Wellen seiner Kampfflugzeuge über Frankreich. Als ich zu meinem Depot nach Auxerre einrückte, hatte der Krieg vierzehn Tage nach seinem Ausbruch bereits eine unglückliche Wendung für uns Franzosen genommen. Unter den Luftbombardements hatten Paris, Lyon, Lilie, Nancy, Rouen, Le Havre, Calais, Reims und mehrere andere, weniger wichtige Städte unvorstellbare Schäden erlitten. Unsere Industrieproduktion
war schwer gefährdet. Die vordersten Panzereinheiten der feindlichen Armee waren bis Chateau-Thierry vorgestoßen. Drei Tage mußte ich im Depot warten, bis ich meine Uniform bekam, und dann paßten die einzelnen Teile noch nicht einmal zusammen. Es fehlte an allem, an Waffen wie an Hemden und Schnürstiefeln. Eine schamlose Drückebergerei herrschte, jeder dachte nur daran, um eine unangenehme Diensteinteilung herumzukommen; von Pflichtbewußtsein war überhaupt nicht die Rede. Wenn das an der Front auch so aussah, dann konnte die Niederlage wie im Jahre 1940 nicht mehr fern sein. Kein Krieg im 20. Jahrhundert verlief ähnlich wie sein Vorgänger. Nach dem Stellungskrieg folgte der Bewegungskrieg, der dritte hatte sich in einen Belagerungskrieg wie im Mittelalter verwandelt. Dieser hier begann , mit einem Blitzschlag, und das nach zwanzigjährigem Wohlleben verweichlichte Frankreich schien unfähig, sich zu einer erfolgreichen Reaktion aufraffen zu können. Ein unvorhergesehenes Ereignis, das Wunder, auf das meine Landsleute nur allzugern wie auf einen natürlichen Bundesgenossen rechneten, führte auch diesmal zu einem völligen Umschwung; und dieses Wunder war das Werk eines genialen Franzosen. Eines Morgens — die Hauptstadt war so bedroht, daß man das Schlimmste, befürchten mußte —, brachte der Rundfunk eine verblüffende Nachricht. Mehr als tausend feindliche Maschinen, die am Vorabend in geschlossener Formation Paris angegriffen hatten, wurden fast gleichzeitig im Raum von Meaux vernichtet, zwischen Trilport und Isles-les-Meldeuses war die ganze Gegend mit Resten verbrannter Flugzeuge übersät. Aber die Katastrophe für den Feind war noch viel größer. Alle Panzer, die zu Hunderten für einen Durchbruch auf den Seinebogen angesetzt worden waren, blieben plötzlich bewegungslos liegen und fingen Feuer. Die Besatzungen, die sich ausnahmsweise aus ihren Türmen hatten retten können, gerieten sofort ins Kreuzfeuer unserer Infanterie. Kurz, Frankreich hatte einen unbestrittenen, vollen Sieg errungen, der ebenso glänzend und folgenreich war, wie der von Austerlitz oder Verdun, und der Rundfunksprecher konnte mit stolzer Erregung erklären, daß Frankreich von nun ab weder Flugzeuge noch Panzer zu fürchten habe und daß der Feind seiner Bestrafung entgegen gehe. Eine ungewöhnliche Begeisterung erfaßte das ganze Land. Selbst die Kameraden, die ich bei meiner Ankunft im Depot apathisch, angeekelt und von vornherein von einer Niederlage Frankreichs überzeugt angetroffen hatte, schienen den kriegerischen Elan ihrer Rasse wieder gefunden zu haben und verlangten, an
die Front geschickt zu werden. Am Abend bildete sich spontan ein Fackelzug in den Straßen von Auxerre, wie er früher Brauch war. Die Frauen umarmten die Soldaten, die Marseillaise, die Carmagnole, der Chant du Depart wurden an allen Straßenecken angestimmt; man glaubte, der Gegner sei bereits zermalmt und der Krieg beendet. Der Krieg war nicht beendet. Aber am nächsten Morgen kam die Nachricht von einer neuen schweren Vernichtung feindlicher Flugzeuge und Panzer, und gleichzeitig wurde dem Lande der Name seines Retters bekannt gegeben, es war ßtienne Corre, Professor an der Pariser Universität. Meine sehr schwachen wissenschaftlichen Kenntnisse erlauben mir nicht, mit der notwendigen Präzision die Einzelheiten der von Professor Corre erfundenen Vorrichtung zu beschreiben. Ich weiß nur, daß sie auf dem Prinzip der Atomzertrümmerung und -Umwandlung beruhte. Der Gelehrte war in seiner Jugend ein Schüler des englischen Physikers Cockcroft gewesen, dessen Versuche über die Zertrümmerung der Atomkerne durch Bestrahlung mit Alpha-Teilchen er jahrelang verfolgt hatte. Das Problem bestand darin, Ausstrahlungen von solcher Stärke zu erzeugen, daß die Atomtrümmer auf andere Atomkerne trafen, die nun ihrerseits zertrümmert wurden. Es war logisch vorauszusehen, daß diese Kette von Zertrümmerungen schließlich eine ungeheure Energie frei machen würde. Die Lösung des Problems war wenige Wochen vor dem Krieg durch die Entdeckung der Digamma-Strahlen gefunden worden. Das Ereignis hatte in einem kleinen Landhaus bei Trilport stattgefunden, in dem der Gelehrte sein Privatlaboratorium eingerichtet hatte. Eine Legende oder eigentlich eine Geschichte für einen der Bilderbogen, wie sie früher in billigem Farbdruck von herumziehenden Händlern verkauft wurden, sollte sich im Laufe der Zeit um das kleine Haus und die Umstände bilden, unter denen über Etienne Corre, einen ebenso leidenschaftlichen Angler wie großen Physiker, die göttliche Erleuchtung gekommen war. Er fischte von seinem bescheidenen Motorboot aus mit der Schleppangel und zog in gleichen Abständen langsam an der Bambusrute, an der eine solide Schnur etwa fünfzig Meter lang hinter ihm im Wasser trieb, als ihm der geniale Einfall kam. Im selben Augenblick schnappte ein großer Hecht nach dem künstlichen Fisch, der am Ende der Schnur über dem Angelhaken zappelte und glänzte. Etienne Corrc, ganz in Verzückung über seine wissenschaftlichen, Gedankengänge versunken, hatte nicht achtgegeben. Ein heftiger Ruck brachte ihn fast aus dem Gleichgewicht und hätte ihn um ein
Haar über Bord geworfen, während der Angelstock seinen Händen entglitt. Die Geschichte fügt hinzu, der Gelehrte habe noch einen Augenblick zwischen der Freude über seine Entdeckung und dem Ärger über den schlauen Hecht geschwankt, bevor die Wissenschaft den Sieg davontrug. Soweit die Legende. Gleich am ersten Kriegstag hatte Professor Corre seine Entdeckung der französischen Regierung unterbreitet. Die Sache mußte noch vervollkommnet werden, und die ersten entscheidenden Versuche sollten beginnen, da zwang die Schnelligkeit des feindlichen Vormarsches den Erfinder, unverzüglich zu handeln. Was weiter geschah, habe ich bereits erzählt. Aber der Krieg war noch immer nicht beendet, und wenn der Feind nicht drei Wochen lang blödsinnigerweise darauf bestanden hätte, die Barriere der Digamma-Strahlen bei Meaux zu durchbrechen, hätte das Waffenglück sich wenden können. Tatsächlich reichte der Schutzgürtel Professor Corres nicht über hundert Kilometer. Andere Sektoren mußten in aller Eile ausgerüstet werden, und man arbeitete Tag und Nacht. In weniger als einem Monat war alles fertig. Von Dünkirchen bis Mentone standen sogenannte Digamma-Kasematten bereit, dieselbe Aufgabe zu erfüllen, wie das kleine Laboratorium in Trilport. Als ein neuer, großangelegter Panzerangriff in der Gegend von Lilie erfolgte, erreichten die Verluste des Feindes an Flugzeugen und Tanks, ohne den geringsten Erfolg seinerseits, einen solchen Umfang, daß vom dritten Tag ab auf der gesamten Kampffront völlige Ruhe eintrat. Warum endeten die Feindseligkeiten unter diesen Umständen nicht? Weil die Franzosen einen entschlossenen Gegner vor sich hatten, der sich erst ergeben wollte, wenn er mit beiden Schultern am Boden lag. Und wenn Frankreich auch dank der Erfindung Professor Corres eine allen Anforderungen gewachsene Verteidigungswaffe besaß, so war das in bezug auf eine Angriffswaffe durchaus nicht der Fall, und sie allein führt zum Siege. Es handelte sich also darum, Flugzeuge und Panzer in großer Serie herzustellen und einstweilen einen Stellungskrieg zu führen. Ich persönlich war in diesen langweiligen, mörderischen Krieg seit dem dritten Monat nach seinem Ausbruch verwickelt und eingespannt. Man war auf die Strategie von 1915-16 zurückgekommen: Handstreiche, lokale Angriffe nach heftiger Artillerievorbereitung. Zu Ende des ersten Jahres kam es» sogar auf einer Frontbreite von 150 km zu einem richtigen Durchbruchsversuch, aber der Feind, der ihn unternommen hatte, gelangte
nicht über unsere zweite Linie hinaus. Vierzehn Tage später wurde das verlorene Gelände durch einen heftigen Gegenangriff zurückerobert. Und sollte ich tausend Jahre alt werden, so würde ich die Erinnerungen an diese entsetzlichen Zeiten, die sich tief in meine erniedrigte menschliche Persönlichkeit eingegraben haben, bis zum letzten Tage nicht vergessen. Schon die Soldaten des ersten Weltkrieges hatten die Herabwürdigung des Menschen zum primitiven Tier kennen gelernt. Als Wohnraum diente eine von Ratten und Ungeziefer bevölkerte Höhle, als Straßen ein Netz verschlammter Gräben, die tägliche Aufgabe bestand im Töten; als ständiger Gedanke, den man wie eine Sumpfmücke verscheucht, die aber immer wieder kommt, beherrschte einen die Angst, selbst getötet zu werden. Der Anblick des Himmels war von einem doppelten Wall aus Lehm oder Kreide begrenzt. Zwischen dem weißen Rauch der Geschoßeinschläge sahen wir neidvoll die freien Vögel auf und nieder fliegen. An meiner Seite wurde einem braven Bauern aus der Ardeche der Schädel weggerissen, als er mir eben Wein einschenken wollte. Sein Blut, das aus der gräßlichen Wunde hervorschoß, füllte stattdessen meinen Becher. Ein andermal wurde ich von einem großkalibrigen Geschoß mit drei Kameraden verschüttet und als einzig Überlebender ausgegraben. Ich hatte eine grauenvolle Stunde verlebt, während der ich zwischen zwei Balken unseres eingestürzten Unterstandes eingeklemmt war. Von diesem Tage an nannten mich meine Unglücksgefährten nur noch La-zarus. Der erste Winter war von ungewöhnlicher Strenge. Wer vermag wohl zu erklären, warum die Kriegswinter immer die strengsten sind? Ich hatte noch nie so viel Schnee gesehen, und meine von Frostbeulen zerfressenen Füße waren nur noch eine einzige Wunde. Na, wennschon! Auf beiden Seiten der Front wurden in diesem Jahr unzähligen Männern die Beine amputiert. Ich mußte mich trotz allem noch zu den Günstlingen des Schicksals zählen. Nach achtzehn Monaten glaubte das französische Oberkommando, über das nötige Material zu verfügen, um eine Entscheidung herbeiführen zu können. Eines Morgens bei Sonnenaufgang begann der Angriff der Flugzeuge und Panzer. Der Mißerfolg war unmittelbar und so umfangreich wie der des Gegners zu Beginn des Krieges. Sein Spionagedienst hatte gut gearbeitet, das Geheimnis der Digamma-Strahlen war dem Feind in die Hände gefallen, dessen Niederlage sie herbeiführen sollten. Der verzweifelte Professor Corre beging Selbstmord. Der Ausgang des Krieges war damit wieder in Frage
gestellt, und niemand auf beiden Seiten zweifelte daran, daß nur eine neue Waffe die Entscheidung herbeiführen könne. Der Stellungskrieg verfiel wieder seinem tödlichen Rhythmus. Alle Kriege erscheinen denen, die unter ihnen leiden, endlos, aber bei dem gegenwärtigen war es schlechterdings unmöglich vorauszusehen, wie und wann er enden sollte, falls nicht eine allgemeine Kampfmüdigkeit eintreten würde. Tatsächlich dauerte er vier Jahre. Welches auch die wirklichen oder vermeintlichen Ursachen der Kriege sind, und so berechtigt sie zu Beginn erscheinen mögen, immer kommt der Augenblick, in dem die beteiligten Armeen nicht mehr verstehen, warum sie eigentlich kämpfen. Die guten oder schlechten Gründe sind verschwunden, und es bleibt nur noch die Verzweiflung darüber, unter Qualen und ständiger Todesdrohung leben zu müssen. Nach zwei Jahren ergebnisloser Kämpfe denken alle so. Aber während das Tier instinktiv vor dem Schmerz flieht, ertragen wir angeblich vernünftigen Menschen alle Prüfungen, als ob das eine ganz natürliche Angelegenheit wäre. »Nichts macht uns so groß wie ein großer Schmerz«, blökt in diesen jämmerlichen Zeiten der romantische Dichter. Dumm und lächerlich! Es ist nicht zu leugnen, und wir machten täglich die Erfahrung, daß Leiden erniedrigt und abstumpft, es sei denn, daß man es als Opfer für seinen Gott betrachtet und auf eine Belohnung im Jenseits rechnet (aber wie viele unter uns hatten ihren Glauben bewahrt?). Heute kann ich sagen, daß ich es nur meiner Frau verdanke, wenn ich die Zeit der Apokalypse ohne geistigen und moralischen Schaden überstanden habe, also Marie-Jeanne, die ich aus Pflichtgefühl geheiratet und doch nicht zu meiner Frau gemacht hatte. Mit Recht hätte sie mir meine verletzende Kälte nachtragen können. Ich ließ mehr als einen Monat vergehen, ohne ihr irgendeine Nachricht zukommen zu lassen. Als ich mich endlich entschloß, ihr zu schreiben, teilte ich ihr mit ein paar trockenen, nichtssagenden Zeilen meine Versetzung an die Front mit. Sie nahm mir nicht nur meine Haltung keineswegs übel, sie antwortete mir sanft und zärtlich und gleichzeitig so zurückhaltend, daß ich mich schämte. Ich sandte ihr einen längeren, in herzlichem Ton gehaltenen Brief, und so entwickelte sich zwischen uns ein Schriftwechsel, in dessen Verlauf ich eine Frau mit Geist und Gemüt entdeckte, und diese Frau war meine eigene. Ich muß gestehen, ich kannte Marie-Jeanne garnicht. In meiner Erinnerung lebte sie nur als Kind. Mit dem jungen Mädchen hatte ich vor unserer Hochzeit bloß ganz belanglose Gespräche geführt. Und nun enthüllten mir ihre Briefe eine lebhafte
Phantasie, eine Zartheit des Gefühls und eine so tiefe und starke Neigung, daß ich mir klar darüber wurde, das alles garnicht verdient zu haben. In meiner wenig erfreulichen Situation gab mir diese uneigennützige Liebe nicht nur einen Rückhalt, sie gab meinem Leben erst einen Inhalt. Durch einen unvorhergesehenen Zufall sollte ich ihr bald Gleiches mit Gleichem vergelten. Ihrem zweiten Brief hatte Marie-Jeanne ihre Fotografie beigelegt. Mit einer Anmut des Ausdrucks, die ich nie vergessen habe, setzte sie mir auseinander, daß dieses Porträt nur für mich allein gemacht worden sei. Während sie in das Objektiv sah, habe sie an mich gedacht und sich gewünscht, das übersandte Bild möge das zum Ausdruck bringen. Brief und Bild erreichten mich an einem Tage, an dem der bleierne Himmel schwer über dem Graben hing, in dem ich im gelben Schlamm lag. Alle dreißig Sekunden heulte ein Geschoß heran und riß die Erde auf, die zerbröckelt wieder herunterregnete. Einmal lag der Schuß zu kurz, einmal zu weit. Hätte er unseren verdammten Graben getroffen, dann gute Nacht, Kameraden! Zum Glück hatten die Artilleristen drüben keinen guten Tag. Schließlich trat eine Pause von einigen Minuten in der Beschießung ein, und während dieses Schweigens fiel plötzlich mitten unter uns wie ein Meteorstein ein von oben bis unten mit einer Schmutzkruste überzogenes Wesen mit vergnügtem, aber völlig dreckverspritztem Gesicht in den Graben. Es war der Wagenmeister vom Gefechtstrain. Er hieß Mousseaux, und man konnte in der ganzen Kompagnie keinen besseren Kerl finden. Ich sehe noch sein gelocktes Haar, seine runden roten Backen, seinen Tintenstift hinter dem Ohr und die Art, wie er sich die Hände rieb, um mit seinem herzlichen Lachen, das alle Zähne zeigte, irgendeine gute Nachricht anzukündigen. Mousseaux hatte grade die Riemen seines mit Briefen vollgestopften Sacks aufgeschnallt und rief mir scherzend zu: »Für dich, Durand, ist ein Liebesbrief dabei!« als ein neues Geschoß durch die Luft heulte. Mit dem Spaßen war es aus. Das hübsche Geschenk, das wir da bekamen, verursachte ein Geräusch wie die Dampfpfeife einer Lokomotive. Schon lag der Wagenmeister platt auf der Erde, und ich folgte seinem Beispiel, wobei ich über ihn stolperte und mit dem ganzen Körper in den Dreck flog. Das Geschoß krepierte auf einer aus Sandsäcken gebildeten Schießscharte, und die Stahlsplitter rasierten den ganzen Graben in halber Höhe ab. »Verfluchte Scheiße!« murmelte Mousseaux und erhob sich. Ich richtete mich ebenfalls auf. Sechs Mann lagen, wie vom Blitz getroffen, auf der
Grabensohle. Eine anderer lehnte, weiß wie ein Leintuch, stöhnend an der Brustwehr und hielt wie eine Puppe mit der rechten Hand seinen zerschmetterten, blutigen linken Arm. »Da, deinen Brief«, sagte Mousseaux und hielt mir ein schmutzbespritztes Kuvert hin. Ich las den Brief, betrachtete die Fotografie, und eine Welle von Rührung und Reue überschwemmte mich. Wie konnte ich nur so blind gewesen sein? Auf dem Bild lächelte mich Marie-Jeanne voll sorgender Liebe an. Ich betrachtete diesen lebendigen Mund, das fragende Auge; ich erinnerte mich bei dem Anblick ihres wohlgeformten Halsansatzes, an die Zartheit ihrer Haut, die für ein brünettes Mädchen geradezu erstaunlich war, an die schlanke Linie ihres jungfräulichen Körpers. Wie hatte ich nur ein so vollendetes, reizvolles Wesen vernachlässigen, ja sogar verschmähen können? Mußte mir das Schicksal erst damit drohen, sie nie wiedersehen zu dürfen, um ihren wahren Wert zu erkennen? Je mehr Zeit verstrich, um so zärtlicher und leidenschaftlicher wurden meine Briefe an Marie-Jeanne. Sie fühlte sehr gut diese Wandlung meiner Gefühle, aber sie ließ niemals durchblicken, daß sie zuerst Grund zur Klage über mein Verhalten gehabt hätte, und diese Würde machte sie mir noch teurer. Ich zählte ungeduldig die Tage, trotzdem fand ich mich mit meiner Lage als Soldat an der Front immer besser ab; denn ich wußte, daß mich am Ende aller Prüfungen ein großes Glück erwartete. Nach acht Monaten erhielt ich endlich einen zehntägigen Urlaub. Ganz unerwartet kam ich eines Abends an. Marie-Jeanne öffnete ihre großen Augen und zitterte am ganzen Körper. Tränen rannen ihr über die Wangen, und als ich sie an mich zog, verlor sie in meinen Armen _ das Bewußtsein. Ich hätte nun eigentlich von diesem ersten Urlaub, an den ich die lebhafteste Erinnerung bewahrt habe, denn er lehrte mich die wahre Liebe kennen, genug gesagt, wenn ich erkläre, daß er mir nur vierundzwanzig Stunden zu dauern schien. Aber was für Stunden! Und wie soll ich ihren Glanz, ihren Duft beschreiben? Diese zehn so schnell verrauschten Tage lagen im Sommer, einem Sommer, wie dem, der dem Kriegsausbruch vorangegangen war, voll zitternden Lichtes, berauschender Blumen und Vogelgezwitscher, voller Sonne und Süße, dessen Pracht den Wahnsinn der Menschen nur umso verwerflicher erscheinen ließ. Ich genoß die Tage bis zur Raserei und doch bei vollem Bewußtsein, und vor allem nicht bis zur Übersättigung. In einer einzigen Frau waren mir alle Wunder, alle Versprechen der Welt verkörpert. Die Begierde berauschte sich an der Gewißheit des Besitzes, und dieser
erweckte aufs neue die Begierde. Kein Schatten schwebte über meinem Glück, keine Gewissensbisse vermochten es zu schmälern. Daß ich sie so lange hinausgeschoben hatte, erhöhte noch meine Freuden. Marie-Jeanne war meine Frau, und rings um uns zollten die Natur, die Gesellschaft, ja sogar die Grundsätze des Lebens selbst unserer legitimen Wollust Beifall. Zehn Tage voller Glück, zehn Tage völligen Vergessens von allem, was nicht sie und ich war. Das Schicksal liebt diese Oasen der Wonne nicht, und eines Morgens riß mich der Kalender aus allen Himmeln. Die zehn Urlaubstage waren verrauscht, der Krieg wütete noch immer, ich mußte abreisen. Gewaltsam riß ich mich los. Ich sehe noch immer Marie-Jeanne vor dem Bahnhof mit tränenüberströmtem Gesicht mich leidenschaftlich umarmen, dann wie eine Wahnsinnige davonstürzen, ohne sich umzuwenden. Als ich wieder beim Regiment war, befand ich mich in den ersten acht Tagen in einem Zustand, der mich für alles, was um mich herum geschah, völlig unempfindlich machte. Meine Gedanken weilten bei Marie-Jeanne, ich dachte an keine Gefahr mehr, und es bedurfte des Todes eines Kameraden, der unmittelbar neben mir getroffen wurde, um mir das Bewußtsein der Wirklichkeit wiederzugeben. Mein Leben hatte von nun an einen Sinn, eine Daseinsberechtigung, es gehörte Marie-Jeanne, und es war Wahnsinn, sich so der Gefahr auszusetzen. Unser Briefwechsel wurde noch leidenschaftlicher als vor dem Urlaub. Über den Krieg gab es nichts zu berichten, als daß der Tod der tägliche Sieger war. Zwei Monate nach meiner Rückkehr zur Front teilte mir Marie-Jeanne mit, daß eine ärztliche Konsultation die letzten Zweifel beseitigt habe: sie erwarte ein Kind. Diese Nachricht machte mich überglücklich. Die Monate flössen dahin, mein kleiner Francois kam zur Welt (er hatte die perlmutterartige Haut und die schwarzen Augen seiner Mutter), weitere Urlaube führten mich nach Avallon, und die Menschen fuhren fort, sich gegenseitig umzubringen. Zu Beginn des vierten Kriegsjahres schenkte mir Marie-Jeanne einen zweiten Sohn, Robert — mein Ebenbild mit seinen keltischblauen Augen und seinen flachsblonden Haaren. Ich war gerade seit zwei Tagen auf Urlaub, und der Großvater — Pipin der Kurze, der mit zunehmendem Alter immer mehr zusammenschrumpfte, aber noch immer wacker trank — hatte mich zu einem der Zeit entsprechenden üppigen Frühstück eingeladen. Er war damit einverstanden, daß ich meinen Freund Antoine Hurion, der sich ebenfalls auf Urlaub befand, einlud. Antoine war drei Jahre im Feld gewesen und voller Erinnerungen und Pläne. Er erzählte
mir seine Erlebnisse, die sich von den meinen sehr unterschieden. In seiner Eigenschaft als Pilot war er zur Luftwaffe eingerückt, aber der Mangel an Flugzeugen hatte ihn erst anläßlich der steckengebliebenen Offensive zum Einsatz kommen lassen. Er würde niemals verstehen, wieso er überhaupt mit dem Leben davongekommen sei. Fünfzig Flugzeuge, darunter das seine, flogen auf gleicher Höhe. Im selben Augenblick, als sie über die feindlichen Stellungen kamen, hatten die Digamma-Strahlen alle Motoren zur Explosion gebracht, und er wurde völlig von Flammen eingehüllt. Er erinnerte sich nicht mehr, wie es ihm gelang, aus dem Flugzeug auszusteigen, aber er spürte noch immer den Schlag in die Magengrube, der durch die Öffnung des Fallschirms hervorgerufen wurde, während er sich schon für tot hielt. Rings um ihn her regnete es riesige Fackeln — die Flugzeuge seiner Kameraden. Um ein Haar wäre er beim Landen, in die Schnüre seines Schirmes verwickelt, in einem Teich ertrunken. Kein sehr glücklicher Anfang, der ihn aber keineswegs entmutigte. Dieser große, rothaarige Kerl mit seinen knappen Bewegungen war heute noch so von der Fliegerei begeistert wie damals, als er, noch ein kleiner Schuljunge, über das Stratosphärenflugzeug in Ekstase geriet. Es war ihm klar geworden, der Luftraum mußte aufs neue erobert werden. Der Explosionsmotor hatte seine Zeit hinter sich, es galt also, eine andere Form zu finden, und daran studierte er seit Monaten. Bei diesem Punkt seiner Eröffnungen angelangt und auch ein bißchen erhitzt durch den von unserem Pipin dem Kurzen reichlich eingeschenkten Richebourg, ermahnte mich Antoinc, absolutes Schweigen über das zu bewahren, was er mir nun mitteilen werde. Ich schwor ihm das feierlich zu. »Also, paß auf! « sagte er. »Da der Motor nicht mehr in Frage kommt, muß man das Problem an der Wurzel packen. Was oder wen finden wir als Ausgangspunkt des menschlichen Fluges? Ikarus! Ikarus: das bedeutet das Flugzeug mit beweglichen Flügeln. Seit Besnier de Sable und seiner Flugmaschine im 17. Jahrhundert ist in dieser Richtung nichts Ernsthaftes mehr unternommen worden. Der Segelflug dagegen hat uns seit Lilienthal eine Menge Dinge gelehrt. Aber die Bequemlichkeiten, die der Motor bietet, hatten die Forscher von dem eigentlichen Problem abgelenkt, nämlich vom Vogelflug. Darauf habe ich mich geworfen. Ich hatte einige Einfalle, die ich einem Kameraden, einem Flugingenieur, mitteilte. Flugversuche zeigten uns, daß unser Alerion fertig war. Bis auf weiteres benützten wir ein Katapult zum Abflug. Aber eine andere, von der Wärmeenergie unabhängige Konstruktion
ist in der Entwicklung, und der Alerion ,Antoine' (ich wollte ihm nur meinen Vornamen geben) wird von jetzt ab in großer Serie hergestellt.« Ich bewunderte Antoine, der sich so ernsthaft mit dem alten Ikarustraum beschäftigte, und Pipin der Kurze bekam einen ganz roten Kopf vor Freude und ließ eine seiner ehrwürdigsten Flaschen holen, um auf den Sieg Frankreichs zu trinken. Er wollte sogar, daß der eine Woche alte kleine Robert mitfeiern und ein paar Tropfen des goldenen Weines schlucken solle. Ich rückte voll Vertrauen und Hoffnung wieder ein. Antoine hatte mir neuen Mut gemacht, und ich zweifelte nicht, daß der Krieg bald zu Ende gehen würde. Marie-Jeanne stand am Tag meiner Abreise zum ersten Mal auf. Sie zeigte noch die leidenden Züge der Wöchnerin, aber ich fand sie schöner denn je in ihren langsamen mütterlichen Bewegungen, mit ihrem zärtlichen, sanften Blick und dem schwachen Lächeln unter Tränen. »Wir sind nicht mehr lange getrennt«, sagte sie zu mir, »sei tapfer, Liebster!« Dann brach sie in Schluchzen aus. Pipin der Kurze wollte mich an Stelle Marie-Jeannes, die noch nicht ausgehen konnte, zum Zuge bringen. Der wackere Mann schien mir gerührter, als man es von einem Schwiegervater erwartet. Als sich der Zug in Bewegung setzte, zog mir eine schmerzliche Ahnung das Herz zusammen, während seine kurze, runde Gestalt, ein Taschentuch zum Abschied schwenkend, auf dem Bahnsteig immer kleiner wurde. Die Alerions »Antoine« wurden erst sechs Monate später eingesetzt. Mein Kamerad hatte richtig vorausgesagt. Die Digamma-Strahlen vermochten ihnen nichts anzuhaben. Eines Morgens in der Dämmerung überflogen sie unsere gesamte Front; den Anblick werde ich nie vergessen. Zu ihrem Bau war kein Metall verwandt worden; an seiner Stelle war zum ersten Male Glaszement in Anwendung gekommen, ein Stoff, der zugleich leichter und widerstandsfähiger als Duraluminium war. Ihre Flügel bewegten sich ohne Hast, und sie glichen riesigen Kranichen, die in der Morgenröte unter den Strahlen der aufgehenden Sonne majestätisch dahinzogen. Ein allgemeines Geschrei erhob sich in den französischen Gräben, als die Alerions ihre Bomben mit flüssiger Luft über den feindlichen Stellungen abluden. Diesmal war das Geheimnis nicht verraten worden, und die Überraschung des Gegners gelang vollkommen. Das Vertrauen, das man auf beiden Seiten in die Wirksamkeit der Digamma-Strahlen gesetzt hatte, war so groß gewesen, daß die Flakartillerie eingeschmolzen worden war. So
beherrschte der Alerion ohne ernstlichen Widerstand den Himmel. Nach einem vierundzwanzigstündigen Luftbombardement stieß unsere Infanterie vor und besetzte fast kampflos alle Stützpunkte, vor denen sie länger als dreiundeinhalb Jahre im Schlamm gelegen war. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Freude unseres guten Mousseaux, seines Zeichens Bienenzüchter in normalen Zeiten, als wir nach- einem Vorstoß von zwanzig Kilometern auf dem eroberten Gelände kampierten. Die Alerions setzten ihr Zerstörungswerk vor unseren Linien fort und erleichterten so das Vorrücken am nächsten Morgen. Mousseaux schüttelte seine Feldflasche, um deren Inhalt festzustellen, dann forderte er mich gutgelaunt auf, meinen Becher herzuhalten, füllte ihn bis zum Rande und goß den eigenen voll. Das Blech klirrte, als wir anstießen, und dann gössen wir uns, ohne mit der Wimper zu zucken, die Essigsäure der Intendanz hinter die Binde. »Und jetzt«, sagte Mousseaux, »verspreche ich dir, daß ich dir in drei Monaten, wenn ich wieder Zivilist bin, gratis einen großen Eimer wunderbaren Honig schicke.« Die Ereignisse gingen nicht so schnell, wie er geglaubt hatte. Der Endsieg schien uns zwar sicher, aber das zu Tode getroffene Tier schlug noch heftig um sich. Acht Tage nach dem ersten Schreck schoß eine improvisierte Abwehr mehrere niedrig fliegende Alerions ab. Man wird verstehen, daß der geschlagene Feind ungeduldig darauf brannte, das Instrument seiner Niederlage kennenzulernen. Er studierte es so genau, daß er drei Monate später selbst nach dem Typ »Antoine« gebaute Alerions in die Schlacht werfen konnte. Allerdings war es zu spät, um eine Änderung der Gesamtlage herbeizuführen. Schon war das ganze Land vom Angreifer befreit worden, der nun auf eigenem Gebiet die Schrecken des Krieges kennen lernte. Aber dieses Volk, das aus geborenen Soldaten bestand und von seinen Herrschern dazu erlogen worden war, blutige Auseinandersetzungen als etwas Wünschenswertes zu betrachten, wollte sich im voraus für ein Unheil rächen, das es abzuwehren nicht mehr imstande war/ Die Wut über die bevorstehende Niederlage verführte es zu höchst verwerflichen Handlungen. Seine an Zahl unterlegenen Alerions wichen einem Kampf mit den unsern aus, sie beschränkten sich darauf, bei Nacht wahllos offene Städte zu bombardieren. Jeden Morgen gab der Rundfunk Tausende von Opfern in Paris, Dijon, Rouen, Blois, in Bourgen-Bresse und Gott weiß wo noch bekannt. Immerhin mehrten sich täglich die Anzeichen für die Beendigung des Dramas. Wieviel Tote würde wohl der vierte große Krieg in diesem Jahrhundert der
Massenschlächtereien kosten? Niemand wagte, daran zu denken, ich am allerwenigsten. Die großen Katastrophen zwingen die Menschen durch den Umfang des Leidens, das sie verursachen, sich in ihrem aus der Angst geborenen Egoismus auf das einzige Gebiet zurückzuziehen, das sie für sicher halten, auf die kleine Insel ihres persönlichen Glücks. Täglich wanderten meine Gedanken zu Marie-Jeanne, zu den Freuden, die ich ihr verdankte, die mir umso wertvoller erschienen, je sparsamer sie mir zuteil geworden waren. Ihre leidenschaftlichen, zärtlichen Briefe erschütterten mich immer aufs neue. Der kleine Francois war ein nettes Kerlchen von fast drei Jahren, sein Bruder Robert mußte bald gehen können. Endlich sollte ich das Leben eines Familienvaters führen. Eines Morgens verkündete der Rundfunk in der Stadt, die wir am Vorabend besetzt hatten, daß im Verlauf der letzten Nacht etwa zehn französische Städte von einzelfliegenden Alerions bombardiert worden seien. »Man beklagt nur eine geringe Anzahl Opfer«, fügte die Stimme im Lautsprecher hinzu. Aber unter den zwischen Troyes und Auxerre angeführten Städten hatte ich Avallon gehört, und plötzlich packte mich ein namenloser Schrecken. In Todesangst wartete ich auf einen beruhigenden Brief. Vierzehn Tage vergingen, dann gab der Feind die Partie verloren. Der Angsttraum war vorbei. Jeder war glücklich, ein Freudentaumel ergriff die ganze Armee. Warum konnte ich mich an dem allgemeinen Jubel nicht beteiligen? Ich war ohne Nachrichten von Marie-Jeanne, und jedesmal, wenn ich den Wagenmeister mit seinem Postsack sah, stürzte ich ihm mit pochenden Schläfen und fiebernden Händen entgegen. Am Tag des Waffenstillstandes ließ Mousseaux länger als sonst auf sich warten. Er war auf den verschiedenen Kompanie-Geschäftszimmern, auf denen er unterwegs die Post abgab, aufgehalten worden. Er konnte sich nicht gut ausschließen, wenn es galt, das glorreiche Ereignis, das uns für vier leidvolle Jahre entschädigte, gebührend zu feiern. In vergnügtester Stimmung, mit weinseligen Augen, schrie er mir, mit dem Arm winkend, entgegen: »Ein Brief für dich, Durand!« Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, die Freude schoß mir ins Blut wie ein allzu starker Wein. Wie schön war dieser Herbstmorgen! Mit meinen Blicken liebkoste ich die in Nebel gebettete Landschaft. Silberne Pappeln zitterten längs der Straßen, die mich an die Straßen meiner Heimat erinnerten. Weißer Rauch stieg hie und da vom Dach der Gehöfte auf, und der gesunde
Geruch der Holzfeuer schwebte über der Erde. Ich sog begierig die Luft in großen Zügen ein. Der Winter stand vor der Tür, aber die fetten Furchen, die sich in der Ferne verloren, trugen in ihrem Schoß die Hoffnung auf den kommenden Frühling, den heiligen Keim der ewigen Erneuerung. Und wie die Natur sollte auch das menschliche Herz, das vier Jahre in einem dunklen Kerker geschmachtet hatte, zu neuem Leben erwachen und die Früchte seiner Liebe tragen. »Da, was für dich«, sagte Mousseaux und hielt mir ein Kuvert hin. Ich warf einen Blick auf die Adresse, und meine Freude erlosch. Der Brief war nicht von Marie-Jeanne. Auf der Rückseite des Umschlags las ich: Abs. Antoine Hurion, mit der militärischen Anschrift des Fliegers. Ich fröstelte. Mein Unglück übertraf noch meine Befürchtungen. Antoine, durch seine Erfindung eine wichtige Persönlichkeit geworden, hatte schon am Tage nach dem Bombardement nach Avallon fahren können. Wie der Rundfunk bekannt gegeben hätte — die Zahl der Opfer war nicht groß: sechs Tote und vier Verwundete. Aber unter den Verwundeten befand sich der Vater Antoines, dem man sofort den rechten Arm abnehmen mußte (mit der Uhrmacherei war's also vorbei!) und unter den Toten? — Antoine war zartfühlend und der Brief ein wahres Musterbeispiel seiner Art. Er konnte ja nicht wissen, ob man mich schon benachrichtigt hatte, und seine Zeilen waren sehr taktvoll. Welch unglücklicher Zufall, daß unter den vier von Bomben getroffenen Häusern die am stärksten beschädigten die Uhrmacherwerkstatt Hurion und — das Hotel zur Post waren. Sein väterliches Haus war wie ein anatomisches Präparat in zwei Teile zerschnitten worden, und die eine Hälfte stand noch. Der halbe Laden, die halbe Wohnung und der halbe Speicher, die andere Hälfte war nur noch ein Trümmerhaufen. Das Hotel war wie durch einen ungeheuren Schlaghammer dem Erdboden gleich gemacht worden, es war so gut wie nichts übrig geblieben. Aus den Trümmern hatte man zwei Reisende, Pepin Deniau, Marie-Jeanne und meine beiden Kleinen, meine lieben Kleinen, als Tote hervorgezogen. Wirklich, der Brief Antoines war vollendet. Ich las ihn noch einmal, als hätte ich ihn falsch verstanden, als hätte sich ein Alptraum zwischen ihn und meine verwirrten Augen geschoben. Aber nein, auf dem Papier, das ich zwischen meinen zitternden Händen zerknitterte, standen klar und deutlich die Namen Pepin Deniaus, Marie-Jeannes und der beiden Kinder, die Fleisch von meinem Fleisch waren und die ich kaum erst gekannt hatte. Mein Leben war nur noch
ein Friedhof voller Kreuze. INTERMEZZO Als ich mich nach vierjähriger Abwesenheit wieder in meinem Atelier auf dem Boulevard Batignolles befand, hatte ich das Gefühl eines Menschen, der nach langer Krankheit seine ersten Gehversuche macht. War dieser Krieg nicht eine Krankheit, die Europa und all die armen, an sein Schicksal geketteten Menschen durchgemacht hatten? Millionen unter ihnen waren ihm zum Opfer gefallen und wurden nun im Gedächtnis der Überlebenden zum zweiten Mal begraben. Man wollte von dem erbärmlichen Krieg nichts mehr hören, daher mußte man den Gedanken an seine Opfer zurückweisen. Leben heißt vergessen. Ich konnte Marie-Jeanne nicht so schnell aus meinem Herzen verbannen, das ganz ihrem Kult geweiht war. Die glücklichen Stunden, die sie mir geschenkt hatte, ließen mich noch seligere in der Zukunft erwarten. Das war nun alles vorbei, und ich vermochte mich nicht zu trösten. Gleich nach meiner Entlassung aus dem Militärdienst hatte ich eine Wallfahrt nach Avallon unternommen. Schon waren die Trümmer des Bombardements weggeräumt worden. Vom Hotel zur Post, dessen Platz wie ein Kiefer anmutete, aus dem man einen Zahn herausgerissen hat, war nicht ein Stein auf dem anderen geblieben. Ich hielt eine kurze Andacht über den Gräbern, die alles umschlossen, was mir auf der Welt lieb und teuer war, aber ich war nicht imstande, länger in dieser Stadt zu bleiben, die mir nichts mehr zu bieten hatte. Die Vertretung meiner Interessen vertraute ich dem Notar des verstorbenen Pepln Deniau an und verließ wie ein Körper ohne Seele Avallon. In Paris, das ich seit Kriegsausbruch nicht mehr gesehen hatte, kam ich sehr bald auf andere Gedanken. Das erste, worauf mein EKck fiel, als ich mein Atelier betrat, war der Entwurf des Werbeprospektes, den ich vor vier Jahren zur Verbreitung i^i ganz Paris drucken lassen wollte. Damals erschien mir der bloße Gedanke an eine Heirat mit Marie-Jeanne, von der mein Vater nicht abgehen wollte, mehr als unangenehm, ja geradezu absurd. Waren der Krieg, meine Liebe, meine beiden kaum gekannten Söhne, die physischen und moralischen Leiden, die ich schweigend hatte ertragen müssen, der unglückselige Brief Antoine Hurions nicht nur ein böser Traum, jetzt, wo dieser Fetzen Papier mit seinen verblichenen Schriftzügen vor meinen Augen lag? Marie-Jeannes Bild war mit keiner meiner Pariser Erinnerungen
verknüpft. Sie hatte mich nie in das Atelier noch auf den Straßen begleitet, auf denen sich heute eine Jugend an dem Gedanken berauschte, so viele Tote überlebt zu haben. Nein, der Schatten der Geliebten hatte mit einem Paris nichts zu tun, das sie nicht einmal gekannt, in dem ich nie von ihr geträumt hatte. Und mein Schmerz, so tief er war, ebbte langsam in einer Umgebung ab, in der nichts zu seiner Erhaltung beitrug. Ich bemühte mich nicht zu vergessen, doch das Leben verlangte seine Rechte. Ich wehrte mich gegen die Vorstellung, daß Marie-Jeanne in meinem Herzen ersetzt werden könnte, aber ich brauchte eine Aufgabe, die mich an dieses Leben fesselte, das noch Ansprüche an mich stellte, und so stürzte ich mich in die Arbeit. Die Arbeit war für mich wie für alle vom Schicksal Enterbten zwar nicht die sicherste, aber die einzige Zuflucht. Das sollte ich bald bestätigt finden. Ich machte mich also an den weiteren Ausbau meines Ateliers nach den Ideen, die mich bewegten und mir neu erschienen. Die Bezeichnung »Natürliches Porträt« war nicht nur ein Aushängeschild, um die Leute anzulocken, sie umriß genau das, was ich mir vorgenommen hatte. Ich ging von dem Grundsatz aus, daß man ein gutes Porträt nicht durch eine klassische Pose erreichen könne. Der Charakter zeigt sich nicht im Zustand der Ruhe, die das Vorbild des Todes ist, sondern in der Handlung, in der lebendigen Bewegung. Mußte man das bestellte Lächeln, das der Fotograf nach Art eines Zeremonienmeisters forderte, nicht als Unsinn bezeichnen? Mein Atelier glich daher auch nicht im mindesten den Fotografen-Ateliers, wie sie bisher üblich waren. Man fand bei mir nicht den unförmigen Apparat auf einem Dreifuß, der einem vorsintflutlichen Ungeheuer mit einem Rüssel und einem großen kupfernen Auge glich, ich gab dem Raum das Aussehen eines Schiffssalons. Zwischen den weißlackierten Wänden, die von sechs Bullaugen unterbrochen wurden, standen große schweinslederne Klubsessel, ein langer, niedriger Tisch aus glänzendem Spiegelglas und eine Bar mit hohen, verchromten Hockern. Ein wohlwollender Journalist erklärte eines Tages, daß mein »Natürliches Porträt« in Wirklichkeit ein »Konversations-Porträt« sei. Er hatte nicht so ganz unrecht; denn ich verlor meine Zeit nicht mit theatralischen Posen, noch animierte ich meine Kunden mit einem »Bitte, recht freundlich« und drückte auch nicht feierlich auf einen Gummiball. Meine ganze Arbeit als Porträtist — ich glaube, mir diesen Titel, der vor mir den Malern vorbehalten war, verdient zu haben — bestand einerseits darin,
den Aufzunehmenden unbemerkt dorthin zu dirigieren, wo sich die günstigste Gelegenheit zur Aufnahme ergab, andererseits im Verlauf einer Unterhaltung den für ihn besonders charakteristischen Ausdruck herauszufinden. Hinter den sechs Bullaugen befand sich je ein Objektiv, das sofort aufnahmebereit war, wenn der Besucher an die richtige Stelle kam. Im übrigen bezweckte die ungezwungene Unterhaltung, die verschiedensten Ausdrücke auf seinem Gesicht hervorzurufen: überschäumende oder diskrete Freude, Lachen oder Lächeln, Melancholie, ernste Überlegung, Verbitterung oder Verzweiflung; und alle diese Spiegelungen des Gemütszustandes wurden fortlaufend von meinen sechs Apparaten aufgenommen, die mit Hilfe leicht erreichbarer Knöpfe zu bedienen waren. Ich nahm also ein eingehendes Charakterstudium vor, das oft Schwierigkeiten machte, da sich manche Patienten der Untersuchung widersetzten. Die auf diese Weise gewonnenen Aufnahmen ergaben eine Reihe von erstaunlichen »Tests«, aus denen ich dann nur noch das wirkliche Gesicht meines Kunden auszusuchen hatte. Mit einiger Anmaßung hätte ich meine »natürlichen Porträts« der Wahrheit entsprechend auch »psychologische Porträts« nennen können, was mir sicher die größte Hochachtung der Laien eingetragen hätte. »Wenn man alle Eigenschaften berücksichtigt, die Herr Durand von einem Fotografen verlangt«, schrieb der schon erwähnte Journalist, »wie viele berufsmäßige Psychologen wären dann wohl berechtigt, das Bildnis ihrer Zeitgenossen auf der Platte festzuhalten?« Diesen Zeitungsschmierer konnte ich leider nicht ernst nehmen, da ich annehmen mußte, daß sein Lob ironisch' gemeint war. Jedenfalls begann ich, mich nach und nach leidenschaftlich für meinen Beruf zu interessieren, und ich wünschte mir garnichts Besseres. Meine Kundschaft wuchs ziemlich schnell, und ich genoß längere Zeit einen Ruf, aus dem ein gewiegterer Kaufmann als ich größere Vorteile gezogen hätte. Aber warum und für wen hätte ich dem Geld nachjagen sollen? Die Arbeit war für mich nur eine Ablenkung, ein Betäubungsmittel, nicht ein Mittel zum Erfolg. Ich beschäftigte zwei männliche Angestellte. Eigentlich hätte ich noch zwei weitere gebraucht und außerdem für den Warteraum, der übrigens etwas zu klein war, ein paar hübsche Mädchen mit himmelblau gefärbten Wimpern und Nägeln, wie es damals Mode war. Ich kümmerte mich nicht darum und vermied systematisch den Umgang mit Frauen. Wichtig war mir nur, meine Gedanken abzulenken. Am Abend kehrte ich nach einem kurzen Aufenthalt im Restaurant zerschlagen, mit brennendem Schädel heim. In meinem
Zimmer hing eine Vergrößerung der Fotografie an der Wand, die mir MarieJeanne im ersten Kriegsmonat geschickt hatte und durch die mir damals ihre Schönheit zum Bewußtsein kam. Andere Aufnahmen zeigten sie mit meinen verstorbenen Kindern. Ich versank in eine tiefe, lähmende Träumerei vor diesen Bildern meines verlorenen Glücks. Dieses Glück hatte nur einige Wochen gedauert, die von langen Trennungen unterbrochen waren. Es war in einer Zeit des Wahnsinns entstanden und durch die Größe der Katastrophe, der-es sein Dasein verdankte, mir besonders teuer. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie sich mein Leben mit Marie-Jeanne in friedlichen Zeiten gestaltet hätte. Aber wie sehr ich mich auch bemühte, wenigstens in der Phantasie ein solches Leben zu führen, die Vergangenheit bot mir keine Erinnerung an einen friedlichen Abend unter der Lampe, an dem die einzige, die schönste Sorge die ist, Frau und Kinder zu schützen und mit besonderer Liebe zu umgeben. Vergebens suchte ich nach einem Tag fröhlichen, unbeschwerten Lachens im hellen Sonnenschein. Mein flüchtiges Glück blieb ewig an das Drama gebunden, das mir die Seligkeit zuerst gewährt und dann auf immer zerstört hatte. Diese fruchtlose Träumerei wurde zur fixen Idee, die mich bis in den Schlaf verfolgte. Ich erwachte schwer atmend, mit feuchten Schläfen und tränennassen Augen. Man lebt nicht ungestraft in einer fortwährenden geistigen Spannung, die allem feindlich ist, was nicht dem eigenen Schmerz schmeichelt. Durch starke Selbstbeherrschung gelang es mir, meine Kundschaft nichts von meiner inneren Zerrissenheit merken zu lassen. Im übrigen beanspruchte das schon früher erwähnte Studium für jedes einzelne Porträt so stark meine Aufmerksamkeit, daß ich vorübergehend alles andere vergaß. Sowie ich aber das Atelier oder die Dunkelkammer verließ und wieder meiner Einsamkeit überlassen war, kam ich mir wie ein Wahnsinniger im Delirium vor. Den Menschen gegenüber erschien ich mir wie ein Störenfried und Grimassenschneider. Stier blickte ich vor mich hin und verzog bitter den Mund; es passierte mir, daß ich mitten auf der Straße laut dachte. Für lange Zeit verlor ich den Appetit, die Kleider schlotterten mir um den Leib, dann plötzlich überfiel mich ein wahnsinniger Heißhunger, und ich aß nicht mehr, ich fraß ungeheure Mengen; das Tier in mir wollte leben und verlangte sein Recht. Die Welt ging indessen weiter, und die Menschen übersahen gleichgültig mein gequältes Dasein. Was für eine Rolle spielt schon in einem Ameisenhaufen eine einzelne unglückliche Ameise? Diese Jahre glichen all
den Jahren in einem siegreichen Lande nach dem Krieg. Gierig griff man nach dem wiedergewonnenen Leben wie ein Kind, das seinen Kuchen auf einmal verschlingen möchte. Die Nerven der Menschen, die vier Jahre lang durch die ewige Gefahr zerrüttet waren, verlangten nun nach Sensationen des Genusses, die jenen der soeben durchgestandenen Todesangst an Stärke nichts nachgaben. Um männlich zu erscheinen, genügte es, brutal zu sein. .Man bevorzugte stark gewürzte Speisen, scharfen Essig, paprizierte Schnäpse. Man spottete über eine Liebe, die über das rein Physische hinaus ging. Man berauschte sich an allen möglichen Giften, und damals begann man in den Apotheken öffentlich Peyotl-Dragees als Mittel gegen den traumlosen Schlaf zu verkaufen. Klubs wurden unter dem Deckmantel von »Studien zur Verbesserung der menschlichen Rasse« gegründet, die nur obszönen Zwecken dienten. Man redete viel von neuen Religionen, die sich aber alle durch eine naive Zuflucht zur schwarzen Magie glichen. So bestätigte sich die geschichtliche Regel, nach der alle siegreichen Völker, von einem allzu teuer bezahlten Triumph berauscht, sich selbst zu Grunde richten, um noch tiefer zu sinken als der Besiegte, der ihnen, durch den bitteren Trank der Niederlage gestärkt, schließlich den Gnadenstoß versetzt. Diese Zeit des Wahnsinns fand ihren Niederschlag selbstverständlich auch in der Mode. Ich will durchaus nicht die Mode an sich lästern, der ich glückliche Zeiten verdanken sollte, an die ich mich noch heute mit Sehnsucht erinnere. Aber ich denke an die himmelblau gefärbten Nägel und Wimpern der eleganten Frauen von damals, an ihre mit dem Pinsel vergoldeten Lippen, an ihre mit einer durchsichtigen Masse überzogenen Zähne, die so funkelten, als ob die Damen wie die Drachen in der Fabel Feuer spien, ich denke ferner an den barocken Einfall, das Gesicht der Kleidung anzupassen. Die Schminke, die Haarfarbe, selbst die Farbe der Augen wurden durch spezielle Mittel auf das neue Kleid abgestimmt. Mit einem Wort, die technische Zivilisaton hatte dieses Land bis ins Mark hinein verdorben, das einst führend im Geschmack war und dessen Niedergang im Buch des Schicksals vorgezeichnet stand. Inmitten dieses Wahnsinns arbeitete sich mein Jugendfreund Antoine Hurion wie der Teufel in der Flasche ab. Als Generaldirektor der Alerion-AntoineGesellschaft war er durch den im Kriege erlangten Ruhm eine gewichtige Persönlichkeit geworden. Er hatte an Umfang und Sicherheit zugenommen, seine Schultern und sein Oberkörper waren breiter geworden, die Haare und Augenbrauen hatte er geschickt kastanienbraun gefärbt, kurzum, niemand
hätte in ihm den bescheidenen Uhrmacherlehrling, der sich einst mit der Lupe im Auge in einer dunklen Bude abquälte, wiedererkannt. Er war der Ansicht, daß die Kriege lang seien und die Jugend kurz, deshalb hielt er es für klug, die seltenen Augenblicke des Friedens auszunützen, die den Menschen beschieden waren, bevor ihr Haar grau wurde. Das war jedenfalls sein Wahlspruch, als er einige Jahre nach dem Krieg — ich war während der ganzen Zeit ohne Nachricht von ihm geblieben — plötzlich eines Morgens unangemeldet in meinem Atelier auftauchte. Er sprach sehr ausgiebig wie ein Mann, der gewohnt ist, daß man ihm zuhört. Zuerst erklärte er mir, daß er gerade aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt sei, wo er über eine Lizenzerteilung verhandeln mußte. Im Stratosphärenflugzeug habe er dann den Artikel gelesen, der sich mit meiner bescheidenen Person befaßte. Seitdem habe er nicht geruht, bis er mich wiedergefunden hatte. Warum ich zum Teufel nicht in Kontakt mit ihm geblieben sei? Ich gab ihm die Frage zurück, und er lachte herzlich. Ob seine Geschäfte gut gingen? Zu gut. Er wußte gar nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Ob er verheiratet sei? Er hatte nur eine einzige Frau in seinem Leben geliebt, er, der mit beiden Beinen im Leben stand, der Tatenmensch, der alles vom realen Gesichtspunkt aus betrachtete, und diese Frau war verheiratet! Was blieb ihm anderes übrig, als sich zu betäuben? Dieser Aufgabe hatte er sich ebenso methodisch gewidmet wie allen übrigen Dingen; das Leben ist nur für Neurastheniker ein Drama. Hier trat eine Pause in unserer Unterhaltung ein. Ich hob den Kopf, und er legte mir seine Hand auf die Schulter. »Na, alter Freund Willy, bist du nicht ein bißchen neurasthenisch? Was für ein sauertöpfisches Gesicht! Ich muß deine Angelegenheiten mal in die Hand nehmen!« Er bat mich, sein Porträt anzufertigen, und war über das Bild verblüfft, das ich ihm überreichte. In meiner Vorstellung war er der jugendliche Enthusiast von Avallon geblieben; unter der Fassade des gemachten Mannes sah ich noch immer das Wesen des frühreifen Jungen; in dem lebhaften, scharfen Blick des Industriekapitäns hatte die Erinnerung an die gemeinsam verlebte Jugend die Begeisterungsfähigkeit des Schulkameraden wiedererweckt. Er gab zu, daß ihn mein »natürliches Porträt« neben der absoluten Ähnlichkeit, die schließlich jeder einigermaßen fähige Fotograf zu erreichen vermag, um fünfzehn Jahre verjüngte. Sein langes Stillschweigen hätte in mir Zweifel an einer so plötzlich wiederauflebenden Freundschaft erwecken können. Aber trotz meiner
Menschenfeindlichkeit — oder gerade, weil er mich von ihr zu heilen beabsichtigte, wie er mir zu verstehen gab —, wollte er mich nicht mehr meinem Schicksal überlassen. Er schickte mir Kunden zu, rief mich jeden Tag an, lud mich mehrmals wöchentlich zum Essen ein. Zuweilen sagte ich ab, entschuldigte mich in letzter Minute, kurz, ich tat alles, um seinen Eifer abzukühlen. Es nützte nichts! Am nächsten Tag stand er lächelnd wieder vor mir, eigensinnig in seinem Wohlwollen und entschlossen, die »Lockerung meiner Moral«, wie er es nannte, bis zum guten Ende durchzuführen. Eines Abends hatte ich wieder eine am vorhergehenden Tage angenommene Einladung grade in dem Augenblick abgesagt, in dem ich hingehen wollte. Ich lag ausgestreckt auf dem Diwan, das Bild Marie-Jeannes blickte von der Wand zu mir herüber, und wieder packte mich die Erbitterung, gegen die es kein Heilmittel gab und die mich stets aufs neue an meinen einsamen Abenden überfiel. Da läutete die Glocke. Ich öffnete — es war Antoine. »Entschuldige bitte«, sagte er. »Ich wollte nach dir sehen, weil ich fürchtete, du seist krank.« »Ich bin es.« »Sicher«, erwiderte er. »Hier sitzt das Übel (er tippte mit dem Finger an seine Stirn). Hoffentlich störe ich nicht?« Ich hob die Schultern. »Du kannst bleiben, wenn dir die Gesellschaft eines Verrückten nicht unheimlich ist.« Er folgte mir ins Zimmer, das er zum ersten Mal betrat, Ich setzte mich auf den Rand des Diwans, und er wollte ebenfalls Platz nehmen, als ich ihn erbleichen sah. Sein Blick blieb auf dem großen Bilde Marie,-Jeannes haften. Obgleich er die Zähne zusammenbiß und sich bemühte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, spiegelten seine Züge eine tiefe innere Erregung wider. Sein Mund verzog sich, und seine Lider zitterten, dann wandte er sich mir zu. »Also, wo fehlt es denn?« fuhr er mit veränderter Stimme fort. Er hatte die Frage ganz mechanisch gestellt. Seine Gedanken waren augenscheinlich irgendwo anders, und ich wollte darüber Gewißheit haben. »Hier an der Wand siehst du einige Bilder«, sagte ich leise, »die dir alles erklären.« Meine Berechnung erwies sich als richtig. Auf meine Aufforderung hin betrachtete Antoine lange, eines nach dem anderen, die Bilder, auf denen die Anmut der Toten, teils allein, teils mit den Kindern, festgehalten war. Ich beobachtete ihn, während seine Blicke über die Fotografien wanderten.
Antoine hatte eine robuste Natur, trotzdem konnte einem scharfen Beobachter die Verzerrung seines Gesichtes nicht entgehen. Einige Sekunden lang zuckte es zwischen seinem Kinn und seiner Unterlippe. Nun war mir alles klar. Die einzige Frau, die er geliebt und die, wie er erzählte, einen anderen geheiratet hatte, war meine Frau. Plötzlich erinnerte ich mich unserer Unterhaltung vor Kriegsausbruch. Er wunderte sich über meine Kälte Marie-Jeanne gegenüber, die sich mein Vater als Schwiegertochter wünschte. Erregt hatte ich ihm damals ins Gesicht geschrien: »Warum heiratest du sie denn nicht?« Ich höre noch seine Antwort, deren ernster bedeutungsvoller Ton mir im Augenblick garnicht auffiel: »Weil sie dich liebt!« Armer Antoine! Eine neue, warme Sympathie faßte mich für diesen ehrlichen Freund. Lange vor mir hatte er die Vorzüge und den seltenen Charme MarieJeannes erkannt. Aber sie liebte mich, und er hatte die Gewissenhaftigkeit und das Zartgefühl so weit getrieben, mich über ihre Liebe zu mir aufzuklären; er hatte freiwillig darauf verzichtet, mit mir in Wettbewerb zu treten. Und noch gestern zweifelte ich an seiner Freundschaft! Er unterbrach die Besichtigung meines intimen Museums, setzte sich mir gegenüber in einen Sessel und sagte einfach: »Ja, Willy. Aber man lebt nicht in der Vergangenheit!« Jetzt war ich eher geneigt, ihm nachzugeben. War ich nicht noch immer besser dran als er? Hatte er nicht ebensoviel, vielleicht noch mehr gelitten als ich? Mein Glück würde plötzlich durch den Tod zerstört, aber das Leben hatte mir dieses Glück, wenn es auch nur von kurzer Dauer war, doch nicht ganz versagt, während ihm durch mein Dazwischentreten nicht einmal die Hoffnung auf Erfüllung gewährt worden war. »Also reiß dich zusammen, Willy«, fuhr er fort. Er hatte seine Fassung wiedererlangt, aber ich merkte, daß er absichtlich den Fotografien den Rücken kehrte, die eine alte Wunde in ihm aufgerissen hatten. Ich glaubte auch eine gewisse Forciertheit in der Stimmung zu entdecken, in der er zu mir sagte: »Ich möchte bloß wissen, warum du nicht zum Essen mitkommen willst, altes Huhn.« Das neue, freundschaftliche Gefühl, das ich für ihn hegte, ließ mich nicht länger auf meinem Standpunkt beharren. "Waren wir nicht beide bedauernswerte Menschen, Opfer des gleichen grausamen Schicksals? Der gute Antoine tat mir leid, Ruhm und Vermögen hatten ihm wohl eine glänzende Stellung nach außen hin verschafft, aber das wahre Glück, das nur durch die Liebe zu finden ist, war ihm versagt geblieben.
Wir stürzten uns also an jenem Abend in das Pariser Nachtleben, dessen Geheimnisse er alle kannte. Eine rauschende, brausende, linde Nacht. Das grelle Licht, das die Straßen durchflutete, schien die Pforte des Mysteriums zu durchleuchten. Es kroch über den glatten, glänzenden Fahrdamm, über die Bäume am Rand der Trottoirs, die wie artige Kinder rechts und links aufgepflanzt waren, es kletterte an den Häusern hoch, deckte die kleinsten Risse, den winzigsten Spalt im Beton der Mauern auf, schlich wie eine Schlange an den bürgerlich-ängstlich geschlossenen Fensterläden entlang, gelangte schließlich zum Dachrand und gefiel sich dort in farbigen Arabesken, als ob es die strahlenden Sterne in Erstaunen versetzen wolle. Alle zehn Meter hing eine weiße Sonne über unseren Köpfen und spendete ihren Glanz. Die Mängel der Gesichter schmolzen in der milchigen Helle. Ich dachte an die Hölle, die Paris im Kriege war, und ein heftiger Zorn auf die Überspanntheit der Menschen packte mich. Antoine führte mich zum Abendessen in ein exotisches Restaurant, das mir besonders in Erinnerung geblieben ist. Pygmäen mit mißgestalteten Schädeln und birnenförmigen Leibern servierten in gelben Kalebassen schwarze Frösche, weiße Larven, Schnecken, Raupen, Elefantenrüssel, Affenbürzel und vor allem fetttriefende geröstete Termiten, die allwöchentlich per Flugzeug aus den Wäldern von Ituri herbeigeschafft wurden. Nach diesem mit Palmenwein begossenen Festmahl gingen wir, da mir die Raupen und Larven im Magen lagen, in ein Cabaret, das sich »Astronaut« nannte. Das Lokal wurde von einem ehemaligen Flieger, der sich im vierten großen Krieg ausgezeichnet hatte, geführt. Bei einem mißglückten Versuch, die Verbindung zwischen Erde und Venus herzustellen, war er wie durch ein Wunder dem Tode entronnen. Bei ihm trank und aß man und tauschte die letzten astronautischen Nachrichten aus. Die damalige Attraktion war eine Revue mit dem Titel: »So siehst du aus!« Sie brachte eine Rückschau auf die weibliche Kleidung seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Unter anderen eleganten Dingen sah man die Riesenhüte und geschlitzten Kleider von 1912, die kniefreien Röckchen und Glocken von 1925, winzige Hütchen und angemalte Beine (wegen des Strumpfmangels) aus der Zeit der Not, eine Art von Negerschürzen und Abendpareos aus der Zeit vor dem dritten Weltkrieg, dann die Mode der nackten Brüste unter durchsichtigen Büstenhaltern, die in der Zeit des »Zweiten 89« blühte, ebenso den Sansculottismus, der zur gleichen Zeit den Frauen gestattete, auch den unter dem Gürtel liegenden Teil ihres
Körpers nur mit einem dünnen, exotischen Trikot bekleidet zur Schau zu tragen. Ich hatte etliche Gläser eines herben Champagners getrunken, um die ekelhafte Erinnerung an die Larven zu vergessen, die beim Essen unter der Gabel platzten, und warf gerade den graziösen Statistinnen der Revue einen freundlichen Blick zu, als mein Kamerad mich fragte: »Bist du eigentlich schon mit deinen Fotos bei der Modewelt eingeführt?« Nein, ich war es nicht, und Antoine schlug mir vor, mich auf diesem Gebiet zu lancieren; denn er hatte dort sehr gute Verbindungen. »Ganz abgesehen von den kleinen Mannequins! Hm, hm«, fuhr er augenzwinkernd fort. Das leichte Lächeln der beginnenden Trunkenheit, das die Menschen zu Kompromissen geneigt macht, huschte über mein Gesicht, als ein großer, starker Bursche an unseren Tisch trat. Es war Gustave Bolide, der Inhaber des »Astronaut«. Die große x-förmige Narbe auf seiner rechten Wange und die künstliche linke Hand im schwarzen Handschuh erinnerten an sein »VenusUnglück«, wie er es zu nennen liebte. Er schüttelte Antoine die Hand, setzte sich an unseren Tisch und sprach vom »Astrion«, an dem noch immer der begabteste Schüler des verstorbenen Professors Corre, der Ingenieur Drelin, arbeitete. Der Flug zur Venus war sine die verschoben worden. Nun sollte der Mars den ersten Besuch der interplanetaren Flieger erhalten. Die größere Entfernung würde die Dauer des Fluges zweifellos nahezu verdoppeln. An Stelle von 48 Tagen mußte man mit guten drei Monaten rechnen, um die geheimnisvollen Kanäle des Mars zu erreichen. »Aber im Grunde genommen reizt mich der Mars viel mehr«, erklärte Bolide. »Mit ihrer Kohlensäurehülle liegt mir trotz der Filtermaske die Venus viel weniger. Für den Mars genügt ein Sauerstoffapparat, das ist keine große Angelegenheit. Außer Champignons scheint es da oben massenhaft Frösche zu geben. Es leben die Froschschenkel!« Er vertraute uns ferner an, daß sein Freund Drelin an der Fertigstellung des Raketen-Antriebsapparates arbeite. Seine Atomzertrümmerungs-Anlage bedürfe nur noch geringer Abänderungen. Aber der gewissenhafte Konstrukteur wolle nichts dem Zufall überlassen. »Na, und wenn wir noch einen Klappsitz für dich übrig hätten, würdest du dann mitfliegen?« fragte Bolide Antoine. Mein Freund zuckte die Achseln, aber in seinem Blick flammte es auf. »Leider hat der ,Astrion' nur vier Plätze«, fuhr der Inhaber des ,Astronaut'
fort. »Dreiin und ich für die Navigation, ein Physiker und ein Arzt für die wissenschaftlichen Beobachtungen. Nach unserer Rückkehr soll dann ein regelmäßiger Dienst eingerichtet werden.« Er zweifelte nicht am Gelingen. Händereibend entfernte er sich. Der Saal war für mich nur noch leuchtende Bewegung, ein Durcheinander von weißen Schultern, rauschenden Kleidern, glücklichen Gesichtern und schwarzen Fräcken. Antoine bestellte eine neue Flasche Champagner und sagte: »Da, sieh mal — so was fehlt dir!« Er erhob sich, betrat die überfüllte Tanzfläche und kam mit zwei sehr hübschen, nach der neuesten Mode hergerichteten Mädchen zurück. Für jemanden, der an dieser Art von Aufmachung Gefallen findet, waren sie mit ihren dem Kleide angepaßten Gesichtern geradezu ein Musterbeispiel. Beide trugen weite griechische Gewänder mit vielen Falten, die an den Schultern mit BrillantSpangen festgehalten wurden, eines perlengrau, das andere maisgelb. Sie bildeten einen eigenartigen Kontrast, die rechte goldüberstrahlt, leuchtend wie ein Götterbild: Haare, Augen, Wangen, Lippen, Finger und Fußnägel (sie trug Sandalen, die am Knöchel mit goldenen Riemen befestigt waren), alles funkelte; die linke diskret pastellfarben wie die Morgenröte oder eine regenschwangere Wolke. Ich erhob mich lässig, um sie zu begrüßen, während mich Antoine vorstellte. Die beiden Frauen nannten mir ihre fremdartigen Namen. »Man nennt mich Sahar«, sagte die Wolkenfarbige. »Und mich BoueKou«, fügte die Maisfarbige hinzu. Da ich infolge meines Zustandes ob dieser exotischen Bezeichnungen einen etwas blöden Eindruck machte, ließ sich die erste in ihrer verträumten, abwesenden Art, die ohne Zweifel auf ihr Kostüm abgestimmt war, herbei, mich aufzuklären. »Sahar bedeutet ,Rauch' im Uolof-Dialekt.« Grade wollte ich ihr aus purer Höflichkeit mein Entzücken ausdrücken, als Antoine dazwischen fuhr. »Ihr wirklicher Name ist Ginette«, sagte er lächelnd. Sahar-Ginette blickte wie eine unverstandene Frau verzweifelt zur Decke. Ihre Augen waren groß und mandelförmig, und man konnte nicht feststellen, ob die hübsche malvengraue Farbe auf chemischem Wege erzeugt oder echt war. Die strahlende Boue-Kou wollte natürlich nicht zurückstehen, und so vertraute sie mir an, ihr Name bedeute bei den Guayaki-Indianern, »die, welche verwundet«. Das waren so Einfalle in jener glücklichen Zeit. »Von mir aus kannst du sie Suzy nennen«, sagte Antoine ungeniert. Boue-Kou-Suzy warf ihm einen unfreundlichen Goldblick zu — »Willst du mit mir tanzen?« fragte sie plötzlich. Er nahm an, und beide
mischten sich unter die drei Dutzend Paare, die sich bemühten, den Oa-Oa zu tanzen. Es war ein Tanz von Zauberern aus dem Kongo, der ursprünglich zweifellos der Beschwörung unheilbringender Geister gedient hatte. Die Tänzer im »Astronaut« aber suchten dabei lediglich ihre Langeweile zu beschwören. Ich erinnere mich, daß sie sich, einer hinter dem ändern, an den Schultern faßten und in zwei Kreise teilten. Der eine stellte sich außen am Rande der Tanzfläche, der andere innen auf; der erste bestand nur aus Männern, der zweite nur aus Frauen. Zum Klang eines rauhen Tam-Tams bewegten sie sich hüpfend vorwärts, die Männer in entgegengesetzter Richtung zu den Frauen. In einem bestimmten Augenblick kehrten sich alle auf ihren Absätzen um. Die Männer standen nun den Frauen gegenüber, beugten sich nach vorne und legten mit gespreizten Beinen die Hände auf die Knie, die sie schnell öffneten und schlössen, während sie mit voller Stimme »Oa-Oa« riefen. Gleichzeitig machten die Frauen in ähnlicher Stellung, die Hände auf den Knien, mit dem Unterkörper heftig rotierende Bewegungen. Dann folgte eine Art Kampf mit flachen Händen, an dessen Ende die Frauen um Gnade baten. »Und Sie«, murmelte mir eine müde Stimme ins Ohr, »tanzen Sie den Oa-Oa nicht?« »Ich bedaure, ich tanze niemals«, sagte ich so liebenswürdig wie möglich. »Bedauern Sie es nicht«, fuhr Ginette seufzend fort, »warum soll man sich denn so abplagen?« Sie nahm ihre Rolle wirklich ernst, und selbst ihr Seelenzustand paßte sich ihrem Kleide an. Aber einige Gläser Champagner ließen sie zu sich selbst kommen. In ihren nebelhaften Augen erschien ein fröhliches Leuchten. Sie begann mit kleinen Neckereien, die ich widerspruchslos hinnahm. Ihr plätscherndes Lachen zeigte zwischen silbergrauen Lippen ein mandelweißes fehlerloses Gebiß, zwischen dem sich verstohlen eine schalkhafte und verschlek-te Zunge wie eine Erdbeere zeigte. Als Antoine und Boue-Kou-Suzy den Tanz beendet hatten, war Sahar ganz zur Ginette geworden. Sie hatte ihre Maske fallen lassen und rief dem Paar in spöttischem Ton zu: »Nun, habt ihr euch geschlagen?« Und sie begann mir zu erklären, daß Suzy trotz ihrer prinzeßhaften Allüren ein perverses Mädchen und sehr für Schläge empfänglich sei. Da Antoine seinerseits eine lockere Hand habe, sei innerhalb dieser Junggesellen-Ehe alles in bester Ordnung. Verzweifelt erhob sich die andere und zog Antoine
mit sich, der mir im Weggehen noch zuflüsterte: »Na los, Kleiner!« »Glückliche Reise!« rief Ginette. Sie trank weiter und nötigte mich, mit ihr zu trinken. Ihr papageienhaftes Geschwätz verwirrte mich. Das Tam-Tam begann wieder, und an alles weitere bis zum nächsten Morgen konnte ich mich nicht mehr erinnern, als ich in einem winzigen, mit rosafarbenen Wänden und Puppenmöbeln ausgestatteten Zimmer erwachte. Ich hatte einen schweren Kopf und schmerzende Gelenke. In einem benachbarten Raum lief Wasser, aus dem der säuerliche Duft von Badesalz imd das Geräusch eines sich unter der Dusche spülenden Körpers kam. Ich richtete mich auf und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Als erstes erschien in meiner Erinnerung das Gesicht von Sahar-Ginette wieder: perlgrau-aschgrau-mausgrau-rauchgrau. In der Uolof-Sprache bedeutete Sahar »Rauch«. »Soll ich dich mitnehmen?« fragte sie, blinzelte mir zu und bot mir ihre Altsilber-Lippen. Mir war höchst unbehaglich zumute, und ich wollte eben das Bett verlassen, als Ginette wieder eintrat. Mit voller Absicht sage ich Ginette, denn Sahar hatte sich vollkommen in nächtlichen Rauch aufgelöst, und vor mir stand eine mir unbekannte Frau in himbeerfarbenem Bademantel. Das Gesicht war klar, die frische Haut, von ihrer absurden Schminke befreit, schimmerte rosig. Die Haare hatten ihre kastanienbraune Farbe wiedergefunden, und selbst die Augen waren vom Malvengrau ins Kohlschwarz hinübergewechselt. »Du siehst mich so sonderbar an, Liebster!« sagte sie, sprang mit einem Satz auf das Bett und legte mir den Arm um den Hals. »Küsse mich.« Ich hauchte teilnahmslos einen Kuß auf ihre junge Wange, die nach bitteren Mandeln roch. »Du weißt gewiß nicht, wie komisch du gestern abend sein konntest. Ich wette, daß du dich nicht daran erinnerst. Du hattest dir eine Serviette um den Kopf gewickelt und sprachst wie ein Kabyle: ,Ah, mon z'ami, mon z'ami' Du hast damit einen schönen Erfolg gehabt.« In einer liebevollen Aufwallung küßte sie mich und legte zärtlich ihren Kopf gegen den meinen, wobei sie mir anvertraute, daß ihr Herz frei sei. Sie war Filmkomparsin, und ein großer Regisseur habe sie für eine tragende Rolle ausersehen, aber dieser dicklippige und unsaubere Mensch stelle unverschämte Forderungen. »Mir kommt's nur auf die Liebe an, ich pfeif auf die Rollen.« Sie kuschelte sich an mich und ließ ihren Morgenmantel durchs Zimmer fliegen. Aber ich hielt sie mir vom Leibe, ich wollte nichts mehr mit ihr zu tun
haben. Allein der Gedanke an die Dummheiten, zu denen ich mich in meiner Trunkenheit herabgewürdigt hatte, beschämte mich. Ich erinnerte mich meiner inneren Erregung, als ich Antoine mit verkrampftem Gesicht vor dem Bild Marie-Jeannes überrascht hatte. Wie konnte unsere seelische Harmonie angesichts der Tragik unseres gemeinsamen Schicksals in einen Bummel Betrunkener ausarten? Ich nahm das Antoine übel und machte mir selbst wegen dieser Erniedrigung meines Ichs und meiner Nachgiebigkeit Vorwürfe. »Was hast du, cheri?« fragte mich Ginette mit gurrender Stimme. Sie hatte meine Hand ergriffen und drückte sie gegen ihre nackte Brust. Ein zarter Duft stieg von ihrem schmiegsamen und zierlichen Körper auf. Langsam entwand ich mich ihr. »Verzeih mir, ich kann es dir nicht sagen. Ich muß fort.« Höchst erstaunt hatte sie ihre Hände um die Knie gelegt und sah mir zu, wie ich mich anzog. »Ich werde dir später alles erklären, Ginette.« — Sie schüttelte stillschweigend den Kopf. Als ich fertig war, näherte ich mich ihr, um ihr die Hand zu küssen. (Weniger konnte ich kaum tun.) Aber sie packte mich an den Handgelenken und wollte mich an sich ziehen. Ich widerstand. Sie ließ mich los und schrie: »Also, das ist allerhand!« Ich zuckte mit den Schultern, halb bedauernd, halb verwirrt, und verließ das Zimmer. Nach meiner Ansicht war aus dieser Erfahrung nur ein Schluß zu ziehen. Ginette war so offen und fröhlich, bereit, mich zu lieben, wenn ich gewollt hätte, und trotzdem stand die Tote zwischen uns. Das harmlose Vergnügen, das sie mir bedingungslos anbot und das einen so entwöhnten Mann hatte reizen können, hatte mich unberührt gelassen. Ja, das Spiel war aus. Keine Frau konnte die Erinnerung an Marie-Jeanne auslöschen. Niemals würde irgendeine Liebschaft ihr Schattenbild verdrängen. Ich wollte mein zurückgezogenes Leben wieder aufnehmen. Antoine ließ das aber nicht zu. Zuerst kam er, um Aufklärung über mein beleidigendes Verhalten Ginette gegenüber zu verlangen. Das junge Mädchen hatte ihm seine Enttäuschung erzählt. Sie bedauere, mich verloren zu haben, sie sei ein gutes Mädel und verdiene meine Mißachtung nicht. Ich bat ihn, seine überflüssigen Worte zu sparen. Er drängte mich nicht, aber er war entschlossen, sich um mich zu kümmern und mir zu einem neuen Glück zu verhelfen. Wie sollte ich diesem freundschaftlichen Eifer entgehen? Das beste war, mich in eine größere Arbeit zu stürzen; dabei vergaß ich die düstere Last des Alltags und die Erhellung des Lebens durch ein Glück, das ich nur so kurz
genossen hatte. Nein, nach Marie-Jeanne konnte es keine Frau mehr für mich geben, das hätte ich bei meinem Leben beschwören können. Und doch sollte eines Tages Manette in mein Leben treten. MANETTE Wie er es mir versprochen hatte, führte mich Antoine in die Welt der Mode ein, in der mir, obwohl meine Art anfangs noch auf Widerstand gestoßen war, seine Empfehlung sehr nützte. Ich wollte auch auf diesem Gebiet meine Grundsätze des »natürlichen Porträts« zur Geltung bringen. Sofort begannen die Anhänger der bisher üblichen Hollywooder Technik über mich und meine Kunst ungünstige Urteile zu verbreiten. Sie verteidigten ihre filmische Arbeitsweise, die mit Hilfe zahlreicher »spots« geleckte; nichtssagende Köpfe seelenloser, gut aussehender Mädchen erzeugte. Diesen schwerfälligen Herren entgegnete ich, daß ihren Atelier-Schönheiten die lebendige Anmut fehle und daß diese allzu lieblichen, wie für eine Theatervorstellung hergerichteten Mädchen ihre Aufgabe viel besser erfüllten, wenn sie die menschlichen Empfindungen etwas stärker zum Ausdruck brächten. Ich wollte mit einem Wort, daß die aufgenommenen Mannequins ihre Kleider mit Anmut und Selbstverständlichkeit trügen und man ihren Gesichtern, deren Ausdruck keineswegs stereotyp erscheinen durfte, die Freude über das schöne Gewand ansehen solle. Schließlich gewann ich die Partie, als ich dem gezierten Herrn Maurice von der Firma Marcel und Maurice, der mir mit seiner Flötenstimme alberne Einwendungen machte, in meiner Verzweiflung erklärte: »Begreifen Sie doch endlich, daß die Aufnahme eines Mannequins einer großen Modefirma vor allem die Kundschaft zum Kaufen verleiten soll. Dazu muß das Mädchen den Eindruck machen, über ihr neues Kleid glücklich zu sein.« Herr Maurice sprang auf, streckte mir den Arm entgegen, seine sonst ewig zwinkernden runden Augen, die mich immer an einen Hahn erinnerten, erstarrten, und unbeweglich wie eine Statue wiederholte er in andächtiger Verzückung: »Glücklich über ihr neues Kleid! Das ist eine glänzende Idee!« Er verwandte sie sofort für seine Werbung, und mich ließ er nach Belieben fotografieren. Nach diesem Anfang wollten die anderen großen Häuser nicht nachstehen, und die Arbeit für mein Atelier floß mir nur so zu. Im
allgemeinen widmete ich den hübschen Mädchen, die vor mein Objektiv kamen, ein rein berufliches Interesse. Die Mannequins sind Kreaturen Gottes, die angenehm zu schauen sind, solange man sie nur vom ästhetischen Standpunkt aus, ohne Begier betrachtet, so wie es bei mir der Fall war. Wohl weilte mein Blick zuweilen auf der schlanken Linie eines Beines oder einer gut geformten Brust, ich fing einen schmachtenden Blick auf, erfreute mich an einem schönen Mund, einem graziösen Hals. Das alles bemerkte ich, ohne daß mein Herz in Mitleidenschaft gezogen wurde. Kaum gesehen — schon vergessen. Das mag bei einem jungen, alleinstehenden Mann überraschen, aber ist zum Teil auf das belanglose Geschwätz der jungen Damen zurückzuführen. Keine ihrer Bemerkungen erregte meine Aufmerksamkeit, ich ließ sie plappern, ohne überhaupt zuzuhören. Um die Wahrheit zu sagen, Frauen dieser Art, wie übrigens die meisten Frauen, legen mehr Wert auf das Reden überhaupt, als darauf, ihren Worten einen Sinn zu verleihen. Ich begnügte mich damit, dem Gespräch nach meinen fotografischen Bedürfnissen eine Wendung zu geben. Sie folgten mir mit der Geschicklichkeit eines Akrobaten, der mühelos die verschiedensten Stellungen einnimmt. Nur Manette war schweigsam. Ich will damit sagen, daß sie nur überlegt und um mir zu antworten sprach, was unter Berücksichtigung ihres Alters und ihres Berufes als Mannequin schon eine besondere Eigenschaft bedeutete. Dadurch hob sie sich gleich bei der ersten Aufnahme vorteilhaft von dem Bienenschwarm ihrer Kolleginnen ab. Sie war zwanzig Jahre alt, schlank und geschmeidig, hatte einen schneeigen Hals und runde Schultern. Ihre Beine waren lang, die Brust klein, aber wohlgerundet, ihre Augen fast veilchenblau. Wenn sie lächelte, wurden sie zwischen den Lidern ganz klein, strahlten malvenfarbig und bekamen einen zärtlich-schelmischen Ausdruck, während ihr Mund sich zu einem Bogen der Wollust formte, aus dem die naschhaften Zähne leuchteten. Wie könnte ich jemals den Mund Manettes vergessen? Die Oberlippe war von klassischer Form ohne besonderes Merkmal, während die Unterlippe dem Gesicht den charakteristischen Ausdruck verlieh und sofort den Blick auf sich zog. Diese Lippe war fleischig, ohne wulstig zu sein, war sinnlich, aber doch nicht allzu voll, und ihr frisch durchbluteter Rand nahm sich wie eine unwiderstehliche Woge aus, die sich, gleichsam herausfordernd, dem Ansturm des Mannes, ja, aller Männer, entgegenwarf. Sie rief nach unvermittelter Kapitulation, nach dreister Lust. Sie war wie ein Rechtstitel für Tollkühnheit, für naive
Schamlosigkeit, für freudebringendes Draufgängertum irdischer Liebe. Zu häufig hat man den Frauenmund mit allen Früchten der Erde verglichen, der Manettes erinnerte dennoch an eine vollsaftige Traube, an einen frischen Granatapfel oder an die köstlichen Kirschen des Reiches am anderen Ende der Welt, in dem die Kirschbäume heilig sind, und ich versichere, meine Schilderung ist keineswegs übertrieben. Ich kann wirklich nicht behaupten, daß sich Manette mir an den Hals warf. Ich erwähnte bereits, sie sprach wenig, und ich bemühte mich bei unseren anfänglichen Unterhaltungen, in ihr nur einen außergewöhnlich graziösen Mannequin der Firma Marcel und Maurice zu sehen, der für meine fotografischen Zwecke besonders geeignet war. Aber ihr Schweigen war umso beredter. Wenn sie mich anblickte und sich ihr Mund zu einem liebenswürdigen Lächeln verzog, so geriet ich zwar nicht gleich in Flammen, ich erstarrte auch nicht, aber ich fühlte doch ein gewisses Schwanken meines Gemütszustandes. Da nun meine AufnahmeMethode eine ständige Unterhaltung erforderte, sah mich Manette sehr häufig und mit ständig wechselndem Gesichtsausdruck an, so daß ich bei jeder Sitzung mehr in ihren Bann geriet und mich ihr Bild bis in meine Träume verfolgte. Ich dachte nicht daran, Manette könne jemals den Platz Marie-Jeannes für sich beanspruchen, dazu war der Unterschied zwischen beiden doch zu groß. Auf der einen Seite die heitere Ruhe, auf der anderen ein anmutiger Leichtsinn, bei Marie-Jeanne eine geheime, brennende Leidenschaft, bei Manette der Hang zur Sinnlichkeit, für die ihr Körper geschaffen schien und die sie auch keineswegs zu verbergen suchte. Man konnte sich letzten Endes kaum zwei physisch wie moralisch entgegengesetztere Naturen vorstellen. Marie-Jeanne war der vollendete Typ der gefühlvollen Brünetten, leidenschaftlich, nur einem einzigen Mann angehörend, der für sie die Welt bedeutete, Manette strahlend blond, geschmeidig, immer bereit, allen Zufällen des Lebens zuvorzukommen. Eine Frau kann man nur mit einer zweiten, die ihr völlig gleicht, wirklich betrügen. Marie-Jeanne und Manette hatten überhaupt nichts gemeinsam. Manette zu lieben, bedeutete also weniger, Marie-Jeanne in meinem Herzen zu ersetzen, als ein neues Kapitel zu beginnen, und die Kapitel folgen einander, aber sie ersetzen sich nicht. Heute mache ich mir über diese Betrachtungsweise, die ich damals ehrlich für vertretbar hielt, keine Illusionen mehr. Es dauerte etwa einen Monat, bevor ich meiner Neigung für Manette nachgab. Im Verlauf von fünf oder sechs
Sitzungen hatte sie mir die Geschichte ihres Lebens anvertraut. Sie war die Tochter eines Kontrolleurs der Gasanstalt namens Nicephore Carlier und einer Ankleiderin bei der Oper, Justine Carlier. Ihre Mutter richtete jeden Abend die Tüllröckchen der Tänzerinnen, deren Erfolge sie blendeten. Kein Wunder, daß sie davon träumte, ihre Tochter auch einmal als Star des Ballettkorps zu sehen. Von frühester Jugend an mußte Manette lernen, auf den Fußspitzen zu gehen. »Emma, vergiß nicht, daß deine Beine ein Vermögen sind«, war ihre ständige Redensart. »Mit zwanzig Jahren mußt du mindestens schon Solotänzerin sein.« Die Kleine war auch tatsächlich begabt. Mit zwölf Jahren zählte sie zu den besten Schülerinnen der Tanzklasse, mit fünfzehn kam sie in die erste Quadrille. Schon war, wie es schien, das Engagement als Primaballerina in die Reichweite ihres zierlichen Tanzschuhs gerückt, da unterbrach ein dummer Unfall jäh ihre kaum begonnene Karriere. Dieser Unfall ereignete sich, als sie im Schatten zweier stattlichen Schultern, die einem sachkundigen Liebhaber klassischer Tanzkunst gehörten, auf einem Motorrad ins Grüne fuhr. Der Verehrer schlug sich an einem Baum den Schädel ein, während ein doppelter Bruch des Wadenbeins sie zwang, ein für allemal auf die Kunst Terpsichores zu verzichten. Das Bein wurde zwar wieder geheilt, aber die notwendige Geschmeidigkeit für die Sprünge und Pirouetten war dahin. Sie hatte sich daher um eine Stelle als Mannequin im Hause Marcel und Maurice beworben. Ihre schlanke Figur und die Harmonie ihrer Bewegungen öffneten ihr sofort Tür und Tor. Das Vertrauen, das mir Manette bei der Schilderung ihres Lebens bewies, brachte sie mir näher. Nicht, daß sie sich mir gegenüber besonders kokett gezeigt hätte, ich glaube, die Koketterie war ihre natürliche instinktive Reaktion allen Männern gegenüber; aber sie hatte nicht verfehlt, mich eines Tages so nebenbei darauf aufmerksam zu machen, daß sich ihre Mutter nicht darum kümmere, wann sie nach Hause komme. Sollte das eine diskrete Aufforderung sein? Jedenfalls wurde mir ihre Absicht erst bei einer Wiederholung klar. Als sie mir eines Abends erzählte, sie gehe gern ins Kino und sei auch schon öfter allein oder mit einer Freundin dort gewesen, fragte ich sie, ob ich sie nicht einmal begleiten dürfe. Kaum hatte ich ihr das vorgeschlagen, zwinkerte sie mit den Lidern, seufzte erleichtert und fragte: »Ist das Ihr Ernst?« Ich bemerkte in ihren Augen eine belustigte Genugtuung. »Warum nicht?« fuhr sie fort. Ohne Zweifel hätte ich in diesem Augenblick etwas bei ihr erreichen können.
Aber mir fehlte jede Erfahrung mit Frauen, und Manette verwirrte mich durch ihr Lächeln, während sie sich schminkte. Sie flatterte wie ein Vogel davon, nachdem wir uns für den nächsten Tag verabredet hatten. Ich sehe mich noch in dem dunklen Kino, das ob seiner vollendeten »Odorisation« berühmt war. Die verschiedensten Düfte, wie die einer feuchten Wiese, von Blumen, eines vom Winde bewegten reifen Ährenfeldes, der Geruch von Wagenschmiere, Druckerschwärze, das scharfe Parfüm im Alkoven einer hübschen jungen Frau umschmeichelten nacheinander die Nase des Zuschauers, während die dreidimensionalen Darsteller, entsprechend der Handlung des Dramas, in plastischer Vollendung sich dem Publikum näherten oder von ihm entfernten. Ich wäre übrigens nicht imstande gewesen, nach der Vorstellung zu erzählen, was ich gesehen hatte. Manettes Gegenwart an meiner Seite in der Dunkelheit verwirrte mich zu sehr. Wie ein artiges Kind saß sie in ihrem großen Sessel. Wenn ich mich zu ihr neigte, fesselte mich ein zartes Parfüm, der Duft der Tabakblüte, wie ich später erfuhr. Dieses Parfüm, »ihr« Parfüm, verdrängte aus meiner Nase all die Gerüche, die von der Handlung des Films bestimmt wurden. Es berauschte mich geradezu. Manette schien von dem, was da auf der Leinwand abrollte, sehr gefesselt zu sein. Tat sie nur so? Im Halbdunkel bemerkte man Arme, die um Hüften, oder Schultern lagen, verschlungene Hände, Paare, die Wange an Wange gelehnt nebeneinander saßen, andere, die sich küßten. Wie gern hätte ich es auch so gemacht, aber meine Hände waren eiskalt, mein Kopf glühte, und ich fühlte ein Unbehagen in der Magengegend. Vergeblich rief ich mir alles ins Gedächtnis, was mich berechtigt hätte, unternehmungslustiger zu sein — das eigenartige Lächeln Manettes, ihren verheißungsvollen Mund, ihren Seufzer der Befriedigung, der »endlich« zu bedeuten schien, als ich ihr vorschlug, sie ins Kino zu begleiten. Alles umsonst, meine Hemmungen waren stärker. Der Gedanke an eine mögliche Ablehnung ließ mir das Blut erstarren. Hatte ich mich nicht vielleicht über das Verhalten Manettes getäuscht, das ich da zu meinen Gunsten auslegte? Vielleicht hatte ich es mit einer jener koketten Frauen zu tun, die ihre Befriedigung darin fanden, die Männer ihren Launen zu unterwerfen, ohne ihnen je etwas zu gewähren. Aber als ich mich wieder einmal zu ihr hinneigte, machte sie, wohl ganz unbeabsichtigt, die gleiche Bewegung, ihre Haare streiften meine Wange und strömten ihr Parfüm aus. Ich zitterte vor Entzücken. Vorsichtig suchte meine Hand die ihre, und unsere Finger fanden sich in einem zarten Druck. Ich war selig.
An jenem Abend geschah nichts weiter. Manette erklärte mir später einmal, als ich sie an diesen ersten Augenblick unserer Liebe erinnerte, lachend: »Mein Liebling, während der ganzen Vorstellung habe ich mich gefragt, worauf du eigentlich wartest, um mich zu küssen.« Ich war schüchtern und bedauere es nicht. Die selbstbewußten Männer .können ein Glück, das ihnen natürlich, selbstverständlich und wohlverdient erscheint, garnicht so intensiv empfinden. Für mich war das Glück nicht etwas, worauf ich Anspruch hatte, sondern ein wunderbares Geschenk des Zufalls. Deshalb hatte ich auch Hemmungen, ja geradezu eine fromme Scheu, zuzupacken, als ob es sich um ein Versehen des Schicksals handele. Trotz ihrer zwanzig Jahre war Manette viel erfahrener und fand mich recht schwerfällig. Nach dem schweigenden Eingeständnis unserer wechselseitigen Zuneigung begleitete ich sie nach Hause, ohne eine weitere Annäherung zu wagen. Der Rausch, in dem ich mich befand, kreiste nur um sie. Die Nacht war schön, ein leichter Wind wehte. Über der Stadt des "Lichtes funkelten hoch am Himmel die vertrauten Sterne. An meinem Arm spürte ich den wundervollen, geschmeidigen Körper — ich war einer Ohnmacht nahe. Als wir uns einige Tage später wieder sahen, erwartete ich in ihren Augen wenigstens einen Abglanz der Erinnerung an jenen für mich unvergeßlichen Abend zu finden. Aber Manettes Lächeln war das gleiche wie vor unserem leidenschaftlichen Händedruck, sie erschien ebenso unbefangen und leichtsinnig wie immer, als ob sich nichts zwischen uns ereignet hätte. Die Worte, die ich an sie richten wollte, erstarben mir auf den Lippen. Es wäre natürlich meine Pflicht gewesen, den Faden wieder anzuknüpfen. Vielleicht schätzte Manette meine Diskretion, jedenfalls übernahm sie es nun selbst, die Situation zu entwirren. Nach einer belanglosen Unterhaltung wollte sie sich verabschieden. Schon versank ich in tiefe Traurigkeit. Da schien sie sich eines Besseren zu besinnen. Sie kam zurück, legte einen Finger an die Lipppen, lächelte, ihre Augen blitzten schelmisch, dann sagte sie: »Ich liebe das Kino, aber ich schwärme auch für Ausflüge aufs Land. Und Sie?« Als ich ihr begeistert zustimmte, fing Manette laut zu lachen an. »Ja, warum sagen Sie das denn nicht?« fuhr sie fort. »Und den Wald, lieben Sie den Wald? Ich mag ihn wahnsinnig!« Und so zogen wir denn am nächsten Samstag vergnügt miteinander in den Hochwald von Bois-le-Roi und die Felsen von Franchard. Trotz des Unfalls vor fünf Jahren, der alle Hoffnungen auf die tänzerische Laufbahn begraben
hatte, war sie ausgezeichnet zu Fuß, und ein Weg von zwanzig Kilometern vermochte ihr nichts anzuhaben. Wir stiegen über steile, mit Stechpalmen und Wacholder bewachsene Hänge, liefen durch Sandgruben, wanderten durchs einsame Heidekraut, krochen, um den Weg abzukürzen, zuweilen auf dem Bauch über die glatten Felsen oder schlugen uns durch Gebüsche, deren Dornen uns die Waden zerkratzten und deren Zweige uns ins Gesicht schlugen. Manette war unermüdlich. Es war ein heißer Julitag. Ich sehe noch ihr von der frischen Luft gerötetes Gesicht, ihre schimmernden Augen im grünen Schatten des Laubes, ich höre noch ihr sorgenloses Lachen, mit dem sie das Quaken eines Laubfrosches nachmachte, als sie sich nach einem von ihr vorgeschlagenen Wettlauf ins Moos am Ufer eines glitzernden Teiches hinwarf. Sie glich einer Dryade, einer Waldnymphe, deren glühendes Leben mit dem Rauschen des Laubes, dem Atem der gewaltigen Bäume verbunden war. Im Laufe des Nachmittags wurde die Luft immer schwüler. Der Himmel überzog sich mit schweren, drohenden Wolken. Wir wanderten gerade über einen kahlen Felsenrücken, als plötzlich ein Blitz aus den Wolken fuhr. Das Rollen des Donners dröhnte in mehrfachem Echo. Manette, die vor mir ging, stieß erschrocken einen Schrei aus. Ich fing sie völlig zitternd in meinen Armen auf. Fast gleichzeitig begann es in Strömen zu regnen. Es blieb uns nichts anderes übrig, als irgendwo Schutz zu suchen. Die Auswahl war nicht groß. Wir fanden ihn schließlich unter einer langen Felsplatte inmitten der Steinwüste. Der Boden war mit feinem Sand bedeckt, das niedrige Gewölbe erlaubte nur eine sitzende Stellung, und bei jedem neuen Blitz schmiegte sich Manette ängstlich an mich, versteckte ihr Gesicht hinter meinem Rücken und stammelte: »Oh, cheri! Ach, Liebster!« Welche Erinnerungen! Der Regen stürzte wie ein Wasserfall herab, zerfloß und zerspritzte nach allen Seiten. Aber unsere Höhle schützte uns vor dieser Sintflut, und der dichte Wasservorhang, durch den wir in die verschwommene Landschaft hinausblickten, trennte uns völlig von der Welt. In diesem Felsengewölbe sog ich den frischen, feuchten Duft Manettes immer stärker ein. Ich küßte ihre Haare, ihre Stirn, ihre Augen, den jugendlichen Nacken. Ihr Atem ging immer schneller, sie nahm meinen Kopf in beide Hände, und mein Gesicht spiegelte sich in ihren weit geöffneten Pupillen. Als der Sturm sich legte, lag Manette in meinen Armen, und ich betrachtete sie voll Entzücken. Sie hatte mich in eine unbekannte Welt geführt, in der die
unverdorbene Sinnenlust zu immer neuen Überraschungen führt, in der sich das Empfinden wie eine Blume öffnet, deren Duft in Erstaunen versetzt und betäubt. Von meiner allzukurzen Liebe zu Marie-Jeanne hatte ich die Erinnerung an ein völliges Ineinanderaufgehen, an eine hehre Flamme bewahrt, die Seele und -Körper miteinander verschmolz und in einer einzigen großen Ekstase auflöste. Bei Manette war das alles von Anbeginn ganz anders. Die Seele, selbst das Herz war ausgeschaltet. Über allem thronte das Fleisch und duldete nichts neben sich, es genügte sich selbst und erhob sich, wenn ich so sagen darf, zu einer metaphysischen Höhe. Kurz, aus der Waldgrotte, in der das Rasen des Sturmes zweifellos die natürliche Veranlagung meiner Gefährtin geweckt hatte, ging ich als anderer Mensch hervor. Mir schien, als hätte ich vor diesem Tage einen Teil der Welt überhaupt noch nicht gekannt. Ich entdeckte das Bild der heiteren Sinnenlust, die Fröhlichkeit des sich stets erneuernden Genusses, das hohe Lied des menschlichen Körpers. Holde Manette! Im Autobus, der uns nach Paris zurückführte, hielt ich ihre Hände, ich ließ sie nicht aus den Augen und entdeckte immer neue Schönheiten an ihr. Ein letzter rotgoldener Strahl der untergehenden Sonne hüllte sie ein, ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen, zwischen denen ein schmaler Streifen weißen Emails leuchtete. Ihre feuchten, veilchenblauen Augen verklärte ein mystischer Traum, während ihre Hände meinen ungeduldigen Druck beantworteten. Mein Leben hatte wieder einen Sinn. Manette mußte zu ihrer Mutter heim, und ich kehrte mitten in der Nacht in mein Zimmer zurück. Zum ersten Male, seitdem der Krieg mir alles geraubt hatte, konnte ich die geliebten Bilder ohne Schmerz betrachten. Auf die Qualen, die sie mir so lange bereitet hatten, folgte nun eine sanfte Zärtlichkeit. Marie-Jeanne hatte mich in einer anderen Welt, in einem anderen Leben glücklich gemacht. Es war von nun ab die Aufgabe Manettes, mir die Freuden zu schenken, die mir noch gegönnt waren. Bis auf den heutigen Tag stand ich trotz der unüberwindlichen Schranken des Todes völlig unter dem Einfluß Marie-Jeannes, sie war unbesiegbar geblieben. Nun aber verwies die Liebe Manettes sie plötzlich in die Vergangenheit. Es ist nun einmal so, daß die geliebten Wesen, denen wir nachtrauern, erst dann nichts mehr bedeuten, wenn ihr Platz von anderen eingenommen wird. Welch unvergleichliche, bezaubernde Geliebte war Manette! Niemals war sie verstimmt. An welchem Ort, zu welcher Stunde es auch war, ein heimlicher Kuß, eine kleine Zärtlichkeit, ein Lächeln vermochten ihre Sinne zu erwecken. Sie lud mich zu
einem ununterbrochenen Fest, und ich fand mich voll Leidenschaft ein. Wahrhaftig, ich kannte mich selbst nicht mehr. DAS ENDE DES DRITTEN TAGES Manette widmete mir im allgemeinen ihre Sonntage und zwei oder drei Abende der Woche, aber sie wagte nicht, über Nacht von Zuhause wegzubleiben. »Meine Mutter hält mich für vernünftig«, erklärte sie mir, »und außerdem ist sie allein zu Haus.« Ich war nicht der erste Mann in ihrem Leben, und sie versuchte auch nicht, mir das einzureden. Man kann sich damit abfinden, nicht der erste zu sein, wenn einem versichert wird, daß die anderen ohne jede Bedeutung waren und immer sein werden. Kann man einer Frau einen Vorwurf daraus machen, ihr nicht früher begegnet zu sein? Manettes Liebe war eine einzige, heftige Leidenschaft. Was hätte ich mir Besseres wünschen können? Von drei Abenden, die mir Manette schenkte, gingen wir gewöhnlich einen ins Odorisations-Kino. Wir nahmen eine Loge, um allein zu sein. Die lieblichen oder scharfen Düfte, die der Odorisator verbreitete, versetzten meine Gefährtin in eine Erregung, die sich auch mir mitteilte. An den anderen Abenden trafen wir uns in dem Junggesellenheim, das ich zu diesem Zweck auf dem Montpar-nasse gemietet hatte. Ich hätte Manette auch in meine Wohnung mitnehmen können, aber sie wohnte draußen in Vaugirard, und der weite Weg nach Batignolles würde unsere Zusammenkünfte nur verkürzt haben. Das war zumindest der Grund, den ich ihr angegeben hatte. In Wirklichkeit war mir der Gedanke, Manette könnte das Zimmer betreten, das mit unzähligen Erinnerungen an Marie-Jeanne verbunden war, peinlich, er erschien mir fast wie eine Entweihung. Ich hätte zumindest die Fotos von den Wänden nehmen müssen, wie sollte ich kaltblütig die Tote so verleugnen? Fast einen Monat lang lebte ich nur für Manette. Sie erfüllte mein Dasein, und ich sah die Welt nur durch das strahlende Prisma unserer Liebe. Antoine hatte mich wiederholt telefonisch gebeten, mit ihm essen zu gehen, aber da seine Einladungen jedes Mal mit einer Verabredung zwischen Manette und mir zusammenfielen, sah ich mich gezwungen, abzulehnen. »Na, immer noch melancholisch?« hatte er mich bei meiner letzten Absage gefragt. »Du solltest wirklich Ginette wieder aufsuchen.« »Tausend Dank«, anwortete ich ihm. »Ich habe was Besseres.« Am anderen Ende der Leitung ertönte ein bewundernder Pfiff.
»Und wann werde ich das Vergnügen haben?« »Hm — ich bin mißtrauisch.« Antoine mit Manette bekannt machen? Dazu hatte ich offengestanden gar keine Lust. Ich dachte an seine lockeren Ansichten über die Frauen und befürchtete, daß er meine Freundin auf die gleiche Stufe mit einer Boue-KouSuzy stellen könnte. Manette war für mich der strahlende Mittelpunkt meines neuen Lebens, ich betrachtete ihren Besitz wie eine Gnade des Schicksals. Ihre Gesellschaft ersetzte mir jede andere, und ich war nicht gewillt, sie mit irgend jemandem zu teilen. Aber eines Abends, als sie mich im Atelier zum Essen abholte und wir Arm in Arm fortgingen, traf uns Antoine. Meine wiederholten Ausflüchte hatten ihn veranlaßt, mich aufzusuchen. Der Charme Manettes verfehlte seinen Eindruck nicht. Antoine suchte ihr zu gefallen und ersetzte seine etwas derbe Jovialität durch Liebenswürdigkeit und gute Laune. Er beglückwünschte mich mit verstecktem Lächeln zu meinem guten Geschmack, entschuldigte seine Indiskretion und erklärte, uns nicht stören zu wollen. Da er Manette nun einmal kennengelernt hatte, fehlte jede Veranlassung, ihn zu verabschieden. Er machte auch keine großen Umstände und ging mit uns ins Restaurant. Sein Benehmen unterschied sich an diesem Abend sehr von dem gewöhnlichen mir gegenüber. Er war weder zynisch noch derb, sondern scherzte und erzählte harmlose Witze. Manette lachte gern und schien an dem Gesellschafter gefallen zu finden. »Ist Antoine nicht sympathisch?« fragte ich sie, nachdem er uns verlassen hatte. »Reizend«, erwiderte sie ohne Überlegung. Wir genossen die sternklare Nacht mit ihrem milchigen Licht und lenkten unsere Schritte nach der nahegelegenen Junggesellenwohnung auf dem Montparnasse. Manette schmiegte sich an mich und neigte ihren Kopf, so daß ihre Stirne leise meine Wange berührte. »Das hindert aber nicht, Liebster, daß er uns zwei Stunden gestohlen hat, die uns, uns ganz allein gehörten.« Ich schaute sie trunken an. Von nun ab speiste Antoine ziemlich regelmäßig mit uns, Eines Tages schlug ich ihm in Gegenwart Manettes vor, gelegentlich Boue-Kou-Suzy mitzubringen. Er machte eine abwehrende Bewegung. »Längst erledigt!« sagte er. »Sie scheinen ein schrecklicher Wüstling zu sein«, rief Manette mit strengem Blick. »Solange ich nicht eine verwandte Seele gefunden habe, muß ich wohl
suchen«, entgegnete er lachend. Konnte man glücklicher sein, als ich es damals war? Offengestanden, ich glaube, nein. Mein Glück war so offensichtlich, daß mich Antoine eines Tages seelenruhig fragte: »Na, wann wirst du sie heiraten?« Manette heiraten? Die Frage überraschte mich, und ich gab eine ausweichende Anwort. Aber ich dachte lange über diese Möglichkeit nach. Im ersten Augenblick schien mir der Gedanke an eine Heirat mit Manette ganz, abwegig. Der Tod Marie-Jeannes hatte mich zu hart getroffen, und die Grausamkeit des Schicksals erzeugte in mir einen gewissen Aberglauben gegen die Ehe. Wenn ich Manette heiraten würde, würde ich ständig im Gefühl eines drohenden Unglücks leben. Und dann blieb Marie-Jeanne in meinen Augen ein für allemal »meine Frau«, obwohl die Erinnerung an sie mir nicht mehr den gleichen, heftigen Schmerz verursachte, der mir so lange mein Leben zur Qual gemacht hatte. Wenn ich mich bedenkenlos meinem gegenwärtigen Glück hingeben konnte, so nur, weil es in nichts dem vergangenen ähnelte. Manette meinen Namen geben, hieß sie mit MarieJeanne auf eine Stufe stellen, sie zu einer Rivalin der Toten machen — dieser Gedanke war mir unerträglich. Aber was für Sorgen gingen mir da durch den Kopf? Bezeugte mir Manette nicht eine Liebe, die völlig selbstlos war? War sie nicht bei all unseren Zusammenkünften heiter und leidenschaftlich, wurde unsere Liebe nicht von Mal zu Mal heftiger, weil sie auf einer freien Vereinbarung ohne jede Berechnung beruhte? Ich glaubte es wenigstens und hatte allen Grund, es zu glauben, als Manette mir wenige Tage nach der verfänglichen Frage An-toines bei einem intimen Zusammensein plötzlich sagte: »Stell dir vor, Liebling, man hat mir heute einen Heiratsantrag gemacht!« Ich fuhr hoch, hatte mich aber gleich wieder in der Gewalt und erwiderte ernst: »Nun, und — Manette?« »Ich fand das lustig«, antwortete sie laut lachend. Ich hätte geschworen, daß dieses Lachen nichts verbarg. Es klang durchaus natürlich, selbst seine Lautheit hatte nichts Übertriebenes. Manette besaß eine glückliche Veranlagung. Es genügte so wenig, um sie in heitere Stimmung zu versetzen, und sie wäre wahrscheinlich verlegen geworden, wenn man sie gefragt hätte, was denn an diesem Heiratsantrag so lächerlich sei. War es die Überraschung, der ungelegene Zeitpunkt, oder die Persönlichkeit des Kandidaten? Sie lachte oft, ohne eigentlich zu wissen, warum. Vielleicht, weil das Leben so schön
war, und diese Unbeschwertheit eines Vogels, der singt, weil die Sonne scheint, bildete in meinen Augen ihren besonderen Liebreiz. Aber ich mußte mir sagen, daß hinter dieser Mitteilung möglicherweise eine unbewußte Absicht, ein Anklopfen verborgen war, das ich nicht überhören durfte, wenn ich unsere Liebe nicht in Gefahr bringen wollte. Ob das nun zutraf oder nicht, ich reagierte zunächst nicht, und sie fuhr neckend fort: »Und du fragst garnicht nach dem Namen des Anbeters?« »Doch. Sag ihn schon.« Vielleicht klang meine Stimme etwas unsicher, jedenfalls umarmte sie mich heftig und murmelte ein bißchen heiser: »Sein Name ist belanglos. Er wird uns bestimmt nicht * auseinanderbringen, Liebster.« Dann überschüttete sie mich mit Küssen, daß mir das Blut schneller durch die Adern jagte. Manette machte keine weiteren Anspielungen auf diesen Heiratsantrag, niemals huschte ein Schatten über ihr Gesicht, und ich hatte allen Grund, sie für ebenso glücklich zu halten, wie ich selbst war. Mein Atelier gewann immer weitere Kunden, aber meine Tätigkeit diente nun nicht mehr dazu, die Zeit totzuschlagen oder mich auf andere Gedanken zu bringen, sie bot mir die Möglichkeit, mir das Glück zu verdienen und es durch die wachsenden Einnahmen zu verschönern. Dennoch kam eine Zeit, in der ich daran dachte, meine Lebensweise zu ändern. Des öfteren versäumte Manette unsere Verabredungen. Sie gab allerdings jedes Mal eine plausible Erklärung; ihre Mutter war leidend, oder sie selbst fühlte sich nicht wohl, ein unerwarteter Besuch eines Verwandten hatte sie gegen ihren Willen abgehalten — nun, jede Entschuldigung erscheint einem ungeduldigen Liebhaber annehmbar. Jedesmal, wenn ich nach einer Trennung, die selten länger als zwei Tage dauerte, von weitem ihre schlanke Silhouette erblickte, schlug mein Herz schneller. Wenn sie dann vor mir stand mit ihrem lächelnden Blick, ihrem verheißungsvollen Mund, durchströmte mich ein starkes, geheimnisvolles Fluidum, das meine Lebensenergie immer aufs neue entfachte, und es wurde mir bewußt, daß ich Manettes Gegenwart nicht mehr entbehren mochte. Ich brauchte sie täglich. Und so gewann die Frage einer Heirat immer mehr Gewicht für mich, obwohl ich anfänglich vor diesem Gedanken zurückgeschreckt war. Als ich mir darüber klar geworden war, geriet ich in einen inneren Konflikt, bevor ich mich zu handeln entschloß. Die Erinnerung an Marie-Jeanne wirkte in meinem Herzen nach und lahmte meine Entschlußkraft. Eine Unterhaltung
mit Antoine befreite mich schließlich von meinen Skrupeln. Eines Abends war Manette bei ihrer Mutter geblieben; ich speiste mit ihm in einem Restaurant am Quai Voltaire, das die gesunde Tradition der französischen Küche mit Specksalat und auf Asche gebratenen Wachteln trotz der damals grassierenden chemischen Zubereitung der Speisen hochhielt. Ich hatte Antoine eingeladen. Die Weine, die wir bei dieser Gelegenheit tranken, habe ich vergessen, aber sie waren sicher von hervorragender Qualität. Ich war äußerst vergnügt, keineswegs betrunken, stand aber unter dem Einfluß des rubinroten, edlen Tropfens in unseren Gläsern. Einer der schönen Septembertage mit ihrer frischen würzigen Luft verlosch im rosa Abendlicht. Hinter den Scheiben des Restaurants bemerkte ich auf dem jenseitigen Ufer die Gruppe herbstlich gefärbter Bäume, die auf dem Platz standen, auf dem sich vor den Luftbombardements des vierten Krieges das Gebäude des Louvre erhob. Fünfzehn Jahre waren seither vergangen, fünfzehn Jahre, die Zeit, die ein Baum braucht, um seine kräftigen Äste auszubreiten und seine Daseinsberechtigung zu erweisen. »Es geht alles der Reihe nach«, bemerkte ich zu Antoine. »Nach den Palästen die Gärten, die Wälder. Nach dem Lärm der Menschen das Schweigen der Natur. Sie hat immer das letzte Wort, der Mensch ist nur ein Kind des Zufalls.« Ich hatte diese Bemerkung ifn gleichmütigen Ton eines Mannes gemacht, der zwar das Leben mit nüchternen Augen betrachtet, aber seine Schönheit zu genießen versteht. Antoine verfehlte nicht, mich darauf aufmerksam zu machen. »Du Teufelskerl! Man kennt dich garnicht wieder, man sieht, wie glücklich du bist. Aber wirst du dein Glück auch zu bewahren wissen? Wann heiratest du Manette?« Ich runzelte die Augenbrauen. Schon zum zweiten Male stellte er mir diese Frage. Ich liebte es nicht, selbst nicht von Seiten Antoines, wenn sich jemand das Recht anmaßte, sich in meine Herzensangelegenheiten zu mischen. »Sei nicht bös«, fuhr mein Kamerad fort. »Ich hab dich zuweilen so niedergeschlagen, so ratlos angetroffen, daß ich dich vor einem Rückfall in diesen Zustand bewahren möchte. Nehmen wir einmal an, es würde sich jemand um die Hand Manettes bewerben, was würde sie tun, und was würdest du tun?« Ich antwortete etwas schnell: »Wenn sie deinen Bewerber heiraten will, dann liebt sie ihn und nicht mich. Was könnte ich dagegen tun?« Ich fing an, nervös zu werden, und trommelte
mechanisch mit dem Dessertmesser auf dem Tischtuch herum. Antoine zündete sich eine Zigarette an und sagte: »Du setzt mich in Erstaunen, Willy. Manette hat schließlich das Recht, sich nach der Sicherheit einer Ehe zu sehnen. Wenn du es ablehnst, sie zu heiraten, könnte sie mit gutem Grund vermuten, daß deine Liebe egoistisch ist und du dich der Verantwortung zu entziehen suchst. Und ich sage dir noch einmal, daß du unter diesen Umständen riskierst, sie an den ersten ernsthaften Bewerber zu verlieren.« Ich schüttelte langsam den Kopf. »Jedenfalls danke ich dir für deine Warnung.« Dann versuchte ich zu lachen. Doch der Ernst, der sich auf Antoines Gesicht abzeichnete, beeindruckte mich. Das Lachen erstarrte auf meinen Lippen, und ich zog es vor, das Thema zu wechseln. Aber als wir uns 'an jenem Abend trennten, war mein Entschluß gefaßt. Seit der Erneuerung unserer Freundschaft hatte mir Antoine so viele Beweise seiner Zuneigung gegeben, daß ich seine Ansichten nicht in den Wind schlagen konnte. Die heimliche Liebe, die er seinerzeit für Marie-Jeanne empfunden hatte, verlieh seiner Meinung noch mehr Gewicht. Er urteilte unparteiisch, ihm erschien eine zweite Heirat mit Manette nicht als Verleugnung Marie-Jeannes, und ich entschloß mich, die Dinge ebenso zu betrachten wie er. Ich sah Manette am nächsten Tag wieder. Sie war so lebhaft und guter Dinge, daß ich die Frage der Heirat nicht anzuschneiden wagte. Aber ich hatte mir etwas vorgenommen, das sie unbewußt auf eine letzte Probe stellen sollte. Ich schlug ihr eine mehrtägige Fahrt in die Gegend von Avalion vor. Allein mit ihr in der Umgebung, in der ich so glücklich gewesen war, würde ich viel eher dazu geneigt sein, eine derartige Verpflichtung auf mich zu nehmen, die meiner Meinung nach durch diesen Rahmen noch feierlicher erscheinen mußte. Mein Vorschlag versetzte sie in Begeisterung. Oh, die Firma Marcel und Maurice hätte es nur wagen sollen, ihr den dreitägigen Urlaub »für die Beerdigung ihrer Tante in der Provinz« zu verweigern! Die Pflichten der Familie gegenüber sind heilig! Mit trauriger Miene, ihr Lachen mühsam unterdrückend, nahm sie die Worte des Beileids seitens des rothaarigen Herrn Marcel entgegen. Unsere Reise nach Avalion verlief ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Als wir auf der Place Vauban zu der Stelle kamen, auf der einmal das Hotel zur Post mit seiner ehrwürdigen Fassade, der Erinnerung an Napoleon und dem Hof mit der Galerie gestanden war, das jetzt nur noch
einen anonymen Zement-Trümmerhaufen bildete, wurde ich nicht einmal so stark erschüttert. Von dieser Einzelheit abgesehen, schien sich in der Stadt seit meinem letzten Besuch vor mehr als zehn Jahren kaum etwas geändert zu haben. Es kam mir vor, als wolle mir das Schicksal klarmachen, daß meine Vergangenheit tot sei, daß ich mich nicht mehr um sie quälen solle, da die einzigen Zeugen meines ehemaligen Glückes ihr früheres Aussehen verloren hatten. Manette an meiner Seite mit ihren tänzerischen, graziösen Schritten, ihrem zwitschernden Lachen, dem Duft, den klaren Blicken ihrer Lebhaftigkeit machte aus mir einen anderen Menschen und aus dem vertrauten Bild meiner Geburtsstadt ein anderes Bild. Diese Veränderung, die ihr strahlendes Wesen überall hervorrief, bewies mir eindringlich, daß ich ohne Bedenken mit ihr ein neues Leben beginnen könne. Ich hatte keine Lust mehr, noch länger das holprige Pflaster von Avallon zu treten, und unternahm nur noch eine kurze Wallfahrt zum Cafe Durand, in dem sich inzwischen ein Schneider etabliert hatte. Die Fassade war neu gestrichen worden, und von der Ausstattung aus meiner Jugendzeit war nichts übrig geblieben. Die Melancholie, die ich über diese Tatsache empfand, ging nicht sehr tief. Nur wenn jede Hoffnung auf ein künftiges Glück geschwunden ist, empfindet der Mensch die Trauer um das vergangene wirklich schwer. Ich besaß mehr als eine bloße Hoffnung, ich besaß in Manette die lebendige Gewißheit eines neuen Glücks. Sie richtete sich in unserem Hotelzimmer für den Ausflug her, den wir am Nachmittag unternehmen wollten. In Erinnerung an diese drei wundervollen herbstlichen Tage unter einem silbernen Himmel, in den frischen Tälern mit ihren goldenen Bäumen schnürt sich mir die Kehle zusammen. Ich höre noch die Bächlein zwischen den Felsen rauschen, ich sehe noch die Geliebte in ihrer kleinen, grauen Baskenmütze, verträumt, lachend, sehnsüchtig und lebhaft. Bilder steigen in mir auf: Manette auf der Brüstung einer kleinen Steinbrücke mit baumelnden Beinen im Strahl der Sonne, Manette mir gegenüber am Tisch eines kleinen Dorfwirtshauses, das nach Tannenzapfen und geräuchertem Schinken roch, Manette im Boot, mir beim Rudern zusehend, die Augen voller Glanz, mit ihren hübschen weißen Händen die Knie umschlingend. Ich sehe sie ausgestreckt auf einem Bett von Moos und welken Blättern am Fuße eines alten Eichbaumes, in dessen Ästen ein einsamer Vogel sang. Ich bin gerade dabei, das Boot an einem jungen Baum festzumachen, sie ruft mich leise, ihre Augen sind geschlossen, sie streckt sich, ihre Brust spannt sich unter dem
leichten Stoff, ihre Lippen zittern in Erwartung — Manette, ist. es möglich, daß du mich in dem unbekannten Reich, in dem nun dein Schatten schwebt, weder siehst noch hörst? Bist du in diesem Augenblick, in dem ich mir die seligen Stünden unserer Liebe zurückrufe, nicht bei mir? Ich schließe die Augen, ich sehe dich vor mir, ich rufe dich voll Angst und Begehren — Manette, oh, antworte mir! Die Erregung reißt mich hin; denn ich komme zum Wendepunkt meines Geschicks, zu dem großen Wirbelsturm, der Manette, mich selbst, mein Land und das ganze traurige Europa mit sich in den Abgrund fegte. Der dritte Tag war zu Ende, und wir hatten nach einem Marsch von zwanzig Kilometern im reizenden Tal von Cousin den Rückweg angetreten. Manette schritt ohne Zeichen von Müdigkeit wacker voran. Ich beugte mich zuweilen zu ihr hin, um sie auf ihre glatte Schläfe oder auf ihren warmen, duftenden Nacken zu küssen. Die Sonne sank und hinterließ ein breites, rotes Band am Horizont; es wurde kühl. Alles war Ruhe und Frieden. Um unseren Weg abzukürzen, kletterten wir durch einen Steinbruch. Als wir herauskamen, mußten wir feststellen, daß wir die Richtung verloren hatten. Wir kehrten zurück, ohne den richtigen Weg zu finden. Die Dunkelheit brach herein. Wir setzten uns einen Augenblick in eine Bretterhütte, die als Werkzeugschuppen diente. Ich schlug Manette vor, die Nacht unter diesem provisorischen Dach zu verbringen. Außer Schaufeln und Picken fand sich noch ein Haufen Säcke vor, mit deren Hilfe wir uns ein zwar etwas spartanisches Lager herrichten konnten, das uns aber durch die Teilung angenehm würde. »Warum nicht?« sagte Manette ruhig. Doch ich besann mich im Hinblick auf Manettes Müdigkeit, die sie allerdings nicht zugeben wollte, eines anderen. Als wir den Steinbruch verließen, begegneten wir" einem Förster, der über unser Erscheinen nicht wenig erstaunt war, uns aber freundlich den richtigen Weg zeigte. Wie sehr bereue ich es heute, meiner ersten Eingebung nicht gefolgt zu sein. Ich habe mir oft vorgestellt, was diese Nacht mit Manette in dieser Hütte im Steinbruch mitten in der Einsamkeit des Waldes hätte sein können. Wir wären auf einer einsamen Insel gewesen, das Rauschen der herbstlichen Blätter hätte uns die Stimme des Meeres ersetzt. Der Wahnsinn der Menschen würde uns dort nicht berührt haben, wir hätten eine Nacht länger die Illusion eines geborgenen Glücks gehabt. — Manette war kaum zwanzig Jahre alt, und ich selbst war noch jung genug; wir hätten beide den nächsten Morgen ohne Enttäuschungen überstanden, ohne die entstellten Gesichter, die geröteten Augen, die belegte Zunge, mit denen sich
bei zunehmendem Alter der fehlende Schlaf oder der übermäßige Genuß rächen. O letzter Flügelschlag der Friedenstaube in der Abenddämmerung! Mein Entschluß war gefaßt. Bevor wir den Autobus bestiegen, der uns in rasendem Tempo über die Autostraße Porte Doree-Morvan nach Paris bringen sollte — der Zug, mit dem wir gekommen waren, fuhr zu langsam —, wollte ich Manette bitten, meine Frau zu werden. Ich war unsagbar glücklich. Unsere Schritte klangen im gleichen Rhythmus auf der Landstraße, die nach frischem Teer duftete, der Vollmond strahlte in silberner Helle, in der unsere Schatten vor uns hertanzten. Die Nacht war so schön, daß wir sie durch Worte nicht zu stören wagten. Etwas Merkwürdiges riß mich plötzlich aus meiner stillen Schwärmerei. Als wir in die Stadt kamen, lag sie völlig im Dunkeln. Alle Fensterläden waren geschlossen, kaum, daß hie und da ein Lichtstrahl durch einen Spalt drang. Ich hielt den ersten Menschen an, der uns entgegenkam. Es war ein kleiner, gebeugter, bärtiger Greis, der unruhig mit seinem Spazierstock auf das Pflaster stieß. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich zu ihm, »streiken die Elektrizitätsangestellten von Avallon?« Er warf mir einen unwilligen, prüfenden Blick zu. »Der Krieg genügt Ihnen wohl noch nicht?« fuhr er mich an, daß man sein Gebiß klappern hörte. Er stapfte davon und stieß noch schneller mit seinem Stock auf die Erde. Mein Gesicht mußte blaß geworden sein, ängstlich blickte ich zu Manette hinüber. Krieg! War das möglich? Noch ein Krieg? Der alte Narr machte sich über uns lustig oder war verrückt. Mit zwanzig Jahren war ich in den Krieg gezogen, und mein ganzes Glück war durch ihn zerstört worden. Wenn jetzt noch ein Krieg ausbrach, sollte ich ihm dann wieder mein Glück opfern? Wenn sich die Nachricht bestätigte, wäre mein Heiratsplan zum Scheitern verurteilt. Konnte ich unter diesen Umständen wagen, Manette meine Absichten mitzuteilen? Man soll das Schicksal nicht so herausfordern. »Was hat er gesagt?« fragte eine zitternde Stimme neben mir. Meine Gefährtin drückte sich mit flehendem Blick an mich, als hätte sie mich um Schutz und Hilfe gegen die finsteren Mächte bitten wollen, die unsere Liebe bedrohten. Ich streichelte schweigend ihre Hand. Über die Weltereignisse war ich schlecht unterrichtet, und gar erst seit meiner Freundschaft mit Manette..Ich hörte kaum den Rundfunk, las selten die Zeitung, und nie wäre mir der Gedanke an ein neuerliches europäisches Blutbad gekommen. Aber die Dunkelheit, die Stille in den Straßen, die blinden Fenster, das Zittern Manettes an meinem Arm, mein eigenes geheimes
Schaudern — nein, ich konnte mir keine Illusionen mehr machen: die Würfel waren gefallen! Ein Motorengeräusch — plötzlich tauchte ein Auto vor uns auf. Die abgeblendeten Scheinwerfer verbreiteten ein schwaches Licht, und aus einem Lautsprecher auf dem Dach des Wagens ertönten folgende Worte: »Kehren Sie sofort nach Hause zurück. Verhängen Sie alle Fenster und Ausgänge, richten Sie die Luftschutzräume her, lassen Sie sich nicht überraschen.« »O Willy!« seufzte Manette auf. »O Willy, Liebster!« Sie warf sich mir an den Hals und umarmte mich heftig. Dann schluchzte sie und bedeckte mich weinend mit Küssen. M.V. Glücklich Liebende sind so mit sich selbst beschäftigt, daß sie die Welt ringsumher vergessen, die wie ein Drache auf seinen Krallen um sie herumschleicht, der seine gepanzerten Ringe entfaltet und sein tödliches Gift verspritzt. Der Krieg war plötzlich da, ohne daß ich ihn hätte kommen sehen, ich wollte nicht einmal die Gründe für seinen plötzlichen Ausbruch wissen. Er war da, und man mußte diese Plage der Menschheit mit zusammengebissenen Zähnen und Wut im Herzen über sich ergehen lassen. Man hatte lange Zeit geglaubt — ich selbst erwähnte das erst vor kurzem —, daß die Ursachen der Kriege ausschließlich auf wirtschaftlichem Gebiet zu suchen seien, daß die erhöhten Bedürfnisse des Angreifers ihre Befriedigung durch einen Raub der Sabinerinnen, die Plünderung einer Stadt oder die Annexion einer Provinz fänden und daß dabei immer eine Verschwörung der großen Händler die Hauptrolle spiele. Heute sehe ich eine metaphysische Ursache des Kriegswahnsinns, etwas, das mit der geistigen Verfassung der Menschen in engstem Zusammenhang steht, ein Naturgesetz, dem zufolge der Mensch das Recht, glücklich zu sein, überhaupt nicht oder nur für eine kurze Zeitspanne hat. Die Herren des Schicksals lassen ihn das Glück nur sehen, um ihm dessen Genuß sofort zu entziehen. Die von der Vorsehung begünstigten Söhne Adams glaubten an die Morgenröte einer besseren Zeit, aber ihre Nachfahren büßen für sie. Man muß leider feststellen, daß jede Zivilisation in dem Augenblick zu Grunde geht, in dem sie ihren Höhepunkt erreicht hat, und daß die Menschen in das ursprüngliche Nichts zurücksinken, sobald sie nur ein Körnchen der Lebensfreude genossen haben, zu der sie sich geschaffen fühlen. Babylon, Sardes, Theben, Cuzco, die Khmers und die Han, Tsin Che
Houang-ti, Ramses, Alexander, Cäsar, Kubilai, Montezuma trügen zur Zeit ihres Triumphs schon den Keim des Untergangs in sich, Eine dunkle, unbezwingliche Kraft untergräbt die Meisterwerke menschlichen Geistes. Dieser unsichtbare Bohrwurm nagt an den Grundmauern des stolzesten Gebäudes bis zur Zerstörung, und eine Staubwolke, die in das Reich der Vergessenheit sinkt, ist neben Spott und leeren Worten alles, was übrig bleibt. Als der fünfte große Krieg über Europa hereinbrach, folgten die Ereignisse einander schneller, als es sich unsere Schulweisheit träumen ließ, und die Zeit war, vom Sirius aus gesehen, reif zum Untergang. Der Sturm riß mich gleich Millionen anderer mit sich fort, und es kam vor allem darauf an, der Naturkatastrophe lebendig zu entrinnen. Inmitten des allgemeinen Wahnsinns war ich fest entschlossen, mich gegen die Zerstörung meines Glückes mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen. Trotzdem ging ich nicht so weit, mich vom Kriegsdienst zu drücken, und erschien pünktlich zur festgesetzten Stunde in der auf meiner Einberufung angegebenen Kaserne. Dort blieb ich einen Monat lang, ohne mein Los allzu hart zu empfinden, denn ich konnte Manette mehrmals in der Woche sehen wie vor der Reise nach Avallon. Aber in dieser trügerischen Gunst des Schicksals zeichnete sich schon die Katastrophe ab. Ich habe seitdem oftmals in Gedanken die Etappen dieses kurzen Krieges durchlebt, der nichts mit den vorhergegangenen gemein hatte und in seiner Kürze der schrecklichste werden sollte, den die Menschheit je erlebt hat. Alle Völker Europas waren vom ersten Tag an beteiligt, und die Welt war wie in den früheren Kriegen in zwei Parteien gespalten, nur mit dem Unterschied, daß die angegriffenen Völker in ihrer Ahnungslosigkeit vorher kein Bündnis geschlossen hatten. Sie wurden völlig überrascht. Am selben Tage waren über drei Hauptstädten, darunter auch über Paris, ganze Wolken schwerster Raketenbomber erschienen. In ein paar Stunden fanden Tausende unter den Trümmern der zerstörten Häuser ihr Grab. Das Drama hatte begonnen, als ich im Wald von Avallon mit dem Gedanken- umging, Manette um ihre Hand zu bitten. Am nächsten Morgen nach dem Angriff organisierte man alle Kräfte des Landes für die Abwehr. Die Digamma-Kasematten existierten noch, sie wurden sogar vermehrt und derart vervollkommnet, daß ihr Wall für alle Arten von Flugzeugen, die Raketenflugzeuge inbegriffen, nicht mehr überfliegbar war. Dem Feinde war das nicht unbekannt, und er wollte durch das Überraschungsmoment einen großen Schlag führen, der seine Gegner kampfunfähig machen sollte. Aber so niederschmetternd der Anblick der
vielen zerstörten Häuser und das furchtbare Blutbad auch wirkten, der Zweck wurde nicht erreicht. Die angegriffenen Länder schlössen sich nur umso enger zusammen, und der Krieg schien sich zu verlängern, ohne daß ein Ende abzusehen war. Er zerfiel in drei Phasen. Die erste war nach dem eben erwähnten Bombardement eine Periode des Gewehr-bei-Fuß-Stehens, bei der die Armeen sich auf beiden Seiten im Gefühl ihrer Unüberwindlichkeit gegenüberlagen und nur hie und da nach früherer Gewohnheit einen kurzen Feuerüberfall veranstalteten, um ihre Gegenwart zu demonstrieren. Ich blieb während dieser ganzen Zeit in Paris und war in einem Büro damit beschäftigt, den Zustand eines Materials zu prüfen, das noch aus dem dritten Weltkrieg stammte und ziemlich veraltet war. Die Bomben hatten das Atelier des »natürlichen Porträts« verschont, aber mein Junggesellenheim auf dem Montparnasse war nur noch ein Schutthaufen und ein Stück Erinnerung. Ich empfing also Manette in meinem Zimmer auf dem Boulevard des Batignolles, aus dem ich die Bilder Marie-Jeannes entfernt hatte, und entschuldigte mich vor mir selbst damit, daß ich sie vor einem eventuellen neuen Bombardement in Sicherheit bringen müsse. Ich habe oft sagen hören, daß große allgemeine Katastrophen, und in erster Linie die Kriege, vor allem die Frauen durch eine instinktive Reaktion ihrer Sinne für die Freuden der Liebe besonders empfänglich machen. Lag es an unserer Übersiedlung von Montparnasse nach Batignolles? Manette erschien mir im Gegenteil nicht mehr so temperamentvoll, so hingebend wie in den Zeiten vor dem Krieg. Ich fühlte bei ihr eine gewisse Zurückhaltung, eine Zerstreutheit, die man natürlich auf die ständige Bedrohung, die über uns schwebte, auf die Unsicherheit, mit der man dem nächsten Tag entgegensah, zurückführen konnte. Übrigens hatte sie der Krieg schon unmittelbar getroffen, das Haus Marcel und Maurice war bei dem Bombenangriff zu Staub zerschmettert worden, und da sie infolgedessen ohne Stellung war, verschaffte ihr Antoine auf meine Veranlassung den Posten einer Sekretärin im Luftfahrtministerium, wo er allmächtig war. Diese Beschäftigung erschien Manette nicht sehr verlockend, aber ich' hatte ihr zugeredet, anzunehmen, und sie widmete sich nun ihrer neuen Arbeit mit einem Eifer, der mich nicht wenig in Erstaunen versetzte. Paris ähnelte zu Beginn des Krieges schon nicht mehr dem glücklichen Paris der Friedensjahre. In allen Stadtvierteln waren Kolonnen von Erdarbeitern mit dem Aufräumen der Trümmer beschäftigt. Die ewige Unruhe hatte eine neue Sorgenfalte auf den
Gesichtern, einen ernsteren Blick, einen schärferen Zug um den Mund, weißes Haar hervorgerufen. In den Gehirnen setzte sich der Gedanke fest, daß es nun für immer mit der Lebensfreude vorbei sei. Ich für meinen Teil wies solche Gedanken weit von mir. In Manettes Armen suchte ich die Zeit, die Welt, ja mein eigenes Dasein zu vergessen. Und dennoch fühlte ich ein tiefes, gewissermaßen physisches Unbehagen. Obwohl praktisch die Luftangriffe nicht mehr zu fürchten waren, hatte man doch wie in den früheren Kriegen die totale Verdunklung der Stadt bei Einbruch der Dämmerung angeordnet, und Paris glich in den mondlosen Nächten einem See aus Tinte und Teer, in dem unruhige Schatten tastend umherglitten. Die Regierung entfesselte vergeblich ihre pathetische Beredsamkeit in zahlreichen Rundfunksendungen, niemand hörte auf ihre rhetorischen Übungen. Der vorige Krieg war noch zu nahe und hatte vier Jahre gedauert. Man befürchtete, der jetzige könnte der Beginn einer langen Periode der Angst und des Schreckens sein, die man nicht mehr mit der gleichen Fassung ertrüge. Viele Franzosen teilten mein Empfinden, daß gar kein neuer Krieg begonnen hätte, sondern daß wir nach einem kurzen Waffenstillstand, der wie ein Traum verflogen war, im fünften Jahr den unterbrochenen Streit fortsetzten. Inmitten dieser mehr oder weniger zugegebenen, aber allgemein verbreiteten Niedergeschlagenheit schienen sich gewisse Kreise für berechtigt zu halten, noch mehr als vorher ein vergnügtes Leben zu führen. Restaurants, Theater, odori-sierte Kinos waren überfüllt. Antoine, dem seine Funktionen eine nahezu unbeschränkte Freiheit ließen, machte von allen Möglichkeiten den ausgiebigsten Gebrauch. »Überleg dir das doch mal«, sagte er zu mir, »entweder geht der Krieg schief aus, dann wird's höchste Zeit, daß man sein Leben noch ein bißchen genießt, oder er geht gut aus, warum soll man dann Trübsal blasen?« Die Kraft seiner Logik zwang mich, den Mund zu halten. Da ich viel weniger freie Zeit hatte als er, schlug mir mein Kamerad vor, Manette ins Theater zu führen, wenn die Umstände es mir nicht erlaubten, sie selbst dorthin zu begleiten. Ich dankte ihm für den guten Einfall. Es leuchtete mir ein, daß Manette nach einem ganzen langen Tag voller Arbeit, noch dazu einer Arbeit, an die sie bei allem guten Willen nicht gewöhnt war, Zerstreuung brauchte. Die beiden gingen also öfter zusammen aus, und Manette berichtete mir immer ausführlich, was sie erlebt hatte. »Du bist ein unbezahlbarer Freund«, sagte ich eines Tages zu Antoine, »aber du verstehst dein Geschäft. Du siehst Manette den lieben langen Tag, so oft du willst, und dann noch abends öfter, als es dir eigentlich
zukommt.« »Bist du etwa eifersüchtig?« fragte er und zog die Augenbrauen hoch. Es war nicht die Rede davon, daß ich auf Antoine eifersüchtig war, aber am nächsten Tag bat ich Manette, mich ihrer Mutter vorzustellen. Sie sah mich fassungslos an. »Aber warum denn, Willy?« »Weil ich dich nach dem Krieg heiraten möchte, liebste Manette!« Ich hatte den Eindruck, als ob ihr plötzlich das Herz stehen bliebe. »Mich heiraten?« wiederholte sie und schöpfte tief Atem. »Wie lieb von dir!« Sie schlang den Arm um meinen Hals, ihre Lider zitterten, sie neigte die Stirn auf meine Schulter, und unsere Wangen berührten sich. So verharrten wir einige Augenblicke in einem Schweigen, das beredter als alle Worte war. Dann sagte sie sanft: »Du darfst mir nicht bös sein, wenn ich dich nicht sofort meiner Mutter vorstelle, Willy. Der Krieg, die Aufregung des Bombardements, bei dem sie ganz allein zu Haus war, haben sie sehr angegriffen. Sie hütet das Zimmer und kann keine Besuche empfangen, auch keine angenehmen wie den deinen. Wir wollen warten, bis es ihr besser geht.« »Gut, warten wir«, stimmte ich zu und löste mich aus ihrer Umarmung. Einige Tage später begann die zweite Phase des Krieges. An der ganzen Front fiel auf die französischen Kampflinien ein Regen seltsamer, völlig geräuschloser Geschosse. Was unsere Truppen am meisten verwunderte, war die Tatsache, daß der Abschuß dieser Projektile mit keiner Detonation verbunden war und daß sie beim Aufschlagen nicht explodierten. Etwa eine halbe Minute, nachdem sie den Boden berührt hatten, vernahm man ein leises Knacken, ohne daß irgendeine weitere Wirkung zu beobachten war. Die französischen Soldaten, von Natur aus spöttisch veranlagt und selten in die Möglichkeit versetzt, diese Eigenschaft zur Geltung zu bringen, zogen das wirkungslose Bombardement zunächst ins Lächerliche. Das Pulver der Herren da drüben schien etwas feucht zu sein. Warum kratzten sie nicht lieber den Salpeter von den Mauern wie ihre großen Vorfahren Anno 93? Oder hatten sie vielleicht ihren empfindlichen Ohren zuliebe das unexplodierbare Pulver erfunden? Wie schade, daß sie nicht gleichzeitig den Krieg ohne Soldaten und ohne Tote erfunden hatten, oder einen Ersatzkrieg mit Papierhelmen und Holzsäbeln? Würden sich die Menschen nicht nötigenfalls mit einem Scheinkrieg zufrieden geben, um die Schaumschläger und Hetzer zu beruhigen und die Pantoffelhelden für einige Zeit von ihren Hausdrachen zu befreien? (Ganz abgesehen davon, daß sie wie bei einem richtigen Krieg mal
wieder die männliche Kameradschaft spüren würden, die so selten den Augenblick überlebt, in dem die Uniform ausgezogen wird, und an die sie selbst nach den blutigsten Ereignissen mit geheimem Bedauern zurückdenken.) Die Witze dauerten nicht lange. Vierundzwanzig Stunden nach dem ersten geräuschlosen Bombardement wurden bei einem nächtlichen Handstreich auf die feindlichen Stellungen die Abschußvorrichtungen entdeckt, die mit so viel Diskretion ihre lächerlichen Geschosse zu uns herüberschickten. Ihre Ahnen waren die Belagerungsgeräte der Griechen und Römer, sie bildeten ein Mittelding zwischen Schleuder-und Wurfmaschine, und ihre Tragweite betrug unter den günstigsten Verhältnissen etwa tausend Meter. Man zerbrach sich den Kopf darüber, was der Feind wohl mit diesen Dingern beabsichtigte; da machte ein Bataillonsarzt, vor dessen Füßen ein Geschoß, ohne zu zerplatzen, niedergefallen war, eine interessante Entdeckung. Dreißig Sekunden nach dem Aufschlagen des Projektils erfolgte das übliche leise Knacken, und der Arzt beobachtete, wie gleichzeitig ein ganz feiner Nebel, den er dadurch bemerkte, daß zufällig ein Sonnenstrahl auf diese Stelle fiel, fächerförmig aus einer winzigen Öffnung im Geschoßmantel herausströmte. Nun ging ihm ein Licht auf. Er zog sofort Gummihandschuhe an und schützte sein Gesicht durch eine Operationsmaske. Dann wickelte er das Geschoß in sterilisierte Watte und schaffte es ins Armee-Laboratorium. Inzwischen hatte er folgende mysteriösen Buchstaben entdeckt, die auf dem Geschoßkörper aufgemalt waren: M. V. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatten die Biologen des Armee-Laboratoriums festgestellt, daß eine kleine Kapsel, die im Innern des Geschosses angebracht war, noch meßbare Spuren zweier Blutsera enthielt, und zwar rührte das eine von der Mücke Anopheles costalis, das andere von der Fliege Glossina gambiense her, die mit ihren schrecklichen blutzersetzenden Bakterien die Verbreiter des Sumpffiebers und der Schlafkrankheit waren. So begann der Mikrobenkrieg. Die erste Reaktion der Gelehrten war völliger Unglaube. Bislang war man der Meinung gewesen, die Laveransche Haemamoeba und das Geißeltrypanosom, das heißt die Erreger des Sumpffiebers und der Schlafkrankheit, könnten nur durch den Stich bestimmter Insekten auf den Menschen übertragen werden. Auf welchem Wege hätten also die Haemamoeba und das Trypanosom des M.V.Geschosses in die Blutbahn der Menschen gelangen sollen? Der Bataillonsarzt, dessen Beobachtungsgabe die Entdeckung des Mikrobennebels zu verdanken war, war auch der erste, der den Ansteckungsvorgang
feststellte. Jedes Mal, wenn ein Geschoß unter die Mannschaft seiner Einheit fiel, untersuchte er sorgfältig alle Soldaten, von denen er annehmen konnte, daß sie mit dem ansteckenden Pulver in Berührung gekommen waren. Am Morgen des dritten Tages entdeckte er auf der Wange eines Korporals, der zu den zweifelhaften Fällen gehörte, eine leichte Entzündung. Ein Abstrich, den er sofort von der eitrigen Stelle machte, zeigte unter dem Mikroskop, daß die Entzündung von dem Spritzer eines metallischen Pulvers herrührte, das mit dem bloßen Auge kaum feststellbar war, von dem aber im Zellgewebe des Korporals noch einige spitze Kristalle steckten. In den durch das Metall hervorgerufenen Rissen bewegten sich bereits die Trypanosomen in voller Freiheit. Kaum hatte der Arzt im Dienstweg seinen Bericht an das höhere Kommando geschickt, als von der ganzen Front unzählige schwere Ansteckungsfälle gemeldet wurden. Pest, Cholera, spinale Kinderlähmung, Tetanus, Tollwut, Typhus, gelbes Fieber, Amöbenruhr, Kala-Azar, Wechselfieber und andere Tropenkrankheiten gehörten in vielen Fällen zu den gemeldeten Erkrankungen. Unterdessen regneten die M.V.-Geschosse — man stellte fest, daß diese Buchstaben Mikrob Viktoria bedeuteten — weiter auf unsere vorderste Linie, und die Situation verschlechterte sich von Stunde zu Stunde. In diesem Augenblick— um auf meinen inmitten der ungeheuren Katastrophe belanglosen und nebensächlichen Fall zurückzukommen — in diesem Augenblick also versetzte man mich von meinem albernen Beamtenposten zu Professor Balanche, der den Lehrstuhl für Mikrobiologie am Institut de France innehatte und zum Chef der Laboratorien des Militärgouvernements von Paris ernannt worden war. Wem oder welchem Umstand verdankte ich wohl diesen Wechsel? Vielleicht einem einfachen Irrtum; denn Antoine versicherte mir immer wieder, nichts damit zu tun gehabt zu haben, und ich kann nicht annehmen, daß meine Eigenschaft als Fotograf, selbst als Erfinder des »natürlichen Porträts«, mich für den Posten empfohlen hätte. Wie dem auch sei, dieser unerwartete Wink des Schicksal sollte mir das Leben retten, aber ich möchte nach meinen Erfahrungen mit den Menschen und der Situation, in der ich mich nun befinde, keineswegs behaupten, daß es zu meinem Besten geschah. Wenn ich zu wählen gehabt hätte, würde ich den Himmel bestimmt nicht angefleht haben, mich zum Zeugen dessen zu machen, was ich noch erleben sollte. Acht Tage nach dem Beginn der Mikrobenoffensive trat ich also als Laborant meinen Dienst bei Professor Balanche an. Das Personal bestand aus etwa dreißig Personen, die
in weißen Kautschuk-Kitteln, Hauben und Masken durch die gekalkten, lebhaft nach Jodoform riechenden Säle eilten. Diese unermüdlichen weißen Gespenster drängten sich mit einer geradezu religiösen Verehrung um Gaston Balanche, die der große Gelehrte auch verdiente. Wenn es einen Menschen in Frankreich gab, der dieser Epidemie Herr werden konnte, die das ganze Land zu verwüsten drohte, dann war er es. Seine Arbeiten über die filtrierbaren Virusarten stellten ihn auf den ersten Platz unter den Forschern. Kurz vor Beginn des Krieges hatte eine indiskrete Presse von einer neuen außergewöhnlichen Entdeckung Balanches gesprochen, vom Panvaccin, das den Organismus zur dauernden Abwehr aller Erreger von Infektionskrankheiten befähigen sollte. Er hatte diese Nachricht übrigens sofort dementiert: seine Forschungsarbeiten bewegten sich wohl in der Richtung, die von den schwatzhaften Reportern angegeben wurde, aber eine wissenschaftliche Entdeckung läßt sich nicht einfach übers Knie brechen wie ein Zeitungsartikel; er war noch weit vom Endergebnis seiner Untersuchungen entfernt, und genügt überhaupt ein Menschenleben, um ein Werk zu vollenden, das in so weitem Maß von Zufällen abhängig ist? In Wirklichkeit hatte Gaston Balanche sechs Monate vor Kriegsbeginn die ersten Versuche mit seinem Panvaccin an Hunden, Ratten und Meerschweinchen gemacht. Nach einer Reihe ermutigender Ergebnisse waren unerwartet mehrere Versuchstiere, deren Widerstandskraft gegen die Infektion zu allen Hoffnungen berechtigte, gestorben, und zwar alle auf dieselbe Weise, durch eine plötzliche, nicht aufzuhaltende Blutung. Zum gleichen Zeitpunkt stellte der Professor das Verschwinden Hermann Nicholls' fest, eines seiner besten Schüler, und mit ihm waren zwei Nährbouillons mit Kulturen für die Versuche verschwunden. Die Gleichzeitigkeit dieser Tatsachen ließ über die Zusammenhänge keinen Zweifel: Hermann Nicholls hatte die Kulturen gestohlen. Gaston Balanche weigerte sich trotzdem, eine Anzeige zu erstatten. Der Gauner hatte Frankreich verlassen und sich vermutlich in die Schweiz begeben, sein Geburtsland, wie er wenigstens behauptete. Der Gelehrte zog es vor, statt die Aufmerksamkeit auf den »bedauerlichen Vorfall«, wie er es nannte, zu lenken, seine Arbeiten mit der geistigen Unbeschwertheit fortzusetzen, die für einen Gelehrten unentbehrlich ist. Der Beginn des Mikrobenkrieges wirkte auf den Entdecker des Panvaccins wie ein Keulenschlag, und sein Gewissen erlitt einen heftigen Schock. Er hatte sofort den Zusammenhang zwischen dem Diebstahl der Kulturen seitens Hermann
Nicholls und der Bombardierung unserer Truppen mit den M.V.-Geschossen erkannt. Der Fall lag für ihn ganz klar. Ein Volk, das sich nicht scheute, als erstes die Keime der furchtbarsten Geißeln der Mensch-heit, gegen die seit Jahrhunderten verzweifelt gekämpft worden war, bei seinen Nachbarn zu verbreiten, dieses verbrecherische Volk mußte sich selbst vor der Ansteckung sicher fühlen. Von hier bis zu der Erkenntnis, daß der angebliche Schweizer Hermann Nicholls dem Angreifer die Mittel geliefert hatte, unbestraft seine gemeine unsichtbare Waffe in Anwendung zu bringen, indem er ihn durch das Panvaccin immunisierte, genügte eine Sekunde des Nachdenkens. Gaston Balanche hielt sich für diese neue Form des Krieges verantwortlich, die ohne seine Entdeckung, deren wohltätiger Zweck so teuflisch in sein Gegenteil verwandelt worden war, nicht möglich gewesen wäre. Aber hier machte sein Gewissen noch nicht halt. Er hatte keineswegs vergessen, daß die Erfahrungen mit dem Panvaccin noch keine völlig befriedigenden Resultate ergeben hatten. Die zuletzt geimpften Meerschweinchen waren wieder wie die früheren für die Ansteckung durch die Mikroben empfänglich geworden, so daß eine von einem unbekannten Erreger verursachte Blutung der Kapillargefäße sie in wenigen Stunden dahinraffte. War es Hermann Nicholls gelungen, diesen Erreger festzustellen und ihn dann unschädlich zu machen? Es war unvorstellbar, daß es ein Gelehrter auf sich nehmen konnte, einer ganzen Armee, ja, mehr noch, einem ganzen Volke, ein Serum zu verabfolgen, dessen Unschädlichkeit nicht von vornherein in jeder nur denkbaren Weise gewährleistet war. Gaston Balanche fühlte sich trotzdem nicht beruhigt. Hermann Nicholls war ein großer, blasser Bursche von etwa dreißig Jahren mit aschfarbenem Haar, das an einen Albino erinnerte, und großen, plumpen, rotbehaarten Händen. Der Professor erinnerte sich des unangenehmen Eindrucks, den er eines Tages empfangen hatte, als Nicholls sich über sein Mikroskop beugte und sich mit seinen beiden riesigen, brutalen Mörderhänden auf den Tischrand stützte. Auch fielen ihm die Augen Nicholls wieder ein, diese merkwürdigen, unruhigen, grünschimmernden, giftigen Augen, mit denen er einem wohl ins Gesicht sah, deren Ausdruck aber stets undurchdringlich und kalt blieb. Im übrigen war Nicholls ein guter Beobachter und äußerst begabt für Mikrobiologie, die ja ein besonderes Maß von Geduld und Intuition erfordert. Aber wie sollte man ihn moralisch einschätzen? Gaston Balanche erkannte mit Schrecken, daß er in seiner Vertrauensseligkeit und Hingabe an seinen Beruf sich nie Sorgen um seine
Mitarbeiter gemacht hatte. Ihn interessierten nur ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten. Er hatte einen schweren Fehler begangen, der seine Verantwortlichkeit in diesem Drama belastete, in dem die ganze Welt Gefahr lief, zugrunde zu gehen. Armer, großer Gaston Balanche! Ich sehe dich noch immer vor mir in deiner unheimlichen Länge — l m 95 wenigstens —, deiner unmenschlichen Magerkeit, in deiner ganzen, wenig anziehenden äußeren Erscheinung, die nicht hinderte, daß hinter deiner großen Stirn mit den tiefen Falten die Gedanken eines Genies geboren wurden. Als ich mich bei ihm vorstellte, mußte ich bei meiner Ehre schwören, nie auch nur mit einem Wort das, was ich im Laboratorium sehen oder hören würde, Außenstehenden gegenüber zu erwähnen. (Hätte er diesen Eid nur schon früher verlangt!) Er sprach mit sanfter, verschleierter Stimme, seine großen, schwarzen Augen glänzten von verhaltener Leidenschaft in ihren tiefen Höhlen. Man fühlte seine Besessenheit. In den drei folgenden Wochen mußten mehr als fünfhunderttausend Mann von ihren Heeresformationen ins Lazarett geschickt werden, weil sie durch das M.V.-Geschoß angesteckt worden waren. Da diese Kranken auf alle Gegenden Frankreichs verteilt wurden, dauerte es nicht lange, und die Ansteckung erfaßte auch die Zivilisten. Die überlasteten Ärzte, die ständig zur Behandlung dieser Tropenkrankheiten herangezogen wurden, die sie bis dahin zum größten Teil noch nie zu Gesicht bekommen hatten, verloren schließlich völlig den Kopf. Die Laboratorien wurden mit Bitten um Impfstoff überschwemmt. Man sah schon den Augenblick kommen, in dem, wie in den Pestzeiten des Mittelalters, die Ohnmacht der Menschen zur Einstellung des Kampfes führen würde und man es dem Übel selbst überlassen mußte, auf weitere Beute zu verzichten. COCCUS ALBUS2 Etwas war auffallend: der Feind setzte zwar seine Mikrobenoffensive fort, blieb aber in seinen Stellungen. Erwartete er, daß unser Land und seine Verbündeten um Gnade flehen, oder daß der letzte Franzose einer unter dem Himmel Lothringens oder der Champagne so absurden Krankheit wie dem Wechselfieber oder dem Kala-Azar zum Opfer fallen sollte? Um darüber Gewißheit zu erlangen, ersuchte Professor Balanche das Große Hauptquartier um einen kleineren Angriff, dessen einziger Zweck die Gefangennahme
einiger feindlicher Soldaten sein sollte. Das Unternehmen wurde durchgeführt, und unter den Gefangenen befand sich glücklicherweise ein Sanitäter, der sofort die gewünschten Auskünfte gab. Vor Beginn des Mikrobenkrieges war die feindliche Armee dreimal geimpft worden; und diese M.V.-Impfung — sie führte dieselbe Bezeichnung wie die Geschosse — wurde dann auf die gesamte Zivilbevölkerung ausgedehnt. Gaston Balanche, der mit klopfendem Herzen dem Verhör beiwohnte, erkundigte sich, ob die Einspritzung des Serums bei den Geimpften keine sichtbare Störung hervorgerufen habe. Der Mann schien etwas zu zögern, antwortete dann aber: »Nein. Nur harmlose Fiebererscheinungen.« Der Professor hatte den Gefangenen mißtrauisch gemacht. Er fragte eigensinnig: »Wirklich? Keine Kreislaufstörungen?« Der Sanitäter zuckte die Achsel, aber man sah es seinem Gesicht an, daß er etwas verschwieg. »Na, sagen Sie mal«, fuhr Gaston Balanche fort, »haben Sie denn nie ein verdächtiges Nasenbluten oder sonst einen anormalen Blutverlust beobachtet?« Der Gefangene schüttelte schweigend den Kopf, und sein Verhör sollte eben unterbrochen werden, als der Gelehrte einen Blutstreifen entdeckte, der aus dem rechten Ärmel des Widerspenstigen hervorquoll und langsam auf den Boden tropfte. »Sie sind ja verwundet!« rief er. Der Mann sah auf seine blutige Hand, und eine wächserne Blässe überzog sein Gesicht. »Nein«, sagte er dumpf und fiel in Ohnmacht. Der Professor sprang hinzu, schnitt den Ärmel der Uniform der Länge nach auf und entblößte den mit roten Flecken und Pusteln von der Schulter bis zum Handgelenk bedeckten Arm. Eine dieser Pusteln war wie ein Abszeß aufgeplatzt, und das Blut schoß aus ihr wie ein Wasserstrahl hervor. Auf den ersten Blick erkannte er die Symptome der Werlhoffschen Krankheit, deren Verlauf immer tödlich ist. Gaston Balanche erinnerte sich an die seltsamen, spontanen Blutungen seiner mit dem Pan-vaccin geimpften Meerschweinchen, und er verglich sie mit dieser langsamen und nicht aufzuhaltenden Hämorrhagie. Wenn der Blutverlust nicht zu stillen war, bestand kein Zweifel mehr: der elende Nicholls, in der Absicht, sie zur Herrin der Welt zu machen, hatte seine eigene Rasse ins Verderben gestürzt. Vierundzwanzig Stunden lang wich der Professor nicht vom Bett des Kranken. Trotz aller Bemühungen war es ihm nicht gelungen, ihn wieder zum Bewußtsein zu bringen. Die Pusteln hatten sich nun auch auf die Brust
ausgedehnt, und das Blut hatte dort einen zweiten Ausgang gefunden. Die Hämorrhagie schien zwar während der Nacht zurückzugehen, aber bald danach setzte sie in verstärktem Maße wieder ein und hörte nicht auf, bis der Unglückliche, weiß wie Marmor, seinen letzten Seufzer ausstieß. Gaston Balanche wußte nun, was er von der Sache zu halten hatte, aber ein Wissenschaftler wie er gibt sich nicht so leicht geschlagen. Während der Nacht entnahm er dem Blut, das dem Körper des Todgeweihten entströmte, mehrere Proben und schloß sich mit dem festen Vorsatz, das Rätsel zu lösen, in sein Laboratorium ein. Er arbeitete bereits mehrere Tage an dieser Aufgabe, als er die Nachricht erhielt, daß sich bei allen Gefangenen, die beim letzten Angriff gemacht worden waren, dieselben Krankheitssymptome gezeigt hatten. Es waren etwa fünfhundert, und alle waren im Läufe einer Woche gestorben, obwohl man das menschenmögliche getan hatte, sie dem Tode zu entreißen. Wer hätte annehmen können, daß dieser Krieg einmal ohne Entscheidung durch die Waffen endigen würde? An einem grauen Novemberabend stellte man fest, daß der Feind seit den frühen Morgenstunden nicht das kleinste Zeichen von Aktivität gegeben hatte. Weder ein M.V.Projektil, noch eine Maschinengewehr- oder Flintenkugel war auf unsere Truppen abgeschossen worden, und so ging es am nächsten und am übernächsten Tag. Der Krieg war aus, und niemand wagte in der allgemeinen Furcht, es zur Kenntnis zu nehmen oder sich gar darüber zu freuen. Was ging eigentlich bei unseren Gegnern vor? Sehr einfach: ein ganzes Volk war im Begriff zu verschwinden. Die zuerst von Gaston Balanche an seinen Meerschweinchen festgestellte Hämophilie hatte sich über die ganze Nation ausgebreitet, die sich zum Schutz gegen die den anderen zugedachten Krankheiten der dreifachen M.V.-Impfung auf den verbrecherischen Rat Hermann Nicholls' hin unterzogen hatte. Eine belanglose, mitunter nicht einmal sichtbare Entzündung, ein Flohstich, ein Kratzer auf der Haut genügte, um die Hämorrhagie hoffnungslos zum Ausbruch zu bringen. Jeden Tag starben die Menschen zu Tausenden. Die Truppen waren vor Entsetzen desertiert, die Offiziere an der Spitze, um zu ihren Familien zu kommen, bei denen sie dasselbe furchtbare Übel erwartete. Der Krieg war in diesem vom Wahnsinn seiner Staatsmänner zum Tode verurteilten großen Reich durch die Gegenwart eines noch größeren Unglücks vergessen worden. Der Angreifer war also auf die Gnade seines Opfers angewiesen, und die
französische Armee hätte mühelos das Land besetzen können, von dem aus der feige Angriff im September erfolgt war. Unsere Regierung zog es vor, wie die öffentliche Formulierung lautete, mit Befriedigung von der Mitteilung über den Rundfunk Kenntnis zu nehmen, nach der »das Gebot einer höheren Menschlichkeit« den Feind veranlaßte, den Kampf abzubrechen. Die für die Katastrophe Verantwortlichen richteten zu gleicher Zeit einen Appell an die Franzosen, »die Differenzen der Vergangenheit im gemeinsamen Kampf gegen das neue Unglück zu vergessen«. Daß sie die Urheber dieses Unglücks waren, bedachten sie anscheinend nicht. Selbst vor dem Tode bewahren manche Völker wie gewisse Menschen das Privileg ihrer Schamlosigkeit, mit der sie unbefangen ein Mitleid für sich beanspruchen, das sie anderen verweigert haben. Die zahlreichen durch die M.V.-Geschosse hervorgerufenen Epidemien nahmen bei uns einen erschreckenden Umfang an, und das Ende des Krieges war gerade zur rechten Zeit gekommen, um den Versuch zu unternehmen, das noch zu retten, was überhaupt zu retten war. Man konnte nicht daran denken, die gesunde Bevölkerung gegen all die Ansteckungen zu impfen, die sich jeden Tag mehr verbreiteten. In Erwartung eines Besseren empfahl man eine kleine Schutzmaske nach Art der chirurgischen Masken. In den Straßen von Paris sah man niemanden mehr ohne seine Maske, und das Schauspiel entbehrte nicht einer gewissen Pikanterie; die Mode hatte sich, wie immer in Frankreich, auch in den dunkelsten Zeiten der Angelegenheit bemächtigt. Keine Frau hätte sich nur zwei Schritte auf die Straße gewagt ohne ihre zweifach auswechselbare kleine Maske. Es gab welche für die Stadt, fürs Büro, für zuhause, Masken fürs Theater und fürs Kino, alle natürlich in verschiedenen Farben und Formen. Die Stadtmasken hatten die Pariserinnen in Töchter des Islams verwandelt. Ich sehe noch immer Manette in einem mandelgrünen Tschartschaf, der nur ihre veilchenblauen Augen und die weiße Stirn sehen ließ. Wir trafen uns übrigens immer seltener. Nicht, daß meine Leidenschaft für sie schwächer geworden wäre, im Gegenteil, ich litt sehr unter den Hemmnissen unserer Liebe. Aber der Dienst beim Professor nahm mich immer mehr in Anspruch. Innerhalb weniger Tage hatte die Lungenpest und die Cholera ein Drittel des Laboratoriumspersonals dahingerafft. Gaston Balanche beschwor die Überlebenden, ihren Posten nicht zu verlassen. Seine Versuche, die sich sowohl auf eine neue Formel für das Panvaccin wie auf die durch Einspritzung des M.V.-Serums festgestellte Hämophilie erstreckten,
machten gute Fortschritte. Er glaubte, dem Erfolg nahe zu sein. Dieser große Gelehrte hatte mich von Anfang an mit einem Wohlwollen beehrt, das mich tief bewegte. War es auf seine Zufriedenheit mit meinen bescheidenen Diensten zurückzuführen? Wie hätte ich so eitel sein können, das anzunehmen? Ich bin viel eher dazu geneigt, heute in ihr das Resultat eines dunklen Vorgefühls zu erkennen, das ihn schon damals das seltsame Schicksal ahnen ließ, das uns zusammenketten sollte. Was auch das Motiv seines Wohlwollens sein mochte, ich hatte sofort und ohne Hintergedanken auf seinen dringenden Appell geantwortet. Ich begriff, daß von dem Mann mit dem brennenden Blick das Schicksal von hundert Millionen Menschen abhing, und es wäre mir wie ein Verbrechen vorgekommen, meinen Posten zu verlassen. Ich könnte nicht sagen, daß Manette deswegen einen geringeren Platz in meinen Gedanken eingenommen hätte, aber angesichts des fürchterlichen Ausmaßes der Katastrophe^ erschienen mir meine eigenen winzigen Angelegenheiten von unendlicher Bedeutungslosigkeit. Manette hatte übrigens ihr Ministerium verlassen, um auf Antoines Empfehlung bei der Astronautischen Generalgesellschaft als Sekretärin des Ingenieurs Drelin einzutreten. Der Bau des »Astrion« war nahezu vollendet, und nach dem beim Bombardement von Paris erfolgten Tod Gustave Bolides hatte sich mein Freund als Pilot für das Planetenflugzeug gemeldet. Manette war vor Begeisterung nicht wiederzuerkennen. Sie vergaß völlig die ständige Gefahr, die über unseren Häuptern schwebte. »Bah«, sagte sie lachend, »wenn wir erst auf dem Planeten Mars sind, haben wir keine Epidemien mehr zu fürchten.« Ich erlaubte mir zu bemerken, daß aller Wahrscheinlichkeit nach die interplanetaren Reisen wohl noch nicht so schnell organisiert werden könnten und daß sie die Forschungsergebnisse Professor Balanches sicherer retten würden als der »Astrion«. »Wer weiß«, antwortete sie zuversichtlich. Ich liebte sie tatsächlich mehr denn je und brannte voll Ungeduld darauf, sie als Gattin heimzuführen. Aber wie konnte man in diesen Zeiten der Apokalypse von einer Heirat reden? Schwang nicht schon der rächende Erzengel über dem Tal Josaphat sein flammendes Schwert? Wenige Tage später begann der letzte Akt des Dramas. Eines Morgens, als ich das Laboratorium betrat, las ich auf allen Gesichtern Bestürzung. Ich erwartete, daß der Typhus oder das Wechselfieber ein neues Opfer gefordert habe, aber die Wirklichkeit übertraf meine Befürchtung. Ungefähr zwanzig Fälle von tödlicher Hämophilie waren unter den Ärzten
und Krankenpflegerinnen zu verzeichnen, welche die an derselben Krankheit verstorbenen Gefangenen betreut hatten. Obwohl der Ursprung der Infektion mit der Einspritzung des M.V.-Serums in Zusammenhang gebracht werden mußte, bestand doch die Möglichkeit einer Übertragung durch Nichtgeimpfte, und der pathogene Erreger blieb unbekannt. Die Verbreitung dieser allgemeinen Hämophilie übertraf in ihrer unglaublichen Schnelligkeit die furchtbarsten ansteckenden Krankheiten. Da man bei der Bekämpfung dieser Geißel der Menschheit noch völlig im Dunkeln tappte, konnte keine Therapie sie eindämmen. In Paris waren im Verlauf einer Woche hunderttausend Personen erkrankt, nach vierzehn Tagen waren es dreihunderttausend. Auf den Straßen und Plätzen spielten sich Szenen ab, wie sie die Welt seit der großen Epidemie im Jahre 1665 nicht mehr erlebt hatte, der ein Drittel der Londoner Bevölkerung zum Opfer gefallen war. Ein Mensch mit allen Anzeichen völliger Gesundheit geht mit großen Schritten, schlenkernden Armen, seiner selbst sicher auf der Straße. Plötzlich bleibt er stehen, man sieht, wie er blaß wird, und unter seiner Maske quillt das Blut aus den Nasenlöchern und ist nicht mehr zu stillen. Eine junge, elegante Frau, das halbe Gesicht von einem entzückenden, bestickten Tschartschaf bedeckt, geht mit wiegenden Hüften in eine Duftwolke gehüllt über die Straße und läßt wie eine Sarazenin ihre Augen spielen. Plötzlich wirft sie einen Blick auf ihre Armbanduhr, und mit vor Schrecken erweiterten Pupillen starrt sie auf ihr Handgelenk, dem ein purpurner Tropfen entquillt. Die Reibung des Armbandes auf der Haut hatte eine unsichtbare Eiterung hervorgerufen, aus der nun die fünf Liter Blut der liebenswürdigen Erscheinung ohne Gnade davonfließen. Ich führe hier nur Fälle an, bei denen ich Augenzeuge war; es gibt unzählige andere, die zu vergessen ein Menschenleben nicht ausreicht: zum Beispiel der eines Priesters, der im Talar zu Boden sank und aus dessen Mund ein Strahl schwarzen Blutes hervorsprudelte wie der Wasserstrahl aus dem Schlauch eines Gärtners; oder die zahlreichen Fälle unter den Ärzten, die vor den Augen ihrer Patienten, denen sie helfen wollten, starben. Wieviele gingen mitten in ihrer gewohnten Tätigkeit zugrunde, die durch die neue Krankheit lebensgefährlich geworden war! Ich sehe noch immer die Versammlung aller Assistenten und Präparatoren des Laboratoriums vor mir, in deren Verlauf uns der Professor erklärte: »Meine Herren! Ich habe Sie hierhergebeten, um Sie vor einer Gefahr zu warnen, deren Schwere Sie keinesfalls unterschätzen dürfen. So vorsichtig Sie auch sein mögen, meine
Pflicht erfordert es, Ihnen ans Herz zu legen: enthalten Sie sich unter den gegenwärtigen Umständen jedes Verkehres mit den Frauen. Der Sexualakt mit seinen Begleitumständen kann Sie das Leben kosten.« Er benützte die Gelegenheit, um uns in großen Zügen den Stand seiner Forschungsarbeit bekanntzugeben. Die Einspritzung des M.V.-Serums verursachte einen anaphylaktischen Schock, dem eine ganz ungewöhnliche Verminderung der weißen Blutkörperchen folgte. Da die Versuchspersonen hierdurch an Widerstandskraft verloren, hatte sich die Wirkungsfähigkeit des unbekannten Mikroorganismus erhöht. Das Rätselvolle bestand in der Ansteckungsmöglichkeit der Nichtgeimpften. Handelte es sich um eine Hämatozoe wie beim Erreger des Sumpffiebers, oder um eine neue Bakterienart? Er glaubte nicht, sondern neigte zu der Annahme eines Proteinvirus, den er mit Hilfe des Elektronen-Mikroskops zu entdecken hoffte. Diese Erklärungen, die ein Laie wie ich nur ungefähr wiedergeben kann, schienen die Assistenten Gaston Balanches mit neuem Mut zu erfüllen. Die Mehrzahl unter ihnen wollte das Laboratorium überhaupt nicht mehr verlassen, wo sie bis in die späten Nachtstunden hinein arbeiteten. Ich persönlich fühlte mich durch die Warnung des Professors vor dem Umgang mit Frauen betroffen. Als ich mit Manette darüber sprach, lachte sie herzlich. »Dein Professor muß schon über das Alter hinaus sein«, meinte sie. Und als ich zweifellos ein bißchen ungeschickt den Gelehrten verteidigte, warf sie mir aus ihren halbgeschlossenen Lidern einen jener aufreizenden Blicke zu, die mich stets in eine tiefe Erregung versetzten. »Bah«, sagte sie, »wenn das so ist, werden wir uns eben auf dem Mars wiedersehen.« An diesem Tage beschränkte ich mich auf eine rein brüderliche Umarmung. Die Heftigkeit der Epidemie wuchs von Tag zu Tag. Es kam vor, daß Kranke, die auf spinale Kinderlähmung oder Tetanus behandelt wurden, ohne vorheriges Anzeichen einem heftigen Anfall der unbekannten Krankheit zum Opfer fielen. Ich habe noch nicht erwähnt, daß Frankreich nicht das einzige Land war, das von der Seuche heimgesucht wurde. Ganz Europa einschließlich der britischen Inseln lag im Todeskampf, In allen Vierteln von Paris hatte die Stadtverwaltung Hilfsstationen errichtet, deren Aufgabe es war, die Kranken, die auf den Straßen zusammenbrachen, zu sammeln. Aber diese improvisierten Krankenhäuser konnten den ungeheueren Anforderungen nicht mehr nachkommen und mußten sich darauf beschränken, die unzähligen Opfer mit Tragbahren in ihr Heim schaffen zu lassen. Schließlich überschritt
das Ausmaß der Katastrophe jede Vorstellung, und die Behörden entschlossen sich zur Erneuerung von Maßnahmen aus dem finstersten Mittelalter. Es. wurde der Bevölkerung zur Kenntnis gebracht, daß auf den Türen der Häuser und Wohnungen aller angesteckten Personen ein großes schwarzes Kreuz mit Teer aufzumalen sei. Überdies war an der Eingangstür jedes von dieser Anordnung betroffenen Hauses neben dem schwarzen Kreuz eine Liste mit Angabe des Stockwerkes der infizierten Wohnung und den Namen der Erkrankten anzubringen. Von einem Tag zum ändern trugen drei von vier Häusern in Paris das schreckliche Zeichen Alle Hoffnung war verloren. Der Bestattungsdienst reichte nicht mehr aus, um die Toten zu begraben, man warf sie in große gemeinsame Gräber und bedeckte sie mit ungelöschtem Kalk. Diebesbanden drangen in die ausgestorbenen Häuser und stahlen alles Wertvolle, ohne daran ' zu denken, daß sie, wie es mitunter vorkam, das Leiden an Ort und Stelle inmitten des geraubten Gutes hinraffen könnte. Viele Pariser faßten damals den Plan, vor der Ansteckung aufs Land zu fliehen. Aber die Epidemie herrschte in den Dörfern wie in den Städten, und um eine Verschleppung an die Orte, die wie ein Wunder verschont geblieben waren, zu verhindern, war es jedermann ohne Erlaubnis der Gendarmerie verboten, seinen Aufenthalt zu wechseln. Wie soll man die Straßen von Paris in dieser traurigen Zeit beschreiben? Jeder hamsterte soviel Waren und Lebensmittel, wie er konnte, um so wenig wie möglich ausgehen zu müssen. Die seltenen Fußgänger mieden einander mit eingezogenem Kopf, die Maske vor dem Gesicht, mit erschreckten Augen hinter den Glimmergläsern. Die meisten Fabriken mußten, da sich die Arbeiter verliefen, ihre Tore schließen. Es gab weder Theater, noch Konzerte, noch Kinos, noch sportliche Veranstaltungen. Es gab keine Versammlungen mehr, und auf ausdrückliches Verlangen hatte der Kardinalerzbischof von Paris die Gläubigen vom Besuch des Gottesdienstes befreit. Außer den Apotheken und Lebensmittelgeschäften war kein Laden mehr offen, und die Verkäufer bedienten nur noch in Schutzhandschuhen. Mitten in diesem über ganz Europa schwebenden Schatten des Todes verbreitete sich plötzlich ein Gerücht, das die verzweifelte Menschheit mit neuem Mut beseelte. Der Professor Balanche hatte angeblich ein Serum entdeckt, das der Epidemie Herr zu werden versprach. Dieses Serum würde jetzt fabrikmäßig hergestellt und sollte Europa, das sich am Rande des Abgrundes befand, noch einmal vor dem Schlimmsten bewahren. Woher kam
das Gerücht? Von einer Indiskretion, oder lediglich aus dem Wunsch eines in der Agonie befindlichen Volkes, das sich dieses Wunder einredete und von vornherein überzeugt war, es müsse eintreten. Tatsache war, daß trotz der Ratschläge des Professors und unseres Eifers, sie zu befolgen, die Hämophilie M.V., die man neuerdings als weiße Pest bezeichnete, die Mitarbeiter des Mannes, in dem viele Verzweifelte bereits einen Messias sahen, im eigenen Laboratorium dahinraffte. Bei meinem Eintritt in den Dienst bei Gaston Balanche waren dreißig Assistenten, Präparatoren und Laboratoriumsgehilfen tätig. Zwei Monate hatten genügt, sie auf vier zu reduzieren. Wir waren stillschweigend übereingekommen, das Verschwinden eines Mitarbeiters ohne jeden Kommentar zur Kenntnis zu nehmen. Der Professor gab uns lediglich mit seiner gebrochenen Stimme bekannt: »Meine Herren, unser Kamerad X wird nicht mehr im Laboratorium erscheinen.« Eine kurze Pause folgte, wir blieben regungslos stehen und hielten den Atem an. Dann fuhr Gaston Balanche seufzend fort: »An die Arbeit, meine Herren. Wo ist unsere Kultur, Durand?« Der eine oder andere Kollege wurde mitten in seiner Arbeit überfallen. Man telephonierte die nächste Rettungsstation an, und zwei Träger holten ihn mit der Bahre ab. Nicht einen Augenblick kam es in unserer kleinen, von der großen Persönlichkeit des Professors beherrschten Gruppe zu einer Panik. Unser Vertrauen zu ihm war blind. Wir zweifelten nicht an der Erreichung seines Zieles, und dieser Gedanke hielt uns aufrecht. Es kam schließlich dahin, daß wir neben dem Chef nur noch zwei waren; der einzig Überlebende außer mir war ein gewisser Germain Fourgues, den Gaston Balanche seit mehr als zwanzig Jahren als Präparator beschäftigte. Germain Fourgues, ein großer, blonder Bursche von blassem Aussehen, sprach nie ein lautes Wort und schien allen menschlichen Leidenschaften entsagt zu haben, was ihn nicht hinderte, Vater von vier Kindern zu sein. Der Meister schätzte ihn wegen seiner Ruhe, seiner Selbstbeherrschung und wohl auch, weil er an ihn gewöhnt war. Eines Morgens erschien Fourgues mit grünem Gesicht und herausquellenden Augen. Drei seiner Kinder waren während der Nacht an der weißen Pest gestorben; auf Grund der bestehenden Vorschriften hatte man ihn gehindert, den Lastwagen, der die toten Kinder fortschaffte, auf den Friedhof zu begleiten, und nun kam er, in Tränen aufgelöst, und flehte Gaston Balanche an, seinen letzten Sohn zu retten. Es gelang dem Professor trotz aller angeborenen Geduld nicht, ihn zur
Vernunft zu bringen. Eine Reihe günstiger Erfahrungen ließ darauf schließen, daß er vor der Entdeckung des Proteinvirus, des Erregers der Pest, stand. Sowie er seiner Sache sicher wäre, würde er ohne Zögern an die Herstellung des immunisierenden Serums gehen. Außerdem war er mit der Vervollkommnung eines Neo-panvaccins beschäftigt, das nicht die verheerenden Wirkungen wie jener Impfstoff haben würde, den der gewissenlose Hermann Nicholls einem ganzen Volke eingespritzt hatte. Vielleicht bedürfte es nur noch weniger Tage, um dem Alptraum ein Ende zu bereiten. Aber Germain Fourgues hatte für diese tröstlichen Erklärungen taube Ohren. Er wußte bloß, daß drei von seinen vier Kindern tot waren, das vierte in höchster Gefahr schwebte und nur Professor Balanche den letzten schweren Schlag seinem Vaterherzen ersparen konnte. Ich wohnte dieser ergreifenden Szene bei und sehe noch heute den Unglücklichen vor dem Professor auf den Knieen rutschen, ihn bei den Händen packen und mit tränenerstickter Stimme anflehen. Gaston Balanche war selbst viel zu viel gequält, um nicht den Schmerz anderer und noch dazu den eines Menschen, den er schätzte, mitzuempfinden. Er erkannte, daß Germain Fourgues eine unmittelbare und materielle Gewißheit brauchte. »Warten Sie einen Augenblick«, sagte er zu seinem Präparator und half ihm, sich zu erheben. Er verschwand im Nebenraum und kam mit einer kleinen Schachtel bräunlicher Körner wieder. »Geben Sie Ihrem Sohn alle zwei Stunden sechs von diesen Körnern. Es ist ein Impfstoff zum Einnehmen, der den Organismus stärkt, bis wir das endgültige Serum haben. Nehmen Sie selbst auch davon und bleiben Sie zu Haus. Es ist nicht nötig, daß Sie vor zwei oder drei Tagen wiederkommen. Sie müssen sich ausruhen, lieber Fourgues.« Die Tränen flössen noch immer über das fahle Gesicht des Präparators, der sich nicht genug bedanken konnte. Endlich zog er sich zurück, und der Chef blieb mit mir allein. Er hob seine langen Arme und ließ sie mit einer Geste der Ohnmacht auf seine mageren Schenkel zurückfallen. »Es sind nur leere Kapseln«, sagte er, »sie werden ihm wenigstens nicht schlecht bekommen.« Dann straffte er seine gebeugte große Gestalt; der von Trauer leicht umflorte Blick wurde wieder bestimmt, und mit der Energie, die seine geniale Begabung so glücklich ergänzte, fuhr er fort: »Und nun wollen wir mal feststellen, wie die Ratte L und das Kaninchen P die
Nacht verbracht haben.« Gaston Balanche hatte nicht gelogen, als er Germain Fourgues erklärte, daß seine Forschungen an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt seien. Er glaubte, den Proteinvirus der weißen Pest festgestellt zu haben, von dem er Kulturen geringerer Virulenz gezüchtet hatte, bevor er der Ratte L und dem Kaninchen P das Serum einspritzte. Am vorigen Abend hatte er den beiden Tieren das infizierte Blut eingeimpft. Einen Teil der Nacht brachten wir vor ihren Käfigen zu, ohne eine Veränderung ihres Zustandes zu bemerken. Sollte das Experiment gelungen sein? Wenn ja, so besäße der neue Impfstoff eine unbestreitbare vorbeugende Eigenschaft, und der Augenblick, ihn auch am Menschen zu erproben, wäre gekommen. Als wir vor den Käfigen standen, konnten wir beide feststellen, daß sowohl die Ratte L wie das Kaninchen P nicht das geringste Unbehagen verrieten. Das Kaninchen knabberte vergnügt an einem Kohlblatt und ließ sich durch uns nicht im mindesten stören. Die Ratte wandte sich uns ohne Scheu zu, an ihrem kleinen weißgrauen Schnäuzchen mit den rosigen Nasenlöchern zitterten die schneeweißen Schnurrbarthaare. Der Meister warf mir einen Blick voller Hoffnung zu, sein Gesicht leuchtete vor freudiger Erregung. »Nach meinen Beobachtungen«, sagte er, »dauert die Entwicklungszeit der Krankheit acht Tage. Es wäre also verfrüht, zu triumphieren. Trotzdem können wir die Munterkeit der Tiere als gutes Vorzeichen ansehen. Was ich mir nicht recht erklären kann, ist, daß die Ratte und das Kaninchen für den Coccus albus 2 empfänglich sein sollten, der bei Katze, Taube und Huhn keinerlei Wirkung zeigt. Tatsache ist, daß unter den Menschen allen Erfahrungen nach nur der Weiße gefährdet ist, aber nicht der Schwarze oder Gelbe.« Er hatte, um Verwechslungen mit dem weißen Staphylo-kokkus vorzubeugen, den kleinen zwei Tausendstel Millimeter großen, rundlichen Virus der weißen Pest Coccus albus 2 getauft, den er mit Hilfe des Elektronen-Mikroskops festgestellt hatte. Ich betrachtete gespannt den großen Mann mit seiner von Sorgen durchfurchten Stirn. Sein eindrucksvoller Blick wurde sanfter. Das voraussichtliche Gelingen beruhigte sein seit zwei Monaten von Skrupeln gequältes Gewissen. »Wir könnten jetzt mal nach unserem Neopanvaccin sehen«, meinte er. Wir wollten eben ins Laboratorium eintreten, als ein seltsames Geräusch von
der Straße her zu uns drang. Die Epidemie hatte praktisch schon seit langem jeden Verkehr unterbunden, außerdem waren Ansammlungen auf den öffentlichen Wegen verboten. Wir lauschten daher sehr verwundert auf den wachsenden Tumult, der wie der Aufmarsch einer großen Menge klang, aus der in regelmäßigem Abstand, zuerst in einem Rhythmus von zwei, dann von drei Takten einzelne Rufe erschollen. Der Professor öffnete ein auf die Straße hinausgehendes Fenster, und das Geschrei drang wie eine Woge in den Raum. »Ba-lanche — — den Impf-stoff! Ba-lanche — — den Impf-stoff! Ba-lanche------den Impf-stoff!« Ungefähr tausend Menschen drängten sich an das Gitter, das das Laboratoriumsgebäude gegen die Straße abschloß, und zweitausend Arme reckten sich Gaston Balanche wie einem Gott entgegen. Der Raum, in dem wir uns befanden, lag im Zwischengeschoß, und wir konnten die einzelnen Gesichter deutlich erkennen. Ein erschütterndes Schauspiel! Die ganze Skala menschlichen Empfindens war von diesen Gesichtern abzulesen, die sich im Wunderglauben an die Rettung uns zuwandten: Verzweiflung, Hoffnung, Flehen, Zorn, mystisches Vertrauen und auch dunkle Drohung. Frauen reckten die gefalteten Hände mit einem Ausdruck, wie sie ihn wohl in Glaubenszeiten bei den feierlichen Bittgängen oder im Betstuhl der Kathedralen hatten; einige schwenkten ihre Säuglinge, als ob sie sie den dunklen Mächten zum Brandopfer bringen wollten, andere brachen in ein hysterisches Lachen aus oder erstickten fast vor Schluchzen. Die Haltung der Männer erinnerte an die zurückliegende Zeit der sozialen Kämpfe und der großen »Meetings«. Sie flehten nicht, sie forderten; die Schutzimpfung war in ihren Augen ein Recht wie die Vierzigstundenwoche und der bezahlte Urlaub für ihre Väter. Sie waren gekommen, um dieses Recht durchzusetzen, und der Weg von der flehenden Hand zur geballten Faust war für sie nicht weit. Der Meister übersah sofort die Situation und machte ein Zeichen, daß er das Wort ergreifen wolle. Sofort trat Schweigen ein, das sich wellenartig ausbreitete, aber man spürte deutlich die Erregung inmitten der Stille. »Liebe Freunde«, begann Gaston Balanche, dessen schwache Stimme im Lautsprecher ihren warmen, vertrauenerweckenden Klang behielt, »der Impfstoff, den ihr von mir erwartet, wird bald bereit sein. Es ist nur eine Frage von Tagen, vielleicht von Stunden — —« Aus der Menge ertönten zustimmende Rufe. Um sie zum Verstummen zu bringen, hob er nur die Hand und fuhr dann fort: »Ich bitte euch, Geduld zu haben. Ihr werdet rechtzeitig über die Stellen
unterrichtet werden, wo ihr euch impfen lassen könnt. Für heute geht nach Haus. Ansammlungen sind mit gutem Grund im öffentlichen Interesse verboten. Unterstützt nicht durch euren Leichtsinn die Verbreitung des schrecklichen Übels, das hoffentlich bald besiegt sein wird. Geht nach Haus!« Eine Woge brauste über das Meer der Köpfe dieser Herde unter dem Fenster. Lebhafte Diskussionen entbrannten, einzelne Frauenschreie ertönten, ein paar Ohrfeigen klatschten, es kam fast zu einem Handgemenge. Einige Stimmen riefen: »Hoch Balanche!« und der ungeheure Chor wiederholte: »Hoch Balanche!« Die Menge zerstreute sich allmählich in gedrückter Stimmung. Zehn Minuten später sah man vor dem Laboratorium nur noch etwa ein Dutzend verblutende Menschen auf der Straße liegen oder sich gegen die Mauer lehnen; sie waren von der Geißel getroffen worden, während sie Gaston Balanche anflehten, sie vor ihr zu bewahren. Einige Bahrenträger erschienen und schleppten sie fort. Ich blickte den Professor an, er war noch bleicher als sonst und strich sich mit der Hand über sein energisches Kinn; er schien in tiefes Nachdenken versunken, das ich nicht zu unterbrechen wagte. Plötzlich murmelte er: »Eine Frage von Tagen -- gewiß, aber mindestens von vierzehn, wenn ich ganz sicher gehen will. Ich bin kein Nicholls. Wieviel Einwohner wird Paris bis dahin noch haben? Übermorgen werden sie wiederkommen, und ich werde sie nicht mehr so leicht besänftigen können.« Er klopfte mir auf die Schulter. »Lieber Durand, ich kann hier nicht weiter arbeiten. Ich brauche Ruhe und Stille, und nun, da ich den Unglücklichen Versprechungen gemacht habe, werden sie mich nicht mehr zu Atem kommen lassen. Wo könnte ich mich nur verkriechen? Haben Sie eine Idee?« Ich hatte eine, aber ich wagte nicht, sie in Vorschlag zu bringen. Er las mir meine Unsicherheit von den Augen ab und ruhte nicht, bis ich nachgab. Ich schlug ihm also mein fotografisches Atelier vor, falls er mein Anerbieten nicht für unangebracht hielte. Das Gesicht Gaston Balanches hellte sich auf. Mit stummer innerer Bewegung schüttelte er mir die Hand. Noch am selben Abend zog der berühmte Biologe mit seinen wichtigsten Instrumenten, den Kulturen und den kostbaren Käfigen mit der Ratte L und dem Kaninchen P in mein bescheidenes Fotografenatelier. Mein Gast machte sich sofort wieder ans Werk, und eine Woche friedlicher Arbeit verging. Ich begab mich jeden Morgen ins Laboratorium, um von dort Gegenstände oder Dokumente zu holen, und benützte die Gelegenheit, mich beim Hausmeister nach allem
möglichen zu erkundigen. Als Veteran des dritten und vierten Weltkrieges hatte er so viele Gefahren glücklich überstanden, aber nun war er ein wahrer Hasenfuß geworden. Er rührte sich nicht aus seiner Loge, legte selbst zum Schlafen seine Maske nicht mehr ab und antwortete den Besuchern nur noch durch die Scheibe seines Schiebefensters. Er erzählte mir, daß nach unserem Auszug mehrere neue Demonstrationen vor dem Hause stattgefunden hätten, aber daß sich deren Umfang jedesmal vermindert habe. Er führte das ebenso auf das Wüten der Epidemie zurück wie auf ein Schild, das er vorsichtigerweise am Tor aufgehängt hatte und auf dem folgendes stand: »Professor Balanche ist umgezogen, um sein Serum fertigzustellen.« Aber die Rasenden, die ihn täglich in seiner Ruhe störten, waren für ihn die Ursache einer dauernden Furcht. Nach jeder Demonstration blieben die Leichname der Pestkranken auf dem Pflaster liegen, die Krankenträger waren überlastet und kamen oft sehr spät; die Ansteckungskeime verbreiteten sich in der ganzen Umgegend. Drei Tage nach dem Umzug Gaston Balanches nach dem Boulevard des Batignolles fand ich den unglücklichen Hausmeister auf dem Fußboden seiner Loge mit dem Gesicht zur Erde in einer Blutlache liegen. Er hatte mir vor seinem Tode keine Auskunft über Germain Fourgues geben können, der im Laboratorium nicht mehr erschienen war und dessen Schicksal ebenfalls besiegelt schien. Die Epidemie hatte ihren Höhepunkt erreicht, oder wie die Ärzte sagen, ihre Krisis, jene kurze Zeitspanne, in der eine Krankheit die größte Heftigkeit entfaltet, um nun entweder abzuflauen oder zum Tod zu führen. Die Pest breitete sich immer schneller aus, eine völlige Blutzersetzung ging der Hämorrhagie voraus. Innerhalb weniger Minuten verfärbte sich eine scharf abgegrenzte Hautstelle des Erkrankten, meist an den Händen oder im Gesicht, wurde lila wie das Gewand eines Bischofs und wechselte nach und nach ins Schwarzgraue, die Haut bekam Risse, schuppte sich ab, um dann anzuschwellen und wie eine Eiterbeule zu platzen. Welchen Anblick bot Paris! Man mußte stundenlang suchen, bevor man ein Haus ohne das entsetzliche schwarze Kreuz fand. Der öffentliche Dienst funktionierte nicht mehr, die Bahnhöfe lagen verlassen da, die Markthallen hatten so gut wie gar keine Zufuhren mehr. In jedem Stadtviertel waren nur noch ein paar Bäckerläden und Lebensmittelgeschäfte offen, die unter polizeilicher Kontrolle standen. Im übrigen lebten die Menschen von ihren Vorräten und verkrochen sich mit verzerrten Lippen voll panischer Angst in ihren Wohnungen. Die Mutter belauerte den Sohn, die Frau ihren Mann, der
Bruder die Schwester und der Liebhaber seine Geliebte. Während der französische Rundfunk wenigstens noch dreimal täglich zu hören war, hatten mehrere ausländische Stationen ihre Sendungen bereits ganz eingestellt; zu diesen gehörten Berlin und Moskau. Die letzte Durchsage aus London war besonders tragisch. Nachdem der Sprecher bekanntgegeben hatte, daß nach den letzten Erkundungen in der englischen Hauptstadt nur noch etwa tausend Einwohner und im Vereinigten Königreich etwa zwanzigtausend am Leben waren, fügte er hinzu: »Was mich anbelangt, ladies and gentlernen, so fühle ich den Augenblick gekommen, mich von Ihnen zu verabschieden. Ein kleiner, runder, violetter Fleck von der Größe eines Pennys erscheint auf meinem rechten Handrücken, und ich wäre nicht würdig, dem Land Shakespeares und Newtons anzugehören, wenn ich mir verhehlen wollte, daß dieser Penny für den Fährmann Cha-ron bestimmt ist. Good bye!« Dann hatten die Hörer das Geräusch eines Falles vernommen, und das alte England mit seinen Zweimastern, Korvetten, Fregatten und Dreadnoughts, seinen Elisabeths und Heinrichen, den Lords und Aldermännern, den Abteien und Dörfern, den Fabriken und Docks, seinen Geistlichen, Sadisten, Dichtern und Kaufleuten, Narren und Heiligen war mit einem letzten Aufflackern von Galgenhumor in den Abgrund der verschwundenen Reiche und erloschenen Rassen gestürzt. Acht Tage nach ihrer Impfung mit dem virulenten Coccus albus 2 zeigten die Ratte und das Kaninchen noch immer keine Merkmale einer Erkrankung. Der erste Schritt war getan, die Wirkungskraft des Impfstoffes bei den Tieren festgestellt. Jetzt blieb uns noch die Erprobung am Menschen. Mein Vertrauen zu Gaston Balanche war so unbegrenzt, daß ich mich ihm als Versuchsobjekt anbot. Der Meister dankte mir und sagte: »Zweimal genäht hält besser. Ich impfe mich ebenfalls.« Von dem Augenblick an, in dem das Antialbokokken-Serum in meine Adern gespritzt worden war, fühlte ich mich wie neugeboren. Ich kannte keine Furcht mehr, ich konnte ungestraft ohne Maske in den Straßen von Paris herumlaufen, in denen ein geradezu bestialischer Gestank herrschte, da der Straßenreinigungsdienst wie alle übrigen öffentlichen Dienste schon seit Wochen nicht mehr funktionierte. In der allgemeinen Verwirrung hatte ich Manette seit mehr als vierzehn Tagen nicht gesehen. Ein telefonischer Anruf bei der Astronautischen Generalgesellschaft hatte mir wenigstens die
Gewißheit verschafft, daß sie und Antoine noch am Leben waren. Außerdem erfuhr ich bei dieser Gelegenheit, daß, falls ihn der Coccus albus 2 verschonen sollte, der Ingenieur Drelin beabsichtige, in kürzester Zeit den Flug zum Mars anzutreten. Um die Wahrheit zu gestehen, es verging kein Tag, an dem ich nicht an Manette dachte. Ich sehnte mich nach ihr, wie der durch einen plötzlichen Erdrutsch verschüttete Bergmann sich nach dem Tageslicht sehnt. Obwohl sie noch garnicht lange vergangen waren, schienen mir die Tage von Avallon unendlich weit zurückzuliegen. Würde ich jemals wieder so glücklich sein? Ich mochte die Hoffnung nicht sinken lassen. Seitdem ich geimpft worden war, verfolgte mich der Gedanke, daß Manette so schnell wie möglich die Schutzimpfung bekommen müsse. Die Astronautische Generalgesellschaft hatte auf dem linken Seine-Ufer zwischen dem Löwen von Beifort und den Gobelins ihren Sitz. Sie war in den Gebäuden eines ehemaligen Frauenklosters untergebracht, hinter denen sich ein völlig durch Mauern von der Außenwelt abgeschlossener großer Park dehnte, von dem aus die interplanetaren Flieger mit ihrem »Astrion« zu starten gedachten. Ich ging zu Fuß quer durch Paris, um in das ferngelegene Viertel zu gelangen. Eine schreckliche Stille herrschte in der öden Stadt. Die vielen Haustore mit ihren schwarzen Kreuzen erinnerten an die Eingänge von Grabstätten. Von Batignolles bis zum Löwen von Beifort traf ich nicht weniger als drei Totentransporte. Jeder bestand aus etwa einem Dutzend Lastwagen, auf denen sich die Leichen häuften. Über der Totenstadt lachte eine richtige Aprilsonne, die Blätter bewegten sich leise im Wind, und die Vögel segelten stolz und frei durch die Lüfte oder hüpften lustig zwitschernd von Ast zu Ast. Als ich die Karussellbrücke überschritt, warf ich einen zärtlichen Blick auf die Ile de la Cite, mit ihrem Schiffsbug und dem Denkmal des galanten Königs Heinrich IV. Der köstliche Spitzturm der Heiligenkapelle, die göttlichen Türme von Notre-Dame standen wie in jedem Frühling gegen den zartblauen Himmel, aber der Fluß lag verödet, und nur der Wind kräuselte leicht die Oberfläche. Ein Frösteln lief mir über den Rücken, und ich beschleunigte meinen Schritt. Als ich am Tor der Astronautischen Generalgesellschaft geläutet hatte, dauerte es zunächst einige Minuten, bevor auch nur das kleinste Lebenszeichen aus dem Innern kam. Endlich hörte ich, wie man den Riegel zurückschob, während eine bekannte Stimme rief: »Sind Sie es, Manette?« Das Tor öffnete sich, und Antoine stand vor mir. Er war stark abgemagert und
ungewöhnlich blaß. Auch sein Blick war nicht ganz klar, und ich fragte mich, ob er nicht jeden Augenblick in einer .Blutlache zusammensinken würde. Er streckte mir seine Hand entgegen, die leicht zitterte. »Ich war auf deinen Besuch nicht gefaßt«, sagte er. »Und du gehst ohne Maske aus? Du hast also keine Angst vor der Pest?-------Ja, ich erwartete Manette. Du weißt ja, daß sie seit vierzehn Tagen hier untergebracht ist. Der Ort ist sicher, wir sind durch den Park geschützt. Aber ihre Mutter wollte nicht mitkommen. Sie geht also jeden dritten, vierten Tag und guckt mal nach der alten Dame, das ist natürlich leichtsinnig. Vorgestern telefonierte sie, daß sie ihre Mutter krank angetroffen habe und bei ihr bleibe, um sie zu pflegen. Seitdem nichts mehr-------« Nun erbleichte ich. »Und die Krankheit ihrer Mutter?« »Nein«, erwiderte Antoine, »hat mit der Pest nichts zu tun. Gott sei Dank! Eher so etwas wie eine Pneumonie, was aber nicht hindert, daß Drelin und ich in Unruhe sind. Als du geläutet hast, war ich gerade im Begriff, zu ihr zu gehen.« »Ich gehe mit dir«, erklärte ich. Bevor wir loszogen, stieg er in eine Art verchromten Taucheranzug, der seinen Körper völlig von der Außenluft abschloß. Er erklärte mir, daß dieser Apparat der Zusammenarbeit des Ingenieurs Drelin mit einem Arzt des Viertels zu verdanken sei. Letzterer hatte sich als Lohn für seine Bemühungen die Teilnahme an dem Flug zum Mars ausbedungen, da der Physiker und der Chemiker, die mitfliegen sollten, wie auch der arme Bolide tot waren. Ich fragte, wer denn der vierte Passagier sei, aber Antoine murmelte irgend etwas Unverständliches hinter seinem Taucherhelm, dann sprach er lauter und gab nochmals seinem Erstaunen Ausdruck, daß ich keine Maske trüge. Ich berichtete ihm also von meiner Antialbokokken-Impfung. Er zuckte nur die Achseln. »Bah, ich brauche dein Serum nicht, selbst wenn es wirksam sein sollte. Wir starten morgen bei Tagesanbruch, und wenn wir da oben auf dem roten Planeten nicht auch gerade die Pest antreffen —« Vom Löwen von Beifort bis zum Square de Vaugirard trafen wir keine Menschenseele. Nur Scharen verirrter Hunde sprangen knurrend, mit fletschenden Zähnen und geifernden Lefzen hie und da über die Avenuen. Als wir zur Straßenkreuzung bei der Convention kamen, überholte uns eine neue Kolonne von Lastwagen mit Toten. Wir zählten dreißig Fahrzeuge, die alle mit den traurigen Überresten der Pestkranken beladen waren. Aber dieses
Viertel schien weniger unter der Geißel gelitten zu haben als die im Zentrum der Stadt. An einigen Häusern fehlte das schwarze Kreuz, und an den Haustüren, auf denen es aufgemalt war, bezeugten die Listen, daß noch eine ganze Anzahl von Stockwerken verschont geblieben war. Diese Beobachtung hatte mir doch einige Hoffnung eingeflößt, bis wir vor Manettes Haus kamen und ich das schicksalsschwere Zeichen an der Tür fand. Ich näherte mich zitternd der Liste neben dem Kreuz und entdeckte sofort die gefürchtete Angabe. »Dritter Stock .links. Carlier.« Also es war doch geschehen! Alles um mich drehte sich, und ich mußte mich an die Mauer lehnen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Welt wurde mir in diesem Augenblick unwiderruflich zu einer schwarzen Eiseswüste, in der das Leben keinen Sinn mehr hatte. In meinem Schädel hämmerten dumpfe Schläge, und ich wäre sicher ohnmächtig geworden, wenn sich mir nicht eine Hand auf die Schulter gelegt und Antoine nicht mit einer durch den Taucherhelm abgeschwächten, aber teilnehmenden Stimme, die ich trotz meiner Erregung verstehen konnte, gesagt hätte: »Willy, hör doch zu! Carlier braucht nicht Manette zu sein, es kann sich auch um ihre Mutter handeln. Wollen wir nicht den Hausmeister fragen?« Ich klopfte mehrmals an das Fenster der Loge, ohne eine Antwort zu bekommen. Ich wollte die Tür öffnen, sie war verriegelt. Ich gab nicht nach, und schließlich hörte ich das Geräusch schlürfender Hausschuhe auf dem Boden, und das von weißen Haaren umrahmte, mit einer Maske bedeckte Gesicht eines Mannes, der ganz in schwarze Gaze eingewickelt war, erschien hinter dem hochgehobenen Vorhang. »Was ist los?« schrie der Mann und dachte gar nicht daran, den Riegel aufzuschieben. Ich fühlte mich außerstande, die Frage zu stellen, von der mein ganzes Schicksal abhing. Schließlich ergriff Antoine die Initiative. »Wir möchten gern etwas über Madame Carlier erfahren.« »Sie wehrt sich, so gut sie kann«, erwiderte mürrisch der Hausmeister. »Aber eine Lungenentzündung in ihrem Alter —« »Und ihre Tochter?« fährt Antoine mit unsicherer Stimme fort. »Ach die«, sagte der andere, »die hat gestern abend die Pest gepackt. Lang hat's nicht gedauert. Der Leichenwagen hat sie eben weggeschafft.« Der Vorhang fiel herunter. Ich trat mechanisch ein paar Schritte zurück, und die Todesliste fiel mir wieder ins Auge: »Dritter Stock links. Carlier«.
Die Erschütterung war so stark, daß ich in Ohnmacht sank. DIE GESCHICHTE DER SIEBEN Teurer Antoine! Welches Glück für mich, ihn an jenem Tage um mich gehabt zu haben! Er brachte mich durch ein paar kräftige Ohrfeigen wieder zur Besinnung und wollte mich in meine Wohnung zurückführen. Ich durchquerte wiederum dieses unglückliche Paris, ich sah seine Straßen und Häuser nicht, ich wußte nur eines, daß alle Freude für mich auf ewig erloschen war. Schweigend stützte ich mich auf Antoines Arm, mit gequältem Gesicht, starren Blicks ging ich neben ihm her. Er versuchte nicht, mich durch triviale Redensarten zu trösten, er schien übrigens fast ebenso erschüttert wie ich. Als wir über die Seine gingen, wollte ich mich in einem Anfall von Verzweiflung ins Wasser stürzen, um diesem jämmerlichen Dasein ein Ende zu machen. Antoine besaß große körperliche Kräfte, er hinderte mich mit Gewalt an meinem Vorhaben. Dann versuchte er mir klarzumachen, wie unvernünftig es sei, ihn in die Verlegenheit zu bringen, mich wieder herausfischen zu müssen, wozu er sich natürlich verpflichtet fühle. Ich mußte mich wohl oder übel überzeugen lassen. Wieder herrschte Schweigen zwischen uns, bis wir in die Nähe des Ateliers kamen. Antoine blieb stehen, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte mit erregter Stimme: »Hör zu, Willy, dieser Planet hat für uns keinen Wert mehr, weder für dich noch für mich. Du weißt, morgen startet der ,Astrion'. Willst du mithalten?« Ich schüttelte langsam den Kopf. »Du vergißt, daß alle Plätze besetzt sind.« »Aber nein«, entgegnete er. »Das heißt-------nun, ich glaube, das läßt sich schon noch einrichten.« Trefflicher Antoine! Seine Freundschaft war mir in dieser schmerzlichen Stunde eine wahre Wohltat. Aber ich konnte doch Gaston Balanche nicht im Stich lassen, was er, wenn auch widerwillig, zugeben mußte. Ich fühlte das Bedürfnis, ebenfalls etwas für ihn zu tun, und schlug ihm vor, sich mit dem Antialbokokken-Serum impfen zu lassen, dessen Wirkung meiner Ansicht nach feststand, obwohl die Frist für die Erprobung am Menschen noch nicht abgelaufen war.»Ich danke dir für deinen guten Willen«, antwortete er und drückte mir bewegt die Hand, »aber ich glaube, daß die weiße Pest für mich nicht in Frage kommt, und morgen bin ich schon weit weg.«
Im Augenblick des Abschieds fühlte ich ein Frösteln im ganzen Körper. Antoine stürzte sich morgen in die Unendlichkeit des Raumes. Angenommen, er hätte Erfolg und käme am neunzigsten Tag nach den Berechnungen des Ingenieurs Dreiin auf dem Mars an, so bestand doch nicht die geringste Aussicht, ihn auf Erden je wiederzusehen. Der Abschied galt also für immer. Das Schicksal hatte es so eingerichtet, daß Antoine an allen freudigen und tragischen Ereignissen meines Lebens Anteil hatte. Meine Jugendzeit in Avallon, mein Vater, der gutmütige Riese, die schattenhafte Gestalt meiner Mutter, Marie-Jeanne das Kind, das junge Mädchen, die Frau, die verachtete, dann heiß geliebte Marie-Jeanne, Manette, die Wonne meines Lebens, die tote Manette, alle diese Erinnerungen, die den Inhalt meines Daseins bildeten, waren mit Antoine verknüpft. So lange er noch da war, glühte noch ein Funken in der heißen Asche, mit ihm versank alles auf einmal. Als ich den Tod Manettes erfuhr, vergoß ich keine Träne, der Schlag war zu schwer. Dann erwachte ich aus meiner Ohnmacht und kehrte trockenen Auges in eine andere, verzerrte, schwarzverhangene Welt zurück, in der zu leben auch mir eine grauenhaft lächerliche Angelegenheit zu sein schien, die jede Leidensfähigkeit übertraf. Und nun schenkte mir der Gedanke, Antoine nicht wieder zu sehen, die heißesten Tränen. Ich warf mich schluchzend an seine Brust. »Aber, aber!« sagte er ernst und klopfte mir herzlich auf die Schulter, »wir sind doch Männer!« Ich schluckte meine Tränen hinunter und blickte ihn noch einmal an. Hinter dem Fenster seines Taucherhelms sah ich seine eigensinnige Stirn, auf der sich neuerdings eine große Querfalte eingegraben hatte. Ich sah die Sommersprossen, die mir seit unserer gemeinsam verbrachten Jugendzeit so vertraut waren; ein kaltes Feuer leuchtete noch immer aus seinen dunkelbraunen Augen. Er war im übrigen nicht weniger gerührt als ich, und um seine Haltung zu bewahren, wandte er seinen Blick ab. »Viel Glück, Willy!« sagte er. Ich bemerkte, daß er die Zähne zusammenbiß. Als sich unsere Blicke noch einmal begegneten, wurden seine Augen feucht. Gleich darauf wandte er sich kurz um, und ich sah ihn mit großen Schritten die Avenue hinunterschreiten, ein seltsamer, neuzeitlicher Ritter unter seinem Anzug aus glänzendem Metall. In welchem Zustand, in welcher Niedergeschlagenheit ich diesen Tag beendete, möchte ich lieber nicht beschreiben. Als Gaston Balanche von
meinem Unglück erfuhr, drückte er mir nur die Hand, aber in seinen Augen las ich eine menschliche Anteilnahme, die mir in die Seele drang. Als die Nacht kam, versank ich mit völlig erschöpften Nerven in einen schweren Schlaf wie in einen tiefen Brunnen ohne Boden, in den kein Strahl der Freude drang und den ich nie mehr verlassen sollte. Der Morgen graute durch die Scheiben, als ein ohrenzerreißendes, gellendes Geräusch die Luft erzittern ließ. Ich fuhr im Bett hoch, meine Augen blinzelten, und ich stopfte mir mit beiden Händen die Ohren zu. Es war ungefähr so, als ob alle meine Nerven durch die Hörorgane einer besonders schrecklichen Tortur unterworfen würden. Glücklicherweise nahm das furchtbare Geräusch bereits ab, und ich versuchte, es näher zu bezeichnen. Man hätte zunächst an das Kreischen einer riesigen Säge denken können, die die Welt in zwei Teile zerschnitt, wie die Schere einen Stoff, dann an das Geräusch eines Brummteufels, wie ihn die Kinder zum Spielen haben, und schließlich klang es nur noch wie das Summen einer Fliege; dann wurde es wieder still, totenstill in diesem in eine Einöde verwandelten Paris, in dem bei Sonnenaufgang nicht mehr die Gemüsekarren über das Pflaster rollten, nicht mehr die Milchkannen beim Abladen klapperten, das Getriebe der Autobusse beim Gangwechsel gerade vor meinem Haus nicht mehr kratzte, in dem kein nächtlicher Bummler mehr, der vom Montmartre herunter kam, feuchtfröhlich den Refrain des neuesten Schlagers vor sich hinlallte. Mitten in diesem übernatürlichen Schweigen kam mir wieder die ganze Grausamkeit meines Schicksals zum Bewußtsein. Daß ich so brutal geweckt wurde, verdankte ich dem Start des »Astrion« zum Mars. Lebte Antoine wohl noch, nun das Geschoß, das ihn trug, die Planetenbahn der Erde bereits verlassen hatte? Hätte ich sein Angebot, mit ihm zu fliegen, nicht doch annehmen sollen? Oder war mein ältester Kamerad vielleicht nur noch eine Hand voll Asche inmitten eines Metallblocks, der in ein paar Wochen auf der Oberfläche eines toten Planeten zerschellen würde? Ich erhob mich. In meinem zum Laboratorium umgewandelten Empfangszimmer fand ich den Meister, der wie immer schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen war, über sein Mikroskop gebeugt an der Arbeit. Seine Unternehmungen drehten sich jetzt um eine Mischung des ursprünglichen Panvaccin mit dem Antialbokokken-Serum, da das NeoPanvaccin noch nicht ganz den Erwartungen entsprach. Als er meine Schritte hörte, richtete er sich auf und warf mir einen herzlichen Blick zu. »Na, lieber
Durand, wie fühlen Sie sich?« fragte er mich. Da ich vage den Mund verzog und die Achseln zuckte, um anzudeuten, daß ich zwar völlig gesund sei, mich diese Tatsache aber nicht mehr interessiere, fuhr er fort: »In längstens acht Tagen beginne ich zu impfen, was das Zeug hält.« Ich wandte den Kopf, ohne zu antworten. »Ja«, sagte er, »ich weiß! Vielleicht ist es dann schon zu spät. Aber ich muß meiner Sache sicher sein.« Inzwischen sollte ich mich auf seinen Wunsch mit den Behörden in Verbindung setzen, um die bestmöglichen Voraussetzungen für die allgemeine Impfung zu schaffen. Seit dem gestrigen Nachmittag funktionierte das Telefon nicht mehr, und der Rundfunk blieb stumm. Ich verwandte mehrere Tage darauf, zu den Ministerien, den Bürgermeisterämtern und den Kommissariaten zu laufen. Überall herrschte Einsamkeit und Stille. Wie naiv war ich doch! Wie sollte die Staatsmaschine noch laufen, wenn die Staatsbürger verschwanden? Selbst die Krankenhilfs-stationen waren verlassen, und ich bemerkte einen neuen Vorgang. Viele Kranke stürzten, sowie sie die ersten Anzeichen der Infektion durch den Coccus albus merkten, aus den Häusern, liefen durch die Straßen und über die Plätze, um Hilfe zu suchen, drehten sich um sich selbst wie ein von der Drehkrankheit befallener Hammel, bis sie schließlich zur Erde rollten und in einer großen Blut- ' lache ihr Leben aushauchten. Das völlige Aufhören des öffentlichen Dienstes hatte zur Folge, daß die Leichen nicht mehr weggeschafft wurden und auf der Straße verwesten. Von dem Gestank will ich lieber nicht sprechen. Als ich Gaston Balanche das hoffnungslose Resultat meiner Bemühungen in ganz Paris bekannt gab, strich er sich mit der Hand über die Stirn und seufzte tief; ich ahnte, was ihm durch den Kopf ging. Waren wir die einzigen Pariser, die einzigen Franzosen, wenn nicht die einzigen Weißen, die das Schicksal dazu bestimmt hatte, die Katastrophe zu überleben? Aber dieser Gedanke, der sich in sein Hirn gebohrt hatte, ohne daß sein unbeugsamer Gelehrtenverstand etwas dagegen unternehmen konnte, sollte sich mir erst viel später enthüllen. Am Vorabend des Tages, der als letzter für die Erprobung des Antialbokokken-Serums festgesetzt war, ging ich vom Atelier bis zur Rue Royale hinunter, ohne ein Zeichen menschlichen Lebens zu entdecken. Dafür sah ich zahlreiche in Verwesung übergegangene Tote an der Sonne dörren. Sie lagen zusammengerollt vor den Haustüren oder lehnten wie Hampelmänner gegen die Fenstersimse, andere lagen mitten auf der Straße auf dem Rücken, mit gekreuzten Armen. Einer war auf der Treppe der
Madeleine niedergebrochen, die Nase auf einer Stufe, die Arme nach vorn gestreckt, ein anderer war mit dem Oberkörper in die Auslage eines Parfümerieladens gestürzt und hatte im Fallen die Scheibe zersplittert. Noch ein anderer schien wie ein übermütiger Betrunkener den Mast einer elektrischen Bogenlampe zu umarmen. Überall gab es Männer, Frauen und Kinder in den verschiedensten Stellungen, in denen sie vom Tod überrascht worden waren. Ich muß gestehen, daß mich das grausige Schauspiel nahezu unberührt ließ. Obwohl es sich für ewige Zeiten in mein Gedächtnis einprägte, betrachtete ich es mit kalten, abwesenden Blicken. Was kümmerte mich noch eine Welt, in der Manette nicht mehr existierte? Stand diese allgemeine Trostlosigkeit, die sich meinen Augen darbot, nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit Manettes Tod, durch den mir die Welt für immer verödet schien? Ich wollte eben die Place de la Concorde überschreiten, als ich aus einem Torweg, neben dem auf einer Marmortafel der Name einer berühmten Modefirma stand, eine Gestalt aus einem Alptraum kommen sah. Sie trug keine Maske, ihr Schädel war kahl wie ein Ei, an ihm saß ein schwarz-grau melierter fächerförmiger riesiger Vollbart. Die Seltsamkeit dieser Erscheinung rührte aber weniger von den physischen Gegebenheiten her als von ihrer Kleidung. Der Mann trug mehrere verschiedenfarbige Frauenkleider, die er zweifellos aus dem verlassenen Modeatelier entliehen hatte, übereinander und ging nun mit koketter Miene, wiegenden Hüften und hochgehobenen Röcken, aus denen ein paar grobe gestreifte Samthosen heraussahen, über die Straße. Er überholte mich, ohne mich zu bemerken, sprang vom Trottoir auf den Fahrdamm und wieder zurück und stieß dabei kleine, unverständliche Rufe aus. Als er beim Obelisk angekommen war, wandte er ihm den Rücken, hob seine Röcke auf, verbeugte sich wie zu einer feierlichen Reverenz und stieß einen unverständlichen Laut aus. Dann raffte er die Schleppen hoch, die ihn beim Gehen hinderten, und eilte im Galopp auf die Seine zu. Als er auf der Brücke angekommen war, lachte er grell, bestieg die Brüstung, stürzte sich kopfüber hinunter und verschwand. Als ich die Brücke erreicht hatte und die Oberfläche des Flusses absuchte, war von dem armen Narren keine Spur mehr zu sehen. Ich könnte mir vorstellen, daß dieser Wahnsinnsfall damals nicht vereinzelt war, obwohl ich keine Gelegenheit hatte, weitere zu beobachten. Ich habe von meiner völligen Gleichgültigkeit der äußeren Welt gegenüber an jenem Morgen gesprochen, aber eine so tragische Episode konnte doch nicht
ohne Eindruck auf mich bleiben. Einen einzigen lebenden Menschen hatte ich noch in Paris getroffen, und das war ein Mann, der den Verstand verloren hatte! Ich war noch völlig erschüttert, als hoch am Himmel ein leises Gebrumm ertönte, rasch anwuchs und plötzlich verstummte. Ich begriff die Situation noch gar nicht, als ein Flugzeug über den Platz rollte und fünfzig Meter von mir entfernt anhielt. Ein Flugzeug! Es war also noch nicht alles verloren? Welche Gegend des Landes hatte sich vor der Katastrophe retten können? Ich eilte auf den Apparat zu, die Haube wurde geöffnet, und ein Mann sprang auf die Erde, ein Riese, schneeweiß gekleidet mit einem im schönsten Schwarz leuchtenden Gesicht. Er entblößte mit einem freundlichen Lächeln seine blendendweißen Zähne und streckte mir seine riesige Pfote entgegen, die an eine Kohlenschaufel erinnerte. »How do you do, boy?« Ich besaß zu jener Zeit nur sehr geringe englische Kenntnisse, aber der Flieger enthob mich sofort jeder Verlegenheit. Er war im Staate New-Hampshire aufgewachsen, in dem ein großer Teil der Bevölkerung aus Kanada stammte und die französische Muttersprache beibehalten hatte. So sprach der Ankömmling französisch mit einem köstlichen normannischen Akzent. Er kam von einem Flugplatz im Staate Rhode-Tsland, sein Stratosphärenflugzeug hatte ihn in fünf Stunden hergebracht. Er erklärte mir das, nachdem er sich vorgestellt hatte: »Frankie Thompson.« Er fügte gleich hinzu: »Kennen Sie den Professor Balanche?« Als ich bejahend nickte, fuhr er fort: »Wollen Sie mich bitte zu ihm führen? Ich habe ihm eine Nachricht zu überbringen.« Unterwegs stillte er meine Neugier in bezug auf Amerika, Wir waren seit mehr als einem Monat ohne Nachrichten von dort. Die letzte Mitteilung, die wir über den Rundfunk erhalten hatten, verbot bei Todesstrafe jedem aus Europa kommenden Weißen, welcher Nationalität er auch angehören mochte, den Zugang zur Neuen Welt. Keinem Schiff war es erlaubt, sich den amerikanischen Küstengewässern zu nähern; kein Flugzeug, keine bemannte Rakete oder irgend ein anderer Flugapparat, der auf dem Luftwege landen könnte und auf dem alten Kontinent ein Flugfeld benützt hatte, durfte das zwischen Alaska und dem Cap Horn gelegene Territorium überfliegen. Frankie Thompson belehrte mich, daß diese Maßregeln zu spät ergriffen wurden. Als die weiße Pest sich so verheerend ausbreitete, waren zahlreiche Europäer über den Ozean geflohen. Die Ansteckung begleitete sie, und die Epidemie hatte sich mit unglaublicher Schnelligkeit verbreitet, so daß sie
schließlich in Stadt und Land dieselben Ausmaße annahm wie in Frankreich oder Deutschland, nur mit dem Unterschied, daß die Schwarzen und Gelben gegen den Coccus albus 2 unempfindlich blieben. Sieben Milliardäre, die reichsten Männer Amerikas, hatten sich zusammengetan und die Hälfte ihres Vermögens dem Wissenschaftler geboten, der im Stande wäre, den tödlichen Bazillus unschädlich zu machen. Verlorene Mühe. Dann glaubten dieselben Milliardäre, ein Schutzmittel gefunden zu haben, wie es sich eben nur solche Krösusse leisten konnten. Mitten im Felsengebirge des Staates Wyoming hatten sie ein Basaltplateau ausfindig gemacht, das durch kahle Gipfel, gewaltige Granitrücken und schwindelerregende Abgründe auf mehrere hundert Kilometer von jeder bewohnten Siedlung getrennt war. Auf ihren Befehl hatte eine Armee schwarzer und gelber Arbeiter in weniger als zwei Wochen eine richtige Festung erbaut, die nach allen Seiten durch eine doppelte Reihe von Digamma-Kasematten und einen mit Hochspannung geladenen dreifachen Gürtel aus Stacheldraht geschützt wurde. Die Sieben waren die einzigen Weißen, die Zugang zu dieser Betonfestung hatten, die mit Wismutplatten verkleidet war, deren leicht rötliche Farbe mit der des umliegenden Gebirges übereinstimmte. Jeder von ihnen besaß seinen eigenen Pavillon. Der Sitzungssaal, der sich im Zentrum der Festung befand, war in sieben selbständige Kammern aufgeteilt, die durch dicke Glaswände abgeschlossen und mit Mikrophonen ausgerüstet waren, so daß sich die Milliardäre sehen und sprechen konnten, ohne der Gefahr der gegenseitigen Ansteckung ausgesetzt zu sein. Auf Grund dieser bis ins kleinste Detail durchdachten Vorsichtsmaßnahmen konnte man annehmen, daß die Sieben die besten Aussichten hätten, der allgemeinen Katastrophe zu entgehen. Die Festung von Wyoming war für zwei Jahre mit Lebensmitteln versehen, ein Dutzend Flugzeuge, ebensoviele »Alerions« und Kraftwagen mit Rädern und Raupenketten waren immer startbereit. Das ständige Personal setzte sich aus zweihundert Schwarzen und Gelben zusammen, unter denen sich Ärzte, Ingenieure und die verschiedensten Handwerker befanden. So konnten die Sieben völlig selbständig da oben existieren, ohne die geringste Hilfe der Außenwelt. Sie waren etwa acht Tage in ihren Pavillons installiert, als auf der Ratssitzung, die jeden Vormittag um elf Uhr stattfand, einer von ihnen fehlte. Der Abwesende hieß James Wade Shepherd und hatte sein ungeheures Vermögen durch die
Herstellung von Fischkonserven verdient. Er war als erster auf den Einfall mit der Festung der Sieben gekommen, deren Verwirklichung er mit dem berühmten Herbert Wilcox Bradley, dem Stahlkönig, überwachte. Alle telefonischen Anrufe blieben an diesem Morgen unbeantwortet. Die Pavillons waren so ausgestattet, daß alle Lebensbedürfnisse auf automatischem Wege befriedigt wurden, vorausgesetzt natürlich, daß der Bewohner diese Einrichtung in Anspruch nahm. Man erkundigte sich. Seit dem vergangenen Abend hatte James Wade Shepherd nicht nach seinem schwarzen Kammerdiener verlangt. Ein chinesischer Arzt wurde in den Pavillon geschickt, aus dem kein Lebenszeichen mehr drang. Er kam mit der befürchteten Nachricht zurück, daß der König der Fischkonserven wie irgendein Dockarbeiter der weißen Pest erlegen war. Die auf sechs reduzierten Sieben erkannten das Prekäre ihrer Lage. Es galt, energisch zu handeln: Herbert Wilcox Bradley zeigte sich auf der Höhe der Situation. Nachdem er von seinen fünf Gefährten absolute Vollmacht erhalten hatte, entschied er, daß der Shepherdsche Pavillon sofort niedergebrannt, der Platz, auf dem er stand, mit den schärfsten Desinfektionsmitteln besprengt und dann mit einer Betonschicht überdeckt werden müsse, die ihrerseits wieder mit Wismutplatten zu panzern sei. Ferner sollte sowohl das schwarze wie das gelbe Dienstpersonal des Verstorbenen aufgefordert werden, die Festung ohne Verzug zu verlassen. Die Ausführung folgte den Anordnungen auf dem Fuße. Die Bedrohung hatte vor den Pavillons der Überlebenden nicht haltgemacht, und jeden Morgen betrachteten sich die Sechs, wenn sie in ihre Glaskäfige gekommen waren, mit mißtrauischen Augen. Der Diktator Herbert Wilcox Bradley bestimmte, daß die Anwesenheit bei den Beratungen obligatorisch sei. Wer immer auch dabei fehlen mochte, würde als angesteckt gelten und sein Pavillon dieselbe Behandlung wie der Shepherdsche erfahren. Vierzehn Tage später wurde der Pavillon des Zinnkönigs den Flammen überantwortet. Der unerschrockene Herbert Wilcox Bradley schlug bei der nächsten Zusammenkunft vor, jeder solle wieder seine volle Bewegungsfreiheit haben. Aber wohin wollte man sich wenden? Europa lag in der Agonie. In Amerika hatten nach den neuesten Meldungen des Rundfunks bereits die Farbigen die Zügel der Regierung ergriffen. Wie hätte es auch anders sein können? Die Weißen bildeten in der Bundes-Union nur noch eine verschwindende Minderheit. Es war ohnedies ein Wunder, daß die schwarzen und gelben Angestellten der Festung die Verträge mit ihren weißen Herren noch nicht
gekündigt hatten. Die Fünf beschlossen, sich die Sache vierundzwanzig Stunden lang zu überlegen. Jeder einzelne sollte am folgenden Tag einen Vorschlag machen. Aber ein unvorhergesehenes Ereignis veranlaßte eine neuerliche Sitzung noch am selben Tage. Der New Yorker Rundfunk brachte aus französischer Quelle eine aufsehenerregende Mitteilung. Der berühmte Professor Balanche in Paris hatte den Erreger der weißen Pest entdeckt und war mit der Herstellung des rettenden Impfstoffes beschäftigt. »Meine Herren«, sagte Herbert Wilcox Bradley, »ich nehme an, Sie sind mit mir einer Meinung. Wir wollen alles unternehmen, um Professor Balanche hierher kommen zu lassen. Morgen, so früh wie möglich, soll ein Flugzeug mit unserem besten Piloten starten. Der Professor mag seine Bedingungen stellen, wir sind mit allem einverstanden.« Bei Sonnenaufgang des nächsten Tages hatte Frankie Thompson an Bord seines Stratosphärenflugzeuges die Festung verlassen. Er würde noch am selben Tage Paris erreicht haben, wenn ihn nicht eine Flugstaffel des Küstenschutzes zur Landung auf dem Flugfeld von Providence im Staate Rhode-Island gezwungen hätte. Obwohl die öffentliche Gewalt in andere Hände übergegangen war, blieben die Anordnungen der »weißen« Regierung auch weiterhin in Kraft, und nach diesen war es jedem Flieger verboten, das amerikanische Territorium zu verlassen. Der Abgesandte der Fünf hatte länger als eine Woche auf die Startgenehmigung warten und schließlich die Überwachungsmannschaft irreführen müssen, um heimlich davonzufliegen. Frankie Thompson ging mit großen Schritten und rollenden Schultern neben mir durch die verlassenen Avenuen. Der Anblick der Toten schien seiner guten Laune keinen Abbruch zu tun. Er maß ihnen sichtlich nicht mehr Bedeutung bei als einem Buschen Unkraut oder einem Kieselstein. Ich bewunderte seine Bewegungen, die breiten Schultern, das seelische Gleichgewicht und die große Vitalität. Mit seinen bemerkenswerten körperlichen Eigenschaften gehörte er zu dem von den Anthropologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Neu-Neger bezeichneten Typus, der sich in Amerika aus einer Mischung von Negern mit Weißen und den ursprünglich ansässigen Indianern herausgebildet hatte. Vom Indianer stammte das straffe, glatte Haar, vom Neger neben der ebenholzschwarzen Hautfarbe die hauptsächlichen Gesichtszüge, aber stark abgeschwächt: die Ohren waren feiner, die Nase weniger breit, die Lippen weniger dick. Hier machte sich das weiße Blut bemerkbar, das auch in der ganzen angenehmen Art der Haltung
zum Ausdruck kam. Als ich Frankie Thompson Professor Balanche vorgestellt und sich die beiden Männer die Hand geschüttelt hatten, nahm der Gelehrte die Botschaft Herbert Wilcox Bradleys zur Kenntnis. Er las sie sehr aufmerksam und steckte sie dann in die Tasche. »Zunächst muß ich bis morgen warten, um vor jeder Überraschung sicher zu sein. Die Zeit für eine Erprobung kann nicht einfach um vierundzwanzig Stunden abgekürzt werden, so wichtig meine Anwesenheit anderwärts auch sein mag. Man kann einen physiologisch-chemischen Vorgang nicht vorverlegen wie ein Mittagessen.« Er schien einen Augenblick nachzudenken, und seine Augen leuchteten, als er fortfuhr: »Ich muß noch hinzufügen, daß ich, bevor ich an Amerika denken kann, den Unglücklichen meines eigenen Landes helfen muß. Ich werde zunächst die Pariser impfen.« Hier glaubte nun Frankie Thompson, ein Wort sagen zu müssen. »Ich erlaube mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, Herr Professor, daß mich die reichsten Männer der Welt geschickt haben.« Gaston Balanche zuckte langsam die Achsel. »Vor dem Tode, mein Herr«, sagte er leise und legte seine Hand auf die Schulter des Fliegers, »sind alle Menschen gleich.« Der Schwarze machte eine resignierte Bewegung und drang nicht weiter in den Professor. Ich hatte ihn im Verdacht, daß er es nicht für so notwendig hielt, sich für eine Sache einzusetzen, die ja schließlich nur die Weißen etwas anging. Er nahm mit ausgezeichnetem Appetit an unserer Mahlzeit teil, die aus Konserven und getrockneten Mandeln bestand, legte sich auf einen Diwan und schlief sofort ein. Am nächsten Morgen wandte er sich nochmals an den Professor mit derselben offenen Unbefangenheit, aber ich hatte den Eindruck, als wolle er nur sein Gewissen entlasten. »Herr Professor, verzeihen Sie die Frage: wann ungefähr glauben Sie, Europa verlassen zu können?« »Wenn der letzte Franzose geimpft sein wird«, antwortete Gaston Balanche ruhig und bestimmt. Seit seiner Übersiedlung hatte der bewundernswerte Mann das frühere Atelier des »natürlichen Porträts«, das inzwischen zur Würde eines Laboratoriums aufgestiegen war, noch nicht verlassen. Nun fuhren wir los, er, Frankie Thompson und ich, in dieses Paris, das dank der genialen Entdeckung des Professors endlich gerettet werden sollte. Um die kostbare Zeit nicht zu verlieren, nahm er das Serum und alle notwendigen Instrumente im Auto mit. Trotz meiner pessimistischen Berichte hatte er sich bis jetzt nicht vorstellen
können, daß seine wunderbare Entdeckung zu spät kommen würde, so wie ein Schwerkranker bis zum letzten Augenblick nicht glauben will, daß er stirbt. Aber je länger der Wagen in langsamem Tempo durch die verlassenen, mit Toten besäten Straßen fuhr, umso mehr verdüsterte sich sein Gesicht. Wir durchquerten gewissenhaft ein Viertel der unglücklichen Stadt nach dem ändern. Der Coccus albus2 hatte ganze Arbeit geleistet. Man konnte nach Belieben in die Häuser eintreten, die offenen Türen klapperten schaurig bei jedem Windzug. In den Arbeitervierteln Menilmontant, Belle-ville, La Chapelle, Charonne, Les Goblins waren die Leichen noch zahlreicher. Die Bewohner wollten sich im Tode nicht von den Ihren trennen. Man fand sie ausgestreckt auf den Klinkern ihrer Küche, andere mit gekreuzten Armen, den Kopf in ihrem Strohsack vergraben, auf dem Bett liegen. Ich erinnere mich einer ganzen Familie, die augenscheinlich zum Abendessen versammelt war, Vater, Mutter und zwei Kinder auf ihren Stühlen, den Kopf auf die Brust gesenkt, mit herunterbaumelnden Armen wie Figuren eines Marionettentheaters nach der Vorstellung, und auf dem Tisch standen noch die Teller mit der kaltgewordenen Suppe. In den wohlhabenden Vierteln, Auteuil, Passy, La Muette, Neuilly stand die Mehrzahl der Häuser leer; aber das Durcheinander in den Wohnungen ließ eine überstürzte Flucht erkennen. Bis zum Abend hatten wir in der ganzen Stadt keine Spur menschlichen Lebens entdeckt. Nur Scharen von wilden Hunden, die an Wolfsrudel erinnerten, irrten durch die Straßen. Eine einsame Katze flitzte zuweilen wie ein Pfeil mit waagerechtem Schwanz und einer ganzen Meute auf den Fersen quer über den Fahrdamm. Wir fuhren in stummer Beklemmung — mit Ausnahme von Frankie Thompson, der noch immer wunderbar gleichmütig war — durch den Faubourg St. Honore, als Gaston Balanche den Wagen anhielt. Wir befanden uns vor dem Elysee-Palast. Aber keine Schildwache mit Tschako und Federbusch stand vor dem Tor. Wir stiegen die Ehrentreppe hinauf, ohne daß uns ein livrierter Portier nachgestürzt wäre und unseren Passierschein verlangt hätte. Ich sah feinen Staub auf den Möbeln, marmornen Kaminplatten und Konsolen liegen, auf denen die stehengebliebenen Uhren alle eine andere Stunde anzeigten. Wir gingen durch die vergoldeten Salons, die jetzt schon wie eine Grabkammer aus der Zeit Sesostris' der Vergangenheit anzugehören schienen. Plötzlich zog sich mir das Herz zusammen, und eine tiefe Traurigkeit erfaßte mich. Ich vergaß
sogar Manette und dachte nur noch an die riesige, tote Stadt, die nun im Staub der Zeit versank wie Theben, Memphis, Susa, Ekbatana, Sardes, Athen, Carthago und Syrakus. Gaston Balanche, der aus der Picardie stammte, und ich, ein Burgunder, waren die letzten beiden Pariser und verlebten den letzten Tag in Paris. Der Meister war sicherlich ebenso erschüttert wie ich. Ich sah seinen starren, tränenerfüllten Blick, während unser schwarzer Begleiter gutgelaunt überall herumschnüffelte, einen Spiegel anhauchte und dann mit dem Finger die Spuren seines Atems wegwischte oder das Ohr an das Glas einer Standuhr legte. Schließlich fand er den Schlüssel einer Uhr, zog sie auf und freute sich wie ein Kind. Konnten wir ihm in unserer Verzweiflung einen Vorwurf daraus machen? Für ihn und seine Rassengenossen hatte sich der Kreis noch nicht geschlossen wie für uns, ihre Zeit war noch nicht vollendet. Lebte in seinem Gehirn schon der Gedanke einer gerechten Wiedervergeltung an diesen Weißen, die so lange seine Brüder wie eine ganz gewöhnliche Handelsware betrachtet hatten? Jedenfalls berührte ihn das große Drama weniger als so eine merkwürdige Einzelheit wie die stehengebliebenen Uhren. Vielleicht sprach aus seiner Haltung auch nur die professionelle Kaltblütigkeit des Fliegers, für den alle Merkwürdigkeiten der Welt eine auswendiggelernte Lektion sind, die lediglich dem Neuling imponiert. Der Tag neigte sich, und wir verließen wortlos das Palais. Kein Licht flammte in den verlassenen Straßen auf, über denen das große Schweigen der Dämmerung wie auf einer Landschaft ohne Vögel hing. Als wir vor dem Atelier in Batignolles den Wagen verließen, fragte Frankie Thompson freundlich: »Nun, Herr Professor, fliegen wir morgen ab?« Gaston Balanche preßte die Lippen zusammen, dann antwortete er mit erstickter Stimme: »Paris ist nicht ganz Frankreich. Es gibt noch Lothringen, die Champagne, Burgund, das Elsaß, die Picardie, die Auvergne, die Provence und all die anderen Provinzen. Frankreich ist ein gewaltiger Körper, und jedes einzelne Glied dieses Körpers ist gleich wertvoll. Ich habe die Pflicht, jedem ohne Ausnahme zu helfen, vorausgesetzt, daß ich die Mittel dazu habe.« Am nächsten Morgen starteten wir bei Sonnenaufgang mit dem Flugzeug des wackeren Frankie zu einer Entdeckungsreise durch die französischen Provinzen. In Reims auf dem Kathedralenplatz, rings um die Statue der heiligen Johanna, zu Füßen der herrlichen Türme aus dem Mittelalter, sah ich wieder Haufen von Leichen und auf den Straßen hie und da einen zu Boden Gestürzten, der noch den Hals
einer zerbrochenen Flasche umklammerte, weil manche glaubten, ein Rausch sei der beste Schutz gegen die Ansteckung. In Nancy lagen die Straßen vollkommen leer. Die Lothringer waren von jeher äußerst verschlossene Menschen, die unter einer kühlen Maske ihre leidenschaftliche Veranlagung verbargen. Sie wollten alle würdig in ihren vier Wanden sterben. Der einzige Leichnam, den wir entdeckten, war im stillen Cinq PiquetsViertel der eines jungen Mädchens mit dem Einschußloch einer Revolverkugel in der Schläfe (es handelte sich um einen Selbstmord aus unglücklicher Liebe). Weder in Boulogne noch in Calais, in Le Havre, Saint Malo oder Brest sah man Schiffe im Hafen, alle hatten ihre Anker gelichtet und Passagiere nach Übersee befördert, die glaubten, sich durch die Abreise vor der Epidemie in Sicherheit zu bringen. In jedem Hafen, in dem sie Zuflucht zu finden hofften, wurden sie abgewiesen, und nun trieben alle diese Schiffe, Passagierdampfer oder Barkassen, Dreadnoughts oder Frachter ohne Kohlen und öl als schwimmende Särge ohne Kurs auf den Wellen, und diese Gespensterschiffe warteten nur auf ihren unvermeidlichen Untergang. Von Ost nach West, von Nord nach Süd, unter den Kreuzfenstern von Blois oder im Schatten der hohen Mauern des päpstlichen Palastes in Avignon, in den kleinen trauten Gassen, die in Toulon zum Quai de Cronstadt mit seinen Gerüchen und den spiegelnden Reflexen der Sonne auf dem Wasser führten, oder auf dem königlichen Boulevard des Pyrenees in Pau,- von dem aus der Spaziergänger mit einem einzigen Blick die herrlichen blauen und grünen Bergketten erfaßte, überall, an allen vier Ecken meines geliebten Vaterlandes, dasselbe trostlose Schauspiel. Frankreich war tot, wie die Schwesternationen und die feindlichen tot waren, und das großsprecherische Italien, das heißblütige Spanien, das England Shakespeares, das Deutschland Luthers, das göttliche Hellas, das heilige, rote Rußland, die Niederlande des Erasmus und das Portugal Camoes', die blonden Skandinavier und die klugen Bergbewohner der Schweiz waren ihm ins Grab gefolgt. Europa war einmal. Drei Tage forschten wir vergeblich, dann setzte Frankie Thompson sein Flugzeug auf den Strand der bretonischen Küste, denn Gaston Balanche wollte nicht mehr nach Paris zurückkehren, sein Entschluß war gefaßt. Wenn ein paar Weiße noch gerettet werden konnten, dann waren sie höchstens in Amerika zu finden. Einige Stunden später schwebten wir über dem Ozean, den wir nur zwei- oder dreimal während des Fluges durch Wolkenlöcher wie einen grünen Fleck da unten liegen sahen. Über die Decke
von weißen Kumuluswolken, die wie rohe Baumwollballen aussahen, glitt der schlanke Schatten des Flugzeuges. Wirre Gedanken jagten durch mein Hirn: Avallon, der schweigsame Pipin der Kurze, Marie-Jeanne, Antoine, ein Musikabend auf der Promenade des Terreaux, und immer wieder und wieder Manette, die auf ewig entschwundene Manette. — Die Sonne brannte hoch am durchsichtigen Himmel, und ihr Reflex auf den weißen Wolken blendete die Augen. Gaston Balanche saß wie eine Statue unbeweglich in seinem Sessel und träumte starren Auges vor sich hin. Plötzlich wandte sich Frankie Thompson nach mir um und sagte strahlend: »Wir sind da!« Nervös sah der Professor zur Erde hinab. Die Wolkendecke, die uns von der Insel Ouessant an begleitet hatte, zerriß wie ein Stoff, den man mit der Schere anschneidet und dann mit einem kurzen Ruck in zwei Teile reißt. Ich sah tief unten eine zerklüftete Küste. »Das ist Labrador«, erklärte der Pilot mit zufriedener Miene. »Es gab keine andere Möglichkeit, die Küstenverteidigung zu umfliegen.« Die neue Welt breitete nun ihre grünen und rötlichbraunen, von Flüssen und quecksilberfarbigen Seen unterbrochenen Felder und Äcker unter uns aus. Eine große Wasserfläche folgte, die Saint James-Bai. Dann kamen riesige Wälder und wieder Seen und Flüsse, bis die Erde wie in einer plötzlichen Aufwallung sich uns entgegenzuwerfen schien. »Das Felsengebirge«, sagte Frankie Thompson. »Machen Sie sich fertig, wir gehen gleich im Sturzflug hinunter.« Ich erkannte sofort nach der Beschreibung des Fliegers die Granit-Landschaft, die spitzen Gipfel und das Basalt-Plateau, auf dem die Sieben ihre Pavillons errichtet hatten. »Achtung«, rief Frankie und hob einen Arm hoch. Das Flugzeug stürzte wie ein Geier auf seine Beute abwärts, und trotz der beiden ärztlich empfohlenen Antifall-Tabletten, die ich vorher genommen hatte, krampfte sich mir der Magen schmerzhaft zusammen. Die Festung wurde immer größer, zuerst bemerkte ich nur den Gürtel, dann die einzelnen Pavillons oder vielmehr das, was von ihnen übrig geblieben war; denn als Frankie Thompson mit einer wahren Meisterschaft seine Maschine auf dem kleinen Flugplatz abgestellt hatte, sah ich, daß von den sieben Pavillons sechs dem Erdboden gleichgemacht waren. (Oben vom Flugzeug aus zeichneten die mit Wismut gepanzerten Betonplatten, die nun die zerstörten Teile bedeckten, die früheren Umrisse auf dem Felsen ab; daher mein Irrtum.) Wir stiegen aus dem Flugzeug. Niemand war zu unserem Empfang
erschienen. Etwas unangenehm berührt blieben wir einen Augenblick auf dieser Plattform aus rotem Sand stehen, die wie ein Tennisplatz sorgfältig gepflegt war. Von uns dreien schien unser Pilot keineswegs außer Fassung. Er wandte sich zum Ausgang des Flugfeldes, und wir folgten ihm auf dem Fuße. Über uns hoch im klaren Himmel zogen Kondors ihre großen Kreise. Gaston Balanche machte mich mit einer Bewegung des Kopfes auf sie aufmerksam. Einige Minuten später standen wir im eigentlichen Kern der Festung, vor uns streckte sich ein siebeneckiges, merkwürdiges Gebäude empor mit Mauern aus Glas. Das war der Konferenzsaal gewesen. Von allen sieben Wänden führten sternförmig sieben blaue Mosaikwege zu den ursprünglichen sieben Pavillons. Wir näherten uns dem einzigen noch intakt gebliebenen, der, wie uns Frankie Thompson unterrichtete, von Herbert Wilcox Bradley selbst bewohnt wurde. Ich setzte eben den Fuß auf die erste Stufe der Treppe, die den Zugang bildete, als sich die Tür öffnete und Herbert Wilcöx Bradley erschien. Er machte keinen sehr angenehmen Eindruck auf mich. Er war klein und untersetzt, sein Kopf saß in den Schultern, er hatte ein Kiefer wie ein Raubtier und buschige Augenbrauen, die in ihrer Rußschwärze stark mit der blassen Haut und den schlohweißen Haaren kontrastierten. Seine kleinen grauen Augen funkelten ungewöhnlich stark in den tiefen Augenhöhlen. In der rechten Hand hielt er eine Strahlenpistole, von der er das damals einzig bekannte Exemplar besaß; er hatte die Patenturkunde vom Erfinder gekauft, um der alleinige Besitzer dieser furchtbaren Waffe zu sein. Alles an diesem Mann deutete auf wilde Entschlossenheit und unbeugsame Energie hin. Trotzdem drückte sich im kalten Funkeln seiner Augen eine Art tierischer Furcht aus, und obgleich er seine Zähne zusammenbiß, zitterte sein Kinn vor Angst. Er hatte alle seine Gefährten neben sich zu Grunde gehen sehen und wußte nun, daß zwischen ihm und dem Tod kein menschlicher Schutzwall mehr stand. Er gehörte nicht zu den Schwächlingen, den von vornherein Besiegten, den ewigen Sklaven, und wußte sich mit seinem Gegner zu messen; er hatte sein Leben lang gekämpft und ließ sich nicht unterkriegen, ohne seine Haut teuer zu verkaufen. Breitbeinig stand er oben auf der Treppe und legte schon seine Waffe auf die beiden Weißen an, die möglicherweise Bakterienträger waren, als der brave Frankie intervenierte. »Halt, Mister Bradley«, sagte er, »das ist doch der französische Professor.« Herbert Wilcox Bradley senkte den Arm, und sein Gesicht nahm sofort einen
anderen, triumphierenden Ausdruck an, seine Kiefer lockerten sich, er sog tief und wollüstig die Abendluft ein, in der die Sonne blutigrot unterging. Der Stolz, gegen alle, sogar gegen den Tod, recht behalten zu haben, leuchtete auf dem Gesicht dieses Mannes, der gewohnt war zu siegen und der nun seinen schwierigsten Sieg auskostete. Er steckte seine Pistole ein und stieg lächelnd eine Stufe herab. Aber plötzlich verzerrte sich sein Lächeln zu einer schmerzlichen Grimasse, er griff mit den Händen an die Brust, und ich bemerkte, wie sich seine weißen, breiten Finger verkrampften. Der Vorderarm verfärbte sich rasch, das Gesicht wurde aschgrau, seine Augen erfüllte ein unbeschreibliches Entsetzen, sein Körper schwankte nach vorn, rollte über die Stufen und blieb unbeweglich vor unseren Füßen liegen. So starb der letzte der Sieben, der letzte weiße Mann Amerikas. DER SCHIERLING DES SOKRATES Nach dem Tode Herbert Wilcox Bradleys hielt uns nichts mehr in der Festung der Sieben zurück. Gaston Balanche wollte sie sich wenigstens ansehen. Da nur noch ein Pavillon mit seinen Nebengebäuden stand, war die Besichtigung schnell erledigt. In den zwölf Räumen des Pavillons Bradley war auf die Bequemlichkeit zugunsten der hygienischen Einrichtungen verzichtet worden. An allen Fenstern waren Luftfilter angebracht, und die antiseptischen Vorbeugungsmaßnahmen innerhalb der weißen Wände, an denen der Kautschuk die Stoffbespannung ersetzte, deren Sterilisation nicht sicher genug schien, waren so mannigfach, daß von einer Behaglichkeit keine Rede sein konnte. Alle zehn Minuten verbreitete ein automatischer Zerstäuber eine Wolke von Kreosotlösung; kein Bild erfreute das Auge, und kein Buch war zu finden. Die Nebengebäude des Pavillons waren verlassen und zeugten von einer überstürzten Abreise. Zeitungen wie die Nischi-Nischi und die New-African Post fuhren auf dem Boden herum. Eine Konservenbüchse stand halbgeöffnet auf dem Tisch, der Büchsenöffner steckte noch im Deckel. In den Zimmern der gelben Dienerschaft hingen Kakemonos an den Wänden, ich fand einen kleinen Altar mit den Zeichen des Ahnenkults. Der Eigentümer war so pietätlos gewesen, sie einfach zurückzulassen. Es mußte wohl die Todesangst gewesen sein, die ihn veranlaßt hatte, dem Zorn der Geister zu trotzen. Was mochte auf diesem Basaltplateau inmitten der Felseneinöde zwischen Herbert
Wilcox Bradley und den zwanzig Farbigen, die in seinen Diensten standen, geschehen sein? Als wir das Zimmer mit dem Ahnenschrein verließen, rief Gaston Balanche: »Schauen Sie nur, was da unten ist.« Er zeigte mit dem Finger auf ein Stück Erde, das rechts von Bradleys Pavillon lag und von einem letzten schrägen Strahl der untergehenden Sonne getroffen wurde. Auf dem leichten Sandboden zeichneten sich mit verblüffender Genauigkeit die Silhouetten von zwei ausgestreckten Menschen ab. Wir näherten uns und sahen, daß die beiden menschlichen Abdrücke mit einem graublauen Pulver von metallischem Aussehen bedeckt waren, das an den Staub erinnerte, der beim Abfeilen von Blei entsteht. Der Professor kniete nieder, zog eine Lupe aus seiner Tasche, nahm eine kleinere Menge des aschenfömigen Pulvers zwischen die Finger, prüfte sie und roch daran. Dann erhob er sich und sagte: »Meine Herren, das ist zweifellos alles, was von zwei menschlichen Wesen übrig bleibt, die man mit Hilfe der Atomkraft in ihre mineralischen Bestandteile auflöst. Es dürfte das erste Mal gewesen sein, daß man die Atomkraft so unmittelbar auf die lebende Substanz hat einwirken lassen.« Es war in der Tat das Schicksal zweier chinesischer Boys, das ihnen der brutale Herbert Wilcox Bradley bereitet hatte, wie ich viel später aus dem Munde eines ihrer Kameraden erfahren sollte, der das »Museum des weißen Mannes« besuchte. Die Angestellten des Ex-Stahlkönigs waren ihres abgeschlossenen Lebens in, der wilden Einöde überdrüssig geworden. Überdies wurden sie durch die Lektüre der bei Nacht von einem Hubschrauber über der Zitadelle abgeworfenen Zeitungen, in denen auf jeder Seite vom Triumph der farbigen Rassen die Rede war, aufgehetzt. Sie beschlossen schließlich einstimmig, sich zu befreien und ihren Herren gefangenzunehmen. Hocherfreut in dem Gedanken an den Wechsel ihres Schicksals, hatten sie sich zum Pavillon Bradley begeben und dort hemmungslos mit den Fäusten an die Tür geschlagen. Der letzte der Sieben war überrascht, aber auf seiner Hut, die Hände in den Taschen, im Türrahmen erschienen, um seine Absetzung zu erfahren. Er beschränkte sich zunächst darauf, über diese Mitteilung zu lachen; als aber die beiden von ihren Kameraden zur Festnahme Bradleys bestimmten Boys den Fuß auf die erste Stufe setzten, streckte er den Arm aus, ein Knacken der Strahlenpistole ertönte, und im selben Augenblick wurden die Unvorsichtigen zu Boden geworfen und in jenes Pulver ohne Namen verwandelt, das die Form ihrer
Körper zu unseren Füßen abzeichnete. Ihre entsetzten Begleiter verlangten nicht einmal mehr ihren restlichen Lohn, sondern jagten in wilder Flucht zum Flugfeld, bemächtigten sich des größten Flugzeuges der Festung und flogen ab. Die Nacht senkte sich schnell herab. Die Geier zogen ihre Kreise tiefer am dämmrigen Himmel, und ich horte mit Schaudern die spitzen Schreie der ungeduldigen Aasvögel. Ich warf einen Blick auf die irdische Hülle Herbert Wilcox Bradleys, der, mit dem Gesicht zur Erde, totenstarr dalag. »Wir wollen ihn beerdigen, nicht wahr?« sagte ich zu dem Professor. Aber Frankie Thompson deutete auf die Geier und meinte: »Wir haben nicht einmal einen Meter Erde über dem Felsboden. Die da oben würden ihn schnell wieder ausgraben. Begießen wir ihn lieber mit Treibstoff und zünden wir ihn an.« Wenige Augenblicke später erhob sich unser Flugzeug über der Festung der Sieben, legte sich, bevor es die Richtung nach New York nahm, auf einen Flügel und zog zum Abschied einen großen Kreis. Das Basaltplateau verschwand langsam in der Nacht, nur eine rötliche Flamme leuchtete wie eine Fackel noch eine Weile durch das Dunkel und sank allmählich zusammen. Herbert Wilcox Bradley, der Stahlkönig, einer der sieben reichsten Männer Amerikas, ja der ganzen Welt, wurde dort zu Asche wie ein Fetzen Papier, der verbrennt. In New York, das bereits Colour City hieß, wurden wir von der neuen Regierung sehr zuvorkommend empfangen. Mehr noch als unsere Eigenschaft, die letzten Überlebenden einer erloschenen Rasse zu sein, rechtfertigte der Ruf Professor Balanches die herzliche Aufnahme. Wir unterzogen uns gutwillig den Interviews seitens der neugierigen Reporter. Tagelang prangte der Bericht unserer Odyssee von Frankreich nach Amerika auf der ersten Seite der Zeitungen. Wir wurden auf Staatskosten in zwei luxuriösen Appartements in der fünfunddreißigsten Etage eines der schönsten Hotels in Manhattan untergebracht, und unsere Freiheit wurde nicht im geringsten beschränkt. Wir gingen nach Belieben in den Straßen spazieren und bildeten natürlich den Gegenstand der allgemeinen Neugier. Nach einer auf Befehl der neuen Regierung durchgeführten Volkszählung war die Bevölkerung der Stadt auf zweieinhalb Millionen Einwohner zurückgegangen, darunter befanden sich zwei Millionen Neger, wie denn auch in der ganzen Union das Verhältnis der Schwarzen zu den Gelben drei
zu eins war. Die weiße Pest hatte auf dieser Seite des Atlantik eine weniger radikale Wirkung hervorgerufen, jedenfalls eine weniger fühlbare als in Europa, wo sich nach dem von der Monroe-Doktrin abgeleiteten und streng durchgeführten Grundsatz »Europa den Europäern« kein Farbiger mehr aufhielt. Die öffentliche Verwaltung hatte, abgesehen von einigen anfänglichen Schwankungen, nie zu funktionieren aufgehört, da die ausfallenden Weißen sofort durch Schwarze oder Gelbe ersetzt wurden. Man hatte in New York weder Tote in den Straßen verwesen sehen, noch waren je der Verkehr oder die Rundfunksendungen unterbrochen worden. Allgemeine Unruhen, die zu Störungen des sozialen Lebens geführt hätten, brachen auch nicht aus, nur die Weißen verschwanden nach und nach von ihren beruflichen oder Ehrenstellen. Sowie das Ausmaß der Katastrophe und ihr Charakter bekannt wurde, strömten, angelockt von den vielen frei werdenden Posten, Schwarze und Gelbe in die Stadt. Harlem hatte Manhattan und die Fünfte Avenue verschlungen. Als der letzte New-Yorker weißer Rasse dem Coccus albus zum Opfer gefallen war, zeichneten sich schon die Umrisse einer neuen Gesellschaftsordnung in Colour City ab, deren Mitglieder sich zwar in der Hautfarbe von ihren Vorgängern unterschieden, aber die Lebensweise der letzteren beibehielten. Daß diese plötzliche Umwandlung nicht ohne Überraschung abging, versteht sich von selbst. Das Räderwerk knirschte ein bißchen. Besonders den Schwarzen, die ja den Hauptteil der Bevölkerung bildeten, fiel es anfangs schwer, sich in die neue Lage hineinzufinden. Die Tatsache, fast von heute auf morgen die Herren geworden zu sein, verursachte in den primitiven Gehirnen eine gewisse Verwirrung. Auf Straßen und Plätzen bildeten sich spontane Demonstrationszüge, die durch ihr Geschrei, die wilden Sprünge, den rasenden Rhythmus ihrer Trommeln an die Kriegstänze der afrikanischen Eingeborenen und den Wodukult erinnerten. Wenn Professor Balanche und ich einmal zufällig Zeugen einer dieser seltsamen Zeremonien wurden, warfen die Teilnehmer in ihrer kollektiven Hysterie nur völlig abwesende Blicke auf uns. Wenn sie aber wieder normal waren, betrachteten sie uns mit spitzbübischer Verwunderung, in die sich vielleicht ein gewisser Respekt mischte. Da wir diese Pest, der alle unsere Rassegenossen zum Opfer gefallen waren, überlebt hatten, mußten wir da nicht ganz besondere, vielleicht sogar göttliche Wesen sein? Aber dieser Respekt hielt nicht lange vor. Wir weilten noch keine vierzehn Tage in Colour City, da hörten wir hinter unserem Rücken bereits spotten, und
zwar ohne jede Hemmung. Aus Vorsicht taten wir so, als ob diese Provokationen nicht uns gelten würden, und betrachteten diese Lausbübereien als Ausfluß der Kindlichkeit. Eines. Tages jedoch lachte uns ein riesiger Neger mit wulstigen Lippen und vorspringenden Zähnen direkt ins Gesicht. Der Professor schüttelte den Kopf und gab mir ein Zeichen, ruhiges Blut zu bewahren. Wir gingen weiter, aber der Kerl sprang uns nach, gab uns einen Stoß und drängte sich grinsend zwischen Gaston Balanche und mich. Der Professor erbleichte, gewann aber sofort seine Selbstbeherrschung wieder. Er nahm den Neger, der durchaus zwischen uns weitergehen wollte, sanft bei einem seiner großen Ohren und sagte ruhig, fast freundlich, wie wenn er auf den Scherz eingehen würde: »Hör mal, mein Freund, geh dich woanders amüsieren.« Gaston Balanche, dieser Mann von ungewöhnlicher Länge (ich erwähnte schon, daß er 1,95 groß war), aber zarter Konstitution, besaß trotz seiner mangelnden physischen Kraft einen ungeheuren Mut. Dieser Mut, der zuweilen selbst wilde Bestien beeindruckt, verfehlte diesmal völlig seine Wirkung. War unser Gegner vielleicht am Ohr besonders empfindlich? Jedenfalls wurde er auf die freundliche Aufforderung des Meisters hin aschgrau, eine Farbe, die bei den Negern auf höchste Erregung schließen läßt, und schlug mit seiner riesigen Pfote dem Professor verkehrt ins Gesicht, daß er betäubt zu Boden stürzte. Ich habe mich niemals als Eisenfresser oder als Kämpfer gegen das Unrecht aufgespielt, und ich bin nicht rauflustig veranlagt. Aber als ich sah, daß ein so bewundernswerter Mann wie der Professor Balanche von einem kaum dem Zustand des Wilden entwachsenen Wesen so mißhandelt wurde, kam mein Blut in Wallung. Ohne an die möglichen Folgen meiner Handlung zu denken, in der wahnsinnigen Vorstellung, einen Koloß, der mich durch einen Nasenstüber in völlige Hilflosigkeit versetzen konnte, zu überwältigen, stürzte ich mich auf diesen Gorilla, packte mit beiden Händen, ohne sie schließen zu können, seinen muskulösen Hals und drückte, drückte mit allen meinen Kräften. Bei dem Zusammenprall waren wir beide zu Boden gestürzt, zum Glück kam der Neger unter mich zu liegen. Anscheinend war sein Schädel, der so hart war, wie es nur ein Negerschädel sein kann, etwas zu heftig mit dem Boden in Berührung gekommen, denn er schien betäubt zu sein und begann zu röcheln, als ich seine Gurgel weiter preßte. Seine violette Zunge sprang zwischen den Zähnen wie ein Hanswurst aus seiner Schachtel hervor, als ich meinerseits
einen so heftigen Schlag über den Hinterkopf bekam, daß ich das Bewußtsein verlor. Diesen Schlag erhielt ich von einem wackeren Schutzmann vom schönsten Schwarz, der, sowie er die Rauferei bemerkt hatte, von der Straßenecke, an der er seinen Dienst versah, mit seinem Polizeiknüppel herbeigelaufen kam. Nachdem er mich so völlig kampfunfähig gemacht hatte, gab er sich ehrlich Mühe, den Professor, der noch auf seinen Beinen schwankte, und mich vor der wütenden Volksmenge zu schützen, die schnell zusammengeströmt war und uns lynchen wollte. Der Zwischenfall hatte zur unmittelbaren Folge, daß uns ständig eine PolizeiEskorte von zwei Mann begleitete. Diese Leibgarde schlief während der Nacht auf zwei Feldbetten vor unserer Tür; selbst bei ihren Mahlzeiten ließ sie uns nicht aus den Augen und folgte uns wie unser Schatten, sobald wir die Nase hinausstreckten. Ich hätte sie sicher als sehr lästig empfunden, wenn mich nicht mein Schmerz, der durch die Fremdheit der Umgebung in den ersten Tagen und die Überraschungen, die diese völlig veränderte Lebensweise mit sich brachte, eingeschläfert worden war, nun plötzlich wieder überfallen hatte wie eine Woge, die aus der Tiefe aufsteigt und alles mit sich reißt, was ihr in den Weg kommt. Was für einen Sinn hatte dieses Leben in einer so seltsamen, fremden Stadt, fern von allem, was mir liebenswert erschien? Dieser Gedanke beschäftigte mich so ausschließlich, daß ich das Dasein eines Automaten führte, ohne mich um die Gegenwart unserer unzertrennlichen Wächter zu kümmern. Sie waren übrigens absolut notwendig, denn wir wurden überall mit scheelen Blicken betrachtet, seitdem mein Strangulationsversuch an dem schwarzen Riesen durch die Presse bei allen Einwohnern von Colour City bekannt geworden war. Aber die Ereignisse sollten mich bald in die Wirklichkeit zurückführen. Der Ton der Zeitungen über unseren Zusammenstoß war unglaublich, die meisten beschimpften mich und stellten mich als vollendeten Typ jener gewalttätigen und gewissenlosen Weißen hin, die jahrhundertelang die Farbigen unterdrückt hatten. Es wurde an die Conquistadoren, die Gründer der Weltreiche, Cortez, Pizarro und Stanley erinnert, an alle Sklavenhalter vom alten Rom Cäsars angefangen, die den Löwen die Schwarzen Nubiens vorgeworfen hatten, bis zu den einheimischen Anhängern der Südstaaten im Sezessionskrieg, die man als blutgierige Tyrannen bezeichnete. Hochmut, Habgier, Egoismus, kalte Grausamkeit wurden als typische Eigenschaften des weißen Mannes hingestellt. Trunken von ihrer angeblichen Überlegenheit, hätten sich die
naiven Europäer und Yankees eingebildet, daß dieser Zustand ewig dauern und sie in aeternum die Herren der Erde bleiben würden. Aber die höhere Gerechtigkeit hatte nun gesprochen. Die Herrschaft Sems und Japhets wäre nur noch eine trübe Erinnerung, und man könne es nicht hinnehmen, daß die zwei einzig Überlebenden einer zum Untergang verurteilten Rasse die Stirn gehabt hätten, einen Angehörigen des Volkes tätlich anzugreifen, in dessen Hände »die Fackel des menschlichen Fortschritts« gelegt worden sei. Einer der heftigsten unter den erregten Journalisten ging so weit, vorzuschlagen, wir sollten in Käfige gesperrt und wie wilde Tiere im Zirkus in allen Städten gezeigt werden. Gaston Balanche las diese Ergüsse mit melancholischem Lächeln und hätte sich gern mit ernsthafteren Dingen beschäftigt. Wie für alle wahren Gelehrten war die Forschung für ihn ein Ziel an sich. Wenn aber eine seiner Entdeckungen dazu beigetragen hätte, die Leiden der Menschheit zu lindern, wäre niemand auf der Welt glücklicher gewesen als er. Aber die reine Forschung, unabhängig von jedem praktischen Nutzen, bildete für ihn den eigentlichen Lebenszweck. Außer seinem Antialbokokken-Serum hatte er aus Paris mehrere Kulturen mitgebracht, die ihm als Basis für die Herstellung eines wirksamen, endgültigen Panvaccins dienen sollten, das keine nachteiligen Reaktionen verursachen würde. Gleich bei seiner Ankunft in Manhattan hatte er festgestellt, daß die kostbaren Kulturen auf der Reise nicht gelitten hatten, und dann neue angelegt. Um seine Arbeiten wirkungsvoll fortzusetzen, brauchte er jetzt Instrumente und ein Laboratorium mit den nötigen wissenschaftlichen Apparaten. Er war überzeugt, daß eine auf ihre Interessen bedachte Regierung ihm die Mittel für die Durchführung einer Sache, die der gesamten Menschheit ohne Rücksicht auf ihre Hautfarbe zugute kommen sollte, nicht verweigern könne. Der gelb-schwarze Große Rat war auf die Initiative des japanischen Juristen Yen Okasa und des schwarzen Ökonomisten John W. Johnson gegründet worden. Die Hälfte seiner von Delegierten aller amerikanischen Staaten gewählten Mitglieder sollte jährlich durch Neuwahlen ersetzt werden. Ihnen gehörten fünf Schwarze und drei Gelbe an, von denen einer Chinese und die anderen beiden Abkömmlinge des Reiches der aufgehenden Sonne waren. Der Präsident John W. Johnson war für eine dreijährige Periode als Oberhaupt der Vereinigung eingesetzt worden. Gaston Balandie hatte sich mit seinem Gesuch um Einrichtung eines
Laboratoriums an eben diesen John W. Johnson gewendet. Ich habe den ersten Präsidenten des Großen Rates, dessen Bronzestandbilder heute die öffentlichen Plätze aller Städte des neuen Kontinents schmücken, nicht gekannt, aber seine Denkmäler zeigen ihn trotz Überzieher und Metallbrille als einen der typischen Sudanesen, die zu den Zeiten, als das schwarze Afrika noch nicht mit den Vor- und Nachteilen einer technischen Zivilisation in Berührung gekommen war, gleichzeitig die Funktionen eines Zauberers, Dichters, Musikers und Beraters der Kolonialverwaltung ausgeübt hatten. Er sah mit seinem dicken wolligen Schädel auf einem ausgemergelten Körper wie ein abgebranntes Streichholz aus, aber diese Gebrechlichkeit hatte ihn die ganze Zeit der weißen Herrschaft über nicht gehindert, einen fanatischen Kampf für seine schwarzen Brüder zu führen. Er verlangte für sie dieselben Rechte, welche die Nachfahren der Mayflower-Passagiere und anderer weniger vornehmer Emigranten, die mit den Pilgrim Fathers gekommen waren, unberechtigterweise für sich beanspruchten. Er hatte sich den Titel eines Father Wise, den man heute auf allen seinen Denkmälern findet, ehrlich verdient. Er war das, was man einen »großen Neger« nennen könnte. Sein besonderes Verdienst war allerdings aufs engste mit dem seit seinen Jünglingsjahren geführten Kampf gegen die sogenannten Unterdrücker der schwarzen Rasse verknüpft. Der Weiße war für ihn immer der Feind gewesen. Ohne Fanatismus kann man nichts Großes vollbringen, und selbst wenn nur noch ein einziger Weißer auf der Erdoberfläche existierte, so fühlte sich John W. Johnson entsprechend seiner bisherigen Einstellung verpflichtet, ihn als Scheusal zu betrachten, dessen Ausrottung eine gute Tat war. Das war also der Mann, dem sich Gaston Balanche in seinem französischen Formalismus »im voraus sehr verbunden fühlte«, wenn er geneigt wäre, »mit wohlwollender Aufmerksamkeit« sein Ersuchen um Bereitstellung eines Laboratoriums zu prüfen. Die Antwort ließ nicht auf sich warten. Der Professor wurde vor den Großen Rat geladen. Er glaubte, dort als Gesuchsteller zu erscheinen, in Wirklichkeit wurde er, wenn vielleicht auch nicht als Angeklagter, so doch als Verdächtiger betrachtet. Ich habe dieser Sitzung nicht beigewohnt, die in nichts anderem als in einer Auseinandersetzung zwischen dem in seinem Präsidentenstuhl gelehnten John W. Johnson und dem Gelehrten bestand, nach dessen Überzeugung alle alten Rachegefühle mit dem Erlöschen ihrer Ursache hinfällig geworden waren. John W. Johnson ließ zunächst Gaston Balanche seinen Antrag ausführlich
begründen. Der Professor gab erst über das bisher in bezug auf das Panvaccin Erreichte Auskunft und drückte dann seine Überzeugung aus, daß ein endgültiges Resultat unmittelbar bevorstehe und in Zukunft alle Menschen, welcher Rasse sie auch angehören mögen, gegen die bisher bekannten Infektionskrankheiten erfolgreich geimpft werden könnten. Die durchschnittliche Lebensdauer des Menschen würde dadurch erheblich heraufgesetzt, man würde in Zukunft nur an Altersschwäche oder durch einen Unfall zugrunde gehen. Vielleicht hatte sich der Professor von seinem angesichts der Größe der Perspektive durchaus berechtigten Enthusiasmus allzusehr hinreißen lassen. Jedenfalls wäre er nie auf den Gedanken gekommen, seine Zuhörerschaft als Tribunal zu betrachten. Erst nachträglich kam ihm zum Bewußtsein, daß ihn die fünf schwarzen und drei gelben Gesichter geradezu durchbohrend beobachtet hatten. Der Chinese, Herr Tien, ein aufgeblähter Ölgötze, dessen Haut wie ein Trommelfell gespannt war, schien von undurchdringlicher Gleichgültigkeit, die beiden Japaner Okasa und Sougimoto ließen trotz ihrer unbeweglichen Maske durch den kalten Glanz ihrer Augen eine hinterhältige Grausamkeit erkennen. Die vier Schwarzen, vom Präsidenten ganz abgesehen, blieben Gaston Balanche nur durch ein Grinsen, das ihr Gebiß entblößte und auf eine behagliche Verdauung schließen ließ, in Erinnerung. John W. Johnson beobachtete ihn schweigend mit seinen großen, hinter der Brille funkelnden Augen. Als der Weiße seinen Bericht beendet hatte, herrschte völliges Schweigen. Plötzlich richtete John W. Johnson seinen gebeugten Rücken auf, schlug mit der Faust auf das grüne Tuch, mit dem der Ratstisch vor ihm bespannt war, und sagte mit schneidender Stimme: »Und wer garantiert uns, daß Sie in diesem Laboratorium nicht den Untergang der farbigen Rassen vorbereiten? Aus Ihrem Laboratorium ist das Todesurteil Ihrer Rasse gekommen, wir haben das nicht vergessen. Wie können Sie sich einbilden, daß wir wissentlich die Hand zu unserem eigenen Untergang reichen?« Der Professor war von diesem unvorhergesehenen Angriff so niedergeschmettert, daß er zunächst nicht zu sprechen vermochte. Wo er Hilfe und Verständnis zu finden gehofft hatte, sah er sich einem feindseligen Vorurteil gegenüber. Als er sich gefaßt hatte und darauf hinwies, daß seine Vergangenheit als Gelehrter die beste Garantie für seine reinen Absichten sei, bemerkte er, wie der Chinese Tien seine Heiterkeit zu unterdrücken suchte,
während die beiden Japaner, wie es ihm schien, ihre schmalen Lippen noch fester zusammenpreßten und die Neger hemmungslos in ein Riesengelächter ausbrachen. John W. Johnson rieb sich seine langen knochigen Hände, schob seine Brille zurecht und fuhr mit derselben feindseligen Stimme fort: »Und genügt die Vergangenheit, von der Sie eben sprachen, um heute jeden Irrtum auszuschalten?« »Ich bin nicht der liebe Gott«, antwortete Gaston Balanche ruhig. »Die Natur erschließt ihre Geheimnisse nicht so leicht, und auf dem rätselvollen Gebiet des unendlich Kleinen schreitet der Mensch nur schrittweise vorwärts. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß die Entdeckung des AntialbokokkenSerums Ihnen zum Beispiel zeigt, daß meine Forschungen nicht vergebens waren. Wenn ich Ihnen erklärt habe, daß ich im Begriff stehe, das Panvaccin herzustellen, so darf ich verlangen, daß man mir Glauben schenkt.« John W. Johnson schien für Würde kein Verständnis zu haben, oder vielmehr die Tatsache, daß sie ein Weißer für sich beanspruchte, schien zu genügen, ihn völlig unzugänglich zu machen. Er lächelte hämisch und sagte: »Die Weißen wären vielleicht Ihrer Ansicht gewesen. Sie waren dumm genug, sich selbst zu vernichten. Aber Sie vergessen, daß wir zu den farbigen Rassen gehören und uns vorsehen müssen. Sie geben selbst zu, daß Sie sich auch beim besten Willen täuschen können. Dieses Geständnis genügt uns. Wir wollen keine Gefahr laufen, und im übrigen haben wir unsere eigenen Gelehrten. Wenn keiner meiner ehrenwerten Kollegen etwas einzuwenden hat, betrachte ich den Fall als erledigt.« Er wandte sich erst nach rechts, dann nach links. Der Chinese Tien lächelte und nickte wie eine vom Präsidenten aufgezogene Uhr, die Herren Okasa und Sougimoto klapperten zustimmend mit den Augen, während die vier schwarzen Rassegenossen dienstfertig das Kinn hoben und senkten, sich vertrauliche Bemerkungen zuflüsterten und sich gegenseitig auf die Schenkel schlugen. »Sie sehen!« sagte John W. Johnson und blickte dem Professor triumphierend ins Gesicht. Dieser begriff sofort, daß alle Einwände vergeblich sein würden. »Ich bedaure, daß Sie die Situation nicht besser begreifen«, seufzte er. »Meine Herren, ich bitte Sie, die Belästigung zu entschuldigen.« Er stand im Begriff, sich zurückzuziehen, als ihn John W. Johnson mit einer Handbewegung zurückhielt. »Einen Augenblick, Herr Professor«, nahm er das Gespräch wieder auf. »Wenn es uns aus sehr berechtigten Gründen, die ich den Vorzug hatte, Ihnen auseinanderzusetzen, nicht möglich ist, Ihren
Wunsch zu erfüllen, so sind wir uns doch der Pflichten bewußt, die wir Ihnen gegenüber haben.« Er hatte mit einer Feierlichkeit gesprochen, die Gaston Balanche beunruhigte. Sicher würde irgend etwas Unangenehmes folgen. John W. Johnson machte eine kleine Pause wie die Katze, die mit einer Maus spielt, und fuhr dann mit seiner harten Stimme fort: »Seien Sie überzeugt, daß die völkerkundliche Bedeutung, die Sie, ganz unabhängig von Ihren persönlichen Verdiensten, und Ihr Gefährte, Herr Durand, besitzen, unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen ist. Wir haben daher vorgesehen, einerseits Ihren Schutz und Ihre Sicherheit endgültig zu organisieren und Ihnen andererseits in einem würdigen Rahmen zufriedenstellende Lebensbedingungen zu schaffen. Wir haben mit einem Wort daran gedacht, Maßnähmen für Ihre — äh — Erhaltung zu treffen, wenn ich mich so ausdrücken darf.« John W. Johnson machte wiederum eine Pause. Er erwartete augenscheinlich eine Reaktion des Professors, die auch sogleich erfolgte. »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet«, sagte Gaston Balanche, »aber ich bin es gewohnt, ein Risiko auf mich zu nehmen. Das ist die Voraussetzung jeder Forschung, und ich würde, falls Sie mir die Mittel dazu zur Verfügung stellen, selbst eine gefahrvolle Arbeit im Laboratorium der Sicherheit ohne Aufgabe vorziehen, die Sie liebenswürdigerweise die Absicht haben, für mich zu organisieren.« Der Präsident des gelb-schwarzen Großen Rates schüttelte den Kopf wie ein Lehrer, der durch die Bemerkungen eines allzu wißbegierigen Schülers in Verlegenheit gebracht wird. »Wir bedauern«, erklärte er trocken, »daß unsere Ansichten auseinandergehen. Hören Sie also, was wir beschlossen haben. Da nicht die Rede davon sein kann, Sie nach Europa zurückzuschicken, werden wir ein ,Museum des weißen Mannes einrichten, in dem Sie und Ihr Gefährte wohnen sollen. Ich brauche nicht zu betonen, daß Sie dort alle nur wünschenswerten Bequemlichkeiten finden werden. Eine ständige Wache wird für Ihren Schutz sorgen. Als Gegenleistung erwarten wir nichts weiter, als daß Sie alle Personen freundlicherweise empfangen, die, mit einem Spezialausweis versehen, sich mit Ihnen über wissenschaftliche Fragen zu unterhalten wünschen. Wir wären Ihnen des weiteren sehr verbunden, wenn Sie einen
Bericht über die Eigenschaften des Coccus albus2, seinen Ursprung und die für ihn günstigen Entwicklungsbedingungen abfassen würden, damit die farbigen Rassen auf Grund des betrüblichen Beispiels der weißen Rasse niemals vergessen, daß sie sich selbst zum Untergang verurteilen, wenn sie zu dem Verbrechen eines Krieges Zuflucht nehmen. Was schließlich das Antialbokokken-Serum und Ihre von Europa mitgebrachten Kulturen anbelangt, so werden Sie hoffentlich keinen Anstand nehmen, sie unseren Gelehrten zu überlassen, die nicht ermangeln werden, sie mit dem größten Eifer zu studieren.« John W. Johnson zeigte ein Lächeln, von dem nicht festzustellen war, ob es sarkastisch oder wohlwollend sein sollte, und sagte abschließend: »Wir danken Ihnen im voraus für Ihre Einwilligung und wünschen Ihnen noch recht viele glückliche Tage in unserem Lande.« Er wollte sich eben von seinem Sessel erheben als Zeichen, daß die Sitzung geschlossen sei, da gab Gaston Balanche durch eine Bewegung zu verstehen, daß er noch etwas zu sagen wünsche. »Ich bin entgegen ihrem Wunsche keineswegs Ihrer Meinung und werde es auch nie sein«, begann er in eisigem Ton. »Wenn Sie aber gestatten, werde ich mir die Freiheit nehmen, Ihnen einen letzten Gegenvorschlag zu unterbreiten. Ich möchte gleich hinzufügen, daß er nicht von mir, sondern von einem Ihrer ausgezeichneten Journalisten stammt. Ich schlage Ihnen also vor, seinen Rat zu befolgen und meinen Mitarbeiter und mich in Käfige zu sperren und uns wie wilde Tiere der Menge zur Schau zu stellen.« John W. Johnson zitterte vor Wut, dann befragte er mit einem schnellen Blick seine Kollegen. Der Chinese Tien bewahrte sein unentwegtes Lächeln, die beiden Japaner verzogen keine Miene, die Schwarzen rollten ihre großen runden Augen und .schwankten zwischen Unwillen und lautem Gelächter. Mit einem Stirnrunzeln wies John W. Johnson seine farbigen Brüder zurecht, dann erhob er sich und sagte mit hochmütiger Stimme: »Ich erkenne in Ihren Worten die Überheblichkeit der Weißen. Aber Sie dürfen nie vergessen, Herr Professor, daß wir es sind, die jetzt zu bestimmen haben. Treffen Sie also Ihre Vorbereitungen, um morgen in das Museum zu übersiedeln, das wir zu Ihrem Aufenthalt bestimmt haben.« Ich höre noch immer die Stimme Gaston Balanches, mit der er mir diese unerhörte Szene schilderte. Er ging, die Hände auf dem Rücken, in dem
kleinen Zimmer in Manhattan auf und ab, in dem er seit mehr als einem Monat mit improvisierten Hilfsmitteln seine dem Wohl der Menschen gewidmete Arbeit unermüdlich fortgesetzt hatte. Er war bewundernswürdig in seiner Heiterkeit und verlor auch in seinem Bericht nicht einen Augenblick seine Überlegenheit, bei dem ein anderer wahrscheinlich grollend von der Unterdrückung des freien Geistes gesprochen hätte. Aber ein Geist wie der seine, stolz und rein, war über so kleinliche Empfindungen erhaben. Teurer Gaston Balanche! Ein verstehendes, bitteres Lächeln verzog seinen breiten Mund, das Lächeln eines Mannes, der sich keinen Illusionen über die menschliche Natur hingibt. Da er selbst von angeborener Güte und mitleidsvoll für die vom Schicksal Enterbten war, wunderte er sich nie über das Böse, nur über das Gute. »Die Moralisten«, hatte er mir eines Tages gesagt, »sollten gewissenhafte biologische Studien treiben, sie würden dabei erkennen, daß in der lebenden Materie, oder sagen wir noch allgemeiner, in der Natur die Begriffe Gut und Böse völlig sinnlos sind. Eine Zelle bildet sich, wächst, erreicht ihre höchste Ausdehnung, zerfällt und stirbt. Es war nicht unbedingt notwendig, daß sie entstand, aber die ihr innewohnende Energie verschwindet nicht mit ihr, sie geht nur in einen anderen Körper über. Was bedeutet es auf dem Sirius, ob ein Energieteilchen sich hier oder dort befindet? Die Erkenntnis von Gut und Böse stammt vom Menschen, und niemand anderer als er kümmert sich darum. Der Bakteriophage zerstört die Bakterien, und das ist in Ordnung. Wer wird sich darüber aufregen, daß der Löwe die Antilope oder die Katze die Maus verschlingt? Diese Erscheinungen entspringen dem Naturgesetz. Der Mensch glaubt, dieses Gesetz überwunden zu haben — welche Anmaßung! Das Außergewöhnliche besteht nicht darin, daß sich die Menschen erwürgen, sondern darin, daß sie sich lieben.« Er blieb vor mir stehen und legte mir die Hand auf die Schulter. »Mein lieber Durand«, fuhr er fort, »ich habe bisher gezögert, Ihnen einen kleinen Notpfennig zu geben, der Ihnen vielleicht einmal gute Dienste leisten kann. Ich wünsche, wohlverstanden, daß es nie dahin kommen möge.« Er zog aus der Westentasche eine Glasampulle mit einer milchigen, schimmernden Flüssigkeit, auf der ein Luftbläschen schwamm. »Es genügt, den Inhalt dieser Ampulle zu sich zu nehmen«, sagte er, »um nichts mehr von den Menschen befürchten zu müssen.« Als ich ihn beunruhigt ansah, fuhr er fort: »Die Wirkung ist weniger unmittelbar als die der Blausäure, aber immer noch schnell genug. Der Tod
entsteht durch eine fortschreitende Lähmung aller Glieder. Ich glaube nicht, daß es auf dem Gebiet der Euthanasie etwas Besseres gibt. Es ist, schlicht und einfach gesagt, Cicutin, ein Extrakt des Wasserschierlings, den man zuweilen auch Schierling des Sokrates nennt. Aber die Herstellung ist besser als die des Giftes, das dem Philosophen von Athen durch die Boten der Elf gereicht wurde. Die Griechen begnügten sich damit, die Pflanze zu zerreiben und den Saft zu sammeln; das Laboratorium arbeitet sorgfältiger.« Er legte mir die Ampulle in die Hand, bevor er mit der gleichen Ruhe schloß: »Wenn ich Ihnen dieses kleine Vermächtnis übergebe, lieber Freund, so geschieht es darum, weil ich Sie bald verlassen werde.« Ich fürchtete zu verstehen, und meine Bestürzung mußte sich wohl auf meinem Gesicht abzeichnen, denn der Meister nahm mir gegenüber Platz und setzte mir mit halbgeschlossenen Lidern, wie wenn ihn schon eine innere Vision verkläre, sanft auseinander, daß die Entscheidung des Großen Rates die seine bestimme. Er mochte sich nicht damit abfinden, sein Leben als Schaustück eines Museums zu beschließen, um die Neugier schwarzer oder gelber Maulaffen zu befriedigen. Überdies wäre sein Dasein für die Wissenschaft verloren, da ihm die unumgänglich notwendigen Instrumente für seine Arbeit systematisch verweigert worden waren. Er zog aus seiner Tasche eine zweite Ampulle hervor, die derjenigen, die er mir zum Geschenk gemacht hatte, völlig glich, und rollte sie zwischen den Fingern. »Das wird mir dazu dienen, dem gnädigen John W. Johnson und seinen Helfershelfern meine Ehrerbietung zu bezeugen. Verzeihen Sie, wenn ich mich damit gleichzeitig aus Ihrer Gesellschaft wegstehle. Wenn irgendein Gedanke mich von meinem Plan abbringen könnte, dann wäre es der an unsere Freundschaft und an die Dankbarkeit, die ich Ihnen schulde. Aber wenn ich nicht mehr meiner Wissenschaft leben kann, bin ich dann nicht ohnehin schon tot?« Vergebens bemühte ich mich eine geschlagene Stunde lang, ihm sein düsteres Vorhaben auszureden. Was vermochten meine armseligen Worte gegen seinen festen Entschluß, einer Existenz ein Ende zu bereiten, von der er nur noch Bitterkeit und Spott erwarten konnte? Während ich ihn vergeblich zu beschwören suchte, packte mich allmählich bei dem Gedanken an meine Einsamkeit nach dem Tode Gaston Balanches ein namenloses Entsetzen. Ich unscheinbares Nichts, der ich nur irgend eine Nummer in der ungeheuren Menge der weißen Menschen war, die seit vielen Jahrhunderten die Ehre und
Würde dieses Planeten gebildet hatten, ich unter allen war dazu bestimmt, ausgesucht, registriert, als letzter meine Rasse zu vertreten. Gewiß hätte ich mich ebenfalls diesem Schicksal entziehen können. Es hätte genügt, die Ampulle zu zerbrechen, die ich in meiner Hand wärmte, und ihren Inhalt hinunterzuschlucken. Welch lächerliche Liebe zum Leben konnte mich in einer Welt zurückhalten, in der die kurzen Augenblicke des Glücks mit so viel Leid bezahlt wurden und aus der für mich selbst der Schatten einer Hoffnung für immer entflohen war? Ich fand dafür keine andere Erklärung als den tierischen Instinkt, der mich zwang, diesen dem Tod geweihten Körper bis zum letzten Augenblick zu erhalten, jedenfalls stand für mich die Tatsache außerhalb jeder Diskussion: ich wollte nicht sterben. Gaston Balanche hörte sich meine gutgemeinten Einwände mit innerer Bewegung an, lenkte aber das Gespräch fast unmerklich in eine andere, höhere Richtung. »Glauben Sie ja nicht«, sagte er, »daß ich gegen Johnson und seine Kollegen auch nur den mindesten Haß empfinde. Warum sollte ich ihnen verübeln, daß sie so sind, wie sie nun einmal geschaffen wurden? Der Zufall hat sie als Schwarze oder Gelbe zur Welt kommen lassen, so wie er mich zum Mikrobiologen bestimmt hat. In meiner Jugend las ich eines Tages ein Buch, das bestimmend für meinen Beruf wurde, es war das Leben Pasteurs. Ich hätte mich an jenem Tage ebensogut an dem Leben des Komtur Suffren begeistern können, dann wäre ich vermutlich Seemann geworden. Unvorhersehbare Ereignisse lenken das Schicksal des Menschen. Sie glauben, daß eine bestimmte Geliebte oder ein bestimmter Freund für Ihr Leben unentbehrlich sei, aber irgend eine andere Frau, ein anderer fremder Mann, die Ihnen über den Weg laufen und von denen Sie gar keine Notiz nehmen, hätten in Ihnen vielleicht eine noch tiefere Liebe oder Freundschaft erwecken können. Wenn man den Menschen ihre schlechten Handlungen vorwerfen will, müßte man ihnen ebenso vorwerfen, daß sie dumm und verkrüppelt geboren werden. Ihre Missetaten entspringen ihrer Natur, wie will man zwei Kometen für ihr Zusammentreffen verantwortlich machen? Aber ich bin nicht Sokrates, um vor meiner Reise zum Hades das ungeheure Problem der Bestimmung lösen zu wollen.« Wenn er auch nicht Sokrates war, der Adel seiner Gesinnung, seine überlegene Ruhe riefen mir zwangsläufig den unsterblichen Dialog ins Gedächtnis, in dem Platon wie in einem Marmorbildnis die Züge des Menschen gestaltet hat, der unter seinen Zeitgenossen der beste, weiseste und gerechteste war. Eine geheime Stimme sagte mir, daß Gaston Balanche im
Sinne des großen Hellenen der reinste und jedenfalls der uneigennützigste der Menschen dieses Jahrhunderts gewesen ist, in das ich durch die Ungunst des Schicksals hineingeboren wurde. Er fuhr fort: »Welcher Dichter predigt uns doch: ,Liebet das, was man niemals zum zweiten Mal sehen wird'? Aber alles ist schon dagewesen, wie alles schon tausend, ja millionenfach gesagt worden ist. Daß jeder Mensch einmalig ist, gebe ich zu, und dennoch ähneln sich alle Menschen wie Brüder, besonders in ihren Leidenschaften, und was sind diese anderes als die Würze des Lebens? Und so sieht man die unglücklichen menschlichen Lebewesen immer wieder die gleichen Fehler begehen. Die Schöpfung ist ein recht seltsames Phantasieprodukt.« Ich erwartete in diesem Zusammenhang den Namen Gottes zu hören, und in der Tat sagte er: »Sokrates war ein glücklicher Mensch. Man braucht über eine Welt wie die unsrige nicht zu verzweifeln, wenn man nach seinem Beispiel überzeugt ist, nach dem Tode in eine bessere Welt zu gelangen. Ich hüte mich, zu leugnen, daß Gott existiert. Die wissenschaftliche Methode hat mich gelehrt, nur Dinge als gegeben zu erkennen, die bewiesen sind. Gott ist nicht bewiesen, er ist eine unbekannte Größe. Aber es gibt viele unbekannte Tatsachen, die dennoch existieren. Die Flügel unseres Geistes erlauben uns nicht, sehr weit und sehr hoch in der Erkenntnis der Dinge vorzudringen. Im gleichen Maße, in dem wir glauben, das Unbekannte enträtseln zu können, weicht dieses zurück. Was wir uns am wenigsten einbilden dürfen, ist, daß Gott in seinem tieTsten Wesen den groben Vorstellungen entspricht, die uns die sogenannten aufgeklärten Glaubenslehren zu vermitteln suchen.« Sein Blick verschleierte sich einen Augenblick lang in nachdenklicher Melancholie, die das lange magere Gesicht mit seinen tiefen Falten völlig veränderte. »Die Philosophie, die mir am meisten zusagt, ist die Lao-Tses, des Schöpfers des Tao«, fuhr Gaston Balanche fort. »Für diesen großen Weisen verbindet sich das Wesen aller Dinge, das zugleich ewig und unbegrenzt ist, mit einer völligen Unempfindlichkeit. Der Grund für mein Sträuben gegen die herrliche christliche Religion, in der ich geboren wurde, liegt in der angeblichen Liebe Gottes für die Kreatur, einer Liebe, gegen deren Existenz alle Phänomene des Lebens sprechen. Das Tao macht- den Begriff des Schmerzes der Vernunft zugänglich und paßt besser als unsere westlichen Systeme zur Grausamkeit der Welt.« Er sprach lange zu diesem Thema, und ich kann hier nur in großen Zügen über das Wesentliche dieses improvisierten Vertrages berichten, dassen
vertraulicher Ton mich aufs tiefste bewegte. Die Nacht war hereingebrochen, ohne daß einer von uns auf den Gedanken gekommen wäre, den Arm nach dem Schalter für das elektrische Licht auszustrecken. Schließlich schwieg Gaston Balanche, er strich sich über die Stirn und seufzte. Die Lichter der Straße spiegelten sich rötlich in den Scheiben, dann huschten bläuliche Reflexe über das Glas. Der Meister trat ans Fenster und betrachtete schweigend die in einen Nebel eingehüllte Stadt, deren Lichtreklame durch den Dunst funkelte. Dann unterbrach er sein Nachdenken und fragte mich mit fester Stimme: »Mein lieber Durand, seien Sie doch so freundlich und machen Sie Licht. Wollen Sie dann so gut sein und alle meine Kulturen und Sera in den Müllschacht werfen? Sehen Sie mich doch nicht so betroffen an, habe ich nicht allen Grund zu befürchten, daß die Resultate meiner Arbeit, wenn sie den Freunden des Herrn John W. Johnson in die Hände fielen, zur Ursache neuer Katastrophen werden könnten?« Sein Gesicht drückte bei diesen Worten eine große Traurigkeit aus. Er hatte zwar den Namen Hermann Nicholls nicht ausgesprochen, aber ich fühlte, daß ihn die Erinnerung an diesen Schurken nicht losließ. Es war mir auch klar, daß ihn nichts von seinem Entschluß abbringen konnte. Das weiße, harte Licht drang in die vier Winkel des Zimmers; ich ging in den Nebenraum, und Kulturen und Sera verschwanden im Müll. Als ich zurückkehrte, stand der Professor noch immer unbeweglich da. Er seufzte leise, wandte sich mir zu und bat mich unbefangen um eine Zigarette. Ich wußte, daß er kein Raucher war, und sah daher mit Erstaunen, daß er in raschen Zügen den Rauch einsog. Ich mußte unwillkürlich an die letzte Zigarette des zum Tode Verurteilten denken. Anscheinend hatte er den gleichen Gedanken, denn er sagte: »Lieber Gott, man muß schon zugeben, daß die Zigarette einen unschuldigen und sehr philosophischen Genuß bietet. Das Ein- und Ausatmen des Rauches kann ohne Übertreibung als besonders philosophischer Akt bewertet werden. Ich freue mich, feststellen zu können, daß dieser Akt durchaus angenehm ist, und ich bedauere nur, daß ich ein bißchen zu spät dahinter gekommen bin. Hier treffen sich wenigstens einmal Vergnügen und Vernunft.« Er rauchte in schwermütiger, naiver Freude über diese Erkenntnis seine Zigarette zu Ende; dann schaltete er das Licht im Zimmer so weit ab, daß nur noch eine bläuliche Lampe brannte. Es schien, als ob in diesem Halbdunkel seine breite Stirn alles Licht anzöge und verstärke. Er hatte sich in einen Sessel aus mattem
schwarzem Leder niedergelassen und rührte sich nicht. Dann begann er von neuem zu sprechen, und seine Stimme schien mir besonders ernst und bewegt. »Ich muß Ihnen noch etwas gestehen und Sie gleichzeitig um etwas bitten. Der Zufall ist unberechenbar. Vielleicht kehren Sie eines Tages nach Paris zurück, dann gehen Sie bitte in Erinnerung an mich auf den MontparnasseFriedhof in die 7. Abteilung und die Allee Nr. 8. Sie werden dort ein sehr einfaches Grab finden mit einer Einfassung aus Stein und dieser Inschrift: ,Genevieve, 24 Jahre alt. 25. November.' Seit bald dreißig Jahren habe ich an diesem Gedenktag nicht versäumt, dort Blumen niederzulegen. Wenn Sie in Zukunft das für mich tun würden — (er preßte die Hand gegen seine Brust, wie wenn ihm die innere Erregung den Atem nähme), in diesem Falle«, fuhr er mit Mühe fort, »im voraus — vielen Dank.« Ich versprach ihm, seinen Wunsch zu erfüllen, und er lächelte mir traurig zu. Nach kurzer Pause fuhr er mit gedämpfter Stimme fort: »Wollen Sie meine Geschichte hören, die einzige Herzensgeschichte meines Lebens? Ich glaube, Sie werden sie verstehen. Hören Sie ... Oh, erwarten Sie nichts Besonderes. Die Erlebnisse der Menschen sind um so rührender, je öfter sie sich wiederholen und je mehr sich in ihnen der ewige Wechsel von Glück und Unglück ausdrückt. Auch Sie haben gelitten, vielleicht mehr noch als ich. Aber wenigstens haben Sie, wenn auch nur für kurze Zeit, das Glück kennen gelernt, ich habe es immer nur geahnt. Ist es härter, ein schon genossenes oder ein erhofftes Glück zu verlieren? Wohl eine Frage des Nervensystems. Also vor etwas mehr als dreißig Jahren hatte ich meine Assistentenzeit im Krankenhaus hinter mir und schwankte noch zwischen der Mikrobiologie und der Neuro- oder GehirnChirurgie, zwei Gebiete, die gleichermaßen interessant und geeignet sind, ein Menschenleben auszufüllen, und an das große Mysterium des Daseins rühren. Die Mikrobiologie umfaßt ein vielleicht noch größeres Universum als ein Sternennebel. Der Geist taucht mit panischer Trunkenheit in diese Materie wie ein Schwimmer ins Meer. Das Gehirn ist ein wunderbar gegliedertes, selbständiges, unteilbares Organ, in dem strengste Ordnung aller Teile und ihr einwandfreies Funktionieren für die Existenz des ganzen Menschen erforderlich sind. Ich zögerte. Als Gehirnchirurg hätte ich mich nicht auf eine gewöhnliche Praxis beschränkt. Ich wollte die ewig ungelöste Frage nach dem Zusammenhang des Geistes und der Materie wieder aufnehmen und erforschen. Was nimmt man sich nicht alles mit fünfundzwanzig Jahren vor! Sondern die Gehirnlappen den Gedanken ab, wie ein Baum seine Früchte
trägt, oder dienen sie nur als Vermittlungsstellen zwischen dem Körper und einem höheren Prinzip, der ,anima' der Religion und Philosophie? Ich war also auf das Problem Seele — Körper gestoßen, das ich nicht als Philosoph oder als Träumer, der über Abstraktionen grübelt, behandeln wollte, sondern als Gelehrter, der sich der experimentellen Methode bedient. Um diese Zeit machte ich die Bekanntschaft Genevieve Emeriaus. Unsere erste Begegnung fand im Amphitheater der Fakultät statt, ich hörte damals ein Kolleg über die Phänomene der Allergie. Genevieve saß neben mir auf der Bank und machte sich Notizen. Mir fielen sofort ihr gespannter Ausdruck, die weiße, wohlgeformte Stirn, hinter der sich ein starker Wille verbarg, ihre glänzenden, sanften, tiefliegenden kastanienbraunen Augen auf. Ich hatte mich bis dahin für die Frauen nur interessiert, wenn sie auf dem Seziertisch lagen, aber nun bemerkte ich sogar Genevieves leises Lächeln, als der Professor, um seinem Vortrag eine witzige Note zu geben, irgendeinen fragwürdigen Vergleich zog. Ihre Lippen, die noch die Unschuld eines Kindes hatten, verzogen sich mit einer gewissen Schüchternheit. Wie kamen wir eigentlich ins Gespräch? Ich habe die näheren Umstände vergessen, aber vermutlich sprachen wie über die Anaphylaxie oder etwas Ähnliches, als wir zusammen den Hörsaal verließen. Genevieve stammte aus einer Professorenfamilie und war in der Überzeugung erzogen worden, daß nur das Studium dem Leben einen Sinn gebe. Sie machte damals ihr Praktikum im Krankenhaus Cochin, war der Abteilung für ansteckende Tropenkrankheiten zugeteilt und widmete sich leidenschaftlich ihrer Arbeit. Meine Schwäche für die Mikroben, wenn ich mich so ausdrücken darf, führte zu einer Annäherung. Sie erzählte mir alles, was sie den Tag über im Hospital erlebte, und bat mich um Rat. An einem kalten Herbstabend entdeckten wir ganz einfach, daß wir uns liebten. Ein Händedruck, ein Blick hatten genügt. Am nächsten Vormittag hielt ich bei ihren Eltern um ihre Hand an. Ich wartete auf die Stelle des Chefarztes in einer Klinik. Unsere Hochzeit sollte in den Osterferien stattfinden. Genevieve sah voller Vertrauen in die Zukunft und glaubte an Reinheit und Glück, sie war scheu wie ein Wiesel, sie senkte sofort die Augen und errötete tief, wenn ich von meiner Leidenschaft sprach; und so sollte ich von ihrer Rechtschaffenheit, ihrer Liebenswürdigkeit, von ihrem lebhaften, feinen Auffassungsvermögen, von diesem ganzen Strauß trefflicher und entzückender Eigenschaften, den mir die Zukunft versprach, nur einen flüchtigen Duft kennen lernen. Vierzehn Tage, nachdem mir ihre Eltern ihre
Zustimmung gegeben hatten, erzählte mir meine Verlobte, daß ein Kranker ihrer Abteilung, ein Kabyle, der am Abend vorher aufgenommen worden war, ohne daß der Grund seiner Erkrankung festgestellt werden konnte, gestorben sei. Alles ließ darauf schließen, daß eine unbekannte, aber äußerst virulente Mikrobe den Tod verursacht hatte. Die Symptome ließen sich nicht mit irgend einem klassischen Krankheitsverlauf in Einklang bringen. Das Fieber des Kabylen stieg plötzlich auf 42 Grad, noch in der gleichen Stunde fiel die Temperatur auf 35 Grad, und diese Schwankungen hielten in den folgenden Stunden an. Das Phänomen war von starken Eiweißabsonderungen, von paradoxaler Tachykardie und schweren Darmstörungen wie bei der Amöbenruhr begleitet. Kurz, der arme Mohammed ben Tami — ich habe seinen Namen nie vergessen — starb in weniger als vierundzwanzig Stunden. Ich hatte Genevieve an jenem Abend beim Ausgang des Hospitals erwartet, und wir begaben uns in ein Cafe des Boulevard Samt-Michel, wo wir noch wenigstens eine halbe Stunde über den Fall des Kabylen sprachen. Genevieve hielt ihn für einen Fall von besonders heftiger Kolibazillose, ich war etwas zurückhaltender, und in der Tat sollte ich ein wenig später den Erreger dieses merkwürdigen Fiebers entdecken; ich taufte ihn ,Kabylen-Mikrobe'.. Ach, wie gefiel mir Genevieve, deren Gesicht vor Wissensdrang strahlte. Mit einer energischen Falte auf der Stirn zählte sie, um alle möglichen Hypothesen zu prüfen, sämtliche pathologischen Erscheinungen auf, denen der arme Mohammed schließlich zum Opfer gefallen war. Sie zeigte für die medizinische Laufbahn eine bewundernswerte Begabung, und ihre klinischen Examina hatten bereits ihre intuitiven Fähigkeiten, ihr psychologisches Empfinden, ohne die es keinen wirklichen Arzt gibt, schlagend bewiesen. Ich liebte sie ebenso wegen ihres Feingefühls und der Zurückhaltung, die ihren Blick schamhaft verschleierte, wenn wir das wissenschaftliche Gebiet verließen und ich von ihrer Schönheit und der Verklärung meines Daseins sprach, die ich ihr zu verdanken hatte. Sie hielt sich nicht für begehrenswert mit ihrer für eine Frau vielleicht etwas zu breiten Stirn und den etwas zu starken Augenbrauenbögen. Aber diese Unregelmäßigkeiten eines sonst so zarten Gesichts zeugten von Charakter und machten sie meinem Herzen noch teurer. Ich kann nur sagen, Genevieve Emeriau war schön unter den Töchtern der Menschen. Sie ahnen wohl schon die Fortsetzung. Achtundvierzig Stunden nach dem Tod Mohammed ben Tamis mußte sich Geneviive niederlegen und sollte sich nie
mehr erheben. Die schrecklichen Mikroben waren in ihr Blut eingedrungen. Ich saß an ihrem Bett und verließ sie nicht' eine Minute. Ich mußte, ohne Hilfe bringen zu können, mit ansehen, wie dieses mir so teure Wesen im Verlauf eines einzigen Tages dahinsiechte, schließlich zu leben aufhörte und alle meine Hoffnungen mit sich forttrug. Was soll ich Ihnen noch weiter erzählen? Angesichts der Toten verzichtete ich endgültig auf die Gehirnchirurgie, um mich ganz der Mikrobiologie zu widmen. Noch nicht ein Monat war vergangen, und ich hatte die Kabylen-Mikrobe gefunden. Einen Monat früher, und Genevieve hätte gerettet werden können.« Er schwieg. Seine edle Stirn schien noch alles Licht an sich zu ziehen. Nun er mir alles gesagt hatte, sah ich in ihm " nicht nur den Übermenschen und Heiligen, ich sah in ihm auch den Menschen schlechthin, einen Menschen, der wie ich geliebt und gelitten hatte und der mir dadurch noch größer erschien. Ich hätte es ihm so gern gesagt, aber meine Erschütterung war zu stark, vergebens suchte ich meine Tränen zu unterdrücken. Im Halbdunkel des Zimmers hörte ich plötzlich ein kleines, klirrendes Geräusch. Gaston Balanche hatte die Spitze seiner Ampulle mit dem Schierlingssaft abgebrochen und schüttete den Inhalt in seinen Mund. Bevor ich es verhindern konnte, zersplitterte das leere Glasröhrchen auf dem Boden, und eine warme Hand drückte die meine. »Leben Sie wohl, lieber William Durand. Ihre Freundschaft war mir eine große Hilfe. Und dem berühmten John W. Johnson drücken Sie mein Bedauern aus.« Seine Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Noch im letzten Augenblick bewies er sich durch dieses Zeichen höflicher Ironie als echter Franzose. Ein paar Sekunden später hörte ich seine Nägel auf dem Leder des Sessels kratzen, und nach einem kurzen Seufzer senkte sich sein Haupt langsam auf die Brust. DIE KÖNIGIN NOFRETETE »Fünfzehn Uhr! Es ist genau fünfzehn Uhr!« verkündete die sprechende Uhr. Der weiße Mann sprang auf. Er hatte seit sechs Stunden ununterbrochen gelesen und jeden Zeitbegriff verloren. Wiederholt hatte er die Lektüre unterbrochen, seine Gedanken waren in das Traumland der Erinnerung getaucht und brachten ihm tausend kostbare Einzelheiten aus längstvergangenen Tagen zurück. Er sah das silberne Glitzern der Seine hinter Notre-Dame in der hellen Mondnacht wieder, ein rosig-blondes Kinderlächeln in einem grünen Park an einem strahlenden Sommertag, die dunklen Augen
Marie-Jeannes, die herrlichen Honigkuchen, die er als Zehnjähriger heimlich bei Boisseau und Hyvert, der alten Konditorei in Avallon, gekauft hatte, einen Sonnenaufgang voller Vogelgezwitscher im Tale von Cousin, die blauen Augen Manettes — und dann begann er aufs neue den Bericht zu lesen, den Hannah Pierce mit äußerster Sorgfalt auf Grund seiner unvorsichtigen Erzählung aufgezeichnet hatte. Er fand in ihm sein Leben wieder, das wie ein bunter, lebend aufgespießter Schmetterling, der mit seinem durchlöcherten Körper auf dem Brett des Entomologen mit den Flügeln schlägt, noch nicht erstarrt war. Er konnte der gewissenhaften Journalistin zwar keinen Vorwurf machen, denn er hatte sie nicht ersucht, den Inhalt ihrer Gespräche geheimzuhalten, und sie hatte auch nichts Wesentliches geändert oder hinzugefügt, aber er empfand ein brennendes Schamgefühl, wie wenn er plötzlich unbekleidet dem Anblick einer großen Menge ausgesetzt worden wäre. (Stellte ihn die Trickaufnahme in dem Magazin nicht ohnedies im Adamskostüm dar?) Das einzige, was er noch zu verlieren hatte, seine Vergangenheit, gehörte ihm nun auch nicht mehr. Der erstbeste Neger, jeder x-beliebige Gelbe konnte nach Gefallen bei seinem Anblick an Paris, Avalion, Marie-Jeanne und Manette denken und mit perverser Einbildungskraft dreißig tote Jahre, in denen der Schmerz bei weitem die Freude überwog, bekritteln und an sich vorüberziehen lassen. Er empfand das wie eine Entweihung, wie einen Raub, und fühlte den brennenden Wunsch zu fliehen, sich zu verstecken und sich den Blicken dieser schamlosen Bambulas, Japse und tückischen Chinesenschädel zu entziehen, von denen er nicht einen Augenblick mehr in Ruhe gelassen würde. Wie hatte er nur länger als zehn Jahre diese Schmach ertragen können? Die Ampulle mit dem Gift war stets in seiner Tasche bereit. Fünf Minuten — und die Frage war für ihn gelöst, wie sie für Professor Balanche gelöst war. Er lag seit dem Morgen bäuchlings auf seinem elektro-pneumatischen Divan. Nun stützte er sich auf die Ellenbogen und spürte eine unangenehme Steifheit im Rücken. Hinter der Scheibe des Aufzugs entdeckte er sein Essen unter der Hülle aus Kristallpapier, eine stumpfsinnige Nahrung, die »vitaminisiert, kalzifiziert und kalorisiert« war und bei allen diesen chemischen Tugenden selbst den geringsten Geschmacksreiz völlig vermissen ließ. Jetzt erinnerte er sich, während des Lesens das dreifache Läuten gehört zu haben, das stets die Mahlzeiten ankündigte; aber wie der Klang einer Glocke im Morgengrauen, den man im Halbschlaf hört, schien es ihm aus einer anderen Welt gekommen
zu sein, aus einer verlogenen, lächerlichen, traurigen Wirklichkeit, in der seine Tage zu beschließen das Schicksal ihn verurteilt hatte. Übrigens empfand er auch keinen Hunger. Er erhob sich und machte mit steifen Beinen ein paar Schritte durchs Zimmer. Nein, er fühlte keine Kraft mehr, diese dauernde Beleidigung seiner Menschenwürde bis in die Unendlichkeit zu ertragen. Da schien es noch besser, drüben in Europa einsam aber frei in einer vertrauten Umgebung zu leben, in der er seinen Anteil am Glück genossen hatte. Dabei fiel ihm der Vorschlag von Hannah Pierce wieder ein: die Rückkehr nach Paris mit ihr, um einen Bericht über die tote Stadt zu verfassen. Warum sollte er nicht annehmen? Wäre es ihm nicht ein leichtes, seine Reisegefährtin in Paris überall herumzuführen? Und wäre es nicht besser, sich allen Zufällen dieser Expedition auszusetzen, als feige bis zum letzten Atemzug das erbärmliche Schicksal zu ertragen, das ihm seit dem Tode Gaston Balanches beschieden war? Aus der völligen Hoffnungslosigkeit geriet er in fieberhafte Erregung, die ihm seine Situation taghell beleuchtete. Die Verzweiflung beginnt für den Menschen mit der Unmöglichkeit, Pläne zu machen. Seit zehn Jahren wußte William Durand, daß ihm die Zukunft nichts Überraschendes mehr bringen konnte. Und nun änderte sich alles mit einem Schlage. In einigen Wochen, vielleicht sogar in einigen Tagen war es möglich, die Freiheit zurückzugewinnen, die Freiheit, das kostbarste Gut des Menschen! Ein Gespräch mit Gaston Balanche kurz vor dessen Tode fiel ihm wieder ein: »Der Begriff der Freiheit«, sagte der Gelehrte, »ist oft ins Lächerliche gezogen worden von Menschen, die daran interessiert waren, daß man ihnen aufs Wort glaubte, weil ihr Regierungssystem aus der Gier nach Macht geboren und darauf abgestellt war, die anderen der Freiheit zu berauben. Ihre Beweisführung ermangelte nicht der Schlauheit, wie ich zugeben muß. ,Die Freiheit', erklärten sie, ,existiert weder in der Natur noch im Leben. Ihr habt weder das Land gewählt, in dem ihr geboren worden seid, noch eure Eltern, euren Körper oder euren Verstand. Die menschliche Gemeinschaft, die euch aufnimmt, hat nicht nach eurer Meinung gefragt, als sie sich konstituierte, und doch müßt ihr euch ihren Gesetzen und Gebräuchen unterwerfen. Ebenso wie das Funktionieren eurer Organe den Gesetzen der Vererbung unterliegt und zum Beispiel der Kochsche Bazillus euer Wohlbefinden stören kann, weil euer Vater tuberkulös war, so würdet ihr es auch, wenn ihr zufällig unter
Menschenfressern geboren wäret, nicht nur äußerst wohlschmeckend, sondern auch höchst moralisch finden, den besiegten Feind am Spieß zu braten. Die Großväter aßen unreife Trauben, sagt die Heilige Schrift, und die Kindeskinder leiden darob an schlechten Zähnen. Unerbittlich von der Wiege bis .zum Grabe an die Gegebenheiten gebunden und in jeder Richtung beschränkt, mit welchem Recht verlangt da der Mensch nach Freiheit? Auf Grund welches Prinzips sucht er im sozialen Leben Dinge zu verwirklichen, denen sich seine physische Veranlagung entgegenstellt?'« »Nun«, fuhr Gaston Balanche fort, »gerade auf Grund des Prinzips, nach dem ihm die geistigen Fähigkeiten Handlungen ermöglichen, für die seine physische Veranlagung unzureichend ist. Der Mensch besteht aus Geist und Materie. Wenn man ihm die Freiheit nimmt, die ja nichts anderes als sein individuelles Bewußtsein und das Wesentliche des menschlichen Geistes überhaupt bedeutet, so drückt man ihn auf das Niveau des instinktgebundenen Tieres herab, auf das der Ameise oder der Termiten.« Wieder frei werden! Bei diesem bloßen Gedanken kehrte William Durands Appetit zurück. Er öffnete die Klappe des Aufzuges, aß ein Sandwich mit Fleischextrakt, eine halbe Pampelmuse und trank ein Glas Eismilch. Gebe Gott, daß der Große Rat nichts gegen das Unternehmen der geistreichen Hannah Pierce einzuwenden hat! »Fünfzehn Uhr fünfzehn Minuten. Es ist genau fünfzehn Uhr fünfzehn Minuten.« — Diesmal irritierte ihn das Geschnarre der Uhr nicht. Hannah Pierce mußte in der nächsten halben Stunde kommen. Sollte sie schon da sein? Die Glocke des teleoptischen Apparates läutete, und die dunkle, einfältige Stimme Jonathans ertönte: »Ist der weiße Mann bereit, den Herrn Präsidenten Ha-kashu Yosano zu empfangen?« Den Herrn Präsidenten? Was für einen Präsidenten? Er sah auf den Zettel, den Atsuo, der kleine Japs, nicht versäumt hatte, in das Fach unter der Uhr zu stecken, das für solche Notizen in der Mauer angebracht war. Ach ja, richtig! Herr Hakashu Yosano, Präsident des Institutes für vergleichende Anthropologie in Tokio. Wieder einer dieser gelben Gelehrten, die so außerordentlich höflich, aber von einer kalten Raffiniertheit waren, die an Beleidigung grenzte. Was für ein Mensch mochte wohl dieser Herr Samory, Staatsrat der F.U.A., sein, dessen Besuch dem des Herrn Hakashu folgen sollte? Riesig und fettstrotzend wie so viele der schwarzen höheren Beamten oder mager und beweglich wie ein Tam-Tam-Schläger, der mit albernem Lachen unzählige Fragen stellt? Ach was! Er zuckte die Achseln. «Der
Präsident kann heraufkommen.» Herr Hakashu Yosano war ein kleiner Japaner, dessen weißes Haar auf ein Alter schließen ließ, das durch die wachsgelbe, faltenlose Haut eines Säuglings Lügen gestraft wurde. Hinter einer dicken Elfenbeinbrille glänzte aus dem schmalen Spalt der Augenlider ein schwarzer Onyxstreifen. Entgegen der Sitte, die sich seit der weißen Pest eingebürgert und zur Abschaffung des shakehands geführt hatte, streckte er William Durand seine harte, trockene, aber gepflegte Hand entgegen. Er begann sofort in einem fließenden Französisch, eine Aufmerksamkeit, die ihren Eindruck auf den Angeredeten nicht verfehlen konnte. Der Präsident hatte drei Jahre in Paris gelebt, etwa vor dreißig Jahren, als junger Student der Sorbonne, und sprach von seinen Erinnerungen an den Boulevard SaintMichel und wie glücklich er sei, endlich mit einem Pariser über Paris reden zu können. Seine Liebenswürdigkeit versetzte den Erfinder des »natürlichen Porträts« in tiefe Erschütterung. Wahrhaftig, dieser vornehme Mann hätte nicht anders sprechen können, wenn Paris noch die blühende Hauptstadt eines reichen, glücklichen Landes gewesen wäre, das man von Colour City aus in ein paar Flugstunden erreicht. Es schien gar keinen Eindruck auf ihn zu machen, daß sein »Pariser« (wie liebenswürdig klang dieses Wort in seinem Munde!) der letzte Vertreter seiner Rasse war. Paris war für ihn seine Jugend, und das Verschwinden dieser Stadt unter den Städten als endgültige Tatsache anzusehen, hieße die schönsten Jahre seines Lebens mit in den Abgrund werfen. Er hatte sich noch nicht damit abgefunden, umso weniger, als er ein Anhänger der reinen Lehre des Yamato Damashi und überzeugt von der Mission der kaiserlichen Familie war, die von der Sonnengöttin Amaterasu abstammte. »Wie schade«, meinte er, »daß sich Europa, und besonders Ihr schönes Land Frankreich, nicht unter den Schutz unseres Kaisers gestellt hat! Denken Sie daran, mit welcher unvergleichlichen Weisheit er die Union der vereinigten gelben Nationen leitet. Aber noch ist vielleicht nicht alles verloren. Warum soll Paris nicht zu neuem Leben erwachen? Ich verstehe sehr gut, daß Paris ohne die Franzosen eben nicht Paris sein würde. Ich habe lange über das Problem nachgedacht, und ich glaube, nun eine Lösung gefunden zu haben. Alles hängt von Ihnen ab.« William Durand hob verblüfft die Augenbrauen. Dieser Herr Hakashu Yosano mochte vielleicht ein harmloser Irrer sein. Aber er sah jedenfalls sehr seriös aus — welcher Weiße hat wohl jemals einen Japaner begriffen? »Ich bin äußerst gespannt«, sagte William Durand sehr
höflich. »Also hören Sie«, erwiderte der andere. »In meiner Eigenschaft als Anthropologe habe ich mich sehr eingehend mit dem Problem der Rassenmischung befaßt. Sie wissen vielleicht, was man in der Anthropobiologie als ,Züchtungsergebnis' bezeichnet. Es handelt sich da um eine bestimmte Art von Individuen, die sich im Laufe der Zeit nicht nur physisch, sondern auch moralisch neu entwickelt hat, also eine Gruppe von Menschen, welche die Züge verschiedener Rassen in sich vereinigt. Sie wissen vielleicht auch, daß die Rasse in erster Linie von der Blutzusammensetzung abhängig ist. Es gibt vier Arten von Blut, A, B, AB und 0, und man hat festgestellt, daß die A-Form hauptsächlich bei den Völkern des Westens vorkommt, während B den orientalischen Völkern eigen ist. Nun, Sie sind auf den ersten Blick der vollendete Typ des Westlers, ja mehr noch, des Franzosen. Hätten Sie nicht Lust, der Stammvater eines neuen-- Geschlechtes au werden? Wenden Sie bitte nicht ein, daß dazu immer zwei gehören. Wenn es auf unserer Erde keine weiße Frau mehr gibt, was ich aufrichtig bedaure, so findet man doch Frauen einer ähnlichen Rasse, deren Blutformel zu der der Kategorie A paßt. Ich habe zwei solche in der fast ausgestorbenen Rasse der Ainos entdeckt, von denen noch einige Exemplare auf den Inseln Hokkaido und Sachalin leben. Wenn ihre Behaarung stärker als die der Europäerinnen entwickelt ist und ihre äußere Erscheinung auch sehr wenig den westlichen Schönheitsbegriffen entspricht, so zweifle ich trotzdem nicht daran, daß das höhere wissenschaftliche Interesse Sie über diese Belanglosigkeiten hinwegsehen läßt. Es handelt sich ja nicht darum, eine persönliche Neigung oder den niedrigen Ge-schlechtstrieb zu befriedigen, sondern um die Schaffung einer neuen Rasse, und hierbei müßten Sie die Rolle eines modernen Adam übernehmen. Liegt in dieser Perspektive nicht ein wertvoller Gedanke? Im übrigen können Sie sich anderweitig entschädigen. Die Ainos sind mongolischen Ursprungs, aber eine andere Rasse, die aus Afrika stammt, die Peuhls, haben sehr schöne Weiber. Ihre Hautfarbe ist, wenn sie nicht Nachkommen von Mischlingen sind oder aus Mischehen stammen, nicht schwarz, sondern hell kupferfarbig. Ihr wohlgeformter Mund ist durchaus nicht negroid, die Nase gerade, ihr Gesicht weist kaum Merkmale von Prognathie auf. Kurz, wenn wir dann Ihre Produkte mit den Aino-Frauen und den Peuhl-Frauen kreuzen, so haben wir alle Aussichten, durch eine strenge Zuchtwahl eine annähernd weiße Rasse
entstehen zu sehen, die sich zu Ihrer Rasse verhalten würde, wie ein Sudanese zu einem ,new-negro', und in drei oder vier Generationen hätten wir ein Züchtungsergebnis, das außerordentlich Widerstands- und fortpflanzungsfähig wäre. Die Akklimatisierung in Frankreich und nach und nach in den anderen Ländern Europas ist dann nur noch eine Frage der Zeit.« Herr Hakashu Yosano war kein Wahnsinniger, seine Überzeugung stand außer jedem Zweifel. Die Anthropobiologie war seine ausschließliche, verzehrende Leidenschaft, wie es für andere der Wein, die Dichtkunst oder die Liebe zu Gott ist. William Durand begriff sehr wohl, daß er für diesen fanatischen Gelehrten ein einmaliger Glücksfall war, der seine Theorie über die Rasse in anima vili verwirklichen konnte. Aber der Gedanke an eine Zukunft, die systematisch zu Paarungen mit Aino-Weibern, die behaart wie die Bären waren und nach Ziegenbock stanken, oder mit Peuhl-Weibern, die vielleicht von klassischem Wuchs waren, aber deren Hautfarbe an kupferne Kochgeschirre erinnerte, erregte keineswegs die Begeisterung des weißen Mannes. Doch warum sollte er den wak-keren Herrn Yosano vor den Kopf stoßen? Wie alle Menschen, die von einer fixen Idee besessen sind, konnte sich sein Besucher überhaupt nicht vorstellen, daß der Franzose ihm eine Absage geben würde. Daß das Museum des weißen Mannes eine Art Gestüt werden sollte, in dem der genannte William Durand der einzige Zuchthengst sein würde, erschien ihm ebenso wichtig wie gerechtfertigt — warum sich nicht den Anschein größten Interesses geben? Der ehrenwerte Gelehrte ahnte ja doch nicht, daß sich hinter diesem Interesse das unheimliche Gelüst verbarg, laut aufzulachen, und ein geradezu pathologisches Verlangen, dem Besucher auf den Bauch zu klopfen, ihn in die Nase zu zwicken oder am Bart zu zupfen. (Übrigens ein rein theoretischer Einfall, denn Herr Hakashu Yosano hatte ein Kinn so glatt wie ein Hühnerei.) William Durand sah sich bereits in zwei oder drei Jahrhunderten auf den Stichen in den Almanachen, die früher die herumziehenden Händler verkauften, am Fuße eines Stammbaumes stehen, den man den Stamm Durand nennen würde, in Nachahmung des Stammes Jesse. Ermutigt durch die Zeichen der Zustimmung seitens seines Zuhörers, setzte der Präsident des Institutes für vergleichende Anthropologie in Tokio seinen Monolog fort. Wenn es sein Wunsch war, Europa wieder zu bevölkern, so war, im Vertrauen gesagt, das höhere Interesse der Wissenschaft nicht der alleinige Grund seiner Bemühungen. Auch rein persönliche Empfindungen spielten dabei eine Rolle.
Er hielt es vor allem für wünschenswert, daß die zukünftigen coloured men, und unter ihnen in erster Linie seine Urenkel und Neffen, in dem wiedererstandenen Paris dieselben schönen Zeiten erleben sollten wie er selbst, er hielt Paris für unersetzlich. Paris bedeutete Vergnügen, Anmut, Herzenswärme, funkelnden Geist, Freuden ohne Gewissensbisse, Leichtsinn ohne dramatische Folgen, Lachen und Lächeln, Zauber der Überraschung, der sich in jeder Minute erneuert. Im gleichen Maße, in dem Herr Hakashu Yosano diese wohlbekannte Atmosphäre banalisierte, verlor William Durand seine gute Laune. Sein Ausdruck verfinsterte sich zusehends. Dieser Dummkopf mochte wohl in Erinnerung an ein in allen Lichtern strahlendes Paris, das auf dem Gipfel der Zivilisation angelangt war und vor seinem Untergang noch einmal alle seine Reize spielen ließ, die Augen verdrehen. Er selbst sah nur noch das Paris vor sich, in dem er so viel gelitten hatte. Das Paris nach dem vierten Kriege, als er sich in Verzweiflung über den Tod seiner Frau von aller Welt zurückzog, und dann das Paris der Pestzeit, die Menge vor dem Laboratorium Balanches, die Leichname auf den Straßen, den als Weib verkleideten Irren aus der Rue Royale, die Lastwagen mit den Kadavern der Pestkranken, den geliebten Körper Manettes, den man mitten unter die anderen ekel- und schreckenerregenden Toten geworfen hatte. Paris war tot, und ein neues Paris würde nicht aus den Lenden des letzten Weißen geboren werden, der mit seinen fünfundvierzig Jahren müder und gebrochener war denn der Patriarch Boas, als er sich Ruth näherte. Er bemerkte, daß er, von seinen trüben Vorstellungen überwältigt, dem Präsidenten Hakashu Yosano garnicht mehr zuhörte. Dieser beendete eben seinen Vortrag. »Ich hoffe«, sagte er, »daß der schwarz-gelbe Große Rat im Hinblick auf das wissenschaftliche Interesse und die allgemein menschliche Bedeutung des Falles keine Schwierigkeiten machen wird. Ich habe mich der Unterstützung des Professors Thorp vom interföderalen Institut für Rassenforschung versichert und freue mich über das große Verständnis, das Sie dem Problem entgegenbringen.« Er lachte in sich hinein, und William Durand hätte diesen grinsenden Knirps mit Wonne verprügelt. Herr Hakashu Yosano nahm nun, äußerst befriedigt von seinem Besuch, unter tausend Höflichkeitsbezeugungen Abschied. Der Weiße warf sich, endlich allein, auf seinen Diwan. Verbittert grübelte er über das eben Erlebte nach, als neuerdings die Glocke des teleoptischen Apparates ertönte und Jonathan mit seiner gutturalen Stimme fragte: »Ist der weiße Mann bereit, den Herrn Rat
Samory zu empfangen?« Der Herr Rat Samory — warum sollte man nicht den Herrn Rat Samory empfangen? Nach dem Schimpansen den Gorilla. Das alles ging in Ordnung und hatte nicht einmal mehr den Reiz der Neuheit. Dient ein Museum nicht zum Empfang von Besuchern? Ob es sich um einen Staatsrat oder den Boy eines Nachtklubs handelte, einem Neger würde es auf alle Fälle Spaß machen, einen Weißen genau so zu betrachten wie das sorgfältig präparierte Skelett eines Brontosauriers oder eine Koleoptere der Gattung Titanus giganteus mit emailleblauen Flügeln. Wodurch unterschied sich William Durand, ein Abkömmling der französischen Rasse, ein geborener Avallonaiser und Wahl-Pariser heute noch von einem Titanus giganteus? Nur dadurch, daß er nicht in einem Glaskasten war, in sonst nichts. Fliehen! Fliehen! Heraus aus dem Gefängnis! Die Signalanlage läutete stärker. Das nervöse Gesicht Jonathans erschien auf der Fläche des teleoptischen Apparates und wiederholte die Frage von vorhin mit einem Ton, der nicht mehr so gleichgültig war: »Ist der weiße Mann bereit, den Herrn Staatsrat Samory zu empfangen?« »Warum nicht?« antwortete William Durand, der noch immer bäuchlings auf dem Diwan lag und den Kopf in die Hände stützte. Zum ersten Mal vielleicht ließ er die gewohnte Höflichkeit außer acht, aber der Becher schäumte über. »Mein Herr —-« Er rührte sich nicht. Seine Nase sog den faden, kalten Geruch des Kautschuks ein, denn er lag noch immer mit dem Gesicht nach unten. »Mein Herr — ?« Die Stimme des Besuchers verriet neben der Geduld eines Steines eine leicht ironische Sympathie. »Den Kerl werde ich hinausekeln«, sagte sich der Weiße. Er wandte sich um und sah einen schwarzen Koloß vor sich, der leicht mit den Beinen schlenkerte wie ein Baum, der sich auf seinen kräftigen Wurzeln hin und her bewegt. Seine Hautfarbe war matt und von tiefem Schwarz, einige parallele Einschnitte durchfurchten seine Wangen. Die mächtigen Schultern ließen seinen völlig kahlen, eiförmigen Schädel noch spitzer erscheinen, aber aus den kugelrunden Augen sprühten Intelligenz und Verschlagenheit. »Herr Rat Samory?« Der Schwarze grinste und zeigte zwei Reihen blendend weißer Zähne. »Ich hatte schon lange den Wunsch, Sie aufzusuchen, Herr Durand, aber ich reise selten und mußte auf die Gelegenheit warten. Sagen Sie mir bitte zunächst, ob ich irgend etwas für Sie tun kann?« Der Weiße zuckte die Achseln und anwortete verbittert: " »Was soll man für
mich tun können? Ich gehöre einer versunkenen Welt an. Mein Dasein beruht auf einem Irrtum, meine Existenz ist lächerlich. Ich ertrage die Gegenwart nur aus Neugier oder, wenn ich ganz ehrlich sein will, aus Feigheit. Aber vielleicht sind Sie auch ein Anthropologe und wollen mir wie der ehrenwerte Herr Yosano vorschlagen, die Rolle eines neuen Adams zu spielen?« Der Rat Samory schüttelte den Kopf. »Regen Sie sich nicht auf«, sagte er freundlich. »Der Zorn ist eines vernünftigen Menschen unwürdig. Nein, ich bin kein Anthropologe, und vor meinem Eintritt in den Rat der F. U. A. genügte die Philosophie, um mich glücklich zu machen. Die Philosophie, wie ich sie verstehe, würde auch für Sie eine große Hilfe sein.« »Die Philosophie!« erwiderte William Durand bitter. »Welche Hilfe könnte die kalte Vernunft wohl einem gebrochenen Herzen bringen?« »Ta, ta, ta!« fuhr der Schwarze fort. »Glauben Sie mir, Ihre Melancholie wird hauptsächlich durch Raum und Zeit verursacht, durch die Zeit, weil Sie überzeugt sind, daß Ihre Welt zugrunde gegangen ist, durch den Raum, weil in Ihren Augen die Distanz, die Sie von Ihrem Geburtsland trennt, unüberbrückbar ist. Aber verliert nicht die Melancholie ihre Berechtigung, wenn ich Ihnen sage, daß es weder einen absoluten Raum noch eine absolute Zeit gibt? Ein europäischer Gelehrter, dessen Name Ihnen sicher zu Ohren gekommen ist — er hieß Einstein — hat das als erster mit seiner Relativitätstheorie festgestellt. Aber er war nur Physiker und kümmerte sich wenig um die Philosophie. Wenn ich ein System aufstellen sollte, würde ich noch viel weiter als Ihr Einstein gehen, ich ginge von dem Prinzip aus, daß die Zeit nicht existiert. Die Zukunft ist für mich nur ein absurder Begriff. Ich bin der Ansicht, daß es nur eine Gegenwart und eine Vergangenheit gibt, oder vielmehr entweder die Gegenwart oder die Vergangenheit, das ist nur eine Frage des Wortes. Napoleon und Cäsar sind ebenso meine Zeitgenossen wie der verstorbene Präsident John W. Johnson und der König Salomon. Damit eine Sache gewesen ist, muß sie doch erst einmal dasein. Und wenn sie da ist, ist sie auch schon gewesen. Gegenwart und Vergangenheit sind also ein und dasselbe, und die Erinnerung ist ebenso Wirklichkeit wie das unmittelbare Erleben. Was sage ich? Das Erleben, wenn es Ihnen ins Bewußtsein dringt, ist bereits Erinnerung, der bescheidenste philosophisch Gebildete weiß das. Begreifen Sie die psychologische und moralische Bedeutung einer solchen Auffassung? Warum der Vergangenheit nachweinen, wenn alles gegenwärtig bleibt? Warum sich über die Gegenwart beunruhigen, wenn sie bereits zu
existieren aufgehört hat? Um nun auf Ihren Fall zurückzukommen, wenn Sie mir sagen, daß alles, was Ihnen das Leben lebenswert gemacht hat, verschwunden ist, entgegne ich Ihnen, daß das, was gewesen ist, bleibt und daß infolgedessen Ihr Kummer gegenstandslos ist.« William Durand hatte das Empfinden, daß sich der schwarze Herr Samory über ihn lustig mache, und wollte ihm nichts schuldig bleiben. »Wenn ich Sie recht verstanden habe«, sagte er, »gäbe es Ihrer Ansicht nach keine anderen Lebenden als die Toten.« Der Rat der F. U. A. schnalzte mißbilligend mit der Zunge. »Ach«, sagte er, »ich sehe, daß Sie nicht ernsthaft debattieren wollen. Scherz bei Seite, ich bemerke keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem, was man Tod und Leben nennt. Das ist auch der Grund, warum die Geschichte für mich die Wissenschaft schlechthin ist, und auch der Grund für mein Interesse an Ihnen; denn ich sehe durch Sie Millionen und Milliarden weißer Menschen, die für den Durchschnittsmenschen nur Schatten sind, die aber meinem Empfinden nach ebenso lebendig sind wie ich, der ich mit Ihnen spreche, wenn nicht sogar noch lebendiger.« »Und sie verursachen Ihnen keine Furcht?« »Die Ideen sind furchterregender als die Menschen«, entgegnete der Schwarze, und ein breites Lächeln verzerrte aufs neue seine wulstigen Lippen. »Ich hoffe«, fuhr er fort, »daß Ihnen mein Besuch wohlgetan hat. Denken Sie über alles nach, was ich Ihnen gesagt habe, Sie werden dadurch eine fühlbare Erleichterung Ihrer wirklichen oder eingebildeten Leiden erreichen. Wie schade, daß Sie nicht der Gast der F. U. A. sind! Bei uns würden Sie sich einer völligen Freiheit erfreuen, denn unter den drei Föderationen, die die Erde unter sich teilen, ist die unsrige die toleranteste. Unsere Juristen sägen: Erinnerung an die französische Demokratie, deren Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte unsere Bibel geblieben ist. Vergessen Sie das nicht, wenn Sie der Zufall aus diesem Museum herausführen sollte, dessen Idee ein Philosoph verurteilen muß. In Timbuktu, Konakry, in Kairo oder am Kap würden Sie ein Mensch wie jeder andere sein.« Ich dankte ihm gebührend und gab ihm die Versicherung, daß seine Ratschläge Früchte tragen würden; daraufhin zog sich der Rat Samory befriedigt zurück. »Ein merkwürdiger Tag!« dachte William Durand. »Erst das Magazin, das mir mein ganzes Leben zurückrief, dann der Gelbe, der in mir einen Zuchthengst sah, und schließlich der Neger, der sich für einen Zeitgenossen Julius Cäsars hält und mich für die F. U. A. begeistern möchte!« Er begann an allem und an sich selbst zu zweifeln.
Konnte ein Alptraum zehn Jahre dauern und würde er nicht im Atelier des «natürlichen Porträts» auf dem Boulevard des Batignolles aufwachen und seinen Zeigefinger einem liebenswürdigen Mannequin hinhalten, der sehr um seine Nägel bemüht ist? — Er kniff sich heftig in den Oberarm. O weh! Der Schmerz war nicht wegzuleugnen, und eine einzige Hoffnung blieb: Hannah Pierce. Wie sie auf sich warten ließ! Und wenn sie nun ihre Pläne geändert hätte? Einen Augenblick dachte er daran, Jonathan zu beauftragen, das junge Mädchen sofort heraufzuführen, wenn es käme. Dann überlegte er sich, daß diese Hast Verdacht erregen könnte. Hannah Pierce gegenüber würde er vorsichtig sein, sich nicht allzu begeistert zeigen und sich ein bißchen bitten lassen, vorausgesetzt, daß sie beim Großen Rat überhaupt etwas erreicht hatte. Die Glocke ertönte wieder — endlich! »Ist der weiße Mann bereit, Miß Hannah Pierce zu empfangen?« fragte Jonathans Stimme. Hannah trat ein. Um die Wahrheit zu sagen, sie war mehr als hübsch und hatte die Gestalt einer antiken Statue, aber ohne deren Kälte, im Gegenteil, sie war lebhaft und warm. Ihm fiel plötzlich auf, daß sie der ägyptischen Königin Nofretete, der Gemahlin des Pharao Amenophis IV., glich, deren Büste ihn so beeindruckt hatte, als er sie das erste Mal in einer Kunstzeitschrift abgebildet sah. Sie hatte dasselbe liebliche, fast gradlinige Profil, die gleichen königlichen Lider, die das Auge halb verdeckten, denselben gebieterischen und doch anziehenden Mund, das stolze Kinn und den langen, schlanken Hals einer Blume. War die Königin Nofretete von weißer Hautfarbe? Er sah sie mehr ambrafarbig, von einem matten, nach der Bronze hinneigenden Ton, wie ihn Hannah Pierce hatte. Und was diese liebenswerte Schwarze für einen ausgezeichneten Stil schrieb! Das Lächeln, das zuerst die Züge der Besucherin erhellte, wich plötzlich einer großen Befangenheit. Sie bemerkte die Colour City Times und wandte den Blick ab wie eine Schülerin, die man bei einer Dummheit ertappt hat. William Durand konnte dem nicht widerstehen, er lächelte und streckte ihr die Hand hin, die sie, noch etwas verwirrt, ergriff. »Sie sind mir also nicht allzu böse?« murmelte sie. »Warum sollte ich?« Sie wies auf das Magazin. »Ich muß Sie vielmehr beglückwünschen«,, sagte er. Sie schien beruhigt und setzte sich lässig und graziös. Er bemerkte, daß ihre Beine nicht mager waren, wie man das so häufig bei den Frauen der schwarzen Rasse sieht, sondern wohlgeformt; sie hatte die Beine der Königin Nofretete. »Wenn Sie mir
gezürnt hätten«, begann sie wieder, »würden Sie mir übrigens schnell verziehen haben. Dieser Bericht über Ihr Leben war notwendig, um für das große Unternehmen, von dem ich Ihnen schon gesprochen habe, die Wege zu ebnen. Und nun halten Sie sich fest: in seiner gestrigen Sitzung hat sich der Große Rat mit meinem Plan für eine Reportage in Paris einverstanden erklärt!« Er hörte mit aufrichtigem Vergnügen diese manchmal dunkle, dann wieder helle Stimme, die bald wie eine Fanfare, bald wie eine Oboe klang, und vergaß dabei völlig, auf den Sinn der Worte zu achten, die da in sein Ohr drangen. »Das ist noch nicht alles", fuhr Hannah Pierce fort, «und ich hoffe, daß Sie die Neuigkeit, die Sie unmittelbar betrifft, mit Vergnügen hören werden. Der Große Rat hat mir die Genehmigung erteilt, Sie als Führer mitzunehmen. In acht Tagen werden wir in Paris sein.« So zerstreut William Durand auch war, jetzt sprang er auf. »In acht Tagen werden wir in Paris sein.« Dieser Satz, an dessen Ende das Wort Paris wie ein Diamant glänzte, traf ihn mitten ins Herz. Wie auch der Anblick der so schwer getroffenen Stadt sein mochte, würde er sie nicht mit den Augen des Überlebenden in ihrem alten Glanz sehen? Und bei diesem Wiedersehen wußte er, daß es sich diesmal nicht um einen schönen Traum handelte, der mit dem Schleier der Nacht im fröstelnden Morgen davonfliegt. Aber nein, wozu sich trügerischen Hoffnungen hingeben? Hannah-Nofretete machte sich augenscheinlich lustig über ihn. Für ihn hörte die Ähnlichkeit mit der Pharaonengattin hier auf. wenn sie ihn nicht einmal vor dem Komplott warnte, das von irgendeiner böswilligen Macht gegen ihn angezettelt worden war, um ihn zu quälen. Aber Hannah sprang mit einer bezaubernden Impulsivität auf und rief mit glänzenden Augen: »Wieso soll das nicht möglich sein? Die Sache ist in Ordnung, verstehen Sie, völlig in Ordnung! Die Genehmigung ist datiert, gesiegelt und unterzeichnet vom Präsidenten der schwarz-gelben Föderation und in der Staatskanzlei registriert -worden. Als einzige Bedingung für Ihre Abreise wurde verlangt, daß sie absolut geheimgehalten wird. Nicht einmal Ihre Wächter dürfen etwas erfahren. Ein Ambulanzwagen wird Sie eine Stunde vor dem Abflug abholen. Offiziell sind Sie an einem nervösen Leiden erkrankt, das eine völlige Isolierung auf dem Lande für unbestimmte Zeit nötig macht. Die Wahrheit soll erst nach unserer Rückkehr bekanntgegeben werden. Andererseits verlangt der Große Rat die ehrenwörtlich« Erklärung von Ihnen, daß Sie diese Reise nicht dazu benützen, um in das Territorium
einer anderen Föderation zu gelangen.« »Es ist also wirklich wahr?« »Warum denn nicht?« erwiderte Hannah lebhaft. »Ich bin überzeugt, daß ich mit Ihnen eine ganz außergewöhnliche Reportage machen werde.« »Und ich werde, falls mein Atelier nicht zu stark beschädigt ist, ein Bild von Ihnen aufnehmen, daß alle die jämmerlichen Fotografen der drei Föderationen vor Neid in die Erde sinken.« »Bravo! Wir starten per Flugzeug in genau acht Tagen. Pilot ist Frankie Thompson. Ich habe das durchgesetzt, weil ich mir dachte, daß es Ihnen lieber ist, mit einem Bekannten zu fliegen, ganz abgesehen davon, daß seine Eindrücke nach zehn Jahren sicher sehr amüsant und aufzeichnenswert sein dürften. Schließlich nehme ich an, daß wir drei uns gut vertragen werden.« Sie lachte vergnügt und fügte hinzu: »Ich hoffe außerdem, daß Sie mir den Gefallen tun und die Aufnahmen für meine Reportage selbst machen. Erstens ist das Ihr Beruf, und Sie können das viel besser als ich, und dann denken Sie an die Ankündigung: Fotos, aufgenommen vom letzten Weißen.« William Durand versprach ihr seine Mitwirkung. Sein Gehirn war völlig leer. Als sie sich erregt und wie elektrisiert von ihren Projekten verabschiedete, küßte er ihr sehr galant die Hand, und sie stieß einen kleinen, kindlichen Schrei aus. Als er wieder allein war, dachte der Weiße an diese Hand und diesen Schrei. Eine zarte, dunkle, feste Hand. Bronze und Seide — mit langen, schlanken Fingern, die Hand einer Prinzessin, die Hand Nofretetes. Aber der Schrei, eine Art Girren, war der Schrei einer jungen Wilden, die vom Weißen in den großen Wäldern zu Zeiten der Kolonisation überrascht worden war. Er hatte in jener Nacht einen seltsamen Traum. Ein schwarzer Zauberer, mit Kaolin beschmiert und in grellbuntem Federschmuck, die Brust mit Palmblättern bedeckt, erklärte ihm, daß die Zeit nicht existiere und er am Spieß gebraten würde, wenn er sich nicht verpflichte, ohne eine Sekunde Zeit zu verlieren, eine astronomische Zahl von »Moutchatchous« zu zeugen. »Ich großer Zauberer, ich können Weiße machen zu Schwarze. Wenn du weigern, du werden gebratenes Schwein an lange Spieß.« Dann ertönte dröhnend ein Tam-Tam, und eine wunderbare Gestalt erschien, einen königlichen Schmuck auf dem Haupte, in enganliegendem, mit Hieroglyphen geschmücktem Kleid, das von einem reichgestickten Gürtel mit goldenem Skarabäus gehalten wurde — die Königin Nofretete. Sie stieß ein fürchterliches Gelächter aus und hielt
dem auf der Erde liegenden William Durand einen Papyrus hin, auf dem er las: Buch der Toten. Er fuhr in die Höhe und erwachte schweißgebadet, DAS DINER IN BATIGNOLLES William Durand rekelte sich in seinem Lederklubsessel und ließ das einförmige Bild des Ozeans an sich vorüberziehen. Zwölftausend Meter unter dem Flugzeug dehnte sich die ungeheure Meeresfläche, anscheinend unbeweglich und flach wie ein riesiger Teich. Die Farbe wechselte vom Chrysolithgrün bis ins Türkisblaue. Keine Wolke am Himmel. Die dünne, schimmernde Luft schien aus Milliarden goldener Sonnenstäubchen zu bestehen. Der Weiße unterbrach seine Träumereien und warf einen Blick auf die breiten Schultern Frankie Thompsons, der vor ihm auf dem Führersitz die Instrumente überwachte. Flog er nach Europa zurück, oder hatte er es eben verlassen? Saß nicht Professor Balanche neben ihm? Diese Vorstellung war so stark, daß er eine Sekunde lang die Augen schloß. Man spürte die Geschwindigkeit des Flugzeugs in der wasserdichten, »asonoren«, mit Kork und Ebenholz getäfelten Kabine nur durch die Vibration, an die er sich nach zehn Jahren noch lebhaft erinnerte. Er warf einen schnellen Blick nach rechts, Hannah Pierce lehnte sich graziös in ihren »Club« und tippte bereits die ersten Reiseberichte auf einer winzigen Reiseschreibmaschine. Er beugte sich zu Frankie Thompson vor: »Wie lange brauchen wir noch bis Paris?« Der Pilot beförderte seinen Kaugummi in die Spuckschale, die in Reichweite mitten auf dem Instrumentenbrett angebracht war, und antwortete: »Ich denke, alles in allem etwa fünf Stunden.« William Durand dachte daran, daß sein erster Flug Frankreich - Amerika ebenso lange gedauert hatte, und plötzlich durchzuckten die Worte Gaston Balanches wie ein Blitz seine Erinnerung: »Das Schrecklichste, lieber Freund, ist, daß den farbigen Rassen vollständig das ursprünglich Schöpferische fehlt. Sie können wohl bereits Gegebenes ein bißchen vervollkommnen, aber nichts Neues hervorbringen.« Die Luftfahrt stagnierte jedenfalls seit zehn Jahren, und man hatte nicht den geringsten Eindruck, daß die Menschheit etwa auf anderen Gebieten bereichert worden wäre. Während seiner langen Abgeschlossenheit als Museumsstück hatte er sich um die Institutionen der F.S.N. wenig gekümmert. So weit er darüber urteilen konnte, basierten sie auf der kommunistischen Lehre mehr noch von Fournier als von Marx, die das
Individuum in seinem Privatleben wie im Sozialen, in seinen Vergnügungen wie in seiner Arbeit wesentlich beschränkt. Sein eigenes Beispiel bewies, daß die Ungerechtigkeit dabei keineswegs vermieden wurde. Die statistische Maschinerie arbeitete auf Hochtouren, jeder einzelne wurde erfaßt und mußte sich ihr unterwerfen. Die neuen Herren der Welt sprachen trotzdem mit großer Herablassung von diesen Weißen, denen sie alles zu verdanken hatten. Er erinnerte sich der Formalitäten und Schikanen, die seiner Abreise vorangegangen waren. Das Identitätsamt der Justizbehörde von Colour City hatte seine Fingerabdrücke und Maße genommen, als ob es sich um einen Verbrecher handelte. Ja, schlimmer noch, man hatte einen Gipsabguß von ihm gemacht, eine höchst unangenehme Operation. Noch tagelang nach dem Gipsbad quälte ihn ein Juckreiz am ganzen Körper, wie wenn er von einem Mückenschwarm zerstochen worden wäre. Ferner mußte er sich von allen Seiten und in allen möglichen Stellungen fotografieren lassen (die Herrschaften brauchten zukünftig nicht mehr zu Tricks Zuflucht zu nehmen, wenn sie ihn im Adamskostüm abbilden wollten); mehrere Schallaufnahmen seiner Stimme waren gemacht worden, bei denen er Auszüge aus seiner von Hannah Pierce redigierten Autobiographie vorlesen mußte. Allen diesen Anforderungen war er widerspruchslos nachgekommen, als Preis winkte ihm ja die Freiheit. »Und nun«, hatte ihm nach all den Quälereien der Sonderdelegierte des Großen Rates, wahrscheinlich in der Absicht, ihm etwas Angenehmes zu sagen, erklärt, »nun, Herr Durand, können Sie ruhig verschwinden. Nehmen wir einmal an, Sie fallen während der Reise einem Unfall zum Opfer, dann wird Ihr nach der Natur geformtes Standbild das Museum des weißen Mannes zieren, und die Besucher können an Hand der Fotos, die man je nach Bedarf vergrößert, noch die geringsten Einzelheiten Ihres Körpers studieren. Sie werden sogar den Vorzug haben, Ihre Stimme zu hören. Auch ohne Sie wird das Museum weiterexistieren.« Seine letzten Eindrücke von der F.S.N.: auf dem Flugplatz zwei Fotografen von der Colour City Times mit einem Spezialausweis, um die Reportage von Hannah Pierce zu illustrieren (er mußte auf Wunsch lächeln, während ihm der Delegierte des Großen Rates, ein langer, melancholischer Neger mit der Miene eines Pfarrers, würdevoll ins Ohr flüsterte: »Gute Reise und gute Heimkehr! Vergessen Sie nicht, Herr Durand, daß Sie einer der Unsrigen sind«). Das Geheimnis der Abreise war vollkommen gewahrt worden: außer dem Delegierten, den beiden Fotografen und den Mechanikern, welche die letzten
Vorbereitungen zum Start durchführten, war niemand auf dem Flugplatz oder in der Nähe gewesen. Und jetzt hatte das Flugzeug Amerika weit hinter sich gelassen und zog mit seinen mächtigen Propellern siegreich nach Europa. Jede Umdrehung entfernte Durand eine Kleinigkeit von den zehn Jahren seiner unmenschlichen Gefangenschaft. Am Ziel dieses Fluges in die Freiheit durch den blauen, golddurchwirkten Äther würde er endlich wieder die Heimaterde berühren. Ihm fiel neuerdings eine Unterhaltung mit Gaston Balanche ein, der ihm in den ersten Tagen ihres Exils erklärt hatte: »Wie tief im Herzen des Menschen ist doch das seltsame Wort Vaterland verwurzelt! Fatherland sagt der Engländer und Amerikaner, Heimat der Deutsche, Rodina der Russe, Patria der Italiener und Spanier, aber in allen Sprachen ist das Empfinden gleich stark. In der Fremde trauert der Eskimo um sein Iglu im Eis des Nordens, der Mongole um seine Filzjurte auf der kahlen Ebene, der Höhlenmensch um seine Felsenhöhle, der Pygmäe um seine Schilfhütte im feuchten Dunkel des Urwaldes. Das schönste Land ist immer das, in dem das Kind zum ersten Mal die Augen aufschlägt. Es ist, wie wenn ein neues Wesen die Welt entdeckt, der Zauber des Wortes Vaterland bedeutet nichts anderes, und man trennt sich nicht von ihm wie von einer ungetreuen Frau. Man liebt das blühende und mächtige Vaterland, und selbst wenn man es verleugnet, liebt man es nicht weniger. Aber vielleicht am stärksten ist unsere Liebe, wenn es unglücklich ist und am Boden liegt.« Und William Durand dachte daran, daß sein Vaterland nicht nur am Boden lag, sondern, daß es aufgehört hatte, eine lebendige Wirklichkeit auf der Erdoberfläche zu sein. Es bildete nur noch ein Stück Erinnerung mit einem berühmten Namen, wie das Reich der Inkas oder das der ersten ägyptischen Dynastie zu Memphis, dieses Frankreich, das in seinem Herzen und Geist so hell, so lieblich und frisch weiterlebte mit seinen Flüssen, seinen Wäldern, Wiesen und Feldern, seinen Weinbergen und seinen Frauen, dieses ewig uneinige und doch einzige Frankreich, leichtlebig und stark, frivol und ernsthaft, unbekümmert und träumerisch, dieses Frankreich, das man nicht verstand, weil es die allgemein verbreitete Schwerfälligkeit beleidigte, dieses Frankreich, dessen große Söhne der Menschheit so viele Entdeckungen und Erfindungen geschenkt hatten, ohne daraus Nutzen zu ziehen, weil ihr Ziel das Forschen und Erfinden, aber nicht das Geld war. O du Frankreich der Maler und Poeten, der klaren Köpfe, der närrischen Käuze, der lieblichen Gesichter, der Arbeit und des angenehmen Lebens, der Denker, des Vergnügens und der Liebe, Frankreich,
in dem Marie-Jeanne und Manette geboren waren! Das Flugzeug, das den letzten Weißen und sein Geschick trug, bildete nur einen winzigen, verlorenen Punkt zwischen Himmel und Erde. Frankie Thompson, vierschrötig, seiner Kraft bewußt, kaute an einem neuen Stück Gummi. Hannah Pierce hatte ihre Maschinenschreiberei aufgesteckt und polierte sich die Nägel. Vor Reisefieber hatte William Durand die letzten beiden Nächte kein Auge geschlossen. Er schlummerte ein. Ein Schlag auf die Schulter weckte ihn auf. »Na also«, sagte Hannah Pierce, »da ist ja Ihre alte Welt!« Er zitterte und riß die Augen auf. Eine Küste zeichnete sich ab mit Buchten und Landzungen. In der Dämmerung erschien dort, wo Erde und Wasser zusammenstießen, ein dunkler pflaumenblauer Streifen. Die Bretagne! Er fühlte sein Herz heftig schlagen. Das Flugzeug näherte sich dem Boden, und seine Geschwindigkeit verminderte sich. Der letzte Weiße starrte noch immer beklommenen Herzens und begierig hinaus und mußte sich zuweilen zurücklehnen, um Atem zu schöpfen. Hinter dem Flugzeug versank rasch das Meer. Was einmal Frankreich gewesen war, entrollte sich vor seinen Blicken wie ein großer grüner Teppich, auf dem sich hie und da wie ein glänzender Metalldraht ein Fluß schlängelte. Obgleich Erntezeit war, bemerkte man keines jener wogenden Ährenfelder, die aus dieser geheiligten Erde ein so fruchtbares, wohlhabendes Land gemacht hatten. Die noch vor zehn Jahren mit soviel Liebe und Sorgfalt bebauten Äcker lagen wieder brach. Das helle Band der Straßen war noch sichtbar und wurde nur zuweilen von dunklen Flecken unterbrochen, die den Sieg der Vegetation über das Werk des Menschen verkündeten. Eine Stadt zeigte noch das Gewirr ihrer Straßen am Zusammenfluß zweier Wasserläufe: William Durand erkannte Ren-es. Aber kein Rauch stieg aus den Schornsteinen der Fabriken, keine Spur menschlichen Lebens machte sich auf diesem Boden bemerkbar, der einst von einer lebhaften und fleißigen Bevölkerung bewohnt war. Ein panischer Schrecken fuhr in die Seele des Weißen. Er war der Sklaverei entflohen, aber war sie nicht immer noch besser als das Zurücksinken in eine Vergangenheit, die ihn durch ihre trostlose Leere zum Wahnsinn treiben könnte? »Halloh, Master Durand«, ertönte eine fröhliche Stimme an seiner Seite, »Sie scheinen nicht sehr glücklich zu sein, Ihr schönes Land wiederzusehen.« Hannah blickte ihn lächelnd an. Es gelang ihm, sich ebenfalls zu einem müden Lächeln aufzuschwingen. »Ja«, sagte er, »das war ein schönes Land.« »Seien Sie tapfer«, erwiderte das junge Mädchen. Er empfand, daß sie so mit
ihm sprach, wie man einen Leidtragenden nach einem Begräbnis zu trösten versucht. Aber übertraf nicht seine Trauer, die Trauer um ein ganzes Volk, alle Leidensmöglichkeit? Wie sollte man da tapfer sein? »Seit zehn Jahren«, sagte er und zuckte die Achseln, »habe ich Zeit gehabt, mich an gewisse Gedanken zu gewöhnen«. Der Abend senkte sich sanft über die Erde. Das Flugzeug schien wie ein seidener Schleier durch die dünne Luft zu gleiten. Plötzlich schauerte der Weiße zusammen. Er bemerkte den dreifachen unverkennbaren Bogen eines Flusses: das war die Seine, da unten in dem rötlichen Abendnebel mußte Paris liegen. Er beugte sich zu Frankie Thompson vor und packte ihn heftig am Arm. »Wir sind da«, rief er mit rauher Stimme. Und während der Pilot den Motor drosselte, starrte William Durand auf die Stadt in ihrer tragischen Öde hinunter, die Stadt, die Jahrhunderte hindurch Hirn und Herz dieses nun erstorbenen Erdteils war. Das Flugzeug schwebte jetzt in etwa sechstausend Meter Höhe. Häuser, Paläste, Brücken, Kirchen, Türme, Kuppeln, alles schien beim ersten Anblick intakt zu sein, aber als die Nadel des Höhenmessers um die Ziffer tausend zitterte, entdeckte der Weiße ein Detail, das ihn erschütterte. Was war mit dem Eiffelturm geschehen? Man hatte in den letzten Jahren vor der Katastrophe so oft davon gesprochen, ihn abzutragen, aber er gehörte nun mal zum Stadtbild von Paris, und so fand er immer wieder Gnade. Seine höchste Plattform existierte jetzt nicht mehr. Um etwa dreißig Meter verkürzt, endete der Turm in einem seltsamen Strauß von Eisenschienen, Bändern und Drähten. Hatte ihn der Blitz getroffen, oder hatte die Unterbrechung der Instandsetzungsarbeiten genügt, ihn zu köpfen wie ein riesiges Spielzeug, das zu lange in Benützung war? Frankie Thompson nahm das Gas weg, um zu landen. Nachdem er mehrere Spiralen beschrieben hatte wie eine Fliege, die sich auf ein Stück Zucker setzen will, berührte die Maschine den Boden, auf derselben Place de la Concorde, auf der vor etwas mehr als zehn Jahren ein ähnliches Flugzeug vor den Augen Willam Durands vom Himmel gestürzt war. Er stieg als erster aus dem Rumpf und blickte verloren um sich. Nicht, daß er seine Umgebung nicht erkannt hätte, der Obelisk bohrte noch immer seine Nadel aus Granit in den zartblauen Himmel, an dem der erste Stern glitzerte, die Pferde Marlys bäumten sich wie früher am Rand der Champs Elysees, die Statuen Marseilles, Straßburgs und anderer großer Städte thronten noch
immer, unberührt vom Geschehen, auf ihren Sockeln, die Säulenreihen des Hotel Crillon und des Marineministeriums rahmten wie einst die edle Perspektive der Rue Royale ein, und da drüben rechts unterschied man wie in den längst versunkenen Tagen die Bogengänge der Rue de Rivoli. Aber zwischen den Zeit und Stürmen trotzenden Werken aus Stein, inmitten der von genialen Städtebauern geformten Flucht der Straßen hatte die hemmungslose, Natur sich ihr Recht erkämpft. Der ganze weite Platz war mit einem grünen Teppich überzogen, Teiche, in denen Frösche hüpften, spiegelten den matten Schein des Abends wider, Stechpalmen und Buchs sprengten das Gefüge der Pflastersteine. Ein wilder Johannisbeerstrauch winkte mit seinen dreilappigen Blättern am Fuße der Statue von Nantes, und ein blühender Rosenbusch kletterte über das Gitter des Obelisken. Das Kinn der Stadt Brest trug einen grauen Bart aus Moos, und in den weiten Falten der majestätischen Gestalt, die berufen war, die Hauptstadt der Gironde zu symbolisieren, zog eine Karawane von Pilzen empor, sogenannte Judasohren. »Na, finden Sie sich noch zurecht?« rief eine vertraute Stimme im Rücken William Durands. Es war Hannah Pierce. Die Worte verwehten im großen Schweigen der toten Stadt. »Ich kenne den Platz sehr gut wieder«, sagte Frankie Thompson friedlich und schob seinen Kaugummi auf die andere Seite. Ein leichter Flügelschlag ertönte. Zwei blaue Tauben, ähnlich denen, welche die Pariser Kinder jahrhundertelang mit den Krumen ihrer kleinen Milchbrote in den öffentlichen Anlagen gefüttert hatten, ließen sich auf die Einfassung einer der beiden großen Wasserbecken nieder. Sie löschten dort ihren Durst, tauchten ihren Schnabel zwischen die grünen Wasserpflanzen, und William Durand beobachtete gerührt, wie sie in der wachsenden Dämmerung die kleinen, zitternden, glänzenden Hälschen erst vorstießen und dann zurückbeugten. Es gab also noch lebendige Wesen in diesem der Menschheit verschlossenen toten Paris, mochten es auch nur ein paar armselige Tauben sein. Er war noch in seine Betrachtungen versunken, als plötzlich ein großes, dunkles Etwas vom Himmel stürzte. Federn stäubten, die beiden harmlosen Holztauben verschwanden zwischen breiten Flügelschlägen, der Raubvogel trug sie in seinen Fängen in majestätischem Flug von dannen. Ein paar dünne Blutspuren auf dem steinernen Rand des Bassins blieben als einzige Zeugen des Dramas zurück.
»Ein Adler«, bemerkte Frankie Thompson mit unerschütterlichem Phlegma. »Ein farbiger Auftakt«, meinte Hannah Pierce. »Aber in zehn Minuten ist es Nacht, schlafen wir im Flugzeug, oder suchen wir uns eine Bleibe?« William Durand überwand die Bestürzung, in die ihn die blutige Szene versetzt hatte, und unterdrückte das peinliche Gefühl, das ihm die Gleichgültigkeit seiner Gefährten verursachte. Er antwortete beinahe mechanisch: »Warten Sie! Wenn mein Haus noch steht, werden Sie mir gütigst erlauben, Ihnen meine Gastfreundschaft anzubieten.« Hannah klatschte in die Hände. »Bravo! Verehrter Gastgeber, wir folgen Ihnen durch dick und dünn.« Sie wanderten durch die Rue Royale, und da es immer dunkler wurde, zündeten sie ihre elektrischen Stablampen an. Man mußte sich vorsichtig weiterbewegen, denn die Straße war teilweise zerstört. An der Ecke des Faubourg St. Honore hatte ein abgestürztes Dachsims das Trottoir aufgerissen, und Frankie Thompson, der nicht achtgegeben hatte, war fluchend der Länge nach hingeflogen. Die Madeleine-Kirche bildete in der Dunkelheit einen hohen grauen Block. Hannah wäre gern eingetreten, aber William Durand warnte sie, in dieser pechschwarzen Nacht wäre das ein gefährliches Unterfangen. Die Vorsicht gebot, die Erforschung der Stadt auf morgen zu verschieben. Hannah beugte sich der Vernunft. »Also folgen wir unserem Führer«, sagte sie lebhaft. Der Erfinder des »natürlichen Porträts« sog die Luft der Stadt ein, während er durch die Rue Tronchet wanderte. Aber er fand, daß sie nichts mehr mit der seiner Erinnerung gemein hatte. An Stelle dieser Atmosphäre von Teer, Benzol, Brennholz und Staub, der aus tausend undefinierbaren Ingredienzien zusammengesetzt war und bei Tage über dem Häusermeer schwebte, um nachts wie ein unfühlbares Bettuch herabzusinken und das Hasten der Menschen einzuhüllen, an Stelle dieses Gemischs, das namentlich für den Pariser Sommer so charakteristisch war, atmete er nun den Geruch faulender Rinde, modernden Holzes, feuchter Steine und welkender Blätter ein, den man sonst nur auf verlassenen Friedhöfen antrifft. An der Ecke der Rue de Rome und des Boulevard Haussmann drang noch ein anderer Geruch in seine Nase und kratzte ihn im Hals, der Geruch eines eben gelöschten Feuers, von verbrannten Stoffen, verkohltem Gummi und feuchter Asche. Er richtete den Strahl seiner elektrischen Lampe auf die rechte Seite des Boulevards und bemerkte nur noch geschwärzte Mauerreste, Schutthaufen und ein
Trümmerfeld, in dem sich der Lichtkegel verlor. Er konnte sich nicht erinnern, daß dieses Stadtviertel unter den Bombardements des letzten Krieges gelitten hätte. Das Feuer war augenscheinlich in Folge eines Sturmes in irgend einem Häuserkomplex ausgebrochen, ohne daß jemand da gewesen wäre, den Brand einzudämmen. Er malte sich den großartig-schrecklichen Anblick dieses riesigen Scheiterhaufens aus, die gewaltigen Flammen, die gierig die Zerstörung der ihrem Schicksal überlassenen entvölkerten Stadt zu vollenden suchten. Obwohl die Nacht milde war, fröstelte ihn bei dieser Vorstellung, und er beschleunigte den Schritt. Der Weg zum Boulevard Batignolles verlief ohne weitere Zwischenfälle, wenn man davon absah, daß an der Ecke der Rue de Constantinople eine aus einem zerbrochenen Fenster herausflatternde Fledermaus in den Lichtkegel von Hannah Pierces elektrischem Stabe geriet. Aber sie war kein Feigling und stieß einen vergnügten Pfiff aus. Endlich kam die kleine Gesellschaft vor dem Atelier des »natürlichen Porträts« an. Die schwarze Marmortafel mit den fast noch sichtbaren goldenen Buchstaben hing noch immer festgeschraubt an der Hauswand. William Durand wühlte mit zitternder Hand in seiner rechten Hosentasche, in der er seit der Abreise aus Europa ängstlich seinen Schlüsselbund bewahrt hatte. Das Schloß war verrostet und leistete zunächst Widerstand, aber auf einen energischen Druck hin sprang der Riegel auf, und die Tür öffnete sich kreischend. Ein Kellergeruch schlug den Ankömmlingen entgegen. Nach zehnjähriger Abwesenheit suchte die Hand des letzten Weißen beim Eintritt in den Aufnahmeraum instinktiv nach dem elektrischem Schalter rechts neben der Tür, und er war einen Augenblick völlig überrascht, daß das Licht nicht funktionierte. Er hatte seine gewohnten Griffe während all der Jahre nicht vergessen. Mit der gleichen instinktiven Sicherheit ging er zu einem Gestell, auf dem noch unbenutzte Kerzen lagen. Er zündete ein paar an und fand, daß sich in dem Raum seit seiner Abreise nach Amerika nichts geändert hatte. Nur eine dichte graue Staubschicht bedeckte die Bar, den Spiegeltisch und die Sessel. Die sechs Bullaugen mit dem sechsfachen Objektiv erwarteten noch immer die Kunden, die nie mehr erscheinen würden. Er ging in seinen Arbeitsraum hinüber, wo inmitten von Fotogeräten, wie Entwicklerflaschen, Porzellanschalen, Plattenschachteln, Tropfgläsern, Stativen und Vergrößerungsapparaten, die Käfige für die Ratte L und das Kaninchen P, die gläsernen Täfelchen für die Präparate und der
thermostatische Ofen die Erinnerung an den Aufenthalt Professor Balanches in diesen Räumen wachriefen. Der scharfe Geruch verbrauchter Luft in dem so lange verschlossenen und unbewohnten Haus würgte die Kehle, und Hannah Pierce, die dem Weißen wie ein Schatten folgte, begann zu husten. Er kam zur Tür seines Zimmers, wandte sich um und bat sie mit trockener Stimme, im Aufnahmeraum auf ihn zu warten. Ein bißchen schmollend gehorchte sie. Er trat ein und leuchtete mit seiner Stablampe rings herum. Auf den Mauern sah man noch die rechteckigen dunkleren Flecke auf der hellen Tapete, wo Jahre hindurch die Fotografien Marie-Jeannes hingen und seinen Schmerz um sie nicht zur Ruhe kommen ließen. Er hatte die Bilder entfernt, als während der ersten Bombardements des letzten Krieges sein Junggesellenheim auf dem Montparnasse zerstört worden war und er sich entschloß, Manette in seinem Zimmer in Batignolles zu empfangen. Sie lagen noch immer in der Schublade, in der er sie damals versteckt hatte. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, sie war feucht. In diesem Zimmer, auf diesem Diwan hatte er Manette besessen. In ihren Armen hatte er die letzten Freuden genossen, die ihm die Welt noch bieten konnte. Sein Schmerz, der so viele Jahre hindurch geschlummert hatte, brach heftig wie am ersten Tage hervor. Er kam ins Atelier zurück. Frankie Thompson, in Hemdsärmeln, hatte das Schiebefenster des Glasdaches geöffnet und Durchzug gemacht. Hannah Pierce hatte die Bar von den grauen Staubflocken befreit, einen kleinen Spirituskodier aus ihrem Reisesack hervorgeholt, ihn angezündet und bemühte sich um ein Abendbrot, das nach Dörrfleisch mit Curry roch. Aus der Dampfwolke, die dem Topf auf dem Kocher entstieg, lächelte sie ihm freundlich entgegen. »In fünf Minuten, Herr Weißer, wird serviert«, sagte sie mit einer leichten Verbeugung. So erschüttert er war, ihre Liebenswürdigkeit berührte ihn doch, und er antwortete mit einem schüchternen Lächeln. Hannah verteilte nun konzentriertes Brot, Fleischklöße, gekochte Maiskolben und drei Pampelmusen. »Und glauben Sie mir, mein Herr«, fuhr sie fort und schnitt dabei ein drolliges Gesicht, »unser Diner in Batignolles ist garnicht so verächtlich, wie Eure mißtrauische, feinschmeckerische Hoheit es befürchtet haben. Es ist natürlich so etwas wie ein Essen für Forschungsreisende, aber wir sind ja auch keine gewöhnlichen Touristen. Morgen werden wir versuchen, mit den vorhandenen natürlichen Hilfsquellen unsere Mahlzeiten
zu verbessern.« William Durand bemühte sich noch immer zu lächeln. Forschungsreisender in Paris, auf dem Boulevard Batignolles! Er erinnerte sich der Abbildungen in der Erdkunde, die er als Kind besessen hatte — bärtige Männer mit Tropenhelm im Busch, das Gewehr auf die Eingeborenen anlegend, die ihre Wurfspieße schwangen, oder Kapitän Peary mit seiner Pelzmütze und vereisten Augenbrauen und Barthaaren, wie er die Fahne der USA. auf dem vermutlichen Pol hißte. Nun erforschte man Paris, das in so wenigen Jahren den Charakter der Steppen und Eiswüsten angenommen hatte. Frankie Thompson weckte ihn aus seiner Träumerei mit einem Aufschrei. Der Flieger, der neben Hannah stand, hatte unter dem Bartisch zwei Flaschen Portwein entdeckt, die er wie Trophäen durch die Luft schwenkte. Er entkorkte die eine und stellte Gläser auf. William Durand erblaßte. Er erinnerte sich, diese Flaschen, die ein amerikanischer Neger ganz selbstverständlich als willkommene Beute betrachtete, bei Beginn des letzten Krieges für Manette gekauft zu haben. Sie liebte es, die Barmaid zu spielen, und er versetzte sie in Gedanken an Hannahs Stelle, Manette mit ihren schelmischen Augen, dem verheißungsvollen Mund und den langen, zarten Fingern. Er wandte sich ab, um das Aufsteigen der Tränen zu unterdrücken. »Wonderful! Splendid!« schrie Hannah Pierce. Sie trank auf das Wohl des Gastgebers, strahlte vor animalischer Schönheit, charmanter Lebhaftigkeit und gesunder Kraft. Sie glaubte zweifellos, einen guten Anfang für ihre Reportage gefunden zu haben, und dieser Gedanke stimmte sie fröhlich. Der Weiße begriff, daß er mitspielen müsse. Seine Zähne knirschten, aber es gelang ihm, sich ein Grinsen abzunötigen, das man mit einigem guten Willen für ein Lächeln halten konnte. IN DEN STEPPEN DER STADT Um sechs Uhr morgens, schlug William Durand die Augen auf. Da die Fensterläden nicht geschlossen waren, flutete das Licht ins Zimmer, ein junges, frisches, klares Licht, glänzend wie Tau auf der Wiese. Hinter den gebleichten Vorhängen dehnte sich der milchig-blaugrüne Himmel, der sich im Sommer langsam mit fortschreitendem Morgen tiefer verfärbt, bis er in den Mittagsstunden jenes strahlende Blau erreicht, das die Unendlichkeit des Äthers so sinnfällig macht. Er öffnete das Fenster. Der jungfräuliche Morgen in seiner Unberührtheit überschwemmte seine Seele mit einem unbeschreiblichen Gefühl. In vollen
Zügen atmete er die leichte von einer kaum merklichen Brise bewegte Luft ein, in der kein Stäubchen schwebte. Der Wohlgeruch wildsprießender Blumen wehte ins Zimmer. Die aufgehende Sonne trank die Feuchtigkeit der Nacht und verwandelte den Modergeruch dieser toten Stadt in den Duft ihrer Gärten. Auf den Anlagen mitten in der Straße, wo einst ein Gitter den gepflegten Rasen schützte, sproßten Quecke und Distel mit rosa Blüten. Auf dem Fahrdamm streckte das Unkraut seine grüne Zunge zwischen den Pflastersteinen heraus. Die Häuser gegenüber schienen wie die zur Rechten und zur Linken nicht gelitten zu haben. In den Bäumen, auf den Rändern der Dächer zwitscherte kein Vogel, keine Taube gurrte, der Luftzug war zu schwach, um auch nur das Rascheln eines welken Blattes dem menschlichen Ohre vernehmbar zu machen. Und doch bedrückte dieses unirdische Schweigen das Herz des Weißen durchaus nicht, denn ihm schien, als müsse der riesige Körper der Stadt, der noch im Morgenschlummer lag, plötzlich erwachen und den Himmel mit seinem vielfältigen Leben erfüllen. Er verließ das Fenster, ging ins Badezimmer und wunderte sich nicht einmal, daß das Wasser aus dem Hahn der Wanne lief, obwohl der Warmwässerspender den Dienst versagte. Er hatte nur noch den einen Wunsch, allein mit seinen Erinnerungen durch die Stadt zu wandern, ungestört von der Gleichgültigkeit Frankie Thompsons oder, was noch schlimmer war, von der Neugier Hannah Pierces. Das junge Mädchen schlief in der steifen Haltung einer Grabfigur eines Sarkophags auf dem Diwan im Atelier, während der Flieger sich wie ein Igel auf dem Sofa im Wartezimmer zusammengerollt hatte. Er schien in völlige Lethargie gefallen zu sein, aus der ihn nicht einmal die Posaune des Jüngsten Gerichts erweckt hätte. William Durand schlich auf Zehenspitzen durch das Zimmer und gelangte so unbemerkt ins Freie. Paris gehörte ihm, ihm ganz allein, dem letzten Pariser, dem letzten Weißen, Paris, das eine Fata Morgana am Zauberhimmel zu sein schien. In völliger Geistesabwesenheit, die soweit ging, daß sie ihm ein physisches Unbehagen verursachte, wanderte er über das grasbewachsene Pflaster. Die überstürzten Ereignisse, die Aufregungen der Reise, die Ankunft bei eintretender Dunkelheit, die Überraschungen des ersten Eindrucks, hielten ihn wie in einem Alptraum befangen. Gegenwart und Vergangenheit waren für ihn noch nicht logisch verbunden. Aber jetzt war der Tag da, der alles in sein klares Licht tauchte, und er bemerkte mit Bestürzung, daß die Dinge, auf
denen einst sein Blick ganz gewohnheitsmäßig geruht hatte und die ohne ihn weiter existierten, ihn nun zurückstießen wie einen Eindringling, der ihre Grabesruhe stören will. Er ging die Rue de Rome hinab, eine sanftabfallende Prärie, auf der hie und da zwischen den geilwuchernden Krautern Hafer und Mohn sich im Winde wiegten. Auf den Türen der Häuser befand sich noch überall das drohende schwarze Kreuz und erinnerte an das grauenhafte Schicksal, das aus dieser Riesenstadt eine Pampa gemacht hatte. Als er gerade die Rue de Vienne erreichte, jagte ihn der Lärm einer wilden Galoppade in eine Hausnische. Er hatte sich noch nicht von seinem Schrecken erholt, als eine Herde von etwa zwölf Pferden an ihm vorüberraste und gegen den Bahnhof Saint-Lazare zu verschwand. An der Spitze galoppierte ein prächtiger Hengst mit schlankem Hals und langem, weißem Schweif, dessen Mähne stolz im Winde wehte, ihm zur Seite zwei schwere fuchsrote Flamen, denen gescheckte Percherons und Rotschim-mel mit flachsfarbigen Mähnen folgten. Ein riesiger weißer Normanne bildete die Queue. Er verharrte noch einen Augenblick in seiner Türnische versteckt, um die Flucht der wilden Pferde zu beobachten. Als das Klappern der Hufe in der Ferne verklungen war, wandte er sich mechanisch und geistesabwesend der Place de PEurope zu. Diese Plattform über dem Tunnel mit ihren sternförmig auseinanderlaufenden Straßen, dem Ausblick nach rechts auf das trübe Glasdach des Bahnhofs, nach links auf die Schienenschlucht, in der einst beinahe ohne Unterbrechung die Züge donnerten, hatten ihn schon in den Tagen, da Paris noch eine blühende Stadt war, mit tiefer Melancholie erfüllt. Abseits vom Wagenverkehr bildete die Place de l'Europe mitten im Lärm der Großstadt eine Art Drehscheibe, auf der gewöhnlich Stille und Einsamkeit herrschte. Die elektrischen Züge rollten unter den Schritten der wenigen Fußgänger in die Vororte, an die Küste, zu Wiesen und Wäldern. Der etwa zweihundert Meter weiter unten liegende Bahnhof war von betäubendem Lärm erfüllt. Die Place de l'Europe, unbeweglich, isoliert, den Winden offen, die aus ihren sechs Straßen über sie wegfegten, erschien ihm wie ein Leuchtturm im Sturm, ein Denkmal der Gleichgültigkeit gegen die vergebliche Hast der Menschen, undurchdringlich und schweigsam. Die Einzigartigkeit des Platzes — die Verlassenheit inmitten des Ameisenhaufens, war heute dahin. Trotzdem empfand William Durand eine seltsame Erschütterung, als er ihn wiedersah. Da unten rechts war eines der
Glasdächer des Bahnhofs eingestürzt. Der Efeu rankte sich an den schief über die Geleise hängenden Gittern empor. Durand näherte sich dem linken Geländer und warf einen Blick in den Schacht. Ein Zug, der niemals mehr ausfahren würde, lag auf den Schienen, die, wie ihn, der Rost zerfraß. Das Grün verschlang das ganze Netz mit Blockzeichen und Signalmasten. Der lebendurchflutete Bahnhof Saint-Lazare rangierte nun hinter der kleinsten, abgelegensten Station eines Nebenbähnchens irgendwo auf dem Lande, an der ein Zug in längst versunkenen Tagen einmal im Monat anhielt. Der letzte Weiße biß die Zähne zusammen und floh durch die Rue de Lourdes bis zum Trinite-Platz. Unterwegs betrachtete er die Auslagen der Geschäfte, in denen hinter den verstaubten Scheiben noch die lächerlichen Abzahlungsartikel eines verschwundenen Luxus lagen. Der Anblick war überall der gleiche, die Stadt hatte im großen und ganzen ihr Aussehen bewahrt. Außer dem durch das Feuer zerstörten Viertel von Saint-Lazare erinnerten nur ein paar zusammengestürzte Häuser an die Bombardements des letzten Krieges. Der Krieg! Er war die eigentliche Ursache dieses ganzen Elends, dieser Vernichtung der Menschheit, an der sich nun die unbesiegbare Natur rächte. Er gelangte auf die großen Boulevards. Die ungestutzten Bäume wuchsen frei in einer vom Gift der Industrie nicht mehr verunreinigten Luft und schlugen nach allen Richtungen aus. Die großen Zweige lagen im Kampf mit den Häuserfronten, und überall, wo sie auf ein Fenster stießen, waren die Scheiben zertrümmert, so daß in den Geschäften, Büros, Zimmern und Lagerräumen die Zweige wie im Walde sproßten. Er betrat ein großes Cafe, dessen Drehtüre beim Öffnen quietschte. In den letzten Tagen von Paris wurden alle öffentlichen Lokale aus Furcht vor Ansteckung nicht mehr besucht. Dieses hier befand sich also im gleichen Zustand wie zu der Zeit, da die weiße Rasse noch nicht in steter Angst um ihr Weiterbestehen und ihren Genius lebte. Das Stanniol der Spiegel war zwar erblindet und an den Ecken von der Feuchtigkeit angefressen, auf dem Leder der Sofas hoben sich grüne Flecken ab, und die Decke bröckelte herunter. Aber über der Bar standen die Flaschen in einer Reihe wie Soldaten beim Exerzieren, gegen das Podium des Orchesters lehnte eine Baßgeige in ihrem Kasten, und der Saal machte den Eindruck, als ob er während der großen Ferien geschlossen worden sei und nur einer gründlichen Reinigung bedürfe, um wieder eröffnet zu werden. Er entkorkte an der Bar eine Flasche Aperitif, nahm ein Glas von der Theke,
füllte es und trug es dann zu einem Tisch. Als er sich auf das Sofa setzte, seufzten die verrosteten Sprungfedern. Er trank. Der Aperitif war noch nicht verraucht, im Gegenteil, das Alter hatte sein Aroma erhöht und ihn süffiger gemacht. Der einsame Zecher schnalzte mit der Zunge, und es schien ihm, als ob er in den zehn Jahren seines Exils nichts so Angenehmes und Wohlschmeckendes getrunken habe. (Diese Farbigen hatten nicht einmal einen Gaumen!) Er setzte das Glas wieder auf den Tisch. Ein Sonnenstrahl fiel durch die verstaubten Scheiben und brachte den farbigen Saft der ausgepreßten Maulbeeren zum Leuchten. Plötzlich durchzuckte ihn eine Erinnerung wie die federnde Klinge eines Floretts. In dieses Cafe war er zu Anfang des letzten Krieges mit Manette und Antoine in der Ruhepause vor Beginn der Mikrobenoffensive gekommen. Er sah Manette vor sich, wie sie einen kleinen Löffel mit grüner und brauner Eiscreme zum Munde führte, Pistazien und Schokolade; Antoine war wie gewöhnlich paradox, nach seiner Meinung würde der Krieg zehn Jahre dauern. Manette ließ langsam das Eis im Munde zergehen, sie senkte die Lider, als ob sie sich ganz auf den Genuß konzentrieren wollte, ein kleines Lächeln bildete ein Grübchen auf ihrer linken Wange, und ihre Unterlippe bewegte sich leicht, i Der letzte Weiße schüttelte den Kopf und erhob sich, am ganzen Körper zitternd. Das Bild, das er vor sich sah, war so deutlich wie eine Halluzination. Antoine hob seine breiten Schultern und rief laut lachend wie ein vorzeitlicher Riese, bevor er sein Glas mit einem Zuge leerte: »Das Leben ist eine blöde Posse, aber ihr müßt zugeben, daß sie nette Zwischenakte hat. Wie denkt unsere Manette darüber?« Manette zuckte die Achseln und lächelte unbestimmt. Durand strich mit der Hand über seine fiebrige Stirn. Er hatte an demselben Tisch Platz genommen, an dem Manette und Antoine an jenem längst versunkenen Tag mit ihm zusammen saßen, auf demselben Sofa, nicht etwa auf einem anderen, grade als ob ihn eine dunkle Erinnerung geleitet hätte. Und nun ruhte Manette in ihrem Bett aus Kalk und war nur noch Staub unter anderem Staub, und Antoine führte bestenfalls in einer Entfernung von etwa sechsundfünfzig Millionen Kilometern inmitten der gefrorenen Sümpfe des roten Planeten ein unvorstellbares Leben. Er floh wie ein Besessener, ein Würgen in der Kehle und einen wahnsinnigen Schmerz in den Schläfen. Als er sich durch die Drehtüre zwängte, die sich hinter ihm mit melancholischem Kreischen weiter drehte, lief ihm eine riesige Ratte über die Füße.
Er eilte die Boulevards entlang in der Richtung der Place de la Republique. Er wußte nicht recht, wo er hinging, aber was sollte ihn das auch kümmern? Niemand erwartete ihn in einem der leeren Häuser, die in ihrer Masse einst diese einzigartige Stadt gebildet hatten, über der heute eine Grabesstille schwebte. Er betrachtete irren Auges den unerbittlichen Triumph der Vegetation über die weiten Räume, die der Mensch ihr im Laufe von zwanzig Jahrhunderten mühsam abgerungen hatte und die nun ihre ursprüngliche Gestalt wieder annahmen. Unwetter und Orkane würden über sie hinwegbrausen, der Wind, und das Wasser das Werk des Menschen am Fundament wie am Giebel zu zerstören suchen. In hundert oder zweihundert Jahren mußte Paris einen Urwald bilden wie den von Angkor-Tom, einen Haufen grauer Steine, in denen der erstaunte Blick inmitten der Schlingpflanzen und Schilfrohre eine großartige Ruine erkennen würde. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, ein leichter Wind ließ die langen Gräser auf der Straße schwanken. Die Häuser standen einförmig leer und verlassen zu beiden Seiten des Fahrdammes. Am Rand der Giebel, an den Dachrinnen reckte sich neugierig und unerwartet irgendeine Blüte, Kapuzinerkresse oder Feuerbohnen, hervor und bildete einen kleinen, lebhaften, farbigen Klecks auf dem leuchtenden Blau des Himmels. An der Kreuzung der Boulevards Sewastopol und Saint-Denis jagte ein halbes Dutzend Hunde hinter einer läufigen Hündin her. In ihrer gierigen Hast rasten sie so dicht an William Durand vorbei, daß sie ihn streiften, aber sie nahmen nicht die geringste Notiz von ihm. Ein paar Schritte weiter funkelten aus dem Schlund der Untergrundbahn die phosphoreszierenden Augen einer schwarzen Katze, die bei seinem Näherkommen^ unter der Erde verschwand. Der Morgen zitterte in der Wärme, die gläserne Luft war von diamantenen Fäden durchwebt. Der weiße Mann ging schnell wie ein Automat seines Weges. Vor der Porte Saint-Martin blieb er stehen und trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Mechanisch schweiften seine Blicke über die Reliefs des alten Triumphbogens. Der Sonnenkönig wird vom geflügelten Ruhm gekrönt, während er die Huldigung einer schönen Frauengestalt gnädigst entgegennimmt und über ihm eine Trompete seine glorreichen Taten der Welt verkündet. Dann wanderten seine Augen zur zerfressenen Fassade des Renaissance-Theaters hinüber mit ihren korinthischen Säulen und den Katyatiden mit den nackten, üppigen Brüsten. Millionen Menschen hatten sich hier von einem Jahrhundert zum ändern gedrängt, um ihrem Traum von
Glück oder ihrem Hang zum Vergnügen Genüge zu tun. Von allem Begehren und Hasten war nur noch die unnütze Gegenwart der stummen Steine geblieben. Durand senkte den Kopf, um seinen feuchten Hals zu trocknen, da entdeckte er zu seinen Füßen einen sauberen und wie ein Kieselstein polierten Totenschädel, der ihn mit seinen leeren Augenhöhlen zu betrachten schien. In einiger Entfernung bleichten, im hohen Gras verstreut, ein paar Knochen, ein Schenkelbein, eine Hand, der zwei Finger fehlten, ein halber Brustkorb, die namenlosen Reste eines jener Unglücklichen, die in den letzten Tagen von Paris vom Coccus albus2 auf offener Straße überfallen worden waren. Er stieß einen Seufzer aus und setzte mechanisch seinen Weg fort. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen, als ob eine höhere Macht seine Bewegungen unterbrochen hätte. Er befand sich vor einem Kino, an dessen Eingang Plakate und verblaßte Fotografien einen großen superodorisierten Film »Die fünf Sinne« ankündigten. Er erinnerte sich, diesen Film mit Manette zusammen gesehen zu haben. Es war das letzte Mal, daß er in ihrer Gesellschaft einen ganzen Abend verbrachte, die letzte Vorstellung, die sie zusammen besucht hatten. Er trat näher und las auf einem der Plakate den Text, den sein Autor damals sicher als den Gipfel einer genialen Reklame empfand: »Was man noch nie gesehen, nie gehört, nie berührt, nie genossen, nie gerochen hat, der Triumph des total wahrnehmbaren Films.« Es handelte sich um die Darstellung der ewigen Wiederkehr eines einzelnen Menschen in allen Zeitaltern. Derselbe Mensch wurde nacheinander als genialer Maler, Dichter, Musiker, Bildhauer gezeigt, der sogar die Funktionen des Geschmacks und des Geruchs, die durch Schwelgerei und Sinnlichkeit charakterisiert wurden, zum Erhabenen veredelte: Apollo, Virgil, Michelangelo und Mozart traten ebenso in Erscheinung wie Trimalchion und Casanova. Eine kostspielige, prächtige Ausstattung und die angekündigte »Superodorisation« hatten den Erfolg des Filmes verbürgt, um dessen historische Wahrscheinlichkeit es übel bestellt war. William Durand sah sich wieder in der Loge sitzen, eine bezaubernde.Manette an sich ziehend, die sich mit einem gurrenden Lachen über sein stürmisches Verhalten liebenswürdig lustig machte und ihn in die Handgelenke kniff. Die »Superodorisation« des Films vermochte trotz ihres Raffinements nicht den zarten Duft der Tabakblüte zu unterdrücken, der das Lieblingsparfüm Manettes war und so wunderbar zum natürlichen Geruch
ihrer blonden Haare paßte. Er trat in den dunklen Saal, richtete seine elektrische Lampe auf die Leinwand, der Lichtstrahl ließ eine völlig intakte, wie eine Eisbahn glatte, weiße Fläche erkennen. Spinnweben hingen von der Decke, aber die Stuhlreihen standen ausgerichtet wie immer, und man hatte den Eindruck, als ob die Vorstellung nach einem unvorhergesehenen und über die beabsichtigte Zeit verlängerten Zwischenakt ihren Fortgang nehmen könne. Nur der Geruch des Raumes erinnerte an einen alten Koffer, den man nach Jahren auf dem Dachboden geöffnet hat und dem das Aroma seiner verborgenen Schätze entströmt, eine Erinnerung an die Odorisation von damals. Er stützte sich auf die Lehne eines Klappsitzes, denn es wurde ihm schwindelig. Als er den Anfall überwunden hatte, eilte er ins Freie und beschleunigte seinen Schritt, als ob Gespenster, vor denen er fliehen wollte, nicht in ihm selbst, sondern hinter ihm her wären. Gleichgültig ließ er die Bilder an sich vorüberziehen, die sich seinem Auge boten, die ehemalige Place de la Republique, die jetzt mit ihrem zartgrünen Rasenteppich den Eindruck einer Rennbahn machte, die Ruinen des Boulevard du Temple, auch er zum größten Teil durch die Bombardements zerstört. Am Anfang des Boulevards Beaumarchais schlugen Türen und Fenster seit zehn Jahren im Winde, einige lagen zerbrochen auf der Straße. Unwillkürlich kam William Durand ein Satz ins Gedächtnis, den ihm seine Mutter so oft ins Ohr gerufen hatte: »Willy, man macht die Tür hinter sich zu!« Aber wo waren die Menschen, die nun die Türen des Boulevards Beaumarchais hätten schließen können? In diesem Augenblick empfand er schaudernd die Angst vor der völligen Verlassenheit und Öde, die ihn umgab. Der gräßliche Gedanke, daß kein menschliches Wesen jemals mehr aus den stummen, leeren Häusern hervortreten würde, ließ ihn nicht mehr los. Und doch, wenn ein Einziger die Katastrophe überlebt hätte? Warum hätte sich in den zehn Jahren nicht eine Familie zusammenfinden können in der Steinwüste von Paris? Warum sollte nicht noch vor der Mittagsstunde ein Paar erscheinen, das ihm zwar nicht das Glück, das er an der Seite Manettes empfunden, wieder zum Leben erwecken, ihn aber wenigstens von diesen gräßlichen Gedanken befreien würde. Als er an die Ecke der Rue du Pas-de-la-Mule gekommen war, richtete er mechanisch seinen Blick auf die Place des Vosges. Sein Herz begann heftig zu schlagen, er geriet in höchste Erregung — eine dunkle Gestalt tauchte unter den Arkaden der ehemaligen Place Royale auf, die einst unter Cardinal
Richelieu das elegante Zentrum von Paris war, eine schwere, massige Gestalt, die mit höchst sonderbaren Bewegungen dahintrottete, aber doch immerhin eine menschliche Erscheinung, die ja nur ein Weißer sein konnte. Sein Verlangen nach einem verwandten Wesen in dieser Einöde war also nicht enttäuscht worden! Er war nicht mehr allein! Mit vor Angst trockener Kehle und fiebrigen Händen stürzte er in die Rue du Pas-de-la-Mule, um mit dem Landsmann zusammenzutreffen, den ihm die Vorsehung geschickt hatte. Dieser hatte ihn anscheinend nicht bemerkt, oder der Anblick eines anderen Menschen flößte ihm Furcht ein, jedenfalls verschwand er im Dunkel des Bogenganges. William Durand, beunruhigtdurch sein Verschwinden, begann zu laufen. Er war kaum fünfzig Meter vom Platz entfernt, als der gewaltige Umriß des vermutlichen Weißen mitten in der Sonne auf dem grauen Pflaster wieder auftauchte. Durand blieb wie angewurzelt stehen, riß entsetzt die Augen auf und wagte nicht mehr zu atmen. Der ersehnte Mensch war ein Bär, ein brauner Bär der gewöhnlichsten Art, der friedlich auf seinen Hinterpfoten dahertrottete und die Vorderpfoten an seinem mächtigen Körper herunterbaumeln ließ. Der letzte Weiße fuhr zusammen. Das Tier hatte ihn anscheinend bemerkt, denn es reckte ihm das dreieckige Maul entgegen und bewegte den Schädel von unten nach oben, es war sichtlich überrascht. Die Bitterkeit der Enttäuschung des Menschen war noch größer als seine Furcht. Der Bär schien übrigens nicht sehr kampflustig zu sein. Er blieb ebenfalls stehen, brummte unentschlossen, kehrte um und verschwand wieder. Durand nahm dieselbe Richtung, aus der er gekommen war. Der Hoffnung, die ihn ergriffen hatte, folgte eine tiefe Niedergeschlagenheit. Langsamen Schrittes, mit starrem Blick, wanderte er zur Place de la Bastille. Es kam ihm garnicht zum Bewußtsein, daß er hierher gegangen war, bis das grelle Licht auf dem weiten leeren Platz ihn aus seiner Apathie riß. Er zwinkerte mit den Augen und blickte wie ein Irrer um sich. Hier sproß ein Haferfeld, weiter weg gab es Klee, Buchweizen und ein paar Getreidehalme. Inmitten dieses ländlichen Bildes, das durch Kornblumen und Gänseblümchen belebt wurde, reckte die Julisäule ihren bronzenen Schaft gen Himmel. Er wanderte um das Denkmal herum und bemerkte am Ende einer grünen Matte den Lyoner Bahnhof. Ein konvulsivisches Zucken durchlief ihn. An diesen Bahnhof knüpften sich seine letzten glücklichen Erinnerungen. Von hier aus war er mit Manette nach Avallon gefahren. Er wollte sie dort bitten, seine Frau zu werden, und das
Glück lachte ihn damals mit beiden Augen an. Überwältigt von seinen Erinnerungen, blieb er am Beginn der Rue de Lyon stehen. Das Bild Manettes erschien ihm noch deutlicher als vorhin im Cafe auf dem Boulevard und im Kino der »Fünf Sinne«. Seine Geliebte lächelte und sagte: »Du willst mich heiraten? Wie nett von dir!« So jagte ihn die Erinnerung an seine verlorene Liebe von einem Stadtviertel ins andere. Überall sah er Manette mit ihren hellen Augen, dem schmiegsamen Körper einer Schwertlilie, ihren Lippen, die sich ihm darboten. Wie vermochte er sich von dieser Vergangenheit zu befreien, die ihm im Herzen brannte? Würde ihm ein Dasein in dieser Stadt der Gespenster möglich sein? Er dachte plötzlich in einem Anflug von Sympathie an den wackeren Frankie Thompson, den er tief schlafend auf dem Sofa des Wartezimmers zurückgelassen hatte, an die liebenswürdige Hannah auf dem Diwan des Ateliers, die ihn so stark an die Königin Nofretete erinnerte. Dieser Mann und diese Frau waren lebendig wie er, aus Fleisch und Blut; kam es da noch auf ihre Hautfarbe an? Konnte er nicht dem schwarzen Flieger die Hand schütteln und ihre Wärme fühlen? Konnte er nicht ebenso, vorausgesetzt, daß er den ernsten Willen dazu hatte, den vollendeten Körper Hannahs an sich ziehen, diesen glatten, festen, wilden, wohlriechenden jungen Körper? Würde sie nicht in seinen Armen zittern und jauchzen vor Freude, wie eben auf der ganzen Welt nur die Lebenden zittern und jauchzen können? Die Bahnhofsuhr in Vincennes zeigte fünf Uhr, die brennende Sonne verkündete von ihrem höchsten Punkt zwölf Uhr mittags. Er eilte wie ein Narr mit langen Sätzen nach dem fernen Batignolles. DER NACHGELASSENE BRIEF Er bemerkte Hannah schon von weitem zwischen den Gräsern wie eine zweifarbige große Blume. Sie trug ein männliches Kostüm, Sweater und weiße Hosen, ohne Kopfbedeckung. Der helle Sonnenschein verdeutlichte den Gegensatz zwischen ihrem dunklen Gesicht und der kreideweißen Kleidung. Sie schützte die Augen mit den Händen und suchte eifrig mit ihren Blicken die Umgebung ab. Plötzlich entdeckte sie ihn, winkte lebhaft mit erhobenen Armen und eilte ihm entgegen. Sie sprang gewandt wie ein Zicklein durch die Büsche. »Wo kommen Sie denn her? Sie haben mir einen schönen Schrecken eingejagt!« rief sie schon von weitem.
Sie blieb stehen, das Lächeln verschwand, sie beugte ihren geschmeidigen, jungen Körper nach vorn. Er bewunderte sie im stillen. »Na, Sie sagen ja garnichts«, begann sie und verzog ihren reizenden Mund, »Sie böser Heimlichtuer. Ich bin um elf Uhr aufgewacht, Frankie schlief noch. Dann habe ich in Ihrer vorsintflutlichen Badewanne ein kaltes Bad genommen und unseren Piloten wachgerüttelt. Wir suchten Sie überall, aber der Vogel war ausgeflogen. Eine schöne Geschichte! Ich fürchtete schon, sie wären uns durchgegangen, und schickte Ihnen die schönsten Flüche nach. Dann überlegte ich mir, was ich Ihnen wohl getan haben könnte, um Ihnen die Berechtigung zu Ihrer Unhöflichkeit zu geben. Ich sagte mir, daß meine Reportage fünfzig Prozent an Interesse verlieren würde — versetzen Sie sich doch in meine Lage! — und dann stellte ich mir vor, daß die düsteren Gedanken Sie wieder gepackt und Sie sich wie eine kranke Katze in irgendeinem Winkel versteckt hätten und mir nicht die geringste Hoffnung bliebe, Sie je wiederzufinden. Ich war ganz niedergeschlagen, Sie können Frankie fragen. Der teilte übrigens meine Vermutungen nicht; er war ganz ruhig und meinte spöttisch, ich kenne die Männer schlecht, und als ich ihn bat, mir das näher zu erklären, gab er mir einen Nasenstüber-.« Sie fing an zu lachen, zeigte ihre weißen, wohlgeformten Zähne und zwinkerte schelmisch mit den feurigen Augen. »Jedenfalls habe ich darauf verzichtet, aus Frankie einen vernünftigen Satz herauszubringen. Er erklärte mir, das Wichtigste sei jetzt, ein ordentliches Frühstück zu richten, denn der Geruch des Essens würde Sie unweigerlich anziehen wie der Honig die Wespen. Wir durchsuchten also die Häuser in der Nähe. Wissen Sie, was wir Wunderbares gefunden haben? Fisch- und Fleischkonserven, volle Weinflaschen, Spargel in Büchsen, getrocknete Pilze in Zellophanbeuteln, sogar einen Sack Mehl, den die Mäuse noch nicht angeknabbert haben. Aber Frankie war noch immer nicht zufrieden, er wollte frisches Fleisch, also ist er jetzt auf Jagd gegangen.« Kaum war sie mit ihrer Erzählung fertig, ertönte ziemlich nahe ein Schuß. Ihr Gefährte fuhr zusammen. »Womit schießt er denn?« Hannah begann wieder zu lachen. »Richtig! Sie wissen ja, daß wir nur unsere Strahlenpistolen bei uns haben. Unmöglich, mit dieser Munition auf Wild zu schießen, die Beute wäre nur ein Haufen Staub. Frankie machte sich also auf die Suche und hat in einem Haus in der Nähe ein halbverrostetes, doppelläufiges Gewehr entdeckt, ein ,hammerless', wie er mir erklärte, denn er behauptet, sich in antiken Waffen
auszu-kennen. Bei dem Gewehr befand sich eine Schachtel mit Patronen. Ich hab ihm geraten, vorsichtig zu sein, man kann nie wissen, was mit so einem alten Ding los ist. Er wagte einen Versuch, das Pulver war trocken, seine Schrotladung hat genau das Fenster da gegenüber getroffen, alle Scheiben sind geplatzt.« Ein zweiter Schuß kam aus der Richtung der Rue de RonTe. »Es ist vielleicht besser, wir gehen in Deckung«, meinte Hannah und schützte in lustigem Erschrecken ihr Gesicht mit beiden Händen. Sie hatte sich bei ihrem Rückzug ein wenig von dem Weißen entfernt, der sich zu einem Lächeln verpflichtet fühlte. Die liebenswürdige Schelmerei, die reizende Unbefangenheit des jungen Mädchens hatten ihn nach den Stunden der Angst und Qual eigentümlich berührt. Der Gedanke, sie an sich zu ziehen, verdrehte ihm den Kopf. Aber die Gewehrschüsse, die durch die klare Wüstenluft von Paris hallten, ließen ihn in seine düstere Stimmung zurückfallen. Wie konnte man sich damit abfinden, daß das Batignollesviertel zum Jagdgebiet geworden war? Mit einem vergnügten »hello« erschien Frankie Thompson an der Ecke der Rue de Rome. Er hatte sein Gewehr über die Schulter geworfen und zeigte triumphierend die blutigen Körper eines weißen Kaninchens und zweier Täubchen. Er erklärte im wissenschaftlichen Ton, daß das Kaninchen, das aus einem Stall ausgebrochen sei, zur ganz gewöhnlichen Rasse der Kohlhasen gehöre, und nahm von der Rückkehr William Durands mit keinem Wort Notiz. Er erklärte, er sei hungrig wie ein Schiffbrüchiger, und bat, die kulinarischen Vorbereitungen zu beschleunigen. Etwa zwei Stunden danach behauptete der unerschrockene Jäger gesättigt und schläfrig, daß in einer so heißen Jahreszeit die Mittagsruhe für das Gleichgewicht seiner Nerven eine unumgängliche Notwendigkeit darstelle. Fünf Minuten später schnarchte er schon mit offenem Munde. Der Weiße ging mit Hannah auf die Straße. »Ich hoffe, Sie werden mir jetzt Ihre Stadt zeigen«, sagte sie mit einem unwiderstehlichen Ausdruck. Sie gingen zusammen die Rue de Miromesnil hinunter. William Durand hatte einen Arm auf die Schulter des jungen Mädchens gelegt, die keinen Versuch machte, sich von ihm zu befreien. Sie schien vor Freude oder wenigstens vor Neugier gänzlich außer sich zu sein. Sie wollte sich von dem Schauspiel nichts entgehen lassen, hüpfte wie ein Vogel herum und trällerte übermütig vor sich hin. An der Ecke der Rue de la Boetie bleichten zwei eng ineinander verschlungene Skelette an der Sonne, wie wenn sie sich im Tode weiter umarmt hätten. Welche Mutter mochte wohl hier ihren Sohn gefunden haben,
welche Frau ihren Mann, der, über den geliebten Kopf gebeugt, das Schicksal mit ihr geteilt hatte. Sie waren stehen geblieben, und die Hand des Weißen lag schwer auf Hannahs Schulter. In dieser Straße war kein Gras gewachsen, die Häuser hatten keinen Schaden erlitten, die beiden einsamen Gerippe, deren Liebe den Tod überdauerte, berührten in diesem völlig unversehrten Viertel besonders eigenartig. Die Stimme des jungen Mädchens unterbrach das Schweigen: »In London«, sagte sie, »habe ich auf den Straßen unzählige Tote gesehen, als ob die ganze Bevölkerung im Freien gelebt hätte. Hier sind die Leichen auf der Straße verhältnismäßig selten. Man könnte glauben, die Stadt sei zum größten Teil vor der Katastrophe evakuiert worden.« William Durand schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »der Franzose war häuslich, das ist alles. Jeder blieb am liebsten zu Haus.« Sie erreichten die Champs-Elysees, wo die Vegetation, sich selbst überlassen, Pflaster und Grünanlagen überschwemmt und zuweilen ein undurchdringliches Buschwerk gebildet hatte. Sie setzten sich auf eine vom Regen morsch gewordene Bank. Eine einsame Amsel flötete im Kastanienbaum, dessen dichtes Blätterdach einen meergrünen Schatten warf. Der Weiße ergriff die Hand Hannahs und streichelte sie zart. Sie ließ es geschehen, was ihn mit tiefer Befriedigung erfüllte, wie wenn er nach schwerer Krankheit wieder zum Leben erwacht sei und neue Kräfte fühle. Das Schweigen Hannahs versetzte ihn in Erstaunen. Er wandte sich zu ihr hin, sie lächelte. Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter, sie wehrte sich nicht. Sie streichelte sogar langsam und zärtlich sein Haar und flüsterte: »Armer Willy! Armer, lieber Willy!« Sie nannte ihn Willy, wie eine Schwester oder eine Geliebte, aber es geschah aus Mitleid. Wie kindisch, sich einzubilden, sie könne für ihn etwas anderes empfinden als Mitleid! Er richtete sich auf. Wenigstens ein Mann sein, um keinen Preis der Welt die erbärmliche Träne sehen lassen, die ihm aus den Lidern quoll. Aber Hannah fuhr mit bewegter Stimme fort: »Man kann nicht mit den Toten leben, Willy, besonders wenn es noch Lebende gibt.« Dieser Gedanke erregte ihn stark. War es nicht der gleiche, der ihn am Vormittag auf der Place de la Bastille hochgerissen und ihn veranlaßt hatte, zu Hannah zu eilen, wie zu einer Schutzgöttin? »Sie haben recht«, sagte er und drückte ihre Hand, die in der seinen ruhte. Sie betrachtete ihn mit verständnisvollen Blicken, aus denen ihre Sympathie
leuchtete. »Ich weiß wohl«, fuhr sie fort, »Sie können nicht von einer Minute zur ändern gesund werden. Man muß Sie Ihren fixen Ideen entreißen. Paris ist zwar zur Wüste geworden, aber Sie wehren sich noch immer gegen den Gedanken, daß hier das Leben völlig erloschen sei. Ich sehe nur eine Möglichkeit, Sie zu überzeugen —« Er preßte ihre Hand stärker, die sie ihm nicht entzog. Voll ängstlicher Hoffnung forschte er in diesem schönen Gesicht, das ihm so nahe war, in ihren dunklen, flammenden Augen. »Hören Sie«, sagte sie in ernstem Ton und wandte sich leicht zu ihm hin, »um Ihr Biograph sein zu können, müßte ich zuerst Ihr Beichtvater werden. Als solcher stehen mir alle Rechte zu, und wenn ich jetzt die Wunde aufreiße, werden Sie mir das hoffentlich nicht zum Vorwurf machen.« »Gewiß nicht, Hannah!« Mit der Spitze ihres rotgefärbten, ovalen, scharfen Nagels schnellte sie ein schwarzes Insekt fort, das vom Kastanienbaum gefallen war und sich auf ihr Knie gesetzt hatte. »Willy«, sagte sie bedächtig, »Sie werden eine Pilgerfahrt zu Manettes Haus machen. Ich rate Ihnen sogar, ihr Zimmer aufzusuchen. Dann werden Sie begreifen, daß sie, die Sie so sehr geliebt haben, wirklich tot ist. Sie werden daraus die logische Folge ziehen und von dem Übel befreit sein, das Ihnen das Leben vergällt.« Er hob die Schulter und runzelte die Stirn. »Glauben Sie?« murmelte er seufzend. »Los, auf den Weg!« erwiderte sie. »Ich begleite Sie.« Sie machten sich in der Richtung nach Vaugirard auf den Weg, quer über die Savanne, die einstmals die Avenue Victor Emanuel war. In der Nähe der Invalidenbrücke sprang ein rötliches Tier vor ihnen davon. (War es eine Hirschkuh oder eine gewöhnliche Ziege?) Sie ließen den Eiffelturm mit seiner zerfetzten Spitze rechts liegen und drangen beim Invalidendom, von dessen Kuppel das Gold längst abgeblättert war, mitten ins alte Grenelleviertel ein. Hier mußten sie mehrere Umwege machen, weil sich auf den zerstörten Straßen Sümpfe gebildet hatten, über denen Schwärme von Mücken summten. An der Ecke des Boulevard Pasteur und der Rue de Vaugirard blieb William Durand stehen. Hannah betrachtete die stumme Masse der zerfressenen Häuser rings umher, die Steinblöcke, an denen Moos und Flechten wie Verschworene gemeinsam emporkletterten, und das Doppelgeleise der Untergrundbahn, das hier verrostet wie ein alter Schlüssel schnurgerade zwischen dem Geländer in die Tiefe führte.
»Ist es hier?« fragte sie mit halber Stimme und berührte den Arm des Weißen. Er verneinte mit einer Kopfbewegung und schien sich von dem Anblick einer kleinen Bar an der Ecke der Straße, in der es einst auch Tabak zu kaufen gab, nicht trennen zu können. In dieser kleinen Bar, an der so garnichts Besonderes war, hatte er gewöhnlich auf Manette gewartet, wenn sie zusammen ausgingen. Er kam immer als erster und erwartete sie mit herzlicher Ungeduld bei einem Glas Bier. Endlich erschien sie lächelnd, parfümiert, leichten Schrittes und gut gelaunt. Er streichelte ihre zärtlichen nach Mandelmilch duftenden Hände. Bei ihrem Begrüßungskuß wurden sie manchmal vom Kellner überrascht, einem dicken, gutmütigen Kerl, der so tat, als ob er sein Gesicht hinter der Serviette verstecke und mit einem Augenzwinkern »Ich habe nichts gesehen!« flüsterte. Manette tauchte ihren Blick in den des Geliebten, und ihre Augen leuchteten leidenschaftlich. Jetzt war alles nur noch Erinnerung für William Durand. In Gedanken versunken stand er am Rand des Trottoirs und zertrat einen Grasbüschel. Hannah legte ihm die Hand auf die Schulter, und sie wanderten weiter. Hier, im Vaugirardviertel, drohten viele der alten fleckigen Häuser einzustürzen, und Brennesseln sproßten aus den zerborstenen Mauern. Endlich blieb der letzte Weiße stehen, und Hannah erriet aus der Art, wie sich sein Gesicht verkrampfte, daß sie am Ziel waren. William Durand bedeckte die Augen, aber dies geschah weniger, um sich vor dem grellen Tageslicht zu schützen, als aus Furcht, den Anblick des Hauses nicht ertragen zu können, in dem ihm die letzte Prüfung bevorstand. Das schwarze Kreuz war noch immer auf der Haustüre sichtbar. Hannah näherte sich der Liste, auf der die Namen der von der Krankheit befallenen Bewohner des Hauses zur Zeit der Pest standen, aber sie konnte keinen einzigen entziffern, Sonne und Regen hatten alle ausgelöscht. Sie berührte sanft den Arm des Wallfahrers. »Mut«, sagte sie, »ich erwarte Sie hier. Nehmen Sie sich fest vor, geheilt zu werden. Ich höre inzwischen, um mir die Zeit nicht zu lang werden zu lassen, ein bißchen den Sender von Colour City ab.« . Sie holte aus der weißen Tasche, die an einem Riemen über ihrer Schulter hing, ein winziges Rundfunkgerät hervor und setzte es aufs Trottoir. William Durand zögerte noch, die Schwelle des Hauses zu überschreiten, zu dem er Manette so oft bei Nacht begleitet hatte. Wie waren diese Nächte damals berauschend, selbst im strengsten Winter, wenn am unendlichen Himmel die Sterne vor Kälte zu zittern schienen. Er konnte sich nie
entschließen, von seiner Freundin Abschied zu nehmen; sie umarmten sich innigst, trennten sich und stürzten sich wieder in die Arme, Aber schließlich mußte man doch nach Hause gehen: er lief buchstäblich davon und nahm den Duft ihrer Kleider, ihrer Haut, ihrer Haare mit sich, diesen starken, charakteristischen Duft der Tabakblüte. Zwanzig Meter vom Haus blieb er stehen, Manette winkte ihm noch einmal aus dem Schatten, das Schloß knackte, und die schwere Tür fiel hinter ihr zu. Leise tönte die Musik aus dem kleinen Apparat von Hannah Pierce. Er stieß das Tor auf und trat in das Haus ein. Es war ein ziemlich altes Gebäude, und er stieg mit wachsendem Herzklopfen die dunkle Treppe hinauf. »Dritter Stock links, Carlier«; er hatte diese furchtbare Inschrift nie vergessen. Auf dem ersten Stock blieb er stehen, das Herz schlug ihm bis zum Hals, und er stützte sich auf das Geländer. Er fürchtete sich, die Wohnung wiederzusehen, in der Manette gelebt hatte, und empfand es wie etwas Verbotenes, wie eine Grabschändung; es schien ihm, als ob ein unsichtbarer Geist ihn an seinem Vorhaben hindern wolle. Dicke Schweißtropfen perlten ihm von den Schläfen. Er trocknete sie und stieg in den zweiten Stock. Dort machte er wieder halt und preßte die Hand gegen die Brust, als ob er das unregelmäßige Pochen seines Herzens aufzuhalten suchte. An einer der Türen verkündete ein emailliertes Schild: »Gedeon. Kunstphotograph.« Er erinnerte sich, daß Manette ihm von diesem bescheidenen Berufsgenossen erzählt hatte, dessen Spezialität farbige Ansichtskarten für Fest- und Geburtstage waren und der seiner hübschen Nachbarin einmal vorgeschlagen hatte, ihm als Modell zu dienen. »Nein, Willy, kannst du dir das vorstellen, ich mit blödem Lächeln in den Armen irgendeines pomadisierten Laffen?« Wie begehrenswert und vergnügt war Manette an jenem Tage! Aber was mochte aus dem armen Gedeon geworden sein? Und aus dem anderen Fotografen, dem sonderbaren Anatole Pin-che, der seine Sidonie-Potiphar so großzügig seinen Angestellten in die Arme warf? Zwanzig Stufen noch, und er hatte den Gang im dritten Stock erreicht. Er stolperte über eine Fußmatte und schlug mit dem Kopf gegen eine Tür, die nachgab. Es war der Eingang links, der Eingang zu Manettes Wohnung. Er blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen, unbeweglich und gelähmt vor innerer Erregung. Die Tür mußte vor zehn Jahren von den letzten Besuchern, den Leichenträgern, schlecht verschlossen worden sein. Er stieß sie hinter sich zu. In der dumpfigen Luft des seither ungelüfteten Raumes
suchte er vergeblich jenen unvergeßlichen Duft. Er stand in einem kleinen Vorraum, auf den vier Türen mündeten. Eine von ihnen war offen. Er trat ein und befand sich in Manettes Speisezimmer. Das Büfett, der Tisch, die Rohrstühle, alles ohne Stil. An den Wänden Jagdszenen hinter Glas, ein Diplom der Rettungsmedaille, die Ansicht des Mont Samt-Michel — alle Dinge bezeugten ein Durchschnitts-Dasein, mit dem sich die Bewohner abgefunden hatten. William Durand suchte in dieser unpersönlichen Umgebung nach einem Gegenstand, nach irgend etwas, das ihn an Manette erinnern könnte, er entdeckte nichts. Er trat in den nächsten Raum, der , zweifellos das Zimmer der Frau Carlier, der Ankleiderin in der Oper, gewesen war. Auf dem Kamin zeigte eine Fotografie eine ältere, lächelnde Dame inmitten einer Schar Tänzerinnen im Ballettröckchen. Eine andere Aufnahme stellte ein zwölf Jahre altes blondes, graziöses Kind dar, dessen Lächeln mit halbgeschlossenen Augen und dessen ausgeprägter Mund, der dem Gesicht einen gewissen überlegenen Ausdruck verlieh, unverkennbar auf Manette schließen ließ. Er betrachtete lange und gerührt das verblaßte Bild. Über die Jahre des Werdens und Vergehens hinaus weissagte dieses erstarrte, an einem flüchtigen Tage festgehaltene Lächeln des kleinen Mädchens noch immer das, was sein würde und nun längst nicht mehr war. In dem Spiegel über dem Kamin erblickte er sein eigenes blasses, verzerrtes Gesicht. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Plötzlich ließ ihn der Ton einer menschlichen Stimme, einer ziemlich lauten Stimme, hochfahren. Er stürzte ans Fenster, stieß die Läden auf und beugte sich hinaus — absurde Hoffnung! Hannah drehte da unten auf dem Trottoir an ihrem Radioapparat. Er kehrte zum Kamin zurück und steckte das Kinderbild Manettes zu sich. Ein Zimmer war noch übrig. Er öff-nete zitternd die Tür, die Kehle schnürte sich ihm zu, denn hier war Manette in allem, sogar in der Luft, im ungemachten Bett, dessen Decke zurückgeschlagen war, als ob sie, die jede Nacht hier ruhte, eben erst aufgestanden sei; sie war in dem Sommerkleid aus feuerrotem Crepe de Chine, das er noch so lebhaft in Erinnerung hatte und das nun über dem Stuhl lag; sie war in allem, was auf dem Toilettetisch stand, in den Flakons, den Cremes, den Kämmen, dem Maniküretui, einem Geschenk zum ersten Jahrestag ihrer Liebe, sie war überall, lebhaft, sorglos, so eben, wie er sie geliebt hatte und wie sie auf den zahlreichen Fotos an den vier Wänden zu sehen war, allein oder inmitten ihrer Kolleginnen vom Ballettkorps, deren Namen unter der Widmung standen. Ihm fiel ein, daß er mehrere dieser
Aufnahmen selbst gemacht hatte, zum Beispiel die letzte: Manette auf der kleinen verwitterten Steinbrücke im Tal von Cousin während der Reise nach Avalion. Sie trug damals das hellgraue Kleid, das vorne mit großen Metallknöpfen geschlossen war, die ihren Geliebten in trunkene Ungeduld versetzten. Wie lächelte sie ihn unter ihrer kleinen Kappe bezaubernd an! Sie waren ganz allein unterwegs. Während er sie aufnahm, vereinte sich das Murmeln der Espe über seinem Haupt mit dem Rauschen des Baches zu einem fröhlichen Zwiegesang. Das Bild stand so deutlich vor seinem Geist, die Erinnerung war so stark, daß er sich nicht mehr halten konnte. Er warf sich auf das Bett und brach in Tränen aus. Welch seltsamer Einfall von Hannah Pierce, an eine Heilung durch das Übel zu glauben, wenn ihn der Schmerz heftiger denn je packte! Er preßte sein Gesicht in die Kissen, die das letzte Lebenszeichen Manettes empfangen hatten, und grub seine Zähne wie ein Wahnsinniger in das Linnen. Nachdem er sich minutenlang der völligen Verzweiflung überlassen hatte, raffte er sich auf und machte verstörten Gesichtes ein paar Schritte. Es schien ihm, als ob all die Manettes an den Wanden ihm zulächelten, ihm zuwinkten. Er setzte sich an den Toilettentisch, vor dem so oft Manette gesessen war. Der verstaubte Spiegel zeigte ihm das Bild eines Mannes von fünfundvierzig Jahren mit eingefallenen Augen, dessen Lippen nervös zuckten. Er nahm ein Flakon und öffnete es. Der Inhalt war verraucht, aber ein bräunlicher Satz bedeckte den Boden, dem schwach der köstliche Duft der Tabakblüte entströmte. Er setzte die Flasche nieder, schloß die Augen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Der wunderbare Geruch rief ihm die Gegenwart Manettes so lebhaft ins Gedächtnis, daß er ihren warmen Atem und die Zartheit ihrer Haut zu spüren vermeinte. Ein Schauer überlief ihn, und die Vorstellung war so stark, daß er ohnmächtig zu werden glaubte. Da fiel sein Blick auf einen Kamm, in dessen Zähnen noch ein paar blonde Haare hingen. Er seufzte und preßte seine Nägel in die Handballen. Warum mußte er sich so quälen, und was suchte er im Zimmer einer Toten? Als er sich erhob, um zu fliehen, blieb er mit dem Knopfloch seines Anzuges am Schlüssel einer Schublade hängen. Er befreite sich und zog die Lade heraus; zwischen einem Füllhalter und einer Puderschachtel entdeckte er einen Brief mit der Aufschrift: »Herrn William Durand.« Er erkannte Manettes runde, sinnliche Handschrift. Das Herz schlug ihm lebhafter, ja, so heftig, daß er schwindlig wurde und sich setzen mußte.
Er drehte den Brief zwischen seinen Fingern, ohne den Mut zu haben, ihn zu öffnen. Was er auch immer enthalten mochte, würde nicht die Nachricht seinem Schmerz neue Nahrung geben? Der Umschlag war nicht verschlossen, zitternd entfaltete er das Papier und las: »Mein kleiner Willy, vielleicht wirst Du diesen Brief niemals lesen. Wir beide sind morgen womöglich schon tot, und wer weiß, ob das nicht das beste für uns wäre. Aber für den Fall, daß wir doch noch dieser weißen Pest entkommen sollten, schulde ich Dir eine Erklärung. Hier ist sie. Zunächst möchte ich Dir noch sagen, daß im Augenblick, in dem ich Dir schreibe, Mama in den letzten Zügen liegt. Ich höre in meinem Zimmer ihr Röcheln, ihr schmerzhaftes Husten. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß sie die kommende Nacht nicht überleben wird, und ihr Verlust verursacht mir großen Kummer. Und nun, versteh mich recht, sowie sie die Erde verlassen hat, werde ich sie auch verlassen, wenn auch mein Abschied ein anderer sein wird. Willy, ich bitte Dich, nimm die Dinge nicht zu tragisch, versuche ein bißchen vernünftig zu sein. Ich verdanke Dir sehr schöne Stunden, das werde ich nie vergessen. Ich habe Dich geliebt, und Du bleibst mir wert und teuer, aber — warum soll ich es nicht gestehen? — Du hast Deine Chance bei mir verpaßt. Erinnerst Du Dich des Tages, an dem ich Dir erzählte, daß man um meine Hand angehalten habe? Ich versichere Dir, daß der Freier an diesem Tage sehr ungnädig empfangen wurde. Ich liebte Dich, und kein anderer Mann fand vor meinen Augen Gnade. Ich war aufrichtig, als ich Dir das sagte. Aber — aber der Liebhaber erneuerte seinen Antrag, er wies darauf hin, daß ich für Dich nur eine Quelle des Vergnügens, eine bequeme Unterhaltung sei, daß er aber bereit wäre, mir seinen Namen zu geben und mir sein Leben zu weihen. Ich habe lange überlegt — es ist nicht gut, Willy, wenn ein Mann eine Frau zwingt, nachzudenken, namentlich, wenn sie das nicht gewöhnt ist. Dann kam die Reise nach Avallon, und ich habe mich Dir vielleicht nie so nahe gefühlt wie während dieser drei Tage. Wenn Du mich damals gefragt hättest, ob ich Deine Frau werden wolle, ich hätte mit Begeisterung zugesagt! Aber Du bewahrtest Deine Zurückhaltung. Dann brach der Krieg aus, meine Mutter wurde von Tag zu Tag kränker, ich hatte das Bedürfnis, mich auf jemanden zu stützen, dessen ich sicher sein konnte. Der andere drängte mich immer stärker, er mißfiel mir nicht, und da ich von Dir nichts mehr zu erhoffen hatte — Hättest Du Dich damals entschlossen, Willy, wärest Du zu spät gekommen. Ich hatte mich entschieden, ich hatte mein Wort gegeben und konnte nicht
mehr zurück. Ich habe trotzdem gezögert, Dir meinen Entschluß mitzuteilen, denn Dein Antrag, obwohl er viel zu spät kam, berührte mich stark. Außerdem nahm Dich Deine Tätigkeit bei Professor Balanche immer mehr in Anspruch. Ich brauche Dich nicht daran zu erinnern, daß wir uns seit vierzehn Tagen nicht gesehen haben. — Ich hoffe, Du wirst mich verstehen, mein armer Freund. Meine Mutter wird morgen nicht mehr sein, und übermorgen, wenn nichts dazwischen kommt, besteht alle Aussicht, daß ich im Sternenflugzeug des Ingenieurs Drelin auf dem Wege zum Planeten Mars bin. Genügt das? Ja, es ist Dein Freund Antoine, der um meine Hand angehalten hat. Er hatte Dich verständigt, bevor er sich mir erklärte; Du hast ihm nicht widersprochen. Er hatte Dich nach Deinen Absichten in bezug auf mich gefragt, und auf Grund Deiner Haltung entschloß er sich, um mich zu werben. Muß ich hinzufügen, daß ich ihn heute nicht mehr abweisen kann? Du hast es nicht verstanden, Willy, mich an Dich zu binden, verlange nicht von mir, ich solle Gewissensbisse haben. Möglich, daß Du mich zu hoch eingeschätzt hast. Ich glaube, dieser Fehler liegt in Deiner Natur. Ich habe Dir nicht verhehlt, daß Du nicht der erste warst. Aber Du wolltest durchaus eine Lichterscheinung, eine Heilige in mir sehen — eine sinnliche natürlich, das Gegenteil wäre nicht nach Deinem Geschmack gewesen — die Frau. Aber solche Frauen existieren nur in der Einbildung von Männern Deiner Art, Willy. Auf alle Fälle hättest Du mich stärker an Dich fesseln sollen, wenn Du mich so einschätzest, Du hättest mich heiraten müssen. Du hast es nicht getan, also beklage Dich nicht. Vielleicht hast Du übrigens recht gehabt, es nicht zu tun. Ich weiß nicht, ob ich die richtige Frau bin, die man heiratet, wenn man ein ruhiges, bescheidenes Leben führen will. Ich bin nun mal keine Heilige. Ich liebe das Leben und seine Freuden, von wo sie auch kommen. Ich liebe es, die Gelegenheit beim Schopf zu packen, ich schätze Zärtlichkeiten und widerstehe ihnen schwer. Wenn ich in den Augen eines Mannes diesen gewissen Schimmer bemerke und mir der Mann gefällt, kann ich nicht garantieren, daß ich die nötige Kraft besitze, der Versuchung zu widerstehen. Wenn ich auch nicht leichtsinnig bin, so bin ich doch eine schwache Frau ... Sei auf Antoine nicht böse; ich bin die Hauptschuldige, wenn man überhaupt von Schuld sprechen kann, ich hätte mich bei seinen ersten Annäherungsversuchen aufs hohe Pferd setzen müssen. Aber das Rad dreht sich immer weiter, und Du brauchst Deinen Freund nicht zu beneiden, der Ingenieur Drelin, ein schöner Mann, fängt an, mich mit verliebten Augen zu
betrachten. Also, ohne Bitterkeit? Adieu, Willy. Manette.« Der letzte Weiße ließ das Blatt sinken, das verkehrt unter das verstaubte Bett fiel. Es geht mit den großen seelischen Erschütterungen wie mit einer schweren Verwundung, sie wirken wie ein Schock, aber verursachen im ersten Augenblick keinen Schmerz. Das Bewußtsein ist ausgeschaltet, sozusagen betäubt von der Heftigkeit der Erschütterung, und man vermag nicht zu entscheiden, ob das Schmerzempfinden wirklich ist oder nur in der Einbildung existiert. So war William Durand durch die Entdeckung der Untreue und Würdelosigkeit Manettes völlig zusammengebrochen und empfand in seinem Inneren eine ungeheure Leere, sein Zeitgefühl war völlig erloschen. Er betrachtete nacheinander die Bilder Manettes an den Wänden, den Kamm mit den blonden Haaren, das rote Kleid, das über dem Stuhl hing, das ungemachte Bett, aber er vermochte diese Dinge und den Brief, der da zu seinen Füßen lag, in keinen Zusammenhang zu bringen. Nach und nach kam er wieder zum Bewußtsein, und die Ereignisse begannen sich in seiner Erinnerung zu ordnen und zu verflechten. Er hörte sich Antoine fragen, wer denn der vierte Passagier des Sternenflugzeuges wäre, und Antoine grunzte unter seinem verchromten Taucheranzug irgendeine unverständliche Antwort. Und wieder war es Antoine, der ihm einige Stunden später, als er den Tod Manettes erfahren hatte, vorschlug, an der interplanetaren Expedition teilzunehmen. Wie abscheulich diese Vorstellung! Durand erinnerte sich auch der fühlbaren Kälte seiner Geliebten in der letzten Zeit: wie klar ihm mit einem Male alles wurde! Zehn Jahre lang hatte er dem Kult einer Frau gelebt, die ihn leichten Herzens betrogen hatte. Er hatte eine Kokette, die nicht imstande war, einem Mann, »der sie mit einem gewissen Schimmer in den Augen ansah«, zu widerstehen, für seine leidenschaftliche Geliebte gehalten. Weil er sie so sehr liebte und in seiner Liebe glücklich war, hatte er geglaubt, daß sie ihm Gleiches mit Gleichem vergelten würde! Nun, Manette beichtete rückhaltlos: sie liebte das Leben und seine Vergnügungen, woher sie auch kamen. William Durand oder ein anderer, das war für sie gleichgültig. Das Rad dreht sich, wie sie in ihrem Zynismus bemerkte. Und Antoine, der einzige Jugendfreund, den er besaß, scheute sich nicht, aus dem allgemeinen Elend Nutzen zu ziehen und ihm sein kostbarstes Gut zu rauben! — Er erhob sich und mußte sich, wie bei seinem Eintritt in dieses Zimmer, in einem Anfall von Schwäche am Toilettentisch halten, um nicht umzusinken.
Mechanisch griff er an seine Brust und zog aus seinem Anzug eine kleine Metallröhre, deren Berührung ihm einen Namen und ein Gesicht ins Bewußtsein rief: diese Röhre, die er zehn Jahre lang ängstlich gehütet hatte, enthielt eine Glasampulle mit Schierlingsgift, das Vermächtnis Gaston Balanches. Glücklicher Professor! Wenn auch die Frau, die er geliebt hatte, gestorben war, bevor sie ihm angehörte, so hatte sie ihn doch wenigstens nicht betrogen. Genevieve Eme-riau war eine von den Frauen, die ihr Herz nur einmal vergeben. Das Zimmer Manettes, dieses Zimmer, das William Durand voll schmerzlicher Zärtlichkeit betreten hatte, erschien ihm nun fremder, kälter und feindseliger als sein Zimmer im Museum der fernen Colour City. Er ging schaudernd hinaus, ohne sich umzukehren, stampfte die Treppe hinunter und stand völlig geblendet, mit zugekniffenen Augen wie ein Nachtvogel im hellen Sonnenschein auf der Straße. Am Rand des Trottoirs lauschte Hannah Pierce einer Sendung in englischer Sprache, die aus ihrem kleinen Apparat tönte. Sie schien ganz vertieft zu sein, und als der Weiße. zurückkam, murmelte sie: »Das ist ja entsetzlich, hören Sie nur!« Hannahs Existenz war ihm völlig entfallen. Er wandelte wie in einer Welt von Watte, in der ihn die Auslassungen des gelb-schwarzen Rundfunks nicht erreichten. Aber sein Ohr registrierte mechanisch die gutturalen Töne und Satzfetzen, und gegen seinen Willen vernahm er schließlich folgende Erklärung: »Unter diesen Umständen mußte der Große Rat annehmen, daß die F.U.A. ihrerseits absichtlich eine feindselige Einstellung der F.S.N. gegenüber einnähme. Die F.S.N. ist nicht der Meinung, daß der Oberste Rat der Vereinten Föderationen sich mit diesem Fall zu befassen habe. Sie erklärt lediglich, daß sie entschlossen ist, vom heutigen Tage an alle diplomatischen und Handelsbeziehungen, sowie jeden Güteraustausch und sonstigen Verkehr mit der F.U.A, ganz allgemein abzubrechen. Diese Entscheidung schließt anderweitige, energischere Maßnahmen keineswegs aus, die im Falle einer neuerlichen Verletzung ihrer Rechte, ihrer Unabhängigkeit und Interessensphäre die F.S.N. zu ergreifen willens ist. Ihre offenen und versteckten Feinde mögen dies zur Kenntnis nehmen. Jeder Bürger der F.S.N., welcher Hautfarbe er auch immer sei, ist bereit, sich den Erfordernissen der Stunde zu unterwerfen.« Eine kriegerische Musik mit Trommeln und Trompeten folgte dieser Erklärung. Hannah Pierce stellte den Apparat ab.
Unbestimmte Erinnerungen stiegen wie Seifenblasen aus dem erregten Bewußtsein des letzten Weißen. Nicht zum ersten Male hörte er diese Art von Phrasen, mit denen die Staatschefs gewöhnlich ihre Völker aufhetzten. Er murmelte wie im Traum: »Was soll das heißen?« Und die klare, aber erregte Stimme des Mädchens antwortete: »Das soll heißen, daß die F.S.N. einen Schiedsspruch ablehnt.« »Das merke ich«, antwortete Durand unbeteiligt. »Alle Torheiten sind möglich«, fuhr Hannah hartnäckig fort, »und was wird dann aus unserer Zivilisation?« »Was ist denn eigentlich geschehen?« fragte der Weiße. Er stand noch immer im Banne eines dunklen Alpdrucks, und selbst die Ankündigung des Weltunterganges wäre ihm nur als eine höchst unwichtige Episode erschienen. Hannah Pierce unterrichtete ihn trotzdem über das, was sie gehört hatte. Im Verlauf eines Empfangs zu Ehren der vom Rat Samory geführten Mission hatte dieser wohl unter dem Einfluß des Alkohols vor mehreren Mitgliedern des Großen Rates die Bemerkung fallen lassen, daß die bastardartige Zusammensetzung der F.S.N. gegen jede Vernunft gehe und daß der Augenblick gekommen sei, diesem Zustand ein Ende zu setzen. Er behauptete, als offizieller Vertreter der F.U.A. zu sprechen, und erklärte» daß die Welt in zwei gleichartige Föderationen aufgeteilt werden müsse, in die der Schwarzen und die der Gelben, und daß jede Föderation nur aus Angehörigen derselben Farbe bestehen solle. Daher sei dieses künstliche Gebilde aus zwei Rassen, die F.S.N., reif zum Verschwinden. Der Unwille in Colour City erreichte seinen Höhepunkt, als Rat Samory mit zufriedener Miene, die seine Ansicht noch herausfordernder erscheinen ließ, erklärte, daß gewichtige Persönlichkeiten der U.Y.P. seinen Standpunkt teilten. »Die F.S.N. wird jeder Verschwörung zu begegnen wissen«, hatte der Präsident des Großen Rates erklärt. Am selben Tage wurde der Rat Samory ersucht, mit dem gesamten diplomatischen Personal der F.U.A. das Bundesterritorium zu verlassen. Hannah schwieg einen Augenblick und fuhr dann mit zitternder Stimme fort: »Es ist doch unmöglich, daß in einer Zeit wie der unsrigen, zehn Jahre nach dem Untergang der weißen Rasse, vernunftbegabte Wesen kaltlächelnd einen neuen Krieg ins Auge fassen.« Der letzte Weiße zuckte langsam die Achseln. Er schien seine Verzweiflung überwunden zu haben. Sein gesunder Verstand hatte wieder die Oberhand gewonnen, mit eisiger Klarheit beurteilte er die unfruchtbaren Debatten der Menschen. Das Glück war nur ein sinnloses, leeres Wort. Manette hatte es
besudelt, und was sollte er von Antoine sagen? Die Wissenschaft, auf die die Weißen so stolz waren, hatte zu ihrem Untergang geführt; die Schwarzen und Gelben machten als gelehrige Schüler den Wahnsinn nach. Geist und Gemüt waren längst verschwundene Begriffe. Die Menschheit, überaltert und erschöpft von ihrem jahrtausendelangen Dasein, ging ihrer völligen Vernichtung entgegen und berauschte sich blind an ihren ersten Anzeichen wie an einem Liebestrank, der erst die höchsten Wonnen gewährt und dann tötet. »Willy«, rief Hannah Pierce und packte ihn nervös am Arm, »glauben Sie wirklich, daß der Krieg unvermeidlich ist?« Er erinnerte sich Pepin Deniaus, wie er auf die gleiche Frage Antwort gab; wie lange war das schon her! Er schüttelte leise den Kopf. »Wenn die Kriege vermeidbar wären, wie soll man dann verstehen, daß man sie nie vermieden hat?« »Entsetzlich«, sagte sie, »jedenfalls kann Frankie allein zurückfliegen, wenn der Krieg ausbricht. Ich werde nie mehr nach Colour City zurückkehren.« Ein unerklärliches Lächeln huschte über das Gesicht des Weißen. Er betastete die Metallhülse mit der Giftampulle in seiner Tasche und dachte daran, daß er nicht mehr die Entschlußkraft haben würde, zum Grabe Genevieve Emeriaus zu gehen, um dort Trost zu finden. Wozu auch, da dem Ende des letzten Weißen so bald das Ende des letzten Menschen folgen würde? Hanhah ergriff seine Hand. »Willy«, sagte sie, »glauben Sie nicht, daß wir hier zusammen leben könnten?« Starren Blicks und völlig ausdruckslos schüttelte er schweigend den Kopf. Hannah war jung und schön. In ihrem Alter glaubt man an die Zukunft, die Liebe, die Aufrichtigkeit des Herzens, an die Brüderlichkeit aller Menschen. Mit zwanzig Jahren auf etwas zu warten, bedeutet kein langsames Absterben, sondern Hoffen. Arme Hannah! Sie war schwarz, aber ihr Geist so frei und offen, ihre Seele weißer als die vieler dieser tierischen Europäer, die er gekannt hatte. Sie glaubte, glücklich sein zu können! Er empfand ein überquellendes Mitleid mit ihr, das Mitleid eines Menschen, der über jedes Maß um ein Wesen gelitten hatte und dem es vorbehalten blieb, den Kelch des Leidens bis zur Neige zu leeren. »Sie sind noch nicht geheilt«, begann sie von neuem, »aber Sie werden gesund werden. Haben Sie denn gar kein Vertrauen zu mir, Sie schlechter Mensch?« Gott! Um wie viel lieber wäre er einer weniger verführerischen Frau gegenübergestanden! Hannah verdiente besseres als eine brutale Absage. Er dachte an den ehrenwerten Herrn Hakashu Yosano, der ihn mit irgendwelchen
hellfarbigen Weibern verkuppeln wollte, um mit ihm eine neue »annähernd weiße Rasse« zu zeugen. Ein herrlicher Gedanke! Bei Hannah, die rein afrikanischer Abstammung ohne Rassenmischung war, bestand nicht die geringste Hoffnung auf die »annähernd weiße« Nachkommenschaft. Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Williy«, sagte sie schmollend, »Ihr Schweigen ist nicht sehr ermutigend.« »Liebe Hannah«, antwortete er und legte ihr die Hand auf die Schulter, »Sie dürfen mir das nicht übelnehmen. Es ist durchaus möglich, daß ein Mensch, der unglücklich ist, durch irgend einen günstigen Zufall eine Frau glücklich macht, aber solch ein Glück entspringt nur einer Laune des Schicksals. Es würde nicht lange dauern. Infolgedessen — vergeben Sie mir.« »Oh, Willy!« sagte sie vorwurfsvoll. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er wandte sich ab. In diesem Augenblick wäre die schönste Frau der Welt — Phryne, Kleopatra, die trojanische Helena — nicht imstande gewesen, ihn auch nur um Haaresbreite von dem Weg abzubringen, den er sich vorgenommen hatte. Hannah vernahm ein leises, knackendes Geräusch und sah, wie William Durand den Kopf zurückbog. Sie stieß einen Schrei aus. Aus der Hand des letzten Weißen fiel eine Glasampulle, die auf dem Trottoir in tausend Splitter zersprang. Er sah sie mit traurigem Lächeln an. »Ich konnte nicht anders«, sagte er und hob die Augen zu Manettes Fenster empor. »Mein Gott«, murmelte sie, »und ich habe Sie veranlaßt, hierher zu gehen!« »Es ist besser so, Hannah. Sie werden mit Frankie zurückkehren, und ihr werdet versuchen, die Narren zur Vernunft zu bringen, die einen neuen Krieg wollen.« »Es ist nicht wahr, Willy, Sie dürfen nicht sterben!« »Ich fürchte doch, Hannah, ich fühle schon eine Schwere in den Beinen, und wenn Sie gestatten, werde ich midi setzen.« Er ließ sich auf der Stufe von Manettes Hauseingang nieder, und Hannah konnte sich eines Schauders nicht erwehren, als sie gerade über dem Haupt des letzten Weißen das schwarze Kreuz sah, das zur Zeit der Pest dort aufgemalt worden war. Er litt nicht, er fühlte nur langsam seine Glieder erstarren. Aber er hatte noch Kraft, seine Augen emporzurichten. Der Nachmittag neigte sich dem Abend zu. Der Himmel war von einer durchsichtigen Bläue, einer Zartheit, einer süßen, milden Unendlichkeit, die alle Entfernungen aufhob und die Silhouette der Häuser noch klarer erscheinen ließ. Er dachte an den Abendhimmel über Avalion, wenn die Musik im Pavillon des Stadtparks spielte. Er sah plötzlich die kleine Marie-Jeanne wieder, mit ihrer hellen zarten Haut, den großen dunklen
Augen, in denen zuweilen ein lustiges, schelmisches Lächeln blitzte. Er sah seinen Vater wieder vor sich, der sechs Jahre Uniform getragen hatte und glaubte, daß die Menschheit »endlich begriffen« hätte. Er sah den jungen Antoine vor sich, in kurzen Hosen, mit seinen Sommersprossen im Gesicht, den ehrenwerten Pipin den Kurzen, der trotz seines Philisterbauches sich keinen Illusionen hingab, und die unausgeprägten Züge zweier kleiner Kinder, die die seinen gewesen waren. Er sah auch den Schirrmeister Mousseaux, den allzeit fröhlichen Kameraden aus dem vierten Weltkrieg, wieder, wie sie sich beide in den glitschigen Graben warfen und er »Verdammte Scheiße!« schrie. Und dann andere Gesichter, den Professor Balanche, den Neger Jonathan. Sogar Gesichter von Unbekannten, die ihm einmal auf der Straße irgendwo begegnet waren und die er in seinem Unterbewußtsein bewahrt hatte, zogen lächelnd oder ernst im Taumel an ihm vorüber. Das Merkwürdigste war, in diesem Bilderbuch seines Lebens fehlte Manette! Hatte er ihr nicht die Beklemmung zu verdanken, die nun sein Herz ergriff, dieses sonderbare Gefühl, das sich seiner nach und nach bemächtigte, und den dunklen Schatten, der sich lange vor der Dämmerung langsam über die Helle eines Sommernachmittags breitete? Endlich erschien sie ihm flüchtig, und er fand in ihr die Manette ihres letzten Zusammenseins wieder, jene Manette, die damals meinte, der Professor Balanche müßte wohl schon »über das Alter hinaus sein«, weil er, als die weiße Pest ihren Höhepunkt erreicht hatte, den Männern in ihren Beziehungen zu den Frauen Enthaltsamkeit empfahl. »Wenn das so ist«, sagte sie, »dann werden wir das eben auf dem Mars nachholen.« Sie dachte in der Tat daran, das dort nachzuholen, aber mit Antoine. »Willy«, begann Hannah wieder, »sagen Sie mir, daß Sie mich nur erschrecken wollten, daß Sie das Gift gar nicht genommen haben.« Er wandte ihr den Blick zu und versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht. Er wollte den Arm heben, aber die Muskeln versagten den Dienst, er wollte sprechen, doch die Zunge war gelähmt. Aber dann leuchtete ein tiefer seltsamer Friede aus seinen unbeweglichen Augen, seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. Und Hannah Pierce wurde von heiliger Scheu erfaßt, sie begriff, daß der letzte Weiße in die ewige Nacht hinübergeschlummert war.