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G.F. UNGER Ein Begriff für Western-Kenner G.F. UNGER ist der erfolgreichste WesternSchriftsteller Deutschlands. BASTEI-LÜBBE veröffentlicht in dieser Reihe exklusiv seine großen Taschenbuch-Bestseller.
Der letzte Wolf Sieben Brazos-Lobos überfallen die Lonestar Ranch in Texas. Sie töten alle Menschen, die dort leben, auch die Eltern von Ben Garylord. Als Ben heimkehrt und das Massaker entdeckt, schwört er Rache und setzt sich unverzüglich auf die Fährte der Mörder. Einen nach dem anderen vermag er zu stellen und zur Rechenschaft zu ziehen. Auch den Letzten der sieben Brazos-Lobos stellt er. Doch dann ist alles anders, denn dieser letzte Wolf ist an seinen Komplizen nicht zu messen …
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 43 367 1. Auflage: Juni 2001 Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe All rights reserved © 2001 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Lektorat: Will Platten Titelillustration: Manuel Prieto/ Norma Agency, Barcelona Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg Satz: Fotosatz Steckstor, Rösrath Druck und Verarbeitung: AIT, Trondheim AS, Norwegen Printed in Norway ISBN 3-404-43367-X Sie finden uns im Internet unter http://www.bastei.de oder http://www.luebbe.de Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer
1 Als Lily erwacht, steht der Mann an ihrem Bett. Die Petroleumlampe brennt auf niedrigem Docht. Im schummrigen Licht des Hotelzimmers mustert Lily den Mann eher gelassen. Sie ist keine Frau, die gleich zu kreischen beginnt. Im Gegenteil, sie weiß die Männer zu umgarnen. So sagt sie schlicht: »Vielleicht haben Sie sich ja nur im Zimmer geirrt, Bruder.« Sie liegt verführerisch da, halb auf der Schlafdecke. Das dünne Nachthemd lässt mehr erkennen, als es verbirgt. Sie macht nicht den Versuch, die Lage ihres geschmeidigen Körpers zu verändern. Well, die begehrenswerte Lily Ballard ist sich ihrer ›Waffen‹ durchaus bewusst. Und der große Mann vor dem Bett gefällt ihr. Ja, er gehört zu jener Sorte, die sie von jeher anzog. Der Bursche ist dunkel wie ein Indianer, trägt einen Sichelbart und hat graue Augen und ein paar Narben an Stirn und Kinn. Sie muss unwillkürlich an einen Wolf denken. Und sie kennt sich aus mit Wölfen. Denn dort, wo sie aufwuchs, da heulten nachts die Wölfe um die Hütte. Und sie selbst hat schon als Mädchen so
manchen Wolf erschossen – damals, als sie noch barfuß die Schafherde der Sippe bewachen half. Aber das ist lange her. Jetzt besitzt die schöne Lily eine Menge teuerster Schuhe – und noch eine Menge mehr. Sie trägt auch eine wertvolle Goldkette mit einem hübschen Anhänger. Dessen Stein ist ein großer Rubin. Er bildet zu ihrer weißen Haut einen starken Kontrast. Der Mann streckt die Hand aus und winkt mit dem Zeigefinger. »Ich möchte die Kette mit dem Anhänger. Gib her, Schwester. Ich möchte ihn dir nicht vom Halse reißen. Verstehst du?« In der Stimme des Fremden ist ein grimmiger Tonfall. »He – nur ein ganz gewöhnlicher Bandit, der sich nachts in die Zimmer schleicht und stiehlt?«, fragt sie enttäuscht. Er grinst ohne jede Freundlichkeit. Seine Zahnreihen blinken. Es ist eher ein grimmiges Zähnezeigen als ein Lächeln. Er sagt: »Kein Dieb, Schwester. Das Ding gehört meiner Mom. Und jener Bursche, der es ihr wegnahm, ist wahrscheinlich auch ihr Mörder, zumindest aber beteiligt am Mord an meinen Eltern.« Sie bekommt für einen Moment große Augen. Es sind recht bemerkenswerte Augen. Sie sind etwas schräg, grün und wirken katzenhaft. Als sie
sich aufsetzt, geschieht das mit einer katzenhaften Bewegung. Sie nestelt an der Schließe im Nacken und reicht ihm die Kette samt Anhänger. »Tut mir Leid«, sagt sie dabei. »Aber das konnte ich nicht wissen. Ich kenne den Mann, der sie mir schenkte, erst drei Wochen. Du wirst lachen, Bruder – wenn du in diesem Zusammenhang überhaupt lachen kannst –, aber ich glaube dir jedes Wort. Ich weiß fast immer, wenn ein Mann die Wahrheit sagt. Es tut mir Leid.« Er nimmt Kette und Anhänger, behält beides in der Hand, schließt diese fest, so, als wollte er damit auch noch etwas anderes festhalten. Dann nickt er. Schließlich dreht er die Flamme der Lampe etwas höher, so dass die Helligkeit bis in den letzten Winkel des noblen Hotelzimmers fällt. Er sieht sich um. »Vielleicht kann ich dir helfen, Bruder«, sagt Lily Ballard. Er betrachtet sie kritisch. Ja, sie ist eine von diesen Abenteurerinnen, die oftmals mit einem Partner durch diese Welt ziehen, ein Pärchen bilden, welches ständig auf der Jagd ist nach irgendwelcher Beute. Der Mann, mit dem sie dieses Zimmer bewohnt, sitzt drüben in der Spielhalle und spielt jetzt schon die zweite Nacht mit einigen anderen
harten Burschen Poker. Und die Einsätze sind hoch. Es gibt kein Limit. Die Raubkatze da im Bett konnte nicht mehr wachbleiben. Sie zog sich zurück. Aber sie erwachte bald schon, so müde sie auch war. Ihr Instinkt warnte sie vor dem Fremden im Zimmer. Nun sagt er: »Dieser Bursche, dem du gehörst, muss noch etwas anderes bei sich haben. Hübsche Schachfiguren aus Gold. Wo hat er die Dinger?« Sie schließt einen Moment die Augen, schluckt etwas mühsam und nickt dann. »Der Koffer«, sie deutet in die Ecke, »hat einen doppelten Boden. Da sind solch ein paar Dinger. Aber es sind nur die kleinen Bauern.« Er erwidert nichts. Aber er holt den Koffer aus der Ecke, stellt ihn auf den Tisch und öffnet ihn. Bald schon hält er die kleinen Figuren in der Hand. Sie sind klein und schwer. Ja, sie sind aus purem Gold. Es sind die kleinen Bauern eines Schachspiels. Er sieht Lily Ballard an. »Dieses Schachspiel gehörte meinem Vater«, sagt er. »Guerillas überfielen damals unsere Ranch in Texas. Sie töteten fast alle Menschen dort und raubten, was sie nur bekamen an Wertsachen, die man leicht mitnehmen konnte. – Es war schon einige Wochen nach dem Krieg. – Wie ein Wolfsrudel kamen sie – und ebenso
verschwanden sie wieder. – Ich habe lange gebraucht, die Fährte zu finden.« Er macht eine kleine Pause. »Wie heißt du, Schwester?« Sie sitzt jetzt kerzengerade im Bett und hat ihre festen Brüste vorgeschoben. Sie leckt sich über die Lippen und erwidert: »Lily – Lily Ballard. Und was wirst du mit Bac McGill tun? Du weißt natürlich schon, dass er drüben beim Poker sitzt. Du bist nur hergekommen, um Beweise zu finden. Und dieser Anhänger von deiner Mom und die Schachfiguren deines Vaters sind für dich Beweise, nicht wahr?« Er nickt. »Sein Name ist nicht Bac McGill«, sagt er. »Er hieß damals anders. Aber was sind schon Namen?« Er wendet sich zur Tür. »Und was wirst du mit ihm tun?« Er hält inne, blickt über die Schulter, und er scheint ihre körperlichen Reize gar nicht zu bemerken. »Du wirst bald einen anderen Gefährten finden«, sagt er. »Und du hast gewiss schon mehr als einen dieser Burschen unerwartet verloren, nicht wahr? Rechne nicht mehr mit ihm. Als Witwe betrachtest du dich wohl nicht, wenn er tot ist.« Er geht hinaus. Und sie sitzt still im Bett.
Dann seufzt sie und sagt: »Verdammt! Warum fall ich immer wieder mit diesen Burschen rein? Ich glaube immer wieder, dass ich an einen ewigen Sieger gerate – und irgendwann ist er dann plötzlich ein Verlierer.« Sie überlegt, ob sie versuchen soll, Bac McGill zu warnen oder gar Partei für ihn zu ergreifen. Sie kann mit einer Waffe recht gut umgehen. Ja, sie könnte sehr wohl etwas für ihren Partner tun. Doch sie schüttelt den Kopf. Nein, diesen Texaner möchte sie nicht in den Rücken schießen, um McGill zu retten – nein. Sie wendet den Kopf und blickt aus dem Fenster. Draußen ist der graue Morgen. Bald wird die Nachtpost hier durchkommen, um das Gespann zu wechseln. Sie könnte, wenn sie ihre Siebensachen rasch zusammenpackt, diese Postkutsche noch erreichen. Für einen Moment spürt sie ein Bedauern. Bac McGill war ein Spieler. Doch sie verstand sich gut mit ihm. Er war ein stattlicher zweibeiniger Wolf, ein zärtlicher Liebhaber. Auch befand er sich als Spieler offenbar in einer Glückssträhne. Es ging ihnen gut. Sie konnten sich eine Menge leisten. Ja, sie verspürt ein Bedauern. Und sie wusste die ganze Zeit, dass es in seiner Vergangenheit ein paar schlimme Dinge
gab und er schwarze Schatten auf seiner Fährte hatte. Denn nirgendwo blieben sie lange. Dass er jetzt schon die zweite Nacht am Pokertisch sitzt, war gewiss sein Fehler. Sie überlegt, ob er gegen diesen Texaner, dessen Namen sie nicht mal kennt, eine Chance hat mit dem Colt. Oh, sie weiß, dass McGill schnell ist mit dem Colt, so schnell wie ein Zauberkünstler. Doch dieser Texaner wird ihn töten. Sie weiß es einfach. Ein untrüglicher Instinkt sagt es ihr. Und so beeilt sie sich, fortzukommen aus dieser Stadt. Sie gibt Bac McGill einfach auf, wie schon oftmals irgendwelche Dinge und Weggefährten. Ja, sie ist vielleicht doch nichts anderes als eine streunende Katze. Die kleine Stadt heißt Warbow. Der Mann, dessen Namen die Frau nicht kennt, betritt den Spielsaloon, durchquert den großen Hauptraum und betritt das Hinterzimmer. Fünf Mann sitzen hier beim Poker. Es sind gewiss wichtige und einflussreiche Männer, denn sie spielen ohne Limit. Auf einem kleinen Nebentisch sind Getränke und kalte Speisen aufgebaut. Die Spieler blicken auf den Eintretenden.
Jemand sagt: »Dies ist eine geschlossenen Partie, Mister.« Aber der Neuankömmling achtet nicht auf die Mahnung. Er sieht nur einen der Spieler an und sagt: »Roy Hacket – du warst damals einer der Brazos-Lobos, nicht wahr? Hier!« Er wirft mit der Rechten die goldenen Schachfiguren auf den Tisch. Es gab auch noch silberne zu diesem Spiel. Doch die waren den Banditen nicht wertvoll genug. »Auch den Anhänger meiner Mutter habe ich gefunden«, spricht er wieder. »Die Frau, mit der du zusammen bist, trug ihn. Nun, steh auf und zieh!« Das tut jener Bac McGill, der in Wirklichkeit Roy Hacket heißt. Er erhebt sich mit einer geschmeidigen Bewegung und umfasst mit seinen Fingern leicht seine Jackenaufschläge. »Du bist Ben Garylord?«, fragt er. Dann setzt er hinzu: »Ja, ich hörte schon, dass du hinter uns Brazos-Lobos her bist. Einer von uns, den du in der Klemme hattest, erzählte dir eine Menge über jeden von uns. Na gut, dann …« Weiter spricht er nicht. Denn die kleinen Revolver schnellen ihm aus den Sprungholstern fast von selbst in die Hände. Er musste nur mit der Innenseite seiner Oberarme fest dagegen drücken, um die Federn ausrasten zu
lassen. Solche Sprunghalfter sind raffinierte Dinger. Aber dennoch ist er nicht schnell genug. Schon die erste Kugel Ben Garylords trifft ihn ins Herz. Die Entfernung beträgt ja auch nur vier Yards. Er fällt über den Tisch. Pulverrauch breitet sich aus. »Es tut mir leid, Gentlemen«, sagt Ben Garylords Stimme heiser, »dass ich Ihre Pokerrunde stören musste. Doch dieser Mann gehörte zu einer Bande von zweibeinigen Wölfen, die unsere Ranch überfielen und meine Eltern töteten. Sie werden sicherlich verstehen, Gentlemen, dass er mir Genugtuung zu geben hatte – oder?« Sie starren ihn an, und sie sind harte Burschen, die es in einem wilden und oft gnadenlosen Land zu etwas brachten. Nacheinander nicken sie. Einer sagt: »Ja, er war ein gestellter Mann, der sich den Weg freischießen wollte. Wir hätten nur gern herausgefunden, ob er ein Falschspieler ist.« Ben Garylord gibt ihnen keine Antwort. Er nimmt die Schachfiguren vom Tisch und wendet sich zur Tür. Erst dort verhält er noch einmal. »Wenn er soviel gewonnen hat«, sagt er, »wird wohl Geld übrig sein für die Beerdigung.«
Damit verschwindet er. Die Männer starren noch auf die Tür. Einer sagt: »Der jagt Lobos und ist selbst einer. Aber was diesen Burschen hier betrifft, nun, da hätte ich wirklich gerne gewusst, ob er manchmal, wenn sein Kartenglück vorbei zu sein schien, mit einem Trick nachhalf. Aber das werden wir wohl nie erfahren – oder?« Ein Mann kommt herein, der den Stern eines Town Marshals trägt. Sie grinsen ihn an. Einer sagt: »Oven, du kommst wieder einmal reichlich spät. Aber diesmal bekommst du keinen Ärger. Dieser Bursche hier am Boden griff zuerst zur Waffe. Er zauberte gleich zwei aus raffinierten Sprungholstern und war dennoch nicht schnell genug. Der andere Mann wurde von ihm Ben Garylord genannt. Wir sahen noch nie einen schnelleren Revolvermann. Oven, wir werden bei der Leichenschau aussagen, dass dieser Ben Garylord ziehen und schießen musste, um nicht selbst getötet zu werden. Denn er hatte hier einen Banditen gestellt. Er warf ihm Mord an seinen Eltern vor. Und da wollte sich der Bursche den Weg freischießen. Verstanden, Oven?« Der Town Marshal nickt. »Wenn ihr es sagt …«, murmelt er. Er blickt auf den Toten. Unter dem leblosen Körper liegt eine Menge Geld. Es gehört zum so genannten ›Pokertopf‹, also den Einsätzen der Spiele.
Der Town Marshal leckt sich über die Lippen. »Und was ist mit dem Geld?« »Das sind unsere Einsätze«, sagt einer der Männer. »Wir werden sie unter uns aufteilen. Schließlich ging das Spiel ja nicht zu Ende.« »Und sein Einsatz?« Wieder grinsen sie, denn sie sind hartgesottene Burschen. »Wir sind fünf«, sagt dann einer. »Also einigen wir uns auf ein Fünftel, Oven, nicht wahr?« Ben Garylord ist kurz vor Mitternacht gekommen auf seinem müden Pferd. Er stellte es im Mietstall ein, ließ es abreiben und füttern. Als er nun den Nachtmann weckt, ist der graue Morgen da. Der Nachtmann brummt unwillig. Aber Ben Garylord scheint es gar nicht zu hören. Er reitet auf die staubige Wagenstraße und schwenkt nach Süden ein. Er muss durch die ganze Stadt reiten. In Ben Garylord ist Bitterkeit. Nein, er verspürt keine Genugtuung. Er hat getötet. Und er weiß, dass er noch weitere Männer töten wird, es sei denn, er will die Mörder seiner Eltern und anderer unschuldiger Menschen davonkommen lassen. Manchmal ist er schon versucht, dies zu tun.
Denn er kommt sich manchmal wie Richter und Henker in einer Person vor. Aber dann wieder sagt er sich, dass er diese Brazos-Lobos nicht davonkommen lassen darf. Sein Pferd hat sich in den drei oder vier Stunden im Mietstall gut erholt. Er sitzt ziemlich zusammengesunken im Sattel. Als er das Hotel erreicht, kommt Lily Ballard heraus. Sie schleppt schwer an zwei Koffern und will die paar Schritte zur Bank an der Hauswand entlang gehen. Denn hier wird die Morgenpost aus Santa Fe halten, nachdem sie im Wagenhof beim Mietstall und der Schmiede binnen weniger Minuten ein frisches Gespann bekam. Lily Ballard stellt die Koffer neben die Bank und sieht sich nach dem einsamen Reiter im Morgengrauen um. Sie erkennt ihn wieder. Er hält an und blickt vom Sattel aus auf sie nieder. »Ist er tot?«, fragt Lily Ballard mit belegter Stimme. »Hat er gekämpft wie ein Mann – oder haben Sie ihn einfach abgeknallt?« »Er ist tot«, erwidert er. »Und er hat nicht viel getaugt, Schwester.« »Vielleicht habe ich deshalb so gut zu ihm gepasst«, sagt sie trotzig. Er zieht die Schultern hoch. »Vielleicht«, murmelt er, »was weiß ich schon über dich, Schwester. Viel Glück!« Er will weiter, hebt schon die Zügel.
Aber sie fragt schnell: »Und hinter wie vielen bist du noch her?« Zuerst sieht es so aus, als wollte er nicht antworten. Doch es gibt offenbar etwas zwischen ihnen – etwas, was man nicht beschreiben kann, irgendeine gemeinsame Empfindung. »Noch fünf«, sagt er langsam. »Es waren sieben. Und ich werde die Jagd erst nach dem letzten Wolf beenden. Der erste hat mir viel über das böse Rudel erzählt. Ich kenne sie alle genau und werde sie finden. Viel Glück, Schwester.« Er reitet weiter. »Du tust mir leid, Mister! He, du tust mir verdammt leid. Deine Mom würde nicht wollen, dass du dich aus Rache zum Richter und Henker machst. Du tust mir leid«, ruft sie ihm nach. Aber er sieht sich nicht mehr um. Er reitet aus der Stadt. Vor dem Saloon steht der Town Marshal und betrachtet ihn. Aber er sagt nichts. Er lässt ihn reiten. Der Town Marshal hat jetzt eine Menge Geld in der Tasche, nämlich ein Fünftel vom Geld des Toten. Er verspürt sogar eine gewisse Dankbarkeit gegenüber dem Fremden. So ist das nun mal in diesem Land. Das wirkliche Gesetz – zum Beispiel vertreten durch einen Sheriff oder einen US Marshal – ist noch weit, weit entfernt. Und auch einen Gerichtshof
gibt es erst im mehr als dreihundert Meilen entfernten Santa Fe. Dieser Town Marshal ist ein einstiger Maultiertreiber, den die Stadt einstellte, damit sich jemand um die primitivsten Dinge kümmert, zu denen nun auch die Bestattung eines fremden Toten gehört. Oven ist froh, dass der Fremde fortreitet.
2 Die Sonne steht noch nicht hoch, als die Postkutsche den Reiter überholt. Lily Ballard blickt durchs Fenster. Ihr Blick begegnet dem des Reiters. Aber sie sehen sich nur an, lächeln nicht. Wahrscheinlich, so glauben sie, werden sie sich nie wieder begegnen. Als die Postkutsche in der Ferne verschwindet, denkt er noch eine Weile über die junge und reizvolle Frau nach. Was hat sie dazu gebracht, solch ein Leben zu führen? Warum zieht sie mit Burschen wie diesem Roy Hacket durch die Welt, Burschen, deren richtigen Namen sie manchmal nicht einmal kennt? Und an was für einen Kerl wird sie nun geraten? Der Wagenweg führt nach Süden zu durch das ganze Rio Grande Valley nach El Paso. Ob sie bis El Paso in der Kutsche bleibt? Diese Fragen stellt er sich. Eine Stunde später sieht er die Kutsche wieder. Sie liegt umgekippt in einem Hohlweg zwischen Felsen und Dornenbüschen. Der Fahrer und sein Begleitmann sind tot, ebenso auch zwei männliche Fahrgäste. Ein alter
Mann und zwei Frauen sind noch am Leben. Eine der beiden Frauen ist Lily Ballard. Sie tritt ihm entgegen. »Dies ist ein Mistland«, sagt sie, »voller Strolche und Mörder. Das war eine üble Bande. Sie sagten, dass sie Hunger hätten und niemand ihnen Arbeit gäbe. Sie haben auch die Pferde ausgespannt und mitgenommen, dazu unser ganzes Gepäck. Sie sagten, dass sie alles gebrauchen könnten, selbst meine Unterhosen. Denn für alles bekämen sie einen Gegenwert. Sie haben alle Männer getötet, die sich zur Wehr setzten. Oh, diese Schweine! Man müsste sie hängen, sobald …« Nun hält sie inne. Jäh bekommt sie sich wieder unter Kontrolle. Sie macht eine leichte Handbewegung. »Ach, was jammere ich hier herum«, spricht sie verächtlich zu sich selbst. »Jammern hilft nichts, gar nichts. Ich komme schon wieder auf die Beine. Zwei Koffer voller Zeug bekomm ich schnell wieder zusammen. Und mehr verlor ich ja nicht – nur zwei Koffer. Werden Sie uns helfen, Mister?« Sie redet ihn nun sehr förmlich an. Er betrachtet den alten Mann und die andere Frau. Letztere ist offenbar die Tochter des Alten und dennoch älter als Lily Ballard. »Die nächste Pferdewechselstation kann nicht mehr weit sein«, sagt er zu dem alten Mann. »Nur
noch ein paar Meilen. Ich reite hin und schick euch jemand. Oder ich komme selbst mit einem Wagen und hole euch. Ihr könnt euch darauf verlassen.« »Ich könnte hinter dem Sattel mitreiten«, sagt Lily Ballard. Er zögert, sieht auf den alten Mann und dessen Tochter. Die nicken beide. »Sicher«, sagt der Alte. »Die haben vielleicht nur einen kleinen Wagen. Und wir müssen doch wohl auch die Toten mitnehmen. Ich kannte den Fahrer. Er war ein braver Bursche. Wenn sein Begleitmann nicht versucht hätte, die Schrotflinte abzufeuern, hätten die Mistkerle nicht zu schießen begonnen. Nehmen Sie die Lady nur mit, Mister. Wir sind Ihnen sehr dankbar.« Er wendet sich ab und geht zu einem Stein, um sich niederzusetzen. Seine Tochter sagt etwas bitter: »Sicher, Fremder – die da haben Sie gewiss lieber auf Tuchfühlung hinter sich. Ich bin ja wohl nicht mehr Ihr Jahrgang.« Nach diesen Worten wendet auch sie sich ab. Ben Garylord macht einen Steigbügel frei und hält Lily Ballard eine Hand hin. Was er scheinbar so unhöflich tut, ist eine Probe. Er will herausfinden, ob sie sich auskennt wie eine Reiterin. Dies lässt Rückschlüsse zu, wie sie einst aufwuchs. Sie rafft ihre Röcke bis weit über die Knie.
Er blickt auf ihre Beine nieder, und sie sind makellos. Dann hebt sie ihren Fuß, schiebt ihn in den Steigbügel und ergreift seine Hand. Sie stand dabei mit Blickrichtung zum Hinterteil des Pferdes. Nun schwingt sie das äußere Bein über den Pferderücken, dreht dabei den Steigbügel, indes sie sich hochstemmt und von ihm zugleich auch hochgezogen wird. Ja, sie versteht das Aufsitzen hinter einem Reiter wie ein erfahrener Cowboy. Als sie hinter ihm sitzt, nimmt sie den Fuß aus dem Steigbügel, so dass dieser sich wieder zurückdrehen und Garylord seinen Fuß hineinschieben kann. Er spürt die Hände der schönen Lily. Sie hält sich an seinem Gürtel fest. Als er anreitet, passt sie sich sofort den Bewegungen des Pferdes an. Eine Weile reiten sie schweigend auf der staubigen Wagenstraße weiter. Dann sagt er über die Schulter: »Schwester, mir scheint, dass du zur Zeit in einer Pechsträhne steckst.« »Das scheint mir auch so«, erwidert sie hinter ihm dicht an seinem Ohr. »Und diese Pechsträhne begann in jenem Moment, als du bei mir im Zimmer an meinem Bett gestanden hast wie ein Einbrecher.« »An eurem Bett«, verbessert er. »In eurem Zimmer und an eurem Bett. Ich war hinter ihm
her, nicht hinter dir. Du hattest dir nur den falschen Mann ausgesucht.« »Diesen Fehler mache ich immer«, erwidert sie. »Dafür habe ich eine ganz besondere Begabung. Das ist, wie wenn einer in ’nen Korb voller Nüsse greift und die einzige taube erwischt. Das ist mein Schicksal. – Aber du musst doch zugeben, dass dieser Bac McGill …« »Er hieß Roy Hacket«, verbessert er sie, aber sie spricht ungerührt weiter: »… recht stattlich und beeindruckend aussah, ganz wie ein Mann, der mehr als nur durchschnittlich ist. Mit dem konnte man sich überall sehen lassen. Und als ich ihn kennenlernte in Denver, hatte er gerade die große Glückssträhne. Wir konnten uns eine Menge leisten. – Wie fandest du überhaupt seine Fährte und schließlich ihn?« Er schweigt noch eine Weile, so, als wolle er gar nicht antworten. Sie sagt deshalb etwas schnippisch: »Aaaaah, was geht mich das an? Du hast schon Recht, wenn du mir keine Antwort gibst, Mister.« Da sagt er: »Es war einfach, ihn zu finden. Ich hatte seine Beschreibung, wusste ziemlich sicher, dass er nach Denver ging und ein Spieler war. Nach Denver ging er, weil in diesem Goldgräbercamp für einen hartgesottenen Spieler genug Dumme zu finden waren und auch überall reichlich der Dollar rollte oder zumindest Goldstaub als Zahlungsmittel galt. Und von
Denver war eure Fährte dann gut zu verfolgen. Ihr machtet in jedem Ort Halt, in dem es einen Saloon mit Spielzimmer gab. Er nahm überall die Burschen aus, die glaubten, sich gegen einen Kartenhai behaupten zu können. Nur hier hatte er wohl nicht das große Glück. Er kämpfte schon die zweite Nacht am Spieltisch mit wechselndem Erfolg. Ja, ich sagte kämpfte. Denn für ihn war es stets ein Kampf, kein Spiel, sondern Kampf, den er gewinnen musste – gleich wie.« Sie schweigen nach seinen Worten lange. Als sie über eine Bodenwelle kommen, sehen sie vor sich die Relaisstation der Post- und Frachtlinie des Rio Grande Valley. Als sie heranreiten, kommen ihnen der Agent und die beiden Gehilfen entgegen. Zur Poststation gehört auch ein kleiner Store, bei dem einige Gestalten hocken, Mexikaner, Halbbluts, Satteltramps. Der Postagent sagt: »Ist was mit der Kutsche? Sie ist längst überfällig.« Ben verlässt schon bald die Station, reitet weiter. Nach einer Meile hört er Hufschlag. Als er sich umwendet, sieht er Lily Ballard kommen. Sie hat ihr Kleid gegen einen Reitrock und eine Flanellbluse vertauscht. Offenbar bekam sie das Zeug im Store der Station. Auch das Pferd, auf dem sie sitzt, ist recht gut.
»Nimm mich mit nach El Paso«, verlangt sie. Er hat schmale Augen, hinter denen es funkelt. »Nein«, sagt er, »ich bin nicht der Mann, an den du dich hängen kannst. Ich reite allein meinen Weg. Ich kann nicht auf dich aufpassen, so schön du auch bist.« »So, bin ich das?«, fragt sie spöttisch. »Um so besser! Und glaub mir, ich werde einen guten Preis zahlen. Nein, nicht Geld! Mein letztes, welches ich als Notgroschen im Rocksaum trug, musste ich für Pferd, Sattel und Kleidung hergeben. Da half mir meine Schönheit nichts. Aber ich kann mit anderer Ware zahlen, Mister, wenn du mich mitnimmst nach El Paso. Na?« Er sieht sie grimmig an, indem sie Steigbügel an Steigbügel reiten. Und er missversteht ihr Angebot. »Mir ist nicht nach einer Frau, die mich mit Liebe für eine Gefälligkeit bezahlt, Schwester«, sagt er grob. »Reite allein deinen Weg. Lass mich zufrieden.« Ihr Lachen ist nun wütend, zugleich auch verächtlich. »Du Narr«, sagt sie, »du glaubst wohl, jeder kann mich haben, von dem ich etwas bekomme, ja? Oh, du Hammel! Für was hältst du mich eigentlich?« Er grinst. »War das vielleicht kein Angebot in dieser Art?«
»Nein, du Hammel«, erwidert sie böse. »Wenn ich sagte, dass ich mit anderer Ware zahlen kann als Ersatz für Geld, dann meine ich Informationen.« Nun hält er an. Denn sein Verstand arbeitet schnell. Wenn er auch soeben bei ihr einen Fehler machte aus der Bitterkeit und Verärgerung heraus, so ist er bestimmt kein Dummkopf. »He«, macht er nur. »Dann sag es! Dann bezahle mich! Wenn deine Ware etwas taugt, bekommst du den fairen Gegenwert. Also!« Auch sie hielt an. Nun leckt sie mit der Zungenspitze über ihre Oberlippe. Er betrachtet sie fest. Im Reitzeug gefällt sie ihm noch besser als in ihrem Reisekleid. Sie sagt: »Ich weiß, welcher von diesen Brazos-Lobos auch ein paar dieser goldenen Schachfiguren besitzt. – Als ich einmal Bac McGill, den du Roy Hacket nanntest, sagte, dass es geradezu ein Frevel wäre, ein solch wunderschönes Schachspiel auseinanderzureißen, da lachte er und sagte, dass er ja genau wüsste, wer die anderen Figuren hätte. Und wenn seine Glückssträhne beim Spiel anhielte, dann würde er sich mit diesen Leuten in Verbindung setzen und mir alle Figuren kaufen. Er sagte mir, dass wir ja auf dem Wege nach El Paso wären, und er dort schon einen alten Freund besuchen und dann die
ersten Figuren bekommen würde. Er nannte mir auch den Namen des Mannes.« Sie verstummt. Und Ben Garylord nickt ihr zu. »Sag ihn mir.« »Johnny Pritt.« Da schüttelt er den Kopf. »Ein Johnny Pritt war nicht bei den Brazos-Lobos. Er wird also in Wirklichkeit anders heißen. Aber wenn ich mir diesen Johnny Pritt vorgenommen habe, werde ich wissen, wer er in Wirklichkeit ist, besonders, wenn ich die goldenen Figuren bei ihm finde – und vielleicht auch etwas vom Schmuck meiner Mutter. Ich nehme dich mit nach El Paso, Schwester. Aber glaub nur nicht, dass du mir ein besonderes Geheimnis verraten hast. Ich wusste, dass ich einen Mann der Brazos-Lobos in El Paso finden würde. Ich weiß, wie er aussieht. Mal sehen, ob die Beschreibung auf jenen Johnny Pritt passt.« Sie sind noch zwei Tage und eineinhalb Nächte zusammen, denn der Weg nach El Paso ist weit. Aber er rührt sie die ganze Zeit nicht an! Er ist nicht der Bursche, der sich die Frau des Besiegten nimmt. Und die ganze Zeit ihres Beisammensein hat er das Gefühl, dass er sie gar nicht bekommen könnte, wenn er wollte. Sie würde sich wehren. Es ist Mitternacht, als sie in El Paso vor dem Mietstall absitzen.
Sie sagt zum Stallmann: »Vierzig Dollar für dieses Pferd samt Sattel.« Der Stallmann geht im Vorraum einmal um das Pferd herum, betrachtet es im Laternenschein. »Gemacht«, sagt er. »Gehört dieser Gent zu Ihnen, Lady? Seid ihr so abgebrannt, dass …« »Nein, wir gehören nicht zusammen«, unterbricht sie ihn. »Wir kamen nur zufällig zusammen hier an. Ich war in der Postkutsche, die vor zwei Tagen überfallen wurde. Dieser Gent nicht. Also, her mit den vierzig Dollar.« Die beiden Männer sehen ihr nach. Der Stallmann führt das Tier in eine Box, kommt dann zu Garylord, der inzwischen sein Bündel und die Satteltaschen abschnallte. »Die sah aus wie eine Göttin«, sagt der Stallmann. »Aber sie hat Haare auf den Zähnen, denke ich. Die weiß, was sie will. Ich denke, wir werden hier in El Paso noch von ihr hören.« Sie versorgen das Pferd dann gemeinsam, reiben es ab. »Geschäfte hier?«, fragt der Stallmann. »Vielleicht«, erwidert Garylord. »Gibt es hier einen Johnny Pritt?« Der Stallmann hält jäh inne in seiner Arbeit. Über den Pferderücken hinweg betrachten sie sich im Laternenschein. Dann nickt der Stallmann. »Ja, den gibt’s hier. Der hat sich bei Lola Montez eingenistet wie ein Wildkater im Katzenstall. Und niemand wagt sich
an ihn heran, niemand von all den rauen, großmäuligen Burschen, die sonst stets um Lola herumstreichen. Vor diesem Johnny Pritt fürchten sich alle. Aber ob man mit dem Geschäfte machen kann, Fremder?« »Mein Name ist Garylord. Wo finde ich Johnny Pritt?« »In Lola Montez’ Etablissement«, erwidert der Stallmann. »Immer die Hauptstraße entlang bis hinter den Hidalgo Saloon. Dann die dritte Gasse rechts.« Ben Garylord nickt nur. Als er geht, ruft ihm der Stallmann nach: »In Lolas Etablissement kommt man nur mit sauberem Zeug und nach einem Bad hinein. Sonst hat es keinen Zweck, anzuklopfen!« Ben Garylord grinst grimmig. Als er bei einem Barbier vorbeikommt, geht er hinein. Hier in El Paso sind alle Geschäfte und Läden bis in die Morgenstunden geöffnet. Indes er badet und die Haare geschnitten bekommt, reinigt ein Chinese seine Kleidung. Eine Stunde später macht er sich auf den Weg. Wegen Lily Ballard sind sie langsam geritten. Er ist nicht müde. Im Gegenteil, eine starke Spannung ist in ihm. El Paso ist eine lebhafte Stadt, irgendwie schon ein kleines Babylon der Grenze. Hier in El Paso ist die Verbindung zwischen Mexiko und dem amerikanischen Territorium.
Drüben in Mexiko ist noch Revolution. Dort versucht sich noch ein Kaiser österreichischer Abstammung mit Hilfe der Franzosen im Sattel zu halten. Dementsprechend ist hier auch in der größten Stadt an der Grenze immer etwas los. Frachtkarawanen lagern hier. Reiter, die sich am Krieg beteiligen wollen, verprassen hier ihr Handgeld oder ihre letzten Dollar. Flüchtlinge und Kriegsgewinnler, die drüben abgesahnt haben, machen hier Station. Waffenhändler und andere Geschäftemacher, die immer dort gut verdienen, wo Krieg ist, haben hier ihre Standquartiere. Einige Minen in der näheren und weiteren Umgebung haben wieder mit dem Abbau von gold- und silberhaltigem Gestein begonnen. Satteltramps und Banditen kommen nach El Paso.
3 Die Tür von Lola Montez’ Etablissement wird von einem riesenhaften Neger bewacht, einem von der Sorte, die einmal Preiskämpfer war und einem Herrn als Sklave gehörte. Für diesen Herrn mussten sie kämpfen, immer wieder, für Geld. Sie wurden gehalten wie Kampfhähne oder Rennpferde. Nun gibt es offiziell keine Sklaverei mehr. Vielleicht hasst der Riese nun die Weißen. »Sicher, Mister«, sagt er zu Ben Garylord, »Sie dürfen eintreten. Und Sie werden hier bei uns keinen verlausten Sattelstrolch finden – nur alles Gentlemen wie Sie. Lassen Sie sich an der Bar den Begrüßungsdrink geben und sehen Sie sich um. Wir haben hier den nobelsten Laden längs der Grenze. Viel Spaß.« Der Ton seiner Stimme ist gönnerhaft, so, als würde er Ben Garylord einen großen Gefallen erweisen. Und in seinen Augen funkelt der Spott. Ben Garylord grinst ihn an. »Sir«, sagt er, »ich weiß Ihre Freundlichkeit zu schätzen. Ich bin entzückt.« Da grinst der riesige Schwarze nicht mehr, sondern wirkt hart. Das Funkeln in seinen Augen wird drohend.
»Aaah, ein richtig höflicher, nobler, wohlerzogener Gentleman. Wie schön. Eines Tages wird noch der Gouverneur kommen – oder gar der Kaiser von Mexiko, wenn sie ihn drüben endlich zum Teufel gejagt haben. Aber keiner wird zu einem schwarzen Hundesohn so freundlich reden wie Sie, Sir. Darf ich Ihnen einen Drink spendieren? Ja, dann sagen Sie nur an der Bar Bescheid, dass ein Spezial-Drink auf meine Rechnung geht. Ich bin Bapote, Bob Bapote.« Er sagt es, als hätte dieser Name irgendeine Bedeutung. Aber Ben Garylord wendet ihm den Rücken, tritt durch einen mit seidenen Vorhängen bestückten Durchgang und befindet sich im großen Gästeraum. Rechts ist die Bar. Sie ist nicht groß. Aber das Mädchen hinter der Bar ist sehenswert. In der anderen Ecke spielt ein Mädchen Klavier. Und sie tut das wie eine Solistin, die schon mehr als einen Konzertsaal füllte. Es gibt noch einige andere Mädchen. Und alle sind sie allererste Klasse. Das sieht er mit einem einzigen Rundblick. Die männlichen Gäste haben es gut hier. Sie werden von schönen Frauen verwöhnt. Dieser ganze Laden hat Niveau. Eine Frau tritt zu ihm heran.
»Hey, Fremder«, sagt sie. »Willkommen in meinem Haus. Sie waren noch nicht hier, nicht wahr? Ich bin Lola Montez.« Er betrachtet sie, und er sieht, dass sie auf eine katzenhafte Art schön ist, rassig und schön. Es ist eine vitale Schönheit. Ihre grünen Augen bilden zu ihrem pechschwarzen Haar einen wundervollen Kontrast. Aber es sind schräge Katzenaugen. Sie hängt sich bei ihm ein. »Kommen Sie!« Sie lächelt zu ihm auf. »Wir nehmen einen Drink. Ich lerne meine Gäste gern persönlich kennen, bevor ich sie meinen Mädchen anvertraue. Wie sollen wir Sie hier anreden, Mister?« »Ben Logan«, sagt er und gibt seinen zweiten Vornamen als Nachnamen an. Sie erreichen nun die Bar und bekommen bald schon den Drink. Indes sie ihn nehmen und die Gläser an die Lippen führen, betrachten sie sich unverwandt. Er spürt die starke Ausstrahlung der Frau. Und er denkt: Aaaah, sie ist doch eigentlich nur eine bessere Bordellmutter, nichts anderes – wenn auch eine mit Niveau. Warum gefällt sie mir so? Verdammt, die kann doch gar kein Herz haben, was Männer betrifft. Bei diesen Gedanken leert er das Glas. Dann zeigt er es ihr. »Eigentlich«, sagt er, »bin ich geschäftlich hier. Ich bedauere mächtig, dass ich Sie enttäuschen muss. Und deshalb möchte ich den
Drink auch bezahlen. Wenn Sie mir dann sagen würden, wo ich Johnny Pritt finde?« Ihre grünen Katzenaugen werden schmal. »He, sind Sie ein Freund von ihm?«, fragt sie kehlig. Er hat das Gefühl, als ginge jetzt etwas von ihr aus, was irgendwie hinterhältig ist. »Ich sah ihn noch nie«, erwidert er. »Doch ich kannte einen Freund von ihm. Und dieser Freund vermachte mir einige goldene Schachfiguren. Sehen Sie – solche.« Er greift in die Tasche und holt die Figuren hervor, die er Roy Hacket abnahm. »Ich bin vernarrt in diese kleinen Kunstwerke«, spricht er dann weiter, indes sie auf die goldenen Figürchen starrt. Weil sie dabei nach unten auf seine Handfläche blickt, kann er ihren Gesichtsausdruck nicht sehen. »Ich möchte diese Schachfiguren gern komplett haben. Johnny Pritt soll welche besitzen. Ich möchte sie ihm abkaufen. Verstehen Sie?« Sie sieht zu ihm auf, und er ist über einen Kopf größer als sie. Er blickt in ihre grünen Augen und spürt dabei ihre ganze weibliche Ausstrahlung wie eine starke Kraft. Ihr grünes Seidenkleid ist von der gleichen Farbe wie ihre Augen, und es ist durchaus kein übertrieben freizügiges Kleid. Verdammt, denkt er, warum verdient sie ihr Geld mit Freudenmädchen? Warum ist sie als
Geschäftsfrau in diesem Gewerbe? Ob man sie für Geld auch selbst haben kann? »Mister Logan, ich weiß, dass Johnny Pritt einige dieser goldenen Schachfiguren besitzt. Aber er will jetzt gewiss nicht gestört werden. Denn er hat sich schon mit Sally zurückgezogen.« »Welches Zimmer?«, fragt Ben Garylord. Er fügt schnell hinzu: »Verzeihen Sie, Lady, doch es ist mir sehr wichtig, schnell mit Johnny Pritt ins Geschäft zu kommen.« Ihre Augen sind jetzt weit offen. Die feinen Flügel ihrer kleinen Nase vibrieren, so, als bekäme sie plötzlich eine scharfe Witterung. In ihrem Blick ist ein Staunen, so, als würde sie plötzlich etwas erkennen, was ihr zuvor entgangen ist – obwohl sie doch ganz sicherlich eine überaus erfahrene Frau ist. »Die Treppe hinauf und das hinterste Zimmer rechts«, sagt sie. Ben Garylord nickt dankend. Er will zur Treppe. Doch sie hält ihn sacht am Ärmel fest. Er blickt zur Seite auf sie nieder. »Vorsicht«, murmelt sie. »Wenn Johnny Pritt sich gestört fühlen sollte, dann schießt er vom Bett durch die Tür. Vorsicht, mein Freund.« Er lächelt. »Ich hielt Sie für die Chefin hier«, murmelt er. Ihre grünen Augen funkeln.
»El Paso ist voller Feiglinge«, erwidert sie. »Und Johnny Pritt ist ein Bursche, mit dem sich niemand anlegt – niemand!« Sie verstummt hart und bitter. In ihren Augen funkelt Hass. Aber das alles dauert nur einen Moment. Dann hat sie sich unter Kontrolle und ist wieder ganz die niveauvolle Gastgeberin eines noblen Etablissements, dessen Einrichtung nicht besser und schöner sein könnte und ein Vermögen gekostet haben muss – obwohl die alten spanischen Möbel gewiss aus den Haziendas der reichen Hidalgos stammen, dort von Revolutionären gestohlen und billig verkauft wurden. Ben Garylord geht langsam die Treppe hinauf. Es ist eine breite, starke Treppe, belegt mit einem dicken Läufer. Man hört seinen Schritt nicht – auch nicht oben auf dem Gang. Denn auch dort liegt ein langer Läufer, der seinen ohnehin geschmeidigen Schritt dämpft. Lola Montez, einige ihrer Mädchen und ein paar der anderen männlichen Gäste blicken ihm nach. Denn alle spüren sie irgendwie, dass etwas geschehen wird. Sie spüren, dass dies mit dem indianerhaften Mann zusammenhängen muss. Und als dieser Mann oben verschwunden ist, da blicken sie auf Lola Montez und erkennen, dass sie sich Sorgen
macht. Sie blickt immer noch nach oben und nagt dabei an ihrer Unterlippe. Indes geht Ben Garylord den Gang entlang. Bei aller Hagerkeit wiegt er gewiss nicht weniger als hundertachtzig Pfund, denn er ist ein groß gewachsener Bursche. Vor der letzten Tür rechts hält er inne. Nein, er klopft nicht. Das wäre naiv. Wenn dieser Johnny Pritt sich drinnen mit einem Mädchen vergnügt, dann will er nicht gestört werden und jeden Narren, der an die Tür klopft, zum Teufel wünschen. Ben Garylord verschwendet keinen Gedanken daran, die Sache mit Johnny Pritt zu verschieben. Er hat eine ungefähre Ahnung, wer dieser Johnny Pritt in Wirklichkeit ist. Unter den sieben BrazosLobos, hinter denen er her ist, gab es einen Johnny Mahoun. Ben Garylord sucht mit einem Bein festen Stand. Mit dem anderen tritt er die Tür auf. Er tritt mit dem Fuß dicht unter den Türknopf, also genau dorthin, wo Schlossfalle und Schlossriegel ins Schließblech führen. Es ist keine starke Tür. Das Blech knirscht aus dem Rahmen. Ben Garylord gleitet ins Zimmer. Er ist schnell wie ein Wildkater. Und dennoch ist er fast nicht schnell genug.
Wenn das aufkreischende Mädchen den Mann im Bett nicht so behindert haben würde, hätte dieser den Colt schnell genug in die Hand bekommen. Doch so ist Garylord schneller beim Nachttisch und schnappt sich die Waffe in letzter Sekunde. Der Mann brüllt auf wie ein Stier. Seine Wut bricht geradezu elementar los. Aber als er sich aus dem Bett auf den Eindringling werfen will, bekommt er den Lauf seines eigenen Revolvers über die Stirn. Es ist ein präziser Schlag, schnell und hart. Der Mann, der sich Johnny Pritt nennt, kracht mit dem Kinn auf die Bettkante. Das splitternackte Mädchen aber läuft kreischend auf den Gang. »Ein Verrückter! Oh, ein Verrückter! Ein verrückter Indianer ist hier!« Sie ruft es immer wieder, läuft offensichtlich im Evakostüm die Treppe hinunter. Unten lachen ein paar Gäste. Und dann kreischt das Mädchen wieder. »Warum lacht ihr über mich?! Weil ich nackt bin? Sollte ich mich vielleicht von diesem wilden Indianer umbringen lassen? Habt ihr noch keine nackte Frau gesehen? Wollt ihr nicht hinauf und diesen Wilden zum Teufel jagen?« Ben Garylord steht eine Weile still neben dem Bett und lauscht. Er kann jedes Wort dort unten hören.
Es bleibt eine Weile still. Dann sagt eine Stimme: »Der Hombre wollte zu Johnny Pritt. Und Johnny Pritt hat es nicht gern, wenn man sich in seine Angelegenheiten mischt. Er ist doch der große Bulle im Corral. Hey, der macht das schon! Der hilft sich immer selbst aus der Klemme.« Nach diesen Worten lachen sie wieder. Johnny Pritt kann dort unten nicht sehr beliebt sein. Ben Garylord dreht ihn auf den Rücken, betrachtet ihn und starrt auf seinen linken Unterarm. Um diesen Unterarm ist eine Schlange wie ein Armband tätowiert. Johnny Pritt ist wahrhaftig Johnny Mahoun. Als Garylord sich darüber klar wird, bedauert er nichts mehr. Er beginnt nach den goldenen Schachfiguren zu suchen. Als er bei der Tür ein Geräusch hört, wendet er sich um, hält Mahouns Colt schussbereit in der Hand. In der offenen Tür steht Lola Montez. »Die goldenen Figuren«, sagt sie, »sind dort in der linken Schublade des kleinen Schränkchens. Und wenn Johnny Pritt aufwacht …« »Er heißt Johnny Mahoun«, unterbricht er sie. »Und wenn er Ihnen irgendein recht kostbares Schmuckstück geschenkt haben sollte, welches durch prächtige Rubine besonders wertvoll ist, dann zeigen Sie mir es bitte. Es fehlen noch ein
Ring, ein Armband, Ohrringe und eine Spange aus dem Raub. Nur eine Kette mit Anhänger habe ich schon zurück. Na?« Sie sieht ihn starr an. Dann verschwindet sie. Und nach weniger als einer Minute kommt sie mit einem Armband zurück. »Könnte es dies sein?« Er hat inzwischen die goldenen Schachfiguren gefunden und in die Tasche gesteckt. Nun betrachtet er das Armband. Er holt den Anhänger aus seiner Hemdtasche und zeigt ihn Lola Montez. »Die gleiche Arbeit vom gleichen Goldschmied«, sagt er. »Es gehörte meiner Mutter. Die goldenen Schachfiguren sind vom Schachspiel meines Vaters. Meine Eltern wurden von Brazos-Guerillas ermordet, die sich BrazosLobos nannten. Dieser da ist der dritte …« Er bricht ab, denn Johnny Mahoun-Pritt dreht sich auf dem Bett. Er stöhnt und halt sich die Hände gegen den Kopf. Nach einer Weile setzt er sich auf und dreht sich so herum, dass er seine Beine aus dem Bett bringt und die nackten Füße auf das weiße Schaffell setzen kann. Er sieht auf Garylord und dann auf Lola Montez, die sich bis in das offene Türrechteck zurückgezogen hat.
»He, Grünauge«, sagt er zu Lola Montez, »hast du den herkommen lassen, damit er mich kleinmacht und dann hier rauswirft? Bist du so kleinlich aus Eifersucht, weil ich mir dann und wann schon mal eines deiner Honeys greife? Aaaah, hast du immer noch nicht begriffen, dass ich ein Bursche bin, der mit den üblichen Maßstäben nicht messbar ist? Sag schon was! Gib Antwort!« Weil Lola Montez keine Antwort gibt, sieht er Garylord an. »Dann sag du’s mir, Hombre«, verlangt er. »Ich bin Garylord«, sagt dieser. »Mein Vater besaß das Schachspiel mit den goldenen Figuren. Kapiert? Und du bist Johnny Mahoun. Joe Brown erwischte ich als ersten. Er verriet mir eine Menge über euch. Als zweiten erwischte ich Roy Hacket. Du bist der dritte Brazos-Lobo. Wenn du mir sagen kannst, wo ich die anderen finde – oder zumindest einen von ihnen –, bekommst du mit dem Colt eine faire Chance. Na?« Johnny Mahoun erhebt sich langsam. Er ist nackt bis auf die Unterhose. Und er ist ein großer, sehniger, rothaariger Bursche mit leuchtend blauen Augen. Er nickt langsam. »Oh«, sagt er, »in meiner Tasche ist ein Brief von Vance Palletty. Ich wusste, wo er zu Hause ist und lud ihn ein, herzukommen. Denn ich brauche allmählich jemanden, der mir den
Rücken deckt in dieser Stadt. Aber er schrieb mir, dass er nicht kommen könne, weil … Ach, was geht dich das an, warum er nicht kommt?! Ich wette, dass du den Brief nicht lesen wirst.« Ben Garylord nickt. »Die Wette halte ich«, sagt er. »Ich werde unten auf dich warten. Zieh dich an und vergiss den Colt nicht, wenn du runter kommst.« Er wirft die Waffe in die Ecke des Zimmers. Dann geht er hinaus. Lola Montez hält sich an seiner Seite. Sie hören Johnny Mahoun-Pritt hinter sich wie verrückt lachen, so, als wäre dies alles für ihn ein besonderer Spaß. Lola Montez sagt heftig an Garylords Seite: »Sind Sie verrückt, Ben Logan Garylord? Sie wollen ihm eine Chance geben? Der schießt Sie tot! Der hat hier in El Paso schon ein halbes Dutzend Männer erledigt. Und was ist, wenn er aus dem Fenster springt und draußen in der Dunkelheit auf Sie lauert?« »Er wird kommen und kämpfen« erwidert Garylord. »Er will der Bulle im Corral bleiben, dem sie alle aus dem Wege gehen.« Sie haben nun die große Halle erreicht. Alle Augen sind auf Lola Montez gerichtet. Sie sagt: »Sie werden gleich einen Revolverkampf austragen – hier unten.« Sie alle bleiben still, auch die Mädchen. Aber sie sehen ihn an und staunen.
Er geht zur Bar. Das Mädchen dahinter fährt mit der Zungenspitze über ihre Lippen. »Noch einen Drink, mein Freund?« Es ist ein warmer Klang in ihrer Stimme. Auch in den Augen des Mädchens erkennt er einen besonderen Ausdruck. Er begreift es schnell, und er denkt: Für die bin ich eine Art Drachentöter. Denn dieser Johnny Mahoun-Pritt ist hier der böse Drache, vor dem sie sich alle fürchten. Nun wünschen sie mir einen Sieg. Er nickt ihr zu. Und er bekommt den besten Whisky des Hauses. Das erkennt er schon an der Flasche. Es ist alter Bourbon, lange gelagert in Eichenfässern. Aber er nippt nur am Glas. Nein, er schüttet nicht zuviel davon hinunter. Denn sein Instinkt sagt ihm, dass er jetzt wahrscheinlich seinen schwersten Revolverkampf bestehen muss. Johnny Mahoun-Pritt hat sich hier eingenistet und führt das Leben eines Paschas, der auf jeden Wink sofort alle Wünsche erfüllt bekommt. Und niemand in ganz El Paso wagt sich an ihn heran. Er soll hier schon ein halbes Dutzend Männer getötet haben. Nun aber haben es alle anderen begriffen. Er muss mit dem Colt sozusagen unschlagbar sein.
Ben Garylord hält sich einen Moment lang für einen verdammten Dummkopf. Warum gibt er diesem erbarmungslosen Mörder eine Chance? Warum erweist er Mahoun die Gunst eines fairen Duells? Ist das nicht die schiere Dummheit? Denn wenn Mahoun ihn jetzt gleich tötet oder zum Krüppel schießt, dann kommen die andern Mörder seiner Eltern davon. Dann wird niemand von ihnen Genugtuung fordern. Doch dann denkt er: Wenn es eine ausgleichende Gerechtigkeit gibt, nun, dann werde ich am Leben bleiben. Er nippt noch einmal am Glas. Das Mädchen hinter der Bar flüstert plötzlich: »Da kommt er die Treppe herunter. Viel Glück, mein Freund – viel, viel Glück.« Er stellt das Glas ab und wendet sich der Treppe zu. Johnny Mahoun-Pritt verhält auf der letzten Stufe. Er ist nun angekleidet, und er wirkt sehr imposant, stattlich. Sein dunkler Anzug ist beste Schneiderarbeit. Er trägt ein weißes Seidenhemd mit schwarzer Schleife. Die Hemdbrust ist gefältelt, und aus den Ärmeln blitzt es ebenfalls weiß. Aber er hat die Jacke bis hinter die Revolverkolben zurückgeschoben. Die
Revolverkolben stehen etwas zur Seite. Die Halfter sind an die Oberschenkel geschnallt. Und sie sind steif, glattgeölt. Ja, schon an der Art, wie er sein ›Handwerkszeug‹ trägt, erkennt man den Revolvermann. Ben Garylord wirkt da nicht halb so gefährlich. Er trägt seinen Colt nicht einmal besonders tief an der Hüfte. Und dennoch wirkt es bei ihm anders als zum Beispiel bei einem Cowboy. Es ist still im Raum. Längst schon haben sich alle Anwesenden aus der vermutlichen Schusslinie der beiden Revolverkämpfer gebracht. Der Atem von bevorstehender Gewalttat weht schwer durch den Raum, scheint dann wie eine dichte Wolke aus Tabakrauch unter der Decke zu schweben und auf allen Anwesenden zu lasten – lähmend, drohend, gnadenlos. Jeder weiß, dass es keinen Ausweg geben kann. Gleich werden die Colts krachen. Und zumindest einer der Kämpfer wird sterben, denn sie werden beide mit dem Ziel schießen, sich umzubringen, zu töten. Vielleicht werden sie sich beide zu gleicher Zeit töten. Ja, auch dies ist möglich. Johnny Mahoun-Pritt lacht leise.
Er verlässt nun die letzte Treppenstufe, macht noch drei Schritte. Und auch Ben Garylord verlässt die Bar und geht ihm einige Schritte entgegen. Als sie verhalten, beträgt ihr Abstand zueinander sechs Schritte. Und dies ist der Abstand, der Revolverkämpfern ihrer Klasse am liebsten ist. Wieder lacht Johnny Mahoun-Pritt leise. Dann sagt er: »Garylord, du bist ein Narr. Ich habe Vance Pallettys Brief in der Jackentasche – aber du wirst ihn nicht bekommen. Du hattest zweimal Glück, und Joe Brown war schon immer ein Quatschmaul. Auch Roy Hacket taugte nicht soviel wie ich. Na, dann wollen wir mal, nicht wahr?« Er fragt es fast gemütlich. Doch seine leuchtend blauen Augen blitzen. Sein rotes Haar ist wie eine herausfordernde Flamme. Und dann zieht er plötzlich – nein, er zaubert! Aber das kann Ben Garylord auch. Ben Garylord ist nicht langsamer als er. Ihre Mündungsfeuer fahren zu gleicher Zeit aus den Mündungen der Waffen. Und sie treffen sich gleichzeitig. Ja, im Ziehen und Schießen sind sie einander ebenbürtig. Keiner ist schneller. Nun kommt es nur noch auf das Treffen an. Haben sie sich jetzt gegenseitig getötet?
Johnny Mahoun-Pritt senkt den Colt. Es sieht aus, als wäre er überzeugt, nicht mehr schießen zu müssen. Er schwankt auch nur leicht von Garylords Kugel. Johnny Mahoun-Pritt wendet sich langsam ab, so als wollte er die Treppe wieder hinaufgehen und hätte es gar nicht mehr nötig, seinem Gegner auch nur noch einen einzigen Blick zu schenken. Er schafft auch noch die erste Stufe. Doch dann fällt er nach vorn auf die anderen Treppenstufen, rutscht bäuchlings daran herunter, bis er vor der untersten Stufe kniet. Und alle hören ihn heiser sagen: »Oh, Vater im Himmel, jetzt ist es aus mit mir. Oh, Vater im …« Er ist plötzlich tot. Alle Blicke richten sich auf Ben Garylord, der langsam rückwärts ging, bis er sich an die Bar lehnen konnte. In seiner Linken, denn das ist die Revolverhand, hält er den noch rauchenden Colt. Die Rechte presst er gegen die Seite. Dort muss ihn die Kugel getroffen haben. Aber er wird nicht daran sterben, so wie sein Gegner. Nein, das kann man unschwer erkennen. Vielleicht traf ihn die Kugel sogar sehr schmerzvoll. Aber er bleibt auf den Beinen, hat nur etwas Halt gesucht an der Bar. Das Mädchen dahinter schenkt ein Glas voll Whisky ein. Sie kommt damit hinter der Bar hervor und hält es ihm hin.
»Mein Freund«, sagt sie, »Sie können das jetzt wohl brauchen – einen Schluck nur, ja?« Und sie hält ihm das Glas an die Lippen, damit er einen Schluck trinken kann, ohne den Revolver aus der Hand geben und auch die andere Hand von seiner Wunde nehmen zu müssen. Lola Montez kommt herbei. »Ist es schlimm, Freund?«, fragt sie, und auch sie gebraucht die Anrede ›Freund‹. Seine Seite schmerzt. Doch der Schluck Whisky hilft ihm. Er wird nicht umfallen, sondern auf den Beinen bleiben. Soviel weiß er schon. »Ach«, sagt er, und seine Stimme klingt nur ein wenig gepresst und sonst ziemlich normal, »ich schaff es schon noch bis in ein Hotelbett. Aber ich bitte um Verzeihung, weil ich hier etwas Wirbel machte und …« »Sie bleiben hier als Gast, bis Sie wieder gesund sind«, unterbricht Lola Montez ihn. »Dass Sie diesen verdammten Bastard erledigt haben, wird Ihnen halb El Paso danken.«
4 Die Kugel hatte eine Wunde freigelegt, die vom Doc genäht werden musste. Jetzt – nach fünf Tagen – geht es Ben schon wieder einigermaßen. Er wird verwöhnt. Es ist, als besäße er in diesem Haus ein Dutzend Schwestern, die sich alle große Mühe geben, ihrem einzigen und geliebten Bruder jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Ja, wahrhaftig, so ist es. Und zur Hölle mit jedem Narren, der schlecht dabei denkt! Nur Lola Montez kommt ihm nicht wie eine liebe Schwester vor – nein, bei dieser rassigen Frau ist es anders. In der Nacht zum sechsten Tag, da bleibt sie bei ihm und kümmert sich nicht um ihr Geschäft. Und auch am folgenden Tag lassen sie sich die Mahlzeiten aufs Zimmer bringen – und es ist ein schönes, großes, nobel eingerichtetes Zimmer mit einem Balkon, von dem aus man den Rio Grande sehen kann. Am Nachmittag dieses sechsten Tages sagt er, nachdem sie ihn küsste: »Aus uns wird nie etwas werden können.«
»Nein, gewiss nicht«, pflichtet sie ihm bei. »Und dennoch bin ich glücklich. Du musst es so nehmen, wie es ist. Wir sind zwei Wanderer, die sich irgendwo treffen und einige Tage glücklich miteinander sind. Und danach werden sie auseinandergehen und sich vielleicht manchmal erinnern, so, wie man sich eine Weile an schöne Träume erinnert, bevor man sie allmählich vergisst. Ben, du bist ein Mann, wie ich noch keinen kannte. Und vielleicht bin ich für dich auch eine Frau, wie du bisher keine kanntest. Aber dennoch sind wir zu verschieden. Nicht wahr? Du bist immer noch in deinem Kern ein texanischer Cowboy, ein Rindermann, ein Rancher. Du wurdest nur durch den Krieg eine Weile von deiner Heimatweide vertrieben. Und jetzt ist es dein Ritt für die Vergeltung, der dich von deiner Heimatweide noch eine Weile fernhält. Aber du wirst eines Tages zurück auf deine Texasweide reiten und dort bleiben bis ans Ende deiner Tage – oder?« Er denkt nach, indem er sie im Arm seiner gesunden Seite hält. »Ja«, sagt er schließlich, »ich werde zurückreiten auf meine Heimatweide, wenn ich den letzten Brazos-Lobo erwischt habe.« »Ist es eine große Ranch?« »Ja, mein Vater hat zwanzig Jahre dafür geopfert. Und vorher gehörte er zu jenen Texanern, die die Niederlage bei Alamo rächten
und die Mexikaner schlugen, General Santa Ana gefangen nahmen und die texanische Republik gründeten. Ja, ich bin ein Texaner und gehöre auf meine Ranch. Sie ist groß. Man braucht mehr als zwei Tage, um alle Grenzen abzureiten. Auf meinen Weiden stehen dreißigtausend Rinder. Wir besitzen gewiss an die tausend Pferde. Das ist mein Erbe. Ich muss es erhalten. Auf dem Ranchgebiet sind drei Dörfer. Es leben und arbeiten an die zweihundert Menschen auf der Lonestar Ranch. Noch sind wir an Bargeld ziemlich knapp. Aber eines Tages werden die Rinder ein riesiges Vermögen bringen. Lola, ich könnte dir eine Menge bieten.« »Nein, nicht mir«, widerspricht sie ihm. »Nicht einer Frau mit meiner Vergangenheit, die sich zwar ganz allein aus dem Dreck gearbeitet hat – aber eben doch eine miese Vergangenheit besitzt. Oh, ich werde eines Tages als reiche Lady durch die Welt reisen und mir einen Burschen angeln, der mir ein schönes Leben bieten kann, wenn mein Geld nicht mehr ausreichen sollte. Und dann ist noch etwas sehr wichtig, du TexasRancher. Ich kann keine Kinder mehr bekommen. Ein Mann wie du aber braucht Erben, Söhne. Nein, ich kann dir nur jetzt ein wenig Glück geben, ein wenig Wärme, Zärtlichkeit, und ich kann von dir dafür ein wenig zurückerhalten. Es genügt mir. Es war schön mit dir. Ich hätte dich früher kennenlernen sollen.«
Sie bricht ab. Und ihre Stimme ist voller Bitterkeit. Sie bietet Ben Garylord den Mund und sagt: »Aaah, ich hab schon fast alles vergessen. Küss mich, Texas, küss mich! Es gibt nicht genug Männer von deiner Sorte. Deshalb rennen viele Mädchen ins Unglück. Wir hier in diesem Haus sind hartgesotten. Und dennoch können wir manchmal noch etwas geben, ohne lügen zu müssen.« Sie küssen sich. Dann erhebt sich Lola, beginnt sich anzukleiden. »Diese Nacht muss ich wieder meinen Job tun«, sagt sie schlicht. »Meine Mädchen sind zwar alle gebildete Töchter nobler Leute, und manche von ihnen hatten sogar Gouvernanten – aber solch einen Laden richtig zu leiten, dazu gehört mehr als nur Klugheit und Bildung. Dazu braucht man etwas, was man einfach nur als Instinkt bezeichnen kann. Aber man muss ihn haben. Ich denke mir auch, dass du jetzt bald wieder reiten wirst, Ben. Du hast ziemlich oft jenen Brief gelesen, den wir in Johnny Mahouns Tasche fanden.« »Ja«, erwidert Ben Garylord. »Dieser Brief wurde von Vance Palletty geschrieben. El Paso kann froh sein, dass dieser Brazos-Lobo nicht hergekommen ist, um Johnny Mahoun-Pritt zu
helfen und ihm den Rücken zu decken. Das wäre schlimm geworden für alle hier.« Sie hat sich nun angekleidet und kämmt sich vor dem Spiegel das rabenschwarze Haar. »Und wann reitest du?« Sie fragt es schlicht, wendet sich mit einer geschmeidigen Bewegung um, damit sie ihn nicht länger mehr im Spiegel ansehen muss. Sie sieht ihm ruhig und fest in die Augen. Er aber begreift, dass sie eine Frau mit Grundsätzen ist. Vielleicht hat sie sogar Angst um ihre Selbstständigkeit, fürchtet sich vor ihren eigenen Gefühlen, die vielleicht bald stärker sein könnten als alle Vernunft. »Diese Nacht noch«, sagt er. »Ich werde mein Bündel schnüren und aus dem Hause schleichen.« Sie nickt. Dann geht sie zur Tür, wendet sich dort noch einmal um. »Viel Glück«, sagt sie. »Ich möchte dich nicht mehr wiedersehen, Ben. Ich würde mich noch schlimmer in dich verlieben und deshalb unglücklich werden. Denn ich könnte dir kein Leben lang geben, was du verdienst. Ja, es ist gut, wenn du hier abhaust, bevor ich darüber zu weinen beginne, dass ich dich zu spät traf.« Ihre Stimme wurde zuletzt rau. Dann geht sie, und sie zieht die Tür ziemlich hart hinter sich zu.
Er bleibt eine Weile unbeweglich liegen. Und er versteht diese Lola Montez verdammt gut. Und er wünscht ihr Glück. Er greift in den Nachtschrank neben dem Bett und holt den Brief hervor. Er liest ihn zum x-ten Male: Hey, Johnny, ich freue mich, dass du mich bei dir haben möchtest und der Meinung bist, mit mir zusammen ganz El Paso in der Tasche halten zu können. Doch ich kann und will nicht kommen. Cass Laffetter hat schon meine Zusage, dass ich nach Kansas City komme. Du weißt ja, Cass ist ein Riverman, und er hat jetzt wieder ein Schiff. Er braucht mich, weil er große Pläne hat. Ich gehe nach Kansas City und warte dort am Fluss auf die River Mary. Viel Glück! Vance Palletty Das ist also der Brief, dessen Inhalt er auswendig kann. Er ist in Santa Fe aufgegeben. Dorthin also hatte sich Vance Palletty abgesetzt.
Ben Garylord denkt: Dieser Brief wurde vor zwei Wochen abgesandt. Palletty könnte jetzt schon in Kansas City sein. Ja, Cass Laffetter war ebenfalls einer der Brazos-Lobos. Joe Brown nannte auch diesen Namen. Wenn ich Vance Palletty eingeholt habe, werde ich auch Cass Laffetter haben. Dann sind es schon fünf. Er weiß, dass er sie töten wird, und er erschrickt bei diesem Gedanken. Ja, er ist auf dem besten Weg, zu einem gnadenlosen Revolvermann zu werden, zu einem Killer. Ist es nicht doch so, dass er billige Rache nimmt, sich aus eigener Machtvollkommenheit zum Richter und Vollstrecker macht? Er spürt tief in seinem Kern Zweifel. Doch dann sagt er sich, diese Brazos-Guerillas haben seine Eltern ermordet, dazu noch einige andere Leute auf der Hauptranch. Sie brauchten frische Pferde und wollten überdies auch noch Beute machen wie Banditen. Er hat jetzt drei von ihnen aufspüren und erledigen können. Vier laufen noch frei herum. Er will sie alle haben. Fast bedächtig steigt er aus dem Bett und stellt sich vor den Spiegel. Die genähte Wunde ist gut verharscht, fast schon verheilt. Er hatte schon immer eine gute Heilhaut.
Ja, es wird Zeit, dass ich reite, denkt er. Noch vor Mitternacht verkauft er im Mietstall sein Pferd und nimmt die Postkutsche nach Santa Fe. Von dort aus gibt es eine direkte Expresspostverbindung nach Kansas City, welches vor nicht langer Zeit noch Westport Landing hieß – was nichts mit dem Flusshafen zu tun hatte, als vielmehr mit der Tatsache, dass die Stadt zum Ausfalltor nach dem Westen wurde. Fast alle Wagenzüge gingen von Westport – also Kansas City – nach dem Westen. Wer nach Kalifornien, Oregon, Montana oder überhaupt irgendwohin nach Westen wollte, versuchte es zumeist von Westport Landing aus. Auch die Büffeljäger ziehen von dort aus in das weite Büffelland. Bei der Schiffslandestelle stapeln sich die Häute zu Zigtausenden und verbreiten unbeschreiblichen Gestank. Ben Garylord bleibt in den nächsten Tagen und Nächten in den rüttelnden Postkutschen, welche alle dreißig Meilen etwa die Gespanne wechseln, alle zweihundert Meilen die Fahrer und Begleiter – und die manchmal auch von Armeepatrouillen begleitet werden, wenn sie Regierungspost befördern. Denn zwischen Santa Fe und Kansas City ist manchmal die Hölle los. Die Kiowas bekämpfen jeden Wagenzug, der nach Westen will. Diese Wagenzüge sind nun
schon oftmals zweihundert Wagen stark und führen Kanonen mit. Nur nach Osten zu lassen die Indianer alles ungeschoren durch. Denn wer nach Osten reist, verlässt ja ihr Land. Aber vielleicht wird sich diese Einstellung der Indianer eines Tages auch ändern. Immer wieder denkt Ben Garylord unterwegs an die Brazos-Lobos. Nun hat er schon alle Bauern des Spiels. Aber es fehlen noch der König, die Dame, die Türme, die Läufer und Springer. Es sind alles die größeren Figuren. Er fragt sich, wer den König haben wird? War dieser Bursche der wichtigste Mann der Bande? Oder geschah die Verteilung der goldenen Schachfiguren nicht nach Rang und Einfluss, sondern rein zufällig? Irgendwann erreicht er Kansas City in einer Regennacht. Es wird schwer für ihn, überhaupt ein Hotelzimmer zu bekommen. Aber er hat dann doch Glück und ist froh, endlich seine langen Beine ausstrecken zu können. Er ist hundemüde von der langen Fahrt. Als er noch einmal vor dem Spiegel seine Wunde betrachtet, da nickt er zufrieden. So schlimm die Fahrt auch war – sie hat seine völlige Genesung nicht verhindert. Die Wunde ist gut verheilt und wird auch nicht mehr aufplatzen, wenn er sich heftig bewegen müsste.
Bevor er einschläft, hört er durch die dünne Wand im Nebenzimmer das Weinen einer Frau. Dann übermannt ihn die Müdigkeit. Er schläft tief und fest. Aber dieser Schlaf dauert nicht lange, keine zwei Stunden. Dann erwacht er, weil es nebenan im Zimmer laut wird, so als räumte man dort die Möbel aus. Dann hört er eine verzweifelt klingende Mädchenstimme rufen: »Hiiil…« Weiter kommt sie nicht, denn offenbar hält ihr jemand den Mund zu. Ben Garylord kann nicht lange überlegen. Wenn im Nachbarzimmer eine Frau in Not ist, dann kommt es auf jede Sekunde an. Er entschließt sich schnell. Dies wieder hängt mit seiner Erziehung zusammen. Und damit, dass er Texaner ist. Es gab damals, als Texas noch in den allerersten Anfängen steckte, ein bemerkenswertes Sprichwort: »Texas ist ein Paradies für Männer und Hunde und die Hölle für Frauen und Ochsen.« Die Frauen hatten es also von Anfang an schwer in Texas. Und sogar die Kinder mussten sie dort oftmals in der Einsamkeit ohne fremde Hilfe zur Welt bringen. Deshalb hat es ein Texaner vielleicht im Blut, dass er den Frauen jede Hilfe geben muss, dass
sie zu beschützen sind wie die größten Kostbarkeiten der Welt. Nur in der Unterhose, doch mit dem Colt in der Hand, macht er sich auf den Weg. In seinem Zimmer brannte keine Lampe. Auch durch das offene Fenster dringt von draußen nur wenig Helligkeit. Der Regen rauscht noch nieder wie bei der Ankunft der Postkutsche. Die Helligkeit, welche durch das Fenster in sein Zimmer sickert, stammt von einigen Lichtbahnen, die aus Lokalen über die Straße fallen. Als er auf den Gang gleitet, sieht er nicht viel. Denn die Lampe, welche hier ein wenig Licht verbreitete, wurde gelöscht. Nur vom Ende des Ganges, wo die Hintertür zur Außentreppe führt, welche unten im Hof endet, sickert ein wenig Grau herein. Sie steht also offen. Gegen dieses graue Rechteck vor sich erkennt Ben Garylord einige Silhouetten. Er gleitet vorwärts, und er bewegt sich barfüßig leicht und geschmeidig wie ein Wildkater. Er fasst den Mann vor sich von hinten in den vollen Haarschopf, reißt ihn daran zurück und schlägt mit dem Revolver zu. Der Mann stößt noch ein scharfes Knurren aus, fast schon einen Ruf. Aber es sind noch zwei da, die das Mädchen schleppen.
Einer dieser Kerle gibt das Mädchen frei, wirbelt herum, duckt sich und rammt seinen Kopf in Ben Garylords Magenpartie. Garylord stolpert über den Kerl, den er soeben niederschlug. Und der andere Mann wirft sich auf ihn, kniet über ihm und schlägt rechts und links nach seinem Kopf. Eine Faust quetscht ihm das Ohr, dann spürt er auf der anderen Seite einen Treffer am Hals. Er rammt dem Mann die Rechte ins Gesicht, und es gelingt ihm mit einem wilden Aufbäumen, den Kerl von sich zu bekommen. Er ist schneller auf den Beinen und schlägt abermals mit dem Colt zu. Er sieht die beiden schattenhaften Gestalten. Sie befinden sich schon draußen auf dem Treppenabsatz. Er muss sich beeilen, und es kommt ihm dabei zu Hilfe, dass sich die kleinere Gestalt heftig gegen die größere wehrt. Der Mann kann ihr offenbar nicht mehr den Mund zuhalten. Vielleicht wird er auch in die Hand gebissen. Jedenfalls flucht er plötzlich wild. Und zugleich tönt wieder der Hilfeschrei. Aber dann schlägt er fluchend zu. Ja, jetzt macht er kurzen Prozess und wirft sich die Gefangene über die Schulter. Aber dann ist Ben Garylord hinter ihnen, erreicht sie beide. Wieder greift er dem Gegner von hinten ins Haar, aber der Mann dreht sich mit
der Last zur Seite und wirft sie ihm vor die Füße. Er muss den Mann loslassen und sich am Geländer festhalten. Sonst würde er kopfüber die Treppe hinunter in den Hof stürzen. Der Mann entkommt ihm. Er könnte ihm gewiss nachspringen, ihn verfolgen. Doch da ist die Frau zu seinen Füßen. Sie liegt leblos auf den Treppenstufen. Der Kerl schlug sie zuletzt bewusstlos, und vielleicht brach sie sich jetzt sogar etwas, als er sie Garylord vor die Füße warf. Sie schlug gewiss hart auf die Stufen der Holztreppe auf. Er lässt den Kerl entkommen, bückt sich nach ihr und nimmt sie auf die Arme. Sie ist nicht schwer, kaum mehr als hundert Pfund. Und sie besitzt einen noch jungen Körper. Er spürt das in seinen Armen. Sie ist eine geschmeidige junge Frau oder gar noch ein Mädchen. Als er durch die Tür in den Gang tritt, leuchtet dort endlich wieder etwas Licht. Denn inzwischen wurden auch andere Gäste durch den Lärm geweckt. Ihre Zimmertüren stehen offen. Lichtschein fällt aus den Zimmern auf den Gang. Eine schrille Frauenstimme ruft böse: »Was ist das für ein Lärm?! Ist denn auch dieses Hotel voller Betrunkener? Was ist das für eine Stadt, in der eine Lady nicht mal im …« Sie ist nicht weiter zu verstehen, denn sie wirft die Tür wieder zu.
Eine heisere Stimme ruft: »Oh, was ist das für eine Zimtzicke! Die hat vorhin noch so laut geschnarcht, dass es wie ein Sägewerk klang! Die hat’s nötig, sich aufzuregen. Was ist denn passiert?« Eine Stimme, die von der Treppe zur Halle tönt, sagt böse: »Ja, was ist passiert? Da stürmten soeben zwei wilde Büffel an mir vorbei zur Halle hinunter. Die stießen mich einfach vor die Brust und den Bauch. He, was ist hier los?!« Ben Garylord drängt sie langsam zurück, um die Tür schließen zu können. Dabei sagt er: »Ach, das waren ein paar verrückte Burschen. Sie ist von daheim ausgerissen, weil sie einen doppelt so alten Mann heiraten sollte. Welches junge Mädchen möchte das schon? Und nun will man sie mit Gewalt zurück zu dem alten Bock bringen. Aber ich passe gut auf sie auf. Jetzt ist alles in Ordnung, Nachbarn. Wirklich!« Er schließt die Tür. Sie entfernen sich draußen auch, denn sie möchten ja gerne wieder in die Betten und weiterschlafen. Einer sagt: »Ja, das gibt es. So manche Familie gibt ihre Tochter einem uralten Bock, nur weil er Geld wie Heu hat. Aaaah …« Ben Garylord wendet sich ab. Er findet die Lampe, auch Zündhölzer daneben. Als es hell ist im Zimmer, betrachtet er die Bewusstlose. An ihrer Schläfe färbt sich eine zunehmende
Schwellung. Dort also traf sie eine harte Männerfaust. Ben Garylord macht einen Handtuchzipfel nass und legt ihr das nasse Tuch auf die Schläfe. Zuvor schon und auch jetzt betrachtet er das Mädchen. Ja, es ist sicherlich noch ein Mädchen – oder eine sehr, sehr junge und mädchenhafte Frau. Ja, sie gefällt ihm. Ihr honigfarbenes Haar umgibt ein braungebranntes, rassiges Gesicht. Plötzlich öffnet sie die Augen. Es sind grüne Augen, und er spürt in seiner Magengegend ein Gefühl, wie er es bisher in seinem ganzen Leben noch nicht spürte, wenn er einer Frau in die Augen sah. In ihrem Blick ist ein Staunen. Dann kommt in ihr die Erinnerung. Sie öffnet schon den Mund zu einem Schrei, macht den Ansatz zu einer Bewegung, so, als wolle sie abermals zu kämpfen beginnen. Aber er sagt schnell: »Nur ruhig, Schwesterchen! Es ist alles in Ordnung. Die Kerle sind weg. Ich bin Ihr Zimmernachbar, hörte den Krach und kam ein wenig zu Hilfe. Es ist alles in Ordnung. Nur ruhig, Schwesterchen.« Sie entspannt sich. Aber sie betrachtet ihn ernst. Es ist ein misstrauisches Forschen. Dabei nimmt sie ihm das nasse Handtuch aus der Hand und drückt es sich selbst gegen die Schläfe.
»Was wollten diese Kerle von Ihnen?« So fragt er. Und er fügt hinzu: »Wenn es nötig ist, sollte man den Sheriff oder zumindest den Town Marshal informieren. Man wollte Sie aus diesem Hotel entführen. Bitte erklären Sie mir das. Oder soll ich gehen? Möchten Sie nicht mit mir über Ihre Probleme sprechen?« Immer noch betrachtet sie ihn ernst und forschend. Und jetzt wird ihm bewusst, dass er bis auf seine Unterhose nichts am Leibe trägt. Nur noch den Colt hat er bei sich. Und der liegt griffbereit in Reichweite auf dem kleinen Tisch. Sie zögert immer noch. Er spürt aber, dass sie jetzt ihren weiblichen Instinkt zu Rate zieht. Für einen Moment schließt sie die Augen. Dann reicht sie ihm das nasse Handtuch. »Bitte machen Sie das noch einmal nass, Mister. Oh, ich werde eine tüchtige Beule bekommen. Aber was ist schon eine Beule, wenn man böseren Dingen entgangen ist?« Er möchte fragen, welche böseren Dinge sie meint, doch er verzichtet darauf. Wenn sie ihm nichts sagen möchte, dann wird er nicht mehr versuchen, ihr etwas zu entlocken. Auch er würde nicht gern über seine Probleme mit fremden Menschen reden. Er bringt ihr das nasse Handtuch und sagt dann: »Nun, Miss, dann werde ich wieder gehen. Ich wohne nebenan. Wenn Sie an die Wand klopfen oder rufen, werde ich das hören.
Allerdings bin ich noch ziemlich müde. Ich komme aus Santa Fe und konnte die letzten Nächte nur in den Postkutschen schlafen.« Er geht nach diesen Worten zur Tür. Aber das Mädchen entschließt sich plötzlich: »Einen Moment, Mister.« »Mein Name ist Garylord, Ben Garylord.« »Aus Texas.« Sie fragt es nicht, nein, sie stellt es fest. Und er nickt nur leicht. »Ich bin Shelley Adams«, spricht sie. »Meinem Vater gehört die River Mary. Ich bin hier, um Geschäfte abzuschließen. Wir versorgen die Goldgräbercamps in Montana. Denn die River Mary ist nicht groß. Wir können bis hinauf zu den Großen Fällen fahren. Und selbst bei Niedrigwasser kennt mein Vater noch einige besondere Fahrrinnen. Wir sind ein sehr wichtiges Postboot, auch für Geldtransporte. Und stromabwärts befördern wir Gold. Ich nehme an, dass ich entführt werden sollte, damit man meinen Vater zu irgendwelchen Unredlichkeiten erpressen kann.« Er hört das alles. Und er setzt sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer. In ihm ist ein großes Staunen. River Mary. Dies ist der Name, der in Vance Pallettys Brief an Johnny Mahoun-Pritt auftaucht. Er hat diesen
Brief drüben in seinem Zimmer. Aber er braucht nicht nochmals nachzusehen. Es muss sich um die gleiche River Mary handeln. Oder gibt es mehrere Schiffe dieses Namens auf dem Strom? Er glaubt es nicht. Und so staunt er über die Laune des Schicksals. Denn an Zufälle glaubt er nicht so recht. Er ist ein Mann, der an Bestimmungen glaubt, denen kein Mensch entkommen kann. Und so hält er es nicht für einen lächerlichen Zufall, dass er hier Verbindung bekommt zu dem Flussdampfer River Mary. Denn da er Shelley Adams aus der Not half, ist diese Verbindung da. Er wird sie nützen. Er nickt zufrieden und sagt: »Es trifft sich gut, Miss Shelley. Denn ich möchte nach Montana ins Goldland. Wie ich hörte, sollen die paar Schiffe, die jetzt vor dem Winter noch hinaufgehen, ausgebucht sein. Aber jetzt werde ich wohl einen Platz bekommen, ja?« Ihr Blick wird für einen Moment misstrauisch. Aber er hält ihm stand. Sie nickt. »Ja«, sagt sie, »das ist sicher. Sie bekommen einen Platz. Wollen Sie Gold suchen?«
»Warum nicht?« fragt er. »Trauen Sie mir nicht zu, dass ich im Goldland mein Glück zu machen versuche?« Sie schüttelt sofort den Kopf. »Nein«, sagt sie schlicht. »Sie sind keiner von diesen Burschen, die immer nur auf das Glück hoffen. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie einen Frachtwagenzug nach Montana bringen – oder eine Fleischherde für den langen Winter. Solche Art von Geschäften traue ich Ihnen zu, obwohl ich Sie jetzt als fast nackten Mann sehe.« Er grinst, und sein verwegenes, männliches Indianergesicht wirkt mit einem Mal jungenhafter. »Aber Sie sind keine von den Ladies, die beim Anblick eines halbnackten Mannes ein ›Huh!‹ ausstoßen und zu kreischen beginnen.« »Nein«, sagt sie. »Ich wurde auf einem Schiff geboren und habe immer unter Männern gelebt. Mir ist nichts mehr fremd, Ben Garylord. Und ich bin auch kein junges, unerfahrenes Ding mehr. Dies sollten wir mal klarstellen. Ich bin zweiundzwanzig. In meinem Alter haben manche Frauen schon vier Kinder.« »Richtig«, sagt er und geht. Aber er streckt von draußen noch mal seinen Kopf ins Zimmer. »Fahren wir zusammen zur Schiffslandestelle, Shelley?« »Nach dem Frühstück«, verspricht sie.
5 Am nächsten Morgen ist der Regen weg, so als hätte es ihn nicht gegeben. Die Sonne wärmt schon wieder. Sie treffen sich beim Frühstück. Er setzt sich zu ihr an den Tisch. Bei Tag gefällt sie ihm zumindest ebensogut. Nur trägt sie jetzt kein Nachthemd, sondern ein blaues Kostüm, welches fast wie eine Marineuniform wirkt. Es steht ihr gut. Ihr Haar hat sie so gekämmt, dass die Verfärbung und leichte Schwellung an der Schläfe etwas verdeckt werden. »Und Sie wollen immer noch hinauf nach Montana?«, fragt sie, nachdem sie ihr Frühstück bekamen und den ersten Schluck Kaffee nahmen. Er nickt. Sie betrachtet ihn ernst. »Dort oben im Goldland ist der Winter hart«, sagt sie. »Wer keinen guten Job hat, keinen Claim, der genug Gewinn abwirft – oder sich nicht eingedeckt hat mit Proviant, der ist ziemlich übel dran. Verstehen Sie, Ben Garylord?« Er nickt. »Aber ich will es nun mal versuchen«, sagt er. »Das Schiff heißt River Mary, ja? Ein schöner Name. Und er ist gewiss
einmalig, nicht so häufig wie zum Beispiel River Queen – oder?« Ihre Augen werden für einen Moment schmal, so, als wäre plötzlich ein misstrauischer Gedanke in ihr. Doch er hält ihrem Blick stand. Und so wird ihr Blick wieder normal. »Meine Mutter hieß Mary«, erwidert sie. »Deshalb nannte mein Vater sein Schiff so. Ich kenne kein anderes Dampfboot mit diesem Namen auf den Strömen. River Mary ist einmalig. Aber es gibt eine River Lady und eine River Nelly.« »Und Ihrem Vater gehört das Schiff allein? Dann ist er Eigner und Kapitän zugleich?« Sie nickt. »So ist es, Ben. Aber auch ich mache mich nützlich. Ich bin ein vollwertiger Steuermann und habe das von allen Versicherungen und Hafenbehörden anerkannte Patent der Lotsen-Vereinigung der Ströme. Seit meine Mutter tot ist, habe ich jedoch deren Aufgabe übernommen. Ich bin der Zahlmeister des Schiffes. Mein Vater stellte einen Ersten Maat ein.« »Aha«, macht Ben Garylord unwillkürlich, denn er hat jetzt fast schon die Gewissheit, wer dieser Erste Maat der River Mary sein wird. Sie betrachtet ihn wieder mit schmaleren Augen. »Was bedeutet dieses ›Aha‹, Ben Garylord?« Er grinst.
Dann sagt er: »Ich wette, dass dieser Erste Maat ein Bursche ist, der Ihnen den Hof macht, Shelley. Und vielleicht ist er auch ein Bursche, den Ihr Vater sich als Schwiegersohn wünscht. Er wird ihn sich schon gut ausgesucht haben.« »Na und?«, fragt sie etwas schnippisch. Er grinst immer noch, und seine rauchgrauen Augen funkeln. »Dann habe ich ja keine Chance mehr«, sagt er. »Ich müsste erst ein Riverman und ein Steuermann werden, nicht wahr?« Sie betrachtet ihn immer noch sehr schmaläugig, aber auch sehr nachdenklich. »Ja«, nickt sie dann, »so ist es wohl. Ich würde nur einem Riverman gehören wollen – keinem texanischen Cowboy, selbst wenn ich ihn sehr mag. Mein Leben würde nur auf einem Fluss glücklich sein – und es müsste ein sehr großer Fluss sein. Ein freies Leben auf einem freien Schiff.« Er nickt, so, als könnte er sie gut verstehen. Eine Weile essen sie schweigend. Dann aber fragt er: »Und dieser Erste Maat, taugt er was? Mögen Sie ihn, Shelley? Ich darf doch danach fragen, ja?« Sie nickt langsam. »Ja, dieses Recht haben Sie wohl, Ben. Ohne Ihre Hilfe wäre ich jetzt irgendwohin verschleppt worden, eine Gefangene, die man als Geisel benutzt, um
meinen Vater zu erpressen. Ja, dieses Recht erwarben Sie sich, mein Freund.« Sie macht eine kleine Pause, scheint nachzudenken, tief in sich hineinzulauschen. Dann sagt sie: »Ja, mein Vater fand einen prächtigen Burschen, einen nach seinem Herzen. Und weil das so ist, gefällt Cass Laffetter auch mir. Er kam aus dem Krieg zurück auf den Strom. Wir begegneten ihm in Saint Louis. Ja, vielleicht, wenn ich ihn besser kenne …« Sie spricht nicht weiter, doch er weiß, was sie unausgesprochen lässt. Er kann sich die Worte, die sie nicht mehr ausspricht, gut denken. Sie würde etwa so lauten: … könnte aus uns ein Paar werden. Er blickt auf seine Kaffeetasse, rührt darin herum. In ihm ist ein wilder Triumph. Denn sie hat den Namen genannt: Cass Laffetter. Dieser Name stand in Vance Pallettys Brief an Johnny Mahoun-Pritt. Ja, in Ben Garylord ist ein grimmiges Frohlocken. Er wird sie also beide auf der River Mary finden, Vance Palletty und Cass Laffetter. Und wenn er sie abschießt, wird er zugleich eine krumme Sache verhindern, die sie gewiss mit der River Mary vorhaben.
Er hebt den Blick wieder, und er ist sicher, dass selbst eine gewiss sehr feinfühlige junge Frau wie diese Shelley ihm nun nichts anmerken kann von seinem wilden und gnadenlosen Triumph. Er fragt: »Die Kerle heute in der Nacht, die Sie entführen wollten, Shelley – zu was hätten sie Ihren Vater erpressen können, wenn Sie, Shelley, als Geisel benutzt worden wären?« In ihrem braungebrannten, lebendigen Gesicht zuckt es nun. »Auf den Strömen«, beginnt sie, »versucht eine mächtige Organisation alles unter Kontrolle zu bekommen – Frachtpreise, Passagegelder, alles. Man will den Wettbewerb abwürgen und ein Monopol ausüben. Eine Art Trust soll entstehen. Sie wissen doch, Texas-Cowboy, was das bedeutet?« Er grinst: »Man will also die gesamte Schifffahrt auf den großen Strömen unter einen Hut bringen? Das wäre etwa so, als würde man den Blutkreislauf eines Riesenkörpers nach Belieben beherrschen.« »Richtig«, nickt sie. »Das ist recht klug für einen Texas-Cowboy, und ich glaube schon eine Weile nicht mehr, Ben Garylord, dass Sie nur ein einfacher Cowboy sind, der im Goldland von Montana sein Glück versuchen will. Mein Vater will der Vereinigung nicht beitreten, so wie viele andere Eigner auch. Deshalb gibt es überall
Verdruss auf den beiden Strömen zwischen New Orleans, Saint Louis und dem Oberlauf des Big Muddy.« Er nickt. Und er fragt sanft: »Wenn Sie nicht glauben, dass ich nur ein Excowboy bin, was glauben Sie dann, Shelley?« Unter ihren langen, im Gegensatz zu ihrem Haar sehr dunklen Wimpern betrachtet sie ihn jetzt sehr vorsichtig. Dann hebt sie die Schultern. »Nur eines weiß ich«, spricht sie, »dass Sie gewiss nicht mein Feind sind, eher das Gegenteil. Aber sonst … He, was waren Sie im Krieg? Gewiss kämpften Sie in der Rebellenarmee des Südens.« »Yeah, ich war Captain«, murmelt er und schenkt sich Kaffee nach. »Doch das hat jetzt wenig zu bedeuten, Shelley.« Sie nehmen einen dieser ständig zwischen Kansas City und den Schiffslandestellen verkehrenden Wagen. Es ist ein leichter Wagen mit einem guten Gespann, welches die paar Meilen schnell hinter sich bringt. Als die Mündung des Kansas River hinter ihnen liegt, fahren sie noch ein kleines Stück am Westufer des Missouri entlang. Überall stapeln sich hier die Büffelhäute. Einige große Dampfboote, die vom Mississippi
heraufkamen, werden diese Häute zu den Seeschiffen nach New Orleans hinunterbringen. Es gibt viele Landebrücken, Lagerschuppen, Agenturen, Reederei-Offices. Ganze Frachtwagenzüge stehen längs der Uferstraße, warten auf die Beladung mit all den verschiedenen Dingen, die der Westen braucht. An manchen Tagen gehen von hier aus gewiss tausend Tonnen Fracht nach Westen; vom Klavier bis zur Nähnadel, vom Saatgut bis zum Whiskyfass, vom Pflug bis zur Patrone. An einer kleinen Landebrücke liegt die River Mary. Sie ist kein großes Schiff, aber sie hat drei Oberdecks und zwei Maschinen, was durch das Vorhandensein von zwei Schornsteinen selbst für eine Landratte wie Ben Garylord deutlich wird. Im Gegensatz zu den MississippiDampfbooten hat sie die Schaufelräder an den Seiten, also kein großes und breites Heckrad. Sie braucht also nicht auf dem Strom zu wenden, muss nur die Radschaufeln in die andere Richtung drehen lassen, das hochgezogene Ruder niederlassen und das im Wasser befindliche hochziehen. Dann ist bei ihr alles, was hinten war, plötzlich vorn und umgekehrt. Ben Garylord begreift dies alles, indes sie aus dem Wagen klettern, den Kutscher bezahlen und das Schiff betrachten.
Es ist ein zwar kleines, doch gewiss sehr starkes und gut instandgehaltenes Schiff. Es gibt keinen Rost, nur frische Farbe. Alles ist ordentlich an Bord, und sogar das Brennholz ist präzise gestapelt, so dass es fast wie eine Brustwehr wirkt. Der Name River Mary ist kunstvoll verschnörkelt. Auf dem Vorder- und Achterhauptdeck stehen je zwei Frachtwagen. Viele Kisten und Ballen sind gestapelt. Dem Tiefgang nach ist die River Mary bis zur Lademarke gestaut. Oben auf dem Kabinendeck stehen die Passagiere der Luxuskabinen. Aber auch auf dem Hauptdeck – zwischen der Ladung, den Wagen und den Brennholzstapeln, drängen sich Menschen. An der Gangway, die von der Ladebrücke auf das Schiff führt, steht ein Posten mit einer Schrotflinte. Er grinst Shelley entgegen und fragt: »Na, Miss Shelley, alles klar? Kommt der große Geldtransport noch an Bord oder nicht?« »Er kommt, Charley«, erwidert sie. »In einer Stunde etwa. Dann legen wir ab.« Ben Garylord hört es. Und nun endlich weiß er Bescheid. Die River Mary nimmt Geld mit ins Goldland. Wahrscheinlich tut sie das für die dortigen Bankfilialen. Denn die machen gute Geschäfte mit den Goldgräbern, wenn sie ihnen gleich an Ort und Stelle Staub und Nuggets gegen Dollars
eintauschen. Aber auch die vielen Minen und wer sonst noch alles Löhne zahlt, tut dies lieber mit Geld als mit Gold. Für Ben Garylord ist klar, dass eine gewaltige Summe Geld mit der River Mary jetzt so kurz vor dem Winter hinauf ins Goldland geschickt werden soll. Denn die River Mary ist vielleicht das letzte Schiff, welches noch hinauffahren kann bis zu den Großen Fällen. Als sie an Bord gehen, tauchen bald schon zwei Männer vor ihnen auf. Sie tragen beide die Tracht der Riverleute. Der Ältere wirkt löwenhaft, und es ist Ben Garylord sofort klar, dass er der Boss ist auf diesem Schiff, also der Kapitän und Eigner, Shelleys Vater. Er betrachtet den anderen Mann – und er meint, dass sich seine Nackenhaare sträuben wie bei einem Wolf beim Anblick des Todfeindes. Denn er spürt, dass er Cass Laffetter gefunden hat, zu dem ja auch Vance Palletty wollte. Cass Laffetter ist ein sehniger, scharfäugiger Bursche, dessen sandfarbenes Haar sich über dem Hemdkragen kräuselt. Er wirkt sehr männlich und auch hart, aber das ist bei einem Ersten Maat nicht ungewöhnlich. Bei Frauen hat dieser Bursche gewiss keine große Mühe. Indes sich die drei Männer gegenseitig betrachten und abschätzen, berichtet Shelley von ihren Erlebnissen. Und sie endet mit den Worten:
»Ohne Ben Garylords Hilfe wäre ich jetzt nicht wieder bei euch. Aber sonst habe ich alles erledigt. Die Kansas-Bank schickt gleich den Geldtransport. Eine Armee-Eskorte wird ihn begleiten. Es kommen vierhunderttausend Dollar an Bord, und das verdanken wir nur deinem guten Ruf auf dem Strom, Vater. Dir und unserer River Mary vertraut sogar die Kansas-Bank. Ben, dies ist mein Vater – und das ist unser Erster Maat Cass Laffetter. Dies ist Ben Garylord, mein Retter. Wir nehmen ihn mit nach Montana. Er will Gold suchen in Montana. Es ist ihm nicht auszureden. Also nehmen wir ihn mit. Weil wir aber überfüllt sind, denke ich, dass Cass seine Kabine mit ihm teilen wird. Nicht wahr, Cass?« Nachdem sie die Männer miteinander bekannt machte und alles gesagt hat, wartet sie ungeduldig. John Adams hält Ben Garylord die mächtige Hand hin. »Danke, Ben Garylord, danke! Sie haben für alle Zeiten Freifahrt auf der River Mary. Ah, die Banditen des Trustes werden immer frecher. Shelley, du wirst nicht mehr allein von Bord gehen, und schon gar nicht ohne Begleitung nach Kansas City hinüber. Nicht wahr, Cass, das geht in Ordnung? Du nimmst ihn zu dir in deine Kabine.« Cass Laffetter nickt. Er sieht Ben Garylord fest an. Dieser spürt scharf den wachsamen Instinkt
des Mannes. Er hat das Gefühl, von einem erfahrenen Wolf beschnüffelt zu werden. Dann fragt Cass Laffetter: »Texaner?« Garylord nickt. »Rindermann – Cowboy oder Rancher?« »Wenn ich Rancher wäre«, grinst Garylord, »würde ich gewiss nicht ins Goldland von Montana wollen. Aber weil ich Rancher werden möchte, muss ich wohl erst eine Weile als Goldsucher Glück haben.« John Adams lacht dröhnend. Auch Shelley lächelt. Doch Cass Laffetter bleibt noch ernst und fragt gedehnt: »Garylord – Garylord? Dieser Name kommt mir bekannt vor. Ich meine, ich hatte – schon mal mit Garylords irgendwie zu tun. Aber wo?« Ben Garylord erkennt die Gefahr. Er bedauert, dass er Shelley Adams seinen richtigen Namen nannte, obwohl er nicht glaubt, dass jene Guerillas, die damals die Ranch seiner Eltern überfielen, überhaupt den Namen der Rancherfamilie kannten. Denn der Name der Ranch war ›Lonestar‹. Aber nun sieht es fast so aus, als erinnert sich dieser Laffetter doch an den Namen. Garylord grinst wieder. »Ach«, sagt er, »in Texas gibt es Garylords in jeder Menge. Und viele dieser Garylords sind ausgeschwärmt, so wie ich. Deshalb trifft man sie auch zunehmend außerhalb von Texas. Es ist also
möglich, dass Sie schon mal irgendwann auf einen Garylord stießen. Aber das heißt noch lange nicht, dass er mit mir verwandt war.« Cass Laffetter nickt leicht. Dann sagt er: »Na, dann kommen Sie, Garylord. Ich zeig Ihnen meine Kabine. Denn gleich habe ich keine Zeit mehr. Wenn das Geld an Bord ist, legen wir ab. Kommen Sie.« Garylord lächelt Shelley zu. Dann folgt er Laffetter. Es entgeht ihm nicht, dass Laffetter sich sehr geschmeidig bewegt. In seinem hageren Körper ist gewiss eine Menge explosiver Kraft und Zähigkeit. Dieser Mann ist als Gegner ebensowenig zu unterschätzen wie Johnny Mahoun-Pritt, der sich in El Paso als Bulle im Corral fühlte. Johnny Mahoun-Pritt hätte ihn fast für immer mit seiner Kugel erwischt. Nur einen einzigen Zoll hätte die Kugel weiter links treffen müssen. Dann wäre sie ihm in den Leib gefahren und nicht von der Rippe abgelenkt worden. Ben Garylord spürt die Alarmsignale seines Instinkts. Er muss vorsichtig sein und auf seine Chance lauern. Denn Cass Laffetter ist nicht allein. Ganz gewiss ist Vance Palletty schon an Bord. Und wenn sie einen großen Coup vorhaben sollten, der den vierhunderttausend Dollar gilt, dann hat
Vance Palletty ein paar harte Jungens mitgebracht. Für Ben Garylord wird klar, dass er jetzt nicht nur an seine Rache denken darf. Es gilt noch etwas anderes zu tun. Er muss diesen Anschlag auf den Geldtransport verhindern. Als er sich darüber klar wird, wundert er sich ein wenig. Bisher dachte er nur an seine Vergeltung für das Verbrechen an seinen Eltern und deren Leute auf der Ranch. Dass er den Leuten in El Paso – besonders Lola Montez und deren Mädchen – einen Gefallen tat, geschah rein zufällig. Aber jetzt ist er mitten in eine Sache geraten, die er nicht unbeachtet lassen kann. Sie haben die Kabine erreicht. Es ist eine der beiden auf dem Sturmdeck gleich unter dem Ruderhaus, die Backbordkabine. Wahrscheinlich bewohnt der Kapitän die Steuerbordkabine. Von beiden gelangt man vom Sturmdeck aus über einen Niedergang hinauf ins Ruderhaus. In der Kabine gibt es eine richtige Koje, aber gegenüber auch ein bequemes Ledersofa. Cass Laffetter deutet darauf. »Ich lass vom Steward Bettzeug bringen. Dann wird’s wohl gehen, ja, Garylord?« Dieser nickt. Sie betrachten sich einige Atemzüge lang schweigend.
Und sie spüren, dass sie niemals Freunde werden. Für Garylord ist dies ohnehin klar. Er ist gekommen, diesen Mann zu töten. Doch so sehr er sich auch müht, diese Absicht tief in seinem Kern verborgen zu halten, die feine Strömung scheint Cass Laffetter dennoch spüren. Es ist, wie wenn ein Wolf den Stahl einer Falle wittert und noch nicht weiß, wo sie verborgen ist. Laffetter nähert sich ihm bis auf einen halben Schritt. Sie starren sich an. »Ich weiß nicht«, murmelt Laffetter, »irgendwas warnt mich vor dir, Garylord. Und ich weiß auch, dass ich diesen Namen schon mal hörte. Bist du wirklich nur ein Texas-Cowboy, welcher Gold suchen will im Norden? Oder bist du ein Killer des Trustes?« Ben Garylord erwidert nichts. Er sieht ihn nur lächelnd an und zuckt mit den Achseln, so, als wäre er es leid, in dieser Angelegenheit noch etwas zu sagen. Durch das Rohr kommt nun von oben ein Pfiff. Laffetter nimmt das Mundstück aus der Halterung und hält es sich in Ohrnähe. Eine Stimme sagt durch das biegsame Rohr in die Kabine herunter: »Der Geldtransport kommt! Ein Dutzend Kavalleristen begleiten ihn. Komm an Deck, Cass!« Er wirft Garylord nur noch einen schrägen Blick zu und gleitet hinaus.
Garylord folgt ihm, tritt an die Reling des Sturmdecks und blickt hinunter auf die Landebrücke. Wahrhaftig, dort hält jetzt ein Wagen. Und ein Lieutenant mit zwölf Kavalleristen bewacht das alles. Die Kansasbank muss gute Verbindungen zur Armee haben. Sonst hätte sie diese Eskorte gewiss nicht bekommen. Die Männer der Kansasbank schleppen nun versiegelte Postsäcke an Bord. Denn natürlich schafft man nicht nur Geld in großen Scheinen ins Goldland. Vor allen Dingen Hartgeld ist es, welches man hinaufschickt nach Montana, also Dollar-, Fünfdollar-, Zehndollarund Zwanzigdollarstücke. Es sind eine ganze Menge Säcke. Ja, es ist eine Wagenladung voll Geld. Natürlich ist auch Papiergeld in größeren Scheinen dabei. Ben Garylord denkt: Vierhunderttausend Dollar – oh, was für eine gewaltige Summe! Dafür bekäme man in Texas zur Zeit mehr als hunderttausend Rinder. Ja, das wäre ein riesiger Coup für ein paar entschlossene Banditen. Er blickt nicht länger auf die Anlegebrücke. Wahrscheinlich ist er jetzt der einzige Mensch an Bord, der nicht das Ausladen und die Übernahme des Geldtransportes beobachtet. Er bewegt sich langsam, benützt vom Sturmdeck den Niedergang zum Kabinendeck. Und hier stehen die Passagiere an der Reling. Er
kann sie alle gut betrachten und wird von ihnen nicht beachtet. Denn sie alle starren wie gebannt auf die Landebrücke und verfolgen die Übernahme des Geldtransportes. Ben Garylord sucht vor allen Dingen jenen Vance Palletty, dessen Brief er immer noch in der Tasche trägt. Er wird diesen Brief vernichten müssen. Und auch die goldenen Schachfiguren wird er verstecken müssen. Sie könnten ihn verraten. Er muss damit rechnen, dass Cass Laffetter, mit dem er ja nun eine Kabine teilt, in seinen Siebensachen herumschnüffelt. Ben Garylord versucht also Vance Palletty unter all den anderen Passagieren herauszufinden. Dies dürfte nicht schwer sein. Denn er bekam ja von Joe Brown, dem ersten jener Mörder, den er einholen und stellen konnte, eine gute Beschreibung von den sechs anderen Schuften. Mit jenem Joe Brown war damals die Sache ganz einfach. Ben Garylord versprach ihm einen fairen Revolverkampf. Wenn Joe Brown das Duell gewonnen hätte, würde Ben Garylord sein Wissen ins Jenseits mitgenommen haben. Und wenn Joe Brown starb, dann gönnte er den sechs Kumpanen nicht das Davonkommen. So war es wohl. Und deshalb log er nicht, als er Garylord die anderen BrazosLobos beschrieb.
Vance Palletty soll ein dunkler Bursche sein, ein Mann, der an einen schwarzen Panther denken lässt und dessen Kinn selbst nach einer Rasur noch bläulich schimmert. Seine linke Augenbraue wurde einst durch einen Messerschnitt lädiert. Sie ist deshalb nicht blauschwarz wie sein Haar, sondern zu beiden Seiten der Narbe grau, fast weiß. Ja, dieser Vance Palletty muss besonders gut zu erkennen sein. Und dann sieht er ihn auch schon, kaum dass er zehn Schritte machte. Vance Palletty lehnt über der Reling wie all die anderen Passagiere auch. Nur, bei ihm wirkt das anders. Wahrscheinlich kommt dies Ben Garylord so vor, weil er Palletty sofort erkennt, da dieser ihm das Gesicht etwas zudreht, um das Geschehen unten auf der Landebrücke beobachten zu können. Vance Palletty wirkt so lauernd und sprungbereit wie ein Puma auf einem Felsen. Ben Garylord stellt sich neben ihn und lehnt sich gleichfalls über die Reling. »Ganz hübsch«, murmelt er. »Wieviel mag das sein? Eine halbe Million?« Palletty grinst ihn an. Er trägt einen fast elegant wirkenden Reiseanzug aus Cord, wie es sich für einen Kabinenpassagier gehört. Er mustert Garylord scharf. Garylord spürt das Misstrauen.
Dann grinst Palletty und zeigt seine blinkenden Zähne. Es sind makellose, starke Zahnreihen. Sie verstärken den raubtierhaften Eindruck noch, den man von diesem Mann erhält, steht man ihm gegenüber. »Ja, ganz hübsch«, sagt auch er und nickt Garylord zu. »Ja, das könnte gewiss eine halbe Million sein. Aber Sie kamen doch vorhin mit der Tochter des Eigners an Bord. Wissen Sie’s da nicht besser als ich?« »Sie sprach nicht mit mir über das Geld«, erwidert Garylord. Und dann stellt er die Frage: »Wollen Sie auch bis nach Montana hinauf, Mister? Die Fahrt soll länger als zwei Wochen dauern, ja?« »Ich glaube schon«, murmelt Palletty und blickt wieder zur Landebrücke nieder, wo man jetzt die letzten Säcke an Bord schleppt. »Es kommt wohl auf den Wasserstand an und ob die Indianer nicht wieder ein Schiff erobert haben. Sie sollen mit den eroberten Schiffen die Fahrrinnen sperren, indem sie die Schiffe leckschlagen und absaufen lassen. Manchmal soll die Fahrt auch länger als drei Wochen dauern. Vielleicht kommt uns der Winter im Norden entgegen. Es ist jetzt schon kalt hier. Ein Glück, dass die River Mary unter Dampf steht. In den Kabinen ist es warm. Wo wohnen Sie, Mister?« »Mein Name ist Garylord«, sagt dieser, und er beobachtet Palletty dabei genau. Doch er kann
Palletty nichts anmerken. Wahrscheinlich ist Cass Laffetter der einzige Mann dieser Brazos-Lobos, der sich an den Namen Garylord erinnern kann. »Ich hab ein Sofa in der Kabine des Ersten Maats bekommen«, spricht er weiter. »Aha«, macht Palletty nur, und es ist, als legt sich sein Misstrauen etwas. Er deutet auf die Kabine hinter sich. »Hier in dieser wohne ich«, sagt er. »Sie sind sehr klein. Ich teile sie mit einem Burschen, der betrunken an Bord kam und jetzt dort drinnen schnarcht. Mein Name ist Palletty, Vance Palletty. – Spielen Sie gern eine Partie Poker, Garylord?« »O ja«, sagt dieser. »Doch ich bin ziemlich knapp bei Kasse. Wenn ich oben in Montana nicht gleich einen Goldfund mache, bin ich gar nicht gut dran. Verstehen Sie, Palletty?« Dieser lacht. Er deutet auf die Landebrücke nieder. »Dann könnten Sie ein paar Säcke von denen dort gebrauchen, nicht wahr?« Garylord grinst nur und geht weiter. Nein, er gibt ihm keine Antwort. Aber in ihm ist ein grimmiges Frohlocken. Er hat sie beide hier an Bord. Sie haben nicht mal ihre Namen gewechselt, so sicher fühlen sie sich. Aber er hat sie eingeholt.
6 Ben Garylord ist während des Krieges schon einige Male auf Dampfbooten gefahren. Deshalb kennt er sich einigermaßen aus. Die River Mary ist ein kleines, doch recht starkes Schiff. Sie arbeitet sich etwa sechs Meilen die Stunde den Strom hinauf. Abwärts schafft sie es sicherlich doppelt so schnell. Der Missouri – von den Flussleuten nur Big Muddy genannt, weil er nach Hochwasser oft so schmutzig ist – hat hier noch eine gewaltige Breite. Und der Wind auf dem Strom bläst recht stark, treibt Wellen vor sich her, welche gewiss einen halben Yard hoch sind. Der Big Muddy ist kein sanfter River, nein, er ist ein Strom, ein Element, welches vernichten kann. Weil es so kalt ist, sind die Passagiere entweder in ihren Kabinen oder in dem kleinen Salon. Aber unten auf dem Hauptdeck ist es anders. Dort haben sich einige Dutzend Deckspassagiere geschützte Stellen gesucht. Sie halten sich vor allen Dingen bei den Schornsteinen auf, die zu beiden Seiten mittschiffs nach oben ragen. Man hat auch das Brennholz so gestapelt, dass es
Windschutz bietet. Für die Deckspassagiere gibt es nur einen kleinen Aufenthaltsraum. Hier haben sich einige Frauen mit Kindern niedergelassen. Aber es wird hier auch gegessen. Der Bootsmann sorgt dafür, dass sich abwechselnd jeder Deckspassagier mal aufwärmen kann. Als Ben Garylord den Steuermann Laffetter oben im Ruderhaus weiß, also annehmen kann, dass er ungestört bleibt, durchsucht er die Kabine gründlich. Ja, er findet auch bei Laffetter goldene Schachfiguren. Es sind die beiden Türme. Er erkennt sie sofort wieder. Als Kind hat er manchmal mit diesen Figuren spielen dürfen. Später dann hat ihm der Vater das Schachspiel beigebracht. Es gibt also keinen Irrtum. Er versteckt dann seine eigenen Figuren in den Polstern des Ledersofas und verbirgt den Brief Pallettys an Johnny Mahoun-Pritt im Futter seines Stiefels. Als er fertig ist, klopft es. Shelley Adams tritt ein. »Als Zahlmeister und Chief-Steward dieses Schiffes muss ich mich davon überzeugen, dass unsere Passagiere gut untergebracht sind. Haben Sie Beschwerden, Ben?« Ein Lächeln unterstützt den Scherz. Er betrachtet sie ernst, lächelt erst zwei Herzschläge später zurück.
In diesen Sekunden fragt er sich, ob er sie einweihen kann. Aber er würde dabei ihren Glauben an Laffetter zerstören müssen. Und den kennt sie schon länger als ihn. Laffetter hat auch das Vertrauen ihres Vaters. Er ist nach dem Eigner und Kapitän der zweite Mann an Bord. Und dann ist auch noch dieser Vance Palletty in die Rechnung einzubeziehen. Wie viele Männer hat Palletty mit an Bord gebracht als getarnte Passagiere, die ins Goldland wollen? Sind es nur zwei oder drei? Oder gar ein halbes Dutzend? Auf einen offenen Kampf kann er es mit den Banditen nicht ankommen lassen. Es würde zu viele Tote geben. Und so lächelt er also zurück und sagt: »Shelley, ich bin sehr dankbar, dass ich so gut hinauf nach Norden komme. Ich wäre selbst mit einem Decksplatz zufrieden gewesen. Es ist alles bestens.« Sie kommt zwei Schritte näher, so, als wollte sie ihn genauer betrachten, sorgfältiger in seinem Gesicht forschen und in seine Augen sehen, in deren Hintergrund er vielleicht doch nicht alles verborgen halten kann, weil es aus seinem Kern immerzu an die Oberfläche will. Er zwingt sich, ihren Blicken und ihrem Forschen standzuhalten. Und wieder bemerkt er ihren tastenden Instinkt. »Es ist seltsam«, murmelt sie. »Mein Gefühl sagt mir, dass ich Ihnen vertrauen könnte bis in
die Hölle und zurück. Mein Gefühl sagt mir auch, dass Sie gut sind. Und dennoch halte ich Sie nicht für einen Burschen, der sein Glück im Goldland von Montana versuchen will. Ben, irgendwie machen Sie mir etwas vor. Wenn Sie mich nicht gerettet hätten, wenn Sie nicht für mich gekämpft hätten – und dieser Kampf war echt, nicht gespielt – nun, dann würde ich Ihnen mit Misstrauen begegnen. Dann würde ich argwöhnisch sein. Ben, warum sagen Sie mir nicht, wer Sie wirklich sind? Vielleicht ein US Marshal?« Sie fragt es wie jemand, der einen plötzlichen Einfall hat. Aber er schüttelt den Kopf. »Nein, Shelley«, sagt er, »ich bin kein Gesetzesmann. Aber ich schwöre Ihnen bei allem was mir heilig ist, dass ich Sie unter Einsatz meines Lebens beschützen würde, wann und wo es auch sei.« Sie beißt sich auf die Unterlippe, tritt einen Schritt zurück. Er hebt die Hand. »Keine Angst, Shelley.« Er lächelt. »Ich nehme Sie nicht in meine Arme, um Sie zu küssen. Aber ich würde es tun, wenn ich wüsste, dass es Ihnen recht wäre. Doch Sie haben es wohl richtig erkannt: Ein texanischer Rindermann und ein Mädchen vom Fluss passen nicht zusammen. Das wäre so, als wollte sich ein
Wolf mit einem Bibermädchen vermählen. Aber …« Er verstummt nach diesem ›Aber‹. Denn er hätte fast gesagt: … nehmen Sie sich vor Laffetter in acht, auch wenn Ihr Vater ihn ausgesucht hat und ihm vertraut. Hüten Sie sich vor Laffetter. Ja, das hätte er fast gesagt. Denn er würde gerne verhindern, dass sie sich in ihn verliebt. Doch er verstummt rechtzeitig. Nein, er möchte nicht verraten, dass Laffetter ihm kein Unbekannter ist. Doch Shelley fragt: »Aber? Was ist mit diesem Aber? Warum sagen Sie mir nicht, was Sie auf der Zunge haben?« Er schüttelt den Kopf. »Aber vielleicht wird aus einem Wolf ein Biber«, murmelt er. Sie schüttelt heftig den Kopf. »Ben, Sie wollten etwas anderes sagen«, spricht sie mit einem Klang von Enttäuschung in der Stimme. Sie wendet sich zur Tür. »Das Wetter wird schlecht«, sagt sie von dort über die Schulter. »Aber wir müssen Tag und Nacht fahren, um vor dem Winter dort im Norden bei den Großen Fällen anzukommen. Es gibt dreimal am Tag warmes Essen.« Nach diesen Worten gleitet sie hinaus. Er tritt an das Kabinenfenster. Die River Mary hat keine Bullaugen wie die seetüchtigen Schiffe.
Besonders die Oberdeckkabinen haben große Fenster. Und selbst hier unterhalb des Ruderhauses auf dem Sturmdeck sind sie noch groß genug. Er kann über den sturmgepeitschten Strom blicken. Ja, das Wetter ist schlecht geworden. Die River Mary kämpft jetzt nicht nur gegen die starke Strömung, sondern auch noch gegen den kalten Wind aus dem Norden. Ich kann nicht mehr lange warten, denkt er. Ich muss mir die beiden Mörder vornehmen, bevor sie ihren Coup ausführen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie noch weit nach Norden hinauf wollen. Was sollen sie mit einer Beute von vierhunderttausend Dollar hoch oben im Norden von Montana während eines langen Winters? Er legt sich aufs Sofa, schläft ein. Er hat ja längst noch nicht genug geschlafen. Als er erwacht, ist es draußen dunkel. Und die River Mary kämpft immer noch gegen Sturm und Strömung an. Der Big Muddy ist jetzt ein brüllendes Ungeheuer. Der Sturm peitscht die Wellen jetzt höher als einen Yard. Sie rollen dem Schiff mit der Strömung entgegen. Das Vorschiff bekommt immer wieder Duschen. Die Deckspassagiere drängen sich jetzt dicht im kleinen Aufenthaltsraum und an den wärmenden Schornsteinen.
Ben Garylord stellt dies alles fest, denn er hat die Kabine verlassen und ist hinunter auf die Decks gestiegen. Aber nirgendwo trifft er auf Palletty. Und Palletty möchte er sich zuerst vornehmen. Also steigt er vom Hauptdeck wieder hinauf aufs Kabinendeck. Und als er bei Pallettys Kabine ist, wird diese geöffnet. Ein bulliger Mann tritt heraus und ruft über die Schulter: »Ja, ich werd mich besaufen! Bis Omaha bin ich längst wieder nüchtern.« Aus der Kabine tönt die Antwort: »Oh, du Narr! Hätte ich dich nur nicht mitgenommen!« Der bullige Mann lacht nur und knallt die Kabinentür zu. Garylord lehnt über der Reling, so, als müsste er sich übergeben. Der bullige Mann verhält einen Moment bei ihm und lacht. »Hoiiija, der Fluss bringt diesen Kahn ganz hübsch zum Tanzen, nicht wahr? He, Junge, wenn dir mies ist, dann sauf einen! Nimm Feuerwasser! Das ist gut!« Lachend geht er weiter. Offenbar ist er ein Flussmann, doch zugleich auch ein Trinker. Aber vielleicht ist er der Mann, der dieses Schiff steuern könnte. Garylord fragt sich, was die Kerle mit dem Schiff vorhaben. Denn sie müssen etwas damit vorhaben, wenn sie noch einen zweiten Steuermann brauchen.
Aber er zögert nun nicht länger. Er fängt an. Und so öffnet er die Kabinentür wieder, die der Säufer hinter sich zugeworfen hat, und gleitet hinein. Er hat Glück. Denn Vance Palletty ist soeben dabei, sich die Stiefel anzuziehen. Wahrscheinlich will er dem anderen Mann nach, um ihn vom Trinken abzuhalten. Er sitzt auf dem Rand seiner Koje und kommt offenbar nur mit Anstrengung in die Stiefel. Im Lampenschein sieht er auf den Eintretenden. »Aaah, Garylord«, schnauft er. »Was wollen Sie denn hier bei mir? Wenn Sie kein Geld zum Pokern haben, könnten wir ja ein wenig miteinander reden. Doch ich habe jetzt keine Zeit.« »Ich weiß«, nickt Garylord. »Sie wollen den Dicken vom Saufen abhalten. Er könnte sonst eine Dummheit anstellen. Und das würde vielleicht nicht in euren Plan passen.« »Was für einen Plan, Garylord? He, Mann, spinnst du?« Palletty richtet sich auf, stampft aber noch mit den Füßen auf. Dabei wendet er sich Garylord zu. Sein Gesichtsausdruck ist ungeduldig und schon etwas bösartig. Aber dann bekommt er es.
Garylord trifft ihn mit einer Faust in die Magenpartie und zieht dann einen Aufwärtshaken hoch, der präzise trifft. Palletty fällt rücklings in die Ecke der Kabine und rührt sich für eine Weile nicht mehr. Erst als Garylord ihn hochreißt, beginnt er sich wieder zu wehren. Aber Garylord wirft ihn auf die Koje und stößt ihm dabei nochmals die Faust unters Kinn. Er hat nun Zeit. Zuerst durchsucht er den Mann, danach das Gepäck. Er findet eine einzige goldene Schachfigur. Es ist die Dame. Er wiegt sie in der Hand. Diese Figur ist fast ein halbes Kilo schwer und aus purem Gold. Und dennoch kann er sie in der Hand verbergen wie eine Maus. Bei Palletty findet er einen Colt, einen Derringer und ein Wurfmesser. Er wirft alles in den Wasserbehälter. Dann riegelt er die Tür ab und setzt sich an den kleinen Tisch. Geduldig wartet er. Es dauert eine ganze Weile, bis Palletty sich aufsetzt. Er stöhnt, seufzt und schnauft. Schließlich fragt er heiser: »Was ist das? Was bedeutet das? Gehörst du vielleicht zur Vereinigung, zum Trust? Wollt ihr euch in unseren Coup einkaufen?« Garylord schüttelt den Kopf. »Kannst du schwimmen?« Nun schüttelt Palletty den Kopf, und er tut dies mit Abscheu.
»Natürlich nicht«, sagt er. »Dort, wo ich geboren wurde, gab es nicht mal genug Wasser zum Waschen. Wie sollte ich da schwimmen lernen. He, warum fragst du? Soll ich vielleicht über Bord …« Er spricht nicht weiter. Doch seine Augen werden groß. Er betastet vorsichtig sein zerschlagenes und nun anschwellendes Kinn, hält sich den anderen Arm quer vor die Magengegend. Garylord sagt langsam: »Texas – Lonestar Ranch – Garylord – goldene Schachfiguren – Mord – viele Morde. – Joe Brown – Roy Hacket – Johnny Mahoun – Vance Palletty, Cass Laffetter – High Miller – Steve Lamont. – Kapiert?« Oh, ja, Palletty kapiert es schnell, sehr schnell. Und er staunt. »Und jetzt hast du mich erwischt, mich und Laffetter?« Garylord nickt. »Rache?« Garylord nickt wieder. »Es waren meine Eltern«, sagt er. »Und die anderen waren treue Leute, die mit meinem Vater die Ranch aufbauten. Du bist schon fast tot, Palletty, wenn du nicht schwimmen kannst.« »Aber wir haben vierhunderttausend Dollar an Bord«, sagt Palletty schwach. »Bist du da nicht auch interessiert? Du machst doch unseren
ganzen Coup kaputt. Willst du mich wirklich ohne Chance killen?« »Dich und Laffetter«, erwidert Garylord. »Oder was dachtest du?« Eine Weile schweigen sie. Das Schiff arbeitet sich gegen Strömung, Wellen und Wind. Die Schaufelräder rattern manchmal lauter, dann wieder leiser. Die Nacht dort draußen ist ziemlich hell – aber sehr, sehr kalt. Palletty zittert plötzlich. »Aber du kannst mich doch nicht ohne jede Chance …«, beginnt er. Garylord unterbricht ihn: »Was hatten meine Eltern und deren Leute für eine Chance damals, he? Ihr kamt in den Uniformen der Konföderiertenarmee zu uns auf die Ranch. Sie alle hielten euch für Jungens, die aus der Gefangenschaft heimkehrten. Sie bewirteten euch. Und erst dann begann euer Morden. Was für eine Chance hatten die Leute der Lonestar Ranch?« Palletty zittert nun nicht mehr. Er hat sich jäh gefangen. Nein, er fürchtet sich nicht vor dem Tod, wenn er unvermeidbar ist. Er hat selbst schon zuviel getötet, um jetzt um sein Leben zu winseln. »Du könntest eine Chance bekommen«, spricht Garylord. »Was muss ich tun?«
»Wo finde ich High Miller und Steve Lamont? Halt, sag noch nichts! Ich habe schon von Joe Brown gewisse Anhaltspunkte bekommen. Ich will nur hören, ob sich das, was du mir vielleicht sagen kannst, mit jenen anderen Tipps deckt. Na? Sollen deine beiden Partner High Miller und Steve Lamont vielleicht davonkommen, während ihr anderen zur Hölle sausen musstet?« In Garylords Stimme ist ein grimmiger Hohn. Und da macht Vance Palletty den Mund auf und beginnt zu erzählen. Er braucht nur wenige Sätze. Und zum Schluss fragt er: »Und wie ist meine Chance?« »Du darfst lebend über Bord springen. Ich werfe dich nicht tot in den Strom.« Garylord sagt es hart. Und da springt Palletty ihn an. Er hat sich inzwischen ausgeruht. Nun weiß er, dass er um sein Leben kämpft, ums nackte Leben. Und von irgendwoher bringt er doch noch ein Messer zum Vorschein, welches Garylord vorhin nicht fand. Wahrscheinlich holt er es hinter dem Nacken aus der Jacke. Aber er wirft es nicht. Er behält es in der Hand und greift damit an. In der engen Kabine hat Garylord nicht viele Ausweichmöglichkeiten. Jeder andere Mann hätte sicherlich geschossen.
Doch er tut es nicht. Und so bekommt Vance Palletty wahrhaftig eine gute Chance. Er hat sie sicherlich nicht verdient. Sie kämpfen von der ersten Sekunde an mit äußerstem Einsatz, und ihr heißer Atem trifft ihre Gesichter. Palletty ist stark und schnell wie ein Panther. Die Gewissheit, dass er um sein Leben kämpft, macht ihn noch gefährlicher. Ben Garylord hat Mühe. Er kann dem Messer nur mit knapper Not ausweichen – und erst beim dritten Mal erwischt er das Handgelenk der Messerhand, umklammert es mit der Kraft einer Stahlklammer. Nun erst kann er einigermaßen sicher sein, dass ihm dieses Messer nicht in den Leib fährt. Aber sie haben sich mit den anderen Armen umklammert. Sie stoßen sich die Knie in den Unterleib, schwanken und taumeln umher. Palletty stöhnt, so sehr müht er sich, die Messerhand freizubekommen. Doch er schafft es nicht. Sie taumeln in der engen Kabine umher, stoßen überall an, fallen über den Tisch und die beiden Sessel, wälzen sich am Boden übereinander. Aber sie lassen sich nicht los. Palletty stößt mit dem Kopf in Garylords Gesicht. Es ist ein wilder Kampf von Todfeinden. Ja, sie wollen sich töten. Garylord kämpft wahrhaftig ums Überleben wie Palletty.
Als sie wieder auf die Beine kommen, ohne sich dabei loszulassen, rammen sie abermals gegen die Wände – und dann auch gegen die Tür. Diese ist zwar verriegelt, doch sie erzittert. Die Masse der beiden Männer ist zu wuchtig. Es sind ja allein schon vom Gewicht an die dreihundertachtzig Pfund, welche gegen die Tür rammen. Dazu kommt noch die Muskelkraft. Kein Wunder also, dass die Kabinentür bebt. Palletty erkennt dies offenbar als eine Chance. Er will hinaus aufs Kabinendeck. Vielleicht erhofft er sich dort schnelle Hilfe. Und so kämpft er noch einmal mit explosiv ausbrechender Wildheit. Er stößt Garylord noch einmal gegen die Kabinentür, wirft sich selbst mit ihm dagegen. Aber immer noch hält sie, wenn auch schon arg lädiert. Ben Garylord keucht: »Das kannst du haben!« Und dann reißt er den Gegner in der Kabine herum und rammt ihn nun selbst mit aller Kraft gegen die Tür. Diesmal gibt sie nach. Sie taumeln aufs Deck. Palletty prallt mit dem Rücken gegen die Reling. Dies nimmt ihm offensichtlich die letzte Luft. Er erschlafft einen Moment. Garylord verdreht ihm nun den Messerarm. Und er legt ihm die andere Hand ans Kinn, drückt ihn mit dem Oberkörper rückwärts über die Reling. Vance Palletty kann nicht mehr.
Er gibt irgendwie auf. Seine wilden und verzweifelten Kraftausbrüche hatten keinen Erfolg. Er kippt rückwärts über die Reling. Unten schlägt er erst noch hart auf die Reling des Hauptdecks auf, bevor er in den Fluss fällt. Etwa drei Yards hinter den Schaufelrädern taucht er ein in das gischtige Wasser. Garylord lehnt sich weit über die Reling. Obwohl die Nacht ziemlich hell ist, kann er Palletty im sturmgepeitschten Wasser nicht mehr sehen. Er verharrt eine Weile so, keucht und schnauft. Der Kampf hat ihn bis in die letzten Fasern erschöpft. Doch er hat ihn gewonnen. Vance Palletty wird sicherlich ertrinken. Selbst wenn er gelogen haben sollte, als er sagte, nicht schwimmen zu können, hat er nur geringe Chancen. Er war erschöpft, schlug hart auf der unteren Reling auf und geriet sofort in die Strudel der Radschaufeln. Der breite Strom des Missouri wird immer noch vom Sturm gepeitscht und hat yardhohe Wellen. Selbst ein guter Schwimmer hätte Mühe. Garylord ist überzeugt, dass er Vance Palletty streichen kann von der Liste der sieben BrazosLobos. Das Gefühl der totalen Erschöpfung schwindet. Ja, er lebt und hat wieder einen Kampf gewonnen.
Er lauscht in sich hinein, will herausfinden, was für ein Gefühl er nun spürt. Ist es wilder Triumph? Böse Freude? Ist es das Gefühl erfüllter Rache? Doch er spürt noch nichts von allem. Er ist nur froh, am Leben zu sein. Denn dieser Vance Palletty war ein schwererer Gegner, als er am Anfang glaubte. Palletty hatte eine reelle Chance. Er verharrt noch eine Weile. Niemand ist in der Nähe. Das Schiff arbeitet zu sehr im Strom und der Wind pfeift zu stark, als dass jemand die Geräusche des Kampfes gehört haben könnte. Und wenn jemand etwas hörte, dann maß er diesem Poltern nicht viel Bedeutung bei. Alle Passagiere hier oben auf dem Kabinendeck sind entweder im Salon oder in ihren Kabinen. Niemand hält sich im Freien auf. Garylord sieht sich um. Aus der verwüsteten Kabine fällt etwas Licht. Die Lampe hängt an der Decke. Sie ging merkwürdigerweise nicht zu Bruch. Er bewegt sich langsam und schließt die Tür. Das Schließblech des Schlosses ist herausgerissen, desgleichen auch die Halterung des Riegels. Man wird ein Stück des Rahmens ersetzen müssen. Das ist Arbeit für den Schiffszimmermann. Aber weil auch die Tür sich verzog, kann er sie festklemmen, so dass sie
durch das Schwanken des Schiffes und vom Wind nicht geöffnet werden kann. Er geht zum Niedergang. Auf halbem Weg nach oben verhält er. Und er wird sich bewusst, dass er sich auch mit Cass Laffetter beeilen muss. Denn der Kampf mit Palletty hinterließ Spuren an ihm. Die Kabine ist verwüstet. Und Palletty ist fort. Ein Mann wie Cass Laffetter wird schnell herausfinden, dass nur er der Mann sein kann, mit dem Palletty kämpfte. Als er die Kabine erreicht, in der er mit Laffetter einquartiert ist, verharrt er und überlegt, ob er nicht gleich zum Ruderhaus hinauf soll. Dort oben ist Laffetter. Doch sicherlich ist er nicht allein. In solch einer stürmischen Nacht wird auch John Adams, der Kapitän und Eigner, oben im Ruderhaus sein. Es gibt dort ein Ledersofa und einige Möbel, die das Ruderhaus recht wohnlich machen. Nein, Laffetter ist nicht allein. Beide Adams’, also John und Shelley, würden ihm sicherlich helfen. Und überdies muss ja auch noch eine ganze Gruppe von Banditen an Bord sein. Der bullige Bursche, mit dem Palletty die Kabine bewohnte, gehört ganz bestimmt dazu.
Dies ging ja irgendwie aus der Unterhaltung hervor, die Garylord belauschen konnte. Er ruft sich die wichtigsten Worte des Mannes noch einmal in Erinnerung. »… Ja, ich werde mich besaufen! Bis Omaha bin ich längst wieder nüchtern.« Omaha, jawohl, Omaha. Omaha, das ist ein kleiner Ort oberhalb der Platte-Mündung. Dort setzen die Wagentrecks über. Denn der Oregon Trail führt dort nach Westen. Und wenn der bullige Saufbold bis Omaha wieder nüchtern sein will, kann dies wohl nur bedeuten, dass der Coup dort gelandet werden soll. Wahrscheinlich ist alles für eine rasche Flucht vorbereitet. Immerhin muss man eine ganze Wagenladung Geld abtransportieren. Ben Garylord geht nun doch nicht zum Ruderhaus hinauf, sondern betritt die Kabine. Und als er sich dort im Spiegel über dem Waschtisch betrachtet, da sieht er, wie schwer es ihm von Palletty gemacht wurde.
7 Der Morgen graut schon, als Cass Laffetter die Kabine betritt. Neben der Tür verhält er. Die Lampe verbreitet nicht mehr viel Helligkeit. Durch die Fenster, deren Läden nicht geschlossen sind, sickert das erste Grau des Tages und kämpft gegen das gelbliche Lampenlicht an. Laffetter blickt hinüber zum Sofa. Dort liegt Ben Garylord und hat sich die Decke übers Gesicht gezogen. Laffetter hält einen kleinen Taschenrevolver in der Hand, ein kleines Ding mit einem kurzen Lauf, welches jedoch gewiss aus der Nähe fast ebenso gefährlich ist wie ein ausgewachsener Colt. Vorsichtig nähert er sich dem vermeintlichen Schläfer. Indes er mit der einen Hand auf ihn zielt, reißt er ihm mit der anderen die Decke fort. Aber Garylord schläft nicht. Er ist wach. Und er hält seinen Colt schussbereit. Fast hätte Laffetter sein kleines Revolverding abgedrückt, so überrascht ist er. Nun ist er froh, dass er es nicht tat. Denn er hätte eine
vierundvierziger Kugel in den Bauch bekommen. Das weiß er eine Sekunde später. Sie verharren einige Sekunden lang, starren sich an und lauern. Garylord setzt sich langsam auf, dabei fortwährend auf Laffetter zielend. Auch dieser zielt auf ihn wie von Anfang an. Garylord erhebt sich und tritt neben das Sofa an die Wand. »Na, hast du Palletty schon gesucht, Laffetter?«, fragt er. »Bist du nun dahintergekommen, was für ein Garylord ich bin?« Laffetter nickt. »Palletty ist verschwunden«, sagt er. »Und ich dachte immer wieder über den Namen Garylord und dich nach. Ich wusste die ganze Zeit, dass etwas nicht mit dir stimmen konnte. Ich spürte es. Und dein Name war ständig wie ein Alarmsignal. Zuerst hielt ich dich für einen Revolvermann der Kansas-Bank, der den Geldtransport schützen soll. Auch ein Mann des Trustes konntest du sein, der mit Helfern dieses Schiff unter Kontrolle bringen sollte. Aber als ich Pallettys verwüstete Kabine sah und dann schnell herausfand, dass er wahrscheinlich gar nicht mehr an Bord ist, da fiel mir etwas ein.« »Was, Laffetter? Was fiel dir ein, Laffetter?« »Der Mann auf der Veranda«, sagt Laffetter langsam. »Dort auf dieser Ranch in Texas. Der
Boss auf der Veranda – wie er so dastand und uns begrüßte. Er hielt uns für heimkehrende Kriegsgefangene und fragte, wo wir daheim wären und ob wir noch weit reiten müssten. Dieser Mann fiel mir ein. Denn du bist ihm sehr ähnlich. Deine Bewegungen, deine Sprechweise, wie du den Kopf bewegst. Mir hätte es schon früher in Verbindung mit dem Namen Garylord einfallen müssen. Doch wir haben damals als Guerillas Dutzende von Ranchen überfallen, ganze Ortschaften kleingemacht. Und überall gab es Tote. Ich konnte mir all die Gesichter gar nicht merken. Doch jetzt …« Er kommt nicht weiter. Denn obwohl er mit seiner kleinen Waffe auf Garylord zielt, drückt dieser ab. Der Schuss kracht gewaltig. Aber die Kugel stößt Laffetter nur den Revolver aus der Faust, indes er selbst auf Garylord abdrückt. Er tut letzteres um einen Sekundenbruchteil zu spät, sozusagen erst als Reflex auf Garylords Mündungsfeuer. Er brüllt auf und steckt sich dann die leicht verletzte, übel geprellte Hand unter die Achselhöhle des anderen Armes. Garylord schiebt seinen Colt langsam hinter den Hosenbund. Pulverrauch breitet sich aus. Die beiden Männer stehen sich gegenüber. »Du Narr«, sagt Laffetter schließlich. »Es war Krieg – zumindest kurz danach. Wo gehobelt
wird, fallen Späne. Du solltest nicht an die Vergangenheit denken, sondern an die Zukunft. Es sind vierhunderttausend Dollar an Bord. Palletty und ich wollten sie uns mit ein paar Helfern holen. Vierhunderttausend Dollar! Hilf mir, und du wirst Pallettys Anteil bekommen. Was ist schon Rache gegen ein Drittel von vierhunderttausend Dollar. Du und ich, wir bekommen jeder ein Drittel, das letzte Drittel teilen sich unsere Helfer. Sei schlau, Garylord. Dein Vater wird nicht lebendig von der Rache. Aber …« »Oh, halt dein verdammtes Maul«, unterbricht ihn Garylord knirschend. »Na gut«, sagt Laffetter und weicht langsam in Richtung Tür zurück. »Ich bin waffenlos! Wirst du auf einen waffenlosen Mann schießen?« »Ich hab vier von euch vor dir gestellt, und jeder von ihnen hatte seine Chance«, erwidert Garylord. »Doch erst …« Er kommt nicht weiter, denn die Kabinentür öffnet sich. Aus dem grauen Morgen tritt Shelley herein. »Das gibt es doch nicht«, keucht sie. »Das kann doch nicht sein! Cass, ich hörte den Knall der Schüsse und wollte durch das Rohr etwas in die Kabine rufen. Aber dann hörte ich nur noch zu. Ich konnte alles gut verstehen.« Sie tritt neben Laffetter und deutet auf die beiden Rohre an der Wand, die in
muschelähnlichen Enden auslaufen. Man kann diese Enden als Sprechrohre oder als Hörmuscheln verwenden. Eines dieser Rohre geht hinauf ins Ruderhaus, das zweite hinunter in den Maschinenraum. So hat der Erste Maat stets Sprechverbindung zu den wichtigsten Punkten des Schiffes. Auch Garylord wirft einen schnellen Blick auf die Endstücke der beiden Rohre. Und er denkt: Wenn sie alles gehört hat nach dem Knall der Schüsse, dann brauche ich gar nicht mehr zu beweisen, dass er ein Bandit ist, der den Geldtransport … Er kommt mit seinem Gedanken nicht weiter, weil Laffetter sich nun unheimlich schnell bewegt. Und dieser Laffetter tut zwei Dinge zugleich. Er zieht mit einem Ruck das Mädchen Shelley an sich. Mit der anderen Hand holt er blitzschnell von irgendwoher ein Messer und setzt es ihr an die Kehle. Natürlich wehrt Shelley sich anfangs heftig. Doch jetzt hält sie still. Garylord hätte schießen können. Er hätte dreioder viermal schießen können. Doch er brachte es nicht fertig. Seine Furcht, Shelley zu verletzen, ist zu groß. Nein, er konnte einfach nicht abdrücken, obwohl er doch auf diese Entfernung ein Hühnerei sicher treffen würde.
Laffetter lacht heiser. Es ist ein böser Triumph in seinem Lachen, so, wie ihn ein Verlierer bei einem kleinen Vorteil spürt, der ihm noch einmal Hoffnung macht. »Ich kann ihr auch noch als sterbender Mann den Hals durchschneiden«, sagt er. »Du bist klug, Garylord, dass du nicht abdrückst, so gut du auch schießen kannst. Ja, ich würde ihr mit einer letzten Reflexbewegung noch den Hals durchschneiden, darauf kannst du wetten.« Er zieht sich langsam bis zur Tür zurück, hält Shelley als Schutzschild vor sich. »Gut gemacht, Garylord«, sagt er heiser dabei. »Vier von uns konntest du also bekommen. Aber mich nicht, mich nicht! Dein schneller Colt nützt dir jetzt nicht viel, eigentlich gar nichts. Hier hast du sie!« Er stößt Shelley in Richtung Garylord, gleitet selbst rückwärts aus der Tür und draußen sofort zur Seite. Mit einem wilden Schrei hechtet er über die niedrige Reling des Sturmdecks. Bis zum Wasser sind es mehr als fünf Yards. Aber er springt sie im Kopfsprung. Er ist ein Riverman, und er fürchtet sich nicht vor einem Fluss, mögen dessen Wellen vom Wind noch so hoch gepeitscht werden. Garylord muss erst Shelley zur Seite schieben. Er kommt zu spät an die Reling. Laffetter ist untergetaucht und wird unten bleiben, bis er aus der Schussweite des Colts ist.
Ben Garylord zögert keine Sekunde. Dann hechtet auch er über Bord. Auch er taucht erst einmal tief unter. Als er dann hochkommt, schnellt er sich hoch aus dem Wasser. Sein Blick sucht nach Laffetter. Und er sieht ihn. Fast einen halben Steinwurf weit schon ist er von ihm entfernt flussabwärts zwischen den Wellen zu erkennen. Wahrscheinlich versucht Laffetter ans Ufer zu kommen. Dabei wird er natürlich stromabwärts getrieben. Ben Garylord schwimmt mit aller Kraft hinterher. Er ist ein guter Schwimmer, denn er wuchs ja am Brazos River auf. Dort tummelte er sich schon als kleiner Junge in den tiefen Wasserlöchern hinter den Flussbiegungen. Dort hat er Schwimmen und Tauchen gelernt. Aber jetzt, in diesem vom Wind gepeitschten Strom, da ist alles sehr viel anders als in einem ruhigen Fluss. Die kurzen Wellen wollen ihn immer wieder unter sich bringen. Es bedarf schon einiger Erfahrung, um im richtigen Moment Luft zu holen. Dennoch schwimmt er mit aller Kraft stromabwärts, hält sich jedoch schräg gegen das Ufer. Einige Male schnellt er mit dem Oberkörper aus dem Wasser, so, als wollte er einen geworfenen Ball fangen. Er benutzt die hohen
Wellen dann als Hilfe. Und fast immer sieht er Cass Laffetter etwas näher. Er holt ihn also ein, und es ist ein wildes, grimmiges Frohlocken in ihm. Auch dieser Mörder seiner Eltern wird ihm nicht entkommen. Er wird auch den fünften Brazos-Lobo erwischen. Alles sonst ist vergessen. Sollte er den Kampf mit Cass Laffetter überleben, so wird er wahrscheinlich große Mühe haben, sich zu retten. Denn dass die River Mary den Versuch macht, ihn wieder an Bord zu nehmen, damit kann er wohl nicht rechnen. Oder doch? Er denkt zur Zeit gar nicht darüber nach. Seine ganze Energie ist darauf gerichtet, Cass Laffetter nicht entkommen zu lassen. Nun, er weiß nicht, wie weit die Strömung ihn flussabwärts trägt, indes er sich bemüht, Laffetter einzuholen in diesem aufgewühlten Strom. Treibt er nur eine Meile ab – zwei – oder gar drei? Er weiß es nicht. Er hat nur eine halbe Steinwurfweite aufzuholen, doch das ist sehr schwer, obwohl er ein guter Schwimmer ist. Doch dann ist Cass Laffetter vor ihm. Er holt noch einmal tief Luft. Dann fasst er nach Laffetters Beinen, umschlingt sie in Höhe der Waden und presst sie
gegen seine Brust. Er hat ihn fest. Laffetter kann ihm nicht mehr entkommen. Aus dieser Umklammerung kann er die Füße nicht befreien. Ben Garylord macht sich schwer im Wasser. Ja, er taucht unter und zieht Laffetter mit. Die Wellen schlagen über ihnen zusammen. Laffetter kämpft verzweifelt. Unter Wasser ist nichts zu sehen. Der Big Muddy ist zu schlammig. Es hat wenig Sinn, unter Wasser die Augen zu öffnen. Und so hält Garylord mit geschlossenen Augen die Beine des Feindes fest umklammert. Laffetter hat eine faire Chance, jawohl. Denn wenn er länger ohne Luft auskommt als Garylord, dann hat er das Duell gewonnen. Ja, es ist ein Duell. Wer kann länger die Luft anhalten? Wer wird zuerst aufgeben und ertrinken? Es ist ein wilder und verzweifelter Kampf, den Laffetter unter Wasser kämpft. Als er begreift, dass er die Beine nicht freibekommt, da gibt er auf, allein mit den Armen zur Oberfläche rudern zu wollen. Er begreift schnell, dass jede Anstrengung Sauerstoff kostet. Und so erschlafft er, rührt sich nicht mehr. Wie tief ist der Missouri? Die beiden Männer probieren dies jetzt ganz zwangsläufig aus.
Der Strom hat normalen Wasserstand; er ist ja nur vom Sturm so aufgewühlt. Es herrscht kein Hochwasser. Als sie über den Grund schleifen, sind sie gewiss an die vier Yards tief. Es ist rauer Grund, und sie hängen mehrmals fest. In Garylord entsteht dann das Gefühl erster Panik. Er möchte loslassen und auftauchen. Er hat plötzlich Angst, dass er nicht mehr rechtzeitig auftauchen kann, wenn er nicht sofort loslässt. Er kennt dieses Gefühl. Er hat es schon als Junge gespürt, wenn sie in den Wasserlöchern des Brazos River tauchten und die Sekunden zählten, die sie unten bleiben konnten. Wie lange ist er schon mit Laffetter unter Wasser? Dreißig Sekunden? Vierzig? Fünfzig? Eine Minute? Die Strömung wirbelt sie fortwährend herum, schleift sie über den Grund, wirft sie manchmal ein Stück empor. Doch sie kommen niemals an die Oberfläche. Sie können keine Luft holen. Laffetter verhält sich immer noch schlaff und wie leblos, zappelt und kämpft immer noch nicht wieder. Ist er schon ertrunken? Oder verhält er sich mit großer Nervenkraft nur schlau? Ben Garylord weiß es nicht, und er muss in diesen Sekunden seine Angst unter Kontrolle
halten. Er darf nicht loslassen. Vielleicht hat er bald gewonnen. Er stößt die Luft in Abständen aus, und bald wird seine Lunge leer sein. Dann kann er noch ein paar Sekunden aushalten. Er weiß es. Ausgeatmet könnte er noch zwanzig bis dreißig Sekunden lang unter Wasser bleiben. Dann muss er auftauchen. Laffetter beginnt plötzlich mit aller Kraft zu strampeln. Dies geschieht jäh und unerwartet, und fast bekommt er seine Unterschenkel aus der Umklammerung frei. Doch dann hat ihn Garylord wieder fest. Er weiß, dass Laffetter jetzt in Panik geraten ist, da ihm die Luft jetzt endgültig knapp wird. Bis zum letzten Moment hat Laffetter den toten Mann gespielt. Nun muss er in den nächsten fünf oder zehn Sekunden hoch. Oder er wird im Wasser den Mund aufreißen und ertrinken. Ben Garylord lässt nicht los, ist bereit, selbst zu ertrinken. Ja, er wird sich selbst töten, sollte Laffetters Luft länger reichen. Die Sinne schwinden ihm. Er hat längst keinen Atem mehr. Nur noch ein grausamer Wille beherrscht ihn, lässt ihn wie im Krampf die Füße des Feindes festhalten. Er verliert plötzlich die Übersicht und weiß nicht mehr was er tut. Seine Handlungen werden nur noch vom Unterbewusstsein gesteuert.
Er weiß nicht mehr, dass er nun endlich seine Umklammerung löst und hochsteigt. Unterwegs schon muss er den Mund öffnen. Verzweifelt schnappt er nach Luft, obwohl noch gar nicht an der Oberfläche. Er hat Glück, dass die Funktionen seines Körpers noch richtig gesteuert werden. Als das Wasser seinen Mund füllt, schließt sich noch einmal seine Luftröhre. Nur sein Magen füllt sich durch den Schlauch der Speiseröhre. Es ist dies die Reaktion eines Schwimmers kurz vor dem Ertrinken. Sein schon fast bewusstloser Zustand verlangt nach Sauerstoff. Die Luftröhre wird sich im nächsten Moment schon öffnen in seiner Kehle. Aber dann ist er wirklich an der Oberfläche.
8 Irgendwann wird er sich bewusst, dass er wieder auf einem Schiff ist. Und als er den Kopf wendet im Kissen, da erkennt er alles wieder. Ja, er liegt auf seinem Lager in der Kabine des Ersten Maat der River Mary. Er blickt hinüber zur Koje des Steuermannes – aber die ist leer. Mühsam denkt er: Sie haben mich wieder an Bord genommen. Die River Mary muss stromabwärts gefahren sein, bis sie mich eingeholt hat und an Bord nehmen konnte. Ah, ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern. Doch allmählich fällt ihm ein, dass er eine Menge Wasser erbrach und lange Zeit ganz erbärmlich husten musste, bis er endlich einschlief. Er bleibt entspannt liegen. Dabei spürt er, dass die River Mary jetzt etwas quer zur Strömung geht. Das Dampfhorn lässt seine Stimme tönen. Es ist das Signal, welches gegeben wird, wenn das Schiff an eine Landebrücke will. Garylord denkt: Omaha, das muss Omaha sein. Wo sonst könnte die Mary anlegen? Holz hat sie
noch genug an Bord. Ein Holzplatz kommt erst in etwa einer Woche in Betracht. Es muss Omaha sein. Er erhebt sich langsam. Es geht ihm nicht sehr gut. Der Kampf im Fluss hat Substanz gekostet. Als er steht, muss er sich an der Sofalehne festhalten. Aber das geht vorbei. Er findet seine Sachen sauber und getrocknet neben dem Bett auf dem Stuhl. Und er denkt: Ich muss viele Stunden wie ein Toter geschlafen haben. Er kleidet sich langsam an und blickt dabei aus dem Fenster. Da er sich in dieser Kabine auf der Backbordseite des Schiffes befindet und Omaha auf der Westseite des Flusses liegt, kann er die Landebrücke und etwas weiter entfernt die Häuser, Hütten und Schuppen der Stadt sehen. An der Landebrücke ist ein Schild angebracht. Auf diesem Schild steht ›Omaha‹. Die River Mary macht nun fest. Einige Passagiere steigen aus. Waren werden mit Hilfe der Hebebäume ausgeladen, also Kisten, Fässer, Ballen – und dann auch die vier Frachtwagen, die vorn und achtern auf dem Deck standen. Garylord tritt hinaus und lehnt sich über die niedrige Reling des Sturmdecks. Er sieht auch den dicken Säufer von Bord gehen, der die Kabine mit Palletty teilte. Zu diesem Kerl gehören offenbar noch drei
Burschen. Sie gehen an der Uferstraße entlang zu einem kleinen Dampfboot, welches einstmals zu einem Kriegsschiff gehörte. Nun aber liegt sie hier bei Omaha und hat mächtig viel Dampf aufgemacht. Der Maschinist muss immer das Überdruckventil betätigen. Der bullige Bursche aus Pallettys Kabine und die drei anderen Kerle klettern über eine Planke an Bord. Garylord denkt: Aha, das war es also. Sie hatten hier ein starkes und schnelles Boot, dem kein größeres Schiff in seichteres Wasser folgen konnte. Sie waren praktisch uneinholbar. So also war es geplant. Jetzt gehen sie von Bord, weil sie ohne ihre beiden Anführer chancenlos sind. Shelley kommt vom Ruderhaus herunter. Er wendet sich ihr zu. Sie lächelt ernst – aber es ist zugleich auch ein vorsichtig forschender Ausdruck in ihren Augen. Er begreift, dass er ihr eine Menge wird erklären müssen. »Danke«, sagt er, »dass ihr mich wieder an Bord genommen habt.« Sie tritt bis auf einen Schritt an ihn heran und blickt zu ihm hoch. Ihre grünen Augen funkeln. »Ich glaube«, sagt sie, »du wirst mir eine Menge erklären müssen. Es war also kein Zufall, dass …«
»Es war Vorsehung, dass wir uns begegnet sind«, unterbricht er sie. »Ja, ich hab dir eine Menge zu erklären. Du und dein Vater, ihr habt ein Recht darauf. Aber was für euch wichtig war, hast du ja schon selbst mitbekommen. Laffetter und Palletty …« Er nimmt sie am Arm und führt sie in die Kabine. Dort setzen sie sich, und er berichtet ihr alles von Anfang an. Er zeigt ihr auch die goldenen Schachfiguren und den bisher zurückgewonnenen Schmuck seiner Mutter. Er endet dann mit den Worten: »Es tut mir leid, Shelley, dass Laffetter für euch hier nicht das war, was ihr erhofftet. Er war ein Brazos-Lobo. So nannten sich diese Guerillas. Und sie waren elende Mörder, die fern der Kriegsschauplätze das Hinterland terrorisierten, Ranches, Farmen, Ortschaften – ja sogar kleinere Städte – überfielen, niederbrannten und auch Frauen und Kinder töteten. Ich muss jetzt noch zwei dieser sieben Brazos-Lobos stellen. Erst dann kann ich zurück nach Texas auf meine Ranch.« Sie betrachtet ihn jetzt fast mitleidig. Dann schüttelt sie leicht den Kopf. »O Ben Garylord«, spricht sie, »du tust mir leid. Als ob du sieben Leben hättest, setzt du sie ein für deine Ranch. Sieben Mörder, sieben Kämpfe – siebenmal ausgeglichene Chancen, weil du kein Killer bist. Jetzt willst du noch zwei finden und dich mit ihnen auf irgendeine Art duellieren.
Auch dein Kampf im Fluss mit Laffetter war solch ein Duell. Ihr hättet beide ertrinken können. Es war reiner Zufall, dass du einige Sekunden länger ohne Luft auskommen konntest. Und dann noch etwas, Ben Garylord!« Sie macht nun eine kleine Pause. Er blickt sie aufmerksam an. »Die Alternative zur Gewalt ist das Recht.« Er nickt. »Ja, das sehe ich auch so. Die Alternative der Gewalt ist das Recht. Aber ist dieses Recht nicht auf meiner Seite?« Sie schließt einen Moment die Augen, scheint tief in sich zu lauschen. Dann sieht sie ihn wieder an. »O Ben, Ben Garylord, du tust mir dennoch leid. Denn selbst wenn du überleben solltest, wirst du ein anderer Mann sein. Du kannst nicht sieben Männer im Zweikampf töten und dann wieder so wie früher sein. Du hast dann zuviel Blut an den Händen. Du wirst die Gesichter der Toten immer wieder in deinen Träumen sehen. Und du …« Sie bricht ab, so, als fühlte sie sich hilflos. Dann aber sagt sie mit neuer Kraft in der Stimme: »Deine Eltern, Ben, würden bestimmt nicht wollen, dass du Rache nimmst um diesen Preis. Deine Mom wird nicht wollen, dass du ein Killer wirst. Ben, bleib an Bord und fahre mit uns hinauf nach Montana. Komm zur Ruhe, Ben. Vergiss alles! Ich helfe dir dabei. Und wenn wir
wieder in Saint Louis sind in einigen Wochen, dann kehrst du nach Texas zurück auf deine Ranch. Vielleicht besuch ich dich mal. Und vielleicht gefällt es mir dort sogar besser als auf dem Fluss. Denn ich mag dich, Ben Garylord. Seit ich dich kenne, wusste ich, dass aus Laffetter und mir nichts werden konnte.« Nun hat sie alles gesagt. Ja, sie hat sich angeboten, weil sie ihm helfen möchte. Er versteht es richtig. Ihre Blicke begegnen sich. Dann schüttelt er den Kopf. »Nein«, spricht er, »die Jagd geht bis zum letzten Lobo. Erst wenn der letzte Wolf des Rudels erledigt ist, höre ich auf. Shelley, ich traf noch kein Mädchen wie dich. Dich zu bekommen, wäre mein höchstes Glück. Doch es gibt zwei Hindernisse, ja, zwei! Ich muss die Mörder weiter jagen, und dann ist da dieser Fluss. Du liebst ihn mehr als ein Leben auf einer Texas-Ranch. Sie ist sehr groß. Sie ist auch schön, eine grüne Weide mit Hügeln, Tälern, Creeks und wunderschönen verborgenen Winkeln – ein Land mit Rindern, Pferden und freundlichen Menschen, die schon meinem Vater die Treue hielten. Aber du müsstest eine Reiterin werden. Das kannst du nicht. Ich gehe von Bord, Shelley. Wie lange liegt das Schiff noch an der Landebrücke?« »Keine Stunde mehr«, erwidert sie und erhebt sich. Einen Moment verharrt sie. Auch er steht
auf. Als er nun einen Schritt auf sie zumacht, streckt sie schnell ihre Hand aus. »Nein«, sagt sie, »küss mich nicht zum Abschied.« Sie wendet sich ab und geht zur Tür. Und dann ist sie mit einer leichten Bewegung verschwunden. Er starrt auf die Tür, und er weiß, was er soeben aufgegeben hat, um die letzten beiden Brazos-Lobos zu jagen. Ja, er weiß es genau. Vielleicht ist seine Liebe zu ihr doch nicht stark genug. Er erinnert sich auch an die beiden anderen Frauen auf dem Weg seiner Rache. Zuerst war da diese Lily Ballard. Die zweite Frau war Lola Montez. Und jetzt Shelley … Vielleicht würde es ihr doch in Texas gefallen? Als er sich dies überlegt, wandern seine Gedanken plötzlich zu jenem Vance Palletty. Er erinnert sich wieder daran, was Palletty ihm über High Miller und Steve Lamont verriet, bevor er ihn mit einem Messer angriff in letzter und wilder Verzweiflung. Was Palletty über High Miller und Steve Lamont sagte, deckte sich mit den Anhaltspunkten, die ihm schon Joe Brown gab. Und alle redeten sie, um eine Chance zur Verteidigung zu bekommen. Er macht sich daran, sein Bündel zu packen.
Als er damit aus der Kabine tritt, kommt Shelleys Vater John Adams vom Ruderhaus herunter. »Viel Glück, mein Junge«, sagt er und hält ihm die Hand hin. »Ich kann dich sicherlich besser begreifen als Shelley. Also geh deinen Weg. Ich wünschte jedoch, Shelley fände bald einen Burschen, mit dem sie weggehen kann vom Big Muddy. Denn der Trust – diese Banditenvereinigung – wird uns freie Eigner schlagen. Und wenn ich die River Mary verliere, bin ich wirklich erledigt. Ich bin nicht mehr jung genug, noch einmal von vorn anzufangen. Viel Glück, mein Junge. Jeder hat seine Probleme.« Sie reichen sich die Hände. Dann geht Ben Garylord vom Schiff. An Land sieht er sich noch einmal um. Shelley steht oben im Ruderhaus. Er kann sie gut erkennen. Aber sie winken sich nicht zu. Er wendet sich ab, geht in die Stadt hinein. Außer seinem Bündel trägt er nur das Gewehr und den Colt in der Halfter.
9 Es ist ein weiter Weg von Omaha nach Sedalia in Missouri. Und es gibt keine Postkutschenverbindung. Sedalia ist eine wichtige Stadt, die man von Osten und Süden her erreichen kann auf Expresspostlinien – nur nicht von Norden und Westen. Damals so kurz nach dem Krieg und zur Zeit dieser Geschichte, gab es noch nicht die Treibherdenstädte Dodge City und Abilene an der Kansasbahn. Das große Rindertreiben von Texas her kommt erst ein Jahr später in Gang. Texasherden nehmen den Weg nach Sedalia in Missouri und werden von dort aus nach dem Osten gebracht. Ben Garylord findet jedoch schon etwas vorher High Millers Zeichen. Denn High Miller hat sich schon vor dem Krieg Revolverruhm geschaffen, galt also damals schon als ein Revolverheld, der allein von seinem Colt lebt. Als Ben Garylord in Missouri ist, dort die kleinen Ortschaften abreitet und in den Saloons nach einem gelbmähnigen und löwenhaften
Revolverschwinger fragt, da findet er bald Leute, die High Miller gesehen haben. ›Gun Miller‹ nennen sie ihn. Und sein Name High ist wohl in dem Sinne zu verstehen, dass er anmaßend ist, hochtrabend, stolz, großspurig. Denn High ist gewiss ein Spitzname. High Gun Miller ist in den vergangenen Wochen recht bekannt geworden in Missouri, besonders bei den Frauen. Manchmal scheint er von Ortschaft zu Ortschaft zu reiten, um dort nacheinander seine sämtlichen Liebschaften zu besuchen und den großen Bullen zu mimen, der in jedem Saloon das Sagen hat. Geld besitzt er offenbar immer wieder reichlich, aber seine Einkünfte sind unbestimmbar bis auf die Tatsache, dass er von seinem Colt lebt. Vielleicht arbeitet er als Killer, bringt für irgendwelche Auftraggeber Leute um, die deren Feinde sind, Konkurrenten, Partner, die man aus dem Wege haben will, Nachbarn, deren Weide oder Wasserstelle man haben möchte. Es werden auch immer wieder Geldtransporte überfallen, solche, die per Postkutsche nach Süden gehen und auch solche, die aus dem Osten mit der Kansasbahn kommen. Und schließlich werden auch heimreitende Texaner überfallen und ausgeraubt, die ihre Herden verkauften und den Erlös dafür selbst mit heimnehmen möchten. Man munkelt viel über High Gun Miller, und man weiß, dass er nicht nur ein Revolverheld,
sondern einer der gefährlichsten Banditen des Landes ist. Doch bisher ist ihm nichts nachzuweisen. Bei seinen Revolverkämpfen reizt er seine Gegner so sehr, dass sie zuerst zur Waffe greifen. Und es gibt stets Zeugen, die das bei der Leichenschau beschwören. Als Bandit aber hat ihn noch niemand mit Sicherheit erkannt – und wenn, dann schweigt man aus Angst. Dies alles erfährt und begreift Ben Garylord in den Wochen, da er in Missouri zwischen dem Dreieck umherreitet, welches der Missouri River und der Osage River bilden. Und niemals kommt er näher als bis auf zwei Tage an High Miller heran. Dieser hält sich nirgendwo länger auf als eine Nacht und einen halben Tag. Aber dann – in Osage View, einem kleinen Ort am River – sieht er etwas, was ihm eine grimmige Freude bereitet. Es ist ein Steckbrief. Und dieser Steckbrief lautet auf James Miller, genannt High Gun Miller. Es sind tausend Dollar Belohnung ausgesetzt. Was ist geschehen? Ben Garylord erfährt es später im Saloon an der Bar vom Keeper. Denn es ist ja längst Stadtgespräch. High Gun Miller hat eine Postkutsche überfallen, den Fahrer vom Bock geschossen und
den Begleitmann so schwer verwundet, dass er ihn für tot liegen ließ. In der Kutsche aber saß eine seiner vielen Geliebten aus Rosaville, und die erkannte ihn natürlich trotz seiner Maskierung an der Stimme. Sie war auch nicht mehr seine Geliebte, sondern inzwischen mit dem Fahrer verlobt, den er vom Bock schoss. Sie riss ihm die Maske vom Gesicht, war offenbar außer sich vor Wut. Deshalb sah ihn auch der schwerverwundete Begleitmann und erkannte ihn. Beide – Begleitmann und Exgeliebte – machten dann ihre Aussagen. Deshalb wird High Gun Miller nun als Postkutschenräuber und Mörder steckbrieflich gesucht. Und es ist sicher, dass man ihn in Osage View hängen wird, sollte man seiner habhaft werden. Für Ben Garylord ist das eine völlig neue Situation. Er ist jetzt hinter einem Burschen her, den man nach Recht und Gesetz hängen wird. Und als er die kleine Stadt verlässt, um nach diesem High Miller zu suchen, da wird er sich darüber klar, dass dies alles für ihn eine Art Probe ist. Was wird er tun, sollte er High Miller finden und in seine Gewalt bekommen? Wird er wieder mit einem der sieben BrazosLobos kämpfen? Wird er auf seine Rache nicht
verzichten, ja, auf Rache, obwohl er es Genugtuung oder Vergeltung nennt? Oder wird er High Miller dem Gesetz übergeben? Die Tage werden zu Wochen. Ben Garylord reitet immer noch im riesigen Flussdreieck zwischen dem Missouri und dem Osage River herum, und er kennt das Land nun immer besser. Er besucht immer wieder die kleinen Orte, die Siedlungen, Ranches und Farmen. Er hält sich am Treibherdenweg auf, reitet von Camp zu Camp. Manchmal fragt er nach High Miller. Dann hält man ihn für einen Gesetzesmann oder einen Kopfgeldjäger. Aber es will und will nicht klappen. Er kommt nirgendwo an diesen High Miller heran, holt ihn einfach nicht ein oder verliert seine Fährte, so dass er erst wieder tagelang umherreiten muss, bis er jemanden findet, der High Miller da und dort sah – oder auch nicht. Denn oft sind die Hinweise falsch. Dabei ist dieser löwenhafte High Miller ein Bursche, den man unter hundert anderen Männern sofort erkennt. Ein anderer Mann an Ben Garylords Stelle würde resignieren, vielleicht sogar aufgeben. Denn High Miller scheint mehr und mehr zu einem Schemen zu werden, zu einem uneinholbaren Gespenst.
Doch Ben Garylord gibt nicht auf. Verbissen nimmt er immer wieder kalte Fährten auf und hofft, dass sie heiß werden könnten. Und so kommt er eines Tages nach White Creek, schon ziemlich dicht bei der Kansasgrenze. White Creek ist kaum mehr als eine Siedlung, aber es ist ein hübscher Ort an einem freundlich plätschernden Creek, an dem es noch reichlich Baumbestand gibt, was eine Seltenheit ist in diesem Land. Denn überall sonst nach Westen zu dehnt sich schon die wellige Kansasprärie aus. Inzwischen ist es längst Winter. Bisher blieben jedoch die starken Schneefälle noch aus. Nur der Boden ist manchmal schon hart, und das Präriegras ist braungelb geworden. Die Bäume am Creek verloren längst schon ihre Blätter. Nur die Nadelbäume leuchten grün. Im Ort rauchen alle Schornsteine. Bei der kleinen Schmiede gibt es eine Einstellmöglichkeit für fremde Pferde. Der Schmied ist soeben dabei, einen herrlichen Rappen abzureiben, der über viele Meilen ziemlich scharf geritten worden sein muss. Ben Garylord kennt diesen Rappen, ohne ihn jedoch bis jetzt gesehen zu haben. Doch von diesem herrlichen Tier hat er schon gehört. High Miller reitet solch einen Vierhundert-Dollar-Gaul, wie man diese Sorte von Spitzenpferden hier in
Missouri respektlos untertreibend nennt. Denn natürlich ist solch ein Tier kein Gaul. Der Schmied hält bei der Arbeit inne, blickt auf den Ankömmling. Ben Garylord sitzt noch im Sattel. Auch er reitet ein erstklassiges Tier, doch es ist längst nicht so wertvoll wie dieser Rappe. »High Millers Pferd?«, fragt Garylord. Der Schmied nickt und fragt: »Sind Sie Millers Freund oder Partner? Ja?« »Wie kommen Sie darauf?« Garylord fragt es gedehnt. Der Schmied zuckt mit den massigen Schultern. »High Miller sagte, dass er hier auf seine Mannschaft warten will. Und wenn wir nicht brav wären und ihn nicht als unseren lieben Gast betrachteten, dann würden uns seine Reiter mehr als nur die Ohren langziehen. Sind Sie also einer der Reiter, auf die er hier wartet?« Garylord schüttelt den Kopf. Er sitzt ab, und als erstes rückt er seinen Colt zurecht und bindet die Halfter am Oberschenkel fest. »Ich bin gewiss nicht sein Freund«, sagt er zum Schmied. »Wo ist er denn jetzt?« Der Schmied betrachtet ihn ernst von oben bis unten, und er scheint etwas an ihm zu entdecken, was ihn sehr vorsichtig macht. Er sagt zögernd: »Hören Sie, Fremder, wenn Sie ein Kopfgeldjäger sind und Sie schaffen ihn nicht,
dann werden wir alle das büßen müssen – wir alle hier in White Creek. Der kann mit seinen beiden Colts eine Menge von uns allemachen – fast alle männlichen Einwohner von White Creek.« »Wo ist er?« Ben Garylord fragt es nochmals, und seine Stimme klingt eher sanfter. Doch es ist eine trügerische Sanftheit, die der Schmied genau spürt. »Wo wird er schon sein«, murmelt der Schmied bitter. »Im Saloon natürlich bei Sally Manners. Die würde ihn gern zum Teufel jagen. Aber wer wagt das schon? Er ist einer von den Burschen, die wie Halbgötter über das Leben oder den Tod von unsereins entscheiden – mit zwei Colts. Verstehen Sie? Der ist wie ein Tiger in der Hammelherde. Sind Sie ein Kopfgeldjäger oder ein Gesetzesmann?« Ben Garylord will sich abwenden. Aber dann hält er doch noch inne und blickt den Schmied noch einmal an. Er versteht diesen Mann gut. Der Schmied ist kein Feigling, gewiss nicht. Und dennoch ist er hilflos. Sie alle hier in diesem kleinen Ort sind hilflos. Das ist so. High Miller ist zu gefährlich. Er kann mit seinen beiden Colts ein Massaker veranstalten. All diese Männer hier haben Frauen und Kinder. Sie sind fleißige Bürger – doch keine Killer. Ben Garylord sagt zum Schmied: »Mein Name ist Garylord. High Miller gehörte zu einer Bande,
die in Texas eine Ranch überfiel und meine Eltern umbrachte. Ich habe schon fünf von ihnen erwischt. High Miller ist der sechste. Wenn er mich töten sollte, dann geben Sie bitte Nachricht an die Lonestar Ranch im Brazos-Land, ja?« Nach diesen Worten geht er. Und der Schmied sagt hinter ihm her: »Viel Glück, Texas, viel Glück.« Dass der Schmied nicht Garylord, sondern Texas sagt, kann nur bedeuten, dass er die Bedeutung dieses Namens kennt. Denn Texas – nun, dies ist der indianische Name für Freund. Als er in den Saloon tritt, ist er vorbereitet auf den wohl gefährlichsten Revolverkampf seines Lebens. Um diese Spätvormittagszeit ist der Saloon leer bis auf einen einzigen Gast. Dieser Gast ist James High Gun Miller. Ja, er ist ein prächtig anzusehender, löwenhafter Bursche, ein Bild von einem Mann. Und dennoch ist er ein mieser Bursche. Denn die Tatsache, dass er schnell schießen und erbarmungslos töten kann, ist nichts Positives. Er steht an der Bar und lässt sich von der Wirtin bedienen, deren Namen Ben Garylord ja soeben vom Schmied hörte: Sally Manners.
Wieder eine Frau, denkt Ben Garylord. Immer treffe ich diese Brazos-Lobos bei Frauen. Und auch sie ist erfreulich anzusehen. Indes er dies denkt, schenkt er ihr nur einen kurzen Blick. Aber sie erwidert ihn fest – und sie wirkt fast hilfesuchend dabei, ja, so wie jemand, der sich in einer unbehaglichen Situation nach Hilfe umsieht. High Miller sieht ihn an, lauernd und witternd zugleich. Ben Garylord weiß sofort, dass dieser zweibeinige Wolf eine feindliche Strömung spüren kann. Er weiß auch, dass er selbst sehr hart wirkt und man ihm zutrauen könnte, dass er ein Gesetzesmann oder Kopfgeldjäger ist. High Miller wartet, bis Garylord sich an den Schanktisch gestellt hat. Garylord greift vor Sally Manners an den Hut. Sie nickt dankend und lächelt ein wenig, und dabei forscht ihr Blick. »Lady«, sagt Garylord, »wenn ich einen Schluck vom besten Stoff bekommen könnte, täte mir das gut. Es ist kalt draußen. Kälte ohne Schnee. Was ist das für ein Winter?« Sie nickt. Dann sagt sie: »Ich hab wirklich guten Bourbon aus Kentucky. Ja, es ist ein merkwürdiger Winter.« Sie entfernt sich, um die besondere Flasche zu holen.
High Miller aber sagt grob vom Ende des Schanktisches her: »Mann, warum tändelst du erst noch rum? Komm zur Sache! He, komm nur zur Sache! Ich bin High Miller, und du weißt es. Du bist nicht reingekommen, um mich zu bestaunen wie ein Kalb mit zwei Köpfen. Also, was willst du? Ich kann wittern, dass du etwas von mir willst. Also komm zur Sache!« Garylord nimmt den Hut ab, legt ihn auf den Schanktisch. Er öffnet die Jacke. Es ist warm im Saloon. Ein Kanonenofen bullert. High Miller aber ist bereit. Er lauert. Und er wird bei dem geringsten Anlass reagieren. Dieses jähe Explodieren wird dann kaum noch zu stoppen sein. Denn der Verstand kann es nicht mehr einholen. Garylord verspürt Sorge. Und zugleich wird er sich bewusst, wie sehr er jetzt am Scheideweg steht. Wenn er sich mit High Miller duelliert, wie zuvor schon mit den anderen Brazos-Lobos, dann will er eigenhändig Rache nehmen, dann ist er auch nichts anderes als ein eiskalter Killer. Doch wenn er diesen Mordbanditen dem Gesetz übergibt, dann beweist er sich damit, dass es ihm nur darauf ankommt, solche Mörder aus dem Verkehr zu ziehen, also unschädlich zu machen. Er weiß plötzlich, was er tun muss.
Nur wie – dies ist ihm noch ein Rätsel. Wenn er diesen Mann lebend fangen und nach jener kleinen Stadt Osage View bringen will, dann muss er ihn irgendwie überrumpeln. Mit dem Colt kann er ihn wahrscheinlich gar nicht schlagen. Sally Manners bringt nun die Flasche und ein Glas. Sie schenkt ein und sagt dann: »Ich lasse die Flasche stehen, Mister, und …« »He, ich werde dir das Glas aus der Hand schießen, wenn du nicht endlich zur Sache kommst, Texas«, mischt sich High Miller arrogant ein. Auch er sagt einfach nur Texas, aber er meint das Wort nicht in seiner indianischen Bedeutung. Garylord trinkt erst das Glas leer. Und Miller schießt nicht. Dann greift er langsam in die Tasche und holt zwei der goldenen Schachfiguren hervor. »Ich soll dir Grüße bestellen, Miller«, sagt er. »Rat mal, wer mir diese Dinger zum Andenken gab? Hier!« Er rollt sie ihm wie zwei Würfel über die Schanktischplatte zu. Und High Miller greift schnell, fast gierig zu. Wahrscheinlich hat er selbst noch solche Figuren. Garylord aber greift jetzt die fast volle Flasche, wie um sich das Glas noch einmal vollzuschenken mit dieser köstlichen, bernsteinfarbenen Flüssigkeit aus Kentucky.
High Miller wirft ihm noch einen wachsamen Blick zu. Dann betrachtet er die Figuren. Und Garylord hat die volle Flasche nun richtig in der Hand. Er wirft sie blitzschnell wie eine Keule. Und sie wirkt auch so. High Miller kann nicht mal mehr den Kopf wegnehmen. Aus drei Yards Entfernung bekommt er das Ding an den Kopf. Und er fällt um wie vom Blitz getroffen. Garylord holt sich zuerst Millers Colts, den kleinen Derringer aus der Jackentasche und das Messer aus dem Stiefelschaft. Als er sich damit aufrichtet, rührt High Miller sich immer noch nicht. Sally Manners steht starr hinter dem Schanktisch und fragt etwas schrill: »Und was nun? Sind Sie ein Kopfgeldjäger oder ein Sheriff, Mister?« »Was muss ich für die Flasche zahlen?«, fragt er zurück. Sie sehen sich an, spüren etwas zwischen sich. Sie schüttelt den Kopf. »Erst will ich wissen, zu welcher Sorte Sie gehören«, sagt sie. »Für einen Kopfgeldjäger kostet diese Flasche fünfzig Dollar.« Er grinst bitter.
»Ich bin weder ein Sheriff – noch ein Kopfgeldjäger«, erwidert er. »Diese goldenen Schachfiguren gehörten meinem Vater. Meine Eltern wurden von diesem Burschen und seinen Komplizen ermordet. Genügt das, Lady?« Sie nickt. »Dann spendiere ich die Flasche«, sagt sie. »Er wollte mit mir nach oben. Ich sollte mit ihm ins Bett. Verstehen Sie? Dieser Bursche ist doch nicht normal. Der nimmt sich, was er haben will – zügellos. Was werden Sie mit ihm tun? In Osage View soll von ihm ein Steckbrief …« »Ich bring ihn nach Osage View«, unterbricht er sie. »Vielleicht haben Sie irgendwo ein Lasso, ja?« Sie nickt heftig und beeilt sich. Dann sieht sie zu, wie Garylord den Bewusstlosen fesselt. »Wenn der noch einmal freikommt«, sagt sie nach einer Weile, »wird er zurückkommen. Dann wird er uns dafür bestrafen, dass er hier eine Niederlage erlitt.« »Er kommt nicht mehr frei«, verspricht Garylord. Sie nickt. Und dann fragt sie: »Wenn Sie ihn in Osage View abgeliefert haben, Mister – kommen Sie dann noch einmal hier vorbei?« Sie sehen sich an, und er erkennt in ihren Augen, dass er ein Mann ist, wie sie sich ihn schon immer gewünscht hat. Auch ihm gefällt sie.
Und er weiß, dass sein Leben kurz sein kann. Er muss noch einen Lobo jagen, den letzten. Und so nickt er und sagt: »Ja, ich komme sicherlich in einigen Tagen noch einmal hier vorbei.« »Ich freue mich«, erwidert sie schlicht. »Und du wirst weiterreiten können, wann du möchtest.« Sie können nicht weiter miteinander reden, denn der Schmied und einige andere Männer kommen herein. Sie staunen. Sie sehen auch die Flaschenscherben. Der Schmied aber sagt: »Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, könnte ich’s nicht glauben. Mann, Sie haben einen Tiger mit einer Keule erledigt. Aber vielleicht sind Sie selbst einer. Nicht wahr, Texas? Wann bringen Sie ihn fort?« »Jetzt gleich.« Garylord grinst etwas verächtlich. Nein, er kann es sich nicht verkneifen, so sehr er diesen einfachen Leuten gewiss Unrecht tut. »Wenn ihr die Pferde bringt und mir helft, ihn auf seinem Pferd festzubinden, dann bin ich in wenigen Minuten aus der Stadt. Das würde euch doch passen, nicht wahr?« Sie nicken stumm. »Er hat gesagt, dass noch ein paar Partner von ihm kommen«, murmelt der Schmied leise. »Wenn sie ihn hier nicht finden, reiten sie gewiss weiter.«
Dann drängen sie wieder hinaus, um die Pferde zu holen. Sally Manners und Garylord sehen sich an. »Ich weiß noch nicht mal deinen Namen, mein Freund«, sagt sie. Er nennt ihr seinen Namen und steckt die beiden goldenen Figuren wieder ein. High Miller ist immer noch bewusstlos. Sally kommt um den Schanktisch herum. Sie ist einen Kopf kleiner als er, hat weizengelbes Haar und schwarze Augen. Sie ist bestimmt nicht älter als er, aber eine reife Frau, die sich all ihre Reize erhalten konnte. »Ich kam mit meinem Mann vor zwei Jahren her«, erklärt sie ihm. »Doch schon nach fünf Monaten wurde ich Witwe. Ich würde gerne fortgehen aus diesem miesen Nest ohne Zukunft. Aber alles, was wir besaßen, steckten wir in diesen Saloon. Mein Mann war ein berühmter Preiskämpfer an den Strömen. Komm wieder, Ben Garylord. Es wird wie ein Licht in dunkler Nacht sein. Verstehst du?« Er nickt. High Miller zu seinen Füßen bewegt sich nun. Ben bückt sich und zieht ihn auf die Beine, führt ihn dann wie einen Betrunkenen hinaus. Die Männer bringen die Pferde. Man bindet High Miller im Sattel fest. Und dann reitet Ben Garylord mit dem Gefangenen davon.
»Hoffentlich hängen sie ihn auch wirklich in Osage View«, sagt einer der Männer fast beschwörend.
10 Schon nach einer Meile beginnt High Miller zu fluchen. Dann verwünscht er Garylord. Doch Garylord erwidert nichts. Erst später, als er ihre Fährten ziemlich verwischt hat und sie sich in Deckung von Hügeln befinden, hält er an. Es ist nun später Mittag, fast Nachmittag. Die Sonne wärmt nur wenig. Es weht ein kalter Wind aus Norden. High Miller sagt: »Und wer bist du? Wie kamst du zu diesen goldenen Schachfiguren?« »Vielleicht hast auch du welche in deinem Gepäck«, erwidert Garylord. »Ich werde es durchsuchen, wenn wir am Abend rasten. Wer ich bin? Nun, ich heiße Garylord. Du bist der sechste der Brazos-Lobos, den ich erwischt habe. Ich bin der Sohn des Ehepaares, welches ihr auf der Lonestar Ranch im Brazos-Land ermordet habt. Die goldenen Schachfiguren gehörten meinem Vater. Kapiert? Es hat auch nicht viel genützt, dass ihr euch trenntet und verschiedene Wege rittet. Ich werde mir auch noch den letzten von euch Wölfen holen, diesen Steve Lamont. Dich bringe ich nach Osage View. Und jetzt sprich
nicht mehr mit mir. Verstehst du? Ich will mit dir kein Wort mehr wechseln. Wenn du dein Maul aufmachst ohne meine Aufforderung, dann schlag ich dir jedes Wort in den Hals zurück.« High Miller will doch noch etwas sagen. Er holt schon Luft und öffnet seinen Mund. Doch Garylord zeigt ihm die Rechte, und in Garylords Augen erkennt High Miller, dass er mit einem Todfeind reitet, der ihn nur so lange schonen wird, wie er sich beherrschen kann. Da schweigt er lieber. Sie reiten bis in die Nacht hinein und halten erst, nachdem sie noch einmal die Richtung wechselten. Im Camp macht Ben Garylord ein Feuer. Er verrichtet alle notwendigen Arbeiten und kocht auch Kaffee, backt Pfannkuchen mit Speck. High Miller zeigt ihm stumm die gefesselten Hände. Doch Garylord sagt trocken: »Nein, die binde ich dir nicht los. Du musst zusehen, wie du damit zurechtkommst.« High Miller stößt ein böses Knurren aus. An seinem Kopf ist eine blutunterlaufene Beule, die bis zur Nasenwurzel reicht. Er muss mit gefesselten Händen essen. Aber das ist nicht besonders schwer, weil er die Pfannkuchen leicht zusammenrollen und wie eine Wurst essen kann. Seine Finger haben genügend
Bewegungsfreiheit, um die Blechtasse mit dem starken Kaffee zu halten. Ben Garylord untersucht dann das Gepäck des Banditen. Auch darin findet er goldene Schachfiguren, dazu eine Zierspange aus dem Besitz seiner Mutter. Er fragt dann: »Warst du es, der meine Eltern tötete? Jetzt darfst du wieder dein Maul aufmachen. Wer also gab die ersten Schüsse ab? Nachdem ich dich nun kenne, möchte ich annehmen, dass du den Anfang machtest. Antworte!« Wieder lässt High Miller nur ein böses Knurren hören. Dann aber sagt er: »Geh zur Hölle, du Bastard, aah, geh doch zur Hölle! Wenn du ein Kerl wärst, ein stolzer Bursche, dann würdest du von Mann zu Mann von mir Genugtuung fordern. Du würdest es wie ein stolzer Bursche mit mir austragen, sei es mit dem Colt, mit dem Messer oder auch mit den bloßen Fäusten. Aber was du mit mir vorhast … Nun, darauf wirst du nicht stolz sein können. Du hast mich mit viel Glück und einem Bluff geschafft. Aber wenn du mich in Osage View abgeliefert hast und sie mich dort hängen sollten, dann tun sie das nicht wegen dieser Sache bei euch auf der Ranch in Texas. Dann kann das doch für dich keine Genugtuung sein – oder? Du kannst deine Eltern doch wohl
nur rächen, wenn du’s mit mir austrägst, wenn du persönlich versuchst, mich zu töten – oder?« Als er verstummt, zieht Garylord seinen Colt und zielt über das Feuer hinweg auf ihn. Dabei sagt er: »Ja, ich könnte dich töten – einfach abschießen wie einen tollen Hund. Und damit würde ich den Leuten in Osage View noch Arbeit ersparen. Ich könnte dir eine solch geringe Chance geben, wie meine Eltern und deren Leute sie hatten. He, warum habt ihr sie getötet?« High Miller zuckt mit den Schultern. »Dein Vater«, sagt er, »hätte sich all seine Weidereiter zusammengeholt. In ein paar Stunden hätte er zwei oder drei Dutzend hinter sich gehabt. Wir hielten ihn für einen Mann, der uns eine ganze Woche oder noch länger auf der Fährte gewesen wäre. Und auch die anderen Menschen auf der Ranch hatten uns gesehen. Sie konnten uns beschreiben. Wie fandest du unsere Fährten? Sag mir das mal, ja?« Zuerst will Garylord ihm nicht antworten. Dann sagt er: »Das war einfach. Es waren nicht alle tot auf der Ranch. So war die Rede von sieben Brazos-Lobos. Ich fand dann zuerst Joe Brown. Er ritt immer noch ein Pferd mit dem Lonestar-Brand. Als er begriff, dass er nur noch eine einzige Chance hatte, begann er zu reden. Er erzählte mir eine Menge über euch. Wenn Joe Brown mich getötet hätte, wärt ihr alle
davongekommen. Aber er konnte mich nicht schaffen im fairen Revolverkampf.« »Den du mir nicht gewähren willst«, sagt High Miller bitter. »Du hast wohl Angst vor mir, ja? Du bist zu feige, es mit mir auszutragen. Und so willst du die Leute von Osage View deine Rache …« »Nein«, unterbricht ihn Ben Garylord. »Ich will nur nicht mehr Richter und Vollstrecker sein, wenn es die Möglichkeit gibt, euch nach Recht und Gesetz von dieser Erde zu jagen. Ich wollte nie Rache. Es ging mir allein darum, keinen von euch mit dieser Schuld davonkommen zu lassen. Denn ihr wart zweibeiniges Raubwild. Ihr hättet immer wieder Blut vergossen. Nein, ich will nicht mit dir kämpfen. Es genügt mir, wenn sie dich in Osage View nach Recht und Gesetz hängen für eine ganz andere Sache. Und jetzt ist unsere Unterhaltung beendet. Sprich nicht mehr. Verstanden? Sonst geb ich dir doch noch etwas.« Er zeigt ihm die blanke Faust über das Feuer hinweg. High Miller sieht im Feuerschein Garylords Augen funkeln – und plötzlich spürt er wieder, wie sehr dieser Mann sich beherrschen muss, um nicht an ihn zu gehen. Also nimmt auch High Miller sich zusammen. Denn sein Kopf schmerzt schlimm genug. Er möchte nicht noch zerschlagen werden. Denn wenn er bis nach Osage View noch eine Chance
erkennen kann, so dass er blitzschnell und entschlossen handeln muss, wird er all seine Fähigkeiten brauchen. Nein, er darf diesen Garylord nicht reizen, so dass dieser ihn verprügelt. Dies würde nur noch mehr seine ohnehin schwachen Chancen reduzieren. Garylord kommt dann etwas später um das Feuer herum, fesselt ihm auch die Fußgelenke zusammen und bindet ihn mit dem Rest des Lassos an einen Baum, so dass er sich nicht rollen kann. Dann löscht Garylord das Feuer und legt sich zur Ruhe. High Miller aber beginnt an seinen Fesseln zu arbeiten. Im Morgengrauen ist James High Gun Miller frei. Er kriecht langsam um das erloschene Feuer herum, und er friert nicht mal in der kalten Nacht, weil es ihn erhebliche Anstrengungen kostete, die Fesseln an einem Stein durchzureiben. Miller kriecht lautlos, und sein Hass gegen Garylord ist mit jeder Minute gewachsen. Nun hat er ein einziges Ziel, nämlich eine Waffe in die Hand zu bekommen. Sein eigener Spencer-Karabiner liegt ihm am nächsten. Er nimmt ihn, repetiert blitzschnell und drückt ab. Aber es löst sich kein Schuss.
Unbemerkt für Miller hat Garylord im Verlauf des vergangenen Tages die Waffe entladen. Doch das Repetieren – dieses metallisch knackende Geräusch – hat Garylord geweckt. In Sekundenbruchteilen wird Miller sich darüber klar, wie erfahren Garylord ist. Dieser Spencer-Karabiner, der griffbereit am nächsten lag, war Garylords zusätzliche Sicherung, sozusagen eine Art ›Alarmglocke‹, sollte der Gefangene die Fesseln lösen können. Es war logisch, dass er dieses Gewehr nehmen und es repetieren würde, um dann abzudrücken. Als High Miller das in einem einzigen Sekundenbruchteil begreift, wird seine Wut noch bösartiger. Er geht das Risiko ein, Garylord mit dem Gewehr erschlagen zu wollen wie mit einem Knüppel. Doch Garylord schläft nicht mehr. Er rollt sich gegen Millers Beine. Miller schlägt im selben Sekundenbruchteil mit dem Gewehrkolben zu, aber nur dorthin, wo Garylord soeben noch lag. Dann fällt Miller vornüber. Sie springen auf. Und Garylord ist etwas eher auf den Füßen. Sie kämpfen schweigend mit den Fäusten. Und bald schon erhält Miller die schlimmste Tracht Prügel seines Lebens. Als sie dann keuchend innehalten – High Miller, weil er nicht mehr kann und Garylord,
weil er meint, dass es nun genug ist –, wird es Tag. Nach einer Weile beginnt Garylord den Gefangenen wieder zu fesseln. Und eine halbe Stunde später sind sie wieder auf dem Weg nach Osage View. Für High Miller sieht es nun gar nicht mehr gut aus. Und er weiß das. Er weiß aber auch, dass er eigentlich keine Chance hatte gegen Dies deprimiert ihn besonders. Denn er selbst hielt sich die ganze Zeit für den Allergrößten, den niemand schlagen kann. Der Schein einer roten Abendsonne liegt schon auf dem Osage River, als sie in die Stadt reiten, von deren sanfter Höhe man einen herrlichen Blick über eine Flussschleife hat. Als Garylord mit seinem Gefangenen vor dem Sheriff’s Office anhält, haben sich schon einige Bürger angesammelt, und sie alle erkennen High Miller nicht sofort, weil dessen Gesicht ziemlich zerschlagen ist. Der Sheriff tritt heraus. Es wird still. Sie alle hören Garylord sagen: »Ihr wollt doch High Miller haben, nicht wahr? Nun, hier ist er.« Sie starren ihn an, und es laufen immer mehr herbei.
Eine Stimme ruft gellend über die Straße: »Hoiii, Leute! Er hat High Miller gebracht! High Miller ist das!« Der Sheriff ist ein falkenäugiger Mann, der erfahren und hart wirkt. Er fragt: »Kopfgeldjäger?« Sie alle blicken auf Garylord, und er spürt eine Welle der Abneigung. Denn so gerne man hier in Osage View diesen High Miller auch hängen möchte, gegen Kopfgeldjäger hat man was, weil diese oftmals auch nicht viel besser sind als das Wild, welches sie jagen und für Geld einbringen. Aber sie alle sehen Garylord den Kopf schütteln. »Nein, Sheriff«, hören sie ihn vom Sattel aus sagen. Er wirft dem Sheriff die Zügelenden des anderen Pferdes zu, auf dem High Miller verbittert hockt. »Nein, ich bin kein Kopfgeldjäger, Sheriff! Ich erhebe keinen Anspruch auf die Prämie. Man könnte diese Prämie an die Angehörigen der Toten auszahlen, die bei dem Überfall auf die Postkutsche starben. Nein, ich war nur der Meinung, dass man High Miller endlich unschädlich machen müsste. Er gehörte zu einer Bande, die drüben in Texas eine Ranch überfiel und mehr als ein halbes Dutzend Tote – darunter auch meine Eltern – hinter sich ließ. Jetzt wird er wohl für alles büßen, nicht wahr?«
»Das wird er, Mister«, erwidert der Sheriff. »Mein Name ist Garylord, Ben Garylord«, sagt dieser und wendet sein Pferd. Ein Mann ruft ihm nach: »Mir gehört der Mietstall, Garylord! Sie haben alles frei bei mir!« »Und auch bei mir im Hotel, Mister Garylord«, sagt eine zweite Stimme laut genug. Er hebt dankend die Hand. Und als sie jetzt hinter seinem Rücken High Miller vom Pferd heben, nachdem sie ihn losbanden, kreischt High Miller mit seinem ganze Hass: »Garylord, ich werde aus der Hölle auf dich niederspucken und dir in deinen Träumen erscheinen!« Aber Ben sieht sich nicht einmal um. High Miller wird drei Tage später in Osage View gehenkt. Denn Osage View will Countystadt werden und in diesem Land Entschlossenheit demonstrieren. Deshalb muss man zuerst das Land von Banditen und Mördern säubern und Sicherheit der Wege und Wagenstraßen garantieren. Nur so werden Menschen ins Land kommen, um es mit ihrem Fleiß zum Aufblühen zu bringen. Von High Millers Kumpanen und Freunden kommt keiner. Niemand macht den Versuch, ihn zu befreien – obwohl er das offensichtlich bis zur letzten Minute erhofft.
Er stirbt mit einem Fluch, der Ben Garylord gilt. Dieser sieht sich die Vollstreckung des Todesurteils vom Rand der Zuschauermenge im Sattel seines Pferdes an. Dann reitet er davon. Nein, in ihm ist abermals keine Genugtuung – nur Bitterkeit. Seine Eltern und all die anderen Menschen werden nicht wieder lebendig durch diese Vollstreckung. Und die Gewissheit, dass auch dieser Mordbandit keine Verbrechen mehr begehen kann, lindert die Bitterkeit nur wenig. Es ist ein Gefühl der Leere und Hilflosigkeit in ihm. Und er sehnt sich nach etwas Wärme und Zärtlichkeit. Ihm fällt Sally Manners in White Creek wieder ein. Und so macht er sich auf den Weg. Gewiss, es gibt da noch einen siebenten Brazos-Lobo. Doch er mag jetzt die Jagd auf diesen letzten Wolf noch nicht aufnehmen. Er weiß ziemlich sicher, wo er den letzten Mann der Bande – Steve Lamont – finden wird. Er hat ihn sich ja bis zuletzt aufgehoben, weil er so sicher sein kann, ihn daheim zu finden in Kentucky am Ohio River. Denn Steve Lamont wollte heim. Das ist sicher.
Einige Male unterwegs denkt Ben Garylord daran, die Jagd aufzugeben und den letzten Wolf laufen zu lassen. Er möchte heim nach Texas. Dort wird man ihn nötig brauchen. Er hat genug von der Menschenjagd. Und dennoch … darf er den letzten Wolf entkommen lassen? Er wischt diese Gedanken beiseite. Und er freut sich auf Sally Manners, die ihn so stark spüren ließ, dass er der Mann ist, den sie sich schon lange in ihrer Vorstellung wünschte. Er küsste sie bisher noch nicht einmal. Und dennoch weiß er, dass sie auf ihn wartet. Als er am nächsten Abend vor ihrem Saloon hält, kommt sie heraus, so, als hätte sie ständig durch die Fenster die Straße beobachtet. Er sitzt ab und sieht sie an. Sie legt ihre Fingerspitzen leicht auf seinen Arm. »Du hast gewiss schon eine Menge schöner Frauen gehabt«, murmelt sie. »Bin ich dir denn gut genug?« Er lächelt. »Ich habe alle anderen Frauen vergessen«, sagt er. »Ich sehe dich – und ich kann mich an alle anderen nicht mehr erinnern.« »Stell dein Pferd in den Stall zu meiner Stute«, sagt sie. »Dann kannst du über die Hintertreppe hinauf in meine Wohnung. Ich hab ein wenig zu
tun mit den Gästen. Aber ich werde bald kommen.« In ihren Augen erkennt er die warme Freude. Und er denkt: Das ist es, was ich brauche – Wärme, Zärtlichkeit, Freude. Ich bin der vielen Fährten und Kämpfe leid. Er bleibt volle acht Tage bei Sally Manners. Dann sagt er ihr, dass er wieder reiten muss. Sie nimmt es sehr gefasst auf und fragt nur: »Wirst du eines Tages wiederkommen? Soll ich warten auf dich?« Er denkt nach, lauscht tief in sich hinein. Dann schüttelt er den Kopf. »Ich muss den letzten Lobo noch jagen«, sagt er. »Und dann muss ich heim nach Texas, um Rinder nach Kansas zu treiben. Sally, du würdest zu lange auf mich warten müssen. Doch wenn du einen Freund brauchst, der dir helfen soll irgendwie, dann lass es mich wissen. In einem Jahr spätestens werde ich dir Geld schicken, damit du von hier weg …« »Nein«, sagt sie herbe. »Ich will nichts von dir. Vielleicht kann ich diesen Saloon irgendwann verkaufen. Oder es kommt ein anderer Mann, der so ist wie du und bleibt. Wer kann in die Zukunft sehen? Ben, viel Glück.« Sie nehmen am nächsten Morgen Abschied. Und dann reitet er in Richtung Kentucky zum Ohio River.
Oh, er weiß, wo Steve Lamont zu Hause ist. Der letzte Wolf kann ihm noch weniger entgehen als zuvor die sechs anderen. So glaubt er, und deshalb beeilt er sich nicht allzusehr. Er macht oft Rast in kleinen Orten. Einmal muss er sogar länger als eine Woche warten, denn es tobt ein Blizzard über das Land. Der Winter ist nun weiß geworden. Irgendwann reitet er weiter, erreicht eines Tages den Missouri und nimmt bei Rainbow Bend eine Fähre auf die andere Seite. In einigen Tagen ist er endlich am Ohio River, doch auf der falschen Seite. Denn Kentucky ist auf der anderen. Er findet am nächsten Tage wieder eine Fähre, und hier fragt er den Fährmann nach dem Ort Jamesboro. »Den gibt es nicht mehr«, sagt der Fährmann sofort. Ben Garylord staunt. »Den gibt’s nicht mehr?«, fragt er ungläubig. »Was ist denn geschehen? Jamesboro war doch wohl eine kleine Stadt hier am Fluss – oder? Wir reden doch über das gleiche Jamesboro?« »Es gibt nur eines am Fluss – oder vielmehr, es gab nur dieses eine Jamesboro. Die Leute dort hatten nur scheußliches Pech. Sie borgten sich Geld von der Bank, um eine moderne Whiskybrennerei zu bauen. Das taten sie auch. Und zugleich investierten sie eine Menge Geld in
den Tabakanbau und eine zweite Fabrik, die den Tabak verarbeiten sollte. Aber dann flog die moderne Whiskybrennerei in die Luft. Und die Tabakfabrik brannte ab. Die Bank übernahm allen Grund, den die Leute von Jamesboro besaßen. Eine große Bodenverwertungsund Handelsgesellschaft kaufte alles. Die Stadt wird abgerissen, weil der Boden sich gut für den Tabakanbau eignet. Es war ja auch keine richtige Stadt, nur eine große Siedlung. Da lebten etwa ein halbes Hundert Menschen. Ich sah sie alle, denn sie kamen vor einigen Wochen mit ihrer wenigen Habe auf meine Fähre. Ich setzte sie über den Fluss – neun Wagen, ein paar Haustiere und Pferde. Sie wollten weiter nach Westen, um noch einmal neu anzufangen.« Ben Garylord staunt nun nicht mehr länger. Er fragt schnell: »Ich wollte in Jamesboro zu einem gewissen Steve Lamont. Er ist etwas jünger als ich, blond, blauäugig – und er hat links nur ein halbes Ohr von einem Säbelhieb. War dieser Mann auch bei dem Treck?« Der Fährmann nickt. »Er war der Anführer«, sagt er. »Von ihm bekam ich das Fährgeld. Er feilschte um jeden Dollar und erzählte mir deshalb von dem großen Pech, welches sie in Jamesboro hatten. Er handelte tatsächlich pro Wagen einen ganzen Dollar herunter, obwohl Hochwasser war und wir hier doppelte Arbeit hatten. Das Fährseil hätte
reißen können. Doch sie wollten unbedingt übersetzen. Wegen dem nahen Winter konnten sie auch keine Zeit verschwenden. Mister, wenn Sie zu diesem Mann wollen, dann müssen Sie wieder zurückfahren auf meiner Fähre. Das kostet noch mal zwei Dollar.« Es ist in den nächsten Tagen nicht schwer für Ben Garylord, der Fährte dieses Wagenzuges zu folgen. Natürlich ist es keine sichtbare Fährte. Doch er findet längs des Wagenweges immer wieder Leute, die sich an den kleinen Wagenzug erinnern, besonders an den blonden und blauäugigen Anführer, der so gar nicht zu den anderen Leuten zu passen schien. Und immer wieder erfährt Ben Garylord, dass dieser Anführer um jeden Cent feilschte und handelte, wenn sie unterwegs etwas kaufen mussten. Es wird in den kommenden Wochen langsam Frühling. Manchmal will Garylord es aufgeben, weiter nach dem Wagenzug zu forschen. Und immer wieder erfährt er dann irgendwelche Dinge, die ihn weiter auf der Fährte reiten lassen. Vor allem wundert er sich mehr und mehr über den Anführer dieser Siedler, die ihre Stadt aufgeben mussten und nun im Westen irgendwo noch einmal neu anfangen wollen.
Ist dieser Anführer überhaupt identisch mit jenem letzten Brazos-Lobo, einem verdammten Banditen und Mörder? Er kann es manchmal kaum glauben. Denn der blonde und blauäugige Bursche scheint ein verantwortungsvoller Anführer eines ziemlich deprimierten und mutlosen Haufens zu sein, ohne den diese Leute wahrscheinlich verloren wären. Und dann erfährt er auch manchmal etwas von einer alten Frau, die sich auf Krankheiten versteht wie ein guter Arzt und auch als Hebamme reiche Erfahrung haben muss. Diese Frau soll die Mutter des blonden Anführers sein, der sich Steve Lamont nennt. Vielleicht – so denkt Garylord manchmal – ist die alte Frau des Rätsels Lösung. Vielleicht will der heimgekehrte Brazos-Lobo die Mutter nicht enttäuschen und gibt sich als guter Sohn und redlicher Mann. Es ist ein weiter Weg ins südöstliche Colorado dicht beim Santa Fe Trail, der von Kansas City kommt. Die Kiowas machen noch das Land unsicher, aber sie bekämpfen fast immer die schwerbeladenen Frachtwagenzüge. Denn die bedeuten reiche Beute. Die armen Siedler lassen sie zumeist in Frieden. Es ist an einem schönen und schon recht warmen Frühlingstag, als Ben Garylord das große Bluegrass Valley am Bluegrass River erreicht.
Die Hütte ist kümmerlich, halb in den sanften Hang hineingebaut mit einem Dach aus Grasboden. Der Wagen, mit dem die Siedler herkamen, steht neben der Hütte. Es gibt noch einen Corral, in dem zwei Pferde stehen. Etwas weiter entfernt stehen zwei Milchkühe auf einer Weidekoppel. Eine Frau ist dabei, dicht bei der Hütte einen Gemüsegarten anzulegen. Der Creek ist nur einen Steinwurf weit entfernt. Es ist ein schöner Platz für eine Farm. Als Ben Garylord heranreitet, richtet sich die Frau auf und wischt sich mit dem Unterarm den Schweiß aus der Stirn. Es ist eine kleine Frau, schon recht krumm von einem harten, arbeitsreichen Leben. Ihr Haar ist weiß, und in ihrem wettergegerbten Gesicht sind viele Runzeln und Fältchen. Es ist ein gutes Gesicht, ein richtiges Muttergesicht. Ben Garylord greift an den Hut. »Ein schöner Tag, Ma’am«, sagt er. »Wie heißt die Stadt, die ich von den Hügeln in der Ferne sehen konnte am Fusse des Passes?« »Westward-ho«, erwidert sie. »Doch es ist noch keine richtige Stadt. Wollen Sie zu Bull Younger?«
In ihrer direkten Frage ist unverkennbar Bitterkeit. »Wer ist Bull Younger?« Sie betrachtet ihn ernst. Er bewundert ihre leuchtend blauen Augen. Diese Augen sind weise, gut – und wirken irgendwie noch jung. Er denkt: Sie muss als Mädchen eine ganz besondere Schönheit gewesen sein. »Bull Younger …«, sagt sie nachdenklich, so als müsste sie erst die Worte suchen, um ihn zu beschreiben. »Nun, sein Vorname sagt schon alles. Er fühlt sich als der große Bulle im Corral. Und dieses weite Tal ist sein Corral, so meint er. Er will uns zum Teufel jagen, uns Siedler. Und er wirbt Revolverreiter an. Auch Sie tragen einen Colt wie diese Revolverreiter. Deshalb glaubte ich, dass Sie zu ihm wollen, um Ihren Colt zu vermieten.« »Nein«, sagt Ben Garylord, »das werde ich gewiss nicht tun.« Er greift wieder an den Hut und will weiter. Doch sie sagt: »Junger Mann, steigen Sie ab. Ihr Pferd hat einen weiten Weg hinter sich und könnte eine Rast gebrauchen. Ich habe frische Milch. Und wenn Sie wollen, schlag ich ein paar frische Eier in die Pfanne. Ja, ich habe auch ein paar Hühner. Nur muss ich höllisch auf sie aufpassen. Die Füchse und Kojoten sind hier sehr frech. Na, steigen Sie schon ab. Ich bin Louise
Lamont, und ich hatte einst eine Menge solcher Jungens wie Sie. Sieben waren es.« Ihr Lächeln ist gut, und ihre Augen blicken warm. Es ist ihm, als wäre sie froh, dass er keiner von diesen Revolverschwingern ist, die offenbar zu einem gewissen Bull Younger reiten, weil es sich im Land herumsprach, dass er Revolverlohn zahlt; zumindest doppelten Cowboylohn. Als er sie ihren Namen nennen hört, erschrickt er nicht. Nein, er ist irgendwie schon darauf vorbereitet. Denn so stellte er sich die Frau vor, von der er schon unterwegs mehrmals hörte, wenn er nach dem Wagentreck fragte, auf dessen Fährte er ritt. Ja, dies ist die alte Frau, die sich auf Krankheiten versteht und eine besonders erfahrene Hebamme ist. Überall in den Ortschaften zwischen Kentucky und dem Valley hier verkaufte sie Teemischungen für verschiedene Krankheiten und gab dazu kundige Ratschläge. Sie zog sogar Zähne. Wahrscheinlich legt sie auch jetzt wieder einen Kräutergarten an. Ben Garylord denkt: Sie ist also seine Mutter. Ja, es kann nicht anders sein. Wenn Sie Louise Lamont ist, dann muss sie Steve Lamonts Mutter sein, die Mutter also des letzten Brazos-Lobos, des letzten Wolfes.
Er möchte weiterreiten, ihr nicht länger mehr in die blauen Augen blicken müssen. Denn er ist ja hergekommen, Steve Lamont zu töten, Genugtuung zu fordern von einem Mörder. Aber er kann nicht weiter seines Weges reiten – nein. Die Ausstrahlung der weißhaarigen Frau ist stark. Die Bitte in ihrem Blick ist etwas, was er nicht abschlagen kann. Und so sitzt er ab. Es gibt ein hölzernes Wasserbecken mit einer Pumpe. Sein Pferd steckt das Maul ins Wasser. Vor der Hüttenwand steht eine Bank. »Setzen Sie sich nur, junger Mann«, sagt sie. »Ich hole die Milch. Wollen Sie ein paar Spiegeleier?« »Nein, nur ein Glas Milch, Ma’am«, erwidert er und fügt hinzu, als sie noch verharrt und ihn fragend ansieht: »Mein Name ist Garylord, Ben Garylord.« »Aus Texas«, nickt sie. »Ich hab noch einen Sohn von sieben. Auch er war schon in Texas. Damals während des Krieges. Kennen Sie ihn vielleicht? Er heißt Steve, Steve Lamont. Kennen Sie ihn?« Sie fragt es freundlich, sorglos scheinbar, so wie eine Mutter, die überzeugt ist, dass ihr Sohn – wo er auch war – nur Freunde zurückgelassen hat. Aber Ben Garylord glaubt nun, dass sie schlau und ihre sorglose Harmlosigkeit nur gespielt ist.
Vielleicht weiß sie von der Vergangenheit ihres Sohnes – oder sie konnte mit feinem Instinkt wittern, dass mit diesem fremden Reiter eine Gefahr gekommen ist, die sie besser erkennen möchte. Sie verschwindet in der Hütte. Er aber setzt sich auf die Bank und sieht sich um. Was er sieht, befindet sich alles noch in den Anfängen. Doch er sieht schon umgebrochenes Land. Wenn man bedenkt, dass Steve Lamont mit seiner Mutter hier kurz vor dem Winter ankam, haben sie schon eine Menge geschafft. Die weißhaarige Frau muss geschuftet haben wie ein Mann. Denn allein hätte Steve Lamont dies alles nicht geschafft, selbst wenn er sich redlich gemüht hätte zwanzig Stunden am Tag. Louise Lamont kommt mit einem großen Becher voll Milch heraus. Es ist ein schön bemalter Tonbecher, vielleicht sogar einst von ihr daheim in Kentucky hergestellt. Die Milch ist kühl. Als er trinkt, richtet sich sein Blick in die Ferne. Beim Creek werden nun einige Reiter sichtbar, die bisher in Deckung der Bäume und Büsche ritten. Nun aber kommen sie durch die Furt. Louise Lamont sagt neben ihm: »Nun, Ben Garylord, jetzt werden wir gleich sehen, ob Sie zu den Youngerreitern gehören oder nicht. Da kommen welche, und sie haben gewiss einen
Auftrag. Das Ultimatum, welches Bull Younger uns setzte, ist abgelaufen. Da kommen sie durch die Furt.« »Und wo ist Ihr Sohn Steve?« Sie steht neben ihm und blickt schräg zur Seite. Obwohl er sitzt und sie neben ihm steht, ist sie nicht viel größer. »Irgendwo«, erwidert sie. »Youngers Reiter jagen ihn schon einige Tage und Nächte. Sie haben bei uns eine Rinderhaut ausgegraben, die Youngers Brandzeichen trug. Und da behaupteten sie, wir wären Rinderdiebe, die das Rind geschlachtet haben und mit den Nachbarn teilten. Aber sie vergruben die Haut wahrscheinlich selbst hier bei uns, als wir in Westward-ho waren, um ein paar Einkäufe zu machen, Saatgut zum Beispiel.« Sie verstummt herb. Und die Reiter sind inzwischen durch den Creek gekommen und verhalten vor der Hütte. Ben Garylord leert den Milchbecher, stellt ihn dann sorgfältig neben sich auf die Bank und erhebt sich. Er macht ein paar Schritte zur Seite, bis er an der Ecke der Hütte stehe. Einer der vier Reiter fragt barsch: »He, wer bist du denn? Was treibst du hier, Freundchen?« Ben Garylord kennt diese Sorte, zu der auch der Frager gehört. Ja, es sind raue Jungens mit
schnellen Colts, Burschen, die man raue Arbeit verrichten lassen kann. Die Sache ist für Ben Garylord ziemlich klar. Ein Mann will das ganze Bluegrass Valley für sich. Und er will die Siedler verjagen, die kurz vor Anbruch des Winters gekommen sind. Er will sie vertreiben, bevor sie sich richtig festsetzen und Ernten einbringen können. Dafür warb er ein raues Rudel an. Und er schuf auch einen Grund, um den Anführer dieser Siedler jagen zu können. Er trieb ihn gewissermaßen aus der Herde und lässt ihn hetzen. Und wenn er ihn erwischt, wird er ihn wegen Viehdiebstahl hängen. Die Siedler werden keinen Anführer mehr haben, sich fürchten und weiterziehen. So einfach ist das. Ben Garylord weiß es. Er nickt dem Frager zu und sagt: »Ich bin soeben in dieses Land gekommen. Über den Pass im Osten. Und ich habe hier ein Glas Milch getrunken. Denn die Ma’am war nett zu mir. Was wollt ihr denn hier?« »Du stellst hier keine Fragen, Buddy«, sagt der Sprecher. Dann wendet er sich an Louise Lamont. »Sie bekamen ein Ultimatum, Tanten-Oma. Sie wussten, dass wir kommen und euch hier Beine machen würden.«
Er wendet sich an die drei anderen Reiter und sagt: »Also, Jungens, macht ihr Beine. Spannt die beiden Gäule an den Wagen. Und dann zerstört den ganzen Krempel hier. Macht alles klein. Setzt sie auf den Wagen und jagt die Gäule fort in Richtung zum Ostpass. Na los!« Die Reiter bewegen sich sofort. Sie befolgen willig die Befehle des Anführers. Zwei gehen zum Corral, um die Pferde herauszuholen. Der dritte fragt: »Und was sollen wir mit den Milchkühen machen, Stacketter?« »Legt sie um. Sie kann nicht den Wagen fahren und auf die Kühe achten. Sie sind ihr nur hinderlich.« Der dritte Reiter, der nicht absaß wie die beiden anderen, wendet sein Pferd und reitet zur Weidekoppel hinüber. Ben Garylord sieht, wie Louise Lamont zittert. Dann hört er sie sagen: »Mein Junge, was würdest du sagen, wenn es deiner eigenen Mutter so erginge?« »Das wär mir wurscht.« Der Mann, den einer der drei anderen Reiter Stacketter nannte, grinst. »Meine Mom lief fort, bevor ich richtig laufen konnte. Selbst wenn ich wüsste, dass es ihr so erginge wie dir, Tante, ließ mich das kalt. Mich kannst du nicht mit solchen Worten weichklopfen. Willst du nicht deine wichtigsten Siebensachen herausholen, bevor wir die Hütte zerstören?«
»Nein«, erwidert Louise Lamont. »Das will ich nicht. Denn ich werde hier bleiben und – wenn es nicht anders geht – hier auch sterben. Ich gehe nicht mehr fort. Ich bin zu alt.« »Ihr hättet euch hier nicht festsetzen dürfen«, sagt Stacketter und will absitzen. Doch da sagt Ben Garylord: »Lasst das Mütterchen zufrieden, Freunde! Haut lieber wieder ab. Es ist kein feiner Stil, sich an alten Mütterchen zu vergreifen. Na, wird’s bald?« In Ben Garylords Stimme kommt zuletzt eine gnadenlose Härte. Und weil dieser Stacketter ja noch drei Mann bei sich hat, sie also in der Überzahl sind, gibt es nur zwei Möglichkeiten, über die Stacketter jetzt in den nächsten Sekunden nachdenkt. Denn entweder hat er es mit einem großmäuligen Bluffer zu tun – oder mit einem Großen der Gilde. Und zu dieser Gilde gehört vielleicht knapp ein Dutzend zwischen der Süd- und Nordgrenze. Doch Stacketter hält sich ebenfalls für einen Großen. Deshalb macht er den schlimmsten Fehler seines Lebens: Er zieht gegen den fremden Texaner und zischt zuvor: »Du bist wohl ein Freund von …« Wahrscheinlich hätte er vollendet: »… ihrem Sohn?« Aber dazu kommt es nicht mehr. Denn weil er vor Vollendung des Satzes zieht,
bekommt er eine Kugel in die Schulter, sieht dabei in das Mündungsfeuer des Texaners und begreift, dass er diesem nicht gewachsen war. Dann erst spürt er den Schmerz und wird sich darüber klar, dass ihm der Colt entfallen ist. Einen Moment verspürt er den wilden Wunsch, sich zu bücken und mit der anderen Hand zur Waffe zu greifen – doch dann kommt die Angst. Er begreift, dass er dann sterben muss. Und so gibt er auf. Er fällt stöhnend auf die Knie, denn der Schmerz in der Schulter ist zu stark. Es wird ihm für eine Weile schwarz vor Augen. Seine drei Begleiter kommen herbei, zuerst die beiden Männer, die zu Fuß zum Corral gingen – dann der Reiter, der zur Weidekoppel ritt, um die beiden Milchkühe abzuschießen. Ben Garylord erwartet sie mit dem Colt in der Hand. Zuerst sieht es so aus, als wollten sie kämpfen. Doch dann überlegen sie es sich. Denn sie sehen ihren Anführer am Boden knien, fast schon bewusstlos. Sie hören auch sein schmerzvolles Stöhnen. Dann krächzt er gepresst: »Oh, bringt mich fort! Bringt mich fort! Bringt mich fort, bevor ich verblute.« »Das könnt ihr nicht«, spricht da Louise Lamont. »Erst muss ich seine Wunde versorgen. Und wenn die Kugel das Schultergelenk beschädigt hat, habe ich eine Menge zu tun. Also
los, Jungens! Ich brauche heißes Wasser! Und dann schafft den Tisch ins Freie. Hier draußen kann ich mehr sehen. Vielleicht muss ich ihm sogar die Schulter aufschneiden und …« »He, Oma, bist du denn ein Doc?«, staunt einer der Kerle. »Mein Vater war einer«, erwiderte sie. »Also los, Jungens! Oder wollt ihr ihm nicht helfen?« Sie gehorchen. Ben Garylord beobachtet das alles. Und er staunt schon längst nicht mehr. Er hatte ja schon vorher gespürt, dass diese Louise Lamont eine ganz besondere Frau ist – eine gescheite, warmherzige und anspruchslose Mom, die sieben Söhne hatte, von denen nur noch einer übrig ist – jener, den Ben Garylord töten will.
11 Zwei Stunden später blicken sie den Reitern nach. Zwei von ihnen stützen rechts und links den verwundeten Anführer. Denn so gut seine Wunde von Louise Lamont auch versorgt wurde, er verlor doch eine Menge Blut, hat Schmerzen und fühlt sich sehr schwach. Ben Garylord sagt: »Ma’am, Sie waren gut zu dieser Bande. Und Sie hatten, wie Sie sagten, einmal sieben Söhne. Und was ist mit ihrem Mann?« »Der wurde in Kentucky schnell zu einem Whiskybrenner. Er war fast immer betrunken und machte mir sieben Söhne, bevor er mit seiner Brennerei in die Luft flog. Der älteste Sohn war damals genau sieben Jahre alt. Ich hab sie großgezogen, so gut ich konnte. Steve ist der Jüngste.« »Und die anderen?« »Sie ritten hinaus in die Welt – und sie kamen auf alle möglichen Arten um, drei im Krieg, einer auf dem Ohio als Steuermann, einer als Goldgräber, den man überfiel – und einer starb an einer Krankheit. Nur Steve blieb mir. Und auch er war lange fort, fast fünf Jahre. Aber er kam heim. Er hatte sich an seine Mutter erinnert und sich
gedacht, dass er sich allmählich um sie kümmern müsste. Er ist ein guter Junge, der Anführer von allen Siedlern hier im Valley. Er hat uns hergebracht und wird auch dafür sorgen, dass wir bleiben können. An ihm wird dieser Bull Younger scheitern. Und das möchte ich noch erleben.« Sie sieht zu Ben Garylord empor. »Auch du, mein Junge, musst dich jetzt vor Younger hüten. An deiner Stelle würde ich nicht nach Westward-ho reiten.« »Oh, doch, Ma’am«, widerspricht er. »Ich werde eine Weile durch das Valley reiten und mir alles genau ansehen. Und vielleicht treffe ich auch mal Ihren Steve. Ja, ich würde ihn gern kennenlernen.« Sie nickt leicht. Dann murmelt sie: »Als du vor unsere Hütte geritten kamst, mein Junge, hatte ich ein ungutes Gefühl. Ich fürchtete mich. Aber dann standest du mir bei. Jetzt fürchte ich mich nicht mehr. Sag mir, ob du Steve vielleicht schon kennst aus früheren Zeiten – aus Texas zum Beispiel. Steve träumt manchmal schlecht. Es muss etwas gegeben haben in Texas. Und ich hab schon seit einer Weile Angst, es könnte ihn einholen. Steve spricht manchmal im Traum. Ben Garylord, warum kamen Sie in dieses Valley? Gib mir Antwort, mein Junge, wenn du mich schon beschützt hast wie ein Sohn, ja?«
Ben Garylord schüttelt den Kopf. Oh, er mag diese Frau. Sie erinnert ihn an seine eigene Mutter. Aber er mag ihr den Grund seines Hierseins nicht sagen. Und so erwidert er nur ruhig: »Ach, ich reite nur so durch die Welt.« Nach diesen Worten streicht er ihr sachte über das grauweiße Haar und geht zu seinem Pferd. Er zieht den Sattelgurt stramm und nimmt die Steigbügel vom Sattelhorn. Dann sitzt er auf und reitet davon. Es ist schon Abend, als er nach Westward-ho kommt, und es ist wirklich kaum mehr als eine Siedlung, die bisher fast nur vom Wagenweg über den Westpass lebte. Dann kamen die paar Siedler. Und dann kam auch Bull Younger mit einer kleinen Rinderherde, für die das Bluegrass Valley hundertmal zu groß ist – noch. Es gibt nur einen Store, ein Hotel und einen Saloon, dazu eine Schmiede beim Wagenhof der Post- und Frachtlinie und überdies noch einige Häuser, Hütten und Schuppen. Das ist alles. Ben Garylord hält vor dem Store an, denn er muss seine Ausrüstung ergänzen. Er benötigt Proviant, Tabak und ein neues Hemd. Als er sporenklingelnd in den Saloon tritt, taucht eine junge Frau auf.
An ihren Fingern ist kein Ring. Sie betrachtet ihn mit vorsichtiger Zurückhaltung. Erst als er ihr sagt, was er alles haben möchte und sie daran erkennt, dass er wahrscheinlich nur auf der Durchreise ist, wird sie freundlicher. Indes sie seine Bestellungen fertigmacht, geht er ein wenig im Store umher und sieht sich um. Und da entdeckt er etwas, was ihn staunen lässt. Es ist die letzte goldene Figur des Schachspiels. Es ist der King, und er ist fast doppelt so groß wie ein Daumen. Ja, es ist die letzte Figur. Sie steht unter einem Glas. Daneben an der Wand ist ein Stück Pappe befestigt, auf der geschrieben steht: Pures Gold, 680 Gramm, verkäuflich, 1000 Dollar Er wendet sich der Verkäuferin zu. »Miss …« »Ich bin Nelly Britten«, sagt sie. »Ich führe seit dem Tod meines Vaters diesen Store.« Er greift an den Hut. »Ben Garylord«, stellt er sich vor. »Es ist wegen dieser goldenen Schachfigur. Von wem ist sie? Von Ihnen?«
»Nein – natürlich nicht«, sagt sie. »Aber ich gab den Siedlern darauf Kredit. Schon seit dem Winter kaufen sie bei mir ein – auch Saatgut. Aber nun muss ich bald Geld bekommen. Sonst kann ich selbst nicht mehr die bestellten Waren bezahlen. Verstehen Sie? Dann laden die Frachtwagen hier nichts mehr ab. Deshalb muss ich das Ding möglichst schnell verkaufen. Haben Sie Interesse?« »Schon«, sagt er. »Nur keine tausend Dollar.« »Ach«, sagt sie mit etwas Resignation in der Stimme, »ich würde sie schon für sechshundertachtzig Dollar hergeben. Das wäre der Goldwert etwa. Aber es ist ja auch ein Kunstwerk, nicht? Ich würde für die Siedler gerne etwas Gewinn herausschlagen. Bis zur Ernte ist es noch lang.« Er nickt, und er wendet sich ab, um sich im Regal ein Hemd auszusuchen. Doch er ist mit seinen Gedanken kaum noch bei dem Hemd. Er denkt immer wieder: Dieser Steve Lamont – er ist mein Mann. Nur von ihm kann die goldene Schachfigur sein. Aber er hat sie hergegeben für seinen Wagentreck, für die Menschen, die er hergeführt hat. Er hat damit Gutes getan, Not gelindert, ja vielleicht sogar Verzweifelte gerettet. Er hat damit Menschen durch den Winter gebracht,
Hoffnungen erhalten. Verdammt, was für ein Bursche ist dieser letzte Brazos-Lobo? Aber er kann sich die Frage nicht beantworten. Und so kehrt er zum Verkaufstisch zurück und sieht Nelly Britten an. Er fragt: »Diese Siedler hier werden von Steve Lamont geführt, nicht wahr? Was ist das für ein Mann?« Sie wirkt alarmiert, ist dabei aber bemüht, es nicht zu zeigen. »Sie kennen Steve Lamont?« Er schüttelt den Kopf. »Nein, ihn nicht, doch seine Mutter. Ich machte unterwegs Rast bei ihr. Und da kam ein gewisser Stacketter mit einigen üblen Burschen. Man wollte sie vertreiben.« Er verstummt. Nelly Britten aber fragt: »Und? Was geschah dann? Wurde sie vertrieben?« Er schüttelt den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Denn ich zerschoss diesem Stacketter die Schulter. Seine Begleiter waren dann nicht mehr scharf auf weiteren Verdruss. Mrs. Lamont erzählte mir dann von ihren Söhnen. Sie hatte sieben, und jetzt ist nur noch einer übrig. Man jagt und hetzt ihn. Was ist er für ein Mann? Ich spüre irgendwie, Miss Britten, dass Sie ihn gut kennen. Oder täuscht mich da mein Gefühl?« Sie nickt langsam. »Er wird mich heiraten«, spricht sie. »Er ist ein guter Mann. Er hat den armseligen Siedlertreck von Kentucky hergebracht. Die
Leute hatten dort eine Menge Pech. Sie mussten bettelarm fort. In einigen dieser Familien fehlen die Väter und Söhne, weil sie im Krieg fielen. Diese Menschen wären Bettler geworden, wenn er sie nicht zusammengehalten und hergebracht hätte, ihnen nicht immer wieder Mut machen würde und …« Sie verstummt, denn sie ertappt sich dabei, dass sie wohl zu sehr erkennen lässt, wie begeistert sie von Steve Lamont ist. Und so sagt sie nach einigen Atemzügen: »Er ist ein Mann, der zum Salz der Erde gehört, einer von der Sorte, die aus einer inneren Verantwortung heraus für die Kleinen und Schwachen eintreten – so wie Sie, Mister Garylord, als Sie seiner Mom gegen Stacketter beistanden. Ja, der Bursche heißt Stacketter. Er ist ein Revolvermann in Bull Youngers Diensten. Und vor Bull Younger und seinem rauen Rudel müssen Sie sich jetzt hüten. Es war vielleicht falsch von Ihnen, hier in die Stadt zu kommen.« Er schüttelt den Kopf. »Nein«, widerspricht er, »es war notwendig – aus verschiedenen Gründen. Ich brauchte Proviant und dieses neue Hemd. Und ich sah diese goldene Figur und erfuhr etwas über Steve Lamont, dessen Mutter mich sehr beeindruckt hat. Es war gut, dass ich nach Westward-ho kam. Ich würde diese Figur gerne kaufen. Doch ich könnte nur zweihundert Dollar anzahlen. Auf den
Rest müssten Sie vielleicht ein ganzes Jahr warten, Miss Britten.« Sie denkt nach, zögert, will schon ablehnen. Doch dann wird ihr klar, dass zweihundert Dollar eine Menge Geld sind so kurz nach dem Krieg. Für zweihundert Dollar könnte sie eine Menge Waren kaufen und den Siedlern bis zur Ernte helfen. Sie nickt plötzlich. »Ja, ich muss es wohl machen«, sagt sie. »Das Geld ist knapp in diesem Land. Sie sagten, es wäre eine Schachfigur?« »So ist es«, nickt er und holt sein Geld hervor. Nachdem er alles bezahlt hat, was sie zusammenrechnet und außerdem noch die zweihundert Dollar Anzahlung auf den Tisch legt, bleibt ihm nicht mehr viel. Es wird gerade noch für den langen Weg nach Texas auf die Heimatweide reichen. Sie nimmt das Geld und holt dann die goldene Schachfigur. »Den Rest des Geldes bekommen Sie bestimmt«, sagt er. »Ich muss nur erst nach Texas zurück und dann dort eine Rinderherde nach Kansas treiben. In einem Jahr etwa haben Sie das Geld. Mir gehört die Lonestar Ranch im BrazosLand.« Als er den letzten Satz spricht, beobachtet er sie genau. Aber sie hat offenbar noch nichts von der Lonestar Ranch gehört, und auch der Name
Garylord sagte ihr offenbar nichts. Nein, sie weiß nichts von Steve Lamonts Vergangenheit. Sie wickelt die goldene Figur in ein neues Taschentuch. Dann reicht sie das kleine Päckchen über den Ladentisch. Scheinbar achtlos steckt er es in die Hosentasche. Dann nimmt er die anderen Dinge, auch das Hemd. Er nickt Nelly Britten zu und geht hinaus. Er spürt eine Unsicherheit, die für ihn ein völlig neues Gefühl ist. Noch niemals in seinem Leben war er so unsicher. Und er denkt: Verdammt, warum gebe ich mein letztes Geld her für eine Schachfigur, die mir ohnehin gehört? Warum nahm ich sie mir nicht einfach? Und was mache ich mit diesem Steve Lamont? Suche ich nach ihm? Hetze ich ihn so wie die YoungerReiter? Oder reite ich heim nach Texas und lass den letzten Wolf am Leben? Aaaah, ich kenne jetzt seine Mutter, seine Braut, und ich hörte von seinen Taten. Vielleicht war er gar kein zweibeiniger Wolf, sondern nur ein Hund, der mit den Wölfen lief? All diese Gedanken schießen ihm durch den Kopf, indes er den Store durchquert und die Tür erreicht. Draußen gibt es eine Veranda aus Holzplanken. Der Ort hat keinen hölzernen Gehsteig wie sonst so viele Städte. Zwischen den Häusern gibt es noch Lücken, unbebaute Grundstücke. Aber fast jedes Haus hat schon eine
Veranda, so dass man bei schlechtem Wetter nicht all den Schmutz direkt in die Häuser und Läden trägt. Als er einen Schritt aus der Tür ist, hält er inne. Hinter ihm schlägt die Tür zu, bimmelt das Glöckchen. Aber er hört es gar nicht. Er ist so sehr alarmiert wie draußen in der Wildnis im nächtlichen Camp durch ein jähes Geräusch. Doch er hört hier kein Geräusch. Es ist etwas anderes, was ihn von einem Sekundenbruchteil zum anderen alarmiert. Sein Pferd ist weg. Und weil er hier vor dem Storeeingang so gut von der Laterne und dem aus den Schaufenstern fallenden Licht angeleuchtet wird und eine gute Zielscheibe bietet, duckt er sich und macht kehrt. Es krachen fast im gleichen Moment gegenüber zwei Schüsse. Eine Kugel zerschlägt eine der kleinen Türscheiben, die andere Kugel fährt dicht neben seinem Kopf in das Holz des Rahmens. Er aber lässt seine Einkäufe fallen – und indes er mit einer Hand die Tür öffnet und in den Store flüchtet, feuert er schon mit dem Colt hinüber, genau dorthin, wo die Mündungsfeuer aufleuchteten. Dann ist er im Store.
Und zugleich erlischt im Store die große Karbidlampe. Nelly Britten drehte den Brenner zu. Er kauert dicht neben dem Eingang hinter einigen Bohnensäcken. Und indes er den Colt lädt, sagt er über die Schulter: »Tut mir leid, Nelly. Aber ich konnte mich anders nicht aus der Schusslinie bringen. Ich musste in den Store zurück.« »Sie hätten nicht nach Westward-ho kommen dürfen, nachdem Sie gegen Youngers Reiter Partei ergriffen«, erwidert sie. Einige Atemzüge lang schweigen sie, lauschen nur. Dann hören sie ein Geräusch. Nelly sagt: »Da kommt jemand durch die Hintertür vom Hof herein. Passen Sie auf, Ben Garylord! Aaah, er riegelt die Hintertür ab. Das könnte …« Ihr Flüstern wird von einem kurzen Ruf unterbrochen, den der Mann ausstößt, der durch die Hintertür hereingekommen war. »Hoii, Nelly, hörst du mich?« »Steve«, sagt sie. »Steve, bist du das?« »Wer sonst.« Der Mann lacht bitter. »Ist dieser Garylord bei dir, von dem mir vorhin meine Mom erzählte? Oder haben sie ihn vorn schon erwischt?«
»Ich bin hier, Steve Lamont«, erwidert Ben Garylord an Nelly Brittens Stelle. »Ich bin wieder in den Store gesprungen. Kann ich hinten raus?« »Nein, nicht mehr«, erwidert Steve Lamont. »Ich musste zwei Burschen niederschlagen, bevor ich zu euch herein konnte. Sie wollten vor mir eindringen. Ich erwischte sie im letzten Moment. He, Garylord, Sie sitzen mächtig in der Klemme. Und das alles wegen uns.« »Und deswegen sind Sie hier, Steve Lamont?« »Warum sonst? Als ich zu meiner Mom kam, erzählte sie mir, was geschehen ist und sagte gleich, dass Sie hier in Westward-ho Schwierigkeiten bekommen würden mit Youngers Reitern. Da draußen irgendwo steckt Bull Younger selbst. Ich konnte Sie doch nicht in der Klemme sitzen lassen.« Nun weiß es Ben Garylord genau: Steve Lamont ist ein Bursche, der seine Schulden begleicht. Er kommt nun von der Hinterseite nach vorn. »Wo sind Sie denn, Garylord?«, fragt er bald darauf im dunklen Verkaufsraum. »Und wo steckst du, Nelly?« »Hinter dem Ladentisch«, erwidert sie. »Und ich bin hier vorn neben dem Eingang hinter Bohnensäcken«, lässt Garylord sich hören. Wenig später ist Steve Lamont neben ihm.
Sie können sich nicht sehen. Von draußen fällt nur ein wenig Licht in den Store. Sie erkennen sich nur schattenhaft als Silhouetten. »Mann«, sagt Steve Lamont, »da haben Sie sich aber in eine böse Sache eingekauft. Ich bin zwar gekommen, Ihnen zu helfen, doch ob wir es schaffen gegen Bull Younger und seine Revolverschwinger …« Er verstummt bitter. In Ben Garylord tobt ein Durcheinander von Gefühlen. Aaah, ich habe hier den letzten Wolf aufgespürt, denkt er, den letzten dieser sieben Brazos-Lobos. Aber nach allem, was ich zu begreifen glaube, ist er gar kein zweibeiniger Wolf und war es wohl nie. Denn kein Mensch kann sich so sehr ändern in wenigen Monaten – kein Mensch. Ich bin gekommen, ihn zu töten. Doch da stehen nun einige Dinge dazwischen – eine alte Mutter, ein junges Mädchen, einige Siedlerfamilien – und ein neuer, redlicher Anfang. Er schüttelt die Gedanken ab, erinnert sich an Steve Lamonts Worte. Und so fragt er: »Wo mag dieser Bull Younger jetzt sein, Lamont?« Der Mann neben ihm holt scharf Atem, so, als begriffe er Ben Garylords Gedanken im selben Moment, da die Frage verklingt.
»Er hat Westward-ho besetzt«, erwidert er. »Also sind seine Leute ziemlich verteilt. Aber die meisten schließen jetzt den Store ein, um uns auszuräuchern. Bull Younger wird es sich im Saloon gemütlich gemacht haben. Erst wenn er begreifen sollte, dass es seine Revolverschwinger nicht schaffen, wird er die Sache selbst in die Hand nehmen.« Ben Garylord nickt in der Dunkelheit. Dann sagt er trocken: »Also müssen wir den großen Bullen im Saloon besuchen. Wie kommen wir hin?« »He«, schnappt Steve Lamont. Dann aber sagt er grimmig: »Ja, das ist es! Der lässt mich schon viele Tage und Nächte jagen. Ja, das ist es! Dann würde alles aufhören. Also gehen wir, Ben Garylord. Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Und Texaner sind Sie, guter Freund? Auch ich war mal in Texas. Ein Land für Baumwollpflanzer oder Rinderzüchter. Ich bin beides nicht. Eigentlich hab ich nur Schnapsbrennen und ein wenig Farmen gelernt. Und dennoch will mich dieses Mädchen dort drüben heiraten. Nur muss ich dazu am Leben bleiben. Also gehen wir. Ich glaube, wir kommen noch hinaus.« Ben Garylord folgt ihm. Im Lager des Store gibt es ein Fenster. Es führt zur Seite hinaus auf eine Baulücke, in der Gras und Büsche wuchern. Steve Lamont muss erst
den Fensterladen öffnen. Dann klettert er zuerst hinaus. Beide Männer haben Schwierigkeiten, durch das kleine Fenster zu kommen. Aber sie haben Glück. Hier neben dem Store ist noch niemand. Sie hören jedoch Stimmen hinter dem Store. Dort fand man jetzt wahrscheinlich die beiden von Steve Lamont niedergeschlagenen Revolverschwinger. Steve Lamont führt nun. Sie gleiten wie Indianer durch die Nacht. Hinter ihnen ist Lärm. Youngers Männer dringen jetzt offenbar von zwei Seiten in den Store ein und wundern sich, dass sie keinen Widerstand vorfinden. »Wenn sie Nelly etwas tun …«, knurrt Steve Lamont einmal. Sie erreichen die Hintertür des Saloons. Denn dieser befindet sich ja nur einige Grundstücke weiter. »Diesen Bull Younger«, sagt Ben Garylord, »übernehme ich. Wie sieht er aus?« »Wie ein Toro, ein schwarzer Kampfstier«, erklärt Steve Lamont. »Und er hat einen Leibwächter bei sich, einen kleinen Burschen, der unscheinbar wirkt. Aber er hat einen großen Namen. Pecos Slade. Vor dem hätte ich mehr Angst als vor Bull Younger.« »Na gut«, entschließt sich Ben Garylord. »Dann übernehme ich den Pecos-Artisten.«
»He, bist du für den auch schnell genug? Der ist nämlich bestimmt etwas fixer als Stacketter. Ja, ja, Mom sagte, dass du ihn erledigt hättest wie ein Berglöwe einen Hundebastard. Aber …« »Ich schaffe Pecos Slade«, unterbricht ihn Ben Garylord und öffnet die Hintertür. Sie treten ein. Ben verspürt Ärger. Verdammt, er ist hergekommen, den letzten Brazos-Lobo zu erledigen. Und nun sind sie beide Partner. Aber wenn er an alles denkt, was er nun weiß, da verspürt er fast eine widerwillige Freude, über die er sich zugleich auch ärgert. Das alles mag widersinnig klingen – aber es ist in ihm nun mal solch ein Widerstreit von Gefühlen. Als sie den Gastraum betreten, sehen sie dort sofort die beiden Männer, und er steht so, dass er die Hintertür und auch den Vordereingang beobachten kann. Der Wirt hält sich am anderen Ende des Schanktisches auf. Und Bull Younger steht an der Schwingtür und blickt über diese hinweg auf die Straße hinaus. Wahrscheinlich lauscht er auch. Denn es ist still im Raum. Sonst ist niemand da. Der Saloon ist klein, primitiv, und es gibt nur vier Tische. Aber in solch einer kleinen Stadt kann man keine noble Whiskytränke erwarten.
Pecos Slade stößt einen zischenden Laut aus, als die beiden Männer durch die Hintertür hereingleiten. Bull Younger, der dem Schanktisch bisher den massigen Rücken zuwandte, wendet sich mit einer schnellen Bewegung. Ja, er ist ein bulliger, dunkler Bursche, ganz voller geballter Kraft und Schnelligkeit wie ein schwarzer Toro in Mexiko. Bei Steve Lamonts Anblick lacht er laut auf. Es klingt wie ein freudiges Gebrüll. Und dann zieht er auch schon seinen großen Colt. Ben Garylord kann auf dieses Geschehen nicht achten. Er sieht am Schulterzucken von Pecos Slade, dass dieser hinter dem Schanktisch verborgen den Colt zieht und dabei einen Schritt zur Seite macht, um freies Schussfeld zu bekommen. Ben spürt den Rückstoß seines Colts in der Faust, wird sich dann erst bewusst, dass er selbst ebenfalls gezogen hat und schießt. Er blickt in das Mündungsfeuer des Gegners, wundert sich, warum er nicht getroffen wird und sieht, wie der kleine Revolvermann aus dem Pecos-Land zur Seite taumelt, sich halb um die eigene Achse dreht und noch eine Kugel in die Decke schießt. Ben Garylord blickt auf Steve Lamont – und dieser konnte Bull Younger offensichtlich nicht schaffen. Denn er fällt auf die Knie und versucht
noch einmal den Colt zu heben. Doch das schafft er nicht mehr. Vielleicht hätte Bull Younger noch einmal auf Steve Lamont geschossen, doch nun erkennt er die andere Gefahr. Er begreift in einem winzigen Sekundenbruchteil, dass sein Leibwächter nicht schnell genug war, und so richtet er den Colt von Steve Lamont blitzschnell auf Ben Garylord. Aber Garylord ist schneller, schießt früher. Youngers massige Gestalt wird von der schweren Kugel gestoßen. Sein Schuss geht fehl. Und bevor er noch einmal abdrücken kann, bekommt er die zweite Kugel, die alles entscheidet, weil sie ihn tötet. Es ist aus. Younger kracht auf die Bretter. Der Kampf ist vorbei. Ben Garylord geht zu Steve Lamont, der am Boden hockt und sich die Hand gegen die Wunde presst, so, als könnte er dadurch das Blut zurückhalten. Lamont blickt zu ihm auf, grinst verzerrt. »Ich war nie ein besonders guter Revolverschwinger«, sagt er heiser. »Dieser Bull Younger war doppelt so schnell. Danke, Freund Garylord – danke.« Nach diesen Worten legt er sich zur Seite und verliert die Besinnung. Ben Garylord steht mit noch rauchendem Colt neben ihm und blickt auf ihn nieder. Seine Gefühle sind noch immer zwiespältig.
Da liegt er nun, der letzte Brazos-Lobo, der sicherlich gar keiner war, sondern nur mit einer üblen Bande ritt. Ben Garylord hat auch hier wieder kämpfen und töten müssen, doch nicht den Mann, den er hier endlich einholte. Der Wirt kommt hinter dem Schanktisch hervor. »Jetzt wird es besser im Land, sehr schnell, sehr viel besser«, sagt er heiser. Ben Garylord gibt ihm keine Antwort. Aber er zielt auf die Schwingtür. Denn draußen nähern sich einige sporenklingende Schritte. Männer drängen herein. Es sind wahrscheinlich Youngers Reiter, die vom Store herbeigelaufen kommen, weil sie die Schüsse hörten und im Store selbst herausfanden, dass die Männer, die sie haben wollten, entwischen konnten. Ben Garylord hält den Colt schussbereit, als er zu ihnen sagt: »Haut ab! Packt euch! Euer Boss ist tot!« Die alte Louise Lamont arbeitet wieder in ihrem Kräutergarten, als sie den Reiter kommen sieht. Und wieder wischt sie sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn, so wie damals. Dann blickt sie bewegungslos dem Reiter entgegen. Ja, es ist wieder der Fremde aus Texas, der sich Ben Garylord nennt.
Louise Lamonts Herz will stillstehen. Dann wieder beginnt es wild zu pochen. Als der Reiter bei ihr verhält, bringt sie kein einziges Wort hervor. Dabei möchte sie den Texaner doch fragen, ob ihm Steve geholfen hat. Denn eigentlich muss doch alles gut gegangen sein in Westward-ho. Aber sie fürchtet diese Frage. Sie hat Angst vor der Antwort. Ben Garylord erkennt dies alles in ihren Augen. Er lächelt – und schon an seinem Lächeln erkennt sie, dass alles gut werden wird. »Steve half mir«, sagt Ben Garylord. »Er bekam etwas ab. Doch Nelly pflegt ihn schnell wieder gesund. Bull Younger ist tot.« »Steig ab, mein Sohn«, sagt sie. »Ich hab wieder etwas Milch für dich. Und dann will ich dich fragen, warum du in dieses Land gekommen bist. Wegen Steve? Hat er eine Schuld in Texas zurückgelassen?« »Er hat sie bezahlt, Ma’am«, erwidert Ben Garylord und reitet weiter. ENDE