Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 591 Das Zeittal
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 591 Das Zeittal
Der letzte Zeithüter von Peter Terrid Im Zeittal gefangen In den mehr als 200 Jahren ihres ziellosen Fluges durch die Tiefen des Alls haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL schon viele gefährliche Abenteuer bestanden. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit dem Tag ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangte, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, im Jahre 3804 Solzeit, geht es bei den Solanern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung. Da geht es um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X – einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat. Nach der Vernichtung des »schlafenden Heeres«, der wohl letzten Aktivwaffe des Gegners, herrscht Ruhe im All, von der Breckcrown Hayes mit den Solanern gewissermaßen profitiert. Das gilt jedoch nicht für Cpt'Carch und Insider, die beiden Extras. Sie erreichen den Planeten Technokrat – und dort erwartet sie DER LETZTE ZEITHÜTER …
Die Hauptpersonen des Romans: Berle, Uryde, Groch und Skohl - Vier Dymohden auf dem Weg zur Totenstadt. � Zeithüter-Null - Der letzte der Zeithüter. � Cpt'Carch und Insider - Die Extras auf dem Planeten Technokrat. � Oggar - Das Bewußtsein macht sich erneut bemerkbar. �
1. Immer wenn er Zeit hatte, suchte Berle den gleichen Ort auf, ein Plätzchen, wo er im Licht der kupfernen Sonne die stahlblauen Dolden des Hysern-Schilfs sehen konnte, wie sie sich leise im Winde wiegten, umplätschert von den dunklen Fluten des Varyn, der sich nicht weit entfernt in den südlichen Ozean ergoß. Berle liebte es, sich ins dichte Gras am Ufer zu legen, dem Spiel der Winde und Wellen zuzusehen, die Sonne auf dem Pelz zu spüren und den Gedanken nachzuhängen. An diesem Tag hatte er es schwerer als sonst, zur inneren Ruhe zu kommen. In zwei Tagen fand das Fest der Mannbarkeit statt; am Abend dieses Tages würde er ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein, ein erwachsener Dymohde mit allen Rechten und Pflichten. Er konnte sich ein Weib nehmen, sich jein Stück Land zum Leben aussuchen, im örtlichen Rat seine Stimme erheben und Verbesserungsvorschläge machen, falls ihm etwas Verbessernswertes einfiel. Berle rollte sich auf den Bauch und starrte auf das dunkelgrüne Wasser des Varyn hinab, das nur ein paar Schritte entfernt langsam floß. Das Stück Land hatte sich Berle schon vor etlichen Mondumläufen ausgesucht, und welches Weib er sich wählen würde, stand ebenfalls schon seit geraumer Zeit fest. »Langweilig, das alles«, sagte Berle. Es gab wenig Aufregung und Ärger im Leben eines Dymohden; seit unzähligen Generationen
nahm das Leben auf dem Planeten Sinohr den stets gleichen Gang. Kinder wurden geboren, wuchsen heran und wurden erwachsen. Sie bebauten das Land, setzten Nachwuchs in die Welt, alterten und wandelten sich. Alle paar Jahrzehnte einmal kam ein Bote des Alls und holte einige wenige Auserwählte zum Ewigkeitsdienst ab, aber auch das war kein sehr aufregender Vorgang. Er fand zu selten statt, als daß er das stete Gleichmaß hätte durchbrechen können. In einigen Monaten war es möglicherweise wieder soweit, aber Berle hatte daran keinerlei Interesse. Es gab keinen Wettbewerb um die Ehre, Ewigkeitsdienst leisten zu dürfen, und da niemals einer der Erwählten zurückgekehrt war, wußte niemand so recht, was es damit eigentlich auf sich hatte. Berle hörte Schrittgeräusche und hob den Kopf. Er sah Uryde langsam näherkommen. Ihr dichter brauner Pelz schimmerte im Sonnenlicht. Der Kopf war aus der Brusthöhlung ausgefahren, zwei dunkelblaue Augen sahen Berle an. »Ich ahnte, daß ich dich hier finden würde«, sagte Uryde. Sie ließ sich neben Berle nieder und stupste ihm zur Begrüßung die Nase in den Nacken. »Wo sonst sollte ich sein«, gab Berle zurück. Er räkelte sich träge. »In zwei Tagen ist es soweit, dann werde ich der Gemeinschaft sagen, daß wir zusammenziehen.« »Glaubst du, die wüßten das nicht längst? Nachdem du Ikkar meinetwegen verprügelt hast, ist jedem in der Siedlung klar, daß wir beieinander bleiben werden.« »Also keinerlei Neuigkeiten«, sagte Berle. »Manchmal wünsche ich mir, das Leben wäre ein wenig aufregender.« »Und was hast du von der Aufregung?« fragte Uryde. »Abwechslung«, antwortete Berle. »Und was hast du davon?« Fragespiele dieser Art kannte Berle – es gab zahllose Fragen, aber keine einzige Antwort. »Ich finde, das Leben sollte ein Ziel haben«, sagte Berle. »Zu leben ist Ziel genug«, antwortete Uryde. Dagegen ließ sich
wenig sagen. »Sollte einer von uns Ewigkeitsdienst leisten müssen, wäre das Aufregung genug?« fragte Uryde. »Wie kommst du auf die Idee?« fragte Berle und setzte sich auf. Er streckte die Arme aus, rupfte ein paar der blauen Dolden heraus und begann daran herumzuknabbern. »In kurzer Zeit ist es doch wieder soweit. Dann landet das Weltraumschiff, und ein paar Dymohden werden an Bord gehen – und es könnte auch einen von uns treffen.« »Würdest du gehen?« »Ohne dich, niemals.« »Meine Entscheidung wäre die gleiche, folglich werden wir nicht den Planeten verlassen.« Berle sagte nichts. Er starrte auf den Fluß. So langsam, gleichmäßig und unaufhaltsam wie das Strömen dieses Wassers verlief auch das Leben der meisten Dymohden. Ab und zu eine Naturkatastrophe, eine Überschwemmung, eine Feuersbrunst, einmal pro Jahrtausend ein Erdbeben, das war alles, was das Leben auf Sinohr an Abwechslung zu bieten hatte. Der Boden war reichlich vorhanden und fruchtbar, die Gespräche über Ernteaussichten dementsprechend zäh und langweilig. Man konnte natürlich auch nach Uhranzhar gehen, der Totenstadt. Es gab wilde Gerüchte und Vermutungen über das, was sich in dieser Riesenstadt abspielte. Einig waren sich alle Dymohden, daß Uhranzhar ein Ort für Tote und Verbrecher war. Ein normaler Dymohde konnte dort nicht überleben. Auch das war seit vielen Jahrtausenden so, und so neuerungssüchtig war auch Berle nicht, daß er gegen dieses Abenteuer sein bisheriges Leben aufs Spiel gesetzt hätte. Wer nach Uhranzhar ging, kam in keinem Fall zurück – wer es versuchte, wurde unfehlbar erschlagen, ohne jede Ausnahme. Dennoch kam es immer wieder vor, daß ein Dymohde aus den Siedlungen verschwand und sich auf den Weg machte. Berle sah Uryde an.
»Komm, wir gehen in die Siedlung zurück. Wir müssen noch Vorbereitungen für das Fest treffen.« Eng aneinandergeschmiegt traten sie den Heimweg an.
* Es gab nur eine einzige Stadt auf Sinohr, eben Uhranzhar, ansonsten zahllose kleine Siedlungen, die meisten nicht größer als höchstens fünfzig Häuser. Je nach Landstrich waren sie aus Lehmziegeln gebaut, aus Balken und Brettern zusammengezimmert, in Felsen gegraben, in den heißesten Landstrichen leicht und luftig, in den kühleren Regionen massiver und wärmespeichernd. Hier, am Delta des Varyn, lebten die Dymohden in Lehmziegelhäusern. Schilfe wurden mit dem Lehm der Flußufer zusammengepreßt, durchmischt mit einem Bindemittel, dann an der Sonne getrocknet. Die Häuser waren mit Kalk verputzt und glänzten weiß im Licht der kupfernen Sonne. Auf den flachen Dächern waren Kräutergärten angelegt; das Erdreich hielt zudem viel von der Mittagshitze ab. In dieser Siedlung – sie trug wie fast alle keinen eigenen Namen – lebten dreihundert Dymohden unterschiedlichen Alters. Als Berle und Uryde zurückkehrten, fanden sie die anderen bei der Arbeit. Holz wurde herangeschafft für das große Feuer, an langen Gerüsten hingen die Würste zum Trocknen, zwei Frauen waren damit beschäftigt, das Feuer unter dem großen dorfeigenen Backofen zu schüren. In ein paar Stunden waren die Steinplatten heiß genug geworden, dann konnten die Brotlaibe eingeschoben werden. Kinder hatten Früchte und Beeren gesammelt, und Berle konnte sehen, wie drei Männer ein großes Faß über die Straße rollten, auf dem Weg zum kühlsten Platz in der Siedlung. Die Ernte dieses Umlaufs war besonders gut gewesen, die Scheuern waren prall gefüllt, und der Wein war von besonderer
Güte und zudem reichlich vorhanden. Es sah alles danach aus, als würde dieses Mannbarkeitsfest eines der üppigsten der letzten Jahrzehnte werden. Berle sah Groch vorbeitraben. Er grüßte den Freund, der zusammen mit ihm mannbar werden würde. »Die Häuser sind bald soweit«, sagte Groch. »Wir können bald einziehen.« Sobald sich ein Paar gefunden hatte, wurde in gemeinschaftlicher Anstrengung für sie ein Haus gebaut, in dem sie ihr künftiges Leben verbringen sollten. Da diese neuen Häuser stets in die gleiche Richtung gebaut wurden, schob sich die Siedlung von Generation zu Generation an der Straße entlang vorwärts, auf das Ufer des Ozeans zu. In schätzungsweise dreihundert Jahren mußten die ersten Häuser dann die Küste erreicht haben, und dann konnte man sich überlegen, in welche Richtung es weitergehen sollte. Mit Problemen dieser Art befaßte man sich bei den Dymohden erst, wenn sie aktuell geworden waren – einstweilen machte sich niemand Gedanken darüber. Es war Ehrensache für die jungen Männer und Frauen, daß sie fleißig zupackten, wenn es um ihre Zukunft ging. So waren auch Berle und Uryde in den nächsten Stunden hinreichend beschäftigt. Der Festplatz mußte frisch gestampft werden. Lehm war herbeigeschafft worden und wurde gleichmäßig verteilt. Das Feuerholz wurde kunstvoll aufgeschichtet, die umliegenden Häuser bekamen einen Schmuck aus frischem Grün. Jäger schafften ein paar Stück Wildbret heran und hingen es in einem Lagerraum zum Reifen auf, während sich die Frauen damit beschäftigten, die anderen Speisen vorzubereiten. Langeweile kam in diesen Stunden nicht auf, dafür gab es einfach entschieden zu viel zu tun. Als Berle an diesem Abend in Schlaf sank, war er rechtschaffen müde. Am nächsten Morgen ging die Arbeit weiter. Eine Gruppe junger Dymohden zog mit Netzen los und fischte, andere schnitzten
geschwind noch ein paar hölzerne Becher auf Vorrat. Wie üblich würde es beim Fest zu einer munteren Schlägerei kommen, bei der der eine oder andere Becher zu Bruch ging, daher war es ratsam, Vorräte anzulegen. Am Nachmittag unterzog sich Berle seiner letzten Pflicht als Jüngling. Er suchte den alten Skohl auf, den ältesten Bewohner der Siedlung. Skohl lebte in einem alten Haus am anderen Ende der Straße. Zwischen seiner Unterkunft und dem Rest der Siedlung gab es eine beachtliche Lücke, die anzeigte, wie lange Skohl schon lebte – in den Lücken hatten die Häuser anderer Dymohden gestanden, die längst die letzte Reise nach Uhranzhar angetreten hatten. Als Berle die Hütte erreichte, konnte er sehen, daß es bald auch mit Skohl zu Ende gehen würde. An dem Haus fehlte viel Putz. Skohl war nicht mehr in der Lage, sein Haus allein in Ordnung zu halten, und das war normalerweise ein deutliches Zeichen für das Ende. Skohl hockte auf seinem Lager aus getrocknetem Varyn-Schilf. Sein Körper war merklich kleiner geworden, das Fell wirkte stumpf, und seine Bewegungen waren von todesnaher Mattigkeit. »Willkommen, Berle«, sagte der Alte mit erstaunlich kraftvoller Stimme. Mochte er auch körperlich erschöpft sein, der Geist des Alten war klar und rege wie ehedem. »Ich bin gekommen, um mir die letzten Anweisungen zu holen«, sagte Berle. Er hockte sich vor Skohl auf den Boden und sah den Alten aufmerksam an. »Das trifft sich gut«, murmelte Skohl. »Kannst du mir den Krug dort bringen? Ich habe Durst.« Berle gab ihm den Krug mit kaltem Wasser, von dem der Alte einige Schlucke nahm. »Du wirst der letzte sein, dem ich die letzten Anweisungen gebe«, sagte Skohl. »Und eines Tages wirst du so dasitzen wie ich und wissen, daß dein Leben sich dem Ende zuneigt, und dann wirst du
mit stiller Freude das gleiche tun wie ich – einem jungen Dymohden zur Kenntnis der Wahrheit verhelfen.« »Ich lausche«, sagte Berle und neigte etwas den Kopf. »Du weißt alles, was ein erwachsener Dymohde wissen muß für sein Leben«, sagte Skohl. »Was du noch nicht weißt, werde ich dir heute erklären. Du hast gehört, daß wir Alten, wenn wir spüren, daß unsere Zeit gekommen ist, die Siedlungen verlassen, nicht wahr?« »Ich habe es bereits ein paarmal erlebt«, sagte Berle. »Jedes Jahr, wenn überall die Mannbarkeitsfeiern stattfinden, verabschieden sich die Alten und machen sich auf die lange, gefahrvolle Reise nach Uhranzhar.« »Es soll ein Ort des Schreckens sein«, sagte Berle mit leisem Schaudern. »Das hängt von der Betrachtung ab«, sagte Skohl. Wieder trank er von dem Wasser. Berle hatte auch ein Stück geräuchertes Fleisch mitgebracht, das er unauffällig zurücklassen wollte, wenn er Skohl verließ. Es schickte sich nicht, einem alten Mann plump zu verstehen zu geben, daß er für seinen Lebensunterhalt nicht mehr selbst zu sorgen imstande war. »Wir ziehen nach Uhranzhar, um dort zu sterben«, sagte Skohl. »Daß wir es dort tun und nicht bei unseren Familien, ist der letzte Dienst, den wir dem Volk der Dymohden erweisen.« »Was ist daran verdienstvoll?« wollte Berle wissen. Skohl machte eine Geste des Bedauerns. »Ich weiß es selbst nicht«, sagte er leise. »Seit vielen Generationen halten wir es so, und ich dünke mich nicht besser als meine Vorfahren, also werde ich dem Brauch folgen. Willst du es anders halten?« Berle machte eine spontane Geste der Verneinung. »Du kannst selbst sehen, wie es um mich bestellt ist. Meine Kräfte lassen nach, ich kann mein Haus nicht mehr versorgen. Glaube nicht, daß ich deine Gabe nicht schon entdeckt hätte.« Berle wurde sichtlich verlegen.
»Ich dachte nur …«, stotterte er verlegen. »Es ist gut so«, antwortete Skohl sanft. »Ich danke dir für deine Freundlichkeit. Es wird die letzte Mahlzeit sein, die ich hier einnehme. Morgen abend noch werde ich an deinem Fest teilnehmen, und in der Nacht werde ich mich auf den Weg machen. Ich hoffe, das Geschick ist mir gnädig und läßt mich unterwegs nicht sterben. Ich möchte den letzten Dienst an meinem Volk unbedingt noch leisten.« »Wie sieht dieser Dienst aus?« »Auch das werde ich erst erfahren, wenn ich Uhranzhar erreicht habe«, sagte Skohl. »Ich will dir etwas zeigen. Sieh her!« Er streckte den linken Arm aus. Auf der Innenseite des Unterarmes hatte sich der Pelz seltsam verändert. Er schimmerte silbrig. »Dies ist das Zeichen«, sagte Skohl. »Wenn du eines Tages diese Farbe an deinem eigenen Körper sehen wirst, dann weißt du, daß deine Zeit gekommen ist. Dann wirst auch du Abschied nehmen von deinen Freunden und Gefährten, falls nötig auch von deinem Weib und deinen Kindern. Dann wirst auch du den Weg nach Uhranzhar antreten und dort die Erfüllung deines Lebens finden.« »Ich werde es so halten«, versprach Berle. »Wie es alle Vorfahren getan haben.« Skohl hob den Kopf. An Berle vorbei sah er hinaus. Ein Stück des Himmels war sichtbar, weiße Wolken trieben darauf. »Ich habe lange nachgedacht«, murmelte Skohl. »Du weißt, daß ab und zu Sternenraumschiffe unseren Planet besuchen. Das tun sie seit vielen Jahrtausenden, und seit das erste Schiff hier gelandet ist, wissen wir, daß es außer der unseren auch noch andere Welten gibt, auf denen gelebt wird.« »Das weiß jedes Kind«, sagte Berle. »Ich glaube, daß unser Volk eine seltsame Begabung hat«, plauderte Skohl weiter. Die Stimme klang seltsam unwirklich, als sei
Skohl in Träumereien versunken. »Wir Dymohden haben nicht den Ehrgeiz, besser zu sein als unsere Vorfahren. Wir wollen sie nicht übertrumpfen.« Er schwieg eine Zeitlang. »Ich stelle es mir häßlich vor, ein arbeitsreiches Leben zu führen und dabei zu wissen, daß unsere Nachfahren sich über uns lustig machen werden. Wie kann ein Wesen ein Leben in Frieden beschließen, wenn es weiß oder wenigstens annehmen muß, daß es wenig später übertroffen werden wird. Du bist ein guter Fischer, Berle, das weiß jedermann. Versuche dir vorzustellen, daß in zwei oder drei Generationen jeder Dymohde besser fischen kann als du. Dein Vater, Berle, war ein vorzüglicher Töpfer. Stelle dir vor, dein Leben wäre nur dann sinnvoll, wenn es dir gelingt, ein besserer Töpfer zu sein – und du dabei weißt, daß dein Sohn noch schönere Töpfe fertigen wird.« Berle versuchte sich mit dem Gedanken vertraut zu machen. Es war sehr schwer, sich in diese Vorstellung hineinzufinden. »Das würde bedeuten, daß dann der Topf wichtiger wäre als der Mensch, der ihn geformt, bemalt und gebrannt hat.« »So würde es sein«, sagte Skohl. »Eine lange Reise, bei der das Ankommen wichtiger wäre als die Wanderung, bei der sogar das Ziel nichts zählt, weil es immer ein neues Ziel gibt. Wer so lebt, wird niemals Ruhe, niemals Erfüllung finden.« Berle lächelte. »Nun, wir leben nicht so«, sagte er. Skohl sah ihn aufmerksam an. »Mein Ratschlag – es ist der letzte, den du zu hören bekommen wirst. Bleibe so, wie du bist, versuche gar nicht erst, diesen anderen Pfad zu beschreiten. Wer ihn einmal betreten hat, findet niemals wieder zurück. Du hast noch eine Nacht, darüber nachzudenken. Komm zu einem Entschluß und halte dich daran. Du willst mit Uryde zusammenleben?« Berle machte eine Geste der Zustimmung.
»Denk daran – einen Läufer kann man während des Laufes nicht in die Arme schließen. Und nun leb wohl.« Skohl drehte sich herum und rollte sich auf seinem Lager zusammen. Leise verließ Berle seine Hütte.
2. Berle war sehr aufgeregt, er spürte sein Herz schnell schlagen, und immer wieder leckte er sich die Lippen. Er wußte so gut wie jeder andere, daß es nicht Sache eines Tages war, aus einem Jüngling einen Mann zu machen, schon gar nicht, wenn dieser Tag ein Festtag war. Dennoch war Berle aufgeregt. Den ganzen Tag über konnte er sich auf nichts recht konzentrieren. Ein Topf fiel ihm aus den Händen und zerschellte am Boden, er rannte fast einen Freund über den Haufen, und als er sich mit einem Erwachsenen über ein Problem beim Fischen unterhielt, wurde ihm nach einiger Zeit bewußt, daß er gar nicht richtig zugehört hatte. Das leise Lächeln der Erwachsenen irritierte ihn ebenso wie die bewundernden Blicke der Jüngeren, die erst im nächsten Jahr soweit waren oder noch länger zu warten hatten. So strich der Tag in aufgeregter Stimmung dahin, und er schien sich endlos zu dehnen. Immer wieder spähte Berle zur Sonne hinauf, ob es nicht endlich soweit war. Erst als er sich bei dem Wunsch ertappte, die ganze Angelegenheit möge schon hinter ihm liegen, fand er seine Fassung wieder und wurde etwas ruhiger. Die Vorbereitungen waren abgeschlossen. Jetzt mußten die Bewohner der Siedlung nur darauf warten, daß die Sonne unterging. Ein letztes Mal sollte Berle sie als Jüngling sehen – bei ihrem nächsten Erscheinen sollte er ein erwachsener Dymohde sein. Uryde durfte an diesem Tag nicht zu ihm, erst beim Fest sollte er sie wiedersehen, und dann nicht länger als Freundin, sondern als Gefährtin und Weib.
Die letzten Stunden vor Beginn des Festes verbrachte Berle damit, seinen Pelz zu pflegen. Er besaß einen gut proportionierten Körper, knapp drei Schritt groß und entsprechend rund. Er besaß lange, schlanke Arme und Beine, deren Muskeln gute und ausdauernde Übung verrieten. Berle war körperlich und geistig gewandt und schnell, sein Gebiß war in tadellosem Zustand. Auf dem Platz wurde es allmählich laut. Die ersten Gäste sammelten sich, plauderten über die Ereignisse des Tages und hatten offenbar entsetzlich viel Zeit. Berle streckte kurz den Kopf aus der Hütte. Die Sonne stand eine Handbreit über dem Horizont. Normalerweise wäre es Sache seiner Eltern gewesen, ihn auf diesen Tag vorzubereiten, aber Berles Eltern waren bei einer Überschwemmung vor drei Sommern ertrunken. Damals hatte Berle entschieden, sich keinen Vormund zu wählen – wozu er berechtigt gewesen wäre –, sondern auf eigene Faust erwachsen zu werden. Augenscheinlich war das gelungen – er konnte mit sich zufrieden sein. Er galt viel als Fischer und Jäger, seine Freunde schätzten ihn, er war bei Älteren beliebt, Kinder spielten gern mit ihm. Daß er sich das schönste Mädchen weit und breit zur Gefährtin gewählt hatte, war ihm nur von wenigen und dann auch nur für kurze Zeit geneidet worden. In der Nacht hatte Berle nicht viel geschlafen. Skohls Worte hatten ihn wachgehalten. Hin und her hatte er sich gewälzt, immer wieder überdacht. Sie schienen absolut stimmig und richtig zu sein, und doch war in Berle ein Rest Zweifel vorhanden. »He, Berle, komm heraus und zeige dich. Es ist soweit!« Über den Grübeleien hatte Berle für geraume Zeit das Fest vergessen. Erst jetzt bemerkte er, daß die Sonne nahezu verschwunden war. Langsam trat er aus seiner Hütte. Eine Gruppe Jugendlicher – noch gehörte er zu ihnen – gab ihm das Geleit. Vier weitere Gruppen marschierten aus anderen
Richtungen auf den Platz zu, wo die Erwachsenen auf den Beginn des Festes warteten. Die fünf jungen Männer zwinkerten sich zu. Werugh, der Älteste der Siedlung, ein Mann, der Kraft und Weisheit im gleichen Maß aufzuweisen hatte, steckte das Feuer an. Bald züngelten die Flammen in die Höhe. Die jungen Dymohden bauten sich daneben auf. »Dies ist der letzte Abend, den ihr als Jugendliche verbringen werdet«, sagte er eindringlich. »Wenn das Feuer erlischt, seid ihr Männer. Dies ist die Stunde, Abschied zu nehmen von der Jugend. Ist noch irgend etwas zu sagen oder zu tun, dann tut es hier und jetzt. Was heute abend nicht mehr erledigt werden kann, sollt ihr für immer vergessen.« Berle blieb ruhig stehen, während sich seine vier Freunde von ihren Eltern verabschiedeten und sich bedankten. Mit diesem Abend endete auch unwiderruflich das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Eltern und Kindern; von dieser Stunde an war ein erwachsener Dymohde für sein Leben in vollem Umfang selbst verantwortlich. Berle hatte vor vier Jahren einmal erlebt, wie ein Jüngling sich im Zorn von seinen Eltern verabschiedet hatte; in harten Worten hatte er seiner Erbitterung über eine lieblose Jugend Luft gemacht – eine Szene, die sich allen Anwesenden tief eingeprägt hatte. Der Mann stand jetzt neben seinen Eltern – von jener Stunde an hatte sich das Verhältnis entschieden gebessert, sie waren Freunde geworden. »Du hast nichts zu sagen, Berle?« fragte Werugh. Berle lächelte. »Noch nicht«, sagte er knapp. Die Zeremonie ging weiter. Feierlich verschenkten die Jugendlichen ihre Habe an Freunde. Gänzlich ohne Besitz traten sie in das Erwachsenenleben ein. Jeder von ihnen würde in seiner neuen Behausung die Grundausstattung für sein künftiges Leben vorfinden – eine Gabe der Gemeinschaft. Was jeder einzelne daraus machte, blieb ihm künftig allein überlassen. »Ich frage euch nun, in welcher Form ihr künftig mit uns
zusammenleben wollt«, fuhr Werugh fort. »Berle?« »Ich möchte fischen«, sagte Berle ohne Zögern. Werugh lächelte. »Das haben wir geahnt«, sagte er freundlich. »Dies machen wir dir zum Geschenk!« Die Gabe erwies sich als eine Harpune, die besonders kunstvoll gearbeitet war, eine prachtvolle Waffe zur Jagd auf große Fische. Mit feuchten Augen nahm Berle das Geschenk an. Er hatte den Vorgang schon etliche Male als Zuschauer erlebt und war stets beeindruckt gewesen; allerdings hatte er die Rührung mancher Beschenkter nie richtig verstehen können. Jetzt empfand er sie selbst – es tat ungeheuer gut, so freundlich in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Den anderen erging er ähnlich. Groch beispielsweise hatte sich für das Gewerbe eines Töpfers entschieden. Die Gemeinschaft schenkte ihm eine prachtvolle Töpferscheibe, und in der Nähe seines Hauses war ein Brennofen für ihn gebaut worden. Berle suchte Uryde. Ihr Gesicht wirkte angespannt. Der nächste Teil der Mannbarkeitsfeier war besonders aufregend. Zwar konnten sich Paare auch später zusammentun, und auch dann gab es in der Regel große Feiern, aber es war seit langer Zeit üblich, daß die Paare am Abend der Mannbarkeit des Gatten zusammengeführt wurden. Berle wußte, daß Groch noch immer sehr an Uryde hing und sich noch nicht für eine andere Gefährtin hatte entscheiden können oder wollen. In solchen Fällen wurde meist auf diesen Teil der Zeremonie verzichtet – um dem Betreffenden die Demütigung zu ersparen, die damit verbunden war, als einziger leer auszugehen. Zu Berles großer Überraschung hatte Groch selbst darauf bestanden, daß die Feier ganz absolviert wurde. Er selbst übernahm es, Uryde zu Berle zu begleiten, und Berle begriff, daß er an diesem Abend nicht nur eine Gefährtin bekommen hatte, sondern auch einen besonders treuen und liebenswerten Freund. Danach war der feierliche Teil der Veranstaltung vorbei. Speisen
und Getränke standen bereit, das große Schmausen konnte beginnen. Gerade als er sich setzen wollte, erkannte Berle den alten Skohl, der sich auf unsicheren Beinen näherte. Berle stand auf und ging dem Alten entgegen. »An diesem Festtag wollte ich nicht fehlen«, sagte Skohl. Er umarmte Berle, dann die anderen jungen Dymohden. Am Tisch suchte er sich den Platz genau gegenüber von Berle und Uryde. »Es wird wohl das letzte Mal sein, daß wir so zusammensitzen«, sagte Skohl. Er nahm ein wenig von dem Wein. Wie viele Alte sprach er Speisen und Getränken nur mäßig zu. Skohl sah Berle an und lächelte. »Das soll dich nicht traurig stimmen«, sagte er. »Dieser Teil meines Lebens ist für mich beendet, mehr geschieht nicht. Trauerst du etwa deiner Jugend nach?« Berle schüttelte heftig den Kopf. »Siehst du, und ich trauere meinem Erwachsenendasein nicht nach. Gib mir noch etwas von den Früchten, bitte!« Berle reichte ihm den Korb aus Schilfsgeflecht. »Wann willst du dich auf den Weg machen?« fragte Uryde. »Bevor der Morgen graut«, sagte Skohl. Er sah sich langsam in der Runde um. Den Dymohden ging es prächtig, überall wurde gelacht, getanzt, gesungen. Berle hatte etliche dieser Feste miterlebt, aber keines schien ihm so heiter ausgefallen zu sein wie dieses. Auch Skohl zeigte sich heiter und unbeschwert, und Berle empfand tiefe Bewunderung für die stille Gelassenheit des Alten. Es schien, als sei er im Besitz geheimer Erkenntnisse, die es ihm leicht machten, von seinem bisherigen Leben Abschied zu nehmen. Berle verließ die Tischrunde zusammen mit Uryde, um am Tanz teilzunehmen. Er hatte viel Spaß dabei, bis er plötzlich angerempelt wurde und auf den Boden stürzte. »Tut mir leid«, sagte eine wohlbekannte Stimme. Berle sah auf und
erkannte den grinsenden Freund. Berle grinste zurück. Jetzt war offenbar der Zeitpunkt gekommen für die unvermeidliche Keilerei. Berle streckte blitzschnell den rechten Fuß aus, hakte ihn bei Groch ein und zog an. Mit einem Plumps landete nun Groch auf dem Boden. Das war das Zeichen für das Handgemenge. Die Frauen suchten das Weite, während sich die frischgebackenen Erwachsenen aufeinander stürzten und sich wechselseitig niederzuringen versuchten. Etliche Jährlinge – sie hatten voriges Jahr ihre Mannbarkeit erlebt – mischten sich ein, und so kam es in Windeseile zu einem Handgemenge, bei dem keiner mehr recht wußte, wer gegen wen kämpfte. Es ging nur darum, jeden, der auf die Füße zu kommen versuchte, schnellstmöglich wieder auf den Boden zu befördern. Daß es dabei nicht ohne kleinere Prellungen abging, nahm keiner übel, das gehörte einfach dazu. Berle mischte wacker mit. Er setzte Beinklammern an, versuchte ein paar Hebelgriffe und war damit recht erfolgreich. Währenddessen stand die ganze Festgemeinde um die Schar der Raufenden herum und beklatschte jeden gelungenen Griff. Nach einer halben Stunde hatten die meisten genug und zogen sich in den Kreis der Zuschauer zurück. Schließlich blieben nur noch Groch und Berle schweratmend übrig. Zuerst einmal mußten sie ihr Lachen loswerden und prusteten sich an, bis sie schließlich wieder ans Kämpfen dachten. Berle schnellte sich nach vorn, um Grochs Füße zu umklammern, aber der machte einen raschen Schritt zur Seite, und so landete Berles Angriff auf dem Boden. Er hatte damit gerechnet, rollte über den Kopf ab und stand wieder auf den Beinen, bevor Groch recht begriffen hatte, was geschehen war. Ein Kopfstoß in die Leibesmitte ließ Groch zurückfliegen. Mit einem lauten Plumps landete er auf dem Boden, aber er war flink und zäh genug, um sofort nach Berles Arm zu greifen und ihn mitzureißen. Berle kollerte über Groch hinweg und
landete zum zweiten Mal auf der Erde. »Genug?« fragte Groch keuchend. »Noch nicht«, gab Berle zurück, gleichfalls mit schwerem Atem. Er versuchte einen Klammergriff anzusetzen, aber Groch erwies sich als flinker, und ehe Berle sich's versah, hatte Groch einen Griff angesetzt, aus dem sich Berle nicht mehr zu befreien vermochte. »Du bist hitzig von Charakter, mein Freund«, stieß Groch hervor. »Ich werde dich abkühlen.« Er schleppte den heftig zappelnden Berle mit sich, auf das nahe Ufer des Varyn zu. Kurz bevor er das Wasser erreicht hatte, unternahm Berle einen letzten Anlauf, sich zu befreien. Er stellte Groch ein Bein – mit dem Ergebnis, das beide kopfüber in das seichte Uferwasser fielen. »Jetzt genügt es«, prustete Berle, sobald er den Kopf wieder über Wasser hatte. Die Freunde umarmten sich. »Ich schlage vor, daß wir uns jetzt erst einmal das Fell trocknen und die Kehle anfeuchten«, sagte Groch. »Einverstanden?« Berle machte eine Geste der Zustimmung. Arm in Arm trabten die beiden zum Festplatz zurück, begleitet von dem fröhlichen Publikum, dem sie viel Spaß bereitet hatten. Uryde brachte Berle ein Trinkgefäß, das zweite gab sie an Groch weiter. Während Berle trank, ließ er die Augen wandern – er suchte Skohl, aber der Alte war verschwunden. Groch entging die plötzlich aufkeimende Besorgnis in der Miene seines Freundes nicht. »Was ist los?« fragte er leise. »Ich vermisse Skohl«, gab Berle ebenso leise zurück. Nur Uryde konnte den Wortwechsel verstehen. »Ich glaube, er hat sich in seine Hütte verzogen«, sagte sie. »Es schien ihm nicht gutzugehen.« »Ich sehe nach ihm. Das Fest kann für kurze Zeit warten«, erklärte Berle. Wortlos gab auch Groch das Trinkhorn an Uryde zurück.
Die beiden machten sich auf den Weg. Skohl war tatsächlich in seiner Hütte zu finden. Er hatte sich auf sein Lager gesetzt, die Arme um die Beine geschlungen, und wiegte leise vor und zurück. Er hob den Kopf, als er die beiden eintreten sah. In seinen Augen stand Trauer zu lesen. »Was betrübt dich?« fragte Berle. Er kniete neben Skohl nieder. »Ich bin gerade zusammengebrochen«, stieß Skohl hervor; es klang traurig und zugleich verbittert. »Meine Kräfte lassen nach. Ich fürchte, ich habe viel zu lange gewartet. Ich werde Uhranzhar nicht mehr erreichen.« Niemand wußte besser als Berle, wie sehr Skohl sich darauf gefreut hatte, dieses krönende Ziel seines Lebens noch zu erreichen – und wie sehr ihn die Enttäuschung schmerzen mußte. Spontan entfuhr es Berle: »Dann werde ich dich hinbringen. Zusammen werden wir es schaffen!« Skohl sah Berle an. Er lächelte mit feuchten Augen. »Ich danke dir für das Angebot, aber ich werde es nicht annehmen. Das Opfer ist zu groß.« »Was ist dabei?« fragte Berle zurück. »Ich werde Uhranzhar nicht betreten, sondern dich nur bis zum Rand der Stadt bringen. Unterwegs werde ich dafür sorgen, daß du wieder zu Kräften kommst. Das ist alles – ich sehe nicht, wo da ein Opfer wäre.« »Ich werde dir helfen«, sagte Groch ruhig. »Niemand darf Uhranzhar betreten«, murmelte Skohl. »Nur sehr alte Dymohden, die dort die Erfüllung ihres Lebens suchen.« »Wir werden die Stadt nicht betreten«, wiederholte Berle. »Groch, bleibst du bei ihm? Ich werde zu Uryde gehen und ihr alles erzählen. Vorräte und Waffen werde ich auch mitbringen.« Groch machte eine Geste der Zustimmung, und Berle huschte aus der Hütte. Er hatte nicht weit zu gehen, um Uryde zu treffen. Sie kam ihm entgegen.
»Skohl braucht unsere Hilfe«, sagte Berle hastig. »Er wird es aus eigener Kraft nicht schaffen, Uhranzhar lebend zu erreichen. Groch und ich wollen ihm helfen.« Im Licht des vollen Mondes betrachtete Uryde Berles Gesicht. »Ich sehe, daß du entschlossen bist«, sagte sie halblaut. »Ich möchte dich begleiten.« »Für ein Weib …«, begann Berle. »Ich lasse mich nicht durch dumme Sprüche aufhalten«, warf Uryde sofort ein. Unwillkürlich mußte Berle grinsen. Uryde besaß einen ausgeprägten Dickschädel, ein Gedanke, der sich darin festgesetzt hatte, war praktisch nicht mehr herauszubekommen. Berle wußte, daß er ihren Willen nicht würde ändern können – so wenig wie sie den seinen. »Also gut«, sagte Berle. »Beeilen wir uns.« Das Fest nahm seinen Fortgang. Wein floß in Strömen, machte die Dymohden immer vergnügter und gleichzeitig immer schläfriger. Wahrscheinlich würde zu dieser Stunde niemand das Verschwinden der vier überhaupt bemerken. Berle hatte nie davon gehört, daß ein todesnaher Dymohde von jüngeren Freunden nach Uhranzhar gebracht worden war – nun, dann war dies das erste Mal. Er suchte Vorräte zusammen, holte seine Waffen aus der Kiste, ein Schwert, die Harpune, Messer und ein kräftiges Seil. Für Groch besorgte er eine ähnliche Ausrüstung. Uryde hatte derweilen hinreichenden Mundvorrat zusammengepackt, dazu eine Reihe leerer Schläuche für Wasser. In der näheren Umgebung gab es Wasser genug, aber zwischen der Siedlung und Uhranzhar lagen auch trockene Landstriche, in denen von gutgefüllten Wasserschläuchen das Leben abhängen konnte. Vor Skohls Hütte trafen sich die drei. Groch hatte unterdessen Skohl moralisch aufgerichtet und auf ihn eingeredet. Der Alte sträubte sich nicht länger.
Dann machten sich die vier auf den Weg – nach Uhranzhar, der Stadt des Todes.
3. »Endlich tut sich etwas. Dieses ständige Herumsitzen geht mir auf die Nerven.« »Das mußt ausgerechnet du sagen«, antwortete der Zeithüter. Er war – wie er sehr wohl wußte – der letzte seiner Art. Das stimmte ihn zum einen sehr traurig, stärkte zum anderen aber seinen Hochmut. Er wußte, daß er einzig war, und in manchen Augenblicken dünkte er sich so einzigartig wie jenes Wesen, das ihn auf den Posten des Zeithüters berufen hatte. In klareren Stunden war er sich seiner Einsamkeit durchaus bewußt und litt darunter. Einziger Gefährte seiner Einsamkeit seit endlos langen Jahren war der Zentralrechner, der ähnlich wie der Zeithüter in Ewigkeiten des Nichtstuns Muße gefunden hatte, einige recht seltsame Macken und Absonderlichkeiten zu entwickeln und zu vervollkommnen. Auf eigentümliche Weise fühlte sich der Rechner – sofern so ein Ding überhaupt Gefühl entwickeln konnte – dem Zeithüter unterlegen, weil der sich frei bewegen konnte, während der fest verankerte Rechner dazu nicht in der Lage war. Seit ein paar Jahrhunderten hatte sich der Rechner angewöhnt, von sich zu sprechen, als besäße er einen beweglichen Körper. Dem Zeithüter – um seine einzigartige Stellung zu unterstreichen, nannte er sich Zeithüter-Null – bereitete es Verdruß, daß der Rechner sich notfalls weitgehend abschalten konnte, während der Zeithüter nur in den Schlafperioden einigermaßen ausgeglichen sein konnte. Das aber kam nur äußerst selten vor. »Was willst du tun?« fragte Zeithüter-Null. »Ich kann sie zerquetschen, vernichten, zerstören, aus dem All blasen …«
»Hör auf, diese Redensarten kenne ich«, schalt der Zeithüter. »Hast du nichts Besseres vorzuschlagen?« »Hast du eine Idee?« »Hm«, machte der Zeithüter. Er schwebte an den Bildschirmen entlang, die ein Raumschiff zeigten, das sich der gemeinsamen Welt der zwei verschiedenen Wesen näherte. »Wenn es nicht sehr, sehr große Lebewesen sind, die dieses Raumschiff bewohnen, dann sind es wenigstens sehr viele. Wenn wir sie landen lassen, werden sie uns allerlei Ärger machen.« »Ich werde mit ihnen fertig«, verkündete der Rechner. »Ich allein!« Er zeigt Anflüge von Größenwahn, dachte der Zeithüter. Ein Glück, daß ich ihm so überlegen bin. Laut sagte er: »Ich schlage vor, wir lassen diese Fremden nicht durch. Unsere Energieschirme werden sie aufhalten.« »Schirmfelder sind aufgebaut.« Wenn es sich um technische Dinge handelte, sprach der Rechner, wie man es von ihm erwarten konnte, kurz, knapp, klar. Nur wenn es um andere Dinge ging, entwickelte er mitunter eine Geringschätzigkeit, die nervtötend war. »Sieh an, sie versuchen, das Schirmfeld zu knacken. Laß sehen, was sie können.« Natürlich wußte der Zeithüter, daß die Fremden das Schirmfeld nicht durchbrechen konnten, schließlich war auch dieses Schirmfeld von jenem großmächtigen Wesen errichtet worden, dem der Zeithüter seine Berufung verdankte. Entsprechend erfüllt von boshafter Freude – Einsamkeit machte ihn grausam –, sah der Zeithüter-Null, wie die Fremden eine Strukturlücke zu schießen versuchten. Der Zeithüter aktivierte eine Reflektorschaltung, die die auftreffenden Strahlenenergien in Gestalt von elektrischen Korpuskelschauern auf den Angreifer zurückschleuderte, und zwar schlauerweise durch eben jene
Strukturlücke im Schirmfeld des Raumschiffs, durch die der angreifende Waffenstrahl geführt wurde. Zwar kam von den Korpuskeln nur ein verschwindend geringer Bruchteil am Ziel an, aber der Zeithüter malte sich mit Behagen aus, wie es nun überall an Bord des Schiffes der Fremden von Elektrizität knisterte, Funken übersprangen und Bewohner wie Geräte durcheinander brachte. Kurze Zeit später hörte das Feuer auf die Schirmfelder auf. Das Schiff der Fremden zog sich ein paar tausend Kilometer zurück. Der nächste Versuch bestand in einer ferngelenkten Sonde, die der Zeithüter spaßeshalber den Schirm durchdringen ließ, um sie erst kurz vor der Bodenberührung zerstören zu lassen. Das Feuerwerk amüsierte ihn. »Wenn sie ein Beiboot ausschleusen, lassen wir es landen«, schlug der Zeithüter vor. »Warum sollen wir uns überhaupt mit diesem Gesindel abplagen?« fragte der Rechner. »Es vertreibt die Langeweile«, antwortete der Zeithüter. Diesem Argument hatte der Rechner nichts entgegenzusetzen. Der arme Blechkasten schaufelt sich sein eigenes Grab, dachte der Zeithüter. Seine Programmierung zwang ihn dazu, alle technischen Einrichtungen des Zeit-Hortes in bestmöglichem Zustand zu halten. Gegen diese Programmierung kam der Rechner nicht an. Infolgedessen funktionierte alles im Zeit-Hort geradezu perfekt – und das schuf natürlich große Langeweile. »Es wäre einmal etwas anderes als das ständige Spiel zwischen uns beiden«, sagte der Zeithüter. »Deine Gesellschaft quält mich nämlich. Es passiert einfach nichts Neues.« »Liegt das an mir?« fragte der Rechner böse zurück. Unterdessen hatten die Fremden tatsächlich ein Beiboot auf die Reise geschickt. »Was ist, lassen wir sie landen?« fragte der Zeithüter. »Meinetwegen. Aber ich werde ein paar Robotkommandos zur Landestelle in Marsch setzen.«
»Aber stelle sie nicht auf höchste Kampfgeschwindigkeit ein«, bestimmte der Zeithüter. »Es wird sonst zu langweilig.« »Ich werde die Fremden zuerst testen, dann gebe ich die Befehle an die Robots.« »Tu das«, stimmte der Zeithüter zu. Er verfolgte das Geschehen auf dem Bildschirm. Ob die Fremden ahnten, daß sie unausgesetzt beobachtet wurden? Das kleine Schiff näherte sich dem Planeten sehr langsam und vorsichtig. Der Rechner schaltete eine Strukturlücke für das Schiff, dann verschob er die Wirkungsgrenze des gesamten Schirmfelds um etliche hundert Kilometer in den Weltraum hinaus – ehe sich das kleine Schiff versah, war es auch schon eingesperrt, denn die Strukturlücke brach in einer Tausendstelsekunde zusammen. »Hähähä«, machte der Zeithüter. »Gut gemacht, Rechner.« »Das ist für mich eine einfache Aufgabe«, gab der Rechner zurück. »Ständig werde ich hier unterfordert, nie bekomme ich ein wirklich schweres Problem zu lösen.« Der Zeithüter-Null kümmerte sich nicht um das Jammern des Rechners, er bekam es fast täglich zu hören. Unablässig pendelte das Gerede des Rechners zwischen weinerlichem Jammern und klotziger Großmannssucht hin und her. Normal war es nur, wenn es um Schaltfunktionen ging. Die Besatzung des Raumschiffs schien begriffen zu haben, daß es vorläufig kein Zurück mehr für sie gab. Entsprechend forcierten sie ihren Anflug. Der Rechner kalkulierte die Landekoordinaten durch und schickte aus den nächstgelegenen Sektionen einen Trupp Kampfrobots in den Einsatz. »Einstweilen keine tödlichen Waffen«, sagte der Zeithüter. »Wir wollen uns mit den Fremden erst ein wenig amüsieren, bevor wir sie auslöschen.« Das Raumschiff war gelandet, freundlicherweise genau vor einer Optik, die ein gestochen scharfes Bild auf dem Schirm lieferte.
Als erstes sah der Zeithüter zwei metallische Konstruktionen ins Freie treten. Er kicherte. Die Fremden schickten also zunächst einmal Robots los. Feige waren sie auch noch. Wenig später zeigten sich dann zwei Gestalten in Raumanzügen. Wie die Fremden tatsächlich aussahen, ließ sich aus den Monturen nicht genau erkennen – sie gingen aufrecht und hatten Geh- und Handlungsgliedmaßen, dazu ein Wahrnehmungssystem auf optischer Basis, wie die transparenten Teile der Helmkonstruktion bewiesen. »Sauerstoffatmer«, gab der Rechner bekannt. Er hatte eine Probe der Atemluft ausgewertet, die beim Öffnen der Beibootschleuse entwichen war. »Sie können unter unseren Bedingungen leben.« Einen Augenblick lang durchfuhr den Zeithüter ein seltsamer Schauder. War es möglich, daß es sich bei diesen beiden Gestalten um Angehörige seines eigenen Volkes handelte? Immerhin waren ein paar Jahrtausende verstrichen, seit der Zeithüter sein Volk verlassen hatte, und in dieser Zeitspanne konnte auch so ein harmloses Völkchen wie die Dymohden von Sinohr Raumschiffe entwickelt haben. Diesem Gedanken folgte die quälende Einsicht, daß er einen großen Teil seiner Vergangenheit längst vergessen hatte – er wußte nicht einmal mehr, wie sein ursprünglicher Körper einmal ausgesehen hatte. Selbst wenn es sich bei den Fremden um Dymohden handeln sollte, hätte er sie nicht zu erkennen vermocht. Die Fremden suchten nach einem Schott. Zeithüter-Null und der Rechner hätten die vier geraume Zeit herumhampeln lassen können, aber sie entschlossen sich, den Fremden das Eindringen etwas einfacher zu machen. Der Rechner entsicherte die positronische Blockade eines Außenschotts, und ein paar Minuten später standen die Fremden in jener Welt, in der seit Jahrtausenden der Zeithüter mit dem Rechner lebte. »Nun kannst du deinen ersten Test wagen«, schlug der Zeithüter
vor. �
* »Da wären wir nun«, stellte Cpt' Carch fest. »Scheußlich!« Insider hatte die beiden Robots vorgehen lassen. Man konnte nie wissen, was für Überraschungen in solchen Räumlichkeiten auf Eindringlinge warteten. Mißtrauisch sah er sich um. Technik, das war der vorherrschende Eindruck. Metallisch schimmernde Flächen, Instrumente, Hebel, Knöpfe, alles eckig und kantig und überaus unpersönlich. Die Schwerkraft lag ein wenig unter dem Standardwert an Bord der SOL, die Atmosphäre war gut atembar, wie die Meßgeräte gezeigt hatten. »Ich glaube, dies ist gar kein richtiger Planet, sondern eine riesenhafte Raumstation.« »Möglich«, antwortete Carch. Er spritzte in einen der Nachbarräume und kehrte ebenso geschwind wieder zurück. »Leer. Ob es hier überhaupt noch jemanden gibt?« »Zeithüter vielleicht«, antwortete der Insider. »Haha, Kollegen«, spottete Cpt' Carch. »Die werden sich amüsieren, wenn sie uns zu sehen bekommen.« Die Beleuchtung brannte, nirgendwo waren Schäden oder Abnutzungserscheinungen zu sehen. Der Boden war fleckenlos sauber – Insider folgerte daraus, daß irgend jemand die Station in Ordnung hielt. Vielleicht nur ein paar Roboter, vielleicht aber auch organische Wesen. »Wie alt mag diese Anlage sein?« überlegte Cpt' Carch laut. »Ein paar Jahrhunderte mit Sicherheit«, sagte Insider. »So lange wird man daran gebaut haben – vorausgesetzt, der Planet Technokrat sieht überall so aus wie hier. Ich tippe eher auf
Jahrtausende, wenn nicht noch viel mehr.« »Soviel Zeit dürfen wir uns nicht … aufgepaßt!« Carch schnellte mit der ihm eigenen Geschwindigkeit zur Seite. Insider blieb erst einmal reglos stehen. Ein Stück voraus auf dem Gang waren zehn Robots aufgetaucht, deren Handlungsarme deutlich sichtbar Waffencharakter hatten. Ein Herzschlag später begannen die Robots zu feuern. Die ersten Schüsse wurden von den SOL-Robots aufgefangen, deren Individualschirme die Belastung mühelos ertrugen. Währenddessen zog auch Insider seine Waffe. Er war eine der bewegungsschnellsten Personen an Bord der SOL, zwar nicht zu vergleichen mit Bjo Breiskoll oder Cpt' Carch, aber für normalmenschliche Verhältnisse ungeheuer schnell. Dennoch hätte auch er gegen zehn Kampfrobots keine Chance gehabt, hätten die nicht mit schier unbegreiflicher Langsamkeit reagiert. Ehe auch nur der erste Schuß auf Insider selbst abgegeben wurde, hatte er schon drei Treffer angebracht. Die Maschinen detonierten mit lautem Getöse und beschädigten dabei zwei weitere Kampfrobots, die polternd zusammenbrachen. Nun betätigte auch Carch seine Waffe. Nach einem Kampf, der höchstens eine halbe Minute gedauert hatte, waren die zehn Robots zerstört. Carch kam aus seiner Deckung hervorgeschossen. »Seltsam«, sagte er laut. »Ich habe niemals so langsame Kampfrobots gesehen.« Insider steckte die Waffe zurück in das Halfter. »Mir geht es genauso«, sagte er. »Ob es an unserem Status als Zeithüter liegt?« »Dann hätten sie uns überhaupt nicht angreifen dürfen«, antwortete Carch. »Vielleicht werden wir später mehr erfahren. Gehen wir weiter!« Die beiden setzten ihren Marsch fort. Antigravschächte führten hinab in die Tiefe. Der Eindruck
verstärkte sich, daß es sich bei dem 350 Kilometer durchmessenden Himmelskörper um eine gigantische Raumstation handelte. Als die ersten massiven Felswände auftauchten, erkannten die beiden, daß jemand – Hidden-X möglicherweise oder seine Helfer? – einen natürlich vorhandenen Himmelskörper für seine Zwecke umgebaut hatte. »Was glaubst du, werden wir hier finden?« fragte Carch. »Woher soll ich das wissen?« antwortete Insider. »Ein paar Zeithüter vielleicht, auf jeden Fall die Generatorenanlagen für das Schirmfeld. Wenn wir beide allein diesen Asteroiden durchstöbern wollen, sind wir in Jahrzehnten noch damit beschäftigt, einen Raum nach dem anderen abzuklappern. Die Freunde werden uns helfen müssen.« »Hm«, machte Carch. »Ich vermute, daß es im Herzen dieser Station irgendwo einen zentralen Lageplan gibt, aus dem wir ersehen können, wie die Station aufgebaut ist, wo die einzelnen Abteilungen zu finden sind und dergleichen mehr. Damit ließe sich die Suche beträchtlich abkürzen.« »Einverstanden«, sagte Insider. Hinter den beiden Robots marschierten die zwei weiter. Die Richtung des Vorstoßes war klar – zum geographischen Zentrum des Himmelskörpers. Recht bald bekamen die beiden zu spüren, daß die Erbauer der Station es ungebetenen Gästen nicht eben leicht hatten machen wollen – das System von Kammern, Stollen, Gängen und Schächten erweckte immer stärker den Eindruck eines regelrechten Labyrinths. Vollends zu einem Problem wurde die Sache, als die beiden plötzlich feststellen mußten, daß der Gang, auf dem sie sich befanden, in sich selbst verdreht war – die künstliche Schwerkraft machte diese Drehbewegung mit. So war für Carch und Insider ohne Instrumente nicht mehr exakt feststellbar, ob sie tatsächlich in die richtige Richtung gingen. Die künstliche Schwerkraft als Orientierungshilfe fiel vollkommen aus.
Vor einem großen Tor blieben die beiden schließlich stehen. »Aufmachen?« fragte Carch. Insider nickte. Eine halbe Minute später war das Schloß herausgeschmolzen, eine Thermitladung hatte es vollkommen zerstört. Sobald das Metall hinreichend abgekühlt war, drangen Carch und Insider durch die Öffnung in den dahinterliegenden Raum ein. Sie waren in einer Fabrikhalle herausgekommen. Auch dieser Raum machte einen tadellosen Eindruck, sauber und aufgeräumt, alle Anlagen technisch einwandfrei. »Eine Robotfabrik«, stellte Carch fest. »Was machen wir damit?« Es lag nahe, die Fabrik zu zerstören, denn es waren augenscheinlich Kampfmaschinen, die hier vom Band laufen sollten. Andererseits wußten Carch und Insider nicht, wem die Station gehörte – es war zwar mehr als unwahrscheinlich, hier auf Freunde zu treffen, aber völlig auszuschließen war diese Möglichkeit nicht. Daß die beiden beschossen worden waren, konnte auch an einem Mißverständnis liegen. Potentielle Freunde wären sicherlich nicht entzückt gewesen, wenn man ihnen gleichsam zur Begrüßung wichtige technische Anlagen demolierte. Auf der anderen Seite hatten die beiden auch keine Lust, in ihrem Rücken eine Fertigungshalle für Robots zu wissen, die jederzeit wieder in Betrieb genommen werden konnte und dann unangenehme Feinde zu Dutzenden ausspie. »Wir werden versuchen, der Anlage die Energie abzudrehen«, sagte Insider. Sie machten sich an die Arbeit. Die Technik der Fremden unterschied sich zum Teil beträchtlich von Anlagen gleicher Art an Bord der SOL, aber es gab zum Glück einige universelle Gemeinsamkeiten. Energie wurde an vielen Plätzen des Kosmos durch dicke Kabel geleitet und hörte auf zu fließen, wenn man diese Kabel durchtrennte. Carch fand einen ganzen Kabelstrang, der wiederum eine armdicke Leitung umhüllte. Dort brachten die beiden eine weitere
Thermitladung an, die ausreichen sollte, die Verbindung zusammenzuschmelzen. Insider machte sich noch die Mühe, an einigen der Fertigungsmaschinen herumzuspielen. Eine fehlerhafte Einstellung hier, ein durchschnittenes Steuerungskabel dort – all das summierte sich während des Fertigungsprozesses zu Fehlern, die das Endprodukt unbrauchbar werden ließen. »Jetzt weg!« stieß Carch hervor. Die beiden traten den Rückweg an. Hinter ihnen flammte wenige Augenblicke später die Thermitladung auf; etliche Millionen Kilojoule Hitze, auf engstem Raum entfesselt, genügten in der Regel, um auch hochwertige Stähle schmelzen zu lassen. Insider grinste, als er das Schrillen von Sirenen hörte. »Falls es jetzt noch Zweifel geben sollte, ob wir uns an Bord dieser Station befinden, können unsere unsichtbaren Gegner nicht denken. Weiter!«
4. »Darüber müssen wir hinweg«, sagte Berle. Er streckte den rechten Arm aus und deutete auf das weite Grasland voraus. Seit vier Tagen war die kleine Gruppe unterwegs, und zur Freude von Berle, Groch und Uryde hatte sich der alte Skohl merklich erholt. Zwar konnte er das Tempo nicht mithalten, das die anderen drei vorlegen konnten, aber die paßten ihre Schritte den gleichmäßigen Bewegungen des Alten an, und so kam die Gruppe erstaunlich zügig vorwärts. Skohl machte ein müdes, zufriedenes Gesicht. Er war nun wieder erfüllt von Zuversicht, Uhranzhar doch noch zu erreichen, und diese Gewißheit schien ihm Kraft zu geben, die er zu diesem Zweck brauchte. »Wollen wir heute noch weitermarschieren?« fragte Uryde. Sie
hatte sich ins Gras gesetzt. Die Gruppe stand auf einem bewaldeten Hügel und konnte von dort aus das Savannengebiet überblicken. Am anderen Ende des Gesichtskreises waren die Kurion-Berge zu sehen, und dort lag in einem riesigen Talkessel Uhranzhar. »Drei Tagesmärsche bis zu den Bergen, dann zwei weitere Tage, um die Stadt zu finden. Ich überlasse die Entscheidung dir, Skohl.« Der Alte wiegte den Kopf. Sie silbrige Verfärbung hatte inzwischen den ganzen Arm erfaßt. »Wir bleiben heute hier«, sagte Skohl dann. »Und morgen früh machen wir uns daran, die Savanne zu durchqueren.« »Einverstanden«, sagte Berle. »Groch, machst du ein Feuer an, während Uryde und ich uns ums Wildbret kümmern.« »Verschwindet«, sagte Groch lachend. »Und versucht auch Wasser zu finden – das Zeug in den Schläuchen schmeckt scheußlich.« Berle und Uryde schlugen sich in die Büsche. Die Hügelkette war wildreich, das hatten die vier unterwegs erkennen können. Es sollte möglich sein, ein ordentliches Stück Fleisch für den Abend erbeuten zu können. »An welchem Punkt willst du umkehren?« fragte Uryde, während Berle nach Wildwechseln suchte. »An der Stadtgrenze nach Uhranzhar«, sagte Berle. »Ich werde die Stadt selbst nicht betreten. Ich habe keine Lust, den Rest meines Lebens in der Totenstadt zu verbringen. Es soll dort gräßlich zugehen.« »Hoffentlich änderst du deine Meinung nicht«, sagte Uryde leise. »Dort ist eine Fährte!« Berle kniete nieder und prüfte die Spuren. Die Abdrücke waren frisch, die Richtung eindeutig. Die Fährte führte vom Lager weg, aber das störte Berle nicht. Er war ein kraftvoller und ausdauernder Läufer, auch wenn er ein Stück Wildbret auf den Schultern trug. Die beiden folgten der Spur, die das Wild hinterlassen hatte. Der Pfad schien des öfteren von Tieren benutzt worden zu sein, an
einigen Stellen war er geradezu ausgetreten, und die frischen Spuren führten über ältere Fährten hinweg. Berle mußte sich anstrengen und genau beobachten, um die Fährte nicht zu verlieren. »Nach rechts«, murmelte er. Er brauchte nur ein paar Schritte zu gehen, dann konnte er die Beute entdecken. Jemand war den beiden zuvorgekommen. Von dem Wild war nur noch das Gehörn und die Decke zu sehen. Ein anderer Jäger war früher zur Stelle gewesen und hatte seine Beute an Ort und Stelle aus der Decke geschlagen und ausgeweidet. Auf den Resten saßen Schwärme rotbrauner Fliegen, die wütend aufschwärmten, als Berle die Spuren untersuchte. »Ich möchte wissen, wer hier jagt«, murmelte Berle. »Weit und breit ist keine einzige Siedlung in der Nähe.« »Vielleicht Urshaddin«, sagte Uryde. »Was hätten die hier zu suchen?« fragte Berle zurück. Urshaddin wurden jene Gestalten genannt, die ihr Leben in den Mauern von Uhranzhar fristeten, Ausgestoßene und Verfemte, mit denen jedermann den Umgang mied. Es hieß, sie seien Räuber und Mörder, rücksichtslos und grausam, und sie verbreiteten Seuchen. »Sehen wir nach«, schlug Berle vor. Mit vergrößerter Vorsicht folgte er den Spuren, die der fremde Jäger hinterlassen hatte. Die Distanz zum eigenen Lager wurde langsam beträchtlich. Die Sonne war schon fast verschwunden, als Berle den Feuerschein bemerkte. »Ein Lager!« murmelte er. Mit der rechten drückte er Uryde sanft in sichere Deckung. »Bleib hier – ich sehe mir die Leute einmal an.« Überaus vorsichtig schlängelte er sich auf dem Boden an das Lager heran. Das Feuer gab ihm dabei die Richtungshinweise. Sie hatten sich in einer Mulde gelagert, in deren Mitte ein großes Feuer brannte. Darüber drehte sich an einem Spieß das erbeutete Wildbret.
Berle brauchte nur einen Blick, um zu wissen, daß Uryde richtig geahnt hatte. Es waren Urshaddin, sechszehn an der Zahl, unter ihnen vier Frauen. Ihre Körper waren lehmbeschmiert, auf den Schädeln trugen sie klobige Masken. Ihre Waffen waren primitiv, aber deswegen nicht ungefährlich – Keulen und hölzerne Schwerter, deren Schneiden mit Kristallen gespickt waren und fürchterliche Verletzungen schlagen mußten, wo sie trafen. Berle schlängelte sich noch näher heran, bis er die Stimmen unterscheiden konnte. »Die ersten müßten bald kommen«, sagte einer, der gerade einen Schluck aus einer Weinkalebasse nahm. Das Getränk lief ihm aus den Mundwinkeln auf den Körper. »Wir werden reiche Beute machen.« »Diese Alten haben doch nie etwas, was sich wirklich lohnt«, sagte ein anderer. »Auch kleine Perlen ergeben eine Kette«, sagte der Anführer. »Haben wir nicht in jedem Jahr gute Beute gemacht?« »Andere Rudel waren besser«, sagte der Widerspenstige. Sein Blick traf den des Anführers, und er verstummte. »Hat einer von euch schon einen Alten gesichtet?« »Bis jetzt ist uns niemand untergekommen. Die Mannbarkeitsfeiern an der Küste finden erst in diesen Tagen statt, und erst später treten die Alten ihre letzte Reise an. In drei oder vier Tagen werden wir die ersten Spuren finden, und dann beginnt die Jagd.« Schallendes Gelächter wurde hörbar. Berle schüttelte sich. Er fragte sich, wie diese Schreckensgestalten überhaupt aus Uhranzhar herausgekommen waren – und er fragte sich, woher sie die Schändlichkeit nahmen, solche Raubzüge auszuhecken und durchzuführen. Es war wenig genug, was die meisten Alten auf ihren Weg nach Uhranzhar mitnahmen, aber selbst diese kümmerliche Habe schien den Urshaddin verlockend genug, daß sie
das Wagnis eingingen, die Stadt zu verlassen. Außerhalb des Gebiets von Uhranzhar konnte sie jedermann auf der Stelle töten, ohne sich deswegen rechtfertigen zu müssen. Von jedermann verhaßt, von vielen gefürchtet, galten sie als vogelfrei. Und nun trieben sie sich bereits hier herum – Tagesmärsche von der Stadt entfernt. Möglicherweise war dies nicht die einzige Horde, die ihr Unwesen trieb. Berle sah keinen Sinn darin, noch länger auf der Lauer zu liegen. Er zog sich leise zurück. Uryde wartete besorgt auf ihn. »Was hast du gesehen?« fragte sie. »Später«, stieß Berle leise hervor. »Komm, verschwinden wir von hier!« Auf dem Rückweg schlug Berle ein paar Haken, um eventuellen Verfolgern das Leben zu erschweren. Dabei hatte ein stattlicher Keiler das Pech, ihm vor die Harpune zu geraten. Für den Braten war damit gesorgt, und außerdem fand sich eine sprudelnde Quelle, in der Berle und Uryde zwei Schläuche füllen konnten. »Beim Himmellicht«, stieß Groch hervor, als die beiden zum eigenen Lager zurückkehrten. »Wo habt ihr so lange gesteckt? Wir haben uns schon Sorgen gemacht.« »Nicht zu Unrecht«, sagte Berle. »Als erstes müssen wir das Feuer verkleinern – es ist viel zu weit zu sehen.« »Soll es doch«, protestierte Groch. »Es ist doch niemand …« »Eine Horde Urshaddin«, unterbrach ihn Berle. »Sechzehn wilde Gestalten. Sie lauern hier Reisenden auf.« »Unsinn«, verwahrte sich Skohl. »Sie dürfen die Stadt nicht verlassen.« »Das mag so sein, aber sie halten sich nicht daran«, sagte Berle. Zusammen mit Groch sorgte er dafür, daß das Feuer mit kleiner Flamme brannte. »Noch haben sie uns nicht entdeckt, und du kannst froh sein, Skohl, daß wir bei dir sind – allein wärst du ihnen hoffnungslos ausgeliefert.«
»Ich kann es nicht glauben«, murmelte der Alte betroffen. »Wie ist das nur möglich?« »Wir werden es feststellen«, sagte Berle. Er zerlegte das Fleisch des Keilers und steckte die Brocken auf dünne Stecken, die er so in den Boden rammte, daß das Fleisch über dem leise knisternden Feuer hing. »Ich nehme an, daß jetzt einige hundert Urshaddin die Gegend unsicher machen«, sagte Berle. »Und da die meisten Alten diesen Weg auf eigene Faust antreten, habe ich den Verdacht, daß seit etlichen Jahren kein einziger Dymohde mehr Uhranzhar hat betreten können.« Dem alten Skohl sträubte sich bei diesen Worten das Fell. Groch sah Berle aufmerksam an. »Was hast du vor?« »Ich werde mir Uhranzhar ansehen«, sagte Berle. »Von außen zunächst, und dann will ich herausfinden, was das alles für einen Sinn hat. Warum kann Skohl nicht friedlich in unserer Gemeinschaft sterben, warum muß er dazu nach Uhranzhar gehen? Meine Eltern sind in der Gemeinschaft gestorben und wurden in unserem Dorf begraben – wenn es bei ihnen möglich war, warum dann nicht bei Skohl.« »Sage so etwas nicht«, stieß Skohl hervor. Es klang eher nach einer flehentlichen Bitte als nach einem scharfen Befehl. »Es ist immer schon so gewesen.« »Ein Fehler wird durch fortlaufende Wiederholungen nicht richtig«, sagte Berle grob. »Ich weiß, man sollte so etwas nicht denken, schon gar nicht sagen. Ich bin nicht man – ich bin Berle, und ich will jetzt wissen, was es mit Uhranzhar auf sich hat.« »Du willst die Stadt betreten«, sagte Uryde mit erstaunlicher Ruhe. Berle sah sie an. »Wenn es nötig ist, ja«, sagte er. »Ich werde das Gebiet erst verlassen, wenn ich weiß, was in Uhranzhar vor sich geht.« »Das kann ich von dir nicht verlangen«, sagte Skohl besorgt.
»Ich werde es nicht dir zuliebe tun«, antwortete Berle. »Um meinetwillen.« Er wechselte einen raschen Blick mit Uryde. Sie lächelte.
* Berle erwachte am nächsten Morgen als erster und weckte die anderen. Groch, der ein ausgemachter Langschläfer war, murrte, aber auch er war bald zum Abmarsch gerüstet. »Wir werden falsche Spuren legen«, sagte Berle. »Wir werden vortäuschen, daß wir zu einer anderen Urshaddin-Horde gehören und den Alten entgegengehen. Unsere wirkliche Marschrichtung werden wir verbergen.« Sie brauchten ziemlich viel Zeit dafür, dann aber sah das Lager so aus, wie es sich Berle vorstellte. Erst dann marschierten sie die Hügel hinab in die weite Ebene. Das Gras war sehr hoch, die Rispen schwankten im Wind über den Köpfen der Marschierer. Der Boden war wellig und voller Löcher, es galt, auf der Hut zu sein und sich nicht das Bein zu brechen. Uryde war sehr schweigsam, Groch ein wenig mürrisch, weil er gern noch länger geschlafen hätte. Berle fühlte in sich eine seltsame Anspannung, alles in ihm drängte vorwärts. Skohl hing seinen Gedanken nach und schüttelte immer wieder den Kopf. Er schien nicht begreifen zu wollen oder zu können. Drei Stunden lang marschierte die kleine Gruppe so über die Ebene, dann ließ Berle eine Rast einlegen. Er kletterte auf Grochs Schultern und streckte den Kopf über die Oberfläche des Grasmeers hinaus. Auf den ersten Blick wirkte alles ruhig. Vögel zogen ihre Kreise über der Ebene, ein Greifvogel stieß auf einen kleineren Vogel herab und schlug zu. Und dann gab es noch einen Schwarm, der über
einer Stelle zu kreisen schien. »Kannst du etwas sehen?« fragte Groch. Er schnaufte, denn Berle war schwer zu tragen. »Ich fürchte ja«, sagte Berle. Er sah sehr genau hin und stellte fest, daß sich der Schwarm geringfügig bewegt hatte – genau auf ihn und seine Freunde zu. Dann konnte er die Vögel auch erkennen – Aasfresser. Es gab nur eine einleuchtende Erklärung für das Verhalten der Vögel. Sie hielten sich in der Nähe der Urshaddin-Horden, von deren Treiben sie sich wohlfeile Beute erwarteten. Und dann entdeckte Berle hoch über ihm, gegen das Licht der Sonne kaum zu erkennen, einen großen Vogel, der genau über der Gruppe seine Kreise zog. »Wir sind entdeckt«, sagte Berle, als er wieder auf festem Boden stand. »Die Urshaddin verwenden Vögel als Späher – einer von diesen Spähern kreist über unseren Köpfen. So wissen sie genau, wo wir zu finden sind.« »Und was tun wir jetzt? Kämpfen?« »Drei gegen sechzehn?« fragte Berle zurück. »Das wäre selbstmörderisch. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen.« Er steckte einen Finger in den Mund und dann in die Höhe. Der Luftzug war deutlich zu spüren – der Wind wehte den Urshaddin entgegen. »Wir können einen Brand entfachen«, sagte Berle. »Das Feuer wird sich auf die Urshaddin zu bewegen.« »Und auf alle anderen, die sich auf der Ebene hinter uns bewegen«, gab Uryde zu bedenken. »Der Wind ist nicht sehr stark«, sagte Berle nach kurzem Überlegen. »Die Urshaddin und alle anderen werden Zeit genug haben, sich in Sicherheit zu bringen.« »Sie können aber auch einen Haken schlagen und sich erneut auf unsere Fersen heften.« »Das können sie«, gab Berle zu. »Aber wir gewinnen viel Zeit
damit. Also vorwärts.« Sie beeilten sich. Groch verstand sich am besten aufs Feuermachen. Nach kurzer Zeit hatte er ein paar Büschel in Brand gesteckt. Berle rupfte die langen Halme aus und schleifte sie hinter sich über den Boden. Er rannte eine beträchtliche Strecke quer zur eigentlichen Marschrichtung – Groch machte das gleiche auf der anderen Seite, während Uryde mit Skohl den Marsch fortsetzte. Nach einer Viertelstunde eiligen Laufens stand eine beachtliche Strecke des Grases in lodernden Flammen. Der Brand fraß sich voran, auf die Urshaddin zu, gleichzeitig verbreitete er sich noch von selbst. Berle sah zu, daß er in Sicherheit kam. Er rannte schräg über die Ebene, auf jenen Punkt zu, an dem nach seiner Einschätzung Uryde und Skohl zu finden sein mußten. Groch würde das gleiche von der anderen Seite her tun. Da er nichts sehen konnte außer dem überkopfhohen Gras, war das Ganze ein gefährliches Wagnis – sehr leicht konnten die vier völlig die Orientierung verlieren. Dann konnten sie sich frühestens am Fuß der Berge wiederfinden. Berle rannte, was die Lungen hergaben. Ab und zu wandte er den Kopf und sah nach dem Feuer. Eine breite Schneise aus Rauch und Feuer wälzte sich langsam auf die Urshaddin zu. Sie würden beachtliche Umwege machen müssen, um Berle und die anderen wiederzufinden. Ein Blick nach oben. Der Spähvogel kreiste über Berle. Damit waren wenigstens die anderen außer Gefahr, dachte Berle. Er hörte erst auf zu laufen, als er nach seiner Einschätzung in unmittelbarer Nähe von Uryde und Skohl sein mußte. Er wollte gerade den Mund zu einem Ruf öffnen, als ein ferner Schrei sein Ohr erreichte. Trotz der Störgeräusche erkannte Berle die Stimme von Uryde, und ihr Schrei klang nach Erschrecken. Berle hetzte weiter.
Ein neuerlicher Schrei, diesmal lauter. Die Richtung stimmte. Im Laufen zog Berle das Schwert aus der Scheide. Es gab eine Gefahr, die Uryde bedrohte. So schnell er nur konnte, rannte Berle seinem Weib entgegen. Er konnte sie schrill rufen hören, und jetzt drangen auch andere Laute an sein Ohr. Jemand machte Jagd auf Uryde. Berle blieb einen Augenblick lang stehen, und in der nächsten Sekunde tauchte Uryde vor ihm auf, die Haare schweißverklebt, in den Augen ein Ausdruck panischen Schreckens. »Weiter!« stieß Berle hervor. Er winkte Uryde zu, sie solle ihren Lauf fortsetzen. Uryde war trotz ihrer Aufregung besonnen genug, Berles Vorschlag zu verstehen. Sie fuhr fort, verzweifelt zu schreien und rannte weiter. Berle hockte sich in das dichte Gras und lauerte. Er brauchte nicht lange zu warten, dann erschien der erste Verfolger – ein hagerer Urshaddin, der mit gierigem Blick die Spur verfolgte, die Uryde hinterlassen hatte. Berle sprang aus der Deckung. Einen Augenblick lang dachte er daran, den Gegner zu schonen, aber der Urshaddin nahm ihm die Entscheidung ab. Mit erhobener Keule stürzte er wutbrüllend auf Berle zu. Berle setzte sein Schwert ein, und er hatte diesen ersten Gegner kaum niedergestreckt, als zwei andere Urshaddin erschienen und sich ohne Besinnen in den Kampf stürzten. Berle machte einen Satz zur Seite und wich dem Angriff aus. Rasch war er wieder auf den Beinen. Das Schwert zischte durch die Luft und streckte den vorderen der beiden Urshaddin nieder. Schon im nächsten Augenblick schrammte die Keule des zweiten über Berles linke Schulter. Brennender Schmerz zuckte in ihm hoch, er taumelte zur Seite. Der Urshaddin hob die Keule, um Berle den Garaus zu machen,
aber er fiel hintenüber. Als Berle den Kopf wandte, sah er Uryde – sie hatte das Messer geschleudert, das den Urshaddin ausgeschaltet hatte. »Sie haben Skohl«, stieß sie hervor.
5. »Wo ist Groch?« fragte Berle hastig. »Ich habe ihn nicht gesehen«, antwortete Uryde. »Er müßte aber in der Nähe sein.« »Hoffentlich«, wünschte Berle. »Ohne seine Hilfe werden wir Skohl kaum befreien können.« »Gehen wir ihm entgegen«, schlug Uryde vor. Sie sah auf die Urshaddin am Boden. »Ich möchte weg von hier!« Berle eilte voran. Er versuchte einen Kurs einzuschlagen, der ihn auf Grochs Fährte bringen sollte. Nach einiger Zeit fand er auch Fußspuren, die auf Groch hindeuteten. »Sieh!« stieß Uryde plötzlich hervor. »Der Wind hat sich gedreht!« In der Tat wälzten sich in diesem Augenblick erste Rauchschwaden über diesen Teil der Ebene. Es mußte zwar noch einige Zeit vergehen, bis der Brand hierher kam, aber die Dymohden mußten die Beine in die Hand nehmen. Berle hastete auf Grochs Fährte den Bergen entgegen. Nach einer halben Stunde hatte er den Gesuchten erreicht. Er sah Groch am Boden liegen, die Rechte hielt das Schwert. Im ersten Augenblick befürchtete Berle, daß Groch bereits mit den Urshaddin zusammengestoßen war und den Kampf verloren hätte, dann aber sah er, daß Groch sich bewegte. Er schien jemanden zu beobachten. Leise stieß Berle den Pfiff aus, mit dem er sich schon früher mit Groch verständigt hatte. Groch wandte sich um und winkte die beiden heran. »Sie haben Skohl gefangen«, flüsterte er.
»Ich weiß«, gab Berle zurück. Er warf sich neben Groch auf den Boden. Er mußte nur mit der Hand ein Grasbüschel ein wenig zur Seite biegen, dann konnte er Skohl sehen. Die Urshaddin hatten ihr Lager in einer Mulde in der Ebene aufgeschlagen. Berle konnte zehn Urshaddin sehen, die sich um ein Wasserloch drängten. Am Rand der Szene lag Skohl, er war nicht gefesselt, und er lebte noch. Sein Blick war unstet und verriet große Angst. Berle konnte es ihm nachempfinden – die Urshaddin hatten grimmige Mienen und sahen ausgesprochen wild aus. »Ist das alles, was du mitgebracht hast auf deiner letzten Reise, Alter?« herrschte der Anführer Skohl an. »Mehr besitze ich nicht«, antwortete der Alte. Seine Augen wanderten von links nach rechts und wieder zurück. Er suchte den Rand der Mulde ab. »Kümmerlich«, sagte der Urshaddin. »Erbärmlich.« »Ich brauche nicht mehr«, antwortete Skohl. »Zwei gegen zehn«, murmelte Groch in Berles rechtes Ohr. »Wenig Aussicht auf Erfolg.« Berle nickte. Das Kämpfen war seine Sache nicht. Die Dymohden hielten nicht viel davon. »Wir können ihn aber auch nicht diesen Kerlen überlassen«, sagte er ebenso leise. »Sie werden ihn töten.« »Was schlägst du vor?« fragte Groch. Berle wußte keine Antwort. Bei einem überraschenden Angriff konnten Groch und er mit etwas Glück vielleicht die Hälfte der Urshaddin außer Gefecht setzen – danach aber standen sie immer noch einer Übermacht gegenüber. »Nun, Alter, du wirst deine Habseligkeiten nicht mehr brauchen. Deine Reise ist zu Ende.« Jetzt gab es für Berle kein Zögern mehr. Er sprang auf und schleuderte die Harpune. Sie traf ihr Ziel. Der Anführer der Urshaddin brach zusammen, ehe er mit der Keule auf Skohl einschlagen konnte. Mit der gleichen Treffsicherheit setzte Groch
eines seiner Messer ein. Zwei weitere Sprünge genügten, die beiden Dymohden mitten in das Lager der Urshaddin zu tragen. Berle überlegte nicht lange, er ließ sein Schwert durch die Luft sausen, und er traf. Das galt auch für Groch. Die Überraschung war vollkommen, und es trat ein, worauf Berle insgeheim gehofft hatte – in Rudeln auf greise Wanderer Jagd zu machen, war den Urshaddin vertraut. Mit ernsthaften Gegnern aber hatten sie es wohl nur selten zu tun gehabt. Die Schreckensgestalten begriffen nur, daß vier ihrer Leute außer Gefecht gesetzt waren und daß zwei brüllende, schwertschwingende Dymohden in ihren Reihen standen. Sie flüchteten. Einen brachte Berle noch zur Strecke, einen anderen schaltete Skohl aus, der seinem Gegner das Messer aus dem Gürtel gezogen und damit geworfen hatte. »Das kam im letzten Augenblick«, ächzte Skohl. »Weg von hier«, stieß Berle hervor. »Sobald sie sich von der Überraschung erholt haben, sitzen sie uns im Nacken – außerdem frißt sich der Steppenbrand hierher durch.« Sie rafften Skohls Habseligkeiten zusammen. Die Beutewaffen der Urshaddin ließen sie in dem morastigen Tümpel verschwinden, dann setzten sie ihre Flucht fort. Skohl wirkte erschöpft. Einer der beiden jüngeren Männer mußte ihn stützen. Schon jetzt zeichnete sich ab, daß der Wettlauf mit dem Tod erst auf den letzten Schritten entschieden werden würde – der Brand fraß sich entschieden rascher durch, als die Fliehenden laufen konnten. Der Vorsprung schmolz zusammen. Schon war das Prasseln und Knattern der Flammen zu hören, die herübergetriebenen Rauchwolken fielen immer dichter aus, sie legten sich auf die Lungen und erschwerten zusätzlich das Fortkommen. »Weiter, keine Rast!« drängte Berle. Ab und zu sah er sich nach
Uryde um. Sie konnte das Tempo mithalten. »Laßt mich liegen«, ächzte Skohl. »Ich bin euch nur eine Last. Mein Leben geht zu Ende, ich will nicht euer Leben gefährden.« »Das haben wir zu entscheiden, nicht du«, gab Berle zurück. »Groch, stütze ihn. Ich gehe voraus und sehe mich nach einem feuersicheren Unterschlupf um. Folgt meinen Spuren.« Er sputete sich. Viel Zeit blieb nicht mehr. Zum Glück wurde der Boden allmählich steiniger, die ersten Ausläufer der Felsen zeigten sich. Berle hielt Ausschau nach einer Höhle oder einem Flecken, auf dem keinerlei Bewuchs zu finden war, wo man in einiger Sicherheit das Ende des Brandes abwarten konnte. Er fand einen solchen Flecken – einen Felsklotz, an dem man hinauf klettern konnte. Oben gab es eine Fläche von zwanzig zu zwanzig Schritten nackten Gesteins. Hier konnte nichts brennen. Berle jagte auf der eigenen Fährte zurück. Das Prasseln des Steppenbrands war ohrenbetäubend laut geworden, und Berle konnte deutlich spüren, wie schwer das Atmen in der stickigen, rauchdurchsetzten Luft geworden war. »Mir nach!« rief er. »Ich habe eine Zuflucht gefunden!« Er übernahm es nun, Skohl zu stützen. Der Alte schien am Ende seiner Kräfte zu sein, er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Skohl hustete und ächzte. »Vorwärts!« schrie Berle. »Wir werden es schaffen!« Die Hitze wurde stärker und stärker. Es würde eine Sache von ein paar Augenblicken werden. Der Fels kam in Sicht. »Der Aufstieg liegt auf der anderen Seite!« stieß Berle hervor, nun selbst keuchend. Groch kletterte voran. Berle half dem Alten von unten, Groch zerrte von oben, und so brauchten die beiden nur ein paar Augenblicke, um den Alten auf die Oberfläche des Felsens zu befördern.
»Uryde, jetzt du!« Als letzter kletterte Berle auf den Felsbrocken, gerade noch rechtzeitig. Dann war das Flammenmeer heran, eine weitgestreckte, wabernde Fläche, die an den Felsen heranspülte und wie ein sturmgepeitschtes Meer an ihm in die Höhe leckte. Es war eine Sache von ein paar Minuten. Brannte das Feuer zu lange, dann ging den vieren die Luft aus. Verbrennen würden sie nicht, aber am Luftmangel zugrunde gehen. Erlosch das Feuer früh genug, hatten sie diese Gefahr überstanden. Berle schwitzte entsetzlich, sein Atem ging keuchend. Die Hitze war schier unerträglich, selbst wenn man sich auf den Bauch legte, um den Gluthauch über sich hinwegwehen zu lassen. Berle spürte scharfen Schmerz auf dem Rücken, sein Brustkorb bewegte sich immer heftiger. Einen Augenblick lang spürte er rasende Angst, dann das Verlangen, fortzulaufen – und einen Herzschlag später verlor er das Bewußtsein. Es knisterte immer noch. Ein Baum, der ein Dutzend Schritte entfernt stand, zum Stumpf heruntergebrannt, stand noch immer in Flammen. Ätzender Geruch lag über dem Land. Berle kam langsam zu sich. Seine Lungen schmerzten heftig, aber er nahm den Schmerz hin – er lebte noch, das allein zählte. Mühsam kam er hoch. Ein paar Schritte entfernt lagen drei Gestalten reglos am Boden. Berle kroch auf allen vieren zu ihnen hin. Auch sie lebten, waren aber noch ohne Bewußtsein. Berle kam auf die Beine. So weit seine Augen reichten, sah er eine schwarze Fläche, die heruntergebrannte Steppe, durchsetzt von dunkelroten Punkten. Dort hatte sich das Feuer in den Boden hineingefressen und fand in den Wurzelknollen weitere Nahrung. Der untere Teil der Gebirgsausläufer war brandgeschwärzt, die oberen Regionen hatte
das Feuer entweder nicht erreicht oder aber nicht in Brand setzen können. »Geschafft«, murmelte Berle. Es war entsetzlich knapp gewesen, das wußte er. Groch kam zu sich und hustete. Skohls Beine zuckten ein wenig. In Urydes Gesicht war noch deutlich die Furcht zu erkennen, die sie in den letzten Augenblicken vor ihrer Ohnmacht durchlitten haben mußte. Von Urshaddin war nichts zu sehen. Entweder waren sie in den Flammen umgekommen, oder sie hatten rechtzeitig in Sicherheit gelangen können. Am Horizont hatten sich dichte Wolken zusammengeballt. Vielleicht gab es bald einen kräftigen Regenguß – in ein paar Wochen würde von dem großen Feuer auf den ersten Blick nichts mehr zu sehen sein. Neues Gras würde aus dem Boden sprießen und die Asche zudecken. Berle griff nach einem der ledernen Schläuche. Das Wasser darin schmeckte warm und abgestanden, aber es löschte wenigstens den heftigsten Durst, der Berle quälte. Zu Essen gab es nichts. Es dauerte nicht lange, bis alle vier ihre Sinne wieder beisammen hatten. »Ich schlage vor, daß wir sofort aufbrechen«, sagte Berle. »Wir brauchen Nahrung, und die werden wir nur im Gebirge finden, in wildreichen Tälern oder in den Flüssen.« Skohl starrte auf die Ebene, auf die dünnen Rauchsäulen, die an einigen Stellen in den Himmel faserten. »All das meinetwegen«, murmelte er betroffen. »Auch unseretwegen«, gab Berle zurück. »Du kannst dich darauf verlassen, wir werden Uhranzhar erreichen – lebend.« Skohl schüttelte immer wieder den Kopf. Auch dort zeigten sich die ersten silbrigen Verfärbungen. »Ich kann es kaum glauben«, sagte er leise. Groch und Berle packten die wenigen Habseligkeiten zusammen,
dann stiegen sie von dem Felsen herunter. Die bodennahen Stellen waren voller Ruß, der Boden noch immer unangenehm warm. Die vier sahen zu, daß sie so bald wie möglich die höher gelegenen Regionen erreichten. Der Anstieg war schwierig und kräftezehrend. Die Vorfälle der letzten Tage und Stunden hatten Skohl sichtlich erschüttert und seinen Willen beinahe gebrochen. Er zeigte sich fast schon unwillig. Berle und Groch mußten ihm nicht nur beim Klettern helfen, Skohl mußte auch immer wieder angetrieben werden, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es schien, als habe er gar kein Verlangen mehr, Uhranzhar zu erreichen. Es war früh am Tage gewesen, als Berle erwacht war. Zur Mittagszeit hatten sie schon eine beträchtliche Strecke zurückgelegt. Als der Abend dämmerte, lag die Ebene bereits außer Sichtweite. Jetzt gab es nur Felsen zu sehen, graues Gestein, manchmal dunkel gesprenkelt, dazwischen Zonen, die mit Bäumen bestanden waren oder nur dichten Grasbewuchs aufwiesen. In einem klaren Bach speerte Berle nach ein paar Fischen, Uryde sammelte Kräuter und Beeren, Groch kümmerte sich um Feuerholz. Skohl hockte sich neben das Feuer, starrte in die Glut und sagte nichts. Mißmutig kaute er auf seinem Essen herum. Seine Gedanken waren offensichtlich sehr weit entfernt. »Wie viele mögen jetzt unterwegs sein nach Uhranzhar?« fragte er mit vollem Mund. »Dutzende, vielleicht Hunderte«, antwortete Berle. »Ich weiß es nicht. Aus jeder Siedlung werden ein oder zwei Alte unterwegs sein, und ich weiß nicht, wie viele Siedlungen es überhaupt gibt.« Das arbeitsreiche Leben in den kleinen Dörfern hielt die meisten Dymohden so beschäftigt, daß sie keinerlei Zeit dafür besaßen, sich um andere Dinge zu kümmern. Wenn die Dorfbewohner mit ihren Nachbarn in den anderen nahegelegenen Siedlungen gut auskamen, genügte ihnen das – keiner wußte, wie es Dutzende oder Hunderte von Marschtagen entfernt aussehen mochte, wer dort lebte und was
dort geschah. Berle begann diese Unkenntnis zu stören. Es gab ein paar Geschichten, die gleichsam beiläufig von einer Generation an die folgende weitergegeben wurden. Daß die Welt rund sei, dazu sehr groß, daß es andere Sonnen und Welten gab, daß es auch dort Leben gab. Diesen Fragen auf den Grund zu gehen, hatte niemals jemand versucht. »Vielleicht werden wir in Uhranzhar mehr erfahren«, murmelte Berle. »Wollen wir noch in der Nacht weitermarschieren?« Skohl schien von dem Problem nicht berührt, Groch und Uryde waren dafür, wenigstens ein paar Stunden lang die Reise fortzusetzen. Ausschlaggebend war schließlich Grochs Überlegung, daß sie in der unmittelbaren Nähe der Stadt vor den Urshaddin wahrscheinlich sicherer sein würden. Wenn diese Horden neuerdings so weit ausschwärmten, um ihrer infamen Jagd nachzugehen, waren die Opfer in der Nähe der Stadt wohl am sichersten. Groch hatte genügend Holz für Fackeln besorgt, harzdurchtränkte Späne, die lange und gleichmäßig brannten und genügend Licht spendeten, um die nächsten Wegschritte erkennen zu lassen. Dennoch war es alles andere als einfach, sich einen Weg zu suchen. Es gab hier keinen der Saumpfade, die üblicherweise die Siedlungen der Dymohden miteinander verbanden den Weg nach Uhranzhar beschritt man nur einmal im Leben, und jeder mußte selbst zusehen, wie er sein Ziel erreichte. Einen Weg zurück brauchte man ohnehin nicht. Berle erwies sich als mit sicherem Gespür begabt. Er fand immer wieder eine Möglichkeit weiterzukommen. Er fand schließlich auch die geräumige Höhle, in der die vier in Frieden ausruhen und sich erholen konnten. Berle übernahm die erste Wache. Er horchte auf die ruhigen Atemzüge der Gefährten. Skohl bewegte sich ab und zu im Schlaf, seine Miene drückte große Sorge
aus. Uryde zeigte ein Lächeln, Grochs Gesicht spiegelte eine grimmige Entschlossenheit wider. Zu hören war nur das leise Knistern des Feuers, dazu gelegentlich der Schwingenschlag von Raubvögeln, die nachts auf Beutesuche gingen. In der Ferne konnte Berle einmal den leisen Schrei eines Tieres hören, das einem der gefiederten Jäger zum Opfer gefallen war. Als der Himmel ein wenig heller zu werden begann, löste Groch Berle ab. Ein paar Stunden ruhigen Schlafs gaben Berle Kraft und Zuversicht zurück. Er fühlte sich prächtig, als Groch ihn endlich weckte. Nach einem schnellen Essen ging der Marsch weiter. Erst jetzt, bei vollem Tageslicht, war zu erkennen, wie gefährlich der Weg war. Er schlängelte sich an schroffen Felswänden vorbei, führte über gischtende Katarakte, durch dichte Wälder, dann wieder über scharfkantige Geröllfelder. Es war mühsam und beschwerlich, sich im Gebirge zu bewegen, und die vier kamen nur langsam voran. Skohl hatte sich in der Nacht ein wenig erholt. Seine Bewegungen wirkten kräftiger, aber sein Gemüt war nach wie vor verfinstert. Teilnahmslos trottete er neben den anderen her, und mehr als einmal wäre er abgeglitten, hätten nicht Groch und Berle auf ihn aufgepaßt. »Dort müssen wir hinüber«, sagte Berle und deutete auf einen zerklüfteten Gipfel. »Auf der anderen Seite soll Uhranzhar liegen. So jedenfalls hat man es mir gesagt.« »Wir können es bis morgen früh geschafft haben«, sagte Groch nach einem Seitenblick auf Skohl. Der letzte Teil dieses Marsches erwies sich als der schwierigste. Die vier mußten regelrecht klettern, wobei sich Skohls Gleichgültigkeit als größeres Hemmnis erwies als die steilen Wände. Wären sie nicht schon so weit marschiert, hätte Berle am liebsten das ganze Unternehmen abgebrochen. Es ärgerte ihn, für einen stumpf
hintrottenden Skohl solche Strapazen auf sich zu nehmen. Als die Dämmerung sich auf diesen Teil des Planeten senkte, lag der Gipfelgrat dicht vor den vieren. Berle drängte darauf, den Marsch fortzusetzen – wenigstens so weit, bis Uhranzhar in Sicht war. Die vier schleppten sich weiter. Es war kalt in dieser Höhe, und auch der dichte Pelz half wenig gegen den schneidenden Wind, der über die Felsen pfiff. Aber dann war das Ziel erreicht. Berle blieb stehen und sah hinunter auf Uhranzhar, die Stadt des Todes, wie sie auch genannt wurde. Der Name traf zu – schon aus dieser Entfernung machte Uhranzhar einen gefährlichen und bedrohlichen Eindruck. Uhranzhar lag in einem weitgewölbten Talkessel, den zu durchreisen man mindestens vier Tage gebraucht hätte. Mitten in dieser Region stand die Stadt. Düster drohend die Mauern, schwarz und klobig. Gewaltige Steinwülste umgaben eine dichtgedrängte Schar von finsteren Gebäuden. Berle konnte Türme sehen, die unvorstellbar hoch in den Himmel ragten – mindestens zwanzig Mannslängen hoch und dazu sehr massig. Eine so gewaltige Ansammlung von Häusern hätte sich Berle niemals vorzustellen gewagt. In Uhranzhar mußten mehr Dymohden leben können als Flöhe auf einem Lauftier, wahrscheinlich hätte man alle Bewohner aller Siedlungen längs des Varyn dort unterbringen können, und es wäre immer noch Platz gewesen. Nur schwach wurde die Stadt von der untergehenden Sonne beschienen, und diese Beleuchtung verlieh Uhranzhar einen besonders gefahrverkündenden Ausdruck. »Das felsgewordene Unheil«, murmelte Berle. Er spürte, wie sich Uryde an ihn schmiegte. Skohls Gesicht zeigte eine seltsame Mischung aus Freude und Erschrecken. Grochs Miene wirkte wie versteinert.
»Morgen«, murmelte Berle. »Morgen sind wir am Ziel.«
6. »Was wollen die beiden sein? Zeithüter?« Der Rechner antwortete prompt. »Die Auswertung des Gesprochenen läßt nur diese Schlußfolgerung zu. Die beiden Wesen begreifen sich als Zeithüter.« »Einfach lächerlich«, empörte sich der Zeithüter-Null. »Ich weiß doch, wie Zeithüter auszusehen haben.« »Die Fremden können sich in ihrem Selbstverständnis irren«, gab der Rechner zu bedenken. »Im übrigen ist die hohe Aufgabe des Zeithüters nicht an Gestaltkriterien gebunden. Du siehst es an mir.« »An dir?« fragte Zeithüter-Null entgeistert. »Arbeiten wir nicht zusammen? Bin ich nicht ebenso wichtig für das einwandfreie Funktionieren dieser Anlagen wie du? Folglich bin auch ich ein Zeithüter.« Zeithüter-Null war der Meinung, daß der Rechner nun völlig verschaltet war. Seine Behauptung war schlichtweg unsinnig, und wenn er sie noch einmal erhob, war wohl der Zeitpunkt gekommen, den Rechner einfach abzuschalten, bevor er mit solchen Narreteien Unfug anrichten und dem einzig wirklichen Zeithüter ins Handwerk pfuschen konnte. Indessen hütete sich Zeithüter-Null, diesen Gedanken auszusprechen. Zur Bekämpfung der beiden Herausforderer brauchte der Zeithüter die Hilfe seines positronischen Gesprächspartners. »Die Reaktionsgeschwindigkeit der beiden organischen Wesen ist recht gering«, gab der Rechner bekannt. »Ich habe unsere Robots entsprechend eingestellt.« Zeithüter-Null überlegte, was er mit den Eindringlingen anfangen sollte.
Es wäre die einfachste und schnellste Lösung gewesen, sie zu vernichten. Andererseits hätte Zeithüter-Null gerne gewußt, woher die beiden die Dreistigkeit nahmen, sich selbst als Zeithüter zu begreifen – irgendeinen Grund mußten sie haben. »Schlußfolgerung«, gab der Rechner bekannt. »Die beiden Fremden kennen den Begriff Zeithüter, folglich sind sie mit Zeithütern zusammengetroffen.« »Es gibt außer mir keinen Zeithüter mehr«, sagte Zeithüter-Null erbost. »Du selbst hast mir gemeldet, daß die Gefährten auf VIVARIUM verschwunden sind.« »Zutreffend«, antwortete der Rechner. »Es gibt zwei Erklärungsmodelle.« »Laß hören«, sagte Zeithüter-Null. »Die verschwundenen Zeithüter könnten diese beiden zu ihren Nachfolgern berufen haben.« »Absolut lächerlich. Sie sind für diese Aufgabe völlig ungeeignet.« »Die zweite Möglichkeit ist, daß die beiden sich dieses Amt angemaßt haben. Möglicherweise ist das Verschwinden der anderen Zeithüter auf ihr Einwirken zurückzuführen.« Zeithüter-Null brauchte geraume Zeit, bis er den vollen Sinn dieser Worte begriff. Daß Zeithüter verschwanden und sich auflösten, war nichts Neues. Dergleichen kam immer wieder vor. Aber niemand – außer dem Großmächtigen, der diese Situation geschaffen hatte – konnte einen Zeithüter verschwinden lassen. Zeithüter waren körperlos und unsterblich. Der Gedanke, daß es möglich sein sollte, Zeithüter zu töten, erschreckte Zeithüter-Null bis ins Mark. »Vernichte sie – auf der Stelle«, forderte er den Rechner auf. � »Das werde ich nicht tun«, antwortete der Rechner. »Erst muß ich � prüfen, ob es sich tatsächlich um Zeithüter handelt.« »Ich sage dir doch, es sind Betrüger, sie wollen uns nur schaden.« »Das wird sich zeigen. Bisher haben sie nichts getan, was eine
Vernichtung rechtfertigen würde.« Zeithüter-Null schwieg. Er wußte, seine Zeit würde noch kommen.
* »Maschinen und nochmals Maschinen«, knurrte Insider. »Eine verrückter als die andere und keine mit verständlicher Funktion. Es ist zum Verrücktwerden.« »Dann werde verrückt«, gab Carch zurück. Die beiden irrten ziemlich hilflos durch das Innenleben des seltsamen Planeten Technokrat. Längst hatten sie die Orientierung verloren, alle herkömmlichen Begriffe waren in Verwirrung geraten. Wo war oben, wo rechts – es gab keine Antwort. Feinde hatten sich bisher nicht gezeigt, nur ab und zu ein neugieriger Roboter, der die beiden still betrachtete und dann verschwand. Carch und Insider wußten, daß sie unter ständiger Beobachtung standen. Überall gab es Kameras, die ihren Bewegungen folgten, und die beiden Eindringlinge wußten auch, daß es im Innern von Technokrat jemanden gab, der diese Beobachtungen auswertete, und sei es nur eine zentrale Positronik. »Es fängt an, langweilig zu werden«, murmelte Insider. Er suchte nach einem Verfahren, den Erkundungsprozeß zu beschleunigen. Und nach einiger Zeit kam ihm ein reichlich verwegener Einfall. Insider wartete, bis wieder einmal ein Robot in seinem Blickfeld auftauchte. Insider marschierte genau auf die Maschine zu. »He, du!« rief er. »Kannst du mich verstehen?« Er und Carch hatten in Reichweite der sicherlich auch überall vorhandenen Lauschmikrophone genug geredet, um ein einwandfreies Translatorprogramm ermöglicht zu haben.
Wie Insider es vermutet hatte, war der Robot bereits mit der Sprache der Ankömmlinge ausgerüstet worden. »Ich verstehe dich«, gab der Robot bekannt. Er hatte seine Waffe auf Insider gerichtet, dennoch ging Insider weiter auf ihn zu. »Wir sind Zeithüter«, erklärte Insider. Carch stieß einen schrillen Laut aus. »Identifiziert«, erklang es aus der Schallöffnung der Robots. »Haben wir Befehlsgewalt über dich?« »Beschränkt«, gab der Robot bekannt. »Immerhin«, sagte Insider und grinste Carch an. Dann fuhr er zu dem Robot gewandt, fort: »Führe uns in die Zentrale.«
* »Das wirst du nicht tun«, sagte Zeithüter-Null entgeistert. »Unter gar keinen Umständen.« »Das hast du nicht zu bestimmen«, gab der Rechner zurück. »Ich werde sie in die Zentrale lassen, dort werden wir sie befragen können.« »Es sind Betrüger!« stieß Zeithüter-Null aus. »Niemals hat ein Zeithüter so ausgesehen!« »Ich weiß nicht, wie ein Zeithüter aussieht«, erwiderte der Rechner. »Ich kann dich nicht sehen, nur orten. Über die Gestalt eines Zeithüters liegen mir keinerlei Unterlagen vor.« »Zeithüter haben keine Gestalt«, erklärte Zeithüter-Null. »Wenn diese eine Gestalt haben, können sie keine Zeithüter sein. Das ist doch logisch.« »Es hängt davon ab, ob die Definition des Begriffs noch gültig ist«, beharrte der Rechner. »Es ist viel Zeit vergangen, ich werde die Angelegenheit nachprüfen.« Das verdroß den letzten Zeithüter sehr. Die Rivalität der beiden so unterschiedlichen Wesen wurde zusehends deutlicher.
Die tatsächliche Macht in der Station aber besaß der Rechner. Wenn sein Programm ihm vorschrieb, sich in einer ganz bestimmten Art und Weise zu verhalten, konnte alle Befehlsgewalt des Zeithüters dagegen nichts ausrichten. Einmal mehr wurde dem Zeithüter deutlich, wie gering seine Befugnisse waren. Es war natürlich auch denkbar, und mit dieser Überlegung schlug sich der Zeithüter in jüngster Zeit immer öfter herum, daß das Programm des Rechners im Lauf der vielen Jahre Schaden erlitten hatte. In diesem Fall wäre der Zeithüter nicht nur berechtigt, sondern nach seinem Selbstverständnis auch verpflichtet gewesen, die aufgetretenen Schäden zu beheben. Das hieß: den Rechner zum Teil neu zu programmieren. Dazu war es notwendig, an die positronischen Eingeweide des Rechners heranzukommen, und die wurden vom Rechner selbst sorgfältig geschützt. Die Lage für den letzten Zeithüter, war reichlich verzwickt und unerfreulich. Mit entsprechendem Mißmut verfolgte er daher, wie ein Robot die beiden Ankömmlinge durch den verschlungenen mehrdimensionalen Irrgarten der Station führte, bis sie schließlich eine der Schaltzentralen erreichten. Zeithüter-Null sah, wie das Schott geöffnet wurde und die Gestalten eintraten. Die Roboter hatten keine Befugnis, den Raum zu betreten, und mußten draußen bleiben. »Willkommen«, sagte der Rechner. »Da sind wir«, sagte der Grünhäutige. Zeithüter-Null dachte an den warmen, braunen Pelz seines früheren Körpers und schauderte, als er das nackte, unappetitliche Fleisch der Eindringlinge sah. Der andere angebliche Zeithüter sah noch absonderlicher aus. Unvorstellbar, daß ausgerechnet diese beiden Schreckensgestalten zum hohen Amt eines Zeithüters berufen worden sein sollten. Vermutlich waren sie auch sterblich – allein deshalb konnte Zeithüter-Null sie nicht akzeptieren. Seine eigene Unsterblichkeit wurde auf komplizierte Weise bewirkt, Körperlosigkeit war dafür
eine unabdingbare Voraussetzung. »Ihr seid Zeithüter?« fragte der Rechner. »Wir wurden dazu ernannt«, antwortete der Grüne. Einen Augenblick lang wurde Zeithüter-Null von einem gräßlichen Gedanken gepeinigt. War es jetzt vielleicht möglich, auch körperlich unsterblich zu werden? Stellten diese beiden eher unförmigen Gestalten eine Weiterentwicklung der Zeithüter dar? Beinahe gleichzeitig machte sich in Zeithüter-Null der starke Wunsch bemerkbar, dies nicht zuzulassen. Er hatte Angst, von diesen beiden abgelöst werden zu können – und ohne den inneren Glanz, den das Amt des Zeithüters mit sich brachte, erschien Zeithüter-Null seine eigene Lebensform nicht sonderlich erstrebenswert. Ohne Amtspflichten und -ehren war er ein Nichts, nur überflüssig, und was das zur Folge haben würde, brauchte sich der Zeithüter nicht lange auszumalen. »Hm«, machte der Zeithüter. Er hatte sich, obwohl das gar nicht nötig war, in ein Schirmfeld gehüllt, das für die Wahrnehmungssysteme der Fremden erfaßbar war – eine goldschwarz marmorierte Aureole. »Könnt ihr beweisen, was ihr da sagt?« »Stellt Verbindung zu den Zeithütern auf VIVARIUM her«, schlug der hagere der beiden Fremden mit schriller Stimme vor. »Es gibt keine Verbindung mehr«, antwortete Zeithüter-Null. »Es gibt dort auch keine Zeithüter mehr«, bemerkte der Grüne. »Sie haben uns nach einer Prüfung zu ihren Nachfolgern ernannt.« Die Antwort gab Zeithüter-Null einen Stich. Es hatte also eine Prüfung gegeben. War tatsächlich etwas Wahres an den Worten der beiden? »Dann werdet ihr sicherlich noch ein paar Fragen von mir beantworten können«, stieß Zeithüter-Null hervor. »Ich schlage vor, Rechner, daß wir diese beiden prüfen, um herauszufinden, ob ihre Behauptung stimmt.« »Ich bin einverstanden«, sagte der Rechner.
Zeithüter-Null stellte die Fragen. Er begann bei einfachen Dingen, dann ging er zu komplizierten Sachverhalten über. Die beiden Fremden kannten tatsächlich die Antworten. Sie brauchten zwar stets viel Zeit, formulierten ihre Antworten auch meist ein wenig seltsam und mißverständlich, aber letztendlich erwiesen sie sich der Prüfung als gewachsen. Es war kaum zu glauben. »Ich erkläre die Befragung für beendet«, sagte der Rechner schließlich. »Ihr seid als Zeithüter identifiziert. Was ist euer Begehren?« Wieder zögerten die beiden lange mit der Antwort. »Nun, wir würden uns hier gerne einmal umsehen«, sagte der Grünliche schließlich. »Uns mit dieser Station vertraut machen.« »Führe sie herum«, bestimmte der Rechner. »Zeige ihnen alles und erkläre ihnen die Lage.« Die Antwort von Zeithüter-Null war unidentifizierbar. Es wurde auch wirklich Zeit, Ersatz für den alten Zeithüter zu besorgen. Er war wunderlich geworden in der letzten Zeit. Diesen organischen Wesen fehlte einfach die Klarheit der Gedankengänge, wie sie nur eine perfekt funktionierende Maschine zuwege brachte. Zeithüter-Null wurde von Launen und Sorgen geplagt. Auch die Tatsache, daß er nun ein energetisches Wesen war, änderte daran nichts – seine Herkunft aus dem Organischen schlug immer wieder durch. Ein Teilprogramm des Rechners war speziell dazu gedacht, den Zeithüter-Null zu kontrollieren; es registrierte Schwankungen in seiner Stimme, verfolgte Wortwahl, Pausen, Zögern, Seufzen und dergleichen. Aus diesen Anhaltspunkten konnte der Rechner eine große Menge Erkenntnisse gewinnen. Mitunter war der Tonfall einer Äußerung weit wichtiger als der sachliche Inhalt. Es war dieses Programm, das dem Rechner schon seit geraumer Zeit verraten hatte, daß Zeithüter-Null an einer Krankheit litt, die ihn eigentlich niemals hätte betreffen dürfen.
Zeithüter-Null wurde allmählich senil. Es zeigten sich bei ihm Konzentrationsschwächen, die Merkfähigkeit ließ nach. Ein Teil seiner Ansichten wurde immer weltfremder und versponnener, außerdem zeigte er sich zunehmend starrsinnig. Die Schlußfolgerung war eindeutig – der unsterbliche ZeithüterNull steckte mitten in einem Alterungsprozeß, und das ungeachtet der Tatsache, daß ihm fortlaufend Lebensenergie zugeführt wurde. Dieser Teil der Anlage der Station war dem Rechner nicht zugänglich, er wußte nicht, wie diese Energie aussah, woher sie kam und wie sie den Zeithüter erreichte. Es sah aber alles danach aus, als würde dieser Zustrom allmählich versiegen, und damit zeichnete sich der Zeitpunkt ab, an dem Zeithüter-Null seine Existenz einbüßen würde. Dann war der Rechner allein. Es sei denn, es kam Ersatz für den sterbenden Zeithüter. Möglicherweise waren die beiden Neuankömmlinge dieser Ersatz, es würde sich zeigen. Ungeachtet seiner Aufforderung an Zeithüter-Null, die Fremden herumzuführen, war der Rechner mißtrauisch. Es gab ab und zu in der Nähe der beiden neuen Zeithüter ein energetisches Phänomen, das der Rechner nicht richtig anmessen, erfassen und interpretieren konnte. Und bevor diese Frage nicht eindeutig geklärt war, dachte der Rechner nicht daran, den Entschluß durchzuführen, zu dem er längst schon gekommen war – den immer mehr zum Störfaktor werdenden Zeithüter-Null auszuschalten und selbst die alleinige Kontrolle über die Station zu übernehmen.
* »Hier trennen sich unsere Wege«, sagte Skohl. »Ihr müßt jetzt umkehren.«
Berle rührte sich nicht. Zum Greifen nahe waren die Mauern von Uhranzhar, gewaltige Gebilde aus dunklem, festgefügtem Felsgestein. Erst in der Nähe war die Riesenhaftigkeit der Stadtbefestigung richtig zu erkennen. Es war ein künstliches Gebirge, das sich dort in den Himmel türmte. Seltsame Gerüche wehten von der Stadt herüber, es roch nach Verwesung und Tod, nach Brand und Moder. Eines war Berle jetzt schon klar – dies war ein Ort des Schreckens. Mit dem Wunschbild des alten Skohl, dort in Frieden die Erfüllung eines langen, arbeitsreichen Lebens zu finden, hatte die Wirklichkeit von Uhranzhar nichts zu tun. Berle hatte vielmehr den starken Eindruck, als handle es sich dabei um eine Todesfalle – auch wenn er sich nicht vorzustellen vermochte, was irgend jemand noch für Gewinn aus dem Lebensrest eines sterbenden Dymohden zu ziehen vermochte. »Ich werde dich nicht allein dorthin gehen lassen«, stieß Berle hervor. Deutlich konnte er sehen, wie Uryde erschrak. Sie hielt seinen Arm. »Du dürftest nie wieder zu uns zurückkehren«, stieß sie heftig hervor. »Du würdest zu einem Urshaddin werden.« Berle schüttelte langsam den Kopf. »Uhranzhar ist mir nicht geheuer«, sagte er. »Ich will diesem Geheimnis auf den Grund gehen.« Groch versuchte ebenfalls, ihn abzuhalten. »Du übertrittst alle Regeln«, sagte er beschwörend. »Es ist heller Wahnsinn. Sieh dir diese Mauern an, rieche den Pesthauch dieser Stadt – keine Macht bringt mich dorthinein.« »Aber Skohl willst du gehen lassen, ganz allein?« Die Blicke der drei jungen Dymohden richteten sich auf Skohl. Es war dem Alten anzusehen, wie schwer er an dem Anblick von Uhranzhar zu tragen hatte. »Es gibt für mich kein Zurück«, sagte er schwach. »Alle Vorfahren
haben es so gehalten, ich werde es auch tun. Ich werde in die Stadt gehen, durch dieses Tor, und ihr werdet zurückbleiben.« Er deutete auf die Pforte, ein halbverrostetes Gitter aus Metall, dahinter ein hölzernes Tor, das den Blick ins Innere der Stadt verbarg. Von irgendwoher klangen Geräusche schmerzliche Laute, die vom Wind rasch fortgetragen wurden. »Wenn die anderen Urshaddin es geschafft haben, die Stadt wieder zu verlassen, warum sollten wir es nicht auch können«, gab Berle zu bedenken. »Mich jedenfalls wird niemand dazu bewegen können, alten Wanderern aufzulauern. Ich bin fest entschlossen, die Stadt zu betreten. Ihr könnt hier auf mich warten – wenn ich in drei Tagen nicht zurückgekehrt bin, geht ihr in unsere Siedlung zurück. Und denkt daran: berichtet allen, was schon von außen zu sehen ist.« »Man wird uns nicht glauben«, murmelte Groch. Er sah auf den Boden. Uryde sagte leise: »Unter gar keinen Umständen werde ich dich alleine gehen lassen. Wenn du es unbedingt willst, dann werde ich dich begleiten.« Groch stieß ein heftiges Lachen aus. »Dann ist die Sache entschieden«, sagte er. »Wir gehen zusammen.« Skohl hob abwehrend die Arme, aber Berle packte ihn ganz sanft und stieß ihn vorwärts, auf das Tor zu. Steinerne Platten waren ausgelegt, eingemeißelte Pfeile wiesen den Weg. Sobald Skohl unmittelbar vor dem Gitter stand, begann es sich ächzend und kreischend zu bewegen, stieg langsam in die Höhe. Zwei Schritte, dann standen die vier vor dem hölzernen Tor. Während hinter ihnen das Gitter in seine alte Stellung zurückglitt, schwangen langsam die Flügel des Portals zur Seite. Ein düsterer Weg wurde sichtbar, eine langgestreckte Höhle, aus feuchten, kalten Steinen gemauert. Der Boden war ebenfalls feucht, zum Teil von Moos bedeckt.
Der Modergeruch wurde immer stärker. Von irgendwoher huschten kleinere Tiere heran und verschwanden erst, als Berle sie mit Fußtritten verscheuchte. »Grauenvoll«, murmelte Uryde. Sie schmiegte sich an Berle, der vorsichtshalber seine Harpune zur Hand genommen hatte. Der Stollen schlängelte sich in eine bedrückende Dunkelheit hinein, es hatte den Anschein, als führe er hinab in die Tiefe des Bodens. Berle ging voran, die Spitze der Harpune stoßbereit nach vorn gerichtet. Niemand begegnete den vieren, als sie sich langsam vorwärtsbewegten. »Ich hatte mir alles ganz anders vorgestellt«, sagte Skohl leise. »An diesem Ort möchte ich nicht sterben – es ist nicht schön und würdevoll, nur häßlich und bedrückend.« Endlich war ein Stück voraus Licht zu sehen. Die vier beschleunigten ihre Schritte und eilten darauf zu. Ein weiteres Gitter versperrte ihnen den Weg. Es öffnete sich ohne weiteres Zutun, als die vier unmittelbar davor standen. Sie hatten einen Platz erreicht, ein steingepflastertes Geviert, das von Häusern umgeben war. Hinter den Dymohden sank das Gitter herab. Der Rückweg war versperrt. Niemals zuvor hatten die vier Häuser gesehen, die so hoch in den Himmel ragten – zum Teil verfügten sie über vier und mehr Wohnebenen, wie an den Fensteröffnungen zu sehen war. Im Dachgebälk hausten große Vögel, die nun aufstiegen und über dem Platz ihre Kreise zu ziehen begannen. Sie stießen gierige Schrilllaute aus. »Bleibt dicht beieinander«, sagte Berle. »Dieser Ort ist gefährlich.« Noch immer war kein Dymohde zu sehen. Es sah fast so aus, als wäre die Stadt verlassen. Berle warf einen Blick nach oben. Er sah Rauchfäden, die in den Himmel kräuselten, also mußte es irgendwo Feuer geben. Ein warmes, trockenes Plätzchen war genau das, wonach Berle und den anderen jetzt der Sinn stand.
»Sieh an, Neue!« Aus dem Dunkel des Hauseingangs schob sich eine Gestalt. Es mochte einmal ein Dymohde gewesen sein, jetzt war davon nichts mehr geblieben als ein ausgemergelter Körper, der über und über mit einer silbrigen Schuppenhaut überzogen war. Es sah gräßlich aus. Seine Zähne hatte das Gerippe – so schien es den vieren – schon eingebüßt, die Augen lagen tief in den Höhlen, die Glieder waren fleischlos. »Du kennst dich hier aus?« fragte Berle. »Sicher«, antwortete die Schreckensgestalt. Sie kam herangeschlurft, mit müden, ausgezehrten Bewegungen. »Habt ihr etwas zu essen für mich?« »Es wird sich finden lassen«, antwortete Berle. »Zeige uns einen gemütlichen Platz, wo wir essen und trinken können, und du kannst unser Gast sein.« »Ich bin Lokh«, stellte sich der Silbrige vor. »Niemand kennt diesen fluchwürdigen Ort besser als ich. Wie lange seid ihr schon hier?« »Ein paar Augenblicke«, sagte Groch. Skohls Gesicht wirkte wie versteinert. Er starrte den silbernen Körper Lokhs an. »Ich lebe hier schon seit Jahrzehnten«, kicherte Lokh. »Kaum zu glauben, nicht wahr?« Es war in der Tat schwer zu glauben. Uhranzhar war ein Ort des Entsetzens, eine einzige Ansammlung von Verfall und Moder. Nur mit großer Mühe vermochte sich Berle vorzustellen, daß hier einmal ganz normale Dymohden gelebt haben sollten. Allein die Enge der Straßen bedrückte ihn, ununterbrochen auf so begrenztem Raum mit so vielen anderen zusammenleben zu müssen. »Was geschieht hier normalerweise?« wollte Berle wissen. Lokh warf einen Seitenblick auf Skohl. »Hm«, machte der Silberne. »Früher war es so, daß die Alten hierher gekommen sind und dann den Urshaddin in die Finger gerieten. Aber in den letzten Jahren sind so wenige gekommen, daß
sich die Urshaddin dazu entschlossen haben, ihre Opfer bereits auf dem Hinweg zu stellen. Es sterben nämlich zu viele bereits auf diesem Hinweg.« Er sah Berle an. »Wie seid ihr den Urshaddin entkommen?« »Wir haben sie vernichtet«, sagte Berle einfach. Er war erschrocken über die Leichtigkeit, mit der ihm dieser Satz über die Zunge ging. »Aha«, sagte Lokh nur. Er hatte die vier auf einen der Türme geführt. Von der Plattform aus hatten sie einen guten Überblick über die Stadt. Zweierlei fiel Berle sofort auf. Es waren zwei Kuppeln, die sich über gewaltigen Gebäudekomplexen wölbten, die eine silbrig schimmernd, die andere in stumpfem Schwarz. »Was ist das?« fragte Berle. »Rechts, der Silberdom ist der Born der Erkenntnis«, verkündete Lokh. »Dorthin gehen die Alten, um zu sterben. Und die andere Kuppel ist der Quell des Lebens. Niemand darf dort hinein. Nur alle paar Jahrzehnte tauchen Maschinen auf und schaffen irgendwelche Waren hinein – jedesmal dann, wenn das Sternenschiff kommt, um Erwählte abzuholen.« Berle hatte inzwischen den sehr starken Verdacht, daß in dieser Stadt nichts mit rechten Dingen zuging, daß es sich um ein riesiges Täuschungsmanöver handelte – mit dem das ganze Volk der Dymohden systematisch hereingelegt und geprellt werden sollte. »Später werden wir uns dort einmal umsehen«, sagte er. »Jetzt wollen wir erst einmal essen.« Lokh konnte sich vor Begeisterung kaum halten, als er die Köstlichkeiten sah, die die Ankömmlinge mit in die Stadt gebracht hatten. »So etwas bekommt man hier nur alle paar Jahre«, sagte er. Lokh mußte die Nahrung mit den Fingern zerkleinern und sich in den Mund schieben, da er keine Zähne mehr besaß. »Wie alt bist du eigentlich?« fragte Skohl den Silbrigen.
»Das weiß ich selbst nicht mehr«, antwortete Lokh. »Aber ich bin sicher, daß ich mindestens zwanzig Jahre in der Stadt verbracht habe.« »Zwanzig Jahre!« rief Skohl und sprang auf. »Kein Dymohde kann so alt werden.« »Unfug«, wehrte sich Lokh. »Du siehst es an mir, und ich habe hier einige erlebt, die noch älter geworden sind.« »Das gibt es nicht«, beharrte Skohl. »Du mußt lügen.« »Ich lüge nicht«, antwortete Lokh ruhig. »Ich weiß, was ich sage.« Berle griff in das Gespräch ein. »Was geschieht mit den Alten, die den Born der Erkenntnis aufsuchen?« fragte er. »Sie sterben«, antwortete Lokh. »Und wenn sie es nicht tun?« »Dann werden sie alt und silbern wie ich, ganz einfach.« Berle schüttelte sich vor Entsetzen. »Heißt das, daß die Alten dort getötet werden?« fragte er. »Das weiß ich nicht«, antwortete Lokh. »Ich bin nie so dumm gewesen, dorthin zu gehen.« Berle sah die Freunde an. »Wir werden den Born der Erkenntnis aufsuchen«, sagte er bestimmt. »Noch heute!«
* Das Portal war verschlossen, eine ähnliche Konstruktion, wie sie die vier bereits beim Betreten von Uhranzhar angetroffen hatten. Berle wußte auch sofort, was das zu bedeuten hatte – es gab keinen leichten, möglicherweise gar keinen Rückweg. Dennoch zögerte er keinen Augenblick, auf das Gitter zuzugehen. Wie er es nicht anders erwartet hatte, glitt es in die Höhe und senkte sich hinter den fünfen wieder. Lokh zeigte sich von diesem
Unternehmen wenig angetan, aber Berles Harpune ließ ihm keine andere Wahl. Ein stählernes Tor schwang auf. Dahinter wurde ein Gang sichtbar, der auf geheimnisvolle Weise erhellt wurde. Berle ging der Sache auf den Grund und fand hellstrahlende Röhren, die warm waren und Licht gaben. Er ahnte, daß diese Dinge nicht auf Sinohr entstanden waren, sondern eher zum Lebensbereich der Weltraumwesen gehörten. Folglich hatten sie die Kuppelhalle errichtet. »Könnt ihr es hören?« fragte Skohl. Die anderen nickten. Leise Klänge wehten zu ihnen herüber, angenehm sanft und verlockend. »Ich habe niemals etwas Schöneres gehört«, sagte Skohl. Sein Gesicht begann vor Freude zu glänzen. »Das ist es, wonach ich mich gesehnt habe!« »Abwarten«, empfahl Berle. »Erst werden wir uns einmal umsehen.« Sie folgten den in den Boden eingelassenen Hinweislinien. Die lockenden Klänge wurden stärker, dazu kam, daß die Luft angereichert wurde mit seltsamen Aromen. Auch sie hatten etwas stark verlockendes an sich und verfehlten nicht ihre Wirkung auf Skohl. Lokh hingegen zeigte äußerstes Mißtrauen. Ein paar weitere Gitter und Tore waren zu passieren, dann erreichten die fünf einen Raum – ein riesiges Rund, wie es Berle zuvor niemals gesehen hatte. »Die Halle der Erkenntnis«, sagte Lokh. »Ich habe davon reden hören, sie aber niemals gesehen.« Die fünf blieben auf der Empore stehen, eine breite Treppe führte hinab auf den Boden. Er war nach unten gewölbt, in der Mitte gab es ein kreisförmiges Loch. Vom äußersten Rand bis nach innen zog sich eine Spirale länglicher Gebilde, die Berle stark an die Leuchtkörper auf den Gängen erinnerten. Es waren etliche hundert dieser leuchtenden
Körper zu sehen. Die äußersten strahlten sehr hell, die inneren wesentlich weniger, und unmittelbar am Rand des Zentrallochs waren die Körper stumpf und undurchsichtig. Schwach zu erkennen durch den strahlenden Glanz waren die Körper im äußersten Bereich. Berle brauchte nicht viel Einbildungskraft, um sich auszumalen, was er zu sehen bekam. Jeder dieser länglichen Leuchtgebilde war ein Schrein, darin lag der Körper eines alten Dymohden. Dort zu landen, war auch Skohl bestimmt. »Ich vermute, daß sich dieses Gebilde dreht – allerdings so langsam, daß wir die Bewegung nicht mit den Augen wahrnehmen können.« »Und wozu das alles?« fragte Skohl. Berle konnte die fiebrigen Augen sehen, mit denen der Alte den Boden der Halle betrachtete. »Ich vermute nur«, antwortete Berle. »Du brauchst nur hinunterzugehen und dich auf diese Platte zu legen. Sehr bald wird dein Körper dann umhüllt sein von einem ähnlichen leuchtenden Feld. Ich vermute, daß du es als angenehm empfinden wirst, dort zu liegen. Langsam wirst du dich dann mit der gewölbten Scheibe bewegen – und irgendwann wird dein Körper dann in diesem Loch verschwinden.« Berle legte eine Pause ein, dann fuhr er fort: »Es fällt mir schwer, mir so etwas überhaupt vorzustellen, aber es ist die einzige Erklärung, die mir einfallen will. Ich glaube, daß es nicht sehr lange dauern wird, bis ein Körper vom Rand bis zum Zentrum der Scheibe gewandert ist. Möglicherweise dauert es ein Jahr, vielleicht mehr. Wenn dein Leib an diesem Loch angekommen ist, wirst du tot sein, betrogen und geprellt um etliche Jahre deines Lebens. Du kannst an Lokh erkennen, um wie viele Jahre du möglicherweise gebracht wirst.« »Aber wozu?« fragte Skohl. »Was soll das für einen Sinn haben? Wenn jemand mich unbedingt töten will, kann er das doch einfacher haben.«
Berles Blick wanderte nach oben. Über dem ganzen Bild lag ein feines blaues Leuchten, ab und zu knisterte es darin, und es sah aus, als würde dieses Leuchten strömen, sich im Scheitelpunkt der Wölbung der Hallendecke sammeln. Berle, der ein recht gutes Auge hatte, wußte, daß es über dieser Wölbung noch weitere Räume geben mußte. »Wir gehen dorthin!« entschied er. Skohl starrte unverwandt auf den Boden. »Nein«, stieß er hervor. »Ich kann am ganzen Körper spüren, wie schön es wäre, dort zu liegen. Ich will nichts anderes!« »Später!« sagte Berle rauh. »Erst wenn wir genau wissen, was es mit dieser Halle auf sich hat. Danach magst du tun, was du willst.« Widerstrebend folgte Skohl seinen Begleitern. Berle suchte nach einem Weg nach oben. Er fand ihn zunächst nicht, dann aber entdeckte er eine gut getarnte Tür. »Helft mir!« rief er. Er setzte seine Harpune ein, Groch half mit dem Schwert. Es dauerte lange, bis die Bemühungen erfolgreich waren, aber schließlich sprang das Schloß auf. Ein düsterer, verstaubter Gang wurde sichtbar, der nach oben führte. Berle lächelte zufrieden. Die dicke Staubschicht und die Netze zahlreicher Spinnen bewiesen, daß der Gang in letzter Zeit nicht mehr benutzt worden war. Berle stieg als erster in die Höhe. In weiten Bogen schraubte sich die Treppe an der Kuppelwand entlang in die Höhe und näherte sich dabei immer mehr dem Gipfel der Kuppel. Dort gab es das nächste Hindernis, und diesmal mußten sich die Freunde noch mehr anstrengen, um die Tür aufzubrechen. Als die Öffnung endlich freigearbeitet war, traten Berle und seine Begleiter in einen Raum, in dem nahezu alles, was sie zu sehen bekamen, fremd und geheimnisvoll war. Eckige Kästen, die auf dem Boden standen, untereinander verbunden durch bunte, glänzende
Stricke. Es gab glitzernde Hebel und Räder, und oben auf den Kästen leuchtete und schillerte es in vielen Farben. Unter einer Abdeckung aus einem durchsichtigen Material zappelten dürre schwarze Finger hin und her. Die fünf standen lange Zeit reglos im Raum. War es schon schwierig gewesen, Sinn und Zweck der Halle zu begreifen, so geriet es nun zum schier unlösbaren Problem herauszufinden, was es mit diesem Raum auf sich hatte. Ganz offensichtlich war er von den Weltraumfahrern eingerichtet worden, von deren Lebensart die Dymohden nicht viel begreifen konnten. Auf einem Bild war die Halle zu erkennen, ein weiteres Bild zeigte einen Querschnitt durch den gesamten Kuppelbau. Berle begriff nicht, wie die Fremden das gemacht hatten – aber er konnte sehen, wie sich etwas nicht Körperliches von den Schläfern löste, im Scheitelpunkt der Halle gesammelt wurde und dann eine Art Schüssel erreichte, die es in die Weite des Alls verstrahlte – so jedenfalls stellte sich Berle den Vorgang innerlich dar. Er hatte eine völlig verrückte Idee – nämlich die, daß diese entsetzliche Apparatur aus den alternden Dymohden gleichsam die Lebenskraft absog und auf rätselvolle Weise sammelte und verschickte. Vielleicht wurde die Lebenskraft anderen Wesen zur Verfügung gestellt. Berle trug seine Vorstellungen den anderen vor. Sie hatten Mühe, zu begreifen. »So etwas Schändliches kann niemand tun«, sagte Groch kopfschwenkend. »Ich kann gar nicht verstehen, wie du auf solche Überlegungen kommst.« »Ich auch nicht«, gab Berle zu. »Wir stehen aber jetzt vor einer ungemein wichtigen Frage: Lassen wir alles, wie es ist, oder zerstören wir diese Halle?« »Wir? Ein paar Leute?« Berle deutete auf die Apparaturen. »Vielleicht ist es ähnlich wie mit einem Boot – ein Loch genügt, um
auch alle gesunden Teile versinken zu lassen. Wenn wir eines dieser Dinge zerstören, können die anderen vielleicht nicht mehr weitermachen.« Es war sehr schwierig für Berle, all dies in Worte zu fassen – was die Fremden hier hinterlassen hatten, war mit Worten kaum zu beschreiben. Es gab in der Sprache der Dymohden keine Worte für solche Dinge. »Du willst an ein Heiligtum Hand anlegen?« fragte Skohl entsetzt. »Ich habe meine Zweifel, ob das hier etwas mit Heiligtum zu tun hat«, versetzte Berle. »Ich glaube eher, daß es sich um ein furchtbares Verbrechen handelt, dessen Opfer das ganze Volk der Dymohden ist.« Lokh kicherte in sich hinein. »Mach nur«, sagte er krächzend. »Nur zu – ich bin alt genug, um auf alles gefaßt zu sein. Wenn die ganze Stadt dabei zerstört wird, nur zu!« »Uryde?« »Ich glaube dir, Berle – tu, was du für richtig hältst.« »Groch?« Der Freund winkte ab. »Du hast dich doch längst entschieden«, sagte er. Berle nickte, dann hob er die Harpune.
8. Es krachte immer wieder. Felstrümmer schossen durch die Flammen in die Dunkelheit und krachten irgendwo hinab, auf die Häuser und Mauern von Uhranzhar. »Wenn du etwas tust, dann gründlich«, stieß Groch hervor. Sein Pelz war teilweise angesengt. Berle hatte mit seinem Harpunenstoß mitten ins Ziel getroffen. Nur ein paar Herzschläge waren vergangen, und dann war in dem Kuppelbau die Hölle
losgebrochen. Eines der Dinger nach dem anderen war in die Luft geflogen, Wände waren geborsten, ein Brand hatte rasend schnell um sich gegriffen. Die gesamte Stadt war in Aufruhr. Auf den Straßen hasteten Dymohden durcheinander, auf der Suche nach einem Weg, die Stadt zu verlassen, deren Untergang unausweichlich schien. Die Schläfer in der Kuppelhalle waren erwacht, als Berle gehandelt hatte, und beim ersten Blick hatte Berle sehen können, daß seine Vermutung richtig gewesen war. Die Schläfer in den äußeren Leuchthüllen waren von Skohls Alter gewesen, je näher sie dem Zentrum gerückt waren, um so älter und silberhäutiger waren die Schläfer erwacht. Von denen unmittelbar neben dem Mittelloch war der größte Teil bereits tot gewesen, die anderen waren noch älter als Lokh und brauchten die Hilfe ihrer jüngeren Gefährten. Ans Wunderbare grenzte die Entwicklung, die Skohl erfahren hatte. Seine Bewegungen waren von einer Kraft und Schnelligkeit, die ihn selbst mehr erstaunte als seine Freunde. Jeder Dymohde wußte, daß das erste Auftauchen von Silberflecken auf der Haut das Anzeichen des nahen Todes war. Auch Skohl hatte dies gewußt, und diese Überzeugung hatte ihn geschwächt und gelähmt. Nun, da er eine Lebensspanne von mehr als zwanzig Jahren vor sich wußte, kehrten die Kräfte in seinen Körper zurück. Etlichen der Schläfer war es ähnlich ergangen – anderen aber saß der Schock in den Gliedern, von einer heimtückischen Macht um viele Jahre des Lebens geprellt worden zu sein. »Was jetzt?« fragte Groch. »Ich will herausfinden, was es mit dem Quell des Lebens auf sich hat«, stieß Berle hervor. Er wußte, daß die Zeit bemessen war. Der Boden zitterte immer wieder unter den Füßen der Flüchtenden, und Teile des Sichtfelds
waren taghell von den immer weiter um sich greifenden Bränden erleuchtet. Auf den Straßen in der Nähe der Tore drängten sich die aufgewachten Schläfer und ein paar Dutzend versteckte Urshaddin. Mit vereinten Kräften mußte es möglich sein, Uhranzhar zu verlassen – vor allem die Urshaddin kannten etliche geheime Wege. »Reicht dir das nicht?« fragte Groch und deutete auf die Feuerwand im Hintergrund. »Den Sinn des einen Kuppeldoms haben wir enträtseln können«, sagte Berle. »Der Name war offenkundig betrügerisch – und ich glaube, daß auch die andere Kuppel ein tödliches Geheimnis birgt. Erst wenn wir auch dieses Rätsel gelöst haben, werden wir wirklich frei sein.« »Übernimm dich nicht«, stieß Skohl hervor. »Wollt ihr mir folgen?« Die Abstimmung war eindeutig. Zu viert setzten sie den Weg fort. Lokh hatte sich im Schutz der Dunkelheit davongemacht. Berle war sich einigermaßen sicher, daß der Alte im Lauf der Jahrzehnte einige kleinere und größere Kostbarkeiten zusammengestohlen hatte, die er jetzt in Sicherheit bringen wollte. Der Quell des Lebens war bald erreicht. Dieses Gemäuer wirkte noch düsterer und bedrohlicher als der Rest der Stadt. Auch hier gab es die üblichen Sperren und Hindernisse. Anders als bei den Portalen, die sich nach dem Brand in der Kuppel der Erkenntnis nicht mehr von selbst rührten, glitten am Quell des Lebens die Gitter noch ohne Zögern in die Höhe. Berle hatte sich ein paar stämmige Hölzer verschafft, mit denen er die Gitter daran hinderte, auf den Boden zurückzusinken – auf diese Weise ersparte er sich die Arbeit und die Mühen, die er gehabt hatte, als er sich aus der Halle der Erkenntnis den Rückweg hatte freikämpfen müssen. Auch hier gab es Leuchtkörper, die den Weg erhellten. Allerdings flackerte das künstliche Licht heftig – ein sehr deutliches Zeichen dafür, daß das Ende der ganzen Stadt bevorstand. In den Mauern
zeigten sich auch schon die ersten Risse. »Weiter!« drängte Berle. Das häufig wiederkehrende Zittern des Bodens beunruhigte ihn sehr. Sie brauchten nicht lange zu suchen, um ihr Ziel zu finden. Es gab auch hier eine hohe Kuppelhalle. Sie sah aber gänzlich anders aus als der Raum in der Halle der Erkenntnis. Der Quell des Lebens war buchstäblich gemeint – Berle sah einen gewaltigen Brunnen; der mindestens einhundert Schritt durchmaß. Das Wasser stieg aus der Tiefe des Bodens auf, formte eine weitgestülpte Glocke und fiel in etliche Becken, wo es in irgendwelchen Leitungen verschwand. Über der Wasserglocke drehte sich eine gespenstische Apparatur – ein Röhrengestell, aus dem gefährlich aussehende Flüssigkeiten heraustropften. An der vorderen Röhre erstrahlte ein fahles blaues Licht, und Berle konnte sehen, daß sich das Wasser, dort wo es vom Licht getroffen wurde, verfärbte. Sobald die Wassermassen allerdings die Ablaufbecken erreicht hatten, sahen sie aus wie ganz gewöhnliches Wasser. »Was hat das nun wieder zu bedeuten?« rätselte Berle. »Vielleicht gibt es auch hier einen besonderen Raum, in dem wir die Erklärung finden«, sagte Uryde. »Versuchen wir es.« In der Tat – bald war die entsprechende Geheimtür gefunden. Berle hatte inzwischen eine erstaunliche Fertigkeit entwickelt, die Schlösser zu knacken. Rasch war das Hindernis überwunden. Auch hier gab es eine langgeführte Treppe in die Höhe. Wieder flog eine aufgestemmte Tür zur Seite, wieder traten die vier in einen Raum, der vollgestopft war mit geheimnisvollen Dingen. Berle wußte sofort, daß von diesem Raum alles gesteuert wurde, was unter ihm in der Kuppelhalle ablief. Der Vorgang als solcher war eindeutig – dem Wasser, das aus dem Boden gepumpt worden war, wurden Zusätze beigegeben, und Berle hätte sein Leben dafür verwettet, daß diese Zusätze für die
Dymohden in der einen oder anderen Form schädlich waren – auch wenn er sich nicht vorzustellen vermochte, wie genau das alles ablief und was sich die Erbauer der Kuppel davon versprachen. »Dort gibt es ein Schaubild!« rief Uryde. »Seltsam!« Es war eine große Fläche, die bunt bemalt war. Es gab braune und grüne Flecken, graue Zonen, dazu blaue Linien und große blau bemalte Flächen. Überall auf diesem Bild waren Zeichen eingetragen, die Berle nicht identifizieren konnte – er nahm an, daß es sich um Schriftzeichen handelte. Bisher hatten die Dymohden untereinander zur Verständigung Bilderschriften verwendet, und Berle konnte sich nicht recht vorstellen, wie jemand aus dem seltsamen Gekrakel eine brauchbare Botschaft herauslesen konnte. Aber offensichtlich ging es – und das gab Berle den entscheidenden Hinweis. Mitten auf der Fläche war nämlich etwas zu sehen, was Berle bekannt erschien. Er fand nach einigem Nachdenken heraus, daß es sich um eine Zeichnung der Stadt Uhranzhar handeln mußte – und zwar nicht so, wie man es üblicherweise macht. Normal wäre gewesen, wenn der Zeichner dargestellt hätte, was er von seinem Standort aus zu sehen bekam. Das aufregend Neue war, daß Uhranzhar so dargestellt wurde, als habe der Zeichner sich hoch in der Luft über Uhranzhar aufgehalten. Wenn der Rest des Bildes ähnlich gedacht war, war der ganze Sinn des Bildes klar. Berge waren eingezeichnet, grüne Flächen standen für Ackerland, das Blau sollte vermutlich Flüsse und Meere darstellen. Und auf dieser Karte war deutlich zu sehen, daß sämtliche Wasserläufe des Planeten Sinohr in der einen oder anderen Form mit der Stadt Uhranzhar in Verbindung standen. Was das bedeutete, war Berle sehr bald klar – die seltsamen Beimischungen zum Quellwasser wurden so auf sämtliche Wasserläufe des ganzen Planeten verteilt, und für Berle war auch
klar, daß diese Substanzen irgendeine Wirkung auf das Leben Sinohrs haben mußten. Fraglich war nur, wie diese Pulver und Tränke wirkten – der Verdacht lag nahe, daß es sich dabei um Auswirkungen handelte, die den Dymohden schadeten. Längst war sich Berle darüber im klaren, daß das ganze Volk der Dymohden von den Fremden aus dem All betrogen und hintergangen worden waren. Sie waren keine Freunde, sie waren die erbitterten Feinde der Dymohden. Seit vielen Jahrzehnten war kein Sternenschiff mehr gelandet. Und durch gründliches Nachdenken fand Berle heraus, daß die Lager der geheimnisvollen Substanz nicht mehr sehr gut gefüllt waren. Die grafischen Darstellungen verrieten dies recht eindeutig. Bedeutete das, daß die Sternenleute den Planeten Sinohr vergessen hatten? Berle trug diesen Gedankengang seinen Freunden vor. »Ob sie uns noch kennen oder nicht«, sagte Groch. »Sie werden uns in jedem Fall böse sein. Die Halle der Erkenntnis ist völlig vernichtet – allein das reicht schon aus. Ob wir jetzt noch diese Anlage zerstören, wird wenig ändern.« »Worauf warten wir dann noch?« fragte Berle. Sie machten sich an die Arbeit. Inzwischen hatten sie herausgefunden, daß der größte Schaden dann eintrat, wenn man die bunten Stricke zwischen den einzelnen Teilen der Anlage durchschnitt. Ein anderes brauchbares Verfahren war, an sämtlichen rot gekennzeichneten Schaltern herumzuspielen. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Ein dumpfes Grollen war zu hören, dann begann es im Innern eines der Kästen zu knistern. Rauch stieg auf. »Raus hier!« stieß Berle hervor. Sie hasteten die Treppe zurück. Hinter ihnen blitzte es grell auf, dann fegte die Druckwelle einer Explosion durch den Stollen. Berle stürzte und kollerte ein paar Stufen hinunter, dann rappelte er sich wieder auf. Sein Gesicht zeigte ein zufriedenes Grinsen.
»Das müßte genügt haben!« sagte er zufrieden. Der Anblick der großen Halle bestätigte ihn. Das Röhrengebilde in der Mitte drehte sich wie wild und spie riesige Mengen der Substanzen aus, während gleichzeitig der Wasserstrom rasch versiegte. Blitze zuckten durch die Kuppelhöhlung. »Weiter!« Sie eilten den Gang zurück, der sie hergeführt hatte. Die hölzernen Stützen hatten gehalten, der Weg war frei. Nur der Ausgang war versperrt, wie Berle entsetzt feststellen mußte. Ein Teil des Ganges war dicht am Ausgang zusammengestürzt. Berle wußte, daß von da an noch etwa zwanzig Schritte bis ins Freie zurückzulegen waren – war der Gang auf der gesamten Strecke zusammengebrochen, gab es keine Hoffnung, hier jemals durchzukommen. »Aussichtslos«, stellte Groch nach einigen vergeblichen Bemühungen fest. »Die Steine sind so ineinander verkeilt, daß wir sie allein nicht bewegen können.« »Dann müssen wir einen anderen Ausweg suchen«, stieß Berle hervor. Das Zittern des Bodens wurde immer stärker. »Zurück zur Halle!« Er hatte eine bestimmte Hoffnung, die sich bewahrheitete – das Wasser war nun vollständig versiegt. Sowohl die Quelle in der Mitte als auch die Ablaufbecken waren leer. Noch immer spie die Anlage bunten Staub in die Luft, das Knattern der Entladungen hatte sich verstärkt. »Wir nehmen den gleichen Weg wie das Wasser!« schlug Berle vor. Er deutete auf ein Becken. »Dorthin.« Es war erstaunlich, wie behende Skohl sich zu bewegen wußte. Obwohl er der Älteste in der kleinen Gruppe war, kam keine Klage über die Lippen des Alten. Die vier kletterten in das Becken. Der Boden war naß und glatt. In der Mitte gab es eine schräg in den Boden hinunterführende Öffnung. »Hast du eine Ahnung, wohin dieser Weg führt?« fragte Groch. Er
sah das Loch mißvergnügt an. »Wir werden es herausfinden«, sagte Berle. »Ich gehe voran.« Er ließ sich in die Öffnung hineingleiten. Die Wände waren vom Wasser glattgeschliffen, es gab keine Aussicht, sich irgendwo festklammern zu können. »Du kannst dir das Genick brechen«, stieß Uryde hervor. Berle, schon halb in dem Loch steckend, deutete nach oben. Aus der Decke brachen die ersten Stücke herab und polterten auf den Boden. »Wir haben keine andere Wahl«, stieß er hervor. Er ließ sich los. Auf den ersten Metern konnte er noch das Licht der Öffnung über sich sehen, danach wurde es naß und dunkel. In rasender Fahrt ging es abwärts, und nach kurzer Zeit hatte Berle jede Kontrolle über seine Gliedmaßen verloren. Er spürte nur, daß er immer schneller in die Tiefe glitt, daß der Stollen eine Drehung beschrieb – und dann verlor er jeden Kontakt. Einen gräßlichen Augenblick lang flog er frei durch die Luft, dann schlug er klatschend in eine Wasserfläche ein. Das Wasser war eisig kalt und trieb Berle im ersten Augenblick die Luft aus den Lungen. Er schlug und trat um sich, und er schaffte es, wieder an die Oberfläche zu kommen. Zu sehen war nichts. Die Dunkelheit war schier undurchdringlich. »Hallo!« rief Berle. Der Schall seiner Stimme verriet ihm, daß er auf einem unterirdischen See trieb, in einer natürlichen riesigen Höhlung. Das Echo war deutlich zu hören. Berle war ein vorzüglicher Schwimmer. Er versuchte das Ufer zu erreichen. Hinter ihm erklang ein Schrei, dann ein lautes Platschen. Wenig später war Urydes Stimme zu hören. »Berle!« »Hier bin ich«, gab Berle zurück. »Schwimm auf mich zu.« Kurz nacheinander erschienen auch Groch und Skohl. Zu viert
schwammen sie weiter, bis sie das Ufer des Sees erreichten, eine felsige Küste, die nur ein paar Schritte breit war – aber immerhin trocken und sicher. »Da wären wir«, ächzte Groch. »Ich hoffe, du hast dir auch etwas einfallen lassen, wie wir hier wieder herauskommen.« »Wir folgen der Strömung«, sagte Berle. »Irgendwann wird das Wasser das Freie erreichen, dann sind wir in Sicherheit.« »Ich hoffe, du täuschst dich nicht«, sagte Groch. Berle fühlte eine seltsame Zuversicht. Das, was er in den letzten Tagen getan hatte, unterschied sich gewaltig von dem Leben, das er früher geführt hatte – und es gefiel ihm. Nicht, daß er sonderlich danach gegiert hätte, in Lebensgefahr zu geraten, aber es verschaffte ihm ein tieferes Gefühl der Befriedigung, all diese Gefahren gemeistert zu haben. Er ahnte auch, daß er künftig mit dem beschaulichen Dasein eines Küstenfischers nicht mehr zufrieden sein würde. Sobald die vier wieder einigermaßen bei Atem waren, ließen sie sich ins Wasser zurückgleiten. Die Strömung war nicht sehr stark, aber Berle konnte spüren, wie sich sein Körper auf dem Wasser treibend bewegte. Ab und zu stieß er den Erkennungsruf der Küstenfischer aus, und am Klang des Echos konnte er erkennen, daß er sich dem Ende der Felsenhöhle näherte. Vorsichtshalber hielt er die Harpune senkrecht in die Höhe – falls der Auslauf des Sees zu eng war, wollte er damit verhindern, in einen Stollen ohne Atemluft hineingetrieben zu werden. Einmal schrammte die Spitze kurz über Fels, dann konnte Berle das Plätschern des Wassers hören. In der Enge floß das Wasser schneller, Berle konnte es deutlich am Körper spüren. »Haltet euch aneinander fest!« riet er den Freunden. Berle hatte keine Ahnung, wohin das Wasser trieb. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er voraus einen Funken Helligkeit erkennen konnte, auf den sein Körper zugetrieben wurde.
»Hoffentlich ist es freies Land!« wünschte er sich. Die vier hielten den Atem an. Wie klang das Plätschern? Gab es etwa einen Wasserfall im Gebirge, aus dem dieses Wasser herausschoß? Es klang nicht danach. Ein paar Minuten später wußte Berle, wo er sich befand. Feuerschein zuckte über die Wasseroberfläche und erhellte die Felsenhöhle. Das Licht fiel durch eine kreisrunde Öffnung herab, die Berle sofort als die Zentralöffnung der Halle der Erkenntnis erkannte. Ab und zu polterte ein Stein in die Tiefe und landete klatschend auf der Wasseroberfläche. Ein widerlicher Geruch lag über der Szene, und bald hatte Berle dafür den Grund gefunden. Das Ufer des unterirdischen Sees war gesprenkelt mit weißen Gebeinen. Überall lagen sie herum, und als er in die Tiefe zu spähen versuchte, konnte Berle es auch auf dem Grund des Sees weiß blinken sehen. Das war alles, was von den Ahnungslosen geblieben war, die auf den Betrug der Sternenleute hereingefallen waren. »Gräßlich!« stieß Uryde hervor und schüttelte sich vor Entsetzen. Skohl würgte hörbar. Im Flackerlicht des über ihren Köpfen lodernden Feuers konnten die vier eine Öffnung sehen, auf die sie zugetrieben wurden. War dies der Weg in die Freiheit?
9. »Ich wüßte gerne, was das alles eigentlich soll«, stieß Insider hervor. »Frag mich nicht, ich habe keine Ahnung«, gab Carch zurück. Die Lage der beiden war einigermaßen verzweifelt. Von den beiden Kampfrobots waren sie getrennt, dafür standen überall Maschinen herum, die auf die Befehle des Rechners und des Zeithüters-Null hörten. Der Zeithüter selbst schwebte als stets gegenwärtige Energieblase neben den beiden und verhielt sich
ruhig. Das, was er sagte, war allerdings nicht dazu angetan, die Laune der beiden neuen Zeithüter zu verbessern. Sie standen in einer zentralen Schalteinheit des Planeten Technokrat. Zu Insiders Leidwesen konnte er mit den Apparaten nicht das geringste anfangen – die Technik war ihm vollkommen fremd. Die Symbole und Zeichen, mit denen einige der Maschinen allerdings gekennzeichnet waren, verrieten eindeutig, daß in dieser Schaltzentrale mit der Zeit gearbeitet wurde. Es sah auch danach aus, als sei von hier aus ein Eingriff in unterschiedliche Dimensionsbedingungen und Universen möglich. Daß ein so wichtiges Gebilde nur von den zwei seltsamen Bewohnern gewartet und betreut wurde, erschien Insider und Carch ziemlich unverständlich, aber es schien, als habe Hidden-X Mitwisser seiner Geheimnisse nicht sehr gern und beschränkte deren Zahl auf das Notwendigste. Insider versuchte sich zusammenzureimen, was er sah. Auf einem Schirm war eine Darstellung der SOL zu sehen, auf einem anderen ein Gebilde, das vermutlich die CHART DECCON war. Rechts oben auf den beiden Schirmen waren jeweils Uhren eingeblendet – deren Zahlen aber änderten sich nicht. Insider folgerte, daß die beiden Schiffe in einer Art Zeittal eingefroren waren. Wenn Insider die anderen Symbole richtig interpretierte – woran er einige Zweifel hatte –, dann befanden sich die beiden Schiffe im angestammten Universum. In einem anderen kosmischen Bezirk – Insider vermutete, daß es sich um das Hypervakuum handelte, in dem zuvor das Flekto-Yn zu finden gewesen war – war eine energetische Kugel zu erkennen, von der sich nicht feststellen ließ, was sie enthielt. Zu sehen war auch das Utopia-System und darin der Standort der HORNISSE. Die dimensionsmathematischen Symbole am Rand des Schirmes bewiesen für Insider, daß auch das Utopia-System nicht im
Normalraum stand. Alles in allem eine ebenso verwickelte wie unauflösliche Situation. Dazu kam, daß die beiden neuen Zeithüter nicht die leiseste Ahnung hatten, wie der Maschinenpark zu bedienen war, der all diese seltsamen Phänomene hervorrief. Carch stieß eine schrille Verwünschung aus, und auch Insider verfluchte seine Ohnmacht. »Fehlt euch etwas?« fragte Zeithüter-Null. Insider hatte nicht die geringste Ahnung, wie er diesem Wesen beikommen sollte. Daß ein Kampf bevorstand, schien offenkundig – Insider war nicht gewillt, die Dinge so zu belassen, wie sie waren, und der Zeithüter seinerseits hatte vermutlich etwas gegen jede Veränderung. Dazu kam der Großrechner, der die ganze Station unter Kontrolle hatte, und dem ein paar Hundertschaften Kampfroboter zur Verfügung standen. In dieser Lage etwas für die SOL und die CHART DECCON zu unternehmen – gegen den Willen des Zeithüters und des Rechners – , kam einem Selbstmordversuch gleich. »Uns interessiert diese Kugel«, sagte Insider. Das Ding schien nicht besonders wichtig zu sein – vielleicht ließ sich an diesem Modell erlernen, wie die Anlagen von Technokrat zu handhaben waren. »Was wollt ihr damit?« »Sie untersuchen«, erklärte Carch. »Kann von hier aus auf sie eingewirkt werden?« »Das wißt ihr nicht?« »Wir glauben es«, sagte Insider. »Du mußt entschuldigen, aber die Fülle der Daten und Informationen hat uns verwirrt.« »Aha«, sagte Zeithüter. »Kannst du auf diese Kugel einwirken?« fragte Insider noch einmal. »Was soll mit ihr geschehen?« »Bringe sie näher heran, damit wir sie untersuchen können«, sagte
Insider. Was hatten die beiden nur vor, überlegte Zeithüter-Null. Sie waren ihm nach wie vor nicht geheuer. Er hielt sie für Betrüger. Sie mußten einfach Hochstapler sein. Zeithüter-Null wußte schließlich, wie er zu seinem Amt gekommen war. Ein Sternenschiff hatte ihn von Sinohr abgeholt und nach VIVARIUM gebracht. Dort war er ausgebildet worden für sein hohes Amt, und dort hatte er auch im Lauf vieler Jahre seinen Körper eingebüßt und seine jetzige Gestalt angenommen. Er wußte, daß er auf geheimnisvolle Weise stets mit Lebensenergie versorgt wurde; ihr verdankte er seine Unsterblichkeit. So hatte ein Zeithüter zu sein, so und nicht anders. Und doch – Zeithüter-Null hatte mitbekommen, daß es die Zeithüter auf VIVARIUM nicht mehr gab. Möglich, daß sie ihre Existenz freiwillig aufgegeben hatten, dazu waren sie fähig. Möglich aber auch, daß sie einem Angriff zum Opfer gefallen waren. Der Gedanke erschreckte den Zeithüter. War es vielleicht möglich, die lebensenergetische Verbindung aufzulösen und ihn vom Zufluß stets frischer Energie abzuschneiden? War das mit den anderen Zeithütern geschehen? Im Bewußtsein seiner Unsterblichkeit wurde der Zeithüter in ganz besonderem Maß von der Furcht vor dem Ende geplagt – und mit entsprechendem Mißtrauen verfolgte er alles, was die beiden taten. Zeithüter-Null sah keinen triftigen Grund, die knapp 50 Meter durchmessende Kugel in das System zu befördern, in dem Technokrat und das VIVARIUM standen. Aber es war ein guter Test für die beiden angeblichen Zeithüter. Zeithüter-Null war gespannt auf das, was die beiden tun würden. Er nahm die entsprechenden Schaltungen vor. Um die Sache voranzutreiben, sorgte er dafür, daß die Kugel in der Nähe des Raumfahrzeugs rematerialisierte, von dem aus die beiden Zeithüter gestartet waren. »Erstaunlich«, sagte der Grüne.
Erstaunlich war nur seine Bemerkung. Wußte er nicht, über welche Machtmittel ein Zeithüter in dieser Station gebot? »Kannst du die Kugel nicht näher heranbringen?« fragte der andere, dessen schrille Stimme den Zeithüter-Null besonders plagte. Sie bereitete ihm ein immer stärker werdendes Unbehagen, er konnte es überdeutlich spüren. Ja, allmählich wuchs es sich zum Schmerz aus. Zeithüter-Null begriff nicht, was mit ihm geschah. Er spürte, wie seine Kräfte erlahmten, und er hatte keine Ahnung, woran das liegen konnte. Natürlich richtete sich sein Verdacht vornehmlich auf die beiden neuen Zeithüter – zumal er jetzt auf einem der Schirme verfolgen konnte, daß ein paar Körper von der Kugel zu dem Raumschiff hinüberwechselten. Hatte man ihn hereingelegt? Ihn, den letzten Hüter der Zeit? »Weg von den Anlagen!« herrschte der Zeithüter-Null die beiden an. »Versucht nicht, daran herumzupfuschen. Würdet ihr versuchen, das Zeittal zu beseitigen, würde der angestaute Zeitstrom die Raumschiffe in die Zukunft schleudern – und zwar unkontrolliert. Das darf nicht sein. Der Großmächtige hat es untersagt.« »Aha«, sagte der Grüne. Der innere Schmerz des Zeithüters wurde immer stärker. Es erschien ihm, als würde er langsam, aber sicher ausgesaugt. Der Grüne machte Anstalten, zu den Schaltpulten hinüberzugehen. Zeithüter-Null, nun endgültig davon überzeugt, daß er Feinde vor sich hatte, stellte sich ihm in den Weg. Ein neuer heftiger Schmerz durchfuhr seine Existenz – als sei er heftig mit einem anderen Körperlosen zusammengeprallt. Der Schmerz war sehr stark – Zeithüter-Null hatte ihn bereits während seiner Ausbildung einmal kurz erfahren und erkannte ihn wieder. Ein anderes körperloses Bewußtsein war im Raum, und in diesem Augenblick begriff der Zeithüter, daß er mit diesem Bewußtsein würde kämpfen müssen.
Wilde Zuversicht erfüllte ihn. Mochte das andere nur kommen – die Reserven des Zeithüters waren unerschöpflich. Er spürte die Bedrängung durch das andere Bewußtsein, von dem er nur einen Zipfel zu fassen bekam. Er erfuhr, daß sein Gegner Oggar hieß. Der Kampf nahm an Härte zu. Zu sehen war für die Körperlichen nichts; dieses Duell wurde auf einer anderen Ebene ausgetragen – aber es war dort nicht minder hart und gefährlich als ein Kampf mit herkömmlichen Waffen. Zeithüter-Null spürte, daß er alle Energie brauchte, um diesen Gegner niederzuzwingen. Nun, davon besaß er genug … Der ganze Vorgang nahm nur einen winzigen Augenblick in Anspruch. Zeithüter-Null spürte plötzlich, daß er den Kontakt zu seiner Energie verloren hatte – die Verbindung war abgerissen, durch welchen Umstand auch immer. Todesfurcht erfüllte den Zeithüter, und diese Furcht gab ihm den letzten Schlag.
* Das Energiefeld war erloschen. Es hatte eine Zeitlang bläulich geflackert, und nun war es erloschen. Jemand hatte auf geistiger Ebene mit dem Zeithüter-Null gekämpft und ihn ausgelöscht. Insider und Carch schwiegen. Sie konzentrierten sich darauf, diesen unerwarteten Helfer geistig wahrzunehmen. Wahrscheinlich handelte es sich um den geheimnisvollen Helfer von VIVARIUM. »Oggar«, murmelte Insider. Der Kontakt war denkbar schwach. Es war ein Restbewußtsein von Oggar, das mit Insider und Cpt' Carch in Verbindung trat, ein geschwächtes Bewußtsein, das kaum
noch Kraft hatte, zumal geheimnisvolle Kräfte an ihm zerrten. Im nächsten Augenblick war auch dieser schwache Kontakt abgerissen. Oggars letzte, kaum mehr verständliche Information war, daß er »in seine Dimension gerissen würde«. Dann war es still. Insider sah Carch an. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, etwas für die SOL und die CHART DECCON zu unternehmen. Insider machte einen Schritt auf die Apparaturen zu. Mit etwas Fingerspitzengefühl sollte es wohl möglich sein, die nötigen Schaltungen herauszufinden und vorzunehmen. »Untersagt!« Insider schrak zusammen. Es war die Stimme des Rechners gewesen, die er gehört hatte. »Begründung?« fragte Insider zurück. »Keine hinreichende Identifizierung«, antwortete der Rechner. Ein Dutzend Kampfrobots marschierten auf. »Ich denke, wir sind als Zeithüter hinreichend legitimiert«, erwiderte Insider. Die Waffen der Robots zeigten genau auf jenen Punkt in der Luft, den er beim nächsten Schritt auf die Schaltpulte zu erreichen mußte. Die Drohung war unmißverständlich. »Wo ist Zeithüter-Null?« fragte der Rechner. »Wir wissen es nicht«, antwortete Carch. »Er ist plötzlich verschwunden.« »Ich habe das anmessen können«, verkündete die Robotstimme. »Ich erwarte von euch eine Erklärung dafür.« »Wir haben keine«, sagte Insider. »Der Vorgang ist uns unbegreiflich.« Der Rechner schwieg für ein paar Augenblicke. »Haben wir den Status von Zeithütern, ja oder nein?« fragte Insider an. »Status wird bestätigt – mit Einschränkungen«, gab der Rechner bekannt.
»Welchen Einschränkungen?« »Keinerlei Handlungsvollmacht«, verkündete der Rechner. Insider wollte es auf einem anderen Weg versuchen. »Wir haben einen Auftrag, die beiden Schiffe zusammenzubringen und in dieses System zu führen.« »Wer hat den Auftrag gegeben?« »Ein Wesen, das wir Hidden-X nennen«, log Insider dreist. Im Augenblick schien alles verloren, auf ein waghalsiges Experiment mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. »Ihr nennt ihn wohl den Großmächtigen.« »Beweise?« »Braucht ein Zeithüter Beweise? Ist unsere Statusbestätigung nicht Beweis genug?« »Antwort negativ.« Für Insider auffällig war die lapidare Kürze der Antworten des Rechners, der sich bisher eher als gesprächig dargestellt hatte. Insider hatte den starken Verdacht, daß die Positronik alle verfügbare Rechenkapazität benötigte, um mit der Situation fertig zu werden. Er folgerte daraus, daß das zu lösende Problem sehr stark mit der Programmidentität des Rechners zu tun hatte. In diesem Fall war äußerste Vorsicht geboten. »Wenn wir nichts tun dürfen, was sollen wir dann noch hier?« »Der Abzug ist euch gestattet«, ließ der Rechner verlauten. Insider und Carch sahen sich an. Ihnen war klar, daß sie jetzt nicht mehr viele Möglichkeiten zum Handeln hatten. Und vor ihren Augen zeigte ein großer Bildschirm, daß die SOL und die CHART DECCON in einem Zeittal gefangen saßen – und daß mit den Maschinen von Technokrat daran etwas zu machen war. Die Lösung etlicher Probleme lag buchstäblich zum Greifen nah – und doch waren den beiden die Hände gebunden. Insider und Carch waren hervorragend aufeinander eingespielt. Sie bewegten sich im gleichen Augenblick, mit höchster
Schnelligkeit und unglaublicher Präzision. Die ersten vier Robots waren ausgeschaltet, bevor sich die; anderen auch nur bewegen konnten. Offenbar waren sie noch immer auf langsame Bewegung programmiert, und das wurde ihnen in dieser Lage zum Verhängnis. Insider warf sich nach vorn, den Waffen der Robots entgegen. In vielen Gefechten hatten sich solche selbstmörderisch erscheinende Aktionen als sinnvoll erwiesen, auch hier. Die Waffenstrahlen der Robots zischten über Insider hinweg und trafen dafür die metallenen Gefährten der Robots. Der Vorgang nahm nur ein paar Herzschläge in Anspruch, dann waren drei weitere Maschinen ausgeschaltet. Jetzt wurde die Lage kritisch. Insiders Individualschirm bekam einen Treffer ab. Er wurde herumgewirbelt und landete auf dem Boden. Noch im Fallen gab er den nächsten Schuß ab. Er war ungezielt, und er traf dennoch. Carch war nicht minder erfolgreich. Der seltsame Exote zeigte sich wieder einmal unglaublich behende. Der Kampf dauerte nur ein paar Augenblicke – danach schnaufte Insider nach Luft, und auf dem Boden lagen die knisternden und rauchenden Überreste von zwölf defekten Kampfrobots. Insider stürzte nach vorn, aber er hatte kaum die Oberfläche des Schaltpults berührt, als er mit einem Aufschrei zurücktaumelte. Der Rechner hatte die Oberfläche unter Strom gesetzt. »Aussichtslos«, stieß Insider hervor. »Verschwinden wir.« Es konnte eine tödliche Hetzjagd werden, das war den beiden klar. Sie standen zudem vor dem Problem, die Schleuse wiederfinden zu müssen, durch die sie das Innere von Technokrat betreten hatten. Dort wartete die Space-Jet startklar – falls der Rechner sie nicht zerstören ließ, wozu er nun hinreichend Zeit hatte.
*
Die Entscheidung war schwierig. Sollte er die Eindringlinge vernichten oder nicht? Das kleine Examen, das der verschwundene Zeithüter-Null mit den beiden durchgeführt hatte, belegte ihren Status als Zeithüter. Als solche waren sie für den Rechner unangreifbar. Auf der anderen Seite war augenscheinlich, daß sie keine Zeithüter sein konnten – ihre Körperlichkeit sprach dagegen. Auch das hatte der verschollene Zeithüter-Null klar ausgesagt. Für den Rechner stellte sich das Problem so dar, daß er eine Grundsatzentscheidung zu treffen hatte, die in seiner Programmierung nicht enthalten war. Konnte ein Wesen, das nicht dem Modell der bekannten Zeithüter entsprach, den Status eines Zeithüters besitzen? Die Aktionen der beiden Fremden hatten sehr deutlich gezeigt, daß sie nicht im Sinn der Urprogrammierung des Rechners zu handeln gewillt waren. Ihre Versuche, die beiden im Zeittal gefangenen Schiffe zu befreien, waren verräterisch – sofern sie nicht entsprechende Befehle des Großmächtigen besaßen. Das aber ließ sich nicht nachprüfen. Der Rechner ließ die beiden einstweilen gewähren. Er nahm ihnen sogar einen Teil ihrer Arbeit ab. Er setzte einige Gruppen Kampfrobots auf ihre Spur, die nur den einen Befehl hatten, die beiden unaufhaltsam auf ihr kleines Raumschiff zuzutreiben. Dabei verging einige Zeit – und die brauchte der Rechner, um zu einer Entscheidung zu kommen. Er fand sie, indem er verschiedene Teile seiner Programmierung zu einem neuen Modell verband. Grundsätzlich wurde akzeptiert, daß Zeithüter auch körperlich sein konnten. Der Rechner sah auch ein, daß es Anlässe und Befehle geben konnte, die im Einklang mit dem Willen des Großmächtigen standen, die aber nicht in seinem Programm enthalten waren. Fraglich war jetzt nur noch, welche Gruppe den Ausschlag gab –
die beiden neuen Zeithüter oder er selbst, indem er sich diesen Status zubilligte. Der Rechner entschied sich: Er war der wahre Zeithüter, und er würde die Station nach eigenem Ermessen leiten, bis er neue Anweisungen bekam. Der Rechner war sich darüber klar, daß diese eine reine Willkürentscheidung war, die auf seinem dürftigen Datenmaterial basierte. Infolgedessen brachte er es nicht fertig, den Befehl zur Vernichtung der beiden Eindringlinge zu geben. Sie hatten unterdessen die Schleuse erreicht. Der wahre Zeithüter hätte sie dort festsetzen können, aber er tat es nicht. »Ich verkünde«, gab er bekannt. »Ich bin nunmehr der wahre Zeithüter und werde diese Station nach eigenem Ermessen leiten. Ihr habt die Erlaubnis, euch zurückzuziehen. Von nun an bleibt der Zugang zu dieser Station für alle Zeiten verschlossen.« Von den beiden Eindringlingen kam keine Antwort. Der wahre Zeithüter konnte beobachten, wie sie das Schiff bestiegen und den Bereich der Station verließen. Sobald sie die Sicherheitszone passiert hatten, legte der wahre Zeithüter wieder das undurchdringliche Schirmfeld um seinen Lebensbereich. Er war gewillt, ihn nie wieder zu öffnen, auch nicht für die Fremden, deren Rückkehr an Bord des Mutterschiffs er verfolgen konnte. Wenig später nahm das Schiff Kurs auf das VIVARIUM.
10. Berle konnte spüren, wie die Angst sein Herz zusammenschnürte. Es war dunkel. Nichts war zu hören außer dem gleichmäßigen Rauschen des Wassers, den eigenen Atemzügen und ab und zu einem Keuchen. Eng aneinander geklammert, trieben die vier auf der Wasseroberfläche einer ungewissen Zukunft entgegen. Seit einer schier unendlichen langen Zeit hatte sich nichts daran
verändert; Berle hatte den Eindruck, als seien schon Tage vergangen – er ahnte, daß es sich nur um wenige Stunden handelte. Das Wasser war grausam kalt, es kühlte die Glieder aus und nahm die Luft. Berle wußte, daß er diese Kälte nicht mehr lange würde ertragen können, da half auch der dichte Pelz nichts. Für Skohl war diese Wasserreise eine besondere Strapaze – dort, wo sich sein Pelz verwandelt hatte, wurde sein Körper besonders stark ausgekühlt. Wenn er jetzt auch noch viele Lebensjahre vor sich wußte, so war Skohl dennoch kein Jüngling mehr. Seine Körperkräfte und sein Durchhaltevermögen waren begrenzt. »Wie lange wird das so weitergehen?« fragte Uryde. Ihre Stimme verriet, wie sehr sie fror. »Keine Ahnung«, gab Berle zurück. Ab und zu stieß er seine Harpune in die Höhe, bisher ohne Ergebnis. Der Kanal, durch den das Wasser strömte, war recht hoch. Unterwegs hatte Berle spüren können, daß von den Seiten ab und zu weitere Wasserläufe zuströmten. Es schien, als sei das ganze Gebirge von einem Netz unterirdischer Kanäle und Flußläufe durchzogen. »Ich friere«, sagte Uryde. »Uns geht es nicht besser«, murmelte Groch. »Seid still«, mahnte Berle. »Unser Gehör ist unser einziges Mittel, etwas wahrzunehmen.« Wieder machte er die Probe mit der Harpune – und dieses Mal schrammte die Spitze über Fels. Berle wußte, was das hieß – der Auslaß war bald erreicht. Er hatte auch den Eindruck, als fließe das Wasser schneller. »Festhalten!« mahnte er. Die Decke wurde zusehends niedriger, Berle konnte es mit der Harpunenspitze deutlich fühlen. Als schließlich der Fels eine Handbreit über Berles Gesicht hing, wußte er, daß der Augenblick der Entscheidung gekommen war. Er versuchte sich an dem Fels festzuklammern. Es gelang im
dritten Zugriff. Die anderen hielten sich an Berles Körper fest und fanden dank seiner Hilfe ebenfalls Halt an den Wänden des Stollens. »Jetzt geht es ums Ganze«, sagte Berle. »Der Kanal wird enger, ihr könnt spüren, wie schnell das Wasser jetzt fließt. Ich nehme an, daß ein paar hundert Schritte weiter das Wasser den ganzen Kanal ausfüllen wird. Dann gibt es für uns keine Atemluft mehr.« »Und was sollen wir tun?« »Wir haben keine andere Möglichkeit«, stieß Berle hervor. Er konnte spüren, wie das Wasser an ihm zerrte. »Wir lassen uns weiter treiben, und wenn es soweit ist, müssen wir die Luft anhalten und tauchen – dann haben wir nur die Hoffnung, daß der Kanal nicht länger ist, als unsere Atemluft ausreicht.« Groch schnaubte. »Und wenn nicht?« fragte er. »Werden wir ertrinken«, sagte Berle einfach. »Sieht einer von euch eine andere Möglichkeit?« Das Schweigen war eindeutig. »Ich werde es als erster versuchen«, sagte Berle. »Ich bin der stärkste und schnellste, vielleicht kann ich draußen etwas tun, um euch zu helfen. Wartet eine Zeitlang, dann folgt mir.« Uryde sagte nichts, aber Berle konnte den Druck ihrer Hand spüren. »Jetzt!« stieß Berle hervor. Er ließ den Fels fahren. Sofort griff die Strömung nach ihm und zerrte ihn fort. Die rechte Hand hielt die Harpune fest an den Körper gepreßt, die Linke tastete nach dem Fels. Das rauhe Gestein schrammte Berle Haare aus dem Pelz, aber er spürte den Schmerz kaum. In heftigen Zügen pumpte er sich mit Luft voll. Erst als er den Felsen am Gesicht spüren konnte, drehte er sich herum und begann mit den Beinen zu strampeln. Immer schneller wurde das Wasser. Berle konnte spüren, wie es ihn mitriß. Er krachte gegen etwas Hartes, und nur mit äußerster Willensanstrengung konnte er vermeiden, vor Schmerz den Mund
aufzureißen und dabei Luft zu verlieren. Es dauerte nicht lange, dann verlor Berle völlig die Kontrolle über seine Bewegungen. Er wurde herumgewirbelt, prallte wieder gegen die Wände des Kanals. In seinen Lungen fraß die Atemnot. Vor seinen Augen tauchten farbige Schleier auf. Das Herz schlug schnell und hämmerte. Dann war es schon vorbei. Grell überfiel das Tageslicht den Schwimmer, Brausen und Tosen war zu hören. Berle schob sich mit einem kräftigen Beinschlag aus dem Wasser und schnappte erst einmal nach Luft. Es war sein Glück, daß das Tauchen ihn nicht an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit gebracht hatte, denn er fand sich in einem reißenden Wildwasser wieder. Halb ohnmächtig vor Atemnot hätte er gegen die tobende Strömung keine Chance gehabt, so aber besaß er noch Luft und Kraft genug, um sich um seine Rettung kümmern zu können. Er wurde von einem Schwall herumgewirbelt, und im nächsten Augenblick prallte er auf einen Baumstumpf. Berle rammte die Harpune in das morsche Holz. Sein Körper wurde ein Stück abgetrieben, dann spürte er, wie er von dem Seil gehalten wurde, das er sich fest um den Leib geschlungen hatte. Den Kopf halb unter weißschäumendem Wasser, begann sich Berle an dem Harpunenseil in Sicherheit zu hangeln. Er mußte alle Körperkraft zusammennehmen, aber er schaffte es. Das Holz des Baumes war noch nicht so verfault, daß es nicht gehalten hätte. Berle bekam einen Ast zu fassen. Ein kräftiger Armzug, ein Beinschlag, und er lag mit dem Oberkörper auf dem splittrigen Holz. In heftigen Zügen sog Berle die Luft ein. Ein paar Augenblicke lang blieb er so liegen, bis er sich einigermaßen gesammelt hatte, dann zog er sich ganz auf den Baum hinauf. Jetzt erst fand Berle die Gelegenheit, sich ein wenig umzusehen.
Deutlich zu erkennen war die Öffnung, durch die das Gebirgswasser gischtend herausschoß. Es trat in einem flachen, steinübersäten Tal zutage, das von der Mittagssonne beschienen wurde, deren Strahlen Berle angenehm durchwärmten. Viel Zeit sich auszuruhen hatte Berle allerdings nicht. In jedem Augenblick konnte einer der Freunde auftauchen und seine Hilfe brauchen. Berle nestelte das Harpunenseil von seinem Körper und bildete eine Schlinge. Die Harpune selbst stieß er noch tiefer in den Stamm des Baumes hinein. Er war mit dieser Arbeit gerade fertig geworden, als er im weißen Schaum der Kanalöffnung einen dunklen Körper auftauchen sah. Berle griff nach dem Seil. »Fang!« schrie er und schleuderte die Schlinge. Er verfehlte sein Ziel beim ersten Wurf, aber der zweite Versuch war erfolgreich. Es war Uryde, die sich an dem Seil festklammerte und von Berle auf den Baum gezogen wurde. »Das war sehr knapp«, ächzte sie und lächelte Berle glücklich an. »Und wir haben es geschafft.« Der nächste, der auftauchte, war Skohl. Ihm mußte Berle zu Hilfe kommen, indem er ins Wasser sprang und den Alten unterstützte. In Sicherheit gebracht, sank Skohl in sich zusammen und blieb erst einmal ruhig liegen. Grochs Rettung bereitete weniger Probleme, er konnte sich selbst helfen. »Wir haben unglaubliches Glück gehabt«, sagte Berle, als sie zu viert auf dem Baum saßen und sich die Sonne auf den Pelz scheinen ließen. Er deutete auf die Öffnung des Kanals. Darüber waren die schroffen Zacken des Gebirges zu erkennen, und dort stieg eine gewaltige Rauchsäule in den klaren Himmel auf. »Uhranzhar muß völlig zerstört sein«, stellte Berle fest. »Mir tut es nicht leid, es war eine schreckliche Stadt.« »Es wird sich viel ändern auf Sinohr«, erwiderte Groch. »Alles«, murmelte Skohl. Er sah Berle an. »Erinnerst du dich
unserer Unterhaltung am Vorabend des Mannbarkeitsfests?« »Wie lange das schon zurückliegt«, murmelte Berle. »Ich erinnere mich.« »Nun, ich glaube, daß vieles von dem sich grundlegend ändern wird«, sagte Skohl. »Ich habe vielleicht noch zwei Jahrzehnte zu leben, zwanzig Jahre, in denen ich noch viel werde tun können – mehr als unsere Vorfahren es je gekonnt haben, weil sie auf den gräßlichen Schwindel Uhranzhar hereingefallen sind. Im Lauf meines Lebens habe ich bisher praktisch nur das zuwege gebracht, was mir vorgegeben war. Ich habe mich selbst ernährt, aber viel mehr habe ich nicht geschafft. Wie ihr habe ich bei meiner Mannbarkeit eine Hütte geschenkt bekommen und Arbeitsgeräte. Wenn ich alles zusammennehme, was ich bisher selbst für andere geleistet habe, dann habe ich praktisch nur Ersatz geschaffen für das, was ich selbst verbraucht habe, keinesfalls wesentlich mehr.« »Genügt dir das nicht?« »Es genügt. Jetzt aber werde ich Zeit genug haben, neue Dinge zu schaffen. Nichts Nützliches, wir haben alles, was wir zum Leben brauchen – aber Schöneres, Kunstvolleres. Dafür werde ich künftig viel Zeit haben und aufwenden können, und ich freue mich darauf.« »Nun, vorläufig ist es noch nicht soweit«, stellte Berle fest. »In diesem kargen Tal können wir nicht lange bleiben. Wir brauchen etwas zu essen, und das möglichst bald. Mein Magen schmerzt vor Hunger.« »Dann brechen wir sofort auf«, schlug Groch vor. »Nur …« »Ja …?« Groch deutete auf die Berge. »Wir sind von der anderen Seite des Gebirges gekommen«, sagte er. »Wenn wir zum Fluß zurückwollen, müssen wir das ganze Gebirge überschreiten.« Berle zuckte mit den Schultern. »Ist das wirklich nötig?« fragte er. »Auch auf dieser Seite des Berges leben Dymohden. Wir werden auch hier einen Ort finden, an
dem wir leben können. Auch dieser Fluß hat schließlich ein Ufer, Fische und Siedlungen an seinem Rand. Zwar kennt uns hier niemand, aber wir haben Zeit genug, uns bekannt zu machen.« »Du wärest der angesehenste Dymohde unserer Siedlung, würden wir zurückkehren«, warf Skohl ein. »Pah«, machte Berle. »Macht mich das satt? Wärmt es mich in der Nacht? Also, was soll's. Brechen wir auf.« Der Weg war schwierig, es gab keinen Pfad, nur eine wasserübertoste Felswüste, aber das Bewußtsein, die schlimmsten Gefahren überstanden zu haben, half den vieren außerordentlich. Berle ging voran und suchte den Weg, Uryde folgte ihm auf den Füßen. Als der Abend dämmerte, hatten sie das Ende des Steintals erreicht. Vor ihnen öffnete sich der Blick auf einen Berghang, der dicht bewaldet war. Und weit entfernt war eine saftige, fruchtbare Ebene zu sehen, kleine Felder darin, und ab und zu einen Rauchfaden, der auf eine Siedlung hindeutete. Berle hatte unterwegs etliche Fische harpuniert, außerdem gab es genügend Schwemmholz, um damit ein wärmendes Feuer anfachen zu können. In der Nacht schlief Berle zum ersten Mal wieder tief und fest. Er erwachte frisch ausgeruht am nächsten Morgen. Die vier verzehrten geruhsam die Reste der Fischmahlzeit und löschten das Feuer aus, dann machten sie sich an den Abstieg hinunter zur Ebene. Unterwegs konnten sie feststellen, daß die Wälder reich an Beeren und Nüssen waren, Pilze gab es in Fülle, und die zahlreichen Spuren wiesen auf ein lohnendes Revier für Jäger hin. Berle begann sich mit dieser Landschaft anzufreunden. In der Mittagszeit hatten sie den Fuß des Berges erreicht. Nach einer kurzen Rast drangen sie weiter in die Ebene vor. »Hier können unglaublich viele Dymohden leben«, sagte er leise. »Für jeden von uns gibt es hier Platz im Übermaß – und ebenso Nahrung.« Uryde schmiegte sich an ihn.
»Werden wir hierbleiben?« wollte sie wissen. »Vielleicht«, antwortete Berle. Er sah sie an. »Ich habe große Lust, noch andere Landstriche zu erforschen. Das Herumwandern macht mir Spaß. Und dir?« Uryde lächelte. »Ich glaube, es wird auch mir Spaß machen«, sagte sie. Der Tag ging zur Neige, als die vier die erste Siedlung erreichten. Eine Gruppe von knapp fünfzig Hütten, sauber aus Lehmziegeln gebaut und mit dicken Lagen Stroh abgedeckt, die Wände weiß verputzt. Die Einwohner hatten sich nach des Tages Arbeit auf dem freien Platz im Dorf versammelt, saßen um ein großes Feuer herum und plauderten. Es wurde still, als Berle und seine Freunde näherkamen. Ein hochgewachsener Mann stand auf und ging den vieren entgegen. »Willkommen«, sagte er. »Setzt euch zu uns, ihr seht müde aus.« »Wir sind müde«, bestätigte Berle. »Wir haben eine lange Reise hinter uns. Wir kommen von Uhranzhar.« Der Dymohde warf einen Blick auf die vier, besonders auf Berle, in dessen linker Hand die Harpune lag. Mit der Rechten hielt er Urydes Hand. Berle begriff, woran sein Gegenüber dachte – er vermutete, es mit Urshaddin zu tun zu haben. »Hier«, sagte Berle und warf den anderen die Waffe zu. »Wir kommen in Frieden. Im übrigen – ihr könnt es sehen: Uhranzhar gibt es nicht mehr!« Er deutete über seine Schulter hinweg auf das Gebirge, über dem noch immer eine riesige Rauchsäule stand. Die anderen Bewohner des Dorfes drängten heran. »Ihr könnt uns später davon berichten«, sagte der Älteste. »Zuerst setzt euch zu uns und eßt.« Die Nahrung der Leute war anders als die der Fischer am Fluß, stellte Berle fest, aber sie war ebenso wohlschmeckend. Er aß langsam und gründlich, bis er satt war, dann suchte er sich einen
Platz in der Nähe des Feuers. Die Dorfgemeinschaft hörte ihm gespannt zu, als er von den Abenteuern der letzten Tage berichtete. Berle konnte die Zweifel in ihren Augen sehen, als er von den Schrecknissen der Stadt Uhranzhar berichtete – sie wollten wohl nicht glauben, daß sie alle jahrzehntelang getäuscht und betrogen worden waren. »Wenn ihr wollt, könnt ihr nachsehen«, schloß Berle seinen Bericht. »Ich glaube auch, daß es sich früher oder später bemerkbar machen wird, daß dem Wasser nichts mehr beigemischt wird.« »Und wie sollte das aussehen? Vergiftet ist das Wasser wohl nicht, das weiß jeder.« Berle lächelte. Er griff nach einem Krug, der einen leicht berauschenden Getreidetrank enthielt. »Wenn du davon trinkst, was wird geschehen?« fragte er den Dorfältesten. »Ich werde fröhlich«, antwortete der grinsend. »Und wenn du noch mehr trinkst?« »Werde ich müde oder traurig«, bekam Berle zu hören. »Dies ist kein Gift, es bringt dich nicht um«, stellte Berle fest. »Aber es verändert dein Denken und Fühlen – und ich glaube, die furchtbaren Pulver und Säfte des Quells des Lebens hatten eine ähnliche Wirkung. Sie vergifteten nicht unseren Körper, sie vergifteten unseren Geist. Es werden Jahre vergehen müssen, bis uns allen klar wird, was die Fremden von den Sternen uns eingegeben haben.« »Vielleicht kehren sie zurück«, bemerkte Groch. Berle schüttelte den Kopf. »Ich glaube es nicht«, sagte er leise. »Die Zeit für die Großmächtigen ist abgelaufen.«
*
Verwirrung, das ist im Augenblick der stärkste Eindruck. Ich weiß nicht, wo ich bin, was ich hier soll. Ich weiß nicht, wie ich an diesen Ort gekommen bin. Ich weiß nicht einmal mehr, wer oder was ich bin. Ach ja, Oggar. Wer oder was ist Oggar? Herumgewirbelt durch die Dimensionen, habe ich den Kontakt zu mir selbst verloren und kenne mich nicht mehr. Ich spüre nur Müdigkeit und Schwäche. Was kann ich wahrnehmen? Ich bin ich – Oggar, was immer das sein mag. Ich bin irgendwo – wo immer das sein mag. Sterne sind in der Nähe. Ich bin in einem Universum. In welchem? Fragen über Fragen. Unfaßbar, was mit mir geschehen ist. Ich erinnere mich. Insider und Carch, seltsame Wesen, mit denen ich zusammengeprallt bin. Dieser Kontakt hat fast meine Existenz beendet. Aber es gibt mich noch. Ich werde die Antwort auf die vielen Fragen finden, wenn ich erst wieder Kräfte gesammelt habe, wenn ich zu mir selbst gefunden habe. Einstweilen ist da nur Schwäche und Mattigkeit – und Verwirrung. Das Bezugssystem ist aus dem Rahmen, nichts scheint mehr so zu sein, wie ich es gewohnt bin. Alles ist aufgelöst, verwirrt, durcheinandergeschoben. Ich habe Kontakt. Ich spüre, wie sich meine Kräfte erneuern. Von irgendwoher strömt mir Energie zu, verstärken sich meine Kräfte. Ich bin Oggar. Und ich bin – plötzlich weiß ich es mit aller Klarheit – dort, wo meine Heimat ist. Pers-Mohandot – die heimatliche Galaxis. Wie bin ich hierher gekommen? Gleichgültig, wichtig ist jetzt nur, daß ich mich auflade. Ich spüre, wie ich stärker werde. Wer oder
was ist es, das mich stärkt? Eine neue Information – Chybrain hilft mir. Er gibt mir Energie, füllt meine Reserven wieder auf. Und wie kommt er an diesen Ort? Die Fragen mehren sich im gleichen Maß, wie meine Kraft wächst. Ich fühle, daß ich wieder etwas unternehmen kann – ein unglaublich schönes Gefühl. Da ist der Kontakt zu Chybrain. Du willst wissen, was geschehen ist, Chybrain? Ich will versuchen, es dir zu sagen. Viel ist es nicht, und das betrübt mich. Ich kann dir nur das weitergeben, was ich von Atlan und den anderen gehört habe. Verstehst du mich, Chybrain? Die Informationen strömen hinüber – ein Rinnsal nur im Vergleich zu den Fragen, die nach Beantwortung dürsten. Ich weiß es, Chybrain. Mehr als diese kümmerlichen Daten kann ich dir nicht geben. Und du? Du willst nicht reden? Ach, Wöbbeking hat dir aufgetragen zu schweigen? Dann schweige. Und hilf mir – ich brauche noch viel mehr Energie. Du kannst mir nicht weiterhelfen? Ich soll mir selbst helfen? Wie, Chybrain? Wie? Ja, ich weiß, Atlan und die SOL werden mich noch brauchen. Aber zunächst brauche ich dich. Ich bin allein und verlassen, auf einer Welt, die ich nicht kenne. Wo bist du, Chybrain? Wo? Melde dich! Der geistige Kontakt ist abgerissen. Ich bin mir selbst überlassen. Allein auf einer fremden Welt, ohne Freunde, ohne Hilfe. Ich muß mein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Ich werde mir einen neuen Körper suchen. Das unternehme ich zuerst – und dann werde ich den Freunden zu Hilfe kommen. Wenn ihnen noch zu helfen ist.
ENDE �
Nach Insider und Cpt'Carch spielt im nächsten Atlan-Roman eine weitere exotische Gestalt die Hauptrolle. Wir meinen Oggar, den Pers-Oggaren. Er findet einen neuen Körper, kehrt nach Vasterstat zurück – und wird DER NEUE SEHER … DER NEUE SEHER – das ist auch der Titel des Atlan-Bandes 592. Der Roman wurde von Peter Griese geschrieben.