Silber Grusel � Krimi � Nr. 278 �
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Silber Grusel � Krimi � Nr. 278 �
Marcos Mongo �
Der Lockruf des � Wahnsinnigen �
Larry Grossman sah zum zehnten Mal auf seine Uhr. Er war trotz seiner vierundsechzig Jahre kein alter Mann, bestimmt auch kein Feigling, doch dieser Ort hier war ihm langsam unheimlich. Die Nacht blieb sternenklar, und ein eisiger Wind pfiff ihm um die Ohren. Larry hatte sich in den Schatten eines Baumes gestellt, um nicht ständig dem brausenden Wind ausgesetzt zu sein. In dieser Stellung verharrte er schon gut eine halbe Stunde. Er wartete auf den Unbekannten, der ihn heute früh angerufen hatte. Bis jetzt war aber noch niemand zu sehen. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und wühlte suchend in den Taschen nach einem Streichholz, konnte aber keines finden. Verärgert schleuderte er die Zigarette fort. Trotz der Kälte bemerkte er plötzlich, daß er nicht fror, sondern ihm der Schweiß den Rücken hinabfloß. Schweiß, der durch dieses bedrohliche Gefühl, das in ihm aufstieg, zum Fließen gebracht wurde. Nichts wie weg, dachte Larry. An einen solch gespenstischen Ort würden ihn keine zehn Pferde wieder zurückbringen. Er hätte dieser Verabredung nie und nimmer folgen dürfen, doch er hatte sich einem Gefühl nicht entziehen können, für das er keine Erklärung fand. Er war gegen seinen Willen hierher gezwungen worden. Das Haus, das in einer Entfernung von etwa fünfzig bis hundert Metern stand und gegen das Mondlicht einen düsteren Schatten warf, mochte etwa hundert Jahre alt sein. Plötzlich schreckte ihn das Knacken eines Astes aus seiner Versunkenheit. Nervös zückte er sein Taschentuch und wischte sich damit über das Gesicht. Er wollte den Weg zu seinem Wagen antreten, um so schnell wie möglich zu verschwinden, aber seine Füße gehorchten ihm 3 �
nicht mehr. Eine unerklärliche Lähmung hatte seinen Körper erfaßt. Angst überfiel ihn. Die Angst steigerte sich noch, als er eine Stimme hinter sich vernahm, die er zu kennen glaubte. Mit jeder Sekunde, die verrann, wurde ihm bewußter, daß er diese Stimme nur zu gut kannte. Alles in ihm sträubte sich dagegen, diese Stimme gehört zu haben. Indem er sich sagte, daß alles nur Einbildung sei, versuchte er sich zu beruhigen. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und sein Körper überzog sich mit einer Gänsehaut, als er die Gestalt erkannte, die sich langsam in seinen Blickwinkel schob… Er sah sein eigenes »Ich« vor sich stehen. Doch nicht die Tatsache, daß er sich selbst gegenüber stand, bewirkte in ihm dieses Grauen, die Wirkung war vielmehr auf die Gestalt in ihrem ganzen Umfang zurückzuführen. Sein Kopf wurde von einem bleichen Skelett getragen! Larry Grossmans Augen drohten aus ihren Höhlen zu fallen, dann schwanden ihm die Sinne. Nur noch im Unterbewußtsein registrierte er, wie sich eine kalte Hand um seinen Hals legte… * Der rote Camaro hielt direkt vor dem Revier. David Warner entstieg seinem Gefährt und warf die Tür hinter sich zu. Dann ging er die sechs Stufen, die auf beiden Seiten von schmiedeeisernen Geländern abgegrenzt wurden, empor und verschwand im Innern des Gebäudes. Lieutenant Warners Dienst begann in wenigen Minuten. »Guten Morgen, Lieutenant, Sergeant Korner ist vor einer Minute nach oben gegangen.« Der Streifenpolizist, der die Nacht über Dienst hatte und eben gerade im Begriff war, zu gehen, 4 �
deutete mit einer leichten Kopfbewegung die Richtung zu Warners Büro an, das im ersten Stock lag. Der Uniformierte machte einen übermüdeten Eindruck. Er war froh, daß er gleich nach Hause gehen konnte. »Danke, Johns, angenehmes Kopfkissenwühlen!« Warner ging nach oben. Auf der Treppe kam ihm Phil Korner entgegen. Phil war Davids rechte Hand und sein Stellvertreter. »Morgen, David, du brauchst erst gar nicht hoch zu gehen, unser ›Freund‹ scheint wieder am Werk gewesen zu sein. Eben kam ein Anruf. Man hat einen Toten gefunden, der die Merkmale der letzten beiden Opfer trägt.« »Wer ist man?« David gab sich mit bloßen Stichworten nicht zufrieden, er legte großen Wert auf exakte Einzelheiten. Das war in seinem Beruf oft mehr als wichtig. »Ein Spaziergänger hat heute morgen den Toten entdeckt und eine Funkstreife alarmiert«, erwiderte Phil. »Der Morgen fängt ja gut an! Also, dann wollen wir keine Zeit verlieren.« Es lag in Warners Art, sich nicht lange mit Nichtigkeiten aufzuhalten. Er war ein Hüne von 1,92, mit Schultern, die in keinen Konfektionsanzug paßten, der Typ eines Mannes, der alles, was er sich vornahm, auch auszuführen pflegte. Sein kantiges Gesicht war von unzähligen kleinen Narben übersät, was ihn jedoch nicht häßlich machte, sondern seinem Aussehen das Flair entschlossener Männlichkeit gab. Seine tiefblauen Augen dagegen verliehen ihm gleichzeitig einen gütigen Ausdruck. Davids Kleidung war stets korrekt. Niemand aus seiner näheren Umgebung konnte sich daran erinnern, ihn irgendwann mal ohne Krawatte gesehen zu haben. Gegen die sogenannte saloppe Kleidungsart hatte er geradezu eine Abneigung. Phil Korner war etwas kleiner und nicht so stämmig wie David, aber in der Anwendung seiner geistigen und körperlichen Kräfte stand Phil seinem Freund und Vorgesetzten um nichts 5 �
nach. Allerdings gingen die Meinungen beider in bezug auf Kleidung etwas auseinander, denn Phil fühlte sich in sportlicher Kleidung weit wohler als im maßgeschneiderten Einreiher. Im Büro jedoch kleidete er sich so, um den Vorstellungen seines Chefs möglichst nahe zu kommen. Wenn Phil und David auch nicht immer einer Meinung waren, so bildeten sie doch als Team eine ideale Besetzung, denn einer konnte sich auf den anderen hundertprozentig verlassen. Die Tatsache, daß jeder für den Partner sein Leben auf’s Spiel setzen würde, wenn es notwendig sein sollte, machte sie zum erfolgreichsten Gespann bei dieser Spezialeinheit der New Yorker Polizei. Als sie zwanzig Minuten später am Tatort eintrafen, herrschte hier schon Trubel. Nicht nur die Fotografen von der Polizei, sondern auch Presseleute waren bereits an Ort und Stelle und machten Aufnahmen. Einige Reporter bestürmten David, um etwas zu erfahren, aber der wußte genau so wenig wie sie. Phil war inzwischen bei Dr. Miles, dem Polizeiarzt, um sich den Toten zeigen zu lassen. Die Männer kannten sich von vielen ähnlichen Schauplätzen, sie hatten schon oft zusammengearbeitet. »Hallo, Doc, kann man schon was erfahren?« Phil wollte wissen, ob es ähnliche Anzeichen wie bei den letzten Opfern gab. Wenn dies zutraf, war der Tote, der vor ihnen lag, das dritte Mordopfer innerhalb von sechs Wochen. Man konnte dann fast sicher sein, daß alle drei ein und demselben Mörder zum Opfer gefallen waren. »Auf den ersten Blick sieht es so aus«, antwortete Miles vorsichtig, »allerdings bedarf das noch einer genauen Untersuchung, um sicher zu sein, daß der Mann auf die gleiche Art starb wie Taylor und Adams. Sehen Sie sich den Mann doch mal genau an, alle Anzeichen sprechen dafür, daß er erwürgt wurde. 6 �
Aber sein Gesicht – sehen Sie mal in sein Gesicht! Haben Sie je schon einen so verzerrten Gesichtsausdruck gesehen?« Der Polizeiarzt wartete Phils Antwort gar nicht erst ab. »Ich nicht«, fuhr er ohne Pause fort, »nur bei diesen drei Männern, und Sie können mir glauben, ich habe schon viele Leichen gesehen.« Dr. Miles hob die Plane hoch, mit der der Tote zugedeckt war, so daß der Blick auf den Kopf des Mannes frei wurde. Phil lief es eiskalt den Rücken hinunter. Der Arzt deckte den Mann wieder zu. »Genaues kann ich, wie bereits erwähnt, erst nach der Obduktion sagen. Ich lasse Ihnen den Befund umgehend zukommen. In spätestens zwei bis drei Tagen werden Sie ihn auf Ihrem Schreibtisch liegen haben.« Dr. Miles packte seine Tasche ein und verabschiedete sich von Phil Korner. Inzwischen hatte David Warner die Journalisten abwimmeln können. Er war herübergekommen, um sich nach den bisherigen Erkenntnissen zu erkundigen. Auch David warf einen Blick unter die Plane. »He, Doc, schon wieder auf dem Rückweg? Das war ja eine kurze Vorstellung.« »Ja, ich habe noch eine Menge Arbeit vor mir, der Bursche hält einen in Trab!« Der Polizeiarzt spielte damit auf den Mörder an, der, wenn er so weiter machen würde, wohl einen traurigen Rekord aufstellte. David wandte sich an Phil. »Na, wie sieht’s aus?« »Der Doc sagt, daß der Blick des Toten recht ungewöhnlich sei, und ich muß ihm recht geben.« »Tote schauen eben nicht anders drein«, bemerkte David Warner lakonisch. Ein weiterer Blick unter das Leichentuch überzeugte auch ihn davon. Der Gesichtsausdruck der Leiche besaß große Ähnlichkeit mit dem der beiden anderen Opfer. 7 �
»Ich glaube, da kommt viel auf uns zu«, meinte David Warner, und der Sergeant wußte, daß David mit seinem Ausspruch den Nagel auf den Kopf traf. Ein ungewöhnlicher Fall, bei dem sie vielleicht ihr Leben aufs Spiel setzen mußten, hatte für die beiden Kriminalisten begonnen. * Das, was die beiden Akteure im Ring boten, war im Höchstfall Mittelmaß. Es gab einfach keine Höhepunkte. Zum Gähnen langweilig war das. Artur Parker ärgerte sich mit Recht. Er hatte für diesen miesen Boxkampf fünf Dollar ausgegeben, und die gebotenen Leistungen entsprachen bei weitem nicht dem gezahlten Betrag. Nicht, daß er es sich nicht leisten konnte, für einen Boxkampf fünf Dollar auszugeben, nein, es ging ihm ganz einfach gegen den Strich, wenn er für sein gutes Geld nicht einen angemessenen Gegenwert bekam. Und dieser Kampf war seiner Meinung nach keine zehn Cents wert. Artur Parker hatte die Schnauze gestrichen voll. Dazu trug auch nicht unwesentlich bei, daß ihm ein Trottel zu allem Überfluß noch Ketchup an seinen neuen Mantel geschmiert hatte. Dieser Unglücksrabe hätte doch besser aufpassen können! Artur hätte ihm am liebsten den Marsch geblasen, wenn er die Flecke an seinem Mantel betrachtete. Parker sah auf seine Armbanduhr. Kurz nach zehn war es bereits. Fünf langweilige Runden reichten ihm. Er wollte etwas für seine Nerven tun und schenkte sich die restlichen zehn Runden. Im Ring würde es ohnehin keinen K.o.-Sieger geben, denn dazu waren die beiden Kerls viel zu sehr darauf bedacht, sich ja nicht zu berühren. 8 �
»Amateure, jämmerliche Amateure«, stieß Artur ärgerlich aus. Er schob sich durch die dichtgefüllten Ränge in Richtung Ausgang. Nach einigen Fußtritten auf fremde Schuhe seinerseits und unzähligen Remplern andererseits war es ihm endlich gelungen, den Ausgang zu erreichen. Beim Hinausgehen hörte er gerade noch den Gong, der eine Runde beendete, oder die nächste Runde einleitete. Artur wußte das bereits schon nicht mehr, es interessierte ihn aber auch nicht mehr im geringsten. Draußen fegte ihm ein eisiger Wind entgegen. Bald hatte er eine rote Nase – am ganzen Körper fror er. Diese Kälte war kein Wetter für ihn. Nächste Woche würde er für ein paar Tage nach Palm Beach fahren und in seinem Bungalow an der Küste die Sonne genießen. Dem Winter mal richtig die Rückseite zeigen, dachte er. Sein letzter Urlaub lag bereits zwei Jahre zurück. Er schlug seinen Mantelkragen hoch, um dem Wind etwas von seiner schneidenden Schärfe zu nehmen, doch viel nützte das nicht. Schon nach wenigen Minuten im Freien hatte er das Gefühl, ein einziger Eisklumpen zu sein. Parker fluchte leise vor sich hin. Warum konnte er nicht wie andere Leute zu Hause bleiben, im Schutz seiner vier Wände und sich vor dem offenen Kamin von wohliger Wärme umschmeicheln lassen? Kaum ausgedacht, verwarf er den Gedanken wieder und erinnerte sich an das Telefonat, das er am Nachmittag geführt hatte, auf das er sich zwar keinen Reim machen konnte, aber es auch nicht mehr aus seinen Gedanken zu verbannen vermochte. Parker hatte dem Gespräch anfangs keine Bedeutung beigemessen. Auch hatte er sofort wieder aufgelegt, schließlich steckte er bis zu den Schultern in Arbeit und hatte keine Zeit für unnütze Telefongespräche; doch der seltsame Anrufer hatte sich einfach nicht abschütteln lassen. Er bestand mit großer Hartnäckigkeit auf der Zeit und dem Ort des Treffens, daß sich Parker nicht wi9 �
dersetzen konnte. � *
Es hatte sich als richtig erwiesen, daß die in den letzten Wochen verübten Morde auf unerklärliche Weise in Verbindung miteinander stehen mußten. Zumindest wiesen sie in Anlage und Ausführung große Ähnlichkeit miteinander auf. Durch die Untersuchungen der Fälle und durch die Sezierung der Leichen mußte angenommen werden, daß die Morde von einem Wahnsinnigen begangen worden waren. Man vermied es noch, von übernatürlichen Vorkommnissen zu sprechen, denn das wäre zu diesem Zeitpunkt auf jeden Fall verfrüht gewesen. Auf Grund der bisherigen Ermittlungen wurde die Bearbeitung der Fälle jetzt ganz an Warners Spezialabteilung übergeben. Dieser Gruppe war es nun vorbehalten, den oder die Mörder schnellstens ausfindig zu machen und zur Strecke zu bringen. David Warner saß an seinem Schreibtisch. Er sah sich gerade Taylors und Adams’ Obduktionsbefunde an. Davids Büro war von den übrigen Räumen der Bürohalle abgetrennt. Da er mehr Zeit im Büro als zu Hause verbrachte, hatte sich David so häuslich wie möglich eingerichtet. Die Einrichtung war bemerkenswert gemütlich und der Unterschied zu einem normalen Büroraum stach sofort ins Auge. »Phil!«, erklang seine Stimme durch den Raum, »ich kann den Obduktionsbefund von diesem Grossman nicht finden, hast du mal ein paar Minuten Zeit?« Phil betrat Davids Büro und nahm im Drehstuhl vor dem Schreibtisch Platz. »Der ist heute morgen erst fertig geworden«, erwiderte Sergeant Korner. »Ich habe gerade mit Miles gesprochen, er schickt 10 �
ihn gleich weg. Spätestens am Mittag wird der Bericht da sein.« »Okay«, sagte David und legte die anderen Schriftstücke zusammen. »Ich brauche jetzt einen Kaffee und etwas zu beißen, wie steht’s mit dir?« »Keine schlechte Idee«, stimmte Phil dem Lieutenant zu, »ich schätze, heißer Kaffee und ein paar Sandwiches sind jetzt genau das Richtige.« Phil ging hinaus und wechselte mit einem jungen Kollegen ein paar Worte. Zehn Minuten später betrat Detektiv Curli Davids Büro, in seinen Händen hielt er einige Tüten, eine Thermosflasche und zwei Pappbecher. »Hier sind die gewünschten Sandwiches und der Kaffee.« Der junge Polizist stellte alles auf Davids Schreibtisch ab. »… hab es unten bei Tuckers geholt« »Okay, Curli, vielen Dank!« Am Nachmittag traf der Obduktionsbefund Larry Grossmans ein. Er kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt, denn Phil und David waren gerade dabei, sich mit einigen Vermißtenanzeigen, die routinemäßig durch ihre Spezialabteilung liefen, zu beschäftigen. In den letzten Wochen war nämlich die Rate der Vermißtenanzeigen erheblich in die Höhe geschnellt. Nicht wenige der Vermißten waren bislang überhaupt nicht mehr aufgetaucht. David hatte das unbestimmte Gefühl, daß dies vielleicht mit seinem Fall in Verbindung stehen könnte. David legte die Vermißtenanzeigen beiseite und nahm den Obduktionsbefund zur Hand. Wie er es schon vermutet hatte, waren die drei Befunde fast identisch. Bei allen drei Opfern handelte es sich um ältere Herren, die einen schweren Herzfehler hatten. Auch die Todesursache war gleich, alle starben an Herzversagen auf Grund übergroßer Aufregung. Und diese – das war durch die Obduktion in Erfahrung gebracht worden – wurde 11 �
vorsätzlich herbeigeführt. Eines jedoch unterschied das erste von den beiden anderen Verbrechen: Währenddem die beiden Opfer Nr. 2 und Nr. 3 ein beachtliches Vermögen besaßen, hatte Opfer Nr. 1 in dieser Richtung nichts aufzuweisen. Und noch eine nicht zu übersehende Kleinigkeit schien von Bedeutung zu sein, nämlich der Tatort. Taylor wurde fünf Kilometer von den anderen entfernt gefunden. Nachdem David den Bericht von Dr. Miles gelesen hatte, legte er ihn auf den Schreibtisch zurück. Es fiel ihm schwer zu glauben, was er in dieser und den anderen Akten gelesen hatte, und dennoch konnte es sich eigentlich nur so abgespielt haben. Dr. Miles war eine Kapazität auf dem Gebiet der Autopsie. An der Richtigkeit seiner Ausführungen konnte es nicht den geringsten Zweifel geben. David Warner lehnte sich im Sessel zurück und schloß die Augen. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Er wollte sich nicht damit abfinden, daß es bei diesen Fällen nicht die Spur eines Hinweises gab, die sie auf die Fährte des Mörders zu führen vermochte. Der Lieutenant war nicht der Typ, der es einfach dabei beließ, oder auf den nächsten Mord wartete, um dann eventuell einen Hinweis zu finden. David ließ sich mit dem Archiv verbinden. Er wollte die Akten von Taylor und Adams ein zweites Mal gründlich durchgehen. Irgend etwas mußte doch zu finden sein – eine Kleinigkeit, die auf den ersten Blick vielleicht unbedeutend erschien. Nicht selten waren es gerade diese Kleinigkeiten, die zum Ziel führten. * »Was hast du vor, Paul? Nein, nicht, um Himmels willen, tu es � nicht. Was hab ich dir denn getan, warum willst du mich umbringen?« Artur Parker schrie so laut er konnte. Doch schien es � 12 �
ihm so, als käme kein Laut über seine Lippen. Sein Hals war wie ausgetrocknet. Er wollte zurückweichen, doch seine Beine bewegten sich nicht. Sie blieben wie angewurzelt stehen. Er wollte dem tödlichen Hieb entgehen, doch gleichzeitig wurde ihm klar, daß ihm dies nicht gelingen würde. Wieder versuchte er sein Gegenüber von dem Vorhaben abzubringen. »Bitte nicht, ich gebe dir auch alles, was du willst.« Sein Flehen war jedoch vergebens. Durch nichts auf dieser Welt aufzuhalten, sauste die Axt auf ihn nieder. Instinktiv hielt sich Artur die Arme über den Kopf, als könne er so das heranbrechende Unheil aufhalten. Es war jedoch ein vergeblicher Versuch. Ein Rinnsal entquoll seinem Körper und sammelte sich zu einer Lache. In dieser lag er. Blut, soweit er sehen konnte. »O Gott, nein«, röchelte er, »ich will nicht sterben.« Die letzte Kraft entwich aus seinem Körper. Als Artur Parker sich in seinem Bett aufrichtete, war er triefend naß. Der Pyjama klebte schweißdurchnäßt an seinem Körper. Auf seiner Stirn standen dicke Schweißperlen, die langsam den Hals hinuntertropften. Er hatte ihn wieder, diesen furchtbaren Traum, der ihn seit einiger Zeit verfolgte und den er einfach nicht mehr los wurde. Es war der gleiche Traum, wie drei- oder viermal zuvor, bis ins kleinste Detail identisch mit den vorhergegangenen Träumen, nur noch wirklichkeitsnaher. Ja, ihm war, als habe er das alles eben nicht geträumt, sondern erlebt. Er, Artur Parker, der mit allen Wassern gewaschene, clevere Geschäftsmann war am Ende und mit den Nerven fertig. Es war schwer, die Zusammenhänge des Traumes zu begreifen, denn es gab einfach keine Erklärung dafür. Auch die Regelmäßigkeit, mit der sich der Traum wiederholte, war ihm unbegreiflich. Warum wollte ihn dieser Mann, der zudem noch sein bester Freund war, umbringen? Es hatte 13 �
nie ein böses Wort zwischen Paul und ihm gegeben. Und was noch schlimmer war: Paul Kent war seit über einem Jahr tot! Je mehr und je länger Artur nachdachte, desto mehr fing er an, an seinem Verstand zu zweifeln. Artur Parker, von Parker & Parker, die ihr Büro im Plaza Hochhaus hatten, war eine der ältesten und erfolgreichsten Anwaltskanzleien von New York, von Arturs Vater gegründet worden. Nach erfolgreichem Abschluß des Jurastudiums wurde der Sohn als gleichberechtigter Partner in die Firma aufgenommen. Nach dem Tode seines Vaters leitete er die Kanzlei als alleiniger Chef. Artur konnte sich noch gut daran erinnern, wie alles angefangen hatte. Vor fast genau vier Jahren war ein junger Anwalt namens Paul Kent bei ihm erschienen und hatte sich um eine offene Stelle beworben. Der junge Mann war Artur auf Anhieb sympathisch. Artur nahm ihn denn auch in seinen Mitarbeiterstab. Es entwickelte sich bald ein freundschaftliches Verhältnis zwischen dem jungen Mann und ihm. Sie hatten gleiche Auffassungen und gleiche Interessen. Oft trafen sie sich nach Büroschluß. Dann gingen sie in Franks Steakhouse auf der 125. Straße, oder ins renommierte »21«. Am liebsten jedoch verbrachten sie ihre gemeinsamen Abende bei Antonio, in einem kleinen italienischen Ristorante, wo beide ihrer gemeinsamen Vorliebe für Spaghetti Bolognese, für Cannelloni und Lasagne frönten. Außerdem schätzten sie besonders Tonis herben roten Landwein. An einem dieser Abende passierte ein schreckliches Unglück. Es hätte Artur genauso treffen können wie Paul, aber er hatte eben mehr Glück als sein Freund, denn er ging an der Innenseite des Bürgersteiges. Paul dagegen tanzte an der Bordsteinkante entlang. Sie waren gerade aus Tonis Ristorante gekommen, als sie das Quietschen von Autoreifen hörten. Paul blieb keine Zeit mehr, die todbringende Situation zu erfassen. Ein Taxi mußte einem 14 �
entgegenkommenden Fahrzeug ausweichen, um einen Frontalzusammenstoß zu vermeiden. Es gab nur noch eine Möglichkeit: den Bordstein. Paul wurde in voller Fahrt erwischt. Zwei Tage später starb er im Krankenhaus. Artur war nur mit größter Mühe und einem Panthersprung an die Hauswand dem Fahrzeug entkommen… In Arturs Kopf hämmerte es. Warum wollte ihn gerade Paul töten, warum gerade er, mit dem er das beste Verhältnis hatte? Der Traum lief wieder deutlich vor seinen Augen ab. Erst langsam, dann immer schneller ging er auf das Haus zu, obwohl er wußte, was ihn dort erwartete. Er ging gegen seinen Willen dorthin, denn sein Handeln und Denken wurden von einer ihm fremden Kraft gelenkt. Er ging dem Blinken nach, diesem unheimlich hellen Strahl, der von einem Spiegel zu kommen schien. Artur konnte es nicht erkennen. Allmählich wurde der Gegenstand deutlicher. Artur stockte der Atem. Das war jedoch kein Spiegel, sondern eine riesige spiegelblanke Axt. Er wollte vor Angst am liebsten davonlaufen, doch er konnte es einfach nicht. Die Axt zog ihn mit magischer Kraft an. Geblendet hielt Artur die Hand vor die Augen, er wollte sich abwenden, doch er vermochte es nicht. Im Hintergrund zeichneten sich die Konturen eines Mannes ab: Es war Paul! Er begann laut zu schreien, doch seine Schreie waren nicht zu hören. Der Stahl der Axt hatte sich verdunkelt und war matt geworden. Blut klebte an ihr, Arturs Blut. Sein Körper lag auf dem Fußboden, in zwei Teile gespalten. Artur, sowohl seelisch als auch körperlich ein Koloß, war am Ende. Nichts von seiner unbeugsamen Härte war nach dem Ende des Traumes übrig geblieben. Seine Augen hatten den Ausdruck eines Toten angenommen. Er schleppte seinen massigen Körper zum Wandschrank, holte eine Flasche Chivas Regal heraus und setzte sie an seine Lippen. Nachdem er die Flasche 15 �
wieder absetzte, war sie bis auf ein Viertel geleert. Der Alkohol hatte ihn wieder einigermaßen hochgebracht. Er hatte sich jetzt wieder etwas besser in der Gewalt. Artur ging zum Telefon und tippte eine schon oft in Anspruch genommene Zahlenkombination. Das monotone Freizeichen verursachte in seinem Ohr einen höllischen Lärm. Er glaubte, sein Kopf würde jeden Moment platzen. Endlich! Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine ihm wohlbekannte Stimme. »Doktor Berger«, drang es durch die Muschel. »Parker, Artur Parker, habe ich Sie aus dem Bett geholt?« »Nicht der Rede wert, was ist denn los?« »Es ist wieder mal so weit, Doktor, ich halte das bald nicht mehr aus«, erwiderte der Anwalt mit zerknirschtem Unterton in der Stimme. »Nun sagen Sie mir doch, was mit Ihnen nicht stimmt, Mr. Parker.« »Ich hatte Sie doch letzte Woche im Club schon darauf angesprochen, Doc, können Sie sich noch daran erinnern?« »Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Am besten, Sie kommen morgen früh zu mir, dann werde ich Sie gründlich unter die Lupe nehmen. Gute Nacht, Mr. Parker!« »Danke, Doc!« Artur legte den Hörer auf die Gabel zurück. Die Worte des Psychiaters hatten ihn etwas beruhigt. Wenn ihm jemand helfen konnte, war es dieser Mann. Daß etwas geschehen mußte, war klar. Er war nicht verrückt, aber er würde es bestimmt werden, wenn ihm nicht bald geholfen wurde. * Am Morgen war Artur bei Dr. Berger gewesen. Wie nach jedem � Besuch bei dem Arzt, fühlte er sich auch diesmal wieder im Voll16 �
besitz seiner Kräfte, ja, er sprühte geradezu vor Tatendrang und Energie. Am Abend zuvor hatte er auf Grund seines Alptraumes nicht einschlafen können und deshalb als Beruhigungsmittel Schlaftabletten genommen. Daraufhin verfiel er in einen tiefen Schlaf, aus dem er am nächsten Morgen erst gegen zehn Uhr wieder erwachte. Dies alles hatte er dem Doktor mitgeteilt. Berger hatte sich Arturs Geschichte aufmerksam angehört und anschließend seinen Patienten unter Hypnose behandelt, wie er Artur später erzählte. Artur konnte sich dann auch nur schwach an Einzelheiten der Behandlung erinnern. Der Arzt kannte die Probleme, die seine Patienten belasteten, und er würde Artur sicher so behandeln, wie es für ihn am besten wäre. Für Artur war im Moment nur wichtig, daß er sich wieder auf der Höhe fühlte, und das allein zählte. Der Tag im Büro verging wie im Flug. Die Spannung der letzten Tage und Wochen war von ihm gewichen. Es hatte überhaupt den Anschein, als würde auf dem Chefsessel ein anderer Mensch sitzen. Um Arturs Lippen lag ein zufriedenes Lächeln. Er dachte gerade daran, welches Glück er doch hatte, Dr. Berger zu kennen und von ihm behandelt zu werden. Für Artur war die Welt wieder in Ordnung und die Qualen der vergangenen Nacht vergessen. Aus seiner guten Laune heraus hatte er für den heutigen Tag ein festes Programm zusammengestellt. Mittags war er entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten zum Essen in ein Restaurant gegangen. Danach hatte er sich mit einem Klienten getroffen, und anschließend war er nach Hause gefahren. Abends trank er dann bei Antonio noch schnell ein Glas Rotwein, um von dort aus direkt in die Sporthalle zum Boxkampf zu gehen. Plötzlich – wie aus heiterem Himmel – war es mit seiner Ruhe 17 �
vorbei. Er konnte sich einfach nicht mehr auf den Kampf konzentrieren, jegliches Interesse war dahin. Dabei war der Fight bei weitem nicht so schlecht, wie Artur sich einbildete. Die Ruhe des Tages war mit einemmal wie weggeblasen. Artur sah auf seine Uhr. Schlagartig fiel ihm seine Verabredung ein. Den ganzen Tag über hatte er nicht daran gedacht. Warum gerade jetzt? Einen Dreck werde ich mich darum kümmern, sinnierte Artur, nirgendwo werde ich hingehen. Es war gerade neun Uhr vorbei, er hatte also noch über zwei Stunden Zeit, um zu seiner Verabredung zu kommen. »Zum Teufel!« Ungewollt laut kam der Fluch über seine Lippen. Einige Leute drehten sich unwillkürlich um und starrten Artur entgeistert an. Der Gedanke an die verrückte Verabredung ließ sich einfach nicht mehr verdrängen. Eben noch hatte er sich fest vorgenommen, nicht mehr daran zu denken, und jetzt, zwei Minuten später, war es, um aus der Haut zu fahren. Artur wurde immer nervöser. Er zerrte seine Zigaretten aus der Manteltasche, holte eine aus der Packung heraus und zündete sie an. Zug um Zug sog er den Rauch ein, bis sie zu Ende war. Kurz vor dem Filter angelangt, warf er die Kippe weg. Jetzt war ihm wieder etwas wohler. Er ging die 34. Straße entlang, bis er an Joe’s Imbiß kam. Vor dem Lokal blieb er stehen. Die Scheibe der Imbißstube war mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Artur hauchte sie an einer Stelle in Augenhöhe an und wischte mit seinem Mantelärmel darüber. Es entstand ein kleines Guckloch, das ihm den Einblick ins Innere ermöglichte. Ein Sandwich und eine Tasse Kaffee, das war es, was er jetzt brauchte, um sich wieder aufzumöbeln. Er öffnete die Tür und trat ein. Sofort empfing ihn wohlig einladende Wärme. Die Stube war nur schwach besetzt. Außer ihm 18 �
selbst waren nur noch eine Frau und zwei Männer anwesend, die zusammen an einem Tisch saßen bei irgendeinem Fusel. Sie schienen alle drei schon ziemlich angetrunken zu sein und nahmen von Artur Parker keine Notiz. Der neue Gast entledigte sich seines Hutes und Mantels und legte beides auf einen Stuhl. Er hatte gerade Platz genommen, als der Barmann an seinem Tisch erschien. »Was darf’s denn sein, Mister?« fragte er Artur, mit einem breiten Grinsen auf seinem Gesicht. Artur sah zu ihm auf und musterte ihn. Ein Dicker, der eine kaum noch weiße Schürze um den Bauch gebunden hatte, stand vor ihm und wollte seine Bestellung aufnehmen. Artur schätzte den Mann auf etwa einssiebzig. Er war leicht untersetzt und mochte an die hundert Kilo wiegen. In seinem Gesicht saß eine Knollennase, unter der ein vollgewachsener, gut gepflegter, schwarzer Schnurrbart prangte. Sein Haupthaar dagegen bestand aus einem spärlichen Haarkranz, von dem aus ebenso gut gepflegte Koteletten bis zu den Backenknochen hinabführten. Das wird wohl dieser Joe sein, dachte Artur. Der Bursche schien Koch, Kellner, Barmann und Mixer und wer weiß noch was alles in einer Person zu sein, denn außer ihm war sonst kein Personal zu sehen. »Unsere Hot Dogs sind Spitze«, versuchte der Dicke Arturs Wahl zu erleichtern. Parker tat so, als habe er den Vorschlag des Barmannes überhört. »Ich nehme ein Sandwich und Kaffee.« »Wie Sie wünschen, Mister.« Mit einem Schulterzucken verschwand der Dicke hinter der Theke. Dort hantierte er an der Kaffeemaschine und begab sich wenig später in die Küche. Artur Parker zündete sich eine Zigarette an. Die Kälte war inzwischen von ihm gewichen, und die Wärme der Imbißstube hatte sich an seinen Körper geschmiegt. Er drückte gerade den 19 �
Zigarettenstummel aus, als auch schon der Barmann kam und den Kaffee und das Sandwich brachte. Nachdem er sein Sandwich verdrückt hatte, bestellte der Gast einen Kognak. Dann steckte er sich erneut eine Zigarette an. Gemütlich lehnte er sich in den Stuhl zurück, er war auf einmal richtig müde geworden. Wahrscheinlich wäre er sogar eingeschlafen, wenn ihm der Barmann nicht auf die Schulter getippt hätte. »He, Mister, Feierabend, ich mache gleich dicht!« Die tiefe Stimme des Dicken ließ Artur zusammenfahren. Mit dem Finger deutete der Barmann auf die Coca-Cola Uhr, die hinter der Theke hing. »Sehen Sie, es ist bereits nach elf. Hab’ ’nen schweren Tag hinter mir.« Parker sah zu der Uhr hinüber. Es war tatsächlich bereits nach elf. Wie war das nur möglich? Er hatte das Gefühl, die Imbißstube eben erst betreten zu haben und doch war es schon elf Uhr vorbei. Parker war sichtlich verwirrt, denn ihm kam plötzlich alles so unwirklich vor. »Drei Dollar und zwanzig Cent bekomme ich von Ihnen!« Der Barmann hielt die Hand auf, um deutlich zu machen, daß die Zeche bezahlt werden mußte. Artur sah den Mann an. Dem Dicken lief es dabei eisig den Rücken herunter. Der starre Blick seines Gegenüber, die ausdruckslosen Augen bewirkten, daß er automatisch einen Schritt zurücktrat. Aber nicht nur allein dieser Blick war es, der dem Barmann Angst einflößte, auch die Bewegungen seines Gastes hatten plötzlich etwas Unnatürliches an sich. Der Mann schien seine Forderung völlig überhört zu haben, denn er war bereits im Begriff zu gehen. »He, Mister, drei Dollar und…« Es war ein zaghafter Versuch. Der Barmann glaubte schon einen Fehler gemacht zu haben, denn Artur unterbrach seine Bewegung und drehte sich um. 20 �
Diese Augen waren unheimlich, dem Dicken verschlug es darauf die Sprache. Die Dollars waren plötzlich unwichtig geworden, nur eines war im Moment von Bedeutung, nämlich daß der Unheimliche so schnell wie möglich aus der Imbißstube verschwand. Man konnte die Last förmlich sehen, die von Joe abfiel, als der Gast seinen Weg nach draußen fortsetzte. Kaum daß Artur auf der Straße war, schlug der Barmann die Tür hinter ihm zu und schloß ab. Der Schreck war ihm ganz schön in die Glieder gefahren, aber zum Glück war die Sache noch einmal gut gegangen. Er hatte während seiner Zeit als Imbißstubenbesitzer schon viele seltsame Typen kennengelernt, aber dieser Bursche war die Krönung. Selbst seinen Mantel und seinen Hut hatte er liegen lassen. Eine skurrile Nummer, dachte Joe. Draußen war es kalt. Obwohl Artur ohne Hut und Mantel herumlief, fror er nicht. Die Temperatur war gerade richtig für ihn, nicht zu warm und nicht zu kalt, gerade richtig, wie in einer dieser lauen Sommernächte, in denen er so gern spazieren ging. Seine Hände waren rot und steif, der scharfe Wind fuhr durch sein Haar und zerzauste es. Seine Wangen waren bläulich angelaufen, und seine Nase glich einer übergroßen Erdbeere. Unbeirrt setzte Artur seinen Weg fort. Obwohl man es ihm nicht ansah – er hatte große Angst. Alles in ihm sträubte sich, dieser Verabredung zu folgen, doch er befand sich bereits auf dem Weg zum Treffpunkt. Seine Beine trugen ihn einfach voran. Artur wußte nicht, wohin er ging. Obwohl ihm etwas tief in seinem Innern sagte, daß diese Begegnung für ihn tödlich enden würde, folgte er einfach seinen Beinen, deren Herr er nicht mehr war. *
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Er kam an ein großes Haus, dessen Baustil nicht in dieses Jahrhundert paßte. Die Gegend und das villenähnliche Haus kamen ihm bekannt vor, doch glaubte er, noch nie in seinem Leben hier gewesen zu sein. Langsam ging er auf das Haus zu, bis er vor der Eingangspforte stehen blieb. Die schwere Tür stand offen. Artur Parker schwitzte. Er glaubte, eine wohlbekannte Stimme vernommen zu haben, die nach ihm rief, doch sicher war er sich nicht. Da, eben wieder, jetzt hatte er es deutlich gehört. »Nur hereinspaziert, Artur, ich wußte doch, daß man sich auf dich verlassen kann. Komm nur, ich habe dich schon erwartet!« Alles in Artur Parker sprach dagegen, dieses Haus zu betreten und dennoch ging er hinein. Er stand in der Vorhalle. Ängstlich sah er sich nach seinem Gastgeber um, aber er konnte ihn nirgends entdecken. Was trieb man für ein Spiel mit ihm? Ein durchdringendes Geräusch drang an sein Ohr. Die massive Eichenholztür ging langsam zu und fiel schließlich mit lautem Krachen ins Schloß. Das Knarren der Scharniere jagte dem Mann einen Schauer über den Rücken. Mit einemmal wußte er, wo er sich befand. Diesen Ort kannte er aus seinen Alpträumen. Artur wollte schreien, doch es kam kein Laut über seine Lippen. Er wollte weglaufen, aber seine Beine bewegten sich nicht von der Stelle. Entsetzen packte ihn, denn ihm wurde klar, daß es kein Entkommen mehr gab. Die Tür war zu, und keine Macht der Welt konnte sie öffnen. Plötzlich vernahm er im Rücken ein Geräusch. Langsam drehte er sich um. Durch das Halbdunkel des Raumes erkannte er den stählernen Gegenstand, den er nur zu oft schon in seinen Träumen gesehen hatte. Das Mondlicht, das durch die Fenster fiel und sich mit dem Stahl schnitt, erzeugte einen blinkenden Schein, der Artur blendete. Schützend legte er die Hände vors 22 �
Gesicht. »Nein, bitte nicht!« Seine Worte verhallten im Raum und wurden von den Wänden zurückgeworfen. Er sah einen Schatten über die Wand huschen, und erfaßte sofort dessen Bedeutung. Unaufhaltsam sauste die Axt auf ihn nieder. Artur Parker spürte den Aufprall nicht mehr… * David Warner saß an seinem Schreibtisch und blätterte in einem Stapel Akten. Vor ihm lagen über den gesamten Tisch verteilt Ordner und Aktenbündel, die er sich aus dem Archiv hatte kommen lassen. Er hoffte in diesen vielleicht einige Hinweise auf ähnliche, früher verübte Verbrechen zu finden, die ihm in dem derzeitigen Fall weiterhalfen. Die meisten Ordner und Aktenbündel hatte er schon durch, aber einen Hinweis, der eventuell von Bedeutung sein konnte, hatte er nicht gefunden. Ärgerlich klappte er den Ordner zu. David hatte in den letzten 36 Stunden ein Mammutprogramm absolviert. Jetzt war er müde und abgespannt, seine Energie war aufgebraucht und seine Konzentration dahin. Das Denken fiel ihm schwer. Was er jetzt brauchte, waren ein paar Stunden Schlaf. Er nahm seinen Mantel und verließ mit schleppenden Schritten das Büro. In der Eingangshalle des Departments kam ihm Phil entgegen. »Hallo, darf man fragen, wo es hingeht?« »Man darf«, entgegnete David. »Ich bin auf dem Weg nach Hause, um meine Augen ein wenig zu pflegen. Brauche jetzt dringend ’ne Mütze voll Schlaf. Außerdem möchte ich meine Badewanne wieder mal von innen sehen.« »Okay, David, laß dich auf deinem schweren Gang durch nichts aufhalten«, meinte Phil etwas spöttisch, während er be23 �
reits den Weg in die erste Etage angetreten hatte. Phils letzte Worte hatte David nur noch bruchstückweise mitbekommen. Warner ließ sich in die Polster seines Wagens fallen und steuerte ihn auf direktem Weg nach Hause. In der Tiefgarage stellte er den Wagen ab. Der Lift brachte ihn in den vierten Stock, wo sich sein Apartment befand. Als Junggeselle brauchte er sich keine teure Drei- oder Vierzimmerwohnung zu nehmen, obgleich dieses Apartment auch nicht gerade billig war. David schloß auf und ging hinein. Er ließ die Jalousien herunter und machte die Fenster zu. Bei dem Lärm, der unten auf der Lexington Avenue – genauso wie auf allen anderen Straßen New Yorks um diese Zeit – herrschte, konnte kein Mensch einschlafen. Er nahm einen frischen Pyjama und deckte sein Bett auf. Dann zog er sich aus und legte sich in die Badewanne, die er zwischenzeitlich hatte vollaufen lassen. Nach dem herrlich heißen Bad ging er an die Hausbar und schenkte sich einen Campari ein, den er mit Tonic-Water und reichlich Eis anreicherte. Nachdem er sein Glas geleert hatte, legte er sich auf’s Ohr. Wenig später lag David Warner in tiefem Schlaf. * Der schrille Klingelton des Telefons schreckte ihn aus dem Schlaf. David Warner hatte das Gefühl, als sei er vor ein paar Minuten erst ins Bett gegangen, doch der Blick auf seine Armbanduhr belehrte ihn eines Besseren. Es war kurz nach siebzehn Uhr, er hatte also fast fünf Stunden geschlafen. Wieder drang das entnervende Klingeln an sein Ohr. David rieb sich den Schlaf aus den Augen und nahm den Hörer ab. »Warner«, sagte er mit verschlafener Stimme, wobei er ein langgezogenes Gähnen nicht unterdrücken konnte. 24 �
»Hallo, Lieutenant«, vernahm er eine aufgeregte Stimme am anderen Ende der Leitung. »Tut mir leid, daß ich Sie geweckt habe.« »Schon gut, Morelli, was gibt’s denn?« »Sie werden hier gebraucht, Lieutenant. Sergeant Korner hat mich beauftragt, Sie sofort zu verständigen, wenn sich im Fall Grossman etwas Wichtiges ergeben sollte. Genau das ist seit einer halben Stunde der Fall.« David war plötzlich hellwach. Mit seinen Gedanken war er schon längst auf dem Präsidium. »Danke, Morelli, ich komme so schnell wie es nur irgend geht.« David knallte den Hörer auf die Gabel. Im Eiltempo hatte er sich gewaschen und angezogen. Zwischendurch fand er noch Zeit für einen Schnellkaffee, den er nur zur Hälfte leerte. Den Rest goß er ins Spülbecken. Zwanzig Minuten später war er auf dem Revier. Man erwartete ihn schon, als er die Bürohalle im ersten Stock betrat. Phil winkte ihm von seinem Büro aus zu. »Das ging ja schnell«, bemerkte Phil Korner. »Ich habe mich nicht hundertprozentig an die Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten«, erwiderte David. »Was gibt es denn?« fügte er dann ohne sich zu unterbrechen hinzu. »Ich glaube, wir haben eine erste heiße Spur«, sprudelte es überschwenglich aus Phil heraus. »Harry Stone hat hier angerufen und etwas von einem ›Man Club‹ erzählt. Wir sollten uns da mal umsehen, es würde uns von den Beinen reißen. Viel mehr hat Harry allerdings nicht ausgespuckt. Er tat sehr geheimnisvoll. Mehr könne er beim besten Willen nicht sagen, fügte er noch hinzu, und daß die Sache für ihn ziemlich heiß wäre und er sich seine Finger vielleicht daran verbrennen könnte. Dann hat er aufgelegt.« Harry Stone war ein ehemaliger Häftling, der der Polizei schon 25 �
manchen brauchbaren Tip hatte zukommen lassen. In seinen Kreisen war er besser unter dem Spitznamen Lauscher bekannt. Daß Harry wenig Freunde hatte, war klar, dafür hatte er um so mehr die Sympathie von Phil und David – natürlich nur in bezug auf seine Dienste. »Das ist nicht viel«, entgegnete David lakonisch. »Ich bin auch noch nicht fertig.« Phil holte ein Streichholzheft aus der Schublade seines Schreibtisches und hielt es David vor die Nase. Der stieß einen leisen Pfiff zwischen den Zähnen hindurch. »MAN CLUB«, las Warner übertrieben langgezogen. »Wo hast du das her?« fragte er Phil. »Es steckte in Grossmans Jackentasche. Außerdem war es auf der Liste aufgeführt. Ich dachte sofort wieder daran, als Harry von diesem Club sprach.« »Kompliment«, sagte David. »Ein Gedächtnis hast du.« Er hielt das Streichholzheft zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete es von allen Seiten. »Glaubst du, daß an der Sache etwas dran ist?« fragte er Phil. Die Skepsis in Davids Stimme war nicht zu überhören. »Das käme auf einen Versuch an, wenigstens wäre es ein Anfang. Ein Besuch in diesem Nobelclub würde alle Unklarheiten beseitigen.« »Okay, sehen wir uns diesen Club mal aus der Nähe an!« * MAN CLUB stand in goldenen Lettern auf dem schwarzen Metallschild, das über der Eingangstür hing. Nach allem, was Phil und David über den Club in Erfahrung gebracht hatten, konnten sie sich nur schwer vorstellen, daß sie hier richtig waren. Der vornehme Club paßte so gar nicht in die Gegend. Der Verdacht 26 �
lag nahe, daß der Besitzer so unauffällig wie nur möglich bleiben wollte. Das Streichholzheft, das man bei Grossmans Sachen gefunden hatte, war identisch mit dem Schild, das über dem Eingang hing – schwarzer Grund und goldene Schrift, mit der gleichen Formgebung versehen. Also handelte es sich um den gesuchten Club. Der MAN CLUB war ein Privatclub und für die breite Öffentlichkeit tabu. Hier verkehrten nur die sogenannten oberen Zehntausend. Die Eingangstür war fensterlos und schwarz lackiert. In Augenhöhe war ein Spion eingebaut, unter diesem befand sich ein Türklopfer aus Messing. Der Türklopfer hatte die Form einer Faust, und unter dieser war ein Klingelknopf eingebaut. Durch leichten Druck auf die Messingfaust betätigte man die Klingel. David Warner drückte die Faust, und ein melodisch klingender Gong ertönte. Wenig später wurde der Verschlußdeckel des Spions beiseite geschoben. Es war anzunehmen, daß man sie beobachtete. Kurz darauf wurde die Tür, die durch eine Kette abgesichert war, einen Spalt breit geöffnet. »Was kann ich für die Herren tun?« hörten sie eine tiefe Männerstimme fragen. Durch den schmalen Türspalt sahen sie in das Gesicht des Fragenden. »Kriminalpolizei«, sagte Warner kurz und steckte seinen Dienstausweis durch den Spalt, so daß der Portier ihn sah. Nach kurzem Zögern wurde die Tür geöffnet und den beiden Einlaß gewährt. »Entschuldigen Sie, meine Herren«, sagte der Portier höflich. Anschließend bat er Phil und David in den großen Clubraum und bedeutete sie, Platz zu nehmen. »Sie befinden sich hier in einem Privatclub. Man benötigt einen Clubausweis, um eingelassen zu werden. Bitte gedulden Sie sich einen Augenblick, der Geschäftsführer wird Ihnen gleich Rede und Antwort stehen.« 27 �
Der Portier entfernte sich. Routinemäßig, wie es ihr Beruf von ihnen verlangte, sahen Phil und David sich im Raum um. Man mußte kein Experte in Sachen Reichtum sein, um zu erkennen, daß es sich hier um einen Club handelte, der vom Luxus geprägt wurde, und dessen Mitglieder finanziell weit über dem gehobenen Durchschnitt stehen mußten. Wie sie später in Erfahrung brachten, nahm der Club nur Leute auf, die ein garantiertes Jahreseinkommen von mindestens 50.000 Dollar nachweisen konnten. Man wollte hier offensichtlich unter sich bleiben. Der Clubraum war im altenglischen Stil eingerichtet. Die Sitzmöbel bestanden ausschließlich aus schweren lederbezogenen Couches und Sesseln. In der Mitte jeder Sitzgarnitur stand jeweils ein Eichenholztisch, der von einer spiegelblanken Marmorplatte abgedeckt war. Die Kristallüster, von denen über jedem Tisch einer angebracht war, tauchten den Raum in ein festliches und doch zugleich intimes Licht. Der Parkettboden war mit wertvollen Teppichen ausgelegt, die den luxuriösen Rahmen vollends abrundeten. An der Bar vorbei, gelangte man in die Bibliothek. Die Bibliothek war durch eine Tür mit kunstvollen Schnitzereien von den übrigen Räumen des Clubs abgetrennt. David und Phil wunderten sich über die Leere, die im Club herrschte. Der einzige Mensch, der außer ihnen den Raum belebte, war der Barkeeper, der hinter dem Bartresen stand und Gläser abtrocknete. Er warf den beiden Beamten einen freundlichen Blick zu und deutete eine leichte Verbeugung an. »Gefällt es Ihnen bei uns?« Die beiden Polizisten drehten sich um. Vor ihnen stand ein gutgekleideter Herr, der unbemerkt den Raum betreten hatte. »Buster Lake ist mein Name, ich bin der Geschäftsführer dieses Clubs. Was kann ich für Sie tun? Sind wir bei der Polizei in Ungnade gefallen?« 28 �
David Warner musterte den Geschäftsführer von oben bis unten, und er tat dies keineswegs versteckt. Ihm war der ironische Unterton in der Stimme des Managers nicht entgangen, von dessen Arroganz ganz zu schweigen. Damit hatte sich Mr. Lake von vornherein einen Minuspunkt bei David zugezogen. »Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen, Mr. Lake, natürlich nur, wenn es Ihre kostbare Zeit auch zuläßt«, bemerkte David nicht weniger ironisch. Daß sie einer Spezialeinheit angehörten, verschwieg er wohlweislich, denn er wollte nicht unnötig Staub aufwirbeln. Der Geschäftsführer bemerkte sofort, daß er mit seiner schnippischen Art den Unwillen des Beamten auf sich zog und änderte deshalb sofort seinen Stil. Wesentlich zurückhaltender antwortete er dann auch: »Selbstverständlich stehe ich Ihnen gern zur Verfügung und beantworte Ihre Fragen, wenn ich das kann. Worum geht es denn?« Phil holte ein Photo aus der Innentasche seines Jacketts hervor und hielt es Buster Lake vor die Nase. »Kennen Sie diesen Mann?« fragte er den Geschäftsführer. Buster Lake nahm ihm das Bild aus der Hand und sah es sich an. Lake brauchte nicht lange zu überlegen. »Selbstverständlich kenne ich den Mann. Es ist Mr. Grossman, ein langjähriges Mitglied unseres Clubs. Ist etwas nicht in Ordnung mit Mr. Grossman?« David beantwortete die Frage des Geschäftsführers mit einer Gegenfrage. »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?« »Das weiß ich auch nicht so genau. Allerdings, wenn ich mich recht erinnere, liegt es schon eine ganze Weile zurück. Vier Wochen war er bestimmt schon nicht mehr hier.« Lake machte ein besorgtes Gesicht. »Was ist mit Mr. Grossman?« versuchte er 29 �
einen erneuten Anlauf. »Nun, Mr. Grossman wird die Annehmlichkeiten Ihres Clubs nicht mehr in Anspruch nehmen können, denn er ist tot, ermordet worden.« Der Unterkiefer des Clubmanagers klappte nach unten, seine Überraschung schien echt zu sein. »Das ist doch nicht möglich«, stammelte er, »wer sollte ein Interesse haben, einen so sympathischen Mann wie Mr. Grossman umzubringen?« »Das wollte ich Sie gerade fragen«, erwiderte David. Buster Lake schnappte nach Luft. »Wie meinen Sie das«, fauchte er David Warner an, »glauben Sie etwa, daß ich…. das ist doch lächerlich!« »Beruhigen Sie sich, Mr. Lake, davon war keine Rede. Ich will nur wissen, ob er Feinde hatte, zum Beispiel hier im Club. Vielleicht hatte eines der Clubmitglieder einen Grund, Mr. Grossman umzubringen, möglich ist alles.« »Nein, auf gar keinen Fall, wo denken Sie hin. Ein Mörder in unserem Club, das ist ja absurd«, entrüstete sich Lake, jetzt allerdings wieder etwas gefaßter als vorhin. »Nun, dann eben nicht«, brummelte David mehr zu sich selbst. »Nichts für ungut, Mr. Lake, Sie haben uns sehr geholfen.« Phil verkniff sich ein Lächeln. »Ach, eine Frage noch. Kennen Sie einen Mr. Paul Adams?« »Ja«, antwortete Buster Lake überrascht, »auch Paul Adams ist Mitglied unseres Clubs. Was ist mit Mr. Adams?« »War nur eine Frage. Vielen Dank, Mr. Lake!« »Ja, aber…« Weiter kam der Geschäftsführer nicht. »Mr. Adams war auch schon längere Zeit nicht mehr hier, oder?« »Ja, doch, das stimmt, aber…« »Nichts Besonders, Mr. Lake. Paul Adams leistet lediglich Mr. 30 �
Grossman Gesellschaft.« Buster Lake ließ sich in einen der schweren Ledersessel fallen. Dann fingerte er nervös in seinen Taschen und holte irgendein Beruhigungsmittel hervor. Der Mann an der Bar wußte anscheinend schon Bescheid. Unaufgefordert brachte er ein Glas Wasser. Zusammen mit dem Beruhigungsmittel stürzte der Geschäftsführer die Flüssigkeit in sich hinein. Eine kaum hörbare Entschuldigung folgte, die Nachricht der Polizisten schien ihn doch unter der Gürtellinie getroffen zu haben. »So, nun wollen wir Sie aber nicht länger aufhalten.« David und Phil schickten sich an zu gehen. Lake wollte sich aus seinem Sessel aufraffen und die beiden Beamten hinausbegleiten. »Bemühen Sie sich nicht, wir finden schon allein den Weg«, meinte David Warner gönnerhaft. Der Portier ließ die beiden Kriminalisten hinaus. Sie gingen die Fifth Avenue entlang, bis sie etwa in Höhe der 48. Straße angelangt waren. Sie hatten dort in einer Tiefgarage ihren Wagen abgestellt. Nichtsahnend wollten sie das Fahrzeug besteigen. Das rauhe Aufbrüllen des hochgezüchteten Ford Mustang durchbrach die Stille der Tiefgarage. Sofort erkannten Phil und David, daß sie sich in höchster Gefahr befanden. Mit zunehmender Geschwindigkeit raste der Mustang genau auf sie zu. Die harte Schule der Ausbildung in ihrer Spezialeinheit hatte die beiden gelehrt, in solchen Situationen klaren Kopf zu bewahren. Mit rekordverdächtigem Sprung retteten sie sich hinter ein geparktes Fahrzeug. Fast im gleichen Augenblick brachten sie ihre schweren Schußwaffen in Anschlag. Letzteres war nicht mehr nötig gewesen, denn der Mustang brauste mit unverminderter Geschwindigkeit davon. »Das sollte wohl nur eine Warnung sein«, bemerkte Phil und steckte seine 38er in die Halfter zurück. David stimmte ihm 31 �
durch ein Kopfnicken zu. »Jedenfalls wissen wir jetzt, daß wir auf dem richtigen Weg sind.« * »Was hast du hier zu suchen, Ramon? Habe ich dir nicht schon hundertmal gesagt, daß du dich in den Clubräumen nicht blicken lassen sollst?« Eine schallende Ohrfeige landete im Gesicht des hünenhaften, schwarzen Mannes, der an der halbgeöffneten Tür stand, die von den Privaträumen in die offiziellen Clubräume führte. Buster Lake, der Geschäftsführer des MAN CLUB, selbst nicht von kleiner Statur, hatte den bulligen Neger, der ihn noch um Haupteslänge überragte, am Kragen seines schmutzigen Hemdes gepackt und schüttelte ihn. Lake hatte den Schwarzen schon bemerkt, als Phil und David sich noch im Club aufhielten. Nachdem die beiden Polizisten gegangen waren, hatte er sich den Schwarzen vorgenommen. Ramon – so hieß der Neger – wurde von den Clubräumen ferngehalten. Selbst die meisten Clubmitglieder wußten nichts von seiner Existenz. Die Kraft, die dieser schwarze Fleischberg besaß, hätte ausgereicht, um fünf Männer von der Sorte eines Buster Lake zu verprügeln, aber das Verhältnis war gerade umgekehrt. »Nicht mehr schlagen, Mr. Lake, ich tu es bestimmt nicht wieder«, winselte der Neger und hielt die Arme schützend über seinen Kopf. Vom Aussehen her war Ramon ein starker Mann, man hätte ihn auf den ersten Blick für einen Boxer gehalten, aber sein Geist war dem eines Kindes gleich. Er wirkte bei näherem Hinsehen eingeschüchtert und hatte so viel Selbstvertrauen wie ein Hund, der mit Fußtritten aus dem Haus gejagt wurde. 32 �
Der Neger war für die schmutzigsten Arbeiten, die im Club anfielen, zuständig. Man behandelte ihn wie einen Menschen dritter Klasse. Ramon ließ es widerspruchslos über sich ergehen. Es wurde ihm nicht einmal bewußt, denn er war es nicht anders gewohnt. Buster Lake ließ von dem Schwarzen ab. Er stieß ihn von sich. »Wenn ich dich noch einmal erwische, geht es dir dreckig. Dann kannst du dein Auskommen wieder in der Gosse suchen.« Der Neger stammelte nur: »Sir, es kommt bestimmt nicht wieder vor.« »Lassen Sie’s gut sein, Buster, sehen Sie nicht, daß der arme Kerl ganz verstört ist?« Unbemerkt von Buster Lake und Ramon war Dr. Berger erschienen, hatte den Streit bemerkt, ihn durch sein Erscheinen unterbrochen und schließlich beendet. »Er hat sich wieder im Clubraum herumgetrieben.« »Mich stört er nicht«, sagte Dr. Berger und warf dem Neger einen freundlichen Bück zu. »Aber mich«, erwiderte Buster Lake, »und die wenigen Clubmitglieder, die von seiner Existenz hier wissen, auch.« Beim Anblick von Dr. Berger erhellte sich Ramons Gesicht. Seine Augen, die dankbar zu dem Arzt hinüberblickten, bekamen einen feuchten Glanz. Dr. Berger war der einzige, der Ramon als vollwertigen Menschen behandelte, ja man konnte sagen, daß er ein echter Freund war. Der Neger dankte es ihm und verehrte ihn. Dr. Berger hatte Ramon schon öfter in seiner Praxis untersucht. Er konnte ihm eine hervorragende körperliche Verfassung bescheinigen. Ramons geistige Beschränktheit, die ihre Ursache wahrscheinlich in häufigen Schlägen auf den Kopf fand, hatte mit Geisteskrankheit nicht das geringste zu tun. Wie Dr. Berger durch Gespräche mit Ramon erfuhr, hatte sein Vater ihn und seine Geschwister oft mit einem Knüppel geschlagen. Die Folgen 33 �
waren offensichtlich. Nun war Ramon erleichtert. Ein Glück, daß Dr. Berger im rechten Augenblick erschienen war und ihm so weitere Schläge erspart hatte. Der Neger verschwand wieder in dem grauen Hinterhof. Hier lag sein Wirkungsbereich. Das dreckige Loch war ein Kontrast zu den Clubräumen des MAN CLUB. Nichts war von Luxus zu sehen, in jedem Elendsviertel der Stadt sah es besser aus. Wer konnte es bei diesen Umständen Ramon verdenken, daß er von Zeit zu Zeit einen Blick in die Clubräume warf, und beim Anblick dieses Prunkes von einer besseren Zukunft träumte. Diese Träume waren es, die den Neger die Angst vor Lake vergessen ließen und ihn unvorsichtig machten. Buster Lake und Dr. Berger waren in den Clubraum gegangen. »Es ist doch wirklich nicht nötig, die arme Kreatur auch noch zu schlagen. Ramon ist durch seinen Zustand schon genug gestraft«, meinte Dr. Berger vorwurfsvoll. »Dieser Neger läßt mir keine andere Wahl. Hundertmal habe ich ihm gesagt, daß er im Club nichts verloren hat, aber er hält sich einfach nicht daran.« »Beenden wir das Thema, unsere Meinungen gehen da doch etwas zu weit auseinander«, zog Dr. Berger einen Schlußstrich. Hier mußte eine Änderung eintreten. Er war fest entschlossen, Ramon hier herauszuholen. * Auf dem Revier war im Moment nicht viel los. Es war gerade drei Uhr vorbei. Nicht jede Nacht war so ruhig, aber heute war kaum etwas Erwähnenswertes vorgefallen. Außer einer Schlägerei und zwei Unfällen mit geringfügigem Schaden war nichts gemeldet worden. 34 �
Die Tür wurde plötzlich aufgestoßen. Zwei Detektive zerrten einen jungen Mann, den sie bei einer Razzia festgenommen hatten, in den Vernehmungsraum. Mit einem Mal war Leben in der Bude. Der Junge wehrte sich mit aller Gewalt, doch es gelang ihm nicht, den beiden Beamten, die ihm körperlich überlegen waren, zu entkommen. »Sei endlich vernünftig, Junge, sonst wende ich andere Methoden an«, sagte einer der Detektive in ernstem Tonfall. Der Junge gab zwar auf, schlug aber einen anderen Kurs ein und schaltete auf stur. »Aus mir kriegt ihr keine Silbe heraus.« »Das wollen wir erst mal abwarten, wir werden dich schon zum Reden bringen. Du mußt dann schon eine verdammt gute Geschichte erzählen, wenn du hier wieder raus willst.« Der Detektiv deutete auf die Zelle, deren Tür offen stand. »Los, beweg deinen lahmen Korpus! Die Nacht darfst du hier auf Staatskosten verbringen«, sagte der andere Beamte barsch. »Morgen früh wird sich der Lieutenant mit dir unterhalten, und ich kann dir jetzt schon flüstern, daß das kein Kaffeeklatsch sein wird!« Widerwillig trabte der Junge in die Zelle. Seine Sachen – hauptsächlich den Gürtel – mußte er abgeben. Einer der Detektive schrieb eine Liste und legte sie zusammen mit dem Eigentum des Jungen in die Schreibtischlade. Gegen zehn erschien Phil. Man hatte ihn bereits unterrichtet. »Holt ihn her!« sagte er kurz. Er zog sich einen Stuhl herbei und ließ sich darin nieder. Ein Beamter in Uniform schloß die Zellentür auf. »Komm ’raus, Junge, jetzt wird ein wenig geplaudert!« Der Polizist führte den jungen Mann zu Phil Korner. »Sieh an, wen haben wir denn da!? Freund Benny, was treibt 35 �
dich denn hierher? Ich hatte bis jetzt immer den Eindruck, daß es dir bei uns nicht so recht gefällt.« Der haßerfüllte Bück des Jungen verriet, was er von der Polizei hielt. »Ehrlich, ich bin unschuldig. Die beiden Bullen haben mich ohne jeden Grund eingebuchtet.« »Riskier keine Lippe, Benny«, sagte Phil drohend, aber dennoch beherrscht. Er konnte es nicht leiden, wenn so ein Windhund einen ehrbaren Polizisten als Bulle beschimpfte. »Wir werden uns jetzt ein wenig unterhalten. Ich gebe dir den freundschaftlichen Rat, dich anständig aufzuführen, denn dieses Mal scheinst du ja ordentlich ins Fettnäpfchen getreten zu sein.« Das war eine Warnung für den Jungen. Er kannte Korner und wußte, daß, obwohl er zugänglich war, er vorhin dennoch zu weit gegangen war. Phil begann mit seinen Fragen. »Wo hast du die Scheine und das Scheckheft her?« »Gefunden, Chef, ehrlich!« »Natürlich, das Zeug lag einfach auf der Straße. Hör auf, mich zu veralbern, Benny!« Phil wurde wütend. Der Junge blieb bei seiner Aussage, doch nicht sehr lange. Phil trieb ihn systematisch in die Enge. Nach knapp einer halben Stunde hatte der Sergeant den Jungen durch geschickte Fragen in eine Sackgasse geführt. Benny fing an, hemmungslos zu heulen. »Mann, Sie müssen mir glauben, ich wollte den Alten nur um ein paar Dollar erleichtern. Ich habe ihn nur ein wenig durchgeschüttelt, weiter nichts. Mein Messer hat der gar nicht zu Gesicht bekommen. Was kann ich dafür, daß der sich plötzlich hinlegt und keinen Muckser mehr von sich gibt. Mächtig Bammel hab’ ich bekommen, seine Brieftasche habe ich beigezogen und mich dünne gemacht.« »Du hast ihm die Kehle zugedrückt«, sagte Phil. 36 �
»Nein, ehrlich nicht, ich hab ihn ja kaum berührt, nur ein bißchen gestreichelt, davon fällt doch keiner um.« »Okay, bringt ihn in die Zelle! Deine Mutter wird sich freuen.« Phil Korner dachte nach. Das konnte die Lösung sein. Taylors Tod stand in keiner Verbindung mit den beiden anderen Fällen. Der Fall Taylor konnte also ausgeklammert werden. * David Warner betrat das Büro. »Hallo, Lieutenant!« Phil goß sich gerade seinen Kaffee ein. »Auch einen?« fragte er David. Der nickte. »Heute nacht haben wir Benny Ott geschnappt!« »Ich weiß schon, Morelli hat mir Bericht erstattet.« »Er sitzt unten in einer Zelle«, erklärte Phil Korner. »Soll ich ihn heraufholen?« »Nein, laß ihn nur, wo er ist. Da unten ist der Bengel gut aufgehoben«, erwiderte David. Das Gespräch der beiden Polizisten wurde durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. David ging zum Apparat und nahm den Hörer ab. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Morelli. »Hallo, Lieutenant, ich glaube der Zufall bietet uns seine Hilfe an. Vor mir steht eine Lady, die gerade ihren Chef als vermißt gemeldet hat Die Angaben über den Mann kommen mir äußerst bekannt vor, könnte der Herr aus dem Zinketui sein. Soll ich die Dame zu Ihnen hinaufschicken?« »Selbstverständlich«, lautete Davids knappe Antwort, dann legte er den Hörer auf. Phil hatte ein paar Wortfetzen mitbekommen. Fragend sah er David an. »Ach ja, davon weißt du ja noch gar nichts. Ich war heute morgen mit Morelli im Leichenschauhaus. Der Mann war gerade 37 �
eingeliefert worden, man hob ihn aus dem Zinksarg. Das war kein Anblick für schwache Nerven, die Schädeldecke war eingedrückt. Erstklassige Kleidung, kam bestimmt aus den besseren Kreisen, aber nicht der geringste Hinweis auf die Identität des Mannes. Er hatte weder Papiere noch Geld bei sich. Morelli glaubt, daß…« Die Tür ging auf. Warner brach mitten im Satz ab. Eine gutaussehende Frau betrat das Büro. Gleichzeitig wehte eine Wolke von betörendem Parfüm zur Tür herein und machte sich in dem Raum breit. »Guten Tag«, sagte sie mit weicher Stimme, »ich suche einen Lieutenant Warner, bin ich hier richtig?« »Ja«, erwiderte David, »das bin ich. Kommen Sie doch bitte näher. Sergeant Korner«, stellte er Phil vor und deutete mit der Hand auf seinen Kollegen. Die Frau nickte Phil freundlich zu. »Ich bin Ellen Hudson. Der nette Polizist von unten hat mich heraufgeschickt.« »Das hat seinen Grund, ich habe nämlich ein paar Fragen an Sie, Mrs. Hudson«, erklärte David. »Sie haben eine Vermißtenmeldung gemacht?« »Ist das ungesetzlich?« fragte die Frau spöttisch zurück. »Nein, wir glauben nur, daß Sie uns vielleicht in einem bestimmten Fall behilflich sein können.« Mrs. Hudson gab sich mit der Erklärung des Lieutenants zufrieden. Durch das Vertrauen, das die Polizei ihr entgegenbrachte, fühlte sie sich sogar ein wenig geschmeichelt. Auch waren ihr die Blicke der beiden Beamten nicht entgangen. Es brauchte ihr nicht erst gesagt zu werden, daß sie anziehend wirkte, das wußte sie, und insgeheim genoß sie die Blicke. Ellen Hudson war einunddreißig Jahre alt, hatte lange, schwarze, in der Mitte gescheitelte Haare, die bis zu den Schultern reichten. Aus dem sonnengebräunten Gesicht stachen mandel38 �
förmige, schwarzbraune Augen heraus, die ihrem Aussehen etwas Puppenhaftes verliehen. Ihre vollen Lippen waren mit einem roten Lippenstift übermalt. Die Figur dieser Frau war eine Augenweide. »Ist der Vermißte mit Ihnen verwandt?« setzte David seine Fragen fort. Mrs. Hudson schüttelte den Kopf. Dann sagte sie zu Davids Überraschung: »Mr. Parker ist mein Chef!« »Warum kommen gerade Sie zu uns? Warum nicht seine Frau oder einer seiner Verwandten?« wollte David Warner wissen. »Mr. Parker ist nicht verheiratet. Verwandte hat er auch keine, jedenfalls weiß ich nichts davon. Doch, warten Sie, einen Onkel hat er, glaub’ ich, in Nashville Tennessee.« »Ach so ist das!« David Warner machte eine Pause. »Wollen Sie auch einen Kaffee?« Ellen Hudson lehnte dankend ab. »Seit wann vermissen Sie Mr. Parker?« »Seit zwei Tagen. Er erschien vorgestern nicht im Büro, und das ist ganz und gar ungewöhnlich. Auch zu Hause ist er nicht, ich war zweimal da.« »Wissen Sie, wo er vorgestern war? War er vielleicht zu Hause?« »Nein, das sagte ich ja eben. Am Dienstagabend hatten wir zusammen gegessen. Danach hat er mich nach Hause gebracht, er selbst wollte noch kurz in den Club, danach habe ich nichts mehr von ihm gehört.« Bei dem Wort Club wurden Phil und David hellhörig. Ein Verdacht kam in ihnen auf. Phil brachte die Frage heraus. »In welchen Club?« »In den MAN CLUB, Mr. Parker ist dort seit vielen Jahren Mitglied. Ich selbst war allerdings noch nicht da, er hat mich nie mitgenommen.« Den beiden Beamten verschlug es fast die Sprache. David hatte 39 �
sich als erster wieder gefangen. »Mrs. Hudson, ich befürchte, daß Mr. Parker nicht mehr am Leben ist. Ich kann Ihnen einen unangenehmen Gang nicht ersparen. Wir können nur hoffen, daß ich mich irre.« Warner hatte sich nicht geirrt. Zwanzig Minuten später waren sie mit Ellen Hudson im Leichenschauhaus. Der Mann im weißen Kittel zog das Schubfach mit der Nummer 36 heraus und zog die Plane zurück. Ellen Hudson zog sich der Magen zusammen. Ihre Gesichtsfarbe veränderte sich schlagartig. »Das ist er«, stammelte sie. Tränen liefen ihr über das Gesicht, erregt wandte sie sich ab, der Weißbekittelte deckte die Leiche wieder zu. * Der Mond stand voll am dunklen Himmel. Ab und zu schob sich eine schwarze Wolke vor die goldene Scheibe und verdeckte sie. Korner hatte seinen Wagen absichtlich zwei Straßen weiter geparkt und war den restlichen Weg zu Fuß gegangen. Jetzt tastete er sich an der Mauer entlang. Trotz des Vollmondes war es dunkel. Phil mußte aufpassen, daß er nicht über herumliegende Steine stolperte. Außerdem war er darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden. Nun stand er vor der verrosteten Eisentür. Langsam drückte er die Klinke herunter und lehnte sich gegen die Tür. Zu seiner Überraschung war sie nicht verschlossen. Vorsichtig öffnete er sie. Der durchdringende Quietschton ließ ihn in seiner Stellung verharren. Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sein Vorhaben aufzugeben und umzukehren, doch dann besann er sich eines anderen. Die Vermutung, daß auch andere das Quietschen der Tür gehört haben könnten, verdrängte er. Phil wartete noch eine Minute, doch es tat sich nichts. Er schob 40 �
seinen Körper durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Angel und stand jetzt in einem dreckigen Hof. In einer Entfernung von etwa dreißig Metern sah er ein schwaches Licht, das jedoch ausreichte, ihm den Weg zu weisen, um sicher zu dem Gebäude zu gelangen. Phil war erleichtert, als er feststellte, daß er sich unnötig Sorgen gemacht hatte. Er hatte sich das Ganze eigentlich viel mühsamer vorgestellt. Aus Erfahrung wußte er, daß man bei derartigen Unternehmungen meist auf erheblichen Widerstand stieß. Deshalb ließ ihn seine Freude über den bisher so reibungslos erfolgten Ablauf seines Tuns auch nicht unvorsichtig werden. Das war Phils Glück, denn gerade in dem Moment, als er die Tür zum Innern des Gebäudes öffnen wollte, geschah das Unvorhersehbare. Durch ein leises, kaum wahrnehmbares Geräusch wurde er im rechten Augenblick gewarnt. Instinktiv ließ Phil Korner sich nach vorn fallen und nahm so dem mit unheimlicher Wucht kommenden Schlag in letzter Sekunde seine volle Wirkung. Hart schlug er mit dem Körper auf das kalte Gestein. In seiner rechten Schulter verspürte er einen brennenden Schmerz. Der erfahrene Polizist erfaßte die Situation in Sekundenschnelle. Dem zweiten Schlag wich er durch einen Sprung an die Beine seines Gegners aus. Gleichzeitig ging dieser von Phils Angriff überrascht zu Boden. Sofort war Korner über ihm und hämmerte seine Faust in das Gesicht des Angreifers. Ein zweiter und ein dritter Schlag folgten. Durch einen Tritt mit dem Absatz seines Stiefels auf das Handgelenk des Widersachers erreichte Phil, daß der Mann die schwere Eisenstange, die ihm als Schlagwerkzeug gedient hatte, fallen ließ. Ein weiterer Faustschlag beendete den Zweikampf. Schweratmend wandte sich Phil von seinem Gegner ab. Er wollte so schnell wie möglich verschwinden. Just in diesem Moment traf ihn ein wuchtiger Schlag voll auf die Lippe. Er 41 �
schmeckte, wie sich das Blut in seinem Mund sammelte. Ein Tritt in den Rücken ließ ihn vor Schmerz winseln. Die Schläge erweckten in Phil die Erkenntnis, daß er es mit mindestens noch zwei weiteren Kontrahenten zu tun haben mußte. Weiter kam er jedoch mit seinen Gedanken nicht. Von einem mörderischen Hieb auf den Kopf getroffen, sank er bewußtlos zu Boden. Alles um ihn herum wirkte seltsam verschwommen. In seinen Ohren begann es in unterschiedlichen Tonlagen zu rauschen. Unwirklich verzerrte Gestalten schienen ihn zu umringen und sich über ihn zu beugen. Dann wurde es schwarz um ihn. Phil hörte nicht mehr die Stimme des Mannes, der sich im Hintergrund aufhielt, und auf dessen Gesicht sich ein überlegenes Grinsen zeigte. »Schafft diesen verdammten Schnüffler weg, der wird kein zweites Mal seine Nase in unsere Angelegenheiten stecken.« »Keine Sorge«, sagte einer der Schläger, »Sie werden mit uns zufrieden sein, Mr. Lake.« * David Warner stand vor dem Oldtimer. Das Oldtimer war eine von New Yorks vielen Nobeldiskotheken. David hatte einen Anruf von Harry dem Lauscher erhalten und hatte mit ihm vereinbart, sich hier zu treffen. Harrys Andeutungen waren vielversprechend, jedenfalls glaubte David, nicht auf Harrys Neuigkeiten verzichten zu können. Die Leuchtreklame über der Eingangstür ließ erahnen, daß im Innern etwas geboten wurde. Warner ging hinein. Er schob den roten Samtvorhang, der den Einblick in die Diskothek verhinderte, zur Seite und steuerte auf die Bar zu. Dort nahm er auf einem Hocker Platz. Die Einrichtung machte dem Namen Diskothek alle Ehre. Der 42 �
Raum war mit Nischen in Form von alten Autos eingerichtet. Die Tanzfläche hatte den Anstrich eines Parkplatzes. An jedem Tisch stand eine Parkuhr. In einer abgelegenen Ecke des Raumes stand ein altes Fordmodell, in dem die Plattenbar untergebracht war. »Möchten Sie etwas trinken, Sir?« Der Barkeeper hielt David eine Getränkekarte hin. »Einen Gin Tonic bitte«, antwortete David, ohne jedoch die Karte in Anspruch zu nehmen. Wenig später wurde das gewünschte Getränk gebracht. »Kennen Sie einen Harry Stone?« wollte David Warner von dem Barmann wissen. »Wenn Sie den meinen, der da eben zur Tür hereinkommt – den kenne ich.« Stone hatte David gleich entdeckt. Er kam herüber und ließ sich neben dem Polizisten auf einem Barhocker nieder. »Tut mir leid, es ging nicht eher.« Der Barmann stand immer noch an der gleichen Stelle. »Sind Sie von der Polizei?« fragte er David. David tat, als habe er die Frage überhört, und Harry, der merkte, daß dem Lieutenant die Frage des Barkeepers unangenehm war, sagte an Warners Stelle: »Kümmere dich um deine Gäste und hau ab, Erni!« Dabei warf er dem Barmann einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann wandte er sich an seinen Nachbarn. »Entschuldigen Sie, Lieutenant, der Bursche ist ein bißchen neugierig, aber sonst ganz in Ordnung.« »Schon gut«, antwortete Warner, »erzähl mir mal deine Geschichte. Du hast mich ja mächtig auf die Folter gespannt.« »Okay, was ich Ihnen jetzt erzähle, wird Ihnen die Socken ausziehen. Der so noble MAN CLUB ist alles andere als nobel. Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, daß dort Dinge geschehen, die Sie nicht für möglich halten.« 43 �
»Mach es nicht so spannend, Harry, ich will nicht die ganze Nacht in diesem verräucherten Stall verbringen.« »Schnallen Sie sich gut an, Lieutenant!« Harry Stone beugte sich leicht zu David Warner und hielt die Hand an den Mund. Er sah sich nach allen Seiten um und vergewisserte sich, daß niemand ihr Gespräch mithörte. »Der MAN CLUB dient mehr als Tarnung, in Wirklichkeit wird dort…« Harry brach mitten im Satz ab. Die plötzliche Unruhe, die den Lauscher von einer zur anderen Minute befallen hatte, war David nicht entgangen. »Entschuldigung, Lieutenant, ich muß mal eben, bin in einer Minute wieder da«, sagte Harry mit belegter Stimme. Er ließ sich vom Barhocker gleiten und ging auf eine Tür zu, auf der stand: Toiletten. * Eine Ahnung befiel David Warner. Für einen Gang auf das gewisse Örtchen und wieder zurück braucht ein Mann normalerweise nicht mehr als zwei, höchstens drei Minuten. Harry unterdessen war bereits seit mehr als zehn Minuten verschwunden. Der Lieutenant machte sich ernstlich Vorwürfe. An Harrys Gemütswandlung hätte er den faulen Hund, der sich hier hereingeschlichen hatte, riechen müssen. Mit einem eleganten Sprung war er vom Hocker herunter. Er ging auf die Tür zu, durch die Harry vor etwa zehn Minuten verschwunden war. David wußte, daß er keine Sekunde mehr verlieren durfte. Der schmale Gang war nur schwach beleuchtet. Es dauerte einen Moment, bis sich die Augen des Mannes an das rote Licht gewöhnt hatten. Hier war vom Lärm der Diskothek nichts zu hören. 44 �
Warners Hand tastete sich zur linken Hüftseite vor, genau an die Stelle, wo die Halfter mit der 38er saß. Die Berührung mit dem kalten Metall hatte eine beruhigende Wirkung. »Man« stand auf der einen, »Woman« auf der anderen Tür. David drückte sich an die Wand. Mit dem Knauf seiner Waffe schlug er gegen die Tür der Herrentoilette. Er rechnete in jeder Sekunde mit einer Überraschung, doch nichts geschah! »He, Harry, bist du da drin?« Warner bekam keine Antwort. Mit einem Ruck stieß er die Tür auf. Der Raum war leer, keine Spur von Stone. Auf der Damentoilette bot sich ihm das gleiche Bild, von Harry war nichts zu sehen. Ein dumpfes Geräusch ließ Warner zusammenfahren. Das Geräusch war von draußen gekommen. David stürmte zur Tür am Ende des Ganges. Sie führte auf die Straße. Der Lieutenant wollte die Tür öffnen, doch sie war verschlossen. Folglich mußte Harry noch drin sein. Aber wo? Es gab nur zwei Möglichkeiten, entweder die Damen- oder die Herrentoilette. David Warner ging zurück. Dabei sah er gerade noch, wie die Tür zum Innern der Diskothek zufiel. Er verlor keine Zeit. In Windeseile legte er die etwa fünfzehn Yards bis zur Tür zurück und riß sie auf. Der Spurt war vergebens. Bei dem Trubel, der hier herrschte, war es unmöglich, die Person zu bestimmen, die vor wenigen Sekunden von der Toilette zurückgekommen war. Das konnte praktisch jeder der hier Anwesenden sein. Ein Blick zur Bar bestätigte David, daß Harry noch nicht zurückgekommen war. Warner ging noch mal zurück. Irgendwo mußte der Lauscher doch geblieben sein, denn schließlich löst sich ein Mann nicht einfach in Luft auf. »Harry Stone!« Es blieb still. Die sechs Toilettentüren waren alle zu. Wahllos fing David an, sie zu öffnen. Schon nach der 45 �
zweiten konnte er aufhören. Stone konnte nicht mehr antworten. Die Drahtschlinge, die um seinen Hals gelegt und bis tief ins Fleisch zugezogen war, verwehrte ihm den Atem, geschweige denn das Sprechen. Die Augen des Lauschers waren weit aus ihren Höhlen getreten, die Zunge hing aus dem Mund. Für diesen Mann kam jede Hilfe zu spät. * Langsam kam Phil Korner wieder zu sich. Er nahm leises Stimmengemurmel wahr. Undeutlich drangen die Worte an seine Ohren. Vor seinen Augen tauchten zwei verschwommene Gestalten auf. »Der ist ja betrunken, das sieht doch ein Blinder. Komm laß uns weitergehen, Ben!« »Aber wir können ihn doch nicht einfach hier liegen lassen, der erfriert, wenn ihm keiner auf die Beine hilft.« Phil Korner erkannte jetzt, daß es sich um eine Frau und einen Mann handelte. Es waren Schwarze. Aus den wenigen Worten, die er aus ihrem Gespräch aufgeschnappt hatte, schloß er, daß sie ihn für betrunken hielten. Er wollte sich ihnen verständlich machen, doch dazu war er noch nicht in der Lage. Sein Kopf schmerzte. Sein Hals war ausgetrocknet. Er war nicht fähig, auch nur ein Wort zu sprechen. »Wer sich so vollaufen läßt, ist selber schuld. Komm, wir gehen weiter, soll er doch sehen, wie er allein zurechtkommt.« »Wenn du meinst«, lautete der schwache Einwand des Mannes. Dann gingen die beiden weiter. Phil versuchte sich zu erheben. Nach zwei Fehlversuchen gelang es ihm. Er befand sich auf einem Trümmergrundstück. Über Gesteinsbrocken und verrostete Eisenträger hinweg arbeitete er sich zur Straße vor, die nur etwa fünf Meter vor ihm lag. 46 �
Er ging zwar immer noch recht wackelig, aber von einer zur anderen Minute erholte er sich. Wie lange er hier gelegen hatte, wußte er nicht, auch nicht, wie er hierher gekommen war. Korner versuchte sich zu erinnern, doch außer dem rasenden Schmerz schien nichts in seinem Kopf zu sein. Er ging die Straße entlang, bis er in eine belebtere Zone kam. Jetzt wußte er, wo er sich befand. Er war in Harlem. Das war nicht gerade die richtige Gegend für einen Weißen, um sich zu dieser späten Stunde noch hier herumzutreiben. Ecke 148. Straße und St. Nicolas Avenue hielt er ein Taxi an. Ab und zu sah Phil sich verstohlen um. Die aufdringlichen Blicke der Leute entgingen ihm nicht. Er konnte es ihnen nicht mal verdenken, denn sein Zustand war erbärmlich. Als der Fahrer des gelben Taxis sah, in welch miserabler Verfassung sein Fahrgast vor dem Wagen stand, stieg er aus und half ihm beim Einsteigen. »Danke, Mister, Sie sind der erste Mensch heute abend, der mich nicht anstarrt wie ein Wesen von einem anderen Stern«, krächzte Phil belegt. Der Taxifahrer lächelte. Phil nannte dem Fahrer sein Ziel. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Phil ließ sich erschlafft in die Polster fallen. Er war müde und erleichtert, daß ihn der Taxifahrer nicht mit Fragen löcherte. Was er jetzt brauchte, war Ruhe, und die hatte er in diesem Taxi. »Wir sind da, Mister!« Die tiefe Stimme des Fahrers riß Phil aus seiner Lethargie. »Macht zwei Dollar, genau auf den Cent«, sagte der Chauffeur und deutete auf den Taxameter. Phil durchzuckte ein Schreck. Er faßte sich an die Brusttasche seines Mantels. Die Aufregung war umsonst, man hatte ihm seine Brieftasche gelassen. Er fingerte eine Fünfdollarnote hervor und überreichte sie dem Fahrer. »Stimmt so, Mister, der Rest ist für Sie.« »Vielen Dank, Sir«, überschlug sich der Fahrer fast. 47 �
Korner stieg aus. Er war zu Hause. Noch drei Stufen, eine Schlüsseldrehung und fünf Schritte hatte er vor sich, dann würde er vor seinem Bett stehen und sich, so wie er war, darauf niederlassen. * Gegen drei Uhr morgens erwachte Phil Korner. Er hatte zwar geschlafen, doch es war ein unruhiger Schlaf. Die Ereignisse der vergangenen Stunden waren im Traum noch mal an ihm vorübergezogen. Phil mußte sich eingestehen, daß er ziemlich leichtsinnig zu Werke gegangen war. Die Erkenntnis kam ziemlich spät. Jetzt hatte er seine Schrammen weg. Er erhob sich vom Bett und legte seinen Mantel ab. Dann ging er ins Bad. Beim Blick in den Spiegel durchzuckte es ihn. Getrocknetes Blut klebte an seinem Mundwinkel, seine Nase war zerkratzt. Die Hose konnte er ohne Bedenken wegwerfen, von seinem Mantel gar nicht zu sprechen. Phil drehte die Dusche an und entkleidete sich. Die heißen Wasserstrahlen waren eine Wohltat. Nach dem Bad nahm er einen doppelten Scotch und legte sich wieder ins Bett. Das Klingeln der Türglocke holte ihn aus dem Schlaf. Es war bereits hell. »Einen Moment, ich bin gleich da«, knurrte er müde. Phil öffnete die Tür. Es war David Warner. Wenig später saßen die beiden am Tisch und tranken Kaffee. Die Ereignisse der vergangenen Nacht waren schnell erzählt. Erst jetzt bemerkte David Phils zerschundenes Gesicht. Von der Nase zum Auge hin zeichnete sich eine bunt schillernde Spur ab. Zwar waren die Schwellungen über Nacht etwas zurückgegangen, aber trotzdem war das Gesicht noch in allen Farben unter48 �
laufen. »Mann, du siehst ja böse aus. Wie kommt man denn zu einer solchen Farbenpracht?« witzelte David. Phil quälte sich ein gekünsteltes Lächeln ab, ihm war im Moment nicht nach Scherzen zumute. David lenkte das Gesprächsthema inzwischen wieder auf den dienstlichen Weg. »Ich habe einige Neuigkeiten für dich. Mrs. Hudson hat das Sparbuch ihres Chefs gefunden, es ist kein Cent mehr drauf. Mr. Parker hat sein gesamtes Bargeld – fast zweihunderttausend Dollar – abgehoben, und dieses Geld ist spurlos verschwunden. Durch Rückfrage bei der Bank erhielt sie die Bestätigung, daß Mr. Parker einen Tag vor seinem Verschwinden das Geld abgeholt hat. Wir haben daraufhin die Bankkonten der anderen Opfer überprüfen lassen… die gleiche Geschichte wie bei Grossman, beide haben kurz vor ihrem Verschwinden oder ihrem Tod die Konten aufgelöst. In beiden Fällen handelte es sich um Beträge, die die Hunderttausend weit übersteigen.« »Aber irgendwo muß das Geld doch geblieben sein«, bemerkte Phil. »Wenn ich das wüßte, dann wären wir der Aufklärung dieses Falles schon ein gutes Stück näher«, erwiderte David. Sie waren jetzt an einem toten Punkt angelangt. * Carlos Alvarez verstand die Welt nicht mehr. Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf, daß ein Mensch so hundsgemein sein konnte. Er, der noch nie jemand Schaden zugefügt hatte, der sich die Hand abgehackt hätte, wenn er jemals auch nur einen Peso gestohlen oder unterschlagen hätte, ihn hatte man auf gemeinste Weise betrogen. Warum mußte er sich auch mit diesem Kerl einlassen? Woher 49 �
sollte er wissen, daß der feine Herr mit dem sicheren Auftreten eines Weltmannes ein skrupelloser Gauner war. Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. Zwanzig lange Jahre schwerster Arbeit hatte er auf sich genommen. An vielen Tagen war er mehr als fünfzehn Stunden auf den Beinen, aber das machte ihm nichts aus. Er hatte ja ein Ziel vor Augen. Geld verdienen für eine bessere Zukunft. In diesen Jahren nahm er viele Entbehrungen in Kauf. Es fehlte ihm einfach die Zeit, sich eine Frau zu suchen und eine Familie zu gründen. Sie wären doch die meiste Zeit allein gewesen. Wann hätte er sich schon um sie kümmern können? Jetzt wollte er das alles nachholen. Carlos hatte sich in diesen zwanzig Jahren ein kleines Vermögen zusammengespart. Zwar hatten die Jahre und die schwere Arbeit an ihm gezehrt, aber er fand, daß er noch immer eine recht passable Partie abgab. Er hatte seiner Heimat Argentinien den Rücken gekehrt und sich in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufgemacht. Auf dieses Land und seine Möglichkeiten hatte er seine ganze Hoffnung gesetzt. Warum mußte er sich gerade diese Stadt aussuchen, warum mußte ausgerechnet er diesem Hundesohn begegnen? Er hatte sich alles so schön ausgemalt. Ein Apartment wollte er kaufen, eventuell ein kleines Geschäft aufmachen und vor allem wollte er sich eine Frau suchen, bei der er sich geborgen fühlte. Er war erst sechsundvierzig, und so schlecht sah er nicht aus, daß ihn keine hätte nehmen wollen. Dieses Schwein hatte mit einem Schlag all seine Hoffnungen zunichte gemacht. Sein Geld – umgerechnet neunzigtausend Dollar – hatte er diesem Gauner in blindem Vertrauen gegeben. Jetzt war er es los. Alvarez hätte laut losheulen können. Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. 50 �
Carlos war am Morgen in New York angekommen. Seine wenigen Habseligkeiten hatte er in zwei Koffern untergebracht. Endlich war er in der Stadt, von der er so lange geträumt hatte. Dies war ein Grund zum Feiern. An diesem Abend wollte er sich mal so richtig austoben. Von seinem Hotel aus bestellte er ein Taxi. Während der Fahrt fragte Carlos den Fahrer, wo man etwas erleben könne. Der riet ihm zum Oldtimer. Mit fünfhundert Dollar in der Tasche konnte man sich schon ganz gut amüsieren. Carlos bestellte französischen Champagner, die Flasche zu dreißig Dollar. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er sich an dieses Getränk wagte, bisher kannte er Champagner nur vom Hörensagen. Eine herrlich prickelnde Flüssigkeit! Carlos Alvarez stürzte sie geradezu in sich hinein. Er blieb an diesem Abend nicht lange allein, denn ehe er sich versah, befand er sich in Gesellschaft zweier überaus reizvoller Damen, die ihn tatkräftig beim Konsum des köstlichen Getränkes unterstützten. Natürlich ging alles auf Alvarez’ Rechnung. Der Champagner hatte ihm die Zunge gelöst. Er hatte von seinem Geld und von seinen Plänen erzählt. Er hatte außer den beiden Damen noch einen interessierten Zuhörer gefunden. Es schien ein rechter Glückstag für Carlos zu sein. Der fremde Zuhörer hatte sich zu ihm gesellt. Sie unterhielten sich sehr gut. Carlos glaubte einen Freund gefunden zu haben, denn im weiteren Verlauf ihres Gespräches stellte sich heraus, daß dieser Mann ihm bei der Verwirklichung seiner Pläne eine große Hilfe sein würde. Er hatte ihm von sich aus angeboten, bei der Suche nach einem Apartment behilflich zu sein. Später hatte er Carlos dann in seinem Wagen zum Hotel gefahren und ihn auch noch auf sein Zimmer gebracht. Der Genuß des vielen Champagners hatte bei dem Argentinier deutliche Spuren 51 �
hinterlassen. Allein hätte er sein Hotel nie und nimmer gefunden. Daß die beiden Damen plötzlich verschwunden waren, kam ihm erst am nächsten Morgen zu Bewußtsein. Carlos war durch den Straßenlärm aufgewacht. Sein Schädel brummte. Vom Film des gestrigen Abends fehlte ihm ein ganzes Stück. Erst als es an seiner Zimmertür klopfte und sein Bekannter eintrat, kam ihm langsam die Erinnerung wieder. Nach dem Frühstück waren sie zu einem Apartmenthaus gefahren. Carlos war begeistert. Die Wohnung in der ersten Etage entsprach genau seinen Vorstellungen. Das Beste, genau um die Ecke – keine zwei Minuten entfernt – war ein leerstehender Ladenraum zu vermieten. Alvarez zögerte keinen Moment. Er legte sein Geld und seine Zukunft in die Hände seines Bekannten, der den Kauf des Apartments und die Mietung des Ladens für ihn erledigen wollte. Jetzt stand Carlos da wie ein begossener Pudel. Fünftausend Dollar waren alles, was ihm noch geblieben war. Von dem anderen hatte er nichts mehr gesehen und gehört. Der Argentinier war zu dem Apartmenthaus gefahren. Dort erfuhr er vom Hausmeister, daß das Apartment bereits seit drei Monaten vermietet war. Die Worte des Hausmeisters klangen ihm jetzt noch in den Ohren. »Da hat Sie einer ganz schön über’s Ohr gehauen, Mister!« Den Weg zum Ladenraum hatte Carlos sich gespart, er konnte sich denken, daß es ihm da nicht anders ergehen würde. Alvarez hatte sein Geld abgeschrieben. Achtundvierzig Stunden New York hatten gereicht, um ihn zu ruinieren. * Der traurige Mann mit dem südamerikanischen Einschlag ging � 52 �
die Broom Street in Lower Manhattan entlang. Kein Mensch nahm von ihm Notiz. Carlos Alvarez war mit seiner Kraft am Ende. Er hatte in den vergangenen Tagen halb New York durchgekämmt, war in Bars, Restaurants und Clubs gewesen, um diesen Kerl zu suchen. Es war eine letzte Hoffnung, an die Carlos sich klammerte, doch seine Bemühungen waren vergebens. Selbst im Oldtimer hatte er kein Glück. Niemand kannte einen Mann, zu dem die Beschreibung, die Carlos gegeben hatte, gepaßt hätte. Jetzt wollte der Argentinier nicht mehr. Er ging ohne Ziel die Straße entlang und ließ sich vom Strom der Menschen einfach mitziehen. Plötzlich blieb Carlos stehen. Der schwarze Lincoln, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte, nahm seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch. Spielten ihm seine Augen einen Streich? Carlos überlegte nicht lange. Er überquerte die Straße. Um den Verkehr und das Gehupe der Autofahrer kümmerte er sich einen Dreck. Er hatte nur ein Ziel vor Augen: den schwarzen Lincoln. Ein stilles Gebet, kaum hörbare Worte kamen über Carlos’ Lippen. »Heilige Madonna, bitte mach’, daß es dieser vermaledeite Wagen ist.« Er stand direkt vor der Limousine. Durch die bläulich getönten Scheiben sah er in das Innere des Wagens. Carlos begann zu zittern. Er mußte sich auf den Kotflügel aufstützen, um nicht der Schwäche seiner Beine nachzugeben. Es handelte sich tatsächlich um den Wagen seines vermeintlichen »Freundes«. Kein Zweifel, in dieser Luxuskarosse hatte Carlos vor vier oder fünf Tagen – er wußte es nicht mehr so genau – gesessen. Der Argentinier war hundertprozentig sicher. Die beiden goldenen Buchstaben B. B., die in das Armaturenbrett eingearbeitet waren, brachten ihm die Bestätigung. 53 �
In Alvarez stieg neue Hoffnung auf. Er brauchte nur auf den Fahrer des Lincoln zu warten und ihm zu folgen. Das Glück schien sich wieder an ihn zu erinnern. Aus sicherer Entfernung beobachtete Carlos das Fahrzeug. Ab und zu sah er auf seine Uhr. Die Zeit zog sich wie ein Kaugummi, dabei wartete er noch nicht mal eine Viertelstunde. Endlich war es soweit. Ein elegant gekleideter Mann stieg in den Wagen. Carlos war nicht sicher, ob es der Gesuchte war. Der Argentinier hielt ein Taxi an. »Folgen Sie dem schwarzen Wagen da vorn«, befahl er dem Fahrer. »Das wird bei diesem Verkehr nicht leicht sein«, kam der Einwand des Taxifahrers. »Sie werden das schon schaffen!« Carlos reichte dem Chauffeur eine Zehndollarnote. »Sie haben recht, Mister, ich schaffe es.« Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde. Sie hatten die City längst hinter sich gelassen. Jetzt befanden sie sich in einer ruhigeren Gegend. Keine Wolkenkratzer, keine Lichtreklamen, nur einige Villen mit parkähnlichen Vorgärten. In sicherer Entfernung folgten sie dem schwarzen Lincoln. Inzwischen war es dunkel geworden, aber auf Carlos’ Anweisung hin hatte der Taxifahrer darauf verzichtet, das Licht einzuschalten. Dem Fahrer kam das Benehmen seines Fahrgastes zwar ungewöhnlich vor, doch in Anbetracht solcher Trinkgelder ging er bereitwillig darauf ein. Die Stoplichter des Lincoln leuchteten plötzlich auf, der Wagen kam fast zum Stehen. Dann bog er nach rechts auf ein Grundstück ab und war im nächsten Moment verschwunden. Carlos bedeutete dem Taxifahrer zu halten. Er stieg aus und bezahlte. Die restlichen zweihundert bis dreihundert Yards, die es noch bis zu der Stelle waren, an der der Lincoln abgebogen 54 �
war, wollte Carlos zu Fuß gehen. Ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut, denn der Weg war nur schwach beleuchtet. Alvarez mußte seine Augen schon sehr anstrengen, um die Umrisse des einsam stehenden Hauses zu erfassen. Der Kies knirschte bei jedem Schritt unter seinen Sohlen. Er glaubte, einen unheimlichen Lärm zu machen. Einen Moment lang dachte er daran, umzukehren, doch dann waren seine Gedanken wieder bei seinem Geld. Zielstrebig ging er auf das Haus zu. Vor der Eingangspforte blieb er stehen. Die beiden Buchstaben B. B. an der Tür gaben ihm die Gewißheit, daß er an der richtigen Adresse war. Carlos zögerte noch einen Augenblick, dann drückte er den Klingelknopf. Wenig später wurde die Tür geöffnet. Ein breitschultriger Neger erschien im Türrahmen. »Sie wünschen, Mister?« »Ich hätte gern den Hausherrn gesprochen«, gab Carlos zur Antwort. »In welcher Angelegenheit?« »Das kann ich ihm nur selbst sagen.« »Bitte unseren Gast doch herein, Ramon, er wird sich da draußen vor der Tür sonst erkälten«, hörte Carlos eine Stimme sagen. Sie kam aus dem Innern des Hauses. Carlos kannte die Stimme. Ehe er sich versah, stand er in der großen Empfangshalle, der Neger hatte ihn mit sanfter Gewalt hereingezogen und die Tür geschlossen. »So sieht man sich wieder!« Aus der Stimme des Hausherrn klang Ironie, das Lächeln strahlte Überlegenheit aus. »Damit haben Sie wohl nicht gerechnet, Sie Betrüger. Ich bin hier, um mir mein Geld zu holen«, sagte Carlos. Er versuchte, Entschlossenheit in seine Worte zu legen, doch das mißlang ihm. Sein Gegenüber zeigte keinerlei Gefühlsregung. 55 �
»Sie hätten nicht hierher kommen sollen, eine wahre Meisterleistung, daß Sie mich gefunden haben, aber das ist jetzt nicht mehr so wichtig, wir werden die Sache schnell hinter uns bringen.« Carlos konnte den Sinn dieser Worte nicht richtig verstehen, aber er wußte, daß sein Leben in Gefahr war. Hier ging es nicht mehr um sein Geld, hier ging es um sein Leben. Warum mußte er die Sache auch allein durchziehen? Warum war er nicht wie jeder andere vernünftige Mensch zur Polizei gegangen? Die hätte ihm bestimmt geholfen, sein Geld wieder zu bekommen. Dann wäre dieser Kerl bestimmt schon längst hinter Schloß und Riegel. Starre Augen beobachteten den Argentinier. Seltsamerweise hatten sie auf Carlos keinerlei Einfluß. Angst überkam ihn. Hier ging etwas Unerklärliches vor sich. Er hatte nur noch einen Gedanken im Kopf, ungeschoren aus diesem verdammten Haus zu kommen. Aber wie? Sein Handeln wurde von Angst gelenkt. Er stürzte sich auf sein Gegenüber und schleuderte ihm mit voller Wucht die Faust ins Gesicht. Mit diesem plötzlichen Angriff hatte der Hausherr nicht gerechnet. Er wurde zurückgeschleudert und landete mit dem Rücken auf dem harten Steinboden. Es war offensichtlich ein Fehler, den unscheinbar wirkenden Argentinier zu unterschätzen. Carlos sah noch rechtzeitig die Schußwaffe in der Hand seines Gegners. Mit einem Tritt gegen dessen Handgelenk beförderte er die Pistole außer Reichweite. Dann stürzte er sich auf ihn. Seine klobigen Hände legten sich wie ein Schraubstock um den Hals des Gegners und erlaubten diesem nicht mehr den geringsten Atemzug. Carlos wollte den Mann nicht umbringen, er wollte nur heil herauskommen und zur Polizei gehen. Langsam lockerte er seinen Griff. Er ließ von seinem Kontra56 �
henten ab und wollte weglaufen. Sein Weg wurde jäh unterbrochen. Carlos hatte das Gefühl, vor einer unüberwindbaren Mauer zu stehen. Der Schlag des schwarzen Riesen kam ansatzlos. Es bestand nicht die geringste Chance, diesem Schlag auszuweichen. Wie vom Blitz getroffen fiel Alvarez zu Boden, dann war es Nacht um ihn. »Genug jetzt, Ramon, laß ihn leben! Ich habe mit ihm etwas Besonderes vor. Bevor dieser Hund stirbt, soll er erfahren, was Angst ist.« Gehorsam ließ der Neger von seinem Opfer ab. Er war sich seines Handelns nicht bewußt, denn sein Tun wurde nicht mehr von seinem Gehirn gesteuert. Er bekam seine Gedanken von einem fremden Gehirn übermittelt – dem Gehirn seines Herrn. Mit einem Ruck bohrte sich die Spitze einer Injektionsnadel in Alvarez’ Arm. * Greg Sanders saß an seinem Schreibtisch. Phil Korner und David Warner waren vor einer halben Stunde in seinem Büro erschienen und hatten ihm ihr Vorhaben mitgeteilt. Jetzt warteten sie auf die Antwort des Staatsanwaltes. Sanders dachte nach. Etwas an der Sache gefiel ihm nicht, und das konnte man ihm ansehen. »Wissen Sie eigentlich, was Sie da von mir verlangen, Mr. Warner?« »Ich weiß, daß wir in große Schwierigkeiten geraten können, aber nur mit diesem Durchsuchungsbefehl haben wir die Chance, den Machenschaften dieser Leute beizukommen. Ich bin vom Gelingen unserer Aktion überzeugt.« »Das reicht aber nicht, Lieutenant Warner. Wenn die Sache schief läuft, können Sie Ihre Koffer packen und die Stadt verlas57 �
sen. Wissen Sie denn überhaupt, wieviel Einfluß diese Leute besitzen?« »Wir haben keine Bedenken«, schaltete Phil sich ein. Daß es sich um ein äußerst riskantes Unternehmen handelte, wußte jeder der Beteiligten. Greg Sanders dachte über die möglichen Folgen nach: Nicht auszudenken, wenn David und Phils Vermutungen unbegründet blieben und der MAN CLUB wirklich sauber war, woran der Staatsanwalt keinen Moment zweifelte. David und Phil warfen sich hilflose Blicke zu. In all den Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte Sanders noch nie so lange gezögert, einen Durchsuchungsbefehl zu unterschreiben. Seine Haltung war verständlich, denn im Fall eines Mißerfolges würde er sich eine Menge Ärger aufladen. »In Gottes Namen, bringen Sie die Sache hinter sich!« Sanders nahm seinen Federhalter und unterschrieb das Papier. »Sie müssen meine Lage verstehen; gegen diese Leute kommen wir nicht an, wenn wir nicht eindeutig beweisen können, daß sie gegen die Gesetze dieses Staates verstoßen.« »Wir werden Sie nicht enttäuschen, Staatsanwalt!« David Warner nahm den Durchsuchungsbefehl vom Schreibtisch. Es konnte losgehen. * »Was? Auf freien Fuß setzen?« David tobte. »Tut mir leid, Anweisung von höchster Stelle, daran kann auch ich nichts ändern.« »Okay.« Wütend knallte David Warner den Hörer auf die Gabel. Das überlegene Grinsen in Buster Lakes Gesicht machte ihn nur noch wütender. Zu gern hätte er dem Arroganten eins auf die Schnauze gegeben. Wenn er etwas nicht leiden konnte, dann 58 �
war es die Art von diesem Lake, die Überheblichkeit, die er an den Tag legte. »Sie können gehen, Mister Lake.« »Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt. Auf Wiedersehen, Lieutenant!« Resignierend wandte sich David ab. Am liebsten hätte er den ganzen Kram hingeworfen. So also sah die sprichwörtliche Gerechtigkeit aus: Manipulation und Korruption. Eine saubere Gerechtigkeit in einer sauberen Stadt. Dabei war alles so glatt gelaufen… Punkt elf hatten sie an die Tür des MAN CLUB geklopft. Buster Lake war über den unangemeldeten Besuch sichtlich überrascht. Die Männer begannen sofort mit ihrer Arbeit. Jede Ecke und jeder Winkel wurde durchstöbert, doch ein Erfolg wollte sich nicht einstellen. Lake sah dem Treiben mit großer Gelassenheit zu, er schien sicher zu sein, daß die Polizisten ihre Suche bald einstellen würden und das Feld räumten. Sehr bald jedoch mußte er sehen, daß er sich getäuscht hatte. Als die Bibliothek in Angriff genommen wurde, wandelte sich seine anfängliche Gelassenheit in Nervosität. Für David und Phil war diese Nervosität ein sicheres Zeichen, daß sie sich auf dem richtigen Weg befanden. Warner zog Phil Korner beiseite und flüsterte ihm ein paar belanglose Worte zu, die Lake jedoch nicht verstand. Er bezweckte damit, den Geschäftsführer zu verwirren. Das Ganze nahm die Ausmaße eines Spiels an, das David aus seiner Kinderzeit kannte. Es ging darum, durch Fragen und Antworten einen bestimmten Gegenstand zu erraten. Buster Lake selbst war, ohne es zu wissen, mit von der Partie. Aufreizend langsam waren die Kripoleute dann zwischen den Regalen herumspaziert. Lake ging mit einigem Abstand hinter59 �
her und beobachtete mißtrauisch jede ihrer Handlungen. Nachdem der Geschäftsführer ihnen dann auch noch drohte, daß er sich bei ihrem Chef beschweren werde, sah David sich dem Ziel nahe. Des Rätsels Lösung lag hinter dem Wandregal. Phil hatte David darauf aufmerksam gemacht. Eine leichte, kaum sichtbare Kratzspur auf dem Parkettfußboden, die in etwa das Viertel eines Kreises beschrieb. Ein gegenseitiger Blick genügte, und die beiden Beamten wußten, daß sie das Gleiche dachten. Lake hatte inzwischen längst resigniert. Er wußte, daß sein Geheimnis nun keines mehr war. Phil hatte ihn nach dem Mechanismus zum Öffnen der Tür gefragt. Lake selbst hatte diesen Mechanismus dann betätigt. Wenn man den Buchtitel kannte, war die Sache ganz einfach. Die Buchattrappe hatte Lake leicht nach vorn gekippt. Dadurch setzte sich das Regal in Bewegung. Es drehte sich um 180 Grad und gab einen Geheimgang frei. Die Treppe führte nach unten in ein Kasino. David und Phil trauten ihren Augen nicht. Alles hatten sie erwartet, aber das… Sie standen mitten in einer Spielhölle. An drei Tischen wurde Roulette gespielt, an anderen wurde gepokert oder gewürfelt, und zwar mit Einsätzen, die ins Utopische gingen. Warner verständigte die Bundeskriminalpolizei, die den Laden dicht machte. Buster Lake hatte sich widerstandslos abführen lassen. Er war sicher, in Kürze wieder frei zu sein. Dies hatte er Phil und David ohne Umschweife angekündigt. Lake hatte recht behalten. Er ging als freier Mann zur Tür hinaus, und keiner konnte ihn daran hindern. »Alles umsonst!« Verbittert schlug Warner mit der Faust auf den Schreibtisch. Die ganze Arbeit der letzten Wochen hatte sie 60 �
keinen Schritt weitergebracht. Auch die Hoffnung, daß Lake ihnen den mysteriösen Umstand erklären konnte, warum es sich bei den Mordopfern ausschließlich um Mitglieder des Clubs handelte, mußten sie spätestens nach dem Verhör des Clubmanagers begraben. Diesmal hatte es den Anschein, als sollten Lieutenant Warner und Sergeant Korner vor einem unlösbaren Fall stehen. * Als Carlos Alvarez wieder zur Besinnung kam, hämmerte es in seinem Schädel. Der Schlag, den er erhalten hatte, entfaltete seine volle Wirkung. Carlos wußte nicht, wo er sich befand, jedenfalls in der Villa war er nicht mehr. Seine Augen hatten sich inzwischen an das Halbdunkel gewöhnt. Er wollte aufstehen, aber seine Beine knickten ein. Auf allen vieren kroch er über den Steinboden. Wahrscheinlich befand er sich in einem abbruchreifen Haus oder etwas ähnlichem, dem verfallenen Gemäuer nach zu schließen. Der Argentinier holte sein Taschentuch heraus und hielt es vor die Nase. Die Luft war kaum zu atmen. Plötzlich sah Alvarez, woher dieser Geruch kam. Der Boden vor ihm war mit Leichenteilen bedeckt. In einer Decke häuften sie sich. Direkt vor dem Argentinier lag ein Arm, der wie die anderen Teile schon in Verwesung übergegangen war. Um Carlos Alvarez herum begann sich plötzlich alles zu drehen. Das Ganze hatte den Anschein eines Alptraumes, aus dem es kein Erwachen gab. Alvarez drückte sich in eine Ecke, so weit wie nur möglich von diesen schaurigen Gebeinen weg. Er hatte die Fähigkeit, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden, verloren. Das alles hier ging weit über sein Vorstellungsvermögen. Es war einfach 61 �
zuviel für sein Gehirn. Er wollte schreien, aber es kam kein Laut über seine Lippen. Was sich jetzt vor seinen Augen abspielte, ließ ihn zur Salzsäule erstarren. Das mußte der vollkommene Wahnsinn sein. Langsam, aber unaufhaltsam kamen die Leichenteile auf ihn zugekrochen! Sie lösten sich aus ihrer starren Lage. Der Kopf ohne Augen, Arme und Hände, die sich ihm entgegenstreckten und von ihm Besitz ergreifen wollten! Carlos schlug die Hände vors Gesicht. Er konnte den grauenhaften Anblick keine Sekunde länger ertragen. Zusammengekauert saß er in der Ecke und wartete auf die Berührungen. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würden sie ihn erreicht haben. Der stechende Schmerz in seinem Fußgelenk trieb ihn hoch. Der Kopf hatte sich festgebissen. Dunkelrote Flüssigkeit lief aus seinem Hosenbein. Die Hände hatten sich an seinem Körper festgekrallt, sie kamen seiner Kehle immer näher. Wie toll schlug der Argentinier um sich. Das war ein letzter verzweifelter Versuch, sich aus der Umklammerung der lebenden Leichenteile zu befreien… Dann war alles vorbei. Alvarez sah an sich herab. Nichts war zu sehen von einem Kopf, der nach ihm biß, nichts von Händen und Armen, die nach ihm greifen wollten. Alles lag da, wo es auch vorher schon gelegen hatte. War alles nur ein böser Traum gewesen? Carlos vermochte es selbst nicht zu sagen. Er war jetzt nur noch von einem Gedanken besessen – nichts wie weg von diesem grausigen Ort. Sein Fuß schmerzte. Er sah die Ratten, die über den Fußboden huschten. Es waren große Tiere, einige mehr als dreißig Zentimeter lang. Wahrscheinlich hatte einer dieser Nager ihn für tot gehalten und angeknabbert. Carlos stolperte umher. Er suchte einen Weg, der ihn nach 62 �
draußen führte. Steine und Bretter, die hier lose herumlagen, und die mehr als schlechten Lichtverhältnisse erschwerten seine Bemühungen. Ein leichter Luftzug schlug Carlos entgegen. Endlich! Dem brauchte er nur noch zu folgen. Wenn er erst mal im Freien sein würde, dann war das Schlimmste hinter ihm. Er wollte die von Abgasen verpestete Luft einatmen, die im Vergleich zu diesem Geruch hier dem Duft von tausend Rosen glich. Der Luftzug wurde stärker. Plötzlich stand der Argentinier vor einer morschen Holztür, die zu beseitigen, einzutreten oder einfach zu öffnen eine Kleinigkeit gewesen wäre, wenn nicht der Riese davor gestanden hätte. Wie vom Blitz getroffen blieb Carlos stehen. Jeden Moment rechnete er damit, daß der schwarze Koloß sich auf ihn stürzen würde, doch nichts geschah. Der Schwarze stand nur einfach da, seine muskulösen Arme über der Brust verschränkt. Seine Augen blickten starr geradeaus. Er wirkte wie ein Roboter, der darauf programmiert war, die Tür zu bewachen und keinen Menschen hinein oder heraus zu lassen. Nach einiger Zeit des Wartens ging Carlos bis auf wenige Schritte an den Neger heran. Mit mechanischen Bewegungen breitete der die Arme aus, um so unmißverständlich klar zu machen, daß er keinen Zoll von seinem Platz weichen würde. Carlos überlegte. Solange er dem Neger nicht zu nahe kam, hatte er von diesem nichts zu fürchten. Andererseits – wenn er nach draußen wollte, dann mußte er an diesem Koloß vorbei. Offensichtlich war die Tür die einzige Möglichkeit, in die Freiheit zu gelangen. Auf einen Kampf konnte er sich nicht einlassen, der Fleischberg hätte ihn ohne große Anstrengung zerquetscht. Plötzlich kam Carlos Alvarez eine Idee. Er holte seine Streichhölzer aus der Hosentasche. 63 �
Die gelbliche Flamme des Zündholzes züngelte zischend auf und erhellte das Halbdunkel für ein paar Sekunden. Die abwehrende Handbewegung des Negers war genau die Reaktion, die Carlos erhofft hatte. Alvarez zündete erneut ein Streichholz an. Langsam ging er auf sein Gegenüber zu. Er hielt ihm das Streichholz direkt vor die Nase. Ängstlich wich der Riese zur Seite, stand aber sofort wieder auf seinem Platz, als das Zündholz herunterbrennt war. In seinen Taschen kramte Carlos nach allem Brennbaren, was er bei sich hatte. Das Päckchen Papiertaschentücher war genau das Richtige. Zwischen den herumliegenden Gegenständen fand er ein Lattenstück von etwa vierzig bis fünfzig Zentimeter Länge. Er faltete die Papiertücher auseinander und wickelte sie um das eine Ende des Lattenstücks. Mit einem verrosteten Stück Draht, das er um die Tücher band, gab er seinem Werk den nötigen Halt. Die Fackel war fertig. Carlos zündete sie an und ging auf den Neger zu. Dann trieb er ihn vor sich her, bis er ihn in einer Ecke hatte. Der schwarze Mann leistete keinen Widerstand, zu groß schien seine Angst vor dem Feuer zu sein. Alvarez legte daraufhin die Fackel vor seinem Gegenüber auf den Boden. Dann entfernte er sich langsam. Unter den Fußtritten des Argentiniers gab die morsche Holztür nach. * Der Mann in dem heruntergekommenen Anzug betrat gerade das New York Police Department in der Mac Dougal Street. Der Wachhabende hielt ihn im ersten Moment für einen Penner. Das sollte sich im Verlauf des folgenden Gespräches jedoch schnell 64 �
ändern. »Sie müssen mir helfen, Señor, man will mich ermorden!« Carlos Alvarez war völlig außer Atem. Er war den ganzen Weg gerannt. Er wußte nicht, wie weit und wie lange, aber eines wußte er. Sehr lange hätte er nicht mehr gekonnt. Als er dann die Polizeiwache erblickte, war das eine Erlösung für ihn. Er war in Sicherheit. »Langsam, Mister, setzen Sie sich erst mal und erholen Sie sich«, gab sich der Wachhabende Mühe, den Argentinier zu beruhigen. Er ging zum Automaten, nahm einen Becher und füllte heißen Kaffee ein. Den reichte er dem erschöpften Mann auf dem Stuhl. Carlos bedankte sich. Das Getränk war genau die richtige Medizin für ihn. »Na, geht es wieder?« erkundigte sich der Beamte. »Si, Señor, danke für den Kaffee.« Nachdem Carlos mit seinem Bericht am Ende war, nahm der Polizist den Telefonhörer von der Gabel. Für diesen Fall war eine andere Abteilung zuständig. Am anderen Ende der Leitung meldete sich David Warner, der Leiter der New Yorker Spezialeinheit, die für die Lösung außergewöhnlicher Mordfälle verantwortlich zeichnete. * Fünfundvierzig Minuten später waren David Warner und Phil Korner in der Mac Dougal Street. Ein zweites Mal mußte Carlos Alvarez seine Erlebnisse der vergangenen Stunden erzählten. »He, Phil, versuch’ doch mal, ob du Dr. Miles erreichen kannst«, rief David seinem Partner zu, der gerade den Wachhabenden befragte. »Der wird wohl schon im Bett liegen«, gab Phil zurück. 65 �
»Dann wirf ihn heraus. Können wir vielleicht jetzt schlafen?« »Okay, schon gut.« Phil wählte die Nummer des Doktors. Eine verschlafene Stimme drang aus der Muschel an Phils Ohr. »Tut mir leid, Doc, wir brauchen Ihre Hilfe. Kommen Sie bitte zum Department in der Mac Dougal Street!« »Macht nichts«, brummte Dr. Miles, »ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.« Als Miles das Department betrat, ging Warner auf ihn zu. Mit wenigen Worten erklärte der Lieutenant dem Arzt die Situation. Der Doktor ging mit Alvarez in ein Hinterzimmer und untersuchte ihn. »Lieutenant, Sergeant, bitte kommen Sie doch mal herein!« Dr. Miles stand im Türrahmen und untermauerte seine Bitte mit einer einladenden Handbewegung. »Nun, wie steht’s, Doc?« wollte David wissen. »Ihr Vermutung mit der Hypnose trifft zwar nicht zu, aber der Gedanke war gar nicht so abwegig. Sehen Sie sich das mal an.« Der Arzt hob den Arm des Patienten an. Die Innenseite des Unterarmes war blutunterlaufen, man konnte die einzelnen Äderchen genau erkennen. Der Einstich der Injektionsnadel war ebenfalls noch deutlich zu sehen. »Wahrscheinlich wurde dem Mann eine Droge gespritzt, ich bin fast davon überzeugt, denn alles spricht dafür. Durch die Droge wurden die Halluzinationen hervorgerufen, die den armen Kerl fast an den Rand des Wahnsinns getrieben haben. Ich muß ihn zur weiteren Überwachung in ein Krankenhaus einweisen.« »Aber wie kommt es dann, daß er die ganze Sache überhaupt überstanden hat?« wollte David wissen. »Das weiß ich auch nicht so genau«, erwiderte Dr. Miles. »Ich kann es mir nur so vorstellen: Entweder der Mann spricht nicht voll auf die Droge an, oder – und das halte ich für wahrscheinli66 �
cher – die Dosis war zu knapp bemessen. Dem Mörder ist ein Fehler unterlaufen, denn jetzt haben wir einen Augenzeugen.« »Kann es nicht sein, daß die zu knapp bemessene Dosis Absicht war? Die Möglichkeit besteht doch?« Dr. Miles winkte ab. »Meiner Meinung nach haben wir es mit einem Verrückten zu tun, dem es Freude bereitet, seine Opfer zu quälen, bevor er sie umbringt.« »Da könnte was dran sein«, meinte David Warner. * »Du Narr, läßt diesen Bastard einfach entweichen!« Dr. Benjamin Berger ging gereizt in dem Raum mit den kahlen Wänden auf und ab. Nur zu genau konnte er sich ausmalen, welche Folgen diese unvorhergesehene Panne nach sich ziehen würde. Allerdings kam er nicht umhin, sich einen gewissen Teil der Schuld selbst anzulasten. Er hatte die Widerstandskraft des Argentiniers gehörig unterschätzt und die Dosis deshalb reduziert. Ramon stand eingeschüchtert in einer Ecke des Raumes und wagte sich nicht zu rühren. So wütend hatte der Schwarze seinen Herrn noch nie erlebt. Die schwere Eisentür flog krachend zu. Hier drin konnte der Mann keinen Schaden mehr anrichten. Dr. Berger würde ihn erst später wieder herauslassen, wenn er auf seine Hilfe angewiesen war. Der Psychiater ging in seine Praxis und setzte sich auf die Bank, die eigentlich für Patienten gedacht war. Nervös kaute er an seinen Fingernägeln. Seine Augen blickten ins Leere. Er war mit sich und seinen Gedanken allein. Konnte man ihn für seine Anwandlungen verantwortlich machen? Nein, gestimmt nicht! Die anderen hatten ihn dazu getrie67 �
ben. Er hatte Großes geschaffen, sensationelle Novitäten auf dem Gebiet der Psychiatrie. Sie hatten ihn verkannt. Ihn, den erfolgreichen Psychiater, das Genie! Er hatte es ihnen zu erklären versucht, doch sie hatten ihm gar nicht zugehört. Statt dessen hatten sie ihm den Rücken gekehrt und waren zu den Kollegen übergelaufen. Kollegen, pah, Stümper und Scharlatane – das war genau die richtige Bezeichnung für diese Verbrecher. Der Patientenrückgang war in so kurzer Zeit nicht zu verkraften. Sie glaubten, er benutze sie als Versuchsobjekte, dabei sollten seine Erkenntnisse, die er durch seine neuartigen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gewann, nur dem Wohl der Menschheit dienen. Er hatte dann viel Zeit für den Alkohol und das Glücksspiel gehabt. Hauptsächlich zog ihn das Glücksspiel an, das aber in seinen Augen diesen Namen völlig zu Unrecht trug, denn von Glück im Spiel konnte keine Rede sein. Zu dieser Zeit hatte er dann auch zum ersten Mal dieses unwiderstehliche Gefühl. Ein Schauer angenehmer Art lief ihm bei diesem Gedanken über den Rücken. Er verband das Angenehme mit dem Nützlichen. War es seine Schuld, daß die Dinge diesen Verlauf nahmen? Nein, er war sich ganz gewiß keiner Schuld bewußt. Die anderen waren die Schuldigen. Die Patienten, die ihm kein Vertrauen schenkten und ihn im Stich ließen, und die lieben Kollegen, die seine abtrünnigen Patienten in ihrer falschen Meinung noch bestärkten. Die hatten mehr dabei die prallgefüllten Brieftaschen ihrer »Opfer« im Sinn als deren baldmögliche Genesung, sie alle waren schuldig. Ein irres Grinsen machte sich in Bergers Gesicht breit. Man würde ihm bald auf die Schliche kommen. Vielleicht wußte man in diesem Augenblick schon über sein Doppelleben Bescheid. Vielleicht würde noch heute die Polizei bei ihm anklopfen…
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*
David Warner saß vor seinem Schreibtisch. Gerade zündete er mit dem bis zum Filter heruntergerauchten Zigarettenstummel einen neuen Glimmstengel an. Es war bereits die elfte Zigarette innerhalb der letzten zwei Stunden, die der Lieutenant rauchte. Es wurmte ihn, daß er hier tatenlos im Büro sitzen mußte, während draußen eine Menge Arbeit auf ihn wartete. Dabei wäre alles so einfach gewesen, wenn der Chefarzt des St. Jones Krankenhauses nicht jeden Besuch bei seinem Patienten Carlos Alvarez untersagt hätte. David Warner konnte im Moment nichts anderes tun, als auf das Okay des Chefarztes zur Befragung zu warten. Dies allerdings konnte noch eine Zeit dauern, denn so harmlos wie die Sache zu Anfang ausgesehen hatte, schien sie dann doch wieder nicht zu sein. Die Droge, die Carlos gespritzt wurde, erzeugte eine höchst unangenehme Nebenwirkung. Der Zustand von Carlos Alvarez verschlechterte sich von Stunde zu Stunde. Aus unerklärlichen Gründen starben die Gehirnzellen des Argentiniers langsam, aber sicher ab. Es konnte nur noch eine Frage von Tagen, wenn nicht sogar von Stunden sein, bis der Südamerikaner sein Gedächtnis verlor oder gänzlich verblödete. Es war zum Verrücktwerden. Verärgert schlug Warner mit der Faust auf den Tisch. In dieser Stadt lebte ein Verrückter, der sich einen Spaß daraus machte, seine Mitmenschen ins Jenseits zu befördern. Das tat er auf so abscheuliche Art, daß es selbst hartgesottenen Polizisten wie David und Phil Schauer über den Rücken jagte. Keiner konnte dieses abartig veranlagte Subjekt daran hindern. Was jedoch das Schlimmste war – Warner hatte jetzt einen Mann, der ihn zu dem Mörder führen konnte, aber er kam an diesen Mann einfach nicht heran. Im Augenblick war David Warner an einem Punkt angelangt, 69 �
an dem er seinen Beruf verwünschte. Als am späten Nachmittag noch immer keine Nachricht aus dem Krankenhaus eingetroffen war, faßte der Lieutenant den Entschluß, hinzufahren. Er nahm seinen Mantel vom Kleiderhaken und verließ das Revier. Für Phil ließ er eine Nachricht zurück, daß er spätestens gegen Abend wieder da sei. Fünfundvierzig Minuten später war David Warner im Krankenhaus. Er ging zur Pforte und fragte nach Alvarez. Mit dem Lift fuhr der Lieutenant in den dritten Stock. Auf dem Gang kam ihm der Chefarzt entgegen. David erkannte schon von weitem die abwehrende Handbewegung des Mannes im weißen Kittel. »Tut mir leid, ich kann es nicht verantworten, daß Sie den Mann mit Ihren Fragen belästigen. Ich gebe ihm noch achtundvierzig Stunden – im Höchstfall eine Woche, lassen Sie diesen armen Teufel in den letzten Stunden seines Lebens in Ruhe.« »Ich muß Mr. Alvarez ein paar wichtige Fragen stellen, die seine Kraft sicher nicht überbeanspruchen werden. Dieser Mann da drin ist meine einzige Chance«, entgegnete David. Der Weißbekittelte schüttelte nur den Kopf. Er schien für Davids Lage nicht das geringste Verständnis zu haben. Warner startete einen erneuten Versuch. Diesmal hatte er seine Stimme allerdings um einige Phon verstärkt. »Lieber Doc«, versuchte er seinen Worten trotz der inneren Aufregung die nötige Ruhe zu verleihen, »ich habe die undankbare Aufgabe, einen Verrückten zur Strecke zu bringen. Ich bin fest entschlossen, mich durch nichts davon abbringen zu lassen. In einem dieser Zimmer liegt ein Mann, der diesem Mörder nur mit Mühe und Not entkam. Er alleine kann mich zu ihm führen, und Sie reden von nichts anderem, als diesen armen Kerl in Ruhe sterben zu lassen. Hier geht es nicht darum, einen Mann in Ruhe sterben zu lassen, hier geht es jetzt vielmehr darum, daß 70 �
die Menschen dieser Stadt – zu denen auch Sie gehören – in Ruhe leben können. Dafür bin ich zuständig. Wer sagt Ihnen, Doc, daß Sie nicht das nächste Opfer des Verrückten sind?« Davids Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Des Doktors starre Haltung in bezug auf seinen Patienten war gewichen. Er schien einen inneren Kampf mit sich zu führen. Nach ein paar Minuten des Schweigens sagte er dann plötzlich: »Sie haben zehn Minuten, Lieutenant! Das Verständnis, von dem Sie sprechen, müssen Sie dann auch für meine Lage aufbringen.« »Danke, Doc, ich werde es so kurz wie möglich machen.« Warner betrat das Zimmer mit der Nummer 391. Alvarez lag in einem weißen Bett. Er starrte in das kleine tragbare Fernsehgerät, das in etwa drei Metern Entfernung auf einem Tisch stand. Beim Anblick des Argentiniers war es Warner fast unvorstellbar, daß die Lebensstunden des Bettlägerigen so knapp begrenzt sein sollten. Carlos machte einen überaus gesunden Eindruck. Sein Aussehen stellte sich jedoch als trügerische Fassade heraus, wie David Warner wenig später erfahren sollte. Der Lieutenant schaltete das Fernsehgerät ab. Zu seiner Überraschung zeigte Alvarez nicht die geringste Regung. »Kennen Sie mich noch, Señor Alvarez?« fragte er den Argentinier. Der lächelte und nickte geistesabwesend. Warner wußte sofort, daß er behutsam vorgehen mußte. Gezielt stellte er seine Fragen, doch Carlos antwortete nicht. Er lag nur da und lächelte. Es schien zwecklos zu sein. Resignierend wollte David das Zimmer verlassen, denn dieser Mann konnte ihm nicht mehr helfen. Der Lieutenant wandte sich ab. Die kühle Hand des Kranken faßte nach seinem Ärmel und hielt ihn zurück. Carlos sah dem Polizeibeamten fest in die Augen, als wolle er etwas ergründen. Dann lockerte er seinen Griff. 71 �
Er zog die Schublade des neben dem Bett stehenden Schränkchens auf und holte eine Handvoll bekritzelter DIN A-4-Seiten hervor. Diese reichte er David. Die Motive, die darauf zu sehen waren, zeigten immer das Gleiche: Zwei große B und ein großes, schwarzes Auto, die zusammen von einem Kreis eingeschlossen waren. Das Ganze war mit kindlich naiven Strichen zu Papier gebracht worden. David sah sich die Kritzeleien an, doch er erblickte vorläufig noch keinen Sinn darin. »Señor«, hörte er die schwache Stimme des Argentiniers. David blickte auf. Carlos deutete auf das Auto. »Auto heißt wie Präsident, Señor, Lincoln.« »Lincoln?« fragte David. »Si, richtig, Lincoln.« Ermattet ließ Carlos sich in die Kissen fallen. Das Sprechen hatte ihn zu sehr angestrengt. Der Chefarzt gab dem Lieutenant ein Zeichen. Gemeinsam verließen sie das Zimmer. »Hat er das gemalt?« wollte David wissen. »Ja«, bestätigte der Arzt. »Er hat kurz nach seiner Einlieferung Papier und Bleistift verlangt und mit dem Malen begonnen. Ich habe schon eine Menge davon weggeworfen, war ja doch immer das Gleiche. Helfen die Blätter Ihnen weiter?« »Ich bin fest davon überzeugt, Doc«, schloß David Warner, dann verließ er das Krankenhaus. * Die Überprüfung ungenauer und widersprüchlicher Angaben von Zeugen, die Suche nach bestimmten Personen, die durch ihre Aussage zur Klärung eines Falles beitragen könnten – zum Beispiel einen unter fünfundvierzigtausend New Yorker Taxi72 �
fahrern ausfindig zu machen –, das alles sind unerläßliche Arbeiten, die einen Polizisten von Zeit zu Zeit die Frage stellen lassen, warum er sich gerade diesen Beruf ausgesucht hatte. Unter den Mitarbeitern von Warners Spezialabteilung gab es im Moment sicher mehrere Angehörige, die sich diese oder ähnliche Fragen stellten. Die Fahndung lief auf Hochtouren. Keiner von Davids Mitarbeitern – er selbst und Phil Korner eingeschlossen – hatte in den letzten sechsunddreißig Stunden geschlafen. Der Dienst ging rund um die Uhr. Halb New York wurde auf den Kopf gestellt. David Warner und Phil Korner selbst hatten sich noch mal zum Department in der Mac Dougal Street bemüht und den Polizisten nach Einzelheiten befragt. Dabei kam zur Sprache, daß Alvarez in der Nähe der Plaza ein Taxi bestiegen hatte und der schwarzen Limousine gefolgt war. Für Phil und David war dies eine wichtige Neuigkeit, die Carlos ihnen vorenthalten hatte. Warner ließ daraufhin sämtliche Taxistandorte rund um die Plaza von seinen Leuten abklappern, in der Hoffnung, den richtigen Mann dort zu finden. Natürlich bestand auch die Möglichkeit, daß es sich um ein Taxi aus einem anderen Bezirk handelte, dann war die Sache wohl ziemlich aussichtslos. Das Glück stand auf Davids Seite. An einem Taxistand in der Fifth Avenue machten seine Männer den betreffenden Fahrer ausfindig. Die präzisen Angaben des Fahrers stellten sich für die Ermittlungen als Meilensteine nach vorn heraus. Er konnte sich noch genau an die Tour und den Fahrgast – einen Ausländer – erinnern. Schließlich sind Verfolgungsfahrten auch nicht alltäglich. Auch wo sein Fahrgast ausgestiegen war, wußte er noch. Was jedoch für David das Wichtigste war, der Taxifahrer bestätigte ihm, daß es sich bei dem Wagen, den er verfolgt hatte, um einen 73 �
schwarzen Lincoln handelte. Das erleichterte die Arbeit der Männer, denn selbst in einer Stadt wie New York fährt nicht jeder zweite einen Lincoln. Die Suche beschränkte sich daher auf schwarze Lincoln-Limousinen mit New Yorker Kennzeichen. Von den vierzehn gemeldeten wurden drei Lincolnfahrer ausgeklammert. Diese galten für David als heiße Kandidaten. Der erste war ein Immobilienmakler, dann eine Beverly Brown und ein bekannter Psychiater – Benjamin Berger. Natürlich handelte es sich bei den Dreien um unbescholtene Leute, denn keiner war bisher mit den Gesetzen in Konflikt geraten. David hatte auch nichts anderes erwartet. Den entscheidenden Hinweis erhielten sie im MAN CLUB. David war trotz allem noch mal zu Buster Lake gegangen. In der Mitgliederkartei hatte er dann gefunden, was er zu finden gehofft hatte. Unter B fand er den Namen Benjamin Berger… * Die Nachricht kam für Warner nicht überraschend. Alvarez war in der vergangenen Nacht gestorben. Davids einziger Belastungszeuge war nicht mehr. Zwar waren die Indizien, die er gegen Dr. Berger gesammelt hatte, erdrückend, aber mit einem Augenzeugen im Rücken wäre ihm erheblich wohler gewesen. »Wir nehmen diesen feinen Doktor einfach hops und quetschen ihn so lange aus, bis er mit der Wahrheit herausrückt«, forderte Phil. Er ballte eine Hand zur Faust und drückte sie mit der anderen Hand, um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen. David schüttelte den Kopf. »Vor allem dürfen wir nichts überstürzen. Jeder unbedachte Schritt wäre nur von Nachteil für unser Vorhaben.« 74 �
»Willst du vielleicht warten, bis der Vogel ausfliegt? Der braucht doch nur eins und eins zusammenzuzählen, um zu wissen, daß wir ihm auf den Fersen sind.« Phil hatte seine Stimme erhoben. »Entschuldige, die Herumsitzerei macht mich verrückt.« »Glaubst du, mir geht es anders? Hab’ noch ein paar Stunden Geduld, ich will noch solange warten, bis Morelli kommt, er wollte spätestens um sieben zurück sein.« »Was hat Morelli damit zu tun?« wollte Phil wissen. »Ich habe ihn auf diesen Berger angesetzt.« Korner sah David fragend an, er wußte nicht, was das für einen Sinn ergeben sollte. »… es ist ein Kampf zwischen mir und meinem Gewissen, ich brauche hundertprozentige Klarheit.« »Verstehe«, sagte Phil. Er bemühte sich ruhig zu bleiben. Als Tom Morelli um acht immer noch nicht zurück war, machten David und Phil sich auf den Weg. Sie sprachen kein Wort, aber jeder wußte, was der andere dachte. Beide hatten das gleich ungute Gefühl in der Magengegend. Daß Detektiv Morelli noch nicht zurück war, bedeutete bestimmt nichts Gutes. Phil parkte den Wagen etwa zweihundert Meter von dem villenähnlichen Haus entfernt. Beide stiegen aus und gingen den Rest des Weges zu Fuß. Knirschend gab der etwa zwanzig Zentimeter hoch liegende Schnee unter jedem ihrer Schritte nach. David und Phil glaubten einen Riesenlärm zu veranstalten, denn die Ruhe, die in dieser fast einsamen Gegend herrschte, paßte nicht so recht in das Bild einer Großstadt. Sie standen vor dem eisernen Gitterzaun, der das Haus umschloß und ungebetene Gäste vor einem Eindringen abhielt. Zur Verwunderung der beiden Beamten stand das Tor weit offen. Tiefe Reifenspuren, die deutlich im Schnee zu sehen waren, ließen darauf schließen, daß kurze Zeit zuvor ein Fahrzeug hinein75 �
oder herausgefahren war. Wahrscheinlich stand aus diesem Grund das Tor offen. Phil und David überlegten nicht lange. Sie schlichen sich hinein. Nach etwa fünf Schritten vernahmen sie ein surrendes Geräusch. Ohne sich umzudrehen, wußten beide, was das zu bedeuten hatte. Das Tor war zu. Jetzt gab es nur noch den Weg nach vorn, denn der Zaun war so gut wie unüberwindbar – jedenfalls ohne entsprechende Hilfsmittel. »Glaubst du, man erwartet uns?« fragte Phil. »Sieht ganz danach aus«, lautete Davids kurze Antwort. Dabei kam ihm plötzlich der Gedanke, welch hervorragende Zielscheibe sie für ihren Gegner abgaben, denn es war Vollmond, und der Schnee tat ein übriges dazu. Deshalb spornte David Phil an, einen Gang zuzulegen, um in den sicheren Schatten des Hauses zu kommen. »Was willst du unternehmen, David?« »Das Beste wird sein, wenn wir uns trennen. Ich glaube, unser Gastgeber weiß ganz genau, daß wir zu ihm wollen. Ich gehe der Reifenspur nach. Versuch du inzwischen, irgendwie ins Haus zu gelangen.« »Und wie soll ich das machen?« Phil sah David überrascht an. »Was hältst du davon, wenn du einfach klingelst?« »Okay, dann mal rein ins Vergnügen.« Phil wollte gerade zur Tür gehen, doch David hielt ihn am Mantelärmel fest. »Sieh mal!« Warner deutete mit der Hand zur Garage hinüber. Sie stand offen. Undeutlich waren die Umrisse eines Autos zu erkennen. Die beiden Kripoleute gingen hinüber. »Ein Lincoln, schöner Schlitten.« Phil ging um den Wagen herum und sah ihn von allen Seiten an. Die Türen waren nicht abgeschlossen. Phil öffnete die Fahrertür, die Innenbeleuchtung des Wagens erhellte ein wenig den dunklen Raum. 76 �
Die beiden goldenen B, die in das Armaturenbrett eingelassen waren, stachen dem Sergeant sofort ins Auge. Kein Zweifel, dies war der Wagen, den Alvarez auf seinen Malereien immer wieder gezeigt hatte. »He, Phil, komm mal her!« David stand vor dem Kofferraum. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe den Boden ab. Rote Punkte bildeten eine unübersehbare Spur. »Das könnte Blut sein«, bemerkte Phil. »Es ist Blut«, erwiderte David. »Hier, am Kofferraumdeckel auch.« Sie gingen der Spur nach, die vor einer eisernen Tür endete. David nahm an, daß man durch diese Tür in das Innere des Hauses gelangen konnte. Er versuchte sie zu öffnen, doch ohne Erfolg. Die Tür war verschlossen. »Los, raus hier!« schrie Phil. Das war das gleiche surrende Geräusch wie vorhin, als sie das Grundstück betraten. Mit großen Augen sah er, wie die Garagentür sich senkte. David war so mit der Blutspur beschäftigt, daß er nichts bemerkt hatte. Die Tür war jetzt schon zur Hälfte zu. David und Phil stürmten los. Dabei standen sie sich gegenseitig im Weg, denn der Zwischenraum von der Garagenwand zum Wagen war gering. Unaufhaltsam senkte sich die Tür. Mehr als ein schmaler Spalt – etwa zwei, drei Fuß breit – war es nicht, dann waren sie eingeschlossen. Die beiden stemmten sich mit ihrer ganzen Kraft dagegen. Ihre Mühe war vergebens. Sie saßen in der Falle. »Schöner Mist!« fluchte David und trat mit dem Absatz gegen das Garagentor. »Ich möchte wissen, was dieser Verrückte damit bezweckt, glaubst du, daß er uns…« Phil Korner unterbrach sich mitten im Satz. »… umbringen wird?« vervollständigte David. »Vorerst bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten. Ich weiß zwar nicht, 77 �
was er mit uns vorhat, aber daß er irgendeine Schweinerei mit uns treibt, kann ich mir an meinen zehn Fingern abzählen.« David und Phil brauchten nicht lange zu warten. Langsam erhellte sich die Garage. Von irgendwoher ertönte eine Stimme. »Nun, wie gefällt es Ihnen? Ich hatte Sie für etwas klüger gehalten.« Schallendes Gelächter folgte. Die beiden Polizisten sahen sich um und versuchten zu ergründen, von woher die Stimme kam. Es gab eigentlich nur eine Möglichkeit – der Luftschacht! Das Gitter saß neben der Eisentür, direkt unter der Decke. »Was bezwecken Sie mit diesem Theater?« versuchte David Warner die unbekannte Stimme in ein Gespräch zu verwickeln. Er wollte herausfinden, was man mit ihm und Phil vorhatte. »Das werden Sie gleich sehen. In spätestens fünfzehn Minuten sind Sie und Ihr Freund tot!« David verspürte zum erstenmal in seinem Leben so etwas wie Angst. Er wußte, daß sie es mit einem Verrückten zu tun hatten, der keine Sekunde zögern würde, seine Drohung wahrzumachen. Allerdings hatte er gelernt, seine Gefühle zu unterdrücken und nicht in Panik zu geraten. Auch Phil ging es nicht anders. Fieberhaft überlegten die beiden, wie sie aus ihrem Gefängnis entkämen. Ein Zischen kündigte den Anschlag auf ihr Leben an. Dünne Rauchschwaden zogen aus dem Lüftungsschacht in die Garage. »Gift! Dieses Schwein will uns vergiften«, fluchte Korner und deutete auf das Lüftungsgitter. Es bedurfte nicht vieler Worte zwischen den Polizisten. Sie zogen ihre Taschentücher heraus und preßten sie gegen Mund und Nase. David zog seine Smith & Wesson aus der Schulterhalfter und gab gezielte Schüsse rund um das Türschloß ab. Es hatte wenig Zweck. Zwar hinterließen die Geschosse ihre Spuren, 78 �
doch das Türschloß hielt. Warner deutete auf den Kofferraum des Lincoln. Phil wußte sofort Bescheid. Er durchsuchte den Kofferraum nach Werkzeug. Die Luft zum Atmen wurde merklich dünner. Ein Schraubenzieher flog David zu. Der Lieutenant verlor keine Sekunde. Sofort begann er, die Schrauben um den Türgriff zu lösen. Klirrend fiel dieser wenig später zu Boden. Der Griff ließ sich abziehen. Hinter dem Griffdeckel kam das Schloß zum Vorschein. Mit einem Hammer schlug Phil auf den Schraubenzieher, den David in die Vierkantöffnung hielt. Der Griff auf der anderen Türseite gab nach. David drehte den Schraubenzieher. Das Einschnappschloß sprang auf, keine Minute zu früh. Sie stürmten die Treppe empor. Ein weiteres Hindernis baute sich vor ihnen auf. Die Tür, die zu den Wohnräumen führte, war ebenfalls abgesperrt. Die leichte Holztür erwies sich jedoch schnell als ein nahezu mühelos zu nehmendes Hindernis. Mit einem gemeinsamen, kräftigen Ruck sprengten David und Phil die Tür aus den Angeln. Der Raum, in dem sie sich befanden, war unbeleuchtet. Der Vollmond warf sein Licht durch die großen Fenster und bewirkte, daß sie nicht in völliger Dunkelheit standen. Die so ausgeleuchteten Stellen verliehen dem Raum ein gespenstisches Halbdunkel. David benutzte zusätzlich seine Spezialtaschenlampe, die in einen Kugelschreiber eingebaut war, so daß das Licht einigermaßen ausreichte. Das kaum wahrnehmbare Knarren einer Tür veranlaßte David, seine Taschenlampe zu löschen. Gleichzeitig bemerkten die Polizisten den Lichtstrahl, der durch eine spaltbreit geöffnete Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes hereinfiel. Zu spät erkannten beide, daß es sich um ein Ablenkungsmanöver handelte, denn wie aus dem Erdboden war hinter ihnen plötzlich ein Mann aufgetaucht, den man ohne Übertreibung als 79 �
Riesen bezeichnen konnte. Phil und David waren so überrascht, daß sie sich beinahe gegenseitig umgerannt hätten. Ein Moment des gegenseitigen Abschätzens lag zwischen dem Erscheinen und dem Angriff des Mannes. Zwei Winzlinge – leichtes Spiel für den einen, ein Koloß – ein kaum zu bewältigendes Problem für die beiden anderen. Er hatte sich vor ihnen aufgebaut. In dieser Pose wirkte er wie ein ausgewachsener Bär, der sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte, um sich im nächsten Augenblick auf seine Opfer zu stürzen und sie zu zerreißen. David hatte sich als erster wieder gefangen. Blitzschnell hob er die Smith & Wesson und zielte auf den Körper seines Gegners. David war nicht schnell genug, denn zum Schießen kam er nicht mehr. Mit unheimlicher Wucht schlug ihm der Riese die Waffe aus der Hand. Den Lieutenant riß der gewaltige Schlag, der ansatzlos auf ihn zukam, von den Beinen. Die Schußwaffe wurde dabei in eine dunkle Ecke geschleudert. Er hatte nicht die geringste Chance, diesem Schlag auszuweichen. Auch Phil hatte seine Waffe in der Hand, doch auch ihm gelang es nicht mehr, einen gezielten Schuß abzufeuern. In der Sekunde, da der Riese David diesen fürchterlichen Schlag versetzt hatte, trat er Phil die Pistole aus der Hand. Allerdings hatte Korner noch den Abzug durchgedrückt. Das dumpfe Brüllen des Schusses zerfetzte die Stille. Das Geschoß bohrte sich in die Schulter des Riesen, doch der zeigte kaum eine Reaktion. Jeden normalen Menschen hätte die Wucht, mit der das Geschoß in den Körper drang, von den Beinen gerissen und einige Yards durch den Raum geschleudert, doch dieser Mann tat so, als hätte es sich nur um eine Platzpatrone gehandelt. Ein kaum merklicher Ruck ging durch seinen Körper. Daß die Kugel in seiner 80 �
Schulter steckte, schien ihn überhaupt nicht zu interessieren. Über seine Lippen kam nicht der geringste Schmerzenslaut. Mit einem mächtigen Satz hatte der Riese sich auf Phil gestürzt und den Sergeant unter sich begraben. Zwei prankenähnliche Hände umklammerten den Hals des Polizisten und schnürten ihm die Luft ab. David war inzwischen wieder auf die Beine gekommen. Sein Kopf schmerzte, doch das war im Moment Nebensache. Er erkannte sofort, in welch lebensgefährlicher Situation sein Partner sich befand. Ohne zu überlegen, stürzte er sich auf den Riesen. Mit beiden Beinen sprang er den Langen von hinten an und schmetterte ihm mit voller Wucht die Absätze gegen die Wirbelsäule. Ein unterdrücktes Stöhnen kam über die Lippen des Riesen. Man merkte, daß er nach Luft rang. Sein Griff lockerte sich etwas. Diese Gelegenheit nutzte Phil. Er drückte seinem Gegner die Zeigefinger in die Augen. Gleichzeitig versetzte David dem Koloß einen wuchtigen Faustschlag gegen die Schläfe. Phil gelang es so, sich zu befreien. Es wurde auch höchste Zeit, denn lange hätte er das nicht mehr ausgehalten. Gemeinsam gingen sie nun gegen ihren Widersacher vor. Sie versuchten, ihn mit gezielten Schlägen und Tritten zu zermürben, doch der schüttelte sie ab wie lästiges Ungeziefer. Seine Gegenangriffe waren furchtbar. Wie Stoffpuppen schleuderte er David und Phil durch den Raum. Hart schlugen sie mit ihren Körpern gegen Wände und Möbelstücke. Diesem Mann konnte man mit bloßen Händen nicht beikommen. Der Bursche hatte mit einem Menschen nicht viel Gemeinsames, er wirkte eher wie ein Roboter, zu dem einen Zweck erbaut und auf den Gedanken programmiert, alles zu vernichten, was sich ihm in den Weg stellte. 81 �
David hielt sich den Rücken, der Riese hatte ihn gegen die Tischkante geschleudert. Mit Schrecken sah der Lieutenant, wie er jetzt auf Phil zuging. Korner lag erschöpft am Boden. Er war zu keiner Gegenwehr mehr fähig. Der Koloß stand direkt vor ihm. Der Detektiv sah den schweren Stuhl in seinen Händen. Er rechnete jeden Moment damit, daß das hölzerne Möbelstück auf ihn herabsauste und ihm den Schädel einschlug. Der ängstliche Blick seines Opfers ließ den Riesen mitten in der Bewegung innehalten. So etwas wie Mitleid schien in ihm aufzusteigen. Doch nur für einen Augenblick. Ein eigenartiges Zittern ging durch den Körper des großen Mannes. Seine Augen weiteten sich, und ein gurgelnder Laut kam aus seinem Mund. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, doch es gelang ihm nicht. Nur wenn er die Gedanken des anderen in die Tat umsetzte, nur dann würden diese fast unerträglichen Schmerzen wieder nachlassen. Mit einem tierischen Schrei stürzte er sich auf den Mann, der vor ihm auf dem Fußboden lag. Mit letzter Kraft rollte sich Phil Korner zur Seite, doch ganz konnte er dem wuchtig geführten Schlag nicht entgehen. Holz splitterte und der Stuhl zerbrach. Ein stechender Schmerz glühte in Phils Schulter. David Warner kroch über den Boden. Kaltes Metall berührte plötzlich seine Hand. Er zögerte keine Sekunde. Das Donnern der Schüsse hallte von den Wänden des großen Raumes zurück. Der Lieutenant schoß das ganze Magazin leer. Er stand nur etwa zwei Schritte hinter dem Riesen. Es war ganz und gar nicht seine Art, einem Unbewaffneten in den Rücken zu schießen, doch in diesem Fall blieb ihm überhaupt keine andere Wahl. Es ging darum, das Leben seines Partners zu retten, auch 82 �
wenn der Preis dafür die Vernichtung eines anderen war. Der Riese wankte. Für einen Moment hatte David die Befürchtung, die Ladung könnte nicht ausreichen. Er trat ein paar Schritte zurück. Dumpf schlug der Körper des schwarzen Riesen auf dem Boden auf. Ein Röcheln und ein schmaler Blutstreifen, der ihm aus dem Mund lief, waren Ramons letzte Lebenszeichen. * Die festen Lederriemen schnitten in sein Fleisch. Verkrustetes Blut an Armen und Beinen waren Zeichen von vergeblichen Befreiungsversuchen. Es war ihm trotz größter Anstrengung nicht gelungen, seine Fesseln zu sprengen. Tom Morelli lag gezwungenermaßen auf dem Tisch. Über Arme, Brust und Beine waren Lederriemen gespannt. Seine Haare waren von getrocknetem Blut zusammengeklebt. Das Blut stammte aus einer klaffenden Platzwunde am Hinterkopf, die von einem Schlag mit einem festen Gegenstand herrührte. Solche Verletzungen rufen unter normalen Umständen Schmerzen hervor, doch Morelli nahm sie nicht wahr. Er fühlte sich im Moment wohl, so wie noch nie in seinem Leben. Das kam von der Injektion. Der Einstich der Injektionsnadel in seinem linken Unterarm war noch deutlich zu sehen. Das mit dem Wohlfühlen war am Anfang immer so, ein unbeschreibliches Glücksgefühl, doch das würde sich bald ändern. In einem solchen Raum wie diesem hatte Tom schon mal gelegen. Er konnte sich nur noch schwach daran erinnern, denn es war schon lange her. Den Blinddarm hatten sie ihm damals herausoperiert. Tom mochte solche Räume nicht. Er hatte von jeher eine Abneigung gegen weißgekachelte Wände. Seltsamerweise 83 �
machte ihm das jetzt nichts mehr aus. Schweiß trat ihm plötzlich aus den Poren, doch er schwitzte nicht. Ihm war eher kalt, eine Gänsehaut bildete sich. Morelli begann unruhig zu werden. Eine seltsame Wandlung ging in ihm vor. Die Schweißtropfen perlten von seiner Stirn ab, liefen an der Nase entlang zum Mundwinkel und weiter zum Hals. Sie erzeugten ein grausames Kitzeln, doch er konnte nichts dagegen tun. Der Raum schien sich plötzlich in seiner Form zu verändern. Momentane Verschwommenheit wechselte mit Klarheit ab. Alles schien zu schwanken. Der Glasschrank, der in der Ecke neben dem Waschtisch stand, und in dem sich die Instrumente befanden. Die Liege seitlich von ihm. Der große Stuhl mit den metallenen Handgelenkringen und der seltsamen Verdrahtung an der Lehne, die den Stuhl mit dem Aufzeichnungsgerät verband. Ein unheimliches Gebilde! Sicher war dies eine Eigenkonstruktion seines Peinigers, denn nie zuvor hatte Tom etwas ähnliches gesehen. Das Ding hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem elektrischen Stuhl. Der ganze Raum mitsamt seiner Ausstattung schien nun in Bewegung zu geraten. Dem Detektiv wurde schwindlig. Alles um ihn herum drehte sich. Die Möbel – wenn man hier von Möbeln sprechen konnte – und die weißgekachelten Wände kamen auf ihn zu. Der Raum verlor zusehends an Größe. Tom hatte das Gefühl, jeden Moment erdrückt zu werden. Ein unheimlicher Druck lastete auf seinen Atemorganen. Und dann – alles war wieder so wie vorher. Tom Morelli atmete schwer. Er war erleichtert, der Spuk war zu Ende, so jedenfalls glaubte er. Die seltsamen Töne mußten von weit herkommen, denn sie waren kaum hörbar. Trotzdem nahm Tom sie wahr, und zwar so 84 �
intensiv, daß sein Körper zu vibrieren begann. In seinem Kopf begann es zu dröhnen. Dumpfe Laute, die Schlägen auf einer Kesselpauke glichen und lange nachhallten, verursachten Schmerzen in seinen Ohren. Die Töne steigerten sich von Sekunde zu Sekunde in ihrer Lautstärke. Sie kamen von jenseits der Tür, die ihm den Einblick nach draußen verwehrte. Toms angstvoller Blick war auf die Tür gerichtet. Das unheimliche Dröhnen in seinen Ohren wurde immer stärker. Langsam senkte sich der Türgriff. Furchtbare Gedanken nisteten im Gehirn des Detektivs. * »Der ist hinüber«, bemerkte Phil Korner erleichtert. David kniete auf dem Fußboden. Er hatte sich über den leblosen Körper gebeugt. Sein Ohr hatte er an die Brust des Mannes gedrückt, um sie nach eventuell noch vorhandenen Herztönen abzuhorchen, doch in dem massigen Körper steckte kein Leben mehr. Die toten Augen des Riesen starrten zur Decke. David drückte ihm die Augenlider herunter. Phil stand daneben und beobachtete das Ganze mit einer gewissen Skepsis. Zu sehr stand er noch unter dem Schock der gerade beendeten Auseinandersetzung mit dem am Boden Liegenden. Er hielt sich die Schulter, sie schmerzte stark. »Pst, sei mal ein Moment still! Hörst du das?« David Warner hielt den Kopf schräg und lauschte. Phil glaubte, sein Partner habe ein Geräusch gehört, das von draußen kam. Er selbst hatte nichts gehört. »Komm doch mal etwas näher!« Phil folgte der Aufforderung seines Freundes und kniete neben ihn. Jetzt hörte er es auch, ein surrendes oder brummendes, 85 �
kaum wahrnehmbares Geräusch, das von dem Toten ausging. Der Strahl seiner Speziallampe fiel auf die etwa fünf bis sieben Zentimeter lange Narbe hinter dem rechten Ohr des Biesen, die vom Haaransatz bis knapp unter das Ohr reichte. In dieser Narbe befand sich ein kleines, metallenes Plättchen, das die Größe eines Hemdknopfes hatte. Auch im Aussehen erinnerte es an einen solchen. Genau von diesem mysteriösen Ding ging das Summen aus. »Kannst du dir das erklären?« fragte David. Phil Korner hob nur die Achseln, so etwas hatte er noch nie gesehen. Nach einem gegenseitigen fragenden Blick sagte David: »Dazu ist später auch noch Zeit, der läuft uns nicht mehr weg.« Gemeinsam suchten sie nach Phils Waffe. In einer entlegenen Ecke des Raumes fanden sie die Smith & Wesson. Davids Lampe erwies sich bei der Suche als große Hilfe. Ein markerschütternder Schrei erfüllte plötzlich das Haus, und die beiden Polizisten wußten auch sofort, aus welcher Kehle er kam. Jetzt war keine Zeit mehr für Überlegungen, jetzt mußte sofort gehandelt werden. Durch die Größe des Raumes war es kaum möglich zu bestimmen, aus welcher Richtung der Schrei kam. David und Phil entschieden sich für den Keller. Die Erfahrung lehrte, daß der beste Ort zur Gefangenhaltung von Menschen der Keller ist. In den meisten Fällen, in denen beide mit derartigen Dingen konfrontiert wurden, war dies auch der Fall. In dem großen Raum gab es fünf Türen. Eine, durch die sie gekommen waren, fiel weg, also noch vier. Jeder nahm die nächstliegende Tür in Angriff. Phil hatte Glück, er hatte auf Anhieb die Richtige erwischt. »Hierher, David!« schrie er. Sie verloren keine Sekunde. Gemeinsam stürmten sie nach unten. Der Gedanke und die Hoffnung, daß sie vielleicht noch 86 �
rechtzeitig zur Stelle wären, trieb sie noch schneller voran. Laut hallten die Schritte der beiden Polizisten durch den zwar schmalen, aber hohen Kellergang, der Geheimgängen in alten Schlössern glich. Modergeruch erfüllte ihn. An den Wänden und der Decke hingen Spinnengewebe, die von Staub überlagert waren. Das alles deutete darauf hin, daß sich in diesem Winkel des Hauses nur selten Menschen aufhielten, jedenfalls freiwillig. Der Gang machte eine leichte Biegung und endete dann plötzlich. Phil und David standen vor der Tür, die in den weißgekachelten Raum führte. Vorsichtig drückte Warner die Klinke. * Mit weit aufgerissenen Augen starrte Morelli zur Tür. Langsam senkte sich der Türgriff. Tom glaubte, seit Stunden nichts anderes zu tun, als die Bewegungen des Griffs zu verfolgen. Warum dauerte das so lange? Die Ungewißheit darüber, was man mit ihm vorhatte welche Teufeleien ihm noch bevorstanden, nagten in ihm. Das Dröhnen, das die Schmerzen in seinen Ohren verursacht hatte, war plötzlich abgerissen. Morelli unternahm einen erneuten Versuch, sich Bewegung zu verschaffen, doch seine Bemühungen waren vergebens. Die Lederriemen hielten ihn fest und gaben keinen Millimeter nach. Die Tür öffnete sich. Grauen packte den Detektiv, als er die beiden Gestalten erblickte, die im Türrahmen standen. Nie zuvor hatte Tom etwas derart Abstoßendes gesehen. Zwei Wesen, deren Aussehen zu beschreiben kein normaler Mensch in der Lage war. Zwei Dämonen, die aus dem Schattenreich zu kommen schienen und selbst dem Leibhaftigen das Gruseln gelehrt hätten. 87 �
Einen Moment standen sie reglos im Türrahmen und schienen sich über seine aussichtslose Lage zu freuen. Sie schienen sich schon so sicher, daß sie leichtes Spiel mit ihm haben würden, daß er eine Beute für sie war, dann kamen sie langsam auf ihn zu. Ihre schlurfenden Bewegungen waren nicht minder eklig als ihr Aussehen. Immer näher kamen sie. Wie tollwütig wand Tom sich in den Riemen. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er handelte von panischer Angst getrieben wider jede Vernunft. Hilflos war er diesen Bestien ausgeliefert. Sie kamen immer näher. Ein langgezogener, für Morelli selbst nicht hörbarer Schrei, entrang sich seiner Kehle. Gerade dieser Umstand war es, der ihm seine Hilflosigkeit so schonungslos offen vor Augen hielt. Als sie ihre Klauen nach ihm ausstreckten, war es schon Nacht um Tom Morelli. * »He, Morelli, wir sind es!« David Warner stand vor der Liege und tätschelte seinem Detektiv die Wange. Tom Morelli zeigte keine Regung. Beim Anblick des sich in einem furchtbaren Zustand befindlichen Mannes auf der Liege überkam David eine ungeheure Wut. Auch in Phil kochte es. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich diesem Wahnsinnsknaben gegenüberzustehen, der seinen Kollegen so fürchterlich zugerichtet hatte, von den anderen Opfern gar nicht zu sprechen. David und Phil bemühten sich, die Gurte zu lösen. »Schnell, Phil, mach das Taschentuch mal naß!« Korner ging zu dem Waschtisch in der Ecke und feuchtete das Taschentuch, das David ihm gereicht hatte, an. Dann brachte er es zurück. David 88 �
wischte Tom das getrocknete Blut ab, das am Hals und in der linken Gesichtshälfte klebte. »Geben Sie sich keine Mühe, Sie vergeuden nur Ihre ohnehin knapp begrenzte Zeit! Ihrem Freund kann keine Macht der Welt mehr helfen, der wird in spätestens fünf Minuten tot sein.« David und Phil glaubten ihren Ohren nicht zu trauen. Das war die gleiche Stimme, die sie vorhin in der Garage gehört hatten. Beide hätten einen Eid darauf schwören können, daß der Sprecher direkt hinter ihnen stand. Vorsichtig drehten sie sich um, doch außer ihnen und Morelli befand sich niemand im Raum. Hohnvolles Gelächter erklang. Dr. Berger machte dieses Katzund Mausspiel ungeheuren Spaß. »Der sieht uns und alles, was wir tun«, flüsterte Phil, »wenn wir nur wüßten, wo er sich aufhält.« »Hier muß irgendwo eine versteckte Kamera eingebaut sein, wahrscheinlich beobachtet er uns schon die ganze Zeit«, flüsterte David zurück, »dann weiß er sicher auch, daß sein Riesenmohr abgetreten ist.« »Ich habe es mit Bedauern festgestellt«, schaltete sich die geheimnisvolle stimme in das Gespräch der Polizisten ein. »Ihr habt meinen Roboter zerstört, aber mich habt ihr noch lange nicht.« »Geben Sie auf, Dr. Berger! Ihr Spiel ist aus«, wandte sich David an den Sprecher, ohne jedoch zu wissen, ob er es wirklich mit diesem seltsamen Doktor zu tun hatte. »Warten wir’s ab, Lieutenant«, lautete die überraschende Antwort. Er kannte den Doc, und der Doktor kannte ihn, und das, obwohl sie sich nie zuvor begegnet waren. »David.« Phil stand bei Morelli. Für einen Augenblick ließ sich Lieutenant Warner ablenken. Sofort sah er den traurigen Blick seines Partners. »Er ist tot« Phil wandte sich von dem Toten ab. Tränen standen 89 �
in seinen Augen. Auch David war zum Heulen zumute. Warner fühlte sich in diesem Moment mehr als je zuvor mit Phil verbunden. Dieses traurige Erlebnis würde ihre Freundschaft und damit ihr Team noch mehr stärken. Jeder, der sie zum Gegner haben würde, bekäme das mehr denn je zu spüren. Ein Mann stand vor ihm, der dem Tod schon oft ins Auge geblickt hatte und keine Minute zögern würde, sein Leben für das eines anderen aufs Spiel zu setzen. Ein Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, gegen jegliches Verbrechen zu kämpfen – sei es irdischer oder übernatürlicher Art – dieser Mann, sein Freund und Partner Phil Korner schämte sich nicht, seine Gefühle offen zu zeigen. »Ich sagte es Ihnen ja gleich, er hat nicht mehr lange zu leben.« Wieder diese verdammte Stimme! Phil hielt sich die Ohren zu. »Schluß jetzt, halt endlich dein verdammtes Maul! Zeig dich, wenn du Mut hast!« In diesem Augenblick hätte Phil keine Sekunde gezögert, den Kerl über den Haufen zu schießen, wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Die einzige Reaktion war irres Lachen. Korner war nicht mehr zu halten. Er durchstöberte den Raum und suchte nach der Kamera. Dann hatte er sie gefunden. Er schoß das ganze Magazin leer. David ließ ihn ohne Einwand gewähren, er konnte sich gut vorstellen, was in seinem Partner vorging. »Entschuldige«, preßte Phil zwischen den Lippen hervor. »Jetzt ist mir wesentlich wohler.« »Schon gut.« Warner nickte ihm aufmunternd zu. »Wir holen uns diesen Verrückten.« Sie verließen den Keller und begannen das Haus zu durchsuchen. Dies nahm mehr Zeit in Anspruch, als sie sich vorgestellt hatten, denn das Haus war groß und hatte viele Zimmer. Dazu kam noch, daß die meisten abgeschlossen waren und aufgebro90 �
chen werden mußten. Sie suchten seit etwa einer Viertelstunde ohne Erfolg. Das Aufheulen eines Automotors ließ Phil und David ihre Suche unterbrechen. Erst jetzt fiel ihnen auf, daß die Stimme, seit sie aus dem Keller gekommen waren, nicht mehr zu hören gewesen war. So schnell sie konnten, rannten Phil und David nach unten, doch sie waren nicht schnell genug. Sie sahen gerade noch, wie der schwarze Lincoln durch das Eisentor fuhr und in der nächsten Straßenbiegung verschwand. Sollte ihnen Berger doch noch entkommen sein? * Der schwarze Lincoln fuhr in hohem Tempo durch die Straßen New Yorks. Der Mann hinter dem Lenkrad strahlte zwar Ruhe und Gelassenheit aus, doch innerlich war er nervös. Von Zeit zu Zeit flackerte ein leichtes Grinsen in seinem Gesicht auf. Die beiden Idioten hatte er ganz schön an der Nase herumgeführt! An die dummen Gesichter würde er noch lange denken. Diese Narren schienen doch tatsächlich zu glauben, es mit einem Mann wie ihm aufnehmen zu können. Allerdings durfte er die Sache wiederum nicht zu leicht nehmen, einen Fehler durfte er nicht mehr machen. Dr. Berger wußte, daß die Zeit, die ihm für sein Vorhaben blieb, begrenzt war, doch sie würde reichen. Er konnte sich nur schwer vorstellen, daß ihn die Polizei so kurz vor dem Ziel noch abfing. Allein der Gedanke daran ließ ihn frösteln. Wenn er seine Arbeit erledigt hatte, würde er sich absetzen, und erst mal abwarten, bis Gras über die Sache gewachsen war. Die kleine einmotorige Maschine stand an sicherer Stelle bereit. Er brauchte nur einzusteigen, sie zu starten, und schon würde 91 �
sie ihn in bessere Gefilde bringen. Niemand würde ihn dort suchen und schon gar nicht finden. Die Fahrt des Wagens wurde langsamer. Vor dem unbewohnten, abbruchreifen Haus kam der Lincoln zum Stehen. Dr. Berger drehte den Zündschlüssel und stieg aus. Er ging um den Wagen herum zum Kofferraum und öffnete ihn. Wenig später verschwand er mit zwei Benzinkanistern, die er dem Kofferraum seines Lincolns entnommen hatte, im Innern seines Hauses. David und Phil waren inzwischen bei ihrem Fahrzeug angelangt. Über Funk verständigte Warner seine Dienststelle. Eine großangelegte Suchaktion wurde eingeleitet, die sich auf den gesamten Staat New York bezog. Sämtliche sich zur Zeit im Einsatz befindlichen Funkstreifen wurden angewiesen, nach einer schwarzen Lincoln-Limousine Ausschau zu halten und sofort Warner zu verständigen, wenn der Wagen mit dem betreffenden Kennzeichen irgendwo gesichtet wurde. Lieutenant David Warner und sein Partner Sergeant Phil Korner konnten im Moment nichts anderes tun als abzuwarten und auf eine baldige Benachrichtigung zu hoffen. Sie brauchten nicht lange zu warten. Ihre Rufnummer erklang aus dem Funkgerät. Fast gleichzeitig streckten sich ihre Hände der Taste auf dem Funkgerät entgegen. Wenig später heulte der Motor des roten Camaro auf. David trat das Gaspedal voll durch. Er hatte die Anweisung gegeben, den Lincoln in gebührendem Abstand zu verfolgen und ständig dessen Position durchzugeben. Die beiden Streifenbeamten hielten sich genau an die Order, die ihnen David über Funk erteilt hatte. Auch die Anweisung, nichts aus eigenem Antrieb zu unternehmen und darauf zu warten, bis Warner und Sergeant Korner an Ort und Stelle eintreffen 92 �
würden, befolgten sie. Die Funkstreife war dem Lincoln in einem Abstand von zweihundert Yards gefolgt. Als dieser dann am Straßenrand vor der alten Bruchbude hielt, waren sie einfach daran vorbeigefahren und in die nächste Straße eingebogen, um von dort aus David und Phil zu verständigen und alle weiteren Schritte in deren Hände zu legen. Die Befürchtung, daß sie den Fahrer des Lincoln auf sich aufmerksam gemacht hatten und dieser das Auftauchen der Funkstreife auf sich beziehen könnte, war unbegründet. In dieser Gegend waren Funkstreifen zu jeder Tagesund Nachtzeit etwas Alltägliches. Hier, wo fast jeden Tag Vergewaltigungen, Raubüberfälle und Morde stattfanden, nahm kaum jemand Notiz vom Dasein der Funkstreifen. Polizeieinsätze in der Bronx wurden mit einer Selbstverständlichkeit aufgenommen wie die Nudeln in der Suppe. David Warner und Phil Korner waren inzwischen an Ort und Stelle. Schon von weitem sahen sie den schwarzen Lincoln. Sie gaben sich jetzt keine Mühe mehr, ihren Einsatz geheimzuhalten. Direkt hinter dem Lincoln brachte David seinen roten Camaro zum Stehen. »Jetzt haben wir ihn, diesmal entkommt uns die Ratte nicht«, frohlockte Phil. Er war richtig kribbelig geworden und konnte es kaum noch erwarten, seine schmucken Armreifen an den Mann zu bringen. »Wart’s ab, wir haben ihn noch nicht«, bremste Warner den überschwenglichen Optimismus seines Partners. »Wir haben es hier mit einer Intelligenzbestie zu tun; der hat bestimmt noch ein paar unangenehme Überraschungen für uns auf Lager.« Die beiden entstiegen dem Camaro. Langsam gingen sie auf das Haus zu, in dem es kaum noch eine ganze Fensterscheibe gab. Der Putz war fast völlig herunter. Dazu waren mit weißer und roter Farbe Parolen an die Wand gemalt, die die Antipathie 93 �
der hier lebenden Menschen gegen die Polizei zum Ausdruck brachten. David und Phil registrierten diese Nebensächlichkeiten nur in ihrem Unterbewußtsein. Ihr volles Interesse galt im Moment dem Mann, der sich im Innern der Ruine befand und sie höchstwahrscheinlich erwartete. Die brüchige Holztür war verriegelt. Lieutenant Warner machte sich erst gar nicht die Mühe herauszufinden, wie sie sich am besten öffnen ließ. Mit einem gezielten Fußtritt trat er gegen die Tür. Das Splittern und Krachen von morschem Holz zeigte ihnen, daß das Hindernis aus dem Weg geräumt war. Mit Sicherheit hatte auch Dr. Berger gehört, daß sich jemand an der Tür zu schaffen gemacht hatte, es war also höchste Vorsicht geboten. Die Innenräume sahen wenig einladend aus. Ein penetranter Geruch wehte David und Phil entgegen. Der erschwerte ihnen das Atmen. Fast mechanisch gingen die Hände der beiden Polizisten in Höhe des Herzens zur linken Körperseite, genau dahin, wo sich die Schulterhalfter mit der Waffe befand. Dies war ein Bewegungsablauf, der im Laufe ihrer Dienstjahre fast zur Routine geworden war. Die Berührung mit dem kalten Metall wirkte beruhigend. Mit vorgestreckter Waffe, sich nach allen Seiten umsehend, ging David durch den Raum. Phil hielt sich zwei Schritte hinter ihm. Überall lagen Steine und lose Bretter herum. Vor einer breiten Treppe, die nach unten führte, blieb David plötzlich stehen. Rauchwolken stiegen von unten herauf und zogen ihm in die Nase. »Komm mit!« forderte er Phil auf. Mit schnellen Schritten gingen sie nach unten. Die ersten züngelnden Flammen wurden sichtbar. Dann hatten sie ein grausiges Bild vor Augen. Leichen, 94 �
abgetrennte Arme und Beine lagen in einer Grube von etwa fünf mal fünf Metern Größe und einer Tiefe von ungefähr 1,50 Metern. Wahrscheinlich mit Benzin oder ähnlichem übergossen und angezündet, brannten sie lichterloh. Kein Zweifel, daß der Initiator dieser makabren Szenerie kein anderer als Dr. Berger sein konnte. Von ihm selbst jedoch hatten Phil und David bisher noch nichts gesehen, wenngleich sie wußten, daß er sich hier im Haus aufhalten mußte. Sie rannten nach oben. Ihnen war klar, daß nicht mehr allzuviel Zeit blieb, den Doc zu finden. Bald würden die Flammen vom Keller auf das Erdgeschoß und dann auf die übrigen Stockwerke übergreifen. In dem Gemäuer, den hier herumliegenden morschen Brettern und Holztreppen, die bei jedem Schritt ächzend nachgaben, würden sie reichlich Nahrung finden. »He, Doc, geben Sie auf, Sie haben nicht die geringste Chance!« »Dann holen Sie mich doch hier oben, Lieutenant!« Sarkasmus war aus Bergers Stimme zu hören, als er David von oben zurief. Er schien sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein. Er glaubte, die Fäden fest in der Hand zu haben. Er diktierte die Regeln, er führte Regie und den anderen blieb nichts übrig, als nach seiner Pfeife zu tanzen. Von diesem Gedanken war er so besessen, daß es ihm nie und nimmer in den Sinn kam, das Spiel schon längst verloren zu haben. »Wir müssen ihn von da oben runterholen, bevor die Flammen uns zuvorkommen«, sagte David zu Phil. In den Augen seines Partners konnte der Lieutenant lesen, daß es dem lieber gewesen wäre, den Flammen den Vortritt zu lassen, doch auf die Gedanken seines Freundes konnte und durfte er keine Rücksicht nehmen. Sicher wußte auch David, daß sie sich selbst in Gefahr brachten und ihr Leben riskierten, um das eines Wahnsinnigen zu retten, aber ihm blieb keine andere Wahl. Es war seine Pflicht, den Mann festzunehmen, und ihn vor dem Flammentod zu be95 �
wahren, auch wenn Dr. Berger – so paradox dies klingen mochte – nach seiner Verurteilung durch ein ordentliches Gericht einen anderen Tod sterben mußte. Trotz der Kälte, die draußen herrschte, war es angenehm warm. Das lag an den Flammen, die sich immer weiter fraßen. Allerdings würde diese angenehme Wärme bald in unangenehme Wärme umschlagen, dann würde es auch nicht mehr lange dauern, bis aus der unangenehmen Wärme unerträgliche Hitze wurde. Die anfänglich schwarzen Qualmwolken waren inzwischen verschwunden. An ihrer Stelle zogen dichte, graue Rauchschwaden durchs Haus und erschwerten den Männern das Atmen noch mehr. David und Phil hatten sich in der Zwischenzeit auf den Weg in die oberen Etagen begeben. In jedem Stock gab es zwei Wohnpartien. David nahm die linke, Phil die rechte Wohnung in Angriff. Nachdem sie alles durchsucht hatten, begaben sie sich eine Etage höher. Auch hier durchsuchte jeder eine Wohnung, und auch hier war von Berger nicht die geringste Spur zu entdecken. Das Knistern der Flammen war jetzt schon deutlich zu hören. Auch der Brandgeruch reizte die Nase. Sollten ihnen die Flammen so schnell gefolgt sein? Als David und Phil aus der Wohnung ins Treppenhaus traten, sahen sie, daß die Flammen von einem zweiten Brandherd herrührten. Das dritte und obere Stockwerk stand ebenfalls in Flammen, den Weg dort hinauf konnten beide sich ersparen. Wenn Dr. Berger sich oben befand, kam jede Hilfe für ihn zu spät. »Laß uns verschwinden, bevor es zu spät ist«, forderte Phil Korner. Er dachte das gleiche wie David. Für Dr. Berger gab es keine Rettung mehr… »Okay, sehen wir zu, daß wir hier herauskommen!« schrie David Warner. Das laute Knistern von brennendem Holz und das 96 �
Zischen der sich rasch näher fressenden Flammen übertönten fast seine Worte. Mit hastigen Schritten strebten sie nach unten, dem Ausgang entgegen. Sie kamen nur bis zur ersten Etage. Eine Feuerwand, die in ganzer Breite die Treppe einnahm, tat sich vor ihnen auf und versperrte ihnen den Weg. Hinter dieser Flammenwand sahen sie Berger stehen, keine fünf Schritte von der Tür entfernt, die David vorhin eingetreten hatte, um in das Innere dieses verdammten Hauses zu gelangen. Durch die tanzenden Flammen wirkten die Konturen des Doktors gespenstisch verzerrt. Berger winkte ihnen wie zum Abschied zu. Das schallende Gelächter vermischte sich mit dem Rauschen der Flammen. »Viel Vergnügen da oben, Lieutenant, hoffentlich ist Ihnen nicht kalt«, rief er den Polizisten zu. Seine letzten Worte wurden jedoch von einem mit unheimlichem Getöse herabstürzenden Dachkalken, der David und Phil nur knapp verfehlte, übertönt. So wie es aussah, würde es nicht mehr allzu lange dauern, bis der Dachstuhl einstürzte. Die Hitze wurde schier unerträglich. Der einzige Fluchtweg war abgeschnitten. Durch dieses Flammenmeer zu gehen, hätte den sicheren Tod bedeutet. Sollte das wirklich das Ende sein? * In dem villenähnlichen Haus Bergers wimmelte es geradezu von Polizei. Vor dem eisernen Tor standen zwei Beamte, um Schaulustige fernzuhalten. Inzwischen wurde im Haus ganze Arbeit geleistet. Vor der Haustür stand ein Ford Kombi Leichenwagen. In zwei Zinksärgen wurden die Leichen von Ramon und Detektiv Tom Morelli hinausgetragen und in den Ford geschoben. Der Staats97 �
anwalt hatte die Obduktion der beiden Toten angeordnet. Dr. Miles stand in der Praxis Dr. Bergers, die sich im ersten Stock der Villa befand. Er schnipste nervös mit den Fingern und wartete darauf, daß es dem Spezialisten vom Einbruchdezernat endlich gelang, den Safe zu öffnen. Dr. Miles hatte in dem weißgekachelten Raum im Keller, in dem Tom Morelli auf so grausame Art gestorben war, einige hochinteressante Aufzeichnungen von Dr. Berger gefunden. Aufzeichnungen, die über die Gründe seines Tuns und über sein Wirken interessante Aufschlüsse gaben. Endlich war der Safe offen. Dr. Miles hoffte, daß sich in ihm weitere Aufzeichnungen befanden. Seine Erwartungen wurden jedoch noch weit übertroffen. Selbst für einen so abgebrühten Polizeiarzt wie Dr. Miles waren die Erkenntnisse, die aus den Aufzeichnungen hervorgingen, so gut wie unvorstellbar, doch die vergangenen Geschehnisse waren eindeutige Beweise für die grauenhaften Theorien. Kopfschüttelnd sah der Polizeiarzt die Ordner durch. Das alles konnte doch nur einem kranken Gehirn entsprungen sein. Die Aufzeichnungen waren so exakt, daß die Obduktion der beiden Leichen nahezu hinfällig wurde. Mit Schaudern las er von der Operation, die Berger an dem geistig zurückgebliebenen Ramon vorgenommen hatte. Dabei kam dem Polizeiarzt die Erkenntnis, daß die Geistesschwäche des Patienten nicht annähernd an die Bergers reichte. Angewidert und gleichzeitig gefesselt las Dr. Miles weiter. »… habe ich dem Patienten knapp hinter dem rechten Ohr die hintere Schädelpartie geöffnet und einen Sender eingepflanzt. Diese Operation eröffnete mir die Möglichkeit, Ramon meine Befehle zu übermitteln, die dieser ohne Einwand auszuführen gezwungen ist. Bei einer Weigerung erzeugt die Sendeempfangsanlage einen Summton in hoher Frequenz, der im Kopf von Ra98 �
mon einen Schmerz verursacht. Der Vergleich mit einem Roboter ist aufgrund der erfolgreich verlaufenen Versuche naheliegend. Die Erfolgsquote liegt bei exakt 100%.« Dr. Miles nahm wahllos einen anderen Ordner zur Hand und blätterte darin. »… die Droge, die ich meine eigene Erfindung nennen kann, bewirkt bei den Personen, denen sie injiziert wird, zuerst ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Genau dies war Sinn und Zweck meiner Bemühungen. Deprimierte und unglückliche Menschen wenigstens für einige Stunden von ihren Sorgen und Nöten zu befreien. Die Anwendung der Droge beschleunigt den Heilungsprozeß der betroffenen Patienten, jedenfalls glaubte ich das, und hat noch einen weiteren bedeutenden Vorteil, nämlich daß sie nicht abhängig macht. Leider machte ich im weiteren Verlauf meiner Experimente eine unvorhersehbare Entdeckung: Nach fortschreitender Dauer – etwa eine halbe Stunde nach dem Injizieren – erzeugt die Droge unheimliche Angstgefühle, und zwar in solcher Stärke, daß die damit injizierte Person unweigerlich dem Wahnsinn verfällt. Ein weiterer meiner Ansicht nach nicht unwichtiger Faktor ist das folgende Absterben der Gehirnzellen, die letzte Station im Ablauf der Injizierung.« Eine weitere Aufzeichnung, die Dr. Miles in die Hände fiel. »Hypnose ist für mich seit jeher etwas Phänomenales gewesen. Andere Menschen in den Zustand der Hypnose zu versetzen, ermöglichte mir von Kenntnissen Notiz zu nehmen, deren Nutzung in den meisten Fällen von Vorteil für den Patienten sind. Diese Behandlungsweise gibt mir die uneingeschränkte Möglichkeit, einen Blick in das Seelenleben des psychisch gestörten Menschen zu werfen, seine inneren Konflikte zu erkennen, die in der Regel die Ursache der Krankheit sind, und sie mit den entsprechenden Mitteln wirksam zu bekämpfen. Leider stieß ich bei einigen wenigen Patienten auf Ablehnung. Sie machten mir den 99 �
Vorwurf, als Versuchsobjekte herhalten zu müssen, was ich allerdings nicht bestreiten konnte. Die Beschuldigung, mehr im Interesse meiner eigenen Person als in dem des Patienten gehandelt zu haben, weise ich entschieden zurück. Meine Arbeit sollte dem Wohl der Menschheit zugute kommen. Tagtäglich sterben in den Labors der Wissenschaftler Tausende von Tieren. Womit wird dieses Tiersterben gerechtfertigt? Es findet nur zum Wohl der Menschheit statt. Was also ist an meiner Arbeit so verwerflich, wo liegt der Unterschied? Ich muß gestehen, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, an diesen undankbaren Narren die negativen Seiten der Hypnose auszuprobieren.« Dr. Miles klappte den Ordner zu. Er gab die Anweisung, das gesamte Material sicherzustellen. In einem anderen versteckten Safe, der sich hinter einem großen Gemälde befand, lagen Pässe, Ausweise, Scheckhefte und Sparbücher säuberlich gebündelt. Auch der Reisepaß von Artur Parker und der Personalausweis von Larry Grossman waren darunter. Das Telefon klingelte. Ein Beamter in Uniform nahm den Hörer ab. »Für Sie, Mr. Sanders!« Greg Sanders, der oberste Staatsanwalt des Staates New York, hatte sich, gleich nachdem man ihm von den Vorfällen berichtet hatte, persönlich auf den Weg gemacht. Er war einer der ersten, die in Dr. Bergers Haus erschienen waren, um sich selbst von den Gegebenheiten zu überzeugen. »Danke«, sagte er mit einem freundlichen Nicken zu dem Beamten und nahm den Hörer in die Hand. Die Wanduhr zeigte gerade 23.00 Uhr. In diesem Moment erfuhr Greg Sanders von den Ereignissen in der Bronx. Sein Gesicht wurde aschfahl. Die Ruhe und die Übersicht, mit der er bis zu diesem Zeitpunkt die Untersuchungen in dem villenähnlichen Haus geführt hatte, war von einem zum an100 �
deren Augenblick wie weggeblasen. »In Ordnung, ich werde so schnell wie möglich kommen.« Hastig knallte er den Hörer auf die Gabel. Mit wenigen Worten erklärte Sanders dem Polizeiarzt, was man ihm eben am Telefon übermittelt hatte. »Okay, ich komme mit!« Kurz darauf preschte Sanders’ Dienstwagen davon. Alles, was sie bisher so interessiert untersucht hatten, war im Moment nebensächlich geworden. Greg Sanders hatte jetzt nur noch den einen Gedanken – so schnell wie nur möglich in die Bronx zu kommen. Es war eine schreckliche Nachricht, die er erhalten hatte. Greg Sanders hatte erfahren, daß seine beiden besten Leute mit 99%iger Sicherheit in den Flammen eines abbruchreifen Hauses ums Leben gekommen waren. * Die lodernden Flammen erhellten das Dunkel der Nacht. Der Dachstuhl brannte lichterloh. Es konnte sich höchstens noch um Minuten handeln, bis er einstürzte. Rauchwolken stiegen gen Himmel. Vor dem Haus hatte sich eine große Menschenmenge – Schaulustige und Sensationshascher – versammelt. Von Ferne ertönten die Sirenen mehrerer Polizeifahrzeuge und Feuerwehrautos. Immer mehr Menschen – Frauen, Männer und auch Kinder – strömten herbei. Keiner wollte sich das flammende Schauspiel entgehen lassen. Weder die eisige Kälte noch die späte Stunde hielten sie zurück. Viele hatten schon geschlafen und waren wieder aus ihren Betten gestiegen. Dieses nicht alltägliche oder allnächtliche Ereignis durfte man einfach nicht versäumen… 101 �
Im Haus selbst war von dem draußen herrschenden Trubel nichts zu hören. Das Prasseln der Flammen übertönte alles. Beide Brandherde hatten sich in Windeseile vorangefressen und sich in der ersten Etage vereint. David und Phil war nichts weiter übrig geblieben, als sich in eine der beiden Wohnungen zurückzuziehen. Allerdings, Rettung bedeutete das auf keinen Fall. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Flammen sie hier eingeholt haben würden. Eine Lösung wäre der Sprung aus einem der Fenster gewesen, die in einer Höhe von etwa sechs Yards über dem rettenden Erdboden lagen, wenn nicht diese verdammten Gitter, kunstvoll verzierte Gitter – David Warner stellte dies im Unterbewußtsein fest, er hatte schon immer einen Blick für das Schöne – gewesen wären. Dem Baustil früherer Jahre, gepaart mit der Kunstbeflissenheit eines extravaganten Bauherrn, war es also zuzuschreiben, wenn sie ein Opfer der Flammen wurden. Dr. Berger hatte sich unterdessen längst dem Ausgang zugewandt. Langsam, aber sicher wurde ihm der Boden zu heiß. Er war gerade im Begriff, das Haus zu verlassen. Geblendet hielt er die Hand vors Gesicht. Gebündelte Strahlen hellen Lichtes, die von den großen Scheinwerfern herübergeworfen wurden, die die Polizei vor dem Haus aufgestellt hatte, hüllten ihn ein. »Heben Sie die Hände in die Höhe, und kommen Sie langsam herüber«, erklang die Stimme des Einsatzleiters durch das Megaphon. »Bei Fluchtversuch wird ohne Vorwarnung geschossen.« Erst jetzt, da seine Augen sich ein wenig an das grelle Licht gewöhnt hatten, sah Dr. Berger, daß er nicht die geringste Chance hatte. Die Mündungen von mehreren MPis und Revolvern waren auf ihn gerichtet. Es war ihm sofort klar, daß sie beim geringsten Anzeichen eines Fluchtversuches von der Schußwaffe 102 �
Gebrauch machten. Berger stand immer noch in der gleichen Haltung. Gespannt warteten Polizisten und Schaulustige auf eine Reaktion des Mannes, der sich in so unrühmlichem Rampenlicht befand. Mit irrem Lachen drehte der Eingekreiste sich um und ging in das brennende Gebäude zurück. Die züngelnden Flammen empfingen ihn, doch er ging einfach weiter, als wäre es die normalste Sache von der Welt. »Kommen Sie zurück«, ertönte die Stimme durch das Megaphon, doch Berger hörte die Worte nicht mehr. Das Lachen wandelte sich in markerschütterndes Schreien. Dann war es still. Dr. Benjamin Berger hatte sich dem Zugriff der Polizei entzogen. Die ersten Wasserfontänen schossen auf das brennende Haus. Sie würden kaum noch verhindern, daß es bis auf die Grundmauern niederbrannte. David Warner und Phil Korner arbeiteten wie die Besessenen. Mit gemeinsamen Kräften gelang es ihnen, das Spülbecken von der Wand zu reißen. Dahinter wurde die Wasserleitung frei. Der ohnehin bröckelnde Putz stellte kein Problem für sie dar. Er spritzte von der Wand, als David und Phil an dem Leitungsrohr zogen. Wasser zischte aus dem Rohr, als dieses kurz vor dem Gewinde abbrach, doch der dürftige Strahl war nicht in der Lage, die näher kommenden Flammen zu stoppen. Allerdings war das auch nicht Sinn und Zweck ihrer Bemühungen. Der einzige Fluchtweg war das Fenster, und um dort hinauszukommen, mußten sie die Gitterstäbe auseinanderbiegen. Das Rohr war das richtige Werkzeug. David hob einen herumliegenden Backstein auf und klemmte ihn zwischen Rohr und Gitterstab. Gemeinsam und mit letzter Kraft zogen die beiden Polizisten an dem Rohr und die Gitterstäbe gaben nach. Es gelang ihnen, die Stäbe so 103 �
weit auseinanderzubiegen, daß sie – wenn auch nur mit größter Anstrengung – gerade noch hindurchschlüpfen konnten. Unten warteten bereits Feuerwehrleute, die ein Sprungtuch aufhielten. Es war David und Phil gelungen, in letzter Minute dem Flammentod zu entgehen. »Das ging gerade noch mal gut«, bemerkte Greg Sanders erleichtert, als Warner und Korner in seinen Wagen einstiegen. Ein strahlendes Lächeln zog über sein Gesicht. Davids erste Frage galt Dr. Berger. Sanders erzählte ihm, was sich ereignet hatte. Von dem Schreckenshaus war nicht mehr viel übrig geblieben. Die Flammen wurden kleiner, nachdem sie alles verschlungen hatten, was ihnen im Weg stand. »Laßt uns von hier verschwinden«, forderte Phil, er wollte nichts mehr hören und sehen. Greg Sanders nickte verständnisvoll, er konnte sich nur zu gut vorstellen, was in Korner vorging. Der Wagen entfernte sich von dem Ort, der Lieutenant Warner und Sergeant Korner fast zum Verhängnis geworden war. * Sanders hatte gerufen, und sie waren gekommen. Sie saßen zusammen in Franks Steakhouse und ließen sich den edelsten Tropfen, den dieses Nobelrestaurant zu bieten hatte, die Kehle hinunterlaufen. Natürlich ging alles auf Rechnung von Mr. Sanders. David und Phil sahen wieder gut aus, nichts deutete darauf hin, daß erst fünf Tage seit dem schrecklichen Erlebnis vergangen waren. Sie prosteten sich gerade zu, als der Kellner an den Tisch trat. Der alte Greg, wie die beiden Polizisten den Staatsanwalt – natürlich nur in dessen Abwesenheit – liebevoll nannten, legte ge104 �
rade die Flugtickets auf den Tisch. »Stecken Sie die Dinger in Ihre Brieftasche, Warner, sonst wird nichts aus der Woche Kalifornien.« »Die hüte ich wie meinen Augapfel, Sir«, erwiderte David lachend. »Darf ich Sie eben mal kurz unterbrechen, Sir«, wandte der Kellner sich an Sanders. »Ein Lieutenant Warner wird am Telefon verlangt.« »Das bin ich«, schaltete David sich ein. »Was gibt es denn?« »Ihre Dienststelle ist dran, Sir. Es scheint dringend zu sein.« David und Phil sahen sich an. »Ich habe es geahnt, den ganzen Abend beschleicht mich schon so ein komisches Gefühl«, stöhnte Phil. »Ich bin nicht da«, sagte David. Nach einem Moment des Zögerns und Gregs vorwurfsvollem Blick winkte der Lieutenant ab. »Ich komme schon. War wohl nichts mit Kalifornien!« Phil nickte nur zustimmend. »Kalifornien läuft Ihnen nicht davon«, meinte Sanders mit süßsaurem Lächeln. Warner erhob sich und ging zum Apparat. ENDE
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