Dragon ‐ Söhne von Atlantis Heft Nr. 47
Der Meisterdieb von Kartug
von Hans Kneifel
Durch seine kühnen Taten verha...
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Dragon ‐ Söhne von Atlantis Heft Nr. 47
Der Meisterdieb von Kartug
von Hans Kneifel
Durch seine kühnen Taten verhalf Dragon Vesta, dem Herrn der Elemente, der viele Jahrhunderte lang hilflos gefangen war, wieder zur rechtmäßigen Herrschaft. Dragon, der »Mann Schicksal«, wie ihn die getreue Wanderwolke Aerula‐thane nannte, ist gewiß, daß der Herr der Elemente sein wiedererlangtes Amt nicht mißbrauchen, sondern zum Wohle aller Menschen von Danilas Welt ausüben wird. Nichts hält den Atlanter daher mehr – selbst nicht die verheißungsvolle Aussicht, an Vestas Seite über eine ganze Welt zu gebieten. Er will zurück in seine eigene Welt, zurück nach Myra, wo Königin Amee auf ihn wartet. Aber schon vor seiner Rückkehr durch »das Auge der Götter« erfährt Dragon, daß die Zeitabläufe auf Danilas Welt und der Welt, die er wieder erreichen will, verschieden sind. Ja, es scheint, daß eine Zeitspanne von einem Monat auf Danilas Welt einem halben Jahr auf der Erde entspricht. Und er, Dragon, hat ein halbes Jahr auf Danilas Welt verbracht – also ganze drei irdische Jahre … Vieles ist in der Zwischenzeit auf der Erde geschehen. Throne wechselten ihren Besitzer, blutige Schlachten wurden geschlagen und Schicksale von Individuen oder von ganzen Völkern wendeten sich zum Guten oder zum Schlechten. Im folgenden geht es um einzelne Schicksale, speziell um das Schicksal Zondars, eines Mannes aus einer reichen Handelsstadt. Zondar gilt als DER MEISTERDIEB VON KARTUG …
Die Hauptpersonen des Romans: Zondar ‐ Der Meisterdieb von Kartug wird gejagt. Nabib, Jaggar und Vina ‐ Der Händler, der Kapitän und die Gedankenleserin machen eine grausige Entdeckung. Karnak ‐ Ein Mann aus dem Reich des Südens. Ondurman ‐ Der Vater von Kartug interessiert sich für das Elixier der ewigen Jugend.
1. »Aaaiiieee!« Der Pferdeleib streckte sich. Unter seinen Hufen stob Sand hoch. Staub wirbelte hinter dem Reiter auf, der das Tier den mit Felsbrocken und schütterem Gras bedeckten Hang hinauftrieb. Auf dem Kamm des Hügels zügelte der Mann sein Roß mit kräftiger Hand und ließ es auf der Hinterhand wenden. Er stellte sich in den Steigbügeln auf und beschattete die Augen gegen die blendende Mittagssonne. Zondar konnte weit sehen. Hinter und unter ihm lag in Wellen abfallendes Land. Karg und öde, mit niedrigen Büschen, wenigen Bäumen und vielen Felsen, lag die Wüste, an die der schlanke Kartuger nur mit Grauen dachte. Dann kniff er die Augen zusammen. Eine Staubfahne, die sich über einem trockenen Flußbett erhob, verriet ihm, daß die Verfolger noch immer auf seiner Spur waren. Zondar schätzte die Entfernung. Wenn er die Bodenbeschaffenheit in Betracht zog, so waren die Wächter des Heiligtums einen knappen halben Tagesritt hinter ihm. Ein Lächeln zeigte sich auf seinem staubverkrusteten Gesicht. Zu weit weg, entschied er, um ihn noch vor Kartug einzuholen. War er erst einmal in seiner Heimatstadt, würden sie ihn niemals aufspüren. Für Fremde, mochten sie auch über Reichtümer verfügen, war es nahezu unmöglich, einen berufsmäßigen Dieb in seiner ureigensten Domäne zu fangen. Vor allem dann nicht, wenn der Betreffende einen so hohen Rang in der Bettler‐ und Diebeszunft
der Stadt einnahm, wie es bei Zondar der Fall war. Ein schwarzer Schatten huschte über die sonnendurchglühten Felsen. Das Roß stieg wiehernd und schnaubend hoch, tanzte nervös und mit trommelnden Hufen auf der Stelle. Zondar sträubten sich die Nackenhaare. Beschwörungen murmelnd, griff er nach seinem Glücksbringer, der an einer geflochtenen Lederschnur um seinen Hals hing. Waren die Götter gegen ihn, so kurz vor dem Ziel? Erneut wischte der schwarze Schatten über die Steine, verdeckte für einen Herzschlag lang die Sonne – und Zondars Nerven begannen sich zu entspannen. Ein rauhes Lachen entrang sich seiner ausgetrockneten Kehle, als der gefiederte Räuber zum drittenmal über den Kamm des Hügels glitt und dann mit mächtigen Flügelschlägen dem Großen Meer zustrebte, wo reiche Beute seiner harrte. Mit kehligen Lauten besänftigte Zondar das Pferd, beugte sich im Sattel vor und spähte nach seinen Verfolgern aus. Sie hatten bereits das Flußbett verlassen und ritten den ersten der wellenförmig ansteigenden Hänge an. Sie kamen rasch näher – rascher als ihm lieb war. Er konnte sie deutlich ausmachen; elf schwarze Punkte, hinter denen graue Staubwolken aufwirbelten. Elf von ursprünglich sechzehn Kriegern aus dem Heer der Wächter des Heiligtums. Drei waren in die tödlichen Fallen geraten, die Zondar hinter sich errichtet hatte, die anderen zwei waren durch die Pfeile des Kartugers inmitten der Wüste gestorben. Zondar erwog für einen Augenblick die Möglichkeit, eine weitere Falle zu bauen, verwarf diesen Gedanken jedoch. Kartug war nahe; hinter den Mauern der Stadt war er sicherer. Der Kartuger riß den schwarzen Hengst herum und jagte die flache Senke hinunter, nahm, ohne langsamer zu werden, den nächsten Hang und sah, wie sich vor ihm das Plateau der Toten Seelen öffnete. Letztes Hindernis auf seiner Flucht. Dahinter würde er auf einen der vielen Karawanenwege stoßen, die alle vor den
Toren Kartugs endeten. Gewöhnlich mied der Dieb aus Kartug Zonen, in denen Dämonen und Ungeheuer hausten. Seine Furcht vor übernatürlichen Kräften aber war groß. Noch größer war allerdings seine Angst vor dem, was die Krieger der Herrin des Südens mit ihm anstellen würden, sollten sie seiner habhaft werden. Zondar hatte seine diesbezüglichen Erfahrungen gemacht. Noch jetzt überkam ihn ein Grauen, wenn er daran dachte, wie sie ihn gefoltert hatten, wie sie ihm zum Schluß Hände und Füße abgeschlagen und dann zum Sterben allein gelassen hatten. Damals war er dem Tod so nahe gewesen wie nie zuvor in seinem Leben, das dreißig Sommer zählte. Nur die übernatürlichen Kräfte des Elixiers der ewigen Jugend hatten ihn davor bewahrt, ins Schattenreich der Toten hinabsteigen zu müssen. Die Götter waren ihm wohlgesinnt gewesen, auch während seiner Flucht durch die Dschungel, die Steppen und Wüsten. Weshalb sollten sie sich plötzlich von ihm abwenden? Zondar schwor, allen Göttern Kartugs ein Zehntel dessen, was er zwölf Monde lang erbeuten würde, als Opfer zu bringen – was ihm einige Überwindung kostete. Dergestalt gegen die Toten Seelen gewappnet, lenkte er den Hengst in halsbrecherischem Galopp zwischen die hochaufragenden Klippen. Er ritt einen ausdauernden Rappen, ein Tier mit schlanken Läufen und breiter Brust. Er hatte es aus den Stallungen der Tempelwächter gestohlen, mit sicherem Blick für das Wertvolle. Vor ihm öffnete sich die Schlucht. Die Seitenwände wurden höher und höher, öffneten sich abrupt wieder zu einem Labyrinth aufragender Felsnadeln, die wie versteinerte Bäume wirkten. Über der unheimlichen Felsenlandschaft krächzten Geier, und Zondar hatte das Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Das Stakkato der trommelnden Pferdehufe brach sich zwischen den Steinsäulen und verstärkte nur noch den Eindruck des Unheimlichen. Wind kam plötzlich auf. Sand‐ und Staubwirbel hüllten Pferd und Reiter ein, versperrten zeitweilig die Sicht. Der Kartuger befestigte
das Gesichtstuch vor Mund und Nase, duckte sich tief über den Hals des Tieres und kniff die Augen schmal zusammen. Plötzlich setzte ein Wimmern und Stöhnen ein; es heulte, fauchte und pfiff, klagte und jammerte. Unheimliche Laute erfüllten das steinerne Labyrinth. Obwohl die Sonne vom Himmel brannte, fühlte eisige Kälte zwischen seinen Schulterblättern Zondar emporkriechen. Die Geschichten fielen ihm ein, die man sich in den Schenken Kartugs über das Plateau der Toten Seelen erzählte, und er schauderte. Für Augenblicke verstummte das Jammern und Heulen, nur das Donnern der Hufe auf dem Fels war zu vernehmen. Dann setzte das entsetzliche Schreien und Stöhnen wieder ein, stärker und lauter als zuvor. Der Kartuger riskierte einen Blick über seine Schulter – und ein Laut des Entsetzens kam aus seiner Kehle. Er vermeinte, in den Staubwirbeln die ungeschlachten Gestalten riesiger Dämonen zu sehen; Gesichter starrten hinter bizarren Felsformationen hervor. Zondars Nackenhaare sträubten sich. Er preßte sich noch enger auf den Hals des Rappen, rammte die Fersen in die Weichen des Tieres und schlug es mit den langen Enden des Zügels. Er mußte aus diesem steinernen Wald heraus. Mit rasendem Galopp hetzte er zwischen den Felsen hindurch. Köcher und Bogen schlugen schmerzhaft gegen seinen Rücken. Zondar schrie lauthals Beschwörungsformeln heraus und hätte den Göttern Kartugs wahrscheinlich noch ein weiteres Zehntel seiner Beute versprochen, wäre nicht in diesem Augenblick der steinerne Wald zurückgewichen. Vor ihm öffnete sich die Ebene. Erst als die Atemzüge des Hengstes begannen keuchend zu klingen, verlangsamte Zondar das Tempo. Einige Zeit ritt er Trab, bis das Tier sich erholte hatte, dann verschärfte er das Tempo wieder. Eine Stunde später traf er auf den Karawanenweg und folgte den Spuren, die unzählige Packtiere in den Boden gegraben hatten. Jetzt ritt er durch eine Gegend, die von eigentümlichem Reiz war. Felder wechselten ab mit Zedernheinen. Weißgekalkte Siedlungen
erhoben sich um die Brunnen und Quellen. Hinter hohen Mauern lagen die Besitzungen reicher Handelsfürsten. Zondar sprengte weiter. In der Ferne konnte er zu seiner Rechten bereits das Große Meer ausmachen und wußte, daß es nun nicht mehr weit sein konnte. Er war müde bis zum Zusammenbruch. Sein Körper schmerzte bei jedem Stoß, der den Pferdeleib durchlief. Trotzdem gönnte er dem Tier und sich nur eine kurze Pause, in der sie ihren Durst an einer Quelle löschen konnten. Der Kartuger warf jetzt häufiger einen Blick über die Schulter und sah, daß seine Verfolger immer mehr aufrückten. Sie mußten mit den Dämonen im Bunde sein, eine andere Erklärung gab es nicht für die Schnelligkeit, mit der sie aufholten. Die Karawanenspur verlief durch einen Hain, und plötzlich tauchte die Böschung des Rif Gar auf, die steil zu einer Ebene in etwa sechshundert Schritten Tiefe abfiel. Sie wurde im Osten und Norden vom Großen Meer begrenzt. Ein Bergland schloß sie im Westen ein. Zondar lenkte den Hengst schnell und doch mit der gebotenen Vorsicht die Böschung hinab. Dann richtete er sich im Sattel auf und lächelte kurz. Vor ihm auf dem grasreichen, hügeligen und mit wuchernden Dornbüschen durchsetzten Land erhoben sich dort, wo Himmel und Erde zusammentrafen, die zyklopenhaften Mauern und Türme seiner Heimatstadt aus dem flirrenden Dunst der Nachmittagshitze. Dort war die Rettung. Mit einem gellenden Ruf spornte Zondar den Hengst an – im gleichen Moment stolperte der Rappe und wieherte schrill auf. Zondars Reaktion kam gedankenschnell. Er riß die Füße aus den Steigbügeln, krümmte sich zusammen und legte die Arme schützend über den Kopf, als er auch schon im weiten Bogen aus dem Sattel flog. Er prallte auf den Boden, rollte in einer Staubwolke zur Seite. Er schmeckte Blut auf seinen Lippen, vermischt mit Sand. Verwünschungen murmelnd, raffte Zondar sich wieder auf. Stechender Schmerz durchzuckte seinen linken Knöchel. Er stöhnte,
humpelte zu seinem Pferd und sah auf den ersten Blick, daß hier jede Rettung zu spät kam. Der Hengst hatte sich das rechte Vorderbein gebrochen. Zondar verlor keine Sekunde. Er zog das Krummschwert, setzte die funkelnde Spitze an und stieß zu. Ein Zittern überlief den Leib des Hengstes. Der Geruch von Blut lag stechend in der Luft. Der Kartuger wischte die Klinge am Fell des Tieres ab und schob das Schwert in die Scheide zurück. Er ließ seine gesamte Ausrüstung zurück, nahm nichts mit als ein Stück Trockenfleisch, Bogen und Köcher und schlug sich seitwärts in die Büsche. * Die Schakale lagen im Abendlicht um den Pferdekadaver herum, die Bäuche voll Fleisch. Das Rudel bestand aus sieben Tieren, alles erfahrene Räuber, deren Flanken von Narben gekennzeichnet waren, Zeugen vieler Kämpfe. Langsam wurde es dunkler. Plötzlich wurde die Stille des Abends durch Geräusche unterbrochen. Das Trommeln vieler Pferdehufe ließ den Boden erklingen. Die Schakale wurden unruhig, erhoben sich und strichen unstet um den Kadaver herum. Über ihnen, am Rand der Böschung, erschien ein Trupp Reiter, deutlich zu sehen gegen den noch immer hellen Himmel. Im gestreckten Galopp sprengten sie herab. Kehlige Rufe ertönten. Dann dröhnte ein Bogen auf, und der Pfeil fuhr einem der Aasfresser zwischen die Rippen. Der Schakal überschlug sich aufheulend, zuckte mir den Beinen und starb. Als die Reiter den Pferdekadaver erreichten, war das Rudel längst zwischen den Dornbüschen verschwunden. Die Männer saßen ab. Es waren elf ebenholzfarbene Krieger aus dem Heer der Wächter des Heiligtums. Löwenfelle hingen über ihre Schultern, die zähnestarrenden Schädel dienten ihnen als Helme. Die Gesichter darunter waren bemalt. Sie waren durchwegs mit Bogen bewaffnet, mit kurzgeschäftigen Wurfspießen, die in Köchern
an den Sätteln hingen; Krummschwerter schwangen an ihren Hüften, Lederschilde, verziert mit stilisierten Löwenköpfen waren über ihre Rücken geschlungen. Die Krieger schwärmten bis auf einen aus. Dieser eine hockte sich mit untergeschlagenen Beinen ins Gras und verfolgte mit unbewegtem Gesicht das Tun seiner Männer. »Es ist das Pferd des kartugischen Diebes, Karnak«, meldete ein Wächter. »Neunmal verflucht sei sein Name!« »Was ist mit ihm selbst?« »Er hat den Sturz überlebt. Die Spur führt dorthin.« Der Krieger deutete auf ein unüberschaubares Felsgewirr aus weißen Klippen, durchsetzt mit Dorngebüsch. »Dort wird er sich versteckt haben, der feige Hund.« Der Sprecher schnaubte verächtlich. »Dann werden wir ihn kaum finden«, bemerkte Karnak düster. »Der Kartuger ist hier zu Hause. Er kennt sicher jeden Stein, jeden Strauch. Es sei denn …« Er schwieg einen Augenblick und befahl dann: »Sucht alles ab, dreht jeden Stein, jedes Stück Holz um. Vielleicht hat der Tempelfrevler etwas verloren, was er direkt auf dem Leib getragen hat!« »Du willst den Anziehungszauber machen, Karnak?« wollte ein anderer wissen. »Das werde ich. Los jetzt!« Karnak war ein breitschultriger Hüne mit weiß eingefärbten Ritualnarben im Gesicht und einem festumrissenen Auftrag, der aus zwei Teilen bestand. Einmal mußte er den kartugischen Dieb und Schänder des Heiligtums töten, zum anderen sollte er für ihre Königin und Oberste Priesterin eine Bestellung über feingewebte Stoffe, wohlriechende Öle, duftende Essenzen und Spezereiwaren bei einem der kartugischen Handelshäuser aufgeben. Dieser Teil des Auftrags schien leicht zu erfüllen und war mit keinem Risiko verbunden; ganz anders stand es mit dem Vorhaben, den Kartuger zu töten. Die Herrin hatte ihn gewarnt, daß ein Mißlingen seines Hauptunternehmens ihn selbst auf den Henkersblock bringen könnte.
Die Dunkelheit vertiefte sich, und Karnak wartete noch immer. Da ertönte ein Ruf vom Rand der Klippen. Die Wächter strömten zusammen. Einer von ihnen hielt Karnak triumphierend eine unscheinbare Fellkugel entgegen, an der noch ein Rest einer Lederschnur hing. Karnaks Augen leuchteten auf. Er kannte diese Fellkugel. Es handelte sich dabei um das Amulett dieses kartugischen Diebes, er mußte es beim Sturz vom Pferd verloren haben. Karnak riß es dem Krieger aus der Hand, schloß seine Finger darum und spürte, daß das Amulett noch feucht war, feucht vom Schweiß seines Trägers. Er sprang auf die Füße. »Macht Feuer!« befahl er laut. Alle Wächter des Heiligtums waren in der Schwarzen Magie bewandert, doch gab es wie überall auch hier Abstufungen. Karnak war unter seinen Leuten zweifellos der größere Magier, und so blieb es ihm vorbehalten, den Anziehungszauber zu machen. Bald brannten vier lodernde Feuer an den Eckpunkten einer Fläche von zehn Schritten Länge und Breite. In der Mitte dieser Arena hockte Karnak, ausstaffiert mit allen Zeichen seiner Zauberkunst: Er trug über dem Löwenfell ein in allen Regenbogenfarben schillerndes Gewand, um seinen Hals hingen Ketten, die aus Löwenzähnen und Knochen von Menschenhänden gemacht waren. Vor ihm brannte in einer Kupferschale ein kleines Feuer, das aus betäubend riechenden Wurzeln gemacht war. Zwischen seinen Füßen stand eine mit magischen Symbolen reich verzierte Schatulle. Zwei der Krieger zogen unter monotonen Beschwörungen aus weißem Sand den magischen Kreis um ihn und wichen dann an den Rand der Arena zurück. Karnak streute eine Handvoll getrockneter Blätter auf die Glut des Feuerbeckens. Weiße Dämpfe wallten auf, umhüllten ihn. Tief atmete er sie ein. Danach öffnete er die Schatulle und hob einen blau schimmernden Kristall von der Größe einer Männerfaust heraus. Ehrfürchtiges Murmeln ging durch die Reihe der Krieger, als sie
des Edelsteins ansichtig wurden. Die Flammen brachen sich in den geschliffenen Facetten und wurden als funkelnde Lichtsperre zurückgeworfen. Der Mann aus den Ländern des Südens setzte den Kristall in eine zweite Schale, nahm dann unter rituellen Gesängen das Amulett des Kartugers in beide Hände, preßte es zwischen den Fingern, und einige Schweißtropfen fielen auf den Stein. Hernach versenkte er sich in Trance. Seine Blicke wurden starr, während die Krieger einen monotonen Singsang anstimmten. Flammenschein zuckte über sein Ebenholzgesicht, das vor Konzentration schweißnaß glänzte. Ein seltsames Glühen ging von dem Kristall aus. Emanationen geheimnisvoller Kräfte breiteten sich ringförmig um den Magier und stiegen hoch. Karnaks Lippen bewegten sich im unhörbaren Monolog; er rief die neun Dämonen Molochs. Schließlich verebbten die Kräfte wieder, und das Glühen erlosch. Nur der Schein der Feuer brach sich nach wie vor in dem Kristall. Und Karnak hob den Blick. »Er kommt!« verkündete er. * Zondar spürte die Erschöpfung. Die Müdigkeit marterte seinen Körper. Der Knöchel war dick geschwollen und schickte glühende Schmerzwellen aus. Trotzdem kletterte er weiter, tiefer hinein in das Felsgewirr der weißen Klippen, das mit dichten Dornbüschen durchsetzt war. Er hörte das Plätschern von Wasser und sah gleichzeitig die winzige Quelle, die sich in ein ausgewaschenes Steinbecken ergoß, überlief und in einer Spalte versickerte. Er trank lange und ausgiebig, füllte seinen Magen mit dem köstlichen Naß und spürte förmlich, wie es von dem ausgetrockneten Gewebe aufgesogen wurde. Dann zog er den Stiefel von dem schmerzenden Fuß und kühlte den blau angelaufenen Knöchel im eiskalten Wasser der Quelle. Er nahm sein Messer aus
dem Gürtel und schnitt dünne Scheiben von dem Trockenfleisch herunter. Heißhungrig aß er, ließ die zähen Fasern mit kleinen Schlucken Wasser im Mund quellen. Leidlich erfrischt, kletterte Zondar weiter, noch höher hinauf in die Klippen. Jetzt befand er sich drei oder vier Bogenschüsse weit von jener Stelle entfernt, an der der Pferdekadaver lag, in einer Höhe, die ein starker Bogenschütze gerade noch erreichen konnte. Er stand auf einem Vorsprung, an dessen Rand einige Felsbrocken lagen und ein natürliches Bollwerk bildeten. Der Wind hatte im Laufe vieler Sommer eine dicke Schicht Sand angeweht, auf dem spärliches Gras wuchs. Der rechte Platz, entschied der Kartuger, um den Einbruch der Nacht abzuwarten. Im Schutz der Dunkelheit hoffte er, ungesehen die Ebene zu überqueren und vor die Tore Kartugs zu gelangen. »Die Nacht ist schon immer der Freund aller Diebe gewesen«, murmelte er mit einem mühsamen Grinsen. Im schwindenden Licht des Tages konnte er den Karawanenweg überblicken, sah, wie sich das Rudel der Aasfresser über das tote Pferd hermachte. Er hörte seine Verfolger eher, als er sie sah. Zondar kroch in Deckung. Er nahm den Bogen von der Schulter, legte ihn griffbereit vor sich auf die Steine. Dicht daneben stieß er eine Handvoll gefiederter Pfeile mit den scharfen Spitzen so in den Sand, daß er ohne Verzögerung schießen konnte, sollte er gezwungen werden, sich seiner Haut zu erwehren. Aus seiner Position konnte er die Klippen gegen eine kleine Armee verteidigen. Er würde jeden bemerken, der sich zu nähern versuchte. Und er konnte Kartug sehen. Ein orangefarbener Schein lag über der schwarzen Silhouette der Stadt. Zondar nahm ihren Anblick mit dem Gefühl schmerzlicher Erwartung in sich auf. Lange war er außerhalb ihrer Mauern gewesen, fast zwölf Monde. Viel war geschehen in dieser Zeit. Er war sogar einmal für kurze Zeit im Besitz der größten Kostbarkeit gewesen, die in allen bekannten Ländern der Welt je existierte: dem
Elixier der ewigen Jugend. »Ich werde die Stadt erreichen, und Jala wird staunen, was ich zu berichten weiß«, schwor Zondar. Er streckte seinen Kopf vorsichtig zwischen den Felsen hervor und blickte hinunter. Er sah die Feuer aufflammen und wunderte sich. Wollten seine Verfolger etwa hier die Nacht verbringen? Ihm konnte das nur recht sein. Er brachte seinen schmerzenden Knöchel in eine bequemere Lage und wartete. Insekten sangen unaufhörlich. Über dem Großen Meer erhob sich die scharfe Sichel des Mondes. Ein Pferd wieherte dumpf, dann schwieg es wieder. Es war so still, daß Zondar meinte, Geräusche aus der fernen Stadt hören zu können. Zeit, aufzubrechen. Noch einmal spähte der Kartuger hinunter auf die merkwürdige Anordnung der Feuer, sah die einzelne Gestalt in der Mitte hocken, eingehüllt in ein merkwürdiges Glühen. Unruhe griff nach ihm. Etwas trieb ihn, den Platz schleunigst zu verlassen. Und plötzlich merkte er, wie sich in ihm etwas veränderte … Ein Damm zerbrach, und schwarze Schatten ergossen sich in seine Seele. Bösartige, dunkle Mächte, die nur Dämonen sein konnten, gerufen von den Schwarzen Künsten seiner Verfolger, die ihre blutrünstigen Götter gegen ihn sandten. Zondar keuchte erstickt auf. Er tastete mit bebenden Fingern nach seiner Brust und erlitt einen zweiten Schock: Das Amulett war weg! Sicher hatte er es verloren, als er vom Pferd stürzte. Sein Vater, der ebenfalls ein geachtetes Mitglied der kartugischen Diebesgilde gewesen war, hatte ihm den Glücksbringer vererbt. Er mußte weg – sofort. Er machte einige Schritte – und merkte erst, als er stolperte, daß er begann, zurückzulaufen. »Nein!« stöhnte er. »Nein!« Entsetzen stieg in ihm auf. Kalter Schweiß trat auf sein Gesicht. Er spürte, von Panik geschüttelt, wie ihm langsam die Kontrolle über seinen eigenen Willen entglitt. Keuchend rang er nach Atem, preßte
die Zähne zusammen und sammelte die letzten verborgenen Energien gegen den Ansturm der Dämonen, die seinen Verstand verwirrten. Er taumelte, versuchte wieder, wegzulaufen. Aber etwas zog ihn unwiderstehlich in die andere Richtung. Irgend etwas hatte seinen Willen erbarmungslos in der Gewalt. So kletterte er den Weg zurück. * Als er wieder zu sich kam, war er gefesselt. Er lag neben einem Lagerfeuer. Man hatte vier Lanzen tief in den Boden gerammt und ihn dazwischen mit gespreizten Armen und Beinen festgebunden. Die Lederschnüre schnitten schmerzhaft in seine Haut. Er konnte sich nicht rühren. Er hatte den süßlichen Geschmack von Blut im Mund. Über sich sah er im unsteten Schein des flackernden Feuers die ebenholzfarbenen Gesichter der Krieger aus den Ländern des Südens, deren Bemalung ihnen selbst etwas Dämonisches verlieh. »Er ist wach, der Hund!« knurrte eine tiefe Stimme. Zondar hatte während seiner Jagd nach dem Wundertrank im Reich des Südens genug von der Sprache der Schwarzen Menschen gelernt. Er verstand jedes Wort. Eine zweite Stimme sagte: »Dieser Dieb hat fünf unserer Männer getötet!« »Schade, daß ich nicht mehr töten konnte«, krächzte Zondar mit rauher Stimme. Ein Speerschaft zuckte aus der Dunkelheit herab; in Zondar schien etwas zu zerreißen. Er schrie und verlor fast die Besinnung. »Moloch soll dich verschlingen!« knurrte der zweite Sprecher. »Moloch wird ihn verschlingen, keine Sorge. Diesmal entkommt mir der Frevler nicht mehr.« Der Kartuger spürte sein Herz schwer gegen die Rippen pochen. Er hatte die Stimme erkannt. Sie gehörte Karnak, der ihn so unmenschlich foltern ließ, nachdem man ihm beim Diebstahl des Elixiers der ewigen Jugend ertappt hatte. Er war es, der Zondar
Hände und Füße abschlagen ließ und ihn den Geiern zum Fraß vorgeworfen hatte. Daß Zondar gleich nach dem Diebstahl selbst einen Schluck von dem Wundertrank genommen hatte, hatte ihm letztendlich das Leben gerettet. Diesmal, das wußte der Kartuger, würde sich dieses Wunder nicht mehr wiederholen. Und Karnaks weitere Worte bestätigten seine Furcht. Das Ebenholzgesicht beugte sich über ihn; die Augen hatten einen fanatischen Glanz. »Nein«, wiederholte er, diesmal in Kartugisch, »diesen Fehler begehe ich nicht noch einmal. Wir werden erst einmal feststellen, wie stark der Heilige Trank noch wirkt. Du weißt, was das heißt?« Zondar konnte ein Stöhnen nicht ganz unterdrücken. Trotzdem spuckte er Karnak ins Gesicht. Der Offizier der Wächter stieß ein heiseres Knurren aus. Er packte Zondars Haarschopf, riß ihm den Kopf hoch. Der kurze Dolch funkelte einen Augenblick lang im Schein der Flammen, dann fuhr er herab. Der Schmerz trübte Zondars Sinne. Es lief warm über die Wange. Blut floß … Und Karnak hielt ihm das abgeschnittene Ohr vor Augen. Dann stand er auf und herrschte seine Männer an: »Fangt an!« Zondar verlor völlig das Zeitgefühl. Er wirbelte halt‐ und schutzlos durch einen Ozean von heftigen Schmerzen. Sie benutzten nur ihre Dolche, aber sie kannten jeden Nerv, über den der menschliche Körper verfügte. So folterten sie ihn über längere Zeit hinweg. Immer, wenn sein gepeinigter Organismus in eine Ohnmacht ausweichen wollte, schütteten sie ihm scharfe Essenzen über den Körper. Verzweifelt versuchte Zondar, die Schmerzen zu ignorieren. Er fluchte und drohte, schrie und schluchzte. Immer neue Marter dachten sich die Schwarzen Krieger aus. Schließlich ließ man von ihm ab. Die Nacht schritt fort. Die Feuer sanken zusammen. Wolken bedeckten den Mond, zogen vorbei, bedeckten ihn wieder.
Karnak und seine Krieger warteten mit der stoischen Geduld ihrer Rasse – Stunde um Stunde. Hin und wieder scharrte eines der Pferde mit den Hufen. Lederzeug knirschte, und Waffen klirrten. Zondar wimmerte und schrie von Zeit zu Zeit auf. Schließlich stand Karnak auf. Er stieß einen trockenen Ast in die zusammengefallene Glut. Als er hell brannte, beugte er sich damit forschend über den Gefangenen. Er grunzte zufrieden. Keine der Wunden hatte sich geschlossen; die Wirkung des Heiligen Trankes war erloschen. Zondar gewahrte das Licht über sich, öffnete die Augen und röchelte: »Wasser!« Er sah nicht die Grausamkeit in Karnaks Gesicht, hörte nur seine laute Stimme: »Bringt den Trank für den Kartuger!« Flüssigkeit floß aus einer Flasche in eine Schale. Einer der Krieger hob Zondars Kopf an. Karnak hob einen monotonen Singsang an, ließ die Schale mehrmals über seinem Kopf kreisen, ehe er sie an Zondars Lippen setzte. Der kartugische Dieb schluckte gierig, seine ausgedörrte Kehle spürte nichts von dem Geschmack der Fäulnis, der dem Trunk beiwohnte. Erst als das entsetzliche Brennen und Wüten in seinen Eingeweiden anhob, erkannte er, daß sich Karnak nur eine neue Marter hatte einfallen lassen. Er würgte und keuchte, versuchte, seinen Magen dazu zu bringen, sich zu entleeren. Vergebens. Erschöpft gab er es auf. Längst hatte er sich damit abgefunden, sterben zu müssen. Wenn nur nicht dieses entsetzliche Feuer in ihm wäre … Jemand machte sich an seiner Brust zu schaffen. Zondar wußte nicht, daß es sein Glücksbringer war, den man ihm, nutzlos geworden, zurückgab. Wie aus weiter Ferne drangen die Geräusche der aufsitzenden Krieger an sein gesundes Ohr. Dann Karnaks harte Stimme: »Höre, Kartuger, was ich, Karnak vom Stamm der Indabas im
Reich des Südens, zu sagen habe: Du wirst für deinen Frevel, das Heiligtum unserer Herrin geschändet zu haben, mit dem Tod bestraft. Du wirst in wenigen Stunden sterben, aber das Sterben wird dir, wie jeden Frevler, nicht leicht gemacht. Wir haben dir den Trank der Auflösung eingeflößt, der deinen unwürdigen Körper unter unsäglichen Schmerzen von innen her zersetzt. Und nun – Moloch mit dir!« Unter gellenden Rufen trieben die Krieger ihre Pferde an. Das trommelnde Stakkato entfernte sich rasch. Zondar war allein unter dem bleichen Licht der schmalen Mondsichel und wartete auf den Tod.
2.
Noch war es kühl in der frühen Morgendämmerung. Noch standen die Sterne am Himmel, und Nebel hing über den Gassen Kartugs. Nebel, der in dünnen Schwaden vom Großen Meer herantrieb. Dort, wo der Hafen lag, ragten die Mäste der Segler wie Papyrusstauden durch den bleichen Dunst. Zur Stadtmitte hin erhoben sich die Prunkhäuser der reichen Kaufherren wie Monumente über die wallenden Schwaden. Der Palast Ondurmans, des Vaters von Kartug, überragte alle anderen. Das Schnauben der Pferde klang laut durch die Stille. Ihre Felle glänzten vor Nässe in der Morgenkühle, der Atem dampfte aus ihren Nüstern. Dumpf trommelten die Hufe in den engen Gassen. In den Häusern war das Leben noch nicht erwacht. Selbst die Karawanserei hatte noch im tiefen Schlaf gelegen, als die beiden Männer und die Frau aufbrachen. Hinter dem Tor hatten sich ihnen die fünf Mietwächter angeschlossen. Wenige Worte nur waren gewechselt worden, dann strebte man der Südmauer zu. Yina zog fröstelnd den Mantel enger um ihre Schultern. »Mir ist kalt.« Kapitän Jaggar, ehemaliger Pirat in der Bruderschaft des Großen Meeres und Yinas Mann, trieb sein Pferd neben das Reittier seiner Frau. »Wenn die Sonne aufgegangen ist, wird die Kühle verschwunden sein«, sagte er. Nach einer kurzen Strecke wandte er sich im Sattel um und blickte auf Nabib, der dicht hinter ihnen ritt und ein verdrossenes Gesicht aufgesetzt hatte. Beide zügelten ihre Reittiere etwas, bis Nabib auf gleicher Höhe mit ihnen ritt. Der Händler aus Sodok starrte weiter mürrisch vor sich hin. Jaggar wandte sich an Yina. »Was ist mit ihm? Haben ihn die Seelen derer, die er schon übers Ohr gehauen hat, nicht zur Ruhe kommen lassen? Oder war gar die Schankmagd nicht ganz so willig, wie es gestern abend noch den
Anschein hatte?« »Du hegst schmutzige Gedanken, Mann! Nein – nichts von alledem«, Yina lachte und schüttelte den Kopf mit dem ungebändigten Haar. »Man hat ihn nur bestohlen.« »Mehr nicht?« Jaggar schien enttäuscht. Doch seine lapidare Bemerkung veranlaßte Nabib, sein Schweigen zu brechen. »Bezeichnest du sieben Goldstücke als Nichts!« grollte er und durchbohrte den neben ihm Reitenden mit Blicken. »Sieben Goldstücke haben mir diese Strauchritter und Tagediebe von Kartugern aus der Geldkatze gefingert, ohne daß ich es merkte!« »Ho! Das ist allerdings schlimm«, bekannte Jaggar spöttisch. »Wird der Verlust unsere Unternehmungen gefährden?« Nabib seufzte. »Freund Jaggar, du wärest besser bei der Flotte geblieben, statt dich mit mir zusammenzutun. Wenn du derart gering über Geld denkst, wird nie ein vernünftiger Kaufmann aus dir.« Er verfiel wieder in Schweigen und dachte an die Schlechtigkeit der Welt. Nabib von Thinayda, der aus Sodok stammende Händler, und Jaggar, ehemals Pirat von der Totenküste, zwei scheinbar unvereinbare Temperamente. Der eine: ein eingefleischter Schacherer, wie es keinen durchtriebeneren auf den Märkten von Luʹur, Myra, Urgor und Dan gab. Der andere: ein Draufgänger, dem das Eisen locker im Gürtel saß. Ein Außenstehender suchte hier vergebens nach etwas Gemeinsamem. Die Klammer, die die beiden gegensätzlichen Charaktere zusammenhielt, hieß Yina. Ihrem Drängen zufolge hatte Jaggar seinen Dienst in der myranischen Flotte quittiert und sich mit Nabib zusammengetan, der ihn als Partner und Kapitän seines Schnellseglers akzeptierte. Viel war seit Dragons Verschwinden geschehen. Nabib besaß eine kleine Kauffahrerflotte und unterhielt Kontore in Myra, Zunt, Dan, Sodok und auf der Schlangeninsel. Er, der mit seinen früheren Unternehmungen meist Pech hatte, hatte es zu einem gewissen Wohlstand gebracht, an dem Yina und Jaggar teilhatten. Die Jagd nach dem großen, einmaligen Schatz hatte er für eine Weile
zurückgestellt, um sich ganz dem Merkantilen zu widmen. War er anfänglich mehr von den ungeahnten Möglichkeiten beeindruckt, die Yinas gedankenleserische Fähigkeit für seine Geschäfte beinhalteten, so war im Verlauf ihrer Zusammenarbeit eine tiefergehende Beziehung entstanden. Daß beide Männer überhaupt so erfolgreich tätig werden konnten, war überwiegend Yinas Verdienst. Sie war bei allen wichtigen Verhandlungen und Geschäftsabschlüssen dabei. So blieb Nabib von Reinfällen verschont – was früher nicht immer der Fall gewesen war. Daß hinter Yinas augenscheinlichem Geschäftsinteresse eine gänzlich anders gelagerte Motivation lag, wußte keiner der beiden. Zweieinhalb Sommer waren vergangen, seit Dragon durch das Weltentor im Eisland verschwunden war. Und die einzige Erinnerung, die es an den König von Myra gab, existierte nur in den Herzen seiner Freunde. Viele hatten ihn aufgegeben, hatten ihn vergessen, aus ihren Gedanken gestrichen. Nicht so Yina. Sie war fest davon überzeugt, daß Dragon noch lebte, und daß sie, wenn sie möglichst viel in der Welt herumkam, eines Tages den König finden würde. Die Sterne verblaßten. Der Himmel wurde bleich, verwandelte sich im Osten in leuchtendes Blau. Etwas später zuckten die ersten Lichtpfeile über das Firmament. Dann schob sich die Sonne aus dem Dunst des Großen Meeres. Schnell verflüchtigte sich der Nebel über der Stadt, und ebenso schnell erwachte das Leben in ihr. Kartug war eine Stadt von dreißigtausend Einwohnern, Stadtwache und Sklaven mitgerechnet. Die meisten Häuser gruppierten sich innerhalb der Stadtmauern. Kartug war reich geworden als Zentrale des Nord‐Südhandels. Hier trafen die Schiffsrouten aus den Ländern des Nordens auf die Karawanenstraßen, die zu den Ländern der Schwarzen Menschen und zu den Reichen des Ostens führten. Der hakennasige, schwarzbärtige Kartuger an der Spitze zügelte sein Reittier und kam an Nabibs Seite. »Ja, Herr?«
»Werden wir bald am Tor sein?« »Bald«, sagte der Wächter und rückte den Schild auf seinem Rücken zurecht. »Du kennst unser Ziel?« Ein Blick aus dunklen Augen traf den Händler. »Wir sind rechtzeitig dort, Herr.« Er setzte die Sporen ein und ritt wieder voraus. Die Hufe der Tiere schlugen einen dumpfen Wirbel auf dem festgestampften Boden einer breiten Straße. Das Sattelzeug knirschte, und die Waffen klirrten. Ein Zug Pilger lagerte am Rand der Straße; der Rauch ihrer Feuer stieg senkrecht in die Luft. Hunde kläfften, Kinder schrien. In den Höfen der Herbergen entlang der Straße röhrten die Kamele, Treiber fluchten und schrien. Yina schlug den Mantel zurück, setzte sich im Sattel aufrecht und hielt sich dicht neben Jaggar. Vor neun Tagen waren sie von der Schlangeninsel aufgebrochen. Günstige Winde und Jaggars Kenntnisse über Strömungen und Navigation hatten ihr Schiff, das, wie Jaggars früheres Piratenschiff, den Namen Schwarze Wellenreiterin trug, rasch nach Westen gebracht. Ziel war das große, mächtige und prachtvolle Kartug. Seit vier Tagen waren sie nun hier – das Schiff lag im Hafen unter der Obhut des getreuen Zimaron, des Steuermanns. Nabib hatte als erstes ein Lagerhaus gemietet und einen Teil der wertvollen Ladung dort deponiert. Dann war er daran gegangen, Verbindung mit den reichen Handelsherren Kartugs aufzunehmen. Er hoffte, gewinnbringende Beziehungen finden und ausbauen zu können, wobei er sich das Errichten eines Kontors als Ziel gesetzt hatte. Einen wichtigen Schritt vorwärts in seinen Bemühungen erhoffte sich Nabib von einem Handelsfürsten, zu dessen weit außerhalb Kartugs gelegenen Landsitz sie jetzt unterwegs waren. Den Erkundigungen zufolge, hatte er ein gewichtiges Wort im Senat der Kaufherren mitzureden. Eine Hundemeute jagte kläffend über die Straße. Yinas Reittier tänzelte nervös. Die junge Frau zog den Zügel hart an und zwang
den Kopf des Schecken nach unten. Dann hing sie weiter ihren Gedanken nach. Neun Tage, seit die Schlangeninsel unter die Kimm getaucht war. Wie mochte es in Myra aussehen? Die letzten Nachrichten waren nicht sehr erfreulich gewesen. Seit Dragon spurlos hinter dem Weltentor verschwunden war, hatte Königin Amee mit zunehmenden politischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Auseinandersetzungen mit den Daikanen, den myranischen Stammesfürsten, erschütterten die Grundfesten des Reiches. Hinzu kamen noch die Übergriffe der benachbarten Herrscher, die hofften, die unsichere Lage im Königreich Myra zu ihren Gunsten ausnutzen zu können. Ein Heer von Spionen, Attentätern und Volksaufwieglern schürte nur noch das Feuer der Unzufriedenen, goß Wasser auf die Mühlen derjenigen, die sich die früheren Zustände zurückwünschten. Bislang scheiterte jedoch jeder Aufstand oder Umsturzversuch an Parthos Elitearmee von fünfzehntausend königstreuen Kriegern, die hart und rücksichtslos zuschlugen, wenn es nötig war. Amees getreuer Heerführer hatte inzwischen die zwanzig Sommer junge Schwester der Königin geheiratet, was ihn noch enger an das Königshaus schmiedete – nicht ganz ungewollt von Amee – und ihm eine Schlüsselposition in Myra einräumte. Trotz allem begann sich langsam im Volk die Gewißheit festzusetzen, daß sich mit Dragons unerklärlichem Verschwinden auch die Götter von Myra abgewendet hatten. Selbst die Weisen der Berge hatten sich wieder zum Ahʹrath zurückgezogen und ließen sich nicht mehr blicken. Man sah auch keine Drachen am Himmel mehr. Yina schüttelte den Kopf, als wolle sie die düsteren Gedanken vertreiben. Der Verkehr auf den Straßen wurde immer dichter, je näher sie der hohen Stadtmauer kamen. Eine Vielzahl von Gerüchen, von staub‐ und Geräuschen und Stimmen erfüllte die rauchgeschwängerte Luft. Yina konnte im Vorüberreiten allein sieben verschiedene Dialekte ausmachen, sah Menschen aus vieler Herren Länder. Sie kamen aus Luʹur und Zunt, aus Hind, von den
Städten am Grünen Strom und aus dem Land der Feuerberge. Hellhäutige und hellhaarige Nordländer waren darunter, wie auch dunkelhäutige und schwarzbärtige Gestalten der Wüstenstämme. Das breite Tor wurde von einer zweifachen Kette von Gardisten bewacht. Athi, der an der Spitze reitende Wächter, hob den Arm. »Platz!« rief er laut. »Im Namen Ondurmans, des Vaters der Stadt! Macht Platz den Wächtern!« Die Strahlen der Morgensonne brachen sich in dem handtellergroßen Siegel auf Ahtis linker Brustseite. Der Offizier der Torgarde betrachtete den Talisman der Gilde der Wächter mißmutig, sah jeden der Reiter von unten nach oben an und verweilte länger als schicklich bei Yinas schlanker Gestalt. Die junge Frau lief rot an. Zu deutlich empfing sie die Gedanken des hartgesichtigen Mannes. Jaggar, der sah, was vorging, fühlte Zorn in sich aufwallen. Unbeherrscht griff er nach seinem Dolch, doch da wandte sich der Offizier ab und winkte seinen Männern zu. Die Reihe der schwerbewaffneten Gardisten öffnete sich, brutal wurden die Fußgänger zur Seite gedrückt, und die Kavalkade sprengte durch das Tor. * »Herr! Hierher!« schrie Athi. Nabib beugte sich im Sattel vor, setzte die Fersen ein und preschte nach vorn. »Was gibt es, Wächter? Gefahr?« Der Kartuger hob die Schultern und sagte: »Da! Elf Reiter, Herr.« Nabib blickte in die Richtung, in die Athis Arm wies. Vor ihnen auf der Karawanenstraße, im hellen Morgenlicht, zeichneten sich die Silhouetten von Reitern scharf auf der Höhe der leicht ansteigenden Straße ab.
»Ich sehe.« »Es sind Krieger aus dem Reich des Südens, Herr!« »Auch das sehe ich.« Nabib lächelte milde über Athis Ereiferung. »Ich bin auf meinen Reisen öfters schwarzen Menschen begegnet.« Athi musterte ihn kühl »Du bist ein gebildeter Mann, Herr, und hast Augen wie ein Fischadler. Laß mich an deiner Weisheit teilhaben und sage mir, weshalb ihre Gesichter bemalt sind?« Nabib zügelte sein nervös tänzelndes Reittier. »Das kann ich nicht«, bekannte er, »Denn ich weiß es nicht.« Athi sprach nicht aus, was er dachte. Statt dessen sagte er: »Diese Krieger befinden sich auf der Straße des Todes. Es sind Mörder!« Der Kartuger spuckte aus und kreuzte schnell die Finger, um die Dämonen zu bannen. »Du bist sicher?« Athi nickte. »Gefahr für uns?« wollte der Händler aus Sodok wissen. »Ich weiß es nicht. Aber schließlich hast du uns bezahlt …« »… um uns vor Wegelagerern und wilden Tieren zu schützen, ich weiß!« vollendete Nabib. »Gut. Sehen wir uns also vor!« Die anderen hatten inzwischen aufgeschlossen. Sie waren noch etliche Bogenschußweiten vom Tor entfernt und ritten nun weiter. Jaggar und Nabib lockerten ihre Schwerter, während Athi den Bogen von der Schulter nahm und seinen Männern winkte. Sie verließen ihre Plätze am Ende des Zuges und schlossen sich dicht um die drei aus Myra. Langsam ritten sie die sandige Straße hinauf. Die Bogen wechselten von den Schultern zu den Händen. Fäuste umklammerten die Griffstücke und je zwei Pfeile. Nabib ritt neben dem Kartuger und setzte sich nun im Sattel zurecht, während er die rasch näher kommenden Reiter in ihren Löwenfellen im Auge behielt. Ihr Anführer war von hünenhafter Gestalt. Der riesige Schimmel, auf dem er saß, wirkte direkt klein unter ihm. Jetzt waren sie auf gleicher Höhe. Sand flog unter den Hufen hoch; die Pferde schnaubten und wieherten. Jaggar hielt unwillkürlich den
Atem an. Die Bemalung machte aus den fremden Gesichtern Dämonenfratzen. Unwillkürlich murmelte der ehemalige Pirat eine Beschwörungsformel gegen den bösen Blick. Hier, aus dieser sandigen Karawanenstraße vor den Mauern Kartugs, berührten sich für die Dauer von vier, fünf Herzschlägen zwei grundverschiedene Welten. Eine spürbare Aura von Gewalt und dunkler Drohung ging von den fremden Kriegern aus, die mißtrauische Blicke herüberwarfen. Genau in dieser Sekunde schrie Yina unterdrückt auf. Jaggars Kopf ruckte herum. Er sah, wie seine Frau kreidebleich wurde und im Sattel wankte. Panisches Entsetzen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Er trieb sein Pferd an Yinas Reittier heran, griff in die Zügel und brachte es zum Stehen. Er warf das recht Bein über den Sattel und glitt vom Tier, ohne Yinas Pferd loszulassen. »Jaggar …«, flüsterte sie, streckte beide Arme nach ihm aus und ließ sich fallen. Er fing sie auf. Sie klammerte sich schutzsuchend an ihn und barg ihr Gesicht an seiner Brust. Er strich ihr übers Haar und fragte sich, was vorgefallen war. Seine Blicke suchten die fremden Krieger aus dem Reich des Südens – sie ritten eben durch das Wüstentor nach Kartug hinein. Daß Yinas Verhalten mit ihnen zu tun hatte, daran hegte Jaggar keinen Zweifel. Nabib kam in einer Staubwolke heran. »Ho!« rief er, riß am Zügel und hielt sein Pferd an. In seiner Haltung war etwas Wachsames, Gespanntes. Athi und die anderen Wächter blieben ebenfalls stehen, bildeten einen lockeren Ring um Jaggar und Yina. »Was war los, Yina?« fragte er endlich. »Noch nicht. Gib mir etwas Wasser.« Er sah ihr in die Augen. Sie waren noch immer voller Schrecken. Nabib warf seinen Wasserbeutel, den Jaggar auffing und Yina gab. Nach einigen Schlucken sagte die junge Frau: »Es war fürchterlich.« »Ich sehe es«, erwiderte Jaggar und starrte sie an. »Berichte; du hast Gedanken aufgefangen?«
Sie nickte. »Es ist eine furchtbare Geschichte«, sagte sie. Dann erzählte sie, was sie empfangen hatte; als der herkulische Schwarze auf seinem weißen Reittier an ihr vorübergeritten war. Nabib und Jaggar hörten schweigend zu, wie diese Krieger aus dem sagenumwobenen Reich des Südens einen Mann aus Kartug die ganze Nacht über gefoltert hatten, als Strafe für etwas, das in den Gedanken des Anführers nur verschwommen als Tempelfrevel zu lesen gewesen war. »Laß uns hinreiten«, bat Yina abschließend. »Was willst du von einem Toten?« fragte Jaggar. »Er ist nicht tot – noch nicht. Die Schwarzen Männer haben ihm etwas eingeflößt, das sie den Trunk der Auflösung nennen. Sein Sterben wird Stunden dauern.« Er runzelte die Stirn. »Was erhoffst du dir von einem Sterbenden?« Sie löste sich aus Jaggars Armen und stieg in den Sattel. Sie fuhr fort : »Dieser Kartuger muß eine mehrere Monde dauernde Reise hinter sich haben. Eine Reise, die ihn weit in die Länder der Schwarzen Menschen führte, vielleicht noch weiter. Sicher hat er viele Städte gesehen, mit vielen Menschen gesprochen …« Jaggar hob die Hand und sagte: »Woran denkst du, Weib?« Es war Nabib, der mit einem Lächeln antwortete. »Weißt du nicht, was im Herzen deines Weibes vorgeht, Pirat?« versetzte er. »Sie hat ihn noch nicht aufgegeben – im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, uns eingeschlossen.« Jaggar starrte ihn finster an. »Schweig, Krämerseele«, erwiderte er. Dann wandte er sich wieder Yina zu. »Du hoffst also, daß dir ein Sterbender Auskunft über Dragon geben könnte. Ist das nicht vermessen, Weib?« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Ich glaube noch immer, daß wir ihn finden, wenn wir nur lange genug suchen. Vielleicht wird er
irgendwo gefangengehalten … Vielleicht ist er krank und irrt in der Welt umher …« »… vielleicht hat er auch nur die Nase voll von den Staatsgeschäften«, warf Nabib sarkastisch ein. »Wir sollten uns langsam entschließen, was wir tun wollen!« Jaggar sah von Nabib zu Yina, las die unausgesprochene Bitte in ihren Augen und kam zu einem Entschluß. »Athi!« Der Wächter stellte sich in den Steigbügeln auf. »Herr?« »Kennst du einen Platz …« Jaggar beschrieb die Gegend, wo der Gefolterte liegen mußte, so wie sie Yina aus den Gedanken des Löwenfellträgers herausgelesen hatte. Athi war näher gekommen. »Ich kenne den Platz. Von dieser Straße zweigt nach einer Stunde ein Karawanenpfad ab, den die Nomaden mit ihren Packtieren benutzen, wenn sie durch die Wüste zur Flachen See wollen. Er wird uns ziemlich genau zu der Stelle bringen, von der du sprachst. Ein bevorzugtes Jagdrevier für Schakale.« »Verlieren wir viel Zeit, wenn wir diesen Platz aufsuchen?« wollte Jaggar wissen. »Kaum. Unser Weg führt dort vorbei.« Jaggar schwang sich in den Sattel. »Dann los!« schrie er und hieb die Fersen in die Flanken seines Pferdes.
3. Die Sonne stand wie ein gleißender Schild am Himmel. Die Ebene flirrte vor Hitze. Das grelle Licht schmerzte. Die Schlagschatten der Reiter fielen lang und schwarz über den Sand bis hin zu der Stelle, wo der Mann lag. Arme und Beine hatte man ihm an vier in den Boden gerammten Lanzen gefesselt. Jaggar sah die Wunden und das geronnene Blut, auf dem Insekten herumkrochen und nahm an, daß der Mann tot war. Aber er lebte noch. Irgendwo in ihm mußte noch ein verborgener Lebensfunken sein. Sein Kopf bewegte sich; das Geräusch der Hufe mußte bis zu seinem Bewußtsein vorgedrungen sein. Sein Mund öffnete sich. »Wasser … gebt mir Wasser …«, stammelte er mit kaum verständlicher Stimme. »Erbarmen …« Jaggar sprang mit einem Satz vom Pferd. Sein Schwert blitzte auf, als er die Lederriemen durchhieb. Der Körper des Gemarterten entspannte sich. Yina kniete sich hinter ihn und hob vorsichtig seinen Kopf hoch, während Jaggar Wasser aus einem Schlauch in den Mund des Stöhnenden goß. »Hilf mir«, sagte der Pirat. Yina nickte stumm. Die nächsten Minuten säuberten sie den Gefolterten notdürftig, der immer wieder aufstöhnte und die Hände um den Leib krampfte. Etwas in ihm schien ihn zu verbrennen. Jaggar betrachtete ihn. Er war ein kleiner, schlanker Mann von bemerkenswerter Häßlichkeit, soweit sich das jetzt noch feststellen ließ – die Folter hatte ihre fürchterlichen Zeichen hinterlassen. Und er würde sterben; Jaggar hatte Yinas Kopfschütteln richtig gedeutet. Für den Bedauernswerten gab es keine Rettung. Der Händler aus Sodok kniete neben dem Stöhnenden nieder, seine Hand wedelte die Insekten von dem verkrusteten Gesicht. »Wer bist du?« fragte er. »Ich bin … Zondar … Dieb aus Kartug«, antwortete der Mann mit
gebrochener Stimme. »Und du?« »Nabib von Thinayda.« »Ho!« murmelte der Dieb, und der Abglanz eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Von dir habe ich schon gehört. Hinter was bist du her?« »Ich war in Geschäften zu Kime und Kʹnan unterwegs, als wir dich fanden«, erwiderte Nabib. »Bist du unter ein Rudel Löwen geraten?« »Es … waren elf Krieger, schlimmer als Löwen.« Man sah, daß Zondar seinen gesamten Willen und alle seine Kräfte aufwenden mußte, um die Worte und Sätze klar zu formulieren. »Ich sehe«, nickte Nabib. »Kann ich etwas für dich tun?« Zondars Blick verdunkelte sich. Er krümmte sich zusammen, schrie und röchelte. Es dauerte mehrere Minuten, ehe er wieder zu sprechen begann. »Begrabe mich so, daß ich … Kartug sehe«, flüsterte er. »Versprich mir das!« Seine Hand tastete nach Nabibs Arm, und die Finger krallten sich im Stoff fest. »Ich verspreche es!« sagte der Händler. Ein Schatten fiel über sie. Aufblickend sah Nabib, daß Athi herangekommen war und mit starrem Gesicht auf Zondar blickte. »Bruder!« sagte er mit rauher Stimme, »Bruder, was hast du getan, um so etwas erleiden zu müssen?« »Ho, Bruder!« sagte der Sterbende mühsam, »wenn du Jala siehst, sage ihm, er ist nun der Meisterdieb von Kartug. Es war sein sehnlichster Wunsch, mich zu übertreffen. Nun wird es mich bald nicht mehr geben …« ein Hustenanfall unterbrach Zondars Worte, und erst nach einer längeren Pause konnte er weitersprechen, »… ich sehe schon die Dunkle Straße vor mir.« Athi knirschte mit den Zähnen. »Kann ich etwas für dich tun, Bruder?« Zondar hob matt die Hand und winkte ab. »Für mich kann niemand mehr etwas tun.« »Dann lebe wohl, Bruder.« Athi schlug ein magisches Zeichen
über den Sterbenden, dann wandte er sich mit steinernem Gesicht ab und hockte sich mit untergeschlagenen Beinen mehrere Schritte entfernt in den Sand. Nabib fühlte Zondars Blicke auf sich ruhen, sah, wie ihn dieser zu sich winkte und beugte sich näher. »Du bist Händler«, hörte er die heisere Stimme keuchen, »und wirst ein offenes Ohr für meine Geschichte haben. Sie ist phantastisch und unglaubwürdig, aber so wahr wie ich hier liege und sterben werde. Willst du sie hören?« »Sprich«, murmelte Nabib, »ich weiß, wie dir zumute ist, Sohn. Wenn ich dir das Sterben damit leichter mache …« Zondar grinste matt; es war eine Grimasse, hinter der man schon den Tod sah. »Ich erzähle sie dir nur, weil du andere Möglichkeiten hast, als ich sie je hatte. Du kannst den Wahrheitsgehalt meiner Geschichte überprüfen und – falls du Glück hast und die Götter dir wohlgesinnt sind – vielleicht das Elixier der ewigen Jugend ergattern. Stell dir vor, welche Preise du damit auf den Märkten der großen Städte erzielen könntest! Fürsten und Könige würden dir ihre Reichtümer und Ländereien geben, nur um in den Besitz dieses Lebenstrankes zu kommen …« Eine Pause entstand. Nabib war versucht, die Worte Zondars als Phantasien eines Todgeweihten zu nehmen, während gleichzeitig etwas in ihm war, das ihm sagte, daß ein Sterbender nicht lügen konnte. Zondar begann wieder zu sprechen, hastig und wie von der Furcht getrieben, er könne sterben, ehe er seine Geschichte erzählt hatte. »Es war vor einem Sommer. Ich hockte in der Karawanserei des fetten Riman und spielte mit einem Karawanenführer das Spiel der Würfel. Er war betrunken, ich hatte dafür gesorgt, denn ich wollte ihn später ausrauben, und ich spielte falsch, aber das merkte er nicht. Als er nichts mehr besaß als die Kleider auf seinem Leib, verkaufte er mir für ein letztes Spiel eine Geschichte. Irgendwo
inmitten der Länder der Schwarzen Menschen gäbe es etwas, das er das Elixier der ewigen Jugend nannte. Der Trank des Lebens würde in einem Tempel aufbewahrt werden, bewacht von einem Heer Krieger, die grausam und brutal jeden töteten, der es wagte, auch nur einen Fuß in den Tempelbezirk zu setzen. Ich schenkte ihm zunächst keinen Glauben, aber dann erkannte ich, welche Möglichkeiten sich hier auftaten. Sollte es mir gelingen, etwas von diesem wundersamen Trank in die Hände zu bekommen, konnte ich ihn tropfenweise zu enormen Preisen in Kartug verkaufen. Ich wäre mit einem Schlag ein gemachter Mann gewesen.« Eine halbe Stunde sprach Zondar ununterbrochen. Dann wußte Nabib, daß sich der Dieb unmittelbar nach jener Nacht, die er mit dem trunkenen Karawanenführer verbrachte, auf den Weg in das Reich des Südens gemacht hatte. Er hatte sechs Monde gebraucht, jene sagenhafte Stadt zu finden, in dessen Tempel der Trank aufbewahrt wurde. Zondar fuhr fort: »Um in den Besitz des Elixiers zu gelangen, bedurfte es einer Tat, die allein ausreichte, mich unter den Dieben aller bekannten Länder berühmt zu machen. Ich verbarg mich in einem tönernen Krug, in dem ursprünglich Öl für die Lampen des Tempels transportiert werden sollte. Um den Öllieferanten zu bestechen, gab ich alle meine Barschaft und tischte ihm ein Märchen über einen betrogenen Ehemann auf, der seine Frau mit deren Liebhaber zu überraschen gedachte. Das Elixier befand sich in einem Krug aus Jade, der von einer zweifachen Kette von Kriegern bewacht wurde. Ich wartete die Mitte der Nacht ab, dann hob ich vorsichtig den Deckel des Ölkrugs und blies aus einem Röhrchen Traumlotos in den Raum. Nachdem alle Wächter eingeschlafen waren, stieg ich heraus und füllte aus dem Jadekrug etwas von dem wundersamen Trank in ein kleines Gefäß ab, das ich am Gürtel trug …« Plötzlich bgann Zondar hastig zu atmen und preßte hervor: »Wasser … bei allen Göttern Kartugs … ich verbrenne!« Yina wurde bleich, als sie die schmerzgepeinigten Gedanken des
Sterbenden auffing, und wandte sich schaudernd ab. Nabib träufelte mit Jaggars Hilfe Wasser auf die schrundigen Lippen des Diebes. Nach einer Weile flüsterte Zondar mit heiserer Stimme: »Diese schwarzen Teufel haben mir etwas eingeflößt, das meine Eingeweide zersetzt. Sie wollten ganz sicher gehen, daß ich diesmal nicht mit dem Leben davonkomme – wie schon einmal.« »Wie?« fragte Nabib mit rauher Kehle. »Sie haben dich schon einmal gefangen?« Zondar lachte; es wurde ein Husten und Würgen daraus. Jaggar wischte das schwarze Blut ab, das dem Dieb aus den Mundwinkeln sickerte. »Gleich nachdem ich von dem Trank gestohlen hatte, erwischte mich Karnak, der Oberteufel. Ich hatte nicht bedacht, daß die inneren Wächter ständig kontrolliert wurden. Erspart mir die Schilderung dessen, was man mir angetan hat. Die grausamen Foltermethoden der Schwarzen Krieger übertreffen alle Vorstellungen. Schließlich ordnete dieser Hund Karnak an, mir Hände und Füße abzuhacken und mich im Tempelhof den Geiern zum Fraß vorzuwerfen. Seine Krieger taten es mit Freude …« »Wie?« unterbrach ihn Nabib überrascht. »Aber du hast doch noch alle deine Glieder!« Erneut erschütterte ein schmerzgepeinigtes Lachen den Körper Zondars. »Ich bin ein ehrlicher Dieb«, preßte er mühsam hervor. »Ich prüfe die Ware, ehe ich sie weiterverkaufe. Deshalb nahm ich auch sofort einen Schluck dieses Wundertrankes und füllte die gleiche Menge Wasser ins Gefäß nach. Die Wächter merkten so nicht, daß ich bereits von der heiligen Flüssigkeit getrunken hatte.« Jaggar und Nabib murmelten überrascht und kreuzten schnell die Finger, um alle bösen Dämonen von sich abzuwenden, als Zondar fortfuhr: »Ich lag allein unter der glühenden Sonne. Die Geier umkreisten mich, und ich dämmerte dem Ende entgegen, als etwas mit mir geschah. Der Blutfluß stoppte, die Wunden an meinem Körper
schlossen sich. Ich glaubte den Verstand zu verlieren, als ich merkte, wie mir Hände und Füße innerhalb kurzer Zeit nachwuchsen. Es war Nacht, als ich wieder auf meinen Füßen stand, völlig geheilt. Nun mußte ich rasch handeln. Ich schlich mich in die Tempelstallungen und stahl mir ein Pferd. Aus einem daneben liegenden Vorratsraum nahm ich mir das Notwendigste und verließ den heiligen Bezirk. Man hatte offenbar meine Flucht bemerkt, denn kaum war ich aus der Stadt, als ich einen Trupp Reiter hinter mir gewahrte, die mich verfolgten. Aber ich ritt ein ausdauerndes und schnelles Tier, so holten sie mich nie ein. Sie hetzten mich landauf, landab. Es waren sechzehn Krieger, Karnak führte sie an. Sie jagten mich durch Dschungel, über Steppen und durch die Wüste. Einmal kamen sie mir so nahe, daß sie mich fast überrascht hätten. Doch ich tötete zwei von ihnen durch Pfeile und entkam. Auf meinen Spuren errichtete ich Fallen, wie es die Löwenjäger tun. Drei der Krieger brachte ich so vom Leben zum Tode. Dann fielen sie nicht mehr darauf herein. Trotzdem wäre ich ihnen entkommen, hätte sich mein Pferd nicht bei einem Sturz das Bein gebrochen, was dazu führte, daß ich meinen Talisman verlor, als ich aus dem Sattel fiel.« Zondars Hand glitt suchend über seinen Körper.»Ist er das?« fragte Yina und zeigte ihm die unscheinbare Fellkugel. Sie war Zondar von der Brust gerollt, als sie ihn säuberten. Der Dieb griff danach, preßte seine Finger darum. »Schon mein Vater hat diesen Glückbringer getragen«, ‐murmelte er. »Und du glaubst, die Krieger haben dich deshalb gefangen, weil du deinen Talisman verlorst?« Nabibs Stimme klang skeptisch. »Ich weiß es«, war die Antwort. »Die Krieger aus dem Reiche des Südens sind alle zauberkundig. Mein Glücksbringer fiel Karnak in die Hände, deshalb war es ihm ein Leichtes, mich durch seine Zauberkräfte aus meinem Versteck zu locken. Sie folterten mich erneut, wie du sehen kannst, um herauszubringen, ob die Wirkung des Lebenstrankes noch anhielt oder schon verflogen sei.« Zondar verstummte, nur sein hastiger Atem erfüllte die hitzeflirrende Luft
des frühen Vormittags. Dann begann Zondar wieder zu sprechen »Ich habe einen Wunsch, Händler«, sagte er kaum verständlich. »Ich weiß!« Nabib nickte. »Wir werden dich begraben, wie du es dir gewünscht hast …« »Nicht dies – ich möchte, daß du mir hilfst, diese fürchterlichen Schmerzen nicht länger erdulden zu müssen. Verstehst du?« »Ich verstehe!« erwiderte Nabib und schluckte. Zondar richtete sich halb auf. Er starrte Nabib mit schmerzgepeinigtem Blick an. »Nimm dies«, keuchte er und gab dem Händler das Amulett. »Es wird dich in Kartug beschützen, glaube es mir. Keiner meiner Brüder wird dir oder den Deinen ein Leid zufügen, solange du den Glücksbringer trägst …« Er preßte die Kiefer aufeinander, als das Wühlen und Brennen in seinen Eingeweiden übermächtig wurde. Dann fiel er zurück. Er streckte eine zitternde Hand aus. Nabib zog mit steinernem Gesicht den Dolch aus dem Gurt. »Schnell …!« bat Zondar. »Hilf mir, den Dunklen Pfad zu erreichen.« Er packte den Griff des Dolches, und mit einem Lächeln stieß er sich die doppelseitig geschliffene Klinge ins Herz. Während Yina aufschrie, streckte sich der Meisterdieb aus Kartug aus und starb. Einen Augenblick war die Szene wie erstarrt, doch dann richtete sich Nabib mit einem Ruck auf. Sein Blick fing das Bild um sich ein, die Wächter, die regungslos auf ihren Pferden saßen; Athi, der noch immer im Sand hockte. Dann gab der Händler mit rauher Stimme seine Befehle. Die Männer saßen ab und gingen daran, ein Loch auszuheben. Etwas mühsam ging es mit den Schwertern, aber nach einer Stunde hatten sie eine genügend große Grube ausgehoben. Sie rollten den Körper des Toten in ein Fell, das Athi von seinem Sattel löste, und ließen den Dieb in die Grube gleiten, wo er halb aufgerichtet hockte, das Gesicht Kartug zugewandt. Sand fiel auf den Körper; schließlich war das Grab geschlossen.
Athi tat ein übriges und wälzte einen Felsblock über die Stelle im Boden unter der Zondar nun für immer ruhte. Keiner der umherstreifenden, Aasfresser sollte an den Leichnam gelangen. »Was nun?« fragte Athi und zügelte sein unruhiges Pferd. »Weiter?« Nabib und die anderen saßen auf. Der Händler sagte: »Wir werden unseren Weg fortsetzen.« Er hob den Arm und deutete nach vorn. »Los jetzt! Kime von Kʹnan wartet auf uns.« * Es dauerte nur eine Stunde, dann erreichte die Kavalkade die ersten Felder, die zu Kime von Kʹnans Gut gehörten. Und nur wenig später sprengten sie in den Hof, saßen ab und wurden vom Hausherrn begrüßt. Während Diener die Pferde tränkten und fütterten, und die Wächter sich im Gesindehaus erfrischten, führte Kime Nabib und seine Gefährten durchs Haus, bot ihnen Wein und gewürztes Fleisch an. Binnen kurzer Zeit hatten sie sich in ein Gespräch über die Sicherung der Handelswege vertieft und tauschten gegenseitig Erfahrungen aus, die beide mit Piraten gemacht hatten. Kime von Kʹnan hatte selbst ein Schiff und kannte Nabib aus früheren Tagen, als dieser noch in Sodok lebte. Nabib trug ihm sein Anliegen vor, für ihn zu sprechen, wenn er morgen vor dem Senat Kartugs um die Errichtung eines Kontors nachsuchen würde. Sie wurden sich schnell handelseinig, und am Nachmittag verabschiedeten sie sich voneinander mit dem Versprechen, einige Geschäfte gemeinsam zu machen. Noch vor Einbruch der Dunkelheit waren sie wieder in Kartug. * »Der Senat wartet!« drängte der Gardist neben Nabib. Der Händler aus Sodok nickte stumm, beeindruckt vom Wert der Ausstattung der Räume, durch die er bisher gekommen war. Jede
der Halle war mit vielfarbigen Ziegeln ausgelegt. Teppiche und kostbares Zedernholz vom Ufer des Grünen Stromes verkleideten die Steinwände, deren Abschlüsse Reliefe trugen. Dämonen, Götter und seltsame Ungeheuer schmückten die Friese. In goldenen Leuchtern verbrannte wohlriechendes Harz. Der Gardist brachte ihn in den Audienzsaal und rief laut: »Nabib von Thinayda!« Hier schmückten erlesene Seidenstoffe mit eingewebten Göttersymbolen die Wände. Noch immer tief beeindruckt vom Reichtum, der hier so offen zur Schau gestellt wurde, ging Nabib langsam bis vor den geschwungenen Podest, der vor der Rückwand der Halle die ganze Breite des Raumes ausfüllte. Eingerahmt von gut zwei Dutzend Sekretären, saßen dort die zwölf reichsten Männer Kartugs – die Senatoren – und der absolute Herrscher über diesen Stadtstaat, Ondurman, die letzte Instanz bei allen wichtigen Entscheidungen und Abstimmungen. Sein Wort war Gesetz. Er musterte Nabib aus verhangenen Augen. »Du bist der Händler, den man Nabib von Thinayda nennt?« fragte er mit leichtem Keuchen. Nabib stand unterhalb vom Podest, etwa vier Schritte trennten ihn vom Vater. Er verbeugte sich knapp und musterte nacheinander die Gesichter der dreizehn Personen. Er kannte nur einen der Männer – Kime von Kʹnan – auf dessen Landsitz er und die anderen gestern gewesen waren, um den Handelsfürsten als Fürsprecher für den heutigen Tag zu gewinnen. »Ja. Ich bin gekommen, um die Gastfreundschaft Kartugs zu genießen und Geschäfte zu machen.« Er faßte den Vater ins Auge. Ondurman, Oberhaupt des Senats der Kaufherren. Sein offizieller Titel: Vater von Kartug. Sein inoffizieller: Großer Fettsack. So jedenfalls nannten ihn die weniger begüterten Einwohner der Stadt; die Wasserverkäufer und Sklaven, die Schlächter und Korbflechter, die Bettler und Gurgelschneider. Nabib fand, daß er diesem Namen alle Ehre machte. Der Vater war ausgesprochen klein und fett und konnte sich offensichtlich kaum
noch auf eigenen Füßen fortbewegen. Ein kostbares, golddurchwirktes Gewand, das von Edelsteinen und Jade funkelte, versuchte vergebens, die enorme Fülle zu bändigen. Goldene Armbänder umspannten die vom Fett wabbelnden Arme, und funkelnde Ringe zierten die dicken Finger. Der kahle Kopf über diesem mißgestalteten Körper war durch die aufgeworfenen Lippen und den Schweinsaugen auch nicht erfreulicher anzusehen. Ondurman machte eine wedelnde Handbewegung und fragte mit fistelnder Stimme: »Woher stammst du, Händler?« »Aus Sodok von der Weißen Küste.« »Unter welcher Flagge segelst du?« »Unter der Myranischen, Vater.« »Dein Schiff?« fragte Ondurman. »Ich habe mehrere«, erwiderte Nabib mit hocherhobenem Kopf. »Man sagt, Königin Amee sei zauberhaft schön«, wechselte der Vater von Kartug plötzlich das Thema. Er lächelte und starrte Nabib lauernd an. Auf seiner rosigen Glatze glänzte der Schweiß. Der Händler schätzte Ondurmans Alter auf höchstens vierzig Sommer, aber die mußte er doppelt gelebt haben. Die Kunde von den Ausschweifungen in seinem Palast war in vieler Herren Länder gedrungen. »Sie ist es«, bestätigte Nabib schlicht. Ondurman leckte sich die Lippen. »Dann verstehe ich nicht, weshalb ihr Gemahl sie verlassen hat. Ich würde eine schöne Frau keinen Herzschlag lang aus den Augen lassen.« Er rollte mit den Augen. »Doch kommen wir jetzt zu den Geschäften.« Er winkte einem Sekretär zu. Der Mann kam pflichteifrig heran, entrollte einen Bogen Papier, in dem Nabib sein Gesuch erkannte. Mit geneigtem Kopf und leisem Keuchen hörte Ondurman sich an, was ihm der Sekretär ins Ohr flüsterte. Nabib wartete stumm, bis der Vater wieder das Wort an ihn richtete.
»Du suchst um die Errichtung eines Kontors nach. Wenn wir deinem Ersuchen stattgeben würden, welche Vorteile hätten wir davon?« »Viele«, versetzte Nabib selbstsicher. »Meine Schiffe sind schnell, die Rücken ihrer Besatzungen sind ohne Narben, kein Sklavenaufseher muß sie schlagen, damit sie arbeiten. Meine Männer verrichten ihre Arbeit mit Freude, denn ich beteilige sie mit einigen Prozenten am Gewinn, und sie fürchten weder Dämonen noch Piraten.« »Fürwahr, das sind Argumente, die für sich sprechen«, bekannte Ondurman, der nichts so sehr schätzte, wie sichere Handelswege – sie hielten den Verlust in Grenzen und erhöhten seinen Gewinn. Er wandte sich an die anderen zwölf Kaufherren des Senats, zwischen seinen Brauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet. Er dachte offensichtlich nach, welche Vorteile ihm ein Handel mit Nabib von Thinayda bringen würde. »Ist jemand unter euch, der Einwände hat?« Die Männer in ihren kostbaren Tuniken, angetan mit allen Insignien ihrer Macht, ihrer Würde und ihres Reichtums – die Kleinen Pfeffersäcke nannte sie der kartugische Volksmund –, blieben stumm. »Keine schwerwiegende Einwände also. Will dann jemand Nabib von Thinaydas Sache unterstützen?« Kime von Kʹnan hob die Hand. »Ich, ehrenwerter Vater von Kartug«, erwiderte er halblaut. Ondurman schürzte die wulstigen Lippen. »Mann aus Sodok«, sagte er mit seiner fistelnden Stimme, »du hast einen Gönner. Wie schön für dich! Nun gut, höre, was ich beschlossen habe: Meine Sekretäre werden dich innerhalb der nächsten fünf Tage in deiner Herberge aufsuchen und die ausgefertigten Verträge bringen. Halte dich bereit, aber lasse es dir nicht inzwischen in Kartug an Kurzweil fehlen.« Nabib senkte den Kopf und verharrte so einige Sekunden. Dann sagte er:
»Ich danke dir, o Vater. Wo ich zu finden bin, weiß jeder.« Ondurman verabschiedete Nabib mit einer Handbewegung. Die vielen Ringe an seinen dicken Fingern funkelten im Licht der goldenen Leuchter. Nabib verließ den Audienzsaal durch die schweigende Gasse der Palastgardisten. Auf seinem Weg durch den Vorraum, in dem die Bittsteller darauf warteten, aufgerufen zu werden, spürte er plötzlich, wie ihn jemand beobachtete. Er hob den Kopf und sah sich unauffällig um. Der Raum war nicht besonders groß und lange nicht so kostbar ausgestattet wie die übrigen Räume des Palasts. Fast am Ende der Reihe der Bittsteller erkannte Nabib die hünenhafte Gestalt des fremden Kriegers, der Zondar auf so grausame Weise zu Tode hatte kommen lassen. Heute trug er nicht das Löwenfell, sondern eine weiße Tunika mit blau eingefaßten Rändern. Auch das Gesicht war nicht mehr bemalt. Seine Augen waren starr auf einen Punkt auf Nabibs Körper gerichtet, und sein Gesicht war grau. Die Kette aus goldenen Platten auf seiner breiten Brust zitterte; Erregung durchlief diesen Mann. Plötzlich begriff Nabib. Er hat das Amulett erkannt! durchzuckte es ihn. Dann hob der Schwarze den Blick. Seine Augen bohrten sich in die des Händlers aus Sodok, der zurückstarrte. Sekundenlang fochten beide ein Duell mit den Blicken aus. Dann wandte der Schwarze den Kopf ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Für ihn schien Nabib nicht mehr zu existieren. Nabib ging zur Herberge zurück. Und mit jedem Schritt, den er sich von Ondurmans Palast entfernte, wuchs die Gewißheit, daß dies nicht die letzte Begegnung war. Zu haßerfüllt war der Blick des ebenholzfarbenen Mannes gewesen. Drei Tage vergingen, und Nabib wartete noch immer auf Ondurmans Sekretäre. Tagsüber brannte die Sonne vom Himmel, die Hitze nahm einem den Atem. Die Nächte waren schwül und kaum weniger erträglich; nur in den kurzen Stunden vor der Dämmerung konnte man schlafen.
Am Tage blieb Nabib stets in der Nähe der Herberge oder verließ sie erst gar nicht. Dann hockte er an einem der grob gezimmerten Tische unter den Tamarisken im Hof und trank literweise roten Wein aus tönernen Krügen, während Jaggar die Zeit nutzte, die Schwarze Wellenreiterin auf Hochglanz zu bringen. Tausend Dinge waren auf dem Schiff zu tun, solange es im Hafen lag. Segel wurden geflickt, zerschlissene Taue neu gespleißt. Die ganze Besatzung schuftete. Zimaron, der Steuermann, trieb die Leute an. Ein Teil der Männer tauchte und entfernte mit scharfen Klingen den Bewuchs der Planken unter Wasser. Undichte Stellen wurden mit Pech und Werg verschlossen, beschädigte Teile vom Schiffszimmermann ausgewechselt. In den Nächten jedoch streiften Nabib und Jaggar durch die Stadt, sehr zum Mißfallen Yinas. Sie wußte, daß Jaggar einem Treffen mit hübschen und willigen Schankmägden niemals aus dem Weg ging – ebensowenig wie einer ordentlichen Prügelei. Was dazu führte, daß sie einige Blessuren an ihm zu behandeln hatte. Zwei weitere Tage vergingen, und Nabibs Laune verschlechterte sich mehr und mehr. Selbst die Nachricht, daß die aus dem Lagerhaus gestohlenen Waren wie durch Zauberhand plötzlich wieder an ihren alten Plätzen lagen, konnte ihn kaum aufheitern. Am folgenden Tag geschah vieles kurz hintereinander … * »Gib acht!« warnte Jaggar. »Hier wimmelt es von Dieben!« Nabib warf ihm einen forschenden Blick zu. »Keine Sorge, an meine Geldkatze kommt so leicht niemand mehr!« erwiderte er dann, ließ aber trotzdem die Hand auf den Griff des Dolches sinken, während er seinen Weg eilig fortsetzte. Die Luft war dunstig. Angefüllt vom Lärm der Basare, von mannigfachen Gerüchen, vom Rauch der Glutbecken, über denen sich Fleisch an eisernen Spießen drehte. Die Melonen‐ und Wasserverkäufer schrien um die Wette, untermalt vom Gekeife der
Marktweiber. »Weshalb hat er es so eilig?« wollte Jaggar von Yina wissen. Beide hatten Mühe, Nabib zu folgen. »Er jagt einem Traum nach.« »Willst du mich zum Narren halten, Weib?« »Keineswegs, Mann.« Yina lachte und warf ihr Haar zurück. »Er jagt dem Traum seines Lebens hinterher, von dem Zondar erzählte, ehe er die Straße des Todes betrat. Stelle dir das vor: ein Elixier, das ewige Jugend, beständige Schönheit und immerwährende Gesundheit demjenigen verheißt, der es zu sich nimmt ‐wenn das kein Traum ist!« »Ich verstehe«, sagte Jaggar, der gar nichts verstand, und wich einem Lastelefanten aus, der von seinem fluchenden Treiber durch die Menge gelenkt wurde. Er wußte nur, daß sich sein Partner verändert hatte. Verändert seit jener Stunde, da Nabib Zondars phantastische Geschichte über das wundersame Elixier des ewigen Lebens gehört hatte, das es angeblich in jenem sagenhaften Reich des Südens geben sollte. Im Tempel einer Königin und Oberpriesterin aufbewahrt, deren Schönheit alles überstrahlte, was es je an weiblicher Schönheit gegeben hatte. Daß Zondar nicht gelogen hatte, daß zumindest er überzeugt gewesen war, alles so erlebt zu haben, wie er es kurz vor seinem Tod schilderte ‐davon war Nabib überzeugt. Denn auch Yina hatte in den Gedanken des kartugischen Meisterdiebs nichts gefunden, was ihn Lügen gestraft hätte. Seither gab es für Nabib nur eines: Er mußte in den Besitz dieses zauberkräftigen Elixiers gelangen, koste es, was es wolle. Das ging inzwischen so weit, daß Nabib in Kartug verbreiten ließ, er würde demjenigen, der ihm einen konkreten Hinweis auf den Trank des Lebens geben konnte oder jemand kannte, der einen sicheren Weg ins Reich des Südens wußte, eine hohe Belohnung zahlen. Vor knapp einer Stunde war ein Spitzel in der Herberge aufgetaucht, und hatte Nabib gesprochen. Jetzt war er zu einem Mann unterwegs, den man den »Seher« nannte, und Yina hatte er dabei, um die Ehrlichkeit dieses »Sehers« zu überprüfen.
Nabib wandte sich nun dem Tempelbezirk zu. Jaggar wehrte die Hände der Bettler ab und bemühte sich, den Händler nicht im Gewühl aus den Augen zu verlieren. Stadtwachen, schwer bewaffnet und in Schuppenpanzer gehüllt, betrachteten mißtrauisch jeden, der sich dem Tor in der rosenfarbenen Mauer näherte, das in den inneren Bezirk führte. Nabib blieb vor einem Gardisten stehen, was Jaggar und Yina Gelegenheit gab, aufzuschließen. Sie hörten, wie er den Soldaten fragte: »Höre, Mann des Krieges. Wir suchen jenen, der sich ›Seher‹ nennt. Wo finden wir ihn?« Der Gardist sah von einem zum anderen, dann stützte er sich auf seine Lanze. »Dort entlang. Folgt dem Weg der Drachen. Ihr könnt den ›Seher‹ nicht verfehlen.« »Ich danke dir«, sagte Nabib, und nur Jaggar bemerkte, wie eine Goldmünze blitzschnell ihren Besitzer wechselte. Sie gingen in die bezeichnete Richtung. Kartug war der Ausdruck ungehemmten Lebens und Handelns, das würde vor allem auf den flachen Treppen und den Plätzen zwischen den Tempeln deutlich. Hier hatten die Geldverleiher und zugelassenen Wucherer, die Diamantenhändler und Goldverkäufer ihre Buden und Zelte aufgeschlagen. Hier waren die wirklichen Götter Kartugs zu Hause, die der Stadt Reichtum und Ansehen brachten. Überall brannten in Kupferschalen betäubender Weihrauch, Priester Hermos in ihren wallenden, scharlachroten Gewändern bewegten die Gebetsglocken. In den Tempeln lagen ganze Scharen von Pilgern, streng nach Zünften geordnet, auf dem Boden und erflehten die Gunst der Götter. Die Straße der Drachen war mit vielen Skulpturen gesäumt. Abscheuliche Tierfratzen starrten von ihren Podesten herab. Die drei bewegten sich durch die phantastische Welt der Götzen und Dämonen. Yina hielt sich dicht neben Jaggar. Sie zitterte leicht, eine Flut fremder Gedanken wälzte sich ihr hier entgegen. Die Eindrücke kamen zu schnell und zu vielfältig, als daß sie sie hätte verarbeiten
können. Und so verschloß sie sich und sah nur durch ihre Augen, hörte nur über ihre Ohren. Sie fanden den Seher in einem kleinen, allseits offenen Tempel. Er hockte im Schoß eines Wesens, das halb Tier und halb Mensch zu sein schien. Yina stieß einen Laut der Verblüffung aus. »Das ist …«, begann sie entsetzt und verstummte dann, fast gelähmt vom Schrecken der Erkenntnis. Sie drängte sich schutzsuchend an Jaggar, der das Schwert in der Scheide lockerte. Nabib packte seine Hand und stieß das Eisen wieder zurück. Er sagte: »Richtig. Das ist ein Besiro, einer der sagenhaften Ureinwohner aus dem Land der Wolfsmenschen. Zimaron berichtete mir davon, daß es noch einige ihrer Art in unzugänglichen Bergtälern gäbe.« Er starrte auf das Ungeheuer, das mit gekreuzten Beinen schwarz und massig inmitten des Tempels hockte und dem Seher offensichtlich als Wächter diente. War Zimaron – auch er stammte aus dem Land der Wolfsmenschen – schon schrecklich anzusehen für den, der ihn zum erstenmal zu Gesicht bekam, so wirkte der Besiro geradezu fürchterlich. Der Händler schauderte beim Anblick der bepelzten Gestalt, die eine animalische Kraft und Wildheit ausstrahlte. Das Gesicht unter dem mächtigen Schädel wirkte nur entfernt menschlich, trotzdem erkannte Nabib, daß Zimaron die Wahrheit gesprochen hatte, als er versicherte, Besiros seien nicht mit wilden Tieren zu vergleichen. In dem Blick der glühenden Augen erkannte er sogar so etwas wie Verstand. Die ungeschlachten Schultern sprengten fast den Umhang, der vorne klaffte, so daß er die mißgebildete Gestalt des Sehers erkennen konnte. Nabib blickte den Krüppel an. Er konnte seine Enttäuschung nur unvollkommen verbergen. Es war ein Kind von schätzungsweise zehn Sommern mit dünnen, verkrümmten Gliedmaßen. Der ungestaltete Schädel war mit dünnem Flaum bedeckt und lehnte an der Brust des Besiro. Die Augen hatte der Seher geschlossen. Trotzdem öffnete er plötzlich den Mund und sagte mit
überraschend klarer Stimme: »Verschwindet, wenn ihr mir schon nichts geben wollt.« Nabib zuckte zusammen, während der Seher die Augen öffnete; sie starrten auf Nabib, ohne etwas zu erkennen. Die drei erkannten, daß der Seher blind war. Nabib musterte das Kind und erkannte plötzlich, daß es keines war. Der Seher war sicher bereits über vierzig Sommer alt; die Kleinheit seiner Glieder und der verkrümmte Körper täuschten nur diese Jugend vor. Und Nabib erkannte auch die Zeichen, die eine Folter hinterlassen hatte. Seine Geringschätzigkeit war plötzlich vergessen, an ihre Stelle trat Mitleid. »Ganz recht«, sagte der Seher, »ich bin blind. Aber ich war es nicht immer. Ich war auch einst kein Krüppel, denn was ihr hier seht, ist nicht das Werk von Geistern. Es waren Menschen.« Nabib zuckte zusammen. Er griff in seine Geldkatze, und seine Finger ertasteten den gekerbten Rand einer schweren Goldmünze. Er holte sie hervor und warf sie dem Wolfsmann zu. Dieser fing die schimmernde Scheibe, die im Licht immer wieder aufblitzte, mühelos auf und grunzte etwas Unverständliches. Der Anblick des verkrüppelten Blinden hatte in Nabib von Thinayda einen Schock ausgelöst. Erinnerungen überfluteten ihn plötzlich, und die Furcht griff nach ihm. Er hätte Dragon gebraucht und dessen Fähigkeit, alle Abenteuer zu überstehen. Und als Schutz auch noch Kriegshauptmann Partho, einen der besten Freunde, die ein Mann haben konnte, vielleicht noch eine Schar verläßlicher Krieger aus Parthos Heer. Oder eine Truppe der wilden Amazonen, deren Königin Agrion Partho wohl noch immer liebte. Er verscheuchte die lästigen Gedanken, wischte sich den Schweiß aus dem Nacken und murmelte: »Ich kann deine Martern nicht rückgängig machen, und sehend wirst du durch meine Hilfe auch nicht. Aber für die nächsten Tage wird dein Leben gesichert sein. Ich habe dich gesucht, Seher.« Der Seher erwiderte mit seiner klaren Stimme:
»Und gefunden. Danke für das Gold, Händler. Ich ahne, daß du Fragen an mich hast.« »So ist es, mein Freund. Willst du mir helfen? Es soll nicht zu deinem Schaden sein.« »Frage. Vielleicht kann ich antworten.« Nabib und Yina warfen sich einen langen, abschätzenden Blick zu. Beide wußten, daß das Leben auf dieser Welt keineswegs ohne Geheimnisse, Zauberei und unerklärliche Dinge ablief. Das eine gehörte unverrückbar zum anderen. Und sie würden also auch einem Mann glauben, dessen verbrannte Augen einen Weg besser beschreiben konnten als die eines sehenden Spähers. »Kennst du das Land, in dem die Herrin des Südens regiert?« Der Seher senkte den Kopf, sein kleiner Körper sackte zusammen, und er überlegte schweigend. Dann wisperte er: »Undeutlich, aber ich weiß etwas darüber.« »Dann also gibt es die Herrin des Südens?« »Sie lebt. Eine schöne, stolze und grausame Frau. In ihrem Herzen ist Haß gegen einen Mann. Sie haßt ihn so, daß sie seinen Namen nicht einmal denkt.« »Jeder Mensch hat jemanden, den er haßt«, erinnerte sich Nabib philosophisch. »Wo liegt dieses ferne Land, Seher?« »Kennst du das ›Ende der Welt‹?« erkundigte sich der Seher leise. Nabib schien es, als erwarte dieser kleine Mann kommendes Unheil oder Schmerzen. »Ich kenne die Meeresenge!« gab Nabib zu. »Und mein Freund und Kapitän kennt sie noch besser.« »Ihr steuert also westwärts. Ihr seid mit einem Schiff gekommen, denke ich?« murmelte der Seher. Seine winzigen Finger begannen zu zittern. »Ja. Und wir verlassen Kartug auch wieder mit der Schwarzen Wellenreiterin.« »Zuerst westwärts, dann über das Ende der Welt hinaus, und dann immer in Nähe des Ufers nach Süden. Dort werdet ihr das gesuchte Land finden.«
Nabib wagte, während Yina versuchte, in die Gedanken des Sehers einzudringen, eine weitere Frage. »Verfügt die Herrin des Südens über das Elixier der ewigen Jugend?« »Ich weiß es. Sie beherrscht diese magischen Tropfen, Fremder. Mehr weiß ich nicht.« Nabib war rund vier Jahrzehnte lang gezwungen gewesen, Menschen zu beobachten, und seine Schlüsse aus ihrem Verhalten zu ziehen. Nur auf diese Weise war es ihm geglückt, ein einigermaßen guter und reicher Kaufmann zu werden. Während Jaggar und Yina nichts zu spüren schienen, wußte Nabib von Thinayda, daß der Seher sich vor etwas Schrecklichem fürchtete. Er würde nichts mehr sagen, das war klar. Aber nun war die Route einigermaßen bekannt. Yina gab ein Zeichen; der Seher wußte nicht mehr. »Ich danke dir, Seher!« sagte Nabib ruhig. »Du weißt nicht, warum ich ständig verfolgt werde?« »Es ist wegen des Amuletts, das du gefunden hast. Es gibt hier nur Freunde oder Feinde. Nichts ist dazwischen.« »Danke.« Sie stiegen die wenigen Stufen des offenen Tempelchens herunter und befanden sich nach wenigen Schritten wieder im Gewühl der »Straße der Drachen«. Einige zwanzig Schritte legten sie schweigend zurück, dann murmelte Jaggar, die Hand am Griff des Dolches: »Der Seher hatte Angst. Wovor? Hast du etwas gespürt, Yina?« Die junge Frau hielt sich an den Armen der zwei Männer fest. So schoben sie sich durch das Gewühl. »Ich habe seine Angst gespürt. Er weiß nicht sehr viel Genaues über die Herrin des Südens und ihren wunderbaren Schatz.« »Aber es gibt ihn offensichtlich!« gab Nabib zurück. »Soviel Lügen können gar nicht erzählt werden, daß ich mich überzeugen lasse. Ich werde diesen Trunk finden!« Sie gingen um ein zusammengebrochenes Lastkamel herum, dessen Treiber es mit Peitschenhieben zum Aufstehen bewegen
wollte, hielten sich nur kurz im Schatten eines Stoffdachs auf, unter dem junge Sklaven und Sklavinnen verkauft wurden, schritten entlang einer eisenbewehrten, weißgekalkten Mauer – mitten in diesem Händlerviertel befand sich in einem riesigen Park ein kleiner Palast – und betraten dann eine der breiten Straßen dieser dreißigtausend Seelen zählenden Siedlung. »Eine reiche Stadt!« brummte Nabib. Überall strahlte die Stadt Prunk und Reichtum aus, und auch die Quartiere der Armen und Aussätzigen schienen sich noch in diesem Glanz zu sonnen. »Eine unheimliche Stadt, Freund Nabib. Nichts hält mich mehr hier!« knurrte der Kapitän. »Es sind mir zuviele Strolche in den Gassen.« »Die Strolche sind nicht so sehr in den Gassen als in den Palästen!« korrigierte Yina. »Aber was der Seher sagte, ist richtig. Wir haben nur Freunde und Feinde. Es ist nichts dazwischen.« »Es sind wohl die Freunde, die unsere gestohlenen Güter wieder zurückschleppen«, ereiferte sich Nabib. Langsam gingen sie, vorbei an Wachen und Soldaten, an Dirnen und Beutelschneidern, an reichen Kaufherren und halbnackten Sklavinnen, an einer träge vorbeiziehenden Karawane, durch Gestank, Geschrei, Staub und sengende Sonnenhitze, zurück in die Herberge. Nabib mußte warten, bis die Sekretäre Ondurmans kamen und ihm bestätigten, daß er ein Kontor in Kartug eröffnen durfte. Aber von Stunde zu Stunde wurde Nabib unruhiger …
4. Der Schatten der Palastmauer war gewandert und fiel nun voll auf den Boden des kleinen, offenen Tempels. Die weißen Säulen verschwanden in der Dämmerung, und niemand bemerkte die sieben Männer, die nacheinander aus verschiedenen Richtungen herankamen und nun eine Art lebenden Wall zwischen den Tempelstufen und dem Weg der Drachen bildeten. Niemand sah auch die kurzen Speere und die breiten Dolche, die in den Händen der Dunkelhäutigen funkelten. »Ich sehe euch«, sagte der Seher und hob mühevoll einen dünnen Arm, um seinen Wächter zu beruhigen. Er sah die Krieger nicht, aber er erkannte sie. Ein grausames Lachen war die Antwort. Dann sagte eine Stimme in kehligem Singsang: »Der kleine Händler und sein Freund, der Schwarzbart, waren hier. Du kannst es nicht leugnen, Seher!« »Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Man hat mich lange genug gequält!« sagte der Kleine mit überraschend fester Stimme. »Sie waren hier, und ich zeigte ihnen den Weg nach Süden.« »Zur Herrin des Südens?« Zischend bewegte sich das haarscharf geschliffene Blatt eines Wurfspeers vor den Augen des Sehers durch die Luft. Wütend, aber hilflos, starrte der Besiro die schwarzen Krieger an. »Dies war sein Ziel. Ich sagte ihm, er soll nach Westen, durchs Ende der Welt und dann nach Süden segeln. Mehr weiß ich auch nicht. Warum verfolgt ihr den Händler?« »Geht dich nichts an. Was fragte er noch?« »Nach dem Elixier der ewigen Jugend.« »Was weißt du darüber?« »Nicht mehr, als daß es diese Tropfen wirklich gibt, und daß die Herrin des Südens darüber gebietet.« Die Männer rückten langsam näher. Ein dichter Dreiviertelkreis
umgab den Seher und seinen merkwürdigen Freund. Niemand sprach, aber jede Bewegung der Dunkelhäutigen drückte Gefahr und Tod aus. Schließlich waren die beiden ungleichen Männer von Dolchspitzen und Speerspitzen umgeben wie von Dornen. Der Anführer der Schwarzen sagte leise: »Hör zu, Seher. Wir könnten dich töten, aber niemand hätte Nutzen davon. Du weißt nicht viel, aber wenn diese Männer noch einmal kommen, wirst du nichts mit ihnen sprechen. Wir beobachten dich, und wir sehen jeden Schritt der Fremden. Verstanden?« Die Stimme des Mannes mit dem Kinderkörper zitterte nicht, als er erwiderte: »Ich habe verstanden. Warum wollt ihr nicht, daß ein Händler mit euch zusammenkommt, dort im Süden?« »Unsere Herrin will es nicht!« war die Antwort. Eine Dolchspitze bohrte sich warnend in die Haut über der Nasenwurzel des Sehers, dann huschte einer der Männer nach dem anderen weg. * Nabib lehnte sich zurück und schloß kurz die Augen. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie drehten sich und tanzten ebenso wie die beiden Mädchen dort auf dem Podest. Die Musik war ohrenbetäubend. Flöten und Trommeln, kleine Halbkugeln aus Messing, ein röhrendes Horn und Schellen … das alles krachte, blies und pfiff in scharfem, abgehaktem Rhythmus. Nabib streckte die Hand aus, ergriff den Weinbecher und stemmte seine Schulterblätter gegen die kühle Mauer. »Moloch ist gegen uns!« brummte er. Im Augenblick war er allein und wartete noch immer auf die Boten des »Vaters von Kartug«. Yina und Jaggar waren entweder am Hafen oder oben in der Herberge, und die Dinge schienen nicht
so zu laufen, wie es sich Nabib vorgestellt hatte. Er war unzufrieden. »Und im besonderen ist Moloch gegen mich!« brummte er und starrte die Tänzerin an, ohne genau wahrzunehmen, was er dort sah. Er war von der Geschichte des Sterbenden beeindruckt. Jeder wäre dies gewesen, nicht nur Nabib, der im vierundvierzigsten Sommer stand und den Herbst des Lebens auf sich zukommen sah. Abgesehen davon, daß er selbst das Elixier der Jugend gut gebrauchen konnte – aber als Handelsartikel war dies schlichtweg unübertrefflich! Jeder Tropfen eines solchen Elixiers war ein Vermögen wert. Er mußte versuchen, das Kontor zu gründen und dann sofort mit der Wellenreiterin in See zu stechen. Nur die Suche nach der Herrin des Südens und dem Elixier war wichtig. »Aber Moloch liebt mich deswegen immer weniger!« gab Nabib bekümmert zu und schenkte der Tänzerin ein geschäftsmäßiges Lächeln. Seit dem Augenblick, an dem ihn der brennende Blick des hünenhaften dunkelhäutigen Krieger getroffen hatte, häuften sich die Zwischenfälle und Pannen. Nur gut, daß sie sich auf Zimaron verlassen konnten, der das Schiff wie seinen Augapfel hütete. Gerade, als sich Nabib entschloß, nicht länger zu warten, schob sich eine Gestalt zwischen die wirbelnde Tänzerin und den Tisch, an dem Nabib saß. Der Händler aus Sodok blickte auf. Er sah in ein schmales Gesicht, das einen sarkastischen Ausdruck trug. Als der hagere Mann zu sprechen begann, erkannte Nabib, daß eine durchgetrennte Sehne der Grund für dieses dauernde Grinsen war. »Vor mir sitzt Nabib von Thinayda? Der Händler von der Weißen Küste?« Langsam schob Nabib die Hand unter den Stoff der Jacke und tastete nach dem Dolchgriff. »So ist es. Wer bist du?«
»Du kennst meinen Namen, aber du kennst mich nicht. Ist das hier dein Eigentum?« Der Fremde griff hinter sich und brachte dann Nabibs Geldkatze zum Vorschein. Er grinste breiter, deutete auf den Schemel und fragte mit ausgesuchter Höflichkeit: »Darf ich mich zu dir setzen, Handelsmann?« Nabib hielt einigermaßen fassungslos die Geldkatze in den Händen, betrachtete sie von allen Seiten, als habe er sie noch nie gesehen, dann begriff er plötzlich! »Du bist Jala, der meisterliche Dieb von Kartug. Ist es so?« Der andere nickte und winkte eines der Schankmädchen zu sich heran. »So ist es, Nabib. Wir werden über einige Dinge sprechen müssen. Einer der Mietwächter ist von unserer Gilde, und deswegen weiß ich alles über Zondar, seinen Tod und eure Hilfe. Entschuldige den Scherz!« Nabib befestigte die lederne Tasche wieder und schüttelte verblüfft den Kopf. »Bei Moloch!« stöhnte er auf. »Jetzt verstehe ich vieles! Du und deine Gilde helfen uns?« »So ist es. Und ich bin gekommen, um dich zu warnen. Wir wissen nicht alles, aber was wir wissen, gibt für euch kein gutes Bild.« »Berichte, Jala!« Nabib blieb abwartend und zurückhaltend. Wohl ahnte er, daß die Gilde der Diebe ungeschriebene Gesetze befolgte, aber in dieser Stadt konnte jeder vorgebliche Freund ein Mörder sein. Wo war Yina, daß sie ihm half und die Gedanken des Mannes ihm gegenüber mithörte? Immer waren die Frauen nicht da, wenn man sie brauchte! »Du trägst das Amulett unseres Freundes Zondar. Die Mörder Zondars kennen dich und deine Freunde. Sie kommen dorther, wohin ihr wollt. Sie haben Gold und Macht. Und sie handeln gegen dich, Nabib!« »Ist das wahr?« fragte der Mann aus Sodok fassungslos.
Nabib beugte sich vor. Das erklärte manches. Das Zaudern Ondurmans, der von ihnen vermutlich mit Gold und dem Versprechen ewiger Jugend bestochen worden war. Das erklärte auch, warum der Seher so wenig gesagt hatte. »Es ist wahr!« Ein Krug frischer Wein kam. Die Becher wurden vollgeschenkt, aber in Nabibs Magen ballte sich ein harter Klumpen zusammen. Er fühlte seine Handflächen feucht werden. Einige lange Blicke in das ruhige Gesicht Jalas sagten ihm, daß dieser Mann nicht log. »Lassen Sie uns auch beobachten?« fragte er leise. »Ja, natürlich. Der Kapitän, sein Weib und du – ihr seid keinen Augenblick allein. Gold kennt keine Freundschaft. Man kann alles damit kaufen.« Nabib stürzte den Inhalt eines Bechers hinunter und fragte rauh: »Gehst du mit, Jala? Ich muß meinen Freund warnen und mit ihm sprechen. Und dann gehen wir hinunter in den Hafen.« Jetzt lachte Jala wirklich. »Auch wir sind nicht unbeobachtet. Aber meine Leute sehen diejenigen, die euch nachgehen besser. Wir werden kaum behelligt werden.« »Gut. Komm!« Nabib warf eine Münze auf den Tisch und achtete nicht auf die brennenden Blicke der Tänzerin, die er für diese Nacht bereits bezahlt hatte. Die beiden Männer schoben sich durch die trunkene Menge und sprangen auf die untersten Stufen der Treppe, die in die Wohnräume hinaufführte. Aber Yina und Jaggar waren nicht in der Herberge. Mit Sicherheit waren sie im Hafen und auf der Schwarzen Wellenreiterin. * Es waren die Augen einer kleinen, schwarzen Schlange, die Karnak unaufhörlich musterten. Derjenige, dem diese stechenden
Augen gehörten, lag wie ein praller Sack im Sessel und atmete keuchend. »Du weißt, Karnak, daß ich grausam und hinterlistig bin, wenn ich glaube, daß man mich betrügt?« Die Stimme des Vaters von Kartug war hoch und hell. Er atmete keuchend ein und aus; er war zu fett, und sein Wille, magerer zu werden, lag tief unter den schwammigen Schichten seiner Haut verborgen. Aber weder die vierzig Jahre, noch das röchelnde Atmen noch das Fett konnten Karnak täuschen. »Wenn ich mir einen tödlichen Gegner aussuche, Herr, dann würde ich dich wählen«, sagte der Anführer der Krieger aus dem Reich des Südens. »Aber ich habe mich entschlossen, dir die Wahrheit zu sagen.« »Es wird dir und deinen Männern viel Ärger ersparen!« lispelte der fette Mann und hob seine Hand. Zwei stumme Sklaven kamen aus dem Hintergrund gesprungen und betteten den schweren Körper in den gefleckten Fellen um. »Und was willst du wirklich, Karnak?« Karnak hatte beide Aufträge, die er von der Herrin erhalten hatte, perfekt ausgeführt. Die Sendung von Stoffen und Kostbarkeiten war zusammengestellt, und der Frevler war grausam getötet worden. Aber durch seinen Tod hatte er ein drittes Problem heraufbeschworen, und jetzt mußte er handeln, ohne seine Herrin fragen zu können. Wochen schnellen Rittes und unzählige Gefahren lagen zwischen Kartug und dem Ort, wo die Herrin residierte. »Ich will, was meine Herrin will«, sagte er vorsichtig. Diesen Mann durfte er sich nicht zum Feind machen, denn Ondurman war der ungekrönte König der Stadt. »Und meine Herrin, die über jeden einzelnen Tropfen des Jugendelixiers gebietet, will nicht, daß Nabib und seine Freunde den Weg zu ihr finden.« »Ich verstehe!« kicherte der Vater von Kartug. Es war Nacht. Der kleine Raum, an drei Seiten von Mauern begrenzt und an der vierten von schlanken, prächtig verzierten Säulen, lag an der Außenwand des Palastes und bot Ausblick auf
einen zauberhaften Park. Ein leichter Wind bewegte die schweren goldbestickten Vorhänge. Auch vor den Türen befanden sich Stoffe, hinter denen sich die Sklaven verbargen, jeden Augenblick eines Winkes ihres Herrn gewärtig. Der mächtigste Mann von Kartug geruhte, nachzudenken und die Vorteile und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Karnak war in der Stimmung, ihm einen Dolch durch die fette Kehle zu stoßen, aber er durfte nicht, konnte nicht … »Wenn ich tue, was du vorschlägst, Karnak, was kannst du bieten? Mit Nabib läßt sich gut verdienen.« »Ich kann dir einige Tropfen vom Elixier bieten. Die Jugend und die Kraft wird in deinen Körper zurückkehren. Deine Lenden werden fruchtbar werden und voller Zeugungseifer …« »Das ist ein gutes Angebot«, sagte Ondurman nach einer Weile. Das Gespräch war nur der sichtbare Teil; die Gedanken der beiden Männer waren weitaus umfangreicher und weitreichender als ihre wenigen Worte. Jeder der beiden verstand den anderen und kannte dessen Beweggründe. »Was willst du, Karnak? Bedenke aber, daß ich nicht alles öffentlich tun kann, sondern an bestimmte Rücksichtnahmen gebunden bin!« Das runde, schweißtriefende Gesicht verzog sich zu einem lautlosen Grinsen. Eine Sklavin glitt über knöcheltiefe Teppiche heran und wischte das Gesicht mit einem angefeuchteten, nach kostbaren Essenzen duftenden Tuch ab. Der dicke Mann tätschelte sie ein wenig, dann sank die Hand mit den runden Fingern wieder kraftlos herunter. »Ich weiß wohl, daß dir die Hände gebunden sind. Aber meine Herrin, die sich an dich sehr gut erinnern wird, würde folgendes wünschen: Verhindere, daß Nabib ein Kontor erhält. Oder zögere es so lange hinaus, bis er die Lust verliert. Nehmt das Schiff an die Kette – es wird dir etwas einfallen, warum man die Männer festhalten kann. Und ich selbst werde dir ein Fläschchen des Elixiers bringen. Ich muß die Herrin und Oberste Priesterin eher erreichen
als Jaggar und Nabib, denn ich muß sie warnen vor diesen gierigen Händlern. Liegt das in deiner Macht, Herr der Kaufleute?« »Ich denke, das läßt sich einrichten, Karnak. Und was tust du? Was tun deine zehn Männer?« »Sie werden uns helfen.« Ondurman nickte langsam. Sein Körper bewegte sich wie fetter Teig in einem Topf. »Lasse mich jetzt allein. Ich muß denken. Und morgen werde ich handeln.« Karnak stand auf und verbeugte sich achtungsvoll. Sein schwarzes Gesicht war ohne jede Regung. Er ging auf die offene Terrasse zu. »Ich handle jetzt!« versicherte er. Müde wedelte Ondurman mit der Hand. Jetzt dachte er wirklich nach. Das, was Karnak in den letzten Stunden berichtet hatte, eröffnete herrliche Aussichten. Unter anderem würde er wieder seinen Harem in der Weise ausnutzen können, wie es eigentlich gedacht war. Ewige Jugend. Oder wenigstens ein paar Jahrzehnte Jugend, dachte Ondurman. Dafür lohnt es sich, einige Dinge zu tun und andere zu vergessen … * Der Hafen bot sogar noch jetzt, mitten in der Nacht, ein Bild der Geschäftigkeit. Nabib und Jala, begleitet von vier Mietwächtern, ritten in schärfstem Galopp auf das Gebiet der Hallen und Schuppen, der Ladekräne und der Häuser zu, die sichelförmig die Steinmauer umgaben. Dreißig Schiffe lagen hier, aber selbst jetzt, in der nur mühsam erhellten Dunkelheit, sah die Wellenreiterin schneller aus als selbst die Kriegsschiffe von Kartug. »Nimm dich in acht!« rief Jala und beugte sich tief auf den Hals des Pferdes. »Kanrak, der Anführer der Dunklen Krieger, geht in Ondurmans Palast ein und aus.«
»Ich fürchte nur Verrat, aber keinen Krieger!« rief Nabib zurück. Die Gruppe zügelte ihre Pferde, als sie in den Bereich der schwarzen Schatten kam. Fünfzehn Schritte waren es nur zwischen dem Wasser und den ersten Mauern. Das Volk, das das Tageslicht scheute, war jetzt unterwegs. Die Mole war voller Menschen. Ein dumpfes Gefühl der Unruhe beschlich Nabib. »Dort vorn ist Jaggar!« brummte er und deutete auf das Achterdeck des Schiffes, wo er im Fackelschein Yina, Jaggar und Zimaron erkennen konnte. Sie mußten langsamer reiten. Der Hafen lag ein gutes Stück außerhalb der eigentlichen Stadt. Eine breite Straße verband das Stadttor mit der geräumigen Anlage. Ununterbrochen wurden Schiffe entladen und beladen. Zwischen den langen Reihen der Sklaven und Arbeiter, die schwer schleppten und von peitschenknallenden und brüllenden Vorarbeitern angefeuert wurden, bewegten sich Spaziergänger und all das Gelichter, das die Nacht liebte. Angesichts dieser Menschenmenge packte Nabib ein zweitesmal die Furcht. Er dachte an den Körper des Meisterdiebes und an die elf Männer, die auch ihn verfolgten. Die sechs Pferde bahnten sich, immer wieder von den Sporen angetrieben, einen Pfad bis zur breiten Planke, die Ufersteine und Achterdeck des Schiffes miteinander verband. »Jaggar! Ich bin es, Nabib!« rief der Händler. Überall sah er lauernde Schatten. Er war gewiß kein Feigling, aber plötzlich hatte ihn die Panik gepackt. »Ich sehe dich, Partner! Kommt herauf!« Nabib packte den Arm des hageren Mannes und flüsterte eindringlich: »Deine Leute sind auch hier? Stehlen sie, oder passen sie auf uns auf?« Jala brummte etwas, das Nabib nicht verstand. Sie gingen auf die Laufplanke zu, und die Mietwächter hielten die Zäume der Pferde. Jaggar sprang ihnen entgegen. Yina erkannte die Furcht in der
Seele Nabibs und lehnte sich an die Reling. Sie blickte aufmerksam umher, aber für die junge Frau enthielt das Bild, das sich ihren Augen bot, keinerlei sonderliche Gefahren. »Jaggar! Wir müssen den Schuppen räumen. Alles Zeug zurück in die Laderäume, und dann nichts wie weg!« stieß Nabib hervor. Er zerrte Jala ins Licht der Glutkörbe. Jala hob nur die Brauen, als er Zimaron erkannte, der über Seilrollen und Handwerkszeug stolpernd, näher kam. »Bist du verrückt geworden, Freund und Partner?« erkundigte sich Jaggar und sah sich um. Er stemmte beide Arme in die Seiten und betrachtete den Fremden. »Das ist ein Freund des Mannes, den wir sterbend vor den Stadttoren fanden!« sagte Nabib. »Und er hat mir interessante Dinge berichtet! Höre ihn an! Dann wirst du erkennen, daß …« Jaggar sah ein, daß Nabib nicht scherzte. Er bat Jala unter Deck und deutete auf einen Niedergang. »Komm und berichte. So ohne weiteres handle ich nicht, Nabib.« Nabib stöhnte auf und reckte beide Arme zum sternenflirrenden Himmel. »Dann werden die anderen handeln!« Er setzte sich auf die Reling und überlegte, was zu tun war. Es gab kein einziges Anzeichen, aber er fühlte die Gefahr auf sich und das Schiff zukommen wie die schwarze Wolke eines aufziehenden Unwetters. * Karum wußte, daß die Fremden den Teil des Landes nicht erreichen durften, in dem die Herrin residierte. Er selbst würde sterben, wenn die Herrin erfuhr, daß er die Händler mit dem Schiff und der Mannschaft nicht angehalten hatte. Er sah die Gestalten, die sich auf dem Schiff bewegten. Eben war der kleine Händler gekommen, und mit ihm einige Wächter. Was redeten sie? Was hatte es zu bedeuten?
Karum holte tief Atem und erhob sich aus seiner kauernden Stellung. Er befand sich am oberen Ende einer brüchigen Treppe, die zu den tragenden Balken eines Vorratshauses führte. Weder der Arm, der den Bogen hielt, noch die Finger, die nun langsam den Pfeil bis ans Ohr zogen, zitterten. »Moloch mit mir!« murmelte Karum und zielte. Er würde viel lieber einen Brandpfeil in die Takelage des Schiffes geschossen haben. Aber dieser Versuch würde ihn verraten. Wenn er den Händler tödlich traf, dann konnten sie ihren Auftrag abbrechen und zurückreiten. Der Händler saß auf der Reling des Schiffes, das sich langsam im Rhythmus der langen Wellen bewegte. Karum löste die Finger und starrte beschwörend Nabibs Rücken an. Die Sehne schnellte den Pfeil nach vorn und schlug hart gegen den linken Unterarm. Der Pfeil heulte durch die Dunkelheit und verschwand aus den Augen des Assassinen. Nabib sah zu, wie Jala und Jaggar in der kleinen Kabine verschwanden, und er hob den Arm, um Yina zu grüßen, die langsam auf ihn zukam. Plötzlich traf ihn ein harter Schlag am rechten Schultergelenk. Gleichzeitig warf ihn eine unsichtbare Kraft nach vorn. Ein krachendes Geräusch schräg rechts! Er fing sich gerade ab, verschwand hinter der Brüstung und sah direkt über seinem Kopf den zitternden Pfeil, der sich in den Mastfuß gebohrt hatte. Als seine Hand an seine Schulter fuhr, bemerkte er Blut an den Fingern. Aber noch spürte er keinen Schmerz. »Nabib!« schrie Yina. Sie sprang auf ihn zu. Nabib kam taumelnd auf die Füße und deutete hinter sich nach oben, in die Richtung der Dachgiebel. »Mörder! Haltet sie! Sie wollten mich umbringen!« schrie er. Er lief auf Yina zu. Plötzlich kam der Schmerz. Nabib starrte seine Schulter an und bemerkte einen tiefen Schnitt. Er ging durch das
Leder der Jacke und durch den Stoff. Die Wundränder klafften tief auf. Nabib sah sich sofort umringt, und der Steuermann kam mit Verbandszeug auf ihn zu. »Ich kann nicht. Es sind zuviel Menschen, Nabib. Vielleicht kümmern sich die Wächter darum!« Auf dem Kai war Lärmen und Rennen entstanden. Sklaven sprangen zur Seite und verloren die Lasten. Völlig unauffällig sprangen Männer in verschiedener Kleidung auf und drängten sich durch die Menge. Es waren die Diebe der Gilde. Karum blieb steif stehen. Er drückte sich in den Schatten, sein dunkler Körper verschmolz fast mit den Brettern und Ziegeln des Bauwerks. Auf der Sehne lag ein zweiter Pfeil. Verdammt! Bei Moloch! Ich habe ihn nicht verfehlt, aber ich habe ihn am Leben gelassen, dachte der Krieger. Er war allein hier, und er mußte sich jetzt verstecken oder flüchten. Am besten zurück zu den anderen. Unter ihm rannten die Menschen durcheinander, zwanzig, fünfundzwanzig Mannslängen trennten ihn vom hochragenden Bord des Schiffs. Sollte er hinunterschleichen und dem Händler einen Kurzspeer zwischen die Rippen schleudern? Karum versuchte sich auszumalen, ob sie ihn als den unsichtbaren Bogenschützen erkannt hatten. Peitschen knallten, die Sklaven gehorchten den gebrüllten Befehlen, und plötzlich gab es einige kleine Gruppen von Männern, die in verdächtiger Eile auf die Gebäude zukamen. Karum hielt mit der linken Hand Bogen und Pfeil fest, dann lief er lautlos wie eine Katze die lange Treppe hinunter. Die Bohlen bogen sich, aber da er nicht in der Mitte rannte, sondern an der Seite und entlang der riesigen Wand, knarrten sie nicht. Karum, der schwarzhäutige Krieger, hatte alle seine anderen Waffen, und wenn es ihm gelang, den Wirrwarr auszunutzen, dann würden Karnak und die Oberste Priesterin mit ihm zufrieden sein. Ein Tropfen des Elixiers würde sein Lohn sein. Der Krieger erreichte die Treppe und sprang aus dem Stand über das morsche Geländer. Zwischen zwei hochragenden Mauern
rannte er geradeaus in das unbekannte Dunkel hinein. Hinter ihm waren plötzlich hastige Schritte zu hören. Sie hielten an, schwere Atemzüge drangen durch das Dunkel, dann schrie eine rauhe Stimme: »Hierher! Fackeln! Ich habe einen der Schwarzen gesehen!« Karum zuckte zusammen, holte tief Luft und rannte wie ein Rasender zwischen den Gebäuden entlang. Er erreichte einen kleinen, menschenleeren Platz, und sah schwache Lichter hinter ein paar Fenstern. Eine rote Laterne glühte rechts von ihm. Er drehte sich herum und sah dort, woher er gekommen war, zwei schwankende Fackeln. Dort waren die Verfolger. »Hilf, Moloch!« flehte er und jagte schnell hintereinander zwei Pfeile in die Gasse. Ein markerschütternder Schrei kam aus der Finsternis. Eine Fackel wurde in die Luft geschleudert, überschlug sich und fiel in einem Funkenregen zu Boden. Augenblicklich fingen alte Lumpen und staubtrockenes Holz Feuer. Qualm verdeckte das Bild. Karum warf den Bogen über die Schulter, schüttelte die kurzen Speere aus dem Köcher und war bereit, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Er rannte in eine andere Richtung, aber augenscheinlich hatten sie ihn gesehen. »Dort ist er!« Überall waren jetzt Fackeln. Karum lief dorthin, wo er die Lichter sah. Offensichtlich hatten der Händler und seine Genossen hier Freunde, die ihnen halfen. Karum griff nach dem ersten Wurfspeer, während er im Zickzack zwischen Hausmauern entlangstob und von Treppe zu Treppe sprang. Vor ihm tauchte im Licht eines Glutbeckens ein Mann auf. Er trug in beiden Händen Dolche. »Hierher! Ich habe ihn!« schrie er gellend auf. Karums Arm zuckte nach hinten. Mit einem kurzen Anspannen der Muskeln schleuderte er den Speer nach vorn. Das Geschoß flog fünf Mannslängen weit durch die Luft und bohrte sich in die Brust des Verfolgers. Der Mann wurde nach rückwärts geschleudert,
ächzte auf, und die Dolche entfielen seinen Händen. Dann schlug der leblose Körper auf das Pflaster. Während Karum mit einem riesigen Satz über den Toten sprang und seine Flucht fortsetzte, breitete sich unter der Leiche eine Blutlache aus. Über ihm tauchte jemand aus einem Fenster auf und schleuderte einen Ziegel nach dem Dunkelhäutigen. Der Stein traf ihn zwischen die Schulterblätter und ließ ihn taumelnd. Aber Karum rannte weiter und ergriff den zweiten Speer. Diese Waffe konnte er auch als Dolch oder Schwert einsetzen. Sein Körper glänzte vor Schweiß. Keuchend ging sein Atem, seine Lungen rasselten. Er wich aus, verlief sich in einer winzigen Nebengasse und hastete wieder zurück. Hinter ihm bohrten sich geschleuderte Speere in Holzläden. Pfeile heulten zwischen den Hausmauern entlang und verfehlten ihn. Ein Schleuderstein traf klappernd seinen Lederschild. Ein Schwert schlug gegen Stein. Überall waren Stimmen, die Befehle schrien. Von den Bewohnern der Häuser zeigte sich niemand. Wenige Augenblicke später, nach einem atemlosen Rennen über Steine, Rasenflächen und abfallübersäte Wege, erreichte der Krieger den Rand der freien Landschaft. Aber als er über die erste Mauer sprang, sah er, daß er sich auf einer ebenen Sandfläche befand. Sie war an drei Seiten von langen, zum Trocknen aufgehängten Netzen umgeben. Und dann kamen sie aus der Dunkelheit. Wie eine Schar Ungeziefer. Immer mehr Fackeln tauchten auf und warfen die Schatten von bewaffneten Männern auf den Sand. Karum drehte sich einmal herum und rannte dann auf die feinmaschigen Netze zu. Ein Stein, der ihn an der linken Schulter traf, schleuderte ihn zurück. Er stolperte, stieß einen Wehlaut aus und fiel in den Sand. Er mußte sich stellen. »Das ist er! Ich habe ihn am Fuß der Treppe gesehen.« »Einer der Mörder Zondars!« »Rächt unseren Freund!« Überall waren Stimmen, leuchteten und schwelten Fackeln, funkelten Waffen. Langsam stand der Dunkelhäutige auf, warf den
Bogen von der Schulter und packte den Schild fest. Er zog die Lippen auseinander und zeigte seine Zähne in einem bösen Lächeln. Dann, unvermittelt, warf er seinen nächsten Speer. Er zischte durch die warme Nachtluft verschwand über dem Sandkreis und ein ächzender Laut bewies, daß er getroffen hatte. »Schlagt ihn tot, den Mörder!« schrien sie. »Ich werde kämpfen!« murmelte der Krieger. Er duckte sich, warf den letzten Speer dorthin, wo er mehrere Fackeln sah, dann machte er, das Schwert in der Hand, einen Ausfall. Er warf sich nach vorn, rammte einen Mann mit dem Schild zu Boden und schwang das Schwert. »Aus dem Weg!« keuchte er. Ein hünenhafter Mann mit bloßem Oberkörper schleuderte eine Fackel gegen ihn. Karum schlug zu und parierte das Geschoß mit dem Schwert. Dann griff er den Verfolger an. Auch sein Gegner hatte ein Schwert, schlug damit zu und landete das Schwert klirrend an der Klinge des anderen. Niemand der Umstehenden griff ein. Schweigend kämpften die Männer, schlugen aufeinander los, parierten geschickt, verwundeten einander und sprangen nach vorn und zurück. Ein wuchtiger Rundschlag spaltete den ledernen Schild. Karum schleuderte den nutzlosen Schutz wütend von sich. Über seinen Oberkörper rannen drei schmale Streifen Blut, vermischten sich mit dem Schweiß und bissen in den Wunden. Beide Männer keuchten wie gepeitschte Sklaven. Wieder warf sich Karum vorwärts und versuchte kämpfend den Durchbruch. Sein Schwert beschrieb Kreise und kühne Bögen. Aber immer wieder klirrte es gegen die breite Schneide der anderen Waffe. Die Menschenmenge war vollkommen ruhig und hielt die blakenden Fackeln hoch. Niemand sprach, nur die Geräusche des wütenden Kampfes waren zu hören. Mit einem letzten Rest wahnsinniger Angriffslust drang der dunkelhäutige Mann auf den Verfolger ein, benutzte das Schwert wie einen Speer und stach nach dem Herzen
des Gegners. Aber der Riese sprang zur Seite, warf sich im Sprung herum und ließ den Mörder an sich vorbeirennen. Dann fuhr das Schwert herunter und schlug in das Genick des Schwarzen. Karum fühlte den Schlag, einen stechenden Schmerz, und dann nichts mehr. Er war tot, noch ehe sein Gesicht in den Sand schlug. »Gehe zu Jala«, murmelte der hünenhafte Mann, der am Ende seiner Kräfte war, und rammte das Schwert in den Boden. »Sagt ihm, der Mörder ist tot.« Er brach zusammen und streckte sich aus. Seine Brust hob und senkte sich wie der Blasebalg eines Schmiedes.
5. Über dem Hafen und der Stadt spannte sich der Sternenhimmel. Die Gestirne funkelten hart, und deutlich war das breite, zerklüftete Band zu sehen, das beide Horizonte miteinander verband. Es war eine warme Nacht, und der Rauch der Feuer erhob sich senkrecht zwischen den Häusern. Lange Wellen ließen die Schiffe auf und nieder schaukeln. Die Taue an den Pollern und an Bord erzeugten knarrende Geräusche, die von Ruhe und Geborgenheit sprachen. Aber jetzt war im Hafen Kartugs von Geborgenheit nichts zu spüren. Dieser Teil der Stadt glich einem Ameisenhaufen. Menschen aller Hautfarben strudelten durcheinander und redeten verworrenes Zeug. Kaum jemand begriff, was vorgefallen war. Jala, Jaggar, Zimaron, der Händler und Yina standen auf dem Achterdeck des schnellen Dreimasters. Sie sahen hinunter auf die Fläche des Hafens, wo sich nun eine Gasse bildete und einen verschwitzten Mann zeigte, der auf die Laufplanke zurannte. »Ich suche Jala!« schrie er keuchend. »Hierher!« befahl der König der Diebe und Beutelschneider. Er beugte sich weit über die Reling. Der Läufer rannte die Planke hinauf, sprang mühsam über Tauwerk und Bretter und blieb schwer atmend vor der Gruppe stehen. »Es war einer der Mörder Zondars!« sagte er und stieß jedes Wort hervor. »Er schoß auf dich, Händler!« Nabib spürte noch immer Schmerzen, aber die Wunde war von Yinas geschickten Händen gut versorgt worden. Kühlende Salbe bedeckte die Haut. »Er hätte mich hinterrücks erschossen«, knirschte Nabib und zuckte zusammen, als er sich zu schnell bewegte. »Habt ihr ihn?« Der Dieb nickte und beteuerte: »Habayl der Schwertfeger hat ihn erschlagen. Sie kämpften auf dem Netzplatz der Fischer.«
Jala schaltete sich ein und hob die Hand. »Nehmt es nicht leicht, Freunde«, sagte er eindringlich. »Wenn sich Gäste dieser Stadt getrauen, andere Gäste zu ermorden, so kann es nur eines bedeuten …« »Nämlich, daß sie mit dem Fettsack im Bund sind, und daß Ondurman sie deckt und schützt!« sagte Yina. Sie schloß sich gegen die Flut von Bildern und Empfindungen ab, die von Jaggar, dem Boten und dem zornigen Händler ausgingen. »So ist es. Ihr solltet Kartug verlassen. Mit oder ohne Kontor, Handelsmann!« beschwor ihn Jala. »Und schon wieder teures Geld hinausgeworfen! Bestechungen, Aufenthaltskosten … alles umsonst und vergeblich!« maulte Nabib. »Aber du hast recht, Vater der flinken Finger!« Der Bote sagte aufgeregt: »Wir haben uns umgesehen, Jala, wie du es befohlen hast. Ich glaube, Ondurman ist von den Mördern bestochen worden. Er wird dir, Händler, kein Kontor geben. Vielleicht wird er dir noch die Kostbarkeiten dort drüben im Lagerhaus stehlen und dich festnehmen.« Er machte eine umfassende Bewegung. »Und euch natürlich auch.« Zimaron dehnte seinen Brustkorb und knurrte wild: »Aber nicht unser Schiff, nicht wahr, Kapitän Jaggar?« »Das wird er nicht schaffen«, sagte Jaggar. Er war immer nachdenklicher geworden, je mehr er erfahren und gesehen hatte. »Nabib, Partner – wir sollten es uns sehr überlegen, ob wir noch länger hierbleiben. Das Schiff ist in wenigen Augenblicken fertig. Stimmtʹs, Zimaron?« »Wenn dreißig Männer zu den Riemen greifen, dann sind wir in einer halben Stunde im Wind!« dröhnte der Steuermann. Nabib rang die Hände. »Und wenn dreihundert Männer in die Hände spucken und den Speicher leerräumen, dann haben wir vielleicht nur einen kleinen Verlust. Mann, Jaggar, wir selber brauchen die ganze Nacht und den
halben Tag, um das Zeug wieder an Bord zu bringen!« Der Schnellsegler mit den drei schlanken Masten, nicht unähnlich der ersten Schwarzen Wellenreiterin, war so gut wie halbleer. Die Tanks waren noch nicht mit frischem Wasser gefüllt, die Laderäume waren geleert, und man hatte noch zu wenige Nahrungsmittel für den nächsten Teil der Reise gekauft. Jala rang lange mit sich, dann sagte er entschlossen: »Ihr habt unserem Bruder Zondar den Dunklen Weg erleichtert. Dafür helfen wir euch. Was braucht ihr, Kapitän?« Alles, was mit dem Schiff zusammenhing, war Aufgabe Zimarons. Diese Aufgabe war gelöst. Jaggar begann aufzuzählen, und schon nach den ersten Sätzen merkte er, daß Nabib recht hatte. Sie waren von der Entwicklung überrascht worden. »Ich habe fünfzig Leute, die mir gehorchen. Es sind meisterliche Diebe, und sie werden euch helfen. Dreißig Männer von der Besatzung, und dann können wir einige Arbeiter mieten. Los, rüstet euch aus. Wasser gibt es dort drüben!« »Das kostet noch mehr Gold!« stöhnte Nabib auf. »Gold dafür, daß wir flüchten müssen.« Nabib und Jaggar begannen zu organisieren. Geflüsterte Worte und Parolen gingen von Mund zu Mund. Die Diebe waren mit Eifer an der Arbeit, und einige der gemieteten Arbeiter mochte es freuen, den ungeliebten Fettsack zu ärgern. Die ersten Wasserfässer wurden von Bord gerollt. Männer schwärmten aus und versuchten, mitten in der Nacht einzukaufen, was sie haben konnten: Weinschläuche, große Käse und Schinken, saure Früchte und Honig, wild durcheinander. Nabib ging mit schmerzender Schulter hinüber zum Lagerhaus und sperrte die Torflügel auf. Sie bereiteten die Flucht vor. * Es mußte ein Wahnsinniger sein, oder einer, dem der Geist des Weines im Schädel spukte, der um diese Zeit in den Hof der
Karawanserei einritt. Das Tier keuchte dumpf, Schaum flockte von dem Gebiß. Mit einem weiten Satz des schmerzvoll aufwiehernden Pferdes sprang der Reiter über die Mauer, und die Hufe des Pferdes schlugen die obersten Steine herunter. Im Zickzack, den Schimmel am Zaum hin und her reißend, galoppierte der Mann zwischen erloschenen Feuern, schlafenden Männern, aufjaulenden Hunden und ärgerlich grunzenden Kamelen hindurch, ritt einen Wächter rücksichtslos nieder und parierte das Tier vor einem schmalen, schräg gemauerten Fenster durch. Das Pferd wieherte auf, als es sich aufbäumte. »He! Karnak!« Karnak war gerade eingeschlafen. Das Mädchen neben ihm bewegte sich unruhig. Karnak sprang mit einem Satz von der Pritsche und umklammerte den Stab, der mitten in der Fensteröffnung eingemauert war. Gelbes Licht einer Öllampe fiel auf das schmale, schwarze Gesicht. Die Augen und Zähne schienen zu strahlen. »Was ist los? Ich habe eine Frau bei mir, du Narr!« tobte Karnak in kalter Wut. »Warum schindest du dein Tier?« »Karum ist tot!« »Verflucht. Wo? Wer hat ihn umgebracht?« »Im Hafen. Er versuchte, den Händler aufzuhalten, und schoß ihm einen Pfeil in die Schulter. Sie fingen ihn, und ein Schmied hat ihn erschlagen. Die Diebe der Stadt helfen dem Händler.« Mit zitternden Flanken stand das Pferd da. Rasselnd ging der Atem, die Läufe bebten, als sei das Pferd todkrank. Die Sporen hatten lange Schnitte in das Fell gerissen. Der schwarze Krieger glitt aus dem Sattel. Wütend kläffte einer der vielen Hundebastarde innerhalb der Mauern. Lange stand Karnak da, nachdenklich und schweigend. »Sie sind gewarnt?« fragte er dann. »Ja. ich habe gesehen, wie sie Wasserfässer von Bord gerollt haben. Vielleicht brechen sie auf.« Karnak knirschte mit den Zähnen.
»Jetzt können wir nichts tun. Wir müssen warten, bis sich Ondurman entschließt. Und der Fette schläft jetzt.« »In vier Stunden ist es Morgen!« erinnerte ihn der Gefährte des langen Rittes. »In vier Stunden bin ich bei dem Vater der Stadt. Schlaft ein wenig, und dann haltet euch bereit!« sagte der Anführer und hob die Hand. Der Reiter führte das erschöpfte Tier weg und verschwand am anderen Ende des Hofes. Der Hund hörte auf, den Mond anzukläffen. Karnak ging die wenigen Schritte zurück zum Lager und setzte sich an den Rand. Er nahm aus dem Krug einen Schluck Wein, aber er schmeckte ihm nicht recht. Dann tastete seine Hand über den Körper des schlafenden Mädchens. Auch das Mädchen, das er eben noch leidenschaftlich umarmt hatte, gefiel ihm plötzlich nicht mehr. Wenn die Händler mit dem schlanken Schiff entkamen, würde sein Kopf in den Sand rollen. Sein Kopf. Karnaks Kopf. Er wollte ihn noch behalten, denn er wußte, daß er zusammen mit der Herrin und dem Elixier zu einem Mann mit Macht werden könnte. Mit so großer Macht, daß jämmerliche Könige wie dieser Statthalter von Kartug vor seiner Größe erschrecken würden. * Die schrille Stimme verscheuchte zwei schnäbelnde Tauben. »Tragt mich! Bringt mich zum Brunnen! Ich will den feuchten Hauch spüren, ihr Faulenzer!« Ondurman hob den Arm, und die dünne, biegsame Rute sauste auf die nackten Schultern der fröstelnden Sklaven herunter. Aber schon nach einem Dutzend Schlägen war der Vater der Stadt müde und hörte auf. Acht Männer schleppten ihn und seinen prunkvollen Sessel durch den Garten des Palastes, und auf den plätschernden Brunnen zu. »Schneller!« kreischte Ondurman. »Und nicht so schaukeln! Und
dann her mit dem Essen!« Er hatte einen Harem von nicht weniger als fünfzig Sklavinnen. Sie waren mit den Karawanen gekommen, denn Kartug war die Drehscheibe zwischen den hellhäutigen Barbaren des Nordens, zwischen den Menschen auf den Inseln und an den Gestaden der Großen See, und natürlich auch zwischen den Menschen mit den dunklen Hautfarben, die bis hinunter zum Blauschwarz gingen. Seine Sklavinnen waren die schönsten und teuersten Stücke aller dieser Völker, aber der Wunsch, die Mädchen zu besitzen, war größer als das Können. So drehte Ondurman seinen Kopf und sah zu, wie die Mädchen die Speisen brachten. Es gab winzige, mit Honig gebackene Brötchen, die noch heiß waren. Butter und fetter Käse, Würste aus den Lebern von Singvögeln, Salate aus den winzigen Knospen teurer Pflanzen, Wein, der die Nacht lang im kalten Quellwasser gestanden war, warme Würzmilch, Eier seltener Vögel und viele andere Kostbarkeiten mehr. »Her mit dem Essen! Ich bin nicht nur hungrig, sondern auch durstig, ihr Schönen!« fistelte er. Vor ihm wurde ein Tisch aufgestellt, ein purpurnes Tuch wurde ausgebreitet, und weiße Hände stellten die Teller und Pokale, die Messer und Krüge und die vielen Körbe mit ihrem duftenden Inhalt ab. Wartend blieben die leichtbekleideten Mädchen stehen. Sie fröstelten in der Morgenkälte. Ondurman hatte schlecht geschlafen. Auch der Trunk aus der Blüte des Bitterstrauches hatte nichts genutzt. Zahllose Gedanken waren durch seinen Kopf gegangen wie Gewitterblitze. Jetzt war er entschlossen, mehr oder weniger das zu tun, was Karnak ihm vorgeschlagen hatte. Er brauchte das Elixier der ewigen Jugend! Schon allein die Freuden, die er in seinem Harem genießen konnte, waren ein paar Unregelmäßigkeiten wert. Bedächtig aß und trank er, bewunderte die aufgehende Sonne, grinste mit dicken Lippen die bedienenden Sklavinnen an. Plötzlich hörte er aus der Richtung der Terrasse Lärm und Rufe. »Was gibt es?« schrie er und verschluckte sich beinahe. Sein
Gesicht lief rot an, als er hustete. Ein Mädchen eilte heran und legte ein kaltes Tuch zwischen seine Schultern. »Ein Bote!« stammelte der Palastsklave. »Von wem?« »Einer der dunkelhäutigen Krieger, Herr! Er ist in großer Eile!« »Er soll herkommen. Bringt einen zweiten Sessel. Und dann – weg mit euch!« Der Schwarze schien die Aufforderung gehört zu haben, denn er kam herangelaufen und verbeugte sich tief vor dem Vater der Stadt Kartug. Als er sich aufrichtete, erkannte Ondurman Kanrak. Schrecken und Verlegenheit zeichneten sich auf dem narbigen Gesicht des Kriegers ab. »Herr!« sagte er. »Furchtbare Dinge sind geschehen. Sie gefährden uns ebenso wie das Elixier. Einer meiner Männer wurde heute nacht im Hafen von Stadtbewohnern erschlagen. Er wehrte sich, aber er unterlag.« Ondurman überdachte die Folgerungen und entschied, den Weinbecher in beiden Händen: »Das ist nicht schön, aber es kommt immer wieder vor. Niemand wird deswegen verfolgt werden. Händel und Streitereien sind an der Tagesordnung in einer solch großen Stadt wie Kartug.« Der Schwarze senkte den Kopf und murmelte demütig: »Es ist noch etwas anderes, Herr. Die Männer des Händlers sind gewarnt worden. Sie rüsten das Schiff aus. Es sieht aus, als würden sie jeden Augenblick in See stechen.« »Das ist bitterer, mein Freund!« gab der fette Mann zu, aß einige Taubeneier und rülpste laut. »Und ernster. Laß uns beraten, was geschehen soll.« »Was immer es ist, Herr der Stadt, es sollte schnell geschehen. Jedenfalls sieht es so aus, als ob sie bald starten und das offene Meer erreichen werden. Und wenn die Herrin des Südens erfährt, daß sie wegen des Elixiers kommen, wird sie dir keinen Tropfen schenken!« »Auch das ist bitter«, schränkte Ondurman ein und wußte, worauf der Schwarze hinauswollte. »Aber ich bin nicht der Alleinherrscher
der Stadt.« Sein Interesse an den delikaten Speisen schwand völlig. Er schloß die Augen und versank förmlich in sich selbst. Schweigen breitete sich aus. Unterbrochen nur von den zischenden Atemzügen des Dicken, und dem Singsang der Vögel. »Ich denke, ich habe eine Lösung gefunden«, murmelte Ondurman schließlich. Er erhob seine Stimme und schrie: »Bote!« Im Laufschritt näherte sich ein hochgewachsener Sklave mit dünnen Waden. Er trug auf seinem Wams das Zeichen Ondurmans. »Renne zum Kommandanten der Kriegsflotte! Sage ihm, er solle sechs Schiffe bemannen und sich zum Auslaufen bereithalten. Renne dann zum Großen Kaufmann Tateil und sage ihm, der fremde Händler habe mich beleidigt und soll bis zur Klärung der Fragen festgehalten werden. Sie sollen gehorchen, es ist eilig. Ich werde sie selbst im Hafen erwarten. Renne schnell, guter Bote!« Der Sklave nickte, schrieb etwas auf ein Wachstäfelchen und stob über den Kies und die Platten des Gartens davon. Ärgerlich brummte Ondurman: »Das ganze Frühstück verleidet. Gut, gehen wir. Bis alles geschehen ist, vergeht ohnehin eine hübsche Zeit. He, Träger!« Karnak schwieg und kochte innerlich. Es dauerte alles viel zu lange. Er sah zu, wie Stangen unter den Sessel geschoben und von acht Männern hochgehoben wurden. Man schleppte den fetten Mann in den Palast und schirrte dort ein wuchtiges Pferd mit großem Sattel an. Noch immer stand Karnak daneben und wußte, daß jeder Lidschlag den Händlern einen Vorteil gab. Sie wußten alles! Der sterbende Dieb mußte ihnen mehr verraten haben, als Karnak ahnte. Sie durften das Land im Süden nicht erreichen! Er mußte es verhindern! Aber mit neun Kriegern konnte er sich nicht gegen das Schiff und die mehr als dreißig Männer Besatzung stellen. Schließlich war Ondurman fertig.
Als er losritt, folgten ihm zwanzig Männer aus seinem Gesinde, die er als Wachen beschäftigte. Nach und nach stießen auch die neun schwarzen Krieger zu ihnen. Rund dreißig Reiter galoppierten im ersten Sonnenlicht hinaus auf eine der breiten Prachtstraßen. Es gab nur wenige Spaziergänger oder Händler, die ihre Stände aufschlugen. Aber den scharfen Augen Karnaks entging keineswegs, daß der Zug bewaffneter Männer genau beobachtet wurde. Die Schwarze Wellenreiterin durfte nicht entkommen! Wo waren die anderen Männer, die Soldaten, die Besatzungen der Kriegsschiffe? * Nur noch zwei dünne Taue hielten das Schiff an den Pollern fest. Die Flut war gekommen, und die Ebbe zerrte an dem schlanken Rumpf. Ununterbrochen kamen und gingen Träger über die breite Planke. Sie bildeten eine lange Reihe zwischen dem Schiff und dem Lagerhaus. Nabib spürte seine Schulter nicht mehr. Er sprang an Deck hin und her und überwachte das Verstauen der Güter in den Laderäumen. »Hierher, du Tölpel! Vorsicht, der Krug ist nicht aus Eisen!« »Wozu bezahle ich teures Gold, wenn du Hirnloser den kostbarsten Stoff mit deinen Lumpen verwechselst?« »Gib acht, du Idiot!« Er war gleichzeitig im Bug und im Heck, auf dem Niedergang und bei den Männern, die lange Riemen aus den Halterungen zerrten und einsetzten. Jaggar stand neben Yina auf dem Achterdeck, und der Steuermann hielt den langen Balken in den Armen. Sie arbeiteten mit der Zeit um die Wette. Yina sagte nachdenklich zu Jaggar: »Alle sind angespannt. Sie arbeiten wie die Wahnsinnigen. Und dort drüben, bei den Kriegsschiffen, tut sich nichts. Ich nehme auch keine Gedanken auf. Sie wissen noch nichts von unserer
beabsichtigten Flucht.« Jaggar legte zärtlich seinen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Er deutete auf den breiten Platz zwischen den Speichern und Häusern. Jetzt, in den ersten Morgenstunden, waren die Nichtstuer und Spaziergänger verschwunden, die Hafendirnen schliefen, die Betrunkenen schnarchten in dunklen, feuchten Winkeln. Die Straße zur Stadt hinauf war leer, abgesehen von einigen Bauern, die ihre Erzeugnisse auf den Markt brachten. »Das wird sich schnell ändern, Yina«, erklärte er. »Wir sind, wenn wir einmal losgemacht haben, von Land aus nicht mehr zu erreichen. Nabib will das Elixier. Es ist aber zu denken, daß auch Ondurman nichts anderes will. Und er ist der Mächtigere.« »Ich verstehe. Warum läßt er uns gewähren?« »Weil er vermutlich noch nicht weiß, daß wir flüchten wollen.« Jaggar hob beide Hände trichterförmig an den Mund und rief zu Nabib hinunter: »Wie weit seid ihr?« »Zwei Drittel haben wir an Bord!« »Beeilt euch!« »Hilf uns lieber, Schwarzbart!« gab Nabib bissig zurück und begann wieder, auf die Träger einzuschreien. Aber die Männer waren erschöpft. Sie hatten seit Mitternacht nichts anderes getan als Krüge, Ballen und Kisten aus dem Lagerhaus ins Schiff zu tragen. »Der Proviant ist an Bord, Jaggar?« erkundigte sich Yina. Sie hatte nur wenig geschlafen und zusammen mit Bartulok aufmunternde Getränke und Essen an die Helfer ausgegeben. »Ja. Wenn wir überrascht werden, dann verlieren wir einen Teil unserer Handelswaren. Aber dieses Risiko sind Nabib und ich mit offenen Augen eingegangen. Und wir sind, dank deiner Hilfe, Yina, nicht gerade arm.« Eine unheimliche Spannung lag über dem erwachenden Hafen. Die Menschen bewegten sich wie unter Zwang. Die meisten von ihnen kannten die politischen Zusammenhänge, und besonders die Mitglieder der Diebesgilde freuten sich, gerade diesen Männern
helfen zu können. Aber auch sie warteten auf den entscheidenden Augenblick. Tausend Augen würden die Soldaten sehen, wenn sie aus der Stadt kamen, aber Hunderte Augen sahen auch die Vorbereitungen der Händler. Jeden Augenblick konnten harte Kommandos dort drüben die Kriegsschiffe aufscheuchen. Jeden Augenblick konnten die Reiter aus der Stadt herankommen. »Du bist unruhig, Jaggar!« sagte Yina und streichelte seinen Arm. »Ich spüre deine Gedanken.« »Auch du bist nicht ruhig, und es ist normal, jetzt unruhig zu sein!« gab er zurück und sah zu, wie ein Träger stolperte, stürzte, aber sich im Fallen zusammenrollte, um den schweren Gewürzkrug mit dem Körper zu schützen. Nabib schlug erschüttert beide Hände vors Gesicht. * Das Sonnenlicht kam waagrecht über das Land. Es verwandelte die weiten Felder und die Gewächse darauf in ein bizarres Muster. Es traf voll auf die zyklopischen Mauern Kartugs und färbte sie zartrosa. Jeder Schatten war lang und tiefschwarz. Die Luft roch nach kaltem Rauch und nach der Feuchtigkeit des nahen Meeres. Ein schwacher, ablandiger Wind sprang in einzelnen Stößen auf und zerfaserte die Rauchsäulen. »Glaube mir, Alay, du kannst nichts machen. Du bist zu schwach. Und du bist so gut wie allein!« Der alte Mann raffte den löcherigen Mantel über seiner Brust zusammen und kniff die Lider zu. Die Sonne blendete ihn. Neben ihm stand das Mädchen, nur achtzehn Sommer alt, aber voll erblüht. Ihre Tränen waren getrocknet, aber im staubbedeckten Gesicht sah er noch die Spuren. »Diese Hunde haben ihn zu Tode geschunden. Niemand kannte ihn. Nur ich. Ich sage dir, Herdsklave, er war ein guter Mann mit einem weichen Herzen. Und mutig wie ein Seeadler!« Der Herdsklave aus dem Gut des Kime von Kʹnan und die kleine
Sklavin waren so etwas wie persönliche Freunde des toten Zondar. Die anderen Frauen und Männer der Diebesgilde waren seine Kumpane und Partner, aber Alay hatte Zondar geliebt. Sie kamen von seinem Grab zurück; ihr Dienst begann in kurzer Zeit. Jetzt gingen sie langsam die Straße zwischen dem wuchtigen Hafentor, das nur noch von der Kuppel des Ondurman‐Palastes überragt wurde, und dem Hafen entlang. Das Gut lag vor den Mauern, und sie hatten die Nacht benutzt, um sich davonzustehlen und das Grab zu besuchen. »Du wirst ihn vergessen, weil du ihn vergessen mußt!« sagte der Herdsklave und zuckte die Schultern. Auch in seinem Leben hatte er vieles kommen und gehen sehen. Liebe, Glück und Unglück. Ihm tat das Mädchen leid, das Zondar zur Hälfte freigekauft hatte. Sie lebten, wenn er in der Stadt war, zusammen wie Mann und Frau. »Ich werde ihn nicht vergessen. Ich werde ihn rächen!« sagte sie erbittert. Durch die Morgenluft hörten sie von fern ein knarrendes Geräusch. Gleichzeitig blickten sie beide in die Richtung der wuchtigen Festung, die das Hafentor umgab. Die niedrigeren Mauern begrenzten die Straße. Langsam schwangen die breiten, eisenbeschlagenen Torflügel auf. Die Sonne blitzte auf Helmen, Schilden und Waffen. »Krieger oder Soldaten. Was haben sie jetzt im Hafen zu suchen?« »Vielleicht suchen sie den Händler, der Zondar begraben hat!« murmelte der Alte und zog Alay in einen Torweg hinein. Sie hatten noch eine Stunde Fußmarsch bis zum Gutshof des Kime. »Dann sind diese Hundesöhne aus dem Süden dabei!« sagte das Mädchen und blieb in den Schatten der Ostmauer gedrückt. Sie sah mit großen Augen die näher kommende Truppe an. Die Männer auf den Pferden hatten es eilig. Sie kamen sicherlich, um die Fremden festzuhalten oder zu ermorden. »Sie reiten zum Hafen!« stieß Alay hervor. »Ich kann den Fettsack sehen! Er sitzt auf seinem Schecken!« »Es sind Soldaten und Mannschaften für die Kriegsschiffe dabei!«
antwortete der Herdsklave. »Es wird Kampf geben.« »Ich werde den Händler warnen!« rief sie unterdrückt und riß sich los. Der Alte griff abermals nach ihr, aber seine alten Finger verfehlten sie. Das Mädchen rannte davon, aber sie blieb jenseits der kopfhohen Mauer, die Felder und Straße voneinander trennten. »Bleib hier!« schrie ihr der Herdsklave nach, aber sie hörte nicht mehr. Sie rannte davon, wie von Furien gejagt. Die Soldaten kamen immer näher. Das Trappeln vieler Pferdehufe verschluckte jedes Wort und war das einzige Geräusch an diesem Morgen. Der Herdsklave duckte sich tiefer in den Schatten und verbarg seinen ausgemergelten Körper zwischen den Balken des Tores. Er drehte den Kopf hin und her, blickte in die Richtung der Stadt, dann wieder dorthin, wo sich Alay wie eine Rasende durch Pflanzen und Wassergräben, über Rasenflächen und durch Reisfelder entfernte. Aber der Sklave sah die anderen Männer und Frauen nicht, die den Weg säumten. Ein paar Bauern, die schwer an ihrem Gemüse schleppten. Oder einige Fischer, die an zwei sich durchbiegenden Stangen Weidenringe mit sich führten, an denen die Fische hingen und einen penetranten Geruch verbreiteten. Einmal schrie zwischen den Soldaten und der ersten Gruppe gellend ein Spottvogel. Einige Augenblicke später antwortete ein zweiter, zweihundert Schritt weiter in die Richtung des Hafens. Das Hufgetrappel wurde lauter. Aus einer Gruppe von Handwerkern, die mit Werkzeug auf den Schultern und einem weißen Esel, der das Gepäck schleppte, der Stadt zustrebten, ertönte das drittemal der Schrei des Vogels. Jetzt begriff der Herdsklave. Sie passen auf und warnen den Händler! dachte er, und sein zahnloser Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Aber er veränderte die Lage seines Körpers nicht und sah zu, wie die Männer aus der Stadt an ihm vorbeizogen, ohne ihn zu bemerken. Sie wurden schneller, je weiter sie das Hafentor hinter sich ließen. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm waren, sah er, wie sich zehn
schwarzhäutige Krieger mit Schmucknarben in den Gesichtern nach vorn geschoben hatten. An ihrer Spitze und am Anfang des Zuges aus rund zweihundertfünfzig Reitern ritt der Anführer, den er selbst zweimal in den Schenken gesehen hatte. Ein riesenhafter Mann mit einem harten, entschlossenen Gesicht. Er war bewaffnet, als wolle er einen Krieg allein bestehen. Er stand in den Steigbügeln, beugte sich über den Hals des Pferdes und preschte über das alte Pflaster dahin, dem Hafen entgegen. Der alte Mann fühlte, wie ein Schauer seine Haut überlief. Er wartete, bis die Wachmannschaft von Ondurman vorbei war, dann stand er auf und humpelte in die Richtung des Gutshofs. Achtlos traten die Fischer, Bauern und Handwerker zur Seite und ließen die Kavalkade passieren. Das Mädchen rannte mit letzten Kräften über die Felder, dem Hafen entgegen. Vielleicht würde sie den Hafen einige Schritte vor den Reitern erreichen. Aber auch sie ahnte nicht, daß die gellenden Pfiffe des Spottvogels ein Signal gewesen waren … * Selten hatte sich Nabib von Thinayda derartig unwohl gefühlt. Die Aufregung fraß an seinen Nerven. Immer wieder blickte er hinaus auf den freien Platz. Er wartete auf den Zusammenbruch, auf das Startzeichen der Flucht. »Alle Götter!« wimmerte er. »Schon wieder eine Flucht. Schon wieder Verluste! Und das mir, dem ausgekochtesten Schacherer von Sodok!« Er drehte sich herum, faßte einen schweißüberströmten Träger ins Auge, der keuchend die Rampe hochtaumelte, einen riesigen Ballen Seide schleppend. Nabib schrie dem unschuldigen Mann zu: »Du Faulenzer, Sohn von Tagedieben, Vater von unbeschreiblichen Kindern – du hast auch nichts anderes in deinem faulen Kopf, als mein Geld zu nehmen! Schneller, Mann des
Plattfußes!« Wortlos spuckte der Träger ins Hafenwasser, trat auf das Deck und warf den Ballen genau in Nabibs Richtung. Einige andere Träger lachten, aber in das Gelächter mischte sich ein kreischend heller Vogelschrei. Er hatte noch nicht geendet, als Zimaron zu handeln begann. Er holte tief Luft, sein mächtiger Brustkorb spannte sich, und dann hallte sein Schrei über den ganzen Hafen hin. »Männer der Wellenreiterin! Geht an die Riemen! Sie kommen!« »Nein!« heulte Nabib auf und raufte sich das schüttere Haar. Er rang die Hände, denn er wußte nun, daß viele der Waren im Lagerhaus zurückbleiben würden. Dann sprang er mit einem riesigen Satz an die Reling und brüllte: »Laßt die Ballen! Bringt nur die Gewürzkrüge! Und rennt! Ich werfe Goldstücke unter euch!« Es war ein fast sinnloser Appell. Aber die Träger, unter ihnen einige Diebe, rafften sich ein letztesmal auf. Sie rannten, sofern sie keine Lasten trugen, so schnell sie konnten, zum Lagerhaus. Gleichzeitig warfen die letzten Träger ihre Ballen oder Kisten einfach über die Bordwand. Aus allen Ecken kamen die Besatzungsmitglieder der Wellenreiterin. Sie sprangen an Deck, griffen nach herunterhängenden Tauen und schwangen sich vom Bug bis zur Mitte des Schiffes, verschwanden unter Deck und setzten sich auf die Ruderbänke. Auf der freien Seite standen sie senkrecht in der Luft. Zimaron stürzte an das Tau, mit dem das Heck des Schiffes festgehalten wurde. Mit der anderen Hand ergriff er ein Notruder, zweifach mannslang oder länger. Er setzte das Ruderblatt in einer Spalte der Steine ein und wartete voller Anspannung. Jaggar wich Trägern, geschleuderten Lasten, rennenden Besatzungsmitgliedern und dem umherspringenden und zeternden Nabib aus und hastete zum Bug des Schiffes. Dort schlug er das Haltetau los und hielt ebenfalls ein Ruder in der Hand. »Schneller!« kreischte Nabib und riß den Trägern die kostbaren
Krüge aus den Händen. Er griff in sein Gewand und holte Münzen hervor. »Hierher! Laßt den Stoff! Bringt die Gewürze!« Die Umgebung des Schiffes verwandelte sich in ein Chaos. Stimmen schrien, Männer rannten hin und her, und nur die Leute vom Schiff bewahrten Ruhe. Jetzt zeigte sich die Schulung des einstigen Piraten Jaggar, der nicht geruht hatte, bis jeder Handgriff den Männern noch im Schlaf gewärtig war. Wieder pfiff der Spottvogel. Von der Ecke des letzten Hauses löste sich ein Mann, der unverkennbar die Berufskleidung von Fischern trug. Als er in rasendem Lauf die Bordwand erreichte und zu Jaggar hinaufsah, erkannte der Schiffsführer den Meisterdieb. »Mein Freund! Du hast gewartet!« rief er verblüfft aus. Er grinste und freute sich; es war ein Zeichen, daß man irgendwann diesen Hafen würde wieder anlaufen können. »Ja. Sie kommen. Die Schwarzen, der Fettsack und zweihundert Krieger oder mehr. Ihr habt nicht mehr viel Zeit. Außerdem kann man euch von Land aus verfolgen. Haltet euch in der Mitte der Bucht!« »Jch danke dir, Jala!« rief Jaggar zurück. »Ich verspreche dir, wiederzukommen und mit dir den größten Krug zu leeren, den wir in Kartug finden!« »Gute Fahrt, Freunde! Und bringt mir etwas von dem Elixier mit!« war die Antwort. Dann warf sich der vermeintliche Fischer herum, lief die gesamte Bordwand des Schiffes entlang und verschwand dort, wo Fischerboote und Netze herumstanden und lagen. Die letzten Träger kamen herangerannt und reichten einander die Krüge. »Keine Krüge mehr im Lagerhaus!« stöhnte einer und sackte zusammen. Nabib schleuderte ein kleines Silberstück in die Richtung des Mannes. Dieser wurde plötzlich wieder munter, sprang schräg in die Höhe und fing das Geldstück wie eine Möwe im Flug. »Betrüger! Du hast Gold versprochen!«
Ungerührt stapelte Nabib die Kistchen neben die Bordwand, hob seinen Kopf über die Reling und gab zurück: »Du hast Eile versprochen und Langeweile gehalten! Lauf und hol noch den einen oder anderen Ballen!« Fluchend trollte sich der Lastenträger, aber die Kette der Arbeiter war gerissen. Die letzten Gepäckstücke trafen ein. Nabib kannte seinen Verlust bis auf die kleinste Scheidemünze – er war beträchtlich, aber er würde ihn und Jaggar nicht runinieren. Eine Unze Jugendelixier, und der Verlust war mehr als zehnmal wettgemacht. Die Menge im Hafen verlief sich. Immer weniger Menschen waren zwischen den Hausfronten und dem Kai zu sehen. Aber die Kriegsschiffe lagen noch immer ruhig dümpelnd an den Tauen und vor ausgebrachten Bugankern. Jaggar schrie in einem Tonfall, der keinerlei Zweifel zuließ: »Nabib! Schluß jetzt! Wirf die Planke ab!« Noch vier Männer befanden sich vor dem Schiff. Vier riesige Krüge, zum Schutz gegen Beschädigungen mit Tauen umwickelt, wurden zum Schiff geschleppt. Nabibs Herz schlug rasend schnell. Er schwitzte vor Aufregung und Angst, denn jenseits der Hausfronten sah auch er das Funkeln von Waffen im Sonnenlicht. »Weg mit der Planke! Wir legen ab, Nabib! Zügle deine Habgier!« tobte Jaggar. Er meinte es ernst, denn jetzt drang auch das Geräusch klirrender Waffen und vieler Pferdehufe an sein Ohr. Die Männer aus Kartug hatten gesehen, daß sich die Schiffsmannschaft vorbereitete, daß es nur noch Augenblicke dauern konnte, bis das Schiff ablegte. Jaggar riß das Seil an sich, das ein Träger losgemacht hatte, dann stemmte er sich mit aller Kraft gegen das lange Holz und stieß den Bug des Schiffes machtvoll vom Kai ab. Majestätisch schwang die Schwarze Wellenreiterin vom Hafenrand weg, die Planke bebte, und als der letzte Träger das Gleichgewicht verlor, und die Kassette nach vorn warf, fing sie Nabib auf. Klatschend fielen die Planke und der Träger ins Wasser. Die
letzten Männer huschten auseinander. Der Platz leerte sich. Auf den Kriegsschiffen sahen die Wachen neugierig herüber. »Steuermann! Stoß ab!« schrie Jaggar und befestigte das Ruder. Dann rannte er auf das Heck zu. Zimaron ließ seine gewaltigen Muskeln spielen und stieß, noch während sich das Schiff drehte, das Heck ab. Jetzt waren es schon drei Mannslängen, die Bordwand und die Steinbefestigung voneinander trennten. Neben der treibenden Laufplanke erschien der Kopf des Trägers. Der Mann schwamm auf die schmale Treppe im Stein zu, die mit Algen, Moos und grünen Pflanzen überwuchert war. »Setzt die Steuerbordruder ein!« schrie Jaggar und eilte an seinen Platz. Er griff nach dem Ruderschaft, wartete den richtigen Takt ab und sah vor sich die Rücken anderer Männer. Knirschend bewegten sich die Riemen, tauchten ein, wurden durchgezogen, rissen mit jeder Bewegung der sechsundzwanzig Männer das Schiff um einige Mannslängen vorwärts. Zimaron warf das Steuer herum und richtete den Bug der Wellenreiterin auf das offene Meer hinaus. Sein Blick streifte den fast gänzlich leeren Hafen. Die erste Gruppe der Reiter zügelte jetzt zwischen den Gebäuden die Tiere. Zimaron erkannte die Schwarzen, von denen Nabib und Jaggar immer gesprochen hatten. Er drehte den Kopf und sah Yina an, die versunken hinter dem achterlichen Schanzkleid saß und ebenfalls den Hafen zu betrachten schien. Aber ihre Augen waren blicklos – sie versuchte, die Gedanken der Verfolger aufzunehmen. In einer Reihe kleiner Erschütterungen, schneller und schneller werdend, immer weiter vom Kai wegtreibend, entfernte sich das Schiff. Jetzt trennte es bereits ein Speerwurf vom Ufer. Zimaron ließ einen Augenblick das Ruder los und sprang nach Backbord. Er blickte nach vorn. In einiger Entfernung sah er die Spuren des Windes auf dem fast glasglatten Wasserspiegel. Erst dort konnten sie die Segel setzen. Zwischen den Häusern löste sich jetzt eine einzelne Gestalt. Die
scharfen Augen des Steuermanns erkannten ein Mädchen mit langem, schwarzem Haar. Sie rannte zunächst auf das Schiff zu, oder vielmehr auf die Stelle, an der sich die Wellenreiterin eben noch befunden hatte. Dann blieb das Mädchen verwundert stehen, sah sich um und bemerkte die Reiter und das Schiff, das vor der Kulisse der anderen Schiffe vorbeistrich, erreichbar fast nur noch für weite Bogenschüsse. Das Mädchen wandte sich verwirrt um, ging langsam auf die Häuser zu und setzte sich auf eine Treppe. Aber die Soldaten handelten mit der Schnelligkeit einer gut ausgebildeten Truppe. Kommandos schallten über den Hafen. Ein Teil der Reiter stob in halsbrecherischem Tempo um den halben, sichelförmig angelegten Hafen herum und auf die Kriegsschiffe zu. Einige andere Reiter und die zehn Dunkelhäutigen erkannten ihre Möglichkeit, rissen die Pferde herum und sprengten auf den Uferweg zu, der an der rechten Seite der keilförmigen Hafenbucht entlangführte, bergauf, bergab, in Schleifen und Windungen. Erbarmungslos wurden die schweißnassen Pferde den Hang aufwärts getrieben, und die Reiter holten die Pfeile aus den Köchern. Karnak ritt an der Spitze. Er stand in den Bügeln, hielt in der Linken den Zügel und holte mit der anderen Hand den Bogen vom Rücken. Hinter ihm galoppierten seine neun Krieger den Hang hinauf und befanden sich nach dreißig Sprüngen auf derselben Höhe mit den Wimpeln, die von den Masten des Schiffes schlaff herunterhingen. »Macht ein Feuer! Schnell! Und trefft gut!« befahl er. Die Tiere griffen aus und wurden schneller. Die zehn Reiter hatten nun das Plateau der Erwartung erreicht, einen glatten Felsvorsprung, von dem aus man das riesige Becken des natürlichen Hafens übersehen konnte. Die Reiter hatten das Schiff überholt, das jetzt mit einer ruhigen Heckspur auf sie zukam, schräg zur offenen See gewandt. Einige Männer sprangen ab und schlugen Feuerstein gegen Stahl,
bliesen und versuchten Glut zu erzeugen. Karnak blieb im Sattel und legte einen Pfeil auf die Sehne. »Sie dürfen nicht entkommen!« knirschte er. Er spannte den Bogen aus, bis die straffe Sehne sein Kinn berührte. Es gab nur drei Ziele an Bord, die er treffen konnte. Den Händler, der aufgeregt umhersprang und seine Pakete verstaute, eine Frau auf dem Achterdeck und neben ihr einen riesigen Steuermann. Langsam folgte die Spitze des Pfeils der Bewegung des Schiffes. Karnak zielte auf den Steuermann. »Moloch hilf!« flüsterte er und feuerte den ersten Pfeil ab. Noch während das Geschoß in der Luft war, riß er den zweiten aus dem Köcher und warf einen blitzschnellen Blick dorthin, wo zwischen den gekrümmten Oberkörpern seiner Männer dünner Rauch aufstieg. Sie hatten Feuer! Jetzt würden sie Brandpfeile schießen können! Der Pfeil beschrieb eine flache Kurve, zischte zwischen dem Tauwerk hindurch und schlug mit einem knackenden Geräusch in die Holzbrüstung, keine zwei Handbreit neben dem Kopf des Riesen ein. Karnak schoß den zweiten Pfeil, aber jetzt bewegten sich die beiden Ziele. Der Steuermann sprang auf das Weib zu, deckte sie mit seinem Körper und turnte dann mit ihr unter das Deck. »Verdammt!« Wieder zielte und schoß Karnak. Seine Krieger feuerten ebenfalls Pfeil um Pfeil ab. Die Projektile fauchten über das Wasser, schlugen vor der Bordwand in die See ein oder hämmerten in die Planken. Einige wurden von den Tauen der Takelage aufgefangen und zurückgefedert. Sie fielen wirkungslos auf das Deck. Aber die meisten schlugen rund um den Händler ein, der offensichtlich ein mutiger Mann war. Er hob ein Gepäckstück nach dem anderen auf und beachtete die Pfeile nicht, die in die Decksplanken einschlugen, an der Reling zerbrachen oder in die Stoffballen zischten. »Habt ihr endlich Feuer?« brüllte Karnak wütend. »Ja!« kam die von Husten unterbrochene Antwort. Ein Häufchen aus Flammen und Glut rauchte zwischen den
Männern. Dann prasselten ein paar dünne Ästchen auf. Schnell riß Karnak einen Brandpfeil aus dem Köcher und sprang aus dem Sattel. Sein letzter Blick hatte ihm gezeigt, daß sich das Bild zu seinen Füßen zu verändern begann. Das Schiff, noch immer von ruhigen Ruderschlägen getrieben, näherte sich der Linie, die jene Windstille Hafenzone von dem Gebiet trennte, in dem die Segel losgeschlagen werden konnten. Jede Bewegung der rund dreißig Riemen schob den schnittigen, schwarzen Rumpf weiter dieser verfluchten Linie entgegen. Der Händler war verschwunden, nur der Steuermann befand sich an Deck und hielt einen glänzenden Metallschild in der Linken. Fast gleichzeitig machten jetzt sechs Schiffe aus Kartug los. Sie wurden von Sklaven gerudert, und für sie galten dieselben Gesetze: auch sie konnten erst dann Segel setzen, wenn sie ein Gebiet mit Wind erreichten. Gleichzeitig merkte Karnak, daß der Vorsprung, auf dem sie standen, und jetzt die brennenden Pfeile auf die Bögen hoben, sie am weitesten an das Schiff herangebracht hatte. An das Plateau schloß sich eine Bucht an, die sich landwärts wölbte. Wenn sie das Schiff weiter verfolgten, würden sie sich nur von ihm entfernen. Diese Stelle bot die besten Möglichkeiten. Schräg unter ihnen fuhr jetzt die Wellenreiterin vorbei und kam der Linie des bewegten Wassers immer näher. Und mit jedem Ruderschlag entfernte sich die Bordwand von dem senkrecht abfallenden Felsen. »Schießt, was ihr könnt! Nur Brandpfeile. Und zielt nicht auf den Mann. Setzt die Segel in Brand!« Ein Mann versorgte das Feuer und fütterte es mit trockenem Gras und eingesammelten Holzstücken, und neun Männer schossen. Die Bögen summten, die Sehnen schlugen wie die Harfensaiten, und die Pfeile fauchten hinunter zum Schiff. Die Spitze wurde von einer winzigen Flamme gebildet, und das Geschoß zog eine lange, dünne Rauchspur hinter sich her.
Der erste Pfeil schlug ins Wasser. Der zweite krachte in die Bordwand, und eine winzige Welle löschte das Feuer. Der dritte blieb vor den Füßen des Steuermannes stecken, und die Flamme wurde mit dem Schild ausgeschlagen. Weitere Pfeile heulten durch die Luft. Der Steuermann brüllte mit dumpfer Stimme ein Kommando. Zwei Riemen wurden schnell eingezogen und verschwanden im Schiffsbauch. Drei Männer hasteten einen Niedergang hoch und trugen lederne Eimer. Wieder hagelten Pfeile ins Deck. Einige brannten weiter, andere verlöschten. Die Eimer wurden an dünne Seile gebunden, und dann fielen sie klatschend ins Wasser. Die Männer des Schiffes arbeiteten umsichtig und schnell. Sie rannten hin und her und schütteten Wasser auf jeden Brand, den sie entdeckten. Immer mehr Pfeile jagten heran und schlugen neben der Steuerbordseite ins Wasser. Im Takt bewegten sich die Riemen. »Schießt weiter!« brüllte Karnak auf. Die Verfolgerschiffe schlichen förmlich dahin, obwohl er bis hierher das Knallen der Peitschen und die heiseren Flüche hören konnte. »Und trefft, ihr Schurken!« Er spannte den Bogen bis zum äußersten Punkt. Seine Augen tränten vom Rauch der Bündel aus Harz und Werg, die an den Pfeilspitzen klumpten. Ein Pfeil ohne dieses zusätzliche Gewicht hätte das Schiff sicher erreicht. Der Krieger ließ die Sehne los und verfolgte mit den Augen die Flugbahn des Pfeiles. Auch dieser Pfeil schlug eine Handbreit neben der Bordwand ins Wasser. Ein letzter Schauer von Geschossen wurde abgefeuert und zog seine Rauchbahnen vom Felsen in Richtung des Schiffes, aber die Entfernung war zu groß. Mutlos ließ Karnak die Schultern sinken. »Hört auf! Es ist sinnlos. Die Bögen tragen nicht so weit. Jetzt können wir nur noch auf die Schiffe des Fetten hoffen!« Die sechs Schiffe bildeten eine schräge Linie. In rasendem Takt schlugen die Riemen das Wasser. Die Holzschäfte bogen sich. Aus
den Bäuchen der Kriegsschiffe klang das dumpfe Trommeln der Männer, die den Rudertakt angaben. »Werden sie den Händler erreichen?« fragte ein Krieger. »Sie müssen es! Wir haben keinen Erfolg gehabt! Sie waren gewarnt!« schrie Karnak in kaltem Haß und zerbrach einen Pfeil zwischen den Fingern. Er schleuderte die Stücke ins Feuer. »Die Diebe haben sie gewarnt. Es war vielleicht ein Fehler, daß wir Zondar nicht schnell getötet haben!« »Schon möglich! Und sie wissen den Kurs nach unserem Land. Wir können nichts anderes tun, als schneller reiten. Wir müssen unsere Heimat schneller erreichen als sie!« »Das wird schwer werden, Karnak.« »Aber nicht unmöglich!« In diesem Moment durchschnitt der scharfgeschnittene Bug des schwarzrumpfigen Schiffes die Trennungslinie zwischen winderfüllter und windstiller Zone. Binnen weniger Herzschläge breitete sich das Leben auf dem Schiff aus. Fast gleichzeitig verschwanden die Riemen, wurden die Löcher in der Bordwand verschlossen, kamen die Männer an Deck. Ein ameisenhaftes Gewimmel, das nach einem genauen Plan ablief, begann. Das erste Segel entfaltete sich. Kommandos waren zu hören, und jedermann wußte, was zu tun war. Knallend füllte der Wind das Segel, das Schiff legte leicht über und gewann mehr Fahrt. Ein zweites Segel entfaltete sich, und ein Ausschlag des Steuerruders brachte das Handelsschiff in den Wind. Und dann das dritte Segel. Abermals hob sich der Bug ein wenig, die Bugwelle begann zu schäumen, und dann wurden die Segel festgezurrt. Karnak sah das alles in ohnmächtigem Grimm mit an, aber er hoffte noch immer. Sechs Verfolger würden Glück haben müssen! Sie würden den Handelssegler aufbringen! Die Fremden verstanden etwas vom Segeln, das mußte Karnak widerwillig zugeben. In unglaublich kurzer Zeit lag das Schiff gut im Wind, war weitaus schneller geworden und wurde hervorragend
gesteuert. Der ablandige Wind war alles andere als stark und regelmäßig, aber die Männer am Steuer schienen sowohl die Strömungen als auch alles andere zu erahnen; sie nutzten förmlich jeden Lufthauch aus. Das Schiff trieb davon und zeigte den Verfolgern zu Land und zu Wasser das gerundete Heck und die dreieckige Spur aus schaumgekrönten kleinen Wellen. »Zurück!« ordnete Karnak an. »Wir können nichts mehr tun.« Sie ritten langsam und niedergeschlagen zurück zum Hafen. Es war nicht einer unter ihnen, der nicht daran dachte, daß Mißerfolge einem Todesurteil gleichkamen.
6.
Vier Stunden nach Sonnenaufgang erreichte die Schwarze Wellenreiterin die unsichtbare Linie, die jene beiden äußersten Punkte des keilförmigen Einschnitts verband. Das offene Meer war erreicht. Vor ihnen lag die Freiheit der Entscheidung. Die Männer, vom Rudern, Segelsetzen und dem Löschen der kleinen Brände erschöpft, lagerten an Deck. Die Sonne schien hell, ein kräftiger Wind trieb sie nach Nordwesten, und das Wetter versprach jetzt noch einen schönen Tag. Jaggar war der erste, der das Schweigen brach. »Wir sind nur scheinbar in Sicherheit, Freunde!« sagte er und trank Wein, mit Wasser verdünnt. »Sechs Schiffe kann ich zählen!« pflichtete ihm Yina bei und deutete zum Heck. Es war richtig. Sechs Verfolger, die eine breite Linie bildeten und aufzurücken begannen. Es waren keine Schiffe, die Güter schleppten, sondern schnelle Kriegssegler, bemannt mit Soldaten. »Ondurman muß an dem Elixier mit wahrer Besessenheit interessiert sein!« meinte Nabib. »Und wir haben eine Menge Waren zurücklassen müssen. Für uns besteht einfach der Zwang zum Erfolg. Auf nach dem sagenhaften Königreich!« »Wir sind auf dem Weg dorthin. Zuerst nach Nordwesten, dann nach Westen und zum Ende der Welt!« erklärte Jaggar. Der Steuermann hob seinen behaarten Arm und stieß ein dröhnendes Lachen aus. Das Schiff schnitt durch die Wellen und bewegte sich im ewigen Rhythmus des Meeres. Der Wind sang summend in der Takelage. »Verdammt!« meinte Nabib nach einer kleinen Weile. »Sie sind schneller. Sie holen auf. Dort, die beiden sondern sich ab!« Sie selbst hatten geplant, zunächst eine Kurve von neunzig Grad zu fahren, die sie vom Ufer weg und nach Westen bringen sollte. Aber jetzt sahen sie, daß zwei der Verfolger sich absetzten und
versuchten, eine Zangenbewegung durchzuführen. »Was meinst du, Jaggar?« fragte Yina ruhig. Sie wußte genau, daß keiner der Männer leichtsinnig war. Sie hatten schon zuviel Gefahren überwunden und kannten die Gefahren, die überall lauerten. Und zumindest Jaggar und sein tüchtiger Steuermann erkannten, daß die Jagd erst richtig begann. Jaggar sprang auf und warf dem Koch den Weinbecher zu. Mit einigen Sätzen war er auf dem Steuerdeck und starrte nach hinten. Er berührte Zimaron am Arm. »Was hältst du davon, mein Freund?« Der narbenbedeckte, dreißigjährige Mann aus dem Land der Wolfsmenschen zog die Schultern hoch und schürzte die Lippen. Er sah nach der Sonne, prüfte die Stärke des Windes, betrachtete die Wolken und die Schiffe der Verfolger und äußerte sich schließlich. »Nichts Gutes, Kapitän!« Natürlich kannten die Schiffsführer der Kartug‐Flotte hier jedes Riff, jede Strömung und die Windverhältnisse besser als jeder fremde Kapitän. Sie waren im Vorteil. Ein zweiter Vorteil war, daß es schnellste Segler waren, von denen die Wellenreiterin verfolgt wurde. »Du errätst, was sie vorhaben?« Der Steuermann, der wie eine behaarte Mißgeburt wirkte, nickte mehrmals. »Ich weiß, daß sie uns vor uns hertreiben und auf das Ufer jagen wollen. Ich glaube, dort sind Riffe und Unterwasserfelsen. Oder sie wollen uns stranden lassen.« Jaggar nickte schwer. Er wünschte sich wieder sein altes Piratenschiff, mit dem er neunundneunzig von hundert Schiffen auf und davongesegelt war. Aber dann wandte er sein Interesse wieder dem anliegenden Problem zu. »Was können wir tun?« »So gut wie nichts, Jaggar. Wir sind auf alle Fälle langsamer.« Jaggar griff zu Pergament und Kohle. Er zeichnete erst die Küstenlinie und dann die Bewegung der Schiffe ein.
»Wird sich der Wind ändern?« »Nicht in der Richtung, aus der er kommt. Wir haben Ostwind. Nordost zu Ost. Er wird kräftiger werden, das ist alles. Vor Einbruch der Nacht gibt es eine längere Flaute!« Meistens hatte Zimaron mit solchen Vorhersagen recht. Er schien mit den Wellen und den Winden zu leben wie ein Mann der Natur. Er kannte sie alle, und Jaggar hatte ihm oft schon blind vertraut. Auch jetzt gab es keine andere Wahl. »Können wir schneller werden?« Zimaron schüttelte den Kopf. »Also nicht. Was tun wir?« »Warten, Käpten!« schlug der Steuermann vor. »Und vielleicht im letzten Augenblick wenden und durchbrechen. Sie werden uns am frühen Nachmittag eingeholt haben!« »Verdammt!« Das Schiff lief jetzt fast vor dem Wind. An Backbord war undeutlich im Dunst die Küste zu sehen. Sie war oberhalb der Wasserlinie bewaldet und bestand meist aus runden, grünen Bergkuppen, aber vor diesen Bildern sahen die Männer schroffe Klippen, Felsabstürze und eine Unmenge winziger Inselchen, die nur aus Stein bestanden und nur sichtbar wurden, als sich die Wellen daran brachen. Jaggar ging hinunter zu den anderen. Sie waren müde, weil die wenigsten von ihnen geschlafen hatten. Sie aßen, aber immer wieder wandten sie sich um und sahen nach den Verfolgern. Vier Schiffe segelten direkt hinter der Wellenreiterin her, und die zwei schnellsten hatten sich abgesondert und waren gerade dabei, den Kauffahrer an Steuerbord zu überrunden. Es sah nicht gut aus. Jaggar griff in ein Tau der Wanten, sah der Reihe nach seine Freunde an und sagte dann halblaut: »Wir sind aus dem Hafen geflüchtet, aber etwas zu spät. Ich will meinem Partner mit seiner Geldgier keinen Vorwurf machen … ist ja schon gut, Nabib, du brauchst nichts zu sagen. Kurzum, wir
haben keinen Vorsprung. Von Augenblick zu Augenblick kommen die Schiffe näher, und so wie ich es sehe, werden sie uns zum Ufer drängen und uns dort entern oder auflaufen lassen.« »Sechshundert Männer gegen dreißig. Wir sind verloren!« schrie jemand. »Noch lange nicht!« widersprach Jaggar. »Schließlich habe ich eine lange Karriere als Pirat. Uns fällt schon noch etwas ein.« Yina, die seine Gedanken las, erkannte, daß seine Zuversicht nur gespielt war. »Hoffen wir darauf!« meinte Nabib. »Bis dahin warten wir.« Aber im selben Moment hatte Jaggar einen Einfall. Selbst ihm erschien er tollkühn, aber es würde wohl die einzige Möglichkeit darstellen, sich zu retten und das ferne Ziel zu erreichen. Er grinste, aber auch jetzt war ihm keineswegs wohl bei seinen Gedanken. * Senkrecht brannte die Sonne herunter. Der Wind heulte und pfiff durch die Takelage. Die drei eckigen Segel waren voll und straff gespannt. Das Schiff durchschnitt mit dem schwarzen Bug die Wellen und steuerte einen harten Kurs auf eine Felsgruppe zu, die sich undeutlich am Horizont abzeichnete. Platschend schlugen die Wellen neben dem Bug ins Wasser und krachten gegen die Bordwände. Das Schiff lief höchste Geschwindigkeit und konnte nicht mehr schneller gemacht werden. Die Besatzung sah zu, wie die sechs Verfolger unerbittlich näherkamen. Deutlich waren alle Einzelheiten zu unterscheiden. Die Schiffe waren mit waffenstarrenden Soldaten ausgerüstet. »Die Schiffe kommen näher, das Ufer kommt näher, und selbst der Felsen kommt näher!« sagte Nabib. »Das ist das Ende!« Jaggar deutete nacheinander auf fünf Männer und wies ihnen ihre Plätze zu. Einer von ihnen kletterte in die Wanten des vordersten Mastes, der andere enterte das lange Bugspriet und klammerte sich dort fest. Steuerbords vor dem Bug tauchte der erste Felsen auf.
Weiß schäumte der Gischt auf, wenn die Wellen sich brachen. Mit unverminderter Schnelligkeit steuerte das Schiff darauf zu. »Sind die Beiboote klar?« dröhnte Jaggars Stimme durch das Sausen des Windes. Die Männer im Ausguck, flankiert von anderen in den Wanten, arbeiteten nach vorher ausgemachten Handzeichen. Jaggar ging vom Bug langsam bis zum Heck und sprach allen Mut zu. Was er versuchte, war tollkühn, aber er rechnete sich gute Möglichkeiten für ein Entkommen aus. »Die Beiboote sind bereit. Wir können beginnen!« »Gut so!« Jetzt waren drei der Verfolger bis auf dreifache Pfeilschußweite herangekommen. Die Soldaten und die Matrosen schrien Verwünschungen herüber. Die drei Schiffe bildeten eine schräge Linie. Das erste Schiff der Verfolger war auf gleicher Höhe mit dem Handelsfahrer, die beiden anderen schräg dahinter. Das letzte der drei verfolgenden Schiffe befand sich in Rufweite zum linken Verfolger. Die ersten großen Riffe tauchten auf. Die Männer sprangen an die Bäume und an die Taue. Zimaron spannte seine Muskeln und wartete auf das erste Handzeichen. Er warf das Steuer herum, der Wind fuhr aus den Segeln, das Schiff drehte sich langsam und steuerte harrscharf an einer langgezogenen Kette von Unterwasserfelsen vorbei. Zitternd warteten die Besatzungen auf einen Stoß, auf das erste Knirschen von Holz, auf einen krachenden Schlag, der die straff gespannten Taue abriß und die Masten bersten ließ. Aber dann, nachdem das Schiff sich schwer zur Seite gelegt und abermals seinen Kurs geändert hatte, fing sich der Wind wieder in der Leinwand. Die Segel wurden neu eingestellt, und wieder wurde das Schiff schneller. Der erste Verfolger drehte bei. Er befand sich in äußerster Landnähe mitten in einem riesigen Feld unsichtbarer Felsen. Die Segel wurden gerefft. Aber auf der Wellenreiterin kam nicht für
einen Augenblick Jubel auf – noch fünf Verfolger waren hinter ihnen und neben ihnen. Und wieder kamen sie näher. »Wir haben nur die Wahl zwischen Kampf und Untergang!« sagte Yina und klammerte sich an Jaggar, der seinerseits Zimaron half. »Noch ist es nicht soweit!« Wieder wich das Schiff aus. Die beiden Männer, der auf dem Ausguck und der andere, gischtübergossen auf dem hölzernen Bugspriet, sahen aus einem anderen Winkel aufs Wasser und teilweise bis auf den Grund. Sie waren einst erfahrene Küstenfischer gewesen; deswegen hatte Jaggar sie ausgesucht. Und sie gaben Zimaron durch Winke und Zeichen den richtigen Weg an. Seine Kunst bestand darin, im richtigen Augenblick das Steuer zu bewegen. Wenn er zu früh handelte, dann steuerte er das Schiff nicht an einem Felsen vorbei, sondern auf einen anderen Felsen zu. Das Meer war hier heimtückischer als ein betrogenes Marktweib. »Wir kommen frei! Seht das andere Schiff!« brüllte der Mann im Ausguck und deutete nach hinten. Die Schwarze Wellenreiterin strich an einem Inselchen aus zerklüftetem Stein vorbei. Sie legte sich schwer nach Steuerbord, schwankte dann wieder nach Backbord zurück und warf eine gewaltige Wassermasse auf. Dann standen die Masten wieder gerade, und das Schiff wurde nach vorn gerissen. »Das andere Schiff!« Offensichtlich war das Ruder gebrochen, oder sie hatten das Schiff nicht mehr in der Gewalt. Männer hingen in den Wanten und rissen die Segel herunter. Aber der Wind trieb den Schnellsegler genau auf eine breite Barriere zu. Nur eine Reihe von winzigen Felsspitzen war zu erkennen, aber vor ihnen türmten sich Grundseen hoch und zersprangen in weißem Schaum. »Sie treiben hilflos auf die Felsen zu!« Einige Augenblicke lang wandte sich die Aufmerksamkeit aller dem Verfolger zu. Der Bug hob sich in einer Welle hoch aus dem Wasser, und das Schiff verlor rasch Fahrt. Aber es war noch immer schnell. Die Welle packte es und jagte es schräg nach unten.
Dann schien es, als bliebe der Verfolger plötzlich stehen. Nur einen Augenblick lang war er völlig unbeweglich, dann hob sich das Heck des Schiffes. Entsetzensschreie schallten über das bewegte Wasser. Knallend rissen die Taue. Die krachenden Geräusche splitternden Holzes über der Wasserlinie und das grauenvolle Knirschen, das aus den Wellen zu kommen schien und anzeigte, daß sich messerscharfe Felsen in die Planken bohrten, drangen an die Ohren der Leute von der Schwarzen Wellenreiterin. »Das ist der Untergang!« Das Schiff kam vom Felsen los, wurde hochgerissen und mit der nächsten langen Welle wieder auf die unsichtbaren Felsen gesetzt. Aber die Bewegung war viel schwerfälliger als beim erstenmal. Wasser war ins Schiff eingedrungen. Jetzt rissen weitere Taue. Der Mast splitterte in seiner ganzen Länge und schmetterte den Baum mit den Resten der Segel und des Tauwerks auf das Deck. Knochen wurden gebrochen, Schädel eingeschlagen, Menschen über Bord geschleudert. Das Schiff legte sich schräg, aber wieder hob das Wasser das halbe Wrack hoch und schleuderte es zurück auf die unterseeischen Grabsteine. Jetzt rissen auch die Planken unterhalb der Reling auf. Menschen schrien erneut auf und viele versuchten, schwimmend die nächste Felseninsel zu erreichen. Aber die vier übrigen Verfolger blieben hartnäckig. Dies zeigte die wirkliche Macht Ondurmans. Er gierte nach dem Elixier, und er gönnte Nabib und Jaggar dieses Elixier nicht. Er jagte sechshundert Männer oder mehr hinter ihnen her. »Unser Glück ist ein wenig größer geworden!« sagte Jaggar. Er hielt sich an einem Tau fest, mit dem anderen Arm hatte er seine Frau um die Hüften gepackt und federte das Schlingern und Stampfen des schlanken Rumpfes ab. Noch immer tanzte die Wellenreiterin durch das Labyrinth aus unsichtbaren Felsen. »Wir sind verloren, wenn wir nicht vor Sonnenuntergang wieder das freie Meer erreichen!« rief Zimaron, der das Ruder einmal nach
der einen, dann wieder nach der anderen Seite umlegte und unablässig auf die Handzeichen der Posten im Ausguck achtete. »Das ist richtig. Noch vier Stunden. Nicht länger!« Der Wind war stärker geworden und trieb das Schiff schneller durch den Irrgarten. Alle Männer leisteten eine gigantische Arbeit, denn sie wußten, daß es um ihr Leben ging. Sie schufteten ununterbrochen an den Segeln, am Steuer und im Ausguck. »Zur Seite!« »Dort hinüber!« »Vorsicht! Direkt vor uns!« Ein kurzes Stück war die See frei geworden. Aber jetzt schoben sich von beiden Seiten viele kleine Inselchen heran. Sie bildeten, im ganzen gesehen, einen gewaltigen Wall, der wie eine Sichel aussah. Alle Schiffe befanden sich innerhalb der beiden äußeren Spitzen. Dieser Wall bestand aus großen Felsblöcken, die deutlich zu sehen waren. Aber unter Wasser verbargen sich messerscharfe Steine. Winzige Spitzen ragten hervor, an denen sich die Wellen brachen. Diese Wellen waren es, die den Wall verrieten. Es gibt eine Passage, denn sonst würden die Verfolger beidrehen, dachte Jaggar verzweifelt. »Zimaron!« rief er. »Kapitän?« »Mach dich bereit, beizudrehen und die Richtung zu wechseln. Vielleicht müssen wir kreuzen.« »Ich habe verstanden, Käpten.« Wieder umrundeten sie einen Felskoloß, der übergangslos aus dem Wasser ragte. Haarscharf schnitt die Bordwand neben dem Stein durch das Wasser. Dann war die Fläche frei. Es gab weder sichtbare noch unsichtbare Hindernisse. Das Schiff schoß mit äußerster Kraft auf die Mitte des Walles zu. Vom Bug her überschüttete Wasser das Vordeck und die arbeitenden Männer. Plötzlich schrie der Mann im Ausguck: »Jaggar! Direkt voraus!« Jaggar sprang zur Seite und blickte scharf am Segel vorbei. Er
schwang sich am Tau zurück und riß Yina mit sich. Er deutete nach vorn und sagte verwundert: »Siehst du es, dort vorn? Etwas Weißes auf dem Felsen!« Sie starrten in die Richtung der untergehenden Sonne. In der Mitte des Walles aus Felsen und Gischt stand jemand. Den langen, weißen und wallenden Gewändern nach zu urteilen, was es eine Frau. »Ich sehe es. Eine Frau! Sie deutet nach Steuerbord!« sagte Yina verwundert. Zimaron legte das Steuer herum und richtete die Spitze des Bugspriets genau auf den Punkt aus, der dort zwischen den Felsen lag, auf den die ausgestreckte Hand der weißen Frau deutete. »Tatsächlich, eine Frau!« Sie starrten nach vorn. Die Gestalt der Frau schien zu wachsen, sich auszudehnen, immer größer und mächtiger zu werden. Sie war buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht. »Das ist ein Wunder. Die Erscheinung weist uns den Weg!« schrie Jaggar. Das Schiff raste genau in die Richtung. Rechts und links setzten sich die Wellen und die brandungsumtobten Felsen fort. Nur in der Mitte gab es keine Gischt. Der Weg war frei. Die Männer und Yina starrten dieses Bild an. Yina versuchte, einen Gedanken dieses rätselhaften Wesens aufzufangen, aber es gelang ihr nicht. »Oder sie weist uns den Weg ins Verderben!« Es war fast zu spät, die Richtung zu ändern. Das Schiff bahnte sich auf geradem Kurs den Weg in die genaue Richtung der möglichen Passage. Jetzt, als die Erscheinung langsam nach Backbord wanderte, sahen die weit aufgerissenen Augen der Besatzung die Wirklichkeit. Der Felsen war spitzkegelig geformt. Zerklüftet, vollkommen kahl und unbewachsen, naß und mit den Ringen der Ablagerungen. So groß wie ein kleines Schiff, an der Basis von Gischt und Wellen umflutet. In den weißen Kämmen der Brandung zeigten sich schwarze Körper mit langen Armen und aufgerissenen Rachen, die weiße, spitze Zähne erkennen ließen. Es
war, als würden Hunderte von Meeresungeheuern einen merkwürdigen Tanz um den Felsen aufführen. »Eine weiße Frau! Eine schöne Frau, wie eine Göttin!« »Schöner als alle Frauen, die ich kenne!« Unbeweglich stand die riesige Gestalt dort. Ihr weißes Gewand flatterte im Wind und wurde gegen die Haut des vollkommenen Körpers gepreßt. Auch das lange, blonde Haar bewegte sich in den Windstößen. Nach wie vor deutete diese Erscheinung auf die Passage. Das Schiff raste auf den Zwischenraum zu, der nicht viel mehr als doppelt so breit war wie die Schwarze Wellenreiterin selbst. Alle Menschen an Bord hielten den Atem an. Sie waren mehr oder weniger gewiß, daß in wenigen Augenblicken ihr Ende gekommen sei. Die Fäuste des Steuermanns krampften sich um das Ruder. Die Muskeln versteiften sich. »Nein!« ächzte Jaggar auf. »Das ist Wahnsinn«, sagte Nabib tonlos vor sich hin. Rechts und links glitten die Felsen vorbei. Sie waren messerscharf. Eine Schiffsplanke würde aufgeschlitzt werden wie ein Blatt Pergament. Als das Heck die Passage verließ, schrie Yina auf und deutete nach Backbord. Übergangslos war die Gestalt verschwunden. * Vor dem Schiff, das jetzt genau in die untergehende Sonne hineinsegelte, breitete sich das offene Meer aus. Das Klippenfeld, das sich entlang dieses Ufers erstreckte, wich immer mehr zurück und wurde von Augenblick zu Augenblick nur eine Linie aus Felsen und Schaum am Horizont. Dahinter sahen sie die Segel der vier Schiffe. »Wir sind hindurch!« sagte Jaggar fast ehrfürchtig. »Das war ein Wunder. Diese weiße Göttin hat uns den Weg gezeigt. Ich kann es
noch immer nicht glauben.« Der Mann im Mastkorb machte Anstalten, sich von seinem Platz zu entfernen, aber ein donnernder Befehl Jaggar trieb ihn wieder zurück. »Wir müssen erst sicher sein, ehe wir uns freuen können. Nicht nachlassen in der Wachsamkeit!« fügte er hinzu. Er lächelte nicht. Überall an Bord entspannten sich die Besatzungsmitglieder. Sie waren überzeugt, daß sie gerettet waren. »Was war das, Yina? Hast du eine Ahnung, welche Götter unsere Fahrt begleiten? Hast du jemals etwas von einer weißen Göttin gehört, die Handelsleuten den Weg weist?« Nabib war fassungslos heraufgekommen und stand jetzt auf dem nassen Achterdeck, hielt sich an der Reling fest und starrte Yina an. Stumm schüttelte die junge Frau den Kopf. »Ich weiß absolut nichts, Nabib!« erwiderte sie nach einiger Zeit, und dann setzte sie hinzu: »Aber ich kann einen Schauder nicht unterdrücken. Ich habe keinen Gedanken gespürt. Als ob die weiße Göttin nur eine Spiegelung gewesen wäre, ein Bild, ein Abbild von etwas, das ganz anders aussieht.« »Schauder? Angst?« wiederholte der Händler und dachte in Wirklichkeit an sein gerettetes Leben und seine geretteten Waren. »Und was tun unsere Verfolger?« »Sie kentern!« war Zimarons lakonische Antwort. Sie sahen in das ruhigere Wasser der Kielspur. Jenseits des fernen Walles sahen die Männer drei Schiffe, die gerade beidrehten. Die Silhouetten der Schnellsegler lagen voll im Licht der sinkenden Sonne. Ein viertes Schiff war auf ein Riff aufgelaufen, und man sah undeutlich, daß die anderen Schiffe Boote ausbrachten, um die Schiffbrüchigen zu retten. Wenige Zeit später konnten selbst die schärfsten Augen das Wrack nicht mehr sehen. Das Meer hatte es auf den scharfen Felsen zerhämmert und kleingeschlagen. »Wenn uns jemals ein Schiff aus Kartug begegnet, werden sie
sicherlich keine Freunde sein!« prophezeite Jaggar. »Sie haben durch uns zwei Schiffe verloren.« »Wenn wir das Elixier finden, dann haben wir sämtliche Handelsherren Kartugs in der Hand!« setzte Nabib hinzu. »Aber, Yina, liebste Freundin … du siehst so aus, als ob dich der Schrecken noch nicht losgelassen hätte!« Sie waren gerettet. Die Verfolger hatten nicht die geringste Möglichkeit mehr, sie einzuholen. Außerdem hatten sie mit ziemlicher Sicherheit die Verfolgung aufgegeben. Aber als der Mann von Sodok in das Gesicht Yinas blickte, begann er zu ahnen, daß sie zwar eine Gefahr überwunden, aber eine andere, unsichtbare und rätselvollere noch vor sich hatten. Leise sagte die Frau des Kapitäns: »Wir können unseren Weg ungehindert fortsetzen. Vielleicht erreichen wir auch das ›Ende der Welt‹. Wir hatten den sicheren Tod vor Augen, und wir sollten uns freuen.« »Aber …?« brummte Jaggar verwundert und sah nach den Segeln. Sie würden in der Nacht langsamer segeln müssen. Konnte er die Männer aus dem Ausguck und den Wanten schon abziehen? »Aber trotz aller Mühe habe ich keinerlei Gedanken aufnehmen können. Ich fühle mich wie ein Tier, das seinen Tod herankommen ahnt. Seit dem Augenblick, an dem wir die weiße Göttin gesehen haben, ist eine Aura von Schrecken und Grauen um das Schiff. Vielleicht fühle nur ich sie.« »Ich fühle sie tatsächlich nicht!« knurrte Nabib. Er hatte großen Respekt vor diesen Ahnungen. Mit ihrer seltsamen Gabe hatte Yina ihm schon viele schöne Geschäfte verschafft. »Ich sage es auch nur euch!« schränkte Yina ein. »Ich will keine Panik an Bord hervorbringen.« »Das ist gut. Wir werden das Geheimnis bewahren und wachsam bleiben. Kannst du uns noch mehr sagen?« Schützend nahm Jaggar Yina in die Arme und sah, daß die Sonne den Horizont berührte. Das Schiff strebte jetzt nach Westen, ganz leicht driftete es nach Norden, also in die freie See hinaus. Dort
würde es keine Felsen mehr geben. Höchstens Inseln, an denen sie anlegen konnten. »Nicht viel mehr, Jaggar«, erwiderte Yina und begann zu frösteln. »Es ist wie eine Wolke, die uns unsichtbar begleitet. Ich habe die Vision von einem Grauen, das noch keinen Namen kennt.« »Das bringt gute Laune unter die Mannschaft!« schnappte Jaggar. »Gut. Wir reden nicht darüber. Verstanden, Zimaron?« »Ich schweige wie ein Friedhof, Herr und Meister.« »Gut. Ich bleibe wachsam!« wiederholte Jaggar. Seine Befehle riefen die Männer zusammen. Er gab dem Koch Auftrag, das Beste an Wein und Nahrungsmitteln aufzutischen. Ein Weinschlauch ging herum. Die Männer verschwanden, nachdem die Segel gerefft worden waren, unter Deck, um sich umzuziehen. Die Geschwindigkeit des Schiffes nahm ab. Jaggar teilte die Wachen ein, und er setzte die Abstände so, daß ständig einer von ihnen wach war. »Und jetzt, nach einem guten Essen – schlafen!« rief er. Die Mannschaft schwenkte die Arme und stimmte ein jubelndes Geschrei an. Das Schiff warf einen langen Schatten, der sich in der Unendlichkeit der Wasserwüste verlor. Dann ging die Sonne unter. Laternen wurden entzündet und aufgehängt. Der Kurs lag an, und in kurzer Zeit würde man nach den Sternen segeln können. Aber vier Menschen an Bord konnten an der allgemeinen Fröhlichkeit nicht recht teilnehmen. Sie freuten sich natürlich, daß sie den gierigen Krallen der prunkvollen und lasterhaften Stadt Kartug entkommen waren, aber sie dachten an das Unheil, von dem die empfindsame Yina gesprochen hatte. Je mehr die Stunden verstrichen, desto stiller wurde es. Gegen Mitternacht lagen sie alle unter Deck oder in ihren Matten und schliefen. Schnarchtöne, das Knarren des Holzes und des Tauwerks, das ununterbrochene Geräusch der Wellen, die leise ächzenden Verbände des Schiffskörpers … alles wiegte die erschöpften Männer in den Schlaf.
Yina, Jaggar und Nabib aber hatten wüste Träume. Im Schlaf erlebten sie die nächsten Tage, aber sie würden sich beim Erwachen nicht mehr an ihre Träume erinnern können. ENDE Nabib, der Händler, Yina, die Gedankenleserin, und Kapitän Jaggar schafften es – zusammen mit der SCHWARZEN WELLENREITERIN und deren kompletter Besatzung –, den Nachstellungen der von Karnak angestachelten Kartuger zu entgehen. Nun segeln sie nach Westen zum Ende der Welt. Sie werden gelenkt von einem Phantom, das sie ins Verderben führen will … Mehr darüber berichtet Hans Kneifel im nächsten Dragon‐Band. Der Roman trägt den Titel: KAMPF AM SPINNENFELSEN