Desmond Morris
Der Menschen-Zoo
Inhaltsverzeichnis Dank des Autors ............................................ 3 Vor...
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Desmond Morris
Der Menschen-Zoo
Inhaltsverzeichnis Dank des Autors ............................................ 3 Vorwort .......................................................... 5 1 Stamm und Superstamm ........................... 10 2 Status und Superstatus .............................. 59 3 Sex und Supersex .................................... 123 4 Eigengruppen und Fremdgruppen ........... 193 5 Prägung und Fehlprägung ....................... 245 6 Ringen um Reize ..................................... 284 7 Das Kind im Manne ................................ 354 Literaturnachweis ....................................... 391
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Dank des Autors Dieses Buch wendet sich - wie das ihm vorangegangene »Der nackte Affe« - an einen großen Leserkreis. Deshalb werden, wie dort, im Text keine Fachleute zitiert. Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich jedoch zahlreiche wissenschaftliche Werke und Aufsätze zu Rate gezogen, und es wäre unrecht, nicht dankbar die wertvolle Hilfe anzuerkennen, die sie mir boten. Im Anhang habe ich deshalb auch für jedes Kapitel und für die jeweils darin behandelten Themen die Spezialisten genannt, auf deren Arbeiten ich mich stütze. Die Literaturauswahl gibt also dem Leser die Möglichkeit, meine Aussagen im Detail nachzuprüfen. Mein besonderer Dank gilt den zahlreichen Kollegen und Freunden, die mir in Gesprächen, im Briefwechsel oder auf andere Art und Weise geholfen haben - in manchen Fällen, so bei bestimmten Fragestellungen dieses Buches, direkt, in anderen Fällen mehr indirekt, indem sie mir, oft über Jahre hinweg, Mut machten, meine Gedankengänge beeinflußten und dazu beitrugen, meine Ansichten präziser werden zu lassen. Bei einem Stoff, der so breit angelegt ist wie hier in »Der Menschen-Zoo«, ist es unmöglich, sämtliche Namen zu nennen. Im besonderen aber sind es vor allem: Dr. Anthony Ambrose, Robert Ardrey, David Attenborough, Kenneth Bayes, Professor Misha Black, Dr. David Biest, Dr. N. G. Blurton-Jones, James Bomford, Dr. John Bowlby, Richard Carrington, 3
Sir Hugh Casson, Dr. Michael Chance, Dr. Richard Coss, Dr. Christopher Evans, Professor Robin Fox, Professor J. H. Fremlin, Oliver Graham-Jones, Dr. Fae Hall, Professor Harry Harlow, Mary Haynes, Professor Heini Hediger, Professor Robert Hinde, Dr. Jan van Hooff, Dr. Francis Huxley, Sir Julian Huxley, Professor Janey Ironside, Devra Kleiman, Dr. Adriaan Kortlandt, Baroness Jane van Lawick-Goodall, Dr. Paul Leyhausen, Caroline Loizos, Professor Konrad Lorenz, Dr. Malcolm Lyall-Watson, Dr. Gilbert Manley, Dr. Isaac Marks, Tom Maschler, Dr. L. Harrison Matthews, Lady Medway, Ramona Morris, Dr. Martin Moynihan, Dr. John Napier, Caroline Nicolson, Philip Oakes, Dr. Kenneth Oakley, Victor Pasmore, Sir Roland Penrose, Sir Herbert Read, Dr. Frances Reynolds, Dr. Vernon Reynolds, Ciaire Russell, Dr. W. M. S. Russell, Professor Arthur Smailes, Peter Shepheard, Dr. John Sparks, Dr. Anthony Storr, Frank Taylor, Dr. Lionel Tiger, Professor Niko Tinbergen, Dr. Nevil Tronchin-James, Ronald Webster, Dr. Wolfgang Wickler, Pat Williams, Dr. G. M. Woddis und Professor John Yudkin. Wie ich mit Nachdruck hinzufügen möchte, bedeutet die Aufnahme eines Namens in diese Liste keinesfalls auch, daß der oder die Betreffende die von mir in diesem Buch vorgetragenen Meinungen teilt.
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Vorwort Unter dem oft unerträglichen Druck des Lebens von heute bezeichnet der abgehetzte Mensch der großen Städte seine gleich einem Ameisenbau wimmelnde Welt als »AsphaltDschungel«. Gewiß - es ist dies eine recht farbenkräftige Umschreibung für die An des Lebens in der Enge einer Stadt; aber sie ist schlechthin unzutreffend, wie jedermann bezeugen wird, der je einen wirklichen Dschungel und die Lebewesen dort kennengelernt hat. Die Tiere der Wildnis nämlich, soweit sie unter normalen Bedingungen und an ihren natürlichen Wohnstätten leben, verstümmeln sich nicht selbst, sie masturbieren nicht, und sie vergreifen sich auch nicht an ihrer Nachkommenschaft. Weder erkranken sie an Magengeschwüren, noch werden sie zu Fetischisten, noch leiden sie unter Fettleibigkeit; sie vereinigen sich nicht in homosexueller Paarbindung, und sie begehen keinen Mord - sie tun nichts von dem, was bei den Menschen der Städte geschieht. Offenbart sich also zwischen der biologischen Art Mensch und den übrigen Lebewesen ein grundlegender Unterschied? Auf den ersten Blick scheint es in der Tat so zu sein. Doch der Schein trügt. Denn die anderen Wesen benehmen sich nur unter bestimmten Umständen so — dann nämlich, wenn man sie in den unnatürlichen Zustand der Gefangenschaft versetzt: Das Tier im Käfig eines Zoos zeigt alle 5
jene Entartungen, die uns von unseren Mitmenschen so gut bekannt sind. Daraus folgt: Die Stadt ist kein AsphaltDschungel—sie ist ein »Menschen-Zoo«. Der Vergleich, den wir anzustellen haben, besteht nicht zwischen Stadtmensch und dem in Freiheit lebenden Tier, sondern zwischen Stadtmensch und dem Tier in der Gefangenschaft. Das Lebewesen Mensch von heute lebt nicht mehr unter jenen Bedingungen, die für seine Spezies natürlich waren - es lebt in der Gefangenschaft. Aber nicht der Tierfänger eines Zoos stellte ihm die Fallen; der Mensch selbst tat es mit den ihm eigenen brillanten Fähigkeiten seines Hirns. Er selbst ist es gewesen, der sich in eine riesige, ewig unruhige Menagerie eingesperrt hat dorthin, wo er sich ständig in der Gefahr befindet, unter der Belastung zusammenzubrechen. Doch trotz allen Drucks sind die Vorteile dieses Menschen-Zoos nicht zu verachten. Wie ein gigantisches Muttertier schützt die Welt des Zoos ihre Insassen: Für Essen und Trinken, für Obdach, Hygiene und ärztliche Betreuung ist gesorgt, die Grundprobleme des Überlebens sind auf ein Minimum reduziert. Zeit ist genug vorhanden. Wie sie in einem Nicht-Menschen-Zoo genutzt wird, variiert natürlich von Art zu Art: Manche Tiere ruhen gern und dösen in der Sonne, anderen hingegen fällt es schwer, fortgesetzt untätig sein zu müssen. Nun - wenn Sie ein Insasse des Menschen-Zoos sind, dann gehören Sie 6
unweigerlich zu der zweiten Kategorie. Denn ihr Hirn ist (wie wir im »Nackten Affen« mit aller Ausführlichkeit dargelegt haben) seinem Wesen nach explorativ, das heißt ständig nach Neuem gierig, und deshalb auf Entdecken und Erfinden aus; genau das aber ist der Grund, warum es Ihnen wohl kaum möglich sein wird, längere Zeit einer behaglichen Ruhe zu pflegen. Wieder und wieder treibt es Sie zu weiterer Aktivität, und zum guten Schluß werden Sie selbst der Gefangene Ihrer eigenen Zoowelt sein. Mit jeder neuen schwierigen Situation werden Sie sich einen Schritt weiter von dem Status Ihrer natürlichen Anlagen entfernen, von jenem Status des Lebens in einem kleinen Stammesverband, in dem Ihre Vorfahren eine Million Jahre lang gelebt haben. Die Geschichte des Menschen von heute ist die Geschichte seines Mühens, mit den Konsequenzen dieses schwierigen Fortschritts vom Einst zum Jetzt fertig zu werden. Das Bild ist verworren und verwirrend zugleich, einerseits, weil es so komplex ist, andererseits, weil wir selbst einbezogen sind, und zwar in einer Doppelrolle: als Zuschauer und Akteure zugleich. Vielleicht werden die Dinge klarer, wenn wir versuchen, sie vom Standpunkt des Zoologen aus zu betrachten. Und genau diesen Versuch werde ich auf den nun folgenden Seiten unternehmen.
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In den meisten Fällen führe ich wohlüberlegt ausgesuchte Beispiele an, die dem Leser der westlichen Welt vertraut sein dürften. Das bedeutet jedoch nicht, daß ich meine Folgerungen nur auf die Kulturen des Westens zu beschränken beabsichtige. Im Gegenteil - alles spricht dafür, daß die hier aufgezeigten Prinzipien gleichermaßen für jeden Städter unseres Erdballs gelten. Falls es scheint, als sagte ich: »Zurück! Ihr rennt in euer Unglück!«, so versichere ich, daß mein Buch so nicht gemeint ist. Auf wahrhaft großartige Weise haben wir im Zuge unseres unerbittlichen sozialen Fortschritts unseren explorativen und erfinderischen Impulsen freie Bahn gegeben. Sie sind ein grundlegender Teil unseres biologischen Erbguts. Nichts Künstliches, nichts Unnatürliches ist an diesen Impulsen. Sie sind es, denen wir unsere große Stärke verdanken. Aber sie sind es auch, die für unsere Schwächen verantwortlich zeichnen. Deshalb möchte ich versuchen, hier den Mehrpreis zu nennen, den wir dafür zu bezahlen haben, daß wir ihnen nachgeben, und es soll auch gezeigt werden, was alles uns einfällt, um die Kosten aufzubringen - egal, wie steil die Preiskurve ansteigt. Die Einsätze werden ständig höher, das Spiel wird riskanter, die Verluste immer beunruhigender, das Tempo noch atemberaubender. Und doch: Trotz der Risiken ist dieses Spiel das aufregendste, das die Welt je gesehen hat. Und es wäre Narretei, wollte man annehmen, irgend jemand 8
werde das Spiel abpfeifen, um zu versuchen, es zu stoppen. Immerhin: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dieses Spiel zu spielen. Und wenn wir in der Lage sind, die wahre Natur der Spieler besser zu verstehen, sollte es möglich sein, das Spiel noch lohnender werden zu lassen, nicht aber gleichzeitig auch gefährlicher und damit letztlich unheilvoll für unsere gesamte Art.
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Stamm und Superstamm Stellen Sie sich ein Gebiet vor, etwa dreißig Kilometer lang und dreißig Kilometer breit. Es ist noch ganz ursprüngliche Wildnis, von kleinen und großen Tieren belebt. Und nun stellen Sie sich eine eng zusammenhaltende Gruppe von sechzig Wesen der Gattung Mensch vor, die in der Mitte dieses Gebietes ihr Lager aufgeschlagen hat. Versuchen Sie einmal, sich selbst dort hocken zu sehen, sich selbst als ein Glied dieser kleinen Stammeshorde, in einer Landschaft - Ihrer Landschaft -, die sich vor Ihnen ausbreitet, weiter, als Ihr Auge zu sehen vermag. Niemand außer Ihrem Stamm nutzt diesen ungeheuren Raum. Er ist Ihr ausschließlicher Bereich, das Jagdgebiet Ihres Stammes. Die Männer des Stammes gehen regelmäßig auf die Jagd. Die Frauen sammeln Früchte, Beeren, Pilze. Die Kinder toben um den Lagerplatz und spielen »Jagd«. Ist der Stamm erfolgreich und vergrößert er sich, dann wird sich eine Gruppe absplittern und ein neues Gebiet erschließen. Nach und nach wird die Art sich ausbreiten. Stellen Sie sich wiederum ein Gebiet vor, etwa dreißig Kilometer lang und dreißig Kilometer breit. Es ist zivilisiert, »belebt« von Gebäuden und Maschinen. Und nun stellen Sie sich eine eng zusammengedrängte Menge von sechs Millionen Wesen der Gattung Mensch vor, die in der Mitte dieses Gebietes ihr Lager aufgeschlagen hat. Sie 10
selbst sitzen dort, mitten in dem Komplex einer riesigen Stadt, die sich vor Ihnen ausbreitet, weiter, als Ihr Auge zu sehen vermag. Und nun vergleichen Sie diese zwei Bilder. Auf Schauplatz Nr. 2 befinden sich hunderttausend Individuen für jedes der Individuen auf Schauplatz Nr. 1. Der Raum ist der gleiche geblieben. Und stammesgeschichtlich gesehen, ist dieser dramatische Wechsel fast innerhalb eines Augenblicks eingetreten: Nicht mehr als ein paar Jahrtausende waren nötig, um Bild Nr. 1 in Bild Nr. 2 zu verwandeln, und das Lebewesen Mensch hat sich, so scheint es, prächtig seiner so ungewöhnlichen neuen Umwelt angepaßt. Doch die Zeit reichte nicht aus, dieses Lebewesen Mensch biologisch zu verändern: Eine neue, auch vom Erbgut her der Zivilisation angepaßte Spezies konnte sich nicht bilden das Werden von Kultur und Zivilisation vollzog sich einzig und allein durch Lernen und Üben. Biologisch gesehen jedoch ist der Mensch noch immer das simple, im Stammesverband lebende Wesen, wie es in Bild Nr. 1 vorgestellt wurde. So hat es nicht nur ein paar Jahrhunderte gelebt, sondern eine Jahrmillion lang - und das war eine sehr harte Zeit. Innerhalb dieser Epoche veränderte es sich auch im biologischen Sinne: Es entwickelte sich auf wahrhaft spektakuläre Weise. Denn der Zwang zum Überleben war groß - er formte das Lebewesen Mensch.
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Die letzten Jahrtausende - die Jahrtausende des Menschen der Städte, die paar hundert Jahrhunderte Gewimmel des Zivilisationsmenschen - sind vollgepfropft mit Ereignissen. Und deshalb haben wir Mühe, uns vorzustellen, daß diese Zeit nicht mehr ist als der Bruchteil einer Minute in der wahren Geschichte der Menschheit. Der letzte Abschnitt unserer Historie ist uns so vertraut, daß wir meinen, wir seien Schritt für Schritt in ihn hineingewachsen und unser biologisches Rüstzeug werde schließlich dazu ausreichen, mit allen den neuen Risiken unseres gesellschaftlichen Daseins fertig zu werden. Wenn wir uns jedoch zu kühler Objektivität zwingen, dann müssen wir zugeben, daß dies keineswegs so ist. Unsere unglaubliche Formbarkeit, unsere phantastische Anpassungsfähigkeit lassen es lediglich so scheinen. Der alte simple Jäger aus der Stammeshorde gibt sich redlich Mühe, sein neues Prachtgewand mit Anstand und Stolz zu tragen; doch es ist hinderlich, ist ihm im Weg - ständig stolpert er. Bevor wir jedoch prüfen, wie und warum er stolpert und so häufig aus dem Gleichgewicht gerät, müssen wir zunächst herausbekommen, wie er es fertiggebracht hat, sich das fabelhafte Staatskleid seiner Zivilisation Zusammenzuschneidern. Lassen wir die Temperatur sinken, immer mehr, bis wir die Eiszeit erreicht haben - sagen wir vor rund zwanzigtausend Jahren. Unseren Jägervorfahren war es bereits 12
gelungen, sich über den größten Teil der Alten Welt auszubreiten; bald sollten sie von Ostasien aus auch in die Neue Welt ziehen. Eine so gewaltige Ausbreitung vollbracht zu haben, das bedeutet, daß ihr einfaches Jägerdasein bereits mehr war als nur ein Kampf gegen ihre Feinde und Nahrungskonkurrenten, die großen Raubtiere. Doch das überrascht nicht, wenn wir bedenken, daß das Gehirn unserer Vorfahren aus der Eiszeit schon genauso groß und hoch entwickelt war wie das unsrige von heute. Auch vom Knochenbau her gibt es ebenfalls keinen Unterschied. Physisch ausgedrückt: Der Mensch von heute hatte bereits den Schauplatz betreten. Das heißt: Wäre es Ihnen, vielleicht mit Hilfe einer Zeitmaschine, möglich, das eben geborene Kind eines Eiszeitjägers in Ihr Heim aufzunehmen und es wie ihr eigenes aufzuziehen - wohl kaum jemand würde den kleinen Betrug merken. Das Klima und die Lebensbedingungen im Europa der Eiszeit waren hart. Doch unsere Ahnen wußten dagegen anzukämpfen. Mit den einfachsten technischen Mitteln waren sie imstande, selbst stärkstes Wild zu erlegen. Erstaunlicherweise haben sie uns als Beweise ihres jägerischen Könnens nicht nur die Reste hinterlassen, die wir mehr oder minder zufällig im Boden ihrer Wohnhöhlen finden, sondern auch die ebenso verblüffenden wie erschütternden Gemälde an den Wänden der Höhlen. Zottige Mammute, wollhaarige Nashörner und der arktische 13
Hirsch, das Rentier, sind dort porträtiert und bezeugen, wie kalt es damals war. Wer heute aus der Dunkelheit der Höhlen hinaus in die sonnendurchglühte Landschaft tritt, wird sie sich nur mit Mühe als von Menschen und Tieren in dichtem Pelz bewohnt vorstellen können - der Temperaturunterschied zwischen damals und heute ist sehr sinnfällig. Mit dem Ende der letzten Vereisung zog sich das Eis nach Norden zurück, um etwa fünfzig Meter pro Jahr. Die kältegewohnten Tiere wanderten mit. Riesige Wälder entstanden anstelle der kalten Tundra-Landschaft. Die große Eiszeit endete vor zehntausend Jahren; es begann eine neue Epoche in der Geschichte des Menschen. Ihr Durchbruch erfolgte an jenem Punkt, wo Afrika, Asien und Europa zusammenstoßen. Dort, im östlichsten Teil des Mittelmeerraumes, vollzog sich ein scheinbar nur geringer Wandel in den Ernährungsgewohnheiten des Menschen - ein Wandel freilich, der dem gesamten Verlauf der Weiterentwicklung eine andere Richtung geben sollte. So alltäglich und simpel dieser Wechsel zu sein scheint, so selbstverständlich er uns Heutige anmutet - in seinen Auswirkungen war er gewaltig: Der Mensch begann den Boden zu bestellen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Angehörigen aller Stämme ihre Mägen auf zweierlei Art gefüllt: Die Männer jagten tierische Nahrung, die Frauen sammelten 14
pflanzliche. Dadurch, daß man teilte, was Jagen und Sammeln erbracht hatten, glich sich die Kost aus. Praktisch waren alle erwachsenen Mitglieder des Stammes Nahrungssammler, und zwar ständig; eine Vorratshaltung gab es nur in geringerem Umfang. Aber man brauchte ja auch nur nach draußen zu treten und aufzusammeln, was man gerade wünschte - sofern man es wünschte. Das war zudem weniger mühselig, als es sich anhört. Denn die gesamte Weltbevölkerung, soweit sie zur Spezies Mensch gehörte, war im Gegensatz zu der Bevölkerungsdichte von heute geradezu winzig. Und obwohl diese Jäger und Sammler sich höchst erfolgreich durchsetzten und einen großen Teil des Erdballs besiedelten, blieben ihre Stammesgruppen doch stets nur klein und einfach im Aufbau. Während der Hunderttausende von Jahren der Entwicklung zum Menschen hatte unsere Art sich mehr und mehr, und zwar sowohl physisch wie psychisch, im Körperbau wie im Verhalten der jägerischen Lebensweise angepaßt. Der neue Schritt, den das Menschengeschlecht machte, der Schritt hin zum Bestellen des Bodens und zum Erzeugen von Nahrungsmitteln, ließ es so jählings in eine ganz andere soziale Existenz geraten, daß keine Zeit blieb, neue, vom Erbgut gesteuerte Eigenschaften entstehen zu lassen. Von nun an wurde die Anpassungsfähigkeit des Menschen, die Plastizität seines Verhaltens, seine Fähigkeit, zu lernen und neuartige, ungewohnte Situationen zu meistern, bis zum Äußersten auf die Probe gestellt. Die Gründung erster Städte und all das, was die Verstädterung an Kom15
plikationen mit sich brachte, war dann nur noch ein Schritt weiter. Zum Glück hatte die lange Lehrzeit des Jagens nicht nur die Findigkeit des Menschen vervollkommnet, sondern ihm auch das Prinzip der gegenseitigen Hilfe beigebracht. Die Menschen auf der Stufe des Jägers waren zweifellos noch, wie ihre äffischen Vorfahren, auf Selbstbehauptung eingestellt und damit streitlustig, eigensüchtig und futterneidisch gewesen. Das hatte sich geändert: Unter dem Druck der Verhältnisse waren sie zu immer stärkerem Zusammenwirken gezwungen gewesen als der einzigen Chance, sich gegenüber ihren Konkurrenten aus den fleischfressenden Arten zu behaupten, den mit Dolchpranken und Reißzähnen gewappneten, seit alters im Töten erfahrenen Raubtieren, insbesondere den Großkatzen. So hatten die Jäger ihren Sinn für das Zusammenarbeiten gleichzeitig mit ihrer Intelligenz und ihrer explorativen Art fortentwickelt - und diese Kombination erwies sich als höchst wirksam und für ihre Feinde tödlich. Die Jäger lernten schnell, ihr Gedächtnis war vorzüglich, sie vermochten einzelne in der Vergangenheit gemachte Erfahrungen geschickt zu verknüpfen, wenn es galt, neu auftretende Probleme zu lösen. Hatten ihnen diese Fähigkeiten schon in grauer Vorzeit geholfen, als sie noch ihre mühsamen Jagdstreifzüge unternahmen, so wurden sie nun, an der Schwelle zu einer neuen, unermeßlich komplizierten Form des gesellschaftlichen Lebens, noch bedeutsamer. 16
Das Gebiet rund um das östliche Mittelmeer war die Heimat zweier Pflanzen, die höchst wichtig werden sollten: des wilden Weizens und der wilden Gerste. Ebenfalls in diesem Gebiet lebten Wildziegen, Wildschafe, Wildrinder und Wildschweine. Die Wildbeuter (so nennt der Fachmann den Menschen auf der Stufe des Jägers und Sammlers), die sich dort niederließen, hatten bereits den Hund gezähmt, doch der war vor allem Jagdgenosse und Lagerwächter, kaum aber unmittelbare Nahrungsquelle. Die eigentliche Landbestellung begann mit der Kultivierung der zwei Getreidepflanzen Weizen und Gerste. Bald darauf folgte zuerst die Zähmung von Ziege und Schaf, dann, ein wenig später, die von Rind und Schwein. Aller Wahrscheinlichkeit nach lockte das angebaute Getreide die Tiere an; sie blieben dort, wo die Nahrung so schön bequem zu erreichen war, vermehrten sich - und dienten selbst als Nahrung. Es ist kein Zufall, daß die zwei anderen Gebiete unserer Erde, in denen sich später die Geburt selbständiger uralter Kulturen vollzog - südliches Asien und Mittelamerika zugleich Gebiete waren, in denen die Wildbeuter ebenfalls Pflanzen antrafen, deren Anbau lohnenswert erschien: Reis in Asien und Mais in Amerika. Das, was diese Jungsteinzeit in der Domestikation geleistet hat, war ein solcher Erfolg, daß die damals gezüchteten Haustiere und Nutzpflanzen bis auf den heutigen 17
Tag immer noch unter allem, was die seitdem immens ausgeweitete Landwirtschaft zu liefern hat, die Hauptnahrungsquellen geblieben sind. Der große neue Fortschritt, den der Mensch mit Ackerbau und Viehzucht errungen hatte, war allerdings mehr mechanisch als biologisch. Aber das, was dieser frühe Ackerbau an scheinbar kleinen Nebenerscheinungen mit sich brachte, hatte schließlich eine denkbar tiefgreifende Auswirkung auf unsere Art. Rückblickend ist das recht einfach zu erklären: In der Zeit vor dem Beginn des Ackerbaus mußte jeder, der essen wollte, seinen Beitrag zur Nahrungssuche leisten. Faktisch der gesamte Stamm war damit beschäftigt. Doch nun wandten die anschlägigen Köpfe, die bisher die Jagdzüge und die dabei zu handhabenden Praktiken geplant hatten, ihre Aufmerksamkeit den Problemen des Getreideanbaus, der Bewässerung des Landes und der Zucht gefangener Tiere zu. Damit wurde zweierlei erreicht: Zum erstenmal stand nicht nur ständig ein Vorrat an Lebensmitteln zur Verfügung, sondern man gewann auch einen ergiebigen und zuverlässigen Lebensmittelüberschuß. Die Schaffung dieses Überschusses war der Schlüssel, der den Zugang zu Zivilisation und Kultur auf schließen sollte: Jetzt konnte der Stamm mehr Mitglieder aufnehmen, als man bis dahin zur Nahrungssuche benötigt hatte. Und der Stamm konnte sich nicht nur vergrößern, sondern einige seiner Angehörigen für andere Aufgaben einsetzen, und das war nun keine Teilbeschäftigung mehr innerhalb der 18
vorrangigen Forderungen der Nahrungssuche, sondern eine Vollbeschäftigung mit eigener Existenzberechtigung das Zeitalter der Spezialisierung hatte begonnen. Aus diesen kleinen Anfängen entstanden die ersten Städte. Ich habe eben gesagt, dies sei recht einfach zu erklären, und das soll heißen, daß es uns nicht sonderliche Schwierigkeiten macht, in die Vergangenheit zurückzublicken und jenen entscheidenden Faktor herauszupicken, der den nächsten großen Schritt in der Menschheitsgeschichte eingeleitet hat. Natürlich bedeutet dies aber nicht, daß dieser Sdiritt damals leicht gewesen ist. Eines jedenfalls steht fest: Der Wildbeuter war ein großartiges Lebewesen voller ungenutzter Fähigkeiten und Möglichkeiten. Die Tatsache, daß wir es dorthin gebracht haben, wo wir uns hier und heute befinden, ist Beweis genug. Doch vergessen wir es nicht: Das Lebewesen Mensch ist zu dem, was es ist, als Jäger innerhalb einer Stammesgemeinschaft geworden und nicht als geduldiger, seßhafter Bauer. Vergessen wir auch nicht, daß dieser Jäger Mensch einen weit voraussdiauenden Verstand hatte, fähig, eine Jagd zu planen und die jahreszeitlichen Veränderungen seiner Umwelt zu begreifen. Um aber mit Erfolg Bauer zu werden, mußte er seine Fähigkeit des Vorausdenkens noch sehr viel mehr in Anspruch nehmen als bisher: Die Taktiken der Jagd wurden zur Strategie des Ackerbaus. Und war dies geschafft, so hatte das Lebewesen Mensch seinen Verstand abermals weiter anzustrengen, um mit den neuen sozialen 19
Schwierigkeiten fertig zu werden, die eine unausweichliche Folge seines neuen Reichtums waren - als nämlich die Siedlungen zu Dörfern und die Dörfer zu Städten wurden. Dies zu erkennen ist wichtig, wenn von einer »Revolution durch die Stadt« gesprochen wird. Dieser Ausdruck läßt allzu leicht den Eindruck entstehen, als seien Städte und Stadtstaaten überall aus dem Boden geschossen wie die Pilze, über Nacht gleichsam und in einer plötzlichen Entwicklung zu einer neuen eindrucksvollen Form sozialen Lebens. Aber so war es ganz gewiß nicht. Das Alte war so leicht und so schnell nicht über Bord zu werfen. Und wie sieht es denn in Wirklichkeit aus? In vielen Teilen unserer Welt hat sich das Alte bis in unsere Zeit erhalten: Zahlreiche Kulturen leben noch heute auf einem Niveau des jungsteinzeitlichen Ackerbaus, und in einigen Gebieten-in der Kalahariwüste, im nördlichen Australien und in der Arktis - können wir sogar immer noch altsteinzeitliche Gemeinschaften von jägerischen Wildbeutern beobachten. Die ersten Städte und Stadtstaaten entstanden keineswegs wie ein plötzlicher Ausschlag auf der Haut der vorgeschichtlichen Gesellschaft, sondern als winzig kleine, isolierte Fleckchen. Da und dort in Südwestasien erschienen sie - als dramatische Ausnahmen von der allgemeinen Regel. Nach heutigen Maßstäben gemessen waren sie mi20
nimal, und ihre Struktur entfaltete sich nur sehr, sehr langsam. Jede einzelne gründete sich auf eine räumlich eng begrenzte Organisation, die untrennbar verknüpft war mit dem Ackerland ringsum. Anfangs gab es auch kaum Handelsverbindungen oder wechselseitige Beziehungen zwischen der einen Stadt und den anderen. Das sollte der nächste große Schritt sein, und der brauchte seine Zeit. Die psychologische Schranke, die sich einem solchen Schritt entgegenstellte, war offensichtlich die Angst vor dem Verlust der an den Raum gebundenen Identität - es war nicht so sehr, daß »der Stamm den Kopf verlor«, als daß vielmehr der Kopf der Menschen sich weigerte, den Stamm zu verlieren. Die Art Mensch hatte sich in der Gebundenheit des Stammesverbandes entwickelt, und die entscheidende Eigenschaft eines Stammes ist, daß er sich betätigt als an einen bestimmten Raum gebunden und beruhend auf persönlichen Bindungen zwischen den Individuen. Dieses fundamentale soziale Gefüge aufzugeben, das so typisch ist für das Dasein des Menschen der Altsteinzeit, ging den Menschen der Jungsteinzeit nicht wenig gegen den Strich. Doch was wirklich gegen den Strich ging - in einem ändern Sinn freilich -, war das Getreide, das nun reichlich geerntet wurde und auch über weitere Strecken transportiert werden konnte; und eben dies Getreide war es, das jetzt das Tempo bestimmte. Mit dem Fortschritt der Landwirtschaft konnte die städtische Oberschicht - freigeworden von den Mühen 21
der Produktion - ihre Denkkraft anderen, neu sich stellenden Problemen zuwenden, und damit war es unvermeidlich geworden, daß sich schließlich in der städtischen Gesellschaftsstruktur eine neue Verflechtung herausbildete, eine hierarchisch gegliederte wechselseitige Verbindung zwischen benachbarten Orten, Städten und Stadtstaaten. Die älteste uns bekannte Stadt entstand vor mehr als achttausend Jahren mit Jericho. Die erste voll entfaltete Stadtkultur formte sich jedoch weiter östlich, jenseits der Syrischen Wüste in Sumer. Vor fünf- bis sechstausend Jahren ist dort das erste Reich gegründet worden, und das »vor-« im Wort »vorgeschichtlich« kann von nun an fortfallen - dank der Erfindung der Schrift. Die Zusammenarbeit innerhalb der einzelnen Städte sowohl wie zwischen ihnen entwickelte sich; aus Stammeshäuptlingen wurden Herrscher, Priester und Verwaltungsbeamte, es bildeten sich spezialisierte Berufe heraus, die Metallbearbeitung und der Verkehr machten Fortschritte, Lasttiere (zum Unterschied vom Schlachtvieh) wurden gezüchtet, eine monumentale Baukunst entstand. Für unsere Begriffe allerdings waren die Städte der Sumerer klein: Ihre Bevölkerung betrug zwischen siebentausend und zwanzigtausend Einwohnern. Immerhin unser schlichter Stammesjäger hatte bereits einen beachtlichen Weg hinter sich gebracht: Er war zum Städter 22
geworden, er gehörte nun einem Superstamm an. Das Entscheidende aber war: Im Superstamm der Stadt kannte er nicht mehr jedes Mitglied seines Gemeinwesens persönlich. Dieser Wandel, dieses Überwechseln von der persönlichen zur unpersönlichen Gesellschaft ist die Ursache dafür geworden, daß das Lebewesen Mensch in den nun kommenden Jahrtausenden so viel Angst und Pein hat durchmachen müssen. Als Art sind wir biologisch (und das heißt angeborenermaßen) nicht dazu gerüstet, mit einer Vielzahl von Fremden, die maskiert sind als Angehörige unseres Stammes, fertig zu werden. Das war etwas, war wir erst noch zu lernen hatten. Und das war gar nicht so leicht. Wie wir später sehen werden, schlagen wir uns noch heute insgeheim damit herum - in einigen Fällen allerdings auch recht offenkundig... Jedenfalls hatte das künstliche Aufblähen des menschlichen Soziallebens auf das Niveau des Superstammes hin notwendigerweise zur Folge, daß man wohldurchdachte Steuerungs- und Regelungsmechanismen einbauen mußte, um die anwachsenden Gemeinwesen zusammenzuhalten: Die enormen materiellen Vorteile, die das Leben im Superstamm bot, mußten mit Disziplin bezahlt werden. In den alten Kulturen, die sich rund um das Mittelmeer zu entfalten begannen-in Ägypten, Griechenland, Rom und wo auch immer -, wurden neben Technik und Kunst, die rasch und stetig aufblühten, Verwaltung und Gesetzgebung immer gewichtiger und komplexer. 23
Es war dies ein langsamer Prozeß. Die Großartigkeit der Überreste dieser Kulturen, die wir heute so bewundern, läßt den Eindruck entstehen, als hätten wir es mit riesigen Bevölkerungszahlen zu tun. Aber das ist durchaus nicht der Fall. Gemessen an den Pro-Kopf-Zahlen, ging das Anwachsen der Bevölkerung in den Superstämmen nur schrittweise voran. Zu einer schon so späten Zeit wie 600 v. Chr. zählte Babylon, damals die größte Stadt der Welt, überhaupt nicht mehr als So ooo Einwohner. Und das Athen der klassischen Zeit hatte ganze 20 000 Einwohner, wobei nur ein Viertel davon zur eigentlichen Oberschicht gehörte; die Gesamtbevölkerung des ganzen Stadtstaates - einschließlich der fremden Kaufleute, der Sklaven, der ländlichen und städtischen Bevölkerungsteile-hat man auf nicht mehr als 70000 bis 100 000 Köpfe geschätzt. Anders gesehen: Im Vergleich zu unseren heutigen Universitätsstädten wie Freiburg oder Tübingen besteht da kaum ein Unterschied. Die großen Metropolen von heute hingegen lassen den Gedanken an einen Vergleich gar nicht erst aufkommen: Es gibt über hundert mit über einer Million Einwohner, und die größten haben gar über zehn Millionen; im modernen Athen leben immerhin 1 850 000 Menschen. Wenn die alten Stadtstaaten weiter an Glanz und Größe zunehmen wollten, dann konnten sie sich nicht mehr allein auf das in ihrer unmittelbaren Umgebung Erzeugte verlassen. Um ihre Versorgungsbasis zu erwei24
tern, boten sich ihnen zwei Möglichkeiten an: Handel oder Eroberung. Rom nahm beide Möglichkeiten wahr, doch der Nachdruck lag auf dem Erobern. Und das vollbrachte Rom mit einer derart phantastischen militärischen und administrativen Tüchtigkeit, daß es imstande war, die größte Stadt entstehen zu lassen, die die Welt bis dahin gesehen hatte: Rom zählte nahezu eine halbe Million Einwohner. Damit war ein Vorbild gegeben, das weit in die folgenden Jahrhunderte gewirkt hat und noch bis in unsere Tage wirkt - nicht nur in den geistigen Anstrengungen derer, die sich mit dem Organisieren, Manipulieren und den schöpferischen Leistungen abmühen, sondern auch bei jener zunehmend immer fauler werdenden, auf immer mehr Sensationen versessenen städtischen Elite, die so stark angewachsen ist, daß sie, wenn es ihr einmal nicht mehr paßt, alles zu Bruch gehen lassen kann und deshalb um jeden Preis bei Stimmung gehalten werden muß. In dem intellektuellen Städter des alten Rom läßt sich bereits ein Prototyp des heutigen Superstammesangehörigen erkennen. In unserer Darstellung der Stadtgeschichte haben wir mit dem alten Rom ein Stadium erreicht, auf dem die menschliche Gemeinschaft bereits so groß und so dicht gedrängt ist, daß wir - zoologisch gesprochen - sagen können, der Zustand von heute sei bereits erreicht. Gewiß, im Laufe der Jahrhunderte ist das alles noch viel massiver geworden, im Prinzip aber blieb es dasselbe: Die Massen 25
wuchsen an, die Elite wurde noch elitärer, die Technik noch technischer. Frustration und Stress des Lebens in der Stadt verstärkten sich. Die Zusammenstöße zwischen den Superstämmen wurden blutiger. Es gab zu viele Menschen, und das bedeutete, daß sie überflüssig waren - Menschen im Überfluß, zum Verschwenden! Und im gleichen Maße, in dem die menschlichen Beziehungen zwischen den in der Masse Verlorenen immer stärker entpersönlicht wurden, wuchs die Unmenschlichkeit dem Menschen gegenüber zu furchtbaren Dimensionen an. Wenn ich vorhin gesagt habe, daß eine unpersönliche Beziehung keine biologisch-menschliche sei, so überrascht das nicht. Was jedoch überrascht, ist, daß die dermaßen aufgeblähten Superstämme überlebt, und, was noch überraschender ist, daß sie so gut überlebt haben. Diese Tatsache sollten wir keinesfalls so einfach hinnehmen, weil wir uns ja bereits im 20. Jahrhundert befinden. Nein, diese Tatsache ist etwas, war wir bewundern sollten. Sie ist nämlich der wahrhaft erstaunliche Beweis unserer Zähigkeit, unseres Scharfsinns und unserer Anpassungsfähigkeit als biologische Art. Wie um alles in der Welt haben wir das fertiggebracht? Alles, was wir am Anfang unseres Weges als Lebewesen besaßen, war doch lediglich eine Reihe biologischer Merkmale, die wir während unserer langen Lehrzeit als Jäger ausgebildet hatten. In der Beschaffenheit dieser Merkmale also muß die Antwort liegen und in der Art und Weise, wie wir uns ihrer zu bedienen gewußt haben, ohne sie gar so schlimm entarten zu lassen, wie es 26
(jedenfalls oberflächlich betrachtet) scheinen mag. Wir müssen uns die Sache näher anschauen. Sehen wir uns also unsere Ahnen aus der Affensippe an. Das Sozialleben der heute lebenden Affenarten liefert uns einige aufschlußreiche Anhaltspunkte: Ein unter den höheren Primaten weitverbreitetes Phänomen ist die Herrschaft eines tonangebenden Individuums - des »Paschas« z. B. auf dem Pavianfelsen im Zoo. Die schwächeren Mitglieder der Horde akzeptieren ihre untergeordnete Rolle: Sie schlagen sich keineswegs in die Büsche und machen sich selbständig. Denn die Stärke der Horde und damit ihre Sicherheit wie die jedes einzelnen beruht auf der Zahl der Hordenmitglieder. Natürlich wächst die Horde. Wird die Zahl zu groß, dann bildet sich eine Absplitterung und trennt sich vom alten Rudel; einzeln für sich allein lebende Affen sind jedoch anomal. Stets ziehen die Horden gemeinsam von Platz zu Platz und halten immer zusammen. Diese Treue ist nicht allein die Folge einer aufgezwungenen Tyrannis seitens der herrschenden Männchen. Gewiß - sie mögen Despoten sein. Sie spielen aber auch noch eine andere Rolle, und zwar die des Wächters und Beschützers. Droht der Gruppe eine Gefahr von außen - etwa der Angriff eines hungrigen Raubtieres -, dann sind es die ranghöchsten Männchen, die sich bei der Verteidigung besonders hervortun. Und jede Herausforderung von außen findet sie zu gemeinsamer Abwehr bereit - ihre internen Streitereien sind dann vergessen. Sonst aber 27
sinkt das tätige Zusammenwirken innerhalb der Horde auf ein Minimum. Kehren wir zum Lebewesen Mensch zurück. Da läßt sich feststellen, daß dieses Prinzip - soziales Zusammenwirken nach außen, sozialer Konkurrenzkampf nach innen - auch auf uns zutrifft, wobei allerdings sehr zu beachten ist, daß unsere frühen menschlichen Vorfahren gezwungen waren, in dieser Hinsicht irgendwie das Gleichgewicht zu wahren. Ihr gigantischer Kampf ums Dasein beim Wandel vom fruchtfressenden Vegetarier zum Jäger mit Fleischnahrung erzwang mehr und stärkere Zusammenarbeit nach innen: Die Umwelt bedeutete für den sich herausbildenden Jäger eine nahezu nie endende Herausforderung, und die Folge war ein Trend zu gegenseitiger Hilfe, zum Zusammenlegen und Teilen der verfügbaren Mittel. Das heißt jedoch nicht, daß der frühe Mensch sich etwa so verhielt wie der Fisch in seinem Schwärm; dafür war das Leben viel zu komplex. Konkurrenzkampf und Auseinandersetzung um den Rang blieben erhalten. Mehr noch: Sie trugen das Ihre dazu bei, Antriebskräfte freizusetzen und Unentschlossenheit zu mindern. Und außerdem wurde die Ausübung despotischer Macht erheblich beschnitten. So konnte ein fein austariertes Gleichgewicht erreicht werden, das, wie wir gesehen haben, sich als außergewöhnlich erfolgreich erweisen sollte, indem es die frühen menschlichen Jäger befähigte, sich über nahezu die ganze Erde auszubreiten - und das mit nur einem Minimum an Technik. 28
Was aber geschah mit diesem feinen Gleichgewicht, als die kleinen Stammeshorden zu riesigen Superstämmen wurden? Mit der Entpersönlichung der Beziehungen im Stammesgefüge begann das Pendel gefährlich zwischen Konkurrenzkampf und Zusammenarbeit hin und her zu schwingen - und es hat sich bis heute noch nicht eingependelt. Da die rangtiefen Angehörigen der Superstämme zu unpersönlichen Massen wurden, schwang das Pendel am stärksten nach der Seite von Rangstreitigkeiten und Herrschsucht aus: Die im Übermaß gewachsenen Massen der Städter wurden sehr schnell und immer wieder zum Opfer massiver Formen der Tyrannis, des Despotismus und der Diktatur. Die Superstämme ließen Superführer emporkommen, gegen deren Macht sich die der alten Affenpaschas geradezu gnädig ausnimmt. Die SuperStämme wurden aber auch Anlaß zu der Entstehung von extrem rangtiefen Wesen in Form der Sklaven, die eine Unterdrückung zu erdulden hatten, wie selbst die rangtiefsten Affen sie nie zu erleben gehabt hätten. Es war aber auch mehr als nur ein einzelner Tyrann nötig, um einen Superstamm solchermaßen zu beherrschen. Als Voraussetzung einer weithin wirksamen Unterjochung der Massen brauchte er nämlich nicht nur tödliche neue Mittel wie Waffen, Kerker und Folter, sondern auch eine festgefügte Gefolgschaft, wenn er das biologische Pendel auf der einen Seite - seiner Seite - festhalten wollte. Möglich war das, weil die Gefolgschaft - nicht 29
anders als ihr Führer - angesteckt war von der Unpersönlichkeit im Status des Superstammes. Ihr auf Zusammenarbeit eingestelltes Gewissen beruhigte die Gefolgsleute, indem sie Untergruppen oder Pseudostämme innerhalb des Superstammes schufen: Jedes Individuum knüpfte persönliche Beziehungen des alten biologischen Typs zu sozial und vom Beruf her gleichgestellten Genossen - mithin zu einer kleinen Gruppe von der Größe eines Stammes. Innerhalb dieses Pseudostammes konnte der einzelne nun wieder seinen angeborenen Trieb, sich gegenseitig zu helfen und miteinander zu teilen, befriedigen. Andere Untergruppen, etwa die Klasse der Sklaven, konnten dann getrost als Außenseiter betrachtet werden - sie brauchte man nicht zu schützen. Der soziale »Doppelstatus« war geboren. Die trügerische Stärke der neuen Untergliederungen beruht auf der Tatsache, daß sie es ermöglicht, persönliche Beziehungen auf eine unpersönliche Art zu knüpfen und zu unterhalten. Ein Rangtiefer - ein Sklave, ein Diener, ein Leibeigener - mochte seinem Herrn persönlich noch so sehr bekannt sein; die Tatsache jedoch, daß er einer anderen gesellschaftlichen Kategorie angehörte, bedeutete, daß man ihn so schlecht behandeln durfte wie irgendeinen aus der unpersönlichen Masse des Mobs. Daß Macht korrumpiere, ist nur eine Teilwahrheit. Extreme Unterordnung kann nicht minder wirksam korrumpieren. Wenn das bio-soziale Pendel von der tätigen Zusammenarbeit hin zur Tyrannei schwingt, dann wird 30
die gesamte Gesellschaft korrupt. Gewiß - eine solche Gesellschaft kann sehr beachtliche materielle Leistungen vollbringen, etwa 4 883 000 Tonnen Gestein bewegen, um eine einzige Pyramide zu errichten. Doch infolge der deformierten Sozialstruktur sind die Tage einer solchen Gesellschaft gezählt. Es mag eine Zwangsherrschaft noch so stark sein, noch so viele Menschen knechten, noch so lange anhalten - auch in der Treibhausatmosphäre eines Superstammes sind ihr Grenzen gesetzt. Ist diese Grenze erreicht und schlägt das bio-soziale Pendel zurück, so darf die Gesellschaft sich glücklich schätzen, wenn das Pendel sich sanft dem Punkt des Ausgleichs auf der Mitte seiner Bahn zuneigt. Schlägt das Pendel aber - wie es meist der Fall ist-wild hin und her, so wird Blut in einem Ausmaß fließen, wie es selbst unsere primitiven Jägervorfahren nie geträumt hätten. Es ist ein wahres Wunder des Überlebens im Status der Zivilisation, daß der menschliche Impuls zum Zusammenarbeiten, zur Kooperation sich so stark behauptet hat und wieder und wieder behauptet. Es arbeitet so vieles gegen ihn an, und dennoch regt er sich immer aufs neue. Wir verzeichnen das gern als einen Sieg der Kräfte einer vernunftgemäßen Nächstenliebe über tierische Schwächen als seien Ethik und Moral so etwas wie eine moderne Erfindung! Wäre das wirklich wahr, dann ist es doch wohl mehr als zweifelhaft, daß wir je den Punkt hier und heute erreicht hätten, wo wir dies verkünden. Denn wäre uns 31
nicht der biologische Grundimpuls zur Kooperation mit unseren Mitmenschen eingegeben, hätten wir als Art niemals überlebt. Wären unsere jägerischen Ahnen tatsächlich schon unbarmherzige, gierige Tyrannen gewesen, beladen mit der »Erbsünde«, dann hätte die Geschichte vom menschlichen Fortschritt lange vor uns ihr Ende gefunden: Der einzige Grund, warum uns stets und ständig die Lehre von der »Erbsünde« in der einen oder anderen Form eingeträufelt wird, ist der, daß die widernatürlichen Bedingungen des Superstammes stets und ständig unserer biologisch begründeten Nächstenliebe entgegenarbeiten - und damit sind wir vollauf beschäftigt. Ich weiß, es gibt kluge Köpfe, die sehr heftig mißbilligen, was ich eben gesagt habe. Sie halten die Menschen für von Natur aus schwach, gierig und böse, und sie fordern deshalb strenge Gesetze mit ebenso strengen Vorschriften, die den Menschen stark, züchtig und gut werden lassen. Sie machen sich über das Wort vom »edlen Wilden« lustig, geraten aber angesichts dessen, was dann daraus geworden ist, aus der Fassung. Wenn sie betonen, nichts Edles in all der Unwissenheit und all dem Aberglauben entdecken zu können, so haben sie gar nicht so unrecht. Doch das ist nur der erste Teil der Geschichte. Den zweiten Teil erzählt uns das Verhalten des frühen Jägers seinen Gefährten gegenüber. Hier muß die Situation ganz anders gewesen sein: Mitfühlen, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und ein fundamentaler Drang zum Miteinanderwirken innerhalb des 32
Stammes - daraus muß das Verhaltensmuster bei den frühen menschlichen Gemeinschaften bestanden haben, wenn sie in ihrer so unsicheren Umwelt überleben wollten. Erst als sich die Stämme zu unpersönlichen Superstämmen auswuchsen, geriet diese alte Verhaltensweise unter Druck und begann zusammenzubrechen. Und nun wurden künstliche Gesetze geschaffen, Kodices, die für Zucht und Ordnung sorgen sollten, um das aus dem Gleichgewicht geratene Verhalten wieder ins Lot zu bringen. Wären Vorschriften und Gesetzbücher eingeführt worden in einem Ausmaß, das den neuen Pressionen hätte begegnen können, dann wäre alles gutgegangen. Aber die Menschen der frühen Kulturen waren noch Lehrlinge in der schweren Kunst des rechten Gleichgewichts. Sie versagten immer wieder-und die Folgen waren verheerend. Heute verstehen wir mehr davon. Aber leider ist das System keineswegs perfekt geworden, und zwar deshalb, weil die Superstämme weiter und weiter wuchsen und sich so das Problem immer wieder aufs neue gestellt hat. Das sei noch auf andere Weise verdeutlicht: Man hat oft gesagt, »das Gesetz verbietet den Menschen nur das, wozu ihre Instinkte sie verleiten möchten.« Daraus folgert aber: Da es Gesetze gegen Diebstahl, Mord und Raub gibt, muß das Lebewesen Mensch von Natur aus ein stehlender, mörderischer Räuber sein. Ich frage: Ist das nun wirklich eine faire Beschreibung des Menschen als einer sozialen biologischen Art? Das paßt doch irgendwie nicht 33
in das zoologische Bild von der in Stammesgruppen lebenden Spezies Mensch, wie sie mit dem Frühmenschen auftritt. Traurig genug ist es schon, daß es auf das Bild vom Superstamm zutrifft ... Der Diebstahl - als die wohl häufigste Art des Verbrechens - liefert uns ein gutes Beispiel. Ein Angehöriger des Superstammes steht unter Druck, er leidet unter dem Stress seines unbiologischen sozialen Status. Die meisten Menschen seines Superstammes sind für ihn Fremde, er hat keinerlei persönliche Stammesbindungen zu ihnen. Und so bestiehlt der typische Dieb nicht einen ihm bekannten Stammesgenossen, er vergeht sich nicht gegen den alten biologischen Stammeskodex. In seiner Vorstellung sucht er sich sein Opfer einfach außerhalb seines Stammes. Und um das zu unterbinden, mußte ein Superstammesgesetz geschaffen werden. Erinnern wir uns doch, daß wir von »GanoveneAre« und vom »Gesetz der Unterwelt« sprechen und damit nur eines bestätigen: Wir sehen die Kriminellen als Angehörige eines selbständigen Pseudostammes innerhalb des Superstammes. Dabei ist es interessant, daran zu denken, wie wir mit dem Verbrecher umgehen: Wir verbannen ihn ja in die isolierte Gemeinschaft der Kriminellen! Als kurzfristige Lösung mag das einigermaßen genügen. Auf längere Zeit gesehen aber wird das Selbstbewußtsein dieses Pseudostammes und das Selbstverständnis des Kriminellen als eines Angehörigen dieses Pseudostammes nur gestärkt, statt daß man es schwächt: 34
Man unterstützt, ja zwingt den Kriminellen geradezu, seine sozialen Kontakte innerhalb des Pseudostammes zu erweitern! Doch kehren wir zurück zu dem Gedanken, daß »das Gesetz den Menschen nur das verbietet, wozu ihn die Instinkte verleiten möchten«. Wir müssen die Aussage neu formulieren, so nämlich, daß »das Gesetz den Menschen nur das verbietet, wozu die unnatürlichen Bedingungen der Zivilisation sie treiben«. Wenn wir die Dinge so betrachten, dann ist das Gesetz ein Mittel zur Erhaltung des Gleichgewichts, dazu bestimmt, den Entartungserscheinungen entgegenzutreten, wie sie sich mit der Existenz innerhalb des Superstammes einstellen: Das Gesetz soll unter unnatürlichen Bedingungen das der menschlichen Art natürliche Sozialverhalten aufrechterhalten. Ganz gewiß ist das eine grobe Vereinfachung. Denn es setzt bei den Führern und »Gesetzesmachern« Perfektion voraus. Aber selbstverständlich können Tyrannen und Despoten auch so harte und unvernünftige Gesetze erlassen, daß die Bevölkerung in einem größeren Umfang unterdrückt wird, als unter den im Superstamrn vorherrschenden Bedingungen gerechtfertigt ist. Hingegen mag eine schwächliche Führung eine Gesetzgebung einführen, die zu kraftlos ist, einen brodelnden Pöbelhaufen zusammenzuhalten. In beiden Möglichkeiten liegt kulturelles Unglück oder Abstieg beschlossen. 35
Es gibt noch eine andere Form von Gesetz, und die hat wenig zu tun mit dem, was ich hier dargelegt habe - außer daß sie dazu dient, eine Gesellschaft zusammenzuhalten. Es handelt sich um das, was ich »isolierende Gesetze« nennen möchte - Gesetze, die dazu dienen, die eine Kultur scharf gegen die anderen abzugrenzen. Natürlich geben solche Gesetze der Gesellschaft festen Zusammenhalt, indem sie ihr ein Gefühl der Zusammengehörigkeit verleihen, die als einzigartig empfunden wird. Derlei Gesetze spielen bei Gericht eine geringe Rolle. Sie sind mehr eine Angelegenheit der Religion und von gesellschaftlichem Brauch und Sitte. Sie sollen beim Individuum die Illusion wecken und steigern, daß es einem einheitlich in sich geschlossenen Stamm angehört und nicht einem wuchernden, gärenden Superstamm. Werden solche Gesetze kritisiert, weil sie willkürlich oder sinnlos seien, dann lautet die Antwort, es handele sich um Tradition, um uralt-ehrwürdige Überlieferung, der man sich ohne Widerrede zu beugen habe. Und es ist durchaus gut, diese Gesetze gar nicht erst in Frage zu stellen, denn sie sind in der Tat willkürlich und häufig sinnlos. Ihr Wert liegt darin, daß alle Angehörigen der Gemeinschaft sie akzeptieren. Verlieren solche Gesetze an Kraft, dann schwindet auch die Einheitlichkeit der Gemeinschaft. Isolierende Gesetze gibt es in vielerlei Gestalt: in allen möglichen komplizierten Prozeduren sozialer Zeremonien und Riten wie Hochzeiten, Begräbnissen, Feiern und Festen, Paraden, Aufmärschen und so weiter, in all den Pfiffen und Kniffen der gesell36
schaftlichen Etikette, in Sitten und Bräuchen, in der bunten Fülle von Tracht und Uniform mit all dem dazugehörigen Gehabe. Die Ethnologen und Kulturanthropologen, fasziniert von der Vielfalt des Stoffes, haben sich mit diesen Dingen eingehend beschäftigt. Vielfalt - nämlich Unterschiedlichkeit, um die eine Kultur gegen die andere und gegen alle anderen abzusondern —, das war natürlich auch die wirkliche Funktion dieser Verhaltensweisen. Wer aber diese Verschiedenheiten bewundert, der darf nicht übersehen, daß es sich in Wahrheit um fundamentale Ähnlichkeiten handelt. Brauchtum und Trachten mögen im einzelnen von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich sein - trotzdem weisen sie die gleiche Grundfunktion und die gleichen Grundformen auf. Wollte man eine Liste aller sozialen Sitten und Bräuche einer bestimmten Kultur zusammenstellen, dann würde man für nahezu alle diese Gebräuche bei nahezu allen anderen Kulturen Entsprechendes finden. Nur in den Details werden sie sich unterscheiden, das allerdings oft so gründlich, daß man gar nicht merkt, wie sehr man es mit den gleichen grundlegenden sozialen Verhaltensweisen zu tun hat. Dafür ein Beispiel: In vielen Kulturen verlangt es die Sitte, daß man bei Trauer Schwarz trägt, in manchen Kulturen aber ist - im völligen Gegensatz dazu - die Trauerkleidung weiß. Blickt man sich noch weiter um, so 37
wird man außerdem Kulturen finden, in denen Dunkelblau, Grau, Gelb oder »Sack und Asche« üblich sind. Ist man nun seit frühester Kindheit in einer Kultur aufgewachsen, in der eine dieser Farben - sagen wir Schwarz aufs engste mit Tod und Bestattung verbunden ist, so wird es einen höchst überraschen, daß anderswo in diesem Zusammenhang Farben wie Gelb oder Blau getragen werden. Mehr noch: Die unmittelbare Reaktion auf diese Entdeckung wird die sein, daß man sich dessen bewußt wird, wie sehr dieser Brauch sich von dem daheim unterscheidet (und nicht nur dieser Brauch). Genau das aber ist die Falle, die so geschickt gestellt worden ist, um den Forderungen der kulturellen Isolierung zu entsprechen: Die ganz oberflächliche Beobachtung, daß die Trauerfarben so außerordentlich variieren, verwischt die viel wichtigere Grundtatsache: Allen Kulturen ist die mehr oder weniger theatralische »Schaustellung« einer Bestattung gemeinsam, und überall wird eine Trauerkleidung getragen, die sich auffallend von der sonst üblichen Kleidung unterscheidet. Noch ein anderes Beispiel: Wenn ein Engländer (oder Mitteleuropäer) zum erstenmal Spanien besucht, wird er überrascht sein, auf den großen Plätzen der Städte und Dörfer am frühen Abend eine Unmenge Menschen anzutreffen, die scheinbar ziellos auf und ab spazieren. Seine sofortige Reaktion ist nicht die, daß er darin ein kulturelles Äquivalent zu den ihm so vertrauten Cocktailpartys (oder Stammtischen) sieht, sondern irgend etwas ganz Fremdes, nur hier Übliches. Wieder ist die zugrunde lie38
gende soziale Verhaltensweise die gleiche, nur die Details sind anders. Ähnliche Beispiele könnte man für fast alle Formen der Betätigung innerhalb der Gemeinschaft geben. Das Prinzip bleibt: Je stärker gesellschaftlich bedingt der Anlaß ist, desto stärker unterscheiden sich die Einzelheiten und desto fremdartiger erscheint einem auf den ersten Blick das in der anderen Kultur übliche Verhalten. Die größten und wichtigsten sozialen Begebenheiten - Krönungsfeierlichkeiten, Staatsbegräbnisse, Bälle, Bankette, Unabhängigkeitstage, Amtseinsetzungen, große sportliche Ereignisse, Militärparaden, Festtage und Feiern (oder das ihnen Entsprechende) -, sie vor allem sind es, bei denen die Gesetze der Isolierung die bedeutsamste Rolle spielen. Sie variieren von Fall zu Fall in tausend winzigen Details, deren jedes aber gewissenhaft beachtet wird, als hänge davon das Leben der Teilnehmer ab. Und in einem gewissen Sinn hängt ihr soziales Leben tatsächlich davon ab, denn ihr Verhalten in der Öffentlichkeit ist es ja, das ihr Gefühl des sozialen Dabeiseins bestätigt und stärkt - das Gefühl, dieser (und nur dieser) Kulturgruppe anzugehören. Und je großartiger der Anlaß, desto mehr wird dieses Gefühl gestärkt. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Revolutionäre, die ihr Ziel mit Erfolg erreicht haben, dennoch manchmal wenig beliebt sind. Das hat seinen guten Grund: Dadurch, 39
daß sie das alte Machtgefüge, das sie ja verabscheut haben, stürzen, sind sie auch gezwungen, viele der alten Sitten und Bräuche hinwegzufegen: Selbst wenn diese Riten und Zeremonien nicht direkt etwas mit dem alten System zu tun haben - sie erinnern zumindest daran und müssen deshalb verschwinden. Man kann natürlich auch einen schnell improvisierten Ersatz an ihre Stelle rücken, doch ist es schwierig, Riten über Nacht zu erfinden. (Nebenbei gesagt - und das ist sehr interessant: Der Erfolg des frühen Christentums ist zu einem gewissen Grad darauf zurückzuführen, daß es ein Gutteil der alten heidnischen Bräuche übernommen und für die eigenen Zwecke abgewandelt hat.) Wenn all die Erregung und Unruhe der Revolution vorüber ist, dann meldet sich schließlich bei nicht wenigen verärgerten Nachrevolutionären ein Unbehagen, das zurückzuführen ist auf das mehr oder weniger deutliche Gefühl des Verlustes all der sozialen Anlässe für die Entfaltung von Pracht und Prunk. Führer von Revolutionen täten also gut daran, dem zuvorzukommen: Ihre Anhänger wollen ja nicht die Ketten des sozialen Dazugehörigkeitsgefühls überhaupt sprengen, sondern die Ketten eines ganz bestimmten sozialen Zusammenhalts. Sobald diese zerbrochen sind, werden sie neue brauchen, und sie werden bald unzufrieden sein, wenn ihnen nichts geboten wird als nur eine höchst abstrakte Idee von »Freiheit«. Hier machen sich also die Forderungen der auf Isolierung abzielenden Gesetze ebenfalls geltend. 40
Auch andere Aspekte des sozialen Verhaltens werden als bindende Kräfte ins Spiel gebracht. Die Sprache ist eine von ihnen. Wir halten die Sprache gern ausschließlich für eine der Kommunikation dienende Einrichtung, aber sie ist mehr als das. Wäre das nicht so, würden wir nämlich alle ein und dieselbe Sprache sprechen. Wir brauchen nur zurückzuschauen in die Geschichte der Superstämme, um zu erkennen, daß die antikommunikative Funktion der Sprache fast ebenso wichtig gewesen ist wie ihre kommunikative. Mehr als alle sozialen Gewohnheiten hat gerade sie riesige Schranken zwischen den Gruppen entstehen lassen. Mehr als alles andere hat sie das Individuum auf die Zugehörigkeit zu einem ganz bestimmten SuperStamm festgelegt und seinem Überlaufen zu einer anderen Gruppe Hindernisse in den Weg gestellt. Als mit dem Wachsen der Superstämme die Stämme in ihnen aufgingen, verschmolzen auch die örtlichen Sprachen miteinander, oder sie gingen unter - die Gesamtzahl der Sprachen in der Welt verringerte sich. Doch im gleichen Maße, wie dies geschah, entstand ein Gegentrend: Aussprache und Dialekte wurden immer sozialtypischer es bildeten sich Fach-, Berufs- und Zunftsprachen, Jargon und Slang. Überall dort, wo die Mitglieder eines mächtigen Superstammes sich daranmachten, ihr Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Stamm dadurch zu verstärken, daß sie sich in Untergruppen zusammenschlössen, entstand innerhalb der offiziellen Hauptsprache ein ganzes Spek41
trum von »Zungen«. So wie das Englische und das Deutsche für den Engländer und den Deutschen als Merkmale der Zugehörigkeit einerseits und als isolierender Mechanismus andererseits fungieren, so isoliert im Englisdien der in der Oberklasse gebräuchliche Akzent den so Sprechenden von denen mit dem Akzent der unteren Klassen, und die Kunstsprache der Chemie und die der Psychologie isolieren den Chemiker vom Psychologen. (Es ist eine sehr betrübliche Tatsache, daß in der akademischen Welt, deren erzieherische Aufgabe doch in erster Linie eine Angelegenheit der Kommunikation ist, isolierende Pseudostamm-Sprachen gang und gäbe sind, so extrem wie das Rotwelsch der Verbrecher. Als Entschuldigung wird meist vorgebracht, daß die notwendige Präzision im Ausdruck dies verlange. Das ist bis zu einem gewissen Grad richtig. Aber die Entschuldigung wird zu häufig und zu laut vorgebracht.) Jargon- und Slangausdrücke können so spezialisiert werden, daß man meint, es entstehe eine neue Sprache. Und typisch für Slang ist es, daß die Wörter, sobald sie Allgemeingut geworden sind, von der Untergruppe, aus der sie stammen, durch neue Ausdrücke ersetzt werden. Denn sobald solche Wörter vom gesamten Superstamm angenommen, also in die offizielle Sprache eingedrungen sind, haben sie ja ihre ursprüngliche Funktion verloren, nämlich die, Ausdruck des Gefühls der Zugehörigkeit zu einem Stamm zu sein. (Es ist mehr als zweifelhaft, ob Sie 42
noch denselben Jargonausdruck etwa für ein attraktives Mädchen, einen Polizisten oder einen Sexualakt benutzen wie Ihre Eltern damals, als sie in Ihrem Alter waren. Wohl aber bedienen Sie sich noch derselben hochsprachlichen Ausdrücke - z. B. der hier angeführten.) In extremen Fällen nimmt eine Untergruppe sogar eine völlig fremde Sprache an: Es gab eine Zeit, in der man am russischen Hof, und nicht nur dort, französisch sprach. Als ein Überbleibsel dieser Sitte sind in den sehr feinen Restaurants die Speisekarten noch heute französisch. Fast in der gleichen Weise wie die Sprache hat die Religion gewirkt: Sie verstärkt die Bande innerhalb einer Gruppe und schwächt die zu anderen ab. Das einzige, was dabei vorausgesetzt wird, ist einfach genug: Es seien da, so heißt es, mächtige Kräfte am Werk, erhaben über die gewöhnlichen menschlichen Angehörigen der Gruppe, und diesen Kräften, diesen Superführern, diesen Göttern müsse man zu Gefallen sein, sie müsse man besänftigen und ihnen ohne jede Frage gehorchen. Die Tatsache, daß man sie nie fragen kann, hilft ihnen natürlich, ihre Position zu halten. Anfangs waren die göttlichen Mächte begrenzt, ihre Einflußsphären fein säuberlich aufgeteilt. Als aber die Superstämme zu Dimensionen aufschwollen, die immer weniger kontrollierbar wurden, bedurfte es stärkerer Bindekräfte. Eine Herrschaft, die nur aus kleinen Göttern mit beschränkten Machtbefugnissen bestand, war nun 43
nicht mehr stark genug. Ein festgefügter Superstamm brauchte einen einzigen allmächtigen, allweisen, allsehenden Gott - mit dem Erfolg, daß von den alten Gottheiten nur dieser eine Typus den Sieg davontrug und den Lauf der Jahrhunderte überstand. In den weniger großen und zurückgebliebenen Kulturen herrschen noch heute die kleinen Gottheiten. Die Menschen und Völker aller großen Kulturen aber haben sich dem einen und einzigen Supergott zugewandt. Es ist eine nahezu überall zutreffende Beobachtung, daß sich in jüngster Zeit die Macht der Religion als die eines sozialen Faktors verringert hat. Dafür gibt es zwei Gründe. Da ist erstens ihr Versagen in der Doppelfunktion als eine bindende Kraft: In dem Maße, in dem die Bevölkerungszahlen immer mehr und mehr anstiegen, wurden die alten Reiche ungefüge und immer schwerer zu handhaben - sie splitterten in Nationalitätengruppen auf. Diese neuen Superstämme kämpften mit all den üblichen Mitteln um ihr Selbstverständnis und ihr Gefühl der Zusammengehörigkeit. Doch viele hatten jetzt eine gemeinsame Religion. Das aber bedeutete für sie, daß die Religion-obwohl nach wie vor ein beachtlicher Faktor für das Zusammenhalten der Angehörigen einer Nation - in ihrer anderen bindenden Funktion versagte, in der nämlich, die Bande zwischen den Nationen abzuschwächen. Der Kompromiß, den man fand, war die Bildung von Sekten innerhalb einer Hauptreligion. Mit den Sekten 44
(der Name: »abgesonderte« Glaubensgemeinschaften sagt es ja schon) waren die isolierenden Eigenschaften wieder da, und die Sekten trugen außerdem dazu bei, den religiösen Bräuchen zu ihrem alten örtlichen oder Stammescharakter zu verhelfen. Doch war dies nur eine Teillösung. Der zweite Grund für den Machtschwund der Religion ist die immer stärker sich ausbreitende wissenschaftliche Bildung und die damit verbundene Forderung an das Individuum, daß es Fragen stellen muß und Dogmen nicht blindlings hinnehmen darf. Besonders die christliche Religion hat erhebliche Rückschläge erlitten. Das zunehmend logische Denken der Superstammesangehörigen des Westens kann an gewissen mit Händen zu greifenden Widersprächen einfach nicht mehr vorübergehen. Der wahrscheinlich wichtigste dieser Widersprüche ist die große Diskrepanz zwischen der Lehre von der Demut uncf Güte einerseits und dem Pomp und der Macht der Kirchenfürsten andererseits. Neben Gesetz, Sitte, Sprache und Religion gibt es eine weitere, noch stärker bindende Kraft, die dazu beiträgt, die Glieder des Superstammes engstens zusammenzuschließen, und zwar den Krieg. Zynisch könnte man sagen, daß einem Führer nichts förderlicher sei als ein schöner Krieg. Der gibt ihm die einzigartige Chance, Tyrann zu sein und dafür zugleich auch noch verehrt zu werden: Er kann die härtesten Maßnahmen treffen und die unbarmherzigsten Gesetze erlassen, er kann Tausende seiner Gefolgsleute in 45
den Tod jagen — trotzdem wird man ihm, dem großen Führer und Beschützer, mit »Heil« zujubeln. Denn ganz gewiß festigt nichts die Bindung einer Gruppe nach innen mehr als die Bedrohung durch eine Gruppe von außen. Die Tatsache, daß interne Streitereien durch die Existenz eines gemeinsamen Feindes unterdrückt werden, ist der Aufmerksamkeit der Herrscher von gestern und heute selbstverständlich nicht entgangen: Wenn ein zu groß gewordener Superstamm aus den Fugen zu geraten beginnt, lassen sich die Risse sehr schnell dichten, und zwar durch das Auftreten eines mächtigen SIE (der Feinde nämlich), das uns zum geeinten WIR umformt. Wie häufig Konflikte zwischen Gruppen von ihren Führern absichtlich manipuliert worden sind, ist schwer zu sagen. Doch ob absichtlich oder nicht - die Bindungsreaktion tritt fast immer ein. Es bedarf schon eines bemerkenswert unfähigen Führers, um so etwas zu verpatzen. Und natürlich bedarf es eines Feindes, der sich dazu eignet, in den wüstesten Farben als Teufel an die Wand gemalt zu werden; andernfalls geht die Sache schief: Scheußliche Kriegsgreuel lassen sich nur dann in glorreiche Schlachten verwandeln, wenn es mit der Bedrohung von außen wirklich ernst ist - oder wenn sie zumindest als solche dargestellt wird. Trotz aller Reize, die der Krieg für einen skrupellosen Führer zweifellos hat, gibt es da noch einen offensichtlichen Nachteil: Eine Seite zahlt mit der totalen Niederlage - und das könnte die eigene sein! Als Angehöriger 46
eines Superstammes sollte man für diese fatale Schattenseite nichts als dankbar sein ... Das also sind die Bindekräfte, die in den großen städtisch organisierten Gesellschaften wirksam werden. Jede hat ihren eigenen Sondertyp von Führer entstehen lassen: den Beamten, den Richter, den Politiker, den sozialen Führer, den Hohenpriester, den General. In Zeiten, in denen es noch einfacher zuging, waren alle in einer einzigen Person zusammengefaßt, in dem einen allmächtigen König oder Kaiser, der in der Lage war, die gesamte Spannweite der Führung zu meistern. Doch als diese Zeiten vorüber waren und die Gruppen immer größer wurden, hat sich die reale Führerschaft von einem Bereich zum ändern verschoben, bis jeweils zu der Kategorie, die zufällig das höchst außergewöhnliche Individuum stellt. In uns näherliegenden Zeiten ist es häufig Brauch geworden, der Bevölkerung ein Mitspracherecht bei der Wahl eines neuen Führers zuzubilligen. Diese politische Einrichtung ist - in sich selbst - eine durchaus nützliche Bindekraft geworden; denn sie vermittelt den Angehörigen eines Superstammes ein stärkeres Gefühl, nicht nur zu der Gruppe dazuzugehören, sondern auch einigen Einfluß auf sie zu haben. War der neue Führer aber erst einmal gewählt, dann wurde dieser Einfluß, wie sich bald zeigte, weitaus weniger bedeutend, als man annahm. Doch wie dem auch sei: Zur Zeit einer Wahl läuft durch die Gemeinschaft eine höchst nützliche Welle der Identifizierung mit ihr. 47
Um diesen Prozeß noch zu fördern, beauftragt man Unterführer - Führer nämlich von örtlichen Pseudostämmen -, an der Regierung des Landes teilzuhaben. In manchen Ländern ist das nicht viel mehr als nur eine rituelle Geste geworden, da die »örtlichen« Beauftragten ja nichts anderes sind als importierte Profis. Diese Art von einer Verdrehung ist freilich unvermeidlich in einer Gemeinschaft, die so komplex ist wie ein moderner Superstamm. Das Ziel, durch gewählte Beauftragte zu regieren, ist gut und schön, wenn es auch seine Schwierigkeiten hat, das Erstrebte in die Tat umzusetzen. Es beruht darauf, daß man wenigstens teilweise zur »Politik« der ursprünglichen menschlichen Stammesgliederung zurückkehrt, in der jedes Mitglied des Stammes (oder zumindest jeder männliche Erwachsene) eine Stimme bei der Führung der Gemeinschaft hatte. In einem gewissen Sinne waren die Angehörigen des Stammes Kommunisten, bei denen die Betonung auf dem Teilen lag, während sie für einen strengen Schutz des persönlichen Eigentums weniger Verständnis aufbrachten. Eigentum-das hieß Geben und Nehmen. Jedoch waren diese Stämme, wie dargelegt, nur klein, und jeder kannte jeden. Man mag sogar persönlichen Besitz geschätzt haben. Aber Türen und Schlösser lagen noch im Dunkel der Zukunft. Spätestens aber seitdem der Stamm zu einem unpersönlichen Superstamm - mit Fremden in seiner Mitte - geworden war, wurde die strenge Bewachung des Eigentums notwendig und begann eine erhebliche Rolle im sozialen Leben zu spielen. Jeder politische 48
Versuch, diese Tatsache zu ignorieren, wird beträchtliche Schwierigkeiten zur Folge haben: Der moderne Kommunismus fängt gerade an, das zu begreifen, und ist deshalb dabei, sein System dementsprechend anzupassen. Eine weitere Anpassung war auch in allen jenen Fällen erforderlich, bei denen es das Ziel war, zu der Verhaltensweise des alten Stammesjägers im Sinne eines »Regierens des Volkes durch das Volk« zurückzukehren. Die Superstämme waren einfach zu groß, die Probleme des Regierens zu komplex, zu technisch. Die Situation verlangte ein System der Beauftragung, der Stellvertretung, und sie verlangte eine Berufsgruppe von Experten. Wie weit sich so etwas von »der Regierung durch das Volk« entfernen kann, ist erst kürzlich in England sehr deutlich unter Beweis gestellt worden, als man nämlich vorschlug, Parlamentsdebatten im Fernsehen zu übertragen. Auf diese Weise könne, so wurde argumentiert, die Bevölkerung dank der modernen Technik besser Anteil nehmen an den Staatsgeschäften. Das aber würde sich nicht vertragen mit der Atmosphäre der fachlichen Spezialisierung, und so wurde sofort hitzig opponiert — und der Vorschlag abgelehnt. Soviel über die »Regierung durch das Volk«. Sei dem, wie es sei - überraschend ist es nicht. Einen SuperStamm zu führen gleicht dem Versuch, einen Elefanten auf einem Drahtseil balancieren zu lassen. Das Beste, was ein modernes politisches System anscheinend erreichen kann, ist, rechtsgerichtete Methoden anzuwenden, um linksge49
richtete Politik zu machen. (Und genau das wird in der Tat zur Zeit sowohl im Osten als auch im Westen praktiziert.) Es ist kein leichter Trick, das zu schaffen, und es bedarf der ganzen professionellen Geschicklichkeit, ganz zu schweigen von der Doppelzüngigkeit. Wenn Politiker heute ständig zum Ziel von Spott und Witz werden, dann nur deshalb, weil zu viele Leute den Trick allzu oft durchschauen. Aber angesichts der gegebenen Größe der Superstämme scheint es keine Alternative zu geben. Da die Gesellschaft der Superstämme von heute in vielfacher Hinsicht so unhandlich ist, besteht eine starke Tendenz zum Aufsplittern. Es war bereits davon die Rede, daß sich spezialisierte Pseudostämme innerhalb des Riesengefüges herauskristallisieren - soziale Gruppen, Kasten- und Klassengruppen, Berufsgruppen, akademische Gruppen, Sportgruppen und so fort-, die dem Individuum der städtischen Gesellschaft ersatzweise unterschiedliche Formen der Stammeszugehörigkeit liefern. Glücklicherweise verbleiben solche Gruppen innerhalb der Hauptgemeinschaft; nicht selten aber kommt es zu Absplitterungen, die wesentlich drastischer sind: Großreiche spalten sich auf in unabhängige Staaten, Staaten in autonome Länder. Trotz aller verbesserten Kommunikation, trotz vermehrter gemeinsamer Interessen, trotz gemeinsamer Methoden - die Abspaltungen hören nicht auf.
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Allianzen werden unter dem zur Bindung zwingenden Druck eines Krieges schnell geschlossen, aber sobald Friede ist, reißen die Bindungen, und Separation, Abgliederung und Teilung sind an der Tagesordnung. Wenn Splittergruppen mit dem Mut der Verzweiflung darum kämpfen, eine Art von lokalem Zusammengehörigkeitsbewußtsein zu schaffen, dann bedeutet das einfach, daß die Bindekräfte des Superstammes, zu dem sie gehören oder gehörten, nicht stark und attraktiv - und das heißt: anziehend! - genug gewesen sind, sie zusammenzuhalten. Der Traum von dem die ganze Erde in Frieden umfassenden Superstamm ist wiederholt in die Brüche gegangen. Und es hat ganz den Anschein, als könne nur eine fremde Bedrohung von einem anderen Planeten her die notwendige Bindekraft liefern-und auch das nur vorübergehend. Es bleibt also abzuwarten, ob in Zukunft die Findigkeit des Menschen einige neue Faktoren in seine soziale Existenz einführen wird, mit denen das Problem zu lösen ist. Zur Zeit jedenfalls sieht es nicht so aus. Seit neuestem wird sehr lebhaft darüber diskutiert, daß die Massenmedien - vor allem das Fernsehen - die soziale Oberfläche der Welt »einschrumpfen« und so ein globales Tele-Dorf entstehen lassen. Ein solcher Trend, so heißt es, werde die Bewegung hin zu einer echten internationalen Gemeinschaft unterstützen. Leider aber ist das ein Mythos, und zwar ganz einfach deswegen, weil das Fernsehen 51
- ganz anders als die persönliche soziale Wechselwirkung - ein Einbahn-System ist. Ich kann zuhören, ich lerne den kennen, der im Fernsehen etwas sagt, aber er kann mir nicht zuhören oder mich kennenlernen. Ich erfahre, was er denkt und tut; das ist - zugegeben - ein großer Fortschritt, der meinen Bereich an sozialer Information erweitert. Aber das ist kein Ersatz für die zweiseitigen Beziehungen wirklicher sozialer Kontakte. Auch wenn es in Zukunft zu sensationell neuen, gegenwärtig unvorstellbaren Fortschritten im Bereich der Massenmedien kommen sollte, so werden sie in ihrer Wirkung doch nach wie vor durch die unserer Spezies eigenen biosozialen Beschränkungen gehemmt werden. Wir sind nicht, wie die Termiten, dafür ausgerüstet, willenlose Mitglieder einer riesigen Gemeinschaft zu werden. Wir sind im Grunde Lebewesen einfacher Stammesverbände, und wir werden es vielleicht immer sein. Trotzdem und trotz aller Spaltungen, die konstant wie in Krämpfen sich allenthalben auf unserem Erdball vollziehen, müssen wir der Tatsache ins Gesicht sehen, daß der Haupttrend der ist, das festgefügte Niveau des SuperStammes beizubehalten. Während es in dem einen Teil der Welt zu Spaltungen kommt, bilden sich im ändern Zusammenschlüsse. Wenn aber die Situation heute so unstabil bleibt, wie sie es seit Jahrhunderten war, warum beharren wir dann darauf? Wenn sie gefährlich ist, warum ändern wir die Dinge nicht? 52
Deshalb, weil es sich hier um mehr handelt als nur um ein internationales Machtspiel. In dem-Lebewesen Mensch steckt eine biologische Eigenschaft, die ihn eine tiefe Befriedigung daran finden läßt, in das chaotische Gewimmel der Städte eines Superstammes geschleudert zu werden. Diese Eigenschaft ist die unersättliche Neu-Gier des Menschen, sein EinfalJsreichtum, seine mächtige Intelligenz. Und die quirlende Unruhe der Großstädte scheint diese Qualitäten nur noch zu verstärken. Wie die kolonieweise nistenden Meeresvögel zur Fortpflanzung dadurch angeregt werden, daß sie sich in Massen zu dichten Brutgemeinschaften vereinen, so wird das Lebewesen Mensch durch die Massenbildung in dichten Stadtgemeinschaften intellektuell angeregt - sie sind sozusagen die Brutkolonien menschlicher Ideen. Das macht in dieser Geschichte die Habenseite aus. Sie läßt das Ganze funktionieren trotz all der vielen Fehlschläge. Wir haben uns ein paar von diesen Fehlschlägen auf der Ebene der Gesamtgesellschaft angesehen. Es gibt sie aber genauso auf der Ebene des Individuums. Wer im riesigen Komplex der Riesenstadt lebt, leidet unter allen möglichen Belastungen, ist vielfachem Stress ausgesetzt: Lärm, verpesteter Luft, Mangel an Bewegung, Enge, Übervölkerung, Reizflut und, paradoxerweise, Vereinsamung und Langerweile.
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Man mag nun vielleicht denken, der Preis, den der Angehörige des Superstammes bezahlt, sei zu hoch. Ein friedlich stilles, behaglich beschauliches Leben sei alledem vorzuziehen. Gewiß, so denkt man. Aber genauso, wie man sich immer nur vornimmt, endlich Sport oder Gymnastik zu treiben, tut man auch in dieser Hinsicht selten wirklich etwas. Man geht nicht weiter als bis zu den Randgebieten der Großstadt mit ihren »Garten-« oder »Parkstädten«. Dort kann man sich die Atmosphäre eines Pseudostammes schaffen, fern den Mühen und Plagen der Großstadt. Aber Montagfrüh stürzt man sich erneut in die Schlacht. Man könnte ja einfach fortbleiben. Aber sofort würde man die Erregung missen, den Reiz, ein Neo-Jäger zu sein, ein verwandelter Alt-Jäger und ein Jäger nach immer Neuem - ein Jäger, der aufbricht, um in den größten und besten Jagdgründen das größte Wild zu erlegen, das seine Umwelt zu bieten hat. Sieht man die Dinge so, dann wird man erwarten, daß jede große Stadt ein Hexenkessel an Neuem und an Erfindungsreichtum sein müsse. Mit einem Dorf verglichen, mag das zutreffen. Und doch ist der Zustand in der Großstadt noch sehr weit entfernt davon, die Grenzen des explorativen Verhaltens, des Suchens, Forschens und Probierens von Neuem, zu erreichen. Das liegt daran, daß in der Gesellschaft ein grundsätzlicher Widerspruch besteht zwischen den bindenden und den schöpferischen Kräften. Die eine Kraft zielt darauf ab, die Dinge unverändert 54
und unveränderlich zu erhalten, ewig gleich, statisch. Die andere Kraft drängt zu Neuem und lehnt damit unvermeidlich das Alte ab. Genauso wie es einen Konflikt zwischen Konkurrenz und Kooperation gibt, besteht auch ein Widerstreit zwischen Konformität und Erneuerung. Nur in der Stadt hat das ständige Neuformen eine reelle Chance. Nur die Stadt aber ist mit ihrer angestauten Konformität auch stark und sicher genug, die hochexplosiven Kräfte rebellischer Originalität und Schöpfungskraft zu ertragen. Die Bilderstürmer mögen noch so wild gegen die althergebrachten Konventionen anrennen-ihre scharfen Klingen verursachen doch nur Nadelstiche in das massive Fleisch des Giganten, schaffen ihm ein angenehm prickelndes Gefühl, rütteln ihn aus dem Schlaf auf und drängen ihn zum Handeln. Dieses Erregende des Explorativen, unterstützt durch die Bindekräfte, von denen die Rede war, ist es, das so viele Städter von heute freiwillig hinter die Gitter des Menschen-Zoos sperrt. Die Zerstreuungen, Anregungen und Herausforderungen des Lebens im Superstamm sind so groß, daß sie, mit etwas Nachhilfe, gewichtiger werden als die enormen Gefahren und Nachteile. Wie aber verhalten sich die Schattenseiten zu denen des Tier-Zoos? Die Insassen des Tier-Zoos befinden sich entweder in Einzelhaft oder in einer zum Anomalen deformierten sozialen Gruppe. Das Zootier kann zwar in den Käfigen links und rechts neben dem seinen andere Tiere sehen oder 55
hören, kann aber keinerlei Kontakt mit ihnen aufnehmen. Es ist eine Ironie, daß sich die Bedingungen in der Supergesellschaft, wie sie im Leben des Stadtmenschen herrschen, auf die gleiche Weise auswirken. Die Verlassenheit in der Stadt ist ein zur Genüge bekanntes Phänomen: In der großen unpersönlichen Masse geht man allzu leicht verloren. Und leicht genug werden natürliche Familiengruppen und persönliche Stammesbeziehungen geschädigt, zerbrochen, vernichtet. Im Dorf sind alle Nachbarn persönliche Freunde, persönliche Bekannte oder, schlimmstenfalls, persönliche Feinde. Vor allem aber: Sie sind einander nicht fremd. In der Großstadt jedoch kennen viele Leute nicht einmal die Namen ihrer nächsten Nachbarn. Diese Entpersönlichung trägt begreiflicherweise einiges dazu bei, Rebellen und Neuerer zu fördern, die in einer kleineren, dem Stamm eher entsprechenden Gemeinschaft den dort noch viel stärkeren Bindekräften unterworfen wären - durch die Anforderungen seitens des Konformismus würden Rebellion und Neuerungssucht verflachen. Zugleich aber kann die paradoxe Situation der sozialen Vereinzelung inmitten der von Menschen übervollen Stadt bei vielen Insassen des Menschen-Zoos Überforderung und Elend in ganz erheblichem Ausmaß verursachen. Neben die persönliche Isolation tritt zudem noch der direkte Druck des rein körperlichen Zusammengedrängtseins. Die Evolution hat jede Tierart sich dahin entwickeln lassen, daß sie in einem Lebensraum ganz bestimmter Aus56
dehnung lebt. Im Tier- wie im Menschen-Zoo aber ist der Raum sehr ernstlich beschnitten, und die Konsequenzen können nicht minder ernst sein. Die Klaustrophobie, die krankhafte Angst vor dem Aufenthalt in geschlossenen Räumen, halten wir gemeinhin für eine anomale Reaktion. Das ist dieser Zustand in seiner extremen Form auch; in einer leichten, weniger klar erkennbaren Form jedoch ist es der Zustand, an dem sämtliche Städter leiden. Alle Maßnahmen, dem abzuhelfen, bleiben im Versuch stecken oder werden nur halben Herzens unternommen: Man lichtet bestimmte Stadtgebiete aus, um - als Scheingeste freie Flächen zu schaffen: Anlagen oder kleine Fleckchen einer »naturgemäßen Umwelt«, was man dann Parks nennt. Ursprünglich waren Parks große Jagdreviere, in denen man Wild hielt, damit reiche Superstammesangehörige ihren alten jägerischen Verhaltensweisen frönen konnten; in den Stadtparks ist nur die Pflanzenwelt erhalten geblieben. Hinsichtlich des von ihm eingenommenen Raumes ist der städtische Park nur ein Witz: Tausende von Quadratkilometern müßte er groß sein, wenn er ein wirklich naturgegebenes Maß an Bewegungsfreiheit für die riesige Stadtbevölkerung haben sollte, der er dient. Das einzige, was sich über den Park so, wie er ist, sagen läßt, ist: immer noch besser als gar nichts.
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Als Alternative für die nach Raum hungrigen Stadtmenschen bietet sich an, kurze Fahrten hinaus aufs Land zu unternehmen - und das tun sie ja denn auch mit erheblichem Eifer. Stoßstange an Stoßstange fährt man im Auto jedes Wochenende ins Freie, und Stoßstange an Stoßstange kehrt man wieder zurück. Doch das macht nichts: Man ist gewandert und hat ein größeres Heimatgebiet durchstreift. Und indem die Städter das taten, haben sie ihren Kampf gegen die unnatürlich verkrampften Raumverhältnisse in der Stadt gekämpft. Selbst wenn die überfüllten Straßen im Superstamm von heute dies zum Ritual haben werden lassen, ist es besser, als den Wochenendausflug aufzugeben. Die Lage ist für die Insassen des Tier-Zoos noch sehr viel schlechter. Ihre Form des Stoßstange-an-Stoßstange-Fahrens ist das noch stupidere Auf und Ab, Auf und Ab über den Boden ihrer Käfige. Aber auch sie geben das nicht auf. Dankbar sollten wir sein, daß wir mehr können als nur über den Fußboden unserer Wohnung hin und her zu gehen! Wir sind dem Weg des Geschehens gefolgt, der uns zu unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation geführt hat. Nun können wir beginnen, im einzelnen die verschiedenen Mittel und Methoden zu untersuchen, mit denen unser Verhalten beim Anpassen an das Leben im Menschen-Zoo Erfolg hatte oder, in manchen Fällen, verhängnisvoll gescheitert ist. 58
Status und Superstatus In jeder sozial strukturierten Gruppe von Säugetieren, gleichgültig, wie ausgeprägt das Zusammenwirken ist, gibt es stets ein Ringen um die soziale Vorherrschaft: um die Rangordnung. Indem jedes erwachsene Individuum sich an diesem Ringen um den Rang (beide Wörter haben denselben Stamm) beteiligt, erwirbt es eine bestimmte soziale Ranghöhe, die ihm in der Hierarchie der Gruppe zu seiner Stellung, seinem Status, verhilft. Die Situation bleibt freilich nie sehr lange stabil, und zwar hauptsächlich deshalb, weil die um ihren Status Kämpfenden älter werden. Sind die Ranghöchsten, »die da oben«, erst einmal alt geworden, wird ihre hohe Position angefochten, und bald werden sie von den ihnen unmittelbar Untergeordneten gestürzt. Ein neuerliches Rangeln um die Ranghöhe setzt ein, wobei jeder auf der sozialen Leiter ein kleines Stückchen höher klettert. Am ändern Ende der Stufenleiter reifen die jüngeren Angehörigen der Gruppe rasch heran - sie haben sich gegen den Druck von unten zu behaupten. Zudem können einzelne Mitglieder der Gruppe unerwartet durch Krankheit oder Unfalltod ausfallen und so Lükken hinterlassen, die schnell geschlossen werden müssen. Insgesamt zeigt sich als Ergebnis, daß der Sozialstatus unter ständiger Statusspannung steht. Unter natürlichen Bedingungen bleibt diese Spannung erträglich, und zwar wegen der begrenzten Größe der sozialen Gruppen. Wenn jedoch in der künstlichen Umwelt der Gefangenschaft eine 59
Gruppe zu groß wird oder aber der verfügbare Raum zu klein, dann gerät das Sozialgefüge völlig aus der Kontrolle; zügellos toben Kämpfe um die Vorherrschaft, und die Obersten der Horden, Rudel, Kolonien, Herden und Stämme sind äußerst schwerem Druck ausgesetzt, während die schwächsten Mitglieder der Gruppe häufig zu Tode gehetzt werden, weil die sonst bändigend wirkenden Gesten und Rituale von Drohung und Demut in blutige Gewalt ausarten. Es gibt aber noch weitere Auswirkungen. So wird derart viel Zeit mit dem wirren Gerangel um diese unnatürlichen Statusverhältnisse vertan, daß andere Aspekte des sozialen Lebens - etwa die Elternpflichten - ernstlich und zum Schaden für die Gruppe und die Art vernachlässigt bleiben. Macht schon das Beilegen von Streitereien um den Vorrang bei den noch relativ erträglich zusammengepferchten Insassen eines Tier-Zoos Schwierigkeiten, dann wird, wie leicht einzusehen, das Dilemma bei den ins Unermeßliche angewachsenen Superstämmen des Menschen-Zoos noch größer sein. In der Natur ist das wesentliche Element des Ringens um den Status die Tatsache, daß es auf den persönlichen Beziehungen der Individuen innerhalb der sozialen Gruppe beruht. Für den noch urtümlichen Menschen als Angehörigen eines Stammes war das Problem daher verhältnismäßig einfach. Doch als die Stämme sich 60
zu Superstämmen entwickelten und die Beziehungen zunehmend weniger persönlich und schließlich ganz unpersönlich wurden, da weitete sich das Problem des Status schnell zum Alpdruck des Superstatus aus. Bevor wir dieses heikle Gebiet des städtischen Lebens untersuchen, wird es nützlich sein, einen kurzen Blick auf die Grundgesetze zu werfen, die den Kampf um Ranghöhe und Vorrang bestimmen. Am besten ist es, das Schlachtfeld vom Feldherrnhügel des Ranghöchsten aus zu betrachten. Zehn goldene Regeln gibt es, die Sie befolgen müssen, wenn Sie über Ihre Gruppe herrschen und Ihre Machtstellung erfolgreich behaupten wollen. Sie gelten für alle Ranghohen - von den Pavianen bis zu den Präsidenten und Premierministern. Die zehn Gebote des Herrschens sind folgende: 1. Sie müssen deutlich Ihren "Staat" zeigen, die Posen und Gesten des Vor-Ranges Beim Mantelpavian bedeutet das einen üppig weichen, wunderbar gepflegten Pelz; eine ruhige, entspannte Haltung, sofern er nicht in Streitereien verwickelt ist; einen stolzierenden, zielbewußten Gang, wenn er zum Handeln schreitet. Sichtbare Anzeichen von Angst, Unentschlossenheit oder Zögern darf es überhaupt nicht geben. 61
Von wenigen äußerlichen Kleinigkeiten abgesehen, verhält es sich beim ranghohen Menschen genauso. Der imponierende Mantelpelz wird zum kostbaren Staatskleid des Herrschers, das geradezu dramatisch gegen die Tracht seiner Untertanen absticht. Seine Körperhaltungen entsprechen seiner einzigartigen, überragenden Rolle. Wenn er sich ausruht, darf er liegen oder sitzen, während die anderen stehen müssen, bis ihnen die Erlaubnis gegeben wird, seinem Beispiel zu folgen. Auch dies ist typisch für den Pavian-Pascha, der sich faul hinrekeln darf, während seine ängstlichen Untertanen sich in wesentlich aufmerksameren Haltungen um ihn scharen. Das ändert sich, sobald der Ranghohe zum aggressiven Handeln übergeht und sich dazu in Positur setzt. Jetzt muß er - ob Pavian oder Fürst - eine Haltung einnehmen, die ihn eindrucksvoll über seine Gefolgsleute erhebt - buchstäblich erhöht über sie und zugleich seinen psychischen Status dieser seiner körperlichen Statur anpaßt. Für den Pavian-Pascha ist das einfach: Ein Ranghoher wird fast immer größer sein als die ihm Untergeordneten. Er braucht sich nur recht in die Brust zu werfen - und schon macht seine Körpergröße alles. Gesteigert wird das noch durch das kriecherische Verhalten seiner furchtsamen Untertanen. Für den ranghohen Menschen genügt das vielleicht nicht. Deshalb können künstliche Hilfsmittel nötig werden: Die körperliche Erscheinung läßt sich optisch durch das Tragen weiter Herrschermäntel oder hoher Kopfbedeckungen unterstreichen, das Erhabensein des »Hohen Herrn« wird 62
noch unterstrichen durch das Besteigen eines Throns, einer Tribüne, eines Reittiers, irgendeines Fahrzeugs oder dadurch, daß ihn seine Untertanen emporheben - »auf den Schild« zum Beispiel. Das Kriechen der rangniederen Paviane erscheint in stilisierter Form dadurch, daß die Untertanen sich durch Verbeugen, Knicksen, Knien, durch Kotau, durch das Sich-zu-Boden-Werfen in der Proskynese wortwörtlich klein machen. Dank der unserer Spezies eigenen Findigkeit kann zudem der Ranghöchste zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Der erhöhte Thronsitz erlaubt es ihm, sich gleichzeitig den Spaß der zwanglosen Haltung des passiven Herrschers und der hoheitsvollen Positur des aktiven Herrschers zu machen, was begreiflicherweise eine imponierende Doppel-Demonstration seiner Macht bedeutet. Dieses so würdevolle Zurschaustellen des »Obenseins«, des »Führerseins«, des Herrschens, wie es das Lebewesen Mensch gemeinsam hat mit dem Pavian, gibt es bei uns auch heute noch in vielerlei Gestalt. In einer primitiven, dafür aber um so deutlicheren Form wird man es bei Generalen, Richtern, hohen Priestern und Fürstlichkeiten (soweit sie noch wirklich regieren) feststellen. Die Tendenz geht zwar heutzutage dahin, sich mit der Entfaltung all des Machtpomps auf besondere Anlässe zu beschränken. Doch wenn solche Gelegenheiten gegeben sind, dann wird Rang und Macht genauso demonstrativ zur Schau gestellt wie eh und je. Nicht einmal die gescheitesten Pro63
fessoren sind immun gegen den Antrieb, bei feierlichen Anlässen mit Glanz und Gloria von Amtsketten und Talaren zu prunken. Dort freilich, wo Kaiser und Könige dem gewählten Präsidenten oder Ministerpräsidenten haben weichen müssen, ist das persönliche Zurschaustellen des hohen Ranges weniger deutlich geworden. Es ist ein Wandel in der Betonung eingetreten, die man auf die Rolle des Führerseins legt: Der Hohe Herr neuer Prägung ist eher ein mehr oder weniger vom Zufall bestimmter Diener des Volkes, das er beherrscht, als ein Beherrscher des Volkes, dem er außerdem mehr oder weniger dient. Unterstrichen wird das Einverständnis des Hohen Herrn mit dieser Situation dadurch, daß er sich recht unauffällig kleidet - aber das ist nicht mehr als ein Trick, nur ein kleiner Betrug, den er sich leisten kann, damit er so aussieht wie ein »Mann aus dem Volk«. Allerdings wird er nicht so kühn sein, diese Bescheidenheit allzu weit zu treiben, damit er nicht, ehe er recht weiß, wie und warum ihm das geschah, tatsächlich wieder nur einer aus dem Volk ist. So muß er mit anderen, weniger eklatanten Mitteln fortfahren, die Zurschaustellung seiner Vorrangstellung zu praktizieren. Und angesichts der vielfachen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der städtischen Zivilisation ist das auch gar nicht so schwierig: Dafür, daß er die pompösen Staatsgewänder nicht mehr trägt, wird ein Ausgleich geschaffen durch künstlerische, das Exklusive betonende Ausgestal64
tung der Räume, in denen er herrscht, und der Gebäude, in denen er lebt und arbeitet. Und wenn er auf Reisen geht, wird Wert darauf gelegt zu zeigen, wer da kommt: mit Autokolonnen, »Vorreitern« (nicht mehr hoch zu Roß, sondern mit weißem Koppelzeug auf Motorrädern) und Privat- oder Staatsflugzeugen. Er wird sich nach wie vor mit einer großen Schar »berufsmäßiger Untertanen« umgeben-mit Beratern, Sekretären, Dienern, persönlichen Assistenten, Adjutanten, Leibgarden und so weiter, wobei ein Gutteil der Arbeit dieses Gefolges lediglich darin besteht, ihm jederzeit jeden Wunsch von den Augen abzulesen und damit sein Image sozialer Überlegenheit wirkungsvoll einzurahmen. Die Attitüden und Gesten des Herrschens können unverändert beibehalten werden. Da die Signale der Macht, die sie zum Ausdruck bringen, so fundamental arteigen sind für unsere Spezies, werden sie ganz unbewußt aufgenommen und akzeptiert - sie brauchen also durchaus nicht eingeschränkt werden: Die Bewegungen und Gebärden des Hohen Herrn sind ruhig und lässig, oder sie sind sicher, bestimmt, ebenso energisch wie verhalten. (Wann haben Sie je einen Präsidenten oder Ministerpräsidenten rennen sehen-außer beim freiwillig betriebenen Ausgleichssport?) Beim Gespräch benutzt er seine Augen wie Waffen. Mit festem Blick schaut er auf seine Untergebenen dann, wenn sie höflich die Augen abwenden, und wendet das Haupt dann, wenn seine Untertanen ihn aufmerksam betrachten. Nie kratzt er sich, nie zupft er an sich herum, nie zappelt er nervös, nie stottert 65
er. Derlei Reaktionen mögen Untergebenen anstehen. Wenn der Hohe Herr diese zeigt, dann ist mit ihm in seiner Rolle als dem Ranghöchsten in der Gruppe etwas faul. 2. In Augenblicken aktiver Rivalität müssen Sie Ihre Untergebenen aggressiv bedrohen Schon bei dem leisesten Anzeichen irgendeiner Herausforderung von seiten eines untergeordneten Pavians reagiert der Pascha sofort mit einem eindrucksvollen Zurschaustellen von Drohgebärden. Deren gibt es eine ganze Reihe, beginnend mit solchen, die motiviert sind durch reichlich Aggression, getönt mit etwas Angst, bis hin zu anderen, hinter denen reichlich Angst und wenig Aggression steckt. Die letzten - die »Angstdrohungen« schwacher, jedoch feindselig gestimmter Individuen - werden von einem ranghohen Tier erst gezeigt, wenn seine Vorherrschaft ins Wanken gerät. Solange seine Position gesichert ist, schreckt der Pascha ausschließlich mit den aggressivsten Drohgesten. Und in absolut sicherer Stellung kann er es sich sogar erlauben, lediglich zu zeigen, daß er die Absicht hat, zu drohen - ohne sich wirklich darum bemühen zu müssen, seine Drohungen auch wahrzumachen: Nur ein Ruck seines mächtigen Kopfes zu dem aufsässigen Untertan hin genügt schon, das rangtiefere Individuum zu bändigen. Solche nur andeutenden Handlungen - sie werden als »Intentionsbewegungen« bezeichnet — wirken bei 66
unserer menschlichen Spezies auf genau die gleiche Weise: Ein mächtiger Hoher Herr, den dieses oder jenes an seinen Untertanen reizt, braucht nur den Kopf in dessen Richtung zu bewegen und ihn mit einem durchdringenden Blick anzublitzen, um die eigene Herrschaft mit vollem Erfolg zu behaupten. Schon wenn er seine Stimme heben oder gar einen Befehl wiederholen muß, hat sich seine Macht bereits ein wenig verringert, und er wird - um schließlich die Dinge wieder in die Hand zu bekommen seinen früheren Status dadurch wiederherstellen müssen, daß er einen ernsthaften Tadel oder eine Bestrafung ausspricht. Das Heben der Stimme oder ein Wutausbruch ist nur ein schwaches Signal, wenn es vom Hohen Herrn als Antwort auf eine unmittelbare Bedrohung gezeigt wird. Beides wird jedoch von einem starken Herrscher spontan oder bewußt dazu benutzt, seine Position zu sichern, wie es ja auch der Pavian-Pascha tut, indem er unversehens seine Untertanen attackiert oder terrorisiert und so an seine Macht erinnert. Auf diese Weise holt er sozusagen Punkte auf - danach geht es dann wieder leichter, nur mit einer einzigen Kopfbewegung. Beim Menschen sieht das so aus: Der Herrscher erläßt von Zeit zu Zeit harte Gesetze, unternimmt Blitz-Inspektionen, oder er hält seiner Gruppe eine kraftvoll-kernige Rede. Falls Sie in einer führenden Position sind, so merken Sie sich dies: Es ist gefährlich, längere Zeit still, ungesehen oder unbemerkt 67
zu bleiben. Lassen die normalen Umstände eine Macht»Show« nicht zu, so müssen diese Umstände eben erfunden werden. Es genügt nicht, Macht zu besitzen. Man muß auch darauf sehen, die Macht zu behalten. Darin liegt der Wert spontanen Vorweisens von Drohgebärden! 3. In Augenblicken körperlicher Herausforderung müssen Sie (oder Ihr Beauftragter) imstande sein, Ihre Untergebenen überzeugend zu schlagen Falls eine Drohgebärde ihre Wirkung verfehlt, muß eine körperliche Attacke folgen. Für einen Pavian-Pascha ist das aus zwei Gründen ein gefährliches Vorhaben. Erstens kann bei einer körperlichen Auseinandersetzung auch der Sieger Schaden nehmen — für einen Ranghohen ist eine Verletzung schlimmer als für einen Rangtiefen: Einem weiteren Angreifer erscheint er dann nämlich weniger er- und abschreckend. Zweitens ist er den ihm Untergebenen gegenüber stets in der Minderheit; wenn er ihnen zu sehr zusetzt, ist es durchaus möglich, daß sie sich gegen ihn zusammentun und ihn mit vereinten Kräften überwältigen. Diese zwei Faktoren sind es, die das Drohen mehr als den tatsächlichen Angriff zur bevorzugten Methode der ranghohen Individuen werden lassen. Beim Menschen werden die Hohen Herren mit dieser Schwierigkeit in einem gewissen Grade dadurch fertig, daß sie sich eine »Schutztruppe« zulegen: Militär oder 68
Polizei, die für diese Aufgabe so spezialisiert und fachlich so ausgebildet ist, daß nur ein allgemeiner Aufstand der gesamten Bevölkerung Aussicht hätte, sie zu schlagen. Und in extremen Fällen wird der Despot sich noch einer weiter spezialisierten »Knüppelgarde« bedienen (etwa der Geheimpolizei), deren Aufgabe es unter anderem ist, die Schutztruppe unter Drude zu halten, falls sie nicht mehr linientreu sein sollte. Durch geschicktes Manipulieren ist es möglich, ein derartiges System stufenweise gegliederter Aggression so arbeiten zu lassen, daß über das, was geschieht, nur der Führer genügend unterrichtet und dadurch in der Lage ist, die Dinge nach seinem Wissen zu lenken: Solange keine Befehle von oben kommen, befindet sich unten alles in einem Zustand der Entschlußlosigkeit. Auf diese Weise ist der Despot von heute in der Lage, die Zügel in der Hand zu behalten. 4. Wenn eine Herausforderung mehr den Einsatz von Verstand nötig macht als den von Muskelkraft, müssen Sie imstande sein, Ihre Untergebenen an Intelligenz auszustechen Der Pavian-Pascha hat ebenso verschlagen, flink und intelligent zu sein wie kräftig und aggressiv. Das gilt für einen Hohen Herrn bei den Menschen ganz offensichtlich noch erheblich mehr. In solchen Fällen, in denen die Herrschaft durch Erbfolge weitergegeben wird, ist der geistig Beschränkte meist schnell entthront, oder er wird mehr 69
oder weniger zum Aushängeschild oder zur Marionette der wirklich Führenden. Heute gar sind diese Probleme derart komplex geworden, daß der Hohe Herr gezwungen ist, sich mit einem »Braintrust« zu umgeben, mit »Spezialisten für Verstand«; dennoch muß auch er über eine hohe Intelligenz verfügen. Denn er ist derjenige, der die endgültigen Entschlüsse präzise, klar und ohne zu zögern treffen muß. Dies ist eine so wesentliche Eigenschaft des Führers, daß eine Entscheidung schnell und entschlossen zu fällen wichtiger ist, als sich eine »richtige« abzuquälen. Nicht wenige Hohe Herren haben gelegentlich falsche Entschlüsse, die sie mit Kraft und ohne Zaudern getroffen hatten, überlebt. Aber nur wenige sind mit Unentschlossenheit durchgekommen. Die dritte goldene Regel des Führens - mag sie in einem von der Vernunft bestimmten Zeitalter noch so unbequem klingen - lautet also: Die Art und Weise, wie Sie etwas tun, zählt mehr als das, was Sie tun. Es ist traurig, aber wahr, daß ein Hoher Herr, der das Falsche auf die richtige An tut, bis zu einem gewissen Grade größere Zustimmung gewinnt und mehr Erfolg für sich buchen kann als einer, der das Richtige auf die falsche Art tut - der Fortschritt von Kultur und Zivilisation hat darunter wiederholt gelitten. Wirklich glücklich aber ist die Gesellschaft, deren Führerpersönlichkeiten die richtigen Dinge tun und gleichzeitig die zehn goldenen Regeln des Herrschens beachten, was selten genug geschieht. Zwischen 70
großmächtiger Führerschaft und anomaler Politik besteht offenbar eine unheimliche, mehr als zufällige Beziehung. Die enorme Kompliziertheit in den Bedingungen und Beziehungen des Superstammes läßt es geradezu als Fluch erscheinen, daß es nahezu unmöglich ist, bei entscheidenden Fragen klare, scharf umrissene Entscheidungen auf der Basis der Vernunft zu treffen. Was dazu an Kenntnissen benötigt wird, ist derart komplex, vielschichtig und häufig so widersprüchlich, daß jede vernünftige, rationale Entscheidung ein Übermaß an Zögern bedeutet. Der Hohe Herr des Superstammes kann sich deshalb jenen Luxus gewichtiger Zurückhaltung und »des weiteren Prüfens der Fakten«, der so typisch für den großen Gelehrten ist, gar nicht leisten: Die biologische Natur seiner Rolle als ranghohes, herrschendes Wesen zwingt ihn, eine Blitzentscheidung zu treffen - oder sein Gesicht zu verlieren. Was die Gefahr ist, liegt auf der Hand: Die Situation, so wie sie ist, begünstigt für die Rolle des Hohen Herrn unausweichlich anomale Individuen, solche, die getrieben werden von irgendeinem fanatischen Besessensein und die in der Lage sind, sich durch die Masse einander widersprechender Einsichten, wie sie die Eigenart des SuperStammes nun einmal mit sich bringt, hindurchzuschlagen. Es gehört dies zu dem Preis, den der Mensch, biologisch ein Stammesangehöriger, zu bezahlen hat, um Angehöriger des unbiologischen Superstammes zu werden. Die 71
einzige Lösung des Problems wäre offenbar die, ein brillantes, rationales, wohlausgewogenes und gründlich denkendes Hirn zu finden, das in einer charmanten, strahlenden, selbstsicheren, farbenreichen Persönlichkeit steckt. Ein Widerspruch? Ja. Unmöglich? Vielleicht. Immerhin mag uns die Tatsache, daß gerade die Größe des Superstammes, die ja Grundproblem Nr. i ist, auch buchstäblich Millionen potentieller Kandidaten anbietet, einen Hoffnungsschimmer bieten. 5. Streitigkeiten zwischen Ihren Untergebenen müssen Sie unterdrücken Wenn ein Pavian-Pascha bemerkt, daß in seiner Horde Streit um sich greift, muß er dazwischenfahren und ihn unterdrücken, und zwar auch dann, wenn der Streit ihn nicht unmittelbar selbst bedroht. Damit verschafft er sich eine weitere Gelegenheit, seine Herrschaft kundzutun, und trägt gleichzeitig dazu bei, innerhalb der Gruppe Zucht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Solches Eingreifen richtet sich vor allem gegen streitende Halbwüchsige, denen damit frühzeitig die Vorstellung von einem mächtigen Hohen Herrn in ihrer Mitte eingeprägt wird. Das diesem Verhalten beim Menschen Entsprechende ist die Handhabung der Gesetze seiner Gruppe durch den Hohen Herrn. Die Herrscher der früheren, kleineren Superstämme waren gerade in dieser Hinsicht außerordentlich aktiv; inzwischen haben sich die Dinge weiter72
entwickelt, und diese Pflichten sind mehr und mehr an andere delegiert worden, entsprechend dem zunehmenden Gewicht anderer Lasten, die noch mehr Bezug auf den Status des Hohen Herrn haben. Dennoch: Eine zerstrittene Gemeinschaft ist uneffektiv, und deshalb muß ein gewisses Maß an Kontrolle und Einfluß auf ihre Mitglieder gewahrt bleiben. 6. Belohnen Sie die Ihnen unmittelbar Untergebenen dadurch, daß Sie ihnen gestatten, die Privilegien Ihres hohen Ranges zu genießen In der Pavian-Horde gibt es neben dem Pascha stets mehrere starke, wenn auch rangtiefere Männchen. Nennen wir sie einmal »Unterführer«. Obgleich des Paschas ärgste Rivalen, bedeuten sie für ihn dann, wenn die Gruppe von außen bedroht wird, eine große Hilfe. Andererseits könnten sie, sofern sie zu hart unterdrückt werden, sich gegen den Pascha zusammenschließen und ihn absetzen. Sie genießen daher Privilegien, an denen die schwächeren Tiere der Horde nicht teilhaben. Sie haben mehr Handlungsfreiheit, und sie dürfen sich näher beim herrschenden Pascha aufhalten als die jüngeren Männchen. Bei uns Menschen hat sich noch jeder Hohe Herr, der diese Regel nicht befolgte, sehr bald in Schwierigkeiten befunden. Er braucht die Hilfe seiner Unterführer noch mehr als der Pasdia, und er befindet sich in weit größerer 73
Gefahr einer Palastrevolution als dieser. Wie vieles mehr kann sich hinter seinem Rücken abspielen! Die Methode, die Unterführer mit Privilegien zu belohnen, erfordert also hervorragendes Geschick. Jede falsche Art der Belohnung gibt dem ernstzunehmenden Rivalen zu viel Macht. Vor allem aber ist das Dilemma, daß ein wirklicher Führer sich wahrer Freundschaft nicht erfreut. Denn zu wahrer Freundschaft kommt es nur zwischen Individuen des annähernd gleichen Status-Niveaus. Natürlich gibt es Fälle, daß sich zwischen einem Herrscher und einem seiner Untertanen auf irgendeiner Ebene eine Freundschaft entwickelt, doch wird sie immer durch den Rangunterschied beeinträchtigt bleiben. Gleichgültig, wie ehrlich es die Partner bei solch einer Freundschaft meinen - Herablassung einerseits, Schmeichelei andererseits schleichen sich unvermeidlich ein und werfen ihren Schatten auf die Beziehungen. Der Hohe Herr, der ganz oben an der Spitze der sozialen Pyramide steht, ist im wahrsten Sinne des Wortes immer allein, und seine Parteifreunde sind vielleicht mehr Partei, als er zu denken wagt. Wie ich bereits gesagt habe: Das Zuteilen von Privilegien bedarf einer kundigen Hand. 7. Sie müssen die rangtiefen Angehörigen der Gruppe vor unnötiger Unterdrückung schützen In der Pavian-Horde sieht man die Weibchen, die Junge haben, sich gern um den Pascha scharen. Er wehrt 74
jeden Angriff auf diese Weibchen oder die wehrlosen Kinder mit einer wilden Attacke ab. Als Verteidiger der Schwachen sichert er das Überleben der zukünftigen Erwachsenen seiner Gruppe. Beim Menschen ist dieser Schutz der Schwachen mehr und mehr auf die Alten, die Kranken und die Invaliden ausgedehnt worden. Das hat seinen Grund darin, daß der Herrscher, will er etwas leisten, nicht allein die heranwachsenden Kinder verteidigen muß, die eines Tages die Reihen seiner Gefolgsleute stärken sollen, sondern sich auch die Mitarbeit der Erwachsenen zu sichern hat dadurch, daß er ihnen die Sorgen um die plötzliche Krankheit, mögliche Invalidität und schließlich das Alter erleichtert. Bei den meisten Menschen ist dieser Drang zum Helfen ganz natürlich entstanden als Ergebnis ihrer biologisch auf Kooperation zielenden Anlagen. Für den Herrscher aber ist es darüber hinaus eine Frage der größeren Leistungsfähigkeit seiner Untertanen, mit der er dann rechnen kann, wenn er ihnen eine ernsthafte Belastung von der Seele nimmt. 8. Hinsichtlich der sozialen Aktivitäten Ihrer Gruppe müssen Sie die Entscheidungen treffen Wenn sich der Pavian-Pascha entschließt, weiterzuziehen, wandert die ganze Horde weiter. Ruht er, so ruht die Gruppe. Frißt er, so frißt sie. All dies hat bei den Menschen der Hohe Herr selbstverständlich nicht mehr direkt in der Hand. Wohl aber vermag er eine entscheidende 75
Rolle zu spielen dadurch, daß er seine Gruppe bei mehr abstrakten Dingen in der Richtung unterstützt, die sie einschlägt. Er kann die Wissenschaft fördern oder statt dessen mehr Gewicht auf Militärisches legen. Wie bei den anderen goldenen Regeln des Führens ist es wichtig, daß er auch diese anwendet, selbst dann, wenn es nicht unbedingt notwendig erscheint. Auch bei einer Gesellschaft, die glücklich und zufrieden auf festgelegtem Kurs läuft, ist es für ihn lebenswichtig, die Richtung ab und an zu ändern, um so seinen Einfluß spürbar werden zu lassen: Es genügt keinesfalls, etwas zu ändern, das schiefgelaufen ist. Vielmehr muß er aus eigenem Entschluß und spontan darauf bestehen, daß neue Wege gegangen werden-andernfalls hält man ihn für schwach und farblos. Und wenn er keine Prioritäten und Passionen parat hat, muß er sie erfinden. Sobald sich zeigt, daß er bei bestimmten Dingen dieser und nur dieser Überzeugung ist, wird man ihn in allen Dingen ernster nehmen. Viele Hohe Herrn von heute scheinen das zu übersehen, und so mangelt es ihren politischen Grundsatzerklärungen hoffnungslos an Originalität. Wenn sie den Kampf um die Führung gewinnen, dann nicht, weil sie es mehr als ihre Rivalen verstehen, zu begeistern, sondern einfach deshalb, weil sie weniger nicht-begeisternd sind.
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9. Sie müssen sich von Zeit zu Zeit Ihrer rangtiefsten Untergebenen versichern Wenn ein Pavian-Pascha die Absicht hat, sich einem Rangtiefen friedlich zu nähern, könnte er dabei Schwierigkeiten haben, denn seine Nähe wirkt begreiflicherweise bedrohlich. Er kann das abstellen, indem er eine »Beruhigungs-Schau« vorführt. Sie besteht in einem sozusagen sanften Herankommen, ohne plötzliche oder heftige Bewegungen und begleitet von einer Ausdrucksbewegung, dem sogenannten Lippenschmatzen, das typisch für friedlich und freundlich gestimmte rangtiefere Tiere ist. Damit vermag der Pascha die Befürchtungen des schwächeren Tieres zu zerstreuen - er kann jetzt näherkommen, ohne daß sein Untertan vor Angst flieht. Beim Menschen werden Hohe Herrn, die sonst typisch unfreundlich und barsch zu ihren unmittelbaren Untergebenen sind, häufig liebenswürdig und freundlich, sobald sie in näheren Kontakt mit den Rangtiefen kommen. Ihnen gegenüber zeigen sie eine Fassade übertriebener Höflichkeit, sie lächeln, winken, schütteln unzählige Hände und herzen sogar Babys. (Und es ist eine alte Landserweisheit, daß ein General gemeinhin umgänglicher ist als ein Hauptfeldwebel.) Das Lächeln verblaßt freilich, sobald sich der Hohe Herr wegdreht und wieder in der rücksichtslosen Welt der Macht verschwindet. 77
10. Sie müssen die Initiative ergreifen, wenn es gilt, Drohungen oder Angriffe zurückzuweisen, die Ihrer Gruppe von außen entstehen Immer steht der Pavian-Pascha in der vordersten Reihe der Abwehr beim Angriff eines äußeren Feindes. Er spielt die Hauptrolle als Beschützer der Horde. Beim Pavian ist der Feind gewöhnlich ein Angehöriger einer ganz anderen gefährlichen Art, etwa ein Raubtier. Beim Menschen hingegen nimmt der Feind die Gestalt einer rivalisierenden Gruppe der gleichen Spezies an. In solchen Augenblicken wird die Führerschaft des Hohen Herrn einer harten Prüfung unterworfen, doch in einer Beziehung ist sie weniger schonungslos als in Friedenszeiten: Die Bedrohung von außen erzielt - wie im ersten Kapitel dargelegt - einen derart massiven Bindungseffekt bei den Angehörigen der bedrohten Gruppe, daß die Aufgaben des Führenden in vielfacher Hinsicht leichter werden. Je wagemutiger, je rücksichtsloser er ist, desto inbrünstiger scheint er seine Gruppe zu schützen, die, verstrickt in einen ganz von Emotionen beherrschten Kampf, niemals wagen wird, das, was er tut, in Frage zu stellen (wie sie es in Friedenszeiten tun würde), gleichgültig, wie unsinnig diese Handlungen auch sein mögen. Fortgetragen auf jener geradezu grotesken Flutwelle der Begeisterung, die der Krieg aufpeitscht, erlangt der starke Führer das, was er braucht: Mit der größten Gelassenheit vermag er den Mitgliedern seiner Gruppe, zutiefst abhängig, wie sie sind, 78
einzureden, das Töten eines anderen Menschen sei das scheußlichste Verbrechen und genau die gleiche Tat ein Akt höchster Ehre und edelsten Heldentums. Er kann kaum etwas falsch machen. Passiert ihm das doch, so läßt sich das Bekanntwerden seines groben Fehlers aus Gründen der nationalen Moral unterdrücken. Wird sein Fehler dennoch bekannt, gibt es immer noch die Möglichkeit, das Versagen mehr seinem Pech als seinem schlechten Urteilsvermögen zuzuschreiben. Hält man sich das vor Augen, dann ist es nicht verwunderlich, daß Hohe Herren selbst in Friedenszeiten gern eine Bedrohung durch diese oder jene ausländische Macht (der dann sofort die Rolle des potentiellen Feindes unterschoben wird) erfinden oder mindestens übertreiben. Noch ein klein wenig mehr — und die Bindung wird wieder für längere Zeit halten. Dieses also sind die Verhaltensweisen der Madit. Eines sei jedoch festgestellt: Ich habe hier nicht behauptet, der Vergleich zwischen Pavian-Pascha und Hohem Herrn beim Menschen sei so zu verstehen, daß wir vom Pavian abstammen oder daß unsere Methoden des Herrschern aus den ihren entstanden sind. Es gibt, weit zurück in unserer Stammesgeschichte, einen gemeinsamen Vorfahren von Pavian und Mensch, aber das ist nicht entscheidend. Das Entscheidende ist, daß die Paviane, wie unsere frühmenschlichen Ahnen, aus der üppigen Umwelt des Waldes hinausgezogen sind in die rauhere Welt des offenen Landes, der Steppe, wo ein strafferes Zusammenhalten der 79
Gruppe um des Zusammenwirkens notwendig war. Die auf Bäumen lebenden kleinen und großen Affen haben ein viel lockereres Sozialgefüge; ihre Leitaffen stehen unter weniger Druck. Der Pavian-Pascha hingegen hat eine erheblich größere Rolle zu spielen, und das ist der Grund, weshalb ich ihn als Beispiel gewählt habe. Die Nützlichkeit des Vergleichs von Pavian und Mensch liegt darin, daß er uns die eigentliche, nämlich angeborene Natur menschlichen Herrschens offenlegt. Die überraschenden Parallelen versetzen uns in die Lage, das menschliche Spiel um die Macht und mit der Macht ganz neu zu sehen, so nämlich, wie es tatsächlich ist: ein von den Grundanlagen her animalisches Verhalten. Doch lassen wir den Pavianen ihr so viel einfacheres Spiel und beschäftigen wir uns nun näher mit den Komplikationen der menschlichen Situation. Die Schwierigkeiten, mit denen der Hohe Herr heute fertig werden muß, wenn er seine Rolle als Herrschender perfekt spielen soll, sind mit Händen zu greifen. Die wahrhaft grotesk aufgeblähte Macht, die er ausübt, bedeutet insofern eine ständige Gefahr, als nur ein Individuum mit einem gleichermaßen grotesk aufgeblasenem Egoismus imstande sein wird, die Zügel des Superstammes erfolgreich zu führen. Auch werden ihn die immensen Belastungen ohne Zweifel dazu treiben, Gewaltmaßnahmen in Gang zu setzen - eine nur allzu natürliche Reaktion auf den Stress seines Superstatus. Weiterhin ist 80
seine Aufgabe so absurd kompliziert und nimmt ihn deshalb dermaßen in Anspruch, daß ihm die gewöhnlichen Probleme seiner Gefolgschaft mehr und immer mehr in die Ferne rücken. Ein guter Stammeshäuptling weiß jederzeit genau, was in jeder Ecke seiner Gruppe vor sich geht. Der Hohe Herr eines Superstammes, hoffnungslos isoliert durch seine erhabene Stellung und total in Anspruch genommen von der Maschinerie der Macht, wird schnell von jeder Beziehung zum Alltagsgeschehen abgeschnitten. Man behauptet, ein Mann müsse, um in der Welt von heute als Führerpersönlichkeit Erfolg zu haben, bereit sein, weitreichende Entscheidungen mit einem Minimum an Information zu treffen. Das freilich ist eine bestürzende Methode, einen Superstamm zu leiten - und doch geschieht es fortwährend. Denn ist heute schon das Angebot an Information für jedwedes normale Individuum zu groß, als daß es verkraftet werden könnte, so steckt noch sehr viel mehr im Labyrinth des Superstammes verborgen, das erst gar nicht zugänglich gemacht werden kann. Eine vernünftige Lösung wäre also, die Vorstellung vom großmächtigen Führer abzuschaffen, sie in die Vergangenheit des Stammesdaseins zu verbannen, denn dort allein gehört er hin, und ihn durch eine von Computern gestützte Organisation eng zusammenarbeitender Spezialisten und Experten zu ersetzen. Einer solchen Organisation Ähnliches besteht natürlich bereits; in England zum Beispiel wird einem jeder Beamte, 81
ohne mit der Wimper zu zucken, erklären, daß eigentlich die Verwaltung das Land leite. Und um dies zu unterstreichen, wird er sagen, daß seine Arbeit ernstlich behindert sei, sobald das Parlament tage; nur während der Parlamentsferien komme man ernsthaft voran. Das ist alles durchaus logisch, doch leider ist es nicht bio-logisch, und das Land, das er zu regieren behauptet, besteht nun einmal aus »Exemplaren« einer biologischen Spezies, nämlich den Superstammes-Angehörigen. Gewiß - ein Superstamm erfordert eine Superkontrolle, und wenn das zuviel ist für einen einzigen Mann, so schiene es doch vernünftig, das Problem so zu lösen, daß man eine kraftvolle Persönlichkeit durch eine kraftvolle Organisation ersetzt. Das allerdings vermag die biologischen Ansprüche der Gefolgschaft nicht zu befriedigen. Sie mag zwar imstande sein, in Kategorien des Superstammes zu denken, doch ihre Emotionen bewegen sich nach wie vor in den Kategorien des Stammes, und deshalb wird die Gesellschaft auch nicht aufhören, nach einem wirklichen Führer in der Art einer identifizierbaren Einzelperson zu verlangen. Das ist nun einmal die fundamentale Verhaltensweise ihrer biologischen Art, und ein Abweichen davon gibt es nicht. Institutionen und Computer sind vielleicht wertvolle Diener ihrer Herren, können aber niemals selbst Herren werden (trotz aller Science-Fiction-Geschichten). Einer diffusen Organisation mit ihrem gesichtslosen Mechanismus fehlen nun einmal die charakteristischen Merk82
male: Sie vermag weder zu begeistern noch kann man sie absetzen. Und deshalb ist der einzelne in hoher Rangstellung befindliche Mensch dazu verurteilt, weiter zu kämpfen, indem er sich im öffentlichen Leben wie ein Stammeshäuptling prahlerisch zuversichtlich aufführt, während er sich in und hinter den Kulissen mühselig mit den nahezu unmöglich zu bewältigenden Aufgaben der Kontrolle des Superstammes herumzuplagen hat. Trotz der großen Lasten, die heutzutage den Ranghohen auferlegt sind, trotz der entmutigenden Tatsache, daß ein ehrgeiziges männliches Mitglied des Superstammes von heute eine Chance von weniger als eins zu einer Million hat, um in seiner Gruppe das herrschende Individuum zu werden, ist noch keine spürbare Verminderung des Wunsches festzustellen, eben diesen hohen Status zu erlangen. Der Drang, auf der sozialen Leiter emporzuklimmen, ist zu alt, ist zu tief verwurzelt, als daß er von einer rationalen Bewertung der neuen Situation geschwächt werden könnte. Kreuz und quer durch unsere riesigen Gemeinwesen gibt es außerdem Hunderttausende von verhinderten Möchtegern-Führern - mit nicht der geringsten Hoffnung auf den ersehnten hohen Status. Was wird aus ihrem vereitelten Plan, die Leiter — oder, wenn man will: die Pyramide - emporzusteigen? Wohin wird sich die ganze Energie wenden? Natürlich können sie aufgeben und sich 83
zurückziehen. Doch das ist ein deprimierender Zustand. Der Fehler, den der sozial sich Zurückziehende macht, ist der, daß er sich keineswegs wirklich zurückzieht: er bleibt stehen, wo er steht, und gießt die Schale seines Hohnes und Spottes aus über die Pöstchenjägerei ringsum. Diesen nicht sehr glücklichen Status vermeidet die große Mehrheit der Superstammes-Angehörigen allerdings durch den einfachen Trick, sich um leitende Positionen in einer der spezialisierten Untergruppen des Superstammes zu bewerben. Bei manchen Gruppen ist das leichter, bei manchen schwieriger: Ein auf dem Konkurrenzkampf beruhendes Gewerbe oder Handwerk fordert geradezu automatisch eine soziale Hierarchie in seinen Reihen. Aber sogar hier könnten die Hindernisse, die dem Erringen einer wirklichen Führerstellung entgegenstehen, zu groß sein. Prompt hat das denn auch zu der nahezu wahllosen Erfindung neuer Untergruppen geführt, in denen sich der Wettbewerb um Status und Rang als lohnender erweisen könnte. Alle nur denkbaren Arten selbst der außergewöhnlichsten Kulte sind etabliert worden - buchstäblich alles, vom Kanarienvogelzüchten und dem Sammeln von alten Lokomotiven bis zum Beobachten von Fliegenden Untertassen und dem Body-building. In allen diesen Fällen ist, wie doch wohl mit Händen zu greifen, das, was man dort tut und treibt, recht wenig wichtig. Wirklich wichtig ist vielmehr, daß diese Betätigung eine neue soziale Hierarchie entstehen läßt, die vorher nicht existiert hat. In ihr entwickelt sich schnell eine ganze Reihe von 84
Regeln und Verfahren, Ausschüsse werden gebildet, und was am wichtigsten ist - es gibt Führungspositionen! Ein Champion der Zucht von Harzer-Edelroller-Kanarien oder im Body-building hätte aller Wahrscheinlichkeit nach niemals auch nur eine Chance, die ach so süßen Früchte der Macht, wann, wie und wo auch immer, zu genießen - es sei denn die Früchte, die er für seine aufopfernde leitende Tätigkeit in seiner besonderen Untergruppe erntet: im Pseudostamm. Auf diese Weise kann sich der Möchtegern-Führer gegen die deprimierend schwere soziale Decke stemmen, die sich drückend auf ihn gelegt hat, als er darum kämpfte, in dem so festgefügten Superstamm aufzusteigen. Ob Sport oder Feierabendgestaltung, ob Hobby oder »wohltätige Werke« - fast alle diese Betätigungen haben als Hauptfunktion nicht das Ziel, das sie verkünden, sondern das viel tiefer liegende, fundamentale Streben nach dem Ziel des Folge-dem-Führer-und-schlag-ihn-wenn-dukannst. Was hier dazu gesagt wird, ist jedoch, wie mit Nachdruck betont sei, eine Beschreibung und keine Kritik. Denn darüber müssen wir uns klar sein: Die Situation im Superstamm wäre noch viel kritischer, wenn diese Vielzahl harmloser Untergruppen oder Pseudostämme nicht existierte. Sie ziehen einen großen Teil der verhinderten Pyramidenkletterer an sich und damit vom Kampf um den Rang im Superstamm ab, der andernfalls beträchtliche Verheerungen zur Folge hätte. 85
Ich habe gesagt, daß die spezifische Eigenart dieser Betätigungen nur geringe Bedeutung hat. Ungeachtet dessen ist es faszinierend festzustellen, in wie vielen Sportarten und Hobbys ein Element von ritualisierter Aggression steckt - weit mehr als jedes Konkurrieren und Rivalisieren. Um ein einziges Beispiel zu nennen: Die Handlung des »Zielnehmens« ist von ihrem Ursprung her eine typisch aggressive Verhaltensweise. Sie erscheint, entsprechend umgeformt, in einer ganzen Reihe von Feierabendbetätigungen wieder, vom Kegeln über Billard, Speerwerfen, Tischtennis, Krocket, Bogenschießen, Netzball, Kricket, Tennis, Fußball, Hockey, Polo, Schießen bis zur Unterwasserjagd. Beim Kinderspielzeug und auf den Rummelplätzen ist für diese Verhaltensweise ebenfalls im Überfluß gesorgt. Und nicht anders erklärt sich zu einem guten Teil sogar die Beliebtheit der Amateurfotografie, in der das alte Handeln auf ein (Jagd-)Ziel hin nur leicht verkleidet abermals auftritt: Wir »schießen« Aufnahmen, wir »fangen« ein Motiv ein, wir machen Schnapp»schüsse«, wir kommen mit reicher »Beute« an Aufnahmen heim, und unsere Kameras sind Pistolen, unsere Rollfilme die Kugeln, Kameras mit langem Teleobjektiv Flinten und die Filmkameras Maschinengewehre. Diese und ähnliche symbolische Gleichsetzungen können sicherlich ganz nützlich sein bei dem Streben nach dem »Vorrang nach Feierabend« — erforderlich sind sie in keiner Weise. Das Sammeln der Etiketten von Streichholzschachteln würde es wohl genausogut tun, vorausgesetzt 86
natürlich, daß Sie mit dem richtigen Rivalen zusammenkommen, dem es ähnlich geht wie Ihnen und dessen Streichholzschachtel-Etiketten-Sammlung Sie zu übertrumpfen beabsichtigen. Das Verfahren, besondere und, wenn es sein muß, hochspezialisierte Untergruppen als Pseudostämme zu gründen, ist nicht die einzige Lösung, die es im Dilemma des Superstatus gibt. Es stehen auch nach lokalen Gesichtspunkten organisierte Pseudostämme zur Verfügung: Jedes Dorf, jede Stadt, jede Großstadt, jeder Landkreis, jeder Regierungsbezirk, jede Provinz und so weiter und so fort innerhalb eines Superstammes entwickelt seine eigene lokale oder regionale Hierarchie - und liefert so weitere Posten für verhinderte Superstammes-Führer. In sehr viel kleinerem Umfang hat jedes Individuum seinen sehr persönlichen, eng geschlossenen »sozialen Zirkel« von Freundschaften und Bekanntschaften: Die Namens- und Adressenlisten in seinem Notizbuch (soweit die Angaben dort nichts zu tun haben mit den rein geschäftlichen Beziehungen) geben einen guten Hinweis auf die Größe solcher Art von Pseudostämmen. Das ist ganz besonders wichtig, weil ja - wie bei einem richtigen Stamm — alle Angehörigen dieses Pseudostammes ihm persönlich bekannt sind; anders jedoch wie beim richtigen Stamm brauchen sich all diese Menschen nicht untereinander zu kennen. Die sozialen Gruppen überlappen und 87
verzahnen sich so miteinander zu einem kompliziert vernetzten Gefüge. Jedem einzelnen aber verschafft »sein« Pseudostamm einen Bereich mehr, in dem er sich selbst bestätigen, sich durchsetzen und seine führende Rolle zum Ausdruck bringen kann. Noch eine andere grundlegende Verhaltensweise des Superstammes hat dazu beigetragen, diese Riesengruppen aufzuspalten, ohne sie zu zerstören. Gemeint ist das System der sozialen Klassen. In etwa der gleichen Grundform haben die Klassen seit den Zeiten der frühesten Kulturen existiert: eine oberste oder herrschende Klasse, eine Mittelklasse, bestehend aus Kaufleuten und Fachleuten, und eine untere Klasse von Bauern und Arbeitern. Mit der wachsenden Zahl der zu jeder Klasse Gehörenden bildeten sich Untergruppen, und in vielerlei Einzelheiten gab es ebenso vielerlei Unterschiede - doch im Prinzip ist alles das gleiche geblieben. Die Tatsache, daß es verschiedene Klassen gab, ermöglichte es den Angehörigen der Klassen unterhalb der obersten, ihr Streben nach Rang und Würde auf realistische Art Wirklichkeit werden zu lassen, nämlich auf der Ebene der eigenen Klasse. Einer Klasse anzugehören ist weitaus mehr als nur eine Frage des Geldes: Ein Mann an der Spitze seiner sozialen Klasse mag sehr viel mehr verdienen als jeder Mann in der unteren Schicht der nächsthöheren Klasse. Die Befriedigung aber darüber, daß er der Erste 88
auf der eigenen Ebene ist, genügt bereits, daß er gar nicht den Wunsch hat, seinen Klassen-Stamm zu verlassen. Überlappungen dieser Art zeigen also sehr schön, welch starken Stammescharakter die Klassen angenommen haben. Die Aufspaltung des Superstammes in Klassen-Stämme hat jedoch in jüngster Zeit ernste Rückschläge erlitten. Dadurch, daß die Superstämme immer größer und größer wurden, die technischen Verfahren immer komplizierter, wurde es zwingend notwendig, den Standard der Volksbildung anzuheben, um mit der Situation Schritt halten zu können. Die verbesserte Schul- und Erwachsenenbildung aber führte - Hand in Hand mit den Fortschritten in der Massenkommunikation und besonders unter dem Druck der Massenwerbung - dazu, daß die Schranken zwischen den Klassen weithin zusammenbrachen. An die Stelle der genügsamen Behaglichkeit des »Wissens, wo man hingehört« ist die erregende und immer leichter zu realisierende Möglichkeit getreten, aus diesem »Wo-man-hingehört« herauszugelangen. Trotz alledemdas alte System des Klassen-Stammes behauptet sich zäh, und es wird sich weiter behaupten. Sehr deutlich läßt sich dieser Kampf zwischen Altem und Neuem in der ständig wachsenden Geschwindigkeit ablesen, mit der die Zyklen der Mode einander ablösen: Neue Stile in Kleidung und Schmuck, Möbel und Inneneinrichtung, Musik und Kunst erscheinen in immer schnellerer Folge. Oft hat man des89
halb behauptet, das sei das Resultat wirtschaftlicher Interessen und Spannungen, wogegen sofort eingewendet werden könnte, es müßte doch wohl genauso leicht sein, wenn nicht sogar leichter, weiterhin neue Varianten alter Kreationen zu verkaufen anstatt unentwegt neue Kreationen einzuführen. Dennoch besteht eine immer neue Nachfrage nach immer neuen Kreationen, und zwar deshalb, weil die alten heute die Schichten des Sozialgefüges so schnell durchdringen. Je rascher sie aber die unteren Schichten erreichen, desto schneller müssen sie oben durch Neues, Exklusives ersetzt werden: Niemals zuvor in unserer Geschichte hat es ein so unglaublich schnelles Nacheinander von Stil- und Geschmacksrichtungen gegeben. Die Folge ist verständlicherweise ein tiefgreifender Verlust des Gefühls der Zugehörigkeit zum Pseudostamm, wie es sich aus dem alten starren System der sozialen Klassen ergeben hatte. Aufgeholt wird dieser Verlust bis zu einem gewissen Grad durch eine neue Form der Aufspaltung des SuperStammes, die sich seit einiger Zeit bemerkbar macht: Es treten Schichtungen nach dem Alter in Erscheinung. Zwischen dem, was man den Pseudostamm der jungen Erwachsenen einerseits und den Pseudostamm der alten Erwachsenen nennen könnte, klafft bereits eine breite Lücke: Der Pseudostamm der Teenager und Twens hat ganz und gar seine eigenen Sitten und sein eigenes System von Rang und Führung, und beides unterscheidet sich 90
immer mehr von dem, was bei den »Alten« gang und gäbe ist. Das völlig neue Phänomen unerhört einflußreicher Teenageridole und Studentenführer hat die weitgreifende Abspaltung eines Pseudostammes der »unruhigen Jugend« zur Folge gehabt. Kopflose Versuche von selten des Pseudostammes der »Alten«, die neue Gruppe zu »integrieren«, sind nur von äußerst begrenztem Erfolg gewesen: Dadurch, daß man die Anführer der jungen Erwachsenen mit Ehrungen nach Art der alten Erwachsenen überhäufte oder selbst die extremsten Moden und Stile der »Jugend« tolerant akzeptierte, hat man nur neue Exzesse der Rebellion heraufbeschworen. (Würde heute zum Beispiel das Verbot des Rauchens von Marihuana ganz offiziell aufgehoben und Haschischkonsum allgemeiner Usus, dann wäre die Folge lediglich, daß sofort etwas anderes an seine Stelle träte - genauso wie der Alkohol vom Haschisch selbst abgelöst worden ist.) Wenn solche Exzesse einen Punkt erreichen, an dem die Alten die Waffen strecken oder sich weigern mitzumachen, dann dürften die Jungen sich unbesorgt eine Weile zur Ruhe setzen: In ungestörter Sicherheit können sie die Fahnen ihres neuen Pseudostammes wehen lassen und sich voller Genugtuung der Unabhängigkeit ihres Pseudostammes und ihres für sie praktikableren eigenständigen Systems von Rang und Führung erfreuen. Die ernüchternde Lehre, die daraus zu ziehen ist, heißt: Das alte biologisch begründete Bedürfnis der Spezies 91
Mensch nach Zugehörigkeit zu einem Stamm stellt eine gewaltige Kraft dar, die einfach nicht zu unterdrücken ist. In dem gleichen Tempo, in dem eine Aufspaltung des Superstammes ausgeflickt wird, tritt eine andere auf. Wohlmeinende Prominente sprechen so gern und so mutig von den »Hoffnungen auf eine weltumspannende Gesellschaft«. Wie eine solche Entwicklung technisch zu bewerkstelligen ist, sehen sie ganz deutlich vor sich: Sind nicht durch die Wunder der modernen Massenmedien alle Möglichkeiten gegeben? Doch dabei werden beharrlich die biologischen Schwierigkeiten übersehen! Eine pessimistische Ansicht? Ganz sicherlich nicht. Derlei Hoffnungen werden nur dann aussichtslos bleiben, wenn es nicht gelingt, sie mit den biologischen Bedürfnissen der Spezies Mensch unter einen Hut zu bringen. Theoretisch gibt es keinen zureichenden Grund, warum nicht innerhalb gedeihender Superstämme kleine Gruppen den angeborenen Wunsch nach Zugehörigkeit zu einem Stamm befriedigen und konstruktiv in wechselseitiger Beziehung und Durchdringung stehen sollten, während gleichzeitig die Superstämme ebenso konstruktiv aufeinander einwirken könnten, um schließlich einen mächtigen weltweiten Megastamm zu bilden. Wenn das nicht zu schaffen war und ist, so lag und liegt das doch nur daran, daß man immer wieder versucht hat, die Verschiedenheit der Gruppen zu unterdrücken statt diese 92
Unterschiede in ihrer Eigenart zu fördern und sie so in nützliche und friedliche Formen einer wetteifernden sozialen Wechselwirkung umzuwandeln. Alle Versuche, die ganze Welt in eine riesige Gleichförmigkeit plattzuwalzen, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht gar eine Katastrophe heraufführen. Das gilt für alle Ebenen - von Nationen, die sich selbständig machen, bis hin zu Cliquen, die sich losreißen. Wenn das Gefühl der sozialen Dazugehörigkeit bedroht wird, schlägt es zurück: Die Tatsache, daß es um seine Existenz kämpfen muß, bedeutet zumindest soziale Umwälzung und im schlimmsten Fall Blutvergießen. Wir werden das im einzelnen noch in einem späteren Kapitel behandeln. Im Moment müssen wir zu der Frage des sozialen Status zurückkehren und ihn auf der Ebene des Individuums prüfen. Wie also ist - genau gesehen - die Situation dieses Status-Suchers? Erstens hat er persönliche Freunde und Bekannte. Sie bilden seinen sozialen Pseudostamm. Zweitens hat er seine örtliche Gemeinschaft - seinen lokalen oder (und) regionalen Pseudostamm. Drittens hat er seine Spezialisierungen: seinen Beruf, sein Handwerk, seine Firma, seine Freizeit, seine Hobbys, seinen Sport. Sie bilden seine Spezial-Pseudostämme. Viertens hat er zumindest Spuren eines alten Klassen-Stammes und eines neuen Alters-Stammes. 93
-Alle diese Untergruppen zusammen geben ihm eine weit größere Chance, die eine oder andere Art von Rang und Führerschaft zu erreichen und so den fundamental in ihm angelegten Drang nach Status zu befriedigen, als wenn er nur einfach eine winzige Einheit innerhalb einer homogenen Masse wäre, eine menschliche Ameise, die in dem gigantischen Ameisenbau eines Superstammes herumkrabbelt. So weit, so gut. Aber auch diese Sache hat ihren Haken. Um mit der führenden Stellung zu beginnen, die man in einer begrenzten Untergruppe erreichen kann: Auch sie ist begrenzt. Sie mag eine Realität sein, aber sie bedeutet nur eine Teillösung. Die Tatsache, daß sich drumherum noch Größeres abspielt, ist einfach nicht abzuleugnen - ein großer Fisch in einem kleinen Teich kann die Träume vom großen Teich nicht einfach wegwischen. Einst war das kein sonderlich großes Problem, da ja die rücksichtslos starr eingehaltene Klassengliederung jedermann an seinem »Platz« hielt. Das mag recht und billig gewesen sein, konnte jedoch nur allzu leicht zu einem Stagnieren des gesamten Superstammes führen. Wer weniger begabt war, dem mochte mit seiner Ein- und Unterordnung durchaus gedient sein. Viele größere Talente aber wurden dadurch beengt, daß man ihre Energien für genau begrenzte
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Zwecke verschwendete: Ein potentielles Genie aus der Unterklasse hatte eine weitaus geringere Aussicht auf Erfolg als ein sich wie toll aufführender Idiot der Oberklasse. Die starre Klassenstruktur hat fraglos ihren Wert als Instrument der Spaltung. Aber sie war ein geradezu grotesk kostspieliges System, und so überrascht es nicht, daß sie schließlich zusammenbrach. Ihr Geist freilich marschiert noch weiter. Immerhin ist es heute jedoch vor allem durch die sehr viel wirksamere Meritokratie ersetzt worden, jene von Michael Young erstmals dargestellte neue Klasse der Leistungsaristokraten, deren Kennzeichen die Formel »Intelligenz plus Nutzeffekt« ist. Diese Meritokratie gibt zumindest theoretisch jedem Individuum die Möglichkeit, sein optimales Niveau zu erreichen. Dort kann es mit Hilfe der verschiedenen Pseudostammesbildungen sein soziales Dazugehörigkeitsgefuhl festigen. Das System der Meritokratie bedeutet einen erregenden Faktor. Aber es weist noch auf etwas anderes hin: Mit Erregung ist stets Anspannung verbunden. Ein wesentliches Kennzeichen der Meritokratie - die ganz gewiß das Vergeuden von Begabungen vermeidet - ist es, daß sie den Zugang zu einem geraden Kanal von ganz unten bis ganz oben eröffnet, bis hinauf zur höchsten Spitze der gewaltigen Superstammesgemeinschaft: Wenn einer aus kleinsten Verhältnissen dank seiner Leistungen schließlich der Aller95
oberste werden kann, so heißt das doch für jeden, der es nicht so weit bringt, eine Vielzahl von Fehlschlägen. Diese Fehlschläge aber kann man nun nicht länger auf das Schuldkonto von äußeren Kräften des verruchten Klassensystems schieben. Man muß ihre Ursachen dort suchen, wo sie tatsächlich stecken - in den eigenen Unzulänglichkeiten. Darum weist ganz offensichtlich jeder große, lebendige und progressive Superstamm ganz unvermeidlich einen hohen Prozentsatz an tief enttäuschten (wir können auch, wie es heute Mode ist, sagen: frustrierten) Status-Suchern auf. Und an die Stelle der stummen Genügsamkeit einer starren stagnierenden Gesellschaft sind die fieberhaften Wünsche und Ängste einer mobilen, sich entwickelnden Gesellschaft getreten. Wie reagieren nun aber die um ihren Status Ringenden auf diese Situation? Die Antwort: Wenn sie schon nicht an die Spitze gelangen, dann tun sie alles, was in ihren Kräften steht, um sich die Illusion zu verschaffen, weniger untergeordnet zu sein, als sie es in Wirklichkeit sind. Um das zu verstehen, wird es nützlich sein, hier einen Seitenblick in die Welt der Insekten zu werfen. Viele Insektenarten sind giftig oder sie enthalten unangenehm schmeckende Stoffe. Größere Tiere, die sich von Insekten ernähren, lernen es, die giftigen und ungenießbaren von den ungiftigen und genießbaren zu unterschei96
den. Die giftigen und schlecht schmeckenden aber haben durchaus ein »Interesse« daran, nicht gefangen, getötet und dann erst als »unnütz« weggeworfen zu werden. Man will schließlich auch leben. Deshalb haben sie sich Warnsignale zugelegt. Die Wespen mit ihrem Giftstachel zum Beispiel tragen eine auffällige Färbung von schwarzen und gelben Querbinden. Sie ist so charakteristisch, daß es für ein von Insekten lebendes Tier leicht ist, sich daran zu erinnern, wenn es schlechte Erfahrungen mit Wespen gemacht hat: Es lernt schnell, Insekten mit einer solchen Warnfärbung zu meiden. Auch gar nicht mit den Wespen verwandte, aber ebenfalls giftige Insektenspezies zeigen ein ähnliches Muster, bilden also mit diesen einen, wenn man will, »Warnsignal-Club«. Wichtig für uns hier ist nun, daß einige harmlose, also ungiftige und nicht durch schlecht schmeckende Stoffe geschützte Insektenarten einen Nutzen aus diesem Prinzip der Warnfarben ziehen, indem sie Färbungen ähnlich denen der giftigen Angehörigen des »Warnsignal-Clubs« entwickelten. Manche ungeschützte Fliegen und Schmetterlinge zum Beispiel ahmen die schwarzen und gelben Streifen der Wespen nach und werden auf diese Weise sozusagen schwindelhaft Mitglieder des »Warnsignal-Clubs«: Ohne wirkliches Gift, ohne wirklichen Schutzstoff ernten sie, was jene gesät haben. Insektenfressende Arten wagen es nicht, sie anzugreifen, obwohl sie in Wirklichkeit eine vorzügliche Mahlzeit darstellen würden. 97
Dieses Beispiel aus der Insektenwelt können wir in grober Analogie benutzen, um zu verstehen, was mit den menschlichen Status-Suchern geschieht. Wir brauchen nur an die Stelle des Besitzes von Gift den von Macht zu setzen: Wirklich ranghohe Individuen werden ihren Status auf vielerlei deutlich sichtbare Art kenntlich machen, in der Kleidung, die sie tragen, mit den Häusern, die sie bewohnen, in der Art zu reisen, zu sprechen, sich die Zeit zu vertreiben und zu speisen. (Ranghohe speisen, Rangtiefe essen.) Mit dem Tragen solcher sozialen Abzeichen, die eine Zugehörigkeit zum »Club der Überlegenen« signalisieren, machen sie ihren höheren Status den unter ihnen Stehenden ebenso wie den Gleichrangigen sofort sichtbar, mit dem Erfolg, daß sie ihren hohen Rang nicht ständig auf direktere Art und Weise behaupten müssen. Wie die giftigen Insekten brauchen sie ihre Feinde nicht mehr zu »stechen«: Sie brauchen nur ihre Signale zu zeigen, die verkünden, daß sie könnten, wenn sie nur wollten... Daraus folgt geradezu als Selbstverständlichkeit, daß harmlose Rangtiefe sich dem »Club der Überlegenen« anschließen und sich seine Vorteile zunutze machen, wenn sie imstande sind, die gleichen Signale zu zeigen. Wie die schwarz-gelben Fliegen und Falter, die die schwarz-gelben Wespen nachahmen, schaffen sie sich zumindest die Illusion des »Oben-Seins«. 98
Die Imitation der Wespen durch die Fliegen und ähnliche Erscheinungen heißen in der Biologie Mimikry. Und das, was wir also Rangmimikry nennen können, ist nun in der Tat zu einer Hauptbeschäftigung der Kämpfer um den Status im Superstamm geworden, und es ist wichtig, das noch genauer zu untersuchen. Zunächst ist es notwendig, klar zwischen Statussymbol und Rangmimikry zu unterscheiden: Das Statussymbol ist ein äußeres Zeichen für die Höhe des sozialen Ranges derer, die ihn tatsächlich erreicht haben. Rangmimikry ist ein äußeres Zeichen für die Höhe des sozialen Ranges, die man gern erreichen möchte, aber noch nicht erreicht hat. Für materielle Dinge heißt das: Ein Statussymbol ist etwas, das man sich leisten kann; Rangmimikry ist etwas, das man sich nicht so recht leisten kann, aber trotzdem kauft. Und so kommt es, daß Rangmimikry häufig ziemliche Verluste in anderer Richtung zur Folge hat, was bei wirklichen Statussymbolen nicht der Fall ist. Frühere Gesellschaftsordnungen mit ihren mehr starren Klassenstrukturen haben, wie sich eindeutig zeigen läßt, dem Menschen nicht sehr viel Bewegungsfreiheit zum Nachahmen der Ranghohen gegeben. Wie bereits betont, haben sich die Menschen damals eher damit zufriedengegeben, zu »wissen, wo man hingehört«. Doch ist der Drang, aufzusteigen, ein mächtiger Impuls, und Ausnah-. men hat es immer gegeben, ganz gleich, wie starr die Klassenstruktur war. Die Hohen Herrschaften, die ihre 99
Position durch Nachahmer geschwächt sahen, reagierten unangenehm: Sie führten strenge Verordnungen und Gesetze ein, die jede Rangmimikry im Zaum halten sollten. Dafür liefern die »Kleiderordnungen« ein gutes Beispiel. So gab es in England ein Gesetz des Westminster Parliament vom Jahre 1363, das genau regelte, was die Angehörigen der verschiedenen sozialen Stände anzuziehen hatten - so wichtig war diese Angelegenheit geworden. Im Deutschland der Renaissance wurde eine Frau, die sich über ihren Stand kleidete, damit bestraft, daß sie um den Hals einen schweren »Schandkragen« aus Holz tragen mußte. In Indien gab es sehr streng einzuhaltende Vorschriften, wie der Turban bei den verschiedenen Kasten zu binden war. Im England Heinrichs VIII. durfte eine Frau, deren Mann es sich nicht leisten konnte, für den Königlichen Dienst einen leichten Kavalleristen zu stellen, keine Samthauben und keine Goldketten tragen. Und im alten Neu-England durfte eine Frau nicht eher einen seidenen Schal tragen, bis ihr Mann tausend Dollar besaß. Man könnte unzählige Beispiele anführen. Heute, mit dem Zusammenbruch der Klassengliederung, sind derlei Gesetze stark beschnitten worden - sie regeln nur noch einige Sonderfälle wie Orden und Titel, bei denen es nach wie vor ungesetzlich oder zumindest sozial unerwünscht ist, sich ihrer ohne angemessenen Status zu
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bedienen. Im allgemeinen jedoch ist das ranghohe Individuum weitaus weniger gegen die Praktiken der Rangmimikry geschützt als früher. Gerächt dafür hat der Ranghohe sich recht klug und geschickt: Die Tatsache, daß rangniedrige Individuen ihn unbedingt zu kopieren wünschen, hat er akzeptiert - aber nun bietet er dem Rangtieferen leicht anzuschaffende, in Massen produzierte und deshalb weit billigere Imitationen der für den hohen Rang typischen Güter und Waren. Ein solcher Köder lockt und wird gierig verschlungen. Ein Beispiel wird zeigen, wie diese Falle arbeitet. Ranghohe Ehefrauen tragen Brillantenkolliers. Rangniedere Ehefrauen legen Straßketten um. Beide Ketten sind gut gearbeitet; Straß ist nicht teuer, aber glitzert auffallend, ist attraktiv - und erhebt keinen Anspruch, etwas anderes zu sein, als er ist. Leider hat Straß nur niedrigen Statuswert, und so wünscht sich die rangniedrige Ehefrau etwas mehr. Kein Gesetz, kein soziales Edikt kann sie hindern, ein Brillantenkollier zu tragen. Durch harte Arbeit, Sparen jeden Pfennigs und schließlich dadurch, daß sie mehr ausgibt, als sie sich eigentlich leisten darf, mag sie imstande sein, sich ein Kollier mit kleinen, aber echten Brillanten zu kaufen. Mit diesem Schritt aber - indem sie an ihrem Hals Rangmimikry treibt - beginnt sie eine Bedrohung für die ranghöhere Ehefrau zu werden. Der Unterschied im Status-Imponiergehabe wird verwischt. Also 101
bringt der ranghohe Ehemann nunmehr Halsketten mit großen falschen Brillanten auf den Markt. Sie sind billig und, wenn man nicht genau hinsieht, so attraktiv, daß die rangniedrigere Ehefrau ihre Bemühungen um die echten Brillanten aufgibt und sich auf die unechten beschränkt: Die Falle ist zugeschnappt! Eine wirkliche Rangmimikry ist verhindert worden. An der Oberfläche ist das nicht sichtbar. Die rangniedere Ehefrau, die ihr prächtig funkelndes unechtes Kollier zur Schau stellt, scheint ihre ranghohe Rivalin zu imitieren. Doch das ist eine Illusion. Der Knalleffekt ist nämlich der: Das falsche Kollier ist zu gut gearbeitet, als daß es echt sein könnte - wenn man es nämlich vergleicht mit dem sonstigen Lebensstandard der rangniederen Ehefrau. Es täuscht niemanden, und darum versagt es als Mittel der Rangerhöhung. Es ist überraschend, daß der Trick mit der von den Ranghohen manipulierten Imitation so gut und so oft funktioniert. Aber er tut es tatsächlich. Er hat sich in vielen Bereichen des Lebens bewährt und ist nicht ohne Auswirkungen geblieben: Einen beträchtlichen Teil der echten, aber offenkundig rangniederen Kunst hat er zerstört, und gleiches gilt für das Handwerk - Volkskunst
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wurde durch billige Reproduktionen der großen Meister ersetzt, Volksmusik durch die Schallplatte, bäuerliche Gebrauchskunst durch Massenherstellung von Imitationen aus Plastik, die zudem teuer sind. Schnell hat man alle möglichen Vereine und Gesellschaften zur Erhaltung der Volkskunst ins Leben gerufen, man hat diesen Trend zum Kitsch bejammert und versucht, ihn aufzuhalten und umzubiegen. Aber bestenfalls kann man noch erreichen, die Volkskultur so zu »retten«, wie etwa ein Tierpräparator einen selten gewordenen Vogel im Museum ausstopft. Von dem Moment an, wo der Wettlauf nach dem Status von ganz unten bis ganz oben einmal losgegangen war, gab es kein Zurück mehr. Wenn die Gesellschaft, wie vorgeschlagen, immer wieder gegen die düstere Uniformität dieser »neuen Monotonie« rebelliert, dann wird sie wohl eher neue kulturelle Verhaltensweisen ins Leben rufen müssen, als sich damit abzumühen, alte und tote abzustützen. Für den wirklich ernsthaften Pyramidenkletterer gibt es jedoch keine Rebellion. Die billigen Schwindeleien halten für ihn auch keine befriedigende Antwort bereit. Er sieht in ihnen, was sie sind: ein clever ausgehecktes Nebengleis, eine bloße Phantasieversion echter Rangmimikry. Die Status-Symbole seiner Rangmimikry müssen unverfälschte Artikel sein; also muß er, wenn er sie kauft, immer einen Schritt weiter gehen, als er sich leisten kann 103
- um so den Eindruck zu vermitteln, daß er - flüchtig betrachtet - sozial einen höheren Rang einnimmt, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Nur dann hat er eine Chance, mit seiner Rangmimikry Erfolg zu haben. Um der Sicherheit willen tendiert er dazu, sich auf Gebiete zu konzentrieren, wo billige Schwindeleien ausgeschlossen sind: Wenn er sich ein kleines Auto leisten kann, kauft er sich ein mittelgroßes; kann er sich ein mittelgroßes leisten, kauft er ein großes; wenn er sich ein einzelnes großes leisten kann, schafft er sich als Zweitwagen einen Flitzer an; wenn große Wagen allgemeine Mode werden, kauft er einen kleinen, aber wahnsinnig teuren ausländischen Sportwagen als »Feuerstuhl«; wenn große Schlußlichter en vogue sind, muß er das neueste Modell mit noch größeren Schlußlichtern haben, »um die Leute hinter sich wissen zu lassen, daß er vorne ist«, wie es in Inseraten heißt. Das einzige, was er nicht macht: eine Reihe Rolls-Royce-Pappmodelle im Maßstab 1: 1 kaufen, um sie vor seiner Garage zur Schau zu stellen. Es gibt keine unechten Brillanten in der Welt des fanatischen Status-Kletterers. Autos sind nur ein Beispiel, allerdings ein sehr wichtiges, weil sie so »publik« sind. Der leidenschaftliche Kämpfer um den Status kann sich aber mit ihnen nicht aufhalten. Er muß sich ins Zeug legen und sein Bankkonto nach allen Seiten ausbalancieren, wenn er angesichts seiner rang104
höheren Konkurrenten ein überzeugendes Bild liefern will: Das ganze System von Wechseln, Überziehen des Kontos, Ratenzahlungen, Hypotheken hängt in seiner Existenz ganz und gar ab von dieser Äußerung eines machtvollen Dranges aufzusteigen - mit Hilfe der Rangmimikry. Leider erlangen die extravaganten »Schmuck«sachen des unnachgiebigen Status-Suchers eine solche Wichtigkeit, daß sie mehr zu sein scheinen, als sie sind. Sie sind und bleiben aber, nach allem, doch nur Nachahmungen eines hohen Status, sind und bleiben Rangmimikry und nicht der hohe Rang selbst. Wirkliche Ranghöhe, wirklicher sozialer Status sind verknüpft mit dem Besitz von Macht und Einfluß auf die Rangniederen im Superstamm, nicht aber mit dem Besitz eines zweiten Farbfernsehgeräts. Gewiß, wenn Sie sich mühelos einen zweiten Farbfernseher leisten können, dann ist das eine selbstverständliche Widerspiegelung Ihres Status und wirkt als echtes StatusSymbol. Ein zweites Farbfernsehgerät ist jedoch, wenn Sie sich das erste Gerät nur gerade so eben haben leisten können, etwas ganz anderes. Es mag denen, die genau eine soziale Ebene über Ihnen stehen, vielleicht zeigen, daß Sie bereit sind, zu ihnen zu stoßen. Doch in keiner Weise ist gewährleistet, daß Sie das auch tun werden. Alle Konkurrenten auf Ihrer eigenen Ebene werden alles tun, daß auch sie sich ihren eigenen zweiten Farbfernseher anschaffen 105
in der gleichen Absicht wie Sie. Das fundamentale Gesetz der Hierarchie aber besagt, daß nur einige wenige aus Ihrer Ebene den Sprung auf die Ebene darüber machen werden. Diese Glücklichen können mit Recht Girlanden um ihren zweiten Farbfernseher hängen, denn ihnen ist mit ihrer Rangmimikry der Trick gelungen. Alle übrigen aber, die Machtversager, bleiben auf ihrer Ebene sitzen, umgeben von dem teuren Wirrwarr der Rangmimikry, das sich ihnen nun auf einmal als das offenbart, was es ist: Illusion von Glanz und Herrlichkeit. Es ist eine bittere Pille, sich vergegenwärtigen zu müssen, daß diese Dinge zwar eine sehr nützliche Hilfe zum erfolgreichen Besteigen der Leiter nach oben und der Pyramide von Rang und Herrschaft sein können, daß sie diesen Aufstieg aber keineswegs garantieren. Der Schaden, den das übertriebene Getue mit der Rangmimikry verursacht, kann sehr erheblich sein. Denn solch Bemühen hat für die weniger erfolgreichen Status-Sucher und Pyramidenkletterer nicht nur deprimierende Ernüchterung zur Folge, sondern es verlangt vom SuperstammesMenschen auch so gewaltige Anstrengungen, daß er kaum Zeit oder Energie für etwas anderes hat. Der männliche Status-Sucher, der in einem wahren Exzeß von Rangmimikry schwelgt, wird häufig dazu getrieben, seine Familie zu vernachlässigen. Das zwingt seine Ehegefährtin, im Hause die Rolle des männlichen Elternteils 106
zu übernehmen. Ein solcher Schritt aber läßt eine für die Kinder psychisch schädigende Atmosphäre entstehen und kann leicht die sexuelle Entwicklung der Heranreifenden nachteilig beeinflussen. Denn alles, was das Kind sehen wird, ist, daß der Vater seine führende Rolle innerhalb der Familie verloren hat. Die Tatsache, daß er sie dem Kampf um den Rang draußen, im so viel größeren Bereich des Superstammes, geopfert hat, wird dem Verstand des Kindes wenig oder gar nichts sagen können; wenn es in einem wohlausgewogenen Zustand geistiger Gesundheit aufwächst, so kann das nur überraschend sein. Und sogar für das ältere Kind, das allmählich das Wettrennen um den Status im Superstamn begreift und mit den StatusErrungenschaften seines Vaters prahlt, wird dies nur einen sehr geringen Schadensersatz für den Mangel an tätigem väterlichen Einfluß bedeuten. Trotz seines steigenden Status in der Welt draußen kann der Vater leicht zur Witzfigur der Familie werden. Das ist für unsern um Rang und Macht kämpfenden Superstammes-Mann sehr verwirrend. Hat er nicht alle Regeln beachtet? Und doch ist irgend etwas schiefgegangen.' Die Anforderungen, die der Superstamm an den Insassen des Menschen-Zoos stellt, sind in der Tat grausam. Entweder versagt man und wird desillusioniert, oder man
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hat Erfolg und verliert die Kontrolle über seine Familie. Schlimmer noch: Man kann so hart arbeiten, daß man die Kontrolle über seine Familie verliert und noch dazu versagt. Das bringt uns auf ein anderes, noch zerstörerischeres Gebaren, mit dem nicht wenige Angehörige des SuperStammes auf die Enttäuschungen des Kampfes um Rang und Herrschaft reagieren. Die Erforscher des Verhaltens der Tiere bezeichnen es als »Hingerichtete Aggression*. In guten Zeiten ist es ein unerfreuliches Phänomen, in schlechten Zeiten ein geradezu tödliches. Man kann die umgerichtete Aggression sehr deutlich beobachten, wenn zwei rivalisierende Tiere einander begegnen: Jedes möchte das andere angreifen, aber zugleich hat jedes Angst, es zu tun. Hat nun die bereits geweckte Aggression keine Möglichkeit, sich gegen den eben doch furchterregenden Gegner zu entladen, durch den sie ja ausgelöst worden ist, dann wird sie sich woanders hinwenden. Es wird ein Sündenbock gesucht, ein Prügelknabe, ein schwächeres, weniger angsteinflößendes Wesen - die aufgestaute Wut macht sich in seiner Richtung Luft. Der arme Sündenbock hat nichts, aber auch gar nichts getan, was dieses Verhalten rechtfertigen könnte. Sein einziges Verbrechen bestand darin, daß er schwächer und weniger furchteinflößend war als der eigentliche Gegner.
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Im Wettrennen um Rang und Status geschieht es nun häufig, daß ein Rangniederer nicht wagt, seinen Ärger offen gegenüber dem Ranghöheren auszudrücken. Zu vieles steht auf dem Spiel. Er wird also seinen Zorn auf etwas anderes »umrichten« — der Wutausbruch kann sich über seine bedauernswerten Kinder entladen, über seine Frau oder seinen Hund. Früher mußten auch die Flanken des Reitpferdes oder der Rücken der Zugpferde leiden heute ist es das Getriebe des Wagens, an dem er seinen Ärger ausläßt. Vielleicht erfreut er sich des Luxus eines eigenen Stabes von Untergegebenen - die kann er dann mit seiner Zunge geißeln. Und falls er in allen diesen Richtungen doch Hemmungen haben sollte, bleibt immer noch eine Person übrig: er selbst. Sich selbst kann er Magengeschwüre verabreichen ... In extremen Fällen, wenn alles total hoffnungslos erscheint, kann er die gegen sich gerichtete Aggression sogar bis zum äußersten Höhepunkt steigern: Er kann sich selbst vernichten. (Es ist bekannt, daß Tiere im Zoo, wenn sie nicht durch die Gitter zu ihren Feinden gelangen können, sich schwere Verstümmelungen zufügen, indem sie ihr Fleisch bis auf die Knochen zerbeißen. Selbstmord hingegen scheint eine ausschließlich auf den Menschen beschränkte Handlung zu sein.) Die Ansichten über die letzten Ursachen des Selbstmords sind sehr unterschiedlich. Es wird jedoch kaum jemand abstreiten können, daß die umgerichtete Aggression einen Hauptfaktor darstellt. Ein 109
Fachmann ging sogar so weit, zu erklären, daß »niemand sich selbst umbringt, solange er nicht andere töten will oder zumindest wünscht, daß andere Menschen sterben«. Das ist möglicherweise leicht übertrieben. Denn ein Mensch, der wegen der Schmerzen einer unheilbaren Krankheit Selbstmord begeht, fällt wohl kaum in diese Kategorie. Es wäre schließlich seltsam, annehmen zu wollen, der Todkranke wünsche den Arzt zu töten, weil es dem nicht gelungen ist, ihn zu heilen. Was er sich wünscht, ist, daß er sich von seinen Schmerzen befreien kann. Doch sonst scheint Umrichtung der Aggression in der Tat für eine große Anzahl von Selbstmordfällen verantwortlich zu sein. Hier einige Tatsachen, die diese These stützen. In Großstädten und Städten ist die Selbstmordquote höher als in ländlichen Gebieten. Mit anderen Worten: Wo der Kampf um den Status am heftigsten tobt, ist die relative Zahl der Selbstmörder am höchsten. Weiter: Es gibt mehr männliche als weibliche Selbstmörder, doch holen die weiblichen schnell auf. Anders ausgedrückt: Das Geschlecht, das mehr in den Kampf um Rang und Status verwickelt ist, hat die höhere Rate. Jetzt aber, mit der zunehmenden Emanzipation der Frauen und der damit verbundenen Verstrickung in den Kampf, teilen sie auch seine Gefahren. Drittens: Selbstmord wird in Zeiten wirtschaftlicher Depressionen häufiger. Das heißt: Wenn der Statuskampf zu Schwierigkeiten oben an der Spitze führt, verstärkt sich in der Hierarchie die umgerichtete Aggression nach unten - mit verhängnisvollen Ergebnissen. 110
In Kriegszeiten sinkt die Selbstmordziffer. Die Selbstmordkurven aus unseren Jahrhunderten zeigen während der beiden Weltkriege zwei gewaltige Täler. Das bedeutet: Warum sich selbst umbringen, wenn man einen anderen töten kann? Die (religiösen, ethischen, staatlichen) Verbote, einen Menschen zu töten - sie sind es, die den potentiellen Selbstmörder beherrschen und ihn hindern, so daß er gezwungen wird, seine Gewalttat umzurichten: Er hat die Wahl, einen weniger schrecklichen Sündenbock oder sich selbst zu töten. In Friedenszeiten zwingen ihn die Gebote (»Du sollst nicht töten«), sich gegen sich selbst zu wenden. In Kriegszeiten jedoch wird ihm befohlen zu töten - und die Selbstmordquote geht herunter. Zwischen Selbstmord und Mord besteht eine enge Beziehung. Es ist hier bis zu einem gewissen Grade wie mit der Münze, die zwei Seiten hat. Länder mit hohen Zahlen an Mord pflegen meist eine niedrige Selbstmordquote zu haben und umgekehrt. Es ist, als sei gerade so viel intensive Aggression vorhanden, wie man loslassen kann wenn sie nicht die eine Form annimmt, wird sie die andere annehmen. Welchen Weg sie geht, hängt davon ab, wie stark die eine oder andere Gemeinschaft dahin tendiert, Mord zu begehen. Wo die Verbote nicht recht stark sind, sinkt die Selbstmordrate. Ähnlich ist es in Kriegszeiten, in denen die Verbote des Tötens vorsätzlich und sehr wirksam gelockert, ja aufgehoben werden - die Aggression kann sich nach außen richten. 111
Im großen und ganzen sind unsere modernen Superstämme, was die Mordtaten betrifft, jedoch erstaunlich stark gehemmt. Für die Mehrzahl von uns, die nie die Münze »Mord oder Selbstmord« werfen mußten, ist es schwierig, sich in diese Konfliktsituation hineindenken zu können, obwohl es in der Theorie biologisch weniger natürlich erscheint, sich selbst zu töten als irgend jemand anderen. Trotzdem zeigen die Zahlen etwas anderes: In letzter Zeit schwanken in England die Selbstmordziffern pro Jahr um die SOOer-Grenze, während die Zahl der jährlichen (festgestellten) Mordtaten unter der 200erGrenze bleibt. Noch etwas kommt hinzu: Wenn wir die Morde betrachten, dann stellt sich etwas Unerwartetes heraus. Die meisten von uns beziehen ihre Vorstellungen über Mord und Totschlag aus Zeitungsberichten und Kriminalromanen, während Journalisten und Thrillerschreiber dazu neigen, sich auf Mordtaten zu konzentrieren, die sich als Stoff für Zeitung oder Buch gut verkaufen lassen. In Wirklichkeit aber hat die häufigste Art von Totschlag und Mord wenig schöne und meist unsaubere kleine Familienaffären zur Ursache, wobei das Opfer ein naher Verwandter ist. Im Jahre 1967 gab es in England 172 Morde; 81 davon waren für diese Art typisch. Außerdem zog in 51 Fällen der Mörder den Schlußstrich unter seine Tat damit, daß er Selbstmord beging. Viele dieser Fälle laufen so ab, daß ein Mann - dazu getrieben, seine gehemmte Aggression gegen sich selbst zu richten - zuerst seine Lieben und dann sich selbst umbringt, oft deshalb, 112
weil er es nicht ertragen zu können glaubt, sie zurückzulassen, so daß sie an dem leiden müßten, was er angerichtet hat; deshalb befördert er sie zuerst ins Jenseits. Untersuchungen solcher Fälle haben ergeben, daß dann bei dem Mörder eine interessante Veränderung eintritt: Wenn er die Tat nicht damit beendet, daß er sich schnell selbst tötet, wird er wahrscheinlich eine derart große Erleichterung von der Anspannung verspüren, daß er sich plötzlich gar nicht mehr selbst umbringen will. Die Gesellschaft hat ihn unterdrückt, hat ihn enttäuscht bis zu dem Punkt, an dem er bereit war, sich selbst das Leben zu nehmen. Jetzt hat die Vernichtung der Familie seine Rache an der Gesellschaft so wirksam zum Abschluß gebracht, daß seine Depression verschwindet und er sich befreit fühlt. Er bleibt freilich in einer üblen Situation: Leichen liegen herum, und alle Anzeichen sprechen für einen Massenmord während das, was geschehen ist, tatsächlich nur Teil eines verzweifelten Selbstmordversuches war, einer jener wahrhaft gespenstisdien Auswüchse der umgerichteten Aggression. Zum Glück verfallen die meisten von uns nicht in diese Extreme. Wenn wir nach Hause kommen, registriert unsere Familie bei uns vielleicht nicht mehr als eine gelegentlich verärgerte Stimmung. Viele Männer im Superstamm finden dann ihre Genugtuung, indem sie im Fernsehen oder im Kino zuschauen, wie die Schurken von 113
anderen umgelegt werden. Es ist doch bezeichnend, wenn man erfährt, daß in Gemeinwesen mit viel Druck von oben die Kinos einen bemerkenswert hohen Prozentsatz von Filmen zeigen, in denen Gewalttätigkeiten eine Rolle spielen. Und es läßt sich in der Tat zeigen, daß der Anklang, den Western und Thriller mit ihrem fiktiven Totschlag und Mord finden, in direktem Verhältnis steht zu dem Grad von Rang-Frustration, den man im wirklichen Leben hinnehmen muß. Da alle großen Superstämme allein schon durch ihre außerordentliche Größe immer mehr und mehr Rang-Frustrationen bewirken, nimmt die Verbreitung fiktiver Gewalttaten reißend zu, wie sich mühelos beweisen läßt, indem man den Weltabsatz der Bücher voll Mord und Totschlag vergleicht mit dem anderer Literatur: In einer jüngst erschienenen Liste der derzeitigen Weltbestseller erscheint der Name eines Autors, der sich auf die Darstellung extremer Gewalttaten spezialisiert hat, gleich siebenmal unter den ersten zwanzig — mit einer Gesamtzahl von mehr als 34 Millionen verkauften Bänden! Und beim Fernsehen ist das Bild fast das gleiche: Eine detaillierte Analyse der Fernsehsendungen des Jahres 1954 im Raum New York hat ergeben, daß innerhalb einer Woche nicht weniger als 6400 Szenen mit Aggressionshandlungen gezeigt worden sind.
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Deutlich zu erkennen ist also ein mächtiger Drang, andere Menschen zu beobachten, wie sie extremen Formen von Beherrschung, Unterdrückung und Erniedrigung bis hin zum Mord unterworfen sind. Ob das als ein wertvolles, harmloses Ventil unterdrückter Aggression dient, ist eine heißumstrittene Frage. Wie bei der Rangmimikry liegt der Grund, weshalb man sich Gewalttätigkeiten anschaut, auf der Hand. Der Wert jedoch ist zweifelhaft: Etwas über einen Verfolgungsakt zu lesen oder ihn zu beobachten, ändert doch nichts an der tatsächlichen Situation des Lesers oder Beobachters. Er mag das Erlebnis des »Als ob«, das ihn (scheinbar) in die Handlung hineinzieht, genießen. Wenn es aber vorbei ist und er in die kalte und rauhe Wirklichkeit zurückkehrt, steht er noch genauso unter Druck wie zuvor. Die Entlastung vom Druck ist daher nur vorübergehend - wie beim Kratzen eines Insektenstiches. Mehr noch: Das führt wahrscheinlich dazu, daß sich die Entzündung verschlimmert. Wiederholte Verwicklung in fiktive Gewaltakte tendiert nur dahin, das Beschäftigtsein mit dem ganzen Phänomen der Gewalt zu verstärken. Das Beste, was allenfalls darüber zu sagen ist, ist dies: Wer sich als Leser und Zuschauer mit Gewalttaten beschäftigt, vollbringt selbst keine. Wenn von der umgerichteten Aggression die Rede ist, hört sich das oft so an: »... und dann trat der Laufjunge nach der Katze« - was bedeuten würde, daß nur die rangtiefsten Angehörigen einer Hierarchie ihre aufgestaute 115
Wut an Tieren auslassen. Sehr zum Nachteil für die Tiere ist das leider aber nicht der Fall. Die Tierschutzvereine können ein Lied davon singen. Grausamkeiten gegenüber Tieren als ein Hauptventil für umgerichtete Aggression ist seit eh und je üblich gewesen, angefangen bei den frühesten Kulturen und bis auf den heutigen Tag, und sie hat sich sicherlich nicht auf die untersten Ebenen der sozialen Hierarchie beschränkt. Von den Metzeleien in den römischen Amphitheatern bis zu den Bärenhatzen des Mittelalters und den Stierkämpfen unserer Tage übt das Quälen und Töten von Tieren unleugbar eine gewaltige Anziehungskraft auf die Mitglieder der Superstammesgemeinschaften aus. Seit unsere Ahnen sich der Jagd als einer Methode des Überlebens zugewandt haben, ist den anderen Tierarten vom Menschen immer wieder und wieder Schmerz zugefügt und der Tod gebracht worden. Allerdings waren die Motive in vorgeschichtlicher Zeit andere. Damals gab es keine Grausamkeit im eigentlichen Sinne; die Definition der Grausamkeit bedeutete nicht, »an dem Schmerz eines anderen seine Freude haben« - das Tier mußte sterben, damit der Mensch leben konnte. Seitdem es Superstämme gibt, haben wir Tiere aus vier Gründen getötet: um zu Nahrung, Kleidung und anderen Dingen des Bedarfs zu kommen, um Seuchen und Schädlinge auszurotten, um weitere wissenschaftliche Erkenntnisse zu sammeln, und - um das Vergnügen des Tötens zu haben. Die ersten beiden Gründe sind die gleichen wie bei t 116
unseren frühen jägerischen Vorfahren, die beiden letzten Gründe etwas Neues, durch den Superstamm Bedingtes. Der letzte, vierte Grund beschäftigt uns hier. Die anderen drei Gründe beinhalten selbstverständlich ebenfalls Elemente der Grausamkeit, doch ist das nicht ihr wichtigstes Charakteristikum. Die Geschichte der bewußten Grausamkeit gegenüber anderen Spezies hat einen eigenartigen Verlauf genommen. Der urzeitliche Jäger fühlte sich verwandt mit den Tieren. Er achtete sie. So war es begreiflicherweise auch bei den frühen Ackerbauern und Viehzüchtern. Mit dem Augenblick jedoch, in dem die Stadtbevölkerung sich zu entwickeln begann, waren umfangreiche Menschengruppen von jedem direkten Kontakt mit den Tieren abgeschnitten, und die Achtung ging verloren. Und mit dem Anwachsen der Zivilisationen wuchs auch die Anmaßung des Menschen: Er verschloß die Augen vor der Tatsache, daß er genausoviel war wie ein Lebewesen irgendeiner anderen Spezies. Eine große Kluft tat sich auf: Jetzt hatte nur er eine Seele, die anderen Geschöpfe nicht. Sie waren nichts als seelenlose Kreaturen, zu seinem Nutzen und Vergnügen in die Welt gesetzt. Mit der Ausbreitung des Christentums begann für die Tiere ein dornenvoller Weg. Wir brauchen nicht in die Details zu gehen, doch ist es der Mühe wert zu erwähnen, daß noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts Papst Pius ix. sich weigerte, die Erlaubnis zur Eröffnung eines Tierschutzbüros in Rom zu geben 117
- mit der Begründung, der Mensch habe gegenüber seinen Mitmenschen Pflichten, nicht aber gegenüber den Tieren als niederen Wesen. Und später im selben Jahrhunden schrieb ein Jesuit: »Seelenlose Kreaturen, die keinen Verstand haben und daher keine Personen sind, können keine Rechte beanspruchen ... Deshalb haben wir gegenüber den niederen Tieren weder Pflichten der Nächstenliebe noch sonstige Pflichten, genausowenig wie gegenüber Stock und Stein.« Bei vielen Christen regten sich Zweifel, ob dieser Standpunkt der richtige sei (schließlich hatte es einen heiligen Franziskus von Assisi gegeben), doch erst als Darwins Abstammungslehre das menschliche Denken stark zu beeinflussen begann, rückten Menschen und Tiere einander wieder näher. Das Gefühl einer Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier, das für die frühen Jäger so selbstverständlich gewesen war, wurde neu belebt aus dem Wissen von der Verwandtschaft zwischen Tier und Mensch, und so kam eine zweite Ära der Achtung herauf, mit dem Ergebnis, daß sich die Haltung zur absichtlichen Grausamkeit an Tieren rapide geändert hat. Trotz wachsender nachdrücklicher Mißbilligung der Tierquälerei macht das Phänomen uns doch noch recht zu schaffen, öffentliche Schaustellungen sind zwar selten geworden, aber nichtöffentliche Grausamkeit gibt es nach wie vor. Wir achten heute vielleicht die Tiere, doch sind sie uns noch immer untergeordnet und als diese unsere Untertanen höchst ver118
wundbare Objekte für das Entladen umgerichteter Aggression. Nächst den Tieren sind die Kinder die am meisten verletzbaren Untergebenen, und in der Tat müssen sie - trotz größerer hier wirkender Hemmungen - eine Vielzahl von umgerichteter Gewalttätigkeit erleiden. Die Boshaftigkeit, mit der Tiere, Kinder und andere hilflose Untergeordnete den Quälereien ausgesetzt sind, ist ein Maß für das Gewicht der von den Ranghohen ausgeübten Pressionen. Sogar im Krieg, in dem doch das Töten glorifiziert wird, läßt sich dieser Mechanismus in seiner Wirkung erkennen: Feldwebel und andere Dienstgrade behandeln ihre Männer häufig mit extremer Rücksichtslosigkeit, nicht nur, um Disziplin zu erzielen, sondern auch, um Haß zu erwecken - mit der bewußten Absicht, daß sich dieser Haß dann »umgerichtet« gegen den Feind im Kampf wendet. Blicken wir noch einmal zurück, so können wir feststellen, wie das unnatürlich schwere Gewicht der Macht von oben, das eine unvermeidliche Eigenheit des Superstammes ist, ihren Tribut gefordert hat. Die Anomalie der Situation hat beim Lebewesen Mensch, das vor nur wenigen tausend Jahren noch ein einfacher Stammesjäger war, Verhaltensweisen entstehen lassen, die, vom Biologischen her gesehen, ebenfalls anomal sind: die übertriebene Beschäftigung mit der Rangmimikry, die Erregung beim Anschauen von Gewalttaten, die absichtliche Quälerei von Tieren, Kindern und ganz tief im Rang Stehenden, Mord 119
und Totschlag und, wenn alles übrige versagt, die Akte der Selbstquälerei und Selbstzerstörung. Unser Superstammesmann, der seine Familie vernachlässigt, um sich auf der sozialen Leiter eine Sprosse höherzuziehen, der sich an den Brutalitäten in seinen Büchern, in Film und Fernsehen weidet, der seine Hunde mit dem Fuß tritt, seine Kinder schlägt, seine Untergebenen drangsaliert, seine Opfer martert, seine Feinde mordet, sich selbst managerkrank macht und sich schließlich eine Kugel durch den Kopf jagt - dieser Superstammesmann ist kein sehr erfreulicher Anblick. Er hat oft geprahlt, einzig dazustehen in der Welt der Lebewesen - nun, von dieser Aufzählung her ist er es sicherlich auch. Es stimmt, daß es bei anderen Arten ebenfalls intensiv ausgefochtene Statuskämpfe gibt, es stimmt, daß das Erreichen von hohem Rang oft ein zeit- und energieverschwendendes Element ihres sozialen Lebens ist. In ihrer natürlichen Umwelt jedoch treiben die Tiere der Wildnis ein solches Verhalten niemals bis an die Grenzen des Äußersten, wie es so auffallend im Leben des Menschen von heute geschieht. Ich sagte es schon: Nur in den engen Gehegen der Zoologischen Gärten finden wir etwas, das dem Zustand beim Menschen gleichkommt. Sind gefangene Tiere der gleichen Art zu dicht zusammengepfercht, dann werden sich, bei der unzulänglichen Umwelt, die der Käfig ist, sicherlich sehr ernste Schwierigkeiten einstellen. Es wird zu Verfolgungen, Verstümmelungen und Tötun120
gen kommen. Neurosen werden auftreten. Aber selbst noch der unerfahrenste Zoodirektor wird niemals daran denken, Tiere so eng zusammenzupferchen, wie der Mensch in seinen Großstädten und Städten es mit sich selbst tut. Aus voller Überzeugung würde unser Zoodirektor prophezeien, daß eine derart anomale Gruppenbildung ein totales Zerbrechen, einen Kollaps des normalen sozialen Verhaltensgefüges der betreffenden Tierart zur Folge hätte. Über einen Vorschlag, derlei etwa mit seinen Affen, seinen Raubtieren oder seinen Nagetieren zu unternehmen, wird er nur als über etwas total Absurdes den Kopf schütteln. Und doch tut sich das die Menschheit selbst an: Unter genau diesen Daseinsbedingungen ringt sie sich durch und bringt es dabei doch irgendwie fertig, zu überleben. Allen Regeln zufolge müßte der Menschen-Zoo mittlerweile ein Irrenhaus voller Tobsüchtiger sein, das in ein komplettes soziales Chaos zerfällt. Zyniker mögen argumentieren, so sei es in der Tat. Aber das ist es eben nicht. Der Trend hin zu einem intensiveren, dichteren Leben ist weit davon entfernt, nachzulassen - dahinter steckt eine nie aussetzende Triebkraft. Über die Verwirrungen und Verirrungen der verschiedenen Verhaltensweisen, wie ich sie in diesem Kapitel umrissen habe, wird man gewiß verdutzt sein. Aber sie sind nicht so überraschend deshalb, weil es sie gibt, sondern weil sie so selten sind im Verhältnis zu den immensen Bevölkerungszahlen, die hiervon betroffen sein könnten. Bemerkenswert wenige der im Kampf um den Rang stehenden Superstam121
mesangehörigen unterliegen den extremen Formen, die ich hier abgehandelt habe. Auf jeden verzweifelt um Status Ringenden, auf jeden Pyramidenkletterer, Heimzerstörer, Mörder, Selbstmörder, gehetzten Hetzenden oder Magengeschwür-Aspiranten kommen Hunderte von Männern und Frauen, die nicht nur überleben, sondern sogar unter den so außergewöhnlichen Bedingungen der Massenansammlungen im Superstamm gut gedeihen. Das ist mehr als alles andere ein wahrhaft erstaunliches Zeugnis für die enorme Zähigkeit und Spannkraft, für den Genius unserer Art.
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Sex und Supersex Wenn Sie irgend etwas essen, so ist es nicht unbedingt notwendig, daß Sie auch hungrig sind. Trinken Sie etwas, so besagt das noch keineswegs, daß Sie wirklich durstig sind. Essen und Trinken haben sich im Menschen-Zoo dahin entwickelt, vielen Funktionen zu dienen. Vielleicht knabbern Sie Erdnüsse, um die Zeit totzuschlagen, oder Sie lutschen Bonbons, um Ihre Nerven zu beruhigen. Wie ein berufsmäßiger Weinkoster prüfen Sie vielleicht nur den Geschmack und spucken das Gekostete wieder aus oder aber sie kippen fünf Maß Bier hinunter, um eine Wette zu gewinnen. Unter gewissen Umständen müssen Sie sich darauf gefaßt machen, ein Schafsauge hinunterzuwürgen, um Ihren sozialen Status zu behaupten. In keinem dieser Fälle ist die Ernährung des Körpers der wirkliche Sinn der Handlung. Diese vielfältige Nutzung von fundamentalen Verhaltensweisen ist auch in der Tierwelt nicht unbekannt, nur verlängert und intensiviert im Menschen-Zoo unser angeborener Opportunismus das Verfahren. In der Theorie sollte das auf der Habenseite unserer Existenz im Superstamm verbucht werden. Es können jedoch Rückschläge eintreten, falls wir die Methode ungeschickt handhaben. Wenn wir zuviel essen, um unsere Nerven zu beruhigen, bekommen wir Übergewicht und werden krank; trinken wir zuviel von gewissen Flüssigkeiten, dann schädigen wir unsere Leber oder werden 123
gar trunksüchtig; experimentieren wir zu wild mit neuen Geschmacksrichtungen, so treten Verdauungsstörungen auf. Diese Schwierigkeiten ergeben sich, weil wir nicht in der Lage sind, das Essen und Trinken, soweit es nicht der Ernährung dient, säuberlich von seiner ursprünglich dem Stoffwechsel dienenden Rolle zu trennen. Wir lehnen die Methode der alten Römer ab, die ihre Speiseröhre mit einer Feder kitzelten, damit der Magen unerwünschte Speisen entleere, und das Vermeiden des Herunterschlukkens, wie es der berufsmäßige Weinschmecker macht, ist nicht mehr als eine vereinzelte Ausnahme von der allgemeinen Regel. Dennoch können wir uns, bei angemessener Vorsicht, an vielfachen Speisen und Getränken bis zu einem beachtlichen Ausmaß gütlich tun, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen. Was das Sexualverhalten anlangt, so ist die Situation ähnlich, doch geht es hier ungleich komplizierter zu, und es verdient unsere besondere Aufmerksamkeit - deshalb, weil es noch größere Schwierigkeiten macht, nicht auf die Fortpflanzung gerichtete sexuelle Handlungen von ihren ursprünglichen Fortpflanzungsfunktionen zu trennen. Das hat jedoch den Menschen-Zoo nicht daran gehindert, Sex in multifunktionalen Supersex umzuformen, und das trotz der Tatsache, daß die Resultate sich manchmal für das Lebewesen Mensch verhängnisvoll auswirken. Der Opportunismus des Menschen, der jede Gelegenheit wahrnimmt, kennt keine Grenzen, und so wäre es ja auch un124
begreiflich, wenn ein Verhalten, das so grundlegend und so tief befriedigend ist, keine Abwandlung durchgemacht hätte. Der Sex ist in der Tat - ungeachtet aller Gefahren von unseren sämtlichen Aktivitäten funktioneil die komplizierteste geworden: Nicht weniger als zehn Hauptkategorien lassen sich unterscheiden. Um das Bild zu klären, wird es zweckmäßig sein, die verschiedenen Funktionen des Sexualverhaltens eine um die andere zu prüfen. Dabei ist es wichtig, am Anfang zu erkennen, daß diese Funktionen - obwohl sie voneinander getrennt und einander ungleich sind, manchmal sogar zueinander in Widerspruch stehen - sich doch nicht gegenseitig ausschließen. Jede Handlung der Werbung oder Paarung kann gleichzeitig verschiedenen Funktionen dienen. Die zehn funktionellen Kategorien sind folgende: I. Zeugungs-Sex Es gibt keinen Beweis dafür, daß dieser die einzige und grundlegende Funktion des Sexualverhaltens sei. Man hat gelegentlich fälschlicherweise argumentiert, daß er die alleinige natürliche und darum »anständige« Rolle spiele. Gerade einige religiöse Gruppen, die das verlangen, halten sich paradoxerweise nicht an das, was sie predigen: Mönche, Nonnen und viele Priester üben genau bei dieser Funktion, die von ihrer Glaubensgemeinschaft als so einzigartig natürlich hingestellt wird, Selbstverleugnung. 125
Hier ist sofort auf etwas Wichtiges hinzuweisen: Wenn die Bevölkerung beängstigend zunimmt, wird der Wert der Zeugungsfunktion des Sex beträchtlich herabgesetzt. Und schließlich wird sie zum Nachteil. Denn statt ein grundlegender Medianismus des Überlebens der Art zu sein, wandelt sie sich jetzt zu einem potentiellen Mechanismus des Untergangs. So etwas geschieht gelegentlich bei Arten wie den Lemmingen und den Wühlmäusen: Sind ihre Lebensbedingungen außergewöhnlich gut, dann vermehren sie sich zu einer derartigen Bevölkerungsdichte, daß es zu chaotischen Zuständen und schließlich zu einem Zusammenbruch kommt, der enorme Verluste an Leben fordert. Unsere An macht eine solche Bevölkerungsexplosion gerade in diesem Augenblick durch - das Lebewesen Mensch wird sich sehr bald der Notwendigkeit gegenübersehen, eine »Fortpflanzungslizenz« einzuführen, ohne die es niemandem gestattet ist, neues Leben zu zeugen. Das ist eine Angelegenheit, die keineswegs auf die leichte Schulter genommen werden darf. In letzter Zeit ist es deshalb auch zu vielen hitzigen Auseinandersetzungen über diese Frage gekommen. Es lohnt sich, hier einmal beide Seiten zu Wort kommen zu lassen - ein Verfahren, das leider immer seltener wird, da die Verfechter einander in immer extremere Positionen gedrängt haben.
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Die grundlegende Frage lautet: Dürfen wir es wagen, in den Fortpflanzungsprozeß hineinzupfuschen? Oderwie die andere Seite es ausdrückt: Dürfen wir es wagen, nicht einzugreifen? Der Meinungsstreit vollzieht sich gewöhnlich auf philosophischer, ethischer oder religiöser Ebene. Doch wie wäre es, wenn wir die Sache einmal vom Biologischen her angehen? Widersetzt sich eine Gruppe Menschen wirksamen Techniken der Zeugungsbeschränkung, dann ist das für sie in zweierlei Hinsicht vorteilhaft. Erstens wird sie viel schneller Nachkommen hervorbringen als alle jene Gruppen, die sich moderner empfängnisverhütender Methoden bedienen. Indem die Gruppe zahlenmäßig zunimmt, kann sie darauf hoffen, daß sie die anderen Gruppen schließlich völlig überfluten wird - eine Tatsache, die für militärische oder geistliche Führer nicht der Attraktivität entbehrt. Der zweite Vorteil garantiert dieser Gruppe, daß ihre sozialen Grundeinheiten - die Familien - stark sind. Ein verheiratetes Paar ist ja nicht nur eine sexuelle Einheit, es ist auch eine Elterneinheit, und je mehr ein Paar mit seinen Elternpflichten beschäftigt ist, desto fester wird die Einheit. Das sind starke Argumente. Die Gegenargumente sind es aber auch. Die Verfechter der wirksamen Empfängnisverhütung können darauf hinweisen, daß es schon längst nicht mehr darum geht, ob eine Gruppe gegenüber einer 127
ändern an Boden gewinnt. Die Überbevölkerung ist ein weltweites Problem geworden, und sie muß als solches betrachtet werden. In dieser Hinsicht sind wir eine ungeheure globale Lemmingkolonie geworden, und wenn die Explosion eintritt, dann sind wir alle betroffen. Und in der Tat ist es bereits soweit. Was die Familie als Grundeinheit betrifft, so kann argumentiert werden, daß die Empfängnisverhütung keine unnatürliche Situation entstehen läßt, sondern lediglich eine natürliche wiederherstellt: Bevor es eine ärztliche Betreuung, Hygiene und andere Vorkehrungen, wie sie unser Leben heute sichern, gegeben hat, mag die Familie eine größere Anzahl von Nachkommen hervorgebracht haben. Aber ein hoher Prozentsatz von denen ist damals gestorben. Die Vorkehrungen der Empfängnisverhütung verlegen, mit Maß angewandt, diese Verluste auf einen Zeitpunkt vor der Befruchtung der menschlichen Eizelle. Wenn wir nicht eine weltweite Politik der Empfängnisverhütung betreiben, dann wird irgendein anderer Faktor wirksam werden, der unausweichlich für eine Begrenzung der Bevölkerung sorgt. Als biologische Art erreichen wir geradezu rapide den Sättigungspunkt, und sofern es uns nicht gelingt, unsere Fruchtbarkeit freiwillig herabzusetzen, muß die existierende Bevölkerung dafür büßen. Wenn Vorbeugen besser ist als Heilen, dann bleibt als 128
Wahl offensichtlich nur die Empfängnisverhütung. Und so fällt es einem schwer einzusehen, wie argumentiert werden kann, daß es schlechter sei, jemanden am Leben zu hindern, als einem dagegen zu helfen, daß er lebt. Das Individuum Mensch ist nicht einfach ein Organismus, den man unbedacht vergeuden könnte. Er ist etwas Hochqualifiziertes, das Jahre braucht, um zu wachsen und sich zu entwickeln, und es benötigt jeden Schutz, den es nur bekommen kann. Doch die Gegner der Empfängnisverhütung beharren auf ihren Ansichten. Wenn sie sich durchsetzen, werden die Scharen von Nachkommen, die infolge unterlassener Empfängnisverhütung auf die Welt kommen, nur leben, um den totalen Zusammenbruch der gesamten menschlichen Gesellschaft erleben zu müssen. 2. Paarbildungs-Sex Das Lebewesen Mensch ist biologisch angeborenermaßen eine Art mit Paarbildung. In dem Maße, in dem sich die emotionale Beziehung zwischen einem Paar potentieller Ehegefährten entwickelt, wird die Paarbildung durch die sexuellen Aktivitäten der Partner gefördert und unterstützt. Die paarbildende Funktion des Sexualverhaltens ist für unsere Art so wichtig, daß nirgends außerhalb der Paarungsphase die Sexualakte regelmäßig eine derart hohe Intensität erreichen.
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Diese Funktion ist es aber auch, die so viel Verdruß macht, wenn sie mit denjenigen Formen des Sex kollidiert, die nicht auf eine Fortpflanzung abzielen. Sogar dann, wenn der Zeugungs-Sex erfolgreich vermieden wird und keine Befruchtung eintritt, wird sich eine Paarbildung noch automatisch auszubilden beginnen, wo sie gar nicht beabsichtigt ist. Das ist der Grund, warum die zufällige Begattung häufig so viele Probleme aufwirft. Selbst wenn jemand, der eine Kopulation vollzieht, an seinem (oder ihrem) Paarbildungsmechanismus irgendwie während der Kindheit Schaden genommen hat, so daß er (oder sie) unfähig ist, sich zu »verlieben«, oder wenn da eine zeitweilige oder absichtliche Unterdrückung des Paarbildungstriebes besteht, kann eine zufällige Begattung erfolgreich sein und ohne spätere Nachwirkungen genossen werden. Doch zur Paarung sind nun einmal zwei nötig, und es kann vorkommen, daß der Partner bei einer solchen Begegnung vielleicht nicht so glücklich wird. Falls sein (oder ihr) Paarbildungsmechanismus aktiver ist, kann sich als Ergebnis der emotionalen Intensität der sexuellen Handlungen eine einseitige Paarbindung zu formen beginnen. Die unvermeidliche Folge davon ist, daß der Gesellschaft »gebrochene Herzen«, »ewige Junggesellen« und »verlassene Liebhaber« beschert werden, denen es später außergewöhnlich schwerfallen dürfte, eine neue Paarbindung mit einem anderen Partner einzugehen. 130
Nur wenn der paarbindende Mechanismus bei beiden Partnern in gleichem Maß geschädigt oder unterdrückt worden ist, kann eine gelegentliche Kopulation ohne übermäßiges Risiko vollzogen werden. Aber sogar dann besteht immer noch eine Gefahr: Die sexuelle Reaktion des einen Partners kann so stark sein, daß sie - bei ihm oder bei ihr-die Schädigung des Paarbindungsmechanismus beseitigt oder den Paarbindungstrieb enthemmt. 3. Paarbindungs-Sex Ist eine Paarbindung erfolgreich geknüpft, so haben die sexuellen Handlungen außerdem die Funktion, diese Bindung aufrechtzuerhalten und zu verstärken. Diese Aktivitäten werden zwar vollkommener und extensiver, sind in der Regel aber weniger intensiv als im Stadium der Paarbildung, da die paarbildende Funktion nicht mehr wirksam ist. Dieser Unterschied zwischen paarbildenden und paarerhaltenden (paarbindenden) Funktionen der sexuellen Aktivität wird deutlich, wenn die Partner einer lange bestehenden Ehe für einige Zeit voneinander getrennt werden-sei es durch Krieg, aus geschäftlichen Gründen oder durch irgendeine andere von außen kommende Notwendigkeit. Ist das Paar wieder vereinigt, so kommt es im typischen Falle während der ersten gemeinsamen Nächte 131
zu einem Wiederaufleben hoher sexueller Intensität - als machten sie beide einen kleinen Prozeß der Neubindung durch. An dieser Stelle gilt es einen offensichtlichen Widerspruch klarzustellen. Es gibt Kulturen, bei denen der natürliche biologische Vorgang des »Verliebens« dadurch gestört ist, daß man die Paare verheiratet, ohne je vorher gefragt zu werden, oder durch Konventionen, die das Sexuelle verabscheuen. Das Jungverheiratete Paar wird sich also in einer Situation befinden, die noch nicht einmal den Anfängen der Paarbindung entspricht, oder es ist mit starken Hemmungen hinsichtlich der Begattungshandlung belastet. In solchen Fällen werden die beiden (wenn sie Glück haben) feststellen, daß ihr Sexualverhalten erst in einem späteren Stadium intensiver wird. Ihnen muß es ja zunächst vorkommen, als ob die Phase der Paarbindung sexuell intensiver ist als das Stadium der Paarbildung - und damit sind scheinbar die Wechselbeziehungen, wie ich sie beschrieben habe, auf den Kopf gestellt. Das ist jedoch kein wirklicher Widerspruch, denn die eigentliche Phase der Paarbildung ist einfach künstlich verschoben worden. Nicht immer sind solche Paare so glücklich dran. Es geschieht in derlei Fällen nämlich häufig, daß die Einheit der Familie mehr von dem äußeren sozialen Druck abhängt, der sie zusammenhält, als von dem sehr viel tiefer 132
liegenden und deshalb verläßlicheren inneren Bindungs-, prozeß. Wenn infolgedessen also ein Ehepartner biologisch »ungebunden« bleibt, besteht beachtliche Gefahr, daß sich plötzlich eine starke außereheliche Paarbindung entwickelt. Die Fähigkeit zu wirklicher Paarbildung hat sozusagen brachgelegen, allzu bereit, sich in Handlung umzusetzen und so die offizielle »Pseudobindung« zu zerstören. Es gibt jedoch noch eine ganz andere Art des Risikos auch für ein junges Paar, das seine Ehe tatsächlich auf eine wirkliche Paarbindung stützt. Dieses Risiko wird verursacht nicht durch die Perhorreszierung des Sex, sondern eher durch ein Übermaß an prosexueller Werbung, was zu der Vorstellung verleiten kann, die sehr hohe Intensität des Stadiums der Paarbildung bestehe auch nach vollendeter Paarbildung weiter. Wenn das nicht eintrifft, wie es naturgemäß ist, bilden die beiden sich ein, etwas sei falsch gelaufen. In Wirklichkeit haben sie nur die normale sexuelle Phase der Paarbindung erreicht. Den ZeugungsSex kann man genauso übertreiben wie untertreiben - und das eine wie das andere kann zu Ärger führen. Diese ersten drei Kategorien - Zeugungs-Sex, Paarbildungs-Sex und Paarbindungs-Sex - bilden miteinander die hauptsächlichen Fortpflanzungsfunktionen im menschlichen Sexualverhalten. Bevor wir uns der Untersuchung der nicht auf Fortpflanzung abzielenden Verhaltensweisen 133
zuwenden, erscheint eine letzte allgemeine Darlegung sachdienlich. Individuen, deren Paarbindungsmechanismus auf diese oder jene Weise gestört ist, haben es gelegentlich für angemessen erachtet, zu behaupten, so etwas wie einen biologischen Paarungstrieb gebe es bei der Spezies Mensch nicht: »Schwärmerische Liebe«, wie sie es zu nennen belieben, sei eine erst sehr junge Errungenschaft und eine superartifizielle Erfindung des modernen Lebens. Der Mensch, so argumentieren sie, sei von Grund auf ungebunden, wie auch so viele seiner Affenverwandten. Dem stehen jedoch die Fakten entgegen. Gewiß - in vielen Kulturen haben wirtschaftliche Erwägungen zu einer oft außerordentlichen Verzerrung des Verhaltens der Paarbildung geführt. Doch sogar dort, wo man alles tut, um ein Zusammenstoßen dieses Verhaltens mit den geplanten und offiziellen »Pseudobindungen« zu vermeiden, gibt es trotz harter Strafandrohungen und Strafen stets Anzeichen dafür, daß es sich doch behauptet: Seit ältesten Zeiten hat es junge Liebende - auch wenn sie wußten, daß das Gesetz nicht weniger als ihr Leben fordern würde, falls man sie erwischte — trotz alledem immer wieder dazu getrieben, dieses Risiko auf sich zu nehmen. So stark also ist die Macht dieses fundamentalen biologischen Mechanismus.
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4. Physiologischer Sex Jeder gesunde Erwachsene männlichen und weiblichen Geschlechts hat einen elementaren physiologischen Bedarf an wiederholter sexueller Erfüllung. Kommt es nicht dazu, so staut sich eine physiologische Spannung auf, und schließlich fordert der Körper Entspannung. Jeder Sexualakt, der einen Orgasmus mit sich bringt, verhilft dem Individuum zu dieser Entspannung. Sogar wenn die Kopulation nicht in der Lage ist, den anderen neun Funktionen des Sexualverhaltens gerecht zu werden, kann sie doch zumindest dieses elementare physiologische Bedürfnis befriedigen. Bei einem unverheirateten, sexuell erfolglosen Mann kann ein Besuch bei einer Prostituierten dieser Funktion dienen. Eine andere Lösung, und zwar eine bei beiden Geschlechtern weit verbreitete, ist die geschlechtliche Selbstbefriedigung. Eine amerikanische Untersuchung aus neuester Zeit hat gezeigt, daß nicht weniger als 58 Prozent der Frauen und 92 Prozent der Männer dieser Kultur irgendwann in ihrem Leben bis zum Orgasmus masturbiert haben. Weil bei dieser sexuellen Handlung kein Partner benötigt wird und es darum zu keiner Befruchtung führen kann, hat man in der Vergangenheit immer wieder puritanische Versuche unternommen, das zu verhindern. So sind gerade zu diesem Thema alle möglichen seltsamen abergläubischen Vorstellungen entstanden. Man hat unter dem, was 135
einem bei Selbstbefriedigung angeblich an Fürchterlichem bevorsteht, genannt: Rückenmarksschwindsucht, Sterilität, Auszehrung, Frigidität, Anfälle, Krämpfe, Bleichsucht, Hysterie, Schwindel, Gelbsucht, Verkrümmungen, Wahnsinn, Schlaflosigkeit, Erschöpfung, Pickel, Schmerzen, Tod, Krebs, Magengeschwüre, Unterleibskrebs, Verdauungsstörungen, Kopfschmerzen, Blinddarmreizung, Herzschwäche, Nierenleiden, Hormonmangel und Erblindung. Man könnte sich über diese ungewöhnliche Sammlung von Katastrophen lustig machen, hätten diese entsetzlichen Androhungen nicht unermeßliche Seelennot und Angst verursacht - Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert. Glücklicherweise beginnt dieser irrwitzige Unfug von Aberglaube nun endlich doch an Boden zu verlieren, und mit ihm schwindet eine Menge völlig unnötiger Furcht. Wenn kein wirksames sexuelles Ventil gegeben ist, meistert der Körper selbst die Situation. Männliche wie weibliche Nichtverheiratete erleben gleichermaßen während des Schlafes einen unerwarteten Orgasmus. Die erotischen Traumerlebnisse können bei der Frau von vollständigen orgastischen Muskelreaktionen und Genitalsekreten, beim Mann von »nächtlichen Samenergüssen« begleitet werden. Unerwartete Orgasmen stellen sich sogar bei den striktest enthaltsamen und frömmsten Individuen ein, wenn sie auch mit recht unterschiedlichen Begriffen geschildert und religiöser Entrückung, Ekstase oder Trance zuge136
schrieben werden. Die heilige Teresa zum Beispiel beschreibt, wie die Vision eines Engels über sie kam: »In seinen Händen erblickte ich einen langen goldenen Speer, dessen eiserne Spitze eine Flammenzunge zu sein schien. Es war mir, als durchbohre er mehrere Male mein Herz, so daß die Spitze in mein Inneres drang. Als er den Speer herauszog, hatte ich die Vorstellung, er ziehe mein Inneres mit, und er ließ mich zurück in einer alles verzehrenden Liebe zu Gott. Der Schmerz war so jäh, daß ich mehrere Male laut aufstöhnte, und so überwältigend war die Süße, die mir der tiefe Schmerz bereitete, daß ich wünschte, sie solle nie aufhören.« Leider wissen wir viel zu wenig über die spontanen Sexualventile extremer Anhänger des Zölibats, so daß wir keine sicheren Angaben über Verbreitung oder Häufigkeit dieser Art von Orgasmus machen können. Wir wissen jedoch, daß bei Personen, die sich aktiv sexuell betätigt hatten und dann ins Gefängnis kamen, häufig eine deutliche Zunahme der Orgasmen im Traum auftrat. Einer Untersuchung an 208 weiblichen Gefängnisinsassen zufolge traf das für über 60 Prozent dieser Frauen zu. Es wäre jedoch falsch, den Eindruck zu erwecken, als dienten Orgasmen im Traum einzig und allein dem Zweck der Kompensation dergestalt, daß sie den Ertrag an Sexualität dann aufrechterhalten, wenn andere, bessere Ventile nicht vorhanden sind. Bei Prostitution und Masturbation, die auch anderen Sexualfunktionen dienen, ist 137
es natürlich mehr als nur das. Manche Individuen zum Beispiel zeigen während der Perioden, in denen sie eine ungewöhnlich hohe Frequenz aktiven Beischlafs erleben, eine zunehmende Häufigkeit von Orgasmen im Traum nach dem Prinzip des übersensitiv machenden »Je mehr er hat, je mehr er will«. Aber wie immer dem auch sei - es spricht nicht gegen die Wahrscheinlichkeit, daß der spontane Orgasmus als Reaktion auf sexuelle Enthaltsamkeit und Entbehrung eintreten kann und auch eintritt, sondern besagt lediglich, daß das Phänomen viel komplexer ist. Doch hier beschäftigt uns nur die simple Funktion des sexuellen Verhaltens, für Abbau der physiologischen Spannung zu sorgen, und es ist klar, daß dies als eine der zehn elementaren Funktionskategorien des menschlichen Sexualverhaltens einbezogen werden muß. Physiologischen Sex kann man auch bei anderen Tierarten beobachten, und es ist die Sache wert, einige Beispiele anzuführen. Wie zu erwarten, begegnet man ihm eher im Tier-Zoo als auf freier Wildbahn. Man hat viele Zootiere masturbieren gesehen, wenn sie allein gehalten wurden. Besonders häufig ist Selbstbefriedigung bei Affen und Menschenaffen. Die Männchen reizen den Penis mit der Hand oder dem Fuß, manchmal mit dem Mund und gelegentlich auch mit dem Ende des Greifschwanzes.
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Männliche Elefanten bedienen sich des Rüssels; Elefantenweibchen einer Herde, bei der es keinen Bullen gab, stimulierten sich die Genitalien gegenseitig ebenfalls mit dem Rüssel. Man hat sogar ein allein im Käfig gehaltenes Löwenmännchen beobachtet, wie es sich mit dem Rücken gegen eine Mauer aufrichtete und mit den Tatzen masturbierte. Von männlichen Stachelschweinen ist bekannt, daß sie auf drei Beinen herumliefen, während eine Vorderpfote das Genitalie hielt. Und ein männlicher Delphin hatte sich die Methode ausgedacht, seinen erigierten Penis in den kräftigen Strahl des Wasserzustroms seines Beckens zu halten. Auch Sex-Träume scheinen bei Tieren vorzukommen: Bei Hauskatzen hat man beobachtet, daß ihr Penis während des Schlafes erigierte und es schließlich zu voller Ejakulation kam. 5. Exploratorischer Sex Eine der größten Gaben des Menschen ist sein Einfallsreichtum. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren schon unsere äffischen Vorfahren mit einer Neugier von ziemlich hohem Niveau ausgerüstet, denn dies ist ein typisches Merkmal der gesamten Primaten-Sippe. Als indes unsere Urahnen vom behaglichen Urwalddasein zur jägerischen Lebensweise in der Steppe übergingen, mußten sie diese Fähigkeit zweifellos ebenso ausbauen und verstärken wie ihren elementaren Trieb, alle Details ihrer Umwelt zu erkunden. Solches Erproben wurde, wie wohl einleuchtet, 139
zum Selbstzweck, denn es ließ den Menschen zu neuen Jagdgründen und neuen Errungenschaften gelangen, indem er unentwegt forschte, immer neue Fragen stellte, niemals mit alten Antworten sich zufriedengab. Dieser Explorationsdrang wurde so mächtig, daß er sich bald auch auf alle anderen Gebiete des Verhaltens ausdehnte. Als der Zustand des Superstammes erreicht war, wurden sogar so einfache Verhaltensweisen wie die der Fortbewegung auf mögliche Veränderungen hin untersucht. Statt es beim Gehen und Laufen zu belassen, erprobten wir auch das Hopsen und Hüpfen, das Springen und das Marschieren, das Tanzen, das Gehen im Handstand und das Radschlagen, das Schwimmen und Tauchen. Die halbe Belohnung steckte allein schon im Versuch selbst, im Entdecken eines Neuen, Anderen. (Die zweite Hälfte des Lohns war das wiederholte Genießen des Neuentdeckten, doch wollen wir das im Moment außer acht lassen.) Im sexuellen Bereich führte dieser Trend zu einem weiten Spielraum an Variationen. Die Sexualpartner begannen neue Formen der wechselseitigen Stimulation zu erproben. Schon alte erotische Schriften berichten bis ins Detail von der großen Mannigfaltigkeit des Neuen im Sex, über Spannungen, Laute, Kontakte, Gerüche, über Stellungen bei der Begattung - alles Dinge, die zum Gegenstand des erotischen Versuchens wurden. 140
Es war dies eine unvermeidliche Entwicklung, die parallel lief zu ähnlicher Erkundung des von den Sinnen bei anderen Verhaltensweisen Gegebenen, etwa bei der Nahrungsaufnahme. Dennoch hat man in verschiedenen Kulturen wiederholt den Versuch unternommen, derlei zu unterdrücken, wobei als offizieller Grund der gleiche angegeben wurde, von dem wir bereits gesprochen haben: Die Verfeinerung des sexuellen Verhaltens bedeute etwas, das jenseits dessen liege, was für den Akt der Fortpflanzung nötig sei. Den wirklichen Sinn dieser Entwicklung des exploratorischen Sexualverhaltens - den nämlich, daß er daran mitwirkt, die Paarbindung zu festigen und dergestalt die so wichtige Einheit der Familie stärkt - ignorierte man. Das war aus einem besonders wichtigen Grunde geradezu verhängnisvoll. Wie ich bereits erwähnte, nimmt die Intensität des geschlechtlichen Verkehrs, die während der Phase der Paarbildung am stärksten ist, etwas ab, nachdem die Paarbindung vollzogen ist. Theoretisch ist das auch durchaus in Ordnung, wenn die Familie als Einheit sich erfolgreich auswirkt und von äußeren Kräften unbelästigt bleibt. Denn die Herabsetzung ist eine Sache der Anpassung, und zwar aus folgendem Grund: Würde der doch recht anstrengende intensive Verkehr, wie er während der Paarbildung üblich ist, unbegrenzt fortgesetzt werden, so könnte das sehr wohl die Leistungsfähigkeit der beiden Partner auf anderen Gebieten beeinträchtigen. Und die Beanspruchungen und StressSituationen des Superstammes stören nun einmal tatsäch141
iidi die Einheit der Familie. Die Pressionen von außen sind stark. Das Ersetzen der /«tensität bei der Paarbildung durch ein extensiv exploratorisches Verhalten bei der späteren sexuellen Aktivität ist also die ideale Lösung, und trotz wiederholter Unterdrückung ist es auch bei uns noch im Schwange. Nur ein Haken ist dabei: Der Reiz, neuartige Formen der sexuellen Stimulation zu erproben, dient der Familieneinheit aufs beste, wenn so etwas zwischen einem verheirateten Paar praktiziert wird. Doch kann das auch andere Formen annehmen: Der Drang nach Neuem vermag ja nämlich nicht nur beim Erkunden neuer Methoden mit einem vertrauten Partner befriedigt zu werden, sondern auch beim Erproben eines neuen Partners mit gewohnten Methoden oder, mehr, noch, durch Ausprobieren neuer Methoden mit einem neuen Partner. Die Entwicklung des Exploratorischen Sex erweist sich also als ein zweischneidiges Schwert: Da die Kulturen des Superstammes immer mehr Wert auf die Nutzung unseres explorativen Verhaltens legen-unser ganzes System der Erziehung und Ausbildung, unsere Kenntnisse und Erkenntnisse, unsere Kunst, Wissenschaft und Technik hängen schließlich davon ab-, hat sich der exploratorische Drang in allen anderen Bereichen unseres Verhaltens ähnlich verstärkt. Im Sexualbereich freilich hat das seine Schwierigkeiten. Der Gedanke, daß eine verheiratete Frau 142
an einem Kursus in Begattungstechnik mit praktischen Übungen teilnimmt oder daß sich ein Ehemann in einer Sexsportschule fit macht, wird von den Sexualpartnern als höchst anstößig empfunden, da er mit der tiefverwurzelten Ausschließlichkeit des Mechanismus der Paarbindung kollidiert. Sexuelle Erkundungen und Versuche muß man deshalb fern vom Partner allein und heimlich unternehmen - und damit betritt eine neue Gefahr den Schauplatz: der Verrat an der Paarbindung. Der alte soziale Kern unserer Art - die Einheit der Familie - hat darunter gelitten, und dennoch hat sie es irgendwie fertiggebracht, auch das zu überstehen. Diese Schwierigkeiten gäbe es nicht, wenn wir eine andere Art wären, wenn wir wie die Schildkröten Eier legen, im Sand verscharren, dann wegkriechen und das Ausbrüten dem Sand und der Sonne überlassen wollten. Für uns jedoch, denen schwere elterliche Verpflichtungen auferlegt sind, bergen sexuelle Experimente außerhalb der Paarbindung zwei Gefahren in sich: Sie provozieren nicht nur zahlreiche Fälle von sexueller Eifersucht, sondern fördern außerdem das zusätzliche Entstehen neuer Paarbindungen, die zu lang anhaltenden Schäden bei den Kindern der betroffenen Familie führen. Sexuelle Dreiecks- und ähnliche Verhältnisse, Gruppensex und Sexualkommunen mögen von Zeit zu Zeit funktioniert haben, anscheinend ist aber ein völliges Gelingen immer nur eine vereinzelte Ausnahme gewesen, die beschränkt geblieben ist auf un143
gewöhnliche, einzigartige Persönlichkeiten. Und nur die strengste Kontrolle aller Beteiligten durch den Verstand wird einen reibungslosen Ablauf von Sexualexperimenten dieser Art ermöglichen. Sogar der doch recht verbreiteten Einrichtung des Harems ist es — wenn man sie einmal vor dem breiten Hintergrund des Erfolges unter den Bedingungen des Superstammes prüft - nicht sonderlich gut ergangen; einige Gelehrte haben mit vorwurfsvoll erhobenem Zeigefinger auf sie als auf einen wesentlichen Faktor beim sozialen Abstieg der betreffenden Kulturen hingewiesen. Wie bei den anderen neun Kategorien des sexuellen Verhaltens ist die explorative Funktion so elementar, daß man sie auch bei anderen Tierarten feststellen kann. Da der Exploratorische Sex einen hohen Grad an Erfindungsgabe erfordert, überrascht es nicht, daß er im allgemeinen auf die höheren Primaten beschränkt ist. Im besonderen kennt man von den großen Menschenaffen eine ansehnliche Reihe sexueller Experimente, wenn die Tiere unter den Bedingungen der Gefangenschaft leben. Dazu gehört eine Reihe von Stellungen bei der Begattung, die man bei ihren frei lebenden Artgenossen nie beobachtet hat.
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6. Sex an sich Man kann unmöglich eine vollständige Liste der Funktionen des Sex aufstellen, ohne eine Kategorie einzubeziehen, die auf der Vorstellung beruht, daß es so etwas wie »Sex um des Sex willen« gibt; also eines Sexualverhaltens, dessen Betätigung ihren Lohn in sich selbst trägt, ohne alle sonstigen Gegenleistungen. Diese Funktion ist eng verbunden mit dem Exploratorischen Sex, jedoch eigenständig. Die Beziehung zwischen Exploratorischem Sex und Sex an sich ähnelt sehr der Beziehung zwischen dem Erkunden und dem Spielen eines Spiels oder der Beziehung zwischen ziellosem Spiel und geordnetem Spiel bei Kindern. Wenn Kinder in eine neue Umwelt für ihr Spiel ausbrechen, toben sie anfangs meist ziellos herum und untersuchen alles, was es da gibt. Mit der Zeit gibt sich dieses nahezu ungerichtete Verhalten und geht über in eine mehr geordnete Abfolge. Es kommt zu strukturiertem Handeln - ein bestimmtes Spiel ist entstanden. So mag sich eine bestimmte Umwelt zu einem Kletterspiel eignen, eine andere zum Versteckspiel, eine dritte zu einem Fangenspiel, und hat sich solch ein Spiel erst einmal entwickelt, dann wird es auch bei späteren Gelegenheiten ohne Veränderungen eifrig wiederholt. Und wenn es sich als lohnend erweist, wird es immer wieder und wieder gespielt werden, auch
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dann, wenn es keine Neuigkeit mehr ist. Das anfänglich ziellose Verhalten war so aufregend, weil es exploratorisdies Spiel war; das später wiederholte ist aufregender als »Spiel an sich«. Die Parallele zwischen Exploratorischem Sex und Sex an sich ist wohl deutlich genug. Zwischen Ehepartnern kommt es zu vielen höchst befriedigenden Begattungshandlungen, die bewußt nicht auf Fortpflanzung abzielen, weit über die Forderungen der Erhaltung des Paares hinausgehen und auch keine Experimente auf der Suche nach Neuem beinhalten. Und damit fallen sie unter die hier behandelte Kategorie: Sie stellen Sex an sich dar oder - wenn man so will - pure Erotik. Für die den Begattungsakt Ausübenden sind sie das, was die Feinschmeckerei für den Esser ist oder das Ästhetische für den Künstler. Denn es ist doch wohl reichlich inkonsequent, Lobeshymnen auf erlesene lukullische Genüsse zu singen oder auf raffinierte ästhetische Erlebnisse und im gleichen Atemzug wunderbare erotische Erlebnisse zu verdammen. Doch gerade das hat man oft genug getan. Ganz gewiß kann übertriebene Ausschweifung manchmal Probleme schaffen - aber das gilt genauso für maßlose Feinschmeckerei oder übertriebene Ästhetik. Unmäßige sexuelle Betätigung kann sich als derart erschöpfend erweisen, daß für anderes nur wenig Energie übrigbleibt. Die Lebensordnung gerät aus dem Gleichgewicht, genauso wie unmäßiges Schwelgen beim Essen gefährliche Korpulenz und Verlust der physi146
schen Gesundheit verursachen und unmäßiges Verbohren in ästhetische Probleme zu einer schädigenden Mißachtung anderer Aspekte des sozialen Lebens führen kann. Die gleichen Grundregeln gelten für jeden dieser Fälle. Das Beschäftigtsein mit einer Handlung um der Handlung selbst willen deutet auf die Existenz eines beträchtlichen Maßes an freier Zeit und auf überschüssige Energie. Das aber besagt umgekehrt, daß für die Grundbedürfnisse des Überlebens gesorgt ist. Bei den Menschen bedeutet das eine großstädtisch strukturierte Gemeinschaft, bei den Tieren das Leben in einem Zoo, wo das Futter geliefert wird und die Feinde ferngehalten sind. So ist es gar nicht einmal überraschend, daß wir dort die Beispiele für Hypersexualität bei Tieren finden. 7. Beschäftigungs-Sex Diese Art des Sex wirkt als Beschäftigungstherapie oder - wenn Sie eine andere Formulierung vorziehen - als Mittel gegen die Langeweile. Mit der im vorigen Abschnitt behandelten Kategorie ist sie eng verwandt, doch läßt sie sich wiederum deutlich von ihr abgrenzen. Zwischen Freizeit und Langeweile muß man wohl unterscheiden. Sex an sich kann sich anbieten als eine der vielen Möglichkeiten, die verfügbare freie Zeit konstruktiv zu nutzen dann, wenn auch nicht das leiseste Anzeichen irgendeines Symptoms von Langeweile am Horizont erscheint. Seine Funktion ist ein positives Streben nach sinnhafter Befrie147
digung. Beschäftigungs-Sex dagegen funktioniert als therapeutisches Mittel gegen einen negativen Zustand, wie er durch eine sterile und eintönige Umgebung hervorgerufen worden ist. Schon leichte Langeweile läßt Lustlosigkeit und einen Mangel an Richtung oder Motivation entstehen. Massive Langeweile in einer wirklich öden, leeren Umgebung hat eine ganz andere Wirkung. Ihre Folgen sind Angstzustände, Unruhe, Reizbarkeit und eventuell Wutanfälle. Experimente mit Studenten, die, jeder für sich allein, in kahlen Einzelzellen untergebracht wurden, vor den Augen undurchsichtige Schutzbrillen, an den Händen unförmige Fäustlinge, so daß ein feineres Zugreifen unmöglich war, hatten wahrhaft erschreckende Ergebnisse: Mit fortschreitender Zeit wurden die Versuchspersonen zunehmend unfähig, sich zu entspannen. Sie machten denkbar große Anstrengungen, alle nur möglichen belanglosen Handlungen zu erfinden, soweit sie diese unter den eng begrenzten Bedingungen ausführen konnten. Sie begannen zu pfeifen, Selbstgespräche zu führen, Rhythmen zu klopfen - irgend etwas, nur um die Monotonie zu unterbrechen, wie absurd auch immer die Handlung sein mochte. Nach mehreren Tagen litten sie unter schweren Stress-Symptomen und empfanden die Zustände als so unerträglich, daß das Experiment abgebrochen werden mußte.
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Massive Langeweile ist keine Sache des Herumliegens und Nichtstuns, sie ist genau das Gegenteil: Es ist ein Punkt erreicht, an dem man zu jeder Handlung bereit ist, wenn man damit nur irgendeine Art von Verhaltensertrag erreicht. Die Situation ist zu bedrohlich, als daß man das Empfinden des Vergnügens genießen könnte, das so typisch ist für Handlungen um ihrer selbst willen; es geht vielmehr darum, die Qual des ungeheuerlichen Nichtstun-Könnens abzustellen. Zu wenig tätig zu sein wirkt sich schädigend auf das Nervensystem aus, und so unternimmt das Gehirn das Äußerste, sich dagegen zu schützen. Unter normalen Bedingungen der Langeweile - also in einer öden Umgebung, die aber nicht absichtlich so kahl ist wie bei den Versuchen mit den Studenten - ist das Objekt, das am ehesten zur Verfügung steht, wenn die Monotonie unterbrochen werden soll, der eigene Körper: Wenn es gar nichts anderes gibt - er ist immer da. An den Nägeln kann gekaut, in der Nase kann gebohrt, das Haar kann gekrault werden, und der Körper kann immer dazu gereizt werden, mit einer sexuellen Reaktion zu antworten. Da es das Ziel ist, ein Höchstmaß an Erregung zu erreichen, werden sexuelle Handlungen in dieser Situation oft brutal und schmerzhaft und führen manchmal sogar zu ernsthafter Verstümmelung oder physischer Schädigung der Genitalien. Der Schmerz, den diese Handlungen verursachen, ist dabei gewissermaßen eher ein bizarrer Teil der Therapie als ein zufälliges Resultat davon. Typisch für diese Situation ist wildes und anhaltendes Ma149
sturbieren, nicht selten mit Reißschäden der Haut oder unter Einführen spitzer Gegenstände in das Genitale. Extreme Formen des Beschäftigungs-Sex beobachtet man bei Gefangenen - sie sind ja gewaltsam von ihrer normalen Umwelt mit ihren gewohnten Reizen getrennt. Was sie tun, hat mit Physiologischem Sex nichts zu schaffen, denn schon ein viel geringeres Maß an Befriedigung würde den spezifischen physiologischen Forderungen Genüge leisten. Das Phänomen ist auch von pathologisch introvertierten Menschen bekannt. Hier kann es selbst in einer Umgebung vorkommen, von der man bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck hat, sie werde die adäquaten Reize liefern. Eine nähere Untersuchung zeigt dann jedoch bald, daß die betreffenden Individuen, obwohl scheinbar von erregenden Reizen umgeben, von diesen doch durch ihren anomalen psychischen Zustand getrennt sind: Mitten im Überfluß darben sie psychisch. Da sie - aus irgendeinem Grund stark gesellschaftsfeindlich und geistig isoliert - unfähig geworden sind, Kontakte mit der Alltagswelt rundum aufzunehmen, können sie genauso intensiv an Unterstimulierung leiden wie die Gefängnisinsassen in ihren Zellen. Für die extrem Isolierten, seien sie physisch oder psychisch Gefangene, sind die selbstquälerischen Ausschweifungen des Beschäftigungs-Sex das kleinere Übel gegenüber der tödlichen totalen Untätigkeit. 150
Zootiere, die in kahlen Käfigen gehalten werden, zeigen ähnliche Reaktionen. Von ihren Geschlechtspartnern isoliert, werden sie Physiologischen Sex benötigen. Vom Zwang befreit, nach Futter zu suchen und Feinden ausweichen zu müssen, und mit viel freier Zeit zu ihrer Verfügung, geben sie sich dem Sex an sich hin. Sind sie aber zu äußerster Langeweile getrieben, so können sie auf drastische Weise beim Beschäftigungs-Sex Zuflucht suchen: Manche Affenmännchen werden besessene Onanisten. Männliche Huftiere können, selbst wenn man sie zusammen mit Weibchen hält, sie aber sonst nichts zu tun haben, diese buchstäblich zu Tode quälen - sie hetzen sie ununterbrochen weit über alles natürliche Maß hinaus. Von Menschenaffen ist das entsprechende Verhalten bekannt: Zu einem Orang-Utan-Mann, der in einem leeren Käfig lebte, wurde ein Weibchen gesetzt; er paarte sich mit ihr und umarmte sie dabei derart hartnäckig, daß sie zeitweise keinen Gebrauch mehr von ihren Armen machen konnte und deshalb entfernt werden mußte. Tier- oder Menschenaffen, die man getrennt von Artgenossen großgezogen hatte, waren nicht in der Lage, sich dem sozialen Leben anzupassen, wenn sie - inzwischen erwachsen einem Rudel ihrer Spezies zugesellt wurden. Wie geistig gestörte Menschen, die nur »in ihrer eigenen Welt leben«, hockten sie zusammengekauert in einer Ecke und gaben sich ständig dem einsamen Beschäftigungs-Sex hin - nur wenige Meter von einem paarungsbereiten Partner ent151
fernt. Bei Zoo-Schimpansen läßt sich das gleiche Verhalten feststellen, wenn man sie zunächst isoliert aufzieht, dabei verhätschelt und sie dann, wenn sie großgezogen sind, mit erwachsenen Schimpansen zusammenbringt. Ein Paar, das eine solche anomale Jugend hinter sich hatte, wurde als »verheiratetes Paar« ohne weitere Gefährten in einem Käfig gehalten. Man sah die Tiere sich wiederholt sexuell betätigen, nie jedoch mit dem Partner - sie lebten zwar im gleichen Gehege, waren aber psychisch völlig isoliert: Jeder saß ganz für sich und masturbierte regelmäßig auf die verschiedenste Art. Das Weibchen benutzte kleine Zweige oder Holzstückchen, das es mit den Zähnen von den Planken gerissen hatte, und führte es in seine Vagina ein, während das Männchen in einer anderen Ecke seinen Penis reizte. 8. Beruhigungs-Sex Wie das Nervensystem massive Inaktivität nicht ertragen kann, so rebelliert es auch gegen die Belastung durch unmäßige Überaktivität. Dementsprechend ist der Beruhigungs-Sex sozusagen die andere Seite der Medaille Beschäftigungs-Sex - statt Anti-Langeweile ist er Anti-Unruhe. Wer mit einer Überdosis an nicht vertrauten, fremdartigen, einander widersprechenden Reizen konfrontiert wird, versucht in altvertraute Verhaltensmuster auszuweichen, die seine zerrütteten Nerven zu beruhigen vermögen. Wenn also die Pressionen des Lebens zu stark 152
werden, kann sich das solchermaßen strapazierte Opfer selbst beruhigen, indem es zu Handlungen Zuflucht nimmt, von denen es weiß, daß sie ihm zu voller Befriedigung verhelfen. Denn in der hohen Beanspruchung durch seine Überaktivierung ist der Mensch unfähig, irgend etwas zu einem guten Ende zu bringen; er schindet sich ab, ohne die Probleme jemals lösen zu können, weil bei dem Durcheinander der so oder so blockierten Möglichkeiten immer eines mit dem anderen kollidiert. Seine Fehlschläge und Enttäuschungen steigern sich, bis ihm ein einfaches vertrautes Handeln, das mit seiner eigentlichen Beschäftigung gar nichts zu tun hat, eine vollkommene Erlösung verschafft, wenn er es nur ohne Hemmung ausführen kann. So tragen banale Handlungen wie das Rauchen einer Zigarette, das Kaugummikauen oder das Nehmen eines Drinks dazu bei, die Unruhe abklingen zu lassen. Und genauso wirkt der Beruhigungs-Sex. Der Soldat, der auf die Schlacht wartet, der Manager inmitten einer Krise sie mögen für vorübergehend Frieden in den Armen einer bereitwilligen Frau suchen. Dabei kann das persönliche emotionale Engagement an der untersten Grenze liegen, und es genügt vollauf, wenn die Handlungen stereotyp ablaufen - nach dem Motto: je mehr Automatik, desto besser, denn das ohnehin überbeschäftigte Gehirn will ja nichts als das ganz Einfache. 153
Solches Verhalten ähnelt dem, was man im Tierreich als »Übersprunghandlung« bezeichnet: Wenn sich zwei Rivalen begegnen und miteinander in Konflikt geraten, möchte jeder den ändern angreifen, fürchtet sich aber, es auch wirklich zu tun. Ihr Verhalten ist blockiert - und in diesem verkrampften Zustand, in dem zwei Triebe gegeneinander arbeiten: Angriffstrieb hier, Fluchttrieb dort, passiert es dann, daß sie weder attackieren noch ausreißen, sondern etwas ganz anderes tun, etwas, das zur Situation überhaupt nicht paßt. Sie beginnen zum Beispiel sich zu putzen, Futter zu benagen oder mit dem Nistmaterial zu spielen. Den eigentlichen Konflikt lösen diese Übersprunghandlungen natürlich nicht, doch gewähren sie eine flüchtige Unterbrechung des Zustands hoher Spannung. Ist ein Weibchen zufällig in der Nähe, wird es kurz bestiegen, und wie beim Menschen geschieht das meist stereotyp und simpel. 9. Kommerzieller Sex Von der Prostitution war bereits die Rede, allerdings nur vom Standpunkt des Kunden aus. Für die Prostituierte selbst hat die Begattung eine ganz andere Funktion. Natürlich spielen auch Nebenfaktoren eine Rolle; in der Hauptsache aber und überwiegend ist die Begattung hier ein zugegebenermaßen auf finanziellen Gewinn abzielendes Geschäft. Eine gewisse Form von kommerziellem Sex hat eine wichtige Funktion auch in nicht wenigen Ehen, 154
dort nämlich, wo eine einseitige Paarbindung besteht: Ein Partner versorgt den ändern mit seinem Begattungs»Service« und erhält dafür Geld, Verpflegung und Unterkunft. Der dafür sorgende Teil, bei dem sich eine wirkliche Paarbindung entwickelt hat, muß als Gegenleistung eine Pseudobindung hinnehmen. Die Frau (oder der Mann), die (oder der) des Geldes wegen heiratet, handelt wie eine (ein) Prostituierte(r). Der einzige Unterschied ist der: Während sie (oder er) indirekt bezahlt wird, arbeitet die Prostituierte üblichen Formats nach dem Prinzip: »Wie du bezahlst, so liegst du!« Ob das System nun auf kurzfristigen Verträgen basiert oder auf langfristigen die Funktion des hier zu behandelnden Sexualverhaltens ist im wesentlichen die gleiche. Eine abgeschwächte Form des Sex für materiellen Gewinn wird von Stripperinnen, Go-Go-Girls, Taxi-Girls, Bunnies, Schönheitsköniginnen, Tänzerinnen, Modellen und vielen Schauspielerinnen praktiziert: Gegen Bezahlung „liefern" sie Ritualisierungen von früheren Stadien der sexuellen Abfolge, doch hören sie (jedenfalls bei ihrer öffentlichen Betätigung) kurz vor der eigentlichen Begattung auf. Als Ausgleich für das Unvollkommene ihres sexuellen Verhaltens stellen sie häufig die Arten des Vorspiels, die sie darbieten, übertrieben oder besonders raffiniert dar. Ihre sexuellen Posen und Bewegungen, ihre sexuelle Persönlichkeit, ihre sexuelle Anatomie - alles wird nach Kräften übertrieben und herausgeputzt für die 155
strikte Einengung auf den sexuellen »Service«, den sie liefern. Kommerzieller Sex scheint bei anderen Arten selten zu sein, sogar im Zoo. Immerhin hat man bei bestimmten Primaten eine Art »Prostitution« beobachtet: Weibliche Tieraffen haben sich in der Gefangenschaft einem Männchen sexuell angeboten, um so Futterbissen zu ergattern, die auf dem Boden herumlagen - diese sexuellen Handlungen lenkten das Männchen davon ab, wegen des Futters mit ihnen in Konkurrenz zu treten. 10. Status-Sex Mit dieser letzten Kategorie der Funktionen des sexuellen Verhaltens betreten wir eine fremde Welt voller unerwarteter Entwicklungen und Sonderformen. Der StatusSex durchsetzt und durchdringt unser Leben auf vielerlei verborgene und unerkannte Weise. Da es hier um sehr komplexe Dinge geht, habe ich ihn im Kapitel über Status und Superstatus bewußt fortgelassen, um ihn jetzt ausführlich zu behandeln. Dabei wird es nützlich sein, zunächst sein Auftreten bei anderen Arten zu prüfen, ehe wir ihn beim Lebewesen Mensch betrachten. Status-Sex bezieht sich auf Rang und Vorrang, nicht auf Fortpflanzung. Um zu verstehen, wie dieses Kettenglied geschmiedet worden ist, müssen wir die verschiede156
nen Rollen des weiblichen und des männlichen Geschlechts betrachten. Das volle Auskosten der Sexualität bezieht zwar die aktive Beteiligung beider Geschlechter ein, doch ist es eine richtige und wichtige Feststellung, daß die sexuelle Rolle des weiblichen Säugetiers im wesentlichen unterwürfig, die des Männchens wesentlich aggressiv ist. (Es ist durchaus kein Zufall, wenn in der juristischen Fachsprache die Handlung eines Mannes, der eine Frau sexuell »streichelt«, als tätliche »Beleidigung« gilt.) Das ist nicht nur auf die Tatsache zurückzuführen, daß das Männchen körperlich stärker ist als das Weibchen; das Verhältnis der Geschlechter zueinander ist vielmehr ein wesentlicher Bestandteil der Natur des Begattungsaktes: Das männliche Säugetier ist es, das in den Körper des Partners eindringt. Ein mehr als ergebenes Weibchen und ein mehr als aggressives Männchen übertreiben lediglich die ihnen von der Natur eingegebenen Rollen - ein aggressives Weibchen und ein ergebenes Männchen aber stellen ihre Rollen total auf den Kopf. Die sexuelle Handlung des Tieraffenweibchens besteht darin, sich dem Männchen anzubieten, sich zu »präsentieren«. Dabei dreht es ihm das Hinterteil entgegen, reckt es auffallend in die Höhe und senkt zugleich den Vorderteil des Körpers. Die sexuelle Handlung des Tieraffenmännchens vollzieht sich, indem es sich hinter das Weibchen begibt, ihm aufreitet, seinen Penis einschiebt und mit dem Becken Stöße ausführt. Da bei einer sexuellen Begegnung 157
das Weibchen sich selbst unterwirft und das Männchen sich selbst aufdrängt, sind diese primär sexuellen Handlungen sekundär für den Gebrauch in anderen nichtsexuellen Situationen »entlehnt« und so zu generellen Signalen der Unterwerfung und der Aggressivität umfunktioniert worden: Wenn das weibliche sexuelle Präsentieren Unterordnung kennzeichnet, dann kann es in dieser Weise auch verwendet werden bei einer Begegnung, bei der man nicht weiß, was der andere im Schilde führt. Ein nicht sexuell motiviertes Tieraffenweibchen kann also sein Hinterteil einem Männchen darbieten als Zeichen dafür, daß es lediglich nicht aggressiv ist. Das wirkt als Geste der Beruhigung und funktioniert als Kennzeichen seines rangniedrigeren Status. Als Reaktion darauf kann das Männchen das Weibchen zwar bespringen und einige flüchtige Beckenstöße vollziehen, doch dienen diese Handlungen ausschließlich dazu, seinen ranghöheren Status darzutun. Der Status-Sex, auf diese Weise ausgeübt, wirkt sich im sozialen Leben der Tier- und Menschenaffen höchst nützlich aus: Als Ritual der Unterordnung und Überlegenheit sorgt er dafür, daß Blutvergießen vermieden wird. Ein Männchen nähert sich aggressiv, ganz auf Kampf eingestellt, einem Weibchen. Statt zu zetern oder einen Fluchtversuch zu machen, was nur die Aggressionslust des ändern steigern würde, präsentiert sich ihm'das Weibchen sexuell, 158
das Männchen reagiert darauf, und sie gehen auseinander - beide ihrer Stellung in der Ranghierarchie versichert. Doch das ist nur erst der Anfang. Der Status-Sex ist für das Sozialgefüge so wertvoll, daß er sich de facto auf alle Formen der von aggressiven Stimmungen motivierten Begegnungen innerhalb der Gruppe ausgedehnt hat. Wenn ein schwaches Männchen von einem starken Männchen bedroht wird, kann der Unterlegene sich selbst schützen, indem er sich als Pseudoweibchen aufführt: Er signalisiert seine Unterordnung, indem er die weibliche Sexualstellung einnimmt und sein Hinterteil dem stärkeren Männchen präsentiert. Und dieses unterstreicht seinen höheren Rang, indem es dem schwächeren Männchen aufreitet, geradeso, als handle es sich um ein unterwürfiges Weibchen. Genau das gleiche Wechselspiel kann man bei zwei Weibchen beobachten: Ein rangniederes Weibchen, das von einem ranghöheren Weibchen bedroht wird, präsentiert und wird von ihm besprungen. Sogar jugendliche Affen praktizieren das gleiche Ritual, obwohl sie doch die sexuelle Reife noch gar nicht erreicht haben. Diese Tatsache illustriert sehr deutlich das Ausmaß, in dem sich der Status-Sex von seiner ursprünglichen sexuellen Bedeutung getrennt hat. Die Handlungen, die vollzogen werden, sind zwar sexuelle Handlungen, doch sind sie nicht mehr sexuell motiviert: Das Ringen um den Rang hat aus ihnen ein Status-Symbol werden lassen. 159
Die Tatsache, daß Sexualhandlungen immer wieder in diesem Zusammenhang stattfinden, erklärt nun aber auch die scheinbar orgiastischen Zustände in manchen Affenhorden. Oft genug verlassen Besucher den Zoo mit dem Eindruck, die Affen seien doch unersättliche Sexualathleten, schon beim leisesten Anlaß bereit, sich mit wem auch immer zu paaren - ganz egal, ob Männchen, ob Weibchen, ob jung, ob alt. In einem gewissen Sinne stimmt das sogar - die Beobachtung ist recht genau. Nur die Deutung ist völlig falsch. Erst wenn man die nichtsexuelle Motivation des Status-Sex begreift, bekommt das Bild die richtige Beleuchtung. Vielleicht ist es nützlich, ein weiteres Beispiel aus noch vertrauterer Umwelt zu nennen. Wohl jeder kennt die freundlich ergebene Grußbezeigung der Hauskatze, wenn sie mit einer Körperseite gegen das menschliche Bein reibt, den Schwanz steif nach oben gehalten, das Hinterende des Körpers hoch emporgereckt. Sowohl Katze wie Kater tun das, und als Reaktion darauf streicheln wir ihren Rücken. Dabei können wir fühlen, wie das Tier sein Hinterteil gegen unsere Hand anstemmt. Viele Menschen meinen nun, dies sei einfach eine bei Katzen übliche Begrüßung, ohne nach ihrem Ursprung oder ihrer Bedeutung zu fragen. In Wirklichkeit aber handelt es sich hier um ein Beispiel für Status-Sex. Es leitet sich her vom Balzgehabe des Katzenweibchens, das sich dem Kater sexuell anbietet. 160
Die ursprüngliche Funktion war das Freilegen der Vulva im Stadium vor der Begattung. Doch wie das Präsentieren der Tier- und Menschenaffen beim Status-Sex hat sich dieses Verhalten von seiner rein sexuellen Rolle emanzipiert und bei beiden Geschlechtern die Bedeutung eines Zeichens für freundliche Stimmung und Unterwürfigkeit angenommen. Da der Katzenhalter groß und stark ist, wird er von seiner Katze unvermeidlich und permanent als überlegen und ranghoch angesehen - soweit es sein Haustier betrifft. Und wenn nach zeitweiliger Abwesenheit der Kontakt wiederhergestellt wird, hat die Katze das Bedürfnis, ihrer rangniederen Rolle erneut Ausdruck zu geben - also benutzt sie als Begrüßungszeremonie ein unterwürfiges Status-Sex-Gehabe. Bei dieser Verhaltensweise der Katze liegen die Dinge also ziemlich einfach. Doch kehren wir zu den Tieraffen zurück. Bei ihnen gibt es einige bemerkenswerte anatomische Sonderheiten des Status-Sex, die wir prüfen sollten, bevor wir uns dem Verhalten beim Menschen zuwenden. Viele Tieraffenweibchen haben auf der geschwollenen nackten Haut des Hinterteils leuchtend rote Flecken. Diese werden dem Männchen beim sexuellen Präsentieren gezeigt. Und natürlich werden sie auch zur Schau gestellt, wenn ein Weibchen ihr Hinterteil als Demutgeste bei Begegnungen unter den Bedingungen des Status-Sex darbietet. Kürzlich hat man nun darauf hingewiesen, daß bei 161
manchen Arten die Männchen Nachbildungen dieser roten Flecken auf ihren Hinterteilen haben. Sie dienen, wie leicht einzusehen, als Verstärkung ihrer unterwürfigen Status-Sex-Präsentation dem ranghöheren Individuum gegenüber. Bei den Weibchen haben die roten Flecken einen doppelten Zweck, bei den Männchen haben sie ausschließlich die Funktion des Status-Sex. Gehen wir nun von der Darstellung der Unterordnung mit Mitteln des Status-Sex über zu der von Ranghöhe, so wird eine ähnliche Entwicklung deutlich. Die Handlung des Ranghöheren bezieht die Erektion des Penis ein; auch das ist durch Hinzutreten lebhafter Farben vervollkommnet worden. Bei einer Reihe von Affen ist der Penis knallrot und häufig umgeben von einem leuchtend blauen Hautfleck über dem Hodensack. Das macht die mannliehen Genitalien so auffallend wie nur möglich; oft kann man die Männchen beobachten, wie sie mit auseinandergespreizten Beinen dasitzen und diese grellen Farben bis zu einem Maximum zur Schau stellen - ohne die geringste Bewegung können sie solchermaßen ihren hohen Rang signalisieren. Bei einigen Tieraffenarten führen sich nun die Männchen auf diese Weise vor, sitzen dabei aber an der Grenze des Reviers, das ihr Rudel besetzt hat; wenn sich ein fremdes Rudel der Reviergrenze nähert, richtet sich der rote Penis zu voller Größe auf und kann dabei sogar wiederholt gegen den Bauch geschlagen werden. 162
Und jetzt die Überleitung zum Menschen: Im alten Ägypten galt der Mantelpavian als Verkörperung der männlichen Sexualität. Nicht nur wurde er in seiner StatusSex-Positur auf Zeichnungen und in Plastiken abgebildet, sondern in dieser Stellung auch einbalsamiert und begraben (wobei allein die Prozedur des Einbalsamierens siebzig Tage dauerte, zu denen noch zwei volle Tage für die Begräbniszeremonie hinzukamen). Offensichtlich hatte also die bei dieser Art übliche Status-Sex-Schaustellung des hohen Ranges durchschlagenden Erfolg nicht nur bei anderen Mantelpavianen, sondern auch bei den alten Ägyptern. Ein Zufall war das, wie wir gleich sehen werden, nicht. So wie bei manchen Affenarten die Männchen das weibliche Unterwürfigkeitsgehabe nachahmen, indem sie sich selbst rote Flecken auf dem Hinterteil zulegten, so kam es in einigen Fällen auch bei den Weibchen zu einer Mimikry des männlichen Imponiergehabes: Bei den Weibchen südamerikanischer Affen hat sich eine verlängerte Klitoris entwickelt, die nun tatsächlich ein Pseudopenis geworden ist; dieser sieht bei manchen Spezies dem wirklichen Penis des Männchens so ähnlich, daß man die Geschlechter kaum voneinander zu unterscheiden vermag. Man kann sich vorstellen, daß dies in den Gebieten, in denen solche Tiere leben, Anlaß zu allerlei Fabeln der Eingeborenen geworden ist: Da alle Angehörigen der Art Männchen zu sein scheinen, halten die Indianer sie für ausschließlich homosexuell. 163
(Merkwürdigerweise gibt es auch beim Weibchen der Fleckenhyäne einen ähnlichen Pseudopenis; in Afrika erzählt man sich deshalb, Tiere dieser Art seien Zwitter, und so komme jedes Individuum in den Genuß der männlichen wie der weiblichen sexuellen Betätigung.) Und schließlich gibt es ein paar Arten Tieraffen, bei denen sich zum Pseudopenis des Weibchens auch noch ein Pseudohodensack entwickelt hat. Bis heute wissen wir noch wenig darüber, wie diese Mimikry der männlichen Genitalien in der Freiheit funktioniert. Was wir wissen, ist, daß bestimmte südamerikanische Affen die Erektion des Penis als direkte Drohgebärde gegenüber Rangniederen benutzen. Beim Totenkopfäffchen ist es zum wichtigsten Überlegenheitszeichen im gesamten Repertoire dieser Art geworden. Hier wird mehr als nur mit gespreizten Beinen dagesessen: Wenn ein ranghohes Männchen in Drohstimmung ist, rückt es dicht an den Rangniederen heran und erigiert seinen Penis zu dessen Gesicht hin. Der Pseudopenis der weiblichen Tieraffen scheint jedoch nicht erigierbar zu sein; vielleicht ist er so, wie er sich darstellt, zu unauffällig, als daß man ihn gegenüber einem Rangniederen zur Schau stellen könnte. So also ist die Situation des Status-Sex bei unseren nächsten Verwandten, den Tier- und Menschenaffen. Ich bin hier mehr ins Detail gegangen, da wir so einen nützlichen evolutionistischen Hintergrund für die Ver164
hältnisse bei der Spezies Mensch bekommen haben - einige außergewöhnliche Richtungen, die das Lebewesen Mensch eingeschlagen hat, werden ein wenig leichter zu verstehen sein. Bereits beim Lesen der Einzelheiten über die Verhaltensweisen der Tieraffen werden Sie — wie schon die alten Ägypter - gewisse Ähnlichkeiten hinsichtlich des menschlichen Verhaltens festgestellt haben: Beim Menschen stehen - ebenso wie bei den Affen - die weiblichen sexuellen Verhaltensweisen der Unterwerfung und Ergebenheit und die männlichen der Überlegenheit beziehungsweise Herrschaft in nichtsexuellen Zusammenhängen. Das alte weibliche Verfahren, dem Männchen das Hinterteil darzubieten, ist immer noch eine Geste der Unterordnung: Kinder werden oft gezwungen, sich zur Bestrafung in dieser Haltung vornüberzubeugen. Auch gilt das Gesäß allgemein als der lächerlichste Teil des menschlichen Körpers, über den man sich lustig macht, Witze reißt, oder in den man Nadeln piekt: In der sado-masochistisch pornographischen Literatur - ganz zu schweigen von Comics und Zeichentrickfilmen - werden die hilflosen Opfer häufig in Posen gezeigt, bei denen sie den Hintern in die Luft recken. Sehr viel mehr jedoch haben die Signale männlicher Überlegenheit die Phantasie der Menschen bewegt — sie hat sich an ihnen regelrecht ausgetobt. In der Kunst wie in der Literatur sind phallische Symbole seit den frühesten 165
Epochen weit verbreitet. In der jüngsten Zeit freilich werden sie oft hinter ganz anderen Gestalten versteckt gezeigt, häufig ihrem eigentlichen Ursprung nach kaum erkennbar; der erigierte Penis erscheint jedoch nach wie vor in direkter, eindeutiger Phallus-Darstellung bei den noch existierenden Kulturen der Naturvölker. Die Männer der Eingeborenenstämme Neuguineas zum Beispiel tragen beim Kriegszug über ihrem Penis lange Hülsen; diese Verlängerungen - manchmal messen sie über dreißig Zentimeter - werden durch Schnüre in nahezu senkrechter Stellung gehalten. Auch in anderen Kulturen wird der Penis geschmückt, betont und auf die verschiedensten Arten künstlich verlängert. Wenn die Erektion des Penis als Drohgebärde männlicher Überlegenheit dient, dann folgert daraus ganz klar: je größer die Erektion, desto größer die Drohung. Die visuellen Signale, mit denen die Intensität dieser Drohung übermittelt wird, sind deren vier: Wenn sich der Penis aufrichtet, verändert er seinen Winkel, er wechselt vom schlaffen zum steifen Zustand, sein Durchmesser vergrößert sich, und er nimmt an Länge zu. Lassen sich alle diese vier Eigenschaften künstlich übertreiben, dann wird sich die Wirkung der Schaustellung auf ein Maximum erhöhen. Für das, was am Körper selbst getan werden kann (und was die Stammeskrieger Neuguineas mehr oder weniger erreichen), gibt es eine Grenze. Keine Grenzen aber gibt es bei der bildlichen Darstellung des Menschen. Auf 166
Zeichnungen, Gemälden und an Skulpturen der menschlichen Gestalt kann die Zurschaustellung des Phallus jede beliebige Größe annehmen. Die durchschnittliche Länge des Penis im Zustand der Erektion beträgt sechzehn Zentimeter, was weniger als rund ein Zehntel der Körpergröße eines männlichen Erwachsenen ausmacht. Bei phallischen Statuen hingegen überschreitet die Länge des Penis oft die Gesamtgröße der Figur. Um den Phallus noch stärker zu betonen, verzichtet man schließlich auf die Darstellung des Leibes ganz, und die Zeichnung oder die Plastik zeigt einfach einen riesigen vertikalen, gleichsam entkörperten Penis. In zahlreichen Gebieten hat man alte Skulpturen dieser Art gefunden, die sich oft mehrere Meter in den Himmel emporheben. Gigantische Phallen von nahezu 60 Meter Höhe bewachten den Venustempel von Hierapolis, doch selbst sie wurden übertroffen von einem ändern Phallus, der angeblich rund no Meter hoch war - also etwa siebenhundertmal größer als das Organ, das er darstellte. Es heißt, er sei mit purem Golde überzogen gewesen. Von den eindeutigen Abbildungen dieser Art ist es nur ein Schritt zu der Fülle phallischer Symbole, bei der nahezu jedes lange, steife, emporgestreckte Objekt die Rolle des Phallus übernehmen kann. Aus den Traumanalysen der Psychotherapeuten wissen wir, wie verschieden diese Symbole sein können. Doch sind sie keineswegs 167
auf den Traum beschränkt. Sie werden von Werbeleuten ebenso bewußt verwendet wie von Künstlern und Schriftstellern. Sie erscheinen in Filmen, Theaterstücken, bei nahezu jeder Art von Unterhaltung. Und selbst wenn sie gar nicht vom Bewußtsein aufgenommen werden, können sie noch unterschwellig wirken, da sie ein ganz fundamentales Signal übermitteln. Sie stecken in allem nur Möglichen, von Kerzen, Bananen, Krawatten, Besenstielen, Aalen, Spazierstöcken, Schlangen, Mohrrüben, Pfeilen, Wasserschläuchen bis hin zu Feuerwerken, Obelisken, Bäumen, Walen, Laternenpfählen, Türmen, Wolkenkratzern, Fahnenstangen, Kanonen, Fabrikschornsteinen, Weltraumraketen und Leuchttürmen. Alle haben sie wegen ihrer generellen Form Symbolbedeutung, doch wirkt in einigen Fällen diese oder jene spezifische Eigenschaft mit. Fische zum Beispiel sind phallische Symbole geworden wegen ihrer Gestalt ebenso wie ihrer Beschaffenheit und deshalb, weil sie sich durchs Wasser schlängeln; Elefanten wegen ihres aufrichtbaren Rüssels; Rhinozerosse wegen ihres Horns; Vögel, weil sie sich gegen die Schwerkraft erheben; Zauberstäbe, weil sie dem Magier ganz besondere Kräfte verleihen; Schwerter, Speere und Lanzen, weil sie in den Körper eindringen; Sektflaschen, weil sie beim öffnen ejakulieren; Schlüssel, weil sie in Schlüssellöcher eingeführt werden, und Zigarren, weil sie überdimensional angeschwollene Zigaretten sind. Die Aufzählungen könnten beinahe endlos sein - der Bereich der von der Phantasie gelieferten symbolischen Gleichsetzungen ist enorm. 168
Alle diese Bilder dienten und dienen - in vielen Fällen sogar sehr häufig - als Abbilder der Männlichkeit. Der harte Dominierende (oder der möchtegern-harte Dominierende), der auf seiner dicken Zigarre herumkaut und sie seinem Teilhaber ins Gesicht reckt, vollzieht im Grunde das gleiche Status-Sex-Imponiergehabe wie das kleine Totenkopfäffchen, das die Beine spreizt und seinen erigierten Penis in das Gesicht des Rangniederen stößt. Soziale Tabus haben uns gezwungen, für unser aggressives sexuelles Imponiergehabe Ersatz im Verborgenen zu benutzen, doch bleibt die Phantasie des Menschen so, wie sie ist — sie hat das Phänomen nicht reduziert, sondern lediglich abgewandelt und verfeinert. Wie in dem Kapitel über Status und Superstatus dargelegt, haben wir guten Grund, in unserem Superstammeszustand ein großes Spiel mit unseren Status-Tricks zu spielen, und genau das tun wir im Falle des Status-Sex. Beispiel der unterschiedlichsten Gestaltung phallischer Symbole lassen sich fast überall entdecken. Sehr schön illustriert das der Sportwagen: Immer strahlt er kühne, aggressive Männlichkeit aus - beträchtlich unterstützt von ihren phallischen Qualitäten: Gleich dem Penis eines Pavians reckt er sich, lang, glatt und glänzend, drängt mit großer Energie voran und hat zudem häufig eine knallrote Farbe. Der Mann im offenen Sportwagen ist nur noch Teil einer höchst stilisierten phallischen Plastik - sein Körper ist verschwunden und alles, was sichtbar bleibt, sind, 169
winzig klein, Kopf und Hände, die einen langen, glänzenden Penis krönen. (Hier mag der Einwand vorgebracht werden, die Form der Sportwagen sei bedingt durch die technischen Forderungen der Windschlüpfrigkeit. Man braucht jedoch nur an die chaotischen Zustände im Straßenverkehr von heute und an die immer strengeren Geschwindigkeitsbegrenzungen zu denken, um zu erkennen, wie absurd dieser Einwand ist.) Selbst ganz gewöhnliche Kleinwagen haben ihre phallischen Eigenschaften. Das mag zum Teil wenigstens erklären, warum männliche Autofahrer derart aggressiv und immer darauf aus sind, den vor ihnen zu überholen, trotz der beträchtlichen Risiken und trotz der Tatsache, daß sie sich alle schon bei der nächsten Ampel wieder treffen oder man bestenfalls einige wenige Sekunden eher am Ziel ist. Ein anderes Beispiel stammt aus der Folk-Musik - es betrifft die Gitarre, die erst unlängst einen Geschlechtswandel durchgemacht hat. Die gute alte Gitarre mit ihrem kurvenreichen, taillierten Körper war ein absolut weibliches Symbol - man drückte sie eng an die Brust und streichelte ihre Saiten liebevoll. Aber dies hat sich geändert, und damit ist ihre Weiblichkeit dahingeschwunden. Seitdem Gruppen männlicher »Sex-Idole« dazu übergegangen sind, auf elektrischen Gitarren zu spielen, haben die Instrumentenbauer sich redliche Mühe gegeben, der Gitarre zu männlichen phallischen Eigenschaften zu verhelfen: 170
Der Körper der Gitarre (er stellt jetzt ihre symbolischen Hoden dar) ist kleiner geworden, weniger taillenbetont und greller bemalt. Dadurch war es möglich, den Hals (den neuen symbolischen Penis) zu verlängern. Die Spieler selbst haben das Ihre dazu beigetragen, indem sie die Gitarre immer tiefer und tiefer hielten, bis diese schließlich in der Genitalgegend landete. Auch die Spieltechnik änderte sich: Der Hals wird zunehmend stärker senkrecht gehalten. Mit dieser Kombination von abgewandeltem Instrument und neuer Spielweise kann die »Pop-Group« auf der Bühne die Bewegung der Selbstbefriedigung an ihren riesigen elektrischen Phallen durchführen und so die ihnen ergebenen »Sklaven« und »Sklavinnen« beherrschen. (Der Sänger oder die Sängerin hat sich mit dem Anschmiegen an das phallische Mikrofon zu begnügen.) Diesen phallischen Vervollkommnungen steht eine Anzahl von Beispielen dafür gegenüber, daß phallische Symbole abgeschwächt werden oder ganz verschwinden. Mit der Verdrängung oder Vernichtung der frühen Kulturen (die, wie ich bereits ausgeführt habe, in ihrer Anwendung des Phallus-Symbolismus sehr viel offener waren) wurden ihre symbolischen Darstellungen häufig bemäntelt oder verzerrt. Das vielleicht verblüffendste Beispiel dafür liefert das christliche Kreuz. In der Frühzeit der Menschheit war es eindeutig ein phallisches Symbol: Der vertikale Teil bedeutete den Penis, die Seitenstücke waren die Hoden. Alte vorchristliche Bildwerke zeigen es sehr deutlich 171
mit einem Männerkopf oben, während der Körper völlig durch die stilisierte Darstellung der Sexualorgane in Kreuzesform ersetzt ist. Ein Autor hat darauf hingewiesen, daß die Übernahme dieses Symbols durch die Christen in einer nun ganz neuen Rolle wahrscheinlich durch seine frühere Bedeutung als Symbol der »Lebenskraft« gefördert worden ist. Ein anderes Kreuz, das seit langem seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat, ist das bekannte Malteserkreuz. Die alten vorgeschichtlichen Ruinenstätten von Malta waren voller phallischer Darstellungen; die meisten sind allerdings verlorengegangen, gestohlen oder vernichtet worden. Unter diesen gab es ein Kreuz aus vier riesigen Steinphallen, das, wie ein Schriftsteller ausführt, »später von den tugendhaften Rittern des Johanniterordens abgewandelt« und ins Wappenschild aufgenommen wurde. Beim Osterfest ist ebenfalls eine Abschwächung der einst offen gezeigten phallischen Symbole erfolgt. In einer Reihe alter Kulturen war es üblich, zu der Zeit, in die unsere Ostern fallen, Osterkuchen zu backen in Gestalt sowohl männlicher als auch weiblicher Genitalien. Heute ist die Form verändert; in manchen Ländern z. B. gibt es Zuckerwerk entweder in der Form eines Fisches (der dem »männlichen« Kuchen entspricht) oder einer Puppe (»weiblicher« Kuchen). Die Phallusnatur des Fischsymbols steckt ursprünglich auch in dem Brauch, am Freitag Fisch zu es172
sen, doch hat dieser schon seit langen seine sexuelle Bedeutung verloren. Es könnten noch viele andere Beispiele aufgeführt werden. So hat das Freudenfeuer, obwohl ihm für bestimmte Gelegenheiten noch immer seine fast magische Eigenschaft geblieben ist, seine sexuellen Eigenschaften verloren. Ursprünglich wurde es auf ganz eigene Weise entzündet, indem man nämlich in einem Akt symbolischer Paarung ein »männliches« Stück Holz gegen ein »weibliches« rieb, bis ein Funke entstand und schließlich das Freudenfeuer in sexuellen Flammen ausbrach. Brauch war es auch, an den Außenmauern der Gebäude geschnitzte Phallen anzubringen zum Schutz gegen den bösen Blick und andere Gefahren. Der Phallus als aggressive, vom Ranghohen ausgehende Status-Sex-Drohung nach außen bewachte also Wohnung und Bewohner. In manchen Mittelmeerländern findet man Symbole dieser Art noch heute, doch sind sie nicht mehr so offenkundig sexuell. Meist bestehen sie jetzt aus einem hoch oben an der Außenwand oder am Dachfirst angebrachten Paar Stierhörner. Trotz solcher Säuberungen und Zensurierungen, durch die der Baum der fleischlichen Erkenntnis in den simplen Baum der Erkenntnis verwandelt und der eindeutige Hosenlatz durch die weniger eindeutige Krawatte ersetzt worden ist, gibt es noch heute Gebiete, wo aggressive phallische Symbole ihre ursprüngliche Eigen173
schaft beibehalten haben: Im Bereich der schweren Beleidigung finden wir sie noch in sehr deutlicher Form. Verbalinjurien werden sehr oft auf phallische Art und Weise vorgebracht. Fast alle wirklich greulichen Flüche, deren wir uns bedienen, um jemanden zu beschimpfen, sind sexuelle Wörter. Wortwörtlich beziehen sie sich auf die Begattung oder auf verschiedene Teile der GenitalAnatomie, benutzt aber werden sie hauptsächlich in Augenblicken äußerster Aggression. Dies wiederum ist für den Status-Sex bezeichnend und demonstriert sehr deutlich die Art und Weise, wie Sex für den Gebrauch im Zusammenhang von Rang und Herrschaft ausgeborgt wird. Visuelle Beleidigungen unterliegen dem gleichen Trend: Eine ganze Reihe von phallisch betonten Handlungen wird für Gesten der Feindschaft benutzt. Den Anfang macht das Zeigen der Zunge - die herausgestreckte Zunge symbolisiert den erigierten Penis. Die sogenannte »phallische Hand« gibt es in verschiedenen Formen seit mindestens zweitausend Jahren. Eine der ältesten Formen besteht darin, den Mittelfinger steif und völlig ausgestreckt gegen die Person zu richten, der man seine Verachtung zeigen will; die übrige Hand ist dabei zusammengeballt. Symbolisch stellt der Mittelfinger den Penis dar; Daumen und Zeigefinger, beide gekrümmt, bilden zusammen den einen Hoden, Ring- und kleiner Finger den ändern. Diese 174
Geste war im alten Rom gang und gäbe. Dementsprechend hieß dort der Mittelfinger digitus impudicus (unzüchtiger Finger) oder digitus infamis (verrufener Finger). Im Laufe der Jahrhunderte ist auch diese Geste abgewandelt worden, doch kennt man sie noch in vielen Teilen der Erde. Manchmal wird dabei statt des Mittelfingers der Zeigefinger benutzt, wohl deswegen, weil es leichter ist. Gelegentlich streckt man auch Zeigefinger und Mittelfinger zusammen aus und zeigt so die Größe des symbolischen Penis an. Bei dieser Form der »phallischen Hand« ist es heute üblich, sie ein oder mehrere Male schräg nach vorn zu stoßen in Richtung der Person, die es zu beleidigen gilt und so symbolisch die Stöße mit dem Becken zu vollziehen. Dabei können die beiden Finger nebeneinander oder in V-Form gehalten werden. Als eine interessante Variante des eben genannten Typs ist in unserer Zeit das »Victory«-Zeichen aufgetaucht, das weit mehr ist als nur der erste Buchstabe in dem Wort »victory« (Sieg) - seine phallischen Eigenschaften wirkten dabei natürlich mit. Vom Beleidigungs-V unterscheidet es sich durch die Haltung der Hand: Bei diesem deutet die Handfläche auf das Gesicht des zu Beleidigenden, beim »Victory«-Zeichen wird sie gegen die begeisterte Zuschauermenge gehalten. Im Effekt bedeutet dies, daß das ranghohe Individuum mit dem »Victory-Zeichen« in Wirklichkeit das Beleidigungs-V namens der Menge macht 175
für sie, nicht gegen sie. Wenn die Menge auf ihren das Zeichen gebenden Führer blickt, sieht sie die gleiche Handhaltung, die sie selbst sehen würde, wenn sie das Beleidigungs-V machte. Durch den einfachen Kunstgriff, die Hand umzudrehen, wird die phallische Beleidigung zum phallischen Schutz. Wie wir bereits wissen, sind Drohen und Schützen die beiden wesentlichsten Aspekte hohen Ranges. Wenn ein Ranghoher einen Angehörigen seiner Gruppe bedroht, beleidigt er diesen; wenn aber der Ranghohe die gleiche Drohung von der Gruppe fort auf einen Gegner oder imaginären Feind richtet, dann werden ihm seine Untergebenen für die Rolle des Beschützers, die er damit spielt, zujubeln. Es ist erstaunlich, wenn man daran denkt, daß eine Führerpersönlichkeit ihr gesamtes Image einfach durch Drehen der Hand um 180 Grad verändern kann - doch das sind eben die Raffinessen der Status-SexSignale heute. Eine andere, ebenfalls seit mindestens zweitausend Jahren gebräuchliche und weltweit verbreitete Form der »phallischen Hand« ist die sogenannte »Fica« oder »Feige«. Dazu wird die Hand zur Faust geschlossen und auf die zu beleidigende Person gerichtet, wobei der Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger geschoben ist. Die Spitze des Daumens schaut dann ein wenig hervor, wie die Eichel beim Penis, und weist gegen den Untergebenen oder den Feind. In England bedeutet die Redensart »I don't give a fig for him« (Für den würde ich keinen Pfif176
ferling geben), daß der Betreffende nicht einmal eine Beleidigung wert ist. Eine Unzahl von Beispielen für diese Formen der »phallischen Hand« hat man auf alten Amuletten und Schmuckstücken gefunden, die als Schutz gegen den »bösen Blick« getragen wurden. Heute halten viele Menschen derlei Symbole vielleicht für unschicklich, wenn nicht gar obszön. Damals, als man solche Dinge trug, war das ganz anders: Sie dienten in aller Anständigkeit als schützende Status-SexSymbole. In besonderen Zusammenhängen galt das phallische Symbol als etwas, das man freudig begrüßte, ja sogar als magischen Hüter verehrte, der nicht nur abwehrte, sondern auch zerstörerisch wirkte, freilich nicht auf die Angehörigen der eigenen Gruppe, wohl aber auf das von außen her Drohende. So wurde in Alt-Rom beim Fest der Liberalien (Liber ist der altitalische Gott der Fruchtbarkeit) in einer Prozession ein riesiger Phallus auf einem prächtigen Triumphwagen zum Forum geleitet, wo ihn die Frauen, unter ihnen auch die angesehensten Matronen, feierlich mit Girlanden schmückten, »um das Land von Zauberei zu befreien«. Und im Mittelalter waren an vielen Kirchen außen Phallen angebracht, die vor dem Bösen schützen sollten. In fast allen Fällen sind sie allerdings als »lasterhaft« vernichtet worden.
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Sogar Pflanzen wurden zu phallischen Zwecken herangezogen. Die Mandragora, deren »Alraun«wurzel an einen Phallus erinnert, diente weithin als schützendes Amulett. Gern verstärkte man die symbolische Rolle, indem man in die Wurzel an entsprechender Stelle Hirseoder Gerstenkörner steckte und die so behandelte Wurzel zwanzig Tage lang vergrub, damit die Körner keimen konnten. Wenn man dann die Alraune wieder ausgegraben hatte, beschnitt man die Keimblätter, daß sie aussahen wie Schamhaare. In dieser Form, so hieß es, sei die Wurzel auch gegen starke äußere Kräfte wirksam und verdoppele zudem Jahr für Jahr das Hab und Gut des Eigentümers. Man könnte ein ganzes Buch mit Beispielen für die Symbolik des Phallus füllen. Die wenigen, die ich ausgewählt habe, genügen aber wohl, um zu zeigen, wie weitverbreitet und vielgestaltig dieses Phänomen ist. Auf dieses Thema gekommen sind wir dadurch, daß wir eines der Elemente aggressiver männlicher Status-Sex-Darbietung herausgriffen, nämlich die Erektion des Penis. Es haben sich indes auch noch andere wichtige Entwicklungen vollzogen, die wir keinesfalls übersehen sollten. Der Akt der Begattung in seiner ursprünglichen Form ist für den Mann, wie bereits betont, ein elementar aggressiver und seine Herrschaft unterstreichender Akt des Eindringens. Unter gewissen Bedingungen vermag er daher den Zwecken des Status-Sex zu dienen: Ein Mann kann sich mit einer Frau 178
lediglich paaren, um sein männliches Ego zu bestätigen, nicht aber um einer der anderen neun Funktionen des Sex willen, von denen hier die Rede war. In solchen Fällen spricht man gern von einer »Eroberung« - als habe der Mann eine Schlacht geschlagen. Und wenn ich sage, er spricht davon, dann ist das wörtlich gemeint, denn das Prahlen anderen Männern gegenüber ist ein sehr wichtiger Bestandteil des Status-Sex-Sieges. Würde er darüber schweigen, so könnte sein Ego zwar in seinem Innersten befriedigt sein, doch bedeutet es selbstverständlich eine erheblich stärkere Erhöhung des Status, wenn er es seinen Freunden erzählt. Für die Frau aber, die davon erfährt, dürfte kein Zweifel mehr darüber bestehen, auf welche Art von Begattung sie sich eingelassen hat. Die Einzelheiten der Begattung, die einer Paarbildung dienen, gelten im Gegensatz dazu als strikt private Angelegenheit. Ein Mann, dem die Frauen für Zwecke des Status-Sex dienen, wird in der Tat mehr Wert darauf legen, dies zur Schau zu stellen, als auf alles andere. Es kann sogar sein, daß er sich damit zufriedengibt, mit den von ihm abhängigen Frauen vor seiner Gruppe zu protzen, ohne sich mit ihnen körperlich verbunden zu haben - wenn sie ihm nur deutlich sichtbar hörig sind, wird ihm das oft schon genügen. Die riesigen Harems, die von den Herrschern bestimmter Kulturen »regelrecht »gesammelt« wurden, hatten in erster Linie Bedeutung für den Status-Sex; nichts hin179
gegen spricht dafür, daß sie der Beweis für die Existenz einer vielfachen Paarbindung seien. Häufig wurde eine der vielen Frauen zur Hauptfrau, mit der es dann zu einer Art Paarbindung kam, sonst aber stand der StatusSex ganz und gar im Vordergrund. Die Gleichung war einfach genug: Macht = Anzahl der Frauen im Harem! Gelegentlich waren so viele im Harem, daß der Herr niemals die Zeit und die Energie hätte aufbringen können, sich mit allen zu paaren; um allerdings seine Männlichkeit symbolisch darzutun, zeugte er so viele Nachkommen wie nur möglich. Beim Möchtegern-Pascha von heute ist das meist anders: Er kann seine vielen Frauen nicht alle auf einmal um sich scharen, und so muß er seine sexuelle Macht eine nach der ändern fühlen lassen und sich mehr auf seinen von Mund zu Mund weitergegebenen Ruf verlassen als darauf, seinen Status-Sex sichtbar werden zu lassen. An dieser Stelle erscheint es angebracht, die Einstellung der heterosexuellen Fanatiker des Status-Sex zu den Homosexuellen zu erwähnen - jene Einstellung verschärfter Feindseligkeit und Verachtung, die hervorgerufen wird durch die unbewußte Vorstellung des »da sie ja nicht am Spiel teilnehmen, kann man sie auch nicht schlagen«. Mit anderen Worten: Das mangelnde sexuelle Interesse des männlichen Homosexuellen an den Frauen verhilft ihm zu einem scheinbar unfairen Vorteil im Kampf um den Status-Sex, denn: Egal, wie viele Frauen 180
der heterosexuelle Experte auch erobert - den Homosexuellen wird das nicht im geringsten beeindrucken. Und deshalb wird es nötig, ihn dadurch auszustechen, daß man ihn lächerlich macht. Innerhalb der Welt der Homosexuellen gibt es natürlich ein genauso lebhaftes Ringen um den Status-Sex wie im heterosexuellen Bereich; doch das führt keineswegs zu besserem Verständnis des einen für den ändern, da die Objekte, um die man sich bewirbt, in beiden Fällen so grundverschieden sind. Wenn der Praktiker des Status-Sex von heute nicht zu wirklichen Eroberungen fähig ist, steht ihm noch eine Reihe von Alternativen zur Verfügung. Der etwas Unsichere kann sich dadurch bestätigen, daß er schweinische Witze erzählt, woraus gefolgert werden soll, daß er sexuell aggressiv ist. Wer freilich hartnäckig immer nur Zoten reißt, wird bei seinen Genossen allmählich den Verdacht erregen, daß dies lediglich eine Ersatzhandlung sei. Männer mit einem noch größeren Minderwertigkeitsgefühl werden schließlich oft zu Prostituierten gehen. Von anderen Funktionen dieser sexuellen Betätigung war bereits die Rede, doch ist das Erhöhen des Status die vielleicht wichtigste insofern, als bei dieser Form des StatusSex die Erniedrigung der Frau das Wesentliche wird: Der Mann kann, wenn er etwas Bargeld in der Tasche hat, sexuelle Unterordnung fordern. Und die Tatsache, daß er 181
weiß, das Mädchen wird über sein Angebot nicht gerade begeistert sein, sich ihm aber doch unterwerfen, kann sogar das Gefühl seiner Macht über sie beträchtlich steigern. Als weitere Alternative bietet sich an, zum Striptease zu gehen: Für relativ wenig Geld wiederum entkleidet sich eine Frau vor den Augen des Mannes, entwürdigt sich damit und hebt so den Status der männlichen Zuschauer. Es gibt eine rüde Karikatur zum Striptease mit der Unterschrift »tripes-tease«, was soviel bedeutet wie »Kaldaunen 'raus!«. Das Bild zeigt ein nacktes Mädchen, das bereits alles ausgezogen und sich auf die Rufe nach »mehr!« den Leib aufgeschlitzt hat, um mit verführerischem Lächeln zum Rhythmus der Musik seine Gedärme herauszuholen. Dieses brutale Bild zeigt, daß wir uns mit dem Kapitel Striptease bereits im Bereich einer extremen Form der Äußerung des Status-Sex befinden, in dem des Sadismus. Es ist eine widerliche, aber offenkundige Tatsache: Je drastischer das Verlangen des Mannes nach Erhöhung seines Ego, desto schrecklicher die Ausmaße, und je erniedrigender und gewalttätiger der Akt, desto größer die Erhöhung. Für den weitaus größten Teil der Männer sind diese extremen Ausmaße zwar nicht notwendig; die Ebene der Selbstbestätigung, wie man sie im gewöhnlichen sozialen Leben erreicht, genügt im allgemeinen. Doch unter dem schweren Druck des Status im Dasein des 182
Superstammes, wo es nur so wenige Ranghohe geben kann und so viele unterdrückte Rangniedere sein müssen, wuchern sadistische Gedanken hoch. Für die meisten Männer bleiben sie nichts als eben Gedanken - sadistische Phantasien, die niemals ans Tageslicht kommen. Bei einigen aber geht das weiter. Gierig vertiefen sie sich in all das, was sadistische Bücher, Bilder und Filme an Details über Züchtigungen, Auspeitschungen und Folterungen bieten. Wenige nur sind es, die an pseudosadistischen Darbietungen teilnehmen, und dann gibt es noch die verschwindende Minderheit derer, die praktizierende Sadisten sind. Gewiß - es können viele Männer beim Liebesspiel leicht brutal sein, und manche vollführen mit ihren Partnerinnen pseudosadistische Riten. Der Vollblutsadist jedoch ist eine glücklicherweise seltene Bestie. Eine der häufigsten Formen des Sadismus ist die Vergewaltigung. Vielleicht ist der Grund dafür der, daß sie eine so ausschließlich männliche Handlung ist und besser als andere Formen sadistischer Betätigung eine aggressive Männlichkeit zum Ausdruck bringt. (Männer können Frauen foltern, und Frauen können Männer foltern. Männer können Frauen vergewaltigen, aber Frauen können nicht Männer vergewaltigen.) Zu dem Gefühl der totalen Beherrschung und Schändung einer Frau tritt als eine für den Sadisten besonders exzessive Befriedigung durch das Schänden die Tatsache, daß die Zuckungen und 183
der Ausdruck des Schmerzes an das Zucken und den Gesichtsausdruck der Frau beim intensiven Orgasmus erinnern. Wenn er dann schließlich sein Opfer umbringt, wird ihm das Zusammenfallen und Erschlaffen zum grauenhaften Abbild der Entspannung nach dem OrgasEine Alternative für »sanftere« Männer ist das, was man als »visuelle Notzucht« bezeichnen könnte. Gewöhnlich Exhibitionismus genannt, besteht sie darin, vor einer fremden Frau oder mehreren plötzlich die Genitalien zu entblößen. Der Versuch, einen körperlichen Kontakt herzustellen, wird dabei nicht unternommen. Das Ziel ist es vielmehr, bei den unfreiwilligen Zuschauerinnen Scham und Verwirrung entstehen zu lassen, indem man sie mit der Urform des Status-Sex-Drohens konfrontiert. Und damit sind wir wieder bei der Penis-Drohung des Totenkopfäffchens angelangt. Die extreme Form des Sadismus ist das Foltern, Vergewaltigen und Ermorden eines kleinen Kindes durch einen erwachsenen Mann. Sadisten dieses Typs müssen unter den wohl intensivsten Gefühlen der Minderwertigkeit des Status leiden, die es beim Menschen überhaupt gibt. Um eine Erhöhung ihres Ego zu erreichen, sind sie gezwungen, sich die schwächsten, hilflosesten Wesen ihrer Gesellschaft herauszusuchen und ihnen die gewalttätigste Form des Beherrschens anzutun, die es gibt. Zum Glück sind diese extremen Fälle seltener, als es den Anschein hat, da sie durch eine enorme Publizität hochgespielt wer184
den; in Wirklichkeit machen sie nur einen winzigen Bruchteil in der Gesamtheit der Gewaltverbrechen aus. Trotzdem ist der Schluß berechtigt, daß jeder Superstamm, bei dem es audi nur einige wenige Individuen gibt, die zu derlei Exzessen der Rangbestätigung getrieben werden, eine Gesellschaft darstellt, die unter einem massiven Status-Druck steht. Und noch ein Punkt, der zum Kapitel Status-Sex gehört: Es ist eine sehr interessante Tatsache, daß auffallend Machtgierige an physisch-sexuellen Anomalitäten litten. Bei der Obduktion Hitlers stellte sich heraus, daß er nur einen Hoden hatte, und als man Napoleon sezierte, fand man, daß seine Genitalien verkümmert waren. Beide führten ein ungewöhnliches Sexualleben - und uns bleibt nur übrig zu fragen, welchen Lauf wohl die Geschichte Europas genommen hätte, wenn sie sexuell normal gewesen wären. Von der Anatomie her sexuell minderwertig, sind sie vielleicht gerade dadurch zu direkteren Ausdrucksformen der Aggressivität getrieben worden. Und wie extrem auch immer ihre Herrschaft wurde, ihr Drang nach Super-Status konnte niemals Befriedigung finden, denn sie mochten erreichen, was immer sie wollten — eines jedoch erreichten sie nie: daß sie dadurch Genitalien des typisch dominierenden Mannes bekamen. So nämlich dreht sich der Status-Sex im Kreis: Zuerst muß der männlich überlegene Sexualzustand als eine Äußerung der Aggression des Überlegenen herhalten. Dann wird er 185
in dieser seiner Rolle so wichtig, daß - wenn etwas am Sexuellen nicht stimmt - ein Ausgleich nötig ist, indem nun stärkerer Nachdruck auf der reinen Aggression liegt. Vielleicht sollte nach all diesen Ausführungen doch noch etwas über den Status-Sex (in seinen mildesten Formen) gesagt werden. In einer ganzen Reihe mehr ritualisierter und symbolischer Abwandlungen hält er schließlich relativ harmlose Möglichkeiten zur Entladung bereit, die sonst potentiell schädigende Aggressionen wären. Wenn ein ranghöherer Affe einen rangniederen bespringt, erreicht er damit sein Ziel, sich selbst zu bestätigen, ohne daß er, seine Zähne in den Körper des schwächeren Tieres schlagen muß. Und so verursacht ein Schlagabtausch von SexWitzeleien in einer Bar weniger Schaden als ein Krakeel oder eine Keilerei: Eine obszöne Geste einem ändern gegenüber bedeutet noch lange kein blaues Auge. Solchermaßen liefert der Status-Sex unblutigen Ersatz für die blutige Gewalt direkter Aggression. Nur in unseren übermäßig groß gewordenen Superstämmen, wo die StatusPyramide steil in den Himmel ragt und der Druck des Haltens oder Verbesserns der Stellung innerhalb der sozialen Hierarchie so immens stark geworden ist, nur dort konnte es geschehen, daß der Status-Sex unseren Händen entglitt und es zu Auswirkungen kam, die genauso blutig sind wie die pure Aggression selbst. Auch das gehört zu dem Preis, den der Angehörige des Superstammes zu bezahlen hat für die großen Leistungen seiner SuperStammes-Welt und für die Reize, die das Leben in ihr bietet. 186
Bei der Bestandsaufnahme der zehn Grundfunktionen des sexuellen Verhaltens haben wir sehr klar gesehen, wie der Sex für das verstädterte Lebewesen Mensch zum Super-Sex geworden ist. Er hat diese zehn Funktionen mit anderen Lebewesen gemeinsam, hat aber die meisten von ihnen viel weiter vorangetrieben, als es die anderen Spezies jemals getan haben. Sogar in den puritanischsten Kulturen spielte der Sex eine bedeutende Rolle - wenn auch nur dadurch, daß er die Gemüter der Menschen ständig als etwas bewegte, das man unterdrücken müsse. Denn man geht wohl nicht fehl, wenn man behauptet, daß niemand so sehr vom Sex gequält wird wie der fanatische Puritaner. Die bei der Entwicklung hin zum Super-Sex wirksamen Faktoren sind eng miteinander verwoben. Hauptfaktor war die Evolution eines gigantischen Gehirns. Sie führte zu einer verlängerten Kindheit, und diese wiederum verlangte eine über lange Zeit intakte Familie. Dazu mußte eine Paarbindung hergestellt und aufrechterhalten werden. So traten Paarbildungs- und Paarbindungs-, also paarerhaltender Sex, zum primären Zeugungs-Sex. Wenn aktive Sexualventile nicht verfügbar waren, sorgte die Erfindungsgabe des gigantischen Gehirns für verschiedene Techniken, die der physiologischen sexuellen Spannung Erleichterung verschafften. Der gesteigerte Drang des Menschen nach Neuem, seine so starke Neugier und sein Einfallsreichtum wurden die Ursachen einer immensen 187
Zunahme des Exploratorischen Sex. Dank seiner Fähigkeiten formte das Riesengehirn das Leben der Menschen dergestalt, daß ihnen immer mehr freie Zeit zur Verfügung stand, gleichzeitig aber auch eine Vielzahl von Möglichkeiten, diese freie Zeit auszufüllen: Der Sex allein um des Sex willen konnte seine Blüten treiben. Wo es zu viel freie Zeit gab, trat der Beschäftigungs-Sex in Aktion. Wenn im Gegensatz dazu die gesteigerte Beanspruchung durch den Druck und den Stress im Superstamm zu groß wurde, gab es immer noch den Beruhigungs-Sex. Das zunehmend komplexer werdende Leben im Superstamm brachte eine immer weitergehende Teilung von Arbeit und Gewerbe mit sich, und so wurde auch die sexuelle Betätigung einbezogen - in Form des Kommerziellen Sex. Und schließlich wurde mit den ins Unermeßliche anwachsenden Problemen der Herrschaft und des Status in der riesigen Superstammes-Struktur der Sex mehr und mehr für den Gebrauch in nichtsexuellem Zusammenhang ausgeborgt - als alles durchdringender Status-Sex. Die größte sexuelle Komplikation, zu der es dabei kam, war der Zusammenprall zwischen den primär die Fortpflanzung betreffenden Kategorien (Zeugungs-, Paarbildungs- und Paarbindungs-Sex) einerseits und den primär nicht auf Fortpflanzung abzielenden Kategorien andererseits. In jenen Zeiten, als es noch keine Pille gab und die Empfängnisverhütung verboten, selten oder unzulänglich 188
war, bedeutete der Zeugungs-Sex eine große Gefahr für den Exploratorischen Sex, für den Sex an sich und für die übrigen Sexfunktionen. Und sogar im sogenannten »Pillen-Paradies«, das manchem als der Vorbote einer Epoche wilder Promiskuität gilt, in der es jeder mit jeder und jede mit jedem treibt, ist das Problem weit entfernt von einer Lösung, und zwar deswegen, weil die elementaren paarbindenden Eigenschaften der menschlichen Sexualbegegnungen so außerordentlich fest in uns sitzen. Die allgemeine, von allem Ärger und Kummer freie Promiskuität ist ein Mythos - und sie wird es immer bleiben. Sie ist ein Mythos, entsprungen dem Wunschdenken des Status-Sex, und wird immer eine Illlusion des Wunschdenkens bleiben. Der so starke Trieb des Menschen zur Paarbindung, der, stammesgeschichtlich gesehen, entstanden ist durch seine so außerordentlich vergrößerten Elternpflichten, wird sich hartnäckig behaupten, ganz gleich, welche technischen Fortschritte in der perfekten Empfängnisverhütung die Zukunft auch bringt. Das bedeutet keineswegs, daß solche Fortschritte keinen Einfluß auf unsere sexuelle Betätigung hätten. Im Gegenteil! Sie werden unser Verhalten gründlich ändern. Der dreifache Druck verbesserter Empfängnisverhütung, abnehmender Geschlechtskrankheiten und einer weiter wachsenden Bevölkerung arbeitet hin auf ein dramatisches Zunehmen der nicht auf die Fortpflanzung abzielenden Formen sexueller Freizügigkeit. Daran ist nicht zu zweifeln. Und 189
es kann auch kein Zweifel darüber bestehen, daß dies das Aufeinanderprallen zwischen diesen Formen des Sex und den Forderungen der Paarbindung noch verstärken wird. Im Endeffekt werden unglücklicherweise die Kinder unter ihren in sexuelle Konfusion geratenen Eltern zu leiden haben... Viel einfacher wäre es, wenn uns, wie unseren Affenvorfahren, weniger elterliche Verantwortung aufgebürdet wäre und wir wirklich biologisch mehr Anlage zur Promiskuität hätten. Dann könnten wir unsere sexuelle Betätigung mit der gleichen Geschicklichkeit erweitern und steigern, wie wir es mit unserem Körperpflegeverhalten getan haben. Mit derselben Harmlosigkeit, in der wir Stunden im Badezimmer zubringen, Masseure, Schönheitssalons, Friseure, Türkische Bäder, Schwimmbäder, Saunas aufsuchen, könnten wir uns weitschweifigen erotischen Eskapaden mit jedem, zu jeder Zeit und ohne die leisesten Nachwirkungen hingeben. Aber wie die Dinge liegen, sieht es doch so aus, als ob uns bei dieser Entwicklung die Grundlagen unserer animalischen Natur immer im Wege stehen oder sie zumindest stark beeinträchtigen werden und zwar so lange, als wir nicht einen radikalen Wandel in unseren Erbanlagen durchmachen. Die einzige Hoffnung ist, daß wir trotz der steigenden Intensität des Super-Sex mit seinen einander widerstreitenden Forderungen es lernen, das Spiel gewandter zu 190
spielen - es ist schließlich auch möglich, lukullisch zu schlemmen, ohne fett oder krank zu werden. Beim Sex ist der Trick allerdings wohl schwieriger zu meistern, denn die Gesellschaft ist belastet mit bitteren Eifersüchteleien, gebrochenen Herzen, unglücklichen, zerrütteten Familien und unerwünschten Kindern. Kein Wunder also, daß der Super-Sex ein solches Problem für den Stadt-Super-Affen darstellt. Kein Wunder, daß er so häufig mißbraucht worden ist. Er kann, wenn es gutgeht, dem Menschen zu intensivster physischer und emotionaler Belohnung verhelfen. Er kann aber auch, wenn es schiefgeht, den Menschen ins größte Elend stürzen. Indem der Mensch den Super-Sex ausbaute und mit immer größerer Raffinesse manipulierte, hat er zugleich dafür gesorgt, daß beides - Lohn und Strafe - größer wurde. Aber betrüblicherweise ist das nichts Außergewöhnliches. In vielen Bereichen des menschlichen Verhaltens finden wir die gleiche Entwicklung. Sogar bei der ärztlichen Fürsorge, bei der die Belohnungen doch so offensichtlich sind, gibt es genauso auch die Bestrafungen: Die Medizin hat schließlich das Ihre für die Übervölkerung getan, die ihrerseits Anlaß geworden ist zum Wuchern neuer Stress-Krankheiten. Die Medizin kann auch zu einer Überempfindlichkeit gegen Schmerz führen: Ein Ureinwohner von Neuguinea wird sich mit sehr viel größerer Seelenruhe einen Speer aus dem Oberschenkel ziehen als der Superstammesmann einen kleinen Splitter 191
aus dem Finger. Doch all das ist kein Grund, das Rad der Zeit zurückdrehen zu wollen. Wenn unser verstärktes Empfindungsvermögen auf Lohn und Strafe anzusprechen vermag, müssen wir dafür sorgen, daß es auf die richtige Weise anspricht. Der große Wandel besteht darin, daß die Dinge jetzt in unseren Händen oder - mehr noch - in unseren Gehirnen liegen. Das Drahtseil des Überlebens ist gespannt. Auf ihm vollführt unsere Spezies ihre kühnen Tricks. Höher und höher ist dabei das Seil gezogen worden. Die Gefahren wurden größer, ebenso aber auch die Erregungen, die das Spiel auf dem Drahtseil vermittelt. Der einzige Haken ist der, daß jemand unser biologisches Sicherheitsnetz fortgezogen hat - damals, als aus den Stämmen Superstämme wurden. An uns liegt es nun, dafür zu sorgen, daß wir nicht zu Tode stürzen. Wir haben unsere Evolution in die eigenen Hände genommen und sind nur uns selbst verantwortlich. Noch ruhen die Kraft und die Stärke unserer animalischen Eigenschaften tief in uns, ebenso aber auch unsere animalischen Schwächen. Je besser wir sie und die gewaltigen Herausforderungen verstehen, die uns in der unnatürlichen Welt des MenschenZoos entgegengeschleudert werden, desto besser sind unsere Aussichten auf Erfolg.
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Eigengruppen und Fremdgruppen Frage: Was ist der Unterschied zwischen Schwarzen in Afrika, die einen weißen Missionar massakrieren, und einem weißen Mob, der einen hilflosen Neger lyncht? Die Antwort: kaum einer - und für die Opfer überhaupt keiner. Was immer auch die Gründe, die Rechtfertigungen und Motive sein mögen: Der fundamentale Mechanismus des Verhaltens ist der gleiche. In beiden Fällen attackieren Angehörige einer Eigengruppe Angehörige einer Fremdgruppe. Mit diesem Thema betreten wir ein Gebiet, bei dem es schwierig ist, die Objektivität zu wahren. Der Grund liegt auf der Hand: Wir sind, jeder einzelne von uns, Angehöriger irgendeiner besonderen Gruppe, zu der wir uns zählen, der Eigengruppe, und deshalb ist es schwierig für uns, die Probleme des Konflikts zwischen der eigenen und einer fremden Gruppe (oder deren mehrerer) zu betrachten, ohne dabei Partei zu ergreifen, wenn auch vielleicht unbewußt. Ehe ich dieses Kapitel abschließe und Sie es zu Ende lesen, müssen wir also versuchen, uns außerhalb unserer Gruppen zu stellen und unvoreingenommen auf die Schlachtfelder des Lebewesens Mensch hinabzuschauen, wie mit den Augen eines in seiner Raumkapsel über der Erde sdiwebenden Marsmenschen. Das wird keinesfalls einfach sein, und bereits ganz zu Anfang muß ich deshalb mit aller Deutlichkeit betonen, daß nichts von dem, was 193
ich hier ausführe, als konstruiert begriffen werden soll, daß ich also keine Gruppe der ändern vorziehe oder daß ich die Vorstellung erwecken will, eine Gruppe stehe von vornherein höher als eine andere. Um gleich ein mit der Evolution arbeitendes Argument zu entkräften: Wenn zwei menschliche Gruppen aneinandergeraten und die eine die andere ausrottet, könnte man meinen, der Sieger sei biologisch erfolgreicher als der Verlierer. Doch dieses Argument sticht nicht, denn wir müssen die Spezies Mensch als ein Ganzes betrachten und nicht unter zu kleinem Gesichtswinkel. Der größere Aspekt nämlich besagt: Wenn die beiden Gruppen es verstanden hätten, zwar in Konkurrenz zueinander, aber friedlich nebeneinander zu leben, wäre die Art als Ganzes sehr viel erfolgreicher gewesen. In dieser weiten Sicht also müssen wir die Dinge anzugehen versuchen. Wenn sie einleuchtend erscheint, wird uns die Deutung weniger schwerfallen. Wir gehören nicht zu einer Art, die ihren Nachwuchs in Massen in die Welt setzt wie etwa jene Fischarten, die Tausende von Jungen auf einmal produzieren, von denen die meisten eingehen und nur ganz wenige überleben. Wir sind nicht Quantitätszeuger, wir sind Qualitätszeuger, die nur wenig Nachkommen hervorbringen, diese dafür aber mit Sorge und Aufmerksamkeit geradezu überhäufen, und das über eine größere Zeitspanne, als es alle anderen Lebewesen tun. 194
Es ist doch, sieht man einmal von allem ändern ab, wahrhaft grotesk unwirtschaftlich, den Nachkommen nahezu zwei Jahrzehnte lang elterliche Energie zuzuwenden und sie dann fortzuschicken, damit sie von den Nachkommen anderer Menschen erstochen, erschossen, verbrannt und bombardiert werden. Und doch sind in wenig mehr als einem einzigen Jahrhundert (von 1820 bis 1945) nicht weniger als 59 Millionen Menschen bei diesen oder jenen Konflikten zwischen diesen oder jenen Gruppen umgebracht worden. Das nämlich ist es, was so schwer zu erklären ist, wo doch unser menschlicher Verstand uns so eindeutig sagt, daß es besser wäre, in Frieden zu leben. Wir bezeichnen solche Mordtaten gern als das Verhalten von Menschen, die sich wie »die Tiere aufführen«. Doch wenn wir auch nur ein einziges wildes Tier finden könnten, bei dem es Anzeichen eines solchen Tuns gäbe, wäre es wohl richtiger, ihm eine menschliche Verhaltensweise zuzuschreiben. Denn es ist eine Tatsache, daß wir ein solches Lebewesen nicht finden werden! Wir haben es hier wieder einmal mit einer der dubiosen Eigenschaften zu tun, die den Menschen zu einer so einzigartigen Spezies werden lassen. Biologisch gesehen hat der Mensch angeborenermaßen die Aufgabe, drei Dinge zu verteidigen: sich selbst, seine Familie und seinen Stamm. Als ein paarbildender, in Gruppen lebender Angehöriger der Primatensippe mit Revierbesitz wird er dazu von seinen Anlagen angetrieben, und zwar hart angetrieben. Wenn man ihn oder seine Familie oder seinen Stamm gewaltsam bedroht, wird es 195
für ihn nur allzu natürlich sein, mit Gegengewalt zu antworten. Solange noch eine Chance besteht, den Angriff abzuwehren, ist es seine biologische Pflicht, zu versuchen, alles zu tun, was nur in seiner Macht steht. Für viele andere Lebewesen ist die Situation die gleiche, jedoch bleibt unter natürlichen Bedingungen das Ausmaß der tatsächlich angewendeten körperlichen Gewalt begrenzt. Es geschieht nämlich meist nur wenig mehr, als daß mit Gewalt gedroht und darauf mit der Gegendrohung von Gewalt geantwortet wird. Die wirklich gewalttätigen Arten scheinen sich selbst ausgerottet zu haben - und das ist eine Lehre, die wir auf keinen Fall in den Wind schlagen sollten. Das klingt recht einfach. Aber die letzten tausend Jahre der Menschheitsgeschichte haben unser stammesgeschichtliches Erbe mehr als nur belastet. Noch ist zwar ein Mann ein Mann, und eine Familie ist noch eine Familie. Doch der Stamm ist schon lange kein Stamm mehr. Er ist ein Superstamm. Wenn wir jemals die wahrhaft einzigartigen Roheiten unserer nationalen, ideologischen und rassischen Konflikte verstehen wollen, müssen wir die Wesensart der Bedingungen im Zustand des Superstammes gründlich untersuchen. Einige der Spannungen, die sie nach innen hat entstehen lassen, konnten wir bereits ermitteln -
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so etwa die Aggression im Ringen um den Status. Jetzt gilt es zu betrachten, wie sie die Spannungen nach außen, die zwischen der einen und der anderen Gruppe, bewirkt und verschärft. Es ist dies eine Geschichte vom Schrecken ohne Ende. Der erste wichtige Schritt erfolgte, als wir uns in Dauerbehausungen niederließen. Sie lieferten uns ein ganz bestimmtes Objekt, das ebenso bestimmt verteidigt werden mußte. Unsere nächsten Verwandten, die Tier- und Menschenaffen, leben typischerweise in nomadisch umherziehenden Horden. Jede Horde hält sich in einem größeren oder kleineren Heimatgebiet auf, in dem sie ständig hin and her wandert. Wenn sich zwei Horden begegnen, bedroht man einander zwar, doch kommt es dabei kaum zu einer ernstzunehmenden Entwicklung. Man droht, trollt rith dann und geht wieder seiner Beschäftigung nach. Als der frühe Mensch seßhaft und damit sein Revier fester umrissen wurde, mußte auch die Methode der Revierverteidigung verschärft werden. Aber in jenen frühen Tagen gab es noch so viel Land und so wenige Menschen, daß genug Raum für alle da war. Sogar als die Stämme größer wurden, blieben die Waffen noch plump und primitiv. Und noch waren die Anführer und Häuptlinge selbst sehr viel mehr in die Kämpfe verwickelt. (Wenn nur die Führer von heute gezwungen wären, in der Hauptkampflinie ihren Dienst zu versehen! Wie sehr viel vorsichtiger und 197
»menschlicher« wären sie dann wohl beim Treffen ihrer ersten Entscheidungen. Es ist wohl keineswegs allzu zynisch, wenn man meint, daß dies der Grund ist, warum sie zwar immer noch bereit sind, »begrenzte« Kriege zu führen, aber vor den großen Atomkriegen Angst haben. Die Reichweite der Atomwaffen hat nämlich den Nebeneffekt gezeitigt, daß nun auch sie sich wieder in der Hauptkampflinie befinden. Und vielleicht sollten wir deshalb statt der nuklearen Abrüstung die Vernichtung der unterirdischen Betonbunker fordern, die sie bereits zu ihrem eigenen Schutz errichtet haben.) Damit, daß sich der Bauer zum Städter entwickelte, erfolgte der nächste wesentliche Schritt hin zu größerer Grausamkeit bei Konflikten. Die Arbeitsteilung und die Spezialisierung, die mit der Stadt begannen, bedeuteten, daß man einen Teil der Bevölkerung zum hauptamtlichen Töten abzweigen konnte — das Militär war geboren. Mit dem Anwachsen der städtischen Superstämme liefen dann die Dinge noch rascher ab. Das soziale Wachstum wurde derart rapide, daß die Entwicklungen in den verschiedenen Gebieten nicht mehr Schritt miteinander hielten. An die Stelle des recht stabilen Gleichgewichts der Macht zwischen Stamm und Stamm trat nun eine sehr bedenkliche Labilität, die bedingt war dadurch, daß jetzt Superstamm nicht mehr gleich Superstamm war: Die aufblühenden Kulturen, die sich eine Ausbreitung leisten konnten, stießen dabei nicht auf gleichwertige Gegner, bei denen man 198
sich die Sache gründlich überlegen und es bei dem ritualisierten Drohen durch Feilschen und Handeln belassen mußte, sondern trafen auf schwächere, in der Entwicklung zurückgebliebene Gruppen, die sie mühelos überfallen und vergewaltigen konnten. Blättert man in einem historischen Atlas, kann man mit einem Blick die ganze traurige Geschichte der wüsten Verschleuderung von Menschenleben ohne Sinn und Erfolg feststellen, das Auf und Ab von Aufbau und Untergang, dem wiederum nur noch mehr Aufbau und noch mehr Untergang folgten. Natürlich gab es nebenbei auch Fortschritte, durch Vermischungen etwa, die ein Zusammenfließen des Wissens und die Ausbreitung neuer Ideen mit sich brachten. Aber immer wieder wurden Pflugscharen zu Schwertern umgeschmiedet. Gewiß, die Suche nach besseren Waffen führte schließlich auch zu besseren Werkzeugen. Doch der Preis, der dafür gezahlt werden mußte, war hoch. Größer und größer wurden die Superstämme, und immer schwieriger zu meistern war die Aufgabe, die wuchernd sich vermehrenden, wimmelnden Massen zu beherrschen, immer größer wurden die Spannungen infolge der Übervölkerung, immer intensiver die Frustrationen beim Ringen um den Superstatus. Höher und höher staute sich die Aggression an, die nach einer Möglichkeit zur Entladung suchte. Der Konflikt mit einer Fremdgruppe, der Krieg, lieferte eine solche Entladung in wahrhaft großartigem Ausmaß. 199
Dem Häuptling von heute nun bringt das »Kriegspielen« viele Vorteile, deren sich der Häuptling der Steinzeit nicht erfreuen konnte. Vor allem: Er braucht es nicht zu riskieren, sich einen blutigen Kopf zu holen. Weiter: Die Menschen, die er in den Tod schickt, sind keine persönlichen Bekannten von ihm - sie sind Spezialisten, und der Rest der Gesellschaft kann seinem Alltagsleben nachgehen. Unruhestifter, die es nach Kampf gelüstet, da sie sich auf diese Weise Luft machen wollen von den Pressionen des Superstammes, können ihre Wut austoben, ohne sie gegen den Superstamm selbst zu richten. Und einen äußeren Feind als Sündenbock für alles zu haben, das kann einen Führer zum Heros erheben, kann sein Volk einigen und ihn selbst die Querelen vergessen lassen, die ihm so viele Kopfschmerzen bereitet haben. Nur Naivlinge können annehmen, Führer seien solche Supermenschen, daß Faktoren wie die eben genannten sie nicht zu beeinflussen vermöchten. Der Hauptfaktor allerdings bleibt der Drang, den eigenen Führer-Status gegenüber dem der Führer fremder Gruppen aufrechtzuerhalten oder zu verbessern. Ich sagte es bereits: Zweifellos das größte Problem ist die Tatsache, daß der Fortschritt aus dem Tritt gerät, daß eine Gruppe schneller vorankommt als eine andere. Ist ein Superstamm wegen seiner natürlichen Hilfsquellen oder infolge seines Einfallsreichtums einem ändern Superstamm einen Schritt voraus, dann bedeutet das unweigerlich Ärger: Die fortgeschrittenere 200
Gruppe wird sich der rückständigen so oder so aufdrängen, und die rückständige Gruppe wird darüber so oder so aufgebracht sein. Jede fortschrittliche Gruppe ist ihrer ganzen Natur nach expansiv - sie kann es einfach nicht ertragen, die Dinge so zu lassen, wie sie sind, und sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Sie versucht, andere Gruppen zu beeinflussen: Entweder werden sie beherrscht, oder es wird ihnen »geholfen«. Solange der fortgeschrittenere Superstamm seine Rivalen nicht so weit beherrscht, daß diese ihr Eigendasein verlieren und von ihm vereinnahmt werden (was oft geographisch unmöglich ist), wird die Situation unstabil sein. Wenn aber der fortschrittliche Superstamm anderen Gruppen hilft und sie stärkt, jedoch so, daß dabei ihr eigenes Image gewinnt, dann wird der Tag kommen, an dem sie kräftig genug geworden sind, gegen den Superstamm aufzumucken und ihn schließlich mit seinen eigenen Waffen und seinen eigenen Methoden zu schlagen. Und während dies geschieht, liegen die Führer anderer mächtiger, fortschrittlicher Superstämme gespannt auf der Lauer, um ja sicherzugehen, daß derlei Expansionen nicht allzu erfolgreich verlaufen. Ist das nämlich der Fall, dann wird ihr Status gegenüber dem der anderen Führer ins Rutschen geraten.
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Das alles aber vollzieht sich unter dem bemerkenswert durchsichtigen, aber dessenungeachtet beharrlich weiter benutzten Mäntelchen der Ideologie. Wollte man sich auf die amtlichen Dokumente verlassen, so käme man niemals auf den Gedanken, daß es der Ruhm und der Status der Herren Führer waren, die auf dem Spiel standen. Angeblich geht es immer um Ideale, um moralische Prinzipien, um gesellschaftliche Philosophien oder um den frommen Glauben. Für einen Soldaten aber, der auf seine zerfetzten Beine starrt oder mit den Händen versucht, seine Eingeweide zu halten, bedeutet es einzig und allein ein verschleudertes Leben. Und weshalb war es so leicht, ihn in diese Lage zu bringen? Die Antwort: Weil er nicht nur ein potentiell aggressives Lebewesen ist, sondern auch ein kooperatives. All das Geschwätz, er müsse die Prinzipien seines Superstammes verteidigen, ging ihm ein, denn für ihn wurde es zu einer Angelegenheit der Hilfe für seine Freunde. Unter der Belastung des Krieges, unter der direkten, sichtbaren und spürbaren Bedrohung durch die Fremdgruppe waren die Bande zwischen ihm und seinen Kameraden ungeheuer gefestigt worden. Er tötete mehr deshalb, weil er sie nicht im Stich lassen wollte, als aus sonst einem Grund. Die alte Stammestreue war so stark, daß ihm gar keine andere Wahl blieb, als der entscheidende Moment kam.
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Angesichts der Pressionen des Superstammes, angesichts der weltweiten Übervölkerung unserer Spezies, angesichts des bei den verschiedenen Superstämmen ungleich sich vollziehenden Fortschritts besteht wenig Hoffnung, daß unsere Kinder aufwachsen, ohne recht zu wissen, was Krieg eigentlich bedeutet. Das Lebewesen Mensch ist den Schuhen des Primatendaseins entwachsen: Sein biologisches Rüstzeug ist nicht stark genug, es mit der unbiologischen Umwelt aufzunehmen, die es geschaffen hat. Nur eine ungeheure Anstrengung an intellektueller Selbstbeherrschung wird die Situation noch retten können. Anzeichen dafür lassen sich von Zeit zu Zeit hier und da feststellen, doch ebenso schnell, wie sie hier erscheinen, verschwinden sie dort wieder. Mehr noch: Wir sind als biologische Art so elastisch, daß es ganz sos aussieht, als seien wir überhaupt nicht unterzukriegen und könnten mit jedem Schock fertig werden, könnten uns von jeder Katastrophe erholen und brauchten nicht einmal zu lernen aus unseren brutalen Lektionen. Die größten und blutigsten Kriege, die es je gegeben hat, sind in der steigenden Kurve des Wachstums der Weltbevölkerung lediglich als ein winziger, den Verlauf der Kurve nur ein bißchen störender Knick erschienen. Stets steigen nach einem Krieg die Geburtenziffern an, und die Lücken sind schnell gefüllt. Der Menschengigant regeneriert sich selbst wie ein verstümmelter Regenwurm - und schlittert hurtig weiter.
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Was also läßt ein menschliches Individuum zu einem von »denen da« werden, die man ausrottet wie Ungeziefer, und nicht zu einem von »uns«, den man wie einen von Herzen geliebten Bruder verteidigt? Was ist es, das ein menschliches Individuum von uns fortstößt, hin in eine Fremdgruppe, uns aber in die Eigengruppe aufnimmt? Woran erkennen wir »die da«? Natürlich ist es am leichtesten, wenn sie zu einem Superstamm ganz für sich gehören, mit fremdartigen Sitten, einem fremdartigen Äußeren und einer fremdartigen Sprache - alles an ihnen ist so ganz und gar anders als bei »uns«, daß es höchst einfach wird, sich zu der Simplifikation verleiten zu lassen, sie alle seien üble Bösewichter. Die Bindekräfte, die dafür sorgen, daß ihre Gruppe als eine deutlich abgegrenzte und wirksam organisierte Gesellschaft zusammenhält, dienen auch dazu, sie von uns zu trennen, so daß wir sie auf Grund ihres Andersseins fürchten - wie der Drache bei Shakespeare werden sie »häufiger gefürchtet als gesehen«. Solche Gruppen sind die augenfälligsten Zielscheiben für die Feindschaft unserer eigenen Gruppe. Aber angenommen, wir haben sie angegriffen und besiegt, was dann? Angenommen, wir wagen es nicht, sie anzugreifen? Angenommen, wir leben, aus welchen Gründen auch immer, mit anderen Superstämmen derzeit in Frieden: Was geschieht nun mit der Aggression unserer Eigengruppe? Wir könnten, wenn wir sehr viel Glück haben, damit fortfahren, den Frieden zu erhalten und nützliche Aufbauarbeit innerhalb unserer Gruppe zu leisten. Die inneren Binde204
kräfte könnten stark genug sein, uns zusammenzuhalten selbst ohne die Mithilfe der Bedrohung durch eine Fremdgruppe. Aber Druck und Stress des Superstammes werden weiter auf uns einwirken, und wenn der innere Kampf um Rang und um Macht allzu rücksichtslos ausgefochten wird, wenn die in der Rangskala am tiefsten Stehenden allzu viel Unterdrückung und Not erleiden, dann werden sich bald Risse zeigen. Sobald zwischen den Untergruppen, wie sie sich innerhalb eines Superstammes ganz unvermeidlich entwickeln, krasse Ungleichheiten bestehen, wird ihr sonst normaler und gesunder Konkurrenzkampf in Gewalt umschlagen: Die in einer Untergruppe aufgestaute Aggression wird sich, sofern sie nicht, mit der aufgestauten Aggression anderer Untergruppen vereint, gegen einen allgemeinen äußeren Feind gerichtet werden kann, in Form von Tumulten, Verfolgungen und Revolten Luft machen. Beispiele dafür gibt es in der Geschichte genug. Als das Römische Reich die Welt (soweit man sie damals kannte) erobert hatte, wurde sein innerer Friede durch eine Reihe von Bürgerkriegen und Spaltungen empfindlich gestört. Als Spanien nicht mehr die Macht war, die ihre Konquistadoren in die Welt hinaussandte, um neue Kolonien zu erobern, geschah das gleiche. Es stehen also leider Kriege nach außen und Streitereien nach innen in umgekehrter Relation zueinander. Die Folgerung ist leicht einzusehen: Es ist die gleiche Art verhinderter Aggressionsenergie, die 205
in beiden Fällen ein Ventil findet. Nur eine ganz exzellent erdachte Struktur des Superstammes kann zu gleicher Zeit beides vermeiden. Es war einfach genug, »die da« zu erkennen, da sie ja zu einer völlig andersartigen Kultur gehörten. Aber wie verhält man sich, wenn »die da« zu unserer eigenen Kultur gehören? Sprache, Aussehen, Sitten und Gebräuche der inneren »die da« sind nicht fremdartig, nicht ungewohnt, und so macht das grobe Etikettieren und Über-einenKamm-Scheren sehr viel mehr Schwierigkeiten. Und doch kann man es schaffen. Eine Untergruppe mag für eine andere Untergruppe durchaus nicht fremdartig oder ungewohnt ausschauen, doch sieht sie anders aus - und das genügt häufig vollauf. Die verschiedenen Klassen, die verschiedenen Berufsgruppen, die verschiedenen Altersgruppen - sie alle haben ihre charakteristische Eigenart zu sprechen, sich anzuziehen und sich zu benehmen. Jede Untergruppe entwickelt ihren eigenen Akzent oder ihren eigenen Jargon. Auffallend unterschiedlich ist auch der Stil der Kleidung, und sobald Feindseligkeiten zwischen Untergruppen ausbrechen oder unmittelbar bevorstehen, wird die Art, sich zu kleiden, aggressiver und ganz auffallend unterschiedlicher (was besonders vor Ausbruch der Feindseligkeiten einen wertvollen Hinweis liefert). In mancher Hinsicht beginnt die Kleidung jetzt Uniformen zu ähneln, und wenn es 206
tatsächlich zum vollen Bürgerkrieg kommt, werden es selbstverständlich richtige Uniformen; doch schon bei Auseinandersetzungen geringeren Ausmaßes ist das Tragen pseudomilitärischer Attribute - wie Abzeichen, Armbinden, Helme und Embleme - eine sehr typische Sache. Bei aggressiven Geheimbünden wuchern sie geradezu. Diese und ähnliche Zeichen stärken sehr schnell das Gefühl der Zugehörigkeit zur Untergruppe, und gleichzeitig machen sie es den anderen Gruppen innerhalb des SuperStammes leicht, die zu jener Untergruppe gehörenden Individuen als »die da« zu erkennen und in Bausch und Bogen abzutun. Und doch sind das alles nur vorübergehende Merkmale: Die Abzeichen kann man, wenn der Konflikt ausgetragen ist, abnehmen, und die Träger der Abzeichen können schnell wieder in der übrigen Bevölkerung aufgehen. Selbst die wildesten Feindseligkeiten können abflauen und schließlich vergessen werden. Eine völlig andere Situation ergibt sich jedoch, wenn eine Untergruppe spezifische körperliche Eigentümlichkeiten besitzt, wenn sie zufällig etwa dunkle Haut oder gelbe Haut hat, Kraushaar oder Schlitzaugen. Dann können diese »Ab-Zeichen« nicht abgenommen werden, ganz gleich, wie friedfertig ihre Träger auch sein mögen. Bilden sie innerhalb eines Superstammes eine Minderheit, blickt man automatisch auf sie als auf eine Untergruppe hinab, die sich verhält wie aktive »die da«. Und selbst wenn ihre Angehörigen ganz und gar passive »die da« sind, macht das 207
offenbar keinen Unterschied aus. Unzählige Versuche, das Haar zu entkrausen, und unzählige Operationen der Augenfalten vermögen nicht die Botschaft verständlich zu machen, die damit ausgedrückt werden soll, nämlich die: »Wir haben uns ja doch nicht selbst absichtlich und aus Aggressivität abgesondert!« Es bleiben zu viele auffällige körperliche Anhaltspunkte zurück. Vom Verstand her weiß der übrige Superstamm sehr wohl, daß diese körperlichen »Ab-Zeichen« nicht mit Absicht angelegt worden sind. Doch die Reaktion ist alles andere als vom Verstand bestimmt - sie ist eine tiefverwurzelte Eigengruppen-Reaktion. Und wenn die aufgestaute Aggression eine Zielscheibe sucht, dann bieten sich die Träger körperlicher Zeichen buchstäblich gebrauchsfertig an, die Rolle des Sündenbocks und Prügelknaben zu übernehmen. Und so entsteht sehr schnell ein Teufelskreis: Behandelt man die Träger körperlicher Zeichen - unverschuldet - als, feindliche Untergruppe, so werden sie sich schon bald auch als solche verhalten. Die Soziologen nennen so etwas eine »sich selbst erfüllende Voraussage«. An einem fiktiven Beispiel sei veranschaulicht, was passiert, Schritt für Schritt: 1. Schau dir diesen Grünhaarigen an, der da ein Kind schlägt! 2. Dieser Grünhaarige ist böse. 3. Alle Grünhaarigen sind böse. 208
4. Grünhaarige greifen jeden an. 5. Da ist noch ein Grünhaariger - los, schlag ihn, bevor er dich schlägt! (Der Grünhaarige, der nichts, aber auch gar nichts getan hat, was eine Aggression hätte provozieren können, schlägt zurück, um sich zu wehren.) 6. Da hast du den Beweis: Grünhaarige sind böse. 7. Schlagt alle Grünhaarigen! Die Art von Eskalation der Gewalt, wie sie hier sehr einfach dargestellt ist, hört sich gewiß lächerlich an. Und selbstverständlich ist das auch lächerlich. Dennoch gibt unser Beispiel die tatsächliche Denkweise wieder. Selbst ein Blödian vermag die ganze Unlogik der sieben Etappen des sich mörderisch steigernden Gruppenvorurteils zu erkennen. Aber das verhindert keineswegs, daß sie Wirklichkeit werden. Nachdem man auf die Grünhaarigen ohne jeden Grund und lange genug eingeschlagen hat, ist es nur natürlich, daß sie böse werden: Die im Grunde völlig falsche Voraussage hat sich selbst erfüllt und ist zu einer richtigen Voraussage geworden. So einfach also wird die Fremdgruppe zum Gegenstand des Hasses. Die Geschichte hat eine doppelte Moral: Hab ja kein grünes Haar; aber wenn du es hast, sorge dafür, daß du den Leuten, die keine grünen Haare haben, per209
sönlich bekannt bist, damit sie sich dessen bewußt sind, daß du nicht tatsächlich böse bist. Das Entscheidende nämlich ist folgendes: Wenn der Mann, der beim Schlagen eines Kindes beobachtet wurde, keine besonderen Merkmale an sich hatte, durch die er »anders als die ändern« wurde, hätte man ihn als Individuum beurteilt und verurteilt - ohne jede herabsetzende Verallgemeinerung. Ist aber das Unrecht erst einmal geschehen, bleibt nur eine Hoffnung, wie sich ein weiteres Ausbreiten der Eigengruppen-Feindseligkeit verhindern läßt: Die anderen grünhaarigen Individuen müssen auf Grund persönlicher Beziehungen und persönlicher Kenntnis als Individuen gelten. Wenn dies nicht geschieht, dann wird die Feindseligkeit zwischen den Gruppen sich verschärfen, und die grünhaarigen Individuen - selbst jene, die gar nicht sonderlich gewalttätig sind - werden überhaupt nicht mehr anders können als sich zusammenzuschließen, sogar zusammen zu leben und einander zu verteidigen. Ist es aber erst einmal soweit, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis es zu nackter Gewalt kommt: Der Kontakt zwischen den Angehörigen der beiden Gruppen wird sich immer mehr abschwächen, und bald werden sie sich so verhalten, als gehörten sie zu zwei verschiedenen Stämmen. Die Grünhaarigen werden verkünden, daß sie stolz sind auf ihre grünen Haare, selbst wenn die Grünhaarigkeit in Wirklichkeit niemals auch nur die geringste Bedeutung für sie gehabt hat - so lange nicht, bis es dann als besonderes Merkmal ausgesucht wurde. 210
Das, was die grünen Haare so zwingend hat werden lassen, war ihre Sichtbarkeit. Mit der wirklichen Persönlichkeit hatte das überhaupt nichts zu tun - es war nichts anderes als ein rein zufälliges Etikett. Noch nie zum Beispiel hat man die Menschen, die zur Blutgruppe o gehören, als Fremdgruppe eingestuft, und das trotz der Tatsache, daß die Blutgruppe genauso wie Hautfarbe oder Art des Haares ein charakteristisches, vom Erbgut gesteuertes Merkmal ist. Der Grund dafür ist einfach genug: Man kann nicht durch einfaches Anschauen feststellen, wer die Blutgruppe o hat. Das heißt aber: Es fällt einem schwer, die Aversion gegen einen Menschen, der ein Kind schlägt und von dem man weiß, daß er zur Blutgruppe o gehört, auf andere Menschen der Gruppe o zu übertragen. Das klingt so einleuchtend, und doch ist es die Basis für all jene irrationalen Feindschaften zwischen Eigengruppen und Fremdgruppen, die wir gewöhnlich als »rassische Intoleranz« oder »Rassendiskriminierung« bezeichnen. Vielen mag es schwer begreiflich erscheinen, daß dieses Phänomen in Wirklichkeit auch nicht das geringste zu tun hat mit typischen Rassenunterschieden der Persönlichkeit, der Intelligenz oder der emotionalen Wesensart (deren Existenz übrigens niemals bewiesen worden ist), sondern ausschließlich mit untypischen und heutzutage bedeutungslosen Unterschieden äußerlicher Rassen-»Abzeichen«. Ein weißes oder gelbes Kind, das in einem schwarzen Superstamm aufgezogen wird, und zwar bei gleichen Chancen, 211
wird zweifellos genausogut gedeihen und sich genauso verhalten wie die schwarzen Kinder. Und dasselbe gilt im umgekehrten Fall. Wo dies nicht zutrifft, ist es einfach die Folge davon, daß ihnen wahrscheinlich nicht die gleichen Chancen geboten worden sind. Um das zu verstehen, müssen wir einen kurzen Blick auf die Art und Weise werfen, wie die verschiedenen Rassen entstanden sind. Um es gleich zu sagen: »Rasse« ist ein verhängnisvolles Wort, das man allzu oft falsch gebraucht (und mißbraucht) hat. Wir sprechen von der menschlichen Rasse, von der weißen Rasse und von der britischen Rasse und meinen damit die menschliche Spezies, die weiße Unterspezies und den britischen Superstamm. In der Zoologie bedeutet eine Spezies oder Art eine Population von Tieren, die sich miteinander ungehindert fortpflanzen, dies jedoch mit Angehörigen anderer Populationen nicht können oder nicht tun. Eine Art tendiert nun dazu, sich in eine Anzahl voneinander unterscheidbarer Unterarten aufzuspalten im gleichen Maße, in dem sie sich über ein immer größeres geographisches Gebiet ausbreitet. Kreuzt man diese Unterspezies künstlich miteinander, so vermehren sie sich ungehindert und können dabei wieder zu einem Gesamttyp verschmelzen. Normalerweise geschieht das jedoch nicht. Klimatische und andere Gegebenheiten beeinflussen Farbe, Gestalt und Größe der einzelnen Unterarten in deren unterschiedlichen natürlichen Lebensbereichen: Eine Gruppe zum Beispiel, die in einem kalten 212
Gebiet lebt, kann schwerer und gedrungener werden; bei einer anderen, die ein Waldgebiet bewohnt, entwickelt sich vielleicht ein geflecktes Fell als Tarntracht im Dämmerlicht. Dank solcher körperlichen Unterschiede vermögen die Unterarten sich ihrer jeweiligen Umwelt anzupassen, so daß jede den Bedingungen in dem ihr eigenen Lebensbereich gerecht wird. Wo solche Gebiete aneinandergrenzen, gibt es keine scharfe Trennungslinie zwischen den Unterarten; nach und nach verschmelzen sie miteinander. Wenn die Unterarten aber mit der Zeit zunehmend Toneinander differieren, kann es schließlich dazu kommen, daß sie sich an den Grenzen ihrer Gebiete nicht mehr kreuzen, und es entsteht eine scharfe Scheidelinie. Breiten sie rieh dann später aus und überschneiden sich dabei, so werden sie sich nicht mehr vermischen: Sie sind zu echten Arten geworden. Auch bei der Spezies Mensch entstanden, als sie sich über die Erde verbreitete, voneinander verschiedene Unterarten - ganz wie in der Tierwelt. Drei von ihnen - die (weiße) Europide Gruppe, die (schwarze) Negride Gruppe und die (gelbe) Mongolide Gruppe - sind höchst erfolgreich geworden. Zwei weitere Unterarten waren es nicht; sie existieren heute nur noch als Restgruppen und Schatten ihrer selbst. Es sind dies die Australiden - die australischen Ureinwohner und ihre Verwandten - und die Khoisaniden, die Buschmänner Südafrikas. Diese beiden Unter213
arten haben früher ein sehr viel größeres Gebiet besiedelt (die Buschmänner konnten zu einer Zeit fast ganz Afrika ihr eigen nennen), doch sind sie inzwischen nahezu überall ausgerottet worden - mit Ausnahme einiger begrenzter Gebiete. Ein jüngster Überblick gibt die Zahlen für die fünf Unterarten wie folgt an: 196 Eigengruppen und Fremdgruppen Europide: 1.757 Millionen Mongolide: 1.171 Millionen Negride: 216 Millionen Australide: 13 Millionen Khoisanide: 126.000 An der Spitze der insgesamt über 3.000 Millionen Menschen steht also die weiße Unterart mit über 55 Prozent, ihr folgt dichtauf die gelbe Unterart mit 37 Prozent und dann die negride Unterart mit 7 Prozent. Die beiden Restgruppen machen zusammen weniger als ein halbes Prozent des Ganzen aus. Diese Zahlen sind unvermeidlicherweise nur Annäherungswerte, geben aber eine recht gute Vorstellung von der Lage der Dinge. Genau können sie nicht sein, da es, wie bereits dargelegt, das Merkmal einer Unterart ist, daß sie sich in den Grenzgebieten mit ihren Nachbarn vermischt. Zusätzlich kompliziert wird die Sache im Falle der menschlichen Art durch die verstärkte Auswirkung der 214
Mobilität: Es gab (und gibt) Wanderungen und Verschiebungen der zu den Unterarten gehörenden Bevölkerungen in ungeheurem Ausmaß mit dem Erfolg, daß es in vielen Gebieten zu komplexen Vermischungen kam und weitere Kreuzungen stattfanden - und dies trotz des Entstehens von Feindschaften zwischen Eigengruppen und Fremdgruppen und trotz alles Blutvergießens, denn nach wie vor können sich die verschiedenen Unterarten natürlich voll und ganz miteinander kreuzen. Wären jedoch die verschiedenen Unterarten der Spezies Mensch für eine längere Zeitspanne geographisch voneinander getrennt geblieben, hätte dies durchaus zur Aufspaltung in einzelne Arten kommen können, die physisch ihren jeweiligen klimatischen und sonstigen Milieubedingungen angepaßt gewesen wären. Das also hätte geschehen können. Aber die immer stärker sich auswirkende technische Herrschaft des Menschen über seine physikalische Umwelt und dazu seine so große Beweglichkeit machten seinen evolutionären Trend zunichte: Kaltes Klima wurde durch alle möglichen Maßnahmen überwunden, von der Kleidung über das Holzfeuer bis zur Zentralheizung, Hitze durch Kühlen und Klimatisieren gemildert: Die Tatsache zum Beispiel, daß ein Neger mehr Schweißdrüsen hat, die für Abkühlung des Körpers sorgen, als ein Europäer, verliert angesichts dessen rasch ihre Bedeutung für einen Anpassungsvorgang. 215
Mit der Zeit wird es unvermeidlich, daß die Verschiedenheiten der Unterarten, die »rassischen Merkmale«, sich vollständig miteinander vermischen und so ganz und gar verschwinden. Unsere späten Nachfahren werden beim Betrachten alter Fotografien aus dem Staunen über ihre merkwürdigen Ahnen nicht herauskommen. Leider wird das jedoch noch sehr lange Zeit brauchen - und zwar wegen des irrationalen Mißbrauchs dieser Merkmale als Abzeichen einer wechselseitigen Feindseligkeit. Die einzige Hoffnung, daß man diesen so nützlichen und letztlich doch unumgänglichen Prozeß der Vermischung rapide beschleunigen könnte, wäre ein international gültiges Gesetz, das jedermann die Kreuzung mit einem Angehörigen der eigenen Unterart verbietet. Da dies jedoch reine Phantasie ist und bleibt, kann die Lösung, auf die allein wir uns verlassen müssen, nur die sein, daß Dinge, die bisher Angelegenheit einer immens emotionalen Einstellung gewesen sind, in zunehmendem Maße rational angepackt werden. Daß dies geschehen muß, läßt sich sofort mühelos durch eine kurze Untersuchung der unglaublichen, extrem vernunftwidrigen Übertreibungen aufzeigen, die so oft ausschlaggebend gewesen sind. Ein Beispiel mag genügen: die Auswirkungen des Handels mit Negersklaven nach Amerika. Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert hat man insgesamt rund fünfzehn Millionen Neger in Afrika gefangengenommen und als Sklaven nach Amerika verschifft. Die 216
Sklaverei war an sich nichts Neues; außergewöhnlich aber waren der Umfang dieses Unternehmens sowie die Tatsache, daß es von Superstämmen durchgeführt wurde, die sich zum Christentum bekannten. Es bedurfte dazu einer ganz besonderen Geisteshaltung - einer, die zu ihrer Grundlage eine Reaktion auf die physischen Unterschiede zwischen den beteiligten Unterarten hatte: Man mußte in den Negern faktisch eine neue Art von Haustieren sehen. Angefangen hatte es so beileibe nicht. Die ersten Reisenden, die in den Schwarzen Erdteil eindrangen, waren erstaunt über die Großartigkeit und den Aufbau der Negerreiche. Es gab große Städte, Bildung und Wissen, eine geordnete Verwaltung und beachtlichen Wohlstand Tatsachen, die selbst heute noch vielen Menschen unfaßbar erscheinen. Denn es sind zu wenige Beweise dafür erhalten geblieben, und das Greuelmärchen vom nackten, faulen, mörderischen, blutdürstigen Wilden hat sich nur allzu schnell durchgesetzt. Daß es aber zum Beispiel die herrlichen Bronzen von Benin gegeben hat, daran denkt man kaum - die frühen Berichte über die Negerkulturen sind glattweg verheimlicht und vergessen worden. Lassen Sie uns nur einen kurzen Blick auf eine alte Negerstadt in Westafrika werfen, wie sie vor dreieinhalb Jahrhunderten ein früher holländischer Reisender gesehen hat. Er schrieb:
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Die Stadt schien sehr ausgedehnt zu sein; wenn man sie betritt, geht man durch eine große breite Straße..., sieben- oder achtmal so breit wie die Warmoes-Straße in Amsterdam... Seitwärts von ihr sieht man viele Straßen, die ebenfalls schnurgerade verlaufen ... Die Häuser der Stadt stehen in guter Ordnung, eines neben dem ändern und in gleicher Höhe mit ihnen, wie die Häuser in Holland ... Der Palast des Königs ist sehr groß; in ihm befinden sich große quadratische Höfe, die von Säulengängen umgeben sind ... Ich war so tief inmitten des Palastes, daß ich vier dieser großen Plätze überquerte, und wohin ich auch blickte, sah ich Pforte auf Pforte, die zu anderen Plätzen führten ... Nun - das kann wohl kaum ein primitives Lehmhüttendorf gewesen sein. Und die Bewohner dieser alten westafrikanischen Kulturen kann man wohl auch nicht als grausame, speerschwingende Wilde hinstellen. Schon in der Mitte des 14. Jahrhunderts verzeichnet ein weltkundiger Besucher die Leichtigkeit des Reisens, die Zuverlässigkeit in der Nahrungsversorgung und die guten Nachtunterkünfte. Sein Kommentar: »In ihrem Land besteht völlige Sicherheit. Weder die Reisenden noch die Bewohner haben irgend etwas von Räubern oder Gewalttätern zu befürchten.«
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Soweit diese frühen Reisenden. Dann aber wendete sich das Blatt schnell - die späteren Beziehungen waren die einer wirtschaftlichen Ausbeutung. Die »Wilden« wurden angegriffen, ausgeplündert, unterjocht und verschleppt, ihre Kultur zerfiel. Und das, was von ihrer in Scherben geschlagenen Welt übriggeblieben war, entsprach dem Bild einer barbarischen, zu keiner Ordnung fähigen Rasse schon besser. Jetzt wurden auch die Berichte häufiger, und sie ließen keinen Zweifel an der kulturellen Minderwertigkeit der Negriden. Die Tatsache freilich, daß diese kulturelle Unterlegenheit ihre Ursache zunächst einmal in der Brutalität und der Habgier der Weißen gehabt hatte, übersah man geflissentlich. Statt dessen war es für das christliche Gewissen einfacher, die Vorstellung zu übernehmen, daß die schwarze Haut (wie die weiteren physischen Unterschiede) den sichtbaren Ausdruck einer geistigen Inferiorität bedeutete. War man erst einmal davon überzeugt, dann ließ sich weiter sehr einfach argumentieren, die Kultur sei minderwertig, weil die Neger geistig minderwertig seien - und aus keinem ändern Grund. Wenn aber dies der Fall war, dann konnte die Ausbeutung ganz offensichtlich keine Erniedrigung bedeuten, denn diese »Brut« war ja bereits von ihrer Anlage her etwas Niedriges. Mit diesem »Beweis«, daß die Neger nur wenig besser seien als die Tiere, konnte sich das christliche Gewissen beruhigen.
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Darwins Theorie von der Evolution der Arten hatte den Schauplatz noch nicht betreten. Es gab im Christentum zwei Einstellungen zur Tatsache der Existenz negrider Menschen: die monogenistische und die polygenistische. Die Monogenisten glaubten, alle Menschen seien zwar desselben Ursprungs, doch hätten die Neger vor langer Zeit einen gewaltigen physischen und moralischen Verfall erlitten, so daß die Sklaverei eine ihnen durchaus angemessene Rolle darstelle. Noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts äußerte sich ein amerikanischer Geistlicher dahingehend sehr klar wie folgt: Der Neger ist eine Sorte für sich, und er bleibt es, wie die zahlreichen Sorten von Haustieren. Der Neger wird bleiben, was er ist, es sei denn, daß seine Form durch Vermischung geändert wird, woran auch nur zu denken schon empörend ist; seine Intelligenz ist der des Weißen unterlegen, und folglich ist er nach allem, was wir von ihm wissen, unfähig, sich selbst zu regieren. Er ist unserm Schutz unterstellt worden. Die Rechtfertigung der Sklaverei ist in der Heiligen Schrift enthalten ... Sie bestimmt die Pflichten von Herren und Sklaven ..., wir können unsere Einrichtungen wirksam aus dem Worte Gottes vertreten. Mit diesen Worten überschüttet er die frühen Verkünder des Christentums mit Hohn: Was erdreisten die sich eigentlich gegen die Bibel? 220
Diese Aussage, einige Jahrhunderte nach dem Beginn der Ausbeutung gemacht, verdeutlicht sehr genau, wie gründlich das ursprüngliche Wissen von den alten Negerkulturen Afrikas unterdrückt worden war. Hätte man es nicht unterdrückt, dann wäre die ganze Lüge von der »Unfähigkeit, sich selbst zu regieren«, entlarvt gewesen und die gesamte Argumentation, die gesamte Rechtfertigung ein Nichts geworden. Im Gegensatz zu den Monogenisten standen die Polygenisten. Sie glaubten, jede »Rasse« sei gesondert erschaffen worden, jede mit ihren besonderen Eigenschaften, ihren Stärken und Schwächen. Einige Polygenisten nahmen an, daß es mehr als fünfzehn verschiedene Arten von Menschen auf der Erde gebe. Für die Neger legten sie ein gutes Wort ein: Die Lehre der Polygenisten weist den niedrigeren Rassen der Menschheit einen ehrenwerteren Platz an als die ihr entgegengesetzte Lehre. Hinsichtlich der Intelligenz, der Lebenskraft oder der Schönheit weniger wert zu sein als ein anderer Mensch - das ist keine demütigende Feststellung. Im Gegenteil. Denn man müßte sich nur dann schämen, wenn man eine physische oder moralische Erniedrigung erlitten hat, die Stufenleiter der Dinge hinabgestiegen ist und die Stellung in der Schöpfung verloren hat. 221
Auch das ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben worden. Trotz der unterschiedlichen Einstellung akzeptiert auch der Polygenist noch automatisch die Vorstellung von der rassischen Minderwertigkeit. So oder so die Neger waren einfach unterlegen. Selbst nachdem man den amerikanischen Sklaven offiziell ihre Freiheit gegeben hatte, hielten sich die alten Einstellungen auch weiterhin in der einen oder ändern Form. Wären die Neger nicht mit ihren physischen Fremdgruppen-»Abzeichen« belastet gewesen, hätte die Assimilation an ihre neuen Superstämme schnell vonstatten gehen können. Aber durch ihr Äußeres waren sie abgesondert, und so konnten sich die alten Vorurteile erhalten. Die alte Lüge - ihre Kultur sei immer minderwertig gewesen, und demzufolge seien auch sie minderwertig lauert noch immer verborgen in den Köpfen der Weißen. Sie beeinflußt ihr Verhalten weiter und erschwert die Beziehungen. Sie wirkt sogar auf die intelligentesten und sonst durchaus aufgeklärten Menschen. Und schürt stets aufs neue den Groll der Schwarzen - einen Groll, der nun verstärkt wurde durch die offizielle soziale Freiheit. So kam es, wie es kommen mußte: Da die Minderwertigkeit des amerikanischen Negers nur eine Sage war, erfunden durch eine Verdrehung der historischen Tatsachen, konnte er sich natürlich, nachdem die Ketten einmal gefallen waren, nicht weiter so verhalten, als sei er minderwertig. Er begann zu rebellieren. Er forderte zur offiziellen 222
Gleichstellung die wirkliche Gleichheit. Seine Bemühungen hatten beunruhigend irrationale und gewalttätige Reaktionen zur Folge. Die wirklichen Ketten ersetzte man durch unsichtbare Ketten. Man antwortete mit einer Fülle von Rassentrennungen, Rassendiskriminierungen und sozialen Erniedrigungen. Das hatten frühe Reformer bereits vorausgesehen, und so war schon im letzten Jahrhundert in allem Ernst vorgeschlagen worden, man solle die gesamte Negerbevölkerung Amerikäs für ihr Mißgeschick »großzügig entlohnen« und sie in ihre Heimat Afrika zurückführen. Aber eine solche Repatriierung konnte ihr wohl kaum wieder zu ihrer ursprünglichen Kultur verhelfen. Denn die war bereits lange vorher zerschlagen worden. Es gab kein Zurück mehr. Der Schaden war nun einmal angerichtet. Die Neger blieben, wo sie waren, und versuchten das zu bekommen, was ihnen zustand. Und als sie dabei immer wieder Enttäuschungen hinnehmen mußten, verloren sie schließlich die Geduld. Im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts rebellierten sie nicht nur weiter, sondern es verstärkte sich auch ihre Lebenskraft und ihre Aktivität. Zahlenmäßig haben sie fast die Zwanzig-Millionen-Grenze erreicht. Damit sind sie eine Macht geworden, mit der gerechnet werden muß, und die Extremisten unter ihnen betreiben jetzt zudem eine Politik, die nicht mehr nur auf simple Gleichstellung abzielt, sondern auf die Herrschaft der Schwarzen. Es sieht ganz so aus, als ob ein zweiter amerikanischer Bürgerkrieg bevorsteht. 223
Nachdenkliche weiße Amerikaner ringen verzweifelt darum, ihr Vorurteil zu überwinden. Aber das, was ihnen in ihrer Kindheit an unmenschlichen Lehren beigebracht worden ist, kann man nur schwer vergessen. Zudem schleicht sich eine neue Art von Vorurteil ein, ein heimtückisches Vorurteil der Überkompensation: Aus Schuldgefühlen entsteht Uberfreundlichkeit, und Überhilfsbereitschaft führt zu einer Beziehung, die genauso falsch ist wie das, an dessen Stelle sie tritt. Die Neger als Individuen zu behandeln - daran fehlt es noch immer. Nach wie vor gelten sie als Angehörige einer Fremdgruppe. Haargenau auf diese Wunde legte ein Neger aus dem Show-Business den Finger, als er einem weißen Publikum, das ihm wie besessen applaudierte, vorwurfsvoll sagte: Es würde sich wohl ziemlich albern vorkommen, wenn sich herausstellte, daß er ein Weißer sei, der sich sein Gesicht schwarz angemalt hätte. Solange nicht damit Schluß gemacht wird, daß die Angehörigen der Unterarten des Menschen den Menschen anderer Unterarten nachsagen, ihr körperliches Anderssein bedeute zugleich irgendeine Art von geistigem Anderssein, und sie dementsprechend behandeln; solange nicht damit Schluß gemacht wird, auf die Hautfarbe zu reagieren, als sei sie ein vorsätzlich gezeigtes Abzeichen einer feindlichen Fremdgruppe, solange wird weiterhin sinnlos Blut über Blut fließen. Ich behaupte keineswegs, daß es eine weltweite Brüderlichkeit der Menschen geben 224
könne. Das ist ein utopischer Traum. Der Mensch ist nun einmal ein Stammeswesen, und die großen Superstämme werden immer miteinander rivalisieren. In gut durchorganisierten Gesellschaften werden die Auseinandersetzungen die Form einer gesunden, stimulierenden Konkurrenz annehmen, bei der die aggressiven Rituale in Wirtschaft, Handel und Sport dafür sorgen, daß die Gemeinschaften nicht stagnieren. Die natürliche Aggressivität der Menschen wird so nicht exzessiv werden, sondern in eine akzeptable Form der Selbstbestätigung übergehen. Nur wenn die Pressionen zu stark werden, wird sie in Gewalt umschlagen. In beiden Bereichen der Aggression - auf dem der Selbstbestätigung und dem der Gewalt - werden die üblichen (nichtrassischen) Eigengruppen und Fremdgruppen einander nach ihren eigenen Gesetzen entgegentreten. Und die davon betroffenen Individuen sind in diese Auseinandersetzungen nicht durch Zufall verwickelt. Ganz anders aber ist die Situation für das Individuum, das sich allein wegen seiner Hautfarbe rein zufällig, ständig und unvermeidlich in der Falle einer Sondergruppe gefangen sieht. Es ist nicht in der Lage, selbst zu entscheiden, ob es einer Unterartengruppe beitreten oder sie verlassen kann. Immer noch wird es genauso behandelt, als sei es lebenslänglich Mitglied eines Klubs oder zum Dienst in der Armee eingezogen worden. Die einzige Hoffnung für die Zukunft besteht, wie ich bereits sagte, darin, daß jene be225
reits in zunehmendem Maße erfolgende weltweite Vermischung der einst durch geographische Isolierung voneinander getrennten Unterarten zu immer größerer Vermischung von Merkmalen führt und schließlich die auffallend sichtbaren Unterschiede verschwunden sind. Bis es soweit ist, wird der ständige Bedarf an Fremdgruppen, gegen die sich die Aggression der Eigengruppen entladen kann, weiterhin für Irrungen und Wirrungen sorgen und fremden Unterarten Rollen zuteilen, die jeder Rechtfertigung entbehren. Denn unsere irrationalen Emotionen sind nicht in der Lage, die richtigen Unterschiede zu machen; geholfen kann uns nur werden, wenn wir uns unserem rationalen Denken, unserem logischen Verstand unterwerfen. Ich habe das Beispiel des Dilemmas der amerikanischen Neger gewählt, da es gegenwärtig besonders naheliegt. Leider ist an ihm nichts Ungewöhnliches. Genau das gleiche hat sich stets und ständig überall auf dem Erdball ereignet, seitdem das Lebewesen Mensch sich auf ihm bewegt. Selbst dort, wo es keine verschiedenen Unterarten gab, die das Feuer des Hasses hätten entfachen und am Brennen halten können, sind derlei außergewöhnliche Vernunftlosigkeiten weithin verbreitet gewesen. Der fundamentale Irrtum, daß der Angehörige einer anderen Gruppe ganz bestimmte und besondere ererbte, angeborene Wesensmerkmale besitze, die für seine Gruppe typisch seien, lebt nach wie vor weiter. Aber es ist doch 226
unlogisch, annehmen zu wollen, daß einer, der eine andere Uniform trägt, eine andere Sprache spricht oder einer anderen Religion zugehört, auch biologisch etwas anderes sei. Den Deutschen sagt man nach, sie seien fleißig und besessen methodisch, den Italienern, sie seien leicht erregbar, den Amerikanern, sie seien mitteilsam und extrovertiert, den Briten, sie seien steif und zurückhaltend, den Chinesen, sie seien verschlagen und undurchschaubar, den Spaniern, sie seien überheblich und stolz, den Schweden, sie seien sanft und milde, den Franzosen, sie seien quengelig und streitsüchtig, und so weiter. Selbst als oberflächliche Feststellungen erworbener nationaler Merkmale sind solche Verallgemeinerungen nichts als grobe Ubersimplifikationen. Aber es geht ja noch viel weiter: Für viele Menschen sind sie angeborene Wesenszüge der betreffenden Fremdgruppen. Man glaubt tatsächlich, daß die »Rassen« (die deutsche, italienische, amerikanische, britische usw.) sich irgendwann und irgendwie einmal voneinander getrennt hätten, und zwar durch irgendeine genetische Umwandlung; aber so etwas ist lediglich ein unlogisches Wunschdenken zugunsten der Eigengruppe. Wie es wirklich ist, hat schon vor mehr als zweitausend Jahren Konfutse sehr gut ausgedrückt, als er sagte: »Die Natur der Menschen ist gleich; es sind ihre Gewohnheiten, die sie voneinander trennen.« Doch die Gewohnheiten, die ja lediglich kulturelle Traditionen sind, können sich so leicht ändern, und so hofft der Eigen227
gruppentrieb immer noch auf etwas, das beständiger ist, das tiefer sitzt, das »die da« absondert von »uns«. Und wenn wir solche Unterschiede nicht finden, zögern wir nicht im geringsten, sie zu erfinden - denn wir sind schließlich eine erfinderische Art. Dabei übersehen wir mit erstaunlicher Selbstsicherheit und sehr leichtfertig die Tatsache, daß nahezu alle Nationen komplexe Mischungen sind aus einer ganzen Sammlung früherer Gruppierungen, die wiederholt gekreuzt und immer wieder vermischt wurden. Aber Logik ist hier ja nicht am Platz. Allen Angehörigen der Art Mensch ist eine breite Skala elementarer Verhaltensweisen gemeinsam. Die fundamentalen Ähnlichkeiten zwischen dem einen Menschen und dem ändern sind enorm groß. Eine von ihnen ist paradoxerweise das Bestreben, ausgeprägte Eigengruppen zu bilden, und dazu das Gefühl, daß man anders ist, wirklich von Grund auf anders als die Angehörigen anderer Gruppen. Dieses Gefühl ist so stark, daß die Thesen, die ich in diesem Kapitel vertrete, keineswegs der allgemeinen Meinung entsprechen. Das aber, was biologisch für sie spricht, ist überwältigend, und je früher sie sich durchsetzen, desto eher können wir hoffen, daß mehr Toleranz in den Beziehungen zwischen den Eigengruppen herrscht. Ein anderes unserer biologischen Merkmale ist, wie ich bereits betonte, unsere Erfindungsgabe. Infolgedessen ist es unvermeidlich, daß wir ständig nach neuen Wegen 228
suchen, uns selbst Ausdruck zu verleihen; diese neuen Wege werden von Gruppe zu Gruppe und von Epoche zu Epoche unterschiedlich sein. Aber das, was dabei an Eigenschaften entsteht, ist etwas Äußerliches, das an der Oberfläche bleibt - wie gewonnen, so zerronnen. Im Verlauf einer einzigen Generation können sie kommen und gehen, während es Hunderttausende von Jahren dauert, bis eine neue Art wie die unsrige sich entwickelt und ihre fundamentalen biologischen Eigenschaften ausbildet. Die Kultur ist ganze zehntausend Jahre alt, und im Grunde sind wir noch immer die gleichen Lebewesen wie unsere jägerischen Ahnen. Wir alle kommen aus dieser Wurzel, wir alle, ganz gleich, welcher Nationalität wir sind. Wir alle haben die gleichen fundamentalen genetischen Eigenschaften: Unter den verwirrend vielfältigen Kostümen, die wir angelegt haben, sind wir alle noch immer nackte Affen. Es kann nur gut sein, daß wir uns daran erinnern, wenn wir die Spiele unserer Eigengruppen zu spielen beginnen, wenn sie uns unter den gewaltigen Pressionen des Lebens im Superstamm aus der Hand gleiten und wir dorthin geraten, wo das Blut von Menschen vergossen wird, die unterhalb ihrer Haut genauso sind wie wir. Und doch bleibt bei mir, nachdem ich das gesagt habe, ein Gefühl des Unbehagens zurück. Der Grund dafür ist leicht einzusehen: Einerseits habe ich dargelegt, daß der Eigengruppentrieb unlogisch ist und irrational; anderseits habe ich mit Nachdruck betont, die Bedingungen für Kon229
flikte zwischen den Gruppen seien derart überreif, daß uns nur eine einzige Hoffnung bleibt, nämlich die rationale Kontrolle durch die Vernunft. Gegen diese meine Forderung einer rationalen Beherrschung des zutiefst Irrationalen könnte man einwenden, ich sei übertrieben optimistisch. Es ist aber doch wohl nicht zu viel verlangt, wenn man meint, rationale Prozesse sollten zumindest Hilfe leisten bei der Lösung des Problems. Wie die Dinge freilich im Moment aussehen, spricht wenig für die Hoffnung, es allein mit rationalen Mitteln lösen zu können: Man braucht sich nur die intelligentesten unter den Protestlern auszusuchen, wie sie auf die Polizisten mit Plakaten einschlagen, auf denen zu lesen ist: »Schluß mit der Gewalt!«, man braucht nur den hervorragendsten Politikern zuzuhören, die am Krieg festhalten, um »den Frieden zu garantieren«, und man wird erkennen, daß in solchen Dingen rationale Zurückhaltung eine schnell sich verflüchtigende Eigenschaft ist. Anderes tut not. Auf irgendeine Art und Weise müssen wir jene Bedingungen, die ich genannt habe, an der Wurzel packen - jene Bedingungen, die uns so wirkungsvoll heranreifen ließen für die Gewalt bei Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen. Ich habe diese Bedingungen bereits diskutiert, doch seien sie hier noch einmal kurz zusammengefaßt:
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1. Die Entstehung fester Reviere beim Menschen. 2. Das Anwachsen der Stämme zu übervölkerten Superstämmen. 3. Die Erfindung von Waffen, mit denen man über weite Entfernung töten kann. 4. Das Entfernen der Führer aus der Hauptkampflinie. 5. Die Bildung einer Sonderklasse von berufsmäßigen Totschlägern. 6. Die zunehmende Ungleichheit hinsichtlich des technologischen Fortschritts bei den verschiedenen Gruppen. 7. Die Zunahme frustrierter Status-Aggression innerhalb der Gruppen. 8. Die Anforderungen des Führer-Status bei Rivalitäten zwischen den Gruppen. 9. Der Verlust des sozialen Dazugehörigkeitsgefühls innerhalb der Superstämme. 10. Die Ausbeutung des kooperativen Triebes, seinen Freunden in Gefahr beizustehen. Eine Bedingung habe ich in dieser Aufzählung bewußt übergangen - die Entstehung unterschiedlicher Ideologien. Als Zoologe, der den Menschen als ein animalisches Lebewesen betrachtet, fällt es mir im vorliegenden Zusammenhang schwer, derlei Unterschiede ernst zu nehmen. Wenn man nämlich, anstatt mit schönen Worten Theorien zu basteln, die Situation zwischen den Gruppen unter dem Gesichtspunkt des tatsächlichen Verhaltens betrachtet, 231
dann schwinden die ideologischen Unterschiede gegenüber dem, was ihnen wirklich zugrunde liegt, zur Bedeutungslosigkeit dahin. Sie sind nichts als an den Haaren herbeigezogene Entschuldigungen, mit denen man sich hochtrabend klingende Gründe schafft, die das Vernichten Tausender von Menschenleben rechtfertigen sollen. Prüft man nun unsere Aufstellung der zehn Faktoren, die realistischer sind als alle Ideologien, dann wird man kaum eine Möglichkeit sehen, wo und wie die Situation sich verbessern soll. Nimmt man sie alle zusammen, so sieht es ganz so aus, als lieferten sie die unumstößliche Garantie dafür, daß der Mensch für immer im Kampf mit den Menschen liegen wird. Wenn wir uns aber daran erinnern, daß ich den gegenwärtigen Zustand als den eines Menschen-Zoos beschrieben habe, so läßt sich vielleicht etwas aus dem ablesen, was wir beim Betrachten des Innern der Käfige im TierZoo zu sehen bekommen. Wie bereits festgestellt, schlachten frei lebende Tiere in ihrer natürlichen Umgebung nicht gewohnheitsmäßig Artgenossen in größerer Zahl ab. Wie aber verhalten sich die eingesperrten Exemplare? Gibt es Massaker in den Affenkäfigen, Lynchakte in den Löwengehegen, offene Feldschlachten in den Vogelhäusern? Die Antwort muß bejahend lauten, allerdings mit deutlichen Einschränkungen. Die Statuskämpfe zwischen den eingesessenen Angehörigen übervölkerter Gruppen von Zootieren sind schon schlimm genug; die Situation aber wird, 232
wie jeder Zoomann weiß, noch schlimmer, wenn man versucht, zu einer solchen Gruppe Neue zu setzen. Dann besteht große Gefahr, daß die Fremden von den Alteingesessenen gemeinsam gehetzt und aufs unbarmherzigste drangsaliert werden - man behandelt sie als Eindringlinge aus einer feindlichen Fremdgruppe. Und die Neuen können nur wenig genug gegen die Attacken tun. Selbst wenn sie sich still und bescheiden in eine Ecke kauern, anstatt inmitten des Käfigs herumzustolzieren - sie v/erden trotzdem aufgejagt und angegriffen. Das geschieht freilich nicht unter allen Umständen; am häufigsten kommt es bei den Arten vor, die schon sonst unter einem höchst unnatürlichen Grad von Enge leiden. Anders ist es, wenn die alteingesessenen Käfigbewohner mehr als genug Platz haben. Dann werden sie anfangs zwar die Neuankömmlinge angreifen und sie dort vertreiben, wo sie selbst ihre Lieblingsplätze haben. Aber sie werden sie nicht dauernd mit unnötiger Gewalt verfolgen. Und schließlich wird es den Fremdlingen gestattet, sich in einem anderen Teil des Geheges niederzulassen. Ist der Raum jedoch allzu beengt, kann es niemals zu einer solchen Stabilisierung der Beziehungen kommen, und die unvermeidliche Folge wird Blutvergießen sein. Dies läßt sich sehr deutlich mit einem Versuch demonstrieren. Stichlinge sind kleine Fische, die während der Laichzeit Reviere besetzen. Die Männchen bauen in 233
Wasserpflanzen ein Nest und verteidigen das Revier ringsum gegen männliche Artgenossen. Ein einzelnes Männchen stellt in diesem Fall die »Eigengruppe« dar, jeder seiner revierbesitzenden Rivalen eine »Fremdgruppe«. Unter natürlichen Bedingungen hat jeder Stichlingsmann im Bach oder Fluß genügend Raum für sich und sein Revier, so daß Begegnungen in Feindstimmung sich größtenteils auf Drohungen und Gegendrohungen beschränken. Ausgedehnte Kämpfe sind selten. Wenn nun zwei Männchen auf je einer Seite eines großen Aquariums ihre Nester bauen, dann bedrohen sie einander wie in der Natur, und zwar ungefähr auf der Mittellinie des Aquariums. Zu mehr Gewaltanwendung kommt es nicht. Wenn man nun jedoch für das Experiment die Wasserpflanzen, in denen sie ihr Nest bauen, in kleine, verschiebbare Töpfe pflanzt, hat der Experimentierende die Möglichkeit, die Töpfe enger zusammenzurücken und so die Reviere künstlich zu verkleinern. Im selben Maß, wie die Töpfe allmählich einander nähern, steigern sich die Drohgebärden der beiden Revierinhaber, und schließlich bricht das System ritualisierten Drohens und Gegendrohens zusammen, und es entbrennt ein ernster Kampf: Die Männchen beißen und reißen einander ununterbrochen an den Flossen, sie vergessen ihre sonst so eifrig wahrgenommenen Pflichten des Nestbaus - ihre Welt ist plötzlich ein Tummelplatz wilder Gewalt und Grausamkeit. In dem gleichen Augenblick aber, in dem ihre Nest-Töpfe wieder auseinandergerückt werden, kehrt Frieden ein, und das Kampffeld 234
verwandelt sich in eine Stätte harmloser, ritualisierter Drohgebärden. Die Lektion ist deutlich genug: Als die kleinen Stämme des frühen Menschen zur Größe von Superstämmen anschwollen, vollführten wir das Stichlings-Experiment an uns selbst - mit weithin dem gleichen Resultat. Wenn der Menschen-Zoo etwas vom Tier-Zoo lernen kann, dann ist es hier die zweite von den zehn Bedingungen, der wir besondere Aufmerksamkeit widmen sollten. Mit den brutal-objektiven Augen des Tier-Ökologen gesehen, ist das gewalttätige Verhalten innerhalb einer übervölkerten Art ein auf Selbstbegrenzung abzielender Mechanismus. Man könnte ihn so beschreiben: Grausamkeit gegenüber dem Individuum zugunsten der Art. Jede Tierart hat ein ihr eigenes Populations-Maximum. Überschreiten die Individuenzahlen diese Grenze, so setzt eine Art tödlicher Aktivität ein, und die Zahlen sinken wieder. Es lohnt, für einen Augenblick die menschliche Gewalttätigkeit in dieser Sicht zu betrachten. So gefühllos es klingen mag, was hier gesagt wird aber es ist fast so, als ob wir von der Zeit an, da wir zu einer übervölkerten Art wurden, geradezu wie besessen nach einem Mittel gesucht haben, diese Situation zurechtzurücken und unsere Anzahl auf ein passenderes biologisches Niveau zu reduzieren. Dies blieb keineswegs auf 235
Massengemetzel in Form von Kriegen, Tumulten, Revolten und Aufständen beschränkt. Unsere Findigkeit hat da keine Grenzen gekannt. Schon in grauer Vergangenheit wurde eine ganze Reihe selbstbegrenzender Faktoren eingeführt. Als primitive Gesellschaften erstmals die Überbevölkerung zu spüren bekamen, griffen sie zu Praktiken wie Kindermord, Menschenopfer, Verstümmelungen, Kopf jägerei, Kannibalismus und allen möglichen komplizierten Sexualtabus. Das waren selbstverständlich nicht bewußt geplante Methoden der Bevölkerungskontrolle; immerhin halfen sie, die Zahlen in Grenzen zu halten. Als perfekte Bremse, die das stetige Zunehmen der Bevölkerungszahlen hätte stoppen können, versagten sie jedoch. Mit der fortschreitenden Technik wurde das einzelne Menschenleben immer stärker geschützt, und man kam allmählich von den frühen Praktiken ab und unterdrückte sie. Gleichzeitig wurden Krankheit, Dürre und Hunger energisch bekämpft. Damit aber gingen die Bevölkerungszahlen nur um so stärker in die Höhe, und so kamen neue Methoden der Selbstbegrenzung ins Spiel. Mit dem Verschwinden der alten Sexualtabus tauchten neue Einstellungen zur Sexualität auf, die sich auf die Fruchtbarkeit der Gruppen reduzierend auswirkten; Neurosen und Psychosen, die einer erfolgreichen Fortpflanzung im Wege standen, nahmen zu, und nicht anders war es bei gewissen Praktiken des Sexuallebens: Schwangerschaftsverhütung, Masturbation, oraler und analer Verkehr, Homosexualität, Fetischismus und Zoophilie verhalfen zu sexueller 236
Befriedigung ohne das Risiko der Befruchtung. Auch Sklaverei, Gefangenschaft, Kastrierung und freiwilliger Zölibat spielten hier ihre Rolle. Zudem setzten wir dem individuellen Leben Grenzen durch weitverbreitete Abtreibung, Mord, Hinrichtung von Verbrechern, Meuchelmord, Selbstmord, Duelle und bewußtes Betreiben gefährlicher, potentiell tödlicher Sportarten und Freizeitbeschäftigungen. Alle diese Maßnahmen dienten dazu, eine Vielzahl von Menschen aus unseren überfüllten Bevölkerungen zu eliminieren - entweder durch das Verhüten des Befruchtungsvorgangs oder durch Ausrottung. Zählt man das alles zusammen, so ergibt sich eine fürchterliche Liste. Und doch erwiesen sich sämtliche Maßnahmen - selbst in der Kombination von Massenkrieg und Massenrevolution als letztlich hoffnungslos unwirksam. Die menschliche Spezies hat sie alle überdauert und ist in einem stetig sich steigernden Ausmaß bei der Übervermehrung geblieben. Seit Jahren erhebt sich nun ein hartnäckiger Widerstand, sobald man diese Tendenzen als Anzeichen dafür auslegt, daß irgend etwas mit unseren Bevölkerungszahlen biologisch falsch sei. Immer wieder weigert man sich, sie als Gefahrensignale zu deuten, die uns warnend anzeigen, daß wir auf eine evolutionäre Katastrophe bedenklichen Ausmaßes zusteuern. Man hat alles Mögliche unternommen, um diese Praktiken zu ächten und die Fortpflanzung 237
und die Lebensrechte aller menschlichen Individuen zu schützen. Und als dann schließlich die Gruppen des Lebewesens Mensch mehr und mehr zu unlenksamen Proportionen anschwollen, haben wir all unseren Scharfsinn hergenommen und immer mehr verbesserte Techniken ersonnen, die helfen sollten, diese unnatürlichen sozialen Zustände erträglicher werden zu lassen. Mit jedem Tag (und tagtäglich kommen weitere 150 ooo Menschen zur Weltbevölkerung hinzu!) wird der Kampf schwieriger. Bleibt es bei der gegenwärtigen Einstellung, so wird die Situation bald unerträglich werden. Irgend etwas wird schließlich passieren und unsere Bevölkerungszahl herabsetzen, ganz gleich, was wir tun. Vielleicht wird es eine erhöhte geistige Labilität sein, die zu rücksichtslosem Einsatz von Waffen mit unvorstellbarer Stärke führt, vielleicht wird es die zunehmende chemische Verschmutzung sein, vielleicht kommen Seuchenzüge mit den verheerenden Wirkungen der Pest. Wir haben nur eine Wahl: Entweder lassen wir die Dinge laufen, oder wir versuchen, die Situation in den Griff zu bekommen. Wenn wir die Dinge laufen lassen, dann droht die sehr reelle Gefahr, daß einer von den Hauptfaktoren der Bevölkerungskontrolle unsere Verteidigungslinie durchbricht und zu wirken beginnt - und das wird dann ein Dammbruch sein, der unsere gesamte Zivilisation mit sich reißt. Wenn wir den zweiten Weg einschlagen, könnten wir imstande sein, diese Katastrophe abzuwenden. Aber wie nehmen 238
wir die Auswahl unserer Kontrollmethoden in Angriff? Der Gedanke, zwangsweise diese oder jene speziell gegen die Fortpflanzung oder gegen das Leben gerichtete Methode durchzusetzen, ist für unsere von der Anlage her kooperative Natur unannehmbar. Die einzige Alternative ist die, zu freiwilligen Kontrollmaßnahmen aufzurufen und sie zu unterstützen. So könnten wir in verstärktem Maße gefährliche Sportarten und Freizeitbeschäftigungen fördern und verherrlichen. Wir könnten den Selbstmord populär machen (»Warum auf die Krankheit warten? Stirb jetzt und ohne Schmerzen!«) oder vielleicht den neuen hochgestochenen Kult eines Zölibats schaffen (»Reinheit statt Spaß!«). Die Werbeagenturen der ganzen Welt könnte man für eine überzeugende Propaganda einsetzen, die alle Vorzüge des sofortigen Sterbens anpreist. Aber selbst wenn wir solche außergewöhnlichen und biologisch kostspieligen Schritte unternehmen wollten, bliebe es doch sehr fraglich, ob man mit ihnen eine spürbare Verminderung der Bevölkerungszahl erreichen könnte. Die Methode, der heute ganz allgemein mehr und mehr der Vorzug gegeben wird, ist die moderne Empfängnisverhütung unter Einschluß der an zweiter Stelle stehenden Maßnahme legaler Abtreibung im Falle unerwünschter Schwangerschaft. Das, was für die Empfängnisverhütung spricht, habe ich bereits in einem früheren Kapitel angeführt: Es ist besser, dem Leben vorzubeugen, als es zu heilen. Wenn schon gestorben werden muß, dann 239
sollen lieber Ei- und Samenzellen sterben und nicht denkende und fühlende Menschen, die umsorgt worden sind und selber Sorge tragen, Wesen, die bereits einen integrierenden, mit anderen in Wechselbeziehung stehenden Teil der Gesellschaft ausmachen. Wenn man dagegen einwendet, die Empfängnisverhütung bedeute eine unzulässige Vernichtung von Ei- und Samenzellen, so ist darauf hinzuweisen, daß die Natur selbst, was diese Erzeugnisse anlangt, bemerkenswert verschwenderisch ist. Denn die Frau vermag im Laufe ihres Lebens rund vierhundert Eizellen zu produzieren und der erwachsene Mann pro Tag buchstäblich Millionen von Samenzellen. Jedoch auch die Empfängnisverhütung hat ihre Schattenseiten. Genauso, wie gefährliche Sportarten wahrscheinlich bevorzugt die abenteuerlichsten Geister in der Gesellschaft ausschalten und Selbstmorde eher die zartbesaiteten und phantasievollen, so richtet sich die Empfängnisverhütung insbesondere gegen die intelligenteren. Im derzeitigen Stadium der Entwicklung erfordern die Methoden der Kontrazeption ein gewisses Niveau an Intelligenz, Überlegung und Selbstkontrolle, wenn sie wirklich Nutzen haben sollen. Je weniger einer dieses Niveau erreicht, um so eher ist er zur Empfängnisverhütung verpflichtet. Denn wenn das niedrige Niveau an Intelligenz irgendwie durch genetische Faktoren bestimmt ist, dann werden diese Faktoren auf die Nachkommenschaft übergehen und diese erblichen Eigenschaften langsam, aber 240
sicher verbreiten, so daß sie sich in der Bevölkerung insgesamt vermehren. Wenn also die moderne Empfängnisverhütung mit hoher Effektivität und ohne Vorurteile wirksam werden soll, dann ist es im Interesse des so dringlichen Fortschritts wesentlich, daß er in Richtung auf immer weniger anspruchsvolle Techniken erfolgt - Techniken, die ein absolutes Minimum an Sorgfalt und Aufmerksamkeit verlangen. Verbunden damit muß ein wirkungsvoller Angriff auf die soziale Einstellung zu den Praktiken der Empfängnisverhütung erfolgen. Nur wenn es 150000 Befruchtungen pro Tag weniger gibt, als es jetzt der Fall ist, können wir die menschliche Bevölkerung gleichbleibend auf ihrem zahlenmäßig bereits zu hohen Stand halten. Allein dies zu erreichen, ist schon schwierig genug. Darüber hinaus aber hat unsere Aufmerksamkeit einem weiteren Problem zu gelten: Es muß nämlich gewährleistet sein, daß die Geburtenkontrolle in geeignetem Maße weltweit stattfindet und sich nicht vorwiegend konzentriert auf ein oder zwei ohnehin bereits aufgeklärte Gebiete. Wenn nämlich der Fortschritt in der Empfängnisverhütung geographisch ungleichmäßig erfolgt, dann wird dies unvermeidlich zu einer Entstabilisierung der auch sonst schon gespannten Beziehungen zwischen den Gebieten führen. 241
Durchdenkt man all diese Probleme sorgfältig, so ist es wahrlich nicht leicht, Optimist zu bleiben. Doch nehmen wir einmal einen Augenblick lang an, sie seien auf wunderbare Weise gelöst und die Weltbevölkerung an Menschen halte sich auf dem gegenwärtigen Niveau von etwa drei Milliarden Menschen konstant. Das aber bedeutet folgendes: Wir haben bereits — wenn wir uns die gesamte Landfläche der Erde gleichmäßig besiedelt vorstellen - ein Niveau erreicht, bei dem die Bevölkerungsdichte mehr als fünfhundertmal größer ist als zur Zeit des Frühmenschen. Selbst wenn wir es fertigbrächten, die weitere Zunahme aufzuhalten und die Menschen weniger dicht über den Erdball zu verteilen, dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, wir könnten damit etwas erreichen, das auch nur entfernt den sozialen Bedingungen ähnelt, unter denen sich unsere Vorfahren entwickelt haben. Es bedarf noch enormer Anstrengungen der Selbstdisziplin, wenn wir gewaltsame soziale Explosionen und Konflikte verhindern wollen. Aber es bleibt uns damit wenigstens eine Chance. Wenn wir jedoch leichtfertig zulassen, daß die Bevölkerungsrate weiterhin steigt, werden wir bald auch diese Chance verspielt haben. Damit noch nicht genug, müssen wir uns auch noch daran erinnern, daß das derzeitige Niveau - fünfhundertmal so viele Individuen wie im natürlichen Urzustand nur eine von den zehn Bedingungen ist, die zu unserer gegenwärtigen kriegsähnlichen Situation beiträgt. Es ist 242
dies eine erschreckende Aussicht, und die Gefahr, daß wir die Kultur vollständig zerstören, erhält, wie wir nun wissen, Tag um Tag mehr Realität. Es ist eine faszinierende Sache, darüber nachzusinnen, wie es wohl mit uns weitergehen wird. Wir machen so große Fortschritte in der Entwicklung noch wirksamerer Techniken der chemischen und biologischen Kriegführung, daß die Kernwaffen schon bald ganz hübsch veraltet sein werden. Ist es aber erst einmal soweit, dann werden diese nuklearen Mittel die Ehrbarkeit sogenannter konventioneller Waffen erlangen und ohne jede Rücksicht zwischen den großen Superstämmen hin und her geschleudert werden. (Wenn mehr und mehr Gruppen dem Atomklub beitreten, wird der »heiße Draht« natürlich zu einem hoffnungslos verwickelten »heißen Drahtverhau«.) Die daraus resultierende radioaktive Wolke wird dann die Erde umkreisen und überall dort, wo es regnet oder schneit, jede Form von Leben vernichten. Nur die Buschmänner Afrikas und einige andere Gruppen in der Einsamkeit inmitten der trockensten Wüstenregionen haben eine Chance zu überleben. Ironischerweise sind aber gerade die Buschmänner die bis heute am allerwenigsten erfolgreichen unter allen Menschengruppen gewesen — sie leben noch immer in jenem Zustand des primitiven Jägers,
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wie er typisch gewesen ist für den Frühmenschen. Es sieht also ganz so aus, als sollte alles noch einmal ganz von vorn anfangen, oder wie ein allerletztes Beispiel dafür, daß, wie einmal jemand prophezeit hat, die Sanftmütigen das Erdreich besitzen werden.
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Prägung und Fehlprägung Wir leben in einem Menschen-Zoo, und deshalb müssen wir sehr viel lernen und sehr viel im Gedächtnis behalten: Als biologische Lernmaschine ist unser Gehirn allerdings auch das bei weitem Beste, was es gibt. Mit unseren 14 Milliarden sehr kompliziert untereinander verknüpften Zellen sind wir imstande, eine gewaltige Zahl von Eindrükken zu verarbeiten und zu speichern. Beim alltäglichen Gebrauch funktioniert dieser Mechanismus ziemlich reibungslos; sobald aber in der Außenwelt etwas Ungewöhnliches geschieht, schalten wir um auf ein besonderes Not-System - dann, wenn unter den Bedingungen unseres Superstammes etwas danebengeht. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen werden durch die Tatsache, daß wir in einem Menschen-Zoo leben, bestimmte Erfahrungen von uns ferngehalten: Wir töten nicht mehr nach allen Regeln der Kunst Beutetiere - wir gehen in den Laden und kaufen Fleisch. Wir bekommen keine Leichen mehr zu sehen - man hat sie in Tücher gehüllt oder in einen Sarg gelegt. Mit anderen Worten: Wenn die Erfahrung der Gewalt durch die uns schützenden Barrieren bricht, ist der Schock für unser Gehirn viel größer als sonst. Zum ändern sind im Superstamm die Akte von Gewalt, die uns treffen, von derartig unnatürlicher Heftigkeit, daß sie einen überaus schmerzhaften Eindruck hinterlassen - und auf den ist unser Gehirn nicht durchweg 245
gefaßt. Diese Art von »Notfall-Lernen« nun verdient mehr als einen flüchtigen Blick. Wer jemals in einen schweren Verkehrsunfall verwikkek war, wird verstehen, was ich hier meine. Jedes üble Detail - es mag noch so winzig sein - wird uns blitzartig ins Gedächtnis gebrannt und bleibt dort ein Leben lang haften. Wir alle haben solche Erfahrungen gemacht. Ich zum Beispiel wäre im Alter von sieben Jahren einmal fast ertrunken, und bis auf den heutigen Tag erinnere ich mich daran so lebhaft, als sei es erst gestern gewesen. Diese Kindheitserfahrung hat denn auch dazu geführt, daß ich dreißig Jahre brauchte, bis ich mich dazu zwingen konnte, meine irrationale Angst vor dem Wasser zu überwinden. Natürlich hatte ich, wie alle Kinder, auch viele andere unangenehme Erfahrungen im Verlauf meines Heranwachsens zu machen, aber die allermeisten von ihnen hinterließen keine solche bleibenden Narben. Es sieht demnach ganz so aus, als ob uns in unserm Leben zwei verschiedene Arten von Erfahrung begegnen: Bei der einen verursacht das plötzliche Erlebnis einer Situation einen unauslöschlichen, unvergeßlichen Schock, ein Trauma; bei der ändern entsteht nur ein schwacher, bald vergessener Ein-druck. Mit nicht ganz präzisen Ausdrükken können wir von der ersten Art sagen, sie umfasse ein traumatisches Lernen, und von der ändern, sie beinhalte normales Lernen. Beim traumatischen Lernen steht der 246
hervorgerufene Effekt in keinem Verhältnis zu der verursachenden Erfahrung. Beim normalen Lernen muß die ursprüngliche Erfahrung dauernd wiederholt werden, damit sie überhaupt eine Spur hinterläßt. Wird das normale Lernen nicht ständig in Gang gehalten (durch »Auffrischen des Gedächtnisses«), so läßt die Reaktion immer mehr nach. Beim traumatischen Lernen ist das nicht so. Der Versuch, traumatische Lernerfahrungen abzuschwä' dien, stößt auf enorme Schwierigkeiten und kann die Sache sehr leicht noch schlimmer machen. Beim normalen Lernen ist das anders. Mein Erlebnis mit dem Ertrinken mag das veranschaulichen: Je mehr man mir die Freuden des Schwimmens anpries, desto stärker wurde meine Abneigung dagegen. Hätte jener Vorfall nicht den traumatischen Effekt gehabt, so hätte ich allmählich immer positiver reagiert und nicht immer negativer. Traumatische Erfahrungen sollen jedoch nicht das Hauptthema dieses Kapitels bilden. Sie sind aber als Einführung in das Folgende von Nutzen. Denn sie zeigen deutlich, daß das Lebewesen Mensch zu einer ganz besonderen Art des Lernens befähigt ist - einer Art, die mit unglaublicher Geschwindigkeit vor sich geht, nur schwer abzuschwächen ist, außerordentlich lange wirksam und ohne jede Übung stets frisch bleibt. Man ist versucht, sich zu wünschen, daß man auf diese Weise etwa Bücher lesen könnte - ihren gesamten Inhalt nach einem einzigen, flüch247
tigen Durchblättern für immer im Gedächtnis behielte. Wenn aber unser ganzes Lernen auf diese Weise vonstatten ginge, würden wir jeden Sinn für Rang und Wert verlieren. Alles wäre für uns gleich wichtig, und wir würden ernsthaft unter dem Fehlen eines Auswahlprinzips leiden. Das rasche, untilgbare Lernen ist den entscheidenderen Momenten unseres Lebens vorbehalten. Traumatische Erfahrungen bilden dabei nur die eine Seite der Medaille. Ich drehe sie jetzt um und wende mich der anderen Seite zu, jener Seite, die beschriftet ist mit dem Wort »Prägung«. Während Traumata die negativen, schmerzhaften Erfahrungen betreffen, ist der Vorgang der Prägung ein positiver. Wenn das Tier eine Prägung erlebt, entwickelt es eine positive Haltung zum Prägenden. Wie die traumatische Erfahrung ist dieser Vorgang des Prägens sehr plötzlich, praktisch nicht umkehrbar und bedarf keiner späteren Verstärkung. Bei Menschen geschieht dies bei Mutter und Kind. Es kann später noch einmal vorkommen, dann, wenn das Kind erwachsen wird und sich verliebt. Die Bindung an die Mutter, das Kind oder den (Liebes-) Partner sind drei der wichtigsten Lektionen, die wir in unserem Leben zu lernen haben - und gerade ihnen ist die Unterstützung durch das Phänomen der Prägung vorbehalten. Mit dem Wort »Liebe« umschreiben wir in Wirklichkeit meist jene emotionalen Regungen, die den Vorgang der Prägung (bzw. des Geprägtwerdens) beglei248
ten. Bevor wir uns jedoch eingehender mit der Situation beim Menschen befassen, kann uns ein Blick auf ein paar andere Arten von Nutzen sein. Für die Küken vieler Vogelarten ist es nach dem Ausschlüpfen wichtig, unverzüglich eine Bindung an die Mutter zu entwickeln und sie erkennen zu lernen. Die Kleinen sind dann imstande, ihr nachzulaufen und in ihrer sicheren Nähe zu bleiben. Wenn frisch geschlüpfte Hühner- oder Entenküken das nicht täten, könnten sie sich leicht verlaufen und würden zugrunde gehen. Sie laufen so lebhaft cmher, daß die Mutter allein, ohne die Hilfe der Prägung, sie nicht zusammenhalten und schützen könnte. Dieser Vorgang der Prägung kann sich buchstäblich innerhalb TOD Minuten abspielen. Denn der erste frei bewegliche große Gegenstand, den die Hühner-, Enten- oder Gänseküken zu sehen bekommen, wird automatisch zur »Mutier«. Unter normalen Umständen ist es selbstverständlich wirklich die Mutter, aber bei Tierversuchen kann es prakdsch jeder beliebige Gegenstand sein. Ist zum Beispiel der erste große und frei bewegliche Gegenstand, den Küken aus dem Brutkasten sehen, »zufällig« ein orangefarbener Ballon, der an einem Stück Schnur gezogen wird, so werden die Tiere ihm nachlaufen: Der Ballon wird sogleich zur »Mutter«. So mächtig ist dieser Prägeprozeß, daß die Küken, wenn sie ein paar Tage später die Wahl zwischen dem von ihnen als »Mutter« angenommenen Ballon und der riditigen Mutter haben (die vorher außer Sichtweite 249
gehalten worden war), sich für den Ballon entscheiden. Man kann sich kaum einen zwingenderen Beweis für das Phänomen der Prägung denken als den Anblick einer Sdiar von Küken, die im Experiment eifrig hinter einem orangefarbenen Ballon herwatscheln und die richtige Mutter vollkommen ignorieren. Ohne Versuche dieser Art könnte man meinen, die Vogeljungen binden sich deshalb an ihre natürliche Mutter, weil sie durch deren Nähe »belohnt« werden. Denn dicht bei der Mutter bleiben bedeutet: gewärmt werden, Nahrung haben, Wasser usw. Bei orangefarbenen Ballons gibt es solche Belohnungen aber nie, und doch werden sie mühelos zu wirksamen Mutterfiguren. Die Prägung ist infolgedessen nicht eine Sache der Reaktion auf Belohnung, wie es beim gewöhnlichen Lernen der Fall ist. Sie ist einfach eine Sache des »einem Reiz ausgesetzt seins« oder, wenn man will, des Darbietens. Man könnte sie demnach als »Lernen durch Darbieten« bezeichnen. Bei der Prägung gibt es auch, im Gegensatz zu den meisten Formen des normalen Lernens, eine bestimmte kritische Phase; Hühnerküken und Entchen sprechen nur eine kurze Zahl von Tagen nach dem Ausschlüpfen auf das Geprägtwerden an. Nach einiger Zeit bekommen sie vor großen, beweglichen Gegenständen Angst und haben, falls sie nicht bereits »geprägt« sind, Schwierigkeiten mit der Prägung.
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Sobald die Jungvögel größer sind, werden sie unabhängig von der Mutter und laufen nicht mehr hinter ihr her. Aber die Spuren der ersten Prägung sind nicht verschwunden. Denn sie haben dadurch nicht nur erfahren, wer ihre Mutter ist, sondern auch, zu welcher Tierart sie gehören. Das hilft ihnen, im ausgewachsenen Zustand einen Sexualpartner derselben Art zu finden und nicht einen von einer anderen Tierspezies. Auch diese Aussage muß experimentell bewiesen werden. Und sie ist es: Wenn Junge der einen Art von Elternteilen einer anderen Art aufgezogen werden, kann es vorkommen, daß sie im Stadium der Geschlechtsreife einen Partner aus der Art der Zieheltern anstatt aus der eigenen Art zu finden trachten. Das kommt zwar nicht unter allen Umständen vor, ist aber doch durch viele Beispiele belegt., (Warum es in manchen Fällen so ist, in anderen aber nicht, wissen wir freilich noch immer nicht.) Bei Tieren in der Gefangenschaft kann diese Neigung, sich auf die falsche Art zu fixieren, manchmal zu bizarren Situationen führen. Werden Tauben aus einer der kleineren Arten geschlechtsreif, die von Tauben einer größeren und schwereren Art aufgezogen wurden, so nehmen sie von ihren Artgenossen keinerlei Kenntnis und wollen sich nur mit den Artfremden paaren. Und umgekehrt ist es ebenso. Aber es gibt noch Merkwürdigeres: Ein Pfauenhahn, der im Zoo, als Einzeltier gehalten, zusammen mit 251
Riesenschildkröten aufwuchs, produzierte sich beständig vor den verdutzten Reptilien und wollte von den eben eingetroffenen Pfauenhennen überhaupt nichts wissen. Diese Erscheinung habe ich als »Fehlprägung« bezeichnet. In den Beziehungen zwischen Mensch und Tier ist sie weit verbreitet. Manche Tiere, die man von Geburt an ohne Kontakt zu Artgenossen von Menschenhand aufgezogen hat, reagieren auf die Hand später nicht mit Beißen, sondern mit Begattungsversuchen, wie es beispielsweise bei Tauben oft vorkommt. Diese Entdeckung ist jedoch keineswegs neu. Man kennt solches Verhalten seit dem Altertum - schon damals hielten sich römische Damen kleine Vögel, um sich in dieser Weise zu vergnügen. (Leda war da offenbar anspruchsvoller.) Im Haus gehaltene Säugetiere klammern sich oft am Menschenbein fest und versuchen sich mit ihm zu paaren, wie manch Hundebesitzer zu seinem Kummer weiß. Auch Zoowärter müssen in der Paarungszeit stets ein wachsames Auge haben und auf »Anträge« von allen möglichen Seiten gefaßt sein, vom verliebten Emu-Hahn bis zum brunftigen Hirsch, falls diese Tiere isoliert und von Hand aufgezogen worden sind. Ich selbst war einmal in der nicht gerade angenehmen Lage, den sexuellen Avancen einer Bambusbärin ausgesetzt zu sein. Das war in Moskau, wohin man die ebenso seltene wie schöne schwarz-weiße Bärendame (man nennt diese Art auch Riesen-Panda) auf meine Veranlassung zur Paarung mit dem einzigen Bambusbärenmann gebracht hatte, den es außerhalb Chinas gibt. Über seine beharr252
lichen sexuellen Annäherungsversuche sah sie ebenso beharrlich hinweg. Als aber ich meine Hand durch das Gitter schob und sie auf den Rücken klopfte, revanchierte sie sich, indem sie den Schwanz hob und eine sehr eindeutige Stellung einnahm, während der männliche Riesen-Panda kaum ein paar Schritte entfernt war. Der Unterschied zwischen beiden Tieren war, daß die Bärendame in einem sehr viel früheren Alter als das Männchen von anderen Pandas isoliert worden war: Er war als Panda-Panda groß geworden, während sie jetzt ein Menschen-Panda war. Manchmal scheint es, als sei ein »vermenschtes« Tier in der Lage, zwischen Menschenmann und Menschenfrau zu unterscheiden. Aber das kann täuschen. Ein fehlgeprägter Truthahn zum Beispiel versuchte sich mit Männern zu galten, während er Frauen attackierte. Der Grund hierfür ist recht verzwickt: Frauen tragen Röcke und haben Handtaschen bei sich. Aggressive Truthähne balzen mit schleifenden Flügeln und mit rot anlaufenden Kehllappen. In den Augen des fehlgeprägten Puters sahen nun die Röcke wohl aus wie niederhängende Flügel und die Taschen wie Kehllappen. Die Frauen hielt er deshalb für rivalisierende Männchen und attackierte sie, während er seine sexuellen Avancen den Männern vorbehielt.
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Die Zoologischen Gärten sind voll von Tieren, die aus falschverstandener Tierliebe mit viel Mühe großgezogen und dann in die Gesellschaft von Tieren ihrer Art zurückgebracht worden sind. Für solche gezähmten Einzeltiere aber sind die Artgenossen nun Fremde, Vertreter einer furchteinflößenden, seltsamen »anderen« Spezies. So gibt es in einem Zoo einen erwachsenen Schimpansenmann, der seit über zehn Jahren zusammen mit einem Weibchen im Käfig lebt. Medizinischen Untersuchungen zufolge ist er in sexueller Hinsicht gesund; von ihr weiß man, daß sie schon geboren hatte, bevor sie zu ihm gesetzt wurde. Weil er jedoch ein von Menschenhand aufgezogenes Einzeltier ist, ignoriert er sie völlig. Nie sitzt er in ihrer Nähe, nie »laust« er sie, nie versucht er, ihr aufzureiten. Für ihn gehört sie einer anderen Art an. Und selbst der jahrelange Umgang mit ihr hat ihn nicht gewandelt. Solche Tiere können gegen Artgenossen außerordentlich aggressiv sein - nicht etwa, weil sie in diesen Rivalen sehen, sondern weil sie ihnen fremd und feindlich vorkommen. Die sonst üblichen Rituale, die unter normalen Umständen für ein unblutiges Miteinanderleben sorgen, werden hinfällig. Zu einem Mungoweibchen, das von Menschenhand aufgezogen und zahm war, wurde einmal ein frischgefangenes Männchen in der Hoffnung gesetzt, daß das Paar Nachwuchs bringen würde; statt dessen attakkierte sie ihn von dem Augenblick an, wo er in den Käfig kam. Nach und nach hatten die beiden dann anscheinend 254
einen vergleichsweise stabilen Zustand gegenseitiger Abneigung erreicht, doch muß das Männchen unter beträchtlichem Stress gelitten haben, denn bald danach bekam es Geschwüre und ging ein. Das Weibchen aber wurde unverzüglich wieder das gutmütige Tier von vorher. Eine von Menschenhand aufgezogene Tigerin setzte man einmal - zum erstenmal in ihrem Leben - in einen Käfig neben dem eines wild gefangenen männlichen Tigers. Sie konnte ihn sehen und riechen, aber die beiden waren noch getrennt voneinander. Und das war auch gut so. Denn sie war so »vermenscht«, daß sie, sobald sie ihn bemerkt hatte, in die entgegengesetzte Seite ihres Käfigs flüchtete und sich dort nicht mehr rührte. Für ein Tigerweibchen war dies eine ganz unnormale Reaktion; für einen Vertreter einer Art aber, die sie angenommen hatte - für einen Angehörigen der Art Mensch nämlich -, war es eine ziemlich normale Reaktion bei der Begegnung mit einem Tiger . . . Die Tigerin ging sogar noch weiter: Sie verweigerte das Fressen und nahm mehrere Tage lang nichts zu sich, bis man das Männchen entfernte. Und es dauerte mehrere Wochen, bis sie wieder ihr gutmütiges, »aufgeschlossenes« Wesen bekam und sich an die Gitterstäbe schmiegte, um von ihren Wärtern getätschelt und gestreichelt zu werden.
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Manchmal führen die Umstände bei der Aufzucht eines Tieres dazu, daß es hinsichtlich der Sexualität eine Doppelrolle spielt. Wird es zusammen mit anderen Vertretern seiner Art und mit Menschen aufgezogen, so kann es im geschlechtsreifen Zustand die Paarung sowohl mit Menschen wie mit Artgenossen suchen. Die Fehlprägung ist nur partiell; daneben gibt es in gewissem Umfang auch die normale Prägung. Bei »Schnellprägern« wie dem Küken oder dem Entchen wäre so etwas kaum möglich, aber Säugetiere tendieren zu einer langsameren Sozialisierung (wobei man hier unter dem Prozeß der Sozialisierung das Einfügen in die Sozialstruktur meint), und daher ist bei ihnen Zeit für das Entstehen einer doppelten Prägung vorhanden. Sorgfältige amerikanische Untersuchungen an Hunden haben das sehr deutlich werden lassen. Die Sozialisierungsphase bei Haushunden reicht vom zwanzigsten bis zum sechzigsten Lebenstag. Wenn die Welpen in dieser Zeit völlig isoliert vom Menschen aufwachsen (wobei ihre Ernährung aus der Ferne überwacht wird), sind sie schließlich buchstäblich wilde Tiere. Werden sie jedoch in Gegenwart sowohl von Hunden wie von Menschen aufgezogen, sind sie zutraulich gegen beide. Affen, die in völliger Isolierung sowohl von anderen Affen wie von Tieren anderer Arten und auch von Menschen aufgewachsen sind, bringen es kaum fertig, sich im späteren Leben an irgendeine Form der sozialen Kommunikation zu gewöhnen. Bringt man sie mit sexuell ak256
tiven Artgenossen zusammen, wissen sie nicht zu reagieren. Meistens haben sie entsetzliche Angst davor, sozialen Kontakt herzustellen, und sitzen nervös in einer Ecke. Sie sind dermaßen ungeprägt, daß sie buchstäblich a-soziale Wesen sind, unsoziale, nichtsoziale Wesen, und das, obwohl sie einer hoch sozialisierbaren Art angehören. Werden sie zusammen mit anderen jungen Tieren der eigenen Gattung aufgezogen, jedoch ohne Muttertiere, so haben sie nicht so zu leiden; es scheint also neben der elterlichen Prägung noch so etwas wie eine »Kumpan-Prägung« zu geben. Beide Vorgänge können eine Rolle bei der Bindung eines Tiers an seine Art spielen. Die Welt eines fehlgeprägten Tieres ist etwas Fremdartiges, Beängstigendes. Durch Fehlprägung wird ein psychischer Bastard geschaffen, der zwar die zu seiner Art gehörenden Verhaltensweisen zeigt, diese aber lediglich Angehörigen der Art seiner »Adoptiveltern« zuwendet. Nur unter enormen Schwierigkeiten, und selbst dann nicht immer, kann ein solches Tier »umerzogen« oder neuangepaßt werden. Bei manchen Arten sind die Sexualsignale der Artgenossen so stark und die Reaktion auf sie sitzt instinktiv so fest, daß beides eine anomale Aufzucht überdauert; für viele Tiere aber hat die Prägung eine Gewalt, die alles überrennt. 257
Tierfreunde täten gut daran, dies in Erinnerung zu behalten, wenn sie sich an das »Zähmen« junger Wildtiere machen. Die Verantwortlichen in den Zoologischen Gärten haben lange Zeit ratlos vor den beträchtlichen Schwierigkeiten gestanden, die mit der Aufzucht vieler ihrer Tiere verbunden waren. Manchmal ging das zu Lasten einer ungeeigneten Unterbringung oder Ernährung; allzu oft aber lag die Ursache in der Fehlprägung, die solche Tiere bereits in den Zoo mitbrachten. Wenden wir uns nun dem Lebewesen Mensch zu, so liegt klar auf der Hand, wie bedeutsam die Prägung ist. Während der ersten Lebensmonate macht der Säugling eine empfängliche Phase der Sozialisierung durch, in der es zu einer tiefgreifenden und lange anhaltenden Bindung an seine Art und besonders an seine Mutter kommt. Wie bei der Prägung der Tiere ist diese Bindung nicht ausschließlich abhängig von physischen »Belohnungen« durch die Mutter, wie etwa dem Füttern und Säubern. Auch das für die Prägung kennzeichnende »Lernen durch Ausgesetztsein und Darbieten« findet hier statt. Das kleine Kind kann sich zwar nicht wie Küken und Entchen durch Hinterherlaufen in der Nähe der Mutter halten, erreicht aber dasselbe durch die Verhaltensweise des Lächelns: Das Lächeln der Babys wirkt auf die Mutter anziehend und veranlaßt sie, zu bleiben, mit dem Kind zu spielen und dabei zurückzulächeln. Diese spielerischen Lächel-Episoden helfen das Band zwischen Mutter und Kind festigen: Jedes 258
wird vom ändern und auf den ändern geprägt, und so bildet sidi eine sehr starke gegenseitige Bindung heraus, ein dauerndes Band, das für das spätere Leben des Kindes außerordentlich wichtig ist. Kinder können, selbst wenn sie gut genährt und saubergehalten werden, dabei aber ohne die »Liebe« der frühen Prägung bleiben, unter Angstzuständen leiden, die ihnen für den Rest ihres Lebens nicht mehr zu nehmen sind: Waisen- und Heimkinder, die dort aufwachsen, wo die persönliche Aufmerksamkeit dem einzelnen Kind gegenüber und damit die Möglichkeiten der Bindung unvermeidlich begrenzt sind, werden nur allzu häufig ängstliche Erwachsene. Ein festes Band hingegen, das sich während des ersten Lebensjahres bildet, bedeutet die Fähigkeit, auch während des späteren Erwachsenenlebens starke Bindungen herzustellen. Eine gute frühe Prägung garantiert dem Kind ein großes Konto an emotionaler Kraft: Auch wenn später erhebliche Ausgaben zu leisten sind, verfügt es noch über starke Reserven. Geht die elterliche Fürsorge während des Heranwachsens verloren (etwa bei Trennung der Eltern, Ehescheidung oder durch Tod), so hängt die Widerstandskraft des Kindes hiergegen von der Qualität der Bindung im ersten Lebensjahr ab. Spätere Probleme werden natürlich ihren Tribut fordern, eher aber geringfügig sein im Vergleich mit den Problemen der ersten Monate.
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Ein fünfjähriges Kind, das, während des letzten Krieges aus London evakuiert, von seinen Eltern getrennt war, antwortete auf die Frage, wer es sei: »Ich bin Niemandes Nichts.« Der Schock hatte ganz offensichtlich schädigend gewirkt; ob er in solchen Fällen dauerndes Unheil anrichtet, hängt zum großen Teil davon ab, inwiefern er frühe Erfahrungen bestätigt oder ihnen widerspricht. Im Falle des Widerspruchs wird Desorientierung entstehen, die man korrigieren kann; im Falle der Bestätigung werden wohl frühe Angsterfahrungen verfestigt und verstärkt. Mit dem sexuellen Phänomen der Paarbindung kommen wir zur nächsten bedeutenden Bindungsphase. »Liebe auf den ersten Blick« mag nicht allen von uns begegnen, und doch ist sie alles andere als ein Märchen. Der Vorgang des Sich-Verliebens weist alle Eigentümlichkeiten des Prägungsprozesses auf. Es gibt eine hierfür empfängliche Phase (im frühen Erwachsenenleben), in der er am ehesten aufzutreten pflegt; es ist ein sich verhältnismäßig rasch vollziehender Vorgang; seine Wirkung ist lang anhaltend im Vergleich zu der Zeit, innerhalb derer sie sich anbahnt; und diese Wirkung kann auch dann noch fortdauern, wenn »Belohnungen« offensichtlich ausbleiben. Hiergegen könnte man einwenden, daß die ersten Pa»rbindungen oft unstabil sind und beiläufig bleiben. Die Antwort darauf lautet, daß in den Jahren der Pubertät und der ersten Nachpubertät die Fähigkeit zur Bildung 260
einer ernsthaften Paarbindung erst noch reifen muß. Dieser langsame Reifungsprozeß bringt eine Übergangsphase mit sich, in der wir sozusagen das Wasser ausprobieren können, ehe wir hineinspringen. Denn wäre dem nicht so, würden wir alle ausschließlich auf unsere erste Liebe fixiert bleiben. In der Gesellschaft von heute ist diese natürliche Übergangsphase künstlich gedehnt durch den zu langen Fortbestand der Familienbande: Die Eltern klammern sich an ihren Nachwuchs auch noch zu einer Zeit, wo sie sich, biologisch gesehen, trennen sollten. Der Grund ist eindeutig genug: Die hochkomplizierten Anforderungen des Menschen-Zoos machen es dem Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen einfach unmöglich, unabhängig von anderen existieren zu können. Diese Unfähigkeit verleiht dem jungen Menschen eine »kindliche« Eigenschaft, die Vater und Mutter in ihrer elterlichen Reaktionsweise unvermindert bestärkt, trotz der Tatsache, daß ihr Nachwuchs nunmehr zu sexueller R.eife gelangt ist. Das wiederum führt bei dem Nachwuchs dazu, kindliche Züge überlange beizubehalten, die sich nun in unnatürlicher Weise mit den jetzt auftretenden neuen Zügen des Erwachsenenstadiums überschneiden. Das Ergebnis sind beträchtliche Spannungen, und oft liegt eine tiefe Kluft zwischen der Eltern-KindBindung und der neu sich bildenden Neigung der Jungen zu einer sexuellen Paarbindung.
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Weder ist es die Schuld der Eltern, daß in der Welt des Superstammes draußen ihre Kinder noch nicht selbst für sich sorgen können, noch ist es die Schuld der Kinder, wenn sie nicht anders können, als ihren Eltern »kindliche Hilflosigkeit« zu signalisieren. Die Schuld liegt allein bei der unnatürlichen verstädterten Umwelt, die eine größere Zahl von »Lehrjahren« erfordert, als die biologische Wachstumsrate des jungen Lebewesens Mensch vorsieht. Trotz dieser Störung beim Ausbilden der neuen Paarbindungs-Beziehung bahnt sich die sexuelle Prägung doch bald den Weg ans Licht. Junge Liebe mag manchmal typisch flüchtig bleiben; sie kann jedoch auch ungemein intensiv sein - so intensiv, daß in einer Reihe von Fällen dauernde Fixierung auf »Jugendlieben« vorkommt, ohne Rücksicht auf die sozioökonomische Undurchführbarkeit solcher Beziehungen. Und selbst wenn diese frühen Paarbindungen zusammenbrechen, können sie ihre Spuren hinterlassen. Denn oft genug sieht es ganz so aus, als sei die spätere Suche nach dem Sexualpartner in der endgültig unabhängigen Erwachsenenphase eine unbewußte Suche nach den Schlüsselreizen der allerersten sexuellen Prägung. Wenn diese Suche dann schließlich doch scheitert, kann das sehr wohl einen im Verborgenen wirkenden Faktor bedeuten, der seine Rolle beim Untergraben einer sonst »glücklichen« Ehe spielt.
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Diese Erscheinung der Bindungsverwechslung ist nicht auf die Situation der Jugendliebe beschränkt. Sie kann auf jeder Ebene vorkommen, und sie ist ganz besonders dazu angetan, Zweitehen zu belasten, in denen stillschweigende und manchmal gar nicht so stillschweigende Vergleiche mit früheren Partnern häufig sind. Eine andere wichtige und sehr schädigende Rolle kann sie spielen, wenn die Eltern-Kind-Bindung verwechselt wird mit der sexuellen Paarbindung. Um dies zu begreifen, ist es notwendig, noch einmal zu betrachten, was die Eltern-KindBindung für das Kleinkind bedeutet. Sie sagt ihm drei Dinge: 1) Dies ist mein spezieller, persönlicher Elternteil. 2) Dies ist die Art, der ich angehöre. 3) Dies ist die Art, innerhalb derer ich mich in meinem späteren Leben paaren werde. Die ersten beiden Informationen sind eindeutig; die dritte aber kann fehlgehen. Wenn die frühe Bindung an den Elternteil des entgegengesetzten Geschlechts besonders nachhaltig gewesen ist, können einige von dessen individuellen Eigenschaften die spätere sexuelle Bindung des Nachwuchses beeinflussen. Statt die Mitteilung aufzunehmen »Dies ist die Art, innerhalb derer ich mich im späteren Leben paaren werde«, liest das Kind sie als »Dies ist der Menschentyp, mit dem ich mich im späteren Leben paaren werde«.
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Ein sehr starker Einfluß dieser Art kann zum ernsten Problem werden. Die Überlagerung mit dem sexuellen Paarbindungsvorgang, die aus einer nachhaltigen ElternImago herrührt, vermag zu einer Auslese eines ganz bestimmten Partners zu führen, die in jeder anderen Hinsicht höchst unvorteilhaft ist. Umgekehrt kann ein sonst durchaus passender Partner das Eingehen einer vollen Beziehung dadurch unmöglich machen, daß ihm (oder ihr) gewisse triviale, aber als Schlüsselreize wirkende Merkmale des eigenen Elternteils fehlen. (»Mein Vater hätte das nie getan!« - »Ich bin aber nicht dein Vater!«) Diese an Problemen und Schwierigkeiten reiche Erscheinung der Bindungsverwechslung ist offenbar bedingt durch die unnatürliche Situation der Isolierung im Familienverband, die in der überfüllten Welt des MenschenZoos so oft vorkommt. Das Phänomen des »Fremde unter uns« richtet sich auch gern gegen jene Atmosphäre von Stammes-Offenheit und sozialer Vermischung, wie sie sonst kennzeichnend ist für kleinere Gemeinschaften: In Verteidigungsstimmung wenden sich die Familien gegeneinander, indem sie sich, in Reihen hübscher Villen- oder Einfamilien-Käfige hausend, gegenseitig wegboxen. Unglücklicherweise spricht nichts dafür, daß sich die Lage verbessern könnte- eher ist das Gegenteil der Fall.
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Wir verlassen damit die Frage der Bindungsverwechslung und betrachten nun eine andere, noch merkwürdigere Verirrung der menschlichen Prägung: unsere eigene Version einer Fehlprägung. Hier begeben wir uns auf das ungewöhnliche Terrain dessen, was man sexuellen Fetischismus nennt. Für eine kleinere Zahl von Individuen kann die erste sexuelle Erfahrung eine psychisch verkrüppelnde Wirkung haben. Anstatt auf das Bild eines speziellen Geschlechtspartners geprägt zu werden, wird ein Individuum diesen Typs sexuell fixiert auf einen unbelebten Gegenstand, der zum fraglichen Zeitpunkt gegenwärtig war. Es ist keineswegs klar, warum diese unnatürliche Fixierung bei so vielen Menschen nicht vorkommt. Vielleicht hängt dies von der Lebhaftigkeit oder Gewaltsamkeit gewisser Aspekte anläßlich unserer ersten größeren sexuellen Entdeckung ab. Wie dem auch sei - das Phänomen ist sehr merkwürdig. Nach dem zu urteilen, was an bekannten Fällen zur Verfügung steht, kommt es zur Bindung an einen sexuellen Fetisch am häufigsten dann, wenn der sexuelle Höhepunkt zum erstenmal spontan oder bei Alleinsein erreicht wird. In vielen Fällen kann sie auf die erste Ejakulation des jungen Mannes zurückgeführt werden, die oft in Abwesenheit eines weiblichen Wesens und ohne die üblichen Paarbindungs-Vorkehrungen eintritt: Irgendein im Augenblick der Ejakulation vorhandener auffälliger Gegenstand gewinnt dann sogleich eine mächtige und anhal265
tende sexuelle Bedeutsamkeit. Es ist, als ob die gesamte Prägekraft der Paarbindung auf etwas Unbelebtes abgelenkt wird und ihm in Blitzesschnelle eine bedeutende Rolle im weiteren sexuellen Leben des Betreffenden verleiht. Dieser schlagende Fall einer Fehlprägung ist vermutlich nicht ganz so selten, wie es den Anschein hat. Die meisten von uns freilich entwickeln wohl eher eine primäre Paarbindung zu einem Vertreter des entgegengesetzten Geschlechts anstatt zu Pelzhandschuhen oder Lederstiefeln, und wir sind froh, unsere Paarbindung offen kundtun zu können, im Vertrauen darauf, daß andere unsere Gefühle verstehen und teilen; der Fetischist dagegen, geprägt von seinem ungewöhnlichen Sexualobjekt, hüllt sich über seine nicht alltägliche Neigung gern in Schweigen: Das leblose Objekt seiner sexuellen Prägung, für ihn selbst von so enormer Bedeutung, wird den anderen so gut wie gar nichts bedeuten, und schon aus Furcht, sich lächerlich zu machen, hält er es also geheim. Nicht nur bedeutet es nichts für die große Mehrheit, für die Nichtfetischisten, sondern es bedeutet auch wenig für die anderen Fetisdiisten, von denen jeder seine eigene Spezialität hat: Pelzhandschuhe haben für einen Stiefelfetischisten ebensowenig Bedeutung wie für einen Nichtfetischisten. Durch eben diese hochspezialisierte Art sexueller Prägung wird der Fetischist von den anderen isoliert. 266
Ein zwölfjähriger Junge erlebte beim Spielen mit einem Fuchspelzmantel seine erste Ejakulation. Als Erwachsener war er zur sexuellen Befriedigung nur imstande in Anwesenheit von Pelzen; auf die übliche Weise konnte er mit Frauen nicht koitieren. Ein junges Mädchen erlebte den ersten Orgasmus beim Masturbieren mit einem Stück schwarzen Samt. Damit wurde Samt auch für sein Leben als Erwachsene sexuell entscheidend wichtig: Ihr ganzes Haus war mit Samt ausgeschlagen, und sie heiratete nur, um mehr Geld zum Kauf von noch mehr Samt zu haben. Ein vierzehnjähriger Junge hatte sein erstes sexuelles Erlebnis bei einem Mädchen, das ein seidenes Kleid trug. Später war er unfähig, bei einer nackten Frau zu schlafen; er wurde erst erregt, wenn sie ein seidenes Kleid trug. Ein anderer Junge lehnte gerade am Fenster, als seine erste Ejakulation eintrat. Zufällig ging gerade draußen auf der Straße jemand an Krücken vorbei. Verheiratet, konnte er nur bei seiner Frau schlafen, wenn sie Krücken mit ins Bett nahm. Ein neunjähriger Junge spielte im Moment der Ejakulation mit einem weichen Handschuh am Penis. Als Erwachsener wurde er Handschuhfetischist mit einer Sammlung von mehreren hundert Handschuhen - alle sexuelle Tätigkeit war bei ihm ausschließlich auf diese gerichtet.
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Es gibt viele solche Beispiele; sie zeigen durchweg klar die Verbindung zwischen dem späteren Fetisch und der ersten sexuellen Erfahrung. Zu den verbreiteten Objekten des Fetischismus zählen: Schuhe, Reitstiefel, »Vatermörder« (steife Kragen), Korsetts, Strümpfe, Unterwäsche, Leder- und Gummiwaren, Schürzen, Taschentücher, das Haar, die Füße, besondere Trachten, etwa die der Krankenschwester. Manchmal sind diese Dinge notwendiger Bestandteil eines erfolgreichen (im übrigen normal ausgeübten) Beischlafs. Manchmal treten sie völlig an die Stelle des Sexualpartners. Das Material scheint bei den meisten eine wesentliche Rolle zu spielen, vielleicht deshalb, weil Pressen oder Reiben unterschiedlicher Art typisch verbunden ist mit der ersten sexuellen Erregung des Individuums. Ist hieran ein Stoff von besonders prägnantem Berührungsreiz beteiligt, so scheint große Aussicht zu bestehen, daß er zum sexuellen Fetisch wird. Hierfür würde die weite Verbreitung etwa des Gummi-, Leder- und Seidenfetischismus sprechen. Auch Schuh-, Stiefel-und Fußfetischismus ist nicht selten; vielleicht spielt auch hierbei der Druck gegen den Körper mit. So gibt es den klassischen Fall eines Vierzehnjährigen, der mit einer Zwanzigjährigen spielte, die Stökkelschuhe trug. Er lag am Boden, während sie zum Spaß über ihm stand und ihm Tritte gab. Als ihr Fuß auf dem Penis lag, erlebte er seine erste Ejakulation. Auch als er erwachsen war, blieb dies die einzige Form seiner sexuel268
len Betätigung: Er konnte im Laufe seines Lebens mehr als hundert Frauen dazu überreden, ihn mit Stöckelschuhen zu treten. Im Idealfall mußte die Partnerin ein ganz bestimmtes Gewicht haben und Schuhe von ganz bestimmter Farbe tragen - die allererste Begegnung mußte so genau wie möglich rekonstruiert werden, um eine maximale Reaktion hervorzurufen. Der zuletzt genannte Fall zeigte sehr deutlich, wie sich Masochismus entwickeln kann. Ein anderer Junge zum Beispiel hatte seine erste sexuelle Erfahrung ganz spontan beim Raufen mit einem viel größeren Mädchen. Im späteren Leben war er auf schwere, aggressive Frauen fixiert, die bereit waren, ihm beim Geschlechtsverkehr weh zu tun. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, wie sich auf analoge Weise gewisse Formen des Sadismus ausbilden. Die Bindung an einen Sexualfetisch unterscheidet sich vom gewöhnlichen Konditionierungs-, d. h. Lernprozeß auf mancherlei Weise. Ähnlich wie die Prägung (oder die zu Beginn des Kapitels erwähnte traumatische Erfahrung) vollzieht sie sich sehr rasch, hat eine nachhaltige Wirkung und ist nur außerordentlich schwer rückgängig zu machen. Auch tritt sie ebenfalls in einer besonders empfänglichen Phase der Entwicklung auf. Wie die Fehlprägung fixiert sie das Individuum auf etwas Unnormales und lenkt das Sexualverhalten von dem biologisch Natürlichen ab 269
nämlich von einem Vertreter des jeweils anderen Geschlechts. Dabei wirkt sich schädlich nicht so sehr die Tatsache aus, daß so etwas wie ein Gummihandschuh positive sexuelle Bedeutung erhält; vielmehr entstehen die Schwierigkeiten durch die völlige Eliminierung jedes anderen Sexualobjekts. Die Fehlprägung ist so stark, daß sie das gesamte verfügbare sexuelle Interesse »aufbraucht«. Genauso wie die kleine Ente aus dem Experiment dem orangefarbenen Ballon nachläuft und die richtige Mutter überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt, so ist für den Handschuhfetischisten einzig und allein der Handschuh sein Partner, über dem er alle anderen möglichen Partner »vergißt«. Die Schwierigkeiten werden also durch die Ausschließlichkeit des Prägungsvorgangs verursacht, sobald der Mechanismus sich vertut. Wir alle finden diese oder jene Stoffe, diese oder jene Druckreize als »Zutat« zum Sexualakt reiz-voll. Und das Ansprechen auf Samt oder Seide hat ja auch nichts Abwegiges an sich. Wenn aber jemand ausschließlich auf Samt, Seide oder ähnliche Dinge fixiert ist und sich das ausbildet, was praktisch auf eine Paarbindung mit dem Objekt hinausläuft (wie bei jenem Schuhfetischisten, der, sobald er mit den Mädchenschuhen allein war, »errötete, als seien es die Mädchen selber«), dann ist beim Prägemechanismus etwas nachdrücklich falsch gelaufen.
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Warum muß nun eine zwar kleine, aber doch ansehnliche Zahl von Menschen unter dieser Art von Fehlprägung leiden? Unter den natürlichen Verhältnissen der freien Wildbahn lebende Tiere müssen das nicht. Bei ihnen kommt es nur vor, wenn sie gefangen und vom Menschen unter sehr künstlichen Verhältnissen von Hand aufgezogen oder wenn sie mit anderen Tierarten zusammensperrt oder wenn ganz bestimmte Experimente mit ihnen vorgenommen werden. Vielleicht liegt hier der Schlüssel zum Ganzen. Wie ich schon dargelegt habe, sind die sozialen Bedingungen in einem Menschen-Zoo für unsere auf das einfache Leben im Stammesverband angelegte Art überaus künstlich. In vielen unserer Superstämme wird das Sexualverhalten während der kritischen Phase der Pubertät schärfstens eingeschränkt. Aber obwohl unterdrückt und mit den unterschiedlichsten Verboten unnatürlicher Art belegt, ist es doch durch niemanden und nichts völlig niederzuhalten. Bald bricht es hervor; und wenn dabei dann besonders auffällige Gegenstände vorhanden sind, kann der von ihnen ausgehende Eindruck überwältigend sein. Wäre der Heranwachsende auf einer früheren Stufe seiner Entwicklung allmählich erfahrener in sexuellen Dingen geworden, wären seine ersten sexuellen Erkundungen reichhaltiger und weniger von den Künstlichkeiten des Superstammes beengt gewesen, dann hätte die spätere Fehlprägung vielleicht vermieden werden können. Es wäre interessant zu wissen, wie viele der extremen Fetisdiisten Einzelkinder waren, wie viele als Jugendliche schüchtern 271
und zaghaft beim Anbahnen von Kontakten und wie viele in einer sehr strengen Familie lebten. Eine wichtige, bisher noch nicht erwähnte Form der Fehlprägung ist die Homosexualität. Ich habe sie zurückgestellt, weil es sich um eine komplizierte Erscheinung handelt, die nur zum Teil mit Fehlprägung zu tun hat. Homosexualität kann auf vielerlei Art und Weise entstehen. Einmal kann sie als Fall von Fehlprägung auftreten, ganz ähnlich wie der Fetischismus: Ist die erste Sexualerfahrung des Menschen stark und tritt sie als Ergebnis einer intimen Begegnung mit einem Vertreter des gleichen Geschlechts auf, so vermag es sehr schnell zu einer Fixierung auf dieses Geschlecht zu kommen. Wenn zwei Jungen miteinander raufen oder irgendeine An von Sexspiel treiben, wobei sich eine Ejakulation einstellt, kann dies zu einer Fehlprägung führen. Das Merkwürdige ist aber, daß Jungen recht oft frühe sexuelle Erlebnisse der einen oder ändern Art miteinander teilen und trotzdem in der Mehrheit zu heterosexuellen, auf das andere Geschlecht gerichteten Erwachsenen werden. Wiederum müssen wir erst viel mehr darüber herausbringen, wodurch denn nur ein paar, nicht aber alle derart fixiert werden. Wie bei den Fetischisten hat es vermutlich etwas mit der Reichhaltigkeit der sozialen Erfahrungen der Jungen zu tun - je sozial eingeengter einer gelebt hat, je stärker abgeschnitten von persönlichen Wechselbeziehungen, desto leerer wird das Blatt seiner Sexualität sein. Die meisten Jungen verfügen 272
in dieser Hinsicht gleichsam über eine Wandtafel, auf der die Dinge flüchtig skizziert, ausgewischt und neu gezeichnet werden. Bei dem in sich gekehrt lebenden Jungen bleibt diese Tafel jungfräulich unbeschrieben. Wenn endlich doch einmal etwas darauf gezeichnet wird, ist das viel dramatischer, und er wird sich dieses Bild vermutlich sein Leben lang aufbewahren. Extrovertierte Knaben, das, was man so Lausbuben nennt, mögen an homosexuellen Betätigungen beteiligt sein; doch für sie ist das einfach nur eine von vielen Erfahrungen, die sie eben registrieren und dann überwinden, um mit fortschreitenden Erkundungen in der Sozialisierung immer neue Erfahrungen hinzuzufügen. Dies bringt mich zu den anderen Ursachen anhaltender Homosexualität. Ich sage »anhaltend«; denn natürlich kommt es zu kurzen, vorübergehenden homosexuellen Akten irgendwann einmal bei der großen Mehrzahl beider Geschlechter, als ein Teil allgemeiner sexueller Erkundungen. Für die meisten Leute bleiben das, wie für die erwähnten Lausbuben, oberflächliche, gewöhnlich auf die Kindheit beschränkte Erfahrungen. Bei manchen Menschen hingegen halten die homosexuellen Verhaltensweisen das ganze Leben hindurch an, oft bis zum fast völligen oder völligen Unterbleiben heterosexueller Betätigung. Fehlprägung von der Art, wie ich sie dargestellt habe, erklärt diese Fälle nicht restlos. Ein zweiter, recht simpler Grund ist der, daß sich das andere Geschlecht ausnehmend unfreundlich gegen das Individuum verhält: Ein Junge, 273
der von Mädchen terrorisiert wird, kann leicht dazu kommen, in männlichen Wesen attraktivere Sexualpartner zu sehen, trotz der Tatsache, daß sie zur Paarung sexuell untauglich sind. Und ein von Jungen exzessiv terrorisiertes Mädchen kann ebenso reagieren und sich anderen Mädchen als Sexualpartnern zuwenden. Terrorisieren ist hier natürlich nicht der einzige Mechanismus: Verrat und andere Formen sozialer oder psychischer Bestrafung von seiten des ändern Geschlechts können sich als ebenso wirksam erweisen. (Und auch wenn das andere Geschlecht selbst nicht feindlich eingestellt ist, kann kultureller Druck, der die heterosexuellen Betätigungen starken Zwängen unterwirft, zu demselben Ergebnis führen.) Ein dritter wichtiger Faktor bei der Entstehung dauernder Homosexualität ist die kindliche Einschätzung der von den Eltern gespielten Rollen: Hat ein Kind einen schwachen Vater und eine dominierende Mutter, so liegt die Gefahr besonders nahe, daß es die Rolle von Mann und Frau falsch sieht und sie vertauscht, was im späteren Leben leicht zur Wahl des falschen Geschlechts für den Paarbindungspartner führt. Der vierte Grund ist offensichtlicher. Wenn in der Umwelt Vertreter des entgegengesetzten Geschlechts über einen längeren Zeitraum hinweg gänzlich fehlen, werden Vertreter des eigenen Geschlechts zum nächstbesten Objekt für sexuelle Beziehungen. Ein derart von Frauen iso274
lierter Mann oder eine von Männern isolierte Frau kann dauernd homosexuell sein, ohne daß einer der drei zuvor genannten Einflüsse hierbei in Erscheinung träte. Ein Gefangener zum Beispiel kann frei von jeder Fehlprägung sein, er kann das andere Geschlecht lieben, und er kann einen Vater gehabt haben, der echt männlich der Mutter überlegen war - und doch vermag aus ihm noch ein Homosexueller auf lange Frist zu werden, wenn er in ein Gefängnis gesperrt wird. Wenn in Gefängnissen, Internaten, Kasernen oder auf Schiffen die monosexuellen Verhältnisse einige Jahre andauern, kann der GelegenheitsHomosexuelle allmählich auf die Belohnungen seines solchermaßen erzwungenen Sexualverhaltens konditioniert werden und an diesem Verhalten auch dann noch festhalten, wenn er bereits wieder in eine heterosexuelle Umwelt zurückgekehrt ist. Von den vier Einflüssen, die zu einem ständigen homosexuellen Verhalten führen, ist nur der erste für dieses Kapitel von Interesse; es war jedoch wichtig, sie hier alle zu besprechen, um den Anteil der Fehlprägung bei dieser Sondererscheinung des Sexuallebens zu erläutern. Homosexuelles Verhalten ist bei anderen Tierarten gewöhnlich eine Angelegenheit des »nächstbesten Objektes« und verschwindet bei Gegenwart sexuell aktiver Vertreter des anderen Geschlechts. Man kennt jedoch auch einige Fälle von ständig homosexuellen Tieren, und zwar aus 275
Experimenten, die man mit den Tieren hinsichtlich ihres Sozialverhaltens angestellt hat. Werden zum Beispiel junge Stockerpel in den ersten 75 Lebenstagen in rein männlichen Gruppen von fünf bis zehn Einzeltieren aufgezogen und bekommen in dieser Zeit kein Weibchen ihrer Art zu Gesicht, so werden sie dauernd homosexuell. Setzt man sie dann in erwachsenem Zustand auf einem Teich aus, wobei nunmehr Männchen und Weibchen zugegen sind, so ignorieren sie die Weibchen völlig, und es kommt unter ihnen zu homosexuellen Paarbindungen. Diese Situation bleibt viele Jahre lang erhalten, möglicherweise auf Lebenszeit - die Anwesenheit von Weibchen vermag daran überhaupt nichts zu ändern. Von Tauben, die in gleichgeschlechtlichen Paaren gehalten wurden, ist bekannt, daß sie miteinander kopulierten und unter Umständen richtige Paarbindungen eingingen. Zwei Männchen, die auf diese Weise sexuell aufeinander geprägt wurden, machten gemeinsam einen vollständigen Brutzyklus durch: Sie bauten gemeinsam ein Nest, brüteten Eier aus und zogen die Jungen auf - bebrütbare Eier mußten dazu selbstverständlich aus dem Nest eines richtigen Paares genommen werden, wurden aber rasch akzeptiert, indem jedes der beiden Taubenmännchen so tat, als stammten die Eier vom ändern. Es ist fraglich, ob die beiden Männchen, nachdem die homosexuelle Paarbindung sie in ihren Pseudo-Brutzyklus gedrängt hatte, von einem Weibchen überhaupt Notiz genommen hätten. In diesem Stadium wäre die Homosexualität zu einer dauernden 276
geworden, zumindest bis zum Ende dieses Brutzyklus. Beim Lebewesen Mensch ist die Fehlprägung nicht auf das Gebiet sexueller Beziehungen beschränkt. Sie kann auch in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern auftreten. Was die Prägung von Menschenkindern auf Eltern nichtmenschlicher Arten anlangt, so ist brauchbares Material nicht vorhanden. Die berühmten Fälle der sogenannten »Wolfskinder« - also jener ausgesetzten oder abhanden gekommenen Säuglinge, die angeblich von Wölfinnen gesäugt und aufgezogen wurden - sind niemals richtig bewiesen worden und müssen einstweilen ins Reich der Fabel verwiesen werden. Könnte dergleichen wirklich vorkommen, so besteht wenig Zweifel, daß die Wolfskinder ganz auf ihre Adoptiveltern fehlgeprägt wären. Der umgekehrte Vorgang dagegen kommt sozusagen tagtäglich vor. Wenn ein Tierjunges von menschlichen »Eltern« mit der Hand aufgezogen wird, so führt das nicht nur bei dem Tier zur Fehlprägung: Oft ist der menschliche Adoptiv-Elternteil ebenfalls intensiv fehlgeprägt und reagiert auf das junge Tier wie auf ein menschliches Kleinkind. Dieselbe emotionelle Hingabe ist nun dem Tier zugewandt. Genauso wie eine Pseudomutter - etwa der orangefarbene Ballon bei der kleinen Ente - über gewisse Schlüsselqualitäten verfügt, die sie zur Fehlprägung tauglich machen (der Ballon ist ein großes bewegliches Objekt), 277
genauso ist das Pseudokind um so tauglicher, je mehr es gewisse für den Menschen-Säugling typische Eigenschaften hat. Menschenbabys sind hilflos, weich, warm, rund, haben ein flaches Gesicht und große runde Augen, und sie weinen. Je mehr von diesen Eigenheiten ein junges Tier aufweist, desto wahrscheinlicher wird es bei einem fehlgeprägten menschlichen Ziehelternteil zum Entstehen einer Eltern-Kind-Bindung kommen. Viele junge Säugetiere haben praktisch alle diese Eigenschaften, und so geht es außerordentlich leicht, daß ein Mensch in Minutenschnelle auf sie fehlgeprägt wird. Ein weiches, warmes, großäugiges Rehkitz, das nach der Mutter fiept, oder ein rundliches, hilfloses Hündchen, das nach der abwesenden Hündin weint, bietet ein so stark kindliches Bild, daß ihm nur wenige Frauen widerstehen können. Und da manche dieser kindlichen Eigenschaften bei solchen Tierkindern noch stärker ausgeprägt sind als bei wirklichen Menschenkindern, können die übertriebenen Reize dieses Pseudokindes stärker werden als die natürlichen, und die Fehlprägung wird besonders intensiv. Tierkinder haben einen großen Nachteil: Sie wachsen zu schnell. Selbst solche Tiere, die sich langsam entwickeln, werden zu ausgewachsenen Tieren in einem Bruchteil der Zeit, die ein Menschenkind zum Ausreifen braucht. Wenn dies geschieht, werden die Tiere oft unhandsam und verlieren ihren Reiz. Aber das Lebewesen Mensch ist ja einfallsreich, und so hat es Vorkehrungen auch gegen diese 278
ungünstige Entwicklung getroffen: Durch jahrhundertelange Zuchtwahl ist es ihm gelungen, seine Haustiere immer »kindlicher« werden zu lassen, so daß nun zum Beispiel ausgewachsene Katzen und Hunde wie noch ziemlich junge »Ausgaben« der entsprechenden wild lebenden Arten aussehen. Sie bleiben zudem verspielter und weniger selbständig und erfüllen so ihre Rolle als Kind-Ersatz. Bei einigen Hundearten (den Schoßhündchen und Toys, regelrechten »Spielzeughunden«) hat man das bis zum Extrem getrieben. Sie verhalten sich nicht nur »jünger«, sie sehen auch jünger aus, fühlen sich jünger an, und ihre Stimmen klingen jünger. Ihre gesamte Anatomie ist abgewandelt worden, um sie dem Bild der Menschenbabys anzugleichen, auch dann noch, wenn sie ausgewachsen sind. Auf diese Weise können sie als Befriedigung verschaffendes Pseudokind nicht nur ein paar Monate füngieren, wie die ändern es ein Weilchen tun, sondern zehn Jahre und länger - ein Zeitraum, der dem entsprechenden der menschlichen Kindheit gleicht. Mehr noch: Sie sind sogar besser als das richtige Kind, weil sie während der ganzen Zeit wirklich »babyhaft« bleiben. Ein gutes Beispiel ist der Pekinese. Der wilde Vorfahre der Pekinesen (wie überhaupt aller gezähmten Haushunde) ist der Wolf, ein Geschöpf, das bis zu 75 Kilo und mehr wiegen kann - soviel wie im Durchschnitt ein erwachsener Europäer. Das Gewicht eines neugeborenen Babys liegt zwischen zweieinhalb und fünf Kilo, im 279
Durchschnitt etwas über dreieinhalb Kilo. Um also aus dem Wolf ein passables Pseudokind zu machen, muß er auf etwa ein Fünfzehntel seines ursprünglichen natürlichen Gewichts reduziert werden. Mit dem Pekinesen wird in diesem Prozeß ein Triumph erreicht, denn er wiegt zwischen dreieinhalb und sechs Kilo mit einem Durchschnitt von etwa fünf Kilo. So weit, so gut. Er kann es an Gewicht mit dem Baby aufnehmen und besitzt noch als ausgewachsener Hund die erste der entscheidenden Pseudokind-Eigenschaften: Er ist klein. Aber noch fehlen einige Merkmale. Die Läufe des typischen Hundes sind im Verhältnis zum Körper zu lang; ihre Abmessungen erinnern mehr an den erwachsenen Menschen als an das kurzarmige und kurzbeinige Baby. Also weg mit den Läufen! Durch Zuchtwahl ist es möglich, Sorten zu erzielen, die immer kürzere Läufe haben und schließlich nur noch watscheln können. Das korrigiert nicht nur die Maße, sondern hat dazu noch den Vorteil, daß die Tiere schwerfälliger und hilfloser werden - und das sind weitere wertvolle Kindchen-Züge! Aber irgend etwas fehlt noch immer. Der Hund ist zwar fürs Anfassen warm genug, aber nicht weich genug: Das natürliche, »wilde« Haar ist zu kurz, zu borstig und fest. Also her mit den Haaren! Die Zuchtwahl sorgt für langes, seidenweich fallendes Haar, für das Gefühl kindlicher Superweichheit. Es werden aber auch Änderungen an der natürlichen Gestalt des Hundes notwendig. Er muß pummeliger wer280
den, größere Augen bekommen und einen kürzeren Schwanz. Man braucht nur einen Blick auf den Pekinesen zu werfen, um zu erkennen, daß auch diese Abänderungen mit Erfolg vorgenommen worden sind. Weiter: Die Ohren standen aufrecht und waren spitz. Indem man sie größer und wuscheliger machte, besetzt mit langem, weichem Haar, konnte man sie in überzeugende Nähe zum Haarwuchs des etwas älteren Kleinkindes bringen. Die Stimme des wilden Wolfes klingt zu tief; aber die Verringerung der Körpergröße hat auch hier das Ihre getan und einen höheren, kindlichen Ton entstehen lassen. Bleibt noch das Gesicht! Das Gesicht eines Wildhundes läuft viel zu spitz zu, und deshalb war auch hier eine kleine genetische Schönheitsoperation nötig. Wenn dabei auch die Kiefer verformt werden und so das Fressen erschwert ist - tut nichts, es muß sein. Und so hat der Pekinese sein kindlich flachgedrücktes Gesicht bekommen, was wiederum einen Extravorteil ausmacht, weil es den Hund hilfloser und von den Pseudoeltern abhängiger werden läßt, nämlich hinsichtlich der eigens zuzubereitenden Nahrung - und das ist ja eine wesentliche elterliche Sorge. Und so sitzt er nun da, unser Pekinese: kindchenhaft, weich, rundlichpummelig, großäugig, plattgesichtig, und wartet nur darauf, eine mächtige fehlgeprägte Bindung bei jedem empfänglichen Erwachsenen hervorzurufen, der des Weges kommt. Und es funktioniert! Es funktioniert so gut, daß solche Hunde nicht nur bemuttert werden, sondern auch in engster Wohngemeinschaft mit den Menschen leben, 281
mit ihnen reisen, ihre eigenen (Tier-)Ärzte haben und nicht selten in eigenen Gräbern beigesetzt werden wie Menschen, ja sogar im Testament bedacht werden und erben wie richtiger menschlicher Nachwuchs. Hier wird, wie ich schon in einem anderen Zusammenhang gesagt habe, lediglich beschrieben und keine Kritik geübt. Es ist auch schwerverständlich, warum so viele Leute ein Tun verurteilen, das doch so oft und so offensichtlich ein elementares, anders nicht zu befriedigendes Bedürfnis befriedigt. Noch schwerer ist zu verstehen, warum manche Menschen zwar diese Art der Prägung akzeptieren, nicht aber auch andere Arten: Viele Menschen fühlen sich zum Beispiel von jeder Art sexueller Fehlprägung abgestoßen und empören sich bei dem Gedanken, daß ein Mann einen Fetisch liebt oder mit einem ändern Mann schläft, während sie unbeschwert eine Eltern-Fehlprägung in Kauf nehmen und verständnisvoll lächeln, wenn jemand mit dem Schoßhund spielt oder ein Affenbaby aus der Flasche füttert. Warum machen sie überhaupt diese Unterscheidung? Biologisch gesehen besteht nicht der geringste Unterschied zwischen den beiden Verhaltensweisen. Beide haben mit Fehlprägung zu tun, und beide sind Abweichungen von normalen menschlichen Beziehungen. Im biologischen Sinn muß also beides zwar als unnormal eingestuft werden, aber Außenstehende, Personen außerhalb dieser Beziehungen, werden dadurch nicht geschädigt. Wir mögen gewiß den Eindruck haben, daß es für den Feti282
schisten oder den kinderlosen Tierfreund ersprießlicher wäre, wenn er die Vorteile eines richtigen Familienlebens genießen könnte, aber es ist schließlich ihr Schaden und nicht unser, und wir haben keine Veranlassung, ihnen mit Abneigung zu begegnen. Es gilt der Tatsache ins Auge zu sehen, daß wir im Menschen-Zoo unvermeidlich unter vielen unnatürlichen Beziehungen zu leiden haben. Es ist uns auferlegt, auf ungewöhnliche Weise ungewöhnlichen Reizen ausgesetzt zu sein. Dafür ist unser Nervensystem nicht geschaffen, und deshalb gehen unsere Reaktionen manchmal in die Irre. Wie Versuchs- oder Zootiere sehen wir uns durch seltsame und manchmal schädigende Bande fixiert oder leiden unter ernsthafter Bindungsverwechslung. Das kann jedem von uns jederzeit passieren - als ein weiteres Existenz-Risiko für den Insassen des Menschen-Zoos. Wir alle können das Opfer sein, und wenn ein anderer es wird, dann sollte die angemessenste Reaktion Sympathie sein und nicht kalte Intoleranz.
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Ringen um Reize Der Mann, der ins pensionsfähige Alter kommt, träumt nicht selten davon, behaglich still in der Sonne zu sitzen. Durch Ausruhen und »Kurztreten«, so hofft er, wird er zu einem vergnügten Lebensabend kommen. Sollte es ihm wirklich gelingen, sich seinen Traum vom Sitzen in der Sonne zu erfüllen, so steht eines fest: Sein Leben wird nicht verlängert, sondern verkürzt werden. Der Grund dafür ist einfach der: Er hat das Ringen um seine Reize aufgegeben. In dieses Bemühen um das Stimulierende (Stimulus ist das lateinische Wort für Reiz) sind wir in unserem Menschen-Zoo zeit unseres Lebens verwickelt geben wir es auf oder packen wir es falsch an, so bringt uns das in ernste Schwierigkeiten. Das Ziel dieses Ringens ist es, aus unserer Umwelt einen optimalen Betrag an Stimulierung zu ziehen. Optimal das heißt keineswegs den höchsten Betrag! Man kann nämlich ebensogut überstimuliert sein wie unterstimuliert. Das Optimum (oder die glückliche Mitte) liegt irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Es ist damit ähnlich wie mit dem Regeln der Lautstärke beim Radio: Spielt es zu leise, dann hat es keine Wirkung; wird es zu laut, so verursacht es Schmerz. An einem bestimmten Punkt dazwischen liegt die ideale Einstellung, und diese Einstellung in bezug auf unser Leben als Ganzes zu erreichen, das ist der Zweck des Ringens um die Reize. 284
Für den Menschen im Superstamm ist das wahrlich nicht leicht. Es ist, als sei er umgeben von Hunderten von Verhaltens-»Radios«, von denen die einen sanft säuseln und die anderen plärren. Wenn sie in Extremfällen allesamt säuseln oder aber monoton ein und dasselbe Geräusch immer und immer wiederholen, dann leidet er an Langeweile infolge Reizarmut. Wenn sie allesamt plärren, unterliegt er heftigem Stress infolge der Reizflut. Unser früher, noch im Stammesverband lebender Ahnherr hatte in dieser Hinsicht keine sonderlichen Schwierigkeiten: Er mußte zunächst einmal überleben — und die Anforderungen des Überleben-Müssens hielten ihn auf Trab. Seine ganze Zeit und seine ganze Energie hatte er nötig, Nahrung und Wasser zu suchen, sein Revier zu verteidigen, seinen Feinden aus dem Weg zu gehen, Kinder großzuziehen, seinen Unterschlupf einzurichten und instand zu halten. Aber selbst in ungewöhnlich schlechten Zeiten war das, was an Problemen auftauchte, doch wenigstens vergleichsweise eindeutig. Niemals kann er den vielschichtig komplexen Frustrationen ausgesetzt gewesen sein, wie sie für das Leben im Superstamm so typisch geworden sind. Und es ist auch nicht besonders wahrscheinlich, daß er übermäßig an Langerweile infolge starker Unterstimulierung gelitten hat, wie es das Dasein im Superstamm paradoxerweise ebenfalls mit sich bringen kann. Die hochdifferenzierten Formen des Ringens um die Reize sind also eine Besonderheit des verstädterten 285
Lebewesens: Wir finden sie weder bei den in der Freiheit der Wildnis lebenden Tieren noch bei den sogenannten »wilden« Völkerstämmen in ihrer natürlichen Umwelt. Wo wir sie aber finden, das ist einmal bei den verstädterten Menschen und sodann bei einer besonderen Form des verstädterten Lebewesens - beim Zoo-Insassen. Wie der Menschen-Zoo, so bietet auch der Tier-Zoo seinen Insassen die Sicherheit einer regelmäßigen Ernährung sowie Schutz vor den Elementen und den natürlichen Feinden. Es wird für die Hygiene und die Gesundheit gesorgt. In gewissen Fällen können auch hohe Anforderungen an die dort Lebenden gestellt werden. Unter diesen hochgradig künstlichen Bedingungen sind auch die Tiere des Zoos gezwungen, vom »Kampf ums Dasein« (der ja weniger ein lauter Kampf als vielmehr ein lautloses Ringen ist) zum Ringen um die Reize umzuschalten. Wenn die Anstöße aus der Außenwelt zu gering sind, müssen sie sich Methoden zu deren Verstärkung einfallen lassen. Unter Umständen, wenn die Reize aus der Umwelt zu groß sind (etwa in der Panikstimmung eines eben gefangenen Wildtiers), müssen sie gedämpft werden. Das Problem ist je nach Spezies von größerer oder geringerer Bedeutung. Es gibt nämlich, so betrachtet, zwei grundsätzlich verschiedene Sorten von Tieren: die Spezialisten und die Opportunisten. Die Spezialisten sind diejenigen, die eine einzige Methode der Überlebenstechnik 286
entwickelt haben, von der ihr ganzes Dasein abhängt und die ihr Leben beherrscht. Hierzu gehören die Ameisen und Termiten fressenden Arten wie Erdferkel und Ameisenbar, hierher gehören Koala, Bambusbär, Schlangen und Adler. Solange der Ameisenbär seine Ameisen hat, der Koala seine Eukalyptusblätter, der Panda seine Bambusschößlinge, Schlangen und Adler ihre Beutetiere, solange haben und geben sie Ruhe. Ihre Spezialisierung auf eine ganz bestimmte Nahrung ist so perfekt, ist dermaßen hoch entwickelt, daß sie, sofern ihre Spezialbedürfnisse befriedigt werden, sich einen trägen und im übrigen reiz-losen (dies in beiderlei Sinn!) Lebensstil leisten können. Adler zum Beispiel gedeihen in erstaunlich kleinen Zoogehegen mehr als vierzig Jahre lang ganz vortrefflich, ohne auch nur an ihren Fängen zu knabbern - vorausgesetzt allerdings, sie können diese Tag für Tag in ein eben getötes Kaninchen schlagen. Die Opportunisten hingegen sind nicht so gut dran. Sie gehören zu jener Sorte von Lebewesen, die, wie Hunde, Füchse und Wölfe, Waschbären und Nasenbären, Affen und Menschenaffen, keine spezielle und damit sehr eingeengte Technik des Überlebens entwickelt haben. Ein Wolf, mehr noch ein Affe, ist tatsächlich ein Hansdampf in allen Gassen. Immer hält er Ausschau nach irgendeinem kleinen Vorteil, den die Umwelt zu bieten hat. In freier Wildbahn hören diese Tiere nie auf, alles zu erkunden, zu untersuchen, zu erproben. Wir haben von diesem nach Neuem 287
gierigen, explorativen Verhalten schon gesprochen. All und jedes wird darauf hin examiniert, ob es nicht noch eine weitere Chance in der Vielfalt der Möglichkeiten des Überlebens bietet. Solche Tiere können es sich einfach nicht leisten, sehr lange nichts zu tun, und die Natur hat auch dafür gesorgt, daß sie es nicht tun. Ihr Nervensystem ist so entwickelt, daß es jedes Untätigsein verabscheut und sie beständig munter hält. Von allen Arten aber ist der Mensch der ganz extreme Opportunist. Wie die anderen ist er intensiv exploratorisch veranlagt. Wie sie hat er ein biologisch eingebautes Bedürfnis nach hoher Reiz-Zufuhr aus der Außenwelt. In einem Zoo (oder einer Stadt) sind es begreiflicherweise diese Opportunisten, die am meisten unter der Künstlichkeit der Situation leiden. Selbst wenn man sie mit perfekt ausgewogener Nahrung versieht, selbst wenn man sie aufs beste und schönste unterbringt, werden sie gelangweilt, lustlos und schließlich neurotisch. Je besser wir das Verhalten solcher Tiere in freier Natur verstehen gelernt haben, desto deutlicher ist es geworden, daß zum Beispiel die Affen im Zoo kaum mehr sind als schlimme Karikaturen ihrer frei lebenden Artgenossen. Aber ein opportunistisches Lebewesen gibt so leicht nicht auf. Die Opportunisten reagieren auf die unerquickliche Situation mit einem bemerkenswerten Einfallsreichtum. Und so tun es denn auch die Insassen des 288
Menschen-Zoos. Wenn wir die im Tier-Zoo zu betrachtenden Reaktionen mit denen vergleichen, denen wir im Menschen-Zoo begegnen, so wird uns das einige verblüffende Parallelen zwischen diesen beiden hochartifiziellen Umwelten vor Augen führen. Das Ringen um die Reize basiert auf sechs Grundprinzipien. Es wird gut sein, sie nacheinander durchzunehmen, wobei wir in jedem Fall zuerst den Tier-Zoo und dann den Menschen-Zoo untersuchen wollen. 1. Bei zu geringer Stimulation kann man den VerhaltensAusstoß erhöhen, indem man überflüssige Probleme erfindet, die man anschließend löst Wir alle haben schon von arbeitssparenden Techniken gehört; obiges Prinzip jedoch betrifft die arbeitsverschwendenden Techniken: Der auf Reizgewinn Bedachte macht sich mit Absicht selber Arbeit, und zwar mit Handlungen, die sonst einfacher auszuführen wären oder aber überhaupt nicht mehr ausgeführt werden müßten. So kann man in ihrem Zoo-Gehege etwa eine Wildkatze sehen, die einen toten Vogel oder eine tote Ratte hoch in die Luft schleudert, um ihr sogleich nachzujagen und sich auf sie zu stürzen. Durch das Werfen gibt die Katze dem Beutetier Bewegung zurück, und das heißt »Leben«. Sie selbst aber erhält damit die Möglichkeit, zu »töten«. Ganz ähnlich kann eine gefangene Manguste aus 289
der Verwandtschaft der Schleichkatzen ein Stück Fleisch »totschütteln«. Beobachtungen dieser Art lassen sich auch bei Haustieren machen. Ein Haushund, wohlgenährt und verzärtelt, legt seinem Herrn einen Ball oder ein Stöckchen vor die Füße und wartet geduldig darauf, daß man das »Spielzeug« wirft. Sobald es sich durch die Luft oder über die Erde entlang bewegt, wird es zur »Beute« und kann gehetzt, gestellt, geschlagen, »getötet« und für einen neuen Ablauf dieser lustbetonten Vorführung zurückgetragen werden. Der Haushund braucht überhaupt nicht hungrig auf Futter zu sein - aber er hungert nach Stimulierung. Auf diese Weise nicht weniger erfinderisch ist der, Waschbär in seinem Käfig. Gibt es keine Nahrung, nach der das Tier an einem Fluß suchen kann, sucht es trotzdem danach, auch ohne Fluß: Es trägt das Futter zur Wasserschüssel, taucht es ein, läßt es fallen und sucht dann danach. Hat es das Futter gefunden, spielt es vor dem Fressen damit im Wasser. Manchmal verdirbt dadurch das Futter, etwa wenn Brotbrocken zu hoffnungslosem Brei werden. Aber das macht nichts, wenn nur der frustrierte Trieb des Suchens nach Nahrung befriedigt worden ist. Diese Handlung ist übrigens der Grund für das immer wieder erzählte Märchen, daß dieser Kleinbär seine Nahrung wäscht. Es gibt ein großes Nagetier aus Südamerika, das aussieht wie ein Meerschweinchen auf Stelzen und Aguti heißt. In der Freiheit schält es gewisse Früchte, bevor es 290
sie verzehrt. Dabei hält es die Früchte mit den Vorderpfoten und zieht mit den Zähnen die Haut ab, wie wir von einer Orange. Erst wenn das Stück völlig enthäutet ist, fängt das Aguti an zu fressen. Auch in Gefangenschaft ist dieser Schältrieb nicht zu frustrieren: Gibt man dem Aguti eine Kartoffel oder einen ganz sauberen Apfel, so wird die Frucht zunächst einmal genüßlich geschält; ist sie verzehrt, so werden auch die Schalen gefressen. Und sogar ein Stück Brot wird das Aguti zu »schälen« versuchen. Im Menschen-Zoo, dem wir uns nun zuwenden, ist das sich bietende Bild von schlagender Ähnlichkeit. In einen modernen Superstamm hineingeboren, kommen wir auf eine Welt, in welcher der Mensch dank seines brillanten Einfallsreichtums die elementaren Probleme des Überlebens gelöst hat. Genau wie die Tiere im Zoo entdecken wir, daß unsere Umwelt Sicherheit ausstrahlt. Die meisten von uns haben zwar ein gewisses Maß an Arbeit zu verrichten, aber dank der technischen Entwicklung bleibt noch genügend Zeit übrig, sich am Ringen um die Reize zu beteiligen. Wir sind ja nicht mehr so ausschließlich in Anspruch genommen von den Problemen der Nahrungsund Schutzsuche, der Aufzucht unserer Nachkommen, der Verteidigung unseres Reviers oder der Vorsicht vor Feinden. Wendet man hiergegen ein, daß man doch niemals aufhöre zu arbeiten, so muß man sich folgende Schlüsselfrage vorlegen: Könnte man weniger arbeiten und trotz291
dem überleben? Die Antwort würde in den weitaus meisten Fällen schlicht »ja« lauten müssen. Arbeit also ist für den Menschen des Superstammes von heute ein Äquivalent für die Jagd auf Beute, und wie die tierischen Zoo-Insassen betreibt er die Sache sehr viel ausgeklügelter, als - strenggenommen - nötig wäre. Er schafft sich Probleme - Schwierigkeiten zum höchst eigenen Gebrauch ... Nur jene Teile des Superstammes, die unter dem leiden, was man bittere Not nennen muß, arbeiten ausschließlich ums Überleben. Aber selbst diese Menschen sind, sobald sie nur einen Augenblick Zeit erübrigen können, geradezu gezwungen, sich am Ringen um die Reize zu beteiligen, und zwar aus folgendem speziellem Grund: Der primitive Mensch in seiner Stammesgemeinschaft als Jäger mag immerhin ein »Überlebens-Arbeiter« gewesen sein. Aber seine Aufgaben waren abwechslungsreich und nahmen ihn voll in Anspruch. Der unglückliche Superstammes-Mensch in untergeordneter Stellung hingegen ist als »ÜberlebensArbeiter« bei weitem nicht so gut dran. Dank der Arbeitsteiligkeit und der Industrialisierung ist er gehalten, unerhört stumpfsinnige, immer gleichförmige Arbeit zu leisten - tagein, tagaus, jahrein, jahraus in derselben Tretmühle -, die das Riesenhirn in seinem Schädel zum Gespött werden läßt. Wenn er also wirklich einmal ein paar Augenblicke für sich selbst hat, muß er sich notwendigerweise am Ringen um die Reize genauso beteiligen wie jeder andere Mensch unserer modernen Welt; denn das Problem der Stimulierung heißt sowohl Abwechslung wie 292
Menge, betrifft Qualität nicht weniger als Quantität. Für die anderen aber besteht, wie gesagt, ein Großteil ihrer Tätigkeit im Arbeiten um des Arbeitens willen, und wenn die Arbeit genügend anregend ist, kann der »Ringer« - ein tüchtiger Geschäftsmann zum Beispiel - zu dem Schluß kommen, daß er während seines Arbeitstages Punkte genug gesammelt hat, um sich in seiner Freizeit zu entspannen und nur noch den beschaulichsten Tätigkeiten nachzugehen, sei es, daß er mit einem Schlummertrunk am Kamin sitzt und döst, sei es, daß er in einem kleinen, gemütlichen Restaurant zu Abend ißt. Sollte er nach dem Abendessen noch tanzen gehen, so lohnt es sich, ihm dabei zuzusehen. Das Interessante dabei ist nämlich, daß unser »Überlebens-Arbeiter« möglicherweise abends auch zum Tanzen geht. Auf den ersten Blick scheint hier ein Widerspruch vorzuliegen; eine nähere Untersuchung ergibt indessen, daß die beiden Arten von Tanz himmelweit voneinander entfernt sind: Geschäftsleute lassen sich nicht auf einen anstrengenden, ehrgeizigen Gesellschaftstanz oder gar auf wilde Volkstänze ein, auf eine Polka etwa, bei der die Tanzenden sich und die Umwelt vergessen.. Das unbeholfene Geschiebe des erfolgreichen Managers auf der kleinen Tanzfläche des Night Clubs (deren Größe zugeschnitten ist auf sein geringes Reizbedürfnis) ist weit davon entfernt, ehrgeizig oder wild zu sein. Aus dem ungeschickten Arbeiter kann ein geschickter Tänzer werden; der geschickte Geschäftsmann ist höchstwahrscheinlich ein ungeschickter Tänzer. In beiden Fällen gelangt 293
das Individuum in ein Gleichgewicht - und genau das ist natürlich der Zweck des Ringens um die Reize. Bei meinem Bestreben, diesen Punkt so einfach wie möglich darzustellen, habe ich die Unterschiedlichkeit beider Typen zu sehr als Klassenunterschied erscheinen lassen, was durchaus nicht zutrifft. Selbstverständlich gibt es zahllose gelangweilte Geschäftsleute, die an einförmiger Büroarbeit leiden, denn was sie tun, ist kaum weniger monoton als das Packen von Kisten am Fließband. Audi sie werden sich also nach stimulierenderen Formen der Erholung für ihre Freizeit umsehen müssen. Umgekehrt gibt es viele Arbeiter mit einer Tätigkeit, die abwechslungsreich ist. Der solchermaßen begünstigte Arbeiter ähnelt dann selbstverständlich am Abend mehr dem erfolgreichen Geschäftsmann, der sich bei einem kleinen Drink und einem Gespräch ausruht. Ein weiteres interessantes Phänomen ist die unterstimulierte Hausfrau. Umgeben von modernen arbeitssparenden Geräten, muß sie Techniken der Arbeitsverschwendung erfinden, um die Zeit auszufüllen. Das ist nun aber nicht ganz so nutzlos, wie es zunächst klingt. Sie nämlich kann sich wenigstens ihre Betätigung aussuchen; darin liegt der ganze Vorteil eines Daseins im Superstamm. Im primitiven Stamm gab es diese Wahl nicht. Das Überlebenmüssen stellte seine eigenen Anforderungen: Entweder man tat dies und dies und dies, oder man starb. 294
Jetzt aber kann man dies oder das oder jenes tun - alles, was man will, solange man sich klar darüber ist, daß man irgend etwas tun muß, andernfalls man die goldenen Regeln des Ringens um die Reize verletzt. Und so muß sich die Hausfrau, deren Wäsche automatisch geschleudert wird, mit etwas anderem beschäftigen. Die Möglichkeiten sind zahllos, und das Spiel kann höchst reizvoll sein. Es kann aber auch danebengehen. Denn immer wieder kommt es dem unterstimulierten Spieler plötzlich so vor, als ob die Kompensationsbetätigung, der er so rastlos frönt, eigentlich doch recht sinnlos ist. Was bat man schließlich davon, die Möbel umzustellen, Briefmarken zu sammeln oder den Hund für noch eine Konkurrenz anzumelden? Hier liegt eine der Gefahren des Ringens um die Reize: Der Ersatz für eine wirkliche Überlebens-Tätigkeit ist und bleibt eben Ersatz - das kann man drehen und wenden, wie man will. Leicht kann sich Enttäuschung einstellen, und dann gilt es, mit ihr fertig zu werden. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Eine davon ist sehr drastisch. Es ist eine Abart des Ringens um die Reize. Man könnte sie das »gefährliche Leben« nennen. Der in seiner Illusion enttäuschte Teenager kann, anstatt einen Ball auf dem Sportplatz zu werfen, ihn in ein Schaufenster schmeißen. Die enttäuschte Hausfrau kann, anstatt ihren Hund zu streicheln, den Milchmann streicheln. Der enttäuschte Geschäftsmann kann, anstatt sich mit seinem Auto zu befassen, sich mit seiner Sekretärin befassen. Die Auswirkungen dieser Taktik sind dramatisch. Im Hand295
umdrehen ist das Individuum in den wahren, gefährlichen Überlebenskampf verwickelt, in den Kampf nämlich um die Erhaltung seiner sozialen Existenz. In solchen Perioden läßt das Interesse an Möbelrücken und Briefmarkensammeln merklich nach. Wenn aber der Sturm sich gelegt hat, machen die alten Ersatzbetätigungen auf einmal wieder viel mehr Spaß. Eine weniger drastische Variante ist das »stellvertretend gefährliche Leben«. Eine der Formen, die sie annimmt, besteht darin, sich in anderer Leute Gefühlsleben einzumischen und ihnen jenes Chaos zu bereiten, das man andernfalls selber durchmachen müßte. So ist es zum Beispiel beim Klatsch: Er erfreut sich außerordentlicher Beliebtheit, weil es dabei so sehr viel sicherer zugeht als beim direkten Handeln. Das schlimmste, was einem passieren kann, ist, daß man ein paar Freunde oder Bekannte einbüßt. Wenn man es aber geschickt genug anfängt, kann sogar das Gegenteil eintreten: Die, über die man geklatscht hat, können wesentlich freundlicher werden. Hat man mit seinen Machenschaften nämlich erfolgreich in ihr Leben eingegriffen, so sind sie möglicherweise auf die Freundschaft des Eingreifenden dringender angewiesen als je zuvor. So kann diese Variante, vorausgesetzt, daß man nicht hereinfällt, doppelten Nutzen bringen: die stellvertretende Lust, ein Drama des Überlebens zu beobachten, und das nochfolgende Zunehmen der Freundschaftsbezeigungen. 296
Eine andere Form des »stellvertretend gefährlichen Lebens« stiftet weit weniger Schaden. Sie besteht darin, sich mit fiktiven Personen aus Büchern, Filmen, Theaterstücken oder Fernsehspielen zu identifizieren. Das ist sogar noch beliebter, und man hat eine riesige Industrie geschaffen, um den enormen Bedarf auf diesem Gebiet zu decken. Nicht nur harmlos und sicher ist das, sondern es hat auch den Vorzug, bemerkenswert billig zu sein. Das Spiel mit dem direkten gefährlichen Leben kann einen am Ende Zehntausende kosten, während diese Variante es dem Teilnehmer am Ringen um die Reize gestattet, für ein paar Pfennige in Verführung, Schändung, Ehebruch, Hunger, Raub, Mord und Totschlag zu schwelgen, ohne auch nur seinen bequemen Sessel zu verlassen. 2. Bei zu geringer Stimulierung kann man seinen Verhaltens-Ausstoß dadurch erhöhen, daß man auf einen normalen Reiz mit einem Überschuß an Reaktion antwortet Hier geht es um das Prinzip der Überbefriedigung beim Ringen um die Reize. Anstatt ein Problem zu erfinden, zu dem man dann eine Lösung finden muß, wie im vorigen Fall, reagiert man einfach wieder und wieder auf einen Reiz, der bereits vorhanden ist und einen in seiner ursprünglichen Rolle eigentlich gar nicht mehr aufregt. Er ist lediglich zu einer Art Zeitvertreib geworden. 297
In den Zoos, in denen es dem Publikum gestattet ist, die Tiere zu füttern, gibt es gewisse unter Langeweile leidende Arten, die nichts anderes mehr tun als ohne Unterlaß zu fressen, bis sie starkes Übergewicht haben. Ihr Zoofutter haben sie bereits verzehrt, sie sind also keineswegs mehr hungrig, aber müßiges Knabbern gefällt ihnen doch besser als gar nichts tun: Sie werden immer dicker, oder sie werden krank, oder beides. Ziegen können Berge von Speiseeisbechern und Papier fressen, überhaupt praktisch alles, was man ihnen vorsetzt. Und der Vogel Strauß schlingt sogar scharfe Metallgegenstände hinunter. Einen klassischen Fall lieferte eine Elefantenkuh, die man während eines einzigen normalen Zootages genau beobachtet hat. Sie nahm in dieser Zeit (zusätzlich zu ihrem gewohnten, vom Zoo nach ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen genau errechneten Futter) folgendes ihr vom Publikum gebotenes Futter zu sich: 1706 Erdnüsse, 1330 Süßigkeiten aller Art, 1089 Stücke Brot, 811 Kekse, 198 Stücke Apfelsinen, 17 Äpfel, 16 Stücke Papier, 7 Portionen Eis, 1 Deutsches Beefsteak, 1 Schnürsenkel und 1 weißen Damen-Lederhandschuh. Und man weiß, daß Bären im Zoo an Erstickung eingegangen sind, die verursacht war durch den enormen Druck der Nahrung im Magen. Das sind Opfer, die dem Ringen um den Reiz gebracht werden ...
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Eines der merkwürdigsten Beispiele für diese Erscheinung lieferte ein großer Gorilla-Mann, der regelmäßig sein Futter verspeiste, es wieder hervorwürgte, anschließend nochmals verschlang und so ein wahrhaft altrömisches Festgelage feierte. Noch weiter ging ein Faultier, das man häufig dabei beobachtete, wie es seine Nahrung hundertmal und öfter hochwürgte, um sie anschließend mit den für seine Art typischen Gurgel- und Schmatzlauten wieder zu schlucken. Falls die Möglichkeiten einer Überbefriedigung im Nahrungsverhalten begrenzt sind und es sonst nichts zu tun gibt, kann es vorkommen, daß ein Tier sich exzessiv putzt, und zwar so lange, bis Federn oder Pelz makellos gesäubert und gebürstet sind. Auch dies kann jedoch zu Ärgerlichkeiten führen. Ich erinnere mich an einen Kakadu mit schwefelgelber Haube, der buchstäblich nur noch eine einzige Feder besaß, eine lange gelbe Feder seiner Haube, während er am übrigen Körper nackt war wie ein gerupftes Suppenhuhn. Das war ein Extremfall, aber durchaus kein vereinzelter. Säugetiere können unbedeckte Hautpartien so lange belecken und kratzen, bis sich Entzündungen bilden und sie so in einen wahren Teufelskreis von Reizung und Befriedigung geraten. Beim menschlichen Teilnehmer am Ringen um die Reize sind die unerfreulichen Formen, die das Prinzip der Überbefriedigung annehmen kann, nur allzugut bekannt. Da 299
ist aus der Kindheit das Beispiel unentwegten Daumenlutschens, das seine Ursache in zu wenig Kontakt zur Mutter und zu wenig Wechselbeziehungen zwischen Säugling und Mutter hat. Wenn wir älter sind, können wir zusätzliche Befriedigung suchen und finden in Näschereien außerhalb der Mahlzeit: Wir knabbern Schokolade und Kekse, nur um uns die Zeit zu vertreiben - und dabei immer dicker zu werden wie die Bären im Zoo. Oder wir können uns krank »pflegen« wie der nackte Kakadu - das wird dann voraussichtlich die Formen des Nägelkauens oder der ewigen Schuppenbeseitigung annehmen. Trinken als Zeitvertreib kann, sofern die Getränke leicht und süß sind, ebenfalls zu Fettleibigkeit führen; sind sie schwer und alkoholisch, können sie zu Trunksucht und schließlich zu Leberschädigungen führen. Auch Rauchen kann zeittötend wirken, und es hat, wir wissen es, ebenfalls seine Gefahren. Offensichtlich gibt es also Fallstricke, wenn das Ringen um die Reize nicht richtig vollführt wird. Der Haken bei dieser Überbefriedigung ist der, daß sie zu begrenzt ist, als daß sie ausbaufähig sein könnte. Das einzige, was man mit solchen »Zeittötern« machen kann, ist, sie andauernd zu wiederholen, um sie zu verlängern. Damit sie auf nennenswerte Weise wirksam sind, muß man sie für
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längere Zeit benutzen, und das bringt Schwierigkeiten mit sich. Harmlos genug beim normalen Ablauf der Dinge und als zweitrangige Zeittöter, werden sie schädlich, sobald man sie im Exzeß betreibt. 3. Bei zu schwacher Stimulierung kann man seinen Verhaltens-Ausstoß erhöhen, indem man ganz neue Betätigungen erfindet Dies ist das schöpferische Prinzip, das der Kreativität. Wenn vertraute Verhaltensmuster zu abgenutzt sind, muß ein intelligentes Tier im Zoo neue erfinden: Schimpansen zum Beispiel schaffen sich dadurch Abwechslung, daß sie die Möglichkeit neuer Formen der Fortbewegung ausprobieren, das Sich-Überkugeln, das Nachschleppen der Beine, und eine Vielzahl geradezu gymnastischer Übungen ausführen. Wenn sie ein kurzes Stück Strick entdecken, ziehen sie es durch die Decke des Käfigs, hängen sich mit Zähnen und Händen an die beiden Enden und lassen sich in der Luft herumwirbeln wie Zirkusakrobaten. Zahlreiche Zootiere bedienen sich der Zuschauer, um sich ihre Langeweile zu vertreiben. Wenn sie keine Kenntnis von den Menschen nehmen, die an ihren Käfigen vorübergehen, so laufen sie Gefahr, selber ignoriert zu werden; wenn sie die Menschen aber auf irgendeine Weise »reizen«, werden sie von den Besuchern rückstimuliert. Es ist erstaunlich, wozu man die Zoobesucher bringen kann, 301
wenn man als Zoobewohner Köpfdien hat: Falls man Schimpanse oder Orang-Utan ist und nach den Menschen spuckt, fangen sie an zu schreien und aufgeregt hin und her zu laufen; das hilft vortrefflich den Tag verkürzen. Als Elefant kann man ihnen mit dem Ende des Rüssels Speichelflocken zublasen. Als Walroß kann man sie mit den Flossen voll Wasser spritzen. Als Elster oder Papagei kann man sie mit zerzausten Federn am Kopf verlocken, einem das Gefieder zu kraulen, und dann mit dem Schnabel nach ihren Fingern picken. Ein Löwenmännchen hatte sich eine ganz besondere Art des Manipulierens der Zuschauer einfallen lassen. Ein Löwe uriniert wie ein Kater normalerweise so, daß er seinen Harnstrahl horizontal nach hinten gegen etwas Vertikales spritzt, auf dem er so seinen persönlichen Duft als »Markierung« hinterläßt. Immer wenn unser Löwe dies mit einem der vertikalen Stäbe seines Gitters tat, konnte er feststellen, daß der Strahl bis zu den Besuchern reichte und dort eine interessante Reaktion hervorrief: Sie wichen zurück und schimpften. Mit der Zeit traf der Löwe sein Ziel nicht nur immer besser, sondern er legte sich auch einen neuen Trick zu. Wenn sich, nach dem ersten Spritzer, die vorderste Reihe der Zuschauer zurückgezogen hatte, drängte die zweite sogleich an ihre Stelle, um besser sehen zu können. Anstatt nun seinen Strahl beim ersten Mal zu verausgaben, hob er sich etwas davon für den zweiten Spritzer auf und brachte es somit fertig, auch 302
die neugebildete vorderste Reihe in Erregung zu bringen und sich selbst zu einem interessanten Reiz zu verhelfen. Das Betteln um Futter (im Unterschied vom Knabbern am Futter) ist eine weniger drastische Maßnahme, lohnt aber gleichermaßen und wird deshalb von einer Vielzahl von Arten praktiziert. Alles, was man braucht, ist eine eigens dafür erfundene besondere Handlung oder Haltung, mit der man die Aufmerksamkeit des Vorübergehenden erregt und ihn glauben macht, man sei hungrig. Den Affen und Menschenaffen genügt es meist, eine ausgestreckte Hand hinauszuhalten, Bären aber sind findiger. Eigentlich jeder Bär hat seine Spezialität: Einer steht auf den Hinterbeinen und winkt mit der Pfote; ein anderer hockt in gekrümmter Haltung da und umklammert mit den Vorderbeinen die Hinterpfoten; ein dritter sitzt aufrecht und hat eine Vorderpfote auf den Unterkiefer des geöffneten Rachens gelegt; ein vierter steht, nickt mit dem Kopf oder bewegt ihn so, als fordere er zum Näherkommen auf. Es ist sehr amüsant zu sehen, wie leicht man Zoobesucher daran gewöhnen kann, auf derlei Spiele einzugehen, falls man ein intelligenter Bär ist. Die Sache ist nur die, daß man, um sich das Interesse der Besucher nicht zu verderben, sie dauernd bei Laune halten muß, indem man alles frißt, was sie einem zuwerfen. Wenn man sich nicht daran hält, gehen sie bald wieder fort, und die erregende Stimulierung des Umgangs mit ihnen, die man sich ausgedacht hat, ist dahin. Das Resultat haben wir 303
bereits kennengelernt: Man muß auf das weniger befriedigende Prinzip der Uberbefriedigung umschalten und wird fett und krank dabei. Das Wesentliche bei diesen Gymnastik- und Bettelübungen im Zoo ist nun, daß die dabei verwendeten motorischen Verhaltensmuster in der Natur nicht vorkommen. Es handelt sich um Erfindungen, die den besonderen Bedingungen der Gefangenschaft entstammen. Im Menschen-Zoo wird dieses Prinzip der Kreativität zu denkbar eindrucksvollen Extremen getrieben. Wie schon dargelegt, kann sich Enttäuschung einstellen, sobald die Methode des ersatzweise gefährlichen Lebens im Ringen um die Reize witzlos zu werden beginnt, nicht selten deshalb, weil die gewählten Betätigungen nur von recht begrenztem Umfang sind. Um diesen Begrenztheiten zu entgehen, haben die Menschen sich immer komplexere Ausdrucksformen geschaffen - Formen, dermaßen fesselnd, daß sie das Individuum zu Höhen der Erfahrung bringen, bei denen der Gewinn schier grenzenlos ist. Hier gelangen wir aus dem Bereich des trivialen Zeitvertreibs in die erregenden Welten der Schönen Künste, der Philosophie und der zweckfreien Forschung. Kunst und Wissenschaft sie bekämpfen nicht nur höchst wirksam die Unterstimulierung, sondern lassen den Menschen zugleich bestmöglichen Gebrauch machen von seiner spektakulärsten physischen Eigenheit — von seinem gigantischen Hirn. 304
Angesichts der eminenten Bedeutung, die diese Betätigungen in unseren Kulturen erlangt haben, vergessen wir nur allzuleicht, daß sie in gewissem Sinn nichts anderes sind als Techniken beim Ringen um die Reize. Nicht anders als Versteckspielen oder Schach helfen sie uns von der Wiege bis zur Bahre die Zeit verkürzen - zumindestens denjenigen, die das Glück haben, nicht ganz und gar zum Kampf ums nackte Oberleben gezwungen zu sein. Ich sage »das Glück«; denn wie schon angeführt, besteht der große Vorteil des Superstammes darin, daß wir verhältnismäßig frei sind in der Wahl der Arten unserer Betätigung. Und wenn das menschliche Gehirn so großartige Zielsetzungen wie diese ersinnen kann, dann müssen wir uns glücklich schätzen, zu den Kämpfern im Ringen um die Reize zu gehören und nicht zu den Kämpfern im Ringen ums Überleben. Hier haben wir es mit dem Menschen als Erfinder zu tun, der mit seinen besten Gaben spielt. Wenn wir verfolgen, was die Forschung leistet, wenn wir Gedichte lesen, ein Ballett sehen oder Gemälde betrachten, wenn wir Symphonien hören, so können wir nur bewundern, wie weit es die Menschheit mit dem Ringen um die Reize gebracht und mit welch unglaublicher Sensibilität sie es bewältigt hat.
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4. Bei zu schwacher Stimulierung kann man seinen Verhaltens-Ausstoß erhöhen, indem man auf unternormale Reize reagiert wie auf normale Hier haben wir es mit dem Prinzip des »Besser so als gar nichts« zu tun. Wird der innere Drang nach Betätigung zu stark, kann er, in Ermangelung jener äußeren Objekte, die normalerweise seiner Befriedigung dienen, gleichsam überfließen. Gegenstände, bei denen in freier Wildbahn niemals eine Reaktion eintreten würde, werden in der öden Umwelt so behandelt, als seien es die »richtigen«. Bei Affen kann das die Form der Koprophagie, des Kotfressens, annehmen: Ist kein anderes Futter zum Kauen da, tun es eben die Fäkalien. Gibt es kein Revier zu bewachen, tut es das Auf und Ab in der Begrenzung des Geheges: Das Tier wandert hin und her, her und hin, bis es durch sein ebenso rhythmisches wie steriles Wandern einen Wechsel ausgetreten hat. Aber auch dies ist hier immer noch besser als gar nichts. Bei Fehlen des richtigen Partners versucht das Tier im Zoo, sich mit buchstäblich allem zu gatten, was zur Verfügung steht. Eine vereinsamte Hyäne zum Beispiel brachte es fertig, sich mit einem runden Futternapf zu paaren, indem sie ihn auf die Seite kippte und unter dem Körper hin und her rollte, so daß er rhythmisch gegen den 306
Penis rieb. Ein Waschbärmännchen, das allein lebte, benutzte seine Schlafstelle als Partnerin: Es raffte ein festes Strohbündel zusammen, preßte es unter den Körper und vollführte Beckenstöße. Wenn ein Tier mit einem zweiten zusammengesperrt wird, das zu einer ganz anderen Art gehört, kann es vorkommen, daß der fremde Gefährte als Partner-Ersatz füngiert: So versuchte ein männliches ErdStachelschwein, das mit einem Baum-Stachelschwein zusammenlebte, wiederholt den Käfiggenossen zu bespringen. Nun sind aber die beiden Arten nicht nahe miteinander verwandt, und die Anordnung des Stachelkleides ist dementsprechend sehr unterschiedlich. Das hatte zur Folge, daß die Sache für das frustrierte Männchen überaus schmerzhaft wurde. In einem anderen Käfig war ein winziges Totenkopfäffchen bei einem etwa zehnmal so großen Nagetier untergebracht, einem Springhasen, der wie ein Känguruh auf den Hinterbeinen hüpft. Dennoch pflegte das Äffchen unverdrossen dem schlafenden Nagetier auf den Rücken zu springen und eine Begattung zu versuchen. Was bei ihm das Resultat verzweifelter Frustration war, wurde auch in der Lokalpresse berichtet, aber gründlich mißverstanden: Dort stand von dem »reizenden Spiel« zu lesen, bei dem das Äffchen »dem großen Tier auf den Rücken« gestiegen sei »wie ein kleiner bepelzter Jockey«. Diese Beispiele aus dem Bereich des Sexus erinnern an Fetischismus, dürfen aber nicht mit ihm verwechselt werden. Bei der »Besser-so-als-gar-nichts«-Handlung kehrt das Tier, sobald in seiner Umgebung wieder der natürliche 307
Reiz gegeben ist, zum normalen Verhalten zurück: In den eben genannten Beispielen stellten sich die Männchen sofort auf Weibchen der eigenen Art um, als solche zur Verfügung standen. Sie waren mit ihrem Weibchen-Ersatz nicht »verschränkt« wie die echten Fetischisten, die ich im vorigen Kapitel behandelt habe. Ein ungewöhnlicher Fall von wechselseitiger Betätigung solcher Art ereignete sich einmal, als man ein FaultierWeibchen gemeinsam mit einem kleinen südamerikanischen Nachtaffen untergebracht hatte. In der Natur baut sich dieser Affe in einem hohlen Baum eine gemütliche Höhle, in der er tagsüber schläft. Das Faultier hätte in freier Wildbahn, falls es Mutter gewesen wäre, sein Junges für geraume Zeit am Körper mit sich herumgetragen. Im Zoo nun fehlte dem Affen das warme, gemütliche Bett und dem Faultier das Kind. Das Problem wurde für beide Teile elegant gelöst, und zwar ganz einfach dadurch, daß sich der Affe zum Schlafen dicht an das Faultier drängte. Dieses vierte Prinzip beim Ringen um die Reize funktioniert nicht so sehr nach dem Motto »Bei Sturm ist jeder Hafen recht« als nach der Devise »Bei Flaute ist jeder Hafen recht«; und trotz der vielen Winde, die durch den Menschen-Zoo wehen, sieht sich der Mensch als biologisches Wesen nicht selten in einer solchen Lage. Die auf Emotionen zurückgehenden Verhaltensweisen des Menschen im Superstamm werden stets und ständig aus diesem oder jenem Grund blockiert. Inmitten materieller Fülle 308
gibt es viel Verkümmerung in Dingen des Verhaltens. Dann treibt es ihn, wie die Tiere im Zoo, dazu, auf unternormale Reize zu reagieren, gleichgültig, wie minderwertig sie auch sein mögen. In der Sexualsphäre ist der Mensch besser als die meisten Tierarten befähigt, das Problem des fehlenden Partners durch Masturbation zu lösen, was denn ja auch die beim Menschen am weitesten verbreitete Lösung ist. Trotzdem kommt auch von Zeit zu Zeit Zoophilie vor, der Begattungsakt zwischen Menschen und einer Tierart. Sie ist selten, aber doch nicht so selten, wie man glaubt. Eine neuere amerikanische Untersuchung hat ergeben, daß in den USA von den Jungen, die auf Farmen aufwachsen, etwa 17 Prozent wenigstens einmal in ihrem Leben einen Orgasmus als Ergebnis von »Tierkontakten« haben. Viel höher ist der Prozentsatz bei einfacheren Formen des sexuellen Verkehrs mit Tieren der Farm; in manchen Gegenden hat man als Gesamtzahl festgestellt, daß nicht weniger als 65 Prozent der Bauernjungen derlei erleben. Die bevorzugten Tiere sind gewöhnlich Kälber, Esel oder Schafe, gelegentlich auch größere Vögel wie Gänse, Enten oder Hühner. Unter Frauen sind zoophile Akte viel seltener. Von nahezu 6000 Amerikanerinnen hatten nur 2j einen Orgasmus als Ergebnis einer Stimulierung durch ein Tier, vorzugsweise einen Hund. 309
Die meisten Menschen finden derlei Betätigung verrückt, wenn nicht gar empörend. (Vom Preußenkönig Friedrich dem Großen freilich wird erzählt, er habe das Todesurteil gegen einen Kavalleristen, der sich an einer Stute vergangen hatte, mit der lapidaren Randbemerkung kassiert: »Der Kerl kommt zur Infanterie«.) Die Tatsache, daß es Zoophilie überhaupt gibt, bezeugt jedoch nur, zu welchen Extremen der Mensch im Ringen um die Reize greifen kann, um dem Untätigsein zu entgehen. Die Parallelen zur Welt des Zoos sind einfach unvermeidlich. Andere Arten des Sexualverhaltens, so etwa gewisse Fälle von »Besser-als-gar-nichts«-Homosexualität, fallen ebenfalls in diese Kategorie. In Ermangelung normaler Stimulierung erscheint der unternormale Gegenstand als angemessen - ganz so, wie Verhungernde lieber Holz und andere, für die Ernährung ganz und gar wertlose Dinge kauen, als daß sie gar nichts kauen. Und aggressive Individuen, die keinen Feind zum Angreifen haben, zerschmeißen mit Heftigkeit unbelebte Objekte oder fügen dem eigenen Körper Schaden zu. 7. Bei zu geringer Stimulierung kann man den VerhaltensAusstoß erhöhen, Indem man ausgewählte Reize künstlich verstärkt Dieses Prinzip betrifft die Schaffung übernormaler Reize. Es wirkt aufgrund folgender simpler naturgegebener Voraussetzung: Wenn normale, natürliche Reize nor310
male Reaktionen auslösen, dann müssen übernormale Reize zu übernormalen Reaktionen führen. Im MenschenZoo ist dieses Prinzip in weiter Verbreitung anzutreffen, im Tier-Zoo hingegen selten. Die Verhaltensforscher haben sich zwar eine ganze Reihe normaler Reize für ihre Versuchstiere ausgedacht; das gelegentliche Eintreten des Phänomens ist jedoch nur auf einige wenige Beispiele beschränkt, von denen ich eines hier eingehender behandeln möchte. Es stammt aus meinen eigenen Untersuchungen. Ich hatte eine Zeitlang eine Reihe von Vögeln verschiedener Arten gehalten, die auf dem Dach eines Forschungsinstituts in einer großen Voliere untergebracht waren. Zu einer bestimmten Zeit wurden sie durch die nächtlichen Besuche einer Eule beunruhigt, die versuchte, sie durch den Draht des Käfigs hindurch anzugreifen. Ich ging der Sache nach und setzte mich und legte mich mehrmals in der Dämmerung auf die Lauer. Die Eule ist, während ich dort saß, nie gekommen, und man hat auch nie wieder von ihr gehört. Aber während ich in dieser Hinsicht einen Schlußstrich ziehen konnte, gab es in der Voliere selbst viel Wichtigeres zu beobachten. Zu den Vögeln gehörten mehrere Tauben und mehrere kleine Finkenvögel, sogenannte Reisfinken. Diese Finken schlafen normalerweise zusammen, eng aneinandergekuschelt auf einem Zweig sitzend. Zu meiner Überraschung 311
nahmen jedoch hier im Käfig die Finken keinerlei Notiz voneinander, sondern hielten sich statt dessen an die Tauben als Schlafgefährten: Jede Taube hatte so »ihren« winzigen Finken, der sich dicht an ihren schweren Körper schmiegte. Die kleinen Kerle machten es sich höchst zufrieden für die Nacht gemütlich, während die Tauben, zunächst etwas beunruhigt durch die seltsamen Schlafgenossen, schon zu schläfrig waren, als daß sie etwas dagegen hätten unternehmen wollen. Auch sie ließen sich schließlich zum Schlafen nieder. Um eine Deutung dieses eigenartigen Verhaltens war ich äußerst verlegen. Die Individuen der beiden Arten waren nicht gemeinsam aufgewachsen, so daß es sich nicht um eine Fehlprägung handeln konnte; die Finken waren nicht einmal in Gefangenschaft erbrütet worden. Nach allem, was in den Lehrbüchern stand, hätten sie also mit anderen Individuen ihrer eigenen Art zusammen schlafen müssen. Ein Weiteres kam hinzu: Warum hatten sie sich aus all den im Käfig vertretenen Arten ausgerechnet die Tauben zum Schlafen ausgesucht? Ich setzte also meine Wache in den folgenden Nächten fort. Dabei konnte ich noch auffallenderes Verhalten beobachten: Vor dem Schlafengehen putzten die kleinen Finken den Tauben nicht selten das Gefieder - auch dies hätten sie unter normalen Umständen nur bei einem ihrer Artgenossen gemacht. Mehr noch: Sie begannen, auf dem 312
Rücken ihrer großen Kumpane Froschhüpfen zu spielen. Jeder Fink sprang »seiner« Taube auf den Rücken und auf der ändern Seite wieder herunter, dann wieder zurück und so fort. Die letzte Verrücktheit kam, als ich sah, wie sich einer der Zwerge unter den Taubenkörper zwängte und sich dem großen Vogel zwischen die Füße schob. Die schlaftrunkene Taube dehnte die Glieder und blinzelte nach der zappelnden Gestalt unter ihrer gewölbten Brust. Einmal in der richtigen Lage, ließ der Fink sich nieder, und die Taube setzte sich auf ihn. Da saßen sie nun, und nur der rosa Finkenschnabel guckte unter der Taubenbrust hervor. Irgendwie mußte ich für diese ganz ungewöhnliche Beziehung eine Erklärung finden. An den Tauben war nichts Auffälliges, ausgenommen vielleicht ihre bemerkenswerte Toleranz. Die Finken waren es, deren Verhalten man weiter untersuchen mußte. Zunächst fand ich heraus, daß sie zur Schlafenszeit ein besonderes Signal hatten, womit sie ihren Artgenossen zu verstehen gaben, daß sie sich jetzt zum Ruhen anschickten. Solange sie munter waren, hielten sie Distanz zueinander; wenn es jedoch Zeit wurde, sich für die Nacht zusammenzutun, plusterte einer der Finken, vermutlich der schläfrigste, sein Gefieder auf und hockte sich auf seine Stange. Das war für die anderen Angehörigen der Gruppe das Zeichen, daß sie sich zu ihm hocken konnten, ohne verjagt zu werden. Ein zweiter Fink flog an, kauerte sich neben den ersten und plusterte dabei sein 313
Gefieder auf; dann ein dritter, ein vierter, und so ging es fort, bis sich eine ganze Reihe von schlafenden Vögeln gebildet hatte. Oft hüpften Nachzügler den bereits zur Ruhe gegangenen auf dem Rücken herum und zwängten sich in eine günstigere, weil wärmere Stellung in der Mitte. Mit dieser Beobachtung hatte ich die Schlüssel in der Hand, die ich brauchte. Die Kombination von Aufplustern und Hinhocken ließ die Finken größer erscheinen als bei der Bewegung im wachen Zustand. Das war der Schlüsselreiz; er besagte: »Komm und schlaf bei mir.« Eine schlafende Taube nun war noch größer und noch rundlicher, sie mußte also notwendigerweise eine viel eindringlichere Version dieses Signals ausstrahlen. Dazu hatten die Tauben, im Gegensatz zu den anderen Vogelarten in der Voliere, dieselbe ins Graue gehende Färbung wie die Finken. Und da sie nun so schön groß, so schön gewölbt und so schön grau waren, waren sie für die Finken ein übernormales Signal, dem sich die kleinen Vögel einfach nicht zu entziehen vermochten. Von Natur aus auf diese Kombination von Größe, Gestalt und Farbe programmiert, reagierten sie automatisch auf die Tauben als auf übernormale SchlafReize - sogar den eigenen Artgenossen wurden sie vorgezogen. Der Haken war dabei nur der, daß die Tauben nicht in einer Reihe saßen. Der Fink, der sich an eine Taube drängte, fand sich damit am Ende einer »Reihe«. 314
Also sprang er der Taube auf den Rücken, fand aber dort keine Lücke inmitten der »Reihe«, und so sprang er an der anderen Seite wieder herunter. Die Taube war jedoch so groß, daß sie wie eine ganze Finkenreihe erscheinen mußte. Deshalb probierte es der kleine Vogel von neuem, wiederum ohne Erfolg. Mit großer Ausdauer versuchte nunmehr der Fink, sich von unten her dazwischenzuschieben - und so entdeckte er schließlich die gemütliche Stelle »in der Mitte der Reihe«: zwischen den Füßen des größeren Vogels. Wie ich schon sagte, ist dies eines der wenigen bekannten Beispiele für einen nicht vom Menschen gesetzten übernormalen Reiz außerhalb einer bewußt getroffenen Versuchsanordnung. Bei anderen, besser bekannten Beispielen hat man stets mit sogenannten Attrappen gearbeitet, z. B. mit Austernfischern, Vögeln des Meeresstrandes, die am Boden nisten. Wenn eines ihrer Eier aus dem Nest rollt, dann wird es mit einer sehr typischen Bewegung des Schnabels wieder hereingeholt. Legt man Attrappen neben das Nest, holen die Vögel auch diese mit der »Eirollbewegung« heran, und zwar wählen sie, wenn man ihnen »Kunst-Eier« verschiedener Größe anbietet, stets das größte. Selbst Attrappen, die ein Mehrfaches größer sind als ihre wirklichen Eier, rollen sie mit Hingabe ins Nest, sie können sich also gegen die Reaktion auf einen übernormalen Stimulus nicht wehren. 315
Ein weiteres Beispiel: Wenn die Nestjungen der Silbermöwe von ihren Eltern gefüttert werden wollen, picken sie nach einem roten Fleck nahe der Schnabelwurzel des erwachsenen Vogels. Das Elterntier reagiert auf dieses Picken, indem es für die Jungen Fisch hervorwürgt. Der rote Fleck ist also das auslösende Signal. Und nun hat man festgestellt, daß die Jungen sogar nach flachen Pappmodellen des Eltern-Kopfes picken. Mit einer Reihe weiterer Versuche konnte man dann herausfinden, daß die Details des Kopfes völlig unerheblich waren: Allein nach dem roten Schnabelfleck wurde gepickt. Und weiter: Wenn man den jungen Möwen ein Stöckchen mit drei roten Flecken vorhielt, pickten sie heftiger danach als nach einem vollständigen und naturgetreuen Modell des elterlichen Kopfes. Auch hier war der Stock mit den drei roten Flecken ein übernormaler Reiz. Diese Beispiele mögen genügen; es gibt noch weitere. Offensichtlich ist es also möglich, die Natur zu verbessern und zu übertrumpfen - eine Tatsache, die mancher abgeschmackt gefunden hat. Aber der Grund, daß man es kann, ist simpel genug: Jedes Lebewesen ist ein sehr komplexes System von Kompromissen. Von den einander widerstreitenden Anforderungen des Überlebens wird das Lebewesen in die verschiedensten Richtungen buchstäblich gezerrt. Ist es zum Beispiel zu hell gefärbt, wird es von seinen Feinden entdeckt; ist es dagegen zu gut getarnt, ist es nicht imstande, einen Partner anzulocken, und so 316
fort. Nur wenn der Druck des Überlebenmüssens künstlich gemindert wird, kann das so komplizierte System der Kompromisse gelockert werden. Haustiere etwa werden vom Menschen beschützt und brauchen sich deshalb nicht mehr vor Feinden zu fürchten, können es sich also ohne Gefahr leisten, die gedeckten Farben durch ein reines Weiß, ein »kitschiges« Bunt oder andere lebhafte Muster zu ersetzen. Würde man sie jedoch wieder in ihrer ursprünglichen Umwelt freilassen, so wären sie dermaßen auffallend, daß sie rasch ihren natürlichen Feinden zum Opfer fallen müßten. Wie seine Haustiere kann es sich auch der Superstammes-Mensch leisten, die für das Überleben wichtigen Beschränkungen auf die natürlichen Reize zu ignorieren. Er kann Reize manipulieren, kann sie übertreiben und verdrehen, ganz nach Herzenslust. Indem er die Reizstärke künstlich erhöht - durch das Herstellen übernormaler Stimuli-, kann er seiner Reiz-barkeit enormen Auftrieb geben. In seiner Welt des Superstammes gleicht er in der Tat dem von Rieseneiern umgebenen Austernfischer. Wohin man auch blickt, allenthalben findet man Beweise für die eine oder andere Art übernormaler Stimulierung. Wir mögen die Farbe der Blumen. Also züchten wir größere und schönere. Wir mögen den Rhythmus der menschlichen Bewegung. Also erfinden wir die Gymnastik. Wir mögen den Geschmack unserer Nahrung. Also machen wir sie wohlschmeckender und würziger. Wir mögen ge317
wisse Düfte und Gerüche. Also stellen wir starke Parfüms her. Wir mögen eine bequeme Schlafunterlage. Also konstruieren wir übernormale Betten, mit Matratzen und Federkernen... Nicht anders ist es mit unserer äußeren Erscheinungmit Kleidung und Kosmetik. Wie ist es mit den unterlegten Schultern der Herren Jacketts? Während der Pubertät gibt es einen deutlichen Unterschied in der Wachstumsrate der männlichen und der weiblichen Schultern; die der Jungen werden breiter als die der Mädchen - es ist dies ein natürliches, biologisches Zeichen der erwachsenen Männlichkeit. Unterlegte Schultern verstärken diese Männlichkeit zusätzlich, geben ihr übernormale Qualität, und so ist es gar nicht verwunderlich, daß die stärkste Übertreibung in dieser Hinsicht in der allermännlichsten Sphäre besonders beliebt ist, beim Militär nämlich, wo noch die steifen Schulterstücke und Epauletten dazukommen, um die Wirkung zu erhöhen. Auch das Zunehmen der Körpergröße ist ein Reifemerkmal, besonders beim Mann; manche aggressive Tracht wird deshalb von einer mächtigen Kopfbedeckung gekrönt, die den Eindruck übernormaler Größe erweckt. Zweifellos würden wir sogar Stelzen tragen, wenn das nicht so beschwerlich wäre. Wenn Männer übernormal jung aussehen wollen, können sie Toupets tragen, um ihre Glatze zu bedecken, falsche Zähne, um den alternden Mund auszufüllen, und 318
Korsetts, um den Hängebauch zu stützen. Von jungen Managern, die erfahren, also älter aussehen wollen, weiß man, daß sie sich darin gefallen, ihr jugendliches Haar künstlich ergrauen zu lassen, zumindest an den Schläfen (das Ergrauen der Schläfen setzt normalerweise in einem besonders »interessanten« Alter ein). Bei der heranwachsenden Frau unserer Spezies zeigt das Anschwellen der Brüste und ein Breiterwerden der Hüften Beginn und Fortgang der Geschlechtsreife an. Die Frau kann ihre sexuellen Signale verstärken, indem sie diese Merkmale verstärkt: Sie kann ihre Brüste auf verschiedenste Weise stützen, polstern, spitz werden lassen oder auffüllen. Durch Einschnüren der Taille kann sie die breiten Hüften betonen. Sie kann auch die Gesäßpartie und die Hüften supernormal ausstaffieren, ein Modetrend, der sich am stärksten in der Zeit der Turnüren und Krinolinen ausprägte. Eine andere Veränderung des Wachstums beim Menschen, die mit dem Heranreifen des weiblichen Körpers einhergeht, ist das Längerwerden der Beine im Vergleich zum restlichen Körper. Lange Beine können deshalb gleichbedeutend sein mit Sexualität: Außergewöhnlich lange Beine werden sexuell attraktiv. Von selbst, sozusagen »natürlich«, können sie verständlicherweise nicht zu supernormalen Reizen werden - sie sind ja naturgegeben (wenn man auch mit hohen Absätzen etwas nachhelfen 319
kann); wohl aber wird man auf erotischen Zeichnungen und Bildern von Frauen sehr oft die Beine künstlich in die Länge gestreckt finden. Nachmessungen an Pin-up-Bildern haben ergeben, daß die Mädchen im allgemeinen mit unnatürlich langen Beinen dargestellt sind; manchmal sind diese anderthalbmal so lang wie bei den jeweils benutzten wirklichen Modellen! Und die neue Mode der Mini-Röcke verdankt ihren Sex-Appeal nicht nur dem Zur-SchauStellen von nacktem Fleisch, sondern auch dem optischen Eindruck, der, im Kontrast zu den früher üblichen längeren Röcken, nun die Beine länger erscheinen läßt. Ein buntes Aufgebot von übernormalen Reizen begegnet einem im wahrsten Sinne des Wortes auch im Reich der weiblichen Kosmetik. Makellos reine Haut gilt in der ganzen Welt als sexuell attraktiv. Durch Puder und Creme kann solche Glätte noch besonders betont werden. Falls es, wie im Rokoko, darauf ankam zu zeigen, daß die Frau es nicht nötig hatte, in praller Sonne zu schuften, kam ihr die Kosmetik dadurch zur Hilfe, daß sie den sichtbaren Hautpartien eine supernormale Blässe verlieh. Als sich die Zeiten änderten und es nunmehr für die Frauen darauf ankam zu zeigen, daß sie es sich leisten konnten, in der Sonne zu liegen und nichts zu tun, war das Bräunen der Haut dringend geboten. Wieder mußte die Kosmetik herhalten und die Damen mit supernormaler Bräune versorgen. Dann gab es eine Zeit, in der es für die 320
Frau interessant war, ihre gesunde Körperverfassung zu demonstrieren. Also legte sie Rouge auf, ein übernormales Wangenrot. Eine weitere Eigentümlichkeit der weiblichen Haut ist es, daß sie weniger Haare aufweist als die des ausgewachsenen Mannes. Auch hier läßt sich ein Effekt erzielen, und zwar durch verschiedene Methoden der Haarentfernung: Die Härchen an den Beinen werden abrasiert oder mit Creme depiliert, die im Gesicht unter Schmerzen (»wer schön sein will, muß leiden«) ausgezupft. Die Augenbrauen des Mannes sind im allgemeinen dichter und buschiger als die der Frau; deshalb gelangt man zu supernormaler Weiblichkeit, indem man auch hier Haare zupft. Nimmt man nun noch das supernormale Augen-Make-up dazu, Lippenstift und Nagellack, Parfüm und gelegentlich sogar Büstenrouge, so ist leicht einzusehen, wie sauer wir uns das Prinzip des Übernormalen werden lassen in unserem Ringen um die Reize. Aus einem früheren Kapitel wissen wir bereits, zu welcher Größe es der männliche Penis gebracht hat, um ein supernormales Phallus-Symbol zu werden. In der üblichen Kleidung ist er nicht so recht zur Geltung gekommen, von einer kurzen, aber ruhmreichen Ausnahme zur Zeit des Hosenlatzes abgesehen. Heutzutage ist uns kaum mehr geblieben als das supernormale Schamhaar der schottischen Felltasche, die mit dem Kilt zur Landestracht gehört. Die fremdartige Welt der Aphrodisiaca, der Mittel für den »Liebeszauber«, steht ganz und gar im Dienst der 321
supernormalen Sexualreize: Viele Jahrhunderte hindurch und in vielen Kulturen haben die alternden Männer versucht, ihre schwindenden Sexualreaktionen auf künstliche Weise aufzufrischen. In einem Lexikon der Aphrodisiaca werden unter den neunhundert Stichwörtern so köstliche Wundermittel aufgeführt wie Engelswasser, Kamelhöcker, Krokodilkot, Hirschsperma, Gänsezungen, Hasensaft, Löwenfett, Schneckenhälse und Schwanengenitalien. Und zweifellos haben sich viele dieser Mittel bewährt - zwar nicht dank ihrer chemischen Eigenschaften, wohl aber dank der aufwendigen Preise, die man für sie zu zahlen hatte. In der Welt des Fernen Ostens schätzte man (und schätzt man noch heute) zerstoßenes Rhinozeroshorn als übernormalen Sexualreiz so hoch ein, daß gewisse Nashornarten nahezu ausgerottet worden sind, allein um ihrer Hörner willen. Nicht alle Aphrodisiaca wurden eingenommen. Manche rieb man sich ein, andere hat man geraucht, geschnupft oder auf der bloßen Haut getragen. Es gab nichts, von duftenden Bädern bis zum parfümierten Schnupftabak, was nicht herhalten mußte bei der hektischen Suche nach immer stärkerer und heftigerer Stimulation. Die moderne Pharmazie ist weniger aufs Sexuelle gerichtet, schwelgt dafür aber in vielerlei anderen Arten supernormaler Stimulierung. Da gibt es Schlaftabletten, um einen supernormalen Schlaf zu erzielen, Aufputschmittel, um supernormales Wachsein zu erzeugen, Ent322
schlackungsmittel für supernormalen Stuhlgang, Toilettenartikel für supernormale Sauberkeit und Zahnpasta, um ein supernormales Lächeln zu bewirken. Dank des menschlichen Einfallsreichtums gibt es kaum eine natürliche Funktion, die man nicht auf irgendeine Weise künstlich »verbessern« kann. Der Bereich der kommerziellen Werbung ist geradezu eine Brutstätte übernormaler Reize, deren einer den ändern auszustechen sucht. Bei konkurrierenden Firmen, die praktisch dieselben Dinge verkaufen wollen, ist das supernormale Ringen um die Reize zum »Big Business« geworden: Jedes Produkt muß in einer noch auf-reizenderen Form angeboten werden, als es die Konkurrenz tut. Das erfordert eine grenzenlose Aufmerksamkeit auf die Feinheiten von Form, Farbe, Herstellungsweise und Material. Ein wesentlicher Zug des supernormalen Reizes besteht darin, daß er nicht notwendig alle Elemente des natürlichen Reizes zu übertreiben braucht, den er steigern soll: Unser Austernfischer reagierte ja auf ein künstliches Ei, das nur in einer Hinsicht übernormal war - in der Größe; in Form und Farbe war es dem normalen Ei gleich. Beim Experiment mit den Möwenjungen ging man noch einen Schritt weiter. Dort übertrieb man die entscheidend wichtigen roten Flecken, und außerdem wurde von der Elterngestalt all das ausgelassen, was unwichtig war. Folglich spielte sich ein doppelter Vorgang ab: Vergrößern der wesentlichen Reize und, gleichzeitig, Weglassen der un323
wesentlichen. Im Experiment hat man dies lediglich deshalb gemacht, um zu beweisen, daß die roten Flecken allein bereits dazu ausreichen, die Reaktion auzulösen. Trotzdem muß dieses Vorgehen auch dazu beigetragen haben, die Aufmerksamkeit auf die roten Flecken zu konzentrieren, indem nämlich das Überflüssige entfernt worden war. Bei vielen supernormalen Reizen des Menschen wird dieser zweifache Prozeß mit großem Erfolg angewendet - als zusätzliches Prinzip im Ringen um die Reize. Danach gilt folgendes: Werden ausgewählte Reize künstlich zu supernormalen Reizen vergrößert, so läßt sich die Wirkung noch dadurch verstärken, daß man andere - unerhebliche, nicht als bevorzugt ausgewählte Reize abschwächt. Indem nämlich auf diese Weise zugleich unternormale Reize geschaffen werden, erscheinen die übernormalen vergleichsweise als noch stärker. Das ist das Prinzip der Reiz-Extreme. Wenn wir uns von Büchern, Theaterstücken, Filmen oder Schlagern unterhalten lassen wollen, unterwerfen wir uns automatisch dieser Prozedur. Denn sie bildet den eigentlichen Inhalt eines Vorgehens, das wir Dramatisieren nennen: Wollte man das alltägliche Geschehen so darbieten, wie es sich im wirklichen Leben ereignet, so wäre das nicht anregend genug. Also muß über- und zugleich untertrieben werden: Die Anwendung des Prinzips der Reiz-Extreme stellt sicher, daß das unerhebliche Detail unterdrückt, das wichtige hervorgehoben und auffällig 324
gemacht wird. Selbst in den realistischsten Schauspielschulen oder beim, in Gottes Namen, Schreiben von Sachbüchern und beim Dokumentarfilm ist dieser negative Prozeß noch wirksam - Unwichtiges wird »weggeschnitten« - und bringt so auf indirekte Weise eine Übertreibung hervor. Bei stark stilisierten Darbietungen, etwa bei Oper oder Singspiel, sind die direkten Formen der Übertreibung wichtiger; es ist bemerkenswert, wie weit uns Stimmen, Kostüme, Gesten, Vorgänge auf der Bühne und die Handlung von der Realität wegführen können und dennoch einen sehr starken Eindruck auf das menschliche Hirn machen. Sollte dies jemanden merkwürdig anmuten, so ist es gut, sich an unsere Versuchsvögel zu erinnern: Die Möwennestlinge waren imstande, auf einen Elternersatz zu reagieren, der aus einer von der erwachsenen Möwe himmelweit entfernten Attrappe bestand - aus einem Stock mit drei roten Punkten darauf! Unsere Reaktionen auf das hochstilisierte Opernritual sind da nicht fremdartiger ... Kinderspielzeuge wie Puppen und Stofftiere liefern ebenfalls sehr anschauliche Beispiele für dasselbe Prinzip. Im Gesicht einer Stoffpuppe etwa werden bestimmte wichtige Züge vergrößert, andere ausgelassen: Die Augen sind zu großen schwarzen Flecken geworden, während die Augenbrauen fehlen. Der Mund wird mit einem breiten Grinsen dargestellt, während die Nase auf zwei kleine Pünktchen geschrumpft ist. Sobald man einen Spielzeug325
laden betritt, befindet man sich in einer Welt von einander konträren Reizen - supernormalen und subnormalen. Erst das Spielzeug für die größeren Kinder ist weniger kontrastreich und damit realistischer. Dasselbe gilt für die Kinderzeichnungen selbst. Bei Darstellungen des menschlichen Körpers werden jene Züge verstärkt, die für das Kind interessant sind; die unwichtigen werden abgeschwächt, wenn nicht weggelassen. Meist sind Kopf, Augen und Mund am größten und am wenigsten proportioniert gezeichnet — die Körperteile nämlich, die für ein kleines Kind die größte Bedeutung haben, denn sie bilden den Bereich des Augenausdrucks und des Blickkontaktes. Dagegen sind beispielsweise die Ohren bei unserer Art ausdrucksarm und vergleichsweise unwichtig; deshalb bleiben sie oft ganz weg. Solche Übertreibung des Visuellen herrscht auch in der Kunst der sogenannten Primitiven vor. Der Umfang von Kopf, Auge und Mund ist, verglichen mit den Abmessungen des Körpers, im allgemeinen supernormal; auch werden, wie bei Kinderzeichnungen, andere Züge vernachlässigt. Die zur Verstärkung gewählten Reize sind jedoch von Fall zu Fall verschieden: Wird eine Figur im Lauf dargestellt, so sind die Beine übernormal lang. Steht sie dagegen still und bewegt weder Arme noch Beine, so können diese zu bloßen Stümpfen werden oder überhaupt verschwinden. Und wenn eine Figur aus vorgeschichtlicher 326
Zeit die Fruchtbarkeit repräsentieren soll, so können die einschlägigen Organe weit über die Norm hinaus vergrößert sein - bis zur Ausschließlichkeit: Eine solche »Muttergöttin« verfügt dann vielleicht nur noch über einen mächtigen schwangeren Bauch, gewaltig quellende Gesäßbacken, breite Hüften und riesige Brüste, nicht aber über Beine, Arme, Hals oder Kopf. Solche grafischen Manipulationen bei Menschendarstellungen hat man oft als widerliche Mißbildungen bezeichnet - als sei die Schönheit der menschlichen Gestalt einer böswilligen Verunstaltung oder Beleidigung ausgesetzt gewesen. Die Ironie dabei ist, daß solche Kritiker, würden sie einmal ihre eigenen körperlichen Zierden einer kritischen Prüfung unterziehen, zu dem Ergebnis kommen müßten, daß ihre physische Beschaffenheit auch nicht gerade so ist, »wie Mutter Natur es gewollt hat«. Wie die Darstellungen der Kinder und der Künstler bei den Naturvölkern sind auch sie ohne Zweifel beladen mit »entstellenden« über- und unternormalen Details. Das Faszinierende an den Reiz-Extremen in der Kunst liegt darin, wie diese Übertreibungen von Fall zu Fall und von Ort zu Ort verschieden sind, und in der Art und Weise, wie aus solchen Abwandlungen neue Formen von Harmonie und Ausgewogenheit entstehen. In der Welt von heute sind die Zeichentrickfilme zu Hauptlieferanten dieser besonderen Art von visueller Übertreibung gewor327
den; sie gehen zurück auf die Kunst der Karikatur: Der erfahrene Karikaturist sucht sich aus dem Gesicht seines Opfers die ohnehin schon etwas von der Norm abweichenden Züge heraus und überspitzt diese bereits bestehenden Ubertreibungen dann noch einmal kräftig; zugleich läßt er die weniger auffälligen Einzelheiten zurücktreten. Die Vergrößerung einer großen Nase etwa kann so extrem sein, daß sie schließlich doppelt oder dreifache Dimension annimmt, ohne daß dadurch das Gesicht unkenntlich würde. Im Gegenteil - es wird dadurch eher noch besser kenntlich. Der springende Punkt dabei ist der: Wir identifizieren individuelle Gesichter stets dadurch, daß wir sie im Geist mit einem »idealtypischen« menschlichen Gesicht vergleichen. Wenn ein bestimmtes Gesicht gewisse Züge aufweist, die stärker oder schwächer, größer oder kleiner, länger oder kürzer, dunkler oder heller sind als die entsprechenden in unserem »typischen« Gesicht, dann sind diese es, woran wir uns erinnern. Beim Zeichnen einer Karikatur, die »ankommen« soll, muß der Künstler intuitiv wissen, welche Einzelzüge wir ausgewählt haben; dann muß er die starken Züge über das Normale hinaus betonen, die schwachen noch schwächer werden lassen. Der Vorgang ist im wesentlichen der gleiche wie beim Zeichnen der Kinder und der sogenannten Primitiven, nur daß der Karikaturist sich in erster Linie mit individuellen Unterschieden befaßt.
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Die Bildenden Künste sind über weite Strecken ihrer G«sdüchte von dieser Technik der Reiz-Extreme bestimmt gewesen. Abweichungen ins Übernormale und Unternorssale finden sich in nahezu allen frühen Epochen der Kunst sehr häufig. Dann aber beherrscht mehr und mehr der Realismus die Kunst des Abendlandes: Dem Maler und dem Bildhauer fällt die Aufgabe zu, die Welt rundum so genau wie möglich festzuhalten. Erst als im letzten Jahrhundert Wissenschaft und Technik für diese achtunggebietende Aufgabe neue Methoden schufen (durch die Entwicklung der Fotografie), konnten die Künstler wieder zu einer freieren Behandlung ihres Gegenstandes übergehen. Anfangs freilich reagierten sie noch zögernd - die Ketten, die schon im neunzehnten Jahrhundert gesprengt worden waren, wurden erst im zwanzigsten vollständig abgeschüttelt. Während der vergangenen sechzig Jahre aber hat eine Woge der Rebellion die andere abgelöst - in dem Maße, wie die Reiz-Extreme sich als immer wirksamer erwiesen. Die Regel lautet nun wieder: Man verstärke ausgewählte Elemente und lasse andere weg. Als moderne Künstler die Darstellung des menschlichen Gesichts auf diese Weise zu handhaben begannen, gab es einen Aufschrei: Die Bilder wurden als dekadenter Wahnsinn gescholten - als ob sie irgendeine neue Krankheit unseres Jahrhunderts widerspiegelten und nicht die Rückkehr der Kunst zu einem ihrer wesentlichen Prinzipien, nämlich zu dem, sich am Ringen um die Reize zu beteili329
gen. Die Übertreibungen menschlichen Verhaltens im Theater, beim Ballett und in der Oper sowie die doch wohl ganz außerordentliche Verstärkung menschlicher Gefühle in Lied und Gedicht hat man glücklich akzeptiert; aber es brauchte seine Zeit, bis man sich an vergleichbare Reiz-Extreme in den Bildenden Künsten gewöhnt hatte: Als die ersten rein abstrakten Gemälde erschienen, wurden sie von denselben Leuten als »sinnlos« attackiert, die nichts dabei fanden, sich an einer völlig abstrakten musikalischen Darbietung zu erfreuen. Aber die Musik ist eben nie in eine ästhetische Zwangsjacke gefesselt worden, die es ihr lediglich erlaubt hätte, natürliche Geräusche und nichts anderes wiederzugeben! Ich habe einen übernormalen Reiz als die künstliche Übertreibung eines natürlichen Reizes definiert; man kann dieses Konzept in einer ganz bestimmten Weise aber auch auf einen künstlichen Reiz übertragen. Dazu seien zwei klar umrissene Fälle angeführt: Die roten Lippen eines hübschen Mädchens sind ohne Frage ein völlig natürlicher, biologischer Reiz. Wenn das Mädchen den übertreibt und die Lippen mit einem kräftigen Rot bemalt, macht es aus den Lippen ganz offensichtlich einen übernormalen Reiz. Das ist ganz einfach, und bisher habe ich mich auf derartige Beispiele beschränkt. Wie aber steht es mit dem Anblick eines funkelnagelneuen Autos? Das kann auch sehr reiz-voll sein, ist aber ein ganz und gar künstlicher, un-natürlicher und unnormaler Reiz. Wir haben keinerlei 330
natürliches, biologisch gegebenes Vorbild von einem Auto, mit dem wir das neue vergleichen und so herausfinden könnten, ob und wo übertrieben worden ist. Und trotzdem: Wenn wir uns verschiedene Wagentypen ansehen, fallt es uns leicht, einige von ihnen auszusondern, die offenbar irgend etwas »Übernormales« an sich haben. Sie find größer, und sie sind »aufregender« als die meisten anderen. Und in der Tat befassen sich die Autofabriken mit der Schaffung supernormaler Reize nicht weniger als die Fabrikanten von Lippenstiften. Die Ausgangssituation ist allerdings etwas weniger sicher, denn es gibt ja keine natürliche, biologische Leitlinie, von der aus man arbeiten könnte; im wesentlichen aber ist der Vorgang derselbe: Sobald erst einmal ein neuer Reiz gefunden worden ist, bildet er seine eigene Leitlinie. Und so ist es möglich, für jeden Zeitpunkt der Geschichte des Autos das typische, allgemein verbreitete und daher »normale« Auto der jeweiligen Periode zu skizzieren. Genauso könnte man aber auch für jede Zeit ein Bild des besonders auffallenden Luxusautos geben, das damals das übernormale Fahrzeug darstellte. Der einzige Unterschied zwischen diesem Beispiel und dem vom Lippenstift ist der, daß die »normale Leitlinie« des Autos sich mit dem technischen Fortschritt wandelt, während die von Natur aus roten Lippen immer dieselben blieben.
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Die Anwendung des Prinzips, mit übernormalen Reizen zu arbeiten, ist also weit verbreitet und durchdringt so oder so fast all unser Tun. Befreit von den Zwängen des nackten Überlebens, pressen wir noch den letzten Tropfen Reiz aus allem, was wir in die Hand oder in den Blick bekommen - mit dem Erfolg, daß wir nicht selten an Reizverstimmung erkranken. Denn der Haken bei den immer mächtiger werdenden Reizen ist, daß wir Gefahr laufen, uns durch die Heftigkeit unserer Reaktionen zu erschöpfen. Wir werden müde und matt und neigen dazu, Shakespeare recht zu geben, wenn er sagt: Vergülden feines Gold, Die Lilie malen, Auf die Viole Wohlgerüche streuen ... Ist lächerlich und unnütz Übermaß. Gleichzeitig müssen wir aber auch mit Oscar Wilde zugeben, daß »nichts so wirksam ist wie die Übertreibung«. Was also machen wir? Die Antwort: Wir bringen ein weiteres Hilfsprinzip des Ringens um die Reize ins Spiel. Es besagt: Weil übernormale Reize so kräftig sind und unsere Reaktionen auf sie sich erschöpfen können, müssen wir von Zeit zu Zeit die Elemente ändern, die für eine Verstärkung vorgesehen sind. Mit anderen Worten, wir wechseln die Szene. Ein derartiges Umschalten ist meist recht dramatisch, weil eine ganze Richtung (des Verhaltens) umgekehrt wird. Das heißt nun aber keineswegs, 332
daß diese oder jene Methode im Ringen um die Reize nicht mehr in Betracht käme. Vielmehr werden nur die übernormalen »Akzente« versetzt. Nirgends ist das deutlicher zu beobachten als im Bereich der Mode. In der weiblichen Bekleidung, bei der die Darstellung des Sexuellen eine überragende Rolle spielt, hat dies etwas entstehen lassen, das die Modefachleute das »Gesetz der wandernden Erogenen Zonen« nennen. In der Sprache der Biologie und der Medizin ist eine Erogene Zone eine für Berührungsreize dadurch besonders empfängliche Körperpartie, daß sie reichlich mit Nerven-Endigungen versorgt ist; ihre direkte Reizung wirkt sexuell erregend. Die wichtigsten Erogenen Zonen sind die Genitalgegend, die Brüste, der Mund, die Ohrläppchen, das Gesäß und die Hüften; der Hals, die Achselhöhlen und der Nabel werden gelegentlich ebenfalls hierher gerechnet. Die Frauenmode hat es natürlich nicht mit Berührungsreizen zu tun, sondern mit der Freilegung (oder Verhüllung) dieser sensiblen Zonen für den Blick. In Extremfällen können alle diese Zonen gleichzeitig freigelegt oder, wie bei der Tracht der Araberfrauen, verhüllt werden. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Superstammesgemeinschaften jedoch werden einige enthüllt und zugleich andere verdeckt. Wahlweise können auch manche Zonen betont, wenngleich verdeckt sein, während andere zurücktreten.
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Das Gesetz der wandernden Erogenen Zonen betrifft nun die An und Weise, wie die Aufmerksamkeit auf das eine Gebiet des Körpers von der auf ein anderes abgelöst wird, sobald im Ablauf der Zeiten die Mode wechselt: Wenn die Frau eine bestimmte Zone zu lange betont, wird die Anziehungskraft schwächer, und es ist ein neuer supernormaler Reiz erforderlich, um das Interesse wieder zu entfachen. In neuerer Zeit sind die beiden Hauptzonen, die Brüste und die Hüften, größtenteils bedeckt geblieben, aber auf unterschiedliche Weise betont worden. Die eine Methode besteht darin, die Kleidung auszupolstern oder zu straffen, um die Formen hervortreten zu lassen; die andere ist die, den unbedeckt bleibenden Teil der Haut so nahe wie nur möglich an Busen und Hüfte herankommen zu lassen. Wenn diese Entblößung die Brustregion erfaßt, in Gestalt besonders tief ausgeschnittener Kleider, entfernt sie sich gewöhnlich von der Hüftregion, und die Röcke werden länger. Verlagert das »Interessengebiet« sich und werden die Kleider kürzer, so steigt die Grenzlinie zum Hals hin. War gelegentlich einmal der nackte Bauch in Mode, so daß der Nabel freiblieb, so wurden gewöhnlich die anderen Zonen sorgfältig abgedeckt, oftmals so sorgfältig, daß man die Beine mit einer Art Hose verhüllte.
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Das große Problem für die Modeschöpfer besteht nun darin, daß ihre übernormalen Reize auf bestimmten biologischen Gegebenheiten basieren. Aus der Tatsache, daß es nur einige wenige in Frage kommende Zonen gibt, ergibt sich eine strikte Beschränkung, und so ist der Modeschöpfer zu einer Reihe gefährlich sich ähnelnder Modezyklen gezwungen. Nur mit größtem Einfallsreichtum läßt sich dieser Schwierigkeit begegnen. Immerhin steht wenigstens die Kopfregion dauernd für Spielereien zur Verfügung: Die Ohrläppchen kann man durch Ohrringe betonen, den Hals durch Halsketten, das Gesicht durch Make-up. Das Gesetz der wandernden Erogenen Zonen hat auch hier seine Gültigkeit. So ist bemerkenswert, daß die Lippen meist blasser werden und weniger scharf nachgezogen sind, sobald das Augen-Make-up besonders auffällig und gewichtig wird. Beim Mann nehmen die Modezyklen einen ganz anderen Verlauf. Der Mann hat sich in unserer Zeit mehr damit befaßt, seinen Status darzulegen, als auf seine sexuellen Eigenheiten hinzuweisen: Hoher Status bedeutet die Möglichkeit, nicht arbeiten zu brauchen, und so ist die bezeichnendste Freizeitbekleidung der Sportanzug verschiedenen Typs. Modehistoriker haben sogar die sehr kennzeichnende Tatsache ausgegraben, daß praktisch alles, was der Mann heute trägt, als »Ex-Sportbekleidung« betrachtet werden kann - selbst die ganz und gar formelle Bekleidung läßt sich auf diese Ursprünge zurückführen. 335
Das funktioniert so: Zu jedem Zeitpunkt unserer neueren Geschichte hat es eine rein zweckbestimmte Kleidung gegeben, mit der man den jeweiligen Status-Sport betrieb. Das Tragen dieser Tracht zeigt an, daß man Geld und Zeit hat, sich diesen Sport leisten zu können. Dieses Status-Signal kann dadurch über die Norm hinaus verstärkt werden, daß man die Sportkleidung als gewöhnlichen Anzug im Alltag trägt, auch wenn man den betreffenden Sport gar nicht selbst ausübt; dadurch, daß man sie darüber hinaus anlegt, wird das Signal deutlicher. Es besagt: »Ich habe sehr viel freie Zeit«. Und es vermag das genausogut für einen Nichtsportler zu sagen, der sich die Teilnahme an diesem Sport nicht leisten kann. Ist aber der Sportanzug und das von ihm ausgehende Signal nach einer Weile als Alltagsbekleidung allgemein akzeptiert, machen beide keinen Eindruck mehr. Dann muß ein neuer Sport mit einer ausgefallenen Tracht her. Im 18. Jahrhundert tat der englische Landadel seinen Status dadurch kund, daß er »in Jagd machte«. Man legte sich eine dafür angemessene Bekleidung zu, indem man einen Rock trug, der vorn so geschnitten (englisch »cut away«!) war, daß hinten der Eindruck von zwei Schwänzen entstand: Frack und Cut. Man schaffte auch den großen weichen Hut ab und trug statt dessen einen steifen Hut, der beinahe aussah wie ein Prototyp des Sturzhelms. Als diese Mode sich als Ausrüstung für einen Status-Sport einmal durchgesetzt hatte, begann sie sich zu verbreiten: 336
Zunächst waren es die jungen Blaublütigen selbst (die »Swinger« von damals), die ein etwas abgeändertes Jagdkostüm als Alltagstracht zu tragen pflegten, was als Gipfel der Unverfrorenheit, wenn nicht überhaupt als skandalös betrachtet wurde. Aber nach und nach weitete der Trend sich aus (auch junge »Swinger« werden schließlich älter), und in der Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Tracht zum normalen Alltagsanzug geworden. Nachdem Zylinderhut und Frack (bzw. Cut) dergestalt akzeptiert und herkömmlich geworden waren, mußten sie von den etwas kühneren Mitgliedern der Society, die ihre supernormalen Muße-Signale mitzuteilen wünschten, durch etwas Neues ersetzt werden. Andere Arten von Status-Sport, die man diesbezüglich ausweiden konnte, waren das Schießen, das Angeln und das Golfspiel. Aus Filzhütchen wurden die »Melonen«, aus den Tweedjacken der Schützen die karierten Straßenanzüge. Und die weichen Sportmützen wurden zu Schlapphüten. Mit dem Fortschreiten unseres Jahrhunderts ist der Straßenanzug mehr und mehr auch als förmliche Tagesbekleidung akzeptiert worden und dabei etwas gedeckter in der Farbe geworden. Der »Morgenanzug« hingegen mit Zylinder und Frack hat sich um einen großen Schritt auf die Förmlichkeit hin bewegt und ist jetzt nur noch für besondere Anlässe wie Hochzeiten vorgesehen. Er hat sich auch als Abendanzug gehalten, aber hier hat der Straßenanzug Schritt gehalten und ihn der Rockschöße beraubt, mit dem 337
Erfolg, daß der Smoking entstanden ist. Nachdem der Jackettanzug kein Zeichen von Kühnheit mehr war, mußte er seinerseits von einer mehr sportlichen Bekleidung abgelöst werden. Die Jagd erfreute sich nicht mehr so großer Beliebtheit, wohl aber besaß das Reiten noch immer einen hohen Statuswert - also auf ein Neues! Diesmal war es die Kutscherlivree, die bald danach in »Sportjackett« umbenannt wurde; ironischerweise kam es zu diesem Namen erst, als es seine wirkliche »sportliche« Funktion bereits eingebüßt hatte. Es wurde die neue Bekleidung für den täglichen Gebrauch und hat diese Stellung gegenwärtig noch inne. Schon dringt es auch in die immer noch etwas formellere englische Geschäftswelt ein. Bei den kühnsten Herrenmodeschöpfern hat es sogar in das Allerheiligste Einzug gehalten, in die ganz förmliche Abendgesellschaft, und zwar in Gestalt des gemusterten Abendjacketts. Mit dem Sportjackett breitete sich auch der Rollkragenpullover im Alltag aus. Er stammt vom Polo, das als Sport von sehr hohem Statuswert galt (und immer noch gilt). Wer also den typischen Pullover mit dem runden Kragen trug, war in der glücklichen Lage, sofort Status auszustrahlen. Aber schon hat auch dieses kennzeichnende Kleiderstück seinen Zauber der Kühnheit verloren. Aus Seide gefertigt, trägt man es seit kurzem zum Abendanzug. Prompt wurden die Geschäfte von jungen Herren bestürmt, die sich mit Lärm dieses neuesten Sport-Angriff s 338
auf die Förmlichkeit versicherten. Als Tagesbekleidung hat der Rollpulli seinen »Reiz« vielleicht schon verloren, ist aber noch imstande, bei Abendgesellschaften zu schockieren, und seine Beliebtheit nimmt entsprechend zu. Es hat noch andere vergleichbare Trends in den letzten fünfzig Jahren gegeben. Segeljacketts mit Metallknöpfchen werden von Leuten getragen, die nie einen Fuß vom Trocknen genommen haben, Skianzüge von Männern (und Frauen), die kaum wissen, wie ein schneebedeckter Berg aussieht. Solange eben diese oder jene Sportart exklusiv und kostspielig ist, wird man sie nach Kleidungssignalen ausplündern. In unserem Jahrhundert ist der Freizeitsport weithin von der Gewohnheit abgelöst worden, sich an irgendeinen Strand in einem wärmeren Klima zu begeben. Das fing an mit einem Run auf die französische Riviera. Die Besucher kopierten die Sweater und buntkarierten Hemden der Fischer. Und konnten bekunden, daß ihnen diese neuartigen, kostspieligen StatusFerien offenstanden, indem sie zu Hause ähnliche Hemden und Sweater trugen. Auf der Stelle eroberte sich indessen ein neuer Zweig von Alltagskleidung den Markt: In Amerika wurde es für reiche Männer mit hohem Status Mode, eine Ranch auf dem Lande zu besitzen und sich dort in eine Cowboy-Uniform zu werfen. In nullKomma-nichts kam so mancher junge Stadtmensch ohne Ranch in einer noch etwas weiter abgewandelten Cowboy-Kleidung daher. Man könnte an dieser Stelle einwen339
den, daß er das aus den Western hat; aber das ist wenig wahrscheinlich. Denn dann wäre es immer nur eine Art Phantasie- oder Faschingskostüm geblieben. Sobald jedoch Zeitgenossen von hohem Status so etwas tragen, wenn sie ihre Freizeit verbringen, dann ist alles in Ordnung - es kann eine neue Welle des Imitierens beginnen. Das alles freilich erklärt nicht, wie man bemerkt haben wird, die bizarre Kleidung der sich vom »Establishment« absetzenden Teenager und Twens, die bunte Halstücher und lange Haare tragen, Ketten, farbige Schals, Armreifen, Schnallenschuhe, Schifferhosen und spitzenbesetzte Hemden. Welche An Sport wird denn hier imitiert? An den Mini- und Mikroröcken der weiblichen Teenager ist wenig Geheimnisvolles. Alles, was sie getan haben, außer ihre Erogene Zone nach den Hüften hin zu verschieben, bestand darin, ein emanzipiertes Blättchen aus dem männlichen Modealbum zu nehmen und ein Stück Sportbekleidung für den täglichen Gebrauch zu entwenden: Der Tennisrock der dreißiger und der Eislaufrock der vierziger Jahre waren bereits regelrechte Miniröcke. Es bedurfte nur eines kühnen Modeschöpfers, sie für den täglichen Gebrauch abzuändern. Aber unser entflammter junger Mann, was um alles in der Welt treibt er? Die richtige Antwort scheint die zu sein, daß es mit der jüngsten Errichtung einer »Subkultur der Jugend« notwendig wurde, auch 340
eine völlig neuartige Kleidung zu entwickeln, um dazuzugehören, eine, die den Varianten der verhaßten »Subkultur der Erwachsenen« so wenig wie möglich verdankt. Der Status in einer »Jugend-Subkultur« hat weniger mit Geld, dafür um so mehr mit Sex-Appeal und Männlichkeit zu schaffen. Das heißt aber, daß die jungen Männer sich mehr wie die Frauen zu kleiden begannen — nicht weil sie »weibisch« oder verweichlicht wären (eine beliebte Überzeugung der Älteren), sondern weil sie sich mehr mit der Zurschaustellung sexueller Anziehungskraft befassen. In der jüngsten Vergangenheit ist dies vorwiegend Sache der Frauen gewesen, während nunmehr beide Geschlechter (wieder) daran beteiligt sind. Die Männerbekleidung ist denn auch ein Rückgriff auf Verhältnisse früherer Zeiten (im und vor dem 18. Jahrhundert), und man sollte sich gar nicht allzusehr wundern, wenn der Hosenlatz wieder auftaucht - was jeden Moment geschehen kann. Es ist auch durchaus möglich, daß wir die Wiederkunft eines sorgfältigen männlichen Make-up erleben. Wie lange diese Phase anhält, ist schwer zu sagen; denn nach und nach wird diese Mode von Älteren imitiert werden, die ohnehin schon etwas verdrießlich werden über die unverblümten Sexualbekundungen der Jungen. Denn mit einem Rückgriff auf das Balzverhalten des Pfaus haben die jungen Männer aus der »Jugend-Subkultur« genau dort hingehakt, wo es am meisten weh tut.
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Der Menschenmann ist im Alter von sechzehn bis siebzehn Jahren in seiner sexuell potentesten Verfassung. Indem die Jungen von heute die Freizeitkluft als Status-Symbol abgeschafft haben und statt dessen eine sexuell betonte Kleidung zum Status-Symbol geworden ist, sind sie zu der idealen Waffe gekommen. Indessen, wie schon gesagt: Auch junge Adlige und junge Swinger werden älter. Es wird interessant sein zu beobachten, was sich zwanzig Jahre später ereignet, wenn glatzköpfige Beatles in Pension gegangen sind und sich eine neue Subkultur der Jugend gebildet hat. Praktisch alles also, was wir heute tragen, ist das Ergebnis dieses Prinzips des »Verwechsel, verwechsel das Bäumelein« im Ringen um die Reize mit dem Ziel, die schlagende Wirkung von etwas unerwartet Neuem hervorzubringen. Was heute noch von Kühnheit zeugt, ist morgen alltäglich und übermorgen verstaubt, und wir vergessen sehr rasch, wie das alles gekommen ist. Wie viele von den Herren, die abends in ihren Frack steigen und den Zylinder aufsetzen, sind sich wohl dessen bewußt, daß sie die Tracht eines adligen Jägers aus dem späten 18. Jahrhundert anlegen? Wie viele Geschäftsleute im dunklen Anzug sind sich klar darüber, daß sie der Sportkleidung der Landedelleute im frühen 19. Jahrhundert folgen? Wie viele junge Leute im Sport Jackett betrachten sich als Reiter? Wie viele junge Männer mit offenem Hemd und grobgestricktem Pullover wissen, daß 342
sie eigentlich Fischer vom Mittelmeer sind? Und wie viele mini-berockte Mädchen betrachten sich als Tennisspielerin oder Eisläuferin? Der Schock klingt schnell ab. Der neue Stil wird rasch absorbiert, und schon ist ein neuer Stil erforderlich, um an seiner Stelle einen neuen Reiz auszuüben. Eines aber ist auf alle Fälle sicher: Was heute noch im Reich der Mode als kühnste Neuerung gilt, das wird morgen schon in hohem Ansehen stehen und alsbald zu pompöser Förmlichkeit erstarren, während eine neue Rebellion der ändern nachjagt, um das Alte zu ersetzen. Nur durch diesen Prozeß eines ständigen Abschwenkens von der jeweiligen Richtung können die Modeextreme, diese übernormalen Reize von Form und Farben, ihre massive Wirksamkeit aufrechterhalten. Not macht erfinderisch - mag sein; aber was die übernormalen Reize der Mode betrifft, so kann man mit nicht weniger Recht sagen: Abwechslung schafft Bedarf. Bis jetzt haben wir jene fünf Prinzipien im Ringen um die Reize betrachtet, die sich mit der Erhöhung des Verhaltensausstoßes beim einzelnen befassen. Hin und wieder wird auch das Gegenteil erforderlich sein. In diesem Fall gilt der sechste und letzte Grundsatz:
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6. Bei zu starker Stimulierung kann man seinen Verhaltensausstoß reduzieren, indem man die Reaktionsfähigkeit gegen einfallende Reize dämpft Das ist das Prinzip des Abschaltens. Manchen Zootieren wird ihr Gefängnis zum Schrecken und zur Quälerei, besonders, wenn sie neu angekommen sind, einen ändern Käfig bezogen haben oder man sie mit ungewohnten, wenn nicht gar feindlichen Tieren zusammensperrt. In ihrer gereizten Verfassung leiden sie unter anomaler Überreizung. Wenn sie weder fliehen noch sich verstecken können, müssen sie die auf sie einstürmenden Reize irgendwie abstellen. Das können sie einfach dadurch tun, daß sie sich in eine Ecke hocken und die Augen zumachen. Das schirmt wenigstens gegen die visuellen Reize ab. Übermäßiges, ausgedehntes Schlafen (eine Technik, die auch bei Krankheit Usus ist, und zwar bei Mensch und Tier) ist eine schon weitergehende Form des Abschaltens. Aber es ist unmöglich, ewig zu schlafen oder in der Ecke zu kauern. Im Wachzustand können die Tiere ihre Spannungen bis zu einem gewissen Grad dadurch lindern, daß sie sogenannte Stereotypien praktizieren: kleine Ticks wie ständig wiederholtes Jucken, Schaukeln, Springen, Pendeln oder Kreisen, was alles durch dauerndes Wiederholen so vertraut geworden ist, daß es beruhigend wirkt. Das Entscheidende dabei ist, daß für das überreizte Tier in der ihm fremden und bedrohlichen Umwelt jede Art von Be344
tätigung, egal, ob sinnvoll oder nicht, beruhigende Wirkung hat, sofern es sich nur um ein altes und vertrautes Verhaltensmuster handelt - es ist ähnlich wie auf einer Party, wenn man unter lauter fremden Leuten einen alten Freund trifft. Man kann diese Stereotypien überall im Zoo beobachten. Die großen Elefanten schaukeln rhythmisch hin und her; der junge Schimpanse bewegt seinen Körper vor und zurück; das Eichhörnchen jagt in einem engen Kreis rundherum wie ein Todesfahrer; der Tiger reibt die Nase links und rechts, rechts und links an den KäfigStäben, bis sie wund ist und blutet. Wenn einige dieser bei Überreizung sich einstellenden Verhaltensweisen von Zeit zu Zeit auch bei stark gelangweilten Tieren vorkommen, so ist das kein Zufall; denn der Stress infolge heftiger Unterstimulierung ist in gewisser Weise grundsätzlich derselbe wie der Stress infolge von Überstimulierung. Beide Extreme sind unangenehm, und diese Empfindung verursacht eine stereotype Reaktion: Das Tier versucht verzweifelt, zur goldenen Mitte einer maßvollen Stimulierung zurückzufinden, die das Ziel des Ringens um die Reize ist. Ist der Insasse des Menschen-Zoos heftig überreizt, so verfällt er ebenfalls auf das Prinzip des Abschaltens Wenn viele verschiedene Reize auf ihn einstürmen und miteinander streiten, wird die Situation unerträglich. Können wir fliehen und uns verkriechen, so ist alles gut. 345
Im allgemeinen aber hindern uns daran unsere vielfältigen Verflechtungen in das Leben des Superstammes. Wir können zwar die Augen zumachen und uns die Ohren zuhalten. Aber es braucht eben doch etwas mehr als Scheuklappen und Oropax. In Extremfällen greifen wir zu künstlichen Mitteln: Wir schlucken Beruhigungspillen, Schlaftabletten (mitunter so viele, daß wir für immer »abschalten«), wir trinken übermäßig Alkohol oder nehmen andere Mittel. Es ist dies eine Variante im Ringen um die Reize, die man »Traum aus der Retorte« nennen kann. Um das zu verstehen, wird es gut sein, das natürliche Träumen genauer zu betrachten. Der große Vorteil beim normalen nächtlichen Träumen ist, daß es befähigt, das Durcheinander des vergangenen Tages zu sichten und ad acta zu legen. Man denke an ein überbeschäftigtes Büro, mit Bergen von Unterlagen, Schriftstücken und Notizzetteln, die den ganzen Tag über hereinkommen. Die Schreibtische sind voller Aktenstöße. Die Angestellten können mit dem Zustrom an Information und Material nicht mehr Schritt halten. Die Zeit reicht nicht aus, alles noch bis Büroschluß sauber abzulegen. Sie gehen nach Hause und hinterlassen ein Durcheinander. Am nächsten Morgen gibt es wiederum zahllose Eingänge, und die Sache wächst ihnen rasch über den Kopf.
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Wenn wir tagsüber überstimuliert werden und unser Gehirn Unmengen von neuen Informationen aufnehmen muß, von denen viele einander widersprechen und nur schwer einzuordnen sind, gehen wir abends in etwa derselben Verfassung ins Bett, in der das Büro nach Dienstschluß zurückgelassen wird. Aber wir sind besser dran als die überarbeitete Belegschaft. Zu nachtschlafender Zeit nämlich kommt jemand in das Büro in unserem Schädel, sortiert, sichtet und legt alles fein säuberlich ab, und das Büro ist gerüstet für den Ansturm des nächsten Tages. Beim Menschen nennen wir diesen Vorgang im Gehirn Träumen. Der Schlaf bringt uns auch physische Erholung, aber kaum mehr, als wenn wir die ganze Nacht wach lägen. Im wachen Zustand jedoch könnten wir nicht richtig träumen. Die hauptsächliche Funktion des Schlafes ist also das Träumen und nicht das Ausruhen unserer müden Glieder. Wir schlafen, um zu träumen, und wir träumen fast die ganze Nacht. Morgens sind die eingelaufenen Informationen durchgesehen und eingeordnet, und wir wachen mit erfrischtem Kopf auf und können den nächsten Tag beginnen. Dann aber, wenn das Tagesleben allzu verworren ist, wenn wir intensiv überreizt werden, dann wird der normale Mechanismus des Träumens überbeansprucht. Dies führt dann zu einer starken Abhängigkeit von Narkotika, zum gefährlichen Wunsch nach dem Traum aus der Retorte. Bei den chemisch erzeugten Dämmer- und Trance347
zuständen haben wir die vage Hoffnung, die Drogen könnten etwas Ähnliches bewirken wie der Traumzustand. Aber wenn sie vielleicht auch insofern nützlich sein können, als sie den chaotischen Andrang aus der Außenwelt fernhalten, so scheinen sie doch für gewöhnlich nicht die positive Traumfunktion des Sichtens und Ordnens zu unterstützen. Sobald ihre Wirkung nachläßt, ist es vorbei mit der zeitweiligen negativen Erleichterung, und das Problem selbst bleibt, wie es gewesen ist. Diese Methode muß also enttäuschend bleiben, ja sie kann sogar eine zusätzliche Belastung durch Tablettensucht mit sich bringen Eine Variante hiervon ist das Streben nach dem, was wir »meditatives Träumen« nennen können, wobei der traumartige Zustand durch gewisse geistige Versenkungsübungen wie Yoga und dergleichen angestrebt wird. Die tranceartigen Zustände der Entrückung, die durch Yoga oder die Ekstase des Wudu-Kults von Haiti, die durch Hypnose und bestimmte magische und religiöse Praktiken hervorgerufen werden, haben einige Züge gemeinsam. Es gehören zu ihnen gewöhnlich fortgesetzte rhythmische Wiederholungen, entweder von Worten oder Bewegungen, und diese werden von einem Zustand der Interesselosigkeit für normale Außenreize abgelöst. Auf diese Weise können sie zum Abschalten der massiven und gemeinhin konflikthaltigen Eindrücke beitragen, unter denen das überreizte Individuum leidet. Insofern ähneln sie den verschiedenen Formen des Traums aus der Retorte, doch wissen wir noch recht wenig darüber, inwieweit sie viel348
leicht zusätzlich einen positiven Nutzen von der Art haben, wie ihn uns das gewöhnliche Träumen vermittelt. Wenn es dem Menschen nicht gelingt, einem längeren Zustand der Oberstimulierung zu entgehen, dann läuft er Gefahr, krank zu werden - seelisch und körperlich. Stresskrankheiten oder Nervenzusammenbrüche können, wenn man Glück hat, selbst heilsam wirken. Denn der Kranke ist durch seine Unfähigkeit zum aktiven Handeln gezwungen, massive Eindrücke abzuschirmen. Das Krankenbett wird zu dem, was für das Tier sein Versteck ist. Manche Menschen, die wissen, daß sie besonders anfällig für Überstimulierung sind, verfügen über ein Vorwarnsystem: Eine alte Narbe macht sich bemerkbar, die Mandeln schwellen, ein schlimmer Zahn tut weh, ein Hautausschlag tritt auf, kleine Zuckungen kommen wieder, oder man bekommt »seine« Kopfschmerzen. Viele Menschen leiden unter dieser oder jener kleineren Anfälligkeit solcher Art, die wirklich eher eine alte Freundin als eine alte Feindin ist, weil sie davor warnt, »die Dinge zu übertreiben«, ehe etwas Schlimmeres passiert. Wenn diese Menschen sich - wie es oft geschieht - überreden lassen, ihr kleines Übel »auszukurieren«, so sollten sie keine Angst haben, damit auch den Vorwarn-Effekt zu verlieren, denn aller Voraussicht nach wird bald ein anderes Symptom auftreten. Der Medizin ist dies unter dem Namen »Verlagerungssyndrom« bekannt.
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Es ist leicht genug zu begreifen, wie der Mensch des Superstammes von heute dazu kommt, unter seinem Zustand der Überlastung zu leiden. Als biologische Art sind wir ursprünglich mit unseren speziellen Erfordernissen des Überlebens vollauf beschäftigt gewesen; auch unsere Neugier hatte damit genug zu tun. Dafür sorgte schon die schwierige Rolle, die unsere Vorfahren als Jäger eines Stammesverbandes zu spielen hatten. Heute nun, wo unsere Umwelt so nachhaltig unter unserer Kontrolle steht, sind wir immer noch mit dem seit Urtagen in uns angelegten System hoher Betriebsamkeit und äußerster Neugierde ausgerüstet. Und obwohl wir eine Stufe erreicht haben, wo wir uns ohne weiteres auf die Bärenhaut legen und häufiger und länger faulenzen könnten, bringen wir das einfach nicht fertig. Statt dessen werden wir einfach dazu getrieben, das Ringen um die Reize fort und fort zu betreiben. Und weil dies eine (biologisch gesehen) erst neuartige Betätigung ist, sind wir noch keine perfekten Akteure und gehen entweder immer zu weit oder aber nicht weit genug. Und sobald wir dann merken, daß wir überaktiv und überstimuliert werden oder unterstimuliert und unteraktiv, pendeln wir vom einen schmerzhaften Extrem zum ändern und versuchen alles, was uns zur goldenen Mitte optimaler Stimulierung und optimaler Tätigkeit zurückbringen kann. Wer dabei Erfolg hat, steuert einen stetigen, mittleren Kurs; wir ändern lassen das Pendel nach beiden Seiten weit ausschwingen. 350
Zu Hilfe kommt uns in gewissem Umfang ein Prozeß allmählicher Anpassung. Der Mensch vom Lande (im Gegensatz zum Stadtmenschen), der sein ruhiges, friedliches Leben führt, gewöhnt sich an den niedrigen Pegel seiner Aktivität. Würde ein vielbeschäftigter Stadtmensch plötzlich in diese friedliche Ruhe versetzt, so käme ihm das sehr bald unerträglich öde vor. Dem Menschen vom Lande hingegen, versetzt in das Tohuwabohu des chaotischen Stadtlebens, wird das bald quälend anstrengend werden. Es ist schön, ein ruhiges Wochenende auf dem Land zu verbringen, als Ent-Reizung für den Stadtmenschen; und es ist großartig, einen Tag in der Stadt zu sein, als An-Reizung für den Landmenschen. Genau das entspricht den Prinzipien des Ausgleichs im Ringen um die Reize aber das braucht nur etwas länger zu dauern, und schon geht die Balance verloren. Interessant ist, daß wir viel weniger Mitgefühl für einen Menschen aufbringen, der sich nicht an einen niedrigen Aktivitäts-Pegel anpassen kann, als für jemanden, der sich nicht an einen hohen zu gewöhnen vermag. Ein gelangweilter, lustloser Mensch fällt uns eher auf die Nerven als ein gehetzter, überlasteter. Beiden aber mißlingt es, das Ringen um die Reize wirksam zu betreiben. Beide laufen Gefahr, ge-reizt und übellaunig zu werden - dem Überarbeiteten freilich sehen wir das viel bereitwilliger nach. Der Grund dafür ist der: Wenn der Pegel ein wenig zu hoch angesetzt wird, dann haben wir es mit Dingen zu 351
tun, die unsere Kultur voranbringen. Denn es sind gerade die intensiv Über-Neu-Gierigen, auf Neues Gierigen, die die großen Entdeckungen und Erfindungen machen und das Antlitz der Welt, in der wir leben, verändern werden. Diejenigen, die das Ringen um die Reize etwas ausgeglichener und erfolgreicher betreiben, sind natürlich ebenfalls neu-gierig; doch sie werden eher neue Varianten zu alten Themen beisteuern als völlig neue Themen. Sie werden dafür aber auch glücklicher und besser angepaßt leben. Vielleicht erinnert man sich an das, was ich eingangs gesagt habe: Der Einsatz in diesem Spiel ist hoch. Was für uns mit Gewinn und Verlust auf dem Spiel steht, ist unser Lebensglück, in extremen Fällen sogar Leib und Leben selbst. Die überexplorativen Neuerer müssen dementsprechend vergleichsweise unglücklich sein, ja sogar eine Tendenz zu geistigen Erkrankungen aufweisen. Wenn wir uns das Ziel des Ringens um die Reize vergegenwärtigen, dann müssen wir damit rechnen, daß solche Männer und Frauen trotz ihrer bedeutenderen Leistungen häufig ein rastloses, unbefriedigtes Leben führen. Die Geschichte bestätigt das offensichtlich. Unsere Schuld gegen sie tragen wir mitunter in Form der besonderen Toleranz ab, die wir ihrem oft launischen und abwegigen Benehmen entgegenbringen. Denn intuitiv sind wir uns darüber klar, daß dies
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eine unvermeidliche Begleiterscheinung der unausgeglichenen Art ist, in der sie das Ringen um die Reize betreiben. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, sind wir aber nicht immer so verständnisvoll.
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Das Kind im Manne In vieler Hinsicht ähnelt das Spielen der Kinder dem Ringen um die Reize bei den Erwachsenen. Die Eltern des Kindes kümmern sich um die Probleme seines Daseins, und so verbleibt dem Kind eine Menge überschüssiger Energie. In seinen Spielhandlungen wird diese Energie zu einem großen Teil verbraucht. Einen Unterschied jedoch gibt es: Wir haben gesehen, daß verschiedene Möglichkeiten gegeben sind, als Erwachsener das Ringen um die Reize zu betreiben; eine davon besteht im Erfinden neuer Verhaltensmuster. Beim Spielen ist dieses Element noch viel stärker. Denn dem heranwachsenden Kind wird buchstäblich alles, was es tut, zu einer neuen Erfindung. Seine Unerfahrenheit angesichts seiner Umwelt zwingt es praktisch dazu, sich einem ununterbrochenen Erfindungsprozeß hinzugeben. Alles ist neu. Mit jedem Spiel macht es eine Entdeckungsreise: Es entdeckt sich selbst, seine Möglichkeiten und Fähigkeiten und die Welt ringsum. Die Ausbildung der Findigkeit mag nicht der Zweck des Spielens sein, ist aber trotzdem dessen hervorstechendster Zug und seine wertvollste Mitgift. Die Erkundungen und Entdeckungen der Kindheit sind meist beiläufig und trivial. Sie bedeuten an sich nur wenig. Aber wenn das, was mit ihnen verbunden ist, der Sinn des Staunens und der Neugier, der Drang, zu suchen und zu finden und auszuprobieren - wenn all dies davor be354
wahrt werden kann, mit zunehmendem Alter abzunehmen, wenn es erhalten bleibt und das reife Ringen um die Reize bestimmt, indem es die weniger aussichtsreichen Alternativen in den Schatten stellt, dann ist eine entscheidende Schlacht gewonnen: die Schlacht um das Schöpferische, um die Kreativität. Schon viele Menschen haben sich über das Geheimnis des Schöpferischen den Kopf zerbrochen. Ich bin der Meinung, daß es im wesentlichen nichts anderes ist als die Ausweitung dieser elementaren kindhaften Eigenschaften ins Erwachsenenleben. Das Kind stellt neue Fragen; der »Mann«, d. h. der erwachsene Mensch, beantwortet alte Fragen; das Kind im Manne findet Antworten auf neue Fragen. - Das Kind ist erfinderisch; der Mann ist produktiv; das Kind im Manne ist im Erfinden produktiv. - Das Kind erforscht seine Umwelt; der Mann organisiert sie; das Kind im Manne ordnet seine Forschungen und verleiht ihnen Nachdruck, indem Ordnung in sie gebracht wird: Der Erwachsene wird schöpferisch. Es lohnt sich, dieses Phänomen genauer zu untersuchen. Wird ein Schimpansenjunges oder ein Kind in einen Raum gesetzt, in dem sich nur ein einziges ihm bekanntes Spielzeug befindet, so spielt es eine Weile damit und verliert dann das Interesse daran. Bekommt es, sagen wir, fünf verschiedene ihm bekannte Spielzeuge, so spielt es erst mit diesem, dann mit jenem, wendet sich also von einem zum 355
ändern. Ist nach einer Weile wieder das erste Spielzeug an der Reihe, so erscheint es als »neu« und ist abermals der Aufmerksamkeit des Spielens wert geworden. Wird andererseits ein unbekanntes neues Spielzeug angeboten, so lenkt es sofort die Aufmerksamkeit auf sich und bringt eine kräftige Wirkung hervor. Die Reaktion »Neues Spielzeug« ist das erste wesentliche Element des Schöpferischen, bedeutet aber nur eine Phase in diesem Prozeß. Der starke exploratorische Drang unserer Art veranlaßt uns, das neue Spielzeug zu untersuchen und es auf so vielerlei Weise auszuprobieren, wie es nur möglich ist. Mit dem Ende dieser Überprüfung ist uns das zuvor unbekannte Spielzeug zu etwas Vertrautem geworden. An dieser Stelle nun kommt unsere Findigkeit ins Spiel: Jetzt geht es darum, das neue Spielzeug verwendbar zu machen (oder das, was wir von ihm gelernt haben) und neue Probleme mit seiner Hilfe zu lösen. Wenn wir durch das Kombinieren mit Erfahrungen, die wir an verschiedenen Spielzeugen gemacht haben, mehr aus ihnen machen, als wir zu Anfang hatten, dann sind wir schöpferisch gewesen. Wird ein junger Schimpanse in einen Raum gesetzt, in dem sich zum Beispiel ein ganz gewöhnlicher Stuhl befindet, dann beginnt er zunächst damit, den Gegenstand zu untersuchen: Er klopft und hämmert an ihm herum, beschnuppert und beknabbert ihn und klettert hinauf. Nach 356
einer Weile machen diese eher zufälligen Aktionen einem planvolleren Vorgehen Platz. Der Affe kann zum Beispiel anfangen, über den Stuhl zu springen und ihn so als Turngerät benützen: Er hat einen Barren »erfunden« und eine neue gymnastische Übung »geschaffen«. (»Schaffen« und »schöpfen« sind verwandte Wörter.) Er wußte schon vorher über Gegenstände zu springen, aber noch nicht in dieser Weise. Indem er seine früheren Erfahrungen mit der Untersuchung dieses neuen Spielzeugs kombiniert, schafft er sich die neue Be-schäftigung (!) des rhythmischen Springens. Werden ihm später kompliziertere Vorrichtungen geboten, so wird er auch dann auf seinen früheren Erfahrungen aufbauen und dabei die neuen Elemente einbeziehen. Dieser Entwicklungsprozeß hört sich sehr einfach und geradlinig an, hält aber nicht immer, was er anfangs verspricht. Als Kinder machen wir alle den Prozeß des Erkundens, Erfindens und Erschaffens durch. Die höchste Stufe des Schöpferischen jedoch, zu der wir als Erwachsene gelangen, ist von Mensch zu Mensch drastisch verschieden. Im schlimmsten Fall, dann nämlich, wenn die Anforderungen der Umwelt allzu drückend sind, bleiben wir an jenen beschränkten Tätigkeiten haften, die wir gut kennen. Wir wagen keine Experimente. Wir haben weder Zeit noch Kraft zu verlieren. Erscheint die Umwelt zu bedrohlich, ziehen wir das Sichere dem Gewagten vor: Wir fallen in die Sicherheit alterprobter, wohlbekannter 357
Routinehandlungen zurück. Die Umweltsituation muß sich erst so oder so ändern, ehe wir den Mut finden, wieder etwas neugieriger, exploratorischer zu werden. Erkunden bedeutet Ungewißheit, und Ungewißheit bedeutet Angst. Nur zwei Dinge helfen uns diese Angst überwinden. Sie sind sich diametral entgegengesetzt. Das eine ist katastrophales Unglück, das andere eine deutlich verstärkte Sicherheit. Ein Rattenweibchen zum Beispiel, das einen großen Wurf aufzuziehen hat, steht unter erheblichem Druck. Es arbeitet ununterbrochen, um die Nachkommenschaft zu füttern, zu putzen und zu schützen. Die Ratte hat also wenig Zeit zu Erkundungen. Bricht aber das Unheil über sie herein - indem etwa das Nest von Wasser überflutet oder sonstwie zerstört wird -, ist sie zu einem geradezu panischen Erkundungszwang getrieben. Wenn sie andererseits ihre Jungen mit Erfolg großgezogen und einen ansehnlichen Futtervorrat gesammelt hat, dann läßt der Druck nach, und sie ist, aus einer Situation größerer Sicherheit heraus, in der Lage, mehr Zeit und Kraft auf das Erkunden ihrer Umwelt zu wenden. Es gibt also grundsätzlich zwei Arten von Erkunden: die panische Erkundung und die Erkundung aus gesicherter Position heraus. Beim Lebewesen Mensch ist es genauso. Unter dem wild chaotischen Druck eines Krieges wird eine menschliche Gemeinschaft zur Findigkeit gezwungen, um das bevorstehende Unheil zu bannen. Umgekehrt kann eine erfolgreiche, blühende Gemeinschaft hochgradig 358
neu-gierig sein, indem sie von der starken Basis erhöhter Sicherheit aus operiert. Die Gemeinschaft, die sich nur eben so dahinschleppt und herumpusselt, wird wenig oder gar keinen Auftrieb zum Erkunden und Erforschen aufbringen. Ein Blick auf die Geschichte unserer Spezies läßt mit Leichtigkeit erkennen, wie diese beiden Formen des Erkundens beim Vorantreiben des Fortschritts mitgewirkt haben. Als unsere Urahnen die Annehmlichkeiten eines Daseins als Früchtesammler im Urwald aufgaben und sich ins offene Land der Steppe wagten, gerieten sie in ernsthafte Schwierigkeiten. Die extremen Anforderungen ihrer neuen Umwelt zwangen sie dazu, entweder erfinderisch zu sein oder aber unterzugehen. Erst als sie sich zu erfolgreichen, aufeinander eingespielten Jägern entwickelt hatten, ließ der Druck etwas nach. Damit befanden sie sich wieder im »Pusselstadium« - mit dem Erfolg, daß die Verhältnisse sich sehr lange Zeit erhielten, Tausende und aber Tausende von Jahren hindurch, in denen der technische Fortschritt nur unvorstellbar langsam vorankam und selbst einfache Verbesserungen, zum Beispiel an Geräten und Waffen, Hunderte von Jahren brauchten, ehe man einen kleinen Schritt weiter erreicht hatte. Schließlich aber verbesserte sich die Lage in dem Maß, wie sich allmählich der primitive Feldbau herausbildete und die Umwelt immer mehr unter die Kontrolle unserer Ahnen kam. Wo dies besonders gut gelang, entstanden Städte - eine Schwelle war überschritten, die zu neuer und 359
spürbar angewachsener sozialer Sicherheit führte. Mit ihr kam es zu einem wahren Ansturm von Erfindungen und Entdeckungen der anderen Art - der Erkundungen aus der gesicherten Position heraus. Dies wiederum führte zu immer neuen, erregenden Entwicklungen, zu neuer Sicherheit und zu neuen Entdeckungen. Leider aber war die Sache damit nicht abgetan. Der Aufstieg des Menschen zur Zivilisation wäre eine viel schönere Sache, wenn es sich nur so verhalten hätte. Aber bedauerlicherweise entwickelten sich die Dinge zu rasch, und das Pendel begann wie verrückt zwischen Erfolg und Unheil hin und her zu schwingen — wie wir das schon im ganzen Buch gesehen haben. Weil wir viel mehr Geister gerufen haben, als wir unserer biologischen Ausstattung nach bändigen konnten, sind unsere großartigen neuen sozialen Errungenschaften und Strukturen ebensooft mißbraucht wie richtig gebraucht worden. Unsere Unfähigkeit, auf vernünftige Weise mit dem Superstatus und der Supermacht fertig zu werden, wie die Verhältnisse des Superstammes sie uns aufladen, hat zu neuen, noch schnelleren, noch provokativeren Katastrophen geführt, als wir sie je kannten: Kaum hatte ein Superstamm in einer Phase beträchtlichen Wohlstands Ruhe gefunden, kaum arbeitete das Erkunden aus der Sicherheit heraus in voller Intensität, kaum waren wunderbare Formen des Schöpferischen am Erblühen, als auch schon irgend etwas schiefging. Eroberer, Tyrannen, Aggressoren zerschlugen das emp360
findliche Instrument von komplizierten neuen Sozialstrukturen, und damit war die panische Erkundung bereits wieder in vollem Umfang da. Für jede neue konstruktive Erfindung gab es eine entsprechende destruktive - hin und her, her und hin, zehntausend Jahre lang, und so geht es noch heute: Der Schrecken der Atomwaffen hat uns den Glanz der Atomenergie beschert. Vielleicht beschert uns der Glanz der biologischen Forschung den Schrecken des biologischen Krieges. Zwischen beiden Extremen aber gibt es immer noch Millionen von Menschen, die das einfädle Leben urtümlicher Ackerbauern führen und die Scholle so bestellen wie unsere Altvordern. In einigen Gegenden gibt es auch heute noch primitive Jäger. Auf der »Pusselstufe« stehengeblieben, sind sie typisch un-erfinderisch: Wie die noch lebenden großen Menschenaffen Schimpanse, Gorilla und Orang-Utan besitzen sie zwar das Potential zum Erfinden und Erforschen, aber es wird nicht in nennenswertem Ausmaß genutzt. Versuche mit gefangenen Schimpansen haben erwiesen, wie rasch man sie dazu ermutigen kann, ihr exploratorisches Potential zu nutzen: Sie können Maschinen bedienen, Bilder malen und im Experiment allerlei Aufgaben lösen; im freien Leben dagegen erlernen sie nicht einmal das Errichten einfacher Behausungen, um sich vor dem Regen zu schützen. Bei ihnen ist, wie bei den einfacheren Formen menschlicher Gesellschaften, durch das »Pusseldasein« - nicht zu leicht und nicht zu schwer 361
jeder Erfindungstrieb abgestumpft. Bei uns anderen hingegen löst ein Extrem das andere ab, und wir erfinden andauernd, entweder aus einem Übermaß an Panik oder aus einem Übermaß an Sicherheit. Von Zeit zu Zeit gibt es immer wieder Leute, die einen sehnsüchtigen Blick zurück zu dem »einfachen Leben« primitiver Gemeinschaften werfen und sich wünschen, wir hätten den alten Garten Eden nie verlassen. Dann und wann hat man sogar ernsthaft versucht, solche Gedanken in die Tat umzusetzen. So sehr man aber mit solchen Projekten sympathisieren mag - wir müssen uns klar darüber sein, daß sie mit Schwierigkeiten geradezu überladen sind. Die solchen pseudoprimitiven »Flucht«-Gemeinschaften, wie sie jüngst in Nordamerika und anderswo entstanden sind, innewohnende Künstlichkeit macht ihre Hauptschwache aus. Immerhin setzen sie sich ja aus Individuen zusammen, die die Anregungen und Erregungen des Lebens im Superstamm ebenso gekostet haben wie die Schrecken. Sie sind ihr Leben lang an einen hohen Grad jeistiger Aktivität gewöhnt worden. Und damit haben sie in gewissem Sinne ihre soziale Unschuld verloren - und der Verlust der Unschuld ist nun einmal ein nicht umkehrbarer Prozeß. Zu Anfang mag sich bei den Neoprimitiven alles gut anlassen. Aber das täuscht. Denn was in Wirklichkeit geschieht, ist folgendes: Die Rückkehr zum einfachen Leben 362
stellt für den ehemaligen Insassen des Menschen-Zoos eine enorme Herausforderung dar. Theoretisch mag seine neue Rolle sich ganz simpel ausnehmen. In der Praxis jedoch neckt sie voller faszinierender neuartiger Probleme. Und so wird die Errichtung einer pseudoprimitiven Gemeinschaft durch eine Gruppe ehemaliger Städter in der Tat zu einem großen Akt des Erkundens, Erforschern, Probierens! Dies, und nicht die angebliche Rückkehr zu edler Schlichtheit, läßt das Unternehmen so befriedigend werden, wie schon jeder Pfadfinder bezeugen kann. Was geschieht aber, wenn die erste Herausforderung bewältigt, der erste Anreiz vorbei ist? Ob es sich um eine abgeschlossene Gruppe draußen auf dem Land oder in einer Höhle handelt, ob um eine sich selbst isolierende pseudoprimitive Gruppe, die sich auf eine »Insel« inmitten der Großstadt zurückzieht - die Antwort ist stets dieselbe: Enttäuschung stellt sich ein, sobald die Eintönigkeit anfängt, das Gehirn zu belasten - jenes Gehirn, das unwiderruflich an ein höheres Niveau gewöhnt ist, das des Superstammes nämlich. Entweder bricht die Gruppe zusammen, oder sie be ginnt von sich aus aktiv zu werden. Ist die neue Tätigkeit erfolgreich, wird die Gemeinschaft bald entdecken, daß sie sich zu organisieren und zu erweitern beginnt: Im Handumdrehen ist sie wieder mitten drin im alten Gehetze des Superstammes.
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Es ist schwierig genug, sich im zwanzigsten Jahrhundert als echte primitive Gesellschaft nach Art der Eskimos oder anderer Ureinwohner am Leben zu erhalten - wieviel schwieriger muß es dann für eine pseudoprimitive Gesellschaft sein. Selbst die von jeher besonders widerstandsfähigen Zigeuner erliegen allmählich der gnadenlosen Ausbreitung des Menschen-Zoos. Die Tragödie für all jene, die ihre Schwierigkeiten durch Rückkehr zum einfachen Leben zu lösen trachten, besteht darin, daß sie, selbst wenn es ihnen gelänge, ihr hochtrainiertes Gehirn zu »enttrainieren«, dennoch innerhalb ihrer kleinen rebellierenden Gemeinschaften immer noch außerordentlich anfällig blieben. Der Menschen-Zoo hätte es schwer, sie sich selbst zu überlassen. Entweder würde man sie als Attraktion für den Fremdenverkehr ausnutzen, wie das heutzutage mit so vielen echten Primitiven geschieht, oder sie würden, wenn sie sich zu einem Stein des Anstoßes entwickelt hätten, angegriffen und aufgelöst. Vor dem Monstrum Superstamm gibt es kein Entrinnen. Deshalb sollten wir gleich versuchen, das Beste aus dieser Situation herauszuholen. Wenn wir also, wie es doch der Fall zu sein scheint, zu einer sehr komplizierten sozialen Existenz verurteilt sind, dann besteht der Trick darin, dafür zu sorgen, daß wir uns ihrer bedienen und nicht umgekehrt. Wenn wir schon gezwungen sind, das Ringen um die Reize mitzumachen, dann kommt es entscheidend darauf an, die aussichtsreichste Methode 364
hierfür zu finden. Wie schon angedeutet, ist der beste Weg dazu, dem Prinzip des Explorativ-Schöpferischen, Erfinderischen den Vorrang zu geben, und zwar nicht widerwillig, wie die Neoprimitiven es tun, die sich nur allzubald in einer explorativen Sackgasse sehen werden, sondern entschlossen, indem wir unsere Erfindungskraft auf den Hauptstrom unserer Superstammes-Existenz lenken. Setzen wir einmal voraus, jeder Mensch im Superstamm könnte frei wählen, auf welche Art und Weise er das Ringen um die Reize betreibt. Dann bleibt zu fragen, warum er nicht viel öfter zu der mit dem Erfinderischen gegebenen Lösung greift. Bei dem enormen schöpferischen Potential, das in seinem Kopf brachliegt, und mit den Erfahrungen einer Kindheit des spielerischen Entdeckens müßte er doch theoretisch dieser Lösung den Vorzug vor allen anderen geben. In jeder gesunden SuperstammesStadt müßten demnach eigentlich alle Bürger potentielle »Erfinder« sein. Warum geben sich dann aber so wenige einer schöpferischen Betätigung hin, während die anderen sich damit begnügen, deren Erfindungen aus zweiter Hand zu genießen, sie auf dem Bildschirm zu betrachten, oder sich damit zufriedengeben, einfache Spiele oder Sportarten zu treiben, bei denen die Möglichkeiten des Erfinderischen genau umrissen sind? Sie haben doch anscheinend alle die notwendigen Voraussetzungen für das »Kind im Manne«. Der Superstamm, einem gigantischen Muttertier gleichend, beschützt sie und sorgt für sie; war365
um also entwickeln sie nicht alle dieselbe, immer größere und immer stärkere kindliche Neugier? Zum Teil läßt sich diese Frage damit beantworten, daß die Kinder den Erwachsenen untergeordnet sind. Und unvermeidlich suchen die Übergeordneten das Verhalten der ihnen Untergeordneten unter Kontrolle zu halten. Mögen die Erwachsenen ihre Kinder noch so sehr lieben - sie können gar nicht anders, als in ihnen die immer größer werdende Bedrohung ihrer eigenen Ranghöhe zu sehen. Sie wissen, daß sie schließlich, alt und schwach geworden, ihnen den Platz räumen müssen. Und sie tun alles nur Erdenkliche, um diesen schwarzen Tag hinauszuschieben. Daher also stammt die starke Tendenz, die Erfindungsgabe bei Angehörigen der Gemeinschaft, die jünger sind, als man selbst ist, zu unterdrücken. Dem entgegen wirkt allerdings die hohe Schätzung ihrer »blanken Augen« und ihres frischen schöpferischen Sinnes. Aber es bleibt eine harte Auseinandersetzung. Zu der Zeit jedenfalls, wo die neue Generation so weit gediehen ist, daß ihre Vertreter sehr einflußreiche »Kinder im Manne« darstellen könnten, sind diese selbst bereits mit einer erheblichen Konformität belastet. So sehr sie auch dagegen ankämpfen mögen - sie selbst stehen ihrerseits der Bedrohung durch eine jüngere Generation gegenüber, die neben ihnen heranwächst, und so 366
beginnt der Prozeß der Unterdrückung von neuem. Nur jene seltenen Individuen, die eine von diesem Standpunkt aus ungewöhnliche Kindheit erleben, sind fähig, im späteren Erwachsenenleben ein höheres Niveau des Schöpferischen zu erreichen. Wie ungewöhnlich muß eine solche Kindheit sein? Die Unterdrückung muß entweder so stark sein, daß das heranwachsende Kind gegen die Tradition der Älteren massiv rebelliert (viele unserer größten schöpferischen Talente waren sogenannte Jugenddelinquenten), oder sie muß so frei von Unterdrückung sein, daß die schwere Hand der Konformität ihr nur leicht auf der Schulter liegt. Wird ein Kind streng bestraft für seine »Erfindungen« (die ja von Natur aus wesentlich rebellisch sind), kann es womöglich in seinem Leben als Erwachsener das Versäumte nachholen. Wird ein Kind aber für seine »Erfindungen« gut belohnt, dann braucht es seine Gabe nie zu verlieren, gleichgültig, welchem Druck es in späteren Jahren auch ausgesetzt ist. Beide Typen können mit der Gesellschaft der Erwachsenen in Konflikt geraten; der zweite jedoch wird vermutlich weniger unter den erzwungenen Beschränkungen seiner schöpferischen Leistungen zu leiden haben. Den weitaus meisten Kindern wird natürlich eine besser ausgewogene Mischung von Lohn und Strafe für ihre Erfindungen zuteil, und so treten sie in das Leben der Erwachsenen als Persönlichkeiten ein, die gleichmäßig ebenso schöpferisch wie konformistisch sind. In solchen 367
Erwachsenen steckt sozusagen der »Mann im Manne«: Sie neigen eher dazu, die Zeitung zu lesen, als für das Neue zu sorgen, das darin steht. Ihr Verhältnis zum Kind im Manne ist zwiespältig; auf der einen Seite klatschen sie ihm Beifall, weil es dafür sorgt, daß die Quellen des so dringend benötigten Neuen lustig sprudeln; auf der ändern Seite aber sind sie neidisch. Das schöpferische Talent findet sich also von der Gesellschaft auf verwirrende Weise abwechselnd gepriesen und verdammt, und so ist es sich über seine Anerkennung durch die übrige Gemeinschaft beständig im Zweifel. Die moderne Pädagogik hat sich viel Mühe gegeben, die Erfindungsgabe zu fördern. Aber auch unser Erziehungswesen hat noch einen langen Weg zurückzulegen, ehe es sich selbst befreit von dem Drang, das Schöpferische zu unterdrücken. Es ist (von der biologischen Anlage her) geradezu unvermeidlich, daß helle Studenten von den älteren Akademikern als Bedrohung angesehen werden, und so bedarf es großer Selbstbeherrschung seitens der Lehrer, dies nicht zu tun: Das Erziehungssystem ist darauf angelegt, ihnen das leichtzumachen. Aber ihre Natur macht es ihnen als »ranghohen Männchen« nicht leicht - angesichts dieser Situation ist es doch recht bemerkenswert, daß ihnen die Selbstkontrolle überhaupt so gut gelingt. Hier besteht übrigens ein Unterschied zwischen der Schule und der Universität: In den meisten Schulen ist die Überlegenheit des Lehrers über die Schüler mit erheblichem Nachdruck 368
festgelegt, sowohl sozial wie geistig. Der Lehrer bedient sich seiner größeren Erfahrung, um mit der größeren Findigkeit fertig zu werden. Sein Hirn ist wahrscheinlich schon etwas starrer und verhärteter als das ihre, aber er tarnt seine Schwäche, indem er den Schülern große Mengen von »harten« Tatsachen an den Kopf wirft. Es gibt keine Diskussion, sondern nur Instruktion: Belehrung. (Die Lage bessert sich allerdings, und es gibt natürlich auch Ausnahmen; aber im allgemeinen sieht der Regelfall doch noch so aus.) Auf der Universität verwandelt sich die Szene. Zwar gibt es der Zahl nach sehr viel mehr Tatsachen, die weiterzureichen sind, aber sie sind nicht ganz so »hart«. Vom Studenten wird nunmehr erwartet, daß er sie bezweifelt und abwägt, unter Umständen sogar eigene Ideen entwikkelt. Auf beiden Ebenen jedoch, in der Schule und an der Universität, spielt sich unter der Oberfläche noch etwas anderes ab - etwas, das nur noch wenig mit der Förderung des sich entfaltenden Geistes zu tun hat, sehr viel hingegen damit, den Jungen ein Gefühl der Zugehörigkeit zum Superstamm aufzuoktroyieren. Um dies zu verstehen, müssen wir einen Blick auf das werfen, was sich in den Gesellschaften mit einfacherer Stammesstruktur abgespielt hat und noch abspielt. In vielen Kulturen werden die Kinder, wenn sie in die Pubertät kommen, sehr eindrucksvollen Initiationsriten 369
unterworfen. Man trennt sie von den Eltern und hält sie in Gruppen beieinander. Sodann müssen sie sich schweren Prüfungen unterziehen, zu denen oft auch Quälereien und Verstümmelungen gehören. An den Geschlechtsteilen werden Operationen vorgenommen, der Körper wird zerkratzt, versengt, gepeitscht, von Ameisen zerbissen. Zugleich werden die solchen Ritualen Unterworfenen in die Geheimnisse des Stammes eingeweiht. Ist das Ritual vollzogen, gelten sie als erwachsene Mitglieder der Gesellschaft. Bevor wir untersuchen, was das mit den Ritualen moderner Ausbildung zu tun hat, ist die Frage wichtig, welchen Wert diese doch anscheinend schädigenden Maßnahmen haben. In erster Linie isolieren sie das reifende Kind von den Eltern. Bis dahin hatte es stets zu ihnen gehen und sich trösten lassen können, wenn es Schmerzen und Kummer hatte. Jetzt muß das Kind zum erstenmal Schmerz und Angst in einer Situation erdulden, in der die Eltern nicht mehr zu Hilfe gerufen werden können. (Die Initiationsriten werden gewöhnlich in strenger Abgeschiedenheit nur durch die Stammesältesten vollzogen, wobei der Rest des Stammes ausgeschlossen ist.) Dies trägt dazu bei, in dem Kind das Gefühl der Abhängigkeit von den Eltern zu erschüttern und seine Anhänglichkeit von der Familie und der elterlichen Wohnung weg auf die Stammesgemeinschaft als Ganzes zu lenken. Die Tatsache, daß ihm zugleich gestattet wird, Anteil zu haben an den 370
Stammesgeheimnissen der Erwachsenen, fördert diesen Prozeß, indem sie einem neuen Gefühl, Teil des Stammes zu sein und zu ihm zu gehören, einen festen Inhalt gibt. Zweitens trägt die Gewaltsamkeit, von der seine Einweihung begleitet wird, dazu bei, ihm die Stammeslehre mit allen Details ins Hirn zu brennen. So wie es für uns unmöglich ist, Einzelheiten einer traumatischen Erfahrung, etwa eines Verkehrsunfalles, zu vergessen, so wird der Initial bis zum Tage seines Todes die Geheimnisse nicht vergessen, die ihm bei der von Angsterlebnissen erfüllten Gelegenheit der Einweihung anvertraut worden sind. Die Initiation ist in gewisser Weise ein ausgeklügelter traumatischer Unterricht. Drittens wird dem Halberwachsenen unmißverständlich klargemacht, daß er zwar nunmehr in den Rang der Älteren aufsteigt, aber auch dies durchaus noch in der Rolle eines Untergeordneten. Die intensive Macht, die sie über ihn ausgeübt haben, wird ebenfalls in lebhafter Erinnerung bleiben. Moderne Schulen und Hochschulen setzen ihre Schüler wohl nicht mehr den Bissen von Ameisen aus, und doch zeigt das Erziehungssystem von heute auf mannigfache Weise schlagende Ähnlichkeiten mit den Prozeduren einstiger Stammes-Initiation. Zunächst einmal werden die Kinder den Eltern weggenommen und SuperstammesÄltesten ausgeliefert - den Akademikern, die sie in die Geheimnisse des Superstammes einweisen. In manchen Kulturen verlangt man noch heute das Tragen einer be371
sonderen Uniform, um die so Gekennzeichneten von den anderen abzusetzen und ihre neue Abhängigkeit zu verstärken. Mitunter werden sie auch ermuntert, an gewissen Ritualen teilzunehmen, etwa dem Absingen von Schulund Universitätsliedern. Die schweren Prüfungen des Initiationszeremoniells hinterlassen zwar keine physischen Narben mehr. (Die deutschen »Schmisse« haben nie wirklichen Anklang gefunden.) Aber körperliche »Prüfungen« weniger einschneidender Art haben sich bis in die jüngste Gegenwart hinein praktisch überall gehalten, und zwar in Gestalt des Hintern-Versohlens. Wie die genitalen Verstümmelungen bei Riten im Stamm hat diese Art der Bestrafung stets einen sexuellen Beigeschmack gehabt und ist vom Phänomen des Status-Sex nicht zu trennen. In Ermangelung gewaltsamerer Prüfungsmethoden, die von den Lehrern stammen, übernehmen oft ältere Schüler die Rolle der Stammesältesten und tun den »Neuen« ihre eigenen Quälereien an. Diese sind von Ort zu Ort verschieden. In einer (englischen) Schule zum Beispiel werden Neuankömmlinge »gegrast«, wobei man ihnen Grasbüschel in die Kleidung stopft. In einer ändern werden sie »gesteinigt«, d. h. über einen Steinklotz gelegt und verprügelt. In einer dritten müssen sie einen langen Gang vorbei an älteren Schülern hinunterrennen, die ihnen im Vorüberlaufen Stöße und Püffe versetzen. Anderswo ist es Usus, die »Neuen« an Armen und Beinen festzuhalten und so viele Male auf den Boden zu »prellen«, wie sie 372
Lebensjahre haben. Oder der »Neue« wird an dem Tag, an dem er zum erstenmal seine Schultracht angelegt hat, von jedem älteren Schüler für jedes neue Kleidungsstück einmal in die Haut gezwickt. In selteneren Fällen ist die Prüfung viel komplizierter - sie nähert sich dann fast einer richtigen Stammes-Initiation. Im Gegensatz zur Situation im primitiven Stamm kann einen solcherart Gequälten nichts hindern, bei seinen Eltern Trost zu suchen; das kommt jedoch kaum einmal vor, weil es den, der es täte, unweigerlich in Verruf bringen würde. Viele Eltern haben überhaupt keine Ahnung von den Prüfungen, die ihre Kinder durchmachen müssen: Die uralte Methode, das Kind seinem Elternhaus zu entfremden, hat bereits ihren unheimlichen Zauber wirken lassen. Derlei inoffizielle Initiationsriten haben sich also noch hier und da gehalten. Die offizielle Züchtigung mit dem Rohrstock des Lehrers jedoch, wie sie in England noch üblich ist, hat auch dort neuerdings an Boden verloren, und zwar dank dem Druck der öffentlichen Meinung und der veränderten Vorstellungen mancher Lehrer. Aber wenn auch die offizielle Strafe durch physische Mittel verschwindet, so bleibt immer noch die Möglichkeit einer geistig-seelischen Prüfung: Buchstäblich im gesamten Bereich der modernen Erziehung gibt es heute eine höchst wirksame und eindrucksvolle Form von Superstammesinitiation, die den vielsagenden Namen »Examen« trägt. 373
Diese spielt sich in der drückenden Atmosphäre eines durchritualisierten Vorgangs ab, wobei die Schüler von jeder äußeren Hilfe abgeschnitten sind. Sie müssen für sich bleiben und für sich leiden. Bei jeder anderen Gelegenheit können und dürfen sie Gebrauch von Handbüchern und Nachschlagewerken machen oder fragliche Punkte miteinander erörtern - nicht aber während der unter Ausschluß der Öffentlichkeit zelebrierten Rituale des gefürchteten Examens. Die Prüfung wird außerdem verschärft durch die Festsetzung eines genauen Zeitplanes sowie dadurch, daß alle schwierigen Examina in der kurzen Zeit einiger Tage oder Wochen zu absolvieren sind. Der Gesamteffekt dieser Maßnahmen erzeugt ein beträchtliches Maß an geistiger Pein und erinnert damit wiederum an die Stimmung bei primitiveren Initiationen im Verband des Stammes. Ist auf der Hochschule das letzte Examen vorüber, so sind die Studenten, die »bestanden« haben, als Angehörige der »Sektion Erwachsene« des Superstammes qualifiziert. Sie legen ausgetüftelte Status-Kleidung an und nehmen an einem weiteren Ritual teil, genannt »Verleihung des akademischen Grades«, und zwar in Gegenwart der akademischen Ältesten, die ihrerseits eine noch eindrucksvollere und aufregendere Kleidung tragen.
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Die Phase des Studiums dauert (in England) gewöhnlich drei Jahre, was für Initiationen ein langer Zeitraum ist. Für manche ist er zu lang. Das Abgeschnittensein von der elterlichen Hilfe und der beruhigenden Umwelt des Heims (wie es durch den Zwang zum Wohnen im Hochschulgelände bedingt ist), dazu die sich abzeichnenden Anforderungen der Examensprüfung - all das erweist sich für den jungen Prüfling oftmals als zu viel. An britischen Universitäten suchen etwa zwanzig Prozent der noch nicht Graduierten während ihres dreijährigen Studiums die Hilfe eines Psychiaters. Für einige wird die Situation unerträglich, Selbstmordversuche sind ungemein häufig der Universitätsdurchschnitt liegt drei- bis sechsmal höher als der Landesdurchschnitt in derselben Altersgruppe. In Oxford und Cambridge ist die Selbstmordrate sogar sieben- bis zehnmal so hoch. Ganz offensichtlich haben die Prüfungen im Verlauf und am Ende der Ausbildung, wie sie hier beschrieben worden sind, nur noch wenig zu tun mit dem Ermutigen und Fördern des Spieltriebs, der Findigkeit und des Schöpferischen der Kindheit. Statt dessen haben sie, wie die primitiven Stammes-Initiationen, die eine Identifizierung mit dem Stamm aufzwingen, zu tun mit dem Aufoktroyieren des Gefühls der Zugehörigkeit zum Superstamm. Als solche spielen sie eine bedeutsame bindende Rolle. Die Entwicklung des schöpferischen Intellekts aber ist denn doch etwas ganz anderes. 375
Eine der Entschuldigungen, die man für die rituellen Prüfungen in der Ausbildung von heute bringt, besagt, einzig und allein auf diese Weise sei gewährleistet, daß die Studenten die enormen Mengen an verfügbaren Fakten auch wirklich mitbekommen. Daran ist richtig, daß detaillierte Kenntnisse und spezielle Fertigkeiten in unserer Zeit unumgänglich sind, ehe der Erwachsene beginnen kann, wirklich schöpferisch zu sein. Richtig ist auch, daß die Rituale der Examina Mogeleien verhindern. Außerdem könnte man vorbringen, daß die Studenten ganz bewußt dem Stress der Prüfung auszusetzen seien, um so ihr Stehvermögen zu prüfen: Das Leben als Erwachsener bringt nicht weniger Stress mit sich, und wenn der Student unter der Anspannung von Prüfungen zusammenklappt, dann ist er vermutlich auch nicht gewappnet, dem später auf ihn zukommenden Druck standzuhalten. Das ist alles sehr plausibel, und doch bedauert man die schöpferischen Möglichkeiten, die unter den schweren Stiefel der Ausbildungsund Prüfungsrituale getreten werden. Es ist gar nicht zu bestreiten, daß das gegenwärtige System beträchtliche Vorteile gegenüber früheren Ausbildungsmethoden bietet und daß für jene, die die Prüfungen - man kann schon sagen: überleben, vieles bereitliegt, das geeignet ist, das Exploratorische zu nähren. In unseren heutigen Superstämmen gibt es mehr erfolgreiche »Kinder im Manne« als je zuvor. Und dennoch gibt es auf vielen Gebieten noch immer die drückende Atmosphäre eines emotionsbedingten Widerstandes gegen gute Einfälle und neue Ideen: Die 376
Ranghohen unterstützen lediglich den bescheidenen Einfallsreichtum in Form neuer Varianten zu alten Themen, widersetzen sich jedoch anspruchsvollen Einfällen, die völlig neue Themen anklingen lassen. Ein Beispiel nur: Es ist frappierend, wie wir immer noch versuchen, etwas so Überholtes »fortzuentwickeln«, wie es die gegenwärtigen Kraftfahrzeugmotoren sind. Dabei spricht doch alles dafür, daß diese Motoren im 21. Jahrhundert ebenso antiquiert sein werden wie Pferd und Wagen heute. Wenn dies eine (wenn auch große) Wahrscheinlichkeit ist und noch nicht vollständig sicher, so rührt dies lediglich daher, daß bis zum Augenblick die besten Köpfe aus der Autobranche emsig darüber brüten, wie sich winzige Verbesserungen an den vorhandenen Motoren erzielen lassen, statt daß sie gleich nach etwas völlig Neuem suchen. Diese Tendenz zur Kurzsichtigkeit im exploratorischen Verhalten der Erwachsenen ist aber ein Gradmesser für die Unsicherheit in einer friedlichen Gesellschaft. Wenn wir aber noch weiter vorankommen ins Atomzeitalter, werden wir vielleicht solche Gipfel an Sicherheit im Superstamm erreichen oder aber in solche Abgründe von Superstamm-Panik fallen, daß wir in zunehmendem Maße exploratorisch, erfinderisch und schöpferisch werden. Dies wird jedoch keine leichte Sache sein, wie die jüngsten Ereignisse an den Universitäten in aller Welt deutlich 377
zeigen. Die verbesserten Ausbildungsmethoden sind bereits so wirksam geworden, daß viele Studenten nicht mehr willens sind, die Autorität der Älteren widerspruchslos zu akzeptieren. Darauf aber war die Gemeinschaft nicht gefaßt, und nun ist sie davon überrascht worden — mit dem Erfolg, daß die Gesellschaft voller Empörung ist, sobald Gruppen von Studenten sich in lärmenden Protesten bemerkbar machen. Die Autoritäten sind entsetzt: So eine Undankbarkeit! Was ist da falsch gelaufen? Wenn wir schonungslos ehrlich gegen uns selber sind, ist die Antwort nicht schwer zu finden. Sie ist bereits in den offiziellen Lehrmeinungen eben dieser Autoritäten enthalten. Angesichts der Unruhe sollten sie über die gewiß unbequeme Tatsache nachdenken, daß sie sich diese selbst zuzuschreiben haben. Denn sie haben sie buchstäblich herausgefordert - heraus-gefordert aus ihren Schülern: »Selber denken macht frei«, haben sie gesagt, und »sei einfallsreich, sei erfinderisch, sei schöpferisch«. Und haben, sich selber widersprechend, im selben Atemzug hinzugesetzt: »Aber nach unseren Regeln, auf unsere Weise, und überhaupt vor allem nach unseren Ritualen!« Auch eine senile Autorität müßte einzusehen vermögen, daß, je mehr die erste Aufforderung befolgt wird, desto mehr die zweite überhört wird. Leider aber hat das Lebewesen Mensch das bemerkenswerte Talent, sich dem auf der Hand Liegenden gegenüber, sofern es besonders 378
unangenehm ist, blind zu stellen, und gerade dieser Vorgang des Selbst-blendens ist die Ursache so vieler gegenwärtiger Probleme. Als die Autoritäten zu vermehrter Findigkeit und Schöpferkraft aufriefen, haben sie nicht geahnt, wie gewaltig die darauf folgende Reaktion sein würde, und so geriet diese rasch außer Kontrolle. Man hat sich offenbar nicht klargemacht, daß man zu etwas ermunterte, das ohnedies bereits über einen starken biologischen Rückhalt verfügt. Irrtümlicherweise sah man in Einfallsreichtum und Gefühl für schöpferische Verantwortlichkeit Eigenschaften, die einem jungen Gehirn noch fremd seien, während sie doch in Wahrheit gerade dort die ganze Zeit, wenn auch unentdeckt, bereits lagen und nur darauf warteten, bei der nächstbesten Gelegenheit hervorzubrechen. Die altmodischen Erziehungsmethoden hatten also, wie ich gezeigt habe, nach besten Kräften diese Eigenschaften dadurch unterdrückt, daß sie viel zu sehr Gehorsam gegen die etablierten Spielregeln der Älteren erwarteten; sie hatten rücksichtslos das papageienhafte »Lernen« vorgefertigter, verfestigter Dogmen erzwungen. Und so mußten Einfallsreichtum und Schöpfergabe selber sehen, wie sie fertig wurden, und konnten sich nur in vereinzelten Ausnahmemenschen an die Oberfläche arbeiten. War ihnen aber der Durchbruch einmal gelungen, so erwies sich ihr gesellschaftlicher Wert als unbestreitbar - und genau 379
dies hat schließlich zu der heute sichtbaren Bewegung innerhalb jener Kräfte des Establishments geführt, die den Einfallsreichtum aktiv unterstützen. Indem sie die Sache von der Vernunft her angingen, erkannten sie, daß Einfallsreichtum und Schöpferkraft unschätzbare Hilfen für einen wesentlichen sozialen Fortschritt bedeuten. Gleichzeitig aber blieb bei eben diesen Superstammes-Autoritäten das tiefeingewurzelte Bedürfnis lebendig, die soziale Ordnung, die sie so eisern im Griff hatten, nicht aus der Hand zu geben, und veranlaßte sie dazu, sich gegen just den Trend zu stellen, den sie offiziell unterstützten: Sie bezogen feste Stellungen und verschanzten sich dort immer mehr, indem sie der Gesellschaft eine Gestalt gaben, die den neuen Wellen von Einfallsreichtum und Schöpferkraft (die man doch selbst erst entfesselt hatte!) garantiert standhalten sollte. Eine Kollision war unvermeidlich. Die erste Reaktion des Establishments auf die wachsende Experimentierfreudigkeit der Jungen war ein nachsichtig tolerantes Lächeln. Aus vorsichtiger Entfernung beobachtete man die immer kühneren Attacken der Jugend auf die überkommenen Traditionen in Kunst, Musik, Literatur, Freizeit und Sozialverhalten und hielt sich zurück. Die Toleranz verging dem Establishment aber, sobald dieser Trend auf die »gefährlicheren« Bereiche der Politik und der internationalen Beziehungen übergriff.
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Als aus den isolierten, etwas exzentrischen Denkern kompakte aufsässige Massen wurden, schaltete das Establishment sofort auf die allerprimitivste Form der Reaktion um - auf den Angriff. Anstatt einem verständnisvollen Schulterklopfen sah sich der junge Intellektuelle dem Gummiknüppel gegenüber, der ihn auf den Schädel klopfte. Die hellen Köpfe, die sich die Gesellschaft mit so viel Mühe herangezogen hatte, litten schon bald nicht an Überarbeitung, sondern an Gehirnerschütterung. Die Lehre hieraus für die Autoritäten ist klar: Gebt den Menschen nicht schöpferische Freiheiten, wenn ihr nicht wollt, daß sie diese wahrnehmen! Das junge Lebewesen Mensch ist nicht eine stupide faulenzende Kreatur, die man erst zur Kreativität hinführen muß, sondern ein von seiner innersten Anlage her ganz und gar schöpferisches Wesen, das in der Vergangenheit als faulenzerisch unnütz erscheinen mochte nur dank (oder un-dank) der unterdrückenden Einflüsse, die von oben her auf es einwirkten. Auf solche Feststellungen pflegt übrigens das Establishment zu erwidern, die abtrünnigen Studenten wollten ja gar keine positiven Reformen, sondern bloß negativ »alles kaputtmachen«. Hiergegen muß jedoch vorgebracht werden, daß diese beiden Prozesse eng miteinander verknüpft sind und daß der erste - die Reform - nur dann zum zweiten - zum Aufruhr - entartet, wenn er sich blokkiert sieht.
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Die Lösung des Problems besteht darin, für eine soziale Umwelt zu sorgen, die genausoviel Einfallsreichtum und Neuerungen zu verkraften in der Lage ist, wie sie selbst vorher freisetzt und fördert. Da die Superstämme konstant an Größe zunehmen und der Menschen-Zoo immer unerfüllter wird, erfordert dies sorgfältige, phantasievolle Planung. Vor allem aber erfordert es von Seiten der Politiker, Verwaltungsbeamten und Städteplaner beträchtlich mehr Einsicht in die biologischen Bedürfnisse des Menschen, als man in jüngster Vergangenheit aufgebracht hat. Je genauer man die Lage studiert, desto alarmierender wird sie. Wohlmeinende Reformer und Organisatoren sind beflissen mit dem beschäftigt, was sie für »verbesserte Lebensbedingungen« halten mögen, und bezweifeln keine Sekunde lang die Nützlichkeit ihres Tuns. Wer wird auch schließlich leugnen wollen, daß es sinnvoll ist, für immer mehr Häuser, mehr Wohnungen, mehr Autos, mehr Krankenhäuser, mehr Schulen und mehr Nahrung zu sorgen?! Wenn sich diese prächtigen neuen Dinge alle irgendwie sehr stark ähneln, so ist das nicht zu ändern. Denn die menschliche Bevölkerung wächst so schnell, daß weder genug Zeit noch genug Raum zur Verfügung stehen, es besser zu machen. Der Haken dabei ist nur der, daß, während auf der einen Seite alle diese schönen neuen Schulen von Schülern überquellen, die es voller Einfallsreichtum und Tatendrang kaum erwarten können, die Dinge zu verändern, sich auf der anderen Seite inzwischen andere neue Dinge 382
dahin entwickelt haben, daß man sich verschwört, neue, tiefgreifende Veränderungen mehr und mehr unmöglich zu machen. In ihrer immer weiter um sich greifenden und kräftig reglementierten Einförmigkeit begünstigen diese Entwicklungen unausweichlich das Sich-Abfinden mit weniger anspruchsvollen Lösungen im Ringen um die Reize. Wenn wir also nicht sehr aufpassen, wird der MenschenZoo immer mehr einer Menagerie aus wilhelminischer Zeit ähneln mit winzigen Käfigen voller nervös am Gitter hin und her pendelnder Insassen. Manche Science-Fiction-Autoren halten es mit dem Pessimismus. Sie schildern die Zukunft als ein Dasein, in dem das Individuum dem würgenden Griff wachsender Uniformität ausgeliefert ist: Neue Entwicklungen haben alles weitere Entdecken und Erfinden nahezu zum Erliegen gebracht; alles trägt triste Gewänder; die Automation regiert die Welt; falls es überhaupt neue Erfindungen gibt, so dienen sie nur dazu, den Ring um das menschliche Hirn noch enger zu schließen. Dagegen ließe sich sagen, daß derlei Bilder lediglich die Dürftigkeit der Autorenphantasie widerspiegeln. Aber es kommt noch etwas hinzu. In einem gewissen Maß übertreiben diese Schreiber nur den Trend, der sich in den heutigen Verhältnissen bereits abzeichnet. Sie sprechen auf das gnadenlose Anwachsen dessen an, was man »Planungszwang« genannt hat, das Gefangensein vom Zwang zum 383
Planen. Das Ärgerliche ist nämlich, daß es zwar durch neue Entwicklungen in Medizin, Hygiene, Wohnungsbau und Nahrungsmittelproduktion immer besser gelingt, mehr und mehr Menschen auf einem gegebenen Raum zusammenzupferchen, daß aber das Element des Schöpferischen in der Gesellschaft immer mehr auf quantitative Probleme abgedrängt wird als auf qualitative: Den Vorrang haben Erfindungen, die es gestatten, das Mittelmäßige immer besser zu reproduzieren - das brauchbare Immer-Gleiche wird dem reizvoll stimulierenden Andersartigen vorgezogen. Ein rebellischer Städteplaner hat einmal gesagt, ein gerader Weg zwischen zwei Häusern sei zwar die »brauchbarste« (und billigste) Lösung, doch heiße dies noch lange nicht, daß ein solcher Weg auch der vom Standpunkt menschlicher Bedürfnisse aus beste, weil befriedigendste ist. Das Lebewesen Mensch verlangt im wörtlichen Sinne nach »Lebens-Raum«, nach einem »Revier«, einem Gebiet mit besonderen Eigenschaften, unerwarteten Perspektiven und Durchblicken, mit Raumaufgliederung und architektonischen Feinheiten. Wo dergleichen fehlt, wird der Lebens-Raum ziemlich bedeutungs-, ja inhaltslos. Ein fein säuberlich symmetrischer und geometrischer Entwurf mag ja ganz praktisch sein, um ein Dach zu stützen oder die Massenproduktion vorgefertigter Hauseinheiten zu erleichtern; aber sobald man dieses Schema auf die Gliederung von Stadt und Landschaft anwendet, sträubt sich die 384
Natur des Menschen dagegen. Weshalb wäre es sonst so reizvoll, eine sich dahinschlängelnde Straße draußen auf dem Land entlangzuwandern? Weshalb spielen die Kinder lieber auf Abfallplätzen und Ruinengrundstücken statt auf ihren makellos sauberen, sterilen, geometrisch abgezirkelten Spielplätzen? Der gegenwärtige Trend in der Architektur zu einer nüchternen Einfachheit des Stils kann sich leicht verselbständigen und einem Mangel an Phantasie als Ausrede dienen. Derart auf ein Minimum reduzierte ästhetische Aussagen sind von Wert nur im Kontrast zu anderen, komplexeren Aussagen. Sobald sie die Szenerie allein beherrschen, können die Resultate außerordentlich schädlich sein. Die moderne Architektur ist eine Zeitlang diesen Weg gegangen, kräftig ermutigt von den Planern des Menschen-Zoos. Riesige Hochhausblöcke mit immer den gleichen einförmigen Wohnungen haben, als Antwort auf den Wohnungsbedarf der immer weiter anschwellenden SuperstammesBevölkerung, in vielen Städten überhandgenommen. Begründet hat man diese Bauweise mit der Notwendigkeit des Sanierens, des Abbruchs von Altbau- und Elendsvierteln; aber der Erfolg war nur allzu oft die Begründung von Super-Elendsvierteln unserer allernächsten Zukunft.
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In einem gewissen Sinn sind sie sogar noch schlimmer als gar nichts, weil sie fälschlich den Eindruck von Fortschritt erwecken, Selbstzufriedenheit entstehen lassen und die Chance zu echtem Voranschreiten zunichte machen. Die modernen Zoologischen Gärten haben mittlerweile ihre alten Affenhäuser abgeschafft. Die Zoodirektoren hatten gesehen, was mit den Insassen geschehen war, und erkannt, daß es mit dem Anbringen von noch hygienischeren Kacheln an den Wänden und mit dem Verbessern der Abflußanlage nicht wirklich getan ist. Die Direktoren der Menschen-Zoos sind angesichts der wie Pilze aus dem Boden schießenden Menschenmassen nicht so weitsichtig gewesen. Die Produkte ihres Herumexperimentierens mit hochkonzentrierter Einförmigkeit werden nunmehr vor dem Jugendgericht und im Sprechzimmer des Psychiaters in Behandlung genommen. Bei einigen »Wohnsilos« hat man den voraussichtlichen Mietern oberer Stockwerke von Anfang an eine psychiatrische Untersuchung schon vor dem Einziehen nahegelegt, um so festzustellen, ob die Leute nach Ansicht des Psychiaters auch den Anforderungen ihrer neuen Lebensweise gewachsen seien... Schon dies allein sollte den Städteplanern eine hinreichende Warnung sein und ihnen die ungeheure Narretei klarmachen, die sie im Begriff sind zu begehen; bis jetzt aber spricht wenig dafür, daß sie diese Alarmzeichen wirklich beachten. Konfrontiert man sie mit den Nachteilen ih386
rer Unternehmungen, so heißt es, man habe ja doch keine andere Wahl - es gebe nun einmal immer mehr Menschen, und die seien unterzubringen. Aber irgendwie müssen Alternativen gefunden werden. Die ganze wirkliche Natur des Komplexes Stadt muß neu untersucht werden. Die gequälten Bewohner des Menschen-Zoos müssen wieder das Gefühl einer »Dorfgemeinschaft« mit sozialer Zusammengehörigkeit haben können. Ein echtes Dorf erweckt, aus der Luft betrachtet, den Eindruck von etwas organisch Gewachsenem und sieht nicht aus wie ein Stück Geometrie vom Reißbrett - und das ist etwas, das die meisten Städteplaner geflissentlich zu übersehen scheinen. Sie verabsäumen es, die elementaren Erfordernisse des menschlichen Verhaltens im Raum - des »Revierverhaltens« - zu berücksichtigen. Häuser und Straßen sind nicht in erster Linie zum Anschauen da wie Spielzeughäuser, sondern dazu, daß man sich in ihnen und auf ihnen bewegt. Die architektonische Umgebung müßte uns keine Sekunde und keine Minute lang loslassen, während wir uns in unserem »Revier« bewegen, ihr Bild müßte sich unmerklich mit jeder neuen Perspektive ändern: Wenn wir um eine Hausecke biegen oder ein Zimmer betreten, dann will unser Orientierungssinn sich am allerwenigsten einer Raumaufteilung gegenübersehen, die auf triste Weise bloß das wiederholt, was wir gerade hinter uns gelassen haben. Nur allzu oft jedoch ist es genau dies, was passiert, wenn der Städteplaner wie ein Bomberpilot, der ein Ziel ausmacht, über seinem Zeichenbrett gebrütet hat, anstatt sich selbst 387
als kleines, bewegliches Objekt in die Lage dessen zu versetzen, der sich innerhalb dieser Umgebung bewegen muß. Diese Probleme einer stereotypen Eintönigkeit und Einförmigkeit durchdringen natürlich praktisch alle Aspekte des Lebens von heute. Mit der mehr und mehr zunehmenden Komplexheit des Menschen-Zoos wächst auch täglich die Gefahr intensiver sozialer Reglementierung. Während die Organisatoren und Regierer sich alle Mühe geben, das menschliche Verhalten in einen immer starreren Rahmen zu pressen, arbeiten andere Trends in der entgegengesetzten Richtung. Wie wir gesehen haben, führen sowohl die stetig verbesserte Ausbildung der Jugend wie der wachsende Wohlstand der Älteren zu einem Bedürfnis nach immer mehr Reizen, nach Abenteuer und Anregung, nach Erregung und Experiment. Wenn es unsere Welt von heute versäumt, diesem Trend nachzugeben, dann werden die Superstämmler von morgen erbittert dafür kämpfen, die Welt zu verändern. Sie werden die Routine und die Zeit und die exploratorische Kraft hierzu haben, und so oder so werden sie es schaffen. Wenn sie sich vom Planungszwang gefangen fühlen, werden sie dagegen aufbegehren. Und wenn die Umwelt keine schöpferischen Neuerungen gestattet, wird man diese Umwelt zerschlagen, um neu anfangen zu können. In diesem Dilemma, einem der größten unserer Gesellschaften, befinden wir uns. Aus ihm herauszukommen, ist die schwere Aufgabe unserer Zukunft.
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Bedauerlicherweise vergessen wir gern, daß wir Lebewesen mit ganz bestimmten, nämlich art-bestimmten Schwächen und ganz bestimmten, ebenso art-bestimmten Stärken sind. Wir verstehen uns selbst gern als ein leeres Blatt, auf das man alles Beliebige auftragen könne. Aber das sind wir nicht. Wir kommen mit einem angeborenen Apparat elementarer Weisungen zur Welt, die wir nur zu unserem eigenen Schaden übertreten oder ignorieren. Die Politiker, die Beamten, die Manager und die übrigen im Superstamm führenden Leute sind gute Sozialmathematiker, aber das genügt nicht. In der künftigen Welt einer steigenden »Vermassung« müssen sie auch gute Biologen sein; denn irgendwo in all den Unmengen von Draht, Kabeln, Kunststoff, Beton, Stein, Metall und Glas, über die sie gebieten, gibt es ein Lebewesen, das Lebewesen Mensch, einen primitiven jägerischen Stammesangehörigen, der, als zivilisierter Superstammes-Bürger verkleidet, sich verzweifelt abmüht, seine uralten ererbten Eigenschaften in Einklang zu bringen mit der außergewöhnlichen neuen Situation. Wenn man ihm hierzu die Chance gibt, gelingt es ihm vielleicht noch, aus seinem Menschen-Zoo einen herrlichen menschlichen Wildpark zu machen. Andernfalls weitet sich der Menschen-Zoo zu einer gigantischen Irrenanstalt aus, vergleichbar den widerlich engen Tiermenagerien des vorigen Jahrhunderts.
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Für uns Menschen des Superstammes im 20. Jahrhundert wird es interessant sein zu sehen, was passiert. Für unsere Kinder freilich wird es schon mehr als bloß interessant sein. Wenn sie einmal den Schauplatz betreten haben, wird die Spezies Mensch sich zweifellos Problemen gegenübersehen, bei denen es um Leben und Tod geht.
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Literaturnachweis Es ist unmöglich, die zahlreichen Veröffentlichungen anzuführen, die ich bei der Arbeit an meinem Buch Der Menschen-Zoo zu Rate gezogen habe. Die wichtigen sowie alle, die von besonderem Interesse sind und mir für eine weiterführende Lektüre geeignet erscheinen, sind nachstehend Kapitel um Kapitel und Thema um Thema genannt, und zwar mit Autor und Jahr des Erscheinens. Die genauen Nachweise dieser Bücher und Aufsätze finden sich in der Bibliographie. Kapitel 1: Stämme und Superstämme Lebensstätte des ur- und vorgeschichtlichen Menschen: Washburn und Devore 1962 Der ur- und vorgeschichtliche Mensch: Boule und Vallois 1957. Clark und Pigott 1965. Read 1925, Tax 1960. Washburn 1962 Entstehung des Landbaus: Cole 1959. Pigott 1965. Zeuner 1967 Entstehung der Städte: Pigott 1961, 1965. Smailes 1953 Trauerkleidung: Crawley 1931 Kapitel 2: Status und Superstatus Verhalten der Paviane: Hall und Devore 1965 Rangordnungsverhalten: Caine 1960 Ringen um Status: Packard 1966 Mimikry: Wickler 1968 391
Selbstmord: Bereisen und Steiner 1964. Stengel 1964. Woddis 1957 Umgerichtete Aggression: Bastock, Morris und Moynihan 1953 Grausamkeit Tieren gegenüber: Jennison 1937. Turner 1964 Kapitel 3: Sex und Supersex Sexualverhalten: Beach 1965. Ford und Beach 1954. Hediger 1965. Kinsey u. a. 1953, 1955- Morris 1956, 1964, 1966,1967,1968 Masturbation: Kinsey u. a. 1955 Ekstasen: Betaille 1962 Langeweile: Berlyne 1960 Übersprungverhalten: Tinbergen 1966 Prostitution bei Affen: Zuckermann 1932 Balzverhalten von Katzen: Leyhausen 1956 Sexuelle Mimikry: Wickler 1968 Status-Sex: Russell und Russell 1961 PhallischeSymbole.-Kmght undWright 1957-Boullet 1961 Malteserkreuz: Adams 1870 Kapitel 4: Eigengruppen und Fremdgruppen Aggression und Krieg: Ardrey 1967, 1968. Berkowitz 1962. Carthy und Ebling 1964. Lorenz 1963. Richardson 1960. Storr 1968 Rassen des Menschen: Broca 1864. Coon 1963. Montagu 1945. Pickering 1850. Smith 1968 Rassenkonflikte: Bereisen und Steiner 1964. Segal 1966 392
Bevölkerungsexplosion: Fremlin 1965 Kapitel 5. Prägung und Fehlprägung Prägungbei Tieren:Lorenz 1935. Sluckin 1965 Fehlprägung bei Tieren: Hediger 1942, 1965 (Zoo-Tiere). Morris 1964 (Zoo-Tiere). Scott 1956, 1958 (Hunde). Scott und Füller 196$ (Hunde). Whitman i9i9(Tauben). Soziale Isolierung bei Affen: Harlow und Harlow 1962 Kindbindung beim Menschen: Ambrose 1960. Brackbill und Thompson 1967 Paarbindung: Morris 1967 Fetischismus: Freeman 1967. Hartwich 1959 Homosexualität: Morris 1952, 1954, 195$. Schutz 1965. West 1968 Schoßtiere: Morris und Morris 1968 Kapitel 6: Ringen um Reize Zoo-Tiere: Appelman 1960. Hediger 1942. Inhelder 1962. Lang 1943. Lyall-Watson 1963. Morris 1962, 1964,1966 Langeweile und Stress: Berlyne 1960 Ästhetik: Morris 1962 Sexualverkehr mit Tieren: Kinsey u. a. 1955,1964 Übernormale Reize: Morris 1956. Tinbergen 1958,1966 Kinderzeichnungen: Morris 1962 Trachten: Laver 1950,1952,1963 Abschalten: Chance 1962 393
Kapitel 7: Das Kind im Manne Neugier bei Schimpansen: Morris 1961. Morris und Morris 1966 Initiationsriten: Cohen 1964 Schulrituale: Opie und Opie 1959 ADAMS, A. L.: Notes of a Naturalist in the Nile Valley and Malta (Edmonston und Douglas, London 1870) AMBROSE, J. A.: The smiling response in early human infancy (Philos. Dissertation, London University 1960) S. 1-660 APPELMAN, F. J.: Feeding of zoo animals by the public, in: Internat. Zoo Yearbook 2 (1960) S. 94-95 ARDREY, R.: Adam kam aus Afrika (Molden, Wien 1967) ARDREY, R.: Adam und sein Revier (Molden, Wien 1968) BASTOCK, M., D. MORRIS und M. MOYNIHAN: Some comments on conflict and thwarting in animals, in Behaviour 6 (1953) 5.66-84 BATAILLE, G.: Eroticism (Calder, London 1962) BEACH, F. A.: Sex and Behavior (Wiley, New York 1965) BERELSON, B. und G. A. SEINTER: Human Behavior (Harcourt, Brace and World, New York 1964) BERKOWITZ, L.: Aggression (McGraw-Hill, New York 1962) BERLYNE, D. E.: Conflict, Arousal and Curiosity (McGraw-Hill, New York 1960) 3 5 6 Bibliographie BOULE, M. und H. V. VALLOIS: Fossil Men (Thames ÖC Hudson, London 1957) 394
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