M o n t y
R o b e r t s
DER MIT DEN
PFERDEN SPRICHT
Ins Deutsche übertragen von Till R. Lohmeyer, Ulrike Maier und Christel Rost
Gustav
Lübbe
Verlag
WIDMUNG Ich wüsste nicht, wem anders als E Q U U S , D E M F L U C H T T I E R , ich dieses Buch widmen sollte. Meiner Meinung nach müssen wir Menschen dieser Tierart Abbitte leisten für all das, was sie seit Jahrtausenden durch unser Unverständnis zu erdulden hat. Seit langem ist Equus mein Lehrer, mein Freund und mein Ernährer. EIN DANK AN MEINE LEHRER
Während Equus mein größter Lehrer war, haben Marguerite Parsons, Schwester Agnes Patricia, Bill Dorrance, Don Dodge und Dr. Bob Miller in großem Maße dazu beigetragen, jenes Umfeld zu schaffen, in dem ich lernen konnte. EIN WORT AN MEINE LESER
Pferde sind zwar gutmütige Tiere, können aber durch falsche Behandlung und aus Angst bösartig werden. Lassen Sie deshalb bitte stets Vorsicht walten, wenn Sie das Temperament eines Pferdes nicht genau kennen. Flag Is Up Farms, Kalifornien Monty Roberts
PROLOG
Dieses Buch handelt davon, wie ich lernte, den Pferden zuzuhören und mit ihnen über den natürlichen Graben hinweg, der unsere beiden Arten voneinander trennt, zu kommunizieren. Auf den Gedanken, meine Entdeckungen zu Papier zu bringen, kam ich an einem Dezemberabend im Jahr 1988 nach einem besonderen Schlüsselerlebnis. Ich war damals dreiundfünfzig Jahre alt. John Bowles, ein Freund und Nachbar, rief mich an jenem Abend an. Sein Südstaatenakzent war unüberhörbar. »Monty?« »Ja.« »Stell dir vor, Monty, die Queen will dich kennen lernen.« Er erklärte mir, Ihre Majestät die Königin von England wolle sehen, wie ich mit Pferden arbeite, um die von mir propagierte Methode der Kommunikation mit den Tieren aus erster Hand zu erfahren und so besser beurteilen zu können. Nun ist John Bowles ein Mann, der durchaus Sinn für derbe Scherze hat. Ich dachte mir also mein Teil und fragte ihn, wie ausgerechnet er, der biedere John Bowles, dazu käme, mir Botschaften von Ihrer Majestät zu überbringen. John erwiderte, dass einer seiner englischen Freunde, ein gewisser Sir John Miller, ehemaliger Equerry der Queen sei, also eine Art königlicher Stallmeister. Und dem habe die Monarchin den Auftrag erteilt, mich ausfindig zu machen. Ihre Majestät habe in den Fachzeitschriften The Blood Horse und Florida Horse ausführliche Berichte über mich und meine Arbeit gelesen und sei daraufhin neugierig geworden. John Bowles sagte, die Aufgabe, einen Menschen zu finden, den er seit fünfzehn Jahren kenne und der keine zehn Kilometer von ihm entfernt wohne, sei kinderleicht gewesen. Wenig später besuchte mich Sir John Miller auf meiner Pferdefarm in Kalifornien, um zu sehen, was ich bieten konnte. Nachdem ich ihm meine Arbeit an verschiedenen Beispielen demonstriert hatte, wurde er sehr lebhaft. Auf dem Weg zurück ins Haus und beim anschließenden Mittagessen nannte er mir eine Reihe von Terminen. Es waren die Reisepläne Ihrer Majestät. In Balmoral würde sie sich soundso lange aufhalten - und so weiter. Ich begann mich allmählich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass er versuchte, irgendwo im königlichen Kalender auch noch einen Termin für mich zu finden. 9
Und so war es dann auch. Er teilte mir mit, dass Ihre Majestät mich für April 1989 nach England einladen wolle. Ich sollte eine Woche lang auf Windsor Castle ihr Gast sein. Im für ihn typischen Tonfall der britischen Oberschicht fragte er: »Ob sich wohl eine Vorführung wie jene vorhin für Ihre Majestät in den Mews arrangieren lässt?« Was, zum Teufel, waren die Mews? Obwohl ich keine Ahnung hatte, sagte ich zu: Ja, das ließe sich schon irgendwie einrichten. Zum Schluss meinte Sir John Miller, wenn die Queen von meiner Arbeit überzeugt sei, werde sie für mich eine Tour durch verschiedene Städte Großbritanniens organisieren lassen. Vor allem lege sie großen Wert darauf, dass Newmarket und Gleneagles in Schottland auf dem Tourneeplan stünden. Zwei Wochen später erhielt ich ein förmliches Einladungsschreiben aus dem Buckingham-Palast. Jetzt war es also klar: Ich würde die Königin von England besuchen! Aus verschiedenen Gründen, auf die im Laufe dieses Buches noch näher eingegangen wird, hatte ich meine Arbeit den größten Teil meines Lebens über geheim halten müssen. Von jungen Jahren an war ich immer, wenn ich mich einmal dazu aufraffte, anderen Leuten zu zeigen, was ich konnte und in Erfahrung gebracht hatte, verprügelt, beschimpft und als Betrüger bezichtigt worden. Und doch hielt ich an meiner oppositionellen Meinung fest, deren Hauptaussage darin bestand: Was ich erreicht habe, ist sicher das Ergebnis langer Beobachtungen von Pferden in freier Wildbahn; es ist aber auch etwas in seinem Wesen ganz Einfaches, etwas, das sich aus dem Gebrauch des gesunden Menschenverstandes ergibt. Klar, es spielt auch eine gewisse Magie mit hinein - die Magie einer bislang unentdeckten Sprache, einer primitiven, präzisen und leicht erlernbaren Sprache, deren Beherrschung eine neue Art der Verständigung zwischen Mensch und Pferd eröffnet. Mit Hokuspokus hat das nichts zu tun, und ich bin bei weitem auch nicht der einzige, der sich darauf versteht. Erst kürzlich erlebte ich, wie mein Hufschmied innerhalb weniger Minuten ganz ähnliche Ergebnisse erzielte. Die Möglichkeit, Ihre Majestät die Königin von England von der Glaubwürdigkeit und Bedeutung meiner Arbeit zu überzeugen und dadurch meinen Methoden zu größtmöglicher Publizität zu verhelfen, erschien mir als Krönung meines Lebenswerks. 10
Am 5. April 1989 traf ich auf dem Londoner Flughafen Heathrow ein und wurde von Sir John Miller empfangen. Wir fuhren sofort nach Schloss Windsor, eine Strecke von vielleicht zwanzig Kilometern. Vor dem Schloss parkten einige Fahrzeuge, die eher Sherman-Panzern als Personenkraftwagen ähnelten. Sir John erklärte mir, dass die Queen mit dem russischen Präsidenten Michail Gorbatschow und seiner Frau Raissa zu Mittag esse und dass die Gäste ihre eigenen Fahrzeuge mitgebracht hätten. Das Interieur von Schloss Windsor war eine Offenbarung. Hinter den hohen Türen und in den Korridoren, die ich nun durchschritt, waren seit Hunderten von Jahren bedeutende Staatsgeschäfte ausgehandelt worden. Und die hier ansässige Familie - die königliche Familie — hatte bereits über hundert Jahre vor der Gründung des Staates, aus dem ich stamme, zu den führenden Rennstallbesitzern gehört. Seien wir ehrlich: Für einen kalifornischen Burschen vom Lande, der viele Jahre hart mit Pferden gearbeitet hatte, war dieser Besuch der Höhepunkt seiner Karriere. Sir John begleitete mich zu einer Weide vor dem Schloss, auf der fünfzehn Pferde aller Farben, Formen und Größen grasten. Auf einer abgegrenzten Koppel stand außerdem noch eine junge Vollblutstute, so dass es insgesamt sechzehn Tiere waren. Keines dieser Pferde war eingeritten (oder auch: zugeritten, gestartet). Alle waren roh, aber an einen Halfter gewöhnt. Dies waren die Tiere, mit denen ich während der Vorführungen in der kommenden Woche würde kommunizieren müssen. Dann zeigte Sir John mir die auf der einen Seite an das Schloss anschließenden Ställe — die königlichen Marställe oder Mews. Als nächstes besichtigten wir die Reitschule. Mit seinen gotischen Fenstern und der hohen, gewölbten Decke erinnerte das Gebäude an eine Kapelle. An einem Ende war ein mit Glas und Holz verkleideter Balkon angebracht. Wie ich erfuhr, handelte es sich um den schalldichten Beobachtungsstand der königlichen Familie. In der Mitte der Reitschule befand sich ein mit Maschendraht eingefasster Longierring von etwa fünfzehn Metern Durchmesser, den die London Equipment Company auf meine und Sir Johns Bestellung hin geliefert und aufgebaut hatte. 11
Es war eine beeindruckende Anlage, aber bis dato hatte ich meine Techniken noch nie in einer Maschendrahtumzäunung demonstriert. Daher konnte ich auch nicht sagen, wie die Pferde darauf reagierten. Sie würden durch die Maschen sehen können und sich daher nicht so sehr auf das, was ich tat, konzentrieren. Es gab allerdings keine Alternative. Ich musste mich darauf verlassen, dass der Draht als Barriere ausreichte und sich die Ablenkung in Grenzen hielt. Sir John eröffnete mir, dass die Queen zu meinen Vorführungen in der kommenden Woche zweihundert Gäste eingeladen habe. Sie selbst könne lediglich am Montagmorgen eine Stunde lang dabeisein; anderweitige Verpflichtungen ließen ihr nicht mehr Zeit. Wahrscheinlich werde sie sich jedoch abends Videofilme vom Tagesgeschehen ansehen. Nach unserem Rundgang gingen Sir John und ich wieder zum Schloss zurück. Der Besuch von Michail und Raissa Gorbatschow neigte sich dem Ende zu, und so gerieten wir mitten in die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen, die mit dem Aufbruch der Gäste vom Mittagstisch einsetzten. Überall sah ich russische Leibwächter und britische Sicherheitsbeamte umhereilen, und auf den Wallen der Schlossanlage patrouillierten Männer mit Maschinenpistolen. Dabei kam es zu einer Unstimmigkeit zwischen den Russen und den Engländern, worauf ein höherer britischer Offizier auf mich und Sir John zulief und rief: »Bei Gott, wir haben sie auf der Krim gestoppt, und wir werden sie auch auf Schloss Windsor stoppen!« Der Mann war ganz schön nachtragend. Kurz darauf kamen die Gorbatschows aus dem Schloss und fuhren wenig später inmitten einer großen Fahrzeugeskorte dicht an uns vorbei. Mein Aufenthalt in England fing in jeder Hinsicht spannend an. Am nächsten Tag waren wir um neun Uhr morgens wieder auf Schloss Windsor. Es war ein Sonntag, und ich sollte die Pferde an den Longierring gewöhnen. Aus langer Erfahrung weiß ich, dass meine Vorführungen immer dann am besten funktionieren, wenn das Pferd nicht allzu sehr von seiner Umgebung abgelenkt ist. Stellen Sie sich ein grünes, untrainiertes Pferd vor, das direkt von der Weide kommt und vielleicht noch nie zuvor in seinem Leben mit einem Menschen 12
zu tun hatte. Ein solches Tier unter den Augen von Hunderten von Zuschauern in einen Longierring von etwa fünfzehn Metern Durchmesser zu geleiten, ist schon ein großer Schritt, der ohne Zweifel hohe Anforderungen an die Konzentrationsfähigkeit des Pferdes stellt. Ich kann meine Techniken auch unter solchen Umständen demonstrieren, brauche dazu aber einfach zehn Prozent mehr Zeit, da ich ständig damit rechnen muss, dass das Pferd zwischendurch den »Feind« jenseits des Zauns taxiert. Wie dem auch sei, als ich den Stall betrat, schlug mir seitens der dort arbeitenden Betreuer — es waren überwiegend Mädchen - sofort eine gewisse Kälte und Distanziertheit entgegen. Unverkennbar war vor allem, dass der oberste Pferdepfleger fürchtete, ich wolle ihm auf die Zehen treten. Ich bat einige Male um Hilfe, als es darum ging, die Pferde in den Ring zu bringen, damit sie sich daran gewöhnten. Ich wollte jedes Tier einzeln fangen und hineinführen, und da es sich um mehr oder weniger wilde Pferde handelte, wäre mir ein wenig Unterstützung schon lieb gewesen. Ich lief also von einem zum anderen, um Hilfe zu finden, als mir auf einmal eine Dame in prächtigen Reitkleidern auffiel, die aus der Reithalle kam, auf Sir John zuging und ihn ansprach. Mit Sir John vollzog sich augenblicklich eine bemerkenswerte Veränderung: Er wurde urplötzlich ein anderer Mensch. Seine Haltung änderte sich ebenso wie der Tonfall seiner Stimme. Er sprach mit der Queen. Schon seit Tagen hatte ich mir Gedanken über die richtige Anrede gemacht — für den Fall, dass ich ihr tatsächlich persönlich begegnen sollte. Ich dachte an »Eure Königliche Hoheit« und »Eure Majestät«, ohne die Unterschiede zwischen den beiden Begriffen zu kennen. Ich wusste nicht, ob ich mich verneigen sollte oder ob ein Händedruck angebracht war. Ich muss allerdings auch sagen, dass von einer persönlichen Begegnung mit ihr bislang nichts Offizielles verlautet war. Und nun kam sie auf mich zu! Ich war auf die Begegnung nicht vorbereitet und hatte mich auch nicht nach den korrekten Umgangsformen erkundigt. Fern der Heimat und als Gast eines fremden Landes lag mir sehr daran, nicht ins Fettnäpfchen zu treten. Die Königin machte es mir leicht. Sie reichte mir die Hand, und ich schlug ein, sagte »Eure Majestät« - und ließ es dabei bewenden. 13
Mein Verhalten schien niemandem zu missfallen; das kam erst später... »Kommen Sie, Mr. Roberts«, sagte die Königin schnell und nahm mir meine Befangenheit, »zeigen Sie mir mal diesen Löwenkäfig in der Mitte der Reithalle, und erklären Sie mir, was es damit auf sich hat.« Gemeinsam gingen wir in die Reithalle und sahen uns den Longierring näher an. »Sieht ganz so aus, als müsse man da einen Raubtierdompteur hineinschicken«, sagte sie, und ich stimmte ihr zu, obgleich mir die Ähnlichkeit mit einer Manege bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht aufgefallen war. Ich schilderte ihr kurz, was ich am nächsten Morgen vorhatte. Über ihr Interesse an meiner Arbeit und die Tatsache, dass sie soviel wie möglich im voraus wissen wollte, freute ich mich sehr. Und dann war sie wieder fort. Ich hatte das Gefühl, dass mir der Einstieg gelungen war. Das Verhältnis zwischen uns war relativ ungezwungen. Die Königin machte auf mich den Eindruck einer sehr direkten Frau, die wusste, was sie wollte, und sich entsprechend durchsetzen konnte. Am Sonntagmittag trafen meine Frau Pat, mein Sohn Marty und mein Mitarbeiter Sean McCarthy in England ein und kamen auf schnellstem Wege nach Windsor Castle. Mit Pat bin ich seit mehr als vierzig Jahren verheiratet, und Sean McCarthy ist seit neun Jahren mein Erster Zureiter. In dieser Zeit war er für gut eintausendvierhundert Pferde der erste Reiter gewesen. Ich empfand es als sehr angenehm, dass Verstärkung kam - Menschen, die auf meiner Seite standen. Gemeinsam mit Sean überprüfte ich die Ausrüstung im Longierring. Dann nahm ich ihn mit hinaus auf die Weide und zeigte ihm die Tiere. Die Unterschiedlichkeit der Pferde überraschte ihn. Zwei oder drei waren wohl überwiegend Vollblüter. Die auf einer abgetrennten Koppel stehende Jährlingsstute war ein reines Vollblut. Zwei sehr große Shirehorse-Schecken sollten später als Trommelpferde in der zeremoniellen Abteilung der königlichen Ställe dienen. Außerdem gab es verschiedene Warmblutkreuzungen, ein paar andere auffallend große Pferde sowie einige kleinere bis hinunter zu den Haflingern und Fjell-Ponys. 14
Ich war trotz allem recht zuversichtlich, dass keines der Tiere mich umbringen würde. Nachdem wir alle Vorbereitungen getroffen hatten, verbrachten wir den Abend in Shotover House, dem Heim von Sir John in der Nähe von Oxford, das sich seit über hundert Jahren in Familienbesitz befindet. In Gesellschaft von Major Dick Hearn — dem langjährigen Rennpferdtrainer Ihrer Majestät - und seiner Frau Sheila genossen wir ein vorzügliches Dinner. Es wurde ein langer Abend, der mir sehr dabei half, mein Nervenkostüm für den kommenden Tag zu stabilisieren. Am nächsten Morgen um neun sollten wir der Queen, Prinz Philip und der Königinmutter in der Reithalle vorgestellt werden. Die Atmosphäre beim Eintreffen der königlichen Familie war diesmal eine andere. Es war ein offizielles Ereignis. Die Dame im Reitkostüm, mit der ich mich am Tag zuvor unterhalten hatte, war jetzt die Königin von England, die einen Termin wahrnahm. Sie und ihre Begleitung waren von zahlreichen Sicherheitsbeamten umgeben, und es herrschten die Regeln des Protokolls. Sir John Miller stellte uns einander vor, als hätte die Begegnung am Vortag nie stattgefunden. Und als hätten wir nicht schon zwei Tage lang immer wieder darüber gesprochen, verkündete man uns, dass die Königsfamilie unserer Vorführung von dem verglasten Balkon aus folgen würde. Die Veranstaltung begann, ein Eigenleben zu entwickeln. Ich war nervös, das muss ich zugeben. Normalerweise bin ich ein ausgeglichener, entspannter Mensch - eine Grundvoraussetzung für meine Arbeit. Zu meiner Beunruhigung spürte ich, dass mein Pulsschlag sich erhöhte und meine Konzentration nachließ. In Begleitung von Pat und Marty begab sich die königliche Familie in ihre Loge und nahm Platz. Die Vorführung konnte beginnen. Meine erste Aufgabe bestand darin, die junge Vollblutstute einzureiten. Sie war das persönliche Eigentum der Königinmutter, weshalb die alte Dame mein Tun mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen würde. Beim Betreten des Longierrings war mir plötzlich klar, dass ich, gelänge es mir nicht, mich zu entspannen, auch nicht in der gewohnten Weise mit dem Pferd würde kommunizieren können. Das Tier wäre dann nicht empfänglich für meine Signale. Es war nicht von der 15
Hand zu weisen, dass mir möglicherweise der peinlichste Tag meines Lebens bevorstand. Als ich das Tor hinter mir schloss, sah ich mich schon vollends blamiert. Ein Gefühl schieren Entsetzens durchfuhr mich. Dann wurde die junge Stute hereingeführt und losgelassen. Es war ein scheues Tier mit vor Furcht weit aufgerissenen Augen, das mehr Angst hatte als ich und meine Hilfe brauchte; dieses »unfertige« Wesen war von mir abhängig. Als mir dies bewusst wurde, legte sich meine Nervosität sofort, und ich begann mit der Arbeit. Es dauerte nur ein, zwei Minuten, bis ich spürte, dass alles seinen gewohnten Lauf nahm. Die junge Stute gab mir die erwarteten Signale, und binnen kürzester Zeit konnte die Vorführung beginnen. Ich möchte hier nicht in allen Einzelheiten auf meine Kommunikation mit den Tieren eingehen, weil ich darauf später noch ausführlich zurückkommen werde. Ziel dieses Buches ist es, den Leser nachempfinden zu lassen, wie ich allmählich die Pferdesprache begreifen lernte; und ich hoffe, dass er am Ende die faktischen Grundlagen ebenso gut beherrscht wie ich und weiß, worauf er besonders achten muss. An dieser Stelle genügt es zu sagen, dass sich diese junge, unberührte Stute an jenem Vormittag genauso benahm, wie ich es vorausgesagt hatte. Nach sieben Minuten gemeinsamer Arbeit folgte sie mir ohne Führstrick und ohne Halfter durch den Ring. Wenn ich mich umdrehte und die Richtung wechselte, tat sie das gleiche, die Nüstern nur etwa dreißig bis siebzig Zentimeter von meiner Schulter entfernt. Sie folgte mir überallhin. In ihrer Not vertraute sie mir. Ich gab ihr Sicherheit. Die königliche Familie sah von ihren Logenplätzen aus zu. Nach einer Viertelstunde stand dieses übernervöse junge Vollblut, das in seinem bisherigen Leben kaum von eines Menschen Hand berührt worden war, unverrückbar wie ein Felsen da und ließ sich von mir erstmals satteln. Ich hatte ihm noch keinerlei Zaumzeug angelegt. Nach nur fünfundzwanzig Minuten hatte es brav Zügel und Gebiss angenommen, und Sean saß auf seinem Rücken und ritt durch den Ring. Es sah so aus, als hätte die junge Stute nur auf diesen Moment gewartet. Nach einer Weile saß Sean ab, und das Pferd wurde weggeführt. 16
Nachdem ich den Longierring verlassen hatte, sah ich, dass die Queen, Prinz Philip und die Königinmutter sich von ihren Sitzen erhoben, vom Balkon herunterkamen und auf mich zusteuerten - Pat und Marty im Gefolge. Auch die Leibwächter regten sich und begleiteten sie. Die Queen schritt als erste durch die Tür, die zur Balkontreppe führte. Freundlich lächelnd reichte sie mir die Hand und sagte: »Das war wunderschön.« Sie fügte hinzu, meine Darbietung und die Reaktion des jungen Pferds hätten sie sehr verblüfft. Ich könne auf meine Leistung stolz sein. Mir wurde schlagartig klar, wie lange ich auf ein so positives Urteil gewartet hatte. Mein Longierring daheim war mit festen Wänden umgeben und ließ sich von keinem Logenplatz aus einsehen - eben deshalb, damit man mich nicht bei der Arbeit beobachtete und mir danach seine Ungläubigkeit bekundete. Nun erlebte ich die Umkehr alles bisher Dagewesenen. Kurz nach der Queen kam auch Prinz Philip durch die Tür. Auch er schüttelte mir die Hand und fragte, ob ich vielleicht den jungen Männern helfen könne, die im Laufe der Woche mehrere Fjell-Ponys zureiten würden. Über die Reaktion der Queen und Prinz Philips war ich natürlich hocherfreut, doch ich muss gestehen, dass mich besonders interessierte, welchen Eindruck meine Vorführung auf die Königinmutter gemacht hatte. Wenige Minuten später war auch sie bei mir. Ihre Wertschätzung überwältigte mich schier und ging weit über das hinaus, was ich mir erhofft hatte. Tränen standen in ihren Augen. Mit ruhiger, fester Stimme sagte sie: »Das war mit das Schönste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.« Die Leistung ihrer jungen Stute und das Erleben dessen, was an Kommunikation zwischen Mensch und Pferd möglich ist, bewegten sie sichtlich. Ihre emotionale Reaktion ließ mich sekundenlang vergessen, wer sie war und wo wir uns befanden. Spontan umarmte ich sie und drückte sie sanft an mich - ganz einfach, weil mir diese Geste im Augenblick die einzig richtige zu sein schien. Die überraschten Leibwächter erstarrten und traten im nächsten Moment auf mich zu. Mir wurde bewusst, dass niemandem eine so intime Berührung eines Mitglieds der königlichen Familie 17
gestattet war. Sofort ließ ich meine Arme sinken und trat einen Schritt zurück. Die Königinmutter indessen schien in keiner Weise gekränkt zu sein. Noch immer mit sehr leiser Stimme sagte sie, sie hoffe, ich würde meine Arbeit fortsetzen und zur Entwicklung einer anderen, respektvolleren Beziehung zwischen Mensch und Pferd beitragen. Bis an mein Lebensende werde ich mich mit Freude an die Begegnung mit der Königinmutter und ihren Zuspruch erinnern. Mein Aufenthalt auf Schloss Windsor war damit noch nicht beendet, doch ich möchte den Bericht vorerst einmal unterbrechen. Zu erzählen gibt es noch einiges: So wurde noch am Nachmittag des besagten Montags versucht, meine Leistungen zu sabotieren. Darauf werde ich an geeigneter Stelle zurückkommen. Dass ich meine Erfahrungen und Methoden über die Kommunikation mit Pferden niederschreibe, geht auf einen Vorschlag Ihrer Majestät zurück, und es ist auch weitgehend ihrem Einfluss zuzuschreiben, dass ich mich an die zeitraubende und schwierige Aufgabe herangewagt habe, mich an frühere Phasen meines Lebens zu erinnern - zu hinterfragen, wie sich meine große Liebe zu den Pferden entwickelt und mich schließlich dazu bewegt hat, einen Versuch zu unternehmen, die Barriere, die uns Menschen von den Pferden trennt, zu überwinden.
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EINE JUGEND UNTER PFERDEN
Am 14. Mai 1935, mitten in der Weltwirtschaftskrise, kam ich in der kalifornischen Kleinstadt Saunas zur Welt. Viele der klassischen Romane John Steinbecks spielen in dieser Gegend, und es kann gut sein, dass zu den Vorbildern für seine Figuren auch meine Vorfahren gehörten, die in vieler Hinsicht typisch waren für die Ein- und Zuwanderer in jenem Garten Eden Kaliforniens. Das erste, worauf meine Blicke gefallen sein dürften, als man mich aus dem Haus hinaustrug, waren zweitausenddreihundert Morgen hervorragendes Ackerland in der so genannten »Salatschüssel Amerikas« - fruchtbarer Boden, gesegnet mit einem gemäßigten Klima. Dennoch handelte es sich nicht unbedingt um ein landwirtschaftliches Ambiente, sondern eher um Stadtrandmilieu, also durchaus bebautes Gebiet, wenn auch mit einem kleinen Unterschied: Alle Gebäude und Anlagen in der Umgebung hatten etwas mit Pferden zu tun, angefangen bei den Ställen und Boxen über einen Vorführplatz mit Tribüne bis hin zu Koppeln und Zuchtställen. Es war eine den Pferden gewidmete Einrichtung. Dort arbeiteten meine Eltern. Schon vor meinem ersten Geburtstag nahm mich meine Mutter mit in den Sattel. Ich saß vor ihr - und dies nicht nur ein- oder zweimal so zum Spaß, wie es bei anderen Kleinkindern geschehen mag, sondern stundenlang, wenn Mutter Reitunterricht gab. Die vor- und zurückzuckenden Pferdeohren, der Pferdehals unmittelbar vor mir, die im Rhythmus des Pferdeschritts wippende Mähne - all dies war mir schon bald genauso vertraut wie der Anblick und die Stimme eines Menschen. Ich war knapp zwei Jahre alt, als ich bereits den größten Teil des Tages auf dem Pferderücken verbrachte. Ja, ich besaß inzwischen sogar schon mein erstes eigenes Pferd. Ich befand mich sicherlich in einer einmaligen Lage: Wer sonst kann von sich sagen, dass er auf den Salinas Rodeo Competition Grounds, dem Rodeogelände von Salinas, aufgewachsen ist? Das Rodeogelände verdankte seine Entstehung einem gewissen Mr. Sherwood, der bei seinem Tod der Stadt Salinas zweitausenddreihundert Morgen Land vererbte - allerdings nur unter der Bedingung, dass das Grundstück ausschließlich für Aktivitäten genutzt würde, die irgend etwas mit Pferden zu tun hätten. Die Vermögensverwalter und die Stadt Salinas fragten meinen 21
Vater, ob er die Leitung des Geländes übernehmen wolle. Er war einverstanden, und kurz danach begannen die Bauarbeiten. Man errichtete über achthundert Pferdeboxen und eine Wettkampfarena, deren Haupttribüne zwanzigtausend Sitzplätze fasst. Die Anlage besteht noch heute. Zusätzlich zu seinem Amt als Manager unterhielt mein Vater auf dem Gelände auch eine eigene Reitschule. Tag für Tag klapperte meine Mutter mit einem großen Kombiwagen die örtlichen Schulen ab, brachte die Schüler zu den Reitstunden und fuhr sie danach wieder nach Hause. In den Grund- und Oberschulen von Salinas gehörte Reiten zum Sportunterricht; die Schüler waren offiziell in der Reitschule meines Vaters eingeschrieben. Darüber hinaus bildete mein Vater Pferde für Privatleute aus. Er hatte außerdem Pensionspferde, und er vermietete das Gelände an verschiedene andere Pferdetrainer, so dass auch sie, ganz im Sinne des Testaments von Mr. Sherwood, auf dem Wettkampfplatz ihren Beruf ausüben konnten. Meine Eltern waren also die Manager von Mr. Sherwoods Geschenk an die Stadt Salinas - und sie waren Geschäftsleute mit einem eigenen Unternehmen. Mein erstes Pferd war, als ich es bekam, siebzehn Jahre alt und hieß Ginger. Es war ein ausgebildetes Westernpferd (reined cowhorse) von der Uhl Ranch, das in seiner besten Zeit bei Western-Riding-Turnieren recht gute Leistungen gebracht hatte. Auf seine alten Tage sollte es nun mein Babysitter sein. Vom Temperament her war Ginger dafür genau der Richtige: diszipliniert und zuverlässig. Deshalb wurde er zu meinem Lehrpferd bestimmt. Er hatte jahrelange Erfahrungen in allen Cowboyübungen und kannte sie in- und auswendig. Wenn dieses Kind auf seinem Rücken sich einbildete, es ginge alles noch besser, war ihm das ziemlich gleichgültig. Ginger zeigte sich sehr geduldig mit dem Dreijährigen, der da auf seinem Widerrist auf und ab hüpfte und Arme und Beine wie Windmühlenflügel in alle Richtungen drehte. Nein, Ginger genoss keinen ehrwürdigen, friedlichen Ruhestand, aber ich glaube doch, dass er eine Menge Spaß mit mir hatte. In meinen Augen konnte er ohnehin nichts falsch machen. Er war mein Spielgefährte. Mein Vater bemerkte schon bald, dass meine reiterlichen Fähigkeiten überdurchschnittlich waren. Ich konnte ein Pferd im Schritt 22
gehen lassen, konnte traben, konnte galoppieren. Ohne große Mühe lernte ich fliegende Wechsel und Achterfiguren. Mir selbst kam dieses Leistungsniveau ganz normal vor, doch ich kann mich noch daran erinnern, dass manche Leute sagten: »Der Junge da ist gerade mal drei Jahre alt!« Mein Vater wollte sich meine Fähigkeiten zunutze machen. Ich war noch nicht einmal alt genug für den Kindergarten, da wurde mir bereits gesagt, dass ich mehr üben und noch mehr Zeit im Sattel verbringen müsse als ohnehin schon. Mein Vater kaprizierte sich auf mich und nicht auf meinen Bruder, weil Larry, der jüngere von uns beiden, aufgrund eines Geburtsfehlers in den ersten Jahren seines Lebens etwas schwächlicher als ich war. Um Larry musste man sich kümmern - mich konnte man bis an die Leistungsgrenze treiben. Mein Vater meldete mich regelmäßig zu Veranstaltungen, so dass kaum ein Wochenende verging, an dem ich nicht irgendeinen Wettkampf zu bestreiten hatte. Ich besitze noch einen verwackelten alten Film aus jener Zeit, auf dem Larry und ich bei einem Juniorenturnier zu sehen sind. Ich war damals vier Jahre alt. Der körnige, flackernde Film zeigt uns beide, wie wir unsere Pferde im Kreis reiten, sie herumdrehen, sie zum Stehen bringen und hin und her jagen. Wir sehen aus wie Miniaturausgaben jener Cowboys, die uns dies alles beigebracht hatten. Und alles läuft mit der unheimlichen Stille ab, die für die Filme jener Zeit so typisch ist. Wenn ich mir Ginger und mich so ansehe und beobachte, wie ich sein Maul herumriss und ihn misshandelte — es geschah ja nur aus Unwissenheit -, überkommt mich große Traurigkeit, und ich hoffe nur, dass er damals begriff, dass ich noch ein kleines Kind war, das nicht wusste, was es tat. Es war das Salinas Junior Stockhorse Turnier, und die meisten Kinder waren älter als ich. Aber ich hatte Ginger an meiner Seite, der besser als alle anderen Beteiligten wusste, wie man bei solchen Veranstaltungen hohe Wertungen erzielte; er hatte ja jahrelang gegen eine weit stärkere Konkurrenz an Wettbewerben dieser Art teilgenommen. Heute bin ich davon überzeugt, dass er aus eigenem Antrieb beschloss, den Siegerpreis mit nach Hause zu nehmen - und das tat er dann auch. Ich gewann das Turnier. Nach unserem unerwarteten Sieg stand meine Familie plötzlich 23
im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Die Publicity wirkte auf meine Eltern wie ein Rausch. Von einem Tag zum anderen liefen ihre Geschäfte besser. Mr. und Mrs. Roberts waren ganz offensichtlich die besten Lehrer, denn sie hatten einen vierjährigen Sohn, der bereits einen Pokal gewonnen hatte. Mein Vater fühlte sich durch dieses Ereignis in seiner Überzeugung bestätigt, dass ich das Kind war, das dereinst den Namen Roberts in der Welt der Pferdeturniere bekannt machen würde. Ich muss hier einen Augenblick innehalten und kurz auf meinen Vater eingehen, denn er war eine sehr wichtige Figur in meinem Leben. Ich will damit nicht sagen, dass andere Angehörige weniger wichtig waren - nur ist meine Familie nicht Thema dieses Buches. Meine Frau und meine Kinder, unsere siebenundvierzig Pflegekinder, mein Bruder Larry und meine Mutter kommen auf den folgenden Seiten nur am Rande vor; eigentlich müsste ich über sie ein eigenes Buch schreiben. Thema dieses Buches ist mein Verhältnis zu Pferden - meine Lebensarbeit. Dennoch ist dieser Bericht für mich auch eine sehr persönliche, emotionale Erfahrung. Wenn ich mir die Freiheit nehme, von meiner Familie lediglich meinen Vater etwas genauer zu beschreiben, so geschieht dies deshalb, weil alles, was ich in meinem Leben erreicht habe, seinen Ursprung darin hat, dass er mich schon sehr früh und sehr intensiv mit Pferden in Kontakt brachte. Wenn man andererseits sagen kann, dass sich mein Berufsleben in eine bestimmte Richtung entwickelt hat, so war es eine Richtung, die von meinem Vater wegführte. Die Vehemenz, mit der ich diese Zielrichtung verfolgte, war eine unmittelbare Konsequenz meiner offenen Rebellion gegen meinen Vater und seine Methoden. Mein Vater war ein hochgewachsener Mann von schlankem, muskulösem Körperbau und markanten, wie gemeißelt erscheinenden Zügen unter hellbraunem Haupthaar. Wenn die Umstände es zuließen, sah er gepflegt und ordentlich aus. Wenn er sich in der Stadt mit Freunden und Kollegen traf, konnte er, denke ich, ein durchaus liebenswürdiger, zuvorkommender Mann sein. Mich hingegen betrachtete er von Anfang an mit kaltem, kritischem Blick. Er war unversöhnlich und überprüfte peinlich genau 24
alles, was ich tat, und immer wieder kam es vor, dass er mich dann der Lächerlichkeit preisgab. Seine Methoden im Umgang mit Pferden waren konventionell, würde ich sagen — und damit meine ich grausam. Die übliche Methode, nach der Pferde damals zugeritten wurden, ist auch heute noch durchaus verbreitet. In einer Fernsehsendung aus dem Jahr 1989 zum zwanzigjährigen Geburtstag der Weltraumfahrt hieß es, dass der Weltraum die große Herausforderung unserer Zeit sei. Früher sei dies der Wilde Westen gewesen, die frontier, die Grenze, im Westen des nordamerikanischen Kontinents. Einiges, so die Aussage der Sendung, habe sich seither nicht geändert. Und als Beispiel wurde unter anderem das Zureiten der Pferde angeführt. Mein Vater hatte zu diesem Zweck einen eigenen Korral errichten lassen, zu dessen innerer Begrenzung in gleichmäßigen Abständen voneinander sechs kräftige Pfosten eingelassen waren. Dadurch war es ihm möglich, sechs Pferde gleichzeitig einzureiten. Als erstes zog er ihnen Halfter über. Dafür wurden sie bei Bedarf in einen Laufgang getrieben, damit man nahe genug an sie herankommen konnte. Als nächstes befestigte er kräftige Stricke an ihren Halftern und band jedes Tier an, wobei er den Strick in zirka 1,90 Meter Höhe um den Pfosten wickelte und das Ende an dem Zaun festmachte. Auf diese Weise hatte er schließlich sechs Pferde im Abstand von jeweils etwa zehn Metern im Korral festgezurrt. Danach waren die Tiere schon völlig verängstigt. Mein Vater stellte sich nun in die Mitte des Korrals und nahm eine schwere Plane oder einen beschwerten Sack zur Hand, an dem ein Seil befestigt war. Einem Pferd nach dem anderen schlug er den Sack auf den Rücken und um die Beine. Wenn der Sack auf ihre Hinterhand fiel und sich um ihre Hinterbeine wickelte, gerieten die Pferde in Panik. Sie verdrehten die Augen und schlugen aus, bäumten sich auf und zerrten an ihrem Zaumzeug, als ginge es um ihr Leben - was in ihren Augen ja auch tatsächlich der Fall war. Wer konnte ihnen schon klarmachen, dass dies nicht der Anfang vom Ende war? Furcht liegt in ihrer Natur, und sie waren außer sich vor Furcht. Sie warfen sich vor und zurück, versuchten nach allen Seiten auszubrechen, kämpften um ihr Leben. Ihre Hälse 25
und Köpfe schwollen an, und häufig zogen sie sich Verletzungen zu. Es war ein grauenhafter Anblick - und ist es auch heute noch. Die hier geschilderte Tortur, die als »Aussacken« bezeichnet wird, dauerte etwa vier Tage. Zweck der Übung war es, die Willenskraft des Pferdes zu brechen und seine Gegenwehr im Keim zu ersticken. Der nächste Schritt bestand darin, die Beine hochzubinden, und zwar meist das linke Hinterbein zuerst. Man schlang ein Seil um die hintere Fessel, zog es straff und band es am Halfter des Pferdes fest. Das künstlich verkrüppelte Pferd musste nun eine weitere Runde des Aussackens überstehen, wodurch seine Widerstandskraft weiter abnahm. Die Tiere kämpften tapfer in ihrer bemitleidenswerten Lage. Auf drei Beinen trugen sie ihre schwere Last. Manchmal wieherten sie vor Schmerz, denn der Zug auf den Haltern muss mörderisch gewesen sein. Alle vier Beine wurden reihum hochgebunden. Das Aussacken ging immer schneller, da den Pferden zusehends der Lebenswille genommen wurde. Als nächstes band man ihnen wieder ein Hinterbein hoch und schnallte ihnen einen Sattel auf. Der Widerstand der Pferde erwachte von neuem, diesmal gegen den Sattelgurt, doch zusätzliches Aussacken zermürbte sie. Einige Tiere wehrten sich stundenlang, andere gaben schneller auf und verfielen in einen Zustand der Orientierungslosigkeit, warteten teilnahmslos auf die nächsten Schmerzen. Inzwischen waren acht bis zehn Tage vergangen. Wo der Strick die Haut durchgescheuert hatte, waren die Fesseln blutverschmiert. Das Fell war stellenweise durch die starke Reibung versengt. Wunden und bisweilen ernsthafte Beinverletzungen waren an der Tagesordnung. Und das Verhältnis zwischen den Tieren und ihren menschlichen Beherrschern war nun klar umrissen: Sie arbeiteten aus Angst, nicht aus eigenem Willen. Die Leistungsbereitschaft eines Pferdes zu zerstören ist schlicht weg eine unverzeihliche Dummheit, gehört sie doch zu seinen wichtigsten Eigenschaften. Wird sie dagegen gehegt und gepflegt, kann sie sich zum zuverlässigsten und wertvollsten Faktor im Arbeitsleben eines Pferdes entwickeln. Bei allen Pferden, die mir im Laufe meines Lebens ans Herz gewachsen sind, habe ich am meisten ihren unendlichen Willen geschätzt, sich für mich einzusetzen. Die sechs Pferde wurden nun, eines nach dem anderen, losgebun26
den und mit einer Hackamore versehen, einer aus Rohleder geflochtenen Zäumung ohne Gebiss. Wenn mein Vater die Pferde zum ersten Mal ritt, wurde ihnen wieder ein Hinterbein hochgebunden, damit sie nicht bocken konnten. Er saß auf und saß ab, trat sie in den Bauch, versuchte sie auf jede erdenkliche Weise zur Gegenwehr zu reizen. Wenn sie sich bewegten, bekamen sie die Peitsche übergezogen. Sobald er davon überzeugt war, dass er ein Pferd »gebrochen« hatte, löste er die Stricke und ritt das Tier im Longierring im Kreis. Diejenigen Pferde, die noch nicht geritten werden konnten, verbrachten den größten Teil des Tages mit hochgebundenen Beinen. Das gesamte Verfahren dauerte für die sechs Pferde mindestens drei Wochen. Gestatten Sie mir nun, aus tiefer innerer Überzeugung eine Behauptung aufzustellen: Wenn Sie mir heute diese sechs Pferde anvertrauen würden, so würde ich sie Ihnen, ohne jeden Strick und ohne den Tieren auch nur eine Sekunde lang Schmerzen oder Unbehagen zu bereiten, einreiten. Eine Peitsche käme bei mir nicht einmal in die Nähe eines Pferdes. Ich würde bis zu einem gewissen Grad meine Stimme einsetzen, mich im wesentlichen jedoch auf meine Körpersprache verlassen. Sie bekämen auf diese Weise ein leistungsbereites Pferd, das sich den Rest seines Arbeitslebens voll für Sie einsetzen würde. Und um dies zu erreichen, brauchte ich für alle sechs Pferde keine drei Wochen, sondern lediglich drei Stunden. Mein Vater stand neben einem Fremden und winkte mich zu sich. »Monty, das ist Mr. Don Page.« Vor mir stand riesengroß Don Page und streckte mir die Hand entgegen. »Schön, dich kennen zu lernen, Monty.« »Guten Tag, Sir.« Man schrieb das Jahr 1940. Ich war fünf Jahre alt. Mein Bruder Larry und ich nahmen an einem Wettkampf bei den Pickwick Riding Stables in Burbank, Kalifornien, teil. In jener Region sind auch viele bekannte Hollywood-Studios angesiedelt, darunter MGM, Paramount und Warner Brothers. Mein Vater fuhr fort: »Mr. Page arbeitet für eine Filmgesellschaft, Monty.« Beide sahen mich erwartungsvoll an, und ich harrte der Dinge, die 27
da kommen mochten. Mr. Page ging in die Knie, so dass er ungefähr auf meiner Höhe war, und klärte mich auf: »Pferdefilme sind zur Zeit sehr beliebt, weißt du. Hast du schon mal welche gesehen?« »Ich hab' Filme gesehen mit Pferden drin, ja.« Es stimmte. Landauf, landab gab es in den Kinozelten die unterschiedlichsten Filme zu sehen, in denen immer ein Pferd und ein Junge oder ein Pferd und ein Mädchen vorkamen. »Weißt du, dass Mary O'Hara, die Frau, die Mein Freund Flicka geschrieben hat, für MGM als Drehbuchautorin arbeitet?« fragte Don Page. Nein, das wusste ich nicht. Aber ich war ja auch erst fünf. »So, wie es aussieht, sind die Menschen ganz versessen auf hübsche Geschichten mit Kindern und Pferden und dergleichen. Sie helfen ihnen, die Not zu vergessen, die Wirtschaftskrise, den Krieg da drüben in Europa und so weiter. Wir haben bloß nicht genug Kinder, die für uns reiten können.« Ich sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und begriff allmählich, worauf er hinauswollte. Sicher lief das auf ein Angebot hinaus. Ich war natürlich bereit, sofort zuzugreifen. »Wir haben im Studio echte Schwierigkeiten, junge Reiter aufzutreiben. Dein Papa hat mir erzählt, dass du ganz gut reitest. Was meinst du - willst du nicht mal mitkommen und uns zeigen, was du kannst?« Mr. Page schlug vor, wir sollten uns einen Tag freinehmen und zu einem nahe gelegenen Trainingsgelände für die berittenen Stuntmen des Studios kommen. Mein Vater sagte zu, und wir richteten uns darauf ein, »vorsingen« zu müssen. Als wir zum vereinbarten Zeitpunkt auf dem Gelände eintrafen, begrüßte uns eine Reihe von Leuten, die bereits darauf warteten, mich und meine Reitkünste zu begutachten. Was das für Leute waren, weiß ich nicht, aber es dürfte sich um Studiomitarbeiter gehandelt haben, die für die Besetzung und den Einsatz der Stunts zuständig waren. Auf jeden Fall musste ich zunächst einmal eine Fülle von »Hallos« über mich ergehen lassen und zahlreiche Hände schütteln. Sie hatten ein ruhiges, berechenbares Pferd für mich ausgesucht, das offenbar an diese Art Volksvergnügung gewöhnt war. Es war ein brauner Wallach, der in jenen Tagen, als es die Filmindustrie mit den Sicherheitsvorkehrungen für Tiere noch nicht so genau nahm, den vergleichsweise niedrigen Status eines Studiopferdes innehatte. 28
Einer der Herren rief mir zu: »Okay, Monty, jetzt zeig uns mal einen schönen Galopp von links nach rechts!« Ich zeigte ihn. »Und jetzt andersrum zurück, wenn's geht.« Ich brachte das schwierige Manöver erfolgreich zu Ende. »Und jetzt ein Stopp mit Absitzen, geht das?« In seiner Frage lag diesmal ein gewisser Zweifel. Ich hatte keine Probleme. Solche Dinge beherrschte ich schließlich schon seit fast zwei Jahren. Mein Vater und die Beobachter der Filmgesellschaft tuschelten miteinander. Derjenige, der mir die Aufgaben zugerufen hatte, kam zu mir herüber. Er sah mich an und fragte in ernstem Ton: »Siehst du die Sandgrube da hinten?« Ich folgte seinem Fingerzeig und fand, was er meinte. »Könntest du jetzt - wenn es dir nichts ausmacht - über die Grube reiten und dort... und dort einfach reinfallen? Während das Pferd weiterläuft?« Ich jagte den Filmwallach im Galopp über die Sandgrube und tauchte rechtsseitig ab. Der spontan aufbrandende Applaus ging sicher auf die Initiative meines Vaters zurück, der die vielen neuen Autos auf dem Parkplatz vor dem Gelände gesehen hatte. Ich stand auf und klopfte mir den Sand aus der Kleidung. Irgendwer hatte den Wallach eingefangen und brachte ihn zurück. Jetzt kamen die Filmleute langsam auf den Geschmack und verlangten die verschiedensten Tricks von mir. »Kannst du auch über die Hinterhand runterfallen?« - »Kannst du an uns vorbeigaloppieren und auf der anderen Seite runterhängen, so dass wir dich nicht sehen können?« Wie die meisten anderen Kinder auch hatten mein Bruder und ich am Samstagmorgen oft Filme angesehen. Später probierten wir dann zu Hause aus, was die Stuntmen uns vorgemacht hatten. Wir besaßen sogar einen Tricksattel mit den entsprechenden Spezialgriffen; mein Vater hatte ihn uns aus einem alten Sattelgeschäft mitgebracht. Ich war fix und fertig, als wir das Studiogelände verließen. Aber ich hatte den Einstieg ins Filmgeschäft geschafft. In den folgenden Jahren übernahm ich zahlreiche Rollen. Einmal doubelte ich Roddy McDowall. Das Filmteam baute gerade eine riesige Kamera auf, wie sie in jenen Tagen gebräuchlich war, und richtete das Weitwinkelobjektiv auf den Paddock. Dann ver29
sammelten wir uns, um uns unsere Instruktionen anzuhören. Der Regisseur erklärte mir, was ich zu tun hätte: »Okay, Monty. Du fängst also hier im Paddock das Pferd mit dem Lasso ein. Das nette kleine Mädchen sitzt da drüben auf dem Zaun und sieht dir zu. Hast du das kapiert?« »Alles klar.« »Das Pferd reißt dich von den Füßen, aber du lässt nicht los, sondern hältst dich auf Teufel komm raus am Lasso fest.« »Okay.« Er runzelte besorgt die Stirn. »Und vergiß ja nicht, dass dich das Pferd 'ne ganze Weile über die Koppel schleifen muss. Wir brauchen diese Bilder unbedingt.« »Nein, nein, ich halte das Lasso fest, bis Sie mir sagen, dass ich es loslassen kann.« Das gab ihm sichtlich Auftrieb. »Na prächtig! Und wir schneiden die Szene dann zusammen. Roddy McDowall bringt die Kleine her und zieht danach wieder mit ihr ab.« »Verstehe.« »So, und jetzt ab in die Garderobe. Da wirst du mit den gleichen Klamotten ausstaffiert, wie Roddy sie trägt.« Diese Forderung war leicht zu erfüllen, wenn auch mein Vater kopfschüttelnd hinter der Kamera auf und ab lief, den Produzenten immer wieder die Gefährlichkeit des Unternehmens vor Augen hielt und verlangte, dass die Risiken, die sein Sohn auf sich nahm, bei der Bezahlung berücksichtigt werden sollten. Ich fing das Pferd mit dem Lasso ein und stemmte meine Hacken in die Erde, damit es so aussah, als zöge es mich mit sich fort. Ich biß - buchstäblich - ins Gras und wurde, wie geplant, vom Pferd über den Boden geschleift. Auf einmal gab es ein Geräusch, als ginge etwas in Stücke. Es war etwas geschehen, das niemand vorhergesehen hatte: Die Hose, die mir die Kostümbildnerin gegeben hatte, bestand aus einem dünnen, kreppartigen Material, das der rauhen Behandlung nicht gewachsen war. Die gesamte Rückseite war herausgerissen. Als ich mich aufrappelte, wäre ich am liebsten vor Scham in den Boden versunken. Da stand ich nun ohne Hose, und es gab niemanden, der mich auf die Schnelle aus dieser misslichen Lage hätte befreien können. 30
Doch was noch schlimmer war: Es gab keine Ersatzhose. Man hatte das gute Stück exakt nach dem Vorbild der Hose Roddy McDowalls hergestellt. Eine zweite Dublette existierte nicht. Das Malheur mit der Hose versetzte die Filmcrew in helle Aufregung, und es gab ein ziemliches Tohuwabohu. Schließlich einigte man sich darauf, dass sie die Szene, in der mich das Pferd durch den Dreck zog, unbedingt noch ein paar Mal filmen mussten. Ich musste also weitermachen - diesmal allerdings in meinen eigenen Jeans. Was die Einheitlichkeit der Aufnahmen betraf, so wollten sie sich irgendwie behelfen. Später sahen wir uns den fertigen Film an. An der entsprechenden Stelle trat Roddy McDowall zunächst in schmutzig-weißen Hosen auf, fing Sekunden später in Jeans ein ziemlich wild aussehendes Pferd ein, nur um im nächsten Augenblick wieder seine hellen Hosen zu tragen. Von diesem Tag an war uns allen klar, dass man nicht ohne weiteres alles glauben kann, was einem im Kino so vorgesetzt wird. Im Laufe der Jahre doubelte ich zahlreiche Kinderstars: In Kleines Mädchen, großes Herz war ich Elizabeth Taylor. Ich war auch Mickey Rooney, Charlton Heston, Tab Hunter und viele andere. Keine schlechte Karriere für einen Jungen, der gerade erst in die Schule kam. Alle Entscheidungen im Zusammenhang mit der Filmerei traf mein Vater. Er verhandelte mit den Studios und unterzeichnete die Verträge. Er war nicht verpflichtet, sich mit mir zu beraten oder mir mitzuteilen, wieviel ich verdiente, denn der Einsatz von Minderjährigen in der Filmproduktion war damals gesetzlich noch nicht geregelt. Eine Ausbildung war nicht vorgesehen, und es gab weder einen Mindestlohn noch Sicherheitsbestimmungen. Heutzutage hat ein sechsjähriger Filmschauspieler einen Agenten, einen Anwalt und ein Treuhandkonto, und die Eltern sind im Umgang mit ihrem Kind an bestimmte ethische Normen gebunden. Als sich meine Drehtermine häuften, gratulierte mir Vater des Öfteren zu meinen finanziellen Erfolgen. Er sagte mir, dass er das Geld in meinem Namen investiere, so dass es für mich bereitläge, wenn ich alt und vernünftig genug sei, darüber selbst zu verfügen. Wenn ich einen neuen Sattel oder dergleichen brauchte und ihn um einen Vorschuss bat, schüttelte er den Kopf und sagte in strengem Ton: »Monty, ich habe dir doch gesagt, dass ich das Geld für dich aufbewahre.« 31
Er stand zu seinem Wort, das muss ich zugeben: Ich habe niemals auch nur einen Cent von meinen Einkünften zu Gesicht bekommen. Waren die Pferde oder die Menschen in der Überzahl? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß auch nicht mehr, wer von beiden den meisten Lärm machte. Ich musste immer Ausschau nach meinem Vater halten, weil ich fürchtete, im Gedränge verloren zu gehen. Schrille, laute Rufe — das hektische Verkaufsgeplapper des Auktionators - drangen an mein Ohr. Pferde aller Art wurden in den Ring getrieben und in allen Gangarten gezeigt. Die Aufregung und Spannung der Auktion war für einen Siebenjährigen unglaublich beeindruckend. Wir drängelten uns zu einem mehr oder weniger guten Stehplatz am Ring vor und beobachteten die ersten Pferde, ohne dass sich mein Vater sonderlich für sie interessiert hätte. Dann wurde eine nervöse Fuchsstute in den Ring gelassen, die laut Auktionsprogramm acht Jahre alt sein sollte. Sie spielte sich auf, reckte die Nüstern in die Luft, ärgerte sich sichtlich über das Halfter und stupste den Mann, der sie führte, in den Rücken, als wäre sie nur zwei Jahre alt. Es handelte sich eindeutig um ein problematisches Pferd, für das sich niemand interessierte. Ausgenommen mein Vater: Er hatte genau auf ein solches Tier gewartet. Er hob die Hand und erwarb es für einen Spottpreis. Er unterzeichnete den Ankaufszettel und legte mir die Hand auf die Schulter. »An die Arbeit, Monty«, sagte er. »Komm mit!« Jetzt geht's schon wieder los, dachte ich bei mir. Im Eilschritt erreichten wir die Boxen hinter dem Vorführring und suchten die Fuchsstute, die mein Vater soeben erstanden hatte. Unterwegs nahm er noch Longe, Sattel, Zaumzeug und Peitsche mit. Nachdem wir die junge Stute gefunden hatten und uns mit ihr in sicherer Entfernung befanden, legte Vater ihr Sattel und Zaumzeug an und nahm sie an die Longe. Er ließ das Tier etwa zehn Minuten lang mal links, mal rechts herum im Kreis laufen, brachte es dann zum Stehen und nahm die Longe ab. »Überfüttert und zu wenig gefordert«, lautete sein Urteil, das gleichzeitig als Erklärung für die Ursache des unwilligen Verhaltens der jungen Stute herhalten musste. »Reite sie hart, ungefähr eine Stunde lang, dann lass sie im Schritt gehen und abkühlen. Lass sie jede Viertelstunde ein paar Schritte rückwärts gehen. Wenn du fertig bist, 32
putzt du sie. In drei Stunden bringen wir sie wieder in den Ring und ziehen die übliche Vorstellung ab.« Mit diesen Instruktionen ließ er mich allein. Ich sah ihm nach, wie er zum Verkaufsplatz zurückschlenderte, um weitere Geschäfte zu tätigen. Die nächsten drei Stunden war ich mit der Fuchsstute allein. Mein Vater überließ mir immer jene Pferde, deren Schwierigkeiten seiner Ansicht nach daher rührten, dass sie von jugendlichen Reitern falsch behandelt worden waren. Mit diesen »von Kindern verdorbenen« Pferden konnte ich seiner Meinung nach am besten umgehen. Denn wenn ich diese Tiere einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, fiel ihnen, wie er glaubte, die Gewöhnung an normale Reiter leichter. Ich nahm mir also die Fuchsstute vor und befolgte meines Vaters Anweisungen. Doch weder in diesem noch in allen anderen Fällen dieser Art ließ ich es mir nehmen, mir mein eigenes Urteil über die möglichen Ursachen für die Verhaltensstörungen des Tiers zu bilden. Knapp drei Stunden später kehrte mein Vater zurück. »Nun leg mal los!« forderte er mich auf. Im Schritt, im Trab und im Galopp ritt ich das Pferd im Kreis. Dann saß ich ab, duckte mich und ging unter dem Bauch der Stute hindurch. Dies wiederholte ich mehrere Male. »Okay«, sagte mein Vater. »Gehen wir.« In der Auktionsarena verfolgten mich die aufmerksamen Blicke potentieller Käufer. Ich führte ein, wie es schien, gut eingerittenes, gutmütiges Pferd vor und zeigte diverse Übungen, die ihren Eindruck nicht verfehlten. Zum Schluss stieg ich ab und »unterquerte« das Tier in beiden Richtungen. Ich spürte, wie sich die Käufer um die Arena drängten. Sie waren zutiefst beeindruckt. Die Stimme des Auktionators wurde immer schneller und noch einen Ton schriller. Die Gebote erreichten das Doppelte, ja das Dreifache der Summe, für die mein Vater das Tier zuvor erstanden hatte. Wenn ich heute daran zurückdenke, glaube ich, dass der Auktionator von dem Vorgehen meines Vaters gewusst haben muss. Natürlich war nichts Illegales dabei. Nur war die Methode meines Vaters sicher auch nicht optimal, um die Probleme bestimmter Pferde effektiv zu beheben. Man konnte sie damit vorübergehend übertünchen, mehr nicht. Was mich persönlich betrifft, so gewann ich allein schon durch die Vielzahl der Pferde, die ich auf diese Art und Weise zu reiten 33
bekam, eine Erfahrung, die ihresgleichen suchte. Mit der Zeit entwickelte ich die Fähigkeit, kritische Pferde und ihre Probleme schnell und präzise zu erkennen, sie gleichsam zu »lesen«. In all den Jahren, in denen ich für meinen Vater tätig war, bemühte ich mich, durch genaues Beobachten ihres Verhaltens und ihrer Reaktionen herauszufinden, was die Pferde störte oder beunruhigte. Ich entwickelte ein »inneres Ohr«. Ich glaubte, dass die Pferde mir etwas sagten. Vor allem aber machte ich die Erfahrung, dass es in den allermeisten Fällen völlig fehl am Platz war, auf das zu hören, was die Leute, die mit dem betreffenden Pferd zu tun hatten, von sich gaben. Nicht etwa, dass sie gelogen hätten - sie hörten einfach nicht zu. Diese Erkenntnis wurde im Laufe der Zeit zum Grundstein meines Denkens und gewann durch die ständige Bestätigung, die sie bei meiner Arbeit mit Pferden erfuhr, nach und nach fast sprichwörtlichen Charakter: »Ein guter Trainer kann hören, was ein Pferd zu ihm sagt. Ein großer Trainer versteht sogar sein Flüstern.« Die harte Sonne Kaliforniens brannte auf den ausgedörrten Boden. Mein Vater und ich waren in jenem Korral, in dem er die Pferde einritt. Ein tiefschwarzer Schatten folgte all seinen Bewegungen wie ein Geist, vor dem es kein Entrinnen gab. Vater lehnte sich an einen der sechs Pfähle, an die er immer die jungen Pferde festband. Er war fast so groß und schlank wie der Pfosten. Er rollte ein Lasso zusammen, um es akkurat an den Pfahl zu hängen - bereit für das nächste arme Tier, das bald an ihm zappeln würde wie ein Fisch an der Angel. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass du lernst, wie man ein Pferd zureitet«, sagte er. Ich war sieben Jahre alt. Ich irre mich nicht in der Zeit, weil wenig später einschneidende Ereignisse eintraten, die mein Leben von Grund auf veränderten. Was ich damals noch nicht wissen konnte: Es war unser letzter Sommer auf dem Rodeogelände. Ich sagte nichts, als mein Vater mir diesen Vorschlag machte. Ich wollte mit diesem Aussacken nichts zu tun haben, denn ich kannte das Festbinden, das Prügeln sowie die Verletzungen, zu denen all das führte. Die sechs Pfähle waren für mich unbarmherzige Posten, die diese furchtbare Prozedur überwachten. 34
»Eigentlich müsstest du das meiste schon schaffen, obwohl du noch ein Kind bist«, fügte Vater hinzu. Wir schlenderten zu einem nahe gelegenen Korral. Vater kniff im Gegenlicht die Augen zusammen und deutete auf zwei junge Pferde. »Die zwei dahinten.« Ich beobachtete die Tiere eine Zeitlang; sie wirkten gutmütig, und ich hatte einen recht guten Eindruck von ihnen. Dann kletterten wir über den Zaun und gingen auf die beiden Pferde zu. Sie bewegten sich und wichen langsam zurück, reagierten aber auf unsere Stimmen. Es lag auf der Hand, dass mit ihnen bereits gearbeitet worden war. »Wir werden uns die beiden zusammen vorknöpfen müssen, okay?« Nein, wollte ich antworten, nein, ich will mit diesem Fesseln und Aussacken nichts zu tun haben. Die Methode war mir so zuwider, dass ich, wenn irgend möglich, zeitlebens nichts von ihr wissen wollte. Da ich nichts sagte, fuhr mein Vater fort: »Ich sag' dir Bescheid, wenn ich mal Zeit habe, dir beizubringen, wie man's macht.« »Gibst du mir noch ein paar Tage Zeit?« fragte ich. Er merkte offenbar gar nicht, wie sehr mir die Sache gegen den Strich ging. Dass man den Willen eines Pferdes brechen musste, wenn man es zureiten wollte, war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Er kannte es nicht anders. »Ein paar Tage Zeit?« fragte er zurück. »Wozu?« »Vielleicht kann ich die Pferde erst noch etwas besser kennenlernen, weißt du.« »Kennenlernen?« fragte er verblüfft. »Ja, vielleicht.« »Na gut, meinetwegen. Aber sieh zu, dass du keinen Blödsinn machst. Und keine Experimente, verstanden? Ein Pferd ist eine gefährliche Maschine, das darfst du nie vergessen. Die Gäule müssen deine Handschrift spüren, und zwar richtig. Sonst trifft's am Ende dich.« Ich brachte die Pferde in einen Longierring weit draußen und versuchte einfach, sie besser kennen zu lernen. Von Gefahr konnte keine Rede sein, da in der Nähe auch andere Leute mit ihren Pferden arbeiteten und mich im Auge behielten. Ich tat nichts weiter, als ihnen zu folgen und sie durch gutes Zureden dazu zu bewegen, mich näher an sie heranzulassen. Im Grunde 35
war mir gar nicht klar, was ich damit beabsichtigte. Doch am dritten Tag stellte ich überrascht fest, dass eines der Pferde anfing, mir zu folgen. Wo immer ich hinging — der Wallach folgte mir auf dem Fuße. Zu meiner großen Verwunderung ließ er sogar zu, dass ich ihm, auf den Zehenspitzen stehend, einen Sattel auf den Rücken legte. Es gab keine logische Begründung dafür — es geschah ganz einfach. Ich war hellauf begeistert von dem, was mir da geglückt war. Auf dem schnellsten Weg rannte ich nach Hause, um meinem Vater Bescheid zu sagen. Er solle sofort kommen und sich das Pferd ansehen. Vater kam zwar mit hinaus, erinnerte mich auf dem keine zweihundert Meter weiten Weg zum Longierring aber daran, dass er mich vor Unfug und Experimenten gewarnt hatte. Seine Stimmung konnte ich nicht recht einschätzen. Vielleicht war er lediglich schlechter Laune, weil ihm die Unterbrechung für nichts und wieder nichts ungelegen kam? Vielleicht witterte er auch schon meinen Ungehorsam und war deswegen böse auf mich. Als wir bei den Pferden ankamen, sagte er kein Wort. Er fragte mich nicht, was um alles in der Welt ich im Schilde führte und ihm zeigen wollte. Er begab sich lediglich auf den leicht erhöhten Beobachtungsplatz am Zaun und harrte der Dinge, die da kommen würden. Zuversichtlich brachte ich den Wallach in den Longierring und ging gemeinsam mit ihm auf und ab - ein seltsamer Tanz, bei dem keiner der beiden Partner den nächsten Schritt des anderen kannte. Zum Schluss stand ich neben dem Tier, langte so hoch ich konnte und ließ mit ruhigen, vorsichtigen Bewegungen den Sattel auf seinen Rücken gleiten. Es war ein Erlebnis voller Magie. Als ich mich nach meinem Vater umsah, starrte er mich mit offenem Mund an. Ich war mir nicht sicher, wie ich seinen Blick zu deuten hatte, hoffte jedoch, dass Verblüffung und Stolz über die Leistung, die ich in nur drei Tagen vollbracht hatte, überwogen. Langsam und noch immer mit jenem Blick in den Augen, der alles bedeuten konnte, erhob er sich. Seine ersten Worte waren: »Was habe ich da bloß in die Welt gesetzt?« Er sprang von der Beobachtungsplattform, und ich sah plötzlich die meterlange Stallkette in seiner Hand. Er stürmte auf mich zu und packte mich am Arm. »Was habe ich da bloß in die Welt gesetzt?« wiederholte er. Ich 36
glaube, er war damals absolut überzeugt, dass sein Sohn etwas Schlimmes, grundlegend Schlechtes getan hatte. Er hob die Kette und ließ sie mit brutaler Härte auf meinen Hintern und meine Oberschenkel niedersausen. Der Schmerz und der Schock durchführen mich von Kopf bis Fuß, und das Blut wich aus meinem Gehirn, so dass ich fast ohnmächtig wurde. Etwas schien in mir zu zerbrechen. Ich erinnere mich noch heute an den harten Griff, mit dem seine Linke meinen Oberarm umklammerte, so dass kein Entrinnen möglich war. Mit der Rechten schwang er die Kette und drosch auf mich ein. Minutenlang hagelten die Schläge auf mich herab. Verzweifelt wand ich mich in seinem Griff hin und her. Am Ende war ich nur noch ein Häuflein Elend. Mein Vater hatte mich genauso behandelt wie die Pferde, die er so lange prügelte, bis sie sich ihm unterwarfen. Und ich empfand genauso wie die Tiere empfand die gleiche Wut und die gleichen Versagensgefühle. Heute kann ich sagen, dass sich mein Hass zeit meines Lebens nicht gelegt hat. Das Verhalten meines Vaters war ein Musterbeispiel dafür, wie man sich Respekt und Loyalität seines Kindes verscherzt. Das einzige, was er bei mir erreichte, waren Angst und ein widerwilliger Gehorsam. Für mich bedeutete diese Mischung aus Schmerzen und Enttäuschung noch etwas anderes: Nie wieder, das schwor ich mir, wollte ich meinem Vater meine neue Methode zeigen, Pferde einzureiten. Ich zog ihn tatsächlich nie wieder ins Vertrauen. Und nur noch einmal, vierundvierzig Jahre später, lud ich ihn zu einer Vorführung im Longierring ein. Damals - 1986 - war er achtundsiebzig Jahre alt. Kurz darauf starb er. Später in jenem Jahr - 1942 - stand auf einmal ein Fremder vor den Toren des Rodeogeländes von Salinas. Der stämmige Mann, der sein Kommen nicht angekündigt hatte, war kleiner als mein Vater und hatte den gedrungenen, athletischen Körperbau eines Rugbyspielers. Gekleidet in Jackett und Schlips und mit einer Aktentasche in der Hand, war er alles andere als ein normaler Gast. Nachdem mein Vater und meine Mutter ihn begrüßt hatten, standen sie lange mit ihm zusammen und diskutierten. Mein Bruder und ich sahen zu, begriffen aber nicht, worum es 37
ging. Wir sahen, wie mein Vater des öfteren die Hand hob und mal in diese, mal in jene Richtung deutete. Als die drei Erwachsenen losgingen, folgten wir ihnen unauffällig und lugten um die Scheunenecken, um sie ja nicht aus den Augen zu verlieren. Wir fanden bald heraus, dass dieser Fremde Stellen auf dem Gelände sehen wollte, die nicht zum normalen Besuchsprogramm gehörten. Mit unseren sechs beziehungsweise sieben Jahren hatten Larry und ich schon eine ziemlich genaue Vorstellung von den Zielen und Absichten der Besucher. Je länger wir hinter unseren Eltern und dem Mann her spionierten, desto klarer wurde uns, dass da etwas höchst Eigenartiges im Busch war. Ab und zu schritt der Fremde die Wände eines Stalls ab und notierte sich die Maße. Er prüfte auch den Zaun, der das gesamte Gelände umschloss. Immer wieder deuteten die Erwachsenen hierhin und dorthin, und alles wurde schriftlich festgehalten. Einen Monat später traf ein Brief ein. Vater las ihn uns vor: »... bestätigen hiermit, dass das Rodeogelände von Salinas requiriert und von der Regierung der Vereinigten Staaten als Internierungslager für Amerikaner japanischer Herkunft genutzt wird.« Wir waren wie vor den Kopf geschlagen. Was war ein »Internierungslager«? Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Jahr zuvor war Amerika in den Krieg eingetreten; aber ich begriff nicht, was das bedeutete. Abwechselnd klärten uns unsere Eltern auf: Zwischen Amerika und Japan herrsche Krieg. Deshalb seien japanische Einwanderer und deren Familien als Feinde zu betrachten und müßten für die Dauer des Krieges interniert werden. Nur — diese Menschen waren ja unsere Freunde und Nachbarn. Einige von ihnen lebten schon, solange wir denken konnten, in unserer Nähe. Larry und ich verstanden noch immer nicht, was eigentlich los war. Unseren Eltern blieb nichts anderes übrig, als uns immer wieder von neuem und mit immer anderen Worten zu erklären, dass, solange dieser Krieg andauerte, nichts mehr so sein würde wie früher. Die japanischstämmigen Amerikaner unserer Region würden auf das Rodeogelände gebracht werden. »Wo sollen die denn alle wohnen?« fragten wir begriffsstutzig. »Die Regierung hat vor, sie in den Ställen unterzubringen.« »In den Ställen? Und was geschieht mit den Pferden?« 38
Vater schwieg, vertiefte sich noch einmal in den Brief und las uns dann vor: »Die sanitären Anlagen und die Gemeinschaftsräume werden in eigens zu errichtenden Gebäuden untergebracht werden.« Ich bin sicher, dass Mr. Sherwood von einer solchen Wendung der Ereignisse nichts geahnt hat, als er seinerzeit der Stadt Salinas das Gelände überließ. Natürlich begriffen Larry und ich nun, dass nicht nur unsere japanisch-amerikanischen Nachbarn von den Veränderungen betroffen waren, sondern auch wir selbst. Wir fragten unsere Eltern Löcher in den Bauch. Vater faltete den Brief zusammen und erklärte uns die Lage. Wir hatten die Wahl zwischen zwei Übeln: Wir konnten bleiben, mussten in diesem Fall aber die Reitschule und die Pferdeausbildung so gut wie einstellen. Oder wir mussten umziehen. Es war eine traumatische Erfahrung - nicht nur für mich und meinen jüngeren Bruder Larry, sondern auch für unsere Eltern. Wollten wir weiterhin in unserem angestammten Haus wohnen, so würde sich unser Leben in sehr beengten Verhältnissen und hinter einem Stacheldrahtverhau abspielen, als wären wir selbst Gefangene. Und ob wir nun blieben oder fortzogen — in jedem Fall würden wir die meisten unserer Pferde verkaufen müssen. Dass Larry und ich nicht begriffen, warum unser Land mit Japan Krieg führte, vergrößerte unsere Verwirrung noch. Wir gingen in die Grundschule und hatten viele Klassenkameraden japanischer Herkunft. Mit einigen von ihnen waren wir befreundet; sie wohnten in der Nähe, und ihre Eltern waren erfolgreiche Farmer. Und nun sollten sie auf einmal eingesperrt werden - und dies ausgerechnet auf dem Gelände, das wir, obwohl es offiziell Eigentum der Gemeinde Salinas war, als unser angestammtes Zuhause betrachteten. Ich erinnere mich, dass eine endlose Debatte einsetzte. Alle Argumente wurden wieder und wieder hin- und hergewendet, und die Stimmung in der Familie sank von einem Tag auf den anderen. Dabei hatten wir in Wirklichkeit gar keine Alternative. Wir entschlossen uns zum Umzug. Mir war, als sei mein Leben zu Ende. Ich konnte nicht mehr schlafen und weinte nächtelang. Meine Trauer und Verzweiflung hatten überwiegend egoistische Gründe, wie es bei kleinen Kindern oft vor39
kommt. Ich hielt mich bereits für einen Reitweltmeister und sah meine Zukunft im Pferdesport. Und jetzt auf einmal sollten alle unsere Pferde mitsamt der Ausrüstung verkauft werden. Wir beobachteten mit Entsetzen, wie eine endlose Kette von Fahrzeugen die Tore zum Rodeogelände passierte. Ohne Verzögerung wurde der beschlossene Umbau der Anlagen in die Tat umgesetzt. Lastwagen brachten Baumaterialien, mit denen die Pferdeställe in äußerst primitive Notquartiere umgewandelt wurden. Provisorische sanitäre Einrichtungen wurden aus dem Boden gestampft. Andere Laster transportierten unseren Hausrat, unsere Anlagen und unsere Pferde ab. Ein Transporter nach dem anderen brachte seine Fracht zum Pferdemetzger. Larry und ich waren außer uns vor Empörung. Wir standen am Tor und sahen den Lastwagen nach, bis sie auf Nimmerwiedersehen in den Staubwolken verschwanden. Um bei uns Verständnis für diese Vorgänge zu wecken, erzählte man uns, Pferdefleisch sei ein kriegswichtiges Gut. Rund um den Globus lebten US-Soldaten, die nicht viel älter waren als wir, unter zum Teil erbärmlichen Bedingungen. Der Kampf gegen die Tyrannen könne nur erfolgreich bestanden werden, wenn diese jungen Soldaten so gesund und wohlgenährt wie möglich blieben. Das Pferdefleisch, das wir ihnen lieferten, würde ihnen das Überleben und unserem Land das Siegen leichter machen. Mit der Wahrheit hatte das natürlich nichts zu tun. Tatsache war vielmehr, dass es keinen Ort gab, an dem wir die Pferde hätten unterbringen können. Niemand konnte sich noch Pferde leisten. Das Benzin war rationiert, und das Geld reichte nicht einmal für die Transportkosten. Auch Ginger zählte zu den Pferden, die abtransportiert und geschlachtet wurden. Unser neues Domizil war ein kleines Haus im Zentrum von Salinas; davor verlief ein betonierter Bordstein. Es war das einzige Haus mit einer Hausnummer, in dem ich gelebt habe: 347 Church Street. Es stammte aus den zwanziger Jahren, hatte eine mit Schindeln verkleidete Fassade und verfügte über drei Schlafzimmer und eine Art Hochparterre. Man betrat das Haus über eine große, überdachte Veranda. Im Garten hinter dem Haus stand ein großer Magnolienbaum, gegen dessen Pollen ich, wie sich bald herausstellen sollte, 40
allergisch war. Es war ein Grundstück mitten in der Stadt; rundherum gab es Nachbarn. Ich kannte so etwas nicht und lehnte die neue Umgebung von Anfang an ab. Meine Mutter versuchte mich zu trösten. Sie nahm unseren großen Globus, trug ihn in mein Zimmer und forderte mich auf, ihr zu zeigen, wo Japan liege. Nach einigem Suchen fand ich es. Und dann bat sie mich, Amerika zu suchen. »Da!« »So, Monty, nun sieh dir einmal diese beiden Länder an. Japan ist ein Sammelsurium aus lauter kleinen Inseln. Die Vereinigten Staaten dagegen sind eine große Landmasse, nicht wahr? Wenn du die beiden Länder vergleichst, dann verstehst du, warum der Krieg in ein paar Monaten vorüber sein wird. Und dann können wir auch wieder aufs Rodeogelände ziehen.« Das tröstete mich, doch gab es auch zahlreiche Indizien, die dagegen sprachen, so dass ich allmählich an den Worten meiner Mutter zu zweifeln begann. Wenn der Krieg ohnehin bald vorüber sein würde warum klebten sich dann die Leute Aufkleber mit den Worten Ist diese Fahrt wirklich notwendig? auf die Autoscheiben? Hinzu kam, dass mein Vater als Polizist arbeiten sollte. Er war vierunddreißig Jahre alt und wurde daher nicht mehr zur Armee eingezogen. Der Mangel an jungen Männern und der Umstand, dass er früher als Förster gearbeitet hatte, machten ihn jedoch zum idealen Anwärter auf einen Posten in der Polizeidienststelle von Salinas. Mit der Bekanntgabe seiner Einstellung wurde mir immer klarer, dass die Veränderungen in unserem Leben von Dauer sein würden und mit einer Rückkehr auf das Rodeogelände nicht mehr zu rechnen war. Ein Ereignis allerdings lenkte mein Leben auf jenen Weg zurück, der mir wohl vorbestimmt war: Es gelang meinem Vater, ein kleines landwirtschaftlich nutzbares Grundstück am Stadtrand zu pachten. Es handelte sich nur um ein paar Morgen Land mit einem Stall darauf und war nicht vergleichbar mit dem Gelände, auf dem wir zuvor gelebt hatten. Aber es ermöglichte uns immerhin, zehn bis fünfzehn Trainingspferde aufzunehmen. Zunächst machten wir mit einem Wasserschlauch das Grundstück gründlich sauber. Dann errichteten wir Zäune und teilten das Gelände auf, reparierten Gatter und schrubbten Betonböden, bis sie 41
nur so schimmerten. Zentimeter um Zentimeter suchten wir das Grundstück nach Nägeln und Stacheldrahtresten ab, die die Hufe der Pferde hätten verletzen können. Wir brachten die Wasserleitungen in Ordnung, setzten die Gattertore wieder in ihre Scharniere und errichteten einen Futterbehälter. Es gab eine Menge zu tun, bis das Gelände für die Pferdehaltung geeignet war. Auch Vorratsräume für Heu und Stroh legten wir an. Schon bald stieg mir wieder der glückverheißende Geruch nach Pferden in die Nase. Obwohl mein Vater ein grausamer, furchterregender Mann war, erfüllte er mir meinen sehnlichsten Wunsch: Er gab mir die Chance auf eine Zukunft mit Pferden zurück. Meine unmittelbare Zukunft war aufs engste mit einem kleinen braunen Pferd namens Brownie verknüpft, das zu den ersten Neuankömmlingen in der Anlage an der Villa Street gehörte. Brownie war ein Wallach mit einem Stockmaß von 1,52 Meter. Seine Mutter war eine Mustangstute. Sein Vater, ein Vollblut, gehörte zu den staatlichen »Remonten«. Im Rahmen eines Zuchtprojekts der amerikanischen Kavallerie wurden Vollbluthengste freilaufenden Mustangherden zugesellt. Die Rancher bekamen Abschußprämien für Mustanghengste, damit die Stuten für die Vollbluthengste frei wurden. Hinter dem Projekt steckte die Absicht, eine Rasse zu züchten, die den Anforderungen der Kavallerie entsprach. Diese hatte später das Recht, sich die jungen Hengste zu fangen. Die Rancher durften als zusätzliches Entgelt für ihre Mitarbeit an dem Projekt die Stutfohlen behalten. Wie der Name bereits andeutete, hatte Brownie durchgängig mittelbraunes Fell, wenn man von einer etwa zwanzig Zentimeter langen, in weicherem Rehbraun getönten Stelle über seinem Maul und einem winzigen weißen Punkt zwischen den Augen absah, der ihm ein charakteristisches, konzentriertes Aussehen verlieh. Er hatte gutgebaute Beine mit steinharten Hufen - ein Erbe seiner Mustangvorfahren. Dass Brownie mir gehören würde, war mir bereits bei seiner Ankunft völlig klar. Ich wollte eine vertrauensvolle Beziehung zu ihm aufbauen. »Okay«, sagte Vater, »reiten wir ihn zu.« Meine Begeisterung verflog. Wie konnte ich der beste Freund dieses Tiers werden, wenn sein zaghaftes Vertrauen zu den Menschen auf 42
so eklatante Weise mißbraucht wurde? Die Angst vor meinem Vater war jedoch so groß, dass ich nichts dagegen zu unternehmen wagte. Ich beobachtete ihn bei den Vorbereitungen zum Aussacken. Während Brownie im Stall stand und wartete, wühlte mein Vater in einem Haufen alter Gemüsekisten herum, die zum Verbrennen aussortiert worden waren. Bald hatte er gefunden, was er suchte: einen großen Streifen schweres, kreppartiges Papier, das man vermutlich zum Abdecken der Kistenböden und zum Schutz des Gemüses verwendet hatte. Er drehte es zusammen und band es an das Ende eines Seils. Brownie wurde aus dem Stall geholt und an den einzigen Pfosten gebunden, der so tief in die Erde getrieben war, dass er der Schinderei nicht nachgab. Geduldig stand er da, während Vater mit dem aufgerollten, an das Papier gebundenen Seil in der Hand um ihn herumgingDann warf mein Vater die Papierrolle hoch, und Brownie sprang zur Seite, als ginge es um sein Leben - was nach seinem Pferdeverstand ja auch tatsächlich der Fall war. Sein Kopf fuhr herum, wurde aber von der Leine jäh zurückgerissen. Und dies war erst der Anfang. Als ich sah, wie sich Brownies Augen weiteten und sich die Augäpfel in angstvoller Erwartung verdrehten, erfüllten mich Abscheu und Mitleid. Ich fluchte innerlich und hätte das Tier am liebsten auf der Stelle losgebunden. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich das, was ihm angetan wurde, wiedergutmachen könnte, doch ich wusste keinen Rat. Das Aussacken ging weiter - und meine vergebliche Suche nach einem Ausweg für das Pferd ebenso. Am Ende fühlte ich mich hundeelend und zutiefst angewidert von der Prozedur, war aber nicht in der Lage, irgend etwas dagegen zu unternehmen. Es war ja nicht nur die Methode meines Vaters. Alle machten es so - und noch heute ist diese Praxis in vielen Teilen der Welt gang und gäbe. Wie sich diese Tortur auf Brownie auswirkte, sollte sich erst im Laufe der Jahre zeigen. Doch eines vorweg: Er litt zeitlebens an einer Papierphobie. Alles, was sich wie knisterndes Papier anhörte, versetzte ihn in Panik und ließ ihn für sich selbst und andere zu einer Gefahr werden. Er scheute dann und ging durch, und niemand konnte ihm beibringen, dass es doch nur Papier war, vor dem er keine Angst zu haben brauchte. Ich konnte ihm wegen dieses Schwach43
punktes in seinem Charakter nie böse sein. Für mich lag die Schuld bei uns: Wir hatten uns in krimineller Weise an ihm vergangen. Als mein Vater Polizist wurde, wurde unser Auto zum Streifenwagen. Infolge des Krieges war es allgemein ziemlich schwierig geworden, an einen fahrbaren Untersatz zu kommen. Bei seinem Dienstantritt wurde Vater daher mitgeteilt, er bekomme ein höheres Gehalt, wenn er das Familiengefährt für die Polizeiarbeit zur Verfügung stelle. Mit der Zeit wurden zahlreiche Privatwagen von Polizisten übernommen und mit Warnlichtern, Sirenen und Funkgeräten ausgerüstet. Außerdem wurden besondere Suchscheinwerfer und Beleuchtungssysteme installiert, damit die Wagen auch bei Verdunklung benutzt werden konnten. An der amerikanischen Westküste waren feindliche Angriffe nicht auszuschließen; deshalb waren Verdunklungen an der Tagesordnung. Unser Auto war ein ungewöhnliches Gefährt. Wir hatten noch auf dem Rodeogelände gelebt, als mein Vater eines Tages nach Hause kam und sagte, dass wir ein größeres Fahrzeug benötigten, um die wachsende Zahl der Reitschüler bewältigen zu können, die abgeholt werden mussten. Die Mullers in Salinas, die eine Leichenhalle besaßen, hätten genau den richtigen Wagen für uns. Es war nicht direkt ein Leichenwagen, sondern die Limousine, mit der die engsten Angehörigen eines Verstorbenen dem Leichenzug folgten - ein riesiger 1932er Cadillac mit gewaltigen Trittbrettern und allen erdenklichen Extras. Ein Wagen, wie ein Al Capone ihn fahren würde. Der Innenraum bot wesentlich mehr Reitschülern Platz als jeder Neuwagen, den wir für dieses Geld bekommen hätten. Wie viele Automobile jener Zeit hatte der Cadillac anstelle des traditionellen Kofferraums eine große Metalltruhe nach Art einer militärischen Feldkiste auf dem Heck. Die Reitschüler brauchten jedoch nicht lange, um das zunächst blitzsaubere Fahrzeug in eine Art Stall auf Rädern zu verwandeln. Bei unserem Umzug in die Stadt im Jahr 1942 nahmen wir den Cadillac mit, der daraufhin in einen Polizeiwagen umgerüstet wurde. Ich kann mich an Fahrten erinnern, bei denen mein Vater per Funk zu seinen Einsatzorten beordert wurde oder einen Verkehrssünder auf frischer Tat ertappte. Das Rotlicht ging an, die Sirene heulte auf, und wir rasten los, »um den Verdächtigen dingfest zu machen«. Vater 44
führte seine Dienstmarke stets bei sich, und im Handschuhfach lagen immer ein Block mit Strafzetteln sowie ein Paar Handschellen und meistens - auch eine Pistole bereit. An einem Frühlingsabend des Jahres 1943 - wir waren den ganzen Tag geritten und hatten uns auf dem Grundstück am Stadtrand um die Pferde gekümmert - befanden wir uns bei Einbruch der Dunkelheit auf der Heimfahrt, als uns kurz vor der City per Funk die Meldung von einem bewaffneten Raubüberfall auf den Golden Dragon in der Soledad Street in Chinatown erreichte. Mein Vater nahm das Handmikrofon und antwortete: »Ich bin in der Nähe des Tatorts und kümmere mich drum.« Der Mann in der Zentrale fragte: »Sind Sie bewaffnet?« - »Ja«, bestätigte mein Vater. Ein heilloser Schrecken durchfuhr mich. Schon oft war ich mit ihm zu Einsätzen gefahren, doch dass er sich mit der Pistole verteidigen musste, war bisher noch nicht vorgekommen. Die Tachonadel des Cadillac schnellte auf einhundert Stundenkilometer hoch. Vater schaltete das Warnlicht und die Sirene an. Der Wagen schlingerte von einer Seite zur anderen. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit rasten wir nach Chinatown. Im Lichtkegel der Scheinwerfer tauchten Menschen auf, die erschrocken zur Seite sprangen. »Runter mit dir, auf den Boden!« brüllte mein Vater mich an. Meine Knie wurden butterweich, als ich den Ernst der Lage begriff. Schnell glitt ich vom Sitz, kauerte mich im Fußraum unter dem Armaturenbrett zusammen und wartete. Mir stand ein Erlebnis bevor, das mich von Grund auf verändern sollte und das ich in der Folgezeit in den dunkelsten Winkel meines Gedächtnisses verbannte. Dort aber ist es kristallklar erhalten geblieben, als wäre es erst gestern geschehen. Vor der Niederschrift meiner Lebensgeschichte habe ich mich gefragt, ob ich diesen Vorfall überhaupt erwähnen soll. Einige Familienmitglieder rieten mir, auf die Schilderung zu verzichten. Es gibt jedoch kaum ein Geschehen in meinem Leben, das mich und meinen Umgang mit Pferden so stark geprägt hat wie jenes Ereignis im Jahr 1943 — und dies, obwohl dabei kein einziges Pferd eine Rolle spielte. Man könnte sogar sagen, dass ich 1943, im Alter von acht Jahren, geboren wurde und vor jenem Tag ein gänzlich anderer Mensch gewesen war. 45
Wenn ich die Geschichte jetzt erzähle, möchte ich betonen, dass ich damit nicht versuchen will, meinen Vater schlechtzumachen. Er wuchs in der harten und manchmal grausamen Welt der amerikanischen Pionierzeit auf und war ein Produkt seiner Erziehung und Lebenserfahrung. Uns trennte nur eine einzige Generation - doch wenn ich mir überlege, was in jenen Jahrzehnten zu Beginn unseres Jahrhunderts in Amerika alles geschehen ist, kommt es mir vor, als wären es hundert Jahre. Die fast tägliche Konfrontation mit dem Naturgesetz »Töten oder getötet werden« war für meinen Vater in seiner Jugend die Realität. Mit den Jahren wurde er milder. Als meine Frau und meine Kinder ihn kennenlernten, war er nicht mehr der gleiche kalte und strenge Mann meiner Kindheit. Das Kämpferische war aus seinem Wesen verschwunden. Mir liegt auch viel daran, die Schwierigkeiten meines Vaters mit der Rassenfrage zu erwähnen. Er war zur Hälfte Cherokee und hatte in seiner Jugend am eigenen Leib erfahren, was Rassendiskriminierung heißt. Dennoch ärgerte er sich darüber, dass der Zweite Weltkrieg so viele Schwarze in unsere bis dahin überwiegend weiße Gemeinde gebracht hatte. Zwanzig Autominuten von Salinas entfernt lag der Stützpunkt Fort Ord, wo viele schwarze Soldaten stationiert waren. Möglicherweise ist etwas dran an der Behauptung, dass Menschen, die selbst Opfer rassischer Vorurteile waren, unter den entsprechenden Umständen die ersten sind, die andere Menschen auf die gleiche Weise diskriminieren. Ich will das Geschehene damit nicht entschuldigen, doch kann ich mir so das Verhalten meines Vaters noch am ehesten erklären. Ich habe öfter von ihm gelernt, wie ich nicht sein wollte, als umgekehrt. Auf der rasenden Fahrt zum Tatort hörte ich Vaters zweiten Befehl: »Gib mir die Pistole und die Handschellen!« Ich langte nach oben und öffnete das Handschuhfach. Die Handschellen fand ich gleich - doch die Pistole war nicht da. Hektisch fingerte ich durch Straßenkarten, Stifte und allerlei Unrat - keine Pistole. Fluchend trieb mich mein Vater zur Eile an. Als klar war, dass sich die Waffe nicht dort befand, wo sie hingehörte, meinte er: »Verdammt, ich war mir doch ganz sicher, dass ich sie mitgenommen hatte!« Die Handschellen hatte er bereits in seiner Hosentasche verstaut. 46
Schlitternd kam der Cadillac ein paar Häuser vor dem Golden Dragon zum Stehen. Im selben Augenblick sprang Vater auch schon hinaus, schrie mich an: »Bleib im Wagen! Und zwar auf dem Bodenl« und knallte die Tür zu. Da lag ich nun zusammengekauert unter dem Armaturenbrett. Die rot-gelb-grüne Beleuchtung des Golden Dragon tauchte den Wagen in ein unheimliches, flackerndes Licht. Es war entsetzlich eng, und ein übler Geruch nach Pferden, Schmutz, Schweiß und feuchter Wolle hing in der Luft. Ich rang mit der Versuchung, mich aufzusetzen - teils, um dem Gestank zu entkommen, vor allem aber, weil ich unbedingt sehen wollte, was geschah. Ich streckte meine Beine aus und kroch vorsichtig auf den Beifahrersitz. Meinen Augen, nun auf gleicher Höhe mit dem unteren Rand des Seitenfensters, bot sich ein freier Blick auf den etwa zwanzig Meter entfernten Eingang der Bar. Viele Menschen säumten die Straße. Einige von ihnen sprachen mit meinem Vater und deuteten auf das Restaurant. Andere tuschelten miteinander, und alle waren sehr aufgeregt. Mein Vater war auf dem Weg in die Bar. Obwohl mich die Angst fast lahmte, spürte ich, wie meine Hand nach dem Griff tastete und vorsichtig die Wagentür öffnete. Ich kroch vorwärts. Alle konzentrierten sich auf das Geschehen im Vorraum der Bar, so dass niemandem der achtjährige Junge auffiel, der sich auf allen vieren dem Objekt ihrer Aufmerksamkeit näherte. Schließlich erreichte ich, seitwärts kriechend wie ein Krebs, die Tür. Alle Stimmen schienen auf einmal verstummt zu sein, und das einzige Geräusch, das ich noch hörte, war das Pochen meines eigenen Herzens. Ich spähte in die Bar. Nur etwa anderthalb Meter vor mir stand, mit dem Rücken zu mir, mein Vater. Der Wirt und das Personal hatten sich in die Ecken geflüchtet. Ein hochgewachsener, schwerer Mann schwarzer Hautfarbe war der einzige Mensch, der sich bewegte. Er drehte sich um, richtete ein Messer so groß wie ein kleines Schwert auf den Barkeeper und brüllte: »Das Geld auf den Tresen!« Der völlig verängstigte Mann zog Banknoten aus der Registrierkasse. Einige Münzen rutschten ebenfalls mit heraus und fielen klimpernd zu Boden. 47
Der Räuber hatte seinen Mantel auf der Bar ausgebreitet und darauf bereits zahlreiche Uhren, Ringe, Armbänder und Brieftaschen angehäuft - offenbar die Habseligkeiten der Gäste und des Personals. Ihm fehlte nur noch das Geld aus der Kasse - dann würde er den Mantel zusammenraffen und sich aus dem Staub machen. In diesem Augenblick zeigte mein Vater seine Dienstmarke. »Polizei!« rief er. »Bleiben Sie stehen, lassen Sie das Messer fallen, und legen Sie Ihre Hände auf den Tresen!« Eine Sekunde lang schien die Zeit stehenzubleiben. Dann drehte sich der Schwarze um und sah meinen Vater an. Doch anstatt sich zu ergeben, richtete er sein Messer nun auf ihn. Insgeheim flehte ich meinen Vater an, er möge nachgeben. Aber der hielt sich nicht daran. Statt dessen ging er auf den Mann und das Messer zu. Unbewaffnet, wie er war, riskierte er sein Leben - oder nahm zumindest eine schwere Verletzung in Kauf. Er war ungeheuer tapfer — doch mich packte schieres Entsetzen, denn ich fürchtete, in wenigen Sekunden keinen Vater mehr zu haben. Während mir diese Gedanken durch den Kopf schössen, sagte mein Vater, der den Mann inzwischen fast erreicht hatte: »Tun Sie sich das nicht an, Mann. Legen Sie das Messer auf den Tresen, drehen Sie sich um, und nehmen Sie die Hände hoch! Geben Sie auf!« Sie standen jetzt Auge in Auge, nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Und genau in dem Moment, als ich schon dachte, der Schwarze würde sich ergeben, kam sein Angriff. Die Hand mit dem Messer, das auf die Rippen meines Vaters gerichtet war, stieß zu. Doch dessen Hand schnellte vor wie eine Kobra und packte ihn an der Faust. Mit einer raschen Bewegung riß er den Arm des Angreifers zurück. Das Messer landete kreiselnd auf dem Boden. Der Druck auf den verdrehten Arm ließ den Mann straucheln, er krachte mit dem Hinterkopf auf die Kante des hölzernen Tresens, sackte zusammen und schlug auf der Fußleiste aus Messing ein zweites Mal auf. Der Räuber lag bewegungslos am Boden, nur noch ein Häuflein Elend. Es war vorbei. Eine Welle der Erleichterung überkam mich. Mein Vater lebte und hatte ohne Waffeneinsatz einen bewaffneten Räuber überwältigt. Aus dem hilflosen, unbewaffneten Polizisten war plötzlich ein Held geworden. 48
Mein Vater stand neben dem bewußtlosen Schwarzen. Ich sah, wie er sich zu voller Länge aufrichtete, alle Kräfte sammelte, einen Augenblick zögerte und dann mit seinem gesamten Körpergewicht von annähernd zwei Zentnern zu einem furchtbaren Fußtritt gegen den Oberkörper des Räubers ausholte und diesem mit absoluter Sicherheit ein paar Rippen brach. Jetzt wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte. Mein Vater hatte einen bereits am Boden liegenden, wehrlosen Menschen mißhandelt und ihn vielleicht sogar getötet. Er legte dem Räuber Handschellen an. Den Anwesenden in der Bar und den Zuschauern draußen vor dem Eingang war jetzt klar, dass sich die Situation schlagartig geändert hatte. Sie waren keine verschüchterten Opfer mehr, sondern standen auf der Siegerseite. Mein Vater hob das Messer an der Klingenspitze auf und gab es dem Barkeeper mit der Aufforderung, es für ihn mit hinauszutragen. Dann packte er den Schwarzen, der schlaff und schwer wie ein Futtersack war, an den Handschellen und zerrte ihn zum Ausgang. Als ich ihn auf mich zukommen sah, fiel mir siedendheiß ein, dass ich mich dort, wo ich mich befand, eigentlich gar nicht aufhalten durfte. Ich drehte mich um, rannte zum Wagen, riß die Fahrertür auf und zog sie anschließend hinter mir wieder zu. Im selben Augenblick tauchte mein Vater im Eingang der Bar auf, umgeben von einer Traube aus lauter Gaffern. Er zog den Oberkörper des Mannes hoch — und ließ die Handschellen los. Der Hinterkopf des bewußtlosen Räubers knallte auf den Gehweg. Vater kam zum Wagen und öffnete die Beifahrertür. Er nahm dem Barkeeper das Messer ab und legte es vorsichtig auf den Sitz neben mir. Dann ging er zur Rückseite des Cadillac, öffnete die große, schrankkofferartige Kiste, entnahm ihr ein paar leere Getreidesäcke und breitete diese auf dem Boden vor den Rücksitzen aus, damit keine Blutflecken den Innenraum verschmierten. Dann riß er die Türen weit auf, hievte den Schwarzen auf die Säcke und nahm wieder hinter dem Steuer Platz. Weil das Messer auf dem Beifahrersitz lag, schmiegte ich mich eng an meinen Vater, damit ich es ja nicht berührte. Er befahl mir, das Messer zu nehmen und ins Handschuhfach zu legen. Dass es dort überhaupt hineinpaßte, verrät einiges über die Größe des Handschuhfachs eines 1932er Cadillac. Wir fuhren gerade los, als ich den Mann röcheln hörte. Meinen 49
Vater kümmerte das nicht. »Der markiert nur«, sagte er, und: »Der erholt sich schon wieder.« Inzwischen waren mehrere andere Streifenwagen aufgetaucht und begleiteten uns auf dem Weg zur Polizeiwache. Sie fuhren teils vor uns, teils hinter uns her, und ihre Sirenen heulten im Einklang mit der unseren. Auch mir war zum Heulen zumute. Über Funk gab Vater den Ablauf der Ereignisse durch. Seine Schilderung, wie er den angreifenden Räuber entwaffnet und festgenommen hatte, klang prahlerisch. Ich drehte mich um und sah beklommen nach, ob der Mann noch atmete. Ja, er tat es — noch. Hoffentlich sind wir schnell auf der Wache, dachte ich bei mir. Da ist er in Sicherheit... Am Ziel eingetroffen, zerrte mein Vater den Mann aus dem Wagen auf den Bürgersteig. Um festzustellen, ob der Verletzte noch Widerstand leistete, zog er ihn an den Schultern hoch und ließ ihn fallen. Krachend schlug sein Kopf auf dem Zementboden auf. Die Polizisten, die aus der Wache kamen und aus den Begleitfahrzeugen stiegen, lachten und johlten. Mein Vater packte den Mann wieder an den Handschellen, hob Kopf und Oberkörper des Mannes an und schleifte den Körper die Betontreppe hinauf, die zum Eingang der Wache führte. Dabei ging er rückwärts ein paar Stufen hoch, zog den Mann hinterher, nahm die nächsten Stufen und wiederholte das ganze. Niemand bemühte sich um eine Bahre, niemand ging meinem Vater zur Hand. Es war seine Trophäe. Er hatte seine Beute zur Strecke gebracht - und jetzt führte er sie seinen Kameraden vor. Sie folgten ihm grölend - und achteten sorgfältig darauf, dass sie nicht in die Blutspur traten, die mein Vater und sein Opfer hinterließen. Oben in der Wache stand der Schreibtisch des diensthabenden Sergeanten. Mein Vater ließ den Schwarzen auf den Zementboden fallen. »In seiner Tasche war ein Führerschein«, sagte er. »Hier ist der Name. Nehmen Sie die Personalien auf, und lassen Sie jemanden kommen, der ihm die Fingerabdrücke abnimmt.« Ein Aufnahmebogen wurde in die Schreibmaschine gespannt, und kurz darauf füllten die Informationen aus dem Führerschein, vom Stakkato der Anschläge begleitet, die leeren Stellen des Formulars. Man zündete sich Zigaretten an. Die Männer lachten, als die Ge50
schichte von der Festnahme immer wieder von neuem zum besten gegeben wurde. Mit jedem Erzählen wurde sie brutaler und dramatischer, als sie ohnehin schon gewesen war. Ich bat Vater, irgend etwas zu tun, um dem Sterbenden zu helfen. Er aber sah nur verächtlich auf mich herab und fauchte mich an: »Geh zurück in den Wagen, und halt den Mund! Der Kerl spielt doch bloß Theater. Dem fehlt nichts.« Der Schwarze kam in diesem Augenblick wieder zu Bewußtsein und rappelte sich auf. Ohne dass ihn jemand daran gehindert hätte, torkelte er wie ein verwundetes Tier auf die Tür zu. »In den Wagen mit dir, Monty!« wiederholte mein Vater, ehe er sich dem Räuber zuwandte und ihm folgte. Der war noch nicht weit gekommen. Kurz vor der ersten Treppenstufe stolperte er und stürzte kopfüber hinunter. Sein Kopf schlug gegen einen Baum, und wieder lag er reglos am Boden. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen und begann hemmungslos zu weinen. »In den Wagen!« brüllte mein Vater. Als ginge es um mein Leben, rannte ich zum Cadillac und vergrub schluchzend mein Gesicht in den Polstern. Bald darauf hörte ich, wie die Tür aufging und mit Vehemenz wieder zugeschlagen wurde. Kratzend fuhr der Schlüssel ins Zündschloß. Wir fuhren nach Hause. Vier Tage nach dem Überfall auf den Golden Dragon fragte ich meinen Vater, wie es denn inzwischen dem Mann gehe, den er dort festgenommen hatte. »Ach der?« sagte er. »Der ist gestorben.« Irgendwie musste er gemerkt haben, wie sehr mich diese Auskunft schockierte, denn er ließ sich sofort eine Erklärung einfallen. »Übrigens nicht an seinen Verletzungen, sondern an Lungenentzündung. Der Bursche hat sich nachts nicht richtig zugedeckt. Da hat er eine Lungenentzündung bekommen und ist gestorben.« Ich glaubte es ihm - und achtete fortan darauf, Nacht für Nacht meine Bettdecke bis zum Kinn hochzuziehen. Erst viele Jahre später erfuhr ich die Wahrheit: Man hatte den Schwarzen mit gebrochenen Rippen, durchbohrter Lunge und einem Schädelbruch liegen gelassen, bis er tot war. In Psychologieseminaren erfuhr ich später, dass Kidnapper und Kinderschänder vor den Augen ihrer Opfer kleine Tiere töten, um sie zu traumatisieren und ihnen solche Angst einzujagen, dass sie jegliche Kraft zum Widerstand verlieren. 51
Heute ist mir klar, dass ich in diesem Sinne ein Opfer der Aggressivität meines Vaters wurde. Damals begriff ich das alles nicht. Ich wusste lediglich, dass ich furchtbare Angst vor ihm hatte. Von jenem Vorfall an bis weit in meine Erwachsenenjahre hinein blieb ich auf der Hut vor ihm und achtete darauf, dass sich mein Leben seinem Einfluß mehr und mehr entzog. Es gibt noch ein Postskriptum zu jener Geschichte. Zwei Monate später bat mich mein Vater eines Abends, ihn zu begleiten. »Wir gehen zum Boxkampf«, sagte er. »Und ich möchte dir dort einen ganz besonderen Mann vorstellen.« Wir fuhren zur Halle der Nationalgarde, vor der sich, als wir eintrafen, bereits die Massen drängten. Wir betraten das Gebäude von der Rückseite her, durchquerten mehrere kleinere Zimmer und erreichten schließlich einen bestimmten Raum, in dem ein riesiger dunkelhäutiger Mann auf einem Tisch saß. Mein Herz raste. Seit dem Überfall hatte ich keinen Schwarzen mehr gesehen. Mein Vater zog mich näher heran und sagte: »Komm her, Monty. Das ist Joe Louis, der Weltmeister im Schwergewicht.« Joe Louis begrüßte meinen Vater: »Hallo, Marvin!« »Hallo«, erwiderte Vater und fügte hinzu: »Darf ich dir meinen Sohn Monty vorstellen?« Ich weigerte mich, näher zu kommen. Der Boxchampion sagte: »Nun komm schon, ich tu dir nichts.« Ich gab ihm die Hand, konnte ihm aber nicht in die Augen sehen. In der Hoffnung, meine Schüchternheit zu überwinden, deutete Joe Louis auf seine Schulter und sagte: »He, kleiner Mann, schlag zu! Trau dich nur!« Ich war einfach nicht imstande, auf dieses Spielchen einzugehen. Schließlich nahm er meine Hand, faltete sie zu einer Faust, klopfte damit gegen seine Schulter und tat so, als tue ihm das ungeheuer weh. »Na, also!« sagte er. »Jetzt kannst du von dir behaupten, den Weltmeister k. o. geschlagen zu haben.« Ein Fotograf, der in der Nähe seinen Apparat aufgestellt hatte, rief uns zu, er wäre jetzt schußbereit. Mein Vater legte den Arm um Joe Louis - das Bildmotiv stand.
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Es gibt eine Pferderasse, die ursprünglich unter dem Namen »Copper Bottom« und wenig später auch als »Steel Dust« bekannt war. Diese merkwürdigen Bezeichnungen für eine damals - in den Dreißigern — kleine, spezielle Rasse rührten daher, dass man sie einfach nach den beiden wichtigsten Deckhengsten benannt hatte. Es waren gedrungene, leicht handhabbare Tiere mit gut entwikkelten Beinen und ruhigem, lernwilligem Wesen. Diese ziemlich kleinen Pferde hätte man vom Bau her als muskulösen, »bulligen« Typ mit außergewöhnlich wohlgeformter Hinterhand und tiefer Brust bezeichnen können. Sie wurden besonders für die Arbeit auf den Rinderfarmen herangezogen und waren dank ihrer enormen Beschleunigung für die Arbeit mit dem Lasso und die Aussonderung von einzelnen Rindern aus einer Herde geeignet. Während der Woche wurden diese Pferde also auf der Ranch eingesetzt. An den Wochenenden nahmen sie an Rodeos, an Lassowettbewerben und am Stierringkampf (steer wrestling) teil. Danach bekamen sie ein paar Minuten Zeit zum Ausruhen, und dann ging es weiter: Sie tauschten ihre Westernsättel gegen die kleinen Rennsättel der Jockeys und wurden in wilden Rennen über die holprigen Bahnen in der Umgebung der Rodeogelände gejagt. In Rennen über kürzere Strecken — sie gingen meist nur über knapp eine Viertelmeile - waren sie praktisch unschlagbar. Wie eine Gewehrkugel schössen sie aus den Startboxen. Tatsächlich war es so, dass viele von ihnen während des Rennens das Atmen vergaßen. Erst wenn sie hinter der Ziellinie allmählich zur Ruhe kamen, merkten sie, dass ihnen frische Luft in den Lungen fehlte. Sie sind das Pferde-Äquivalent von Dragsterrennen. Wegen der Viertelmeilendistanz (quarter of a mile) wurde die Rasse später unter der Bezeichnung Quarterhorse bekannt. Mein Vater fand die neue Wettkampfart - den »Pferdesprint« sehr attraktiv, und mir gefiel das aufregende Drumherum. Natürlich saßen in den Sätteln die kleinsten Jungen mit dem geringsten Gewicht. Für die Teilnahme bekam ich fünf, für einen Sieg zehn Dollar. Die »Shorthorse«- oder »Quarterhorse-Rennen« fanden in kleineren kalifornischen Städten statt — Salinas, King City, Fresno, Victorville, Stockton. Es ging meist um einen Jackpot. Die Halter zahlten eine bestimmte Summe ein - und der Sieger bekam alles. 53
Größere Summen waren dagegen beim Wetten im Spiel. Daran beteiligten sich sowohl die Pferdebesitzer als auch die Zuschauer. Für diese Leidenschaft gab es keine Regeln, und kein Verband sanktionierte sie. Das heizte die Stimmung an und sorgte für jene elektrisierende Atmosphäre, die für den echten Wetter Lebenselixier ist. Es gab weder Zulassungsbeschränkungen für die Reiter, noch kümmerte man sich besonders um deren Sicherheit. Bei vielen Rennen trug ich nicht einmal einen Schutzhelm. Einer der wichtigsten und einflußreichsten Besitzer jenes neuen Pferdetyps war Frank Vessels, und sein Trainer war ein Mann namens Farrell Jones. Einmal sah ich Jones draußen auf Vessels' Bahn bei der Arbeit zu. Was ich hier als »Bahn« bezeichne, war nicht viel mehr als ein von aufgestapelten Heuballen begrenzter Geländestreifen. Mr. Vessels besaß eine ganze Menge Pferde und benötigte daher entsprechend viel Heu. Die Ballen stapelte er als Sitzgelegenheiten für die Zuschauer längs der holprigen Bahn. Farrell Jones hatte sich an jenem Tag ein junges Quarterhorse vorgenommen. Es lief hinter der Startbox im Kreis herum und beäugte sie mit einer Skepsis, als handle es sich um den aufgesperrten Rachen eines Krokodils. Auch die dahinterliegende Bahn schien dem Tier große Angst einzujagen, als sei sie nur zum Zweck der Einschüchterung errichtet worden und als warteten die würfelförmigen Heuballen geradezu darauf, ihm in die Flanken zu fallen. Obendrein drohte der Boden sich unter den Hufen des Tiers zu öffnen, und selbst der Himmel wirkte furchterregend. In Begleitung des jungen Tiers befand sich eine ältere Stallgefährtin, die mit den Praktiken dieser derben Sportart vertraut war und so manch alte Veteranengeschichte erzählen konnte: Wie sie beim letzten Atemzug des ohnehin nur ein paar Sekunden währenden Rennens noch das führende Pferd abgefangen hatte, und dergleichen mehr... »Auf geht's!« sagte Farrell. »Führen wir ihn in die Startbox!« Die allgemein übliche Trainingsmethode, mit der die Quarterhorses dazu gebracht wurden, wie ein geölter Blitz aus den Startboxen zu schießen, bestand darin, dass man die jungen Pferde in der Box einschloß und mit der Peitsche bearbeitete, bis sie außer Rand und Band gerieten. Wenn die Startklappe schließlich aufsprang, waren sie heil54
froh, der Tortur zu entkommen. Man ging davon aus, dass das Pferd in Zukunft jedesmal, wenn es in der Box stand, mit einer Wiederholung dieser Prozedur rechnete. Von seiner Angst und seinem instinktiven Fluchtverhalten erhoffte man sich eine optimale Leistung im Rennen. Nicht selten versuchte man sogar, diesen Effekt mit Hilfe von Elektroschocks zu erreichen. Ich sah nun, wie Farrell Jones das junge Pferd am Zügel durch die Startbox führte. Er schloß weder die vordere noch die hintere Klappe, sondern führte das Tier lediglich von hinten in die Box hinein und vorne wieder heraus. Die ältere Stute blieb in unmittelbarer Nähe. Dieser Vorgang wurde dann mehrfach wiederholt. Mit der Zeit wurde uns Zuschauern von der ständig wiederholten Kreisbewegung regelrecht schwindlig, und ich denke mir, dass es selbst dem Pferd langweilig wurde. Schließlich führte Farrell Jones das junge Quarterhorse wieder in die Startbox, deren Vorderklappe er diesmal jedoch geschlossen hatte. Damit es sich wohl fühlte, bekam das Pferd einen Eimer mit einem Maulvoll Futter vorgesetzt. Die Stute war in der Nähe und durch die Zwischenräume zwischen den Seitenplanken gut sichtbar. Meine Kameraden und ich hingen dort herum und fragten uns, ob wir gerade eine Trainingsstunde für ein rohes, untrainiertes Pferd miterlebt hatten, das irgendwann einen ordentlichen Blitzstart im Quarterhorse-Rennen hinlegen sollte, oder ob die Box sein neuer Stall war. Nachdem sich das Pferd an den Aufenthalt in der geschlossenen Startbox gewöhnt hatte, wurden die Klappen wieder geöffnet. Aber es wurde nicht herausgeführt - o nein, das wäre zuviel auf einmal gewesen. Farrell Jones ließ ihm Zeit. Das Pferd sollte selbst entscheiden, wann es die Box verlassen wollte. Es war richtig aufregend, als es sich endlich dazu entschloß. Farrell Jones' Trainingsprinzip bestand darin, das Pferd ohne jeden Druck auszubilden. Als nächstes erkannte ich einen weiteren Grund für die Anwesenheit der Stallgefährtin. Als das junge Pferd in der Startbox eingeschlossen war, wurde seine ältere Kameradin draußen die Rennbahn entlanggeführt. Dann wurde die Startklappe geöffnet. Ohne jedes zusätzliche Druckmittel stakste das Pferd hinaus und folgte der älteren Freundin auf die Rennbahn. 55
Ein Weilchen darauf wurde das Führpferd zu einem schnelleren Gang angehalten und durfte sich etwas weiter von den Startboxen entfernen. Nun fiel das junge Pferd in einen leichten Trab, damit es seine Freundin einholen konnte. Binnen weniger Stunden hatte Farrell Jones erreicht, dass das Pferd die Startbox betrat, ohne die geringsten Schwierigkeiten zu machen. In gespannter Erwartung drückte es die Nüstern gegen die vordere Klappe und hatte nichts anderes mehr im Sinn, als so schnell wie möglich loszugaloppieren und aus eigenem freiem Willen das Führpferd einzuholen. Dieses wurde immer etwas zurückgehalten, damit das junge Pferd es überholen und das Rennen »gewinnen« konnte. Es machte ihm Spaß. Farrell Jones' Methode beeindruckte mich zutiefst, und nun wollte ich alles ganz genau erfahren. Wie er darauf gekommen sei, fragte ich ihn. Jones sog an dem Priem, den er hinter seinen Backenzahn geschoben hatte: »Weißt du, ich hab' mir 'ne ganze Menge von diesen Rennen angesehen, und zwar ziemlich genau. Du paßt eben besser auf, wenn du weißt, dass da vielleicht 'ne Stange Geld in deine Tasche reitet, sofern du nur die richtigen Entscheidungen triffst. Und dabei ist mir eines aufgefallen: Diese überdrehten Pferde sind gar nicht die ersten, die aus den Startboxen kommen. Die sind so unruhig, zappeln hin und her, treten auf der Stelle, denken dauernd daran, welcher Pferdeschinder jetzt schon wieder hinter ihnen steht, dass sie manchmal gar nicht rechtzeitig mitbekommen, wenn die Klappe aufgeht. Nein, es sind gerade die entspanntesten Tiere, die die richtigen fliegenden Starts hinlegen.« Farrell Jones' Ausführung bewies mir, dass die grausame Behandlung - das Auspeitschen der Pferde in der Startbox, um sie in Angst zu versetzen und den Fluchttrieb auszulösen - nicht nur unnötig war, sondern regelrecht kontraproduktiv: Diese Tiere kamen langsamer aus der Box. Sein Beispiel war mir eine Lektion, die mein künftiges Denken prägen sollte: Man darf einem Pferd niemals befehlen »Du mußt«, sondern muß es dazu bewegen, seine Leistungen freiwillig zu erbringen: »Ich möchte gerne, dass du ...« Gehen wir noch einen Schritt weiter. Das Pferd zu bitten ist auch noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Viel klüger ist es, das Tier so weit zu bringen, dass es von sich aus die Leistung bringen will. 56
Pferde wollen rennen; das ist ihnen angeboren. Durch die richtige Ausbildung können wir sie so beeinflußen, dass sie im Rennen ihr gesamtes Potential ausreizen. Ein Rennen kann ihnen genausoviel Spaß machen wie uns, die wir ihnen dabei zusehen. Meine berufliche Tätigkeit konzentrierte sich später größtenteils auf das Vollblutrenngeschäft. Bis auf den heutigen Tag bin ich felsenfest davon überzeugt, dass die Peitsche verboten werden sollte. Sie ist überflüssig, wenn man beim Training den ausgeprägten Bewegungstrieb des guten Rennpferds nutzt. Auf meinem eigenen Gelände dulde ich überhaupt keine Peitschen oder Gerten. Von meinem achten bis zu meinem zwölften Lebensjahr nahm ich an ungefähr zweihundert Kurzstreckenrennen teil. Bei den meisten davon handelte es sich um Quarterhorse-Rennen. Obwohl ich ein- oder zweimal vom Pferd fiel, blieb ich von ernsthaften Unfällen verschont. 1945 gründete Frank Vessels die Quarter Racing Association und baute eine richtige Rennbahn, die mit der anfänglichen Holperpiste zwischen gestapelten Heuballen nichts mehr zu tun hatte. Schon bald gelang es ihm, die Kurzstreckenrennen aus dem engen Umfeld ihrer ländlichen Ursprünge zu befreien. Es dauerte nicht lange, und der einstige »Ranchsport« fiel in die gleiche Kategorie wie die traditionellen Galopprennen für Vollblüter. Die American Quarter Horse Association entstand 1946, als ein Inspektorenteam durch die Vereinigten Staaten reiste und die Pferde mit den entsprechenden körperlichen Voraussetzungen in das Zuchtregister aufnahm. 1949 ritt ich in King City, Kalifornien, mein letztes Rennen. Es war ein einfaches Landstädtchen, aber dort lebten zwei Pferdezüchter, die für die Quarterhorse-Rennen sehr wichtig werden sollten: Gyle Norris und die Brüder McKensie. Die Brüder McKensie besaßen eine Spitzenstute namens Lady Lee; ich hatte das Glück, sie mehrere Male reiten zu dürfen. Außerdem gehörte ihnen der Quarterhorse-Hengst Dee Dee, der 1946 der Champion unter den älteren Hengsten seiner Rasse war. Ab 1949 schaffte ich es nicht mehr, mein Gewicht unter der Neunundfünfzig-Kilogramm-Marke zu halten — ganz im Gegensatz zu Tucker Slender, einem hochgewachsenen, dünnen Mann, der drei oder vier Jahre älter als ich und ein erheblich besserer Jockey war. Später avancierte er zum Starter auf vielen bekannten Rennbahnen 57
im südlichen Kalifornien - eine Position, die er in Santa Anita und Del Mar noch heute innehat. Farrell Jones wurde mehrmals als bester Trainer von Vollblütern der Vereinigten Staaten ausgezeichnet. Seine Methoden und sein Einfallsreichtum sind mir seit jener ersten Lektion immer wieder sehr zugute gekommen. Sein Sohn Gary ist heute einer der Spitzentrainer des Landes. Was damit begonnen hatte, dass wir, an den Hals eines bestimmten Pferdetyps geklammert, über abenteuerliche Provinzpisten jagten, sollte sich also zu einer regelrechten Industrie der QuarterhorseRennen entwickeln. Für mich war es ein Studium an der Startbox. Ich war neun Jahre alt, als mein Onkel Ray mir eine alte Geschichte von unseren Cherokee-Ahnen erzählte. Mein Großvater kam 1870 in Wales auf die Welt. Meine Liebe zu Pferden habe ich möglicherweise von ihm, denn er bearbeitete seine Farm mit ihnen, beteiligte sich an Fuchsjagden und ritt auch sonst in seiner Freizeit gern. Earl Roberts - so sein Name - wanderte im Alter von siebzehn Jahren nach Amerika aus. Schon bald lockte ihn der Ruf des Westens, denn der Straßenbau in der Sierra Nevada verhieß geregelte Arbeit. Die spanische Bezeichnung Sierra Nevada bedeutet soviel wie »schneebedeckte Berge« - ein eher bescheidener Name für die gewaltige natürliche Barriere an der Grenze zwischen Kalifornien und Nevada, die an Höhe und Ausdehnung lediglich von den Rocky Mountains übertroffen wird. Als mein Großvater Earl über die Sierra Nevada gen Westen zog, konnten die Bautrupps nur sechs Monate im Jahr arbeiten. Den Rest des Jahres waren die Pässe geschlossen. Was es bedeutete, die Sierra Nevada allein mit Menschenkraft und Tieren passierbar zu machen, übersteigt meine Vorstellungskraft. Es war Earls Aufgabe, für den Nachschub an Arbeitspferden zu sorgen. Auch die Bereitstellung von Reitpferden für die Vorarbeiter, die die Arbeit der Bautrupps koordinierten, fiel in sein Ressort. Bei den Arbeitern handelte es sich zum großen Teil um Einwanderer wie meinen Großvater, doch gehörten auch Cherokee-Indianer dazu. Sie waren von der Bundesregierung aus ihrem Reservat im Mittleren Westen nach Nevada gebracht worden. Unter den Cherokee befand sich die Frau, die später meine Groß58
mutter werden sollte, ein junge Indianerin von knapp zwanzig Jahren. Man hatte sie nach dem Arbeitsvermittler, der sie und ihre Familie nach Nevada gebracht hatte, Sweeney genannt und dabei einfach seinen Nachnamen zu ihrem Vornamen bestimmt. Zu ihren wenigen Habseligkeiten gehörten Dokumente, aus denen hervorging, dass sie eine reinrassige Cherokee war und deshalb über bestimmte Rechte verfügte, die der Urbevölkerung vorbehalten waren. Earl hielt bei der Familie um Sweeneys Hand an und heiratete sie. In rascher Folge gebar sie ihm neun Kinder, von denen fünf am Leben blieben, darunter mein Vater und Onkel Ray. Ihr Jüngster war elf Jahre alt, als Sweeney zu dem Schluss kam, ihr Ehevertrag mit Earl sei nun erfüllt. Als die Familie eines Morgens aus den Betten kroch, war sie verschwunden. Monatelang wurde sie gesucht, und am Ende fand man heraus, dass sie von Tulare aus in das Cherokee-Reservat zurückgewandert war - eine Strecke von fast tausend Kilometern. Kurz darauf erkrankte der elfjährige Ray an Lungenentzündung. Earl beschloß, den Jungen zu seiner Mutter ins Reservat zu bringen. Ray wurde vom Stamm adoptiert und großgezogen. Er profitierte davon, dass er sowohl die Lebensweise der Indianer als auch die der Weißen kennenlernte. Onkel Ray erzählte mir, wie die Cherokee Wildpferde fingen. In den großen Ebenen des Mittleren Westens ergab sich zunächst einmal das Problem, dass man überhaupt auf Lassodistanz an die Tiere herankam. Die Cherokee lösten es auf höchst bemerkenswerte Weise. Anstatt die Herde in ein enges Tal zu treiben oder entsprechende Fallen zu konstruieren - was in jener Landschaft schwer genug gewesen wäre -, bedienten sie sich einer wesentlich wirksameren Methode: Am Anfang zogen sie einfach hinter der Herde her. Sie trieben die Pferde nicht vorwärts, sondern folgten ihnen ruhigen Schritts und veranlaßten sie somit zum Weiterziehen. Diese Phase nahm ein, zwei Tage in Anspruch. Wenn der geeignete Zeitpunkt gekommen war, drehten die Cherokee um und marschierten in der Gegenrichtung davon. Und jedesmal taten es die Pferde ihnen nach: Sie drehten sich um und folgten den Indianern. Es war eine Art Jo-Jo-Effekt. Die Cherokee führten die Pferde dann einfach in zwei bis fünf Morgen große Korrals. 59
Bei der Jagd auf Hirsche, Antilopen und Bisons, von deren Fleisch sie sich ernährten, wandten die Cherokee eine ähnliche Taktik an. Der Jo-Jo-Effekt wirkte auch hier. Für einen Cherokee, der mit Pfeil und Bogen jagte, durfte die Entfernung zur Beute nicht viel mehr als zwölf bis fünfzehn Meter betragen. Also drängte man die Tiere eine Zeitlang in eine bestimmte Richtung und kehrte dann um. Die Tiere drehten ebenfalls um und folgten den Menschen. Hatte sich diese Hin- und Herbewegung einige Male wiederholt, so verringerte sich der Abstand so sehr, dass die Tiere zur leichten Beute wurden. Es dauerte lange, bis ich die Ursache für jene merkwürdige Angewohnheit der Pferde, sich umzudrehen und auf Tuchfühlung mit ihren Verfolgern zu gehen, verstehen lernte, und ich begriff sie erst, als ich die Gelegenheit bekam, Pferde in freier Wildbahn zu beobachten. Dieses Phänomen nannte ich »Vorstoß und Rückzug« (advance and retreat). Es bildete später die Grundlage für meine Methodik im Umgang mit Pferden. Für den neunjährigen Jungen, dem Onkel Ray diese Geschichte erzählte, blieb das alles natürlich ein Rätsel. Ich hielt es für wahr, begriff aber nicht, warum es sich so verhielt. Die Jahre des Zweiten Weltkrieges waren, wie alle Kriege, vom Tod bestimmt - und in der kleinen Welt des acht- bis elfjährigen Monty Roberts sah es nach dem Umzug zunächst so aus, als müsse er all seine Träume begraben. Ich hatte erlebt, wie meine japanischstämmigen Klassenkameraden zusammengetrieben und in einem Gefangenenlager interniert wurden, das an meinem bisherigen Wohnort errichtet worden war. Ich hatte den Tod jenes Schwarzen durch die Hand meines Vaters miterlebt und dadurch die Achtung vor Vater verloren. Fortan suchte ich meinen eigenen Weg im Leben. Doch andererseits ermöglichte mein Vater mir das, was ich mir am meisten wünschte: ein Leben mit Pferden. Schließlich war der Krieg vorüber, und alle Leute versuchten, so schnell wie möglich wieder zu einem normalen Leben zurückzukehren. Für meinen Vater bedeutete dies, Vorbereitungen für die Rückkehr auf das Rodeogelände und in seinen früheren Beruf zu treffen. Außerdem meldete er mich praktisch zu allen Reitturnieren an, von 60
denen er Wind bekam. Überall im Land ging es jetzt wieder los. Das entsprach zwar ganz meinen eigenen Wünschen, war aber eine einzige Hetzerei. Unsere Rückkehr aufs Rodeogelände war ein wahres Volksfest. Die internierten Japaner waren fort, doch das Gelände befand sich in einem entsetzlichen Zustand. Die Arbeiter hatten beim Abriß der Wohnquartiere sämtliche Nägel und Krampen einfach liegen lassen: ein großes Verletzungsrisiko für die Pferdehufe. Folglich mussten wir wochenlang Magnete über den Boden ziehen. Auch die Ställe mussten instand gesetzt werden. Wir installierten wieder Futterraufen, reparierten Böden und flickten Dächer. Die gesamte Familie meiner Mutter kam angereist und half mit. Der hintere Aufbau des Cadillac wurde abgesägt, so dass er sich in einen Pick-up verwandelte und wir mit ihm endlose Fuhren Abfall zum Müllplatz karren konnten. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem die neuen Sättel eintrafen - zwanzig oder dreißig Stück - und in einem Schwung in den Hof gekippt wurden. Ich riß die Verpackungen auf, holte die Sättel heraus und montierte das entsprechende Zubehör; die Reitstunden konnten am nächsten Tag beginnen. Die Kosten für die Ausrüstung - gar nicht zu reden von denen für die Pferde - waren die Ursache, dass wir für den Wiedereinstieg ins alte Geschäft erhebliche Schulden machten. Von nun an tagte des öfteren der Familienrat am Eßtisch in unserem alten Haus. Wir beschlossen, dass Vater seine Stelle bei der Polizei behalten sollte. Er war zum Lieutenant befördert worden, und sein Gehalt würde zum Abbau unserer Schulden beitragen. Wenn wir geschäftlichen Erfolg haben wollten, mussten wir uns weitgehend auf uns selbst verlassen. Mehr als eine bezahlte Hilfskraft war nicht drin. Das war Wendell Gillott, der schon früher für uns gearbeitet hatte und inzwischen aus Hawaii zurückgekehrt war. Ein guter Mann - nicht gerade mit einem Spitzen-IQ ausgestattet, aber ein Pferdenarr, stets gut gelaunt und ein harter Arbeiter. Meinem Bruder Larry und mir wurde mitgeteilt, dass unsere schulische Ausbildung auf das absolute Minimum zurückgeschraubt werden müsse, damit wir Wendell zur Hand gehen konnten. Wir waren also wieder daheim, mussten aber vom ersten Tag an schwer schuften. 61
Wendell trat morgens um halb fünf seinen Dienst an und begann sofort mit der Fütterung sämtlicher sechzig Pferde, die jetzt in unseren Ställen standen. Ich rollte mich ebenfalls schon vor fünf aus dem Bett und schlüpfte in die Arbeitsklamotten, die dort, wo ich sie am Abend zuvor fallen gelassen hatte, auf dem Boden lagen. Ich hatte es stets eilig - schließlich musste ich noch vor dem Frühstück zweiundzwanzig Boxen ausmisten. Auch Larry kroch um diese Zeit aus den Federn. Er musste zehn Boxen ausmisten - weniger als ich, weil er jünger und wegen seiner früheren Erkrankung auch schwächer war. Mir blieb kaum Zeit, Wendell einen Gruß zuzurufen, schon begann die Schufterei. Ich musste jede der zweiundzwanzig Boxen gründlich säubern, die Einstreu zusammenrechen und erneuern und ab in die nächste Box. Während der Arbeit stoppte ich die Zeit: Mein Ziel war es, nicht mehr als dreieinhalb Minuten pro Box zu benötigen, so dass die gesamte Aktion in weniger als anderthalb Stunden erledigt war. Es war wie beim Rennen. Wenn ich die Mistgabel zum Schluss wieder an die Stallwand warf, riß ich die Arme hoch wie die Kälberfänger beim Rodeo, die - wenn das Kalb mit zusammengebundenen Beinen flach auf dem Boden liegt - mit dieser Geste die Uhr anhalten. Zwischen halb sieben und sieben gab es Frühstück. Beim Essen hörten Larry und ich uns an, welche Pferde uns Vater für den Tag zuteilte, welche wir reiten und was wir sonst mit ihnen tun sollten. Nach dem Frühstück säuberte Wendell die restlichen dreißig Boxen, während Larry und ich zum Reiten gingen. Zwischen sieben und neun Uhr ritt ich etwa sechs Pferde, absolvierte mit ihnen diverse Übungsprogramme und andere anstehende Aufgaben. Danach trotteten wir zurück, duschten, zogen uns um und machten uns fertig für die Schule, die um halb zehn begann. Nachmittags um halb zwei kamen wir nach Hause und saßen sofort wieder im Sattel. leder von uns trainierte fünf bis sechs Pferde, so dass ich gegen halb vier bereits vier Stunden im Sattel hinter mir hatte. Danach begannen die Reitstunden. Wir alle - mein Vater, meine Mutter, mein Bruder Larry und ich — gaben Reitunterricht. Die Gruppen umfaßten jeweils zwischen sechs und zwölf Schülerinnen und Schüler, Anfänger ebenso wie Fortgeschrittene. Manche hatten 62
furchtbare Angst vor Pferden, andere meinten, sie wüßten alles besser, wieder andere waren aufmerksam bei der Sache. Wir zogen die Stunden durch und gaben unser Bestes. Um halb sechs brachte meine Mutter die Kinder nach Hause. Larry, Wendell und ich räumten auf, führten die Pferde zurück, fütterten sie und reinigten Sättel und Zaumzeuge. Für halb sieben bereitete meine Mutter das Abendbrot vor, und ich half ihr dabei. Mein Interesse am Kochen geht auf jene Tage zurück. Nach dem Abendbrot hatten wir noch etwas Zeit für die Schulaufgaben. Obwohl ich nur etwa zehn Prozent der üblichen Zeit die Schulbank drückte, erwartete mein Vater, dass ich stets die besten Noten nach Hause brachte. Von welcher Seite man es auch betrachtete — er war ein sehr strenger Lehrmeister. Die Leistungskraft eines Kindes in diesem Alter ist dehnbar. Vater forderte mich bis an meine Grenzen. Ebensosehr bemühte sich aber wohl auch Miss Parsons um mich und meine Ausbildung. Sie brachte mich immerhin dazu, dass ich mich freiwillig den Prüfungen unterzog. Dank ihrer Freundlichkeit und ihres Einfühlungsvermögens bekam ich trotz meiner langen Abwesenheiten immer wieder die besten Noten. Mein Leben war mit einem Cartoon vergleichbar: Vor meiner Nase baumelte eine Karotte, hinter mir drohte die Peitsche. Der Krieg war zu Ende — und überall gab es ausgemustertes Militärgerät zu kaufen. Unter den Farmern der Region war es auf einmal sehr populär, in fast neuen Militärjeeps und Panzerspähwagen durch die Gegend zu preschen. Die Fahrzeuge waren spottbillig. Vermutlich wurde auch mit überzähligen Waffen herumgeballert. Mein Vater beteiligte sich ebenfalls an diesem Run auf militärische Ausschußware - allerdings auf seine Weise: Er pachtete einen Eisenbahnwaggon der ehemaligen US-Kavallerie. Plötzlich stand er in seiner ganzen Größe vor uns: unser eigenes Schienenfahrzeug! Die Pachtsumme für mehrere Jahre war minimal. Der ursprünglich zur Beförderung von Offizierspferden konstruierte Waggon verfügte über Transportboxen für fünfzehn Pferde. Zwar gab es insgesamt weniger Reitturniere als vor dem Krieg, und obendrein wurden sie nicht so wirkungsvoll angekündigt wie 63
früher. Doch mit Hilfe dieses Waggons waren wir imstande, auch zu den entferntesten Veranstaltungsorten zu reisen. Außerdem war in der Nachkriegszeit mit einer neuerlichen Zunahme der Turniere zu rechnen, und mein Vater wollte das Beste aus der Rückkehr zur Normalität herausholen. Der Eisenbahnwaggon sollte künftig kreuz und quer durch Amerika rollen und überall den Ambitionen meines Vaters und meinen eigenen dienen. Vater ließ den Waggon umbauen: Sechs Boxen wurden herausgenommen, und der dadurch gewonnene Platz wurde für eine Schlafkabine, einen Futterspeicher für Getreide und einen größeren Wassertank genutzt. Darüber hinaus wurde eine winzige Küche mit einer Herdplatte und einer Ecke zum Kaffeekochen eingerichtet. Für mich wurde der Eisenbahnwaggon in den folgenden zehn Jahren auf meinen langen Reisen in den Sommermonaten zu einer Art Zuhause in der Fremde. Vater und ich prüften die angekündigten Termine für die Turniere überall im Land. Wir suchten uns diejenigen aus, die wir für die besten hielten und die für uns erreichbar waren. Die ausgearbeiteten Reisepläne brachten wir zum Büro der Southern Pacific und buchten unsere Fahrten. Man teilte uns die verschiedenen Abholzeiten und Rangiergleisnummern mit, wobei wir beispielsweise als Wagen 21 auf Rangiergleis 56 eingeplant waren. Pünktlich zur vereinbarten Abholzeit zog uns dann eine Rangierlok vom Neben- zum Hauptgleis, der Zug rollte zurück, wir wurden angekoppelt - und los ging's. Vater blieb meistens zu Hause, um seinen Pflichten als Polizist, Pferdetrainer und Manager nachzukommen. Auf meinen Reisen begleiteten mich neben Brownie, meinem Liebling, bis zu acht andere Pferde, ein Stallknecht und Miss Marguerite Parsons. Marguerite Parsons war in meinem damaligen Leben eine Person von zentraler Bedeutung. Seit meinem zweiten oder dritten Lebensjahr war sie unser Kindermädchen, und nun wurde sie meine Lehrerin. Immer adrett und wie aus dem Ei gepellt und dabei unerschütterlich wie ein Fels, las sie mir Geschichten vor und machte das Lernen zum reinen Vergnügen. Auch sonst brachte sie mir eine Menge bei. Sie kannte mich besser als meine Eltern und hatte Verständnis für meine Probleme. Sie zeigte mir nicht nur, wie man mit anderen Menschen umgeht, sondern ermutigte mich auch immer wieder, Pausen einzulegen und mich zu 64
erholen. Sie versuchte mir verständlich zu machen, dass sich ein Mensch, der von Kindesbeinen an so einseitig darauf fixiert ist, als Reiter und Pferdeexperte Karriere zu machen, ein wenig mäßigen muß, wenn er nicht frühzeitig ausgebrannt sein will. Marguerite war damals erst an die zwanzig Jahre alt. Dennoch sagte und tat sie nach meiner festen Überzeugung immer das Richtige. Sie blieb bis 1949 bei uns. In der Schlafkabine des Eisenbahnwaggons nächtigte Miss Parsons auf der anderen Seite eines Vorhangs. Jedesmal, wenn wir uns abends zum Schlafen zurückzogen, hörte ich von dort ein eigenartiges Geräusch, an das ich mich noch heute erinnern kann. Vergeblich zerbrach ich mir den Kopf über seine Ursache. Es war eine Art Wispern oder Flüstern. Von den Pferden konnte es nicht kommen, deren Geräusche kannte ich. Es musste von Miss Parsons stammen. Aber was konnte es sein? Des Rätsels Lösung erfuhr ich erst Jahre später: Es war das Rascheln weiblicher Unterkleidung. Bis mir jedoch dieses Licht aufging, blieb das Geräusch eine von vielen geheimnisvollen Eigenschaften, die Miss Parsons auszeichneten. Eine der ersten Fahrten im Eisenbahnwaggon führte uns zu einer Pferdeshow in Pomona, Südkalifornien. Schon die Vorbereitungen waren höchst aufregend. Die Sättel und Zaumzeuge wurden auf Hochglanz gebracht, sortiert und in Kästen verstaut, für die sich an der Waggonwand Einbauregale befanden. Die Kästen sollten problemlos in Lastwagen umgeladen werden können, um das Risiko einer Beschädigung oder Verschmutzung des Inhalts während des Transports vom Waggon zum Turnierplatz möglichst niedrig zu halten. Der mitreisende Stallknecht war Wendell Gillott. Gemeinsam führten wir die Pferde in ihre Waggonboxen und luden das Gepäck ein. Dann warteten wir auf die Lokomotive der Southern Pacific, die uns zum vereinbarten Zeitpunkt abholte. »Rampe hoch! Rampe hoch!« rief Miss Parsons, kaum dass wir selbst eingestiegen waren. Sie machte sich Sorgen wegen der Mäuse, von denen es auf den Nebengleisen geradezu wimmelte; denn von der Ladung der Getreidezüge sickerte immer etwas durch. Entsprechend üppig war das Nahrungsangebot für die Nager. Miss Parsons haßte Mäuse. Unterwegs war sie stets auf der Hut vor ihnen und verfolgte eine radikale Ausrottungsstrategie, 65
Auf die Minute pünktlich zog uns die Rangierlok aufs Hauptgleis. Ein sanfter Stoß — und das Einschnappen der Kupplungen verriet uns, dass wir nun als einer unter vielen Waggons an der großen Lok hingen, die am Anfang des Zuges bereits hörbar unter Dampf stand. Die Southern Pacific brachte uns zunächst durch San Luis Obispo, Santa Barbara und Ventura ins Becken von Los Angeles. Die Fahrt durch die Berge verfolgten wir durch die mit schwerem Maschendraht gesicherten Fenster. Sie war beeindruckend. Immer wieder tauchte der Zug in dunkle Tunnel ein und dampfte wieder daraus hervor. Die folgende Strecke entlang der Küste war ganz anders und von stiller Schönheit geprägt. Der langsame Rhythmus der südwärts rollenden Räder lullte uns ein. Miss Parsons war eine Perfektionistin. Überall im Waggon hingen ihre Regeln und Vorschriften aus, und wir waren gehalten, diese auch täglich zu lesen. Sie bereitete meine Hausaufgaben vor und ließ mich an einem winzigen Schreibtisch die Schularbeiten machen. Meistens wartete sie damit, bis der Zug irgendwo mal wieder einen längeren Aufenthalt hatte, damit wir vom Lesen und Schreiben während der Fahrt nicht seekrank wurden. Normalerweise erledigte ich meine Hausaufgaben nachts, wenn der Zug irgendwo stand. Am folgenden Tag korrigierte Miss Parsons sie dann und arbeitete neue Aufgaben aus. Wenn sie nicht gerade den Waggon auf der Jagd nach Mäusen durchstöberte, plagte Miss Parsons ein anderes Ungemach: Sie führte einen ständigen Kreuzzug gegen den Staub. Kaum hatte sie irgendeine Oberfläche gewischt, da schien sich - offenbar nur, um sie zu ärgern - vor ihren Augen bereits die nächste Schicht aufzubauen. Nach der Tunnelstrecke und der langsamen Fahrt entlang der Küste erreichten wir Los Angeles - für mich ein Erlebnis, das mir völlig neue Horizonte öffnete. Ungeheuer viele Autos und Gebäude drängten sich da auf engstem Raum zusammen. Ich kam mir vor wie in einem fremden Land. Vor allem beeindruckte mich, dass hier so viele Menschen lebten. Schließlich erreichten wir Pomona, unser Ziel. Der Wettbewerb dort gehörte zur gehobenen Klasse, und es herrschte ein enormer Konkurrenzdruck. Mir schlotterten buchstäblich die Knie vor Aufregung. Es gab Turniere, bei denen ich mit einiger Zuversicht davon 66
ausgehen konnte, am Ende den Sieg davonzutragen, doch davon konnte in diesem Fall nicht die Rede sein. Eine weitere Besonderheit der Veranstaltung bestand darin, dass der Besitzer des Geländes - Mr. Kellogg von der Corn-Flakes-Familie auf eigene Kosten ein Stichgleis hatte verlegen lassen, weil er einen direkten Anschluß an das Streckennetz der Southern Pacific haben wollte. Wir brauchten also nicht erst auf ein Abstellgleis zu fahren und Pferde, Ausrüstung und uns selbst auf einen Zubringer verladen, sondern ruckelten über das Stichgleis geradewegs zum Ort des Geschehens. Wir ließen die Rampe herunter - und unmittelbar vor uns lag, wie bestellt, die Hauptarena. Die anderen Wettbewerbsteilnehmer blieben wie angewurzelt stehen und glotzten uns verblüfft an: Da fährt dieses Kind mit seinem eigenen Zug an der Arena vor ... Sie selbst hatten ihre Pferde in kilometerweit entfernten Ställen unterbringen müssen. Dies verschaffte mir einen psychologischen Vorteil: Ich hatte von Anfang an die Poleposition erobert. Als die Rampe fiel, lag die gesamte Szenerie vor meinen Augen ein Stadion mit zweitausend Sitzplätzen; die anderen Wettkampfteilnehmer ritten mit optimaler Ausstattung auf teuren Pferden auf und ab. Ich wusste, dass es sich um eine hochkarätige Veranstaltung handelte und dass Brownie, wenn er tatsächlich einen Spitzenplatz belegen wollte, meine ganze Hilfe benötigen würde. Brownie spürte selbst, was an diesem Tag auf dem Spiel stand. Eine innere Erregung hatte von ihm Besitz ergriffen, und er war genauso motiviert wie ich. Seiner Abstammung wegen - halb Vollblut, halb Mustang — waren seine Nerven ohnehin stets angespannt. Als ich Brownie hinausführte und dann zurückkehrte, um Wendeil bei den anderen Pferden zu helfen, versammelte sich eine Schar von Kindern um den Waggon. Wir hatten also ein kleines Publikum. Sie blieben da und beobachteten uns ohne jede Gemütsregung, als ich Brownie aufwärmte und ihn in allen Gangarten ritt, einem Sportler vergleichbar, der vor dem Start seine Bänder und Sehnen aufwärmt, den Kreislauf in Schwung bringt und nach der langen, bewegungsarmen Anreise zum Wettkampfort seine Batterien auflädt. Ich hatte das Gefühl, die Kinder betrachteten uns als die »andere Mannschaft«, den »Gegner«. Während ich noch darüber nachdachte, erregte ein Pferd meine Aufmerksamkeit, das auf einem etwas weiter 67
entfernten Reitplatz aus vollem Galopp zum Sliding Stop kam. Von den Hinterbeinen aufgewirbelt, die die Wucht des schlitternden, abbremsenden Tiers zu tragen hatten, stieg eine Staubwolke unter seinem Bauch auf. Ich war beeindruckt und erfreut, aber zugleich auch deprimiert, weil mir der Gedanke durch den Kopf schoß: Das ist bestimmt der Sieger in meiner Juniorenklasse. Ich ritt hinüber und erkannte zu meiner Erleichterung, dass es sich um einen Erwachsenen handelte, der in der offenen Klasse starten würde. Beim Näherkommen erkannte ich Clyde Kennedy auf Rango, dem südkalifornischen Cowhorse-Champion. Jetzt war mir klar, warum ich schon aus der Entfernung so beeindruckt gewesen war. Ich wollte ihn kennenlernen. Nach dem Aufwärmen brachte ich Brownie bis zum Beginn des Junior-Stockhorse-Wettbewerbs in den Waggon zurück. Etwas beklommen angesichts der professionellen Atmosphäre, hatte ich große Zweifel daran, ob wir hier gut abschneiden würden. Der Eisenbahnwaggon und der Umstand, dass wir unmittelbar auf dem Gelände untergebracht waren, rückten jeden unserer Fehler ins Rampenlicht. Ich zitterte vor Aufregung. Als unsere Klasse aufgerufen wurde, führte Wendell Brownie zu mir. Ich sah das Pferd auf mich zukommen, bemerkte den weißen Fleck, der wie ein drittes Auge auf seiner Stirn prangte, und seine gewohnt ruhige Art. In diesem Augenblick wurde mir schlagartig klar, dass ich das beste Pferd von allen hatte. Schließlich saß ich im Sattel, spürte unter der Hand die niedrige Pulsfrequenz an Brownies Hals und versuchte, die erkennbare Leistungsbereitschaft des Tiers auf mich zu übertragen und auf diese Weise meine Nerven zu beruhigen. Ich hatte an Brownie gezweifelt, aber jetzt war ich darüber hinweg. Wir kamen uns wie Profis vor. Wir waren hier am Start und würden unsere Arbeit tun. Wir betraten die Arena. Achterfiguren waren Brownies Achillesferse, doch klappten die fliegenden Wechsel diesmal ungewöhnlich gut. Irgendwie lief es, und ich wusste, dass Clyde Kennedy unter den Zuschauern war. Ich hatte einen neuen Helden gefunden und wollte ihn beeindrucken. Dann waren die Stopps an der Reihe. Die ersten beiden gelangen Brownie ziemlich gut, doch blieb jede Zuschauerreaktion aus. An den dritten erinnere ich mich noch heute ganz genau, denn als wir in die Mitte des Rings galoppierten, feuerte ich Brownie mit einem 68
»Whoah!« an, und er legte einen spektakulären, zehn Meter langen Sliding Stop hin. Wir standen in einer Staubwolke, und das Publikum brüllte auf wie beim Football, wenn das entscheidende Tor gefallen ist. In diesem Moment wusste ich, dass wir gute Arbeit geleistet hatten, obwohl das Rückwärtsrichten und die Offsets erst noch kamen. Am Ausgang wartete Clyde Kennedy. Er gratulierte Brownie zu seiner Leistung und fragte mich, ob ich einen Trainer hätte. Ich verneinte und fügte hinzu, dass ich ihn zuvor auf Rango gesehen hätte und gerne bei ihm Stunden nehmen würde. Clyde begleitete mich zum Eisenbahnwaggon und inspizierte ihn mit großem Interesse. Am Abend trafen sich Miss Parsons, Clyde Kennedy und ich in der Cafeteria der Bahnarbeiter, die ein Stück gleisaufwärts lag, zum gemeinsamen Essen. Bei Tisch erfuhr ich zum erstenmal von der Rivalität zwischen Clyde und dem Lokalmatador von Pomona, Jimmy Williams. In den nächsten ein, zwei Tagen sollte dieser Konkurrenzkampf entschieden werden. Clyde stellte immer neue Fragen über den Eisenbahnwaggon. Miss Parsons erklärte ihm stolz, welch strengen finanziellen Beschränkungen wir unterworfen waren. Süßigkeiten und Softdrinks für den jungen Monty Roberts? Kein Gedanke daran, Sir! Wenn der Junge Glück hat, hat er ab und zu mal die Zeit, sich ein paar Lederreste aus der Kiste zu holen, um seine Ausrüstung zu flicken. Ansonsten hat er alle Hände voll damit zu tun, Coca-Cola-Flaschen einzusammeln, um das Pfand zu kassieren. Amüsiert schüttelte Clyde Kennedy den Kopf. In jener Nacht tat ich kein Auge zu. Ich lag in meiner Koje und hörte die Kinder draußen vor dem Waggon hin und her rennen und miteinander tuscheln. Sie waren neugierig auf Brownie, der inzwischen schon eine Art Star geworden war. Am folgenden Abend, dessen war ich mir sicher, würde ein großer Besucherstrom kommen und ihn sehen wollen. Ich hörte die Kinder schon fragen: »Darf ich Brownie eine Mohrrübe geben?« oder: »Darf ich seine Nüstern streicheln?« An der Außenwand des Waggons hing eine ganze Reihe Rosetten, Sporen, Gürtelschnallen und andere Preise. Brownie wurde mit seinem Ruhm spielend fertig; es war, als halte er es nur für recht und billig, dass man ihn derart feierte. Nicht, dass er ein arrogantes Pferd gewesen wäre; er hatte lediglich ein solides Selbstbewußtsein, das sich - außer durch Papier - kaum erschüttern ließ. 69
Am letzten Tag des Turniers wurde auch der Zweikampf zwischen Jimmy Williams und Clyde Kennedy entschieden. Vor zweitausend Zuschauern kämpften sie um den ersten Platz in der offenen Klasse. Jimmy war gut - sein Pferd Red Hawk schaffte die Hinterhandwendung auf einer Dollarmünze. Beim Cutting, dem Aussondern eines Rindes aus einer Herde, war es flink und wendig wie ein Hund, und bei den Stopps wirbelten Staubfontänen auf, die meilenweit sichtbar waren wie die Rauchsignale der Cherokee. Den beiden kam natürlich auch zugute, dass das Publikum auf ihrer Seite war. Doch Clyde Kennedy auf Rango war großartig. Obwohl er im Grunde nur von mir, Miss Parsons und Wendell Applaus bekam, vollführte Rango die Achterfiguren mit echtem Stil. Die fliegenden Wechsel gelangen mühelos, als wäre er beidhändig und als sei es ihm gleichgültig, mit welchem Huf er führte. Bei seinen Pirouetten konnte einem schwindlig werden; er hielt Kopf und Hals gerade und gestattete den Vorderbeinen bei der Links- und Rechtswendung keinerlei Fehltritt. Seine Stopps kannte ich ja schon, weshalb es mich nicht überraschte, dass er in seiner Klasse den Sieg davontrug. Trotzdem war alles ungemein spannend, und unser Applaus glich die Zurückhaltung der anderen Zuschauer aus, die aus ihrer Enttäuschung über die Niederlage von Jimmy Williams keinen Hehl machten. Nach dem Turnier verfrachteten Wendell, Miss Parsons und ich unsere Pferde und uns selbst wieder in den Waggon und warteten auf die Lok, die uns zur Hauptstrecke zog. Nächster Halt: Tucson, Arizona, über acht Stunden entfernt. Ich sah mein künftiges Leben vor mir: Es kam mir so zielgerichtet und unkompliziert vor wie das Bahngleis. Erst kürzlich bekam ich die Gelegenheit, das Rodeogelände von Pomona wiederzusehen. Da stand ich, ein sechzigjähriger Veteran der Arena, des Rodeos und des Rennens, mitten auf diesem wilden, grasüberwachsenen Gelände und sagte zu meiner Frau Pat: »Moment, hier war ich doch schon mal!« »Wie bitte?« »Komm, ich zeig's dir!« Ich bahnte mir einen Weg durchs Unterholz. Nach einer kurzen Strecke talaufwärts sagte ich zu Pat: »Ich wette, dass hier oben ein einzelnes, aufgelassenes Bahngleis verläuft.« Sie sah mich an wie einen Geistesgestörten, folgte mir aber trotzdem. 70
Ein wenig abseits von unserem Pfad scharrte ich mit den Füßen Gras und Erde fort. »Hier ist es!« rief ich. Wir blickten auf die Schiene. »Siehst du? Ein Eisenbahngleis. Hier bin ich als Kind entlanggefahren.« Wir gingen über die Trasse zurück zum ehemaligen Turniergelände. Ich zeigte Pat, wo die - inzwischen längst demontierte - Zuschauertribüne gewesen war. Der zentrale Turnierplatz dagegen war noch erkennbar. Die Abgrenzungen waren von Gras und Unkraut überwuchert. Man erkannte lediglich noch das Oval. Die Erinnerung an jenen Tag vor einem halben Jahrhundert war auf einmal kristallklar. Noch einmal kostete ich den Triumph und die Aufregung aus. Da der Schauplatz des Geschehens allmählich von der Natur zurückerobert wurde, lebte das Ereignis nur noch in der Erinnerung der Beteiligten weiter. Es war abzusehen, dass in einigen Jahren sämtliche Spuren verschwunden sein würden. Da standen wir nun, ein seit vierzig Jahren verheiratetes Paar, dessen Kinder längst erwachsen waren. Unser Leben hatte sich alles andere als geradlinig entwickelt. Nun genossen wir die Reife unserer Jahre und waren stolz auf unsere Erinnerungen. Mein Bruder Larry und ich sammelten bei allen Reitturnieren leere Coca-Cola-Flaschen ein, brachten sie zum Waggon und kassierten später das Pfand. Eines Tages glaubte ich eine Chance zu sehen, die Flaschen zu uns kommen zu lassen - und wie! Auf dem Turnierplatz in Salinas war 1947 das erste Rodeo nach dem Krieg angesagt. Ein Großereignis stand bevor - vielleicht die dritt- oder viertgrößte Pferdesportveranstaltung im ganzen Land. Sie sollte vier Tage dauern. Das Rodeo sollte vor der Haupttribüne stattfinden, die fünfundzwanzigtausend Zuschauer faßte. Es war ein riesiges Bauwerk mit Betonwänden auf der Rückseite sowie auf beiden Flanken. Vom höchsten Punkt an der Rückwand ausgehend, erstreckte sich die hölzerne Bestuhlung, Reihe um Reihe niedriger angesetzt, der etwa dreißig Meter entfernten Arena entgegen. Aufgrund dieser Konstruktion gab es unter den Sitzen einen großen, dreieckigen Raum, zu dem das Publikum keinen Zutritt hatte. Die riesigen Stahltüren in der Rückwand blieben stets geschlossen. Kurz vor dem Rodeo suchte ich Dr. Leach auf und machte ihm 71
einen Vorschlag. Doc Leach, ein kleiner Mann mit Brille und einem nicht ganz einfachen Sinn für Humor, war nicht nur unser Zahnarzt, sondern auch der Präsident jener Körperschaft, die alle paar Jahre per Wahl beauftragt wurde, sich um das Turniergelände zu kümmern und die Veranstaltungen zu organisieren. Doc Leach war auch sonst recht nützlich für uns Roberts-Brüder. Oft versprach er uns einen Dollar, wenn wir uns um seine Pferde kümmerten, und gab uns zwei, wenn er sah, dass wir den Job einwandfrei erledigt hatten. Es war schon zu einer Art Spielchen geworden, wie weit wir bei ihm in diesem Perfektionswettbewerb gehen konnten. Diesmal jedoch hatte ich eine ganz besondere Idee, die ich mit Doc Leach besprechen wollte. Ich stellte ihm in seiner Eigenschaft als Präsident des Trägervereins die Frage: »Wer macht eigentlich nach dem Rodeo unter der Tribüne sauber, Doc?« Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. »Wir haben eine Putzkolonne engagiert, aber über den Platz unter den Sitzen haben wir nicht gesprochen.« Bemüht, meiner Stimme nichts anmerken zu lassen, bot ich ihm unsere Dienste an: »Wir können das übernehmen, Larry und ich. Wir machen da unten sauber. Wir wollen dafür nur die paar Münzen und den anderen Kram, der sich da unten noch findet.« Doc Leach war sich nicht sicher. »Da werdet ihr doch ewig brauchen, bis ihr fertig seid, oder?« »Ich verspreche Ihnen, dass mein Bruder und ich alles wegräumen und zum Schluss den Boden harken werden. Kein Papier, keine Glasscherbe bleibt übrig.« Er sah mich skeptisch an und schien sich über das Angebot zu wundern. Für die paar Münzen, die da vielleicht hinuntergefallen waren, wollten die beiden Jungs so viel Arbeit auf sich nehmen? Am Ende war er jedoch einverstanden. »Meinetwegen. Tut, was ihr nicht lassen könnt. Von mir aus geht das in Ordnung.« Was Doc Leach nicht wissen durfte, war, dass es uns auch hier um das Pfand für die Coca-Cola-Flaschen ging, die durch die Zwischenräume zwischen den Sitzreihen hinunterfielen oder hinuntergeworfen wurden. Das Pfandsystem war ihm ohnehin kein Begriff, denn vor dem Zweiten Weltkrieg hatte es noch gar nicht existiert. Mit Sicherheit war Doc Leach nicht der Mann, der Coca-Cola in seiner 72
Küche stehen hatte - solch neumodisches Zeug kam ihm nicht ins Haus. Am Tag nach dem Rodeo bekamen wir zunächst einmal einen Schuß vor den Bug. Es war durchaus denkbar, dass sich unsere Hoffnungen nicht erfüllen würden. Wir hatten die Stahltüren noch nicht geöffnet und konnten daher über den Umfang unserer Beute nichts sagen. Aber ich hatte unterdessen meinen Vater gebeten, mich mit einem Vertreter der Coca-Cola Bottling Company bekannt zu machen, denn wir brauchten ja eine Menge Getränkekisten und mehrere Lastwagen zum Abtransport der Flaschen. Ich stellte mir eine große Aufräumaktion vor, bei der Larry und ich das Kommando übernahmen. Der zuständige Mann von Coca-Cola war ein Mr. Carlson. Er dämpfte unsere Erwartungen mit der Bemerkung, dass die Leute allmählich das Pfandsystem akzeptierten. Er hege große Zweifel, dass sich im Müll unter den Sitzen viele Flaschen befänden. Die meisten Zuschauer hätten für die leeren Flaschen sicher Beutel und Tüten mitgebracht, um das Pfand selber zu kassieren. Er prophezeite uns sehr harte Arbeit für sehr wenig Geld. Als mein Bruder und ich schließlich die Türen öffneten, erwartete uns ein erstaunlicher Anblick. Der gesamte Raum unter der Tribüne war knöcheltief mit Abfall übersät. Durch die Zwischenräume der Latten drangen gefilterte Sonnenstrahlen in das Dunkel und zeichneten breite Streifen aus Licht und Schatten auf den Boden. Wir wagten uns in das Papiermeer vor, suchten aufgeregt die erste Flasche und hielten sie, als wir sie gefunden hatten, in einen Lichtstrahl. Sie war nicht zerbrochen. Tatsache war, dass wir zunächst überhaupt keine zerbrochene Flasche finden konnten. Wir atmeten auf. Larry und ich brauchten zweieinhalb Monate, um den Augiasstall unter der Tribüne auszumisten! Wir mussten überwiegend nachts arbeiten, weil uns tagsüber der strenge Stundenplan, den Vater uns auferlegt hatte, keine Zeit ließ. Wir brachten eine Hilfsbeleuchtung an, um wenigstens richtig sehen zu können. Am Ende hatten wir über achtzigtausend Coca-Cola-Flaschen eingesammelt, und es bedurfte tatsächlich, genau wie ich es vorausgesehen hatte, eines Lastwagenkonvois, um sie alle abzutransportieren. Auf jede während der vier Turniertage verkaufte Eintrittskarte kam eine heile Flasche. 73
Unter dem Strich verdiente jeder von uns achthundert Dollar — was zu jener Zeit ein kleines Vermögen darstellte. Nur etwa tausend Flaschen waren beim Fall in die Tiefe zu Bruch gegangen - was für die Qualität des Glases spricht, das Coca-Cola damals verwendete, denn die hinterste Sitzreihe lag ungefähr in der Höhe eines vierten Stockwerks. Doc Leach schrieb in der Lokalzeitung einen Artikel über unsere Aktion. Heiteren Sinns bekannte er sich zu seinem Irrtum und bezeichnete uns als verwegene Jungunternehmer, die einen alten Kerl wie ihn an der Nase herumgeführt hätten. Dem Trägerverein war ein erklecklicher Profit entgangen. Leach bewunderte die Raffinesse, mit der die Roberts-Brüder vor dem Rodeo die Bedingungen ausgehandelt hätten, und stand zu seinem Wort. Ich glaube, er hat herzlich über unseren Streich gelacht. Allerdings beging er diesen Fehler nicht noch einmal. In den folgenden Jahren war die Reinigung des Raums unter der Tribüne stets ein fester Punkt der Vereinbarung mit der Putzkolonne. Wie es der Zufall wollte, wurde Mr. Carlson, der Coca-Cola-Vertreter, später ebenfalls Pferdehalter, und ich bildete einige seiner Tiere aus. Außerdem trat ich in einigen Werbefilmen für Coca-Cola auf. Wenn ich heute an dieses Ereignis denke, stellt sich rasch wieder jenes Erfolgsgefühl ein, das ich damals empfand. Schließlich waren Larry und ich gerade zehn beziehungsweise elf Jahre alt, als wir dank der Arglosigkeit von Doc Leach eine ganze Menge Geld verdienten. Wilde Pferde für das Wildpferdrennen zu finden, das beim Rodeo von Salinas eine große Rolle spielte, bereitete Doc Leach im Jahr 1947 erhebliche Schwierigkeiten. Normalerweise war das anders. Er hätte bei den betreffenden Leuten angerufen und gesagt: »Los, Jungs, ich brauche hier in Salinas bis zum ersten Juli hundertfünfzig Mustangs.« Und die hätte er auch bekommen. Nun war allerdings die Zahl der Mustangs, da während des Krieges viel Pferdefleisch verzehrt worden war, erheblich zurückgegangen. Insgesamt war der Bestand in Nordkalifornien, Nevada und im Süden Oregons um zwei Drittel geschrumpft, und Herden gab es fast nur noch in Nevada. 74
Der telefonische Rundruf von Doc Leach stieß also 1947 weitgehend auf taube Ohren. »Was für Mustangs?« fragten die Rancher. »Kommen Sie her, und sehen Sie selbst nach, ob Sie noch welche finden.« Die Salinas Rodeo Association musste also für den Wettbewerb des Jahres zusammenkratzen, was sie finden konnte — und das waren ziemlich zahme Wildpferde, wie sich herausstellen sollte. Ein kleines Häufchen von Pferden, die allesamt zu alt für den Job waren oder zumindest nicht jenen sportlich-athletischen Widerstand leisten konnten, der für alle Rodeofans einfach unerläßlich ist. Ein Jahr später, 1948, sah ich eine Chance, Doc Leach einen Dienst zu erweisen, der den Ruf des Wildpferdrennens retten sollte - und gleichzeitig das Leben von hundert oder mehr Pferden. Ich wusste, dass die Mustangs in früheren Jahren, wenn das Rodeo vorüber war und man sie nicht mehr brauchte, nach Crow's Landing gebracht wurden, wo man sie schlachtete und zu Hundefutter verarbeitete. Es kam also darauf an, ihren Wert so zu steigern, dass ... Der Erfolg unserer Aktion mit den Coca-Cola-Flaschen hatte mich mutig gemacht. Also schlug ich Doc Leach folgendes vor: »Was würden Sie davon halten, wenn mein Bruder und ich die Mustangs in Nevada organisierten?« Doc Leach' Augenbrauen wölbten sich hoch über die Brillenränder. »Wie wollt ihr denn da hinkommen? Zu Fuß?« »Nein. Wir haben auf Turnieren dort viele Freundschaften geschlossen. Ich weiß zum Beispiel, dass die Campbell Ranch uns unterstützen würde. Wir können unsere eigenen Pferde mitnehmen. Tony Vargas fährt den Laster, er hat den Führerschein, Sir. Vielleicht können wir auch den ganzen Job für Sie erledigen.« Ich sah, wie Doc Leach hin und her überlegte, und fügte hinzu: »Ich weiß, dass wir das schaffen, Larry und ich.« »Schön für euch.« »Wir würden zusammen mit ein paar Hilfskräften von der Campbell Ranch in die Hügel reiten. Ich gehe jede Wette ein, dass wir hundertfünfzig Stück zusammenbekommen.« »Stück was? Hühner oder Pferde?« »Starke, gesunde Mustangs, Sir.« Wie bereits erwähnt, hatte Doc Leach einen feinen Sinn für Humor. Was mir trotzdem nicht gefiel, war, dass er uns nicht richtig 75
ernst nahm. Bei den Coca-Cola-Flaschen hatten wir schließlich am Ende die Nase vorn gehabt. »Wenn wir die Tiere beisammen haben, lassen wir sie von Irvin Bray nach Saunas transportieren«, fuhr ich fort. »Bis zum Beginn des Rodeos würden Larry und ich uns auf dem Gelände um sie kümmern. Sie werden pünktlich auf die Minute an Ort und Stelle sein — und wir zwei, Larry und ich, sind dabei und achten darauf, dass sie auch gesund und munter sind.« Doc Leach schob seine Pfeife von einem Mundwinkel in den anderen und blinzelte mehrmals. Ich sah, dass er sich mein Angebot durch den Kopf gehen ließ. Nach einer Weile fragte er: »Und was springt für euch zwei dabei heraus?« »Wir haben uns gedacht, Sir, dass wir nach dem Rodeo die Mustangs zureiten und sie später dann vielleicht auf einer Auktion versteigern könnten. Sie wären dann mehr wert als bloße Krähenköder.« »Krähenköder« war ein Euphemismus für Tiere, die ins Schlachthaus nach Crow's Landing geschickt wurden. Ich erklärte Dr. Leach, dass dieses Jahr meiner Meinung nach keine Schlachtpferde anfallen würden. »Mit Sicherheit wird eine ganze Reihe von den Pferden von meinem Bruder oder mir in den Auktionsring geritten. Da wird so mancher zu einem guten Reitpferd kommen, Sir.« Leach hatte sich noch immer nicht entschieden. »Vielleicht springt am Ende sogar ein Profit für die Rodeo Association heraus«, fuhr ich fort. »Jedenfalls mehr als der Schlachterlös.« Seit er beim Cola-Flaschen-Geschäft den kürzeren gezogen hatte, war Doc Leach ein wenig auf der Hut vor den Roberts-Brüdern. Er zerbrach sich den Kopf darüber, ob auch der neue Vorschlag Aspekte enthielt, die auf den ersten Blick nicht erkennbar waren. Als er partout nichts finden konnte, erklärte er sich einverstanden. »Okay, das klingt fair. Wir werden uns auf jeden Fall mal ansehen, was ihr zustande bringt. Schlimmer als letztes Jahr kann es kaum werden.« Wir bedankten uns und versicherten ihm, dass wir sein Vertrauen in unseren Plan nicht enttäuschen würden. Doc Leach nickte und bot uns an, Irvin Bray anzurufen und mit ihm einen Transportvertrag für die Rückfahrt abzuschließen. 76
Zum Schluss einigten wir uns darauf, dass die Nettoeinkünfte aus allen Verkäufen, die wir arrangieren konnten, je zur Hälfte zwischen der Association auf der einen und meinem Bruder und mir auf der anderen Seite aufgeteilt werden sollten. Also reisten Larry und ich, zwei Jungen im Alter von zwölf und dreizehn Jahren, nach Nevada, um einhundertfünfzig Mustangs zu fangen. Es sollte sich für mich als die große Chance meines Lebens erweisen: Ich konnte zum erstenmal Pferde in ihren natürlichen Familienverbänden und in freier Wildbahn beobachten. In den folgenden drei Jahren reiste ich regelmäßig in die Bergwüste jenseits der Sierra Nevada und verbrachte dort jeweils mehrere Wochen in unmittelbarer Nähe der wilden Mustangherden. Die Gegend nördlich von Battle Mountain wird Federal Land genannt, weil sie dem staatlichen Bureau of Land Management (BLM) gehört. Es ist ein weites, menschenleeres Gebiet. Die Erfahrungen aus meinen Aufenthalten dort bildeten die Grundlage für das Erlernen einer neuen Sprache, einer stillen Sprache, die ich später »Equus« nannte. Ich lernte die Grundbegriffe, die es mir ermöglichten, die Prinzipien meines Lebenswerks genau und überzeugend zu definieren. Im Juni 1948 war es dann soweit: Dick Gillott, Tony Vargas, mein Bruder und ich verfrachteten unsere Pferde und unsere Ausrüstung in den Lastwagen und fuhren los. Auf kurvenreicher Strecke ging es zunächst durch die Vorgebirge und dann hinauf in die Sierra Nevada, auf Straßen, die einst unsere Vorfahren in die strenge, harte Landschaft geschnitten hatten. Jenseits von Battle Mountain lag die Bergwüste - und unser Ziel, die Campbell Ranch. Die Luft war dünner — das war das erste, was mir auffiel, als ich die Tür des Lasters öffnete. Ich kletterte aus der Kabine und wusste bereits, dass diese Landschaft völlig anders war als alles, was ich bis dahin gesehen und erlebt hatte. Der Horizont lehnte sich rundum gegen einen Himmel, der hier so weit und umfassend war, dass er all meine Vorstellungen übertraf. Ich kam mir vor wie auf einem anderen Planeten. Am frühen Morgen war der Boden seidig und kühl, wenn man ihn berührte, und mittags versengte er einem die Haut. Es war eine mit hartem Gras und Gebüsch bewachsene Mondlandschaft, durchzogen mit tiefen, von verkrüppelten Bäumen über77
wucherten Schluchten oder kleinen Canyons, den sogenannten barrancas. Die Bergwüste ... Irgendwo in dieser riesigen Naturwildnis befanden sich die Pferde, die wir suchten. Auf der Campbell Ranch waren mehrere indianische Hilfskräfte beschäftigt, die den Auftrag erhielten, uns zur Hand zu gehen. Ich rechnete eigentlich damit, dass sie uns den gleichen Trick empfehlen würden, den mir vier Jahre zuvor mein Onkel Ray gezeigt hatte. Seine Vorfahren vom Volk der Cherokee hatten, wie erwähnt, die Mustangs in die entgegengesetzte Richtung gedrängt, bevor sie sie schließlich in die Falle lockten. Die Pferde neigten dazu, auf die Abdrängung mit Gegendruck zu reagieren. Doch meine Vermutung erwies sich als falsch. Die Indianer erklärten uns ihre eigene Methode: Ungefähr fünfundachtzig Kilometer von der Ranch entfernt hatten sie einen etwa vierhundert Meter langen Korral errichtet. Dieser sollte am Ausgang einer Barranca liegen, die oft von den Mustangs aufgesucht wurde. Von oben sah das aus wie ein Schlüsselloch: zwei Seiten umschlossen einen schmalen Zwischenraum, hinter dem sich eine kreisförmige Erweiterung befand. Die Pfosten des Korrals und die Umzäunung selbst wurden so gut mit Gestrüpp getarnt, dass sie praktisch unsichtbar waren. Nach einem zweitägigen Ritt erreichten wir die behelfsmäßige Konstruktion. Die Indianer führten uns um sie herum und erklärten uns, wie die Mustangs nun in den keilförmigen Eingang der Schlucht, durch sie hindurch und schließlich in die kreisförmige Umfriedung getrieben werden sollten. Dort würden sie innehalten und erkennen, dass sie umkehren mussten. In diesem Augenblick würden dann Reiter aus den Kulissen treten und das Tor an der schmälsten Stelle des »Schlüssellochs« schließen. Aber wo waren die Pferde? Bei oberflächlicher Betrachtung des Geländes waren sie nicht zu sehen — obwohl sich vor unseren Augen ein großer Teil der Erdoberfläche auszubreiten schien, eine mit Rissen und Spalten durchzogene Hochebene im Sonnenglast. Die Indianer deuteten hierhin und dorthin - die Aufenthaltsorte wilder Pferdeherden lassen sich nicht so ohne weiteres vorhersagen. Am Ende waren sie ganz froh, Larry und mich allein mit der Suche beginnen zu lassen; sie hätten zu tun, sagten sie. Wenn wir dicht 78
genug an den Pferden dran waren, wollten sie aber wiederkommen und uns auf der letzten Etappe helfen. Mir standen für unser Unternehmen zwei Reit- und zwei Packpferde zur Verfügung. Mein Hauptpferd war natürlich Brownie, das zweite Reitpferd war Sergeant, die Packpferde hießen Burgundy und Oriel. Das Gelände war ziemlich schwierig, und vor allem in den Barrancas war das Reiten alles andere als ungefährlich. Über große Strekken musste ich Brownie am Zügel führen, denn er bedeutete mir zu viel, als dass ich bereit gewesen wäre, ihn gewichtsmäßig zu überlasten oder ihm anderweitig zuviel zuzumuten. Nach gründlicher Vorbereitung schnallten Larry und ich unseren Packpferden die Vorräte auf und waren abmarschbereit. Ich spürte Vorfreude auf eines der größten Abenteuer meines Lebens. Als Brownie seine ersten Schritte in dieses zerklüftete, durstige Land tat, überfiel mich eine merkwürdige Vorahnung. Wir betraten jetzt das Land seiner Herkunft: Seine Mutter war ein Mustang gewesen, und ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass mir etwas Wichtiges gezeigt werden sollte. Brownie war ein ruhiges, gutmütiges Pferd - wenn man einmal von seinem gestörten Verhältnis zu Papier absah -, doch die Zielstrebigkeit, mit der er mich in das Land trug, in dem seine Wurzeln lagen, deutete daraufhin, dass er etwas wusste, was mir nicht bekannt war und was ich bald kennenlernen sollte. Im Morgengrauen brachen Larry und ich von unserem Lager auf. Wir traten schnell die Überreste unseres Feuers aus und schoben mit den Stiefeln lose Erde darüber. Der Eifer, mit dem wir dies taten, machte uns Spaß, wenn vielleicht auch nur, weil uns dabei in der kühlen, dünnen Luft ein wenig wärmer wurde. Wir trugen die gleiche Kleidung wie am Tag zuvor. Als wir die Pferde bestiegen und unsere Apfelsinen schälten — Mutter bestand darauf, dass wir täglich Orangen zu uns nahmen -, ging wie eine goldene Scheibe die Sonne auf. Anfangs wäßrig-verschwommen, brannte sie im weiteren Verlauf des Vormittags mit immer stärkerer Kraft auf uns herab. Dass nicht alles so lief, wie wir uns das vorgestellt hatten, wurde mir in dem Moment klar, in dem wir die erste Herde erspähten. Sie umfaßte ungefähr fünfzig Tiere. Brownie war der erste, der ihre Witterung aufnahm. Wir durchquerten gerade eine Barranca, deren Böschungen mit ungewöhnlich großen Steinen übersät waren. Verkrüppelte Bäume nutzten die 79
geschützte Lage und versuchten dem Boden ein wenig Wasser abzuringen. Auch wenn man sich beim Abstieg und auf dem Grund der Canyons an die von Sturzbächen ausgeschwemmten Flutrinnen halten konnte, blieb das Reiten gefährlich. Brownie verlagerte sein Gewicht auf die Hinterhand, um die Belastung beim Bergabgehen ein wenig abzumildern. Als er plötzlich stehenblieb und sich auf etwas konzentrierte, das ich weder hören noch sehen konnte, verrieten mir seine Passivität und der Umstand, dass er offensichtlich in die Richtung strebte, in die seine Ohren deuteten, dass er eine Herde Geschwister gewittert hatte — Mustangs aus Nevadas Norden. Als wir die Wildpferde schließlich einholten - sie hatten unsere Gegenwart längst bemerkt und entfernten sich bereits -, offenbarte sich plötzlich ein schmerzlicher Gegensatz zwischen Larrys und meinen Absichten. Larry wollte so weitermachen wie bisher und die Pferde in Richtung Ranch treiben, und dafür gab es durchaus plausible Gründe. Da uns ein Rückweg von fast neunzig Kilometern bevorstand, mussten wir uns beeilen, wenn wir unseren Terminplan einhalten wollten. Doch anders als mein Bruder wollte ich erst einmal haltmachen und mir die Pferde in Ruhe anschauen. Ich fand es faszinierend, sie im Familienverband beobachten zu können. Der Leithengst umkreiste die Herde, hob den Schweif, trat immer wieder aus der Herde heraus, stieg und wieherte, beunruhigt durch unsere Anwesenheit. Am liebsten hätte ich mich zurückgezogen und aus dem Hintergrund beobachtet, was sich beobachten ließ, ohne als Störenfried in Erscheinung zu treten. Fast wünschte ich, selbst ein Pferd zu sein, so sehr identifizierte ich mich mit den Tieren. Diese Pferde waren nicht nur Brownies Geschwister - sie waren auch meine eigenen, vielleicht ebenso wie Larry. Ich wollte sie verstehen, denn ich war mir in diesem Augenblick völlig im klaren darüber, dass ich längst noch nicht soviel wusste, wie ich mir immer einbildete. Ergebnis des unausgesprochenen Interessenkonflikts zwischen Larry und mir war ein unausgesprochener Kompromiß: Larry scheuchte mich voran, während ich ihn zu bremsen versuchte. Keiner von uns setzte sich durch. Wir waren ja noch Kinder, und mein plötzlicher Wunsch nach größerer Behutsamkeit und einer Änderung 80
unserer Pläne blieb weitgehend unerwähnt. Wir taten also das, was wir uns vorgenommen hatten. Die Herde hatte sich inzwischen wieder etwas weiter entfernt, so dass gut anderthalb Kilometer zwischen uns lagen, und ich bemerkte nur, was mir bereits bekannt war: Das schrille Wiehern beunruhigter Stuten war Ausdruck ihres Unmuts. Es klingt anders als das normale Wiehern eines Pferdes, das die Aufmerksamkeit seiner Artgenossen zu erregen sucht. Wer schon einmal beim Füttern der Pferde im Stall dabei war, kennt auch das bezeichnende Wiehern, mit dem ein Pferd zur Fütterungszeit seinen Betreuer ruft. Wir setzten also der Herde nach und trieben sie dadurch voran. Wir hörten, wie die Fohlen wieherten, um auf sich aufmerksam zu machen und die anderen Tiere zu identifizieren; das typische Verhalten von Jungtieren aller Art. Jeder, der mit Pferden zu tun hat, kennt diese Signale. Nach vorne gerichtete Ohren verraten Interesse an Dingen, die sich irgendwo vor dem Pferd abspielen. Nach vorne gerichtete Ohren bei hoch erhobenem Kopf bedeuten das gleiche, nur dass das Objekt weiter entfernt ist. Nach vorne gerichtete Ohren mit gesenktem Kopf deuten darauf hin, dass sich der Gegenstand des Interesses unmittelbar vor dem Tier in Bodennähe befindet. »Gespaltene« Ohren bei normaler Kopfhaltung, wobei das eine Ohr nach vorne, das andere nach hinten weist, zeigen, dass sich das Interesse des Pferdes auf den vor ihm liegenden Bereich konzentriert, dabei aber auch auf den Rückraum nicht vernachlässigt. Die Ohren verrieten uns also jeweils, was gerade die Aufmerksamkeit der Herde erregte. Waren die Ohren entspannt und »hingen« und hatten die Pferde womöglich ein Hinterbein entlastet, konnten Larry und ich davon ausgehen, dass sie uns nicht bemerkten; in diesem Moment waren sie nicht um ihre Sicherheit besorgt. Legt ein Pferd seine Ohren an, so ist es wütend. Einmal beobachteten wir einen Hengst in dieser Haltung. Er brachte seine Hinterbeine in eine Position, die es ihm ermöglichte, gegen ein anderes Tier oder gegen einen Menschen vorzugehen. Wir erkannten, dass er wütend, aggressiv und gefährlich war. Ein- oder zweimal sahen wir auch, wie der Hengst die Ohren zurücklegte und seine Nüstern, so weit er konnte, gerade nach vorn streckte. Er hatte seinen Kopf bis knapp unter die Widerristhöhe gesenkt, so dass Hals und Kopf von der Schulter an wie ein Pfeil aus81
sahen, dessen Spitze von den Nüstern gebildet wurde. Der Blick des Hengstes war stählern, und er bewegte sich vorwärts, als wolle er sich an etwas heranpirschen. Unsere Beobachtung verriet uns, dass er ein sehr ausgeprägtes Hengstverhalten besaß. Diesen Bewegungsablauf zeigen ausschließlich ausgewachsene Hengste, und zwar nur solche, die das Potential zur Führung ihres Familienverbands entwickelt haben. Als Larry und ich diese erste Gruppe Mustangs umkreisten, von den anderen trennten und sie dazu brachten, in der Gegenrichtung — und damit auf die Falle in der Barranca zu - weiterzulaufen, erkannte ich, dass das Blickfeld eines Pferdes nahezu dreihundertsechzig Grad beträgt. Lediglich einen kleinen Ausschnitt direkt hinter sich und einen noch kleineren unmittelbar vor sich kann es nicht überblicken. Als wir hinter der Herde her ritten und sahen, wie der Leithengst während unserer Bemühungen, die Pferde in die gewünschte Richtung zu drängen, seine Defensivtaktik beibehielt, bekamen wir einen guten Eindruck von dem enormen Blickfeld, über das die Tiere verfügten, wo immer sie sich aufhielten. Bald konnten wir uns davon überzeugen, dass der Hengst, wenn er in seiner Rolle als Beschützer die Stuten zusammentrieb und dabei mit dem Schweif schlug, nicht zufrieden war. Es war etwas anderes, als wenn er lästige Insekten vertreiben wollte. Er war unglücklich. Diese Reaktion war uns bereits bekannt: Wenn man als Trainer sein Pferd mit Sporen oder Peitsche zu stark unter Druck setzt, kann das Schweifschlagen zur Gewohnheit werden. Bei Turnieren im Westen der USA kann man wichtige Punkte verlieren, wenn das Pferd während der Prüfung mit dem Schweif schlägt. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis, die mir bei diesem ersten Ausflug nach Nevada bestätigt und damit unauslöschlich meinem Bewußtsein eingeprägt wurde, war die, dass es zwei verschiedene Typen von Lebewesen gibt: das Tier mit Kampfinstinkt, also das »Kampftier«, und das Tier mit Fluchtinstinkt, das »Fluchttier«. Man kann nicht oft genug betonen, dass Pferde zu den Fluchttieren gehören. Ich wusste das wohl schon vorher, doch erst jetzt, angesichts der Distanz, die Larry und mich fast ständig von den Pferden trennte, begriff ich, wie es wirklich ist. Es klingt so selbstverständlich, doch man muß sich immer wieder daran erinnern: Ein Pferd wird jede sich bietende Gelegenheit nut82
zen, um einem mitzuteilen »Ich möchte nicht in deiner Nähe sein. Ich gehe jetzt. Ich will weg. Wenn ich hier bleibe, droht Gefahr; ich spüre es. Ich bin auf der Flucht!« Das Fluchttier hat lediglich zwei Wünsche: sich fortzupflanzen und zu überleben. Furcht ist das Werkzeug, welches ihm das Überleben ermöglicht. Dies muß man stets berücksichtigen, wenn man mit einem Pferd zu tun hat, sonst kommt es unweigerlich zu Mißverständnissen. Der Mensch dagegen ist ein Kampftier. Seine Domäne ist die Jagd und die Beherrschung anderer Lebewesen, sei es, um sie zu verzehren, sei es, um sie sich anderweitig dienstbar zu machen. Während das Pferd im Spektrum der Fluchttiere eine exponierte Stellung einnimmt, besetzt der Mensch im entgegengesetzten Spektrum der Kampftiere eine vergleichbare Position. Wenn der Mensch also das Vertrauen eines Pferdes gewinnen und seine Kooperationsbereitschaft wecken will, muß er dem Tier - und das Tier ihm - auf halbem Wege entgegenkommen. Die Verantwortung für die Überwindung dieser Hürde liegt allerdings ausschließlich beim Menschen, und er wird nur dann Erfolg haben, wenn er sich das Vertrauen des Pferdes verdient und niemals dessen Eigenschaft als Fluchttier mißbraucht. Wenn ich aus jener Reise nach Nevada eine wichtige Lehre gezogen habe, dann die, dass mein Bestreben, das Verhalten der Wildpferde zu verstehen, erheblich mehr Zeit benötigte, als ursprünglich gedacht. Der erste Schritt war getan: Ich wusste, was ich wollte. Das Ärgerliche war nur, dass ich es unter den gegebenen Umständen nicht erreichen konnte. Statt dessen trieben wir die Pferde gruppenweise in das Gehege in der Barranca, ließen den gemieteten Laster kommen und sie über die holprigen Fahrwege abtransportieren. Weder wurden geeignete Tiere ausgewählt, noch wurden sie nach Alter oder Geschlecht getrennt. Wir verluden Stuten mit Fohlen bei Fuß und ältere Tiere zusammen mit jüngeren Hengstfohlen, die für unsere Zwecke besser geeignet waren. Kurzum, es fehlte uns an Erfahrung. Doch immerhin: Ich wusste, was ich beim nächsten Mal anders machen wollte. Mit einem Lastwagenkonvoi, der einhundertfünfzig unruhige, 83
ausschlagende Mustangs mit sich führte, kehrten Dick, Tony, Larry und ich zum Competition Ground in Salinas zurück. Wir ließen die Rückwände der Anhänger herunter, und schon fegten die Pferde über die Rampe in ihr neues Zuhause - einen eingezäunten Korral, der von unbekannten Scheunen, Ställen und anderen Gebäuden sowie einer Arena umgeben war, in der sie in einem knappen Monat am Wild Horse Race teilnehmen sollten. Sie schnaubten und rannten an der Umzäunung entlang, völlig verwirrt durch ihre neuen Lebensumstände. Welch ein Unterschied zu Nevada! Ich stürmte sofort ins Haus und berichtete meinen Eltern stolz von unserem Erfolg. Vor allem aber wollte ich ihnen sagen, was ich mir für das nächste Jahr vorgenommen hatte. »Weißt du, Ma, nächstes Jahr nehme ich mir mehr Zeit. Dann kann ich sie ganz natürlich erleben. Sie werden gar nicht merken, dass ich in der Nähe bin.« Meine Mutter hatte Verständnis für mich und hörte mir aufmerksam zu. »Was wirst du denn dabei für Entdeckungen machen?« »Das weiß ich noch nicht. Aber irgendwas werde ich bestimmt herausfinden. Wie sie sich untereinander verständigen, zum Beispiel. In der Familie. Das hoffe ich wenigstens.« »Na, ich hoffe, es wird dir gelingen.« Mein Vater war alles andere als begeistert. »Du wirst herausfinden, dass die Nächte dort kalt und die Tage glutheiß sind, und das war's dann auch schon. Ja, und du wirst dahinterkommen, dass diese Mustangs mit dir und deinen Flausen im Kopf herzlich wenig zu tun haben wollen.« Nach seiner Überzeugung verstanden Pferde nur eines, und das war Furcht. Wer ihnen nicht brutal zeigte, wer der Herr war, dem würden sie übel mitspielen. Und eines stand für ihn fest: Wir - und damit meinte er die Menschheit allgemein - würden diese einhundertfünfzig Mustangs brutal rannehmen müssen. Schließlich waren sie für das Salinas Wild Horse Race vorgesehen. Ich weiß nicht, wie viele Zuschauer zu diesem Teil des Rodeos kamen, doch gehörte das Rennen zu den beliebtesten Attraktionen der Veranstaltung, weshalb die Haupttribüne so ziemlich randvoll war mit Leuten, die jederzeit bereit waren, vor Begeisterung zu schreien, zu johlen und mit den Füßen zu stampfen. Larry und ich befanden uns 84
mitten in der Menge, die sich am Zaun drängte. Jetzt sollten wir bald erfahren, wie es unseren Pferden ergehen würde. In der Mitte der Arena warteten in bestimmten Abständen voneinander mehrere Teams zu je drei Mann, allesamt im klassischen Cowboyoutfit. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ohne Blessuren davonkommen würden, war bei ihnen genauso gering wie bei den Pferden. Man sah ihnen ihre Nervosität an: Sie konnten einfach nicht stillstehen. Aufgeregt warteten sie auf das Wildpferd, das ihnen zugeteilt wurde. Jede Mannschaft hatte einen Westernsattel griffbereit in der Nähe liegen. Kaum waren die Herren des Organisationskomitees in die Arena eingeritten - jeder zog am Ende eines ans Sattelhorn gebundenen Führstricks einen wilden Mustang buchstäblich hinter sich her -, begannen die Zuschauer zu jubeln und zu schreien. Den Mustangs folgten weitere Reiter, die sie zusätzlich von hinten antrieben. Unsere Mustangs buckelten, rannten, duckten sich und zerrten an ihren Lassos. Die Menge kreischte und tobte. Der Anblick der wilden Pferde, die in die Arena geschleppt wurden, versetzte sie in Ekstase. Die Männer vom Komitee übergaben nun jeweils einen Führstrick dem ersten Mann im Team, dem anchor (Anker). Er ist das jeweils größte und schwerste Mitglied der dreiköpfigen Mannschaft. Die Anchors stemmten die Hacken in den Boden und versuchten, die rund acht Zentner schweren wilden Tiere so gut wie möglich an Ort und Stelle zu halten. Der zweite Mann im Team, der mugger (Räuber), hat wahrscheinlich den gefährlichsten Job. Handbreite um Handbreite hangelten sich die Muggers am Führstrick voran, mal nach links, mal nach rechts gewandt, je nachdem, nach welcher Seite der betreffende Mustang gerade zerrte oder ausbrach. So schnell sie konnten, mussten sie die Pferde um den Hals packen, sie praktisch in den Schwitzkasten nehmen, und in die Oberlippe kneifen. Der Schmerz musste so stark sein, dass die Tiere gar nicht mehr darauf achteten, ob da vielleicht jemand war, der ihnen einen Sattel aufschnallen wollte. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, als der Kampf begann. Einige Männer wurden vom Seil geschleudert, ehe sie überhaupt die Pferde erreichten; andere hatten mehr Glück und versuchten, die Tiere niederzuringen wie bei einer Rauferei im Saloon. 85
Als nächstes war der dritte Mann im Team gefordert - der rider (Reiter). Mit dem Sattel auf den Armen flitzte er heran und versuchte, ihn dem Pferd überzuwerfen und die Gurte festzuschnallen. Man kann sich den Lärm und das Tohuwabohu vorstellen. Meine Nerven waren allein vom Zusehen bis zum Zerreißen gespannt. Einige Männer waren bereits verletzt, humpelten aus der Arena und wurden sofort durch andere ersetzt. Ein Mann wurde bewußtlos unter den Hufen eines Pferdes hervorgezogen und musste vom Platz getragen werden. Inzwischen war es einigen Reitern gelungen, die Sattelgurte festzuzurren. Sie sprangen auf die Pferde und versuchten, sich im Sattel zu halten, bis ihnen das Seil zugereicht wurde, ihr einziges Hilfsmittel zur Lenkung des Pferdes. Es war der reinste Hexenkessel. Überall waren scheuende oder durchgehende Pferde, manche mit Reitern, manche ohne. Die Reiter, denen es gelungen war aufzusitzen, versuchten unter Einsatz sämtlicher Schikanen, einmal um den Halbmeilenkurs zu galoppieren. Sie brüllten ihre Pferde an, gaben ihnen die Sporen und rissen am Seil, um sie in die richtige Richtung zu zwingen. Ich war mit Leib und Seele dabei - nicht anders als andere Dreizehnjährige, die die Rodeokultur gleichsam mit der Muttermilch in sich aufgesogen haben. Doch in meine Begeisterung mischte sich tiefe Betroffenheit über die Brutalität und Grausamkeit der Veranstaltung. Es gab ein paar furchtbare Stürze, bei denen ich jeweils mitlitt, als wäre ich selbst der Betroffene. Ein Pferd brach sich - wie ich erst im nachhinein erfuhr - den Kiefer. Und jedesmal, wenn sich ein Pferd am Boden wand, schrie hinter mir eine aufgeputschte Stimme: »Krähenköder! Krähenköder!« Ich wusste natürlich, was das bedeutete: Die verletzten Tiere endeten samt und sonders in der Konservenfabrik in Crow's Landing. Als einige Reiter es tatsächlich schafften, sich im Sattel zu halten, und auf den Rücken ihrer Mustangs über die Rennbahn fegten, verdoppelte sich das frenetische Geschrei und Gejohle der Zuschauer. Die Köpfe geduckt, die Ohren flach zurückgelegt, rannten die Pferde, als ginge es um ihr Leben. Nach einmaliger Umrundung des Halbmeilenkurses streckte der Sieger die Hand in die Luft und blieb noch so lange im Sattel, bis sich das Pferd so weit beruhigt hatte, dass er abspringen konnte. Stehend nahm er die Huldigungen des Publi86
kums entgegen, und seine Miene strahlte vor Begeisterung und Siegestrunkenheit. Bis heute fordert das Wild Horse Race Jahr für Jahr Todesopfer unter den beteiligten Pferden. Ich bin der Meinung, dass es abgeschafft werden sollte. Es waren also weniger als einhundertfünfzig Mustangs, die uns nach dem Ende der Veranstaltung zur Verfügung standen. Wir brachten sie auf die Koppeln, wo sie sich nach der traumatischen Erfahrung erholen konnten und zweifellos heilfroh darüber waren. Die Erholungsphase war allerdings nur von kurzer Dauer. Schon im Oktober sollten sie versteigert werden. Mir und meinem Bruder oblag es, im August und September, also innerhalb von nur sechzig Tagen, so viele wie möglich einzureiten. Für alle, bei denen uns das nicht gelang, hieß es: Endstation Crow's Landing, egal, ob sie verletzt waren oder nicht. Die wirtschaftliche Logik unseres Abkommens mit Doc Leach bestand darin, dass wir versuchten, die lebenden Pferde wertvoller zu machen als die toten. Mit meinem Bruder vereinbarte ich, dass ich mich um ungefähr zwei Drittel der Tiere kümmern würde und er um den Rest. Meine Hauptsorge bestand darin, meine neuen Ideen vor meinem Vater geheimzuhalten. Ich wollte mit den Kommunikationstechniken, die mich so fesselten, weiterexperimentieren und eine Methode entwickeln, die mehr auf den Respekt des Pferdes vor den Menschen und auf seine Kooperationsbereitschaft baute als auf seine rigorose Unterdrückung einschließlich der damit verbundenen grausamen Strafen. Nicht nur wegen des Termindrucks, unter dem wir standen, wollte ich mich auf meine Methode konzentrieren. Tief im Inneren spürte ich, dass ich da auf etwas Neues gestoßen war, das die Einstellung der Menschen zu den Pferden verändern konnte. Es gelang mir tatsächlich, meine Experimente mit der neuen Methode zu verheimlichen, weil das Gelände, auf dem ich mit den Pferden arbeitete, auf zwei Seiten von Stallgebäuden abgegrenzt und daher für meinen Vater nicht einsehbar war. Zu einer wirklich entscheidenden Verbesserung meiner Technik sollte es zwar erst im folgenden Jahr, nach meiner zweiten NevadaExpedition, kommen. Doch schon jetzt hielt ich mein Verfahren für 87
etwas grundlegend anderes als das herkömmliche »Brechen« der Pferde*, ein Wort, das einen gewalttätigen, herrschsüchtigen Beigeschmack hat und eine Schädigung des betroffenen Tiers mit einschließt. Ich nannte meine Methode von nun an das »Starten« eines Pferdes. Mein Ziel war der üblichen Aussackmethode diametral entgegengesetzt, die nur dazu diente, das Pferd in Angst und Schrecken zu versetzen. Ich wollte genau das Gegenteil erreichen, nämlich eine Atmosphäre des Vertrauens schaffen. Beim Aussacken wurden die Pferde mit Stricken an Kopf und Beinen festgebunden. Damit wollte ich nichts zu tun haben. Ein entscheidender Augenblick für mich war, als ich feststellte, dass ich ein Pferd longieren konnte, ohne eine Leine an seinem Kopf festzumachen. Das Aussacken bedeutete körperliche Züchtigung; also kamen Peitschen bei mir nicht in Sichtweite, und ich würde nie die Hand oder einen Fuß gegen ein Pferd erheben. Kurzum: Anstatt den jungen Pferden Befehle zu erteilen - »Ihr müßt!« -, wollte ich ihnen die Frage stellen: »Wollt ihr?« Wohin mich diese Gedanken in bezug auf meine »Starttechniken« führten, möchte ich an dieser Stelle nicht näher ausführen, weil ich in Kürze ohnehin noch genauer darauf eingehen werde. Es geschah nach einer für mich sehr verblüffenden, neuen Entwicklung, von der ich sofort, als ich sie erkannte, wusste, dass sie mein Leben - und hoffentlich auch das vieler Pferde - verändern würde. Fürs erste genügt folgendes: Ich wusste, dass man Pferde zureiten konnte, indem man ihr Vertrauen und ihre Kooperationsbereitschaft gewann. Daran hatte ich von Anfang an nicht die geringsten Zweifel. Meine Technik war noch zufallsbestimmt und unausgereift, aber ich schaffte es trotzdem. Nach dem »Start« wählte ich vier oder fünf meiner besten Reitschüler aus, damit sie die Pferde ritten. Auf diese Weise gelang es mir, etwa achtzig meiner hundert Mustangs auf ein gutes Niveau zu bringen. Die Schüler waren mit Eifer dabei, und gemeinsam lernten wir * Der Autor bezieht sich hier auf den englischen Begriff to break a horse oder to break in a horse, das im Deutschen mit »Zureiten« nur unzureichend wiedergegeben wird. (Anm. d. Übers.)
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sehr viel über jedes einzelne Pferd. Am Ende hatte ich das Gefühl, eine echte Leistung vollbracht zu haben. Am Tag der Auktion ritten wir unsere einhundertzehn Pferde durch den Ring — ich achtzig, mein Bruder dreißig. Insgesamt erbrachte die Versteigerung einen Erlös von knapp sechstausend Dollar. Doc Leach war mit diesem Ergebnis sehr zufrieden. Nicht nur, dass er seine Investitionen in Höhe von fünftausend Dollar wieder hereinbekommen hatte - es war sogar ein kleiner Profit dabei herausgesprungen. Da die Beschaffung der Pferde normalerweise ein klares Verlustgeschäft war, bedeutete das Ergebnis sogar ein großes Plus für ihn. Mein Bruder und ich waren, finanziell gesehen, weniger glücklich. Unser Anteil am Profit belief sich auf zweihundertfünfzig Dollar pro Kopf für zwei Monate Arbeit. Selbst damals war das kein Lohn, mit dem man sich vor seinen Kameraden brüsten konnte. Es war nicht viel mehr als ein freundliches Dankeschön. Doc Leach war sicher der Meinung, dass er jetzt zurückbekommen hatte, was ihm ohnehin zustand. Darauf würde ich ihm gerne entgegnen, dass ich aufgrund der Erkenntnisse und Erfahrungen, die ich in jenen Monaten hatte sammeln können, am Ende doch der Gewinner war. »Larry, hättest du was dagegen, in diesem Jahr nicht mitzufahren?« Ich sah, wie er darüber nachdachte. Er war mein jüngerer Bruder, und wir unternahmen viele Dinge gemeinsam. Gut möglich, dass er nicht damit einverstanden war, wenn ich mich plötzlich selbständig machte. Dafür, dass ich mit meiner Bitte, das Einfangen der Mustangs diesmal mir zu überlassen, trotzdem Erfolg hatte, gab es einen einfachen Grund, den ich schon vorher kannte: Er hatte keine Lust dazu. Er blinzelte mir zu. »Okay.« Der nächste Mensch, mit dem ich reden musste, war Doc Leach. Als Mitglied des Ausschusses, der für den Betrieb des Rodeogeländes zuständig war, tauchte er des öfteren bei uns auf. Ich musste ihn also nur abpassen. »Doc?« »Was kann ich für dich tun, mein Sohn?« 89
»Ich habe eine Idee. Ich weiß, wie wir das Wild Horse Race in diesem Jahr verbessern können.« »Na, dann raus mit der Sprache. Letztes Mal hat es ja auch ganz ordentlich geklappt.« »Wie war's, wenn wir diesmal nicht so viele Mustangs holen würden?« »Und das soll eine Verbesserung sein?« »Also folgendes«, erklärte ich. »Mir ist aufgefallen, dass Sie beim letzten Mal gar nicht alle hundertfünfzig Pferde eingesetzt haben. Sie haben nur etwa zwei Drittel von ihnen ausgesucht.« »So ist es.« »Und der Rest stand daneben und sah zu.« »Worauf willst du hinaus?« »Ich will darauf hinaus, dass wir die besten zwei Drittel eigentlich schon oben in Nevada aussuchen könnten anstatt erst hier unten in Salinas. Wenn wir statt hundertfünfzig nur hundert Pferde transportieren müssen, sinken die Kosten.« Doc Leach blickte an mir herab. »Und wer bestimmt die Auswahl der besten hundert - du?« »Jawohl, Sir. Auf die fohlenführenden Stuten und die älteren Tiere können wir gleich verzichten.« Doc Leach lächelte und sagte: »Da ist was dran, das muß ich zugeben.« Ich schlug ihm vor, fünfhundert Pferde zusammenzutreiben und die besten hundert halbwüchsigen Hengste und Stuten (sofern letztere nicht trächtig waren) auszusuchen. Unter »halbwüchsigen Mustangs« sind Tiere im Alter von drei bis fünf Jahren zu verstehen, da Ernährung und Milieu den Reifeprozeß verlangsamen. Die Transportkosten ließen sich auf diese Weise um gut ein Drittel senken. Und dann ging es wieder nach Nevada! Ich fuhr dieses Mal ohne Larry und drei Wochen vor meinen Helfern und den Lastwagen los. Ich war vierzehn Jahre alt und hatte den Führerschein, war aber noch nicht berechtigt, einen beladenen Pferdetransporter zu fahren. Brownie, Sergeant, Oriel und ich ließen uns daher von der Transportfirma zur Campbell Ranch bringen. Drei Wochen lang würde ich dort oben bleiben — ganz allein mit meinen Pferden. Das gab mir die Zeit, langsam vorzugehen und die 90
Mustangs zu beobachten, ohne ihnen in irgendeiner Weise in die Quere zu kommen. Auf der Campbell Ranch wusste man ungefähr, in welchem Gebiet sich die Familienverbände aufhielten. Die Gruppen waren zum Teil weit verstreut, manchmal lagen fünfzehn oder mehr Kilometer zwischen ihnen. Ich beabsichtigte, jede Gruppe einzeln und sehr langsam zur Falle in der Barranca zu bringen. Unterwegs wollte ich sie beobachten. Einmal mehr war ich froh darüber, auch bei diesem einmaligen Erlebnis Brownie als Reitpferd dabei zu haben. Wir ritten über das hochgelegene Wüstengelände, und ich tätschelte seinen Hals. Oriel und Sergeant gingen hinter uns. Außerdem hatte ich einen Hund, drei Feldstecher, eine Pistole und ein Gewehr dabei. »Diesmal, Brownie, wollen wir uns ganz genau ansehen, wie es läuft, nicht wahr?« Als wir den ersten Horizont erreicht hatten, drehte ich mich im Sattel um. Dann ritten wir den jenseitigen Hang der Anhöhe hinunter, und hinter uns verschwanden die letzten Gebäude der Campbell Ranch aus der Sicht. Wir waren allein. Es war herrlich, wieder über dieses weite, offene Land mit seinen felsigen Barrancas, in denen Baumwoll- und Zitterpappeln wuchsen, reiten zu können. Ich wusste, dass ich vor allem auf Klapperschlangen achten musste. Außerdem gab es bis fast zwei Meter breite Bodenspalten im Gelände, die kaum zu erkennen und für Pferde besonders tükkisch waren. Wie im Jahr zuvor war es tagsüber heiß und nachts sehr kalt. Manchmal goß es auch eine Stunde lang in Strömen. Riesige Kumuluswolken kündigten Gewitter an. Um den ersten Familienverband der Mustangs zu finden, musste ich wissen, wo sie sich am besten ernähren konnten. Sie bevorzugten Grammagras, Trespe und Raigräser, nahmen in der Not aber auch mit Wüstensträuchern vorlieb. Als ich meine erste Gruppe entdeckte, beschloß ich, mich so eng wie möglich an die Tiere anzuschließen. Entweder musste ich es so einrichten, dass sie in mir keine Bedrohung sahen - was bedeutete, dass ich über anderthalb Kilometer Distanz halten musste -, oder ich musste ohne ihr Wissen näher an sie herankommen. Als ich mich bis auf anderthalb Kilometer genähert hatte, nahmen 91
sie bereits meine Witterung auf und begannen sofort, sich abzusetzen. Für mich waren sie nicht viel mehr als kleine Punkte auf der Hochebene - und doch entfernten sie sich schon. Ich ließ Oriel, mein braunes Packpferd, zurück. Es hatte sich gezeigt, dass es ziemlich ungeschickt war und oft über Steine stolperte; es hallte dann immer über weite Strecken, was ihm ziemlich gleichgültig zu sein schien. Seine Ohren waren stets auf Halbmast, also weder nach vorne noch nach hinten gerichtet. Entweder war Oriel ein tiefschürfender Denker oder ein bißchen dumm - vielleicht auch beides. Ich fesselte ihm locker die Vorderbeine und ließ, damit er Gesellschaft hatte, auch Sergeant zurück. Dann setzte ich meinen Weg zu Fuß fort. Brownie führte ich am Zügel mit. Die Wildpferde sahen uns näher kommen. Dass wir uns bis auf vierhundert Meter nähern konnten, war schon eine Leistung. Wir nutzten die Barrancas als Deckung, blieben im Windschatten und versuchten, keinen unnötigen Lärm zu machen. Da ich die Zeit hatte, langsam vorzugehen und über das, was wir erlebten, nachzudenken, fiel mir auf, wie übersensibel die Herde auf unsere Gegenwart reagierte. Brownie brauchte bloß an einen Stein zu stoßen - schon zuckten die Ohren der Mustangs in unsere Richtung. Näher als vierhundert Meter an die Herde heranzukommen war unmöglich. Es gab keine Deckung mehr, und obwohl der Wind aus ihrer Richtung kam, gestatteten uns die Pferde keine weitere Annäherung. Eine Zeitlang war das ganz in Ordnung. Brownie und ich hielten neben einer Baumwollpappel. Ich zählte die Mustangs und versuchte, mir individuelle Merkmale einzuprägen, um die einzelnen Tiere unterscheiden zu können. Meine Ferngläser waren in dieser Situation unglaublich wichtig. Wenn ich heute sehe, wie junge Leute sich ihre Virtual-Reality-Helme aufsetzen und sich von der anderen Welt, die sie betreten, verzaubern lassen, erinnert mich das an jenes Gefühl, das sich meiner bemächtigte, als ich die Mustangherde mit dem Fernglas beobachtete. Auf einmal waren sie fast in Reichweite. Ich konnte jede Bewegung bis in die Einzelheiten verfolgen. Ich war mitten unter ihnen. Besonders eine graubraune Stute, die einen dunklen Streifen auf dem Rücken und Zebrastreifen über den Knien hatte, fiel mir auf. Sie 92
war älter als die meisten anderen und hatte einen schwereren Bauch, der auf zahlreiche Schwangerschaften hindeutete. Offensichtlich gab sie in der Herde den Ton an. Sie war es, die den Befehl zum Weiterzug gab. Sie ging voran, die anderen folgten; sie blieb stehen, die anderen taten es ihr nach. Sie war, wie es schien, die klügste, und die anderen wussten es. Es handelte sich um die Leitstute. Niemand hatte mir bis dahin gesagt, dass Wildpferdherden von einer Leitstute angeführt werden, und ich vermute, dass auch heute noch viele Leute glauben, der Hengst gebe den Ton an. Doch das stimmt nicht ganz. Der Deck- oder Leithengst - manchmal auch Alpha-Hengst genannt - umkreist zwar die Herde und verteidigt sie gegen Angreifer. Seine Motivation besteht darin, alles und jeden daran zu hindern, ihm seinen Harem zu stehlen. Die täglichen Führungsaufgaben innerhalb der Gruppe lagen jedoch bei der graubraunen Stute; dies war völlig unverkennbar. Als nächstes beobachtete ich eine außergewöhnliche Folge von Ereignissen. Ein kleiner brauner Jährlingshengst - ich schätzte sein Alter auf etwa zwanzig Monate - benahm sich schlecht. Er hatte einen auffallend starken Kötenbehang um seine Fesseln und auf der Rückseite seiner Beine, und seine Mähne hing deutlich über die Halslinie herunter. Mitten in der Gruppe rempelte er ein Stutfohlen an und trat es. Das Stutfohlen wieherte auf und humpelte davon, während der Halbwüchsige den Eindruck erweckte, dass er mit sich selbst sehr zufrieden war. Er wog nur ungefähr fünf Zentner, war sich aber der Tatsache sehr bewußt, dass er ein Paar Hoden besaß. Und schon beging er die nächste Untat. Ein kleines Fohlen kam zu ihm und gab ihm mit einem schnalzenden, saugenden Laut zu verstehen, dass es ihn nicht bedrohen wolle, sondern eben nur ein junges Füllen sei, das sich bereitwillig unterordne. Doch damit hatte es sich bei dem Halbwüchsigen verrechnet; der stürzte sich regelrecht auf den jüngeren Vetter und biß ihm ein Stück Fleisch aus dem Hintern. Er war ein echter Terrorist; wenn er nicht ausschlug, biß er zu. Und unmittelbar nach der Attacke spielte er den Unschuldigen und tat so, als sei nichts geschehen. Es sah ganz so aus, als lege er es darauf an, nicht entlarvt zu werden. Bei jeder seiner Übeltaten kam ihm die graubraune Stute - die Matriarchin — ein Stückchen näher. Allmählich wurde mir klar, dass 93
sie wissen wollte, ob er so weitermachte. Obwohl sie sich nichts anmerken ließ, hatte sie ihren ursprünglichen Platz verlassen und rückte immer näher an ihn heran. Nachdem sie etwa vier solche Vorfälle beobachtet hatte, entschloß sie sich zum Handeln. Sie war inzwischen keine zwanzig Meter entfernt, doch der kleine Braune konnte es einfach nicht lassen. Er stürzte sich auf eine ausgewachsene Stute und biß sie kräftig in den Nacken. Jetzt zögerte die graubraune Stute nicht mehr. Von einer Sekunde zur anderen verwandelte sie sich in eine Furie. Sie legte die Ohren zurück, rannte auf den Halbwüchsigen zu und warf ihn um, und als der versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, stieß sie ihn gleich noch einmal zu Boden. Die anderen Tiere der Herde zeigten nicht das geringste Interesse an dieser Züchtigung. Es war, als bekämen sie nichts davon mit. Am Ende der Strafaktion vertrieb die graubraune Stute den jungen Hengst aus der Herde. Sie jagte ihn knapp dreihundert Meter weit fort und ließ ihn dort allein zurück. Was, zum Teufel, soll denn das bedeuten? fragte ich mich verblüfft. Die graubraune Stute bezog am Rand der Herde Stellung, um dafür zu sorgen, dass er der Herde tatsächlich auch fernblieb. Immer wieder sah sie ihn an, Auge in Auge, so dass der Ausgestoßene nicht wagte zurückzukehren. Der Halbwüchsige hatte furchtbare Angst davor, allein gelassen zu werden. Für ein Fluchttier bedeutet das die Todesstrafe. Wer von der Herde getrennt ist, fällt über kurz oder lang Raubtieren zum Opfer. Den Kopf dicht über dem Boden, stakste der junge Braune vor und zurück - eine unbequeme Fortbewegungsart, deren er sich gleich mehrmals befleißigte. Es wirkte auf mich wie eine Geste des Gehorsams, vergleichbar mit einer Verneigung beim Menschen. Der kleine Braune versuchte schließlich, die Herde zu umrunden, um sich ihr von der anderen Seite zu nähern. Doch die graubraune Stute hatte seinen Kreis mit vollzogen, rannte drohend auf ihn zu und vertrieb ihn erneut. Als der alte Abstand von nicht ganz dreihundert Metern wieder hergestellt war, drehte sie ab und kehrte auf ihren Wachposten am Rand der Herde zurück. Dort stellte sie sich dem jungen Braunen gegenüber und ließ ihn nicht eine Sekunde lang aus den Augen. 94
Da stand er nun. Mir fiel auf, dass Maul und Zunge, obwohl er nichts gefressen hatte, ständig kauende oder leckende Bewegungen vollführten. Ich musste daran denken, wie das Fohlen zuvor geschnappt und geschnalzt hatte. Es war eine unverkennbare Demutsgeste gewesen, als wolle es sagen: »Von mir droht dir keine Gefahr.« War das, was ich jetzt sah, die entsprechende Reaktion eines halbwüchsigen Pferdes? Sagte dieser kleine Braune seiner Matriarchin das gleiche? Inzwischen waren einige Stunden vergangen, und es wurde rasch dunkel. Wo ist der Mond? dachte ich. Ob ich noch mitbekommen werde, wie die Sache ausgeht? Ich ergriff Brownies Zügel und ritt zurück zu der Stelle, wo Sergeant und Oriel warteten. Ich hatte vor, mir einen Beobachtungsposten für die Nacht zu suchen, um zu sehen, wie der Streit zwischen der graubraunen Stute und dem halbwüchsigen Braunen endete. Als ich zurückkam, hatte Oriel gerade die Nüstern in einen Busch gesteckt. Plötzlich hob er ruckartig den Kopf. Sein ganzer Körper war angespannt vor Überraschung. Eine Wolke aus Bienen umschwärmte seinen Kopf. Oriel steckte in der Klemme. Er trat ein paar Schritte zurück, dann einige Schritte zur Seite. Er hielt seinen Kopf gesenkt und riß ihn dann jäh wieder hoch. Es half nicht. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund, nur um danach verblüfft feststellen zu müssen, dass die Bienen noch immer da waren. Das war nun wirklich unerklärlich — und Oriel wurde allmählich ratlos. Das einzige, was ihm noch einfiel, war, den Kopf immer wieder heftig zu heben und zu senken - wie ein texanischer »nickender Esel«. Dahinter stand offensichtlich die Überlegung: Wenn ich das lange genug mache, wird es den Bienen langweilig, und sie fliegen davon. Brownie, Sergeant und ich blieben auf Distanz, bis die Bienen tatsächlich fort waren. Oriel schien das Erlebnis nicht über Gebühr durcheinandergebracht zu haben. Das Leben steckte eben voller Rätsel. Überraschend schnell, als begehre sie Rast nach einem harten Arbeitstag, sank die Sonne am westlichen Himmelsbogen. Ich suchte mir einen Lagerplatz und versorgte Brownie, Sergeant und Oriel eilends mit Futter. Beim Anblick der Silhouetten von Brownie und Oriel, die dicht 95
hintereinander standen und zweifellos über die Ereignisse des vergangenen Tages konferierten, geriet ich wieder ins Grübeln: Wo Brownie wohl herkam? Wer war seine Leitstute gewesen? Wie hatte er sich innerhalb des Familienverbands verhalten? Das Mondlicht tauchte die Landschaft in andere Farben. Da es von einem immens weiten Himmel reflektiert wurde, hatte ich den Eindruck, dass noch viel Licht vorhanden war. Ich nahm meinen Feldstecher zur Hand und fand schnell heraus, dass ich noch immer ziemlich weit sehen konnte. Was ich damals nicht wusste, war, dass meine Fähigkeit, unter nächtlichen Bedingungen recht gut sehen zu können, durch eine fast totale Farbenblindheit begünstigt wurde. Diese Sehstörung ist ziemlich selten und hat nicht viel zu tun mit dem häufigeren Verwechseln von Farben beziehungsweise dem Unvermögen, sie deutlich voneinander zu unterscheiden. Als Kind hat mir nie jemand geglaubt, dass ich alles nur in Schwarz und Weiß sah. Dass sich mein Sehvermögen stark von dem normalsichtiger Menschen unterscheidet, habe ich erst später erfahren. Professor Oliver Sacks beschreibt in seinem Buch Die Insel der Farbenblinden das Schicksal eines Malers, der nach einem Autounfall plötzlich total farbenblind geworden war: »Er konnte menschliche Gestalten auf eine Entfernung von fast einem Kilometer erkennen ... Seine Sehkraft war viel starker geworden - adlergleich.« Vor allem nachts konnte der Maler offenbar viel besser sehen als normalsichtige Menschen. Er erkannte auf einmal Nummernschilder von Autos, die vier Häuserblocks entfernt waren. Im übrigen litt der Künstler derart unter dem Verlust seiner Farbwahrnehmung, dass er zum reinen Nachtmenschen wurde. Ich drehte an den beiden Okularringen meines Feldstechers, bis die Scharfeinstellung stimmte, und fand meine Herde alsbald wieder. Ich wollte unbedingt wissen, wie die Geschichte weiterging. Was ich zu sehen bekam, überraschte mich zutiefst: Die graubraune Stute putzte den kleinen Braunen. Sie schabte ihm mit den Zähnen strichweise über Hals und Hinterhand und bemutterte ihn geradezu. Sie hatte ihn wieder in die Herde aufgenommen, blieb bei ihm und widmete sich ihm mit großer Aufmerksamkeit. Sie bearbeitete seine Schweifrübe, seine Hüften und seinen Widerrist. Nach dem Fegefeuer folgte also - der Himmel. Sie umhätschelte den Braunen geradezu. 96
1 Monty auf Boots 2 Der vierjährige Monty auf Ginger, mit dem er im Juni 1939 das Salinas Junior Stockhorse Turnier in der Altersgruppe bis sechzehn gewinnt 3 Monty mit dem Wallach Brownie im Jahr 1949 - bereit für einen Einsatz mit dem Lasso
4 Montys Vater in Polizeiuniform (rechts) mit Joe Louis, Weltmeister im Schwergewicht (Mitte). 5 Monty im Dreß seiner Football-Mannschaft.
6 Der jüngere Bruder Larry (links) und Montys Vater (rechts).
7 Ray Hackworth auf Shiny Pants.
8 Bill Dorrance.
9-10 Zureiten eines Pferdes nach der AussackMethode von Montys Vater: Die Willenskraft eines Tiers wird gebrochen, indem das Pferd, mit Seilen gefesselt, zur Unterwerfung gezwungen wird. 11-13 In einem Longierring führt Monty das JOINUP mit einem jungen, untrainierten Pferd vor: Eine leichte Longe wird nach dem Tier geworfen, das daraufhin instinktiv die Flucht ergreift. Wenn
es merkt, dass keine unmittelbare Gefahr droht, legt sich die Panik wieder. Vermeiden Sie direkten Blickkontakt mit dem Pferd. Gehen Sie mehrmals zu ihm, beruhigen Sie es, und entfernen Sie sich wieder. Es bleibt dem Pferd überlassen, Ihnen zu folgen oder nicht. Reiben Sie dem Pferd gründlich die Stirn zwischen den Augen. Hat das Pferd Vertrauen zu Ihnen gefaßt, läßt es sich satteln, . Zaumzeug anlegen und reiten.
14 Mit sechzehn gewinnt Monty den Stockhorse-Meisterschaftswettbewerb im Cow Palace von San Francisco. 15 Im Jahr 1955 erringt Monty die Hackamore Championship Trophy, die ihm von seiner späteren Frau Pat überreicht wird.
16 Der erfolgreiche Monty auf My Blue Heaven. 17 Mit Fiddle D'Or gelangt Monty an die Spitze des HackamoreMeisterschaftswettbewerbs von Sacramento.
18 Am 16 Juni 1956 heiraten Monty und Pat
Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass sich die Beobachtung der Pferde vor allem nachts lohnte. Mustangs furchten Raubtierattacken hauptsachlich in der Morgen- und Abenddämmerung. Nachts sind sie eher in der Lage, ein wenig zu entspannen, und die Kommunikation untereinander ist intensiver. Sie im Mondschein zu beobachten, wurde mir bald zur Gewohnheit; zum Schlafen kam ich dann meistens zwischen 1.30 Uhr und 5.30 Uhr morgens. Ich machte mir viele Gedanken über das, was ich an diesem Tag gesehen hatte, und begann, eine neue Sprache zu lernen — »Equus«, wie ich sie inzwischen nenne. Jene ersten Wochen allein in der Bergwüste von Nevada reichten natürlich noch nicht aus, um diese stille Sprache in ihrem gesamten Umfang zu begreifen. Doch ich sollte auch in den nächsten beiden Jahren hier für das Rodeo in Salinas Mustangs zusammentreiben. Wie die Leitstute junge, halbstarke Pferde disziplinierte, war sicher die wichtigste Einzelbeobachtung, die mir damals gelang. Sie hatte es mit einer regelrechten Jugendbande zu tun, und wie sie sich dieser Aufgabe entledigte, war äußerst lehrreich zu beobachten. Dauernd war etwas anderes los. In ihrer jugendlichen Energie ließen sich die jungen Pferde zu immer neuen Streichen hinreißen und machten aufgrund ihrer Unerfahrenheit immer wieder Fehler, genauso wie der Nachwuchs anderer Lebewesen. Die Aufgabe der graubraunen Stute bestand darin, sie unter Kontrolle zu halten. Ich ließ mir in den folgenden drei Wochen keine ihrer Bewegungen entgehen. Den hellbraunen Halbstarken wusste sie zu bekehren, das stand außer Zweifel. Dennoch nahm er sich - wie ein trotziges Kind - gleich nach seiner Wiederaufnahme in die Herde die nächsten Frechheiten heraus. Er wollte die herrschende Disziplin auf die Probe stellen und verlorenen Boden gutmachen. Also fing er einen Streit mit einem Altersgenossen an oder belästigte die Stutfohlen. In allen Fallen war die graubraune Stute sofort zur Stelle und bestrafte ihn erneut. »Dein Benehmen mißfällt mir«, gab sie ihm zu verstehen. »Mach, dass du fortkommst!« Er sündigte noch einige Male, und jedesmal vertrieb sie ihn und ließ ihn erst nach längerer Zeit zurückkehren. War es dann aber soweit, so begrüßte sie ihn mit großer Zuwendung. Beim dritten Rauswurf nahm er die Verbannung praktisch als gegeben hm und entfernte sich mürrisch, aber schicksalsergeben freiwillig von der Herde. 105
Als der kleine Trotzkopf dann zurückkehrte, klebte er wie Leim an der Herde und erwies sich fortan als positive Nervensäge: Er war auf einmal über alle Maßen nett und kooperativ, lief von einem zum anderen und fragte jeden: »Soll ich dein Fell pflegen?« Wobei die Betreffenden nichts anderes im Sinn hatten, als ungestört fressen zu können. Vier Tage hatte sich die graubraune Stute primär der Erziehung des kleinen Bösewichts gewidmet - und es hatte sich ausgezahlt. Ich verfolgte aufmerksam, wie die Stute mit diesem und anderen halbwüchsigen Pferden umging, und entwickelte dadurch mit der Zeit ein Gefühl für ihre Sprache. Die sich allmählich herausschälende Erkenntnis, dass die Signale, die zwischen ihr und den jungen Pferden hin und her gingen, einer genauen Abfolge entsprachen, war sehr aufregend. Es war tatsächlich eine Sprache - vorhersagbar, erkennbar und wirkungsvoll. Die wichtigste Eigenschaft war jedoch, dass es eine stumme Sprache war. Es lohnt sich, diesen Aspekt etwas genauer zu betrachten, weil man eine Sprache, die sich anderer Medien bedient als die unsere, nur allzuleicht unterschätzt. Erst viel später sollte ich erfahren, dass die häufigste Kommunikationsform auf diesem Planeten stumm ist: Im ewigen Dunkel der Tiefsee verständigen sich die Tiere mit Hilfe der Bioluminiszenz, eines komplizierten Systems aus Lichtsignalen, mit denen sie Geschlechtspartner anziehen, Räuber abwehren, Beute anlocken und alle anderen überlebenswichtigen Botschaften übermitteln. Körpersprache ist keineswegs auf Menschen und Pferde beschränkt; sie ist vielmehr die meistbenutzte Form der Kommunikation zwischen Landlebewesen. Von meinem etwa vierhundert Meter von der Herde entfernten Beobachtungsposten aus konnte ich feststellen, dass die graubraune Stute den Fohlen und Jährlingen ständig etwas beibrachte, ohne dass es dazu eines einzigen Lauts bedurft hätte. Das Sicherungssystem des Leithengstes, der gleichzeitig potentielle Geschlechtspartnerinnen suchte, setzte eindeutig Ruhe voraus. Die Mustangs durchlebten Phasen des Glücks und des Streits, führten und berieten einander - und all dies geschah lautlos. Ich sollte bald herausfinden, dass dabei nichts dem Zufall überlassen blieb. Jede noch so geringfügige Bewegung eines Pferdes hatte ihren Grund. Nichts war belanglos, nichts blieb unbeachtet. Auf dem Bauch liegend, ständig einen meiner drei Feldstecher vor 106
die Augen gepreßt, beobachtete ich die Pferde stundenlang und bemühte mich nach Kräften, alles zu erkennen, was das Mondlicht hergab. Und so entschlüsselte sich mir mit der Zeit das Vokabular der Tiere. Zuerst entdeckte ich zwei Schlüsselmerkmale der Sprache »Equus«: die Stellung des Körpers und die Richtung, in die er sich fortbewegt. Die Körperhaltung im Verhältnis zur Längs- und Querachse der Wirbelsäule ist die Quintessenz des Vokabulars. Sie ist das Vokabular. Die graubraune Stute nahm eine Art Kampfstellung ein, indem sie die Wirbelsäule streckte und den Kopf direkt auf den widerborstigen Braunen hin richtete, der sich in zwei- bis dreihundert Metern Entfernung herumdrückte und an der Haltung der Stute genau erkennen konnte, wann er sich wieder der Herde anschließen durfte. Sah die Stute den jungen Braunen frontal an, so war dies nicht der Fall. Wandte sie ihm dagegen einen Teil ihrer Längsachse zu, konnte er auf eine baldige Wiederaufnahme in die Herde hoffen. Vor diesem Akt der Vergebung wollte die Stute allerdings Zeichen der Reue sehen. Die entsprechenden Signale des Braunen - sein Bitten um Entschuldigung — dienten mir bei der Entwicklung meiner Dressurmethode später als Grundlage. Wenn der kleine Braune in seiner isolierten Position mit dem Maul dicht über dem Boden hin und her strich, so bedeutete dies, dass er um eine Neuverhandlung seines Falles nachsuchte. Er sagte: »Ich will jetzt gehorchen und bin bereit zuzuhören.« Wenn er ihr die Längsachse seines Körpers zeigte, so bedeutete diese Preisgabe seiner verwundbaren Flanke eine Bitte um Vergebung. Auch der Blickkontakt zwischen den beiden sprach Bände. Wenn die Stute den jungen Braunen verbannt hatte, sah sie ihm stets in die Augen, und dies manchmal unangenehm lange. Wich ihr Blick ein wenig ab, so konnte er damit rechnen, wieder in die Herde aufgenommen zu werden. Im Laufe der Zeit erkannte ich, dass die Pferde Blicke äußerst feinfühlig interpretierten. Selbst als ich jener Mustangherde längst vertraut war, konnte ich ein Pferd zur Änderung seiner Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit veranlassen, indem ich den Blick von einem Körperteil auf einen anderen richtete. Dies funktionierte sogar aus recht großer Entfernung. 107
Wenn der junge Braune in seine Verbannung trottete, blähte er die Nüstern auf und vollführte mit ihnen eine kreiselnde Bewegung, die soviel besagte wie: »Ich habe das nicht mit Absicht getan. Tut mir leid. Ich wollte das nicht, es ist einfach passiert, und außerdem war der andere schuld.« Die graubraune Stute entschied dann, ob sie ihm Glauben schenken wollte oder nicht. Ich sah, wie sie überlegte. Manchmal glaubte sie ihm, manchmal nicht. Die Leck- und Kaubewegungen des Mauls, die ich beobachtet hatte, waren ein Ausdruck der Reue. Er sagte zu der Stute: »Schau her, ich bin Pflanzenfresser. Ich bedrohe dich nicht. Ich fresse hier drüben.« Aus der Beobachtung dieser absolut regelmäßigen und vorhersehbaren Signale zwischen dem Halbwüchsigen und der Leitstute wurde mir klar, dass das Verhaltensschema innerhalb der Gruppe für den JoJo-Effekt verantwortlich war, den mir mein Onkel Ray beschrieben hatte. Wenn du das junge Pferd von dir wegdrängst, wird es instinktiv zu dir zurückkehren wollen. - Die graubraune Stute ging auf das junge Pferd zu, dann zog sie sich zurück. Ich weiß noch genau, wie es war, als ich auf diese Querverbindung zwischen der Art und Weise, wie die Stute ungebärdige Pferde disziplinierte, und der Geschichte von Onkel Ray stieß: Alle Synapsen in meinem Gehirn schienen gleichzeitig in Aktion zu treten, um mir zu sagen, dass ich gefunden hatte, was ich suchte. Und plötzlich stand der Begriff in meinem Kopf: advance and retreat — »Vorstoß und Rückzug«. Mit der Dauer der Beobachtung wuchs meine Einsicht in die Präzision dieser Sprache. Nichts geschah zufällig. Es handelte sich um exakte Botschaften, um vollständige Begriffe und Sätze, die stets das gleiche bedeuteten und immer die gleiche Wirkung zeitigten. Sie wiederholten sich immer wieder. Vielleicht, dachte ich, konnte ich dieses lautlose Kommunikationssystem, so wie ich es bei der Leitstute gesehen hatte, selbst übernehmen. Und wenn dies gelang, dann ließ sich damit vielleicht die Kluft zwischen dem »Kampftier« Mensch und dem »Fluchttier« Pferd überbrücken. Mit dem Erlernen ihrer Sprache, ihres Kommunikationssystems ließ sich auch eine starke Vertrauensbindung schaffen. 108
Es war der Schlüssel zu einer die Artgrenzen überschreitenden Kommunikation. Das Prinzip »Vorstoß und Rückzug« bot offenbar auch eine psychologische Erklärung auf die Frage, warum Pferde »Gegendruck«Tiere sind. Legt man einem Pferd einen Finger auf die Schulter oder an die Flanke und übt auf die betreffende Stelle Druck aus, so reagiert das Tier nicht nachgiebig, sondern indem es sein Gewicht dagegenstemmt. Wer dieses Phänomen versteht, hat schon die Hälfte der Strecke auf dem Weg zum erfolgreichen Pferdetrainer hinter sich. Mein »Equus«-Wortschatz sollte sich im Laufe der Jahre noch erheblich erweitern. Doch auch die ausgefeilteren Definitionen, die später bei der Entwicklung meiner Methodik eine große Rolle spielten, waren in ihren Grundzügen bereits in dem übergeordneten Prinzip »Vorstoß und Rückzug« enthalten. Tagelang zogen Brownie und ich durch die Bergwüste, und ich nahm all diese Neuigkeiten in mich auf. Gleichzeitig wuchs meine Überzeugung, dass ich meinem Pferd Abbitte leisten musste für ein schweres Leid, das wir ihm angetan hatten. Jenes widerwärtige Aussacken, welches dazu geführt hatte, dass Brownie beim Knistern von Papier jedesmal in Panik geriet, war ein schuldhaftes Versagen des Menschen - unser Versagen. Irgend jemand musste sich bei ihm entschuldigen und die Sache wieder in Ordnung bringen. Wir hatten seine Eigenschaft als Fluchttier mißbraucht, und dies, was noch schlimmer war, ohne dass die Notwendigkeit dazu bestand. Oriel und Sergeant trotteten brav hinter uns her und erfüllten ihre Pflichten als Pack- und Sattelpferde recht ordentlich. Oriel jedoch sorgte unbeabsichtigt immer wieder für Abwechslung. Er war ein gutmütiges Pferd, das allerdings sehr anfällig für kleine Unfälle war. Er geriet immer wieder in Schwierigkeiten, doch jedesmal wirkte es irgendwie komisch. Einmal - ich weiß nicht genau, wie es geschehen war, aber es konnte nur ihm passieren — rammte er sich einen sechzig Zentimeter langen Holzsplitter durch Nüstern und Gaumendach. Es sah sehr schmerzhaft aus - alles andere als komisch, wie ich zugeben muß. Aber wir hatten es hier eben mit Oriel zu tun. Er war sehr reumütig, tat sich furchtbar leid und ließ mich den großen Splitter herausziehen - ein grausiges Geschäft. Am Ende hatte er ein daumengroßes, stark blutendes Loch in der Nase. 109
Ich nahm mein rotes Halstuch ab und stopfte es in die Wunde, um die Blutung zum Stillstand zu bringen - und da stand Oriel nun mit dem Zipfel eines roten Halstuchs, der ihm aus der Nase hing, und jedesmal, wenn er Wasser trank, saugte sich das Tuch voll und tropfte an der Spitze der mitten in seinem Gesicht flatternden Fahne ab. Er bot einen kläglichen Anblick, und doch mussten wir über ihn lachen. Dann erlebte ich einen Kampf zwischen zwei rivalisierenden Hengsten mit. In jenem Jahr gab es nur wenig Wasser. Fasziniert beobachtete ich die eifrigen Bemühungen der Leitstuten, ihren Familien genügend Wasser und Nahrung zu verschaffen. An einem bestimmten Wasserloch standen die diversen Familienverbände Schlange wie Flugzeuge in der Warteschleife. Sie waren zum Abstandhalten gezwungen, weil die Hengste ein zu enges Beieinandersein nicht duldeten. Ihre Revierinstinkte gerieten in Konflikt mit dem Willen der Leitstuten, denen daran gelegen war, näher an das Wasserloch heranzukommen. Dies führte zu einer spannungsgeladenen Atmosphäre. Unter den Wartenden befand sich auch eine Gruppe von Junggesellen — junge Hengste, die ihre Familienverbände bereits verlassen hatten und nun gemeinsam herumvagabundierten. Sie rauften miteinander und übten für den Tag, an dem sie versuchen würden, sich das Anrecht auf eine eigene Herde zu erkämpfen. Und dann geschah das Unvermeidliche: Einer der Junggesellen geriet mit dem Leithengst eines anderen an der Tränke wartenden Familienverbands in Streit. Obwohl die beiden furchtbar »kreischten« und »schrien«, nahmen die Stuten keine Notiz von den Vorgängen im Umfeld ihrer Herden. Dabei ging es in diesem Kampf um alles - es würde kein Patt geben, sondern einen Sieger und einen Verlierer. Die beiden Hengste stiegen hoch, traten und bissen. Der Kampf dauerte fünf, sechs Stunden, bis tief in die Nacht hinein, und ich ließ mir nichts entgehen, obwohl mir fast die Augen zufielen. Mehrmals humpelte der Junggeselle vom Kampfplatz, so dass man den Eindruck hatte, der Leithengst habe die Auseinandersetzung gewonnen. Doch so leicht gab der Herausforderer nicht auf. Obwohl er wegen einer blutenden Bißwunde lahmte und das betroffene Bein praktisch nur noch mitschleppte, riskierte er eine neue Attacke. Nach der letzten Konfrontation stand fest, dass er den Kampf nicht 110
überleben würde. Ich wusste, dass es mit ihm zu Ende ging und sich in Kürze die Raubtiere über ihn hermachen und ein, zwei Tage von ihm ernähren würden. Überdies war unverkennbar, dass der Junggeselle genau wusste, wie es um ihn stand. Der besiegte Hengst flüchtet sich am Ende oft in eine Art Selbstmord, indem er bewußt Gebiete aufsucht, in denen sich die Raubkatzen aufhalten, und sich ihnen praktisch selbst ausliefert. In dem hier geschilderten Fall bot auch der Sieger einen traurigen Anblick. Auch er wirkte zerschlagen und lahmte ebenfalls. In den folgenden Tagen bewegte er sich wie ein Hundertjähriger. Wäre er in dieser Verfassung auf einen weiteren Herausforderer gestoßen, so hätte dieser ihm zweifellos den Rest gegeben. Aber er erholte sich und kam bald wieder zu Kräften. Brownie und ich brauchten etwa drei Wochen, um die verschiedenen Familienverbände zusammenzutreiben. Hatten wir eine Familie bis auf etwa acht Kilometer an die Falle in der Barranca herangeführt, kamen uns die Farmarbeiter zu Hilfe. Ein halbes Dutzend von ihnen schwärmte aus, umkreiste die Mustangs und trieb sie in das Gehege. Sie berichteten mir dann auch, wo die zweite Gruppe zuletzt gesichtet worden war, und fuhren Brownie, Oriel, Sergeant und mich so nah, wie es die Feld- und Buschpfade erlaubten, an die Stelle heran. Es konnte sich um Entfernungen von fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer handeln, mitunter auch mehr. Dort ließen sie uns dann allein. Auf der Rückfahrt markierten sie die Strecke zum Gehege alle ein, zwei Kilometer mit Luzerne, was mir die Richtungsvorgabe für den nächsten Familienverband erleichterte. Auch die Pferde, die sich bereits im Korral befanden, wurden mit Luzerne gefüttert. Trotz meines jugendlichen Alters war ich mir der Bedeutung meiner Erkenntnisse durchaus bewußt. Ich freute mich schon darauf, meiner Mutter und meinem Bruder von meinen neuen Entdeckungen erzählen zu können, und war ganz außer mir vor Begeisterung. Ich spürte, dass ich eine besondere Affinität zu Pferden besaß, und wusste, dass ich, wenn es mir gelang, ihre stille Sprache zu erlernen, mit großen Fortschritten rechnen konnte. Schon nach wenigen Wochen sollte ich die Gelegenheit bekommen, meine Theorien in die Praxis umzusetzen - schließlich kam auf 111
mich die Aufgabe zu, ungefähr hundert junge Pferde, auf deren Spuren ich mich gegenwärtig noch befand, einzureiten. Ungeduldig wartete ich auf die Stunde der Wahrheit. Ich war überzeugt, dass es mir gelingen würde, mit diesen wilden Tieren zu einem gegenseitigen Einvernehmen zu kommen und damit die Beziehung zwischen Mensch und Pferd zu verändern. Ich sah eine Chance zur Verwirklichung meiner ehrgeizigen Pläne. Bei alldem konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Brownie das magische Moment war. Seinetwegen hatte ich all diese Dinge erforschen wollen. Er hatte mich in dieses Bergland gebracht, das seine Heimat war. Er trug mich auf seinem Rücken, und ich hatte das Glück, dass ich die Botschaft verstanden hatte. Am Ende der dritten Woche hatten wir an die fünfhundert Mustangs eingefangen. Wir verzichteten auf die säugenden Stuten, die Deckhengste und die älteren Tiere und suchten uns die zwei- und dreijährigen Hengste sowie die jungen Stuten aus, die nicht trächtig waren, bis wir annähernd hundert Pferde beisammen hatten. Diese verluden wir auf die Lastwagen und transportierten sie wie im Vorjahr nach Salinas. Das Wildpferdrennen beim Rodeo nahm in diesem Jahr einen wesentlich günstigeren Verlauf. Die Pferde waren ihrer Aufgabe gewachsen, und es gab daher erheblich weniger Verletzungen bei den Tieren. Ich sah mir das Spektakel wieder von der Tribüne aus an, hatte jedoch keinerlei Spaß mehr daran. Statt dessen schwor ich mir, so schnell wie irgend möglich nach Mitteln und Wegen zu suchen, um mit den Tieren zu kommunizieren. Wie es aussah, hatten wir an ihnen eine ganze Menge wiedergutzumachen. Nach dem Rennen wurden die Mustangs auf dem Rodeogelände wie im Jahr zuvor meiner Obhut unterstellt. Mein Job war es nun, innerhalb der nächsten zwei Monate so viele Mustangs wie möglich einzureiten und auf die Auktion im September vorzubereiten. Das war nur wenig mehr Zeit, als mein Vater mit seinen konventionellen Methoden für gerade mal ein halbes Dutzend Pferde benötigt hätte. Man kann sich also vorstellen, dass ich gezwungen war, schnell zu lernen. Es war der ideale Test für meine neuen Erkenntnisse über die Möglichkeiten, eine natürliche Verbindung mit einem Wildpferd einzugehen; über die Chance, die Barriere zu überspringen, die das Kampftier als Objekt der Angst vom Fluchttier trennt, und mich auf 112
die andere Seite zu stellen; über das Verfahren, mich in die Rolle der Leitstute zu versetzen und die Sprache der wilden Pferde zu sprechen. All dies musste ich versuchen, während ich gleichzeitig gezwungen war, mit einem Auge immer auf der Hut vor meinem Vater zu sein. Ich wollte nicht, dass er sich einmischte. Dennoch sehnte ich mich insgeheim immer noch danach, von ihm akzeptiert und anerkannt zu werden. Indessen war meine Entdeckung so aufregend, dass in mir allmählich der Glaube wuchs, ich könne meinen Vater vielleicht doch noch von meiner Sicht der Dinge überzeugen. Ich hatte ein Phänomen entdeckt, das ich als JOIN-UP (»Sich anschließen«) bezeichnete. Nachts lag ich in meinem Bett und konnte kaum schlafen, so felsenfest war ich davon überzeugt, auf etwas gestoßen zu sein, das unseren gesamten Umgang mit den Pferden von Grund auf verändern würde. Ich spürte, dass ich auf dem richtigen Weg war und dass all meine Anstrengungen der Mühe wert waren. Als ich es trotz des enormen Drucks geschafft hatte, so viele Pferde in so kurzer Zeit einzureiten, war ich dermaßen begeistert und meiner Sache so sicher, dass ich fest davon überzeugt war, dass sich Vater von meinem Erfolg mitreißen lassen würde. Er war ein zu erfahrener Pferdekenner, um die Wahrheit zu verkennen. Doch nach dem, was ich bisher mit ihm erlebt hatte, wollte ich ihn nicht persönlich einweihen. Ich entschied mich statt dessen für Ray Hackworth, im festen Glauben, dass es ihm gelingen würde, meinen Vater zu überzeugen, denn dieser hielt große Stücke auf Ray. Ray Hackworth, der Pächter verschiedener Einrichtungen auf dem Rodeogelände, war ein bekannter Trainer und Gentleman; ein Mann mit leiser Stimme, dabei aber streng auf Disziplin bedacht. Ich bat ihn mitzukommen und sich einmal anzusehen, was ich inzwischen konnte. Ich hätte ein neues Phänomen entdeckt, sagte ich zu ihm; es hätte - anders könnte ich es nicht erklären - mit der Sprache der Pferde zu tun. Ja, es wäre die Wahrheit; ich könnte die natürliche Barriere zwischen Pferd und Mensch, zwischen Fluchttier und Kampftier, überwinden. Ray erinnerte mich daran, dass mein Vater mich schon seit Jahren vor der potentiellen Gefährlichkeit meiner Ideen gewarnt und immer wieder von mir gefordert habe, ich solle mich an die herkömmlichen Methoden halten. Ich ließ jedoch nicht locker und wiederholte meine 113
Bitte, er, Ray, möge doch einmal mitkommen und mir bei der Arbeit zusehen. Ich war mir sicher, ihn so beeindrucken zu können, dass er ein gutes Wort für mich einlegen würde, bevor ich meinen Vater zu einer eigenen Vorführung bat. Nach einigem Hin und Her ließ Ray sich breitschlagen. Als wir am Longierring ankamen, ging Ray die Rampe zur Zuschauerplattform hinauf und lehnte sich an die Brüstung. »Okay«, sagte er und schob sich den Hut in den Nacken. »Dann zeig mal, was du kannst!« Ich stand mit einem jungen Hengst, der vor gar nicht langer Zeit das Trauma des Wildpferdrennens in Salinas durchlitten hatte, in der Ringmitte. Er trug weder Halfter noch Führstrick, noch sonst irgend etwas, das seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt hätte. Das Tor zum Longierring war geschlossen. Wir waren allein. Das, was nun folgte, hatte ich bereits hundertmal durchexerziert. Ich wusste daher, was zu tun war, und hatte Vertrauen in meine Methode entwickelt. Ich wartete ein paar Augenblicke, um dem namenlosen, absolut wilden Mustang Gelegenheit zu geben, sich an den Ring zu gewöhnen. Das Tier war zu nervös, mir auch nur einen Schritt entgegenzukommen. Dennoch galt seine Aufmerksamkeit mir: Ich war in diesem Moment die größte Bedrohung, der es sich ausgesetzt sah. »Ich werde jetzt versuchen, die gleiche Sprache zu sprechen wie die Leitstute in seinem Familienverband«, sagte ich zu Ray Hackworth auf der Zuschauerplattform. Ray schwieg, was ich dahingehend auslegte, dass es wohl am besten sei, wenn ich weitermachte; schließlich ging es mir darum, ihm meine Arbeit zu erläutern. Er hatte offenbar nicht vor, mich zu unterbrechen oder irgendwelche Fragen zu stellen. »Und diese Sprache ist eine lautlose Sprache, eine Körpersprache«, fuhr ich fort. »Zuerst werde ich ihn bitten, sich von mir zu entfernen, zu fliehen - und zwar nur deshalb, weil ich ihn danach bitten werde, zurückzukommen und sich mir anzuschließen.« Dann bewegte ich mich ziemlich unvermittelt und ging auf das Pferd zu. Ich pflanzte mich vor ihm auf und sah ihm direkt in die Augen. Der junge Hengst drehte sich sofort um und galoppierte an der Umzäunung entlang, wobei er sich so nah an der Wand hielt und so weit entfernt von mir — wie irgend möglich. 114
Ich setzte dem jungen Pferd nach - genauso wie ich es bei der Leitstute im Gelände beobachtet hatte, die den Halbwüchsigen aus der Herde verbannt hatte - und trieb es weiter zur Flucht an. Ich zeigte ihm stets meine Vorderfront und achtete darauf, den Blickkontakt nicht zu unterbrechen. Für den Betrachter musste es so aussehen, als führte ich ihn an der Longe - wenn auch ohne Leine. Um Ray Hackworth mein Anliegen verständlicher zu machen, erklärte ich jeden meiner Schritte: »Ich sage ihm in seiner eigenen Sprache: >Los, geh fort, flieh! Ich möchte, dass du dich nicht nur ein kurzes Stück entfernst. Geh weiter fort! Momentan bin ich der Herr im Haus - bis wir so weit sind, dass wir eine Partnerschaft bilden können. Du siehst, ich spreche deine Sprache.<« Ich hatte eine sehr leichte Leine dabei und richtete sie nun auf den jungen Hengst — nicht, um ihn zu schlagen, sondern um ihn dazu zu bewegen, sich weiter von mir zurückzuziehen. Er setzte tatsächlich seine Flucht fort, galoppierte weiter im Kreis herum, während ich mit Hilfe der Leine und durch meine Körperhallung diesem Verhalten Vorschub leistete. Meine Schultern bildeten eine Parallele zu seiner Längsachse. Mein Gesicht war direkt auf seinen Kopf gerichtet, und mein Körper bedeutete ihm, buchstäblich mit Nachdruck, nicht stehenzubleiben. Mein Blick war nach wie vor auf seine Augen fixiert. So ging es noch einige Minuten weiter. Ich wartete auf die Signale, die ich bei den Mustangs in freier Wildbahn beobachtet hatte, jene Signale, mit denen die Halbwüchsigen die Leitstute um die Aufhellung ihrer Zwangsverbannung baten. Nur um den jungen Hengst zu testen, erlaubte ich mir einen kleinen Blicksprung auf den Hals des Pferdes, das, wie ich feststellte, sofort etwas langsamer wurde. Mein Blick glitt noch etwas weiter zurück, auf seine Schulter - der junge Hengst wurde noch langsamer. Der Kopf löste sich ein wenig von der Ringeinfassung und blickte zu mir herüber. Als mein Blick die Hinterhand erreichte, reduzierte sich die Geschwindigkeit noch mehr, und der junge Hengst entfernte sich ein Stück weiter von der Hinfassung. Dann sah ich ihm wieder in die Augen - und sofort beschleunigte das junge Pferd wieder. Es drängte sich wieder an die Einfriedung. Es reagierte auf meine Signale. Es merkte, dass ich seine Sprache sprach. 115
Ich scheuchte es weiter. Bei jeder Runde um den Ring kam es unterhalb von Ray Hackworth vorbei. »Nur, damit Sie's wissen«, rief ich Ray zu, »ich warte jetzt darauf, dass sich mir sein Ohr öffnet und dass es anfängt, zu lecken und zu kauen. Und dann wird es mit fast auf den Boden gesenktem Kopf weiterlaufen.« Ich hoffte inständig, dass Ray mich auch hören konnte - schließlich sollte er erkennen, dass ich vorhersagen konnte, was geschehen würde. »Hier ist das erste!« rief ich. »Sehen Sie?« Das innere Ohr des Pferds hatte sich mir geöffnet und verharrte in dieser Position. Das äußere Ohr zuckte vor und zurück und war noch auf die Umgebung eingestellt. Der junge Hengst sagte mir: »Ich weiß, dass du da bist und dass du wichtig bist. Ich respektiere dich. Ich weiß zwar nicht, was das alles hier soll, aber ich achte auf das, was du tust. Wir werden ja sehen, wohin das führt.« Der junge Hengst hatte den Ring ungefähr achtmal umrundet, bevor er das mir nähere Ohr entsprechend ausrichtete. Jedesmal, wenn das Pferd unter Ray Hackworth' Beobachtungsposten vorbeikam, musste ich daran denken, dass er uns zusah. Ich wusste, dass er uns nicht unterbrechen würde. Was er von uns hielt, würde ich erst am Ende der Vorführung erfahren. Ich warf die Longe nach dem jungen Hengst und trat ihm in den Weg, den Blick wieder starr auf seine Augen gerichtet, um zu verhindern, dass es seine Position an der Einfriedung verließ und auf mich zukam. Das Tier drehte sich schnell um und setzte seine Flucht in der entgegengesetzten Richtung fort. Auch dies ist ein vertrauter Anblick für jeden, der die Arbeit an der Longe kennt - nur dass ich eben keine Longe benutzte, sondern mich auf die Ringeinfassung verließ, die dafür sorgte, dass sich das Tier meinem Einfluß und meiner Körpersprache, die seine Geschwindigkeit und seine Richtung bestimmten, nicht entziehen konnte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, und das Ohr auf meiner Seite richtete sich wieder auf mich aus. Alles lief wie erwartet - genau nach Plan. Da Ray Hackworth nicht wissen konnte, worauf er achten musste, hatte ich es für richtig gehalten, ihm jede meiner Handlungen vorab 116
zu erklären. Jetzt plötzlich spürte ich, dass dies möglicherweise ein Fehler war. Ein Vierzehnjähriger, der einem erwachsenen Mann Lektionen erteilt? Sicher, ich sagte ihm immer nur, was ich als nächstes vorhatte und welche Reaktionen des Pferdes ich erwartete. Trotzdem hätte man es als Arroganz auslegen können. Ich war allerdings davon überzeugt, dass die Qualität meiner Darbietung dem vorbeugte. Allmählich verringerte ich den Druck auf den jungen Hengst. Zuerst verringerte ich die Anzahl der Leinenschwünge. Dann rollte ich die Leine auf, hielt sie in der Hand und schlug mir damit gegen die Beine, um den jungen Hengst zum Weiterlaufen aufzufordern. Er verfiel daraufhin in einen Trab. Inzwischen hatte er die zwölfte Runde im Ring absolviert. Das nächste Signal erfolgte mit absoluter Pünktlichkeit. Der junge Hengst begann zu lecken und zu kauen. Die Zunge schlüpfte zwischen den Zähnen hervor, fuhr an der Außenseite des Mauls entlang und glitt wieder zurück. Danach begannen die Kaubewegungen des Gebisses. Über die großen Kinnbacken lief ein Zittern. »Da!« rief ich Ray Hackworth zu. »Sehen Sie, wie er kaut? Genauso reagieren die jungen Pferde in freier Wildbahn. Es bedeutet, dass er jetzt bereit ist, über die Sache zu diskutieren. Er ist weggelaufen, und ich habe ihn immer weiter von mir fortgetrieben. Er hat erkannt, dass ich mit ihm kommunizieren möchte, und gibt mir jetzt zu verstehen, dass er sich mit mir über eine Änderung der Situation unterhalten möchte.« Ich hoffte, dass Ray Hackworth mich nach wie vor verstand, denn ich musste jetzt dem Pferd in seiner Kreisbewegung folgen und sprach daher die Hälfte der Zeit Ray nicht direkt an, sondern schickte meine Erklärungen in die Gegenrichtung. Rays Silhouette auf der Beobachterplattform blieb weiterhin mein Ansprechpartner: »Mit dem Lecken und Kauen versucht er, mir etwas klarzumachen. Er sagt so etwas wie: >Ich bin ein Pflanzenfresser, ein Weidetier. Ich simuliere diese Freßbewegungen, weil ich darüber nachdenke, ob man dir trauen kann oder nicht. Kannst du mir die Entscheidung ein wenig erleichtern? Bitte!<« Dann erfolgte das letzte Signal, mit dem ich rechnete: Das im Kreis trabende Pferd senkte den Kopf, bis die Nüstern nur noch Zentimeter über dem Boden waren. »Na, bitte!« rief ich Ray zu. »Er hat den Kopf heruntergenommen! 117
Draußen in Nevada habe ich das x-mal beobachtet. Es bedeutet immer dasselbe: >Nehmt mich wieder auf. Ich will zurück. Ich will nicht mehr fliehen.<« Für mich war nun der Zeitpunkt gekommen, auf passives Verhalten umzustellen - genauso, wie die graubraune Stute es getan hatte. Ich musste den jungen Hengst jetzt herankommen lassen und ihm die Chance geben, sich mir anzuschließen. Ich schlug den Blick nieder und fixierte eine Stelle ungefähr fünf bis sieben Meter vor dem Tier. Ich drehte meine Schultern in der gleichen Richtung, bis sie einen Fünfundvierzig-Grad-Winkel zur Längsachse des Pferdekörpers bildeten. Ich vermied also den direkten Blickkontakt und bot dem Pferd meine Flanke. Der junge Hengst blieb sofort stehen. Dann verließ er seine Position an der Einfriedung und wandte sich mir zu. Ich verharrte in meiner Stellung - Körper und Augen im Fünfundvierzig-Grad-Winkel zu meinem Gegenüber. Der junge Hengst machte ein, zwei Schritte auf mich zu. Ich wartete. Dann kam er zu mir und blieb erst wieder stehen, als seine Nüstern nur noch wenige Zentimeter von meiner Schulter entfernt waren. Ich war sprachlos. Ich wollte Ray Hackworth zurufen: »Sehen Sie, das wollte ich Ihnen zeigen. Was halten Sie davon? Ist das nicht phantastisch?« Aber ich konnte es mir nicht leisten, den Zauber zu brechen und nichts anderes war es: Es war wie Zauberei. Der junge Hengst vertraute mir. Ich gehörte zu seinem Verband. Das Kampftier hatte sich in ein Mitglied der Gruppe verwandelt. Ich war die Zone, in der sich der junge Hengst in Sicherheit fühlte. Der Augenblick des Akzeptiertwerdens, des Sich-Anschließens, ist das Phänomen, das ich als JOIN-UP bezeichne. Es war meine Entdeckung, meine Leistung. Ich war in diesem Augenblick tief ergriffen - ein Gefühl, das mich seither immer wieder überkam, bei jedem einzelnen der über neuntausend Pferde, die ich auf diese Weise eingeritten habe. Mein Gott, dachte ich, hoffentlich kann Ray das nachempfinden! Um die Stärke des JOIN-UP zu testen, drehte ich mich langsam nach rechts. Der junge Hengst folgte mir, die Nüstern kontinuierlich in der Nähe meiner Schultern. Dann drehte ich mich nach links. Der junge Hengst zögerte und erweckte den Anschein, als wolle er in die andere Richtung gehen. 118
Sofort nahm ich wieder die Herrscherpose an und scheuchte ihn fort, was ihm überhaupt nicht gefiel. Noch vor Vollendung der ersten Runde durch den Ring zuckte entschuldigend die Nase und bat um Wiederaufnahme. Ich hatte natürlich nichts dagegen. Als der junge Hengst wieder bei mir war, streichelte ich ihn zwischen den Ohren. Ich halte es zwar nicht für unbedingt erforderlich, ausgerechnet die Partie zwischen den Augen zu streicheln, doch scheint mir diese Stelle des Körpers empfänglicher als andere. Ich habe mich mit Experten darüber unterhalten, warum das so ist. Sie sind sich weitgehend einig darüber, dass ein Höchstmaß an Vertrauen, welches ein Pferd dem Menschen entgegenbringt, dadurch zum Ausdruck kommt, dass es ihm gestattet, einen Teil seiner Anatomie zu berühren, den es selbst nicht sehen kann. Ruhig und zufrieden trottete der junge Hengst nun hinter mir her. Ich war mir sicher, dass ich Ray Hackworth auf seinem Beobachterposten oberhalb des Zauns beeindruckt hatte, und stellte mir vor, wie er meinem Vater von meinen Errungenschaften erzählte. »Ich sag' Ihnen eines, Marvin: Nach fünfundzwanzig Minuten hatte Ihr Bengel ein Wildpferd so weit, dass es wie sein bester Freund hinter ihm herlief! Der Bursche hat da wirklich was entdeckt. Kommen Sie mal rüber und sehen Sie sich's an!« Mein Vater, so dachte ich, würde dann mit Ray Hackworth zum Ring kommen und ihn unterwegs fragen, was das alles solle. Ich konnte nicht umhin, mir seine Verblüffung vorzustellen. Ich ging zur Ringmitte. Der junge Hengst folgte mir. Ich beruhigte ihn, sprach eine Zeitlang auf ihn ein und probierte aus, wie er auf meine Berührung reagierte. Dann wandte ich mich an Ray und rief mit verhaltener Stimme, um das Tier nicht zu irritieren: »Alles, was jetzt kommt, ist kaum mehr als eine Formalität. Er hat sich mir angeschlossen, wir sind auf der gleichen Seite. Das ist das Entscheidende.« Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass der Hengst mir völlig vertraute, ging ich fort und holte eine Longe, einen Sattel, Zaumzeug, eine Satteldecke und einen langen Steigbügelriemen. Das Zufallen des Tors jagte den Adrenalinspiegel des Pferdes sofort in die Höhe. Es sah etwas Neues — einen Stapel Ausrüstungspegenstände - und bekam es sogleich mit der Angst zu tun. Sein Mißtrauen war berechtigt. Ich wartete. 119
Ich ließ ihm die Wahl zwischen mir und dem Gerät, das ich inzwischen in die Ringmitte gelegt hatte. Der Hengst entschied sich für mich und beruhigte sich. Er stand nun bei mir, den Kopf noch immer völlig frei. Behutsam nahm ich Satteldecke und Sattel zur Hand und legte sie ihm auf den Rücken. Als ich - langsam und ruhig - den Sattelgurt befestigte, trat er ein, zwei Schritte zurück, blieb dann wieder stehen und ließ mich gewähren. Nun trug er zum erstenmal in seinem jungen Leben einen Sattel. Noch nie war irgendeine Art von Leine oder ein Führstrick an seinem Kopf befestigt gewesen, geschweige denn Zaumzeug. Der Hengst stellte mir viele Fragen: Seine Ohren zuckten vor und zurück, seine Nüstern blähten sich. Doch er vertraute mir. Als der Sattel festgezurrt war, trat ich dem Pferd wieder frontal gegenüber und scheuchte es von mir weg - nicht aggressiv, aber doch mit jener Zuversicht, die ich nach meiner Erfahrung mit mittlerweile beinahe zweihundert Pferden gewonnen hatte. Das Tier floh und galoppierte wieder an der Umzäunung entlang im Kreis. Ich wollte es an den Sattel gewöhnen, bevor es zum erstenmal geritten wurde. Ein paarmal buckelte der junge Hengst heftig - worüber ich insgeheim heilfroh war, denn Ray Hackworth sollte nicht den Eindruck gewinnen, es handle sich nur um einen glücklichen Zufall. Es fiel mir selbst schwer, zu glauben, dass es kein Zufall war. Doch ich hatte inzwischen ja schon fast zweihundert Pferde eingeritten und meine Methode bis in die Einzelheiten ausgefeilt und vereinheitlicht. Nach ein paar Minuten hörte der junge Hengst auf zu bocken und zog seine Runden in gleichmäßigem Galopp. Ich sah die bekannten Signale — das Lecken und Kauen, das innere Ohr mir zugewandt, das leichte Abschwenken von der Umzäunung bei dem Versuch, mir näher zu kommen. Außerdem roch ich jetzt den Schweiß des Tiers, das ziemlich harte Arbeit leistete und viel Nervenkraft mobilisierte. Ich ließ es noch ein, zwei Minuten im Zirkel an der Einfriedung entlanglaufen, um ihm die Chance zu geben, sich besser mit dem Tragen des Sattels vertraut zu machen - erst in die eine Richtung, dann in die andere. Ray Hackworth' Silhouette regte sich nicht. Da es inzwischen spä120
ter Nachmittag war und die tiefstehende Sonne sich hinter ihm befand, war es mir nicht möglich, seinen Gesichtsausdruck zu erkennen. Nach drei oder vier weiteren Runden in beide Richtungen gab mir der junge Hengst zu verstehen, dass er gewillt war, wieder zu mir zurückzukehren. Ich erlaubte ihm, sich mir wieder anzuschließen — mit dem Sattel auf dem Rücken. Ich korrigierte den Sitz des Gurts und beruhigte das Tier mit meiner Stimme. Ich lobte es. Es sei ein gutes Pferd, und es brauche, wenn es bei mir bliebe, keine Angst zu haben. Ich liebte es, so wie ich alle seine Geschwister liebte. Ich kümmerte mich um es. Es würde viel Freude mit mir haben. Wir würden einen schönen Namen für es finden. Dann nahm ich das Zaumzeug und zog es ihm über die Ohren. Der junge Hengst akzeptierte die Trense ohne Widerstand; er hob lediglich kurz den Kopf. Ich befestigte die Zügel unter dem hinteren Teil des Sattels und ließ die Steigbügel herab. Ich wollte das Tier jetzt an die Longe nehmen. Ich steckte die Longe durch die Steigbügel, damit sie nicht schlenkerten. Dann schickte ich den jungen Hengst wieder auf die Strecke und ließ ihn auf der Kreisbahn galoppieren. Er war jetzt voll aufgezäumt, mit Sattel, Zaumzeug und Longe. »Eine halbe Stunde!« rief ich. »Wir arbeiten jetzt eine halbe Stunde miteinander.« Obwohl ich Ray ansprach, wagte ich nicht, ihn anzusehen. Ich spürte seinen Blick auf mir und wusste, dass meine Vorführung ihren Eindruck auf ihn nicht verfehlen konnte. An der Longe ließ ich den jungen Hengst in beide Richtungen lauIcn. »Ich möchte sein Vertrauen gewinnen. Er soll Zaum und Zügel gerne folgen — und zwar bis an sein Lebensende. Es soll ihm Spaß machen.« Ich wendete den jungen Hengst sechs- oder siebenmal, bevor ich ihn anhalten und einen Schritt rückwärts gehen ließ. Ich justierte den Gurt. Ich wischte den Sattel mit den Händen ab und rieb Hals und Bauch des Pferdes. Dann setzte ich meine linken Zehen in den Steigbügel und bereitete mich darauf vor aufzusitzen. Ich spürte die Anspannung in mei121
nen Oberschenkelmuskeln und fragte den jungen Hengst, ob ich mein volles Gewicht in den Steigbügel legen dürfe. Ich testete seine Reaktion. Er trat einen Schritt zur Seite, um das zusätzliche Gewicht besser zu verteilen, blieb aber ansonsten standfest. Ich zog mich hoch. Ich verzichtete zunächst darauf, das andere Bein über seinen Rükken zu schwingen, und legte mich statt dessen eine Zeitlang quer über den jungen Hengst, um zu sehen, ob er sich damit anfreunden konnte. Dabei hoffte ich, dass es mir mit meinen Worten gelingen würde, alle seine Fragen zu beantworten. Wir würden einen guten Platz für ihn finden, sagte ich. Vielleicht würde er gern Arbeitspferd auf einer Ranch werden. Vielleicht wartete ein Westernturnier in der Freizeitkategorie auf ihn. Vielleicht würde er eines Tages einem Jugendlichen wie mir gehören, der reiten lernen wollte. Ich sorgte dafür, dass der junge Hengst mich noch einmal mit beiden Augen sehen konnte. Dann schwang ich sehr vorsichtig das Bein über seinen Rücken und setzte mich auf. Nach nur vierzigminütiger Arbeit ritt ich ein Wildpferd. Ich blickte zu Ray Hackworth auf, der mich mit besorgter Miene anstarrte. Ich war mir sicher, dass er erkannte, welch unglaubliche Entdeckung mir gelungen war, und dass sich mit seiner Hilfe auch mein Vater überzeugen lassen würde. Ich war ein idealistisches vierzehnjähriges Kind. Triumphierend saß ich auf dem Rücken des Pferdes und glaubte felsenfest daran, dass es nur noch eine Frage von Wochen war, bis mir die Älteren und Erfahreneren im ganzen Land ihren Respekt und ihre Bewunderung bezeugten. Doch da hörte ich plötzlich Ray Hackworth' Stimme von der Zuschauerplattform: »Reiner Zufall!« brüllte er. Im gleichen Augenblick machte der Hengst seine ersten zaghaften Schritte vorwärts, und ich unternahm nichts, um ihm Einhalt zu gebieten. Wir gingen einfach los, während Rays Stimme mich weiter verfolgte: »Du machst einen großen Fehler, wenn du den guten Rat deines Vaters mißachtest. Ich an deiner Stelle würde sofort mit diesem Unfug aufhören! Das endet eines Tages damit, dass du schwerverletzt im Ring liegst. Ich weiß nicht, wo oder wie es dich erwischt, aber auf jeden Fall bekommst du ein paar ganz gewaltige Huftritte versetzt — und zwar noch bevor so ein Gaul dich abwirft!« 122
In diesem Ton ging es weiter, bis Ray Hackworth die Plattform verließ und meinen Blicken entschwand. Doch selbst als er bereits den Hof überquerte und auf seine Ställe zusteuerte, die gleich neben den meinen lagen, klangen mir seine geringschätzigen Kommentare noch in den Ohren. Allein gelassen, saß ich auf dem jungen Hengst und ritt ihn durch den Ring. In einem Moment, der eigentlich ein Augenblick des Triumphs hätte sein sollen, erlebte ich die größte Enttäuschung meines Lebens. Die Menschen, auf deren Respekt und Anleitung ich angewiesen war, verweigerten mir das eine wie das andere. Ich schwor mir, keinem Menschen mehr etwas von meinen neuen Ideen zu erzählen.
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JENSEITS VON EDEN
Die meisten Rodeodisziplinen sind Fortentwicklungen verbreiteter Arbeitspraktiken auf der Ranch. Das Team-Roping bestand darin, dass zwei Farmarbeiter ein Rind einfingen, ein Lasso um Kopf und Hinterbeine schlangen und das Tier flach auf dem Boden ausstreckten, um es aus diesem oder jenem Grund zu behandeln. Am Sattel trugen sie ein veterinärmedizinisches Erste-Hilfe-Set. Vielleicht mussten sie ein Stück Stacheldraht entfernen, das sich der Kuh ums Bein gewickelt hatte, oder das Tier hatte sich einen derben Halm ins Auge gestoßen. Die Pferde waren darauf trainiert, bis zur Erledigung der notwendigen Handgriffe die Spannung der Lassos aufrechtzuerhalten. 1956 sollte ich Team-Roping-Weltmeister der National Intercollegiate Rodeo Association (NIRA) werden. Die Vorbereitungen und Ausscheidungskämpfe für diesen Titel nahmen ein ganzes Jahr in Anspruch. Manchmal sammelte man Punkte, manchmal nicht. Einmal, in Scottsdale, Arizona, hatten Jack Roddy und ich einen absolut perfekten Stier gelost. Man hätte glatt Geld auf ihn setzen können. Er war ruhig und bewegte sich in gerader Linie vorwärts. Wenn wir in diesem Jahr Punkte machen wollten, dann mit diesem Stier, in diesem Wettbewerb - jetzt... Der Stier befand sich im mittleren Laufgang; der header - Jack Roddy - im Gang links von ihm und ich - der heeler - im Gang rechts. Am Stier ist eine kleine Schnur befestigt. Wenn er nun in die Arena stürmt, gewinnt er einen leichten Vorsprung, ehe die Schnur die Verriegelung eines Seils löst, das vor das Pferd des Headers gespannt ist. Durchbricht der Header die Absperrung zu früh, gibt es zehn Strafsekunden. Die Kunst besteht darin, das Pferd genau im richtigen Augenblick vorwärtszubewegen, so dass es die Seilspannung im Moment der Entriegelung mitnimmt. Beim Wettbewerb in Scottsdale gelang Jack Roddy das perfekte Timing. Sein Pferd drängte bereits gegen das Seil und war kurz davor durchzubrechen, als die Verankerung entriegelt wurde - und schon waren sie unterwegs. Jack gelang ein großartiger Lassowurf, und ich sah schon fast den Siegerpokal vor mir. Wenn mir jetzt auch mein Part gelang, würden wir bei diesem Stier sicher unter zehn Sekunden bleiben. Ich ritt ein Pferd namens Berney, und wir jagten hinter dem Stier her, den Roddy quer über unsere Piste zog. Ich streckte mich. Meine 127
Lassoschlinge stand und wirbelte über meinem Kopf, die Reichweite stimmte. Doch plötzlich hatte ich kein Pferd mehr. Berney knickte vorne ein, machte einen Salto, und ich flog gerade in dem Moment, da ich das Lasso warf, auf die Nase. Ich hatte also kein Pferd mehr, aber ich hielt ein Lasso in den Händen, dessen Schlinge sich am anderen Ende um die Hinterbeine des Stiers gewickelt hatte. Dieses Lasso verbrannte meine Hände, denn der Stier bockte, sprang nach Kräften und zog das Lasso durch. Meine Handflächen fühlten sich an wie wie Hamburger und rauchten buchstäblich. Ich musste mich bei Jack Roddy entschuldigen: keine Punkte! In Albuquerque, New Mexico, sah es anders aus. Wir losten einen absolut irrwitzigen Stier, ein wahres Rennpferd, das überhaupt nichts mehr mit einem Rind gemein hatte. Jack Roddy ließ sich dadurch nicht einschüchtern. »Mach dir keine Gedanken«, sagte er. »Wir schlagen diese Flaschen.« Flankiert von Jack und mir, ließ der wilde, rotgraue Stier seinen Schwanz kreiseln und konnte es gar nicht erwarten, in die Arena gelassen zu werden. Jack ritt ein Pferd namens Chango. Er hatte Chango so weit wie möglich in den Laufgang zurückgenommen, um zum richtigen Zeitpunkt quasi schon in vollem Galopp durch die Absperrung preschen zu können. Wie ein geölter Blitz schoß der rotgraue Stier aus dem Gang. Just als die Schnur sich spannte, sprengte Jack auf Chango hinterher. Nur wenige Schritte nach dem Start erreichte Chango bereits seine Höchstgeschwindigkeit. Mit einem großartigen Distanzwurf erwischte Jack den Stier bei den Hörnern. Allerdings erschwerte das lange Lasso meine Aufgabe als Heeler, weil der Stier in einem weiten Bogen hin und her pendelte. Ich hetzte Berney hinter ihm her. Die Hinterbeine des Stiers bewegten sich schneller, als ich es je für möglich gehalten hätte. Berney kratzte fast mit dem Ohr über den Boden, so stark legte er sich in die Kurve, damit ich nah genug an das Biest herankam. Trotzdem musste ich das Lasso aus sechs bis sieben Metern Entfernung werfen statt - wie meistens - aus anderthalb bis zwei Metern. Es war meine einzige Chance, und ich hatte nicht einmal Zeit, die Schlinge zu vergrößern. Ich warf — und dann geschah etwas, was ich für unmöglich gehalten hätte: Mit beiden Hinterbeinen verfing sich der Stier in der Schlinge. Es war uns gelungen, dieses Rennpferd von einem Bullen innerhalb von ungefähr acht Sekunden 128
zu Boden zu zwingen. Der Schiedsrichter senkte die Fahne. Schon vor dem letzten Wettbewerb der Serie waren wir Weltmeister. Während meiner Rodeojahre habe ich mich stärker in der Disziplin Calf-Roping (Kälberfangen mit dem Lasso) engagiert, als ich zugeben möchte. Beim Calf-Roping wird ein junges, nur etwa neunzig Kilogramm schweres Rind in die Arena gelassen, wo es zumeist ziellos hin und her läuft. Es ist flinker und agiler als die größeren Tiere. Ein Cowboy jagt ihm hinterher - und nun kommt es vor allem auf Geschicklichkeit an. Die Lassoschlinge wirbelt in der Luft, und der Cowboy kommt immer näher. Das Kalb weiß, dass es verfolgt wird; es senkt den Kopf, legt die Ohren an und rechnet damit, dass sein Verfolger - ein Raubtier - es im Nacken packen will. Der Cowboy wirft ihm eine Schlinge um den Hals. Das andere Ende des Lassos ist am Sattelknauf befestigt. Der Cowboy steigt ab, das Pferd bleibt abrupt stehen und reißt das Kalb von den Beinen. Es fällt auf die Seite. Inzwischen ist der Cowboy mit einem kürzeren Lasso in den Händen bei ihm und wartet, bis es sich wieder aufgerappelt hat. Seine Aufgabe besteht nun darin, das Kalb erneut zu Boden zu werfen und drei Beine — im Normalfall ein Vorderbein und beide Hinterbeine - mit dem Lasso zu fesseln. Wenn er fertig ist, richtet er sich auf und reißt die Arme hoch. In diesem Augenblick senkt der Schiedsrichter die Fahne, und die Uhr wird gestoppt. Calf-Roping ist keine besonders schöne Disziplin und kann nicht mit der ursprünglichen Tätigkeit auf der Ranch verglichen werden. Auf einer Ranch läßt es sich nicht vermeiden, dass Kälber gelegentlich mit dem Lasso eingefangen werden - sei es, um ihnen Brandzeichen ins Fell zu brennen, um Stierkälber zu kastrieren oder aus veterinärmedizinischen Gründen. Aber man läßt das eingefangene Tier zunächst weiterlaufen und bringt es behutsam zum Stehen. Der Job wird außerdem meistens von einem Team ausgeführt, wodurch der Streß für das Kalb reduziert wird. Ich habe erst kürzlich auf einer benachbarten Ranch einen Tag lang Kälber gefangen. Mein Pferd Dually, ein preisgekröntes Reined Cutting Horse, verrichtete die ganze Tagesarbeit nur im Schritt. Den Ranchern ist das so auch viel lieber; schließlich stellen diese jungen Rinder ihren Lebensunterhalt dar. Die Proteste gegen das Calf-Roping im Rodeo haben sich derart verstärkt, dass das zahlende Publikum es heute als Wettbewerb kaum 129
noch zu sehen bekommt. Es findet nur mehr vor, hinter oder zwischen den einzelnen Wertungen statt, wenn das Publikum seine Plätze einnimmt. 1949, als ich vierzehn war, begann ich, mich mit einer Rodeodisziplin zu beschäftigen, die mir, wie sich herausstellen sollte, besonders lag: Auch das sogenannte Bulldogging hat seinen Ursprung in den Arbeitspraktiken auf texanischen Rinderfarmen. Die Cowboys mußten stundenlang große Rinderherden zusammenhalten und dabei verschiedene Tiere aussondern und mit dem Lasso einfangen - entweder zum Zweck einer tierärztlichen Behandlung, um sie mit Brandzeichen zu versehen oder aus anderen Gründen. Dabei kam es immer wieder einmal vor, dass ein ausgewachsenes Rind aus der Herde ausbrach und davonrannte, so dass die Cowboys hinterherreiten und es wieder einfangen mussten. Zum eigenen Vergnügen und zum Zeitvertreib machten sie daraus eine Art Wettkampf. Am Ende versuchten sie, vom Pferd auf den Rinderhals zu springen und das Tier mit bloßen Händen zur Rückkehr zu bewegen. Dann kam ein schwarzer Cowboy namens Bill Pickett auf folgende Idee: Er ritt einem Stier hinterher, sprang auf seinen Kopf, beugte sich vor, zog die Oberlippe des Stiers hoch und biß kräftig hinein. Das Tier war durch den plötzlichen Schmerz so überrascht, dass es zu Boden stürzte. Es war die gleiche Methode, mit der englische Bulldoggen Hirsche zu Fall brachten. Bill Pickett wendete dann das Rind und trieb es zur Herde zurück. Die Ranch, auf der er arbeitete, schickte ihn zu Demonstrationsveranstaltungen, auf denen er seine Talente zur Schau stellte. Mit der Zeit entwickelte sich daraus die Disziplin, die wir heute als Bulldogging bezeichnen. In der modernen Version hetzen zwei Mann zu Pferd wie die Wilden hinter einem ausgewachsenen Bullen her. Der eine Reiter - der hazer — hält sich auf der rechten Seite des Tiers und sorgt dafür, dass es geradeaus läuft und nicht ausbricht. Der andere reitet parallel dazu auf der linken Seite und springt auf das Tier auf. Sofern er sein Ziel nicht verfehlt und auf den Boden fällt, landet er auf dem Stiernacken. Damit er nicht unter die Hufe gerät, wird er unter allen Umständen versuchen, oben zu bleiben. Seine Hauptaufgabe besteht nun darin, den Stier »zu werfen«. 130
Er legt einen Arm um die Hörner des Tiers und nimmt das Maul in die Armbeuge. Dann verdreht er ihm mit aller Kraft den Hals, was zur Folge hat, dass der Stier seitwärts umfällt. Es ist wie ein heftiger Judowurf, nur dass der Gegner ein dreieinhalb Zentner schweres Rind in vollem Lauf ist. Wenn dessen Flanken den Boden berühren, wird die Uhr angehalten. Die Tiere werden dabei nur selten verletzt, die Cowboys dagegen ziemlich oft. Ich gewann die NIRA Bulldogging World Championship im Jahr 1957, also ein Jahr, nachdem ich mit Jack Roddy den Titel im TeamRoping errungen hatte. 1957 musste ich am letzten Wettkampf nicht nur teilnehmen, sondern auch noch gut abschneiden, wenn ich Gesamtsieger werden wollte. Einige Konkurrenten waren mir hart auf den Fersen. Sie hatten durchaus die Chance, mir noch ein Schnippchen zu schlagen, da die Rodeomeisterschaften im allgemeinen »Privatsache« der Binnenstaaten wie Texas, Idaho und Montana waren. Dort war man der Meinung, die Jungs von der Pazifikküste sollten eins aufs Dach bekommen. Mein erster Stier, ein großes, träges Tier, war ein ausgesprochen schlechtes Los. Nachdem ich ihn zu Boden geworfen hatte, lag ich mit einer Zeit von 6,2 Sekunden auf dem siebten Platz. Das war zwar nicht schlecht, bedeutete es doch, dass ich die Weltmeisterschaft gewinnen würde, solange ich in der zweiten Runde in die Plazierung kam. Die Wertung ergab sich aus der Durchschnittszeit nach beiden Runden. Ich war also noch nicht Sieger, blieb aber für alle anderen das Maß der Dinge: Mich mussten sie auf jeden Fall schlagen. Ich zog das Los für meinen zweiten Stier und erwischte das vielleicht beste »Tier im Angebot«. Dieses Losglück müßte für die Meisterschaft reichen, dachte ich. Allerdings hatte ich eine sehr hohe Startnummer, was bedeutete, dass ich wahrscheinlich erst in der »Flaute« spät in der Nacht an der Reihe war, wenn das Publikum die Arena bereits verlassen hatte. Es klingt ein bißchen verrückt, aber so war es: Das Endergebnis der Bulldogging-Weltmeisterschaften sollten die Zuschauer erst erfahren, wenn sie wieder zu Hause waren. Doch das Los hatte entschieden: Ich kam erst in der Flaute dran, und damit musste ich mich abfinden. In der Zeit, die bis dahin verstrich, veränderten sich die äußeren Bedingungen dramatisch. Als die Zuschauer gegen zehn Uhr abends nach Hause gingen, war ein kalter Graupelsturm aufgezogen und 131
wurde von Minute zu Minute stärker. Ich klammerte mich an mein Losglück - ich hatte den richtigen Stier erwischt. Viel anderes blieb mir auch nicht übrig. Es stürmte, und Eisregen tropfte von unseren Hüten. Dort, wo ich mit Miss Twist, meinem Pferd, stand und wartete, gab es keinerlei Unterstellmöglichkeit. Ich bedeckte die Stute und mich mit allem Möglichen, um Leib und Seele beisammenzuhalten. In regelmäßigen Abständen lief ich zehn Minuten im Kreis, um meine Muskeln zu wärmen. Aus demselben Grund trabte ich dann auch einige Runden mit Miss Twist. Kurz nach Mitternacht hatte ich noch zwei Bulldoggers vor mir, bis ich endlich zu meiner zweiten Runde antreten konnte. Meine College-Mannschaft labte sich an heißem Kaffee, und alle schworen darauf, dass es unter diesen wahnwitzigen Witterungsbedingungen nichts Besseres gäbe. Also trank auch ich eine halbe Tasse, obwohl ich wusste, dass Kaffee und ich nicht so recht zusammenpaßten. Inzwischen war der Bulldogger unmittelbar vor mir startklar. Als der Stier bereits in die Arena stürmte, glitt das Pferd des Hazers auf dem matschigen Boden aus und fiel zurück, so dass der Bulldogger, ein junger Bursche, unversehens allein neben dem Stier her galoppierte, ohne dass auf der anderen Seite jemand dafür sorgte, dass der Bulle auch wirklich geradeaus lief. Prompt rannte der Stier an der Einfriedung der Arena entlang. Im selben Augenblick, als der junge Mann sich zum Absprung bereit machte, scherte er jedoch nach links, also in Richtung des Pferdes, aus. Der junge Reiter wurde über den Stier hinwegkatapultiert, flog gegen den aus Eisenrohren und Gitterwerk bestehenden Zaun, krachte mit dem Kopf gegen einen Pfosten, stürzte zu Boden und blieb reglos liegen. Sofort waren Helfer bei ihm. Ein Krankenwagen wurde gerufen, und es kam zu einer größeren Unterbrechung, die, wie man sich denken kann, von großer Angst und Sorge bestimmt wurde. Ich glaube, insgeheim wussten wir alle, die wir das unheimlich endgültige Geräusch beim Auftreffen des Kopfes auf den Pfosten gehört hatten, dass der junge Mann auf der Stelle tot gewesen war. Als man ihn abtransportierte, verdrängte ich den Gedanken noch. Schon wieder ein Rodeoverletzter, redete ich mir ein; es kommt ja oft genug vor. Gott gebe, dass mir so etwas erspart bleibt... Der Unfall drückte natürlich die Stimmung, die durch das grauenhafte Wetter noch zusätzlich verdüstert wurde. Als sich schließlich 132
die schlimmsten Befürchtungen bestätigten, wurde uns allen schlagartig klar, dass dieser Wettbewerb für alle Beteiligten ein Kampf auf Leben und Tod war. Zu allem Überfluß wurde mir ausgerechnet jetzt, kurz vor meinem Einsatz, auch noch speiübel. Der Kaffee rumorte in meinen Eingeweiden und setzte eine allergische Reaktion in Gang, von der ich später erfuhr, dass ich gut beraten wäre, sie in Zukunft tunlichst zu vermeiden. Ich führte Miss Twist rückwärts in die Box und entfernte alle Dekken, die sie bislang einigermaßen vor den Graupelschauern geschützt hatten. Während mein Magen revoltierte, gab ich Jack Roddy, meinem Hazer, per Handzeichen zu verstehen, dass ich startbereit war. Der Stier wurde in die Arena gelassen, und ich jagte, so schnell ich konnte, hinter ihm her. Jack Roddys Pferd kam mit dem matschigen Boden gut zurecht und hielt den Bullen auf der Geraden. Ich sprang aus dem Sattel auf den Nacken des Stiers und drehte mit einer großen, gewaltigen Anstrengung seinen Kopf herum. 4,3 Sekunden nach dem Start lag das dreieinhalb Zentner schwere Rind auf dem Boden, und ich wusste im selben Augenblick, dass mir dieses hervorragende Ergebnis, zum bisherigen Durchschnittswert hinzugerechnet, die Weltmeisterschaft im Bulldogging eingebracht hatte. Als meine College-Mannschaft auf mich zustürmte, um mir zu gratulieren, erwartete sie ein seltsames Bild: Ich starrte aus nächster Nähe den Boden an. Die Allergie war jetzt voll ausgebrochen. Nie hätte ich gedacht, dass einem überhaupt so übel werden konnte. Es war so schlimm, dass ich mich furchtbar übergeben musste. Alle glaubten natürlich, dass dies aus reiner Aufregung geschah. Ich bekam kaum Luft und konnte ihnen nicht sagen, woran es wirklich lag und ob sie doch nicht bitte damit aufhören könnten, einem armen, kranken Mann permanent auf den Rücken zu schlagen! Ich hatte das Gefühl, mir jede dieser 4,3 Sekunden redlich verdient zu haben — jede Zehntelsekunde einzeln! Die gefährlichste aller Rodeodisziplinen ist allerdings nicht das Bulldogging, sondern wahrscheinlich das Bullriding, das Reiten auf einem wilden Stier. Jeder Teilnehmer hat acht vergnügliche Sekunden, in denen er sich mit der richtigen Seite nach oben auf dem Rükken eines professionellen Rodeobullen halten muß. Stiere sind in ihrer Wildheit noch unberechenbarer als buckelnde 133
Pferde. Pferde wölben ihren Rücken auf, stecken die Köpfe zwischen ihre Vorderläufe und springen mit steifen, gestreckten Beinen in die Höhe. Der Bewegungsablauf erinnert ein wenig an das Springen mit Stelzen oder auf einer Pogo-Feder und stellt den Reiter schon vor einige Probleme. Bei Bullen kommt jedoch hinzu, dass ihre Beine über enorme Stärke und Zugkraft verfügen. Sie können abtauchen, in einer Linkswendung hochschnellen, neuerlich abtauchen und dann in einem abrupten Rechtsschwung wieder emporschnellen, so dass sich der Reiter vorkommt wie auf einer haarigen, schnaubenden Achterbahn. Wer sich seine acht Sekunden lang erfolgreich an dem geflochtenen Seil festgehalten hat, das dem Tier um die Mitte gewunden ist, und dann abspringt oder abgeworfen wird, muß natürlich damit rechnen, dass der Bulle ihn sofort aufs Korn nimmt. Was er vorhat, ist klar: Er will einen unter seinen Hufen zu Staub zerstampfen. Um seine Aufmerksamkeit vom Reiter abzulenken, müssen die clowns in die Arena stürmen und allerhand lustige Possen vollführen. Die Clowns sind prächtige Sportler und Stierkämpfer, die alles riskieren, um das Publikum bei Laune zu halten. Beim Bullenreiten hängt alles vom Los ab - es kann sogar die Entscheidung über Leben oder Tod bedeuten. Nach den besagten acht Sekunden werden die Leistungen beider bewertet: Sowohl der Stier als auch der Reiter erhalten je nach Darbietung einen bis fünfzig Punkte. Man könnte fast von einem Mannschaftssport sprechen. Als ich heiratete, bat mich meine Frau Pat, das Bullenreiten wegen des hohen Verletzungsrisikos aufzugeben. Außerdem meinte sie, meine Leistungen in anderen Rodeodisziplinen würden sich noch verbessern, sobald der Druck und die Belastung durch das Bullenreiten wegfielen. Ich stimmte ihr zu - und schon beim nächsten Rodeo erwies sich, dass sie recht hatte. Immer wieder schössen mir merkwürdige Gedanken durch den Kopf, die mit dem Bullenreiten zusammenhingen. Immer wieder blieb ich stehen und dachte mit Beklemmung an den Stier, den ich losen würde — nur um mich dann jedesmal wieder zu entspannen und mir klarzumachen, dass ich diesmal gar nicht dabei war. Ohne dass es mir bewußt gewesen wäre, hatte mich das Bullenreiten außerordentlich belastet. Kaum hatte ich es aufgegeben, erlebte ich in den anderen Disziplinen geradezu eine Leistungsexplosion. Pat hatte mir einen ausgezeichneten Rat gegeben. 134
Was das Reiten auf den Broncos betrifft - jeder hat es schon mal im Film oder im Fernsehen gesehen -, so möchte ich an dieser Stelle hervorheben, dass der Bronco nicht einfach nur ein wildes Tier ist. Er ist vielmehr ein hochkarätiger Spezialist. Es gibt nicht viele Pferde, die darauf hoffen können, ein Bronco zu werden. Diese Disziplin ist im übrigen keineswegs Tierquälerei, sondern ein Wettkampf, bei dem man sicher sein kann, dass er dem Pferd großen Spaß macht. Ein Spitzen-Bronco ist ein wertvolles Tier, das sehr umhegt wird und das beste Futter bekommt. Im Gegensatz zu vielen anderen im Rodeogeschäft oder bei Western-Riding-Veranstaltungen eingesetzten Pferden langweilt ihn die häufige Wiederholung der Übungen nicht. Man respektiert ihn als Bronco und läßt nicht zu, dass er verdorben wird. Er ist ein wilder Bursche, und es gibt niemanden, der mehrere Stunden hintereinander versuchen würde, seinen Willen zu brechen. Schließlich kommt er in den Laufgang, der in der Startbox endet. Ein Reiter setzt sich auf seinen Rücken, das Tor wird geöffnet, und der Bronco kann sich nach Herzenslust austoben. Ein schönes Leben. Im Jahr 1949 setzten sich die Vertreter mehrerer Amateurverbände der einzelnen Bundesstaaten zusammen und einigten sich auf die Regeln für einen neuen Amateurwettbewerb, die sogenannte Horsemastership, für Teilnehmer unter achtzehn Jahren. Die Vereinigten Staaten wurden in ein Raster aufgeteilt, und jeder Einzelstaat in Bezirke. Dem Bezirkswettbewerb folgte zunächst die Staats- und dann die Regionalmeisterschaft. Den Tüchtigsten winkte nach langer, harter Arbeit die Einladung zum Internationalen Finale des Horsemastership-Wettbewerbs in New York. Eltern aus dem ganzen Land meldeten ihre Sprößlinge an. Die Zahl der in das Training und die Wettbewerbe der jugendlichen Teilnehmer investierten Arbeitsstunden muß in den wenigen Jahren, in denen diese große und vielseitige Veranstaltung stattfand, das amerikanische Bruttosozialprodukt merklich gesenkt haben. Mein Bruder und ich meldeten uns gleich 1949 zum Start. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Es war ein glutheißer Tag im kalifornischen Santa Rosa - und wir wurden nicht nur in einer Hinsicht gegrillt. Wir fragten uns, was mit uns geschehen war. Nichts lief an diesem Tag in unserem Sinn. Wir waren schlecht vorbereitet, 135
brachten im Wettbewerb überhaupt nichts zustande und kehrten weit abgeschlagen als Verlierer nach Hause zurück. Doch schon einen Tag nach dieser schlimmen Niederlage im Horsemastership-Wettbewerb 1949 begannen mein Bruder und ich mit den Vorbereitungen zum Wettbewerb 1950. Ich erreichte die Staatsmeisterschaften in Palm Springs und rechnete mir gute Siegchancen aus. Einige Fragen, die mir damals gestellt wurden, weiß ich heute noch. Man hatte die Teile verschiedener Gebisse und Zaumzeuge und ergänzender Ausrüstungsstücke durchnumeriert. Zu den Fragen zählte unter anderem die, welcher Aspekt des jeweiligen Gegenstands der wichtigste wäre. Ich gab für jedes Gebiß, jede Schnalle und jeden Lederstreifen ein und dieselbe kryptische Antwort. Es wäre durchaus möglich gewesen, dass die Juroren darin eine gewisse Arroganz oder Gönnerhaftigkeit hätten sehen können, vielleicht auch argwöhnten, dass sich dahinter Unwissenheit verbarg. Doch wie sich herausstellte, gefiel ihnen die Philosophie, die hinter dem von mir ständig wiederholten Satz steckte, und sie gaben mir jedesmal die volle Punktzahl. Meine Antwort hatte gelautet: »Das Wichtigste an jedem Gebiß und jeder Zäumung ist die Hand, von der sie gehalten werden.« Ich gewann also den Wettkampf in Palm Springs. Mein Sieg war kaum eine Überraschung. Ich musste mir allerdings ins Gedächtnis rufen, dass ich seit fast zwei Jahren wie besessen und durchaus im Stil eines erwachsenen Profis auf dieses Ereignis hin Pferde trainiert hatte, im Wettbewerb selbst aber gegen lauter junge Leute antreten musste, für die die Reiterei und der Umgang mit Pferden mehr oder weniger nur eine Freizeitbeschäftigung waren. Als ich nach New York reiste und mit großem Punktvorsprung das Finale gewann, hatte ich gerade meinen fünfzehnten Geburtstag hinter mir. Fast alle anderen der übrigen zwanzig Endkampfteilnehmer waren achtzehn, hatten also bereits das Höchstalter erreicht. Vierzehn von ihnen stammten aus verschiedenen US-Staaten, die anderen sechs aus Kanada, Mexiko, Panama, Puerto Rico, Südafrika und Argentinien. Zwischen den vielen Rodeos, Western-Show-Veranstaltungen, Horsemastership-Wettbewerben und Reisen mit dem Eisenbahnwaggon schaffte ich es auch immer wieder mal, zur Schule zu gehen. Ich muß aber zugeben, dass meine Fehlzeiten weit über dem Durch136
schnitt lagen. Oft tauchte ich nur auf, wenn wichtige Prüfungen anstanden, um zu demonstrieren, dass ich vom Pensum her noch auf dem laufenden war. Ich war allerdings ordnungsgemäß an der katholischen Schule meiner Heimatstadt eingeschrieben, die von Notre-Dame-Nonnen geleitet wurde. Sie hatten beim Eintritt in den Orden besondere Namen zugewiesen bekommen und trugen stets ihre volle Ordenstracht. Die Lehrerin, die mich in meiner Schulzeit am meisten beeinflußte, war Schwester Agnes Patricia. Nie werde ich vergessen, was sie mir über das Lernen an sich sagte. Sie war davon überzeugt, dass kein Lehrer jemandem etwas beibringen kann, sondern sah ihre Aufgabe als Lehrerin darin, eine Umgebung zu schaffen, in der ein Schüler imstande war, von sich aus zu lernen. Wissen, so meinte sie, müsse ein Schüler aktiv in sein Gehirn aufnehmen; er dürfe es sich nicht vom Lehrer gleichsam eintrichtern lassen. Wissen und Bildung könnten keinem Schüler aufgezwungen werden. Es komme darauf an,-dass das Gehirn aufnahmefähig und prägbar sei, vor allem aber, dass es von sich aus nach Wissen und Bildung strebte. Es ist genau diese Grundüberzeugung, von der ich beim Pferdetraining ausgehe. Die Worte lehren und beibringen implizieren, dass man jemandem Wissen quasi einimpfen kann. Nach meiner von Schwester Agnes übernommenen Überzeugung gibt es so etwas nicht. Es gibt nur lernen. Die Laguna Seca Ranch liegt südlich von Salinas, nur knapp fünfundzwanzig Kilometer vom Rodeogelände entfernt. Sie umfaßt sechstausend Morgen Land und grenzt an das militärische Sperrgebiet von Fort Ord. Ende der vierziger Jahre wurde die Ranch von einer Dame namens Dorothy Tavernetti gekauft. Um 1950 zog ihr Freund Trevor Haggeman zu ihr; er war ein begeisterter Rodeocowboy und Spezialist im Team-Roping. Dorothy Tavernetti wurde seine Sponsorin. Sie kaufte in größeren Mengen langhornige mexikanische Stiere, an denen Trevor seine Lassokünste erproben konnte. Und dreimal wöchentlich kreuzten auch mein Bruder und ich dort zum Training auf. Nach drei, vier Monaten wurden die Stiere zu schwer und hörten 137
auf zu laufen. Sie hatten es einfach satt, wieder und wieder mit dem Lasso eingefangen zu werden. Doch anstatt die Stiere zu verkaufen, ließ Trevor sie auf die Weide, und Dorothy kaufte die nächste Gruppe. Die Rinder lebten auf der Ranch und wurden größer und größer. Einige Jahre später war Dorothy mit Trevor nicht mehr so recht zufrieden und forderte ihn auf, die Ranch zu verlassen. Danach beschoß sie, alle Stiere zu verkaufen, die sich inzwischen auf der Ranch angesammelt hatten. Die erste Gruppe von vierhundert Stieren ließ sich leicht zusammentreiben. Ohne viel Drumherum wurden sie verkauft und abtransportiert. Die restlichen hundert hielten von Trevor vielleicht noch weniger als Dorothy Tavernetti - jedenfalls waren sie inzwischen so wild, dass man heilfroh sein konnte, wenn man sie überhaupt zu Gesicht bekam. Dorothys Hilfskräfte kamen zu dem Schluss, dass diese Stiere nicht mehr eingefangen werden konnten. Die Chefin gab sich mit dieser defätistischen Einstellung keineswegs zufrieden, sondern engagierte einen Mann namens Ralph Carter, der sie, wie üblich, während der Nachtstunden fangen sollte. Da Mr. Carter gut mit uns bekannt war und wir die besagten Stiere früher in ihrem Leben schon Dutzende von Malen mit dem Lasso gefangen hatten, lag es auf der Hand, dass er Larry und mich um Hilfe bat. Uns beiden, die wir damals fünfzehn und sechzehn Jahre alt waren, standen einige spannende Nächte bevor. In den ersten Nächten gelang es uns ohne größere Schwierigkeiten, etwa vierzig Stiere einzufangen. Doch danach sah es anders aus. Die restlichen Bullen waren Profis. Mr. Carter ließ sich etwas einfallen. Zuerst wollte er mit einer Ladung Heu im Pick-up hinausfahren und die Tiere in offenem, flachem Gelände am Südrand der Farm füttern. Es war Hochsommer, und das Nahrungsangebot war spärlich. Die Rinder entdeckten daher die neue Futterquelle recht schnell. Es dauerte nicht lange, bis sie gelernt hatten, auf den zwischen neun und zehn Uhr abends anfahrenden Lastwagen zu achten. Bald wussten sie das Geräusch des 4,5Liter-Motors zu schätzen. Als sich die Tiere an diese Praxis gewöhnt hatten, ließ Mr. Carter meinen Bruder und mich in voller Montur aufsitzen. Wir verbargen 138
uns unter den Bäumen am Rand der freien Fläche. Wenn Carter das Heu brachte und die Stiere fraßen, sollten wir aus der Deckung brechen, durch die Dunkelheit auf die Rinder zugaloppieren und sie daran hindern, ins Unterholz zu flüchten. Außerdem sollte jeder von uns bei diesen Attacken in nahezu rabenschwarzer Nacht immer einen Stier einfangen. Wie der Teufel über das unebene Gelände zu jagen und im schwachen Mondlicht Stiere einzufangen, welche zu den wildesten Rindern gehören, die es überhaupt gibt, war ein haarsträubendes Unterfangen. Dass man einen erwischt hatte, war immer erst klar, wenn man den plötzlichen Ruck am Lasso spürte. Wir mussten dann den Stier mit einer Schlinge am Sattelknauf festhalten, bis Mr. Carter mit Lastwagen und Anhänger zur Stelle war. Wir steckten die Lassos von hinten in den Anhänger und zogen die Stiere durch die Vorderfront hinein. Mr. Carter fuhr den Pick-up, während Larry und ich die neun oder zehn Kilometer zur Farm zurückritten. In sechs Nächten fingen wir auf diese Weise zwölf Stiere. Dann begriffen die restlichen achtundvierzig Rinder, was gespielt wurde, und ließen sich auch durch das schmackhafte Heu nicht mehr aus ihrer Deckung locken. Mr. Carter musste sich also etwas Neues einfallen lassen. Diesmal ritten Larry und ich von den Farmgebäuden neun oder zehn Kilometer nordwärts und trieben dann alle Rinder, denen wir begegneten, in das offene Gelände im Südteil der Ranch. An der Grenzlinie zwischen dem bewaldeten Teil und den offenen Flächen galoppierten wir los und versuchten, ein paar Stiere einzufangen, bevor diese auf die Idee kamen, umzukehren und wieder im Unterholz zu verschwinden. Einmal jagte ich hinter einem Stier her, den ich in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. Er donnerte auf einen kleinen Eichenhain zu. Ich konzentrierte mich voll darauf, niedrig hängenden Ästen auszuweichen. Anders als mir war dem Stier offenbar bekannt, dass sich in der Mitte des Wäldchens eine tiefe Sandgrube befand. Von dem Pfad, der sich um den Grubenrand wand, hatte ich genausowenig Ahnung wie mein Pferd. Der Stier dagegen kannte ihn und machte sich seitwärts davon, während mein Pferd und ich plötzlich durch die Luft flogen. 139
Ich wurde über den Kopf des Pferdes geschleudert und bekam, als ich über seine Ohren segelte, zufällig den oberen Riemen des Zaumzeugs zu fassen. Dann stand ich plötzlich in knietiefem Sand auf dem Grund einer fünf Meter tiefen Grube. In der linken Hand hielt ich das gesamte Zaumzeug und das Ende eines Lassos, in der rechten Hand die noch immer wurfbereite Schlinge. Mein Pferd stand ebenfalls bis zu den Knien und Sprunggelenken im Sand. Ausgetrickst von einem Stier! Das war schon peinlich genug. Doch noch unangenehmer war, dass es, wie ich bald feststellen musste, gar nicht so leicht war, aus der vielleicht dreizehn oder vierzehn Meter breiten Grube wieder herauszukommen. Ich rannte den steilen Abhang hinauf, versuchte mich am oberen Rand festzuhalten — und rutschte wieder hinunter. Ein- oder zweimal schaffte ich es tatsächlich, konnte aber mein Pferd nicht dazu überreden, mir zu folgen. Ich spuckte Sand, und meine Stiefel waren voller Steine. Es kostete mich ungefähr eine halbe Stunde, bis ich mich samt Pferd aus diesem Loch herausgekämpft hatte. Am Pick-up wunderten sich die beiden anderen, wo ich so lange abgeblieben war. Möglicherweise veranlaßte dieser Vorfall Larry und mich, Erkundigungen über unsere Entlohnung einzuziehen - und danach zu fragen, ob nicht auch eine gewisse Gefahrenzulage fällig wäre. Es kam heraus, dass Mr. Carter für seine Tätigkeit den halben Marktpreis der Stiere kassierte - damals um die hundert Dollar. Nach seiner Meinung waren wir mit zehn Dollar pro Stier angemessen entlohnt. Wir ließen uns darauf ein, weil wir viel Spaß an der Sache hatten. Zum Schluss waren noch zwanzig Stiere übrig, und Mr. Carter hatte einen neuen Plan. Wir hatten inzwischen herausgefunden, dass die Rinder nur vor den Pferden Angst hatten, deren Witterung sie über eine ziemlich weite Strecke hinweg wahrnehmen konnten. Die Pferde waren ihr Verhängnis. Das Motorengeräusch des Lasters gefiel ihnen dagegen nach wie vor, und gegen das Heu hatten sie von vornherein nichts einzuwenden gehabt. Also verstaute mich Mr. Carter auf der Ladefläche des Pick-up, von außen unsichtbar, aber mit wurfbereiter Lassoschlinge. Das andere Ende des Lassos war am Haken des Anhängers festgebunden. Langsam fuhr er an den Stieren vorbei, während ich im Liegen Heubüschel über die Seitenbretter der Ladefläche warf. 140
Mit leiser Stimme raunte mir Mr. Carter durchs Seitenfenster zu: »Sie kommen jetzt von links her näher ...« Im richtigen Moment sprang ich aus meinem Versteck, warf das Lasso und fing einen Stier. Mr. Carter gab Gas und schleuderte das Tier zu Boden. Larry und ich stürzten uns dann auf ihn und hielten ihn fest, während Mr. Carter ihm ein Seil um die Hörner wickelte. Dann banden wir ihn an einen Baum und brachten den Transportanhänger in Position. Die Methode erwies sich als sehr erfolgreich bis zu meinem Unfall. Ich dachte, die Stiere hielten sich auf der rechten Seite des Lasters auf, doch sie hatten ihren Kurs geändert und kamen plötzlich von links. Ich sprang wie üblich auf, musste mich aber vor dem Wurf in die andere Richtung orientieren. Ich machte mir in diesem Augenblick keine Gedanken darüber, wo der Rest des Lassos lag. Als Mr. Carter aufs Gaspedal trat, erkannte ich zu meinem Schrecken, dass es um mich herumgewickelt war. Ich hatte nicht mehr die Zeit, irgend etwas zu unternehmen. Das Lasso jagte plötzlich hoch, lief über meinen linken Wangenknochen und schleuderte mich mit dem Kopf voran gegen die Heckklappe der Ladefläche. Etwa dreißig Meter weit wurde der Stier an einem Lasso gezogen, das vom Anhängerhaken über die Heckklappe und meinen Kopf zum Stier führte. Ich kann diese Methode nicht empfehlen. Mehrere Stunden war ich bewußtlos, und als ich im Krankenhaus mit bandagiertem Schädel wieder zu mir kam, wusste ich nicht, was vorgefallen war. Es gelang uns tatsächlich, sämtliche Stiere einzufangen. Wir verdienten eine Stange Geld für unsere Nachtschichten und hatten einen Heidenspaß. Am Ende konnten wir von Glück sagen, dass wir dieses Abenteuer überlebt hatten. Auf meinen Ausflügen nach Nevada war ich mir, wie erwähnt, vollauf der Tatsache bewußt geworden, dass wir Brownie Abbitte leisten mussten. In der wüstenartigen Hochebene hatte ich gesehen, wie er die ersten zwei Jahre seines Lebens verbracht haben musste. Das Leben der jungen Mustangs kam mir damals trotz der Gefahren, die ihnen von Raubtieren drohten, idyllisch vor. Er war in einem Familienverband aufgewachsen, in dem Zuneigung und Disziplin einander 141
ergänzten und wo er die Sicherheit und Geborgenheit einer Großfamilie genoß, in der ein sehr effizientes gruppeninternes Kommunikationssystem herrschte. Aus dieser Welt war er herausgerissen und in eine völlig fremde Umgebung verpflanzt worden, wo man ihn gleich zu Beginn durch Prügel zur Unterwerfung zwang. Ich setzte mir zum Ziel, das, was mein Vater Brownie mit der Aussackprozedur angetan hatte, wiedergutzumachen. Unentwegt sprach ich mit ihm, hörte ihm zu, umsorgte ihn nach Kräften und tat alles, was ich für gut und richtig hielt. Seine Gesundheit ließ nie zu wünschen übrig. Ich achtete sehr auf das Futter, das ich ihm vorsetzte, und wusste seine Stimmungen genau zu interpretieren. Und Brownie reagierte darauf. Er stand mir nahe wie ein Bruder. Wir lebten zusammen und atmeten die gleiche Luft. Abgesehen von seiner Papierphobie, die ihn bis zu seinem Tod belastete, als hatte jenes furchtbare Ereignis einen immerwährenden Schatten der Angst über ihn geworfen, war er ein zuverlässiges und ausgeglichenes Pferd. Kurzum - er erholte sich weitestmöglich. Es muß ungefähr im Jahr 1952 gewesen sein, als mir auffiel, dass Brownie im Stall ein wenig betrübt wirkte. Auch spürte ich bei ihm einen gewissen Widerstand, wenn ich mich in den Sattel schwang. Ich versuchte das Problem zu lösen, indem ich eine Zeitlang mit der Nahrung herumexperimentierte, ihn öfter bewegte und so weiter. Eine von Brownies Lieblingsübungen war es, in einem Korral auf eine Rinderherde zuzulaufen und die Tiere in alle Richtungen zu zerstreuen. Bei Ranchpferd-Wettbewerben gehörte diese Aufgabe zum unabdingbaren Repertoire. Das Cutting-Pferd muß einen einzelnen Stier aussondern und dafür sorgen, dass er sich nicht wieder der Herde anschließt; die Aufgabe entspricht also der eines Schäferhunds. Auch die besondere Vorliebe des Cutting-Pferds für diese Übung erinnert an den Schäferhund. Pferde besitzen in der Tat einen Canidenzahn, für dessen genauen Zweck man meines Wissens nie eine plausible Erklärung gefunden hat. Meine Theorie ist die, dass dieser »Hundezahn« mit dem »Raubtierinstinkt« zusammenhängt, der beim Cutting-Pferd angesprochen wird, wenn man von ihm verlangt, einen Stier aus der Herde auszusondern. 142
Wie dem auch sei, Brownie liebte es jedenfalls, Stiere zu jagen und in alle Winde zu zerstreuen. Er benahm sich dabei wie ein Welpe, der hinter Vögeln herjagt. Als ich jedoch diesen Lieblingssport in seinem Trainingsprogramm etwas stärker berücksichtigte, schien sich seine Apathie nicht zu legen, sondern sich sogar eher noch zu verschlimmern. Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen. Die Erkenntnis kam schlagartig: Brownie war meiner überdrüssig. Er langweilte sich. Er brauchte Urlaub. Ein junger Mensch, der so getrieben ist, wie ich es damals war, wird seine Pferde fast immer überfordern. Trotz aller Aufmerksamkeit und Zuwendung, die ich Brownie entgegenbrachte, überforderte ich ihn, und er gab nicht mehr sein Bestes. Ich hatte sein Leben zu sehr in den Dienst meines eigenen Lebens gestellt und meine ehrgeizigen Ziele mit den seinen verquickt. Ich war mir sicher, dass ich mich nicht täuschte. Das Problem lag nur darin, dass zu dem Zeitpunkt, da mir diese Erleuchtung kam, das größte Turnier bevorstand, das Salinas im Jahr 1952 erleben sollte. Es waren bis dahin nur noch ein paar Wochen. An Brownie und mich stellte dieser Anlaß höchste Anforderungen, denn die Konkurrenz war sehr stark. Sollten wir uns drücken? Sollten wir alles aufgeben, wofür wir so lange gearbeitet hatten? Ich konnte es nicht fassen, dass wir auf einmal in einem solchen Dilemma steckten. Mehr denn je wünschte ich in jenem Augenblick, wir sprächen die gleiche Sprache. Ich hätte dann schon vor Monaten erfahren, was Brownie bedrückte, und wir hätten sicher eine gemeinsame Lösung gefunden. Statt dessen hatte ich im dunkeln herumgestochert und mit der »Versuch-und-Irrtum«-Methode ewig gebraucht, bis ich die Antwort gefunden hatte. Brownies Box lag hinter einer Trennwand, neben zahlreichen anderen Pferdeboxen, die beiderseits die gesamte Länge des Stallgebäudes einnahmen. Ich stützte die Ellenbogen auf die Barriere und führte ein Gespräch mit ihm. Er stand unmittelbar vor mir, und ich richtete meine Worte direkt an ihn. Ich schlug ihm eine Vereinbarung vor. »Brownie«, sagte ich, »von Montag bis Freitag werde ich alles für dich tun. Ich werde dich von Montag bis Freitag jeden Tag füttern und bewegen und dich weder stark beanspruchen noch nervös machen. Von Montag bis Freitag 143
kannst du tun und lassen, was du willst. Kannst du mir dafür am Samstag und Sonntag alles geben, was in dir steckt?« Ich wusste, dass er mich nicht verstehen konnte. Doch im Bewußtsein meiner noch frischen Erfahrungen aus Nevada versprach ich ihm, dass ich mein Leben der Erforschung seiner Sprache widmen wollte. Es war ein Versprechen, das ich sowohl ihm als auch mir selbst gab. Durch die Konversation mit Brownie setzte ich mir selbst ein Ziel. Von da an wusste ich, worauf ich meine Ambitionen konzentrieren musste und welchen Weg ich in meinem Leben einzuschlagen hatte. Brownie gewann auf dem Turnier in Salinas alles, was er gewinnen konnte. Er gab mir hundert Prozent. Es war, als hätte er mich verstanden. In jenen Jahren reiste ich nach wie vor Sommer für Sommer mit dem Eisenbahnwaggon durchs Land, begleitet von Miss Parsons, einem Stallknecht, Brownie und bis zu acht weiteren bestens ausgebildeten Pferden. Miss Parsons hatte mich bereits in Fächern wie Mathematik und Grammatik unterrichtet. Sie hatte auch großen Wert darauf gelegt, dass ich begriff, wie man im Katalog einer Bibliothek die Bücher findet, die man sucht - damals ein grauenvolles Thema für mich. Es gab jedoch kein Entrinnen. Sie verfolgte ihr Ziel mit der gleichen Beharrlichkeit, mit der sie versuchte, den Waggon mäusefrei und die Staubschicht auf einem vertretbaren Niveau zu halten. Würde ich ihr heute begegnen, stünde ich vor der unerfreulichen Aufgabe, ihr mitteilen zu müssen, dass ich nie in meinem Leben gebeten worden bin, eine größere Bibliothek zu gründen oder zu leiten. Der Stallknecht kümmerte sich während der Fahrt um die Pferde oder schlief. Und wenn er sich, was oft genug vorkam, nach menschlicher Gesellschaft sehnte, kletterte er aufs Waggondach, marschierte oben auf dem Zug bis zum Dienstwagen an dessen Ende, wo sich die Eisenbahner aufhielten, und verbrachte seine freie Zeit mit ihnen. Die Shows, die wir besuchten, waren immer sehr hektisch und mit extrem viel Arbeit verbunden. Mein Vater hatte einen Mann eingestellt, der vorab am Zielort den Transport vom Bahnhof zum Showgelände organisierte und feststellte, wo wir unseren Proviant aufstok144
ken konnten. Vor allem aber bemühte er sich, so viele Eintrittskarten wie möglich für unsere »Beratungsstunde« zu verkaufen, die ich nach den Veranstaltungen abhielt, oftmals am Montagabend. Der Mann, der vorausgeschickt wurde (und den ich nur selten zu Gesicht bekam), suchte auch den Ort aus, an dem die Beratung stattfand. Oft wurden die Eintrittskarten an Clubs und Schulen verkauft. Die Stunde stand unter dem Motto: »Monty kann euch zeigen, wie man so erfolgreich wird wie er.« Im nachhinein ist mir klar, dass mein Vater auf die Idee mit der Beratungsstunde kam, um die hohen Kosten auszugleichen, die die Fahrt mit dem Eisenbahnwaggon quer durchs Land, mit so vielen Pferden und zwei festangestellten Begleitern verursachte. Die Preisgelder allein reichten nicht aus. Wir trafen beispielsweise an einem Donnerstag in einem Städtchen ein und ließen den Waggon auf einem Nebengleis stehen. Vor Veranstaltungsbeginn führte ich die erforderlichen Proberitte durch, um für das Turnier am Samstag und Sonntag gerüstet zu sein, bei dem ich dann normalerweise alle Preise abräumte, die es gab. Wie sollte es auch anders sein? Ich hatte ja nicht nur Brownie, sondern mir standen noch acht weitere perfekt ausgebildete Pferde zur Verfügung, mit denen ich die restlichen Preise einsammeln konnte. Ich war ein Profi mit jahrelanger Erfahrung. Die American Horse Shows Association erkannte mich als Profi an, ließ mich aber auch bei Amateurwettbewerben meiner Altersklasse starten. Außerdem trat ich gegen Jungen an, die während des Sommers vielleicht zweioder dreimal an Reitveranstaltungen teilnahmen und sonst nur an den Wochenenden ritten. Für sie war die Reiterei ein reines Freizeitvergnügen, das sie nicht zum Beruf machen wollten. In jenen Jahren war ich also in gewisser Weise eine Ausnahmeerscheinung im Turniergeschäft, und dies war der Grund, warum sich die von meinem Vater organisierten »Beratungsstunden« lohnten, von denen sich das begeisterte Publikum einen Einblick in mein Erfolgsgeheimnis erhoffte. Wer bereits Tickets besaß, erschien oft mit seinen Pferden im Anhänger. Andere kamen ohne Pferde und wollten einfach nur zuschauen. Miss Parsons nahm das Eintrittsgeld in Empfang und zahlte unsere Einnahmen gleich am Ort bei einer Bank ein. Die Abrechnungen bewahrte sie in einer Stahlschatulle auf, um nach unserer Rück145
kehr mit meinem Vater eingehende Gespräche darüber zu führen, zu denen ich jedoch nie zugelassen wurde. Irgendwann nach dem Ende der jeweiligen Veranstaltung sah ich mich also einer ganzen Reihe junger Leute gegenüber, die alle etwas von mir wissen wollten. Ich hatte Brownie parat, so dass sie den berühmten vielfachen Champion bewundern konnten. Ich ging von einem zum anderen, hörte jedem aufmerksam zu und bemühte mich, alle Fragen nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten. Wenn ich zu Fragen der Ausrüstung, Arbeitsethik und Ausbildung Stellung nahm, kam die Stimme eines Erwachsenen aus dem Körper eines Halbwüchsigen. Ich sah mir die Pferde an und gab den Besitzern Empfehlungen, wie sie in Zukunft mit ihnen umgehen sollten. Ich lernte, meine Stimme nach vorn zu bringen und deutlich zu sprechen. Ich nahm jeden Fragesteller ernst und war mir meiner Verantwortung voll bewußt — schließlich hatten die Leute alle Eintritt bezahlt und Anspruch auf meine volle Aufmerksamkeit. Ich wusste natürlich, während ich mich von einem Ratsuchenden zum anderen vorarbeitete, dass keiner von ihnen jemals sechs bis sieben Stunden pro Tag auf das Reiten verwenden würde. Auch hatten sie keine Eltern, die die Begeisterung und Hingabe an ein einziges großes Ziel teilten. Meine Ratschläge konnten daher auch niemanden in einen zweiten Monty Roberts verwandeln. In diesem Sinne konnte der Anspruch der Beratungsstunde — anderen jungen Menschen die Chance zu geben, so erfolgreich zu werden wie ich - nie erfüllt werden. Manchmal taten mir die anderen leid, doch ebensooft überkam mich Selbstmitleid. Ich konnte mein Leben in jenen Sommermonaten mit dem junger Wanderprediger vergleichen, die übers Land zogen und Gottes Wort verkündeten. Es war in mancher Hinsicht eine recht schwierige Existenz. Ich war ein junger Mensch, der im Grunde nie die Chance bekommen hatte, Kind zu sein. Ich war von allen anderen getrennt und spürte diese Isolation gelegentlich auch. Ich merkte, dass ich ganz andere Wertvorstellungen hatte als meine Altersgenossen. So hatte ich zum Beispiel noch nie ein Spielwarengeschäft von innen gesehen — was mir freilich erst viele Jahre später auffiel, als ich mitbekam, mit welcher Selbstverständlichkeit Kinder in manchen Phasen ihrer Ent146
wicklung in solche Läden gehen, auf eine Modelleisenbahn oder eine Barbiepuppe deuten und fragen: »Kann ich das haben?« Und da mein Weltbild so stark auf Pferde fixiert war, lag es nahe, dass ich mir bald einbildete, ich sei besser als alle anderen und besäße Eigenschaften, die anderen fehlten. Immerhin war ich ein Jungstar im nordamerikanischen ShowRiding-Geschäft. Ich beteiligte mich erfolgreich an Profiwettbewerben, vor allem in der Kategorie Westernreiten. Außerdem hatte ich heimlich, hinter dem Rücken meines Vaters, damit begonnen, die stille Sprache »Equus« zu untersuchen. Ich konnte es gar nicht abwarten, endlich von meinem Vater befreit zu sein und nur noch nach meinen eigenen Methoden zu arbeiten, von denen ich überzeugt war, dass ihnen weltweit Erfolg beschieden sein würde. Es gab für meine Arroganz auf diesem Gebiet also eine gewisse Berechtigung. Dafür, dass ich nicht abhob, sorgte glücklicherweise Miss Parsons. Sie war es auch, die diesen Reisezirkus und unsere vielfältigen Aktivitäten in ein großartiges Abenteuer und ein Bildungserlebnis verwandelte. Sie machte mir klar, dass ich nur deshalb schon in jungen Jahren so erfolgreich war, weil ich soviel Arbeit und Zeit investiert hatte Arbeitsstunden, die anderen Jungen meines Alters einfach nicht zur Verfügung gestanden hatten. Ich wusste also bereits damals, dass meine Erfolge das Ergebnis jahrelanger harter Arbeit in Theorie und Praxis waren. Mit irgendwelchen mystischen Eigenschaften, die mir andere manchmal andichten, hatten sie nicht das geringste zu tun. Mit siebzehn Jahren war ich aufgrund meiner Lebenserfahrung und Ausbildung eher schon ein Twen, und dies trug dazu bei, dass das Verhältnis zwischen mir und meinem Vater zunehmend schwieriger wurde. An der Schwelle zum Mannsein fand ich, dass ich bald flügge sein würde und meine Flügel allmählich erproben musste. Ich erinnere mich an eine Serie von Diskussionen mit meinem Vater. Immer wieder bat ich ihn, ob ich nicht endlich einmal Pferde nach meiner Methode zureiten dürfe. Er fragte dann jedesmal, was denn an seiner Methode so falsch sei. Er sei schließlich ganz gut damit gefahren. Wozu also etwas ändern? Er wollte mir seine Methoden aufoktroyieren, und es kam ihm auch nicht ein einziges Mal in den Sinn, dass in mir das Potential steckte, etwas anderes zu tun als das, 147
was er mir beigebracht hatte. Schon der Gedanke an eine Abweichung versetzte ihn in Rage. Ich wollte auch American Football spielen und mich einer Ringermannschaft anschließen. Er ließ weder das eine noch das andere zu; ich hätte ihn ebensogut bitten können, mich zum Mond fliegen zu lassen. Alles, was mich dem Leben, das er mir zugedacht hatte, entfremdete, war für ihn völlig undenkbar. Ihm verdankte ich, dass ich lebte und atmete, also konnte er fortan auch über jeden meiner Atemzüge bestimmen. So jedenfalls argumentierte er. Ich fragte ihn: »Vielleicht könntest du etwas von dem Geld abheben, das ich damals bei den Filmaufnahmen verdient habe, damit ich mir ein paar neue Sachen für meine Ausrüstung kaufen kann?« »Welches Geld? Das hast du doch längst aufgebraucht.« »Okay, und wie steht es mit dem Geld für die letzten Beratungsstunden?« Er antwortete mit einer Gegenfrage: »Wer hat denn deine Erziehung und Ausbildung bezahlt? Wer für Unterkunft und Verpflegung gesorgt?« »Du.« Er wurde noch deutlicher: »Ich als dein Vater bin für alles, was du bisher getan hast, verantwortlich. Du stehst in meiner Schuld — und nicht ich in deiner.« So, wie er die Dinge sah, durfte ich nie auch nur einen Schritt von der Route abweichen, die er vorgegeben hatte. Ich sollte dort weitermachen, wo er angefangen hatte. Ich würde eines Tages die Ernte einfahren von dem, was wir gemeinsam gesät hatten; also kam es überhaupt nicht in Frage, dass ich Geld aus dem Geschäft nahm, um etwas anderes damit anzufangen. Mit meiner persönlichen Einstellung war das unvereinbar: Ich wollte nie denselben Schatten werfen wie er, nie nur einfach eine Verlängerung seiner Arbeit sein. Ich wollte meinen eigenen Weg finden. Schließlich gab ich es auf, mit ihm darüber zu reden, und vertraute meine Traume nur noch Brownie an. »Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen«, sagte ich zu ihm. »Wir werden uns schon noch von seiner Fuchtel befreien. Wart's ab. Wir werden uns ein eigenes Leben aufbauen.« Ich war gerade im Haus und unterhielt mich mit meiner Mutter, als Vater und ich das nächste Mal aneinandergerieten. 148
»Weißt du, Ma, bei der Arbeit mit den Mustangs habe ich in den letzten Jahren wirklich viel gelernt.« »Zum Beispiel?« wollte sie wissen. »Was ganz Wichtiges. Ich weiß zum Beispiel jetzt — und zwar hundertprozentig -, dass niemand mehr ein junges Pferd aussacken muß. Du kannst dir diese ganze Prozedur sparen. Ich mache es anders. Ich schlage die Pferde dabei nicht, und ich binde ihnen nicht einmal einen Führstrick um, bevor ich sie reite.« »Na, das klingt ja nach einer wesentlich freundlicheren Methode ...« »Ist es auch, Ma, ich schwör's dir ...« Genau in diesem Augenblick nahm ich eine Bewegung wahr. Ich drehte mich um und erblickte meinen Vater. Er starrte mich von jenseits der Türschwelle an, und an seiner Miene konnte ich ablesen, dass er mitbekommen hatte, worum es in dem Gespräch zwischen mir und meiner Mutter ging. Mit hartem, unversöhnlichem Blick kam er auf mich zu. Ich hatte das Gefühl, als rönne alles Blut aus meinem Körper in meinen Stiefeln zusammen. Ich wusste, was dieser Blick bedeutete. Mit wutgerötetem Gesicht pflanzte er sich vor uns auf. Als er mich anbrüllte, traten die Adern an seinem Hals hervor: »Ich will von diesem Geschwätz nie wieder etwas hören!« »Dad...« Seine Stimme überschlug sich. Eine Hand meines Vaters ballte sich zur Faust, die andere fuhr an meine Brust: »Du undankbarer Kerl!« »Ich bin nicht undankbar.« »Du bist viel zu dämlich, als dass du auch nur einen Handstreich ohne meine Hilfe zustande bringen würdest!« Ich schluckte heftig, weil ich wusste, was jetzt kam. Doch da mischte sich meine Mutter ein: »Marvin, bitte ...« »Du verdankst mir alles!« Mit diesen Worten hob er die Faust und schlug mir ins Gesicht. Der Hieb traf meinen Unterkiefer mit voller Wucht. Ich empfand einen mir nur allzu bekannten Schock und registrierte im selben Moment, dass meine Mutter einen kurzen Schrei ausgestoßen hatte. Insgeheim dankte ich Gott dafür, dass sie zugegen war, denn in ihrer Anwesenheit würde Vater nicht wagen, so weit zu gehen wie sonst. 149
Als er sich von neuem auf mich stürzte, hörte ich Mutter rufen: »Marvin, hör sofort auf!« Sie packte ihn am Arm. Ich hielt meinen Unterkiefer und wartete ab, was nun geschah. Der Blick, mit dem Mutter meinen Vater anstarrte, wirkte, als wollte sie ihn unverzüglich in einen Stein verwandeln. »Hör ihm wenigstens einmal zu!« sagte sie. »Sehen wir doch mal, was er zu sagen hat. Monty ist siebzehn. Er ist kein Kind mehr.« Ich konnte sehen, wie sich der Zorn meines Vaters allmählich legte. »Zuhören?« fragte er nicht ohne Sarkasmus, als ob alles, was von mir kam, ohnehin nichts taugte. Da er aber in Mutters Anwesenheit nicht so mit mir umgehen konnte, wie er es gewohnt war, hielt er schließlich doch den Mund und gab mir eine Chance. Wir gingen ins Wohnzimmer. Ich weiß noch, dass er sich auf die Couch setzte, während Mutter in meiner Nähe stehenblieb, um mich zu schützen. Irgend etwas klickte in meinem Kopf. Ich erkannte die Gunst der Stunde. Was folgte, war nicht nur ein bloßes Gespräch; vielmehr machte ich meinem Vater klar, wie es weitergehen würde. »Ich möchte selbständig werden. Ich schätze, es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die mir ihre Pferde zur Ausbildung überlassen werden - und das wird dann nach meinen Vorstellungen geschehen. Ich will beweisen, dass ich es kann. Ich bitte dich um nichts Außergewöhnliches — nur um etwas, was auch jeder andere Bürger von Salinas tun kann. Ich möchte dich fragen, ob ich hier auf dem Rodeogelände Einrichtungen mieten und Pferde trainieren kann, so wie Ray Hackworth und all die anderen.« Eine Zeitlang herrschte Stille. Mein Vater musste erst verdauen, was er da gehört hatte. Ein ungläubiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. Dann sagte er: »Einverstanden! Tu das! Ich vermiete dir Stall Nummer acht, selbstverständlich! Und dann werden wir ja sehen, wie du zurechtkommst.« Er erhob sich und deutete mit dem Finger auf mich. »Und weil du so mir nichts, dir nichts so verdammt erwachsen bist, kannst du uns auch für Unterkunft und Verpflegung bezahlen. Du kannst dir deine Klamotten selbst kaufen und dir ein eigenes Fahrzeug zulegen.« Und zum Schluss setzte er noch eins drauf: »Die Miete für dein Zimmer hier im Haus beträgt fünfunddreißig Dollar im Monat!« Obwohl er mir sagte, was ich hören wollte, prophezeite er mir de 150
facto mein Scheitern. In der Church Street hatten wir fünfunddreißig Dollar monatlich für ein ganzes Haus bezahlt - wahrscheinlich war ihm deshalb diese Summe eingefallen. Er wollte mir zeigen, mit welcher Größenordnung von Zahlungen er selbst zurechtkommen musste. Ich akzeptierte sein Angebot bereitwillig. Vater nannte mir noch die Einzelheiten und sagte zu meiner Mutter, sie solle sich um den Eingang der Zahlungen kümmern. Er erklärte ihr auch, an welchen Tagen die Miete, das Geld fürs Essen und dergleichen mehr fällig waren. Ich nahm ihn also beim Wort, was ihn einigermaßen zu überraschen schien. Ich mietete Stall Nummer acht und eröffnete mein eigenes Geschäft als Trainer von Turnier- und Cutting-Pferden. Ich war jetzt Herr meines eigenen Schicksals und machte daraus keinen Hehl. Ich beschränkte mich nicht mehr nur auf Rodeos, sondern schloß mich dem American-Football-Team meiner Schule an, wobei es mir gelang, den vierjährigen Trainingsvorsprung meiner Kameraden wettzumachen. Auch als Ringer wurde ich aktiv. Ich begann, meine Flügel auszubreiten. Gewiß, ich musste mir jetzt meinen eigenen Lebensunterhalt verdienen; aber was sollte da schon schiefgehen? Immerhin hatte ich als Reiter und Pferdekenner eine Weltmeisterschaft gewonnen. Es gab bestimmt Leute, die mir ihre Pferde zur Ausbildung geben und mir ein ordentliches Einkommen verschaffen würden. Ich hielt das alles für ziemlich problemlos. Die Realität holte mich rasch ein: Es gab am Anfang nicht einmal annähernd genug Arbeit für mich. Hätte meine Mutter mich nicht heimlich unterstützt, indem sie ab und zu vergaß, die Monatsmiete zu kassieren, und mir nicht immer wieder mal, wenn sie sah, dass ich es gerade dringend nötig hatte, ein bißchen Bargeld zugesteckt - ich wäre mit Sicherheit schnell bankrott gewesen und hätte mir einen Job im Straßenbau oder dergleichen suchen müssen. Sie schwindelte, was das Zeug hielt. Es kam sogar vor, dass sie für meinen Vater Hosen in meiner Größe kaufte, die sie dann mir überließ. Hätte sie die Bilanzen nicht in dieser Weise geschönt, so hätte mein Vater am Ende recht behalten. Doch dank ihrer Unterstützung war ich zum erstenmal in meinem Leben seinem Einfluß entzogen. Das war immerhin ein Anfang. 151
Brownie stand mit mir im Sattel in einer Ecke des Korrals. Auf der gegenüberliegenden Seite wartete eine Gruppe Stiere. Während Brownie auf der Stelle tänzelte und endlich loslegen wollte - er wusste, dass es jeden Augenblick soweit war -, zählte ich die Sekunden und paßte den geeigneten Moment zum Startkommando ab. Ich schnalzte mit der Zunge, und Brownie preschte in gewohnter Weise auf und davon. Er war schon einige Male auf die Rinder zugesprengt, weshalb diese wussten, was sie erwartete, und bereits von sich aus auseinanderliefen wie die Kugeln im Poolbillard beim Anstoß. Mit gesenktem Kopf holte Brownie das letzte Kalb aus der Ecke und scheuchte es von der Umzäunung weg. Das war sein ganz besonderes Talent, und es war immer schwierig, ihn davon abzuhalten. Dann spürte ich von einer Sekunde auf die andere, dass unter mir etwas Furchtbares passierte. Es war, als bestünde eine direkte Verbindung zwischen Brownies und meinem Nervensystem. Ich fühlte den abrupten, schrecklichen Kollaps im gleichen Moment wie er: Brownie torkelte und stürzte zu Boden. Doch das war nicht der Sturz eines Pferdes, das über eine Unebenheit im Boden gestolpert ist. Es war, als habe man ihm den Boden unter den Hufen weggezogen. Als ich mich aufrappelte, wusste ich bereits, dass Brownie tot war. Er war zu still. Nicht ein Muskel zuckte mehr. Eine entsetzliche Traurigkeit überkam mich. Ich konnte mir ein Leben ohne dieses Pferd als Freund und Begleiter nicht vorstellen. Sein Tod war ein schlimmer Verlust für mich, einer der schlimmsten, die ich je hatte erleiden müssen. Lange Zeit stand ich schweigend da und war unfähig, irgend etwas zu tun. In diesen Minuten zogen verschiedene Eindrücke aus Brownies Leben an meinem geistigen Auge vorüber. Ich erinnerte mich an meine erste Begegnung mit ihm - er hatte diese kleine weiße Blesse zwischen den Augen - und hörte seinen Namen. Brownie. Ich sah ihn im bleichen Mondlicht im Hochland von Nevada hinter Oriel stehen; sah ihn im Eisenbahnwaggon, um sein Gleichgewicht bemüht, hin und her schaukeln; sah ihn bei einer der vielen, vielen Siegerehrungen in Ranchpferd-Turnieren nach vorne gehen und seine Trophäen in Empfang nehmen; sah ihn Kälber aus Korralecken herausjagen ... Ich hoffte inständig, dass er meine Entschuldigung im Jahr zuvor verstanden hatte. Unser Verhältnis hatte sich nach dem Turnier in Salinas noch verbessert. Ich hatte ihm danach mehr Freizeit gelassen 152
und ihn auch des öfteren von mir und meinen Sorgen verschont. Wenn wir uns dann wiedersahen, war er frischer gewesen und hatte seinen alten Enthusiasmus an den Tag gelegt. Jetzt dachte ich bei mir: Ruhe in Frieden. Es war mein Ernst, genau das wünschte ich ihm. Mr. Fowler ging vor der Klasse auf und ab, während wir Schüler mit gespitzten Bleistiften vor unseren Heften saßen. Mr. Fowler war ein hochgewachsener Mann mit aufrechter Haltung und olivfarbenem Teint. Seine Kleidung war stets makellos. »Ich möchte, dass ihr alle sehr genau darüber nachdenkt«, sagte er und unterstrich seine Ausführungen mit schwingenden Bewegungen seiner schlanken, eleganten Hände. »Es soll wie ein Bild sein, auf dem ihr eure eigenen Zukunftsvorstellungen darstellt. Eine Zukunft, in der all eure Wünsche in Erfüllung gegangen sind.« Eine zaghafte Stimme meldete sich: »Wie weit sollen wir ins Detail gehen, Sir?« »Soweit wie möglich. Es soll ein vollständiges Porträt eurer eigenen Zukunftsvorstellungen sein.« Er blickte uns ruhig an. »Das letzte, was ich von euch verlange, ist vielleicht das wichtigste: Euer Zukunftsbild sollte realistisch sein. Keine verrückten, absonderlichen Pläne, bitte. Auch von euren Hollywood-Träumen möchte ich nichts wissen.« Gelächter brandete auf. Wir lebten ja immerhin in Kalifornien. Abschließend sagte Mr. Fowler: »Es sollte eine ausgewogene und genaue Einschätzung jener Situation sein, in der ich euch nach menschlichem Ermessen vorfinden werde, wenn ihr Mitte Dreißig seid und ich euch einen Besuch abstatten sollte. Das Thema des Aufsatzes lautet: >Meine Lebensziele<. Abgabetermin ist in drei Wochen.« Ich ging in die letzte High-School-Klasse. Der Aufsatz war eine der ersten umfangreichen Aufgaben, die uns gestellt wurden. Für mich war es ein leichter Einstieg, denn ich hatte ja genaue Pläne für mein Leben. Im Grunde war es nichts weiter als die Fortsetzung einer nützlichen Übung, derer ich mich schon seit Jahren befleißigte. Pläne für Ställe und Trainingseinrichtungen zeichnete ich schon seit meinem neunten Lebensjahr. Bei meinem Thema brauchte ich mir auch wegen Mr. Fowlers letzter Instruktion keine Gedanken zu machen. Ich träumte nicht von 153
Hollywood, obwohl ich inzwischen in zahllosen Filmen mitgespielt hatte. Also ging ich unverdrossen ans Werk und lieferte eine, wie ich glaubte, durchaus akzeptable Arbeit ab - die Planung für ein Vollblutgestüt samt den dazugehörigen schriftlichen Ausführungen. Fünf Tage später erhielt ich meine Arbeit zurück - und eine große rote »5« prangte auf der Titelseite. Außerdem standen dort die traditionellen Worte: Melde dich bei mir. Für mich war das ein Schock; schließlich war ich gute Noten gewohnt. Gleich nach dem Unterricht suchte ich Mr. Fowler auf, legte ihm meine Hausarbeit noch einmal vor und fragte ihn, was ich denn falsch gemacht hätte. Er blätterte die Arbeit durch und sagte: »Du hast dir doch gemerkt, was ich am Schluss von euch verlangt habe, oder? Dass euer Zukunftsbild realistisch sein soll?« »Ja«, erwiderte ich, »das habe ich mir gemerkt.« »Kennst du das jährliche Durchschnittseinkommen der Amerikaner?« »Nein, leider nicht«, gab ich zu. »Sechstausenddreihundert Dollar!« Ich sagte nichts, konnte mir inzwischen aber schon denken, worauf er hinauswollte. »Dann sage mir einmal, wie viele Jahre du arbeiten müßtest, um das Geld zu verdienen, das du zur Realisierung deines Plans benötigst.« »Ich weiß es nicht.« Er pochte mit dem Zeigefinger auf die rote »5« und sagte: »Das ist ein wilder, unerreichbarer Traum. Deshalb habe ich dir diese schlechte Note gegeben. Du hast dich nicht an die Vorgaben gehalten.« Er gab mir die Arbeit zurück. »Ich kenne deine Familie und deine Herkunft. Es ist schlicht und einfach unmöglich. Nimm die Arbeit jetzt mit nach Hause, denke darüber nach und ändere sie so, dass die Perspektiven stimmen. Dann kannst du sie mir noch einmal vorlegen. Ich möchte dir keinesfalls aufgrund eines Mißverständnisses unrecht tun.« Es kam mir vor, als hätte mir Mr. Fowler einen Messerstich versetzt, so überrascht war ich von seiner Reaktion. Urplötzlich öffnete sich mir der Blick auf die finanziellen Voraussetzungen meines Plans, und ich sah mich zum erstenmal mit der Möglichkeit konfrontiert, dass mein Traum nicht in Erfüllung ging. 154
Die nächsten zwei, drei Tage war ich sehr niedergeschlagen. Ich war zu Hause und zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Ich wusste nicht, wie ich meine Arbeit umschreiben sollte. Meine Mutter merkte, dass ich Sorgen hatte. Sie erkundigte sich nach den Ursachen, und ich vertraute mich ihr an. Sie las meine Arbeit durch. Dann sagte sie zu mir: »Also wenn das wirklich dein Lebenstraum ist, dann kannst du ihn meiner Meinung nach auch in die Tat umsetzen. Du solltest durchaus erwägen, die Arbeit ohne jede Änderung noch einmal abzuliefern. Wenn du dein Ziel inzwischen selbst für unerreichbar hältst, dann kannst du sie ja entsprechend umschreiben. Aber ich glaube nicht, dass es zu den Aufgaben eines Lehrers gehört, deinen Hoffnungen und Träumen Grenzen zu setzen.« Ich weiß noch, dass mir nach diesen Worten ein Stein vom Herzen fiel. Wieder in der Schule, gab ich die Arbeit unverändert an Mr. Fowler zurück. Ich hatte lediglich einen Kommentar angefügt, in dem ich schrieb, dass ich zwar seine persönliche Meinung, mein Ziel sei unerreichbar, akzeptiere, dass sich aber meine gegenteilige Ansicht dadurch nicht ändere und dass er nach meiner Überzeugung nicht das Recht habe, meine Vorstellungen auf einem bestimmten Niveau festzunageln. Die Benotung überließe ich ihm. Die Abschlussnoten bekamen wir per Post. In dem Fach, das Mr. Fowler unterrichtete, bekam ich eine »1«. Ich habe nie herausgefunden, wie er die betreffende Arbeit letztlich bewertet hat - doch mit einer »5« in der Hausarbeit wäre eine »1« im Abschlusszeugnis nicht möglich gewesen. Ich hatte damals noch keine Ahnung, dass ich sehr viel später in meinem Leben, nämlich 1987, noch einmal mit Mr. Lyman Fowler in Kontakt kommen würde - allerdings unter grundlegend anderen Voraussetzungen. In einer Sommernacht des Jahres 1953 saß ich im Eisenbahnwaggon, der sich auf kurvenreicher Strecke durchs kalifornische Imperial Valley bewegte. Ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt, ohne Brownie zu reisen; der braune Wallach mit dem kleinen weißen Fleck zwischen den Augen war mir noch immer gespenstisch nahe. Zu lange waren wir gemeinsam in diesem ratternden Holzgestell kreuz und 155
quer durch die Weiten Amerikas gefahren, als dass mir dies nicht schmerzlich bewußt gewesen wäre - vor allem in den Nächten. Diesmal war ich jedoch über das Waggondach zum Dienstwagen geklettert, in dem sich die Zugmannschaft aufhielt. Es war nicht mehr viel los. Die Spielkarten waren verschwunden, und niemand aß oder trank etwas. Ich weiß noch, dass ich zum Fenster hinausschaute: Draußen zog die südkalifornische Wüste an uns vorbei, oder jedenfalls das, was man im Mondlicht von ihr erkennen konnte. Da tauchte plötzlich das Bild einer jungen Dame namens Patricia Bürden vor meinem geistigen Auge auf. Es war so klar und deutlich, als hätte ich sie gebeten, sich zu mir zu setzen. Schlagartig wurde mir bewußt, dass sie in meinem Leben noch eine große Rolle spielen würde. Pat Bürden war in der Primary wie in der Secondary School jeweils eine Klasse unter mir gewesen. Ihr Vater besaß eine Firma für Grundbohrungen und Brunnenbau. Andere Verwandte von ihr waren im Pferde- und Rodeogeschäft tätig. Als sie so mir nichts, dir nichts in meine Gedankenwelt spazierte, begann ich darüber nachzugrübeln, was ich tun sollte. Es kam mir gar nicht wie eine eigene Entscheidung vor; vielmehr hatte ich den Eindruck, als zöge irgend jemand anderes die Fäden. Kaum war ich wieder in Salinas, ging ich auf dem Flur unserer Schule auf sie zu und verkündete ihr, dass sie meine »Auserwählte« sei. Sie sah das nicht so und scheuchte mich einfach fort. Später traf sie sich mit Sally und Jim Martins, zwei entfernten Verwandten von mir, mit denen sie befreundet war. Sie erzählte ihnen, dass ich sie Tag für Tag mit Bitten um ein Rendezvous und ständig neuen Vorschlägen für irgendwelche gemeinsamen Unternehmungen belästigte. Sally und Jim schlugen ihr vor, es doch einmal darauf ankommen zu lassen. Einmal könne sie ja mit mir ausgehen. Pat, die nicht der Typ war, eine Herausforderung auszuschlagen, war damit einverstanden. Als ich ihr am nächsten Tag wieder meine üblichen Avancen machte und sie bat, mit mir auszugehen, sagte sie ja. Wir gingen zum Essen und dann ins Kino. Von jenem Tag an sind wir zusammengeblieben - inzwischen seit über vierzig Jahre.
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Im Sommer 1954 sollte in Saunas und Umgebung ein großer Hollywood-Film gedreht werden. Es handelte sich um die Verfilmung des Romans Jenseits von Eden von John Steinbeck, der Anfang des Jahrhunderts in Salinas gelebt hatte. Mit Verwandten Steinbecks war ich zur Schule gegangen. Regie sollte der bekannte Filmemacher Elia Kazan führen. Er hatte für den Film einen jungen Mann aus einer New Yorker Theaterschule engagiert - eine Wahl, gegen die die Produzenten natürlich Bedenken anmeldeten. Sie fürchteten, der junge Schauspieler könnte mit dem plötzlichen Wechsel nach Kalifornien nicht zurechtkommen und sich möglicherweise nicht in die Rolle eines Einwohners von Salinas einfühlen. Unser alter Freund Don Page war erster Regieassistent. Er machte den Vorschlag, ich solle den jungen Schauspieler unter meine Fittiche nehmen, ihm die Gegend zeigen und ihm dabei helfen, die Atmosphäre dieses Teils der Welt in sich aufzunehmen. Ich hielt überhaupt nichts von dieser Idee. Was sollte ich mit einem Schauspielschüler als Klotz am Bein? Aber Mr. Page stellte mir zweitausendfünfhundert Dollar Honorar für die dreimonatige Betreuung in Aussicht, zuzüglich einer Verpflegungspauschale. Als ich das hörte, war ich mit ganzem Herzen dabei und fand seinen Plan sehr vernünftig. »Ich möchte also, dass er mit dem Leben, dem Land und den Leuten von Salinas vertraut wird.« »Alles klar. Ich zeig's ihm.« »Darf ich noch einen Schritt weitergehen?« fuhr Mr. Page fort. »Kann er vielleicht auch bei dir wohnen?« Auch damit war ich einverstanden und fragte: »Wie heißt denn dieser Schauspieler?« »James Dean«, erwiderte Mr. Page. So kam ich also zu dem Job, diesem jungen, unbekannten Filmschauspieler unseren Way of life nahezubringen. In Jeans, T-Shirt und Lederjacke sowie mit einem kleinen Koffer in der Hand traf er auf dem Rodeogelände ein. Er war ungekämmt, schlampig, naiv, respektlos, ungezügelt und selbstsicher. James Dean war dreiundzwanzig Jahre alt, ich war zwanzig. Doch mir kam es eher vor, als wäre es umgekehrt. Für sein Alter wirkte er jung. 157
Ich nahm sein Gepäck, zeigte ihm das Doppelstockbett in meinem Zimmer und überließ ihm das obere Lager. Dann fielen mir seine Stiefel auf. So stellten sich Städter Cowboystiefel vor. Damit man sie auch richtig sehen konnte, waren die Jeans drei, vier Zentimeter kürzer als normal. Grauenhaft! Zunächst verkniff ich mir jeden Kommentar, doch dann hielt ich es nicht länger aus. Da wir von Mr. Page auch Kleidergeld für ihn bekommen hatten, riet ich ihm, mit mir zur Sattlerei Garcia zu gehen und sich anständige Stiefel zu besorgen. Jim trug es mit Fassung, obwohl er lieber bei seinen alten Stiefeln geblieben wäre. »Wenn du sie am Ende deines Aufenthalts hier nicht verbrennst, hab' ich meinen Job verfehlt«, sagte ich. Nachdem er sich binnen kurzer Zeit an seine neue Fußbekleidung gewöhnt hatte, gestand er mir, dass er die alten Stiefel weggeworfen hatte. Es war der Wendepunkt in unserem Verhältnis zueinander. Danach entwickelte sich eine feste Freundschaft. Er saß oft auf dem Zaun und sah Pat und mir beim Reiten zu, sei es bei Veranstaltungen oder beim Training. Wir gingen gemeinsam in Mac's Cafe und aßen dort zu Mittag. Wir stellten ihn all unseren Freunden und Bekannten vor. Jim verdrückte sich in irgendwelche Ecken, saß zusammengekauert da und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Ich gab ihm den Rat, sich gerade zu halten, mehr aus sich herauszugehen und nicht immer gleich wieder wegzuschleichen, wenn er wie ein Einheimischer Steinbeckscher Prägung aussehen wollte. »Yeah, yeah«, erwiderte Jim, nicht sonderlich interessiert, »ich mach' das schon.« Was ihn interessierte, war etwas anderes: »Kannst du mir zeigen, wie man mit diesem Lasso umgeht?« fragte er mich. Bis drei Uhr morgens saßen wir beieinander, und ich erklärte ihm, wie man mit dem Lasso einen »Schmetterling« zustande bringt. Darunter versteht man ein Muster, das bei einer bestimmten Drehbewegung entsteht. Jim glaubte, wenn er den »Schmetterling« meistere, würde ihm dies in seinem neuen Umfeld gesellschaftliche Anerkennung verschaffen - und er hatte recht. Überall zeigte er seinen neuen Trick und freute sich an dem zustimmenden Nicken der Umstehenden. Auch wollte er gern ein Paar Chaparajos haben, die ledernen 158
Überziehhosen der Cowboys. Oft musste ich feststellen, dass er sich meine geliehen hatte; ich sah es, wenn wir gemeinsam ausgingen. Das gehörte sich nicht, weshalb ich ihm ein altes Paar meines Vaters gab, von denen er sehr angetan war. Jim verliebte sich in Pat und schlich ihr wie ein junger Hund hinterher. Weil er aber nie in die Offensive ging, stellte er keine Bedrohung dar. Er sah sie bloß dauernd an und folgte ihr auf Schritt und Tritt. Nach Ablauf der drei Monate luden mich Mr. Page und Elia Kazan zu einer Besprechung ein. Die Dreharbeiten sollten in Kürze beginnen, und die Herren wollten wissen, wie sich ihr junger Kandidat machte. Ich berichtete ihnen, dass ich den jungen Burschen richtig liebgewonnen hätte. Er war für mich wie ein Bruder. Sein Charakter und alles, was sonst noch zu ihm gehörte, beeindruckten mich. Ich musste allerdings auch hinzufügen, dass ich ihn mir nie als Schauspieler vorstellen könnte. Von meiner Filmarbeit her kannte ich ja eine ganze Menge Schauspieler, und Jim war alles andere als ein John Wayne oder ein Roddy McDowall. Er war nicht gesellig; er war kein unterhaltsamer Gesprächspartner; er rief weder Begeisterung noch Anteilnahme hervor. Ich hatte einfach ganz andere Vorstellungen von einem Schauspieler. Die Herren bedankten sich für meinen Bericht. Ich ging und bereitete mich auf meine eigenen Aufgaben bei den Dreharbeiten vor. Ich war als wrangler vorgesehen, eine Art Aufseher über die Filmpferde, die mein Vater der Filmgesellschaft für die Aufnahmen zur Verfügung stellte. Außerdem sollte ich als Stuntman und Komparse auftreten. Dann trafen die Filmleute ein. Jim zog aus meinem Schlafzimmer aus und lebte fortan bei ihnen im Hotel. Trotzdem waren wir Abend für Abend gemeinsam unterwegs. Im wesentlichen bildeten wir ein Trio: Pat, Jim und ich. Die Dreharbeiten begannen. Zwei Tage später fragten mich Elia Kazan und Mr. Page, ob ich mir nicht die sogenannten dailies ansehen wolle - Vorführungen der Aufnahmen vom Vortag zum Zweck einer kritischen Überprüfung. Sie wollten, dass ich das Ambiente im Auge behielt und darauf achtete, dass auch wirklich alles authentisch aussah. 159
Ich hatte einen gewissen Bammel vor diesen Sitzungen, weil ich ziemlich sicher war, dass man an Jims schauspielerischen Leistungen kein gutes Haar lassen würde. Ich stellte mir die Szene lebhaft vor: »Wie können wir diesen Streifen noch retten?« würde es heißen. Und ich würde mir die Bemerkung »Ich habe es Ihnen ja gesagt« verkneifen müssen. Ich nahm aber doch an den Vorführungen teil. Als ich dann Jim überlebensgroß auf der Leinwand sah, dachte ich bei mir, ich halte doch wohl besser den Mund. Ich beschränkte mich auf meine Aufgabe als Ambienteberater und erwähnte Jims schauspielerische Leistungen mit keinem Wort mehr. Von der ersten Szene an war klar, dass er eine magische Ausstrahlungskraft besaß, wie man sie bisher noch nicht gesehen hatte. Er elektrisierte einen geradezu. Abends, wenn wir gemeinsam ausgingen, spielte uns Jim manchmal zum Spaß verschiedene Szenen vor - zum Beispiel ein fiktives Telefongespräch mit jemandem, dem er erklärte, er habe einen sensationellen Erfolg gelandet. Er spielte den kommenden HollywoodStar. Er wusste nicht, wohin mit all dem Geld und hatte Schwierigkeiten, sich der Mädchen zu erwehren, die an seine Tür hämmerten, um ihn zu sehen; er wollte alles kaufen, was in seiner Reichweite war; er wollte eine Ranch in der Umgebung von Salinas kaufen, und ich und Pat sollten sie für ihn leiten; er flog aus allen Teilen der Welt ein, je nachdem, wo er gerade drehte. Dann spielte er den Mann am anderen Ende der Leitung und tat so, als wäre der Film ein entsetzlicher Flop. Niemand wollte ihn sehen. Die Studios forderten ihre hundertfünfzigtausend Dollar Honorar zurück; sie wollten die Kleiderzulage zurück; sie kamen und zogen ihm die Stiefel aus ... Keiner von uns wusste damals, welches dieser Szenarien Wirklichkeit werden würde. Der phänomenale Erfolg James Deans ist inzwischen Filmgeschichte. Ich war bei den Dreharbeiten zu ... denn sie wissen nicht, was sie tun und Giganten (mit Elizabeth Taylor und Rock Hudson) dabei. Danach war Jim ein Hollywood-Star und entsprechend reich. Und genauso, wie er es uns damals vorgespielt hatte, wollte er eine Ranch kaufen und Pat und mich als Verwalter engagieren. Es war seine feste Absicht, und wir waren einverstanden. In der Nähe von Salinas stand ein geeignetes Grundstück zum 160
Verkauf. Mr. Pedrazzisen. war gestorben. Wir waren sogar schon einmal draußen gewesen und hatten uns seine Ranch angesehen. Jim wollte an einem Autorennen in Salinas teilnehmen und war mit seinem Mechaniker im Porsche Spyder auf dem Weg zu uns. Er wollte im Haus von Pats Eltern übernachten, und wir wollten die Gelegenheit nutzen, in der Sache mit der Ranch Nägel mit Köpfen zu machen. Wir beide, Pat und ich, hielten unsere Zukunft bereits für gesichert. Die Freundschaft mit diesem jungen Mann hatte unserem Leben eine neue Perspektive gegeben. Es sah vielversprechend aus. Am 30. September 1955 erwarteten wir ihn bei uns. Wir hatten ihn gebeten, von unterwegs aus anzurufen und uns seine ungefähre Ankunftszeit mitzuteilen. Alles sollte fix und fertig sein. Sein Mechaniker hatte unsere Namen und Telefonnummern in seiner Overalltasche. Sie wollten in Kürze anhalten und sich bei uns melden. Wie allgemein bekannt, stieß der Wagen mit einem anderen zusammen. Der andere Fahrer hatte eine Schramme an der Nase. Der Mechaniker kam mit einem Kiefer- und einem Beinbruch davon. James Dean hatte sich das Genick gebrochen und war tot. Der Mechaniker war nach dem Unfall so benommen und traumatisiert, dass er genau das tat, was er vor dem Unfall vorgehabt hatte: Sein erster Anruf galt uns. Mit gebrochenem Kiefer nuschelte er, James Dean sei tot. Es war eine grauenhafte Nachricht, die uns besonders auch deshalb traf, weil wir in unserer Trauer ganz allein waren. Wir kannten Jim erst seit einem Jahr. Wir kannten sonst niemanden von seiner Familie, und seine Angehörigen hatten keine Ahnung von unserer Existenz. Seine Leiche wurde in den Mittleren Westen zurückgebracht. An seiner Beerdigung konnten wir nicht teilnehmen. Das Leben, das wir hatten führen wollen, war uns nun verschlossen. Im gleichen Jahr - 1955 - erhielt ich ein Football-Stipendium für die Cal-Poly (California Polytechnic State University) in San Luis Obispo. Es umfaßte nicht nur die Studiengebühren, sondern auch meine Lebenshaltungskosten. Auch dies war angesichts meiner Erfahrungen keine Überraschung. Ich war allerdings der einzige Studienanfänger, der es sofort zu einem Spitzenplatz im Rodeoteam des College brachte. 161
Im Jahr darauf war meine Football-Karriere zu Ende, weil eine Knieverletzung nicht in der Weise ausheilte, wie es erforderlich gewesen wäre, um weiterzuspielen. Als Ringer blieb ich allerdings noch aktiv. Ich hatte mich zum Militärdienst gemeldet, war aber nach der Musterung, bei der sich herausstellte, dass ich farbenblind war, nicht eingezogen worden. Zum erstenmal war bestätigt worden, was ich bereits seit langem vermutete. Viele Jahre später — ich war bereits einundsechzig - suchte ich einen britischen Spezialisten auf. Er gab mir Kontaktlinsen, mit deren Hilfe ich immerhin eine Ahnung davon bekam, was es bedeutet, Farben sehen zu können. Es war erstaunlich. Mich durchfuhr eine Art Energieschock, der mich in heftigste Erregung versetzte. Kein Wunder, dass normalsichtige Menschen immer so unkonzentriert und nervös sind, dachte ich. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich, wäre ich in der Lage, Farben zu sehen, längst nicht all das hätte leisten können, was ich in meinem Leben geleistet habe. An der Cal-Poly belegte ich die Fächer Biologie (mit Schwerpunkt Psychologie), Tierzucht und Agrarökonomie. Woody Proud, der Besitzer der Proud Ranch in der Nähe der Universität, wollte, dass ich während meines Studiums bei ihm lebte. Er ging davon aus, dass seine Geschäfte von meinem Ruf profitieren würden, und stellte mir daher ein Haus kostenfrei zur Verfügung. Ich musste es allerdings mit zwei anderen Cal-Poly-Studenten teilen, die für die Unterkunft Miete zahlten. Eigentlich war es eher eine Hütte als ein Haus. Kurz zuvor war eine in der Nähe vorbeiführende Fernstraße aufgerissen worden, und Woody Proud hatte einige überzählige Motelhäuschen aufgekauft und auf seinem Grundstück aufstellen lassen. Die Vorteile lagen darin, dass ich meine drei Rodeopferde — Miss Twist, Finito und Hyena - mitnehmen und mir den Besuch des College leisten konnte. Vom ersten Tag an trainierte ich intensiv mit dem College-Rodeoteam. Für die anderen war es eine gute Nachricht, dass ich in allen Disziplinen einsatzfähig war. Wir kamen prächtig miteinander aus. Eines der ersten Rodeos, das ich mit dieser Mannschaft bestritt, fand im Oktober 1955 in Eugene, Oregon, statt. Die Fahrt dorthin führte uns durch menschenleere Berglandschaften. Ich begann mich 162
dafür zu interessieren, wie sich die Pferde über so lange Strecken im Anhänger verhielten und wie sie mit dem Streß des Straßentransports fertig wurden. Ein oder zwei Jahre später untersuchte ich zusammen mit Sheila Varian dieses Problem im Detail. Wir fuhren mit den Pferden über längere Zeiträume auf kurvenreichen Straßen. Dabei benutzten wir einen offenen Laster ohne Trennwände, weil wir davon ausgingen, dass die Pferde - bei genügend Freiraum — am ehesten die für sie bequemste Reisehaltung finden würden. Es zeigte sich, dass sie sich fast zu hundert Prozent weder für die Geradeausstellung noch für die Position mit dem Kopf nach hinten, sondern für eine Stellung im Fünfundvierzig-Grad-Winkel zur Straße entschieden. In dieser Haltung konnten sie am besten auf das Anfahren und Bremsen sowie auf die Fliehkraft in den Kurven reagieren. Als Konsequenz aus unserer Untersuchung brachte ich meinen alten Anhänger in die Werkstatt und ließ die Trennwände alle auf einer Seite verankern, so dass sie hin und her schwingen konnten. Auf diese Weise konnte ich meine Pferde alle im Fünfundvierzig-GradWinkel transportieren. Das war Ende 1960, und mein Anhänger war meines Wissens der erste, der so umgebaut wurde. Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht, bis mir auffiel, dass plötzlich alle Hersteller anfingen, ihre Anhänger entsprechend umzurüsten. Heute werden rund achtzig Prozent aller Turnierpferde quer zur Fahrtrichtung transportiert. Damals, 1955, fuhren wir indessen noch in einem konventionellen Anhängergespann nach Oregon. Die Hinfahrt verlief ohne Zwischenfälle. Auf dem Rückweg wurden wir dann allerdings von einem verfrühten Schneesturm überrascht, der von Nordwesten her über uns hereinbrach. Im Schrittempo krochen wir über das Gebirge im Süden Oregons. Die Straße dort war noch passierbar, und wir waren froh, dass wir überhaupt vorankamen und uns allmählich der Heimat näherten. Ich fuhr mit Don Switzer in einem Pick-up. Im Anhänger hinter uns befanden sich Miss Twist und das Pferd Dons, die beide eine erfolgreiche Rodeoteilnahme hinter sich hatten. Die Heizung im Pick-up lief auf Hochtouren. Langsam, aber stetig kamen wir durch eine Landschaft voran, die sich in eine konturenlose weiße Wüste verwandelte. Nirgendwo waren Häuser oder andere Fahrzeuge zu sehen. 163
Plötzlich hatten wir eine Panne. Am Anhänger war ein Reifen geplatzt. Um uns herum wirbelte der Schnee, der inzwischen schon kniehoch lag. Uns blieb nichts anderes übrig, als die Pferde abzuladen. Don würde allein zur nächsten Ortschaft, Weed, fahren müssen. Wie weit es bis dahin war, wussten wir nicht genau. Wir führten die Pferde rückwärts aus dem Anhänger heraus. Ich winkte Don nach und sah die Hecklichter im Schneesturm verschwinden. Der Pick-up schlingerte nach rechts und links. Miss Twist mochte den Schnee gar nicht und wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Ständig versuchte sie, im Kreis zu laufen, und stellte sich mit der Hinterhand gegen die Windrichtung, um wenigstens ein Minimum an Schutz zu bekommen. Ich überlegte, was zu tun war, damit sie und Dons Pferd während des Wartens keinen Schaden nahmen, und entschied, mit ihnen die Straße entlangzugehen und Don zu folgen. Selbst wenn wir keinen Unterstand fanden, hatte dies den Vorteil, dass wir dem zurückkehrenden Pick-up ein Weilchen eher begegneten. Nach einiger Zeit kamen wir an eine einsame Tankstelle, die auch schon ganz eingeschneit war. Von Don war weit und breit nichts zu sehen; also hatten sie wohl keine Reifen vorrätig. Das wäre auch zuviel des Glücks gewesen. Immerhin gab es ein trockenes Plätzchen unter dem überhängenden Dach, wo ich auf Don warten konnte. Ein gottgesandter Unterstand. Mit Miss Twist und Dons Pferd am Zügel stapfte ich durch die Schneewehen. Der Blizzard stach uns ins Gesicht, und es kostete einige Überwindung, den Blick zu heben, um nach dem Weg Ausschau zu halten. Nach ein paar Minuten hatten wir den ersehnten Zufluchtsort erreicht. Wir rutschten noch eine kleine Böschung hinunter und standen dann auf dem schneefreien Platz unter dem Vordach. Um uns herum türmten sich die Schneewehen, so dass ich mir beinahe wie in einer Höhle vorkam. Alle drei waren wir heilfroh, Schutz gefunden zu haben, und Miss Twist, die nun nicht mehr dem beißenden Wind ausgesetzt war, beruhigte sich schnell. Da hast du mal wieder Glück gehabt, dachte ich und begann, mich ein wenig umzusehen. Das Gebäude war von außen völlig vereist. Ich spähte durch eine Fensterscheibe, konnte aber kein Anzeichen von Leben erkennen; es 164
war allem Anschein nach niemand da. Da keine Menschenseele um diese Zeit auf der Straße unterwegs war, hätten die Betreiber auch keinen Sprit verkauft. Fünf Minuten später traf mich vor Schreck fast der Schlag: Krachend flog die Eingangstür auf, und eine schon ziemlich betagte Dame stürmte aus dem Haus und ging auf mich los, wobei sie mich anbrüllte und drohend einen Besen schwang. Die Pferde stiegen und flohen sofort; in südöstlicher Richtung stoben sie durch den Schnee davon. Die alte Dame ließ nicht von mir ab, sondern attackierte mich mit dem Besen und schrie: »Du ruinierst mir mein Geschäft!« Dann war sie ebenso schnell, wie sie gekommen war, wieder verschwunden. Ich muß mit offenem Mund dagestanden haben, so verblüfft war ich. Ich hatte schon mehrfach in meinem Leben abgelegene Gegenden besucht — doch ein dermaßen feindlicher Empfang war mir noch nirgends zuteil geworden. Ich musste meine Pferde wieder einfangen. Also stapfte ich los und folgte ihren Spuren, was bei dem frischgefallenen Schnee ziemlich leicht war. Sie waren einen sanft abfallenden Hang hinter der Tankstelle hinuntergerannt, und ich lief ihnen jetzt hinterher. Die Frau war mir unbegreiflich. Konnte sie nicht sehen, dass ich völlig harmlos war und lediglich vor dem Schneetreiben Schutz suchte? Sie hätte in mir einen Freund fürs Leben gewonnen, hätte sie mir auch nur eine halbe Tasse heißen Tee angeboten. Am Fuße des Hangs sah ich, dass die Spuren auf der anderen Talseite wieder hangaufwärts führten. Also ging ich weiter. Was ich nicht wusste, war, dass in der Talsohle ein Bach floß, der inzwischen vereist war. Auf das Eis war Schnee gefallen, so dass man den Wasserlauf nicht sehen konnte. Vielleicht wäre alles gutgegangen, wenn ich es an dieser Stelle vermieden hätte, den Pferdespuren zu folgen. Möglicherweise hätte das Eis meinem Gewicht standgehalten. Ich stapfte jedoch nichtsahnend weiter - und prompt geschah, was geschehen musste: An der Stelle, an der die Pferde den Bach überquert hatten, war das Eis gebrochen. Ich versank bis zur Taille im kalten Wasser. Es blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Weg fortzusetzen. Die Pferdespuren bogen nach rechts ab — und ich folgte ihnen den Hang hinauf. Ich ging schnell, um möglichst bald wieder warm zu werden. 165
Unterwegs malte ich mir aus, wie ich Don die Begegnung mit der alten Dame schildern würde: »Die sah aus wie ein Wesen aus einem Horrorfilm, Don. Ging einfach mit dem Besen auf mich los und schlug mich in die Flucht. Die Pferde sind auf und davon, als hätten sie es mit einer Reinkarnation des Leibhaftigen zu tun ...« Schließlich holte ich die Pferde ein, nahm ihre Führstricke auf und brachte sie zur Straße zurück. Ich hatte es jetzt sehr eilig, weil ich Don und den Anhänger nicht verfehlen wollte. Die Sicht war inzwischen gleich Null, weshalb ich mich an die Spur hielt, in der ich gekommen war. »Du ruinierst mir mein Geschäft!« hatte sie gesagt. Was war das nur für eine verrückte Person? Wahrscheinlich hatte vor dem Krieg zum letztenmal ein Wagen bei ihr gehalten ... Im Talgrund musste ich wieder durch den Bach waten. Da ich ohnehin bis auf die Haut durchnäßt war, spielte das jetzt auch keine Rolle mehr. Endlich wieder an der Straße, erwog ich, noch einmal zur Tankstelle zu gehen und der Dame meinen Fall zu erklären. Aber irgendwie konnte ich sie mir nicht als gute Zuhörerin vorstellen, sondern rechnete mit einer Wiederholung der mir bereits bekannten Ereignisfolge. Anstatt es noch einmal zu versuchen, entschied ich mich für eine große Kiefer am Straßenrand. Sie wirkte anziehender auf mich, und ich fühlte mich in ihrer Gesellschaft wohler. Die Kiefer hatte ausladende, dicht benadelte Äste und bot einen ebensoguten Schutz wie das Vordach der Tankstelle. Wir stellten uns also unter. Die Ohren der Pferde stießen an die unteren Äste des Baums. Wir waren in Sicherheit - und dies gleich neben der Straße. Ich setzte mich hin, lehnte mich an den Stamm und betrachtete die Führstricke in meinen Händen. Solange diese beiden Stricke da waren, konnte nichts schiefgehen. Ich bekam meine Finger zwar nicht mehr auseinander, aber das erschien mir nicht so wichtig. Abgesehen von einem gelegentlichen Kälteschauer, der mich durchfuhr, war mir so warm, dass ich fast euphorisch wurde. Es war mir gleichgültig, dass ich praktisch kein Glied meines Körpers mehr bewegen konnte. Ich fühlte mich wohl... Wer war diese Frau? Egal. Ich war überraschend glücklich und zufrieden, nur ein bißchen müde. 166
Ich verlor das Bewußtsein. Irgendwann nahm ich noch ein dumpfes, polterndes Geräusch wahr und spürte, wie mir die beiden Führstricke entglitten, als hätten sie sich selbständig gemacht. Ich konnte nichts dagegen tun. Um mich herum war Schwärze. Als Don mit dem reparierten Anhänger zurückkam, entdeckte er die Pferde neben einem Baum. Er hielt an, fing sie ein und suchte mich. Ich war spurlos verschwunden. Dann fiel ihm auf, dass da eine Kiefer stand, die so aussah, als wäre eine Lawine über sie hinweggefegt. Der Schnee der obersten Äste war auf die Äste darunter gefallen, und am Ende war die gesamte Schneelast des Baums auf den Boden gerutscht. Was ich für einen Schutzraum gehalten hatte, hätte mein Grab werden können. Don verstand genug vom Schnee, um sich denken zu können, was hier geschehen war. Rasch band er die Pferde fest, stocherte in dem Schneehaufen herum und rief meinen Namen. Als mein schwarzer Hut auftauchte, begann er intensiv zu graben. Er zog mich aus dem Schnee und trug mich zum Wagen. Meine Kleider waren mir am Körper festgefroren, doch es gelang ihm irgendwie, sie mir abzustreifen. Er wickelte mich in Pferdedecken und brachte mich ins nächste Krankenhaus. Er hatte mir zweifellos das Leben gerettet. In der Notaufnahme wachte ich auf. Ich war an einen Tropf angeschlossen, und alle Extremitäten waren mit Wärmeschutz ausgestattet. Eine Zeitlang hatte ich Probleme mit meinen Fingern und Zehen, und die Haut über meinen Ohren schälte sich. Ich konnte von Glück sagen, dass ich all meine Zehen behielt; die Ärzte hatten sie von den Toten wiederauferweckt. Bis heute frage ich mich, was es mit der Frau an der Tankstelle auf sich gehabt hat. Wo ist sie heute? Wenn sie in den Himmel gekommen ist, dann wird sie wohl an einer abgelegenen Stelle notleidende Seelen, die sie um Hilfe bitten, abweisen müssen - und bis in alle Ewigkeit ihren Spaß daran haben. Meinetwegen. Am 16. Juni 1956 heirateten Pat und ich und bezogen ein Gebäude auf der Proud Ranch, das schon ein wenig mehr an ein richtiges Haus erinnerte. Ein knappes Jahr später kam Debbie auf die Welt, unser 167
erstes Kind. Es war der schönste Tag in unserem Leben, vergleichbar nur mit den Geburtstagen unserer beiden anderen Kinder, Lori und Marty. Aber plötzlich schwand unser Geld schneller dahin als früher. Ich sah, wie es mir aus der Tasche rann, winkte ihm zum Abschied nach und fragte mich, wo die nächsten Dollars herkommen sollten. Die Preisgelder, die ich einnahm, reichten einfach nicht für den Unterhalt der Pferde und unsere eigenen Lebenshaltungskosten. Im Sommer brachte ich an etwa vier Tagen im Monat Preisgelder mit nach Hause, doch im Winter war mitunter nur einmal monatlich Zahltag. Schon vor ihrem Studienabschluss in Betriebswirtschaft eröffnete Pat einen Laden auf Franchisebasis, dem sie den berühmten Namen Garcia gab. Von Garcia stammten die besten Sättel im amerikanischen Westen, und Pats Laden lag bequemerweise auf halbem Wege zwischen der Universität und der Proud Ranch. Gegen Ende unserer Studienzeit schien sich dann unsere wirtschaftliche Perspektive ein wenig aufzuhellen - und zwar dank eines gewissen Homer Mitchell, der damals in unser Leben trat. Er hatte ein oder zwei Pferde von mir ausbilden lassen und war beeindruckt. Jetzt suchte er nach einem Grundstück in der Nähe des Pazifiks bei San Luis Obispo und fragte mich, ob ich ihm nicht bei der Errichtung einer Ausbildungsstätte für Pferde helfen wolle; wenn sie fertig war, sollte ich ihr Manager werden. Er selbst wollte sich im Alter auf der Ranch zur Ruhe setzen. Ich fand ein achtzig Morgen großes Gut in der Nähe von Edna, Kalifornien - acht Kilometer landeinwärts von Pismo Beach. Pismo Beach war damals noch nicht so erschlossen wie heute, und die Gegend gehörte zu den landschaftlich schönsten Flecken der ganzen Küste. Das Anwesen hieß Laurellinda, und auch Homer Mitchell meinte, es sei genau das Richtige. Pat und ich waren dabei, als Homer im Büro des Notars am Schreibtisch stand, in seine Manteltasche griff und ein Scheckbuch sowie einen Stift herausholte. Es war alles ganz einfach: Er stellte einen Scheck über hundertsechzigtausend Dollar aus und unterzeichnete ihn. Für uns hätte er ebensogut vor unseren Augen übers Wasser laufen können. Wir hielten es nicht für möglich, dass es überhaupt soviel Geld gab, nicht einmal in einer Bank. 168
Wir unterzeichneten eine Vereinbarung mit ihm: Er vermietete uns das Grundstück für einen bestimmten Monatsbetrag. Gleichzeitig unterzeichnete er eine Vereinbarung mit uns, in der er uns zusicherte, uns ebenfalls für einen festen Betrag drei Pferde zur Ausbildung zu überlassen. Das bedeutete, die Hälfte unserer Unkosten war von Anfang an gedeckt. Wir schätzten uns glücklich. Inzwischen war Lori geboren, unsere zweite Tochter. Unser College-Abschluss stand bevor, und wir wollten nun mit einer Arbeit, die uns gefiel, unseren Lebensunterhalt verdienen. Wir waren jung und optimistisch — und die Voraussetzungen waren günstig. Mit den sechziger Jahren begann eine Zeit des Umbruchs. Viele junge Menschen wandten sich der äußersten Linken im politischen Spektrum zu. Männer verbrannten ihre Einberufungsbefehle und Frauen ihre BHs. Ich muß sagen, dass all diese Veränderungen an uns vorbeiliefen. Unsere Wertvorstellungen wurzelten in einem anderen System. Wir hielten die neuen Ideen für Modeerscheinungen, die bald wieder vorübergehen würden. Dass wir damit recht behielten, kann ich nicht behaupten, aber wir bekamen auch gar nicht so viel von dieser Entwicklung mit. Wir hatten einfach zuviel zu tun. Wir hatten zwei kleine Mädchen, Debbie und Lori, und unser Sohn Marty war bereits unterwegs. Außerdem bewohnten wir ein noch unfertiges Ranchhaus mit einer Fläche von hundertfünfundachtzig Quadratmetern samt ebenso unfertigen Nebengebäuden auf Homer Mitchells Anwesen Laurellinda - und wir hatten unsere Pferde. Was wir nicht hatten, war Geld. Als wir nach Laurellinda umzogen, bestand das Gelände aus achtzig Morgen Land, auf denen zwei baufällige Hütten standen. Homer deutete auf eine der Hütten und sagte: »Das Problem löst man am besten mit einem Streichholz.« »Und wo sollen wir leben?« fragten Pat und ich. »Ihr müßt euch in der Stadt eine Bleibe mieten und zur Arbeit mit dem Wagen hier rausfahren. Aus finanziellen Gründen müssen zuerst die Anlagen für die Pferde errichtet werden. Das Haus kann warten.« Pat und ich wollten uns keine Bleibe in der Stadt mieten. Dazu 169
fehlte uns das Geld. Außerdem wollten wir nicht hin und her pendeln. Pferde sind kein Job für normale Bürozeiten. Sie beanspruchen einen rund um die Uhr. Die zwei kleinen Hütten standen genau an der Stelle, auf der der Ausbildungsstall errichtet werden sollte, weshalb wir sie zunächst einmal ein kleines Stückchen verschoben. Bei der einen handelte es sich um einen sehr alten, sehr kleinen Eisenbahnwaggon, die andere war eine Art garagenförmiger Karton. Wir schoben beide aneinander und dichteten die Löcher ab. Es war nur als Übergangslösung gedacht. Bei meinem Ruf, davon war ich überzeugt, war es nur eine Frage der Zeit, bis Pferde in größeren Mengen angeliefert wurden. Ich glaubte tatsächlich, sie wären bereits verladen und auf dem Weg zu uns. Sobald sie da waren, konnten wir uns einen großen Wohnwagen mieten - für die Zeit, bis das Haus fertig war. Es kamen leider keine Pferde. Und nicht nur das: Als wir wussten, dass das dritte Baby unterwegs war, gab Pat ihren Laden wieder auf. Wir hatten keine zwei Cent mehr in der Tasche. Ich wusste nicht, was ich mit den Pferden anstellen sollte, die mir von ihren Besitzern nicht geschickt wurden. Ich hatte ein paar Zuchtstuten und gab ein paar Reitstunden, doch damit ließ sich die Frage nach der Zukunft nicht beantworten. Ich hatte lediglich vier Pferde in Ausbildung, für die bezahlt wurde, und war schlichtweg verzweifelt. Ich bemühte mich nach Kräften, Preisgelder bei Rodeos zu gewinnen, doch die Zahlen stimmten einfach nicht. Ich brauchte mehr Arbeit. Irgend jemand gab mir einen Tip: »Zieh doch eine Weile zu Don Dodge.« Ich kannte Don Dodge natürlich - jeder kannte ihn. Er war vermutlich der erfolgreichste Pferdetrainer in der ganzen Gegend. Die Pferdetransporter standen bei ihm buchstäblich Schlange. Der Rat, den man mir gab, lautete: »Lern bei Don, was das Zeug hält. Gib ihm hundert Prozent. Wenn er an dich glaubt, hast du's geschafft. Dann wird er dich weiterempfehlen.« Zum Schluss folgte noch eine Warnung: »Denk daran, dass es unmöglich ist, Eindruck auf ihn zu machen!« Was hatte ich schon zu verlieren? Ich rief ihn an und bat ihn, eine Zeitlang bei ihm arbeiten zu dürfen. »Meinetwegen. Wenn du willst, kannst du kommen. Mach dich 170
aber darauf gefaßt, dass du hier arbeiten mußt. Du kannst zwei eigene Pferde mitbringen. Wenn deine Zeit hier um ist, sage ich dir, was du mir schuldig bist. Ich werd' dir nämlich was beibringen. Du hast es, weiß Gott, nötig!« »Okay, Don, ich freu' mich schon.« »Und noch was, Monty...« »Ja?« »Du mußt mir versprechen, dass du genau das tust, was ich dir sage, okay?« »Versprochen.« Ich lud also Selah Reed und Finito ein - zwei meiner Pferde, die gerade in der Ausbildung waren - und fuhr mit ihnen nach North Sacramento, Kalifornien, 3400 North Del Paso Boulevard. Die Adresse ist meinem Gedächtnis noch heute eingeprägt. Don Dodge hatte ungefähr vierzig Pferde der angenehmsten Besitzer in der Welt zur Ausbildung. Er war Mitte Vierzig, einsdreiundachtzig groß, schlank und dunkelhaarig. Seine leicht gekrümmte Nase, die an einen Raubvogelschnabel erinnerte, und die engstehenden Augen verliehen ihm einen durchdringenden Blick, der bei den Frauen gut ankam. Auch im Sattel machte Don eine gute Figur. Ich hatte kaum den Wagen im Hof abgestellt, da ließ er mich auch schon arbeiten. »Schön, dass du da bist, Monty. Hier, das ist Billy Patrick. Der könnte ein bißchen Hilfe gebrauchen.« Er verwies mich an einen rothaarigen Burschen, der Wassereimer hin und her trug. Ich lud meine beiden Pferde aus. Die zwei offenen Boxen, die ihnen zugeteilt wurden, waren qualitativ deutlich schlechter als die Ställe, in denen Dons Rösser standen. Dann half ich Billy beim Füttern der vierzig Pferde und beim Säubern ihrer Ställe. Außerdem musste auch ich noch eine Menge Wassereimer schleppen, denn von einer automatisierten Tränke hielt Don nichts. Danach mussten wir noch sämtliche benutzten Sättel und Zaumzeuge reinigen. Gegen sieben Uhr abends waren wir fertig, und ich ging ins Haus. Ich wollte mich waschen, frisch machen und mir saubere Sachen anziehen. Danach, dachte ich, würde Don mich vielleicht zum Abendessen bitten und sich bei einem Drink mit mir unterhalten. Dabei konnten wir uns näher kennenlernen. Als ich das Haus betrat, fragte mich Don: »Wo wirst du übernachten?« 171
Mein Unterkiefer klappte herunter. »Ich dachte. Sie hätten vielleicht irgendwo eine Kammer für mich, Don.« »Nix da.« Mich verließ der Mut. »Oh.« »Ein Stückchen weiter die Straße runter ist so eine Art Pension. Bei Mutter Harris.« Don ging zum Telefon, rief Mutter Harris an und sagte ihr, dass ich gleich bei ihr auftauchen würde. »Sie kann dir auch was kochen.« Auf der Fahrt zu Mutter Harris fluchte ich ungläubig vor mich hin. Sie nannte mir den Preis für Unterkunft und Verpflegung - die Summe war so hoch, dass ich nicht einmal im Traum daran denken konnte, sie zu bezahlen. Ohne Verpflegung kostete eine Übernachtung zwei Dollar. Darauf musste ich mich einlassen; ich hatte keine andere Wahl. Ich rief Pat an. Im Hintergrund hörte ich die Kinder weinen und ein lautes Gepolter. Ob wir noch etwas Geld hätten, fragte ich. Nein, natürlich nicht, sagte sie. Wir mussten sehen, wie wir über die Runde kamen. Kurz gesagt: Das einzige, was ich mir zum Essen leisten konnte, war ein Produkt namens MetraCal, eine klebrige Mischpampe für Leute, die abnehmen wollten. Sie kostete neunzig Cent die Dose. Ich lebte zehn Wochen lang von MetraCal. Das Positive an dieser Substanz war, dass es sie in verschiedenen Geschmacksrichtungen gab - MetraCal »Schokolade«, MetraCal »Vanille« und MetraCal »Erdbeer«. Man traf seine Wahl, stieß ein paar Löcher in den Deckel und saugte den Inhalt heraus. Um halb fünf Uhr morgens musste ich bei Don Dodge auf der Matte stehen, die Pferde füttern und die Ställe säubern. Um halb acht erschien Don und erteilte brüllend seine Befehle. Vormittags ritt ich mindestens zehn Pferde für ihn. Dann leerte ich eine Dose MetraCal und machte weiter. Wenn ich irgendwann am Nachmittag mit den beiden Pferden arbeitete, gesellte sich Don immer für eine Weile zu mir. Er brüllte aus Leibeskräften — ein harter Brocken als Chef. Ich biß die Zähne zusammen, verkniff mir jeglichen Kommentar und tat, was er von mir verlangte. Ich lernte sehr viel bei ihm. Immer wenn er bei mir und meinen Pferden war, stellte mir Don 172
Dodge zahlreiche Fragen über die anderen beiden Tiere, die ich zu Hause gelassen hatte. Umgeben von den vielen Pferden, die er ausbildete, kam ich mir ziemlich kümmerlich vor, wenn ich über die vier Pferde sprach, die mir zur Ausbildung überlassen worden waren. Ich erzählte ihm, dass eines von ihnen - ein Hengst namens Panama Buck, der einem gewissen Lawson Williams gehörte - immer mit seinem Spiegelbild kopulieren wollte, wenn er es zufällig irgendwo sah. Ich erwähnte auch noch viele andere Einzelheiten; unter anderem sprach ich über die Eigentümer der Pferde und erzählte, wieviel ich für die Unterbringung und Ausbildung verlangte. Ich weiß noch, wie ich mich damals fragte, warum er bloß so neugierig war? Machte es ihm vielleicht Spaß, sich anzuhören, wie dreckig es mir ging? Der Rest des Nachmittags war mit den üblichen Arbeiten ausgefüllt - die Ställe in Ordnung bringen, das Zaumzeug reinigen. Gegen neun Uhr abends waren Billy und ich fertig. Ich würgte mein MetraCal hinunter und kehrte zu Mutter Harris zurück. Manchmal lud mich Don auch zum Abendessen ein, über das ich dann herfiel wie ein Verhungernder, der ich ja praktisch auch war. Ein- oder zweimal fuhren wir zu einem Rodeo. Ich gewann und konnte mir von dem Preisgeld ein paar ordentliche Mahlzeiten leisten, doch im wesentlichen blieb ich bei der MetraCal-Diät. So vergingen zehn Wochen, nach denen ich bis auf die Knochen abgemagert war. Meine Rippen standen hervor, und ich war totenbleich im Gesicht. Meine Hände waren von der harten Arbeit und den vielen Wassereimern, die ich hatte schleppen müssen, mit Schwielen übersät. Außerdem machte mich das ständige Angebrülltwerden langsam, aber sicher fertig. Als sich mein Aufenthalt dem Ende näherte, bat mich Don zu einem förmlichen Gespräch in sein Büro. Er zog ein Fazit meines Aufenthalts und warnte mich zugleich vor der Summe, die ich ihm schuldete. Nach der harten Behandlung, die er mir hatte angedeihen lassen, und meiner unermüdlichen Sklavenarbeit für seinen Betrieb freute ich mich auf eine Gegenleistung. Jetzt kommt's, dachte ich. Er wird mich allen Leuten empfehlen, die er kennt, und ich hab's mir ja auch verdient. Er setzte sich mir gegenüber an den Schreibtisch, blickte mir in die Augen und sagte: »So, Monty, ich hab' jetzt ein Bild von dir. Du hast 173
ein gewisses Talent, auf dem du möglicherweise aufbauen kannst. Aber die Sache sieht jetzt anders aus. Mit dieser beknackten CollegeRodeomannschaft hat das jetzt nichts mehr zu tun.« »Das ist mir schon klar«, sagte ich. »Ich hoffe, ich bin jetzt so weit, dass ich auf eigenen Füßen stehen kann.« »Wenn du auch nur geringe Fortschritte machen willst, mußt du wesentlich härter arbeiten als hier bei mir.« Ich traute meinen Ohren nicht. Unvermittelt war ich so müde und mutlos, dass ich mit den Fäusten auf ihn hätte losgehen können. »Kommen wir nun zu deinem Versprechen, genau das zu tun, was ich dir sage, okay?« fuhr er fort. Ich nickte. »Ja, natürlich.« Versprochen ist versprochen. Er beugte sich vor und sprach jetzt ganz langsam und deutlich: »Wenn du nach Hause kommst, dann möchte ich, dass du diesen Lawson Williams anrufst und ihm sagst, dass er sofort kommen und sein Pferd abholen soll. Sag ihm, dass der Gaul nichts taugt und dass er mit ihm nur sein Geld verschwendet. Und für dieses andere Pferd, das du da noch hast, gilt genau das gleiche.« Ich fiel aus allen Wolken. »Wie soll ich das denn machen?« fragte ich. »Ich habe doch nur vier Pferde zur Ausbildung. Und da verlangen Sie von mir, dass ich mein Einkommen halbiere? Warum? Warum in aller Welt soll ich das tun?« »Ich bin dir keine Erklärung schuldig. Aber wenn du schon fragst: Es gibt einen hervorragenden Grund dafür. Du wirst die Besitzer der Pferde mächtig beeindrucken. Dieser Gaul von Lawson Williams schafft es nie - du weißt das genauso wie ich. Sag ihm die Wahrheit. Er wird dir das hoch anrechnen und dir im Gegenzug gleich fünf andere Pferde schicken.« Ich musste das erst einmal verdauen. Ich verstand die Psychologie dahinter, aber für jemanden, der nur vier bezahlte Ausbildungspferde hatte, erschien es mir zu riskant, die Hälfte davon einfach fortzuschicken. »So, und jetzt die Rechnung«, sagte Don Dodge. Ich erwartete, dass er mir gratulieren würde, weil ich so hart gearbeitet hatte. Gut möglich, dass er meine äußerst mißliche Lage berücksichtigte und mir ein paar Dollar in die Hand drückte. Statt dessen sagte er: »Du schuldest mir fünfzig Dollar pro Tag, das macht insgesamt dreitausendzweihundert.« Er schrieb mir eine 174
Rechnung. »Schick mir das Geld, sobald du dazu in der Lage bist. Der Tag wird kommen, an dem du einsiehst, dass es das beste Geschäft deines Lebens war.« Wie ein begossener Pudel fuhr ich nach Hause. Als ich Pat die Rechnung zeigte und ihr erzählte, was ich erlebt hatte, war sie genauso enttäuscht wie ich. Vielleicht lag es an dem hohen Preis, den ich für Dons Rat bezahlt hatte, dass er auf einmal gar nicht mehr so schlecht klang. Irgendwie gefiel er mir sogar. Ihn zu beherzigen war ein kühner Schritt, aber etwas anderes blieb mir ohnehin nicht übrig. Nach einigem Zögern und Überlegen, wie ich mich am besten ausdrücken sollte, rief ich Lawson Williams an. Ich musste ihm reinen Wein einschenken. »Mr. Williams?« »Ja?« »Hier spricht Monty Roberts.« »Hallo, Monty. Wie geht's?« Ich zögerte kurz, dann legte ich los: »Mr. Williams, ich will Ihr Geld nicht verschwenden. Nach meiner Überzeugung lohnt es sich nicht, für Panama Buck noch mehr auszugeben. Es wäre mir recht, wenn Sie kommen und ihn abholen würden ...« Lawson Williams ließ mich nicht aussprechen. »Du nichtsnutziger Halunke, du hast doch gar keine Ahnung, wie ein gutes Pferd aussieht. Das ist das letzte Pferd, dass du jemals von mir bekommen hast!« Er knallte den Hörer auf die Gabel. Am nächsten Tag kam ein Mann und holte Panama Buck ab. Na prächtig! Jetzt war ich so weit, dass ich auch Frau und Kind auf MetraCal-Diät setzen konnte! Kurz danach brach sich Selah Reed, das einzige einigermaßen vielversprechende Ausbildungspferd, das ich hatte, ein Bein und musste getötet werden. Der Tank war leer. Ich war dermaßen tief im Keller, dass ich auf dem Grundstück hin und her lief und mich mit Selbstmordgedanken trug. Alles ging schief, und ich ließ meine Familie im Stich. Es hatte alles keinen Sinn mehr. Dann bekam ich plötzlich einen Anruf. »Hallo? Hier spricht Mr. Gray, Joe Gray. Ich bin Unternehmer und verlege Rohrleitungen.« 175
»Ja, bitte, Mr. Gray?« Wer war denn das? »Ich war gestern mit Mr. Williams beim Essen. Er hat sich über Sie beschwert, aber nach allem, was ich so mitbekam, sind Sie der einzige ehrliche Pferdeausbilder, von dem ich je gehört habe.« Ich war schier zu Tränen gerührt. Ich dachte an Don Dodge' starren Blick, an seinen Rat und an das MetraCal. Alles kam jetzt wieder hoch, und ich spürte, dass sich meine Mühe nun doch auszahlen würde. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Gray?« »Nun ja, dass dieses Pferd — Panama Buck, meine ich — nichts taugt, das habe ich schon immer gewußt. Ich hab' einen Anschlag auf Sie vor. Ich hab' da so ein Pferd, das ich Ihnen gerne schicken würde. Es heißt My Blue Heaven.« Ich hatte das Gefühl, im Tunnel eine Kurve gekratzt zu haben: Vor mir schimmerte Tageslicht. Joe Gray nannte mir weitere Einzelheiten: »Ich mache mir einige Sorgen um die Sicherheit meiner Töchter, wissen Sie. Ich hab' da eine kleine sechsjährige Quarterhorse-Stute, von der ich glaube, dass sie ein ganz gutes Turnierpferd für die Mädchen sein könnte. Sie ist intensiv ausgebildet worden, aber dann lief etwas falsch mit ihr. Heute kann sie kein Mensch mehr halten.« »Ist sie gefährlich?« »Ja, extrem sogar. Sie können sie überhaupt nicht mehr stoppen.« Es war offenbar so, dass die Stute jedesmal, wenn Grays Töchter sie vorführen wollten, das Gebiß zwischen die Zähne nahm, weglief und in die Zäune rannte oder bei dem Versuch, die Zäune zu vermeiden, sehr scharfe Wendungen vollzog und in vollem Lauf stürzte. Gray schickte mir die Stute mit dem Auftrag, sie zu verkaufen. Die Familie plante einen dreiwöchigen Urlaub am Lake Shasta. Bis zu ihrer Rückkehr sollte ich einen Käufer finden, wobei es keine Rolle spielte, wie hoch das Gebot war. Als sie aus dem Transporter geführt wurde, sah ich, dass My Blue Heaven eine hübsche Stute mit athletischen Bewegungen und lebhaftem Blick war. Ich konnte es kaum abwarten, sie zu reiten. Sie erwies sich als sehr sensibel gegenüber Gebiß und Zügel. Mr. Gray hatte gesagt, dass man immer dünnere und schärfere Gebisse verwendet habe, um sie zum Stehen zu bringen. Ich legte ihr eine Hackamore an, die kein Gebiß hat, und ritt sie in die Arena. 176
Überrascht machte ich die Feststellung, dass My Blue Heaven eine gut ausgebildete Stute war. Wenn sie Angst hatte, geriet sie zwar außer Rand und Band - ich sollte es sehr schnell erfahren. Doch abgesehen davon war sie in der Arena besser als andere Pferde, die ich bis dahin geritten hatte. Ich nahm ihr Hackamore und Sattel ab und ließ sie frei in den Longierring laufen. Sie trug jetzt keinerlei Halfter und kein Stückchen Leder mehr. Ich wollte mir damit ihr Vertrauen verdienen. Vielleicht ergab sich danach die Möglichkeit, ihr beizubringen, dass stoppen gar nicht so schlimm war, und sie aus dem Teufelskreis von Vergehen und Strafe zu befreien, in dem sie gegenwärtig noch steckte. Ich zeigte mich ihr frontal und scheuchte sie von mir weg. Ich warf die leichte Longe in ihre Richtung und verstärkte den Druck, bis sie im eleganten Galopp im Kreis lief, immer an der Einfassung des Rings entlang. Ich sah ihr direkt in die Augen. Bald gab sie mir das merkwürdige Signal, mit dem sie zum Ausdruck brachte, dass sie gesprächsbereit war. Ich sah kurz ihre Zunge, dann kräuselte sich ihre große Kieferpartie und verriet die Kaubewegung. Sie hielt ein Ohr auf mich gerichtet und senkte den Kopf. Nach einer weiteren Runde drehte ich meine Schultern so, dass sie einen Fünfundvierzig-Grad-Winkel zur Vorderfront der Stute bildeten. Sie blieb sofort stehen, und meine Augen fixierten nicht mehr die ihren. Obwohl ich sie jetzt nicht mehr ansah, spürte ich, dass sie wartete. Nichts außer meinem eigenen Herzschlag war zu hören. Sie überlegte, ob sie mir vertrauen konnte oder nicht. Wo führt das hin? fragte sie sich. Wenige Augenblicke später kam sie einen Schritt auf mich zu, kurz darauf einen zweiten. Sie war vorsichtig und zaghaft, und mir blieb nichts anderes übrig als zu warten. Schließlich stand sie vor mir. Ich beruhigte sie und sagte ihr, dass ich ihr Vertrauen nicht mißbrauchen würde. Wir würden gemeinsam eine Lösung finden und einander helfen. Mit ihrer Hilfe würde ich mir einen Namen als Ausbilder machen können, und sie würde mit meiner Hilfe diese scharfen Gebisse in ihrem Maul loswerden. Mein Ziel war es, ihr das Stoppen schmackhaft zu machen. Sie sollte Spaß daran haben. Ich wollte sie mit Hilfe körperlicher Signale und mit meiner Stimme schulen und so weit bringen, dass sie ohne 177
Streß darauf reagierte. Ich bemühte mich, mit dem geringstmöglichen Druck auf ihr Maul auszukommen, und versetzte sie in Situationen, in denen sie von sich aus stehenbleiben wollte. Dies geschah dadurch, dass ich sie so lange antrieb, bis es aussah, als bliebe sie aus eigenem Antrieb stehen. Allmählich lernte sie den Ruf »Whoa!« und meine Gewichtsverlagerung nach hinten zu schätzen. Nachdem sie die Erfahrung gemacht hatte, dass es möglich war, den Druck zu vermeiden, und dass überhaupt kein Druck ausgeübt wurde, wenn sie mühelos und ohne Widerstand stehenblieb, fand sie schnell Gefallen daran. Obwohl ihr Problem ziemlich alt und tiefsitzend war, kam sie dank ihrer Klugheit darüber hinweg und reagierte von nun an sehr sensibel beim Durchparieren. Ungefähr zwei Wochen, nachdem die Grays in Urlaub gefahren waren, fand auf der Alisal Guest Ranch im Santa Ynez Valley ein Westernturnier statt. Es war eine sehr beliebte, qualitativ hochstehende Veranstaltung. Ich überlegte mir, dass My Blue Heaven, wenn sie dort eine gute Leistung brächte, einen höheren Verkaufspreis erzielen könnte. Ich konnte die Grays in den Bergen beim Lake Shasta nicht erreichen. Also meldete ich My Blue Heaven auf eigene Verantwortung zum Wettbewerb an und setzte bis dahin die Ausbildung fort. Für den Sieger war nicht nur eine recht hohe Geldsumme ausgesetzt, sondern auch - und das war noch interessanter - ein sogenannter Jedlicka-Sattel, ein Westernsattel aus handgearbeitetem Leder, der mit den Kennbuchstaben der Veranstaltung versehen war. Heute wäre dieser Sattel fünftausend Dollar wert. An die zwanzig gute Pferde hatten für die entsprechende Klasse gemeldet. My Blue Heaven präsentierte sich wie ein Profi und gewann den Wettbewerb. Obwohl mich dieser Erfolg nicht überraschte, entbehrte die Situation nicht einer gewissen Magie. Don Dodge' Rat trug erste Früchte. Ich bekam, was ich wollte - und My Blue Heaven ebenso. Außerdem sah ich die Chance, dass auch der Wunsch der Töchter von Mr. und Mrs. Gray in Erfüllung gehen könnte: Sie wünschten sich ein Turnierpferd für höchste Ansprüche. Ich rief Freunde der Grays in Santa Maria an, die sich während der Abwesenheit der Familie um die Haustiere kümmerten und die Pflanzen gössen. Sie ließen mich ins Haus. Ich stellte im Eßzimmer den 178
Sattel auf und legte einen Brief dazu, in dem ich schrieb, dass ich vor dem Verkauf von My Blue Heaven noch mit der Familie reden müsse. Joe und die Seinen waren hocherfreut, als sie nach ihrer Rückkehr von dem Erfolg ihrer Stute erfuhren. Besondere Begeisterung löste die Nachricht bei den Töchtern aus. Die Familie erklärte sich bereit, My Blue Heaven zu behalten und die Ausbildung fortzusetzen. Ein Jahr später wurde sie Vizeweltmeisterin in der Reined Cowhorse Division. Sie erreichte diese Platzierung noch ein zweites Mal. Dass es nicht ganz zum Sieg reichte, lag nur daran, dass ihre Gegnerin Mona Lisa hieß und eines der am besten ausgebildeten Westernpferde aller Zeiten war. Mona Lisa gehörte niemand anderem als Don Dodge und wurde auch von ihm geritten. My Blue Heaven war das erste Pferd, mit dem ich mich an einem offenen Profiwettbewerb beteiligte. Sie bedeutete für mich einen großen Durchbruch und eine wichtige Etappe in meinem Lernprozeß. Ein Jahr später gelangen ihr in Monterey, Kalifornien, die besten Stopps, und sie gewann überlegen den Reined-Cowhorse-Wettbewerb des Turniers. Nachdem ich sie zwei Jahre lang auf Wettbewerben geritten hatte, setzte sie ihre Karriere unter den Gray-Töchtern fort und feierte überall im amerikanischen Westen große Erfolge. Eines Tages beglich ich Don Dodge' Rechnung. In meinem Begleitbrief dankte ich ihm für den besten Rat, den ich je erhalten hatte. Innerhalb von sechs Monaten hatte ich fünfzehn Pferde zur Ausbildung. 1961 konnten wir das Behelfsquartier verlassen, in dem wir bis dahin campierten. Das Ranchhaus in Laurellinda war bezugsfertig. Am 1. Februar kam unser Sohn Marty zur Welt. Für meine Eltern in Salinas war dies der Anlaß, Pat, mir und den drei Enkelkindern einen Besuch abzustatten. Mein Vater sah sich die Pferde an, die ich gerade ausbildete. Als wir übers Ranchgelände schlenderten, verfiel er wieder ins alte Lied: »Wart's nur ab. Ich sag' dir, dass dieser verdammte Gaul genau das Gegenteil von dem tun wird, was du von ihm willst. Er wird sich losreißen und dich angreifen. Du mußt dir die Biester gefügig machen.« Er konnte mich nicht mehr verletzen. Die Furchen in seinem Gesicht waren tiefer geworden. Ich machte mir den Altersunterschied 179
klar: Er war jetzt fast vierundfünfzig, ich sechsundzwanzig. Ich war ihm entkommen; seine Ansichten verloren an Bedeutung. Dennoch spürte ich, wie mich neuerlich die Wut packte, frisch wie an jenem Tag, an dem er mich zum erstenmal auf die Palme gebracht hatte. Nie sollte ein Pferd bei mir jene furchtbare Angst und jenen Haß empfinden wie bei ihm. Später während des Besuchs spielte er einmal mit seinen Enkelkindern. Debbie und Lori hatten ein paar kleine häusliche Pflichten. Sie mussten zum Beispiel ihr Zimmer sauberhalten. Auch hatte jede ihr eigenes Pferd, dessen Boxen sie täglich ausmisteten. »Weißt du was, Monty?« sagte mein Vater. »Du bist zu hart zu diesen Kindern.« Meine Mutter verließ das Zimmer, als sie das hörte. Es war, als hätte die Erde aufgehört, sich zu drehen, so ungeheuerlich klangen diese Worte aus seinem Mund. »Hart? Ich?« erwiderte ich. »Erinnerst du dich zufällig daran, wie du mit mir umgesprungen bist?« »Schon, schon«, sagte er. »Aber dies hier sind liebe Kinder.« »Und ich war nicht >lieb« fragte ich verblüfft zurück. »Außerdem sind es kleine Mädchen«, fügte er hinzu. Was meinem Vater mehr als alles andere den Wind aus den Segeln nahm, war die unbestreitbare Tatsache, dass meine Trainingsmethode funktionierte, und zwar vor allem bei der Korrektur von verrittenen Pferden. Hey Sam war ein Vollbluthengst, der 1961 in meine Obhut kam. Er war auf der Parker Ranch auf Hawaii aufgewachsen und später von Robert Anderson gekauft worden. Vor seinem ersten Rennen in Hollywood Park hatte ich ihn eingeritten und trainiert. Hey Sam begann vielversprechend und kam in sehr guter Form auf die Rennbahn. Danach wurde er jedoch einem Trainer überlassen, der nicht Andersons erste Wahl war. Und dann lief irgend etwas falsch. Ungefähr drei Monate später wurde ich geholt, um ihn mir anzusehen. Ich kam sehr bald auf die Ursache seines Problems: Der Reiter hatte das Training mit Hey Sam jeden Tag an exakt der gleichen Stelle der Rennbahn abgebrochen, und das hatte dazu geführt, dass das Pferd diese Unterbrechung nach einer Weile als gegeben ansah. Hey Sam sah die Stelle voraus, an der der Ritt abgebrochen wurde, 180
und blieb dort fortan von sich aus stehen - überzeugt, dass es nun gleich nach Hause gehen würde. Dieses Stehenbleiben nahm alsbald hochdramatische Formen an, denn es war ihm nach einer Weile völlig egal, ob sein Reiter stehenbleiben wollte oder nicht. Es geschah immer in Höhe des Halbmeilenpfostens, der die Stelle markierte, von wo aus es noch eine halbe Meile bis zur Ziellinie war. Hier brach Hey Sam einfach aus und vergrub sich nahezu in der äußeren Begrenzungshecke. Danach war er dann nur noch ein zitterndes Wrack. Der Reiter versuchte dieser Angewohnheit Herr zu werden, indem er Hey Sam vor dem Halbmeilenpfosten kräftig mit der Peitsche bearbeitete, um ihn gleichsam am kritischen Punkt vorbeizuprügeln. Wenn das Pferd Anstalten machte, die Bahn zu verlassen, hieb er auf dessen rechte Flanke ein, um es zurück auf die Innenbahn zu treiben. Eine Zeitlang funktionierten diese Methoden auch. Doch als ich nach Hollywood Park gerufen wurde, erreichte der Reiter damit nur noch, dass Hey Sam vor dem Halbmeilenpfosten beschleunigte, bei der erstbesten Chance, die sich ihm bot, scharf ausbrach und an der Hecke stehenblieb. Er rechnete mit der Peitsche, weigerte sich aber rigoros weiterzugehen - egal wohin. Es war eine spektakuläre Darbietung, die ihm einen Platzverweis seitens der Rennleitung eintrug. Sein Verhalten enttäuschte mich. Ich hatte dieses Pferd auf die Rennen vorbereitet und in guter Verfassung übergeben. Mein Ruf und der des anderen Trainers standen auf dem Spiel. Ich hatte keine andere Wahl, als Hey Sam wieder mit nach Hause zu nehmen und ihn nachzutrainieren. Also brachten wir ihn nach Laurellinda und wiederholten den ganzen Prozeß der Kontaktaufnahme. Wieder griff ich auf Erfahrungen zurück, die ich im Umgang mit anderen Pferden wie Brownie gemacht hatte. Pferde weichen auf Druck nicht zurück, sondern stellen sich ihm entgegen, vor allem, wenn der Druck auf die Flanken ausgeübt wird. Wildhunde, die sich überall auf der Welt vom Fleisch wilder Pferde ernähren, versuchen stets, den Bauch des Beutetiers anzugreifen. Ihr Ziel ist es, die Bauchdecke aufzureißen, damit die Eingeweide herausfallen. Die Hunde brauchen dann nur noch den Spuren des Pferdes zu folgen und können davon ausgehen, dass es bald stirbt und gefressen werden kann. Die beste Verteidigungstaktik des Pferdes gegen diese Angriffs181
form besteht nicht in der Flucht, sondern darin, zum Gegenangriff überzugehen und auszuschlagen. Wenn sie nach einem Biß davonrennen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Haut reißt, besonders groß. Nach meiner Überzeugung ist dies die Erklärung für jenes Phänomen, das jedem Ausbilder und Trainer wohlbekannt ist: Wer einem Pferd den Zeigefinger in die Seite bohrt, wird erleben, dass es nicht wegläuft, sondern mit Gegendruck reagiert. Ich wusste, dass die Peitschenschläge, mit denen die Reiter seine äußeren Flanken traktierten, Hey Sam dazu veranlaßten, genau das Gegenteil von dem zu tun, was man von ihm erwartete. Hier musste Abhilfe geschaffen werden. Ich arbeitete ungefähr ein halbes Jahr mit ihm. Ich nahm allen Druck von der Außenseite und arbeitete statt dessen mit Schenkeldruck ziemlich weit hinten auf der Innenseite. Auf diese Weise brachte ich ihm bei, seinen Kopf mehr auf die Korraleinfassung zu richten und dies auch gern zu tun. Hey Sam war weder ein schlechtes Pferd noch ein bösartiges. Er lernte und änderte sich merklich. Als er wieder auf die Rennbahn kam, konnte ich ihn zu Farrell Jones schicken, einem Mann, den ich schon seit vielen Jahren kannte. Etwas Besseres hätte ihm nicht passieren können. Farrell sah mich Hey Sam auf der Rennbahn in Golden Gate Fields in Nordkalifornien reiten. Danach besorgte er ihm einen Reiter, der sich der gleichen Techniken bediente wie ich. Schon bald nahm Hey Sam an seinem ersten Rennen teil und gewann, obwohl die Chancen fünfzig zu eins gegen ihn standen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Er war auf dem richtigen Weg. Und ich hatte ein großes persönliches Erfolgserlebnis. Hey Sam gewann insgesamt zwölf Rennen und brachte seinem Besitzer mehr als hunderttausend Dollar ein. Es war eine Erfolgsstory - und der Anfang einer Liebesgeschichte zwischen mir und dem amerikanischen Pferderennsport. Wohl kein anderes Pferd ist mir in meinem Leben so ans Herz gewachsen wie Johnny Tivio. Er war ein eingetragener QuarterhorseHengst mit einem Stockmaß von 1,45 Meter und 545 Kilogramm Gewicht. Er war ein heller Brauner, doch hatte sein Fell einen kupferfarbenen, fast glänzenden Schimmer. Er war mir wegen dieses schimmernden Fells auf dem Rodeo182
gelände aufgefallen. Obwohl er nicht übermäßig gut gepflegt wurde, schien sein Fell das aller anderen Pferde zu überstrahlen. Es war, als käme der Glanz aus seinem Inneren, weniger von regelmäßiger Pflege. Ich behielt ihn eine Zeitlang im Auge. Johnny Tivio wurde von Harry Rose trainiert, der mit ihm schon einige schöne Erfolge vorweisen konnte. Harry war ein rauher, zäher Mann, hart im Leben und hart im Spiel. Pat und ich waren mit dem Wagen unterwegs. Kurz hinter dem Rodeogelände kamen wir an einer spelunkenartigen Kneipe vorbei. Vor dem Lokal war ein Anhänger abgestellt, in dem sich, wie ich gleich erkannte, Johnny Tivio und ein zweites Pferd befanden. »Harry säuft mal wieder die Stadt trocken«, sagte ich zu Pat. Wir befanden uns auf heimatlichem Boden, dem Rodeogelände von Salinas, anläßlich eines Turniers für Arbeitspferde. Dem Status des Geländes entsprechend, war es eine ziemlich wichtige Veranstaltung. Wir entluden Fiddle D'Or und My Blue Heaven, brachten sie in ihr Nachtquartier und fuhren wieder zurück. Harry Rose' Anhänger mit Johnny Tivio und dem anderen Pferd stand noch immer vor der Kneipe. Sie sollten die ganze Nacht dort verbringen. Am nächsten Morgen trafen wir die üblichen Vorbereitungen, darunter ein leichtes Aufwärmtraining für die Pferde. Der Start war für acht Uhr vorgesehen. Minuten vorher raste Harry Rose mit stark überhöhter Geschwindigkeit die abschüssige Straße zum Rodeogelände hinunter. Die Pferde in dem bedenklich schlenkernden Anhänger wieherten und bemühten sich verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten. Schließlich stieg Harry vehement auf die Bremse und zerrte ein Mädchen aus dem Wagen, das dann aufgeregt hin und her lief, während er seine Pferde aus dem Anhänger bugsierte. Er warf Johnny Tivio einen Sattel über und sprang auf seinen Rükken. Dann zog er das Mädchen hoch, das sich hinter ihn setzte, und gemeinsam paradierten sie auf und ab. Johnny Tivio gewann an diesem Tag alles, was es zu gewinnen gab. Er hatte die ganze Nacht im verschlossenen Anhänger zugebracht und nicht eine Minute Vorbereitungszeit gehabt - und doch schlug er unsere beiden Pferde, als war's ein Kinderspiel. Er schritt in die Arena, als gehöre sie ihm, und wir konnten von Glück reden, dass wir neben ihm nicht völlig untergingen. 183
Dass Harry Rose mit diesem prachtvollen Pferd so schlecht umging, erstaunte und ärgerte mich gleichermaßen. »Das Pferd ist Gold wert«, sagte ich zu Pat. »Eines Tages gehört es mir.« Wenige Monate später berichtete ein Anrufer der örtlichen Tierschutzbehörde, dass vor dem Haus einer Frau bereits seit zwei Tagen ein Anhänger mit einem Pferd stehe. Das Pferd und der Anhänger wurden beschlagnahmt. Die Zulassungsnummer führte die Polizei zu dem Besitzer, einem gewissen Carl Williams. Sie wollten Carl wegen Tierquälerei festnehmen, doch Carl sagte ihnen, was wirklich los war, und setzte sie auf die Spur seines Trainers Harry Rose. Carl rief dann mich an, weil er wusste, dass ich schon seit längerem ein Auge auf Johnny Tivio geworfen hatte. Für sechstausend Dollar, sagte er, könne ich Johnny Tivio gleich abholen. Ich ließ mir die Chance nicht entgehen und erwiderte: »Abgemacht.« Allerdings fehlte mir das Geld. Ich musste George Smith, einen Kunden und alten Freund, anrufen und ihn bitten, mir die Hälfte der Summe vorzustrecken. Johnny Tivio lahmte und war auch sonst in schlechter körperlicher Verfassung; außerdem waren seine Hufeisen eingewachsen. Aber er gehörte mir. Er war stets ein williges Tier gewesen, doch mit jeder freundlichen Geste und jedem freundlichen Wort, das man zu ihm sprach, wurde er noch starker und besser. Eins aber war klar: Von der ersten Minute an, die er bei uns in Laurellinda verbrachte, war er der Chef. Wir arbeiteten für ihn, nicht er für uns. Gegen seinen Stall hatte er einige Einwände, und wir mussten die Einstreu so verteilen, dass er seine Apfel in einer bestimmten Ecke fallen lassen konnte. Mit seinem anspruchsvollen Benehmen im Stall und seiner hochnäsigen Art hielt er uns auf Trab. Er war überzeugt, das mit Abstand beste Pferd zu sein, das er je gesehen hatte. Doch, er billigte anderen Pferden ein Existenzrecht zu, aber nur unter seinen Bedingungen und sofern es sich nicht um Palominos handelte. In seiner Jugend war ein Palomino, den er nicht hatte leiden können, sein Stallgefährte gewesen, und seither scherte er alle Palominos über einen Kamm. Er duldete sie kaum in seinem Blickfeld. Johnny Tivio erwies sich als gigantischer Erfolg. Ich konnte ihn zu sämtlichen Kategorien von Working-Horse-Wettbewerben anmelden: Er gewann sämtliche Preise! Er war eines der wenigen Pferde im 184
19 Pat und Monty bei den Dreharbeiten zu Jenseits von Eden
20 Auf Night Mist gewinnt Monty einund dreißig Wettbewerbe m Folge
21 James Dean mit Montys Chaparajos (Chaps), den ledernen Überziehhosen der Cowboys
22 Johnny Tivio auf den Flag Is Up Farms, 1967 23 Monty und James Dean bei den Dreh arbeiten zu Jenseits von Eden
24 Johnny Tivio mit Monty im Sattel erringt gerade einen Weltmeisterschaftstitel im Westernreiten Insgesamt gewinnt Johnny Tivio vier Weltmeisterschaftstitel in dieser Disziplin
25 Die Flag Is Up Farms in Solvang, Kalifornien, Ende der achtziger Jahre 26 Pat und Monty
27 JOIN UP mit Hirschen auf den Flag Is Up Farms Januar 1995
29 Monty mit seinem Pferd Dually beim Sliding Stop Januar 1996
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30 Monty auf Dually im Korral beim Cutting dem Aussondern eines Rinds aus der Herde 1996
Grandma< Anfang der neunziger Jahre
31 Simon Stokes und Monty fuhren die »Monty Roberts Decke« vor
32 Sir John Miller, Ihre Majestät Königin Elizabeth II, Monty und Pat (v l n r) im Garten von Schloß Windsor, 1989
33 Sean McCarthy auf der jungen Vollblutstute der Königinmutter, die Königinmutter, Marty Roberts, Monty und Pat ( v l n r ) vor Schloß Windsor, 1989 34 Ihre Majestät Königin Elizabeth II blättert in der eng lischen Ausgabe von Montys Buch Oktober 1996
35 Ende Mai 1991 weigert sich Lomitas m Köln, die Startbox zu betreten Noch am gleichen Tag verkündet die Rennleitung ein lebenslanges Startverbot für Lomitas (Foto Frank Nolting, Herford) 36 Am 23 Juni 1991, zehn Tage, nachdem er ihn zum erstenmal gesehen hat, fuhrt Monty Lomitas anläß lich des Consul BayeffRennens, Bremen, in die Startbox Lomitas folgt ihm wie ein Lamm — und gewinnt das Rennen (Foto Frank Nolting, Herford)
37 Lomitas am 23 Juni 1991 in der Startbox, vorne Monty, rechts Simon Stokes auf den Trittbrettern (Foto Frank Nolting, Herford)
38 Die Besitzer von Lomitas, das Ehepaar Jacobs, mit Monty auf Gestüt Fahrhof
39 Lomitas unter Peter Schiergen beim Großen Preis von Baden am 1 September 1991 (Foto Klaus Jörg Tuchel, Solingen)
40 Lomitas bei der Morgenarbeit in Santa Anita Park, Kalifornien
4l Lomitas, Monty und Pat auf den Flag Is Up Farms, 1995 Pat arbeitet gerade an der Bronzeplastik »Lomitas«
42 Die fertige Bronzeplastik »Lomitas A Champion« von Pat Roberts
43 Pat und Monty Roberts mit Dr Andreas und Natalie Jacobs bei einem Rennen in Hollywood Park
44 Monty mit Quebrada, Gestüt Fährhof, Trainer Heinz Jentzsch, beim ARAG Preis in Düsseldorf, 2 Mai 1993 (Foto Frank Nolting, Herford)
l Risen Raven, Gestüt Fahrhof, Trainer Heinz Jentzsch, unter Peter Schiergen beim Preis der Diana in Mülheim/Ruhr, 23 Mai 1994 (Foto Frank Nolting, Herford)
46 Monty beim JOIN UP Versuch in freier Wildbahn mit dem Mustang Shy Boy, Ende März, Anfang April 1997 (Foto © Christopher Dydyk, Solvang)
47 Der Kreis schließt sich, und Montys Jugend träum geht in Erfüllung Shy Boy vertraut Monty und folgt ihm (Foto © Christopher Dydyk, Solvang)
Turniergeschäft, bei dem alle Beobachter dass es kein Besseres auf der Welt gab.
darin
übereinstimmten,
»He, Monty, sieh dir das mal an!« rief Slim. »Was?« »Sag, ist das nicht das süßeste Fohlen, das du je gesehen hast?« Er spielte mit einem Stock herum, und ein kleines Palomino-Fohlen versuchte, daran zu knabbern. »Jetzt paß mal auf!« sagte Slim und warf den Stock in die Luft. Das Fohlen drehte sich um, lief zu der Stelle, an der der Stock gelandet war, hob ihn mit den Zahnen auf, kaute daran herum und brachte ihn zu Slim zurück. »Unglaublich«, stimmte ich ihm zu. Ich kannte Slim Pickens seit meiner Kindheit. Er war eine Art Onkel für mich. »Der benimmt sich wie ein junger Hund«, sagte Slim. »Sieh dir das mal an!« Er wandte sich dem Fohlen zu, schlug sich mehrmals an die Brust und rief: »Hopp, hopp!« Das Fohlen sprang und legte Slim die Vorderbeine auf die Schultern. »Siehst du?« sagte Slim. »Meinst du nicht auch, dass aus diesem Kleinen hier mal das gescheiteste Walt-Disney-Pferd wird, das dir je untergekommen ist?« Slim Pickens war Schauspieler. Eine Filmgesellschaft hatte ihn für einen Disney-Film mit dem Titel The Horse With The Flying Tail engagiert. Im Mittelpunkt stand ein Palomino-Springpferd. Das Fohlen sollte den Palomino in seinen ersten Jahren darstellen, und wir befanden uns auf Slims Farm in Soledad, wo ein großer Teil des Films mit Slim Pickens in der Hauptrolle gedreht werden sollte. Das Fohlen hieß Barlet. Die »süßen« Spielereien von damals machten auch dem Zweijährigen noch Spaß: Barlet konnte es einfach nicht lassen. Martin Clark hatte ihn überall im Westen der USA präsentiert. In der Wettbewerbskategorie Halfterpferd (halter horse) war Barlet praktisch unbesiegt. Dabei werden die Pferde an der Hand einer Jury vorgeführt und nur auf ihren Korperbau hin beurteilt. Es stand schon fast fest, dass er in diesem Jahr nationaler Titelträger sein wurde. Das nächste Mal sah ich Barlet beim Meisterschaftswettbewerb, der Ende Oktober 1962 im Cow Palace von San Francisco ausgetragen 201
wurde. Als ich mit meinen Pferden - My Blue Heaven, Midge Rich und einem dritten - eintraf, sah ich, dass Martin Clark Barlet in einem Stall innerhalb des Cow Palace untergebracht hatte. Er hatte Barlets Box mit Elektrodrähten gesichert. Ein Draht verlief auf halber Höhe der Box, ein zweiter entlang des oberen Randes der Stalleinfassung. Wenn der Strom abgeschaltet war, kletterte Barlet einfach über die Mauer. Das Pferd wusste, dass der Akkumulator bei eingeschaltetem Strom ein pulsierendes Geräusch von sich gab, und benahm sich dann absolut problemlos. Wenn Martin es jedoch aus dem Stall führen wollte, musste er, um die Tür öffnen zu können, den Akkumulator abstellen. Kaum war aber der Schalter umgelegt, änderte sich Barlets Verhalten und erinnerte nun eher an das eines Tigers. Er ging buchstäblich auf Martin los. Nach einem Tag Wettbewerbsvorbereitung bekam Martin das Pferd gar nicht mehr aus dem Stall heraus. Barlet ließ sich von ihm weder einfangen noch führen. Da kam Martin zu mir und machte mir ein Angebot: »Wenn es dir gelingt, Barlet einzufangen, durch die Arena zu führen und mit ihm zu gewinnen, beteilige ich dich zu fünfzig Prozent. Und danach kannst du ihn mit nach San Luis Obispo nehmen und ausbilden.« Als Favorit für den Titel des Nationalen Hengstchampions in jenem Jahr war Barlet zwischen dreißig- und vierzigtausend Dollar wert. Es war also kein schlechtes Angebot, und ich war mir sicher, auch mit diesem Pferd fertig zu werden. Der Anblick der Sicherheitsvorkehrungen im Stall einschließlich der Elektrodrähte war beunruhigend. Wir stellten zuerst den Strom ab, dann öffnete ich die Tür. Barlet stürzte mit angelegten Ohren und gebleckten Zähnen auf mich zu. Er wollte mich verletzen. Bevor er mich erreichte, sprang ich zurück und schloß die Tür hinter mir. Da ich nicht einmal nahe genug an ihn herankam, um ihn mir gründlich anzusehen, musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Dieses Pferd war schon so weit, dass ich nicht einmal mehr um sein Vertrauen werben konnte. Es war von Anfang an verdorben worden - und zwar nicht durch Quälerei, sondern durch unabsichtlich falsche Behandlung. Man war mit diesem Pferd umgegangen wie mit einem Schoßhund, und an irgendeinem Punkt war seine psychische Entwicklung in die falsche Richtung abgedriftet. 202
Ich ging in die Sattelkammer und holte mir ein Lasso. Dann begab ich mich wieder in den Stall und schwang das Lasso so, dass Barlet Distanz zu mir hielt. Es gelang mir, ihn einzufangen und an seinem Kopf eine Leine zu befestigen, die wir als »Come-along« bezeichnen. Den Umgang damit hatte ich bei Don Dodge gelernt. Die Leine wird so um den Kopf des Pferdes geschlungen, dass sie über verschiedene Nervenknoten verläuft, wodurch sich das Pferd leicht kontrollieren läßt. Ich führte Barlet aus dem Stall heraus und versuchte mit den gleichen Methoden, die ich bereits geschildert habe, sein Vertrauen zu gewinnen. Es dauerte erheblich länger als bei My Blue Heaven, und das Ergebnis war auch weniger zufriedenstellend. Immerhin vertraute mir Barlet nach einer Weile wenigstens bis zu einem gewissen Grad. Ich konnte ihn bei jener Veranstaltung doch noch vorführen. Wir bestanden alle Vorausscheidungen und erreichten schließlich das Ziel, das Martin Clark ihm gesetzt hatte: Barlet wurde Nationaler Champion - und er gehörte fortan zur Hälfte mir. Danach nahm ich ihn mit nach San Luis Obispo. In den Folgejahren gewann er einen Wettkampf nach dem anderen. Es war mir später zwar möglich, ihn in der Reined-CowhorseKategorie auch zu reiten, aber ich muß zugeben, dass Barlet aufgrund seiner verpfuschten Fohlenzeit nie zu einem mental ausgeglichenen Pferd wurde. Pferden, die durch falsche Behandlung boshaft werden, kann man nur selten trauen, selbst wenn hinter der Behandlung, wie in diesem Fall durch Slim Pickens, die besten Absichten stecken. Ein chronisch mißtrauisches Pferd sollte nur von professionellen Experten geführt werden, die genau wissen, womit sie es zu tun haben. Wer sich nicht an diese Regel hält, muß mit schlimmen Konsequenzen rechnen. Barlet blieb während der gesamten Ausbildungszeit bei mir ein bösartiges Pferd. Mehrfach wurde ich von ihm attackiert. Er war schwer gestört. Über die Ursachen, die dazu geführt hatten, dass er von allen Menschen zutiefst enttäuscht war, kann ich nur spekulieren. Schließlich kam es zwischen ihm und mir zu einer Art Übereinkunft, die auf einem ausgeklügelten System von Disziplinierung und Belohnung beruhte. So konnte ich seine Neurose drei, vier Jahre unter Kontrolle halten. 203
Bedauerlicherweise fiel er am Ende dann doch seinen Neurosen zum Opfer. Er starb nach einem Kampf mit einem Wallach auf meiner Farm in San Luis Obispo. Um an den Gegner heranzukommen, trat Barlet einen Zaun nieder und brach sich während des anschließenden Kampfes eine Vorderhand.
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DAS SANDBURGEN SYNDROM
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1964 — ich war neunundzwanzig Jahre alt — begegnete ich einem Mann, der unser Leben für immer verändern sollte. Er sollte meine Familie und mich auf den Gipfel des Erfolgs führen - und uns dann tiefer hinunterstürzen, als wir es uns jemals hätten träumen lassen. Wir hatten damals einen Tierarzt namens Dr. Jim Burns. Eines Tages kam er zu mir und sagte, er habe an einem Quarterhorse-Verkauf im Santa Ynez Valley in der Nähe von Solvang teilgenommen. Dabei sei ihm ein Mann aufgefallen, der viele Pferde gekauft habe; er sei sehr wohlhabend und habe nicht nur im Santa Ynez Valley Besitzungen, sondern auch in Montecito, das zu den vier teuersten Gegenden in Kalifornien gehört - vergleichbar etwa mit Beverly Hills. Der Herr heiße Hastings Harcourt. Sein Vater sei der Gründer des Verlagshauses Harcourt Brace & World. Mr. Harcourt war in den Sechzigern, verheiratet und hatte einen erwachsenen Sohn. Er galt als exzentrischer Millionär. Dr. Burns erzählte mir, er habe für Mr. Harcourts Sohn und dessen Frau als Tierarzt gearbeitet. Die vielen neuerworbenen Pferde seien auf ihren Besitz im Santa Ynez Valley geschickt worden. Burns hatte den Eindruck, Mr. Harcourt sei daran interessiert, einige Pferde ausbilden zu lassen - und er, Burns, würde sich freuen, mich der Familie empfehlen zu können. Einige Tage später erhielt ich einen Anruf von Mr. Harcourt. Tatsächlich fragte er mich, ob ich seine neuen Pferde trainieren wolle. Ich bejahte, und schon an einem der nächsten Tage war ich mit drei jungen Quarterhorses von Santa Ynez ins etwa hundert Kilometer entfernte Laurellinda unterwegs. Ungefähr eine Woche später rief ich Mr. Harcourt an, um ihm über die Fortschritte der Tiere zu berichten. Ein dreijähriger Wallach habe mich besonders beeindruckt, erzählte ich ihm. Er zeige beachtliches Talent für Turniere in der Kategorie Western Riding der Freizeitklasse. Mr. Harcourt war offensichtlich sehr angetan von diesem Bericht und lud mich zu einem persönlichen Treffen ein. Darauf fuhren Pat und ich ins Santa Ynez Valley, wo Mr. und Mrs. Harcourt auf der Juniper Farm die Sonne genossen. Mein erster Eindruck von Harcourt war, dass er unglücklich aussah. Infolge einer Hautkrankheit war sein ganzes Gesicht fleckig und 207
vernarbt. Hinzu kam sein Übergewicht, und mir fiel auf, dass sein Lächeln nur den Mund berührte, niemals aber die Augen erreichte. Mrs. Harcourt schien unser Besuch wenig zu interessieren. Ihre Haltung gegenüber dem neuen Faible ihres Mannes schien zu besagen: »Jetzt geht's schon wieder los.« Mr. Harcourt fragte mich, ob es möglich sei, ein Pferd von ihm in der Santa Barbara Horse Show vorzuführen, die bereits in drei Monaten stattfinden würde. Meinem ersten Eindruck zum Trotz erwies er sich als netter Mann, den der Einstieg ins Pferdegeschäft sichtlich begeisterte - auch wenn er, wie er rasch zugab, von Pferden gar nichts verstand. Ich war ihm sehr dankbar für sein Interesse. Er gab mir Arbeit, die ich dringend benötigte, und - so sagte zumindest mein Tierarzt - er verfügte über die Mittel, um ein bedeutender Pferdehalter zu werden. Schon am nächsten Tag begann ich, seinen Wallach Travel's Echo auf die Santa Barbara Horse Show vorzubereiten. Dass ein Pferd nach nur neunzig Tagen Training in einer hochkarätigen Pferdeshow gut abschneidet, ist schwer vorstellbar. Ich ließ mich jedoch durch solche Gedanken nicht irremachen, ging mit Optimismus an die Arbeit, und Travel's Echo reagierte entsprechend. Pat und ich hatten einige gute Pferde, die wir in Santa Barbara vorführen wollten. Die Harcourts würden also zumindest drei Weltklassepferde zu sehen bekommen, mit denen ihre Trainer am Wettbewerb teilnahmen, auch wenn ihrem eigenen »Baby« noch kein großer Erfolg gelang. Natürlich hatte ich Johnny Tivio vorgesehen, der wie üblich alle wichtigen Trophäen für sich einheimsen und dann zusehen würde, wer die Trostpreise erhielt. Pat nahm mit Julia's Doll, einer in der Freizeitklasse schon sehr erfahrenen Stute, teil. Als der große Tag gekommen war, erschienen Mr. und Mrs. Harcourt auf dem Earl-Warren-Turnierplatz und mieteten einen exklusiven Logenplatz im Buchmacherring. Sie kamen mit einem ganzen Schwärm von Leuten im Gefolge, und ihr Platz in der Mitte der Arena brachte sie auf Tuchfühlung zum Parcours. Es waren ungefähr acht oder zehn Personen, die meisten von ihnen bekannte Gesichter aus der High-Society von Montecito, die natürlich nicht nur ihre Pferde, sondern auch sich selbst präsentieren wollten. Johnny Tivio gab die für ihn typische Spitzenvorstellung, und ich 208
bin sicher, dass die Harcourts gehörig beeindruckt waren. Night Mist zeigte sich von der besten Seite und gewann ihre beiden Wettbewerbe. Pat siegte mit ihrer Stute Julia's Doll, die ebenfalls in Topform war. Nun war ich mit Travel's Echo im Western Riding der Freizeitklasse für Pferde bis zu vier Jahren an der Reihe. Beim Einreiten auf den Platz war ich zuerst sprachlos. Mehr als fünfzig Konkurrenten beteiligten sich in dieser Klasse. Aber Travel's Echo schien die Bedeutung dieses Tages zu verstehen und benahm sich, als hätte er zwei Jahre konzentriertes Training hinter sich. Die Harcourts beobachteten uns in den verschiedenen Gangarten, unterhielten sich dabei mit ihren Freunden, die mehr vom Pferdegeschäft verstanden als sie, und ließen sich die einzelnen Schritte und Übungen ihres Pferdes genau erklären. Anscheinend sagten ihnen die Freunde, je weiter der Wettkampf fortschritt, dass sie - die Harcourts - nicht zu viel erwarten sollten, denn Travel's Echo sei ja noch ein junges Pferd, das erst drei Monate Training hinter sich habe. Travel's Echo setzte sich über derlei Bedenken hinweg und kam ins Finale der zehn Besten, was seine Besitzer begeisterte und die Gäste überraschte. Am Ende belegte er hinter zwei Pferden der nationalen Spitzenklasse den dritten Platz und ließ damit einige Tiere hinter sich, die bereits viele Wettbewerbe gewonnen hatten. Als ich nach vorne ritt, um die Trophäe und die Rosette für den dritten Platz abzuholen, kam ich direkt vor der Loge der Harcourts zu stehen. Die Freunde erhoben sich von ihren Sitzen und applaudierten. Mr. und Mrs. Harcourt grinsten beide von einem Ohr zum anderen und kosteten den Augenblick des Triumphs in vollen Zügen aus. Fast gleichzeitig erreichten wir den Ausgang. Pat und die Kinder waren dort. Die Harcourts und ihre Freunde kamen auf Travel's Echo zu und tätschelten ihn. Wegen Mr. Harcourts gesellschaftlicher Stellung und der beträchtlichen Summen, die er Wohltätigkeitsorganisationen gespendet hatte, wurden viele Fotos gemacht. Journalisten drängten sich um ihn, um seine Begeisterung zu protokollieren. Als sie erfuhren, dass Travel's Echo erst neunzig Tage Training hinter sich hatte, flitzten die Stifte nur so über das Papier. 209
Der Erfolg von Travel's Echo rief eine Welle der Anerkennung hervor, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte. Drei Tage später flogen Mr. und Mrs. Harcourt mit ihrem Privatflugzeug, einer DC 3 mit Spornrad, nach San Luis Obispo. Sie wollten unsere Trainingsmethode kennenlernen und sich mit uns über eine weitere Zusammenarbeit unterhalten. Sie besäßen bereits einige Vollblüter, meinte Harcourt, doch er habe das Gefühl, dass es ihnen noch an Qualität fehle. Hinter seiner dicken, schwarzgefaßten Brille fragte er hervor: »Haben Sie Erfahrung im Vollblutrennsport?« Ich antwortete: »Seit meiner Kindheit haben wir immer auch ein paar Vollblüter trainiert. Aber bisher bot sich mir noch nie die Chance, mit Vollblütern jener Klasse zu arbeiten, wie sie für Toprennen in Kalifornien erforderlich sind.« Innerhalb der nächsten beiden Tage brachte mich Harcourts Flugzeug an drei verschiedene Orte, an denen ich Zuchtstuten, drei Fohlen, zwei Jährlinge und zwei trainierte Pferde zu begutachten hatte. Und es erwies sich, dass Harcourt recht hatte: Nein, mit diesen Vollblütern wären die Erfolgschancen auf kalifornischen Rennbahnen nicht sehr groß. Kurz darauf machte mir Mr. Harcourts den Vorschlag, in seinem Auftrag zum Jährlingsmarkt für Vollblüter in Del Mar zu reisen und für zwanzigtausend Dollar einige Jährlinge meiner Wahl anzukaufen, die in der kalifornischen Rennszene Karriere machen sollten. Es war die Chance meines Lebens, und ich war unglaublich aufgeregt. Für andere Kunden hatte ich schon mehrmals Jährlinge gekauft mit Limits von zweitausend Dollar pro Pferd, die auf »Fair-track«Rennen der untersten Klasse an den Start gehen sollten. Für ihre Abstammung waren die Tiere recht erfolgreich gewesen, was mich durchaus befriedigte, denn ich hatte damit bewiesen, dass ich ein Auge für Pferde hatte, die renntauglich und stabil waren. Die Perspektive, die Harcourt uns bot, lag in einer ganz anderen Größenordnung. Pat und ich waren jedoch der Meinung, das nötige Talent zu besitzen, und sahen in Harcourt einen Mann, der uns die Chance gab, unser ganzes Können zu zeigen. Mr. Harcourt nahm Verbindung zu den Organisatoren der Auktion auf und benannte mich, wie in solchen Fällen üblich, als seinen Bevollmächtigten. Wie vereinbart setzte er den Finanzrahmen auf zwanzigtausend Dollar fest. 210
Ich fuhr also nach Del Mar - und werde niemals den Augenblick vergessen, als ein braunes Hengstfohlen in ungefähr fünfzig Metern Entfernung an mir vorbeilief. Es fiel mir ins Auge wie noch kein junges Vollblut zuvor. Symmetrie und Balance im Stand waren perfekt und blieben auch in der Bewegung in einer Weise erhalten, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Sofort begab ich mich zu der Box, wo der Braune stand, und bat, ihn mir ansehen zu dürfen. Aus der Nähe übertraf er all meine Erwartungen. Niemand sonst schien so viel von ihm zu halten. Er wurde auf die Auktionsfläche gebracht, und ich bot nur fünftausend Dollar für ihn. Das Hengstfohlen hatte noch nicht einmal einen Namen. Der Hammer fiel..., und das Fohlen gehörte mir. Der Verkäufer brachte die Box, und ich unterschrieb die Quittung mit »Im Auftrag, Monty Roberts«. Einen Durchschlag behielt ich, der andere kam mit in die Box. Zum erstenmal war ich mit Hastings Harcourt geschäftlich verbunden. Bald hatten wir auch einen Namen für das braune Hengstfüllen: Sharivari. Das Wort ist gälisch und bedeutet soviel wie »Hochzeitsfeier«. Ich erwarb für Mr. Harcourt noch einen braunen Junghengst, den wir Bahroona nannten. Wie sich herausstellte, war der Braune der reifere von beiden und konnte schon im Juni des folgenden Jahres auf die Rennbahn. Das war 1965. Bei seinem ersten Start in Hollywood Park gewann er mit fünfzehn Längen Vorsprung. Mr. Harcourt verfolgte aufgeregt das Geschehen, während ich selbst nicht an der Rennbahn war, sondern an einem Rodeo weiter im Norden teilnahm. Als er mich anrief, um mir Bahroonas Erfolg mitzuteilen, forderte er mich auf, mit seinem Privatflugzeug, das er mir zur Verfügung gestellt hatte, sofort zu ihm nach Montecito zu kommen, weil er eine Siegesparty geben wollte. Der Pilot und ich machten uns also auf den Weg und hoben ab. Über dem Lake Cachuma setzte der Motor aus, und wir stürzten wie ein Stein auf das Wasser zu. Ich war überzeugt, dass mein letztes Stündlein geschlagen hatte. Der Pilot schaltete auf den zweiten Treibstofftank um. Es gelang ihm, die Maschine neu zu starten und abzufangen. Mein Nervenkostüm blieb heil, aber irgendwie war der Vorfall bezeichnend. Ich kam mir vor wie auf der Achterbahn. 211
Die Harcourts holten mich am Flughafen in Santa Barbara ab und brachten mich zu sich nach Hause, wo die Party bereits in vollem Gange war. Auch Pat war schon da. Inmitten des Stimmengewirrs der Partygäste schwelgten Hastings und seine Frau in den bewundernden Blicken der Gäste. Durch Lärm und Gelächter rief er mir zu: »Jetzt gehen wir ein größeres Projekt an!« Ich spitzte die Ohren. Der Partylärm schien auf einmal leiser zu werden. Ich erinnere mich noch an jedes einzelne Wort von dem, was er dann sagte. »Ich habe Grundbesitz im Santa Ynez Valley. Was halten Sie von dieser Gegend? Eignet sie sich für ein Vollblutgestüt mit allem Drum und Dran?« Es war schon immer mein Lebenstraum gewesen, an einem Gestüt im Santa Ynez Valley beteiligt zu sein. Irgendwie empfand ich es als deplaziert, dass ich inmitten der allgemeinen Ausgelassenheit ein so ernstes Gespräch führte. Meiner Meinung nach, sagte ich, gebe es keinen Ort in den Vereinigten Staaten mit vergleichbar günstigen Klima- und Bodenbedingungen. Ja, das Santa Ynez Valley sei ein großartiger Standort für eine Vollblutzucht samt Trainingsanlage. Mr. Harcourt steckte voller Plane. »Fangen Sie schon mal an, sich in der Gegend umzusehen! Ich werde soviel Land dazukaufen, wie es für ein Gestüt von Weltniveau erforderlich ist.« Die Party ging weiter, und Harcourt schwamm weiter auf der Welle seines Anfangserfolgs. Ich ließ mich anstecken und verfiel in eine jugendliche Begeisterung, wie man sie von einem Dreißigjährigen erwarten kann, dem ein Lebenstraum in Erfüllung geht. Für die bevorstehende Aufgabe war ich von der Pike auf ausgebildet. Da ich selbst gründliche Erfahrungen besaß und die entsprechenden Fächer an der Cal-Poly studiert hatte, wusste ich über Böden, Futtergräser, Dünger, Anlagen und Gebäude, Stammbäume und vor allem natürlich über die Trainingstechniken gut Bescheid. Nach ein paar Tagen auf den verschiedenen Gütern von Harcourt im Santa Ynez Valley war mir allerdings klar, dass keines von ihnen geeignet war. Das eine hatte einen zu dichten Baumbestand, ein anderes war zu steinig, ein drittes besaß keine ausreichende Wasserversorgung. Für ein Gestüt der Spitzenklasse, riet ich ihm, brauchten wir ein Gelände an einem Fluß. Ich hatte ein Grundstück außerhalb von Sol212
vang im Auge und erklärte ihm, warum ich es für geeignet hielt. Es war ein kleines Tal, knapp fünf Kilometer lang und zwei Kilometer breit. Der Talgrund lag fast auf Meereshöhe, der Mutterboden war ungefähr fünf Meter tief. Noch wichtiger aber war eine große Schicht Kieselgur unter der Krume - das heißt, eine kreidehaltige Schicht aus mikroskopisch kleinen, zusammengepreßten Meeresmuscheln und Krustentieren. Vor Tausenden von Jahren hatten Teile des Tals unter Wasser gelegen. Das Ausgangsmaterial reicherte den Mutterboden mit beträchtlichen Mengen an Kalzium und anderen Mineralien an. Hinzu kamen unterirdische Wasservorräte, bei denen es sich hauptsächlich um wasserspeichernde Spalten im unterirdischen Gestein handelte. Sie ermöglichten eine Förderung von 2,75 Kubikmeter pro Minute aus nur siebzehn Meter tiefen Brunnen. Das war nahezu optimal. Auch das eher trockene Klima war hervorragend geeignet. Mit extrem schlechten Bedingungen war kaum zu rechnen. Der Einfluß des Pazifischen Ozeans kühlte im Sommer und wärmte im Winter. Harcourt begann zu kaufen. Zunächst hundert Morgen von Mr. Jacobson. Dann sah er sich weiter um und machte den Nachbarn Angebote, die sie kaum ausschlagen konnten. Hundert Morgen kamen von Mr. McGuire dazu, ferner fünfzig Morgen von Mr. Petersen und so weiter. Nach drei Monaten zogen wir Bilanz und fingen an zu planen. Mr. Harcourt war genauso begeistert wie ich und setzte beträchtliche Mittel ein, um die Anlage so bald - und so groß - wie möglich Wirklichkeit werden zu lassen. Ich besuchte Johnny Tivio in seinem Stall in Laurellinda. »Okay, Johnny, jetzt kannst du endlich ein Leben führen, wie es dir von Anfang an gefallen hätte. Willst du nicht einen Plan für deinen kleinen Palast zeichnen?« Wenn es jemals ein Arbeitspferd gegeben haben sollte, das sich einbildete, es müsse unbedingt in einem edlen Vollblutstall stehen, dann dieses. In all dieser Hektik hatte ich mit Mr. Harcourt ein Treffen in Montecito vereinbart. Am Tag vor dem vereinbarten Termin rief mich seine Privatsekretärin an. Umständlich gab sie mir zu verstehen, dass Harcourt gegenüber unserem Projekt plötzlich Vorbehalte entwickelt habe, und empfahl mir, fortan bei meinen Planungen für ein großes Gestüt nicht mehr mit ihm zu rechnen. Das war nun wirklich höchst 213
merkwürdig! Als ich die Tragweite ihrer Worte in vollem Umfang begriff, war ich am Boden zerstört. Ich konnte es einfach nicht verstehen. Nur ein paar Stunden zuvor waren wir vorangestürmt, als ginge es um unser Leben. Die ganze Nacht verbrachte ich damit, meinen nächsten Schritt zu überlegen. Welche Möglichkeit ich auch durchspielte, der Weg schien versperrt zu sein. Dann fiel mir ein, dass die Sekretärin das Treffen mit Harcourt nicht abgesagt hatte, jedenfalls nicht direkt. Und da mich Harcourt nicht selbst angerufen hatte, beschloß ich, den Termin einzuhalten, so, als hätte ich mit der Sekretärin überhaupt nicht gesprochen. Das mindeste, was ich erwarten konnte, war eine persönliche Begründung für seinen Rückzug. Am nächsten Tag fuhr ich die hundertsechzig Kilometer nach Montecito, Santa Barbara. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und ich hatte keine Ahnung, was mich am Ende der Reise erwartete. Montecito ist, ich habe es schon erwähnt, ungefähr so mondän wie Beverly Hills. Ich fuhr durch Alleen von nahezu überirdischer Schönheit. Als ich dann vor dem Tor zum Harcourtschen Anwesen anhielt, um mich über die Sprechanlage zu melden, erwartete ich schon fast, abgewiesen zu werden. Aber die Stimme am anderen Ende ließ mich passieren. Ich fuhr die von dichtem Baumbestand gesäumte Straße hinunter; der Kies knirschte unter den Reifen. Die Anlage öffnete sich zu einem Rondell, und ich umrundete einen großen Brunnen. Es war absolut still. Ich hatte Zeit, mich umzusehen, und sah den Platz wie zum erstenmal. Linker Hand war das Gästehaus, das für sich genommen schon recht schön war. Genau im Süden des Rondells befand sich Harcourts Haus im typischen frühkalifornischen Baustil der zwanziger Jahre. Bei näherem Hinsehen bemerkte man die vielen Umbauten und Erweiterungen, die diese eindrucksvolle Residenz schon hinter sich hatte. Ich stellte das Auto neben dem Gästehaus ab, begab mich zur Haustür des Hauptgebäudes, klingelte und wartete. Ich war eingelassen worden, also war offensichtlich auch jemand zu Hause. Sicherlich war es ein weiter Weg, um in einem so großen Haus von der einen Seite zur anderen zu gelangen, und so wartete ich länger als normal, bevor ich ein zweites Mal klingelte. Niemand kam. Es war totenstill. 214
Nach einigen Minuten gab ich die Hoffnung auf und kehrte zum Auto zurück. Gerade hatte ich die Hand am Türgriff, als ich im Augenwinkel eine plötzliche Bewegung bemerkte. Ich drehte mich um - und sah Mr. Harcourt über eine offene Fläche auf der anderen Seite des Brunnens eilen. Kaum hatte ich ihn erblickt, war er auch schon durch eine Seitentür verschwunden. Nun war ich alarmiert, denn seine Hast verriet mir, dass er mir absichtlich entwischen wollte. Dann wiederum schien es mir, als wäre er vielleicht nur deswegen so schnell ins Haus gehuscht, um pünktlich zu unserem Treffen zu kommen. Also ging ich nochmals zur Haustür und klingelte. Keine Reaktion. Das Haus war genauso still und abweisend wie zuvor. Ich hatte noch das Gespräch mit der Sekretärin im Kopf und schloß daraus, dass ich nun Persona non grata war. Alles war aus. Ich ging zum Auto zurück und fuhr heim nach Laurellinda. Ich hatte alles richtig gemacht, und doch waren wir in einer Sackgasse gelandet. Abends versuchte ich, Harcourt anzurufen, erreichte aber nur eine Bedienstete, die mir ausrichtete, dass er nicht zu sprechen sei. Pat meinte philosophisch, dass wir so weiterleben sollten, als hätte es Mr. Harcourt und seine Frau nie gegeben. Selbst wenn er anrufen und sich entschuldigen sollte, sei er doch offensichtlich unzuverlässig, und wir täten besser daran, ihn zu ignorieren. Ungefähr vier Tage später bekam ich während der Arbeit mit den Pferden die Nachricht, Mr. Harcourt habe angerufen. Sofort stieg ich ab und ging mit einem Kloß im Magen zum Telefon. Er begrüßte mich sehr herzlich und entschuldigte sich. Er habe eine psychische Krise durchgemacht, und außerdem habe es geschäftliche Probleme im Verlag gegeben. Inzwischen aber habe er professionellen Rat eingeholt, seine schlechten Erfahrungen völlig verarbeitet und wäre bereit, den Aufbau des Gestüts mit Vollgas voranzutreiben. Er schlug mir vor, nach Europa zu fliegen, um mir dort die besten Gestüte und Anlagen anzusehen. Mit dem dort erworbenen Wissen sollte ich dann die Planung und den Bau der Einrichtungen im Santa Ynez Valley in Angriff nehmen — und zwar so schnell wie möglich. Wieder einmal war er ganz darauf versessen, sofort loszulegen. Außerdem meinte er: »Ich will, dass Sie mehr als ein Manager sind, mehr als ein Reiter. Ich will, dass wir Partner im Management der Flag 215
Is Up Farms werden. Für Ihren Einsatz werden Sie mit fünf Prozent am Gewinn beteiligt, und im Erfolgsfall erhalten Sie eine Option auf mehr. Ich werde einen Vertrag für Sie aufsetzen und übernehme die juristischen Kosten. Gehen Sie zur Kanzlei von Anthony Romasanta, und nennen Sie ihm alles, was Sie im Vertrag geregelt haben wollen. Ich werde den Vertrag dann lesen, aber entwerfen sollten Sie ihn.« Ich tat, wie mir geheißen, und entwarf einen Vertrag, der für meine Begriffe beiden Seiten gerecht wurde. Die ganze Familie stürzte sich in die Aufgabe, das beste Vollblutgestüt zu planen, das es je gab. Der plötzliche emotionale Umschwung war gigantisch - wir schwammen wieder ganz oben. Ich flog nach England und angelte mir Tim Vigors. Er war Agent für Vollblüter und besaß Güter in Irland und England. Im Zweiten Weltkrieg war er Kampfflieger gewesen. Eine Baladue-Maschine mit Rufzeichen GATSY stand für den Flug zu den besten und interessantesten Objekten zur Verfügung. Die erste Etappe waren die Galopprennbahnen in Newmarket, wo wir als Gäste von Sir Noel Murless in seinem nahe gelegenen Besitz Warren Place logierten. Wir besuchten Gestüte in ganz Großbritannien und besichtigten die meisten größeren Rennplätze. Ich machte mir viele Notizen und fotografierte. Dann ging's mit einem Sprung über den Kanal weiter zu einem kleinen Landeplatz in der Nähe von Paris. Von dort aus erreichten wir Chantilly. Nachdem wir zehn verschiedene Anlagen gesehen hatten, waren wir beide ebenso erstaunt wie beeindruckt. Ihre Größe und die sorgfältige Ausgestaltung aller Details überraschten uns gleichermaßen. Als nächstes stand der Hof von Alec Head und Roland de Chambre in der Normandie auf unserem Programm. Außerdem besichtigten wir das Gestüt von Guy de Rothschild. Die Informationen über Planung und Management, die wir bei diesem Besuch erhielten, hatten das Niveau eines Universitätsseminars. Von Frankreich aus flogen wir nach Deutschland, und von dort aus weiter nach Irland. Ich bin mir nicht sicher, ob all diese Flüge rechtens waren, aber wir fragten nicht danach. Nach einer Woche in Irland mit Besuchen auf vielen bekannten Rennbahnen und Zuchtstationen kehrten wir nach London zurück. Von dort aus flog ich 216
wieder nach Kalifornien und konnte berichten, dass die Reise sehr wertvolle und nützliche Erkenntnisse gebracht hatte. Während meiner Abwesenheit hatte sich Mr. Harcourt über Betriebe in anderen Teilen der Welt kundig gemacht, und so erfuhr ich als nächstes, dass ich meine Mission in Argentinien, Australien und Neuseeland fortsetzen sollte. Nach der Rückkehr stellte ich einen weiteren Bericht zusammen und gab meine endgültigen Empfehlungen. Ich war jetzt bereit, mich hinzusetzen und konkrete Pläne für das Gestüt im Santa Ynez Valley zu entwerfen. Pat und ich bereiteten uns und die Familie auf einen ein- bis anderthalbjährigen Arbeitshurrikan vor. In dieser Zeit sollte die Flag Is Up Farms Incorporated, Solvang, Kalifornien, geplant, errichtet und eröffnet werden. Das Anwesen teilte sich in vier Bereiche: Zunächst war ein Zucht- und Abfohlstall mit einem Hengststall, Deckhallen, einem Labor, einem Longierring, einem Verwaltungskomplex, einem Fohlenstall mit acht Boxen und Wohngelegenheiten für bis zu acht Angestellte vorgesehen. Im zweiten Bereich sollten Trainings- und Einreitmöglichkeiten für junge Pferde entstehen. Dazu gehörten eine überdachte Reitbahn, zwei überdachte Longierringe, Boxen für achtzig Pferde, eine Übungsrennbahn, eine rund zweieinhalb Meilen (4,2 Kilometer) lange Querfeldein-Galoppstrecke, drei große Heu- und Strohscheunen, eine Mühle zur Futterherstellung, das Hauptbüro und Wohnmöglichkeiten für bis zu fünfzig Angestellte. Der dritte Bereich der Anlage sollte eine Klinik und ein Rehabilitationsgelände mit Platz für vierzig Pferde und ein Becken für Wassertherapie, Röntgengeräte, einen Bürokomplex, eine Koppel für Gespanne und außerdem Wohnungen für sechs Angestellte umfassen. Zu guter Letzt sollte auf der »Mesa«, einer knapp fünfundvierzig Meter hohen Erhebung am Nordende des Anwesens, das Hauptgebäude errichtet werden. Es war im frühkalifornischen Stil geplant, nur mit wesentlich mehr Glasflächen als üblich. Vom Hauptgebäude aus konnte man das ganze Tal überblicken. Vor allem nach Süden bot sich ein herrlicher Ausblick, weshalb alle wichtigen Räume, mit großen Fenstern versehen, auf dieser Seite des Hauses liegen sollten. 217
Mein Lebenstraum nahm Gestalt an; außerdem hatte ich ein perfektes Heim für meine Familie gefunden. Alles lief hervorragend! Im Juli 1966 verlegten wir die ersten Pferde auf den Hof. Johnny Tivio bummelte umher und suchte sich natürlich den besten Platz auf dem ganzen Gelände aus. Er dachte sich dabei nicht das geringste sollten sich die anderen um den Rest streiten! Bahroona und Sharivari schlossen sich zusammen und nahmen den zweiten Platz ein — sie waren eine Zierde für jeden Vollblutstall. Bahroona hatte sich als Dauerbrenner erwiesen — er hatte beim Turnier in Hollywood Park das wichtige Zweijährigen-Rennen gewonnen. Er lief umwerfend schnell und sollte später ein bedeutender Zuchthengst werden. Auch Sharivari trat nun in die Rennszene ein; zwar etwas später als Bahroona, aber eigentlich war er das bessere Rennpferd. Er gewann sein erstes Rennen, errang beim zweiten Start ebenfalls einen Preis und wurde vor dem Kentucky Derby als der beste Dreijährige in Kalifornien gehandelt. Später sollte er zum Stammvater vieler Champions werden. Im Oktober des gleichen Jahres bezogen meine Familie und ich das wunderschöne neue Heim mit Blick über das Gestüt und das Santa Ynez Valley. Für uns war es ein Umzug ins Paradies. Fortuna war uns hold, und wir nutzten unsere Chance. Es war sehr harte Arbeit, aber wir waren glücklich dabei. Ungefähr zu dieser Zeit wurde ein junger Mann namens Hector Valadez zu mir geschickt. Er war achtzehn Jahre alt und sah mit seinen weniger als vierzig Kilogramm Körpergewicht wie ein Jockey aus. Ich setzte ihn auf sein erstes Pferd. Seither hat er immer acht bis zehn Pferde pro Tag für mich geritten, von einigen kurzen Phasen abgesehen, in denen er für Freunde von mir arbeitete. Jockey wollte er allerdings, wie sich herausstellte, nicht werden. 1975 sollte er eine Familie gründen, und auch als Vater arbeitete er hart weiter. Jetzt hat er zwei erwachsene Söhne und wiegt immer noch knapp fünfzig Kilo. Hector verbrachte mit mir mehr Zeit im Longierring als irgend jemand sonst. Dank seiner geringen Größe war er ideal für die Trainingsstrecke. In den knapp dreißig Jahren, die er mit mir zusammenarbeitete, hat er über eintausendfünfhundert Pferde geritten, was wahrscheinlich einen Rekord darstellt. 218
Kurz nachdem wir eingezogen waren, kamen meine Eltern zu Besuch, um unsere neuen Lebensumstände zu begutachten. Ich führte sie herum. Meinem Vater gefielen die Zäune nicht: »Hättest Eiche aus Kentucky holen und einen Bretterzaun aufstellen sollen.« Ebenso waren ihm die von mir gepflanzten Bäume ein Dorn im Auge: »Die Bäume sind ein Fehler. Stehen nur im Weg, wenn man sich bewegen möchte. Wart's nur ab. Jedesmal wenn du darunter durchreitest, werden sie dir den Hut vom Kopf fegen.« Er fand die Rennbahn nicht groß genug, und seiner Meinung nach war der Dachboden des Trainingsstalls falsch konzipiert. Im Gang der Reithalle fehle lockere Erde unter den Füßen, und außerdem sei zuviel Geld für die Longierringe ausgegeben worden. Bevor er uns verließ, gab er mir noch gute Ratschläge für meine Zukunft. »Sieh zu, dass du einen Fuß im Westernturniersport behältst. Diese Rennpferdgeschichten werden dich auffressen.« Unsere Pferde schlugen sich gut, und wir gewannen nicht wenige wichtige Rennen, die meisten davon mit Pferden, die ich als Jährlinge ausgesucht hatte. Gladwin, ein wunderschönes Hengstfohlen von First Landing, den wir in Saratoga erworben hatten, war ein GruppeI-Sieger. Aladancer, ein direkter Nachkomme von Northern Dancer, ebenfalls in Saratoga gekauft, gewann in der gleichen Gruppe. Cathy Honey, eine talentierte Tochter von Francis S., war ein hochdotiertes dreijähriges Stutfohlen in den Vereinigten Staaten. Petrone wurde in Frankreich als Dreijähriger für hundertfünfzigtausend Dollar gekauft, gewann später über vierhunderttausend Dollar und setzte sich als vielfacher Gruppe-I-Sieger zur Ruhe. Die Jahre von 1967 bis 1970 erwiesen sich für die Flag Is Up Farms als höchst erfolgreich. Eines Tages kam Mr. Harcourt zu mir nach Hause und begann, mich in seine psychischen Probleme einzuweihen. Er hatte etwas getrunken, und das Gespräch wurde vertraulich. Er nahm seine dickgefaßte Brille ab, und plötzlich waren seine Augen nackt und tränenfeucht. »Das ist doch kein Leben mehr mit dieser Krankheit!« rief er und schlug sich gegen die Brust. Dann beschrieb er mir die Auswirkungen jenes Leidens, das er »bipolare Krankheit« nannte. Sie äußerte sich schon seit jungen Jahren in manischer Depression. Er tat mir leid, aber ich wusste nicht, wie ich ihm helfen konnte. 219
Seines Leidens wegen, so erklärte er mir, sei er aus dem Familienunternehmen ausgestiegen. Er habe damit unzählige Geschäftsverbindungen zerstört. Die Betroffenen seien nicht gewillt, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Ich spürte seine Bitte, mich seiner anzunehmen, auf ihn aufzupassen und für alle seine Launen Verständnis zu haben - auch für die irrationalen. Er fuhr mit seiner morbiden Selbsterforschung fort: »Wussten Sie, dass ich dreißig Jahre Therapie hinter mir habe? Wie klingt das?« »Teuer.« »Lächerlich. Ein Mann in meinem Alter - und immer noch in Therapie!« Er rechne es seiner Frau Fran hoch an, dass sie besser als alle anderen gelernt habe, mit ihm auszukommen. »Sie weiß mit mir umzugehen. Wenn ich nach den Sternen greife, kann sie mich auf die Erde zurückholen. Und wenn ich im tiefsten Sumpf stecke, verschafft sie mir Boden unter den Füßen.« Geschäftspartner dagegen kämen mit seinen Stimmungsschwankungen nicht zurecht und würden durch derartige Erfahrungen abgeschreckt werden. »Sie verhalten sich dann rational, wenn ich es nicht bin.« »Ich denke doch, dass Geschäfte einen rationalen Charakter haben, zumindest die meiste Zeit.« »Wissen Sie was, Monty«, stieß er plötzlich hervor — es war, als hätte er mir gar nicht zugehört, als wolle er sich etwas von der Seele reden -, »die Verbindung zu Ihrer Familie und unsere Arbeit hier auf Flag Is Up, das ist das Wichtigste in meinem Leben. Ich will unter keinen Umständen auch mit Ihnen solche Probleme bekommen.« »Einverstanden«, antwortete ich — und meinte es auch so. Nein, seine psychischen Probleme sollten unsere Arbeit nicht stören. Wir hatten ja schon eine Kostprobe davon genossen, und die war verheerend gewesen. »Ich will, dass Sie wissen, wie man mit mir umgehen muß. Wenn Sie das schaffen, bin ich zuversichtlich, dass unsere Partnerschaft bis an unser Lebensende besteht.« »Ja, das wünsche ich mir auch.« »Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich werde für Sie auf meine Kosten einen Termin bei meinem Psychiater vereinbaren. Sie können 220
von ihm lernen, wie man mich behandeln muß. Ich vertraue auf Ihre Fähigkeiten. Sie werden es schaffen, genauso wie Fran!« Ich war erleichtert, dass nun alles ausgesprochen war und ich bestimmte Verhaltensregeln für den Umgang mit ihm kennenlernen sollte. Ein wenig spürte ich auch die Last der Verantwortung für diesen bemitleidenswerten Mann. Mr. Harcourt hielt sein Versprechen und vermittelte mir einen Termin bei seinem Psychiater im Gesundheitszentrum von Santa Barbara. Er war ein schlanker, hochgewachsener Mann in den späten Vierzigern, aufrichtig, intellektuell und von ruhigem Auftreten. Er war von dieser Zusammenkunft alles andere als begeistert und beschränkte sich beim ersten Besuch darauf, sehr sorgfältig unsere Beweggründe auszuloten. Vermutlich hatte er Angst vor einer Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht, auch wenn Mr. Harcourt seine Zustimmung erteilt hatte. Beim zweiten Besuch wurde mir klar, dass er über Pat und mich genauestens Bescheid wusste. Er kannte unseren Hintergrund und war auch über unsere Familien teilweise bis ins Detail informiert. Dann sagte er etwas Seltsames: Mr. Harcourt leide am »Sandburgen-Syndrom«. Er erklärte es folgendermaßen: »Ein Kind baut mit großem Vergnügen am Strand eine herrliche Sandburg. Doch die größte Lust und Erregung empfindet es erst, wenn die Flut kommt und die Burg zerstört.« Er wartete, bis ich das geschluckt hatte. Dann fügte er hinzu: »Je größer die Sandburg ist, um so größer ist der Reiz, sie zu zerstören.« Am Abend desselben Tages stand ich auf der Terrasse und überblickte die Ställe sowie die anderen sorgfältig aufeinander abgestimmten Anlagen auf dem breiten Streifen flachen Landes, das nun die letzten Strahlen der allmählich hinter den Bergen verschwindenden Sonne auffing. Ich erinnerte mich an Mr. Harcourts überschwengliche Begeisterung, ja Hingabe, während der Planungs- und Bauphase - und wusste in diesem Augenblick, dass wir eine Sandburg für ihn gebaut hatten. Im September 1971 erhielt ich auf der vierhundert Kilometer von Flag Is Up entfernten Rennbahn in Del Mar einen Anruf. Man sagte mir, ein Flugzeug würde mich zurück zum Gestüt bringen. Mr. Harcourt wolle mich noch am selben Nachmittag sprechen. Gegen zwei Uhr war ich dort. Mr. Harcourt und ein Mr. Osborne 221
T. Brazelton III. warteten vor dem Haus im Auto auf mich. Da Pat mit den Kindern unterwegs war, musste ich mich ihnen allein stellen. Unsere Haushaltshilfe bereitete Kaffee und Tee und servierte uns beides auf der Terrasse hinter dem Haus, von der aus man das ganze Gestüt überblicken kann. Die beiden Herren wählten die Sitzordnung mit Bedacht: Ich saß allein auf der einen Seite des Tisches, die beiden mir gemeinsam gegenüber. Harcourt wirkte sehr streng und war in düsterer Stimmung, ein Eindruck, der durch seine dickrandige schwarze Brille und die fürchterliche Hautkrankheit noch gefördert wurde. Osborne T. Brazelton III. war ein Anwalt mit rüden Manieren und einer Neigung zum Theatralischen. Wie Harcourt war auch er zwei Meter groß. Sein blondes Haar war sorgfältig frisiert und mit Haarlack zum Glänzen gebracht worden. Er war kaum älter als dreißig und trug einen modernen, maßgeschneiderten Anzug aus einem Stoff mit eingewebten glänzenden Fäden. Beide blickten mich ernst an. Dann zog Harcourt eine silberne Tablettendose aus der Tasche seines Jacketts, stellte sie zwischen uns auf den Tisch und öffnete sie. Sie enthielt etwa zwanzig Tabletten in verschiedenen Farben, Größen und Formen. Als mich Harcourt dann erneut ansah, sträubten sich meine Nackenhaare. Es war ein durchdringender, kalter und unheilvoller Blick, der mir durch Mark und Bein ging. Ich erkannte, dass nun das eintreten würde, wovor wir uns gefürchtet hatten. »Ich will nur, dass Sie wissen, dass ich all diese Pillen brauche, um den Tag durchzustehen. Sie kennen meinen Arzt und meine Probleme. Ich will Sie nicht mit Details belästigen. Sie werden sich darüber im klaren sein, dass ich mich in einer ernsten Lage befinde.« Er machte eine Pause. Als ich nichts erwiderte, fuhr er fort: »Ich muß so schnell wie möglich das Gestüt und alle Pferde verkaufen. Es bricht mir das Herz, aber es muß sein. Dass ich das Gestüt und meine Pferde aufgeben muß, ist schlimm genug, doch fällt es mir besonders schwer, die Beziehung zu Ihnen, Pat und Ihrer Familie zu lösen. Sie haben fast sechs Jahre lang eine wichtige Rolle in unserem Leben gespielt, aber meine Gesundheit hat nun einmal absolute Priorität.« Ich erkannte die Signale. Mr. Hastings Harcourt bewegte sich auf den freien Fall zu. »Os Brazelton hat die juristische Seite übernommen«, fuhr er fort. 222
»Er wird die Veräußerung der Güter mit Ihnen besprechen. Falls Sie jemanden finden, der das Gestüt kauft, können Sie sicherlich unter ähnlichen Konditionen hierbleiben. Möglich, dass dieselbe Person auch einige oder alle Pferde übernimmt. Was immer ich tun kann, um Sie bei Ihrer Bemühung, das Gestüt beisammenzuhalten, zu unterstützen, will ich tun — vorausgesetzt, ich kann mich so schnell wie möglich aus allem zurückziehen. Ich gehe jetzt und warte im Auto auf Os. Er wird Ihnen meine Verkaufspläne näher erläutern.« Am Ende seiner Rede stand Hastings Harcourt auf und kam mit ausgestreckten Armen um den Tisch herum auf mich zu. Ich war aufgestanden und wartete. Er schloß mich in die Arme und sagte: »Es tut mir leid. Ich habe Ihnen und Ihrer Familie gegenüber versagt, aber es muß sein.« Dann drehte er sich um und verschwand. Sein Kaffee stand noch unberührt auf dem Tisch. Mir tat dieser arme alte Mann leid. Ein unerklärliches Staunen, ja eine Art ehrfurchtsvoller Scheu stieg in mir auf. Wie war eine so destruktive seelische Verfassung überhaupt denkbar? Und wie konnte sie bei einem Mann, der über sich und seinen Zustand Bescheid wusste und sich die beste Behandlung leisten konnte, solche Auswirkungen haben? Was mich anging, so hielt ich es inzwischen fast schon für erstrebenswerter, für einen anderen Besitzer zu arbeiten, der die Zusammenarbeit zwischen Besitzer und Manager oder Trainer nicht mit psychischen Problemen belastete. Alles konnte sich noch zum Besten wenden. Es hing davon ab, was Os Brazelton zu sagen hatte. In recht bestimmender Art hieß Harcourts Anwalt mich Platz nehmen. »Ich würde gern ein paar Dinge mit Ihnen durchgehen.« Ich kam seiner Aufforderung nach und fühlte mich dabei wie ein Schüler, der zum Direktor zitiert worden ist - ein höchst sonderbares Gefühl gegenüber einem Mann, der sechs Jahre jünger war als ich. »Ich werde Mr. Harcourt ruck, zuck von diesem Projekt befreien!« verkündete er. »Kommen Sie mir also nicht in die Quere. Seien Sie kooperativ, dann kann ich Ihnen helfen, die Übergabe zu regeln.« Ich wartete auf seine Vorschläge. Brazelton fuhr fort: »Mr. Harcourt hat mir zu verstehen gegeben, dass potentielle Käufer aus der Branche eher anbeißen werden, wenn 223
Sie beim Verkauf mitwirken. Ihr Ruf und Ihre Zustimmung erhöhen den Wert des Geschäfts und beschleunigen seine Abwicklung.« »Okay, das sehe ich ein.« »Er möchte, dass Sie allen potentiellen Käufern erklären, dass Sie mit fünf Prozent an dem Anwesen beteiligt sind. Dieses Geld braucht der Käufer also nicht zu bezahlen. Sie sollten ihnen auch mitteilen, dass Sie sich zu mindestens zehn Prozent bei den Pferden einkaufen werden und dass Mr. Harcourt diese zehn Prozent nicht zurückfordern wird. So haben Sie am Ende zehn Prozent aller Pferde als Kommission.« »Das ist sehr großzügig, vielen Dank.« Ich betete darum, dass alles so einfach weiterging. Anscheinend war Harcourt zu einer vernünftigen Lösung bereit und bot einen gangbaren Ausweg. Brazelton fuhr fort: »Es können sogar fünfzehn oder zwanzig Prozent dabei herausspringen, je nach Preisen und Konditionen.« »Das ist fair.« »Zunächst«, fügte der Anwalt hinzu, »brauchen wir unverzüglich eine Liste derjenigen Pferde, an denen Sie nicht interessiert sind, weil diese dann baldmöglichst zum Verkauf angeboten werden.« »Ich werde alles sofort vorbereiten.« Doch dann ließ Brazelton die erste Bombe platzen: »Außerdem hat mich Mr. Harcourt angewiesen, Ihnen folgendes zu sagen: Sein Reitpferd, Travel's Echo, soll erschossen und ... beseitigt werden.« Diese Worte ließen mich erstarren. Bis zu diesem Punkt war ich mit den Verkaufsbedingungen zufrieden gewesen und hoffte, der künftige Besitzer würde mich in seinen Diensten behalten. Doch mit dieser Ankündigung änderten sich die Spielregeln. Travel's Echo sollte erschossen werden? Ich konnte es nicht fassen. Trauer ergriff mich, und nur eine einzige Frage beherrschte mein Denken: Warum, um alles in der Welt...? Brazelton unterbrach meine Gedanken. »Mr. Harcourt duldet nicht, dass irgend jemand sonst Travel's Echo besitzt. Er möchte, dass Sie ihn persönlich erschießen. Er soll nicht in einen fremden Stall kommen.« Ich sagte kein Wort, sondern schwieg äußerst verwirrt. Harcourts Widerwille dagegen, Travel's Echo in fremde Hände zu geben, hatte rein gefühlsmäßige Gründe und bekam durch die grausame Forderung nach der Tötung des Tiers etwas völlig Unlogisches. Plötzlich 224
erinnerte ich mich an Harcourts Worte: »Sie verhalten sich rational, wenn ich es nicht bin ...« Ich konnte es nicht fassen. Ich sah Travel's Echo vor mir, wie er damals, vor fast fünf Jahren, den Harcourts einen so glänzenden Einstieg ermöglicht hatte. Ich erinnerte mich an das strahlende Lächeln der beiden beim Applaus ihrer Freunde ... Os Brazelton war noch nicht am Ende. »Mr. Harcourt wünscht auch, dass Sie persönlich die Kutschenponys von Mrs. Harcourt erschießen.« Mrs. Harcourt hatte ein Ponygespann gekauft und gesagt, sie wolle ab und zu rauskommen, um mit ihm auszufahren. Sie war aber nie aufgetaucht. Die Angestellten der Flag Is Up Farms taten in der Zwischenzeit ihr Bestes, die Ponys zu versorgen. Brazelton ergänzte: »Auch Mrs. Harcourt wünscht nicht, dass jemand sonst die Ponys bekommt.« Er machte eine Pause und blätterte ein paar Unterlagen durch, bevor er fortfuhr. »Darüber hinaus ist Mr. Harcourt von der Leistung zweier Pferde - Veiled Wonder und Cherokee Arrow - sehr enttäuscht. Er will, dass Sie sie erschießen, und zwar am besten noch heute. Sie sollen nicht versuchen, diese beiden Pferde zu verkaufen. Er hat große Hoffnungen in sie gesetzt. Die Pferde haben ihn jedoch im Stich gelassen und ihm Schande bereitet.« Nun überrollte mich doch die Feuerwalze, mit der ich gerechnet hatte. Überraschung, Bedauern, Unverständnis - damit war es jetzt vorbei. Ich kochte vor Wut und faßte einen Entschluss: Nicht mit mir! Ich würde die Pferde davor bewahren, von diesem verwirrten Menschen und seinen angeheuerten juristischen Scharfmachern geschlachtet zu werden! Kein Pferd, das unter meiner Obhut stand, sollte den Launen eines labilen Mannes und seinen Möglichkeiten, sich das Recht zu erkaufen, geopfert werden! Brazelton erhob sich und schickte sich an zu gehen. Abschließend sagte er: »Ich werde mich täglich mit Ihnen in Verbindung setzen, um den Verkauf zu erleichtern.« Er drehte sich um und durchquerte das Haus. Ich hörte, wie die Tür zuschnappte. Er ging zum Auto, in dem Mr. Harcourt auf ihn wartete. Ich war auf der Veranda sitzen geblieben. Vor meinen Augen lag das Gestüt, das ich aufgebaut hatte. Ich fühlte mich hohl und leer durch den Schock. 225
Ich hatte aber keine Zeit, um mich zu bemitleiden, denn wenn ich nicht schnell reagierte, würden mir die Dinge aus den Händen genommen werden. Ich war bevollmächtigt, Verträge zu unterschreiben, und daher standen mir noch ein paar Möglichkeiten offen. Ich musste Mittel und Wege finden, um das Leben der Tiere zu retten. Brazeltons Worte hallten in meinem Kopf nach: »... haben ihn ... im Stich gelassen und ihm Schande bereitet...« Cherokee Arrow und Veiled Wonder sprühten vor Leben. Sie waren Pferde aus gutem Stall, die ihre Rennen gewannen und uns nur deswegen »enttäuscht« hatten, weil wir extrem hohe Erwartungen in sie gesetzt hatten. Ich ging hinunter zu ihren Boxen und betrachtete sie sorgenvoll. Sie ahnten ja nicht, welche Gedanken mich bewegten. Ich beruhigte sie, tätschelte ihre Nüstern und überlegte, was ich für sie tun konnte. Ich ging hinüber ins Büro und blätterte in den Papieren. Erst vor einem Monat hatten wir Veiled Wonder und Cherokee Arrow noch mit allen anderen Pferden Harcourts geschätzt. Ich sah näher hin, und es war genau so, wie ich es mir gedacht hatte: Veiled Wonder war auf dreitausendfünfhundert und Cherokee Arrow auf dreitausend Dollar geschätzt worden. Das einzige, was ich machen konnte, war, sie zu verkaufen - gleich jetzt, sofort. Ich musste dabei nur sicherstellen, dass das Geld auf dem üblichen Weg auf die Konten des Gestüts gelangte; andernfalls hätte ich mich dem Verdacht ausgesetzt, sie gestohlen zu haben. Ich rief einen Freund an und bat ihn, mir einen Scheck über sechstausendfünfhundert Dollar zu schicken, auf dem die zwei Pferde erwähnt waren, und versprach ihm, das Geld zurückzuzahlen. Er war einverstanden, und ich leitete sofort die Verschiffung der Pferde nach England in die Wege. Nach Ablauf der Quarantänezeit sollten sie zur Alton Lodge in Neuseeland transportiert werden, wo auch Sharivari und Bahroona zur Zucht standen. Ruhig und routiniert ließen sie sich aus ihren Ställen führen und in den Lastwagen verladen. Sie mussten denken, dass ihnen eine völlig normale Reise bevorstand. Weder wussten sie, dass man sie ans andere Ende der Welt bringen würde, noch, dass sie soeben dem sicheren Tod entronnen waren. Sie waren entspannt und in bester Verfassung und schritten mit nach vorn gerichteten Ohren in den Transporter. Mir fehlte jedes Verständnis für das Verhalten von Mr. Harcourt. 226
Was ging bloß im Kopf dieses Mannes vor? Und wie würde er reagieren, wenn er herausfand, dass ich mich geweigert hatte, seine Pferdet umzubringen? Moralisch betrachtet war mein Verhalten untadelig, auch wenn ich Mr. Harcourts Anordnungen nicht befolgte. Der Erlös für die Pferde in voller Höhe des Schätzwerts blieb seinem Gestüt erhalten. Harcourt war ein kranker Mann, der irrationale Entscheidungen traf. Ich konnte nicht zulassen, dass die Tiere zu Opfern seiner Krankheit wurden. Als nächstes musste ich mich um das Ponygespann kümmern. Ich rief eine Dame an, von der ich wusste, dass sie den Tieren ein gutes Zuhause bieten konnte. Innerhalb einer Stunde war sie auf dem Gestüt und holte die Ponys ab. Ich führte sie aus ihren Boxen in den Lastwagen. Sie waren fröhliche kleine Geschöpfe, die eine Zeitlang unterfordert gewesen waren. Hoffentlich hatten sie nun ein besseres Leben! Der nächste Anruf galt einem Nachbarn. »Kann ich bei Ihnen heimlich ein Pferd unterstellen?« »Was ist denn los?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen, aber wenn ich Ihnen versichere, dass das Leben des Tiers in Gefahr ist, würden Sie es dann aufnehmen und darüber schweigen wie ein Grab?« »Ja, okay, ich denke schon.« »Sie haben sein Leben gerettet!« »Schicken Sie mir den Gaul rüber. Wie heißt er denn?« »Es ist besser, wenn ich Ihnen das verschweige.« Ich führte Travel's Echo aus seiner Box und verfrachtete ihn in einen unserer Transporter. Nicht weit entfernt von Solvang sollte er versteckt bleiben, bis etwas Gras über die Sache gewachsen war. In dieser Hektik vergingen der ganze Nachmittag und ein guter Teil des Abends. Als letztes besuchte ich Johnny Tivio in seiner Box, um mich noch mal bei ihm zu melden und zu sehen, ob er noch gesund und munter war. Wie immer war seine Box makellos; die Äpfel lagen auf einem sauberen Haufen in einer Ecke. Es kam kaum vor, dass Johnny Tivio einmal in die Box urinierte. »Du bist fast stubenrein, nicht wahr, mein Junge«, sagte ich zu ihm. »Du würdest gern bei mir im Haus wohnen, in deinem eigenen Zimmer, was?« Still und gelassen blickte er mich an. Oft kam es mir so vor, als arbeitete ich für ihn und nicht er für mich. 227
Sehr früh am nächsten Morgen erhielt ich einen Anruf. »Mr. Roberts?« Es war eine Frauenstimme, normal und unbeteiligt, so, als habe sie jemanden am anderen Ende der Leitung, bei dem sie sich über eine defekte Geschirrspülmaschine beschweren wollte. »Am Apparat.« »Ich rufe Sie im Auftrag von Hastings Harcourt an.« »Ja.« »Können Sie mir bestätigen, dass das Pferd Travel's Echo getötet wurde?« Ich musste lügen, aber die Worte blieben mir im Halse stecken. Noch nie war ich in einer Situation gewesen, in der ich gezwungen war, jemanden zu betrügen. Aber jetzt war es unbedingt nötig. »Ja, er ist fort.« »Und die zwei Junghengste, Veiled Wonder und Cherokee Arrow, sind ebenfalls tot?« »Ja, auch sie sind weg.« »Und können Sie mir auch bestätigen, dass die Ponys von Mrs. Harcourt ebenfalls getötet wurden?« »Ja, auch sie sind fort.« »Und zuletzt brauche ich Ihre Bestätigung, dass Sie persönlich die Verfügung ausgeführt haben.« »Ja.« »Vielen Dank, Mr. Roberts.« Die Leitung klickte, und die körperlose Stimme war verschwunden. Die nächsten Monate bedeuteten für uns Chaos. In einem Umkreis von fünftausend Kilometern versuchten wir Zuchtstuten, Jährlinge, Fohlen und Rennpferde zu verkaufen. Unsere Kinder waren jetzt zehn, zwölf und vierzehn Jahre alt. Für sie war nur schwer begreiflich, was sich da vor ihren Augen abspielte - und ich muß sagen, dass sie nicht die einzigen waren, denen es so ging. Sofort begann ich, Kontakte zu Branchenkennern aufzunehmen, und versuchte, einen Käufer für die Flag Is Up Farms zu finden. Wir kämpften wie um unser Leben und spürten dabei den Atem Os Brazeltons und den der Harcourts im Nacken. Wenn es uns nicht schnell genug gelang, einen neuen Besitzer aufzutreiben, würde das Gestüt aufgeteilt und in Einzelgrundstücken verkauft werden. Trotz der enormen Anspannung und Unruhe, die die Familie 228
ergriffen hatte, war ich einigermaßen zuversichtlich, dass alles gutgehen würde. Ich hatte die Erschießung der Pferde verhindern können, und offensichtlich hatte Harcourt meine Notlügen für bare Münze gehalten, denn niemand suchte die Tiere. Außerdem gab es da - toi, toi, toi - einen Interessenten, der es sich leisten konnte, Flag Is Up mit allem, was dazugehörte, zu erwerben. Es handelte sich um Mr. Rudolf Greenbaum aus Los Angeles. Unterdessen versuchten wir, bei unserer Arbeit den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten, auch wenn es nicht immer gelang. Zwei Monate später, in der ersten Dezemberwoche, faßte Mr. Greenbaum endgültig den Entschluss, Flag Is Up zu kaufen, dazu zwölf Jährlinge, die beiden Zuchthengste Gladwin und Petrone, den Wagenpark und die Ausrüstung; mit anderen Worten alles, was nötig war, um den Betrieb in Gang zu halten. Der Preis wurde ausgehandelt und in der dritten Dezemberwoche bei einer Rechtstitelversicherung eine Übertragungsurkunde ausgefertigt. Mr. Greenbaum hinterlegte zweihunderttausend Dollar auf einem Treuhandkonto, und damit war der Handel perfekt. Wir waren gerettet - und nicht nur das: Weil wir uns nicht länger um die psychischen Probleme von Hastings Harcourt und seiner Frau Gedanken machen mussten, hatte sich unsere Situation sogar verbessert. Doch dann trat unvermittelt wieder eine Wendung zum Schlechten ein. Am 3. Januar 1972 erhielt ich einen Anruf von Brazelton. Er teilte mir mit, dass alles wieder in der Schwebe sei und dass ich mich auf eine Besprechung mit ihm auf Flag Is Up vorbereiten solle. Er trat mit einer großen Aktentasche in mein Büro und bat mich, an meinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Dann begann er im Zimmer auf und ab zu gehen und trug etwas vor, das wie eine gut einstudierte Rede klang. »Mr. Harcourt ist außer sich!« begann er. »Er hat erfahren, dass Sie Veiled Wonder und Cherokee Arrow nicht erschossen haben. Ein Freund von Ihnen hat die beiden gekauft, um sie dann später auf Ihren Namen zu überschreiben. Wie es den Anschein hat, haben Sie die Pferde gestohlen.« Brazelton machte eine Pause und fuhr mit leiser Stimme fort: »Wenn ich alles durchgesehen habe, werde ich dafür sorgen, dass sie wie Jesse James dastehen!« 229
Mir war klar, was hier lief. Es ging weder um den Besitz noch um die Pferde, noch um das Geld oder um unsere Familie, sondern um das Ausleben des Sandburgen-Syndroms. Der Verkauf des Gestüts war zu glatt gegangen; die Wellen, die Mr. Harcourt geschlagen hatte, waren noch nicht hoch genug. Da saß ich nun und fragte mich, wie ich in diesen Schlamassel hineingeraten war. Es war wirklich unglaublich! Ich wollte nicht als Pferdedieb gebrandmarkt werden, ich wollte keine Pferde erschießen, und ich wollte wegen dieses Mannes nicht vor Gericht stehen! Ich wollte mit Johnny Tivio ausreiten und den ganzen Ärger vergessen! Statt dessen wurde ich als Pferdedieb angezeigt und verhaftet. Mr. Harcourt setzte alle Hebel in Bewegung, um mich und meine Familie zu schikanieren. Ich saß in einer Gefängniszelle, mein Fall machte überall im Westen der USA Schlagzeilen, mein guter Name wurde auf den Titelblättern der Zeitungen in den Dreck gezogen, meine Familie war krank vor Kummer, und unsere Zukunft war zerstört. Ich saß also hinter Gittern und wartete auf die Abwicklung des Kautionsverfahrens. Ich musste in dieser Situation daran denken, wie ich zum letztenmal ein Gefängnis von innen gesehen hatte, und das heiterte mich ein wenig auf. Es war 1964 gewesen. Ich saß am Steuer meines nagelneuen Wagens, eines metallic blauen Oldsmobile 98. Zusammen mit Hoss Dilday und den Pferden Johnny Tivio und Night Mist im Anhänger waren wir von einem Turnier zum nächsten unterwegs. Die Entfernung betrug knapp neunhundert Kilometer. Das Oldsmobile ließ sich wunderbar fahren. Ich spielte einige Kassetten der Tijuana Brass, die mir irgend jemand kurz zuvor gegeben hatte, und wir fühlten uns glücklich. Für mich war es die schönste Musik. Von Herb Alpert und der Tijuana Brass begleitet über die Landstraße zu gondeln, war ein herrliches Gefühl. Mit den zwei besten Pferden, die jemals gelebt hatten, und diesem brandneuen Oldsmobile gehörte uns die Welt. Kurz hinter Huron sagte ich zu Hoss: »Das ist das beste Auto, das ich je besessen habe. Das Fahren ist ein einziges Vergnügen. Das Leben ist doch großartig, findest du nicht auch?« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, als unter der Motorhaube eine gewaltige Explosion stattfand. Eine Stichflamme schoß 230
aus dem Armaturenbrett geradewegs auf Hoss und mich zu. Hoss war vor Schreck und Angst kreidebleich. Ich lenkte den Wagen auf den Seitenstreifen. Das Feuer wütete im Motorraum, Flammen schlugen unter der Motorhaube hervor. Als erstes packte ich meine Herb-Alpert-Kassetten und schleuderte sie aus dem Wagen. Hoss machte vom Beifahrersitz einen Satz ins Freie, und ich sprang auf meiner Seite mit den Schlüsseln in der Hand nach draußen, denn ich dachte an die Pferde! Schon hatten die Flammen die Vordersitze erreicht. Auf dem Highway hinter uns war ebenfalls eine Flammenspur zu sehen. Offenbar hatten wir Sprit verloren. Unwillkürlich musste ich an den Benzintank denken. Hoss zog die Ausrüstung aus dem Wagen, während ich nach hinten rannte, die Tür des Hängers öffnete und die Pferde hinausführte. Ich brachte sie in die Wüste, und Hoss schleppte Sättel und Zaumzeug an. Während Hoss die Pferde hielt, rannte ich zurück, koppelte den Anhänger ab und stieß ihn mit der Schulter vom Oldsmobile fort, damit wir wenigstens ihn gerettet hätten, falls das Auto explodieren sollte. Es gelang mir, ihn etwa drei Meter vom Auto wegzubewegen. Ein Mann in einem Pick-up, der in Richtung Huron an uns vorbeifuhr, rief uns zu, er werde die Feuerwehr verständigen. Selbstverständlich war Johnny Tivio auch im Freien sofort Herr der Lage. Der Motorschaden war ganz nach seinem Geschmack, und er hätte sich lediglich ein paar Erfrischungen gewünscht. Er war sich nicht sicher, den besten Platz erwischt zu haben, und hatte einige allgemeine Beschwerden über den Service vorzubringen. Inzwischen hatte das Feuer das gesamte Auto erfaßt und den Innenraum zerstört. Der rechte Vorderreifen platzte, worauf das Gummi erst richtig zu brennen anfing. Das Fahrzeug glich einer Fackel. Kurz darauf hörte ich in der Ferne Sirenen heulen. Aus Huron ruckte das unmöglichste Feuerwehrauto an, das man sich vorstellen kann, wenngleich Johnny Tivio davon nicht im geringsten beeindruckt war. Das Gefährt war wahrscheinlich in den dreißiger Jahren gebaut worden und sah aus, als sei es einem Hollywood-Film entsprungen. An seiner Außenseite waren zahlreiche Leitern befestigt, und überall hatten sich Feuerwehrleute angeklammert, die wegen der 231
Hitze nur Unterhemden trugen. Sie stellten den Laster in der Mitte der Straße ab, schalteten die Warnleuchte ein und stoppten den Verkehr. Es dauerte noch vier oder fünf Minuten, bis die Pumpen angeworfen waren und das Wasser lief. Ein paar Minuten später hatten sie das Feuer gelöscht; aber da war von dem Auto schon nicht mehr viel übrig. Der Mann mit dem Pick-up kam zurück, koppelte mit Hilfe von ein paar Feuerwehrmännern meinen Pferdeanhänger an seinen Wagen an und lud auch meine Ausrüstung auf. Er erbot sich, uns mit Johnny Tivio und Night Mist in die Stadt zurückzubringen. Außerdem hatte er bereits mit der Polizei gesprochen. Anscheinend gab es neben dem Polizeigebäude einen Abstellplatz, wo wir den Anhänger parken, die Pferde anbinden und ihnen Wasser und Futter geben konnten. Von dort aus konnten wir dann Hilfe holen. Wie sich herausstellte, war unser Retter im Pick-up ein Fan von Johnny Tivio und hatte ihn schon oft bei Turnieren gesehen. Er konnte es kaum fassen, dass er ausgerechnet dieses Pferd gerettet hatte. Spät in der Nacht hatten wir die Pferde entladen und den Wohnwagen neben der winzigen Polizeistation abgestellt. Die Tiere wurden angebunden, und Hoss blieb bei ihnen. Ich betrat die Polizeistation, die nur etwa so groß wie eine Pferdebox war, rief in San Luis Obispo an, riß Pat aus dem Schlaf und erzählte ihr, was passiert war. Danach fragte ich den Polizeibeamten, ob ich hier irgendwo ein Zimmer für die Nacht bekämmen könne. »Hm, in dieser Stadt gibt es nichts außer einem Bordell, in dem jedes Zimmer mit einem Mädchen besetzt ist«, sagte er. Ich schüttelte den Kopf. »Wenn Sie wollen, können Sie gern auf einer Pritsche in einer der Zellen hier schlafen ...« Und dann führte er mich zu meiner Zelle. Wir verbrachten die Nacht im Gefängnis von Huron! Die Heiterkeit und Komik dieser Situation und die Hilfsbereitschaft der Beteiligten ließen mir erst voll zu Bewußtsein kommen, wie ungerechtfertigt mein jetziger Gefängnisaufenthalt war. Mir fiel, während ich in der Zelle saß und wartete, auch wieder der Brief ein, den ich damals, als ich nach Hause kam, vorfand. Ich solle doch bitte das Oldsmobile noch einmal in die Werkstatt bringen. 232
Man habe einen Fehler entdeckt, der möglicherweise einen Motorbrand auslösen könne! Irgend jemand nannte meinen Namen und riß mich aus meinen Träumen. Ich sah einen Polizisten in der Tür stehen. »Kommen Sie mit!« sagte er. Im Flur, außer Hörweite der anderen Gefangenen, sagte er: »Ich verstehe das nicht. Da hat es ein Privatmann geschafft, irgend jemanden dazu zu überreden, einen Anruf direkt an Sie durchzustellen. Normalerweise ist das verboten, aber ich habe Anweisung, Sie mit diesem Mann sprechen zu lassen.« Wir betraten einen kleinen Raum. Das Telefon war an der Wand angebracht, und ein weiterer Polizist hielt mir den Hörer hin. Ich rechnete schon mit Harcourt. Wer sonst hatte die Macht, sich über alle Vorschriften hinwegzusetzen? Ich nahm den Hörer entgegen. »Hallo?« »Hallo«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, »hier ist Glen Cornelius.« »Glen!?« Es überraschte mich, eine bekannte Stimme zu hören, noch dazu die Stimme eines Freundes und guten Mannes. Er kam sofort zur Sache. »Ich bin auf dem Sprung zu einem Treffen bei dir zu Hause. Du sollst wissen, dass es eine Gruppe von Leuten in der Gegend gibt, die an dich glauben und Harcourt stoppen wollen.« Dann fragte er geradeheraus: »Hast du diese beiden Pferde gestohlen?« »Nein, weder die Pferde noch sonst etwas«, antwortete ich. »Sie wollen fünfzigtausend Dollar Kaution. Ich habe den Betrag in einer Einkaufstasche bei mir. Nach dieser Besprechung bei dir zu Hause komme ich rüber und hole dich raus.« Die unerwartete Nachricht gab mir neuen Mut. Das Auf und Ab war mehr, als ich ertragen konnte. Zu den Leuten, die an der Besprechung teilnahmen, weil sie uns unterstützen wollten, gehörten Marge und Vince Evans, George und Kathy Smith, John und Glory Bacon, Dr. Jack und Cae Algeo, Peggy und Slick Gardner, Raymond und Rosalie Cornelius sowie Glen und Ora Cornelius. Das waren unsere Freunde, und sie kämpften für uns. Als ich am nächsten Tag aus dem Gefängnis entlassen wurde und zurückkehrte, wurde Flag Is Up von starken Scheinwerfern ange233
strahlt. Harcourts Wachleute hatten ihre Posten um das ganze Haus verteilt. Unsere Anwälte rieten uns, das Anwesen sofort zu verlassen. Wir verfügten über keine Fahrzeuge, denn die gehörten alle Flag Is Up. Wir saßen also praktisch fest. Doch schon nach ein paar Minuten erschien Slick, der Sohn von Mr. Gardner, und half Pat, alles einzuladen, was wir brauchten, um auf der Gardner Ranch einen Haushalt einzurichten. Ich lief zum Stall und sattelte Johnny Tivio, Jess und Cadillac. Diese drei Pferde mussten unbedingt vom Gestüt weggebracht werden. Als ich Johnny Tivio sattelte, kam eine Büroangestellte und sagte mir, die Pferde mussten auf den Flag Is Up Farms bleiben. In Wirklichkeit war allen Beteiligten bekannt, wem die Pferde gehörten. Ich lächelte sie an, ließ mich aber nicht von meinem Tun abhalten. Sie wusste, wem die Pferde gehörten, dass Harcourt Amok lief und versuchte, so viele Pferde wie möglich umzubringen, und dass keine Macht der Welt mich von Johnny Tivio trennen konnte, es sei denn, über meine Leiche. Ich packte soviel Zaumzeug und Ausrüstung wie möglich auf meine drei Pferde. Dann bestieg ich Johnny Tivio und führte die anderen beiden neben mir her. Ich ritt an den Gebäuden entlang, die ich so sorgfältig geplant hatte, vorbei an den Koppeln, die ich sechs Jahre lang gepflegt hatte. Alles sah so friedlich und geordnet aus. Die Schönheit der Anlage verfehlte auch an diesem Tag nicht ihre Wirkung auf mich; ich war stolz darauf. Ich hatte diese Zäune gebaut, die nun als schnurgerade Linien das Weideland begrenzten. Ich hatte die Gebäude entworfen und die Brunnen gegraben. Dann diese Pferde auf der Weide - einige trainierte ich gerade, bei anderen stand der Beginn der Ausbildung kurz bevor. Sie wissen nichts von unseren Sorgen und Nöten, dachte ich, und wir wissen nichts von den ihren. Aber ich wollte noch mehr von ihnen wissen und fühlte mich in meinem Entschluss bestärkt, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, meine Fähigkeit, gestörten Pferden zu helfen, weiterzuentwickeln, und meine Technik, junge Pferde einzureiten, noch zu verbessern. Die Wiesen und Weiden um mich herum würden weiterbestehen, wenn Harcourt schon lange tot war, ja, sie würden auch mich über234
leben. Dieses schöne Tal würde alle Verletzungen überwinden, die der Mensch ihm zufügte. Johnny Tivios Hufe klapperten über den Weg. Er fragte sich wohl, wohin diese außergewöhnliche Reise gehen würde. Wie immer fühlte er sich für jeden verantwortlich; die Ohren wanderten vor und zurück, halb hörte er mir zu, halb prüfte er, was vor uns passierte. Johnny Tivios Selbstvertrauen, sein Glaube an sich selbst und seine natürliche Überlegenheit kamen mir in diesem Moment wie Goldstaub vor - magisch und unbezahlbar. Ich liebte dieses Pferd! Am Tor fragte ich mich, wann diese schwere Prüfung wohl vorüber sein mochte, die unser aller Leben belastete. Würde ich jemals wieder auf Flag Is Up zurückkehren? An diesen Ort, den ich ausgewählt, geplant und bebaut hatte und der mich acht Jahre meines Lebens gekostet hatte? Ich lenkte Johnny Tivio auf die Straße. Ein paar hundert Meter weiter bogen wir in die Einfahrt der Gardner Ranch ein. Jess und Cadillac trotteten an ihren Führstricken hinter uns her. Mit jedem Schritt, den mich Johnny Tivio weiter von all den Problemen wegtrug, wurde mir leichter ums Herz. Und als wir uns den an einen Berghang geduckten, weißgetünchten Gebäuden näherten, erfüllte mich Dankbarkeit für Peggy und Slick, die uns spontan einen Zufluchtsort angeboten hatten. Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir bleiben würden - vielleicht nur einen Tag, vielleicht eine Woche, vielleicht ein Jahr? Im folgenden Jahr nahm das Verfahren gegen mich seinen Lauf. Harcourt und seine Anwälte konnten mir, was die Pferde Veiled Wonder und Cherokee Arrow betraf, nur ein »minderschweres Delikt« vorwerfen. Sie versuchten zwar hartnäckig, mir einen Diebstahl anzuhängen, aber da ich aus der Nichtbefolgung von Harcourts Anweisungen keinen Profit gezogen hatte, war ihre Argumentation wenig stichhaltig. Im Endeffekt blieb es bei dem minderschweren Vergehen. Dem folgte ein langwieriger Rechtsstreit mit diversen Parteien auf verschiedenen Seiten. Greenbaum, der überzeugt war, er habe das Gestüt gekauft, verklagte Harcourt auf zehn Millionen Dollar. Anwälte der Kanzlei Hollister strengten für mich einen Prozeß an. Sie forderten von Harcourt wegen falscher Anschuldigung dreißig 235
Millionen Dollar. Die Zahl der Anwaltsgespräche, die Pat und ich führen mussten, überstieg die unserer warmen Mahlzeiten. Harcourt wollte mir unter allen Umständen einen Diebstahl in die Schuhe schieben und bezahlte jeden, von dem er sich eine Verbesserung seiner Chancen erhoffte. David Minier, der Bezirksstaatsanwalt, wollte mit diesem juristischen Fiasko nichts mehr zu tun haben, wusch seine Hände in Unschuld und gab seine Kandidatur für das Amt des Gouverneurs von Kalifornien bekannt. Dokumente der Flag Is Up Farms verschwanden oder tauchten wieder auf, je nach Lust und Laune von Harcourts Anwälten. Ich befand mich im Mittelpunkt dieses Rechtsstreits. Nie wieder will ich mit dergleichen zu tun haben. Allein schon der Gedanke, dies aufzuschreiben, erschöpft mich - und gewiß soll niemand gezwungen werden, das auch noch zu lesen. Als Folge des ganzen Wirbels wurde ein älterer Richter aus dem Ruhestand geholt, um unseren Streit zu schlichten. C. Douglas Smith war ein schmächtiger, distinguierter Herr mit grauen Haaren, bedächtigem Wesen und kühlem Blick hinter seinen Brillengläsern. Als wir den Verhandlungssaal betraten, versuchte jede Seite, das Beste für sich herauszuholen. Die Kanzlei Hollister bestand auf der Forderung nach der vollen Summe von dreißig Millionen. Mein Strafverteidiger wollte einen Freispruch vom Vorwurf des schweren Vergehens. Os Brazelton kämpfte um den Erhalt seiner Anwaltslizenz, während Harcourt alle Hände voll zu tun hatte, damit er nicht wegen übler Nachrede ins Gefängnis wanderte. Der Richter hörte sich das Wortgefecht an. Dann schnitt er allen Beteiligten das Wort ab und verlangte Ruhe. Er habe alle Aussageprotokolle und Dokumente gelesen. Seiner Meinung nach liege kein schweres Vergehen vor - zumindest nicht auf der Seite des Angeklagten. »Ich will diesen Mann lachen sehen«, sagte er und deutete auf mich. Mir gefiel dieser Richter. Ich wollte lachen. Es schien mir eine Ewigkeit her, seit ich das letzte Mal dazu imstande gewesen war. Ich lehnte mich zurück und wartete. Als Mr. Harcourt merkte, auf welch wackeligen Beinen sein Fall stand, geriet er in Panik und begann, Teile von Flag Is Up weit unter Wert zu verkaufen. Gegen Ende des Verfahrens kamen meine Anwälte 236
zu mir und schlugen mir einen Kompromiß vor. Sie seien sich nicht ganz sicher, ob er auch genug Vorteile für mich brächte, doch sei es ihre Pflicht, ihn mir zu unterbreiten: Ich solle auf nolo contendere plädieren, also das minderschwere Delikt zugeben, das darin bestanden hatte, Veiled Wonder und Cherokee Arrow entgegen den Anweisungen Harcourts nicht zu erschießen und die Besitzurkunden auf mich zu überschreiben. Dass ich den Schätzpreis von sechstausendfünfhundert Dollar bezahlt hatte, änderte nichts daran. Die Anwälte meinten, ohne dieses Eingeständnis ließe sich ein Prozeß nicht mehr vermeiden. Für den Fall, dass ich darauf bestand, meine Ankläger vor Gericht zu bringen, war mit einem jahrelangen Streit mit Harcourts Anwälten zu rechnen. Wir einigten uns darauf, dass mir die beiden Pferde, Veiled Wonder und Cherokee Arrow, von Harcourt übereignet wurden. Damit war endgültig bewiesen, dass ich keine gravierende Straftat begangen hatte, obwohl ich ein minderschweres Delikt zugab. Als ich das hörte, spürte ich ein Lächeln auf meinem Gesicht. Vielleicht hatte sich der ganze Aufwand gelohnt, nur um die beiden Tiere wieder auf Flag Is Up zu sehen, in ihrer glückseligen Unschuld und Unkenntnis der Schwierigkeiten, die sie mir bereitet hatten. Alle anderen Vorwürfe sollten fallengelassen werden, und das California Horse Racing Board erklärte sich zur sofortigen Rückgabe meiner Zulassung und zur Ausfertigung eines förmlichen Entschuldigungsschreibens bereit. Vor allem aber gehörten uns die Flag Is Up Farms. Mit der Schadensersatzsumme, die Harcourt uns zu zahlen hatte, konnten wir das Gestüt zurückkaufen. Es war alles vorbei. Wir konnten nach Hause zurückkehren. Ein ganzes Jahr war vergangen, seit Pat und ich, Debbie, Lori und Marty Flag Is Up verlassen hatten. Während unseres Aufenthalts auf der Gardner Ranch hatten wir eine alte Scheune leidlich hergerichtet und für Johnny Tivio, Jess und Cadillac ein Zuhause geschaffen. Jetzt lud ich sie auf den Laster und brachte sie zurück. Johnny Tivio fand es recht interessant, seine alte Box wiederzubekommen. Wahrscheinlich war er ohnehin davon ausgegangen, jederzeit zurückkehren zu können, sofern ihm nur der Sinn danach gestanden hätte. Aber die Rückkehr auf das vertraute Gelände mit 237
den geschmackvollen Stallungen und den großzügig angelegten Paddocks beiderseits des wunderschönen Talrunds machte ihm sichtlich Freude. Beim Betreten unseres Wohnhauses hatten Pat, die Kinder und ich das Gefühl, in eine riesige, verstaubte Scheune zu kommen, die hundert Jahre - und nicht nur zwölf Monate - leergestanden hatte. Alle Möbel waren abtransportiert, und unsere Schritte hallten auf den Holzdielen nach. Spinnweben hingen von den Dachsparren, und die Geschehnisse, die zu unserem Auszug geführt hatten, schienen auf unheimliche Weise wieder ganz nahegerückt zu sein. Wir setzten die Strom- und Wasserversorgung in Gang und öffneten die Fenster, um diesem Haus neues Leben einzuhauchen. Wir riefen die Firma an, bei der unsere Möbel lagerten, und vereinbarten einen Termin für die Rücklieferung. Pat fing wie besessen an, Bilder zu malen, und hängte sie überall im Haus auf. Sie wollte Licht und Farben in unser Leben zurückbringen. Wir sahen uns auf dem Gestüt um und machten uns mit jedem Gebäude und jedem Paddock neu vertraut. Einige der äußeren Bereiche und die Deckhalle waren verkauft worden, doch der Kern war unverändert. Es dauerte eine Weile, bis wir begriffen, dass Flag Is Up nun uns gehörte und dass wir als Familie allmählich wieder auf die Beine kamen. Johnny Tivio stand wieder im Stall, und wir waren unsere eigenen Herren. Das war ein neuer Anfang. Ich war ganz versessen darauf, endlich zu der Arbeit zurückzukehren, auf die ich mich verstand: zur Arbeit mit Pferden. Vielleicht war es dieser Übereifer, der mich zur kapitalen Fehleinschätzung eines Pferdes namens Fancy Heels bewegte. Ich hatte mit unseren Freunden Dave und Sue Abel aus Elko in Nevada über den Besuch der bevorstehenden Elko Horse Show gesprochen. Mich interessierte der Wettbewerb der ausgebildeten Westernpferde, an dem sich alljährlich eine große Zahl von Pferden beteiligte. Sie kommen von Farmen, auf denen sie den ganzen Tag im Einsatz sind und ihre Fähigkeiten üben. Die Schinderei eines speziell für die Arena entworfenen Trainingsprogramms, das die Pferde eher unwillig macht, blieb ihnen erspart. Auf dem Turnier in Elko waren daher oft wunderbare, sportliche Tiere mit gesunder Arbeitsmoral und guter Haltung vertreten. 238
Mir fiel auf der Veranstaltung schon bald ein beeindruckendes Pferd ins Auge. Es hieß Fancy Heels und hatte einen sechsten Sinn für Rinder, verfügte über gute athletische Fähigkeiten und war leicht zu führen. Daheim in Kalifornien, so dachte ich, könnte ich Fancy Heels' Leistungen so steigern, dass er gute Aussichten auf Spitzenplazierungen in bedeutenden Turnieren besäße. Allzuviel Training hatte er meiner Ansicht nach nicht mehr nötig — hie und da eine Korrektur würde genügen, um aus einem guten Arbeitspferd ein erstklassiges Turnierpferd zu machen. Am Samstag gewann Fancy Heels auf der Elko Horse Show den Ausscheidungswettbewerb in seiner Klasse, was ihm einen Startplatz für die Meisterschaft am Sonntag einbrachte, an der die Sieger der einzelnen Klassen teilnahmen. Ich wollte ihn kaufen, bevor er einen derartigen Wettbewerb gewonnen hatte. Deshalb begab ich mich noch am gleichen Nachmittag mit Dave in seinen Stall und stellte mich seinem Besitzer, Randy Bunch, vor. »Ja, er steht zum Verkauf«, sagte Randy. »Das ist der Hauptgrund dafür, warum ich ihn hierhergebracht habe. Ich würde jetzt lieber daheim auf der Ranch sein, aber ich muß ihn verkaufen.« »Wieviel wollen Sie für ihn?« Randy ließ sich einen Moment Zeit. Dann sagte er: »Dreitausendfünfhundert Dollar«. Das war alles andere als teuer. Ich sagte sofort ja. Per Handschlag besiegelten wir das Geschäft, und ich unterschrieb einen Scheck. »Freuen Sie sich schon auf den morgigen Wettkampf?« fragte ich abschließend. »Ach, hören Sie auf! Das Pferd gehört jetzt Ihnen. Sie werden ihn morgen vorführen.« »Jetzt aber mal halblang«, erwiderte ich verdutzt. »Ich habe ihn noch nie geritten und habe nicht einmal Reitkleidung und die entsprechende Ausrüstung dabei.« Randy deutete mit dem Finger auf mich und sagte: »Kommen Sie mal mit. Ich will Ihnen was zeigen.« Fancy Heels trat zur Seite, um uns in die hintere Ecke seiner Box zu lassen. Randy schob die Einstreu fort, und eine halbvolle Flasche Jim-Beam-Whiskey kam zum Vorschein. Er bückte sich, hob die Flasche auf und hielt sie mir hin. »Soviel Whiskey habe ich gebraucht, um die Qualifikation zu über239
leben. Ich habe nicht vor, den Rest zu trinken, um die Meisterschaft zu schaffen. Ich bin hier, um Fancy Heels zu verkaufen. Das ist mir gelungen, und jetzt fahre ich zurück. Ich will vor zehn Uhr heute abend auf der Ranch sein. Viel Glück mit ihm - Sie werden ihn vorführen.« Hilfesuchend sah ich mich nach Dave Abel um. Dave zuckte die Achseln. »So sind die Leute hier, Monty. Ich schätze, du wirst das Pferd morgen reiten. Wir werden schon ein Paar Chaps und Zaumzeug für dich auftreiben.« Am Abend ritt ich Fancy Heels noch eine Stunde, um ein Gefühl für ihn zu bekommen, und am nächsten Morgen noch einmal eine halbe Stunde zum Aufwärmen. Und dann befand ich mich auf einmal auf einem Pferd, das ich noch keine zwei Stunden geritten hatte, in der Arena und ritt auf eine Herde zu, aus der ich ein Rind herausholen sollte. Die Arbeit mit der Herde verlief recht gut, und als es zum Durchgang mit den einzelnen Kühen ging, lag Fancy Heels sogar in Führung. Die Arbeit mit dem Einzelrind verlief, von ein paar Schnitzern abgesehen, ganz akzeptabel. Danach kam die trockene Arbeit - die Stopps und Wendungen ohne Rinder. Auch hier leisteten wir gute Arbeit, so dass wir im Endklassement den zweiten Platz belegten. Ich organisierte den Transport von Fancy Heels zu uns nach Kalifornien. Ich konnte es kaum erwarten, das Training mit ihm zu beginnen und ihn für die offenen nationalen Meisterschaften anzumelden. Nach einer Woche Arbeit mit Fancy Heels war mein Respekt vor Randy Bunch erheblich gestiegen. Mir war jetzt klar, dass die notwendigen Umstellungen schwieriger sein würden, als ich mir das vorgestellt hatte. Fancy Heels war ein erwachsenes, routiniertes Arbeitspferd, und ich kam mit ihm nicht richtig voran. Nach einem Monat lag seine Leistung ungefähr zehn Prozent unter der an jenem Samstag während des Turniers in Elko. Nach zwei Monaten hatte Fancy Heels zwanzig Prozent seiner Leistung verloren. Moment mal, dachte ich, ich bin ein Spitzentrainer für Vollblutrennpferde und habe auch diverse Arbeitspferde zu Weltmeistern gemacht, unter anderem den legendären Johnny Tivio. Ich weiß, dass ich es schaffen kann. Nach drei, vier Monaten Training gab es nichts mehr daran zu rüt240
teln, dass Fancy Heels unter meiner Führung weit zurückgefallen war. Um seinetwillen musste ich mir eingestehen, versagt zu haben, und die Arbeit mit ihm einstellen. Das beste, was ich für ihn tun konnte, war, ihn an eine gute Ranch zu verkaufen, wo er wieder so arbeiten konnte, wie es ihm Spaß machte. Ich weiß nicht, wie oft ich mir während der vielen Stunden, die ich auf Fancy Heels' Rücken verbrachte, gesagt habe: »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr« - mit Sicherheit ziemlich häufig. In Wirklichkeit kann Hans sehr wohl noch lernen, man muß es ihm nur auf die richtige Art beibringen. Und das hatte ich versäumt. Ich hatte mir in meiner Ungeduld von Anfang an eingebildet, ihn rasch verändern zu können. Ich warf ihn aus seiner Bahn und wollte ihn in eine neue zwingen, die meinem Idealstandard entsprach. Auf seine eigenen Gefühle nahm ich dabei keine Rücksicht. Ein solches Vorgehen funktioniert nicht. Könnte ich noch einmal mit Fancy Heels arbeiten, würde ich mir keinen Zeitrahmen für bestimmte Änderungen setzen und nicht mehr von ihm verlangen, dass er ihn einhält. Ich habe Fancy Heels unrecht getan, aber ich habe von ihm gelernt, Pferde zu respektieren und nicht sofort Perfektion von ihnen zu verlangen. Ich bin davon überzeugt, dass die vielen gestörten Pferde, mit denen ich in den letzten zwanzig Jahren gearbeitet habe, von der Lektion, die mir Fancy Heels erteilt hat, profitiert haben. 1974 erhielt ich den schlimmsten Anruf, den man sich vorstellen kann. »Monty?« »Ja.« »Crawford ist unglücklich gestürzt. Er hat sich das Genick gebrochen.« Mein alter Freund Crawford Hall lag schwerverletzt auf der Intensivstation. Ein junges Pferd war plötzlich durchgedreht und hatte ihn abgeworfen. Dave Abel, ein Klassenkamerad von Crawford, war zufällig auf dem Gestüt, als ich die Nachricht hörte. Wir stiegen sofort ins Auto und fuhren auf dem schnellsten Weg nach Fresno, wo Crawford im Krankenhaus lag. Während der Fahrt dachten wir intensiv an ihn und 241
ließen alles, was wir über ihn wussten, vor unserem geistigen Auge Revue passieren. Crawford Hall ist der Sohn von Clark Hall, der eine ansehnliche Rinderranch in Shandon besaß und leitete. Shandon liegt in Kalifornien unweit der Stelle, an der James Dean starb. Clark war Sportler, eine Art Hansdampf in allen Gassen. In den späten vierziger Jahren war er ein guter Team-Roper, der an JackpotTeam-Ropings in Kalifornien und an einigen der großen Rodeos des Landes teilnahm. Vom zehnten bis zu meinem zwölften Lebensjahr übten Clark Hall und ich gemeinsam. Dabei lernte ich ihn gut kennen und besuchte ihn einige Male auf seiner Ranch. Sein Sohn Crawford fing damals gerade mit dem Reiten an. Er half auf dem Gestüt kräftig mit und kümmerte sich später mit seinem Vater um die Rinder. Anfang und Mitte der fünfziger Jahre, als ich an der nur achtzig Kilometer von Shandon entfernten Cal-Poly studierte, sah ich Crawford sehr häufig. In dieser Zeit begann er, Pferde auf Wettbewerben zu präsentieren und im Junior Rodeo eine aktive Rolle zu spielen. Als ich Anfang der sechziger Jahre das College verließ, kam er oft zu mir nach Hause, weil Sandra Lewis bei uns arbeitete. Er hatte ein Auge auf sie geworfen und heiratete sie später auch. Die Hochzeit von Sandra und Crawford war fast ein Familienfest. Durch die Verbindung mit Sandra lernte ich ihn besser kennen. Die beiden zogen nach Fallon in Nevada, wo er für seinen Vater eine Futterranch führte. Trotzdem blieben wir in regem Kontakt. Leider ging es mit Sandra und Crawford nicht gut. Nach zahllosen Versuchen, ihre Beziehung wieder zu kitten, trennten sie sich. 1973 nahm Crawford einen Job in Tulare bei einem sehr engen Freund und ehemaligen Klassenkameraden von mir an. Er hieß Greg Ward und bildete Cutting Horses, Reined Cowhorses und Quarter Racehorses aus. Und jetzt musste sich Crawford von einem Tag auf den anderen mit der Tatsache auseinandersetzen, nie wieder reiten zu können. Im Krankenhaus wurden wir sofort in ein Zimmer auf der Intensivstation geführt, wo Crawford wegen einer schweren Rückgratverletzung behandelt wurde. Nie werde ich den Anblick beim Betreten des Zimmers vergessen. In Crawfords Kopf war ein Bolzen eingelassen, ebenso in seinen Fersen. An diesen beiden Punkten war er an 242
einem Gerät befestigt, das wie ein Grillspieß aussah. Es sorgte nicht nur für die nötige Spannung, sondern diente auch dazu, den Patienten schonend zu drehen und so die Gefahr einer Schädigung lebenswichtiger Organe zu mindern. Der Arzt nahm uns beiseite, um uns seinen Zustand zu erklären. Ruhig erläuterte er: »Von den Schultern abwärts hat Crawford kein Gefühl. Er ist querschnittsgelähmt. Wahrscheinlich wird er seine Arme allenfalls noch zu fünf bis sechs Prozent gebrauchen können. Er hatte einen sehr schweren Unfall und kann froh sein, überlebt zu haben. Ich fürchte, er hat noch einen langen Weg vor sich.« Wir kehrten ans Krankenbett zurück und warteten, bis wir mit ihm sprechen konnten. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie Crawford sich anfangs bemühte, mit seinem Trauma fertig zu werden. In seinen Äußerungen schwangen sehr gemischte Gefühle mit: halb Hoffnung, halb Depression, und immer noch Schock. »Nichts mehr mit Pferden zu tun zu haben, das ist doch kein Leben, oder?« sagte er. »Das ginge mir genauso. Zerbrich dir darüber jetzt nicht den Kopf, wir finden schon einen Weg.« »Versprichst du mir etwas?« »Was denn?« »Wenn ich zu nichts mehr nutze bin, außer irgendwo Bleistifte zu verkaufen, gebt ihr mir dann bitte genug Tabletten, damit ich einschlafen kann?« »Du wirst keine Bleistifte verkaufen, Crawford.« »Verdammt, wahrscheinlich reicht's ja nicht einmal mehr dazu. Ich werde mir nicht einmal die Tabletten in den Mund stecken können. Mach es für mich, wenn ich dich darum bitte!« »Okay. Wir werden schon was für dich finden.« »Irgend etwas werde ich tun. Nur tatenlos herumliegen kommt nicht in Frage. Irgendwo gibt es eine Nische für mich.« Er bot einen verzweifelt unglücklichen Anblick, und wir waren voller Mitgefühl. Auf der Rückfahrt dachte ich laut darüber nach, ob sich auf dem Gestüt nicht irgendein Job für Crawford finden ließe. Vom Gelände her sah ich keine Schwierigkeiten. Die Hauptgebäude und Büros lagen auf gleicher Höhe, und der Boden zwischen den Ställen, der überdachten Reitschule, den Longierringen und der Rennbahn war gut befestigt. 243
Ich dachte mir folgendes: Sobald Crawford mit einem elektrischen Rollstuhl umzugehen gelernt hat, kann er als eine Art Aufseher arbeiten. Er behält den ganzen Betrieb im Auge und läßt mich wissen, wo es was zu erledigen gibt. Bald fand ich auch einen geeigneten Standort für ein behindertengerechtes Haus. Die Idee nahm Formen an: Als Inspizient konnte er mir in den verschiedensten Bereichen helfen. Er würde seine eigene Rolle finden und seine Position gemäß seinen Fähigkeiten ausbauen. Auch Dave Abel war von der Idee angetan. Er war begeistert, dass es für seinen Freund eine Chance gab, auch weiterhin mit Pferden zu arbeiten und in einer Umgebung zu leben, die ihm vertraut war. Nach ein paar Tagen rief ich im Krankenhaus an und sprach mit Crawford über den potentiellen Job. Nur vier oder fünf Monate später reisten er und seine Freundin Lisa Guilden, mit der er schon vor dem Unfall zusammen war, von Fresno nach Solvang, um sich seine künftige Wirkungsstätte anzusehen. Sie hatten ein Fahrzeug mit einer Spezialausstattung, die es ihm ermöglichte, mit dem Rollstuhl hineinzufahren und diesen festzuschnallen. So konnte Crawford immerhin reisen, auch wenn es mühsam und schwierig für ihn war. Sein grausames Schicksal hätte jeden von uns treffen können, aber er war es, der tatsächlich damit leben musste. Das war keineswegs leicht. Wie auch immer, seine Chancen, besser mit dem Rollstuhl umgehen zu lernen, standen nicht schlecht, und die Zukunft würde gewiß auch bessere Rollstühle bringen. Ich erinnere mich, dass er den rasanten technischen Fortschritt ansprach. Er hoffte, sich auf dem Gestüt eines Tages annähernd so gut wie ein gesunder Mensch bewegen zu können. Die Leute, die mit Crawfords Rehabilitation befaßt waren, schickten Ärzte und Therapeuten zu uns. Einer nach dem anderen bemühte sich, uns davon zu überzeugen, dass wir schier Unmögliches versuchten. Der menschliche Körper habe große Schwierigkeiten, sich an den Zustand der Lähmung anzupassen, sagten die Ärzte. Es sei ihre Aufgabe, zukünftige Arbeitgeber davon zu unterrichten. Sie wollten verhindern, dass wir das, was auf Crawford zukam, unterschätzten und durch unser spontanes Mitgefühl falsche Hoffnungen in ihm weckten. Sie erläuterten uns Dutzende von körperlichen Gebrechen, mit denen Crawford rechnen musste, und teilten uns schließlich mit, dass 244
seine Lebenserwartung realistisch nur drei bis fünf Jahre betrage. Sollte er allerdings wider Erwarten die ersten fünf Jahre überstehen, stiegen seine Chancen, ein Alter zu erreichen, das der normalen Lebenserwartung entsprach. Ein paar Monate später wohnte Crawford in einem Fertighaus, das ihm seine Familie zur Verfügung gestellt hatte und das seinen speziellen Bedürfnissen gerecht wurde. So war er vierundzwanzig Stunden am Tag präsent. Er hatte einen passenden Rollstuhl für sich gefunden und konnte sich auf dem Gelände des Gestüts gut bewegen. Wir setzten uns zusammen, und ich erläuterte ihm, was ich von ihm als meinem Inspektor erwartete. Seine Aufgabe sei es, die Augen offenzuhalten und mir mitzuteilen, wo Verbesserungen erforderlich seien. Gleich von Anfang an bestand Crawford darauf, sich mit meiner Hilfe im Vollblutrennsport auszubilden. Geleitet von einem unersättlichen Appetit auf alles Wissenswerte in diesem Geschäft, lernte er sehr schnell. In kürzester Zeit konnte er sich in die Bedürfnisse der Pferde einfühlen. Ehe ich mich versah, hatte er den Betrieb fest in der Hand. Nach nur einem Jahr beschloß ich, ihm die Trainingsleitung zu übergeben und ihn die täglich anfallenden Entscheidungen treffen zu lassen. Ich selbst würde mich zurückziehen und die Aufsicht übernehmen. In seinem ersten Jahr, 1975, erwarb ich einen Jährling, dem ich den Namen An Act gab. Dieses Pferd war eine gute Schule für Crawford, denn es erwies sich als äußerst vielversprechend und sollte später das Santa Anita Derby gewinnen. Im Jahr darauf kaufte ich Alleged und Super Pleasure. Super Pleasure ist nicht als großartiges Rennpferd bekannt, obwohl er meiner Meinung nach genausoviel Talent dazu gehabt hatte wie alle anderen Pferde, die ich besessen oder ausgebildet habe. Aufgrund einer Halserkrankung blieb ihm eine spätere Karriere als Sprinter aber leider versagt. Wir werden nie wissen, was wirklich in ihm steckte. Mit Alleged, An Act und Super Pleasure hatte Crawford jedenfalls eine sehr solide Grundlage, auf der er aufbauen und nach der er die übrigen Pferde beurteilen konnte. Mit den Jahren wuchs seine Erfahrung, und er wurde zu einem der wertvollsten Mitarbeiter, den man sich als Pferdebesitzer im Renngeschäft vorstellen kann. Im Mittel245
punkt seines Lebens steht die Ausbildung auf den Flag Is Up Farms. Für jeden Pferdehalter ist es ein unschätzbarer Vorteil zu wissen, dass seine Tiere vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage die Woche betreut werden. Als Crawford bei mir anfing, war sein Trainingsstil konventionell. Er selbst war zeitlebens von konservativen Trainern unterrichtet worden, so dass er sich automatisch einer über Jahrhunderte gewachsenen Tradition in der Pferdeausbildung anschloß. Im Laufe der Jahre hat sich seine Einstellung jedoch der meinen mehr und mehr angenähert. Crawford ist heute bekannt für seine Arbeit mit jungen Leuten, die zu uns kommen, um für uns zu reiten. Er pflegt zu ihnen zu sagen: »Laß das Pferd in Ruhe, laß es gehen, laß es ein wenig die Umgebung erkunden, und korrigiere es erst danach. Es wird es schon schaffen. Laß es ein paar Schritte in die Richtung machen, die ihm vorschwebt und lenke es dann dorthin, wo du hinwillst. Nur nichts erzwingen wollen!« Der Jugendliche, der mit dem Pferd seine liebe Mühe hat, wird unweigerlich zurückmaulen: »Aber es wird mir durchgehen!« Crawfords lakonische Antwort darauf: »Wie soll es das denn machen? Rechts hast du den Atlantik und links den Pazifik. Wo soll das Tier denn hin?« Ein Pferd, das die Freiheit bekommt, sich etwas umzusehen, bevor man es wieder diszipliniert, wird viel genauer zuhören und reagieren als ein Tier, das mit Prügeln zur Unterwerfung gezwungen wird. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, lebt Crawford bereits das einundzwanzigste Jahr bei uns. Er ist so gesund und aktiv, wie man es in seinem Zustand nur sein kann. Oft erhält er Besuch von Krankenhausärzten und Therapeuten. Sie machen Videofilme von ihm und dokumentieren seine berufliche Karriere nach dem Unfall. Sein Beispiel dient ihnen bei der Behandlung ähnlicher Fälle als Unterrichtsmaterial. Eine Begegnung mit Crawford Hall ist für jeden eine Bereicherung. Bumm! Der Hammer fiel, wurde genauso schnell wieder gehoben und deutete in meine Richtung. Die ratternde Stimme des Auktionators galt bereits dem nächsten Objekt. Nur ein weiterer Augenblick in 246
Kentuckys langer Geschichte des Handels mit jungen Rennpferden. Diese Versteigerungen von Vollblutpferden basieren zum großen Teil auf Spekulation. Es kommt darauf an, die Siegertypen zu erkennen. Man tut so, als handele es sich um erfahrene Rennpferde, obwohl sie noch nie einen Huf auf die Rennbahn gesetzt haben. Ich hatte gerade vom Hoist-The-Flag-Gestüt einen eingetragenen Vollbluthengst gekauft. Der Jährling, ein Sohn von Princess Pout, war 1974 geboren worden, hatte ein Stockmaß von 1,46 Meter und wog knapp über vierhundert Kilogramm. Er war ein braunes Pferd mit schwarzen Flecken und weißen Fesseln an den Hinterbeinen - und er befand sich in einer elenden Verfassung. Kaum jemand würdigte ihn eines Blickes. Mir dagegen fiel, gerade weil er so mager war, die ungewöhnliche Ausgewogenheit seines Knochenbaus auf. Nie zuvor hatte ich eine derartige Balance bei einem Vollblutpferd gesehen. Ich sollte recht behalten, wie mir ungefähr zehn Jahre später durch einen merkwürdigen Zufall bestätigt wurde. 1984 nahm ich an einem Kongreß über Vollblutpferde teil, der von Dr. Michael Osbourn, einer weltweit angesehenen Kapazität auf dem Gebiet der Anatomie von Vollblütern, organisiert worden war. Gegen Ende seines Vortrags warf Dr. Osbourn mit dem Overheadprojektor den Schattenriß eines Pferdes auf die Leinwand. »Dieses Tier«, erläuterte er, »ist von all den Vollblutpferden, die ich untersucht habe, wahrscheinlich das mit dem perfektesten Körperbau.« Er blickte in die Runde. »Kennt jemand zufällig dieses Pferd?« Ich hob die Hand. »Aha«, sagte Dr. Osbourn. »Sagen Sie, Monty, wie haben Sie Ihr Pferd anhand der Silhouette erkennen können?« Ich antwortete: »Sie haben doch ein System von verschiedenen Kreisen entwickelt, an dem Sie ablesen können, ob bestimmte anatomische Merkmale optimal proportioniert sind. Entweder sie liegen auf den Kreisen oder nicht, stimmt's?« »Ja, das stimmt.« »Ich habe ein ähnliches System, das allerdings mit Dreiecken arbeitet.« Dr. Osbourn bat mich, an den Tageslichtprojektor zu kommen, um meine Dreieckstheorie mit seiner Kreistheorie zu vergleichen. Ich erklärte, meine Dreiecke dienten dazu, die Balance zwischen 247
den beiden tragenden Skelettpartien eines Pferdes, dem Becken und den Schultern, zu erforschen. Diese zwei »Maschinen«, wenn man so will, treiben das Pferd voran. Ihr Bau bestimmt den Leistungsgrad, mit dem der Rest des Körpers auf die Signale des Gehirns reagieren kann. Dr. Osbourn schloß mit den Worten: »Für jene von Ihnen, die immer noch nicht Bescheid wissen: Als dieses Pferd sehr jung war, gehörte es Mr. Roberts. Es heißt... Alleged.« Den Namen hatte sich Pat für ihn ausgedacht. Noch heute führt sie ihn auf dem Nummernschild unseres Autos. Alleged wurde zu einem sagenhaften Erfolg. Er gelangte schließlich in den Besitz von Robert Sangster und einem Investorenkonsortium und gewann zweimal das Arc-de-Triomphe-Rennen. Hier einer meiner liebsten Zeitungsausschnitte aus den Santa Ynez Valley News vom 5. Oktober 1978: »Monty und Pat Roberts vom Gestüt Flag Is Up in Solvang haben in dieser Woche gute Gründe, stolz zu sein. Alleged gewann letzten Sonntag den 57. Prix de L'Arc de Triomphe in Longchamp, Frankreich. Von Lester Piggott geritten, siegte Alleged mühelos mit zwei Längen Vorsprung vor Trillion in einer Zeit von 2:36.5 ...« An einem wolkenverhangenen Tag im November 1975 ritt ich mit Johnny Tivio über das Gestüt. Wie es meine Gewohnheit war, sah ich auf den Koppeln nach dem Rechten, überprüfte die Zäune, warf einen kritischen Blick auf die Pferde, und so weiter. Die meisten meiner Ausritte führten mich quer durch das Gestüt bis zur Nordgrenze. Dort ritt ich eine Anhöhe hinauf, von der aus sich ein weiter Blick über die ganze Anlage bot. So war es auch an jenem Tag. In der nordwestlichen Ecke der Farm führt ein Weg durch einen Canyon auf eine Hochfläche, die knapp fünfzig Meter über dem eigentlichen Weideland liegt. Ich ritt diesen Pfad hinauf, als mir auf dem gegenüberliegenden Hang der Schlucht eine Bewegung auffiel. Bei genauerem Hinsehen konnte ich ein Kojotenrudel erkennen. Die Tiere stießen immer wieder aus dem Unterholz hervor und befanden sich aus einem für mich nicht erkennbaren Grund in höchster Aufregung. Ich beschoß, in den Canyon hinabzureiten und am Ort des Geschehens nachzusehen, was die Kojoten so rasend machte. 248
Als ich das niedrige Gestrüpp erreichte, sah ich, dass die Raubtiere eine Hirschkuh in die Enge getrieben und Blut gerochen hatten. Mit ihren scharfen Schneidezähnen schlitzten sie ihr die Decke auf. Im Galopp trieb ich Johnny Tivio auf sie zu. Glücklicherweise hatte ich ein Lasso dabei. Ich nahm es vom Sattel und warf es nach den Kojoten, die daraufhin in nördlicher Richtung flohen. Weiter oben am Hang hielten sie inne und blickten zurück. Ich scheuchte sie noch ein wenig weiter weg, bevor ich umkehrte und mich um die Hirschkuh kümmerte. Es war ein altes, stark abgemagertes Tier ohne Zähne, das vermutlich nur noch die Hälfte seines normalen Körpergewichts hatte. Die Kojoten hatten ihm schwere Fleischwunden zugefügt. Ich sah mich um, ob vielleicht irgendwelche Jungtiere in der Nähe waren, und fand tatsächlich ein Stückchen weiter oberhalb und etwas weiter südlich zwei halbwüchsige Hirschkälber, die offenbar zu ihm gehörten. Sie schienen mir alt genug, um zu überleben, sofern sie nur zu ihrem Rudel zurückfanden. Ich konnte nicht anders, ich musste versuchen, das Leben der alten Hirschkuh zu retten. Also stieg ich wieder auf Johnny Tivio, galoppierte den Hügel hinunter und quer über die Farm zur Werkstatt. Dann holte ich meinen Pick-up und lud einige eiserne Pfosten und Zaundraht auf. Ich nahm zwei Helfer mit und fuhr dann so nah wie möglich an die Stelle heran, an der die Hirschkuh lag. Beim Aussteigen bemerkte ich, dass die Kojoten schon wieder näher gekommen waren. Ich stürmte den Abhang hinauf, schrie, klatschte das Lasso an meine Beine und lenkte ihre Aufmerksamkeit von der Hirschkuh ab. Meine Helfer schleppten unterdessen die Pfosten und den Draht hinter mir her. Zu dritt errichteten wir einen Käfig von etwa 4,50 Meter Durchmesser um das Tier und deckten ihn ab, damit die Kojoten nicht hineinklettern konnten. Ich gab Getreide und Alfalfa hinein und stellte einen Eimer Wasser dazu. Die Hirschkuh versuchte, während wir um sie herum arbeiteten, aufzustehen, aber es gelang ihr nicht. Sie war zu schwach. Ich war davon überzeugt, sie am nächsten Tag tot aufzufinden, wollte ihr aber unbedingt eine Chance geben. Als ich am nächsten Morgen zu ihr kam, hatte sie sich halbwegs 249
aufgerichtet sowie gefressen und getrunken, was mich erstaunte, da wilde Tiere in Gefangenschaft oft die Nahrungsaufnahme verweigern. Ich störte sie so wenig wie möglich und kam in den folgenden vier oder fünf Tagen nur zurück, um die Wasser- und Futtervorräte zu ergänzen. Am fünften Tag war sie aufgestanden. Ich beobachtete, wie sie einige Schritte in ihrem Käfig machte. Glücklicherweise war sie noch nicht kräftig genug, um gegen den Zaun zu rennen, wie es ein gesunder Wildhirsch zweifellos getan hätte. Bevor der fortschreitende Erholungsprozeß ihr solche Reaktionen ermöglichte, wollte ich die Hirschkuh an meine Anwesenheit gewöhnen, damit sie bei meinem Erscheinen nicht länger in Panik geriet. Ich betrat den Käfig, beugte mich vor und näherte mich ihr mit ruhigen, kurzen Bewegungen, die nicht bedrohlich auf sie wirkten. Dabei bediente ich mich des Verständigungssystems, das ich »Equus« genannt habe. Überraschenderweise waren die beiden Sprachen praktisch identisch. Die Rettung der Hirschkuh - ich nannte sie »Grandma« - war der Beginn eines viele Jahre andauernden Abenteuers. Es war eine der glücklichsten und befriedigendsten Erfahrungen meines Lebens. Nach nur zwei bis drei Wochen im Käfig war sie kräftig genug, den ersten Ausflug zu wagen. Als ich den Drahtverhau öffnete, schritt Grandma mit der ihrer Art eigenen Anmut hinaus, doch war unverkennbar, dass sie nicht die Absicht hatte, die Entfernung zwischen uns rasch zu vergrößern. Am nächsten Morgen fand ich sie etwa hundert Meter vom Käfig entfernt. Ich stellte dort Getreide und Alfalfa bereit und baute ihr eine Trinkvorrichtung, so dass sie Wasser fand, ohne weit gehen zu müssen. Jeden Tag kam ich zu ihr und begann mit ihr nach der Devise von »Vorstoß und Rückzug« zu arbeiten. Immer wenn sie sich so verhielt, als sei ihr meine Nähe nicht genehm, scheuchte ich sie absichtlich weiter fort und folgte ihr über Strecken von bis zu drei oder vier Kilometern. Bewegte sie sich im Kreis und zeigte mir ihre Flanken, so war dies ein Angebot zur Wiederaufnahme der Kommunikation. Ich drehte mich dann um und ging in entgegengesetzter Richtung von ihr fort. 250
Schließlich baute ich mich vor ihr auf, blickte ihr direkt in die Augen, vertrieb sie, wandte den Blick und mich selbst wieder von ihr ab, um sie dazu zu verleiten, sich mir anzuschließen — genauso, wie ich es mit den Pferden zu tun pflegte. Wie sich herausstellte, ließ sich Grandma auf diese Weise anlokken. Ein perfektes JOIN-UP gelang mir indessen nicht mit ihr. Es war mehr ein Herantasten als ein solider Schulterschluss. Es sollte Jahre dauern, bis ich sie aus der Herde herauslocken konnte und sie sich mir so weit näherte, wie ich es von den Pferden gewohnt war. Eines Tages aber geschah es dann doch. Ich hatte sie eine Zeitlang von mir weggetrieben und achtete auf die Signale, mit denen sie mich darum bitten würde, die Disziplinierungsmaßnahme aufzugeben. Sie zeigte mir ihre Flanken, drehte mir ein Ohr zu und bewegte ihr Maul in einem stillen Appell, der soviel besagte wie: Ich bin Pflanzenfresserin und will versuchen, dir zu vertrauen. Dann senkte sie ihren Kopf und hielt das Maul bei ihren nächsten Schritten nur wenige Zentimeter über dem steinigen Boden. Ich ging langsam rückwärts, wandte ihr mein Profil zu und sah ihr nicht mehr in die Augen. Es war ein sonniger Tag, und wir befanden uns auf einem wunderschönen Fleck in den Bergen, von dem aus man das ganze Gestüt überblicken konnte. Ich legte mich auf die Erde und ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Das nächste, was mir auffiel, war Grandma, die sich neben mich legte. Ich hatte also doch noch ein fast perfektes JOIN-UP mit ihr erreicht. Sie lag einfach neben mir - hier, in den Bergen Kaliforniens. Die Sonne strahlte vom Himmel, und ein Adler ließ sich von der Thermik emportragen. Ich war gerührt von dieser langen Freundschaft, die sich so zaghaft entwickelt hatte und nun mit diesem kleinen, unscheinbaren Ereignis am Berghang oberhalb unseres Betriebes besiegelt wurde. Ich konnte viel von Grandma lernen. Der Fluchtinstinkt von Hirschen ist, wie ich herausfand, um ein Vielfaches ausgeprägter als der eines Pferdes. Eine einzige falsche Bewegung konnte mich viel Zeit kosten — manchmal Wochen oder sogar Monate. Mir wurde klar, dass man mit Hilfe dieses hochentwickelten Fluchtinstinkts die Sprache »Equus« noch wesentlich genauer und sorgfältiger lernen konnte. Einmal wollte ich Grandma ermutigen, zu mir zu kommen. Ich wandte ihr meine Schultern in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel 251
zu und schaute in eine andere Richtung. Da ich dabei aber ihr Verhalten beobachten wollte, schielte ich sie aus den Augenwinkeln an. Grandma sah darin einen Regelverstoß, drehte sich um und entfernte sich auf fünfhundert Meter. Drei Tage lang ließ sie mich nicht näher an sich herankommen. Ich erkannte, dass ich den gleichen Fehler auch bei den Pferden beging: Oft warf ich ihnen aus den Augenwinkeln Blicke zu, wenn ich es eigentlich nicht sollte. Wieder auf dem Gestüt, begann ich im Longierring mit einem Pferd zu arbeiten. Ich experimentierte mit der Geschwindigkeit meiner Augenbewegungen und versuchte, das Pferd aus den Augenwinkeln zu beobachten, ohne es direkt anzusehen. Ich stellte fest, dass der Fluchtinstinkt durch langsame Augenbewegungen verringert werden konnte. Nachdem ich das verstanden hatte, war die Arbeit mit Grandma sofort viel einfacher. Außerdem fand ich heraus, dass sie das Spreizen der Finger, Armbewegungen oder der zu schnelle Wechsel vom Rückzug zur Annäherung irritierten und den Verständigungsprozeß verlangsamten. Wieder begann ich mit neuen Pferden zu arbeiten. Hielt ich meine Arme im Zuge jener Bewegung hoch, mit der ich das Pferd fortschickte, so ging der Rückzug schneller vonstatten, wenn ich gleichzeitig meine Finger spreizte. Ich denke, dies hängt mit der Muskelspannung zusammen; es ist Teil des Imponiergehabes, das viele Tiere an den Tag legen, um größer und eindrucksvoller zu erscheinen - wie ein Hund, dessen Fell sich sträubt. Ohne Grandmas Hilfe hätte ich diese sprachlichen Feinheiten niemals gelernt. Die gebrechliche alte Dame erteilte mir einen Fortgeschrittenenkurs in »Equus«. Sie verfeinerte meine Antworten und führte mich auf ein höheres Niveau. Vielleicht wollte sie sich auf diese Weise dafür erkenntlich zeigen, dass ich ihr damals das Leben gerettet hatte. Grandma starb am 2. Dezember 1995 eines natürlichen Todes. Sie ist hier auf Flag Is Up begraben. Johnny Tivio hatte sich zur Ruhe gesetzt. Er war jetzt vierundzwanzig Jahre alt und seit einiger Zeit auch als Zuchthengst nicht mehr gefragt. Er erfreute sich bester Pflege, hatte eine eigene warme Box und tagsüber eine Weide mit reichlich grünem Gras. Von seinem Paddock aus, an dem der Weg der Stuten zur Deck252
halle vorbeiführte, konnte er alles beobachten, was vor sich ging. Jedesmal, wenn eine Stute vorbeischritt, markierte Johnny Tivio noch einmal den großen, wilden Hengst, wieherte, sprach mit ihr und tänzelte wie ein Dreijähriger am Zaun entlang. Am 24. April 1981 kam ich von der Rennbahn in Santa Anita zurück. Anstatt zum Haus zu gehen, begab ich mich zum Bürogebäude. Pat kam gleich nach meinem Eintreten auf mich zu, umarmte mich und sagte: »Johnny Tivio ist tot.« Anscheinend war eine Stute zur Deckhalle geführt worden, und Johnny Tivio hatte sie gesehen. Wie üblich tänzelte er, hob seinen Schweif und näherte sich ihr, um ihre Telefonnummer zu ergattern. In der Mitte der Weide brach er zusammen. Unser Tierarzt, Dr. Van Snow, bestätigte, dass er einen Herzinfarkt erlitten hatte. Obwohl ich wie vom Blitz getroffen und sehr traurig war, war meine erste Reaktion: »Welch ein Glück!« Bei Johnny Tivio waren in jüngster Zeit Probleme mit den Hufen aufgetreten, und ich hatte schon befürchtet, er würde nach seinem erfüllten und erfolgreichen Leben einen langen und schmerzhaften Todeskampf durchzustehen haben. Das blieb ihm glücklicherweise erspart. »Wo ist er?« fragte ich. »Wir haben ihn an Ort und Stelle liegen gelassen, damit du ihn dir ansehen kannst.« Ich ging auf die Weide hinaus. Schon als ich aus der Entfernung seinen reglosen Körper daliegen sah, zerriß es mir schier das Herz. Seine Augen waren leer, alles Leben war aus ihm gewichen. Ich setzte mich zu ihm und vollzog in Gedanken noch einmal die schönsten Augenblicke mit ihm nach. Am Anfang unseres gemeinsamen Lebens hatte ich ihn in einer Show in meiner Heimatstadt Salinas vorgeführt, auf ebenjenem Rodeogelände, auf dem ich aufgewachsen war. Es handelte sich um einen der größten und wichtigsten Wettbewerbe des nordamerikanischen Kontinents, und Johnny Tivio war in allen Disziplinen so gut und willig, dass ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich ihn beim Cutting oder als ausgebildetes Westernpferd vorführen sollte. Pat hatte vorgeschlagen: »Warum zeigst du ihn nicht in beiden?« Das war unerhört. Nie zuvor hatte jemand so etwas getan. Es galt als zu schwierig, ja, es war praktisch unmöglich ... Wir schrieben ihn dennoch für beide Disziplinen ein. Kaum war 253
die Anmeldung im Wettkampfbüro in Salinas eingetroffen, rief mich auch schon ein alter Freund an - Lester Sterling, der Leiter des Wettbewerbs: »Hast du den Verstand verloren, Monty? Das geht doch nicht, dass du Johnny Tivio im Cutting und im Reined Cowhorse vorführst. Es ist doch lächerlich, sich einzubilden, dass er in beiden Disziplinen auftreten kann!« »Verstößt es gegen die Regeln?« lautete meine Gegenfrage. »Nun ja, nein, nicht direkt..., aber du solltest dich nicht selbst in eine so peinliche Lage hineinmanövrieren!« Schließlich gelang es mir doch noch, ihn zur Zustimmung zu bewegen. Beim Training für die Veranstaltung benutzte ich zur Vorbereitung auf die beiden Disziplinen jeweils unterschiedliche Trensen und Zaumzeuge. Johnny Tivio war so intelligent, dass er sofort begriff, worum es ging. Er nahm nicht nur an beiden Wettbewerben teil, sondern gewann sie auch. Das hat es seither nicht mehr gegeben. Jetzt lag er vor mir, zusammengebrochen unter der letzten schweren Last des Todes. Ich wusste, wo ich ihn begraben wollte. Schon seit einiger Zeit spielte ich mit dem Gedanken, direkt vor dem Büro einen Friedhof anzulegen, auf dem jedes Pferd seinen Grabstein bekommen sollte. Der Name des Pferdes, die Geburts- und Sterbedaten und ein oder zwei Zeilen, die die besonderen Qualitäten der Tiere erläuterten, sollten in Bronzeplatten eingraviert werden. Johnny Tivios Tod schien der richtige Augenblick zu sein, um die Idee in die Tat umzusetzen. Mit einigen Helfern und einem tiefliegenden Anhänger kehrte ich zu seinem Kadaver zurück. Wir zogen Riemen unter dem Körper durch und hievten ihn auf den Hänger. Auf der Rückfahrt über die Koppel musste ich an jenen Tag vor elf Jahren denken, als Mr. Harcourt einen Schatten über unser Leben geworfen hatte. Ich war damals auf Johnny Tivio denselben Weg entlanggeritten, der jetzt vor uns lag. Seine Zuversicht war ungebrochen, und ich erinnerte mich jetzt, wieviel ich in jener Zeit von seinem Charakter lernen konnte. Als wir damals auf der Gardner Ranch angekommen waren, besuchte uns eine ihres exzentrischen Verhaltens wegen weithin berühmte Dame, Marjorie Merryweather Post Dye. Im Stall deutete sie auf ihn und sagte: »Johnny Tivio«. 254
»Was ist mit ihm?« fragte ich. »Nun, ich habe von Ihren Schwierigkeiten gehört. Sie brauchen Geld für Ihre Verteidigung. Ich werde Ihnen kein Geld geben. Niemand schafft es, mir Geld aus der Nase zu ziehen. Aber für dieses Pferd bekommen Sie alles von mir.« Ich bedankte mich für ihr Angebot, aber das kam überhaupt nicht in Frage! »Aber nicht doch«, sagte sie, verärgert über meine Begriffsstutzigkeit. »Ich will ihn Ihnen doch nicht wegnehmen. Das käme mir nie in den Sinn. Aber ich will seine Papiere kaufen.« »Die Papiere?« »Ja, nur für eine Weile. Aus Sicherheitsgründen. Geben Sie mir nur die Papiere. Ich kann sie dann bei Bedarf vorzeigen und sagen, dass Johnny Tivio eine Zeitlang mir gehört hat.« Wir waren ins Haus gegangen, und ich übergab ihr die Papiere, verwundert über diese mutige, starke Frau, die nur ihrem eigenen Willen und ihren Einfällen folgte. Im Gegenzug mussten wir ihr versprechen, sie anzurufen, falls wir wegen der zu erwartenden Gerichts- und Anwaltskosten ein Darlehen benötigten. Ich hoffe, sie hatte ihren Spaß an diesen Papieren. Jetzt waren sie alles, was von Johnny Tivio noch übrig war. Mit einem kleinen hydraulischen Bagger hob ich sein Grab aus. Ich kann mit diesen Maschinen nicht richtig umgehen und brauchte daher für die Arbeit wesentlich länger, als vermutlich notwendig gewesen wäre. Als ich endlich fertig war, war es bereits dunkel. Aber die Grube war jetzt fertig, und Johnny Tivio musste hineingebettet werden. Es fiel mir schwer, diese letzte Pflicht zu erfüllen, und ich wusste, dass ich nie mehr einen Freund wie Johnny Tivio finden würde. Am Ende war ich völlig erschöpft und schaffte es nicht mehr, das Grab wieder zuzuschaufeln. Unser Tierarzt arbeitete freiwillig noch weiter. Ich verschwand im Schlafzimmer, verkroch mich unter der Decke und kam erst am nächsten Morgen wieder auf die Beine. In seiner aktiven Zeit blieb Johnny Tivio in den Hengst-Sweepstakes, einer Art Fünfkampf für Pferde, unbesiegt. Er war vierfacher Weltmeister in der Working-Cowhorse-Disziplin und hatte im Western Riding, einer besonderen Art der Westerndressur, vierzehn Turniere in Folge gewonnen. Darüber hinaus besaß er einen hervor255
ragenden Charakter: Er war hoch intelligent und stolz und hatte eine vorbildliche Arbeitsauffassung. Ein Unternehmen wie das unsere kann nur erfolgreich sein, wenn man schon früh am Tag an die Arbeit geht. Frühmorgens in den Mantel zu schlüpfen und im Nebel, der zu dieser Zeit oft noch über dem Tal liegt, mit dem Tagwerk zu beginnen, war mit Johnny Tivio ein reines Vergnügen. Auf seiner Grabplatte steht geschrieben: »Johnny Tivio, 24. April 1956 bis 24. April 1981. Er ist der ganzen Welt als das beste Allround Working Horse bekannt, das je eine Arena betreten hat.« Er starb an seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Ich stieg den kleinen Hang hinauf, der zum rückwärtigen Teil unseres Hauses führt, und machte einen falschen Schritt. Ich spürte einen plötzlichen Stich im Lendenwirbelbereich, und meine Beine versagten den Dienst. Ich lag hilflos am Boden und konnte die untere Körperhälfte nicht mehr bewegen. Sie war völlig gefühllos. Unwillkürlich musste ich an Crawford Hall denken und sah ihn vor mir, wie er im Streckbett lag. Jetzt, sieben Jahre später, war ich selbst an der Reihe! Unter unerträglichen Schmerzen zog ich mich mit den Armen den Hang hinauf. Gründe für einen Rückenschaden gab es mehr als genug: Die Reitstunts für den Film, das Football-Spielen, TeamRoping, Calf-Roping, Bullriding, Bulldogging, all diese Sonderbelastungen der Wirbelsäule hatten die Bandscheiben ruiniert, und jetzt wurde mir die Rechnung präsentiert. Ich war sechsundvierzig Jahre alt. Der herbeigerufene Arzt hielt es für zu gefährlich, mich sofort ins Krankenhaus zu transportieren. Zuerst wollte er meinen Zustand stabilisieren und versuchen, wieder Gefühl in meine Beine zu bringen. Er organisierte eine Art Foltergerät - ich muß es wirklich so nennen. Dreißig Tage lang war ich daran festmontiert wie ein Kaninchen am Spieß. An dieser Stelle möchte ich ein gutes Wort für das Morphium einlegen. Unter dem Einfluß dieses Mittels konnte ich sogar arbeiten und war aktiv wie selten zuvor. Heute würde ich manchmal, wenn ich Probleme habe, am liebsten diese Streckbank mieten und mir Morphium verschreiben lassen, um die Dinge wieder auf die Reihe zu bringen. 256
Nach dreißig Tagen war das Gefühl größtenteils in meine Beine zurückgekehrt. Ich hatte die Zeit genutzt, mich in die Welt der Rükkentherapie und -technologie einzuarbeiten, und mich für einen gewissen Dr. Bob Kerlan entschieden. Ihm traute ich am ehesten zu, mich vor einem Leben im Rollstuhl zu bewahren. Wir mieteten ein behindertengerechtes Wohnmobil. Man schob mich hinein und fuhr mich zur Praxis von Dr. Kerlan nach Los Angeles. Ich war nur noch ein unbewegliches Stück Fleisch, das zu nichts mehr nutze war. Man machte schleunigst eine Computertomographie. Danach kamen Bob Kerlan und sein Team zu mir, um mich über meinen Zustand zu informieren. Sie hatten ein Plastikmodell des menschlichen Rückgrats dabei und lehrten mich buchstäblich das Fürchten. »Ihr Rückgrat ist schwer geschädigt, Monty, Sie werden nie wieder reiten. Schlagen Sie sich das ein für allemal aus dem Kopf! Sie werden auch nie wieder mehr als zwanzig Kilogramm heben können. Wahrscheinlich werden Sie es aus eigener Kraft gerade noch schaffen, sich selbst zu tragen - und darüber können Sie froh sein. Denn es fehlt wirklich nicht viel, und Sie verbringen den Rest Ihres Lebens im Rollstuhl.« »Glauben Sie mir, ich wäre mehr als glücklich, wenn ich nur wieder laufen könnte.« Er deutete auf das Plastikmodell. »Okay. Sehen Sie hier die Lendenwirbel?« »Ja.« »Alle fünf Bandscheiben in diesem Bereich sind ruiniert. Das heißt, der weiche Kern der Bandscheiben wurde durch massive Stöße auf das Rückgrat zerquetscht und ist herausgequollen. Dabei haben sich Auswulstungen gebildet. Das macht etwa ein Drittel Ihrer Beschwerden aus. Die anderen zwei Drittel werden durch Brüche und Knochensprossungen erzeugt, die sich durch die ganze Wirbelsäule ziehen. Das verursacht die Schmerzen und die Nervenirritationen. Wir können das Gewebe reinigen und die Auswulstungen entfernen. Ihnen bleiben dann fünf versteifte Bandscheiben, also ohne weichen Kern.« »Okay.« »Im Normalfall sind meist nur ein oder zwei Bandscheiben betroffen; doch bei Ihnen sind definitiv fünf im Lendenbereich ver257
schlissen. Sie müssen sich auf eine lange Operation einstellen, und erst an deren Ende können wir abschätzen, ob und bis zu welchem Grad sie erfolgreich war.« Na, das konnte ja heiter werden. Die Operationsvorbereitungen nahmen zwei, drei Tage in Anspruch. Dazu musste das Morphium abgesetzt werden. Die Schmerzen waren höllisch. Jede Sekunde jeder einzelnen Minute hätte ich aus vollem Hals brüllen können: »Jetzt helft mir doch endlich!« Dann kam ich unters Messer. Eine Videokamera nahm den gesamten Eingriff auf. Zehn Stunden später wachte ich auf. Eine lächelnde Schwarze in blitzweißer Schwesterntracht stand vor mir und sah aus wie ein Engel. War ich gestorben, und war das der Himmel? Sie sagte: »Okay, Mr. Roberts, wollen wir zur Toilette gehen?« Die macht Witze, dachte ich. »Ich kann mich nicht bewegen.« »O doch, das können Sie. Setzen Sie sich einmal auf!« Nein, das war bestimmt nicht der Himmel - eher das Gegenteil. Wusste sie nicht, dass ich gerade aus der Narkose erwacht war? Sie fing an, meine Füße in die richtige Lage zu bringen und mich aufzusetzen. Schmerz durchfuhr mich, als hätte Satan eigenhändig eiserne Bolzen in meinen Rücken getrieben. Sie hielt meine Schultern, aber jedesmal, wenn sie losließ, sackte mein Körper in sich zusammen, als ob irgendwo in der Mitte ein Scharnier angebracht worden wäre. »Uff«, sagte die Schwester, »die haben Sie wohl ganz schön in der Mangel gehabt.« Sie ging und holte Hilfe. Zu zweit hängten sie mich in eine mit Rädern versehene Spannvorrichtung, so dass ich mich fortbewegen konnte. Ich befand mich in einem erbärmlichen Zustand. Später schaute ich mir das Videoband von der Operation einmal an. Für einen Laien sah es so aus, als wäre ein Schreinertrupp mit muskulösen Unterarmen an der Arbeit. Die Werkzeugtaschen waren randvoll mit Hämmern und Meißeln. Nachdem sie mich aufgeschnitten und die Muskeln und das weiche Gewebe mit riesigen Klammern zurückgezogen hatten, bearbeiteten sie meinen Rücken, als wollten sie ein Haus reparieren. Es war barbarisch. Allmählich ging es mir besser, und ich wurde nach Hause entlassen. Ich sollte mich viel bewegen und jeden Tag eine oder zwei Minu258
ten mehr laufen als am Tag zuvor. Zehn bis zwölf Tage verbrachte ich noch im Rollstuhl; danach ging ich mehrere Monate lang an Krücken. Die Narbe in der Mitte meines Rückens reicht vom unteren Rippenbogen bis zum Steißbein, und der untere Bereich meines rechten Beins ist völlig gefühllos - man könnte eine Zigarette darauf ausdrücken. Aber ich kann gut gehen, und ich kann reiten! Dr. Bob Kerlan hat bessere Arbeit geleistet, als er es selbst für möglich gehalten hatte. In Tissar war ein Vollbluthengst, von Roberto aus der Strip Poker. Mit anderen Worten: absolute Spitzenklasse. Er war ein rechter Bruder zum Champion Landaluce. 1979 war er als Jährling beim July Keeneland Select Sale von Mr. Fustock von der Buckram Oak Farm für zweihundertfünfzigtausend Dollar erworben und dann nach Frankreich in die Rennen geschickt worden. Anfangs war er sehr erfolgreich, aber dann verletzte er sich und wurde für nur zweihundertzwanzigtausend Dollar zum Kauf angeboten. Mir schien er für eine Syndikatsbildung gerade recht zu sein und gute Aussichten zu versprechen. Also kaufte ich ihn zusammen mit meinen Partnern Mr. Katz und Mr. Semler, um ihn zur Zucht zu verwenden. Er war ein stattlicher, stolzer Hengst von hervorragender Abstammung. Wir brachten ihn nach Kalifornien und boten ihn für sechzehntausend Dollar pro Anteil an, wobei eine Art zeitlich begrenzter Mietvertrag auf sein Zeugungsvermögen abgeschlossen wird. Nach zwei Wochen hatten wir fünfundzwanzig Anteile verkauft, was uns vierhunderttausend Dollar einbrachte. Damit hatten wir bereits hundertachtzigtausend Dollar Gewinn erwirtschaftet und dabei noch jeweils fünf Anteile für uns zurückbehalten, um unsere eigenen Stuten zu decken. Das war kein schlechtes Geschäft; alles lief ausgezeichnet. Ich entwarf einen Syndikatvertrag, in dem die Rechte und Pflichten der Flag Is Up Farms festgelegt wurden, und setzte mich selbst als Manager des Syndikats ein. 1983 deckte In Tissar seine erste Stute. Während der ersten Hälfte der Saison lief alles wie am Schnürchen. Etwa gegen Mitte der Saison kam mir dann aber zu Ohren, dass er sich seinen Betreuern gegenüber aggressiv verhielt. 259
Ich begab mich in die Deckhalle und sah mir eine Zeitlang an, wie sie mit ihm umgingen. Das Eigenartige war, dass er sich ohne Probleme aus seiner Box in die Deckhalle führen ließ und seine Stute deckte. Führten ihn die Betreuer jedoch in die andere Richtung, nämlich in seinen Paddock, wurde er aggressiv. Mir schien diese Aggression Teil seiner Sexualität zu sein. Ich gab den Helfern daher ein metallenes Hengsthalfter mit Nasenriemen, und für ein oder zwei Tage schien es so, als ließe sich das Problem damit lösen. Aber dann berichtete man mir, dass das gleiche Verhalten in der Deckhalle wieder aufgetreten sei. Dort war er anfangs bereitwillig und kooperativ gewesen, wenn auch ein wenig zu stürmisch. Gleichzeitig kamen mir Gerüchte zu Ohren, ein junger Mann des Nachtdienstes hätte es auf sich genommen, In Tissar zu schulen. Ich bin mir zwar sicher, dass er nur gute Absichten hatte, doch es ist ziemlich wahrscheinlich, dass er den Hengst schlecht behandelte - zumindest nach dessen Auffassung. In Tissar wurde gefährlich und fügte zwei Männern üble Bißverletzungen zu. Es musste etwas geschehen. Ich traf mich in der Deckhalle mit Dr. Van Snow, unserem Tierarzt, mit Darryl Skelton, der für die Hengste verantwortlich war, mit der Crew der Deckhalle und dem Assistenten des Tierarztes. Wir beschlossen, In Tissar an zwei 2,50 Meter langen, an seinem Halfter befestigten Stöcken zum Deckakt zu führen. Auf diese Weise wurden zwei oder drei Stuten gedeckt. Wir schienen die richtige Antwort gefunden zu haben: Die Zucht gelang, und die Sicherheit der Mitarbeiter blieb ungefährdet. In Tissar freute sich und wehrte sich nicht gegen die auf Vorsicht bedachte Behandlung; ja, er schien sogar stolz darauf zu sein. Als er das nächste Mal zu einem romantischen Stelldichein geladen war, kam auch ich hinzu. Ich wollte zusehen und herausfinden, ob und wie ich weiterhelfen konnte. Wir führten eine Stute in die Deckhalle, wuschen sie, bandagierten ihren Schweif und stellten sie, bereit für das Besteigen durch den Hengst, in die Mitte des Raums. Zwei Männer fingen In Tissar ein, befestigten die Stöcke an seinem Halfter und führten ihn in die Deckhalle. Der Hengst war also mit den Stöcken fest zwischen den beiden Männern eingespannt, die beide je etwa zweieinhalb Meter von ihm entfernt waren. 260
Die Stute stand in voller Rosse in der Mitte des Raums: Sie war bereit, den Hengst aufzunehmen. Durch die große Tür in der Mitte der nördlichen Wand betraten die beiden Männer mit In Tissar den quadratischen Raum, dessen Wände je etwa zwölf Meter lang waren. Nach ungefähr zwei Metern blieb der Hengst stehen und peilte die Lage. Sieben Personen waren anwesend: die zwei Helfer, die In Tissar an den Stöcken führten, ein dritter mit der Stute, der Tierarzt und sein Assistent, Darryl Skelton und ich. Ich schloß die Tür hinter dem Hengst und begab mich mit Darryl zu Dr. Snow. In Tissar stand mucksmäuschenstill, nur sein Blick schweifte über den Raum und die Stute. Dann schlug er auf einmal ohne jede Vorwarnung mit der linken Vorderhand aus und brachte sie über den Führstock. Dieser entglitt der Hand des Halters, krachte auf den Boden und zerbrach unter dem Gewicht des Pferdekörpers in zwei Teile. Während ein Stück auf dem Boden liegen blieb, baumelte das andere am Halfter des Hengstes und stellte eine zusätzliche Gefahrenquelle dar. In der nächsten Sekunde schlug In Tissar mit dem Huf auch dem zweiten Mann die Stange aus der Hand. Das Pferd traf mit tödlicher Genauigkeit; es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass es sich um eine gut kalkulierte Aktion handelte. Es war kein Zufall, dass er den Huf jeweils direkt über dem Stock aufsetzte. Der zweite Stock brach allerdings nicht auseinander; der Mann hatte ihn lediglich nicht mehr in der Hand. So trug In Tissar jetzt einen etwa zweieinhalb Meter langen Stab auf der uns abgewandten Seite und einen halbierten Stock mit scharfem, zackigem Ende auf der anderen. Ehe wir reagieren konnten, griff er nun die Stute in der Mitte des Raums an. Er traf sie mit voller Wucht und weit geöffnetem Maul. Seine Zähne gruben sich etwa in Höhe des letzten Rippenbogens in ihre Flanke und rissen daran, wie ein Wolf, der ein Kaninchen erwischt hat. Mit der Schulter versetzte er ihr einen Stoß auf die ihm zugewandte Hinterbacke, gleich links neben dem Schweif, worauf sie seitlich zu Boden stürzte. In seinem Maul hing ein ordentliches Stück ihres Fells. Der Mann, der die Stute gehalten hatte, rannte um sein Leben. Jetzt kniete In Tissar über der Stute, wieherte und stampfte. Der 261
Lärm im Raum war ohrenbetäubend — die Aufregung und die enorme Kraft überwältigten uns alle. Meine Rodeoerfahrung im Bulldogging und Bronc- and Bullriding war die denkbar beste Schulung, um mit angespannten und gefährlichen Situationen zurechtzukommen. Aber in diesem Augenblick half mir das alles nichts. Ich bewegte mich nach rechts, rückte also von Dr. Snow etwas ab. In Tissar hatte die Stute unweit der Südmauer zu Fall gebracht. Als ich mich auf die Ecke zubewegte, drehte sich In Tissar plötzlich um und nahm mich aufs Korn. Ich rannte an der Wand entlang zurück und versuchte, mich im Untersuchungsstand in Sicherheit zu bringen. Dr. Snow war mir mit einem Rechen in der Hand gefolgt. Wahrscheinlich wollte er die Stute und die Angestellten schützen, indem er den Hengst mit dem Rechen auf Distanz hielt. In Tissar stürmte auf uns zu. Dass er direkt in das Ende des Rechens hineinlief, störte ihn nicht. Dr. Snow gab Fersengeld und rannte auf das Labor zu, das im Nordwesten an den Raum anschloß. Sein Assistent stand im Gang. Der Doktor stieß mit ihm zusammen; beide fielen in das Labor hinein, waren aber in Sicherheit. Darryl und ich fanden uns im Untersuchungsstand wieder. Ich kann mich nicht erinnern, mich je verletzlicher, je so ausgeliefert und bar jeder Kontrolle über die Lage gefühlt zu haben. Die beiden Männer, die die Stöcke gehalten hatten, befanden sich inzwischen vor dem Nordausgang, also außerhalb der Tür, die sie noch einen Spalt weit offen ließen, wenngleich ich mir sicher war, dass sie sie sofort schließen würden, sobald der Hengst ihnen zu nahe kam. In Tissar stand frontal vor dem Labor, wippte hin und her und schien uns zu sagen: »Ich habe euch alle in der Hand. Jetzt bin ich der Boß.« Er hielt uns alle in Schach. Langsam drehte er sich um und stolzierte mit gestrecktem Schweif und hochgewölbtem Hals daher. Es war ein wunderschöner, erschreckender Anblick. Er ging schnurstracks auf die Stute zu, die immer noch am Boden lag, und blieb über ihrer Flanke stehen. Dann scharrte er und wieherte einige Male grell auf, wie Hengste es tun, wenn sie einer Pferdedame den Hof machen. Langsam rappelte sich die Stute auf. Aus der klaffenden Bißwunde an der linken Seite tropfte Blut auf den Boden. 262
In Tissar stupste seine Nase ein paarmal in ihre Flanke und war nun völlig erregt. Unglaublicherweise hob die Stute ihren Schweif und gab damit ihre Paarungsbereitschaft zu erkennen. Der Hengst bestieg und deckte sie, wobei die anderthalb Führstöcke immer noch an seinem Halfter baumelten. Die Anwesenden waren wie erstarrt und sahen fasziniert zu: Es war ein archaischer, kraftvoller Moment. Nachdem er die Stute gedeckt hatte, schritt In Tissar langsam zur Nordtür, vor der die beiden Hengstführer standen. Er blieb stehen, und es war offenkundig, dass er keinerlei aggressive Absichten mehr hegte. Die Männer öffneten langsam die Tür, nahmen die Stöcke auf und führten In Tissar durch den Gang zu seiner Box. Sanft wie ein Lamm ging er mit ihnen. Dr. Snow, Darryl und ich folgten ihm. Der Tierarzt schüttelte den Kopf und sagte: »Ab sofort nehme ich meine Pistole mit. Wenn er sich noch einmal so aufführt wie eben, muß er sterben. Ich bin nicht bereit, Menschenleben aufs Spiel zu setzen.« Ich stimmte ihm zu. Wenn nichts Entscheidendes geschah, würde es über kurz oder lang Tote geben. Alle drei waren wir uns einig, dass das Pferd nicht ausgelastet war. Vielleicht war In Tissar zu gut gefüttert und zu wenig gefordert? Vielleicht würde sich sein Verhalten ändern, wenn man mit ihm in die Berge ging und echte Leistung von ihm verlangte? Darryl erbot sich, ihn täglich zu bewegen. Dr. Snow und ich bestanden allerdings darauf, dass er In Tissar nur ritt, wenn einer von uns in der Nähe war, um im Notfall zur Stelle zu sein. Darryl war damit einverstanden. Am ersten Tag nach diesem Entschluss wollten wir In Tissar auf Koppeln führen, die mit besonders starken Zäunen gesichert waren. Auch für Rinder geeignet, verfügten sie über eine Verladeeinrichtung und Spezialtore. Wir würden ihn in das Gatter sperren, um ihn aufzuzäumen, und dann mit ihm ausreiten. Darryl gelang es, In Tissar in der Box das Zaumzeug anzulegen. Er führte ihn dann zu den Korrals. Auf halbem Weg erspähte der Hengst eine Stute, die in vielleicht vierhundert Metern Entfernung auf der Weide stand, und begann, sich aufzuspielen. Darryl versuchte, In Tissar zu beschwichtigen, doch der Hengst machte Anstalten, ihn anzugreifen. Wir befanden uns auf einem etwa einen halben Morgen gro263
ßen Terrain, und In Tissar legte plötzlich ein sehr aggressives Verhalten an den Tag. Sekundenlang verlor Darryl die Kontrolle über das Zaumzeug, und In Tissar war frei. Er verfolgte uns über das ganze Gelände. Egal, wohin wir uns wandten, er war immer hinter uns her. Nicht wir jagten ihn, sondern er uns. Es gelang uns, seinen Nachstellungen zu entgehen. Doch wenn er auf zwei- oder dreihundert Meter Entfernung einen Menschen sah, ging er sofort auf ihn los. Wir rannten herum wie in einem SlapstickFilm. Inzwischen war er richtig wütend. Schließlich gelang es uns, die Gatter so aufzustellen, dass wir ihn in die Nähe der schweren Verladevorrichtung manövrieren konnten. Darryl trieb ihn in einen Zwangsstand, und wir schlossen das Gatter so, dass der Hengst in einer etwa dreieinhalb Meter langen und einen Meter breiten Box stand. Als wir das Gatter zuschlugen, trat In Tissar dagegen und hielt danach die Hinterhand für etwa zwanzig Sekunden in die Höhe. Uns stockte der Atem, weil wir befürchteten, er hätte sich das Bein gebrochen - so heftig war der Tritt gewesen. Schließlich setzte er die Hinterhand auf den Boden und stand wieder ganz normal. Auf mittlerer Höhe des Röhrbeins fehlten lediglich ein paar Haare; er lahmte nicht einmal. Nachdem In Tissar in den engen Paddock abgedrängt war, legte Darryl ihm Zaumzeug an und stieg auf. Er ritt mit ihm auf eine Anhöhe, wo er ihn etwa vierundzwanzig Kilometer laufen lassen konnte, ohne ein einziges Gatter öffnen zu müssen. Nach ungefähr drei Stunden war er wieder zurück, führte In Tissar in den Longierring für Hengste, nahm ihm den Sattel ab und führte ihn zum Wasserbecken, um ihn zu baden. In Tissar war in blendender Verfassung. Er bot das Idealbild eines gesunden, guten Hengstes in der Blüte seines Lebens. Man hätte ihn einem Schulmädchen verkaufen können, vorausgesetzt, dessen Vater wäre der stahlharte, unbeteiligte Blick nicht aufgefallen. Fürs erste waren wir alle zufrieden. Von nun an ritt Darryl das Pferd jeden Tag. Am vierten oder fünften Tag hielt ihn Dr. Snow für so ruhig, dass er meinte, wir könnten eine Röntgenaufnahme der angeschlagenen Hinterhand machen. Die Blessur hatte sich etwas verschlimmert, und wir meinten, nachsehen zu müssen. 264
Auf der Röntgenaufnahme war ein Bruch des Röhrbeins erkennbar. Das brachte uns in eine Zwickmühle: Wie lange würde Darryl den Hengst noch reiten können, bevor es in Tierquälerei ausartete? Darryl schraubte die Anforderungen zurück. Als er am zweiten Tag In Tissar im Longierring den Sattel abnahm, wurde er von dem Hengst angegriffen. Wieder konnte einer unserer Mitarbeiter von Glück sagen, dass er seine Haut gerettet hatte. Das brachte das Faß zum Überlaufen. Unter normalen Umständen hätte In Tissar jetzt getötet werden müssen. Ich brachte es jedoch nicht übers Herz und grübelte über mögliche Alternativen nach. Was war nur falsch gelaufen? Selbst der Versuch, ihm zu helfen, war mittlerweile höchst gefährlich. Wir beschlossen, einen letzten Versuch zu seiner Rettung zu unternehmen. Auf einem Terrain in der Nähe des Longierrings für die Hengste baute ich mit Hilfe von einigen Arbeitern einen Stall für In Tissar, der so konstruiert war, dass man das Pferd striegeln, beschlagen, bewegen und seine Hufe pflegen konnte, ohne dass man ihn dazu betreten musste. Auch das Ausmisten und Füttern war von außen möglich. Desgleichen konnte In Tissar in diesem Spezialstall eine Stute zugeführt werden, und er konnte vor dem Deckakt den erforderlichen Säuberungsprozeduren unterzogen werden. Er konnte baden und in eine saubere, vorbereitete Box zurückkehren und nirgends kam ihm ein Mensch in die Quere. Auf diese Weise wurde er noch zwölf Jahre für die Zucht verwendet. Während dieser Zeit hatten wir nicht eine Verletzung mehr zu verzeichnen, weder an einer Stute noch an ihm selbst oder bei einem der Angestellten, die mit ihm arbeiteten. Jetzt steht ein anderer Problemhengst, Court Dance, ein Sohn von Northern Dancer, an seiner Stelle. Court Dance gehörte Robert Sangster und John Magnier, als er zu mir geschickt wurde. Die Besitzer wollten, dass ich seine Probleme kurierte, damit sie ihn verkaufen konnten. Doch ich erkannte schnell, dass auch Court Dance ein höchst gefährlicher Hengst war, der einfach nicht kurierbar war. Es gelang nicht, ihn zu verkaufen, weil er nicht transportiert werden und niemand mit ihm umgehen konnte. Seit drei Jahren wird er im gleichen Stall wie In Tissar gehalten und zur Zucht verwendet. Er kommt sehr gut damit zurecht. 265
Es ist mir stets lieber, durch Kommunikation und Dialog zu einer Verständigung mit einem Pferd zu kommen, aber bei diesen beiden Hengsten war es schlichtweg unmöglich. Die komplizierte Stallkonstruktion, die ich speziell für die Haltung von Hengsten wie In Tissar und Court Dance erfunden habe, kann durchaus als zukunftsträchtige Errungenschaft gelten. Ohne sie hätten beide Tiere zweifellos eingeschläfert werden müssen. Viele Hengste sind schon wegen ihrer Aggressivität getötet worden, obwohl sie sich weit weniger haben zuschulden kommen lassen als In Tissar und Court Dance. Nach den Berichten, die ich über andere gewalttätige Hengste wie Ribot oder Graustark - oder auch In Tissars Vater Roberto - gelesen habe, zweifle ich nicht mehr daran, dass die Zahl unheilbar aggressiver Hengste ziemlich hoch ist. Auf einer Skala von eins bis zehn könnte man In Tissar bei 9,9 einordnen. Er war intelligent und listig und wollte Menschen verletzen. Irgend etwas in seiner Umgebung hatte ihn gemein und böse gemacht, und er war nicht bereit, sich umstimmen zu lassen. Meine Eltern wollten uns besuchen und eine Weile bei uns bleiben. Das war in den letzen Jahren immer seltener vorgekommen, und die Tatsache, dass sie eine ganze Woche bleiben wollten, verriet uns, dass sich die Krebserkrankung meiner Mutter wahrscheinlich verschlimmert hatte. Wir vermuteten, dass sie vor ihrem Tod einen letzten Versuch unternehmen wollte, das gestörte Verhältnis zwischen Vater und Sohn in Ordnung zu bringen. Ihre Absichten waren offenkundig, denn sie veranlaßte meinen Vater dazu, mir bei der Arbeit im Longierring zuzusehen. Schon vor ihrem Kommen informierte sie sich über meine Terminplanung, besorgte einen Hocker, auf dem Vater Platz nehmen konnte, und arrangierte alles so, dass er sich partout nicht mehr herauswinden konnte. Sie machte ihm unmißverständlich klar, er habe sich hinzusetzen, mir bei meiner Arbeit zuzusehen und den Erfolg anzuerkennen. Also setzte sich mein Vater auf den Hocker und war bereit, mir dabei zuzusehen, wie ich ein rohes, unausgebildetes Pferd einritt. Er hatte die Siebzig weit überschritten. Mir war inzwischen, wie schon erwähnt, seine Meinung zu diesen Dingen zumindest nach außen hin 266
gleichgültig. Ich hatte zu jener Zeit bereits mehr als sechseinhalbtausend Pferde eingeritten und außer Arbeitspferden auch eine Reihe prächtiger Vollblüter trainiert, die einige der bedeutendsten Rennen der Welt gewonnen hatten. Ich war kein Grünschnabel mehr, der verzweifelt nach Anerkennung gierte, sondern ein Mann in den Vierzigern, dem sehr daran gelegen war, dass seine Eltern untereinander und mit ihrem Sohn gut auskamen. Und trotzdem — ich wollte mich von meiner besten Seite zeigen. Vater sollte sehen, was ich durch die jahrelange Arbeit mit den Pferden und - in jüngerer Zeit — mit der Hirschkuh erreicht hatte. Ich erwog, ihm zu erklären, dass ich diesen Longierring, in dem wir uns jetzt befanden, vor etwa zwanzig Jahren absichtlich ohne Zuschauerplätze entworfen und als Zaunmaterial mit Nut und Feder verbundene Segmente verwendet hatte, die von außen keinen Einblick ermöglichten. Erst kürzlich hatte ich die Konstruktion, auf der Vater jetzt saß, angebaut. So konnte er von oben in den Longierring sehen. Ich hatte eine junge Fuchsstute für die Vorstellung ausgewählt ein prächtiges Pferd. Ich hatte das Tier noch nie zuvor gesehen. Von seinem Charakter und Verhalten hatte ich keine Ahnung, obwohl ich auf den ersten Blick erkennen konnte, dass es vom Typ her »schnell« war, das heißt, dass die junge Stute rasch auf mich reagieren würde. Sie war nervös, aber intelligent. Ich stand in der Mitte des Rings und wog die Longe in meiner Hand. Da die Jungstute offensichtlich leicht zu treiben war, bewegte ich mich langsam in eine Position, in der ich ihr frontal gegenüberstand. Dann hob ich meine Arme ein wenig und öffnete die Finger, so, wie es mich die Erfahrung mit der Hirschkuh gelehrt hatte. Ich sah der jungen Stute direkt in die Augen. Für einen Außenstehenden war ihre Reaktion verblüffend: Sie floh an die Einfriedung des Rings und rannte gegen den Uhrzeigersinn im Kreis. »Okay, Dad!« schrie ich, »ich werde dir jetzt immer sagen, was passieren wird. Es sieht aus wie ein abgekartetes Spiel, wie eine Zaubervorstellung.« Ich musste die junge Stute kaum mit der Longe in Bewegung halten. Sie lief an der Umzäunung entlang, und ich konnte mit meinen Blicken ihre Geschwindigkeit steuern. Hatten wir Blickkontakt, stei267
gerte ich ihre Fluchtgeschwindigkeit; glitt mein Blick aber auf die Schulter, verlangsamte sich der Schritt. Mein Körper blieb dem Tier stets frontal zugewandt. »Ich achte als erstes darauf, ob sie mir das innere Ohr zuwendet«, rief ich meinem Vater zu, der stocksteif auf seinem Hocker saß. »Das wird innerhalb einer Minute der Fall sein.« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, richtete die Stute auch schon ihr Ohr auf mich. Mein Vater rief: »Natürlich, sie hört dir zu!« »Das ist mehr als zuhören. Es ist ein Zeichen des Respekts. Sie gibt zu, dass ich hier was zu sagen habe.« Ich schleuderte die Longe vor ihr durch die Luft. Die junge Stute drehte sich abrupt um und setzte die Flucht in der entgegengesetzten Richtung fort. Erneut war das mir zugewandte Ohr auf mich ausgerichtet. Sie fiel in einen gleichmäßigen Trab. Nach einer weiteren Runde schrie ich meinem Vater zu: »Als nächstes wirst du eine weitere Respektsbezeugung sehen. Du wirst sehen, wie sie leckt und kaut. Ihre Zunge wird zwischen den Zähnen hervorkommen. Danach wird sie sie wieder zurückziehen und Kaubewegungen machen.« Mich überraschte diese Reaktion längst nicht mehr. Im Gegenteil: Nach so vielen Pferden hätte mich lediglich ein abweichendes Verhalten noch überraschen können. Wie vorausgesagt, begann die Jungstute zu lecken und zu kauen. »Da, siehst du?« rief ich meinem Vater zu. »Sie sagt mir, dass sie Pflanzenfresserin ist. Sie macht mir ein Angebot: Wenn ich sie davon erlöse, dauernd weglaufen zu müssen, und sie in Ruhe und Geborgenheit fressen lasse, dann können wir unser Verhältnis klären. Uns respektieren. Leben und leben lassen ... Laß uns miteinander reden, sagt sie.« Seit Beginn der Vorführung waren ungefähr fünf Minuten vergangen. Ich erklärte meinem Vater das letzte Zeichen vor dem IOINUP, auf das ich jetzt wartete. »Ich warte darauf, dass sie ihren Kopf senkt und im Laufen ihre Nüstern nur wenige Zentimeter über den Boden hält.« Nach ein paar Minuten trabte die junge Fuchsstute mit gesenktem Kopf und blies in den Sand vor ihren Hufen, das eine Ohr nach wie vor auf mich gerichtet. 268
»Sie sagt mir: Okay, ich verstehe dich, ich kann dir vertrauen, ich weiß, dass du meine Sprache verstehst.« Ich drehte meine Schultern, bot der Stute mein Halbprofil und schaute geradeaus, so dass der Blickkontakt unterbrochen war. Das Tier blieb sofort stehen. Ich verharrte reglos in meiner Position und verzichtete sogar auf verstohlene Kontrollblicke aus den Augenwinkeln. Ich spürte, dass die Stute zögerte; sie konnte es kaum glauben, dass ich ihre Sprache sprach, musste aber anerkennen, dass ich auf jedes Signal von ihr geantwortet hatte. Dieser Teil des Verfahrens - das Warten auf das JOIN-UP - ist immer der spannendste für mich. Nicht, weil ich noch daran zweifele, ob es dazu kommt, sondern weil es jedesmal wieder beweist, dass eine Verständigung zwischen Mensch und Pferd möglich ist. Dieses Wunder - ein Fluchttier vertraut einem Kampftier, Mensch und Pferd überwinden die sie trennende Distanz —, dieser Zauber des Augenblicks ist jedesmal neu für mich, eine stete Quelle der Zufriedenheit und des Glücks, die zeit meines Lebens nicht versiegt ist. Schon wagte die junge Stute einen ersten tastenden Schritt in meine Richtung. Ich sah nicht zu ihr hin, wusste aber, dass sie jetzt alles abwog und zu dem Schluss kam, dass sie nichts anderes tun konnte, als sich mir anzuschließen. Wenige Augenblicke später stand die Stute neben mir, die Nüstern an meiner Schulter. Sie vertraute mir. Es war eine bestürzend neue Erfahrung für sie. Ich hatte bewiesen, dass ich ihre Sicherheitszone war - jemand, der ihre Sprache verstand. Langsam schritt ich rechtsherum einen Kreis ab, und sie folgte mir. Ich wandte mich nach links, und sie blieb mir auf den Fersen. Das JOIN-UP mit der Fuchsstute war ein voller Erfolg. »Das nenne ich JOIN-UP«, sagte ich zu meinem Vater. Er fragte: »Wie oft ist das Tier schon geritten worden?« »Noch nie, Dad.« »Paah.« Ich ignorierte diesen Ausruf. Die junge Stute stand da und wartete, was an diesem ungewöhnlichen Tag, nach dem nichts mehr so sein würde wie früher, noch alles geschehen würde. Wie immer in dieser Situation rief ich mir ins 269
Gedächtnis, dass dieses für mich alltägliche Ereignis für das junge Pferd wahrscheinlich der aufregendste Moment seines Lebens war. Ich rief meinem Vater zu: »Jetzt nähere ich mich ihren verletzlichsten Stellen, um mich ihres vollen Vertrauens zu versichern.« Mit der jungen Stute hinter mir schritt ich in die Mitte des Longierrings. Ich ließ die Leine auf den Boden fallen und stand neben ihrer Schulter. »Die verletzlichsten Bereiche sind die, an denen Angreifer sie pakken würden.« Langsam und ruhig fuhren meine Hände über Widerrist und Hals. »Hierher springen die großen Raubkatzen. Sie krallen sich in den Rücken des Pferdes, beißen ganz oben in den Hals und versuchen, das Rückenmark zu verletzen, um das Pferd zu lahmen. Oder sie spekulieren darauf, es durch das eigene Gewicht zu Fall zu bringen. Ist das Pferd erst gelähmt, so ist es ein leichtes für die Raubkatze, ihm den Rest zu geben. Ist es nicht gelähmt, wird die Katze mit ihm zu Boden gehen und ihm von unten in den Hals beißen, um die Luftröhre zu verletzen und die Luftzufuhr zu unterbrechen. Es kommt deshalb darauf an, dass sie mich an diese verwundbaren Stellen heranläßt.« Als nächstes glitten meine Hände langsam über ihre Flanken und unter ihren Bauch. »Auf jedem Kontinent gibt es die eine oder andere Art Wildhunde, die auch Pferde fressen. Der eine aus dem Rudel schnappt nach dem Schweif, um das Tier an der Flucht zu hindern. Ein anderer nähert sich von vorne, springt hoch und verbeißt sich in der Nase, was das Atmen erschwert. Die meisten aber greifen hier die Flanken an; gerade der Bereich vor der Hinterhand ist sehr beliebt, weil er sehr weich ist. Die Hunde versuchen, die Haut genau an dieser Stelle aufzureißen, damit die Eingeweide herausquellen.« Es waren diese Körperpartien, die ich als nächstes abtastete, um das Vertrauen zwischen mir und der jungen Fuchsstute zu festigen. Sie hielt sich ziemlich tapfer und wich nur ein- oder zweimal zur Seite aus. Ich fuhr fort, bis ich spürte, dass Ablehnung und innere Spannung verschwunden waren. Dann nahm ich nacheinander jeden ihrer Hufe hoch. Ich fuhr mit der Hand vom Karpalgelenk oder dem Sprunggelenk über die Sehne abwärts bis herab zur Rückseite des Fesselgelenks. Erst dann forderte 270
ich die Stute auf, ein Bein nach dem anderen zu heben, indem ich sie für eine oder zwei Sekunden in der Höhe hielt. »Siehst du? Obwohl sie ein Fluchttier ist, hat sie mir gerade erlaubt, ihr Fortbewegungsmittel - die Beine — anzuheben. Jetzt vertraut sie mir vom Kopf bis zu den Hufen.« Seit dem Beginn der Arbeit waren etwa zwanzig Minuten vergangen. Nun betrat Hector Valadez mit einem Sattel, einer Satteldecke, Zaumzeug, einem langen Steigbügelriemen und Longierleinen den Ring. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie viele Pferde Hector als ersten Reiter hatten; fest steht, dass er nach den vielen Jahren, die er schon für mich arbeitete, genausogut wie ich wusste, was in dieser Situation zu tun war. Nachdem er die Ausrüstung in der Mitte des Longierrings abgelegt hatte, verließ er den Schauplatz wieder. Der Auftritt einer neuen Person und - noch erschreckender — dieser Haufen seltsam aussehender Ausrüstungsgegenstände riefen in der jungen Stute die übliche Unruhe hervor. Sie schnaubte, blies in den Sand, starrte angestrengt die eigenartigen Gerätschaften an, wanderte umher und gewöhnte sich schließlich einigermaßen daran. Wenn jedoch etwas dazu beiträgt, das JOIN-UP zu intensivieren, so sind es die Ausrüstungsgegenstände. Das Pferd sieht in ihnen eine Gefahr, die es veranlaßt, seine Sicherheitszone aufzusuchen - in diesem Fall also mich. Die junge Stute stand neben mir, als ich den Sattel auf ihren Rükken hievte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte noch kein wie auch immer gearteter Führstrick ihren Kopf berührt. Sie erlaubte mir, den Gurt unter ihrem Bauch durchzuziehen und auf der anderen Seite festzuschnallen. Ich rief meinem Vater zu: »Bevor Hector aufsitzt, will ich, dass sie sich an den Sattel gewöhnt.« Dann trat ich zurück und wandte mich der Stute wieder frontal zu, um sie von mir fortzutreiben. Sie galoppierte in ungelenker, schiefer Haltung davon und versuchte, mit dem seltsamen neuen Gefühl, einen Sattel auf dem Rücken zu tragen, zurechtzukommen. Ich ließ sie laufen, wartete aber auf die bekannten Signale: die Ausrichtung des inneren Ohrs auf mich, auf das Lecken und Kauen. Damit, dass sie den Kopf senkte, rechnete ich noch nicht — nein, nicht mit dem Sattel. Das traute sie sich mit dieser plötzlichen Last auf 271
ihrem Rücken beim besten Willen noch nicht zu. Das war zuviel verlangt! »Jetzt versuche ich ein kleines Experiment«, sagte ich. »Wie du siehst, hat sie hier im Ring eine Art Lieblingsplätzchen.« Ich deutete auf den Punkt, an der mir die Jungstute immer ihre volle Aufmerksamkeit geschenkt hatte. An anderen Stellen war sie durch irgend etwas abgelenkt - durch meinen Vater, das Eingangstor oder die an dem Balken über dem Longierring befestigten Lampen. Aufgrund meiner langen Erfahrung wusste ich, dass die meisten jungen Pferde eine solche Lieblingsstelle haben. Die feineren »Equus«-Signale gibt man ihnen am besten erst, wenn sie an dieser Stelle stehen. »Ich werde die Hand vor meinen Körper halten. Wenn sie ihren Lieblingspunkt erreicht, werde ich meine Finger spreizen, sonst nichts. Du wirst sehen, dass sie dann sofort viel schneller läuft.« Nun tat ich genau das, was ich soeben beschrieben hatte: Ich hielt meine Hand vor die Brust. Als ich die Finger spreizte, fiel die Stute in einen kurzen Galopp. »Hast du gesehen? Auf diese Weise interpretiert sie mich. Sie weiß, dass eine Raubkatze direkt an ihr vorbeilaufen kann. Wenn sie aber ihre Krallen ausfährt, ist sofortige Flucht angesagt.« Ich ließ sie in die andere Richtung laufen und gab ihr Gelegenheit, sich noch besser an den Sattel zu gewöhnen. Nach drei oder vier Umrundungen bat sie darum, zu mir zurückkommen zu dürfen. Ich schnallte den Gurt ein Loch enger, um sicherzugehen, dass der Sattel nicht verrutschte. »Nun zum Zaumzeug!« rief ich meinem Vater zu. »Nach erfolgreichem JOIN-UP ist es nicht viel mehr als eine Formalität. Das JOINUP zeigt mir, dass sie mir vertraut. Von da aus ist es bei Pferden kein großer Schritt mehr zu dem Angebot, so hart wie möglich für mich zu arbeiten.« Jetzt trug sie ihr erstes Zaumzeug. Ohne sonderliche Aufregung stand sie da und biß auf der Trense herum, die sie auf einmal im Maul hatte. »Mit dem Zaumzeug können wir sie an die Longe nehmen«, sagte ich. Fünfundzwanzig Minuten nach Beginn der Vorführung lief alles bestens. Ich trieb die junge Stute an der Longe in beide Richtungen. Sie 272
ging jetzt zum erstenmal am Zügel und sollte sich daran gewöhnen, bevor Hector sich auf ihren Rücken setzte. Er sollte eine Art Steuerrad in die Hand bekommen. Nach der Longenarbeit ließ ich sie einen Schritt rückwärts gehen. Kaum hatte sie diesen Schritt ausgeführt, belohnte ich sie, indem ich den Zug der Longe lockerte. Dann zurrte ich den Gurt noch eine Stufe fester. Die junge Stute war jetzt so weit, dass Hector sie reiten konnte. Hector betrat den Longierring und stellte sich ihr vor. Auch er rieb ihre verletzlichen Stellen, bis sie mit seiner Anwesenheit einverstanden war. Dann fuhr er mit den Händen leicht über ihren neuen Sattel. Schließlich hob ich Hector auf den Rücken der Stute. Einige Augenblicke lang lag er quer über ihr. Ich nahm ihren Kopf und drehte ihn so, dass sie den Mensch über ihrer Mitte sehen konnte. Langsam und vorsichtig schwang Hector ein Bein über den Pferderücken - und zum erstenmal in ihrem Leben wurde die junge Stute geritten. Ganz locker ritt Hector sie durch den Ring, ohne sich um ihr Gebiß zu kümmern, egal, ob sie seitwärts ausbrach, in Trab fiel oder irgend etwas ausprobierte, um herauszufinden, was da auf ihrem Rücken geschah. Ich blickte auf die Uhr. »Eine halbe Stunde!« schrie ich zu Vater auf seinem Hocker hinüber. »Das ist etwa Durchschnitt.« Zu diesem Zeitpunkt sagte mein Vater nicht mehr viel. Er stand jedoch von seinem Sitz auf und interviewte eine Hilfskraft in der Nähe. Später wanderte er auf dem ganzen Gelände umher und fragte alle Mitarbeiter nach ihrer Tätigkeit. Dann kam er zum Beobachtungsstand am Longierring zurück und ließ sich wieder auf seinem Hocker nieder. Da meine Mutter mit Bedacht den richtigen Tag auf meinem Terminkalender ausgesucht hatte, waren bei Einbruch der Dunkelheit zehn junge Pferde eingeritten worden. Vater hatte jedesmal denselben Ablauf gesehen, dieselben Schlüsselsignale, dieselbe Sprache, die das Pferd und ich benutzten. Natürlich war jedes Tier anders, aber alle benutzten wir die Sprache »Equus« und erreichten dasselbe Ergebnis: Nach etwa einer halben Stunde saß Hector Valadez im Sattel und ritt gemütlich durch die Arena. Es fielen keine harten Worte, es wurden keine Zwangsmaßnahmen angewandt. Eine Peitsche war weit und breit nicht zu sehen. 273
Bis zum Abend hatte mein Vater miterlebt, wie ich innerhalb eines Tages mehr Pferde eingeritten hatte, als seiner Einschätzung nach in sechs Wochen »gebrochen« werden konnten. Er kam vom Beobachterstand herunter. Wir standen jetzt außerhalb des Longierrings und konnten kaum noch unsere Gesichter erkennen, so dunkel war es inzwischen geworden. »Was hältst du davon?« fragte ich ihn. Aber er konnte seine eingefahrene Bahn nicht mehr verlassen. Obwohl ich ihm Beweise in Hülle und Fülle präsentiert hatte, war das Eingeständnis, dass die alten Methoden nicht auch die besten waren, zu viel von ihm verlangt. Er antwortete: »Mach du nur weiter so. Eines Tages bist du dran. Dann machen sie dich fertig.« Abends im Haus wollte meine Mutter natürlich unbedingt wissen, was in seinem Kopf vorging. Für sie und ihre Sicht der Dinge hing eine Menge davon ab. Ich glaube, ihr ging es darum, ihrem Sohn Gerechtigkeit widerfahren zu lassen - und sie erhoffte sich eine Einigung zwischen jenen beiden Männern, die sie vermutlich beide gleich, wenn auch auf verschiedene Art liebte - den einen als Ehemann, den anderen als Sohn. Eine Zeitlang vermied sie das Thema, als wäre es ihr nicht so wichtig. Schließlich konnte sie nicht länger an sich halten und fragte ihren Mann: »Nun, Marvin, wie hat dir das gefallen, was du heute gesehen hast?« »Gut.« Das reichte ihr bei weitem noch nicht. Sie hakte nach: »Was hältst du von der Sache?« »Reiner Selbstmord!« erwiderte mein Vater. Es blieb ihr nicht erspart, auch weiterhin mit geteilter Loyalität leben zu müssen. Es dauerte nicht mehr lange, und der Darmkrebs besiegte meine Mutter. Ehe wir es uns versahen, waren wir unterwegs zu ihrer Beerdigung in Salinas. Das Haus meiner Eltern stand dort, wo mein Vater vor einigen Jahren Ställe und ein paar Paddocks angelegt hatte. Bis vor kurzem hatte er Reitstunden gegeben und immer noch mit Pferden zu tun gehabt. Jetzt allerdings, nach dem Tod seiner Frau, befand er sich in einem bemitleidenswerten Zustand. Er konnte nicht glauben, was passiert war. 274
Bei unserer Ankunft begrüßte er uns mit den Worten: »Kommt rein, eure Mutter wird bald zurück sein.« Pat und ich sahen uns an. Hatten wir richtig gehört? Wir folgten ihm hinein ins Haus. »Dad«, sagte ich, »sie kommt nicht mehr zurück. Sie ist tot.« Er schwieg. Erst nach einer langen Pause gab er zu: »Ja, ich glaube, das stimmt.« Eine halbe Stunde später machten wir uns auf den Weg zur Trauerfeier. Als wir das Haus verließen, hielt mein Vater inne und sagte: »Halt, wir müssen noch auf Marguerite warten. Sie ist noch nicht zurück.« Wieder erinnerte ich ihn: »Dad, sie wartet in der Leichenhalle auf uns. Wir gehen zu ihrer Beerdigung.« »Ja, okay.« Ein merkwürdiger Zufall wollte es, dass die Leichenhalle nur vier Häuser von unserer alten Adresse - 347 Church Street, Salinas - entfernt lag. Die Gegend kam mir viel kleiner vor, als ich sie in Erinnerung hatte. Die Häuser waren geschrumpft, die Straße nicht viel mehr als ein gepflasterter Weg. Das Bestattungsinstitut hieß Struve and LaPorte. Alle Mitglieder der Familie LaPorte hatten in den Vierzigern auf dem Rodeogelände bei uns Reiten gelernt. Der grauhaarige Herr, der uns nun begrüßte, war vor all den Jahren einer meiner Schüler gewesen! Jim LaPorte leitete inzwischen das Familienunternehmen. Wer hätte das gedacht? Ich erinnerte mich nur an einen kleinen Jungen auf einem Pferderücken. Vor der Eingangstür fing Vater wieder an: »Wartet, wir müssen noch eure Mutter holen.« Jim LaPorte sagte uns, dies käme bei alten Menschen, die nach vielen gemeinsamen Jahren getrennt würden, oft vor. Der Trauergottesdienst fand in der katholischen Kirche statt. Es waren nur wenige Leute anwesend, als die Messe gelesen wurde. Danach brachte man Mutter hinaus und begrub sie. Ein Leben ganz im Dienst von Ehemann und Kindern war vorüber. Mein Bruder Larry und ich waren angesichts des raschen Verfalls meines Vaters nach dem Tod unserer Mutter natürlich besorgt. Wir fragten uns, wie lange er noch allein zurechtkommen würde. Ich rief seinen Hausarzt an und schlug vor, Vater auf Flag Is Up unterzubringen, wo wir ihn im Auge behalten konnten. 275
Der Arzt antwortete, mein Vater sei gesund wie ein Fisch im Wasser und ein Umzug wäre das letzte, was er wollte. Er hatte jemanden, der ab und zu nachsah, wie es ihm ging, und er hatte genug zu essen. Was uns betraf, sollten wir ihn nur so oft wie möglich anrufen und ihn häufig besuchen. Larry und ich entwarfen ein Telefonier- und Besuchsprogramm. Wenn ich Vater am Telefon fragte, wie es ihm ginge, gab er zur Antwort: »Gut. Hab' das Stutfohlen jetzt gut hingekriegt, weißt schon, und das Palomino-Hengstfohlen ist ein gutes Pferd.« »Dad, du hast mit diesen Pferden doch gar nichts mehr zu tun!« »Und ob ich das habe!« »Na gut, okay.« Stille. Ich wusste, dass er keinen Handstreich mehr tat. Er verließ ja kaum noch das Haus. »Dad, würdest du nicht gern eine Weile zu uns kommen, bis du wieder fit bist?« »Schlag dir das aus dem Kopf. Ich geh' hier nicht weg. Was soll das Gerede?« Larry rief uns nach seinem nächsten Besuch an und meinte, mit Vater gehe es schnell bergab. Er esse nichts mehr und sei körperlich verwahrlost. Er sei sichtlich am Ende. Am nächsten Tag fuhr ich nach Salinas, doch als ich gegen Abend dort ankam, war er schon gestorben. Larry hatte ihn am Vormittag tot aufgefunden. Nur zweiundvierzig Tage waren seit Mutters Tod vergangen. Spät am Abend verspürte ich den starken Wunsch, das Bestattungsunternehmen von Struve and LaPorte, wo mein Vater aufgebahrt lag, aufzusuchen. Ich rief meinen ehemaligen Reitschüler an und fragte, ob das wohl möglich sei. Jim LaPorte war einverstanden. Zum vereinbarten Zeitpunkt sperrte er mir auf und führte mich in einen kleinen Raum, der sehr sauber und bis auf einen Blumenständer und das Gestell, das auf einer Seite den Sarg hielt, leer war. Außer einer dezenten Lampe, deren matter Schein auf meinen Vater gerichtet war, gab es kein Licht. Jim ließ mich allein, und ich trat vor, um in den Sarg zu sehen. Die Worte meines Bruders Larry kamen mir in den Sinn: »Er fällt vor meinen Augen in sich zusammen.« Er schien nur noch 1,50 Meter groß zu sein und war bis auf die Knochen abgemagert. 276
Genau dieses Bild von meinem Vater kannte ich nur zu gut. Immer, seit meiner frühen Jugend, wusste ich, dass einmal die Zeit kommen würde, in der er in einer Holzkiste liegen und ich auf ihn hinabblicken würde. Jedesmal, wenn er mich seinen drakonischen Strafmaßnahmen unterzog und mich prügelte, hatte ich mich an diese Vision geklammert. Mein Leben lang hatte mich dieses Bild verfolgt, und jetzt war es Realität geworden. Immer, wenn ich mich als Kind unter seinen Schlägen geduckt hatte, hatte mich der Gedanke getröstet, dass mein Vater eines Tages in die gleiche Holzkiste passen würde wie jeder andere. Von diesem Tag an würde er mich nicht mehr verletzen können. Es war ein Moment der Katharsis, aber ich vergoß keine Träne. Um ehrlich zu sein: Sein Tod war mir gleichgültig. Ich glaube nicht, dass diese Reaktion mich als einen Mensch ausweist, der nicht vergeben kann. Es war nur einfach so, dass die Wut über all die Strafen, die er über mich verhängt hatte, in diesem Augenblick so präsent war, als wäre es gestern und nicht vor vierzig Jahren geschehen. Jetzt erst konnte er niemandem mehr weh tun. Er war erlöst von jener Bürde, die ihn so hatte werden lassen, wie er war. Was immer es auch war - Gewalt oder Wut -, ich wollte, dass es ein für allemal von der Erde verschwand. Für meine kleine Nische in der Welt war es ein großer Augenblick. Nachdem ich das Bestattungsunternehmen verlassen hatte, spürte ich das Bedürfnis, nach Chinatown zu fahren und den Golden Dragon Saloon zu suchen, wo ich vor vielen Jahren die brutale Verhaftung des Schwarzen durch meinen Vater miterlebt hatte. Immer noch war es das verrufene Viertel der Stadt. Jetzt lungerten aber auch Drogensüchtige herum, was 1943 noch nicht der Fall gewesen war. Die Straße war inzwischen zur Einbahnstraße geworden. Ich konnte also, genauso wie mein Vater in jener Nacht, den Wagen auf der (damals) falschen Seite parken. Ich sah mich um, konnte das Lokal aber nirgends entdecken. Ich überlegte, ob ich mich vielleicht geirrt hatte, als ein Polizeiwagen vorbeifuhr. Ich war dem Fahrer aufgefallen, da mein Lincoln Town in dieser Umgebung ein auffällig teures Auto war. Der Polizist parkte gleich hinter mir, stieg aus und näherte sich vorsichtig dem Fenster auf der Beifahrerseite. Ich ließ die Scheibe herunter, um verstehen zu können, was er sagte. »Sie haben sich verfahren, nicht wahr?« 277
»Nein, ich weiß genau, wo ich bin. Ich war vor über vierzig Jahren hier und wollte mir diesen Fleck noch mal ansehen.« Da ich ihn nicht gleich nach einem Ausweg aus diesem gefährlichen Holzweg gebeten hatte, argwöhnte der Polizist, ich wolle in dem verrufenen Viertel Drogen kaufen. »Ach, ja?« fragte er skeptisch. Ich fuhr fort: »Hier war doch früher der Golden Dragon. Wissen Sie, was damit passiert ist?« »Der Golden Dragon ist vor ungefähr einem Jahr abgerissen worden.« »Ach so. Damals, vor über vierzig Jahren, hatte ich hier ein ziemlich übles Erlebnis. Mein Vater verhaftete jemanden. Ich bin nur hier, weil ich mich an den Vorfall erinnern wollte.« Die Miene des Polizisten hellte sich auf. »Ihr Vater war Polizist?« »Ja. Zwölf Jahre lang. Das ist aber schon eine ganze Weile her. Er ist später wieder aus dem Dienst ausgeschieden.« »Wie hieß er denn?« »Marvin Roberts.« »Ach ja. Morgen findet ja ein großes Begräbnis für ihn statt. Viele Kollegen werden dabeisein.« Er hatte recht; als mein Vater am nächsten Tag zu Grabe getragen wurde, drängten sich bei der Trauerfeier viele Polizisten aus Salinas in der Kirche. Sie war randvoll. Nur sechs Wochen zuvor, beim Begräbnis meiner Mutter, war kaum jemand gekommen. Während ich mit Grandma, der alten Hirschkuh arbeitete, dachte ich immer, es müsse sehr interessant sein, einmal mit einem jungen Hirsch mit formbarem, noch nicht vom Leben traumatisiertem Gemüt zu beginnen. Ich wollte wissen, ob er schneller als Grandma, die die Last ihrer früheren Erfahrungen mit sich herumschleppte, auf mich reagieren würde. Als ich 1966 auf das Gestüt zog, gab es in der Umgebung nicht viel Wild. Am Tag meiner ersten Begegnung mit Grandma lebte ich bereits elf Jahre dort. In jener Zeit hatte ich höchstens Rudel von drei bis vier Tieren gesehen. In den ersten vier oder fünf Jahren, in denen ich mit Grandma arbeitete, stieg dagegen die Zahl der Hirsche, die sich die Farm und ihre Umgebung zu ihrer Heimat machten, bemerkenswert an. 278
Ich suchte mir also einen jungen Hirsch aus und begann die Arbeit mit ihm. Später nannte ich ihn Yoplait nach der Joghurtmarke, die er besonders gerne fraß. Als Schüler war er gewiß gelehriger als Grandma, aber ich weiß natürlich auch, dass ich die Sprache inzwischen viel besser beherrschte. Innerhalb von sechs Monaten veränderte sich sein Verhalten auffällig. Ich konnte ihn von den anderen Hirschen fortlocken, ihm Hals und Kopf reiben und ihn streicheln. Er machte auf mich immer einen ziemlich gleichgültigen Eindruck, was mich dazu verleitete, darin ein allgemeines Charaktermerkmal aller Hirsche zu sehen. Erst später begriff ich, dass sie alle unterschiedliche Persönlichkeiten sind und Gleichgültigkeit keineswegs die Regel ist. Yoplait ignorierte mich oft über lange Zeiträume hinweg völlig. Er starrte in eine andere Richtung und nahm mich überhaupt nicht wahr. Ich suchte den Fehler bei mir, und bis zu einem gewissen Grad war das wahrscheinlich auch berechtigt. Ich würde unsere Beziehung nicht als besonders ersprießlich bezeichnen, aber sie hielt immerhin zwölf Jahre, bis er im Oktober 1994 bei einem Unfall auf dem Highway ums Leben kam. Mit zunehmendem Alter neigte Yoplait mehr und mehr dazu, das Gestüt als sein persönliches Eigentum zu betrachten. Oft stieg er auf die Anhöhe nördlich des Anwesens und legte sich dort nieder, als wolle er es überwachen. Andere Personen oder Tiere hielt er für Eindringlinge und legte ihnen gegenüber ein aggressives Verhalten an den Tag. Wenn Fremde das Anwesen betraten, stellte er sich zwischen sie und mich und stupste sie von mir weg. Er war eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die ich anderen zuteil werden ließ. Inzwischen weiß ich, dass die Neigung zur Eifersucht bei allen Tieren dieser Art tendenziell vorhanden ist. Meine Angestellten erzählten mir auch, dass Yoplait sehr unruhig wurde, sobald ich die Farm verließ. Er suchte nach mir und legte sich in der Nacht vor mein Schlafzimmerfenster. Offenbar wollte er in meiner Nähe sein. Später machte ich einmal ein Experiment. Am Tag meiner Abreise legte ich ein getragenes Unterhemd in die Nähe eines Baums. Vor meiner Abfahrt informierte ich meine Mitarbeiter und bat sie, Yoplaits Reaktion zu beobachten. Nach meiner Rückkehr berichteten 279
sie mir, während meiner Abwesenheit hatte er ungewöhnlich lange neben dem Unterhemd gelegen. In der Folgezeit steckte ich Unterhemden in Plastiktuten, die ich, um den Körpergeruch zu bewahren, mit einem Knoten verschloß und meinen Mitarbeitern zur Aufbewahrung übergab. Sie wechselten sie alle drei oder vier Tage aus. Auf diese Weise gaukelte ich Yoplait vor, dass ich gar nicht abgereist wäre. Die Methode schien zu funktionieren. Ohne meine Unterhemden wurde er unruhig und verließ das Gestüt häufig. Oft kam es vor, dass er sogar im Dorf Solvang gesichtet wurde. Auch heute gehört es für mich zur Alltagsroutine, stets darauf zu achten, dass genug benutzte Unterwäsche für die Hirsche da ist. Auf längeren Reisen muß ich gebrauchte Wasche zur Ranch zurückschikken, um die Tiere zufriedenzustellen. Während der Lehrjahre Yoplaits besaß meine Frau Pat einen Hund namens Jay. Yoplait mochte weder Pat noch den Hund. Er betrachtete sie als Konkurrenten und gab ihnen unmißverständlich zu verstehen, dass der Hund im Haus bleiben und Pat sich von mir fernhalten sollte zumindest solange er, Yoplait, in der Nahe war. Er hatte den Hund einen Queensland Heeler - völlig eingeschüchtert. Beim geringsten Anlaß senkte er seinen Kopf und trieb ihn ins Haus zurück. Einmal — ich war für längere Zeit abwesend - wollte Pat im Garten hinter dem Haus Blumen pflanzen. Das Hirschrudel war zu jener Zeit auf sechzig bis siebzig Mitglieder angewachsen. Einige Tiere verbrachten ihr Leben in der Nahe des Hauses, und es gab nur wenige Pflanzen, die von ihnen verschmäht wurden. Pat hatte jedoch entdeckt, dass Hirsche keine blauen Blumen fressen. Folglich pflanzte sie an jenem Tag vor der Küche und der Waschküche blaue Blumen. Plötzlich bemerkte sie Yoplait: Er folgte ihr, rupfte die Pflanzen aus und warf sie weg, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, sie zu fressen. Mit einem Besen, der neben der Tür stand, scheuchte Pat ihn den Hang hinunter in Richtung Farm. Sie ärgerte sich über die vergebliche Arbeit, ging in die Garage und ließ den Jaguar an, damit der Motor Warmlaufen konnte. Wegen der Abgase blieb das Garagentor offen. Pat begab sich unterdessen ins Haus, um noch diverse Dinge zusammenzusuchen, die sie ins Büro hinunterbringen wollte. 280
48 Monty (vorne sitzend) mit Mannschafts kollegen des Cal Poly Rodeoteams, Vorne links Greg Ward 49 Ehrung für den ersten Platz beim National Intercollegiate Rodeo Association Bulldogging World Championship, 1957
5O Monty auf Bar Flash beim Bulldogging während eines PRCA-Rodeos in Clovis, Kalifornien, 1963. 51 Auf Johnny Tivio beim Cutting in Monterey, Kalifornien.
52 Bei einem Wettbewerb in Monterey dreht Monty ein Rind an den Zaun. 53 Sliding Stop mit Fame Gold in Fresno, Kalifornien.
54 Aus den Anfangs tagen der Flag Is Up Farms in Solvang Kalifornien 1965/66 55 Monty Fran Harcourt Hastmgs Harcourt Pat und Farrell Jones (v l n r) Ende der sechziger Jahre am Flughafen von Los Angeles wo gerade die beiden Pferde Antonito (links) und Daystar II eingetroffen sind
56 Pat und Monty lassen im Oktober 1966 die ersten Pferde auf die Koppeln der Flag Is Up Farms 57 Der zweijährige Hengst Alleged in Hollywood Park
58 Monty mit »seinen« Hirschen. 59 Monty und Pat auf einer Kreuzfahrt durch die Ägäis, Ende der siebziger Jahre.
60 Alleged unter Lester Piggott gewinnt 1978 in Longchamp, Frankreich, den Prix de l'Arc de Triomphe. Bereits im Jahr zuvor waren beide zusammen erfolgreich gewesen. 61 Pat mit einer Quarterhorse-Stute.
62 Monty mit einem Pferd Ihrer Majestät Konigin Elizabeth II im Schloßpark von Windsor
Als Pat wieder in die Garage kam, stand Yoplait auf dem Dach des Wagens. Pat hatte den Jaguar noch nicht lange und war sehr stolz auf ihn. Yoplait hatte auf allen Seiten mit Geweih und Hufen den Lack beschädigt. Er hatte auf dem Kofferraum und auf der Motorhaube getanzt und mit seinem Geweih die Seiten zerkratzt. Der Wagen musste völlig neu lackiert werden. Das folgende erzähle ich, obwohl ich weiß, dass ich riskiere, m eine Zwangsjacke gesteckt zu werden: Yoplait hatte auch ein Foto von Pat und Jay von der Garagenwand gerissen. Insgesamt hingen etwa fünfzig Fotografien dort, aber nur auf diese eine hatte er es abgesehen. Es lag auf dem Boden und war mit seinem Kot beschmutzt. Damit mich niemand in die Klapsmühle steckt, nenne ich dies naturlich einen reinen Zufall, aber höchst merkwürdig war es trotzdem ... Am Abend rief Pat mich an und sagte mir, sie werde vermutlich Wildbret zu Abend essen! Eine Stimme am anderen Ende der Leitung verkündete: »Hier spricht Lyman Fowler.« »Lyman Fowler!« »Genau. Erinnern Sie sich noch an mich? Ich war Ihr Lehrer an der High-School.« »Naturlich erinnere ich mich an Sie!« »Vielleicht erinnern Sie sich auch an einen ganz bestimmten Aufsatz, den ich Sie schreiben ließ?« » Selbstverständlich!« »Sie können sich denken, dass ich inzwischen in Rente bin.« »Ja, es ist viel Zeit vergangen.« »Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?« »Nur zu, Mr. Fowler.« »Ich organisiere die Veranstaltungen unserer Kirchengemeinde. Wir machen jedes Jahr einen netten Ausflug, und ich bestimme die Ziele. Wir suchen etwas Gepflegtes, nichts Wildes, wo man unter die Straßenrauber gerat. Die Leute in unserer Gruppe sind schon recht betagt, wie Sie sich denken können.« »Okay, was kann ich für Sie tun?« »Ich dachte, vielleicht konnten wir mal Ihr Unternehmen besichtigen? Wir wurden nur ein oder zwei Stunden Ihrer Zeit in Anspruch 289
nehmen. Aus den Zeitungen kennen wir Flag Is Up natürlich, und da dachte ich, es ließe sich vielleicht arrangieren ...« »Klar, geht in Ordnung. Ich zeige Ihnen den Betrieb.« Wir vereinbarten einen Termin. Dann legte ich den Hörer auf und schüttelte ungläubig den Kopf. Und ob ich mich an Mr. Fowler und meinen Aufsatz mit der großen roten »5« darüber erinnerte! Er hatte meinen Plan als viel zu hochgestochen abgelehnt - und jetzt rückte er an, um jenes Gestüt zu besuchen, das durchaus einige Ähnlichkeiten mit meinem damaligen Projekt aufwies. An einem herrlichen Sommertag fuhr der Reisebus bei uns vor. Mr. Fowler stieg als erster aus. Er war etwa 1,90 Meter groß und hielt sich kerzengerade. Er war gepflegt gekleidet und hatte noch immer den gleichen olivbraunen Teint und die markanten Augen wie damals. Sein Haar war jetzt völlig weiß und sein Gesicht gefurcht. Doch abgesehen davon war er ganz der alte. Er reichte mir seine schmale, feingliedrige Hand und begrüßte mich in der ihm eigenen präzisen Art. Dann zog er mich an seine Brust und umarmte mich herzlich - so kannte ich ihn noch gar nicht. An die fünfzig ältere Herrschaften stiegen nacheinander aus dem Bus, bildeten einen Halbkreis um mich und sahen mich erwartungsvoll an. Lyman Fowler sprach die einleitenden Worte: »Meine Damen und Herren, dies ist Monty Roberts, von dem ich Ihnen erzählt habe. Er hat sich freundlicherweise bereit erklärt, uns seinen Betrieb zu zeigen, die Flag Is Up Farms.« Wir besichtigten zunächst die unmittelbare Umgebung unseres Standortes. Für den Rest der Führung waren wir auf den Bus angewiesen, da viele Teilnehmer nicht mehr gut zu Fuß waren. Über das Bordmikrofon erläuterte ich die verschiedenen Einrichtungen, an denen wir vorbeifuhren. Die alten Leute hatten alle ihr Leben in einer landwirtschaftlich geprägten Umgebung verbracht und interessierten sich daher für den Aufbau des Gestüts und die Arbeitsabläufe. Ich meinerseits hatte dafür gesorgt, dass auf der Trainingsstrecke ein paar Galopper zu sehen waren. Der Bus hielt am Rand der Bahn, und die Pferde rasten an uns vorbei... Nach der Besichtigung fuhren wir zum Haus hinauf. Die Ausflügler traten ein und sahen sich um. Auf der Terrasse, von der aus man 290
die ganze Anlage überblicken kann, boten wir einige Erfrischungen an und beantworteten auch ein paar Fragen zu dem Hirsch, der auf dem Rasen äste. Schließlich hielt Mr. Fowler mit seiner präzisen, jedes Wort genau artikulierenden Stimme, die ich nie vergessen werde, eine Rede: »Wie Sie alle wissen«, sagte er, »war Monty in jungen Jahren mein Schüler. Aber auch ich habe von ihm etwas gelernt. Gut möglich, dass es sogar die wertvollste Lektion war, die ich je erhalten habe.« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Ein Lehrer hat nicht das Recht, die Zukunftspläne seiner Schüler zu verurteilen, egal, wie unrealistisch sie auch erscheinen mögen.« Mit einer schwungvollen, eleganten Geste umfaßte er die Gebäude und Paddocks zu unseren Füßen. »Ich sagte Monty damals, dass all dies völlig unerreichbar wäre. Jetzt haben wir uns seinen Betrieb angesehen und uns davon überzeugen können, wie sehr er mich eines Besseren belehrt hat.« Ich fühlte mich Mr. Fowler in diesem Moment sehr verbunden und rechnete es ihm hoch an, dass er sich vor so vielen Leuten zu seinem Fehler bekannte.
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EINE EINLADUNG, DIE MEIN LEBEN VERÄNDERTE
Im April 1989 wurde ich nach England eingeladen, um meine Arbeitsmethoden vor Ihrer Majestät Königin Elizabeth II., Prinz Philip und der Königinmutter zu demonstrieren. Den ersten Teil dieses Erlebnisses habe ich am Anfang des Buches bereits geschildert. Die Auswirkungen dieser Einladung kann man sich vorstellen. Mir war, als sei mir nach langer Zeit endlich gestattet worden, aus dem Dunkel ins Licht zu treten. Blinzelnd und ein wenig unsicher stellte ich mich dem scharfen Blick der Öffentlichkeit. Aber die Anerkennung, die meiner Arbeit entgegengebracht wurde, war echt und hatte Bestand. Man darf nicht vergessen, dass ich den Beobachtungsstand über dem Longierring auf Flag Is Up erst vor relativ kurzer Zeit hatte anbringen lassen. Zuvor hatte ich in der festen Überzeugung, dass man es mir ohnehin nicht abnehmen würde, keinem Menschen gezeigt, was ich konnte. Und nun beteiligte sich auf einmal eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in der Welt der Pferdeexperten und wenn ich sage Welt, dann meine ich es auch - aktiv an der Bekanntmachung und Propagierung meiner Arbeit. Genau dieses Gütesiegel war nötig, um Zweifler zu überzeugen, dass sie es nicht mit Taschenspielertricks zu tun hatten, sondern mit einem echten Beispiel für die Kommunikation zwischen Mensch und Pferd in der Sprache »Equus«. Das Wesentliche an der Sache - dass es nämlich eines Menschen mit der Autorität der Queen bedurfte, damit andere Leute bereit waren, mir Glauben zu schenken - begriff ich in vollem Umfang erst an jenem Tag in den königlichen Marställen. Die erste Demonstration - an der jungen Stute der Königinmutter war mit traumhafter Sicherheit über die Bühne gegangen, und ich genoß die Aufmerksamkeit, die mir seitens des gesamten Hofstaates gezollt wurde. Danach gingen wir mit Sir John Miller und etwa zwölf weiteren Personen - die meisten von ihnen Journalisten - zum Savile Gardens Restaurant in Windsor Park. Froh und glucklich über die herzliche Aufnahme, die wir gefunden hatten, sahen wir unserer Nachmittagsvorstellung entgegen, die vor anderem Publikum stattfinden sollte. Während des Essens verließ Sir John mehrmals den Platz, um ungestört per Handy telefonieren zu können. Ich bekam nicht mit, worum es ging, doch als wir aufbrachen, um zum Schloß zurückzu295
kehren und uns auf die zweite Runde unserer Vorstellung vorzubereiten, erwähnte Sir John, das Stallpersonal sei gerade dabei, zwei neue Pferde zu holen. Das stand im Widerspruch zu unseren Abmachungen. Viel später erst sollte ich erfahren, was geschehen war: Bei einem Gespräch mit der Queen war in Kreisen ihres Personals die Vermutung geäußert worden, ich hätte mit den Pferden, als ich sie, angeblich zur Gewöhnung an die ihnen fremde Umgebung, durch den Ring führte, irgend etwas angestellt, was nicht ganz koscher war. Mit anderen Worten: Man hegte den Verdacht, ich hätte mit unlauteren Mitteln gearbeitet. Die Königin hatte sich dieser Meinung zwar nicht angeschlossen, ihren Leuten aber eine Gegenfrage gestellt: Womit ließen sich die Zweifel an der Seriosität meiner Arbeit endgültig zerstreuen? Darauf hatte man vorgeschlagen, einen Pferdetransporter nach Hampton Court hinüberzuschicken und dort zwei sehr große dreijährige Scheckenhengste einzuladen, die absolut roh waren und bis dato noch kaum Umgang mit Menschen gehabt hatten. Die beiden Pferde hatten bislang mit Sicherheit weder mich noch den Longierring zu Gesicht bekommen. Ich sollte versuchen, die beiden Schecken einzureiten. Die Zweifler prophezeiten, dies würde mir nicht gelingen. Damals erfuhr ich von Sir John lediglich, ich solle diese Pferde einreiten, ohne sie vorher an den Ring gewöhnt zu haben. Da er meine Arbeitsmethode nicht kannte, ging er vermutlich davon aus, dass ich diesen Wunsch problemlos erfüllen konnte. In Wirklichkeit ist es unfair, von Pferden zu erwarten, dass sie eine der traumatischsten Erfahrungen ihres Lebens über sich ergehen lassen, während sie sich gleichzeitig an eine furchterregend neue Umgebung anpassen sollen. Ich war alles andere als angetan von dem neuen Plan. Der Druck war ohnehin groß genug. Ich kam mir vor wie auf dem Präsentierteller. Es hing so viel von einem guten Ausgang ab — und selbstverständlich war mir an Arbeitsbedingungen gelegen, unter denen ich eine reelle Chance hatte. Als wir vor der Reithalle ankamen, stand dort bereits ein kleiner Pferdetransporter, in dem die beiden Schecken zusammengepfercht waren. Sie schwitzten und schlugen aus. Als der erste Hengst herausgeholt wurde, wieherte der andere wütend auf, und der erste wieherte 296
zurück. In Hampton Court waren sie stets gemeinsam auf der Koppel gehalten worden. Sie mochten einander offenbar sehr. Zur Nachmittagsvorführung waren hundert Gäste geladen worden, dazu das Stallpersonal, das an der Wand Aufstellung bezog. Die Marstallangestellten rechneten fest mit einem Fehlschlag und der entsprechenden Diskreditierung meiner Arbeitsmethoden. Sir John nahm ein Mikrofon zur Hand und trat in den Longierring, um mich dem Publikum vorzustellen. Der riesige dreijährige Schecke kam auf ihn zugefegt, stampfte mit den großen Vorderhufen auf den Boden und gab uns damit zu verstehen, dass ihm die ganze Situation von Grund auf gegen den Strich ging. Sir John suchte schleunigst hinter dem Tor Zuflucht und stellte mich dem Publikum von außerhalb der Umzäunung vor — woraus man ihm gewiß keinen Vorwurf machen konnte. Ich war über die neuen Bedingungen nicht glücklich, die ich für ebenso unfair wie gefährlich hielt. Dieser Junghengst war aggressiv und wurde durch das Gewieher seines Gefährten draußen vor dem Gebäude permanent abgelenkt. Plötzlich erhoben sich alle Anwesenden von ihren Sitzen. Die Königin war in die Halle getreten. Ihr Besuch war eigentlich nicht vorgesehen, doch sie hatte sich entschlossen, Verlauf und Ausgang meiner Vorführung mit eigenen Augen zu verfolgen. Sie begab sich zu einer Loge hinter den Zuschauersitzen und bedeutete den Gästen mit einer Geste, wieder Platz zu nehmen. Sir John fuhr mit seiner Einführungsrede fort und erläuterte, was nun gleich zu sehen sein würde. Mir blieb nicht viel anderes übrig, als durchs Tor zu treten, meine Longe aufzunehmen und es darauf ankommen zu lassen. Der große Schecke umrundete mich und spielte seine männliche Arroganz aus. Ich trieb ihn mit etwas mehr Nachdruck als sonst von mir fort, und er reagierte prompt. Als er kurz darauf im Kreis am Ring entlangzugaloppieren begann, vergaß er seinen Freund draußen vor der Halle und stellte sich auf mich und mein Tun ein. Er arbeitete bereits für mich. Nach etwa drei oder vier Runden war er auf mich eingestimmt und reagierte recht gut. Meine Zuversicht wuchs, dass auch diese Vorführung wunschgemäß verlaufen würde. Ich hob meine Stimme um einige Dezibel. 297
»Ich versuche nun, mit ihm zu reden«, sagte ich. »Und ich kann Ihnen versichern, dass er auch mit mir reden wird. Achten Sie auf das innere Ohr, auf das Lecken und Kauen. Sehen Sie, wie er den Kopf senkt und ihn ein paar Zentimeter über dem Boden hält? Prächtig! Da...« Ich wollte der Stallcrew ein für allemal klarmachen, dass alles mit rechten Dingen zuging und dieses Pferd tatsächlich mit mir kommunizierte. Bei der Unterhaltung mit dem Schecken fühlte ich mich wesentlich wohler als zuvor bei meinem Vortrag über meine Methoden vor den mißtrauischen Marstallangestellten. Es dauerte nur wenige Minuten, bis der Dreijährige mir glaubte, und exakt sieben Minuten, bis er mir vertraute. Im weiteren Verlauf wurde der Hengst immer besser. Sean ritt ihn ohne das geringste Problem, und das lange vor Ablauf des Dreißig-Minuten-Limits. Die Demonstration war vollauf gelungen, und die Reaktion der Queen verriet Freude und Zufriedenheit. Ihr Vertrauen in meine Arbeit war voll und ganz gerechtfertigt worden. Als der große Schecke hinausgeführt wurde und ich auf seinen Kameraden wartete, schlichen sich die Stallhilfen von dannen, um wieder an ihre Arbeit zu gehen. Ich folgte ihnen und bat sie höflich, mir beim Einreiten des zweiten Pferdes aus Hampton Court ebenfalls zuzusehen. Sie kamen also wieder herein und nahmen neuerlich vor der Wand Aufstellung — dieses Mal vielleicht um eine Spur aufgeschlossener als zuvor. Ich übernahm das zweite Pferd, und die Vorführung verlief genauso unproblematisch wie die erste. Der Rest der Woche verging mit weiteren Vorführungen vor anderen Auditorien, und nirgendwo spürte ich mehr jene Skepsis, die mir am Montag entgegengeschlagen war. Vielleicht gab es sie noch, doch trat sie niemals mehr so offen in Erscheinung. Die Königin und andere bedeutende Leute - die meisten von ihnen hatten in der einen oder anderen Weise mit Pferden des Königshauses zu tun — luden immer neue Gäste ein, die sich anschauen sollten, was ich zuwege brachte. Von Montag bis Freitag hatten wir täglich ungefähr zweihundert Zuschauer. Auch am Dienstagmorgen tauchte die Queen unerwartet auf und beobachtete den ganzen Vormittag über die Pferde bei der Arbeit. Am Dienstagnachmittag war sie ebenfalls anwesend, dann am Mitt298
wochvormittag, am Mittwochnachmittag, den ganzen Donnerstag und am Freitagvormittag. Es war schon ein erhebendes Gefühl, ihr Interesse so zu fesseln, dass sie ihren gesamten Terminplan umwarf. Beide sind wir von Pferden fasziniert, und es macht mir große Freude, mit der Königin über Pferde zu sprechen. Ihre fortwährende Unterstützung erfüllte mich mit großer Sympathie für sie. Eines Tages kam John Bowles aus Kalifornien angereist. Er ist, wie ich bereits erwähnte, ein Freund von Sir John Miller und mein Nachbar. Er war es ja auch, der Sir John im Januar 1989 zu mir auf die Farm gebracht hatte. John ist ein alter Südstaatler von echtem Schrot und Korn. Als er das Stallgelände betrat, unterhielt ich mich gerade mit der Queen. Sie wandte ihm den Rücken zu. John trat einfach neben sie und streckte mir mit breitem Lächeln die Hand zur Begrüßung entgegen. Da erst bemerkte er, mit wem ich mich unterhielt. Seine konsternierte Miene war wirklich sehenswert! Ich hatte zu jenem Zeitpunkt drei Tage ununterbrochen mit Sir Soundso und Lady Diesunddas zugebracht, so dass ich dem guten alten John Bowles spontan die Hand schüttelte und im Brustton der Überzeugung verkündete: »Majestät, das ist Sir John Bowles.« Auf diese Weise erhielt John, gewissermaßen als Belohnung für viele gute Dienste, den spontanen Ritterschlag von seinem alten Freund. In dieser Woche ritten wir sechzehn Pferde der Königin ein, vier Ponys von Prinz Philip, die Jungstute der Königinmutter und ein vielversprechendes Springpferd, das einer Bekannten der Queen gehörte; insgesamt also zweiundzwanzig Tiere innerhalb von fünf Tagen. Darüber hinaus hatten wir beschlossen, die junge Vollblutstute der Königinmutter jeden Tag zu reiten und auf diese Weise ein wenig voranzubringen, so dass ihre Besitzerin sie noch vor unserer Abreise beim Ausritt im öffentlichen Park von Schloß Windsor beobachten konnte. Eine Blamage war dabei nicht auszuschließen, denn ein junges Pferd, das zum erstenmal im Freiland geritten wird, kommt auf die verrücktesten Ideen, ganz egal, wie gut es ausgebildet wurde. Ich war allerdings bereit, dieses Risiko einzugehen. Jener Freitag Mitte April 1989 muß in den Annalen als einer der schönsten und sonnigsten Tage verzeichnet sein, die England je erlebt hat. Der Himmel, über den gelegentlich eine weiße Schäfchenwolke 299
segelte, war tiefblau, und Windsor sah so schön, kultiviert und traditionsreich aus, wie nur ein englisches Schloß aussehen kann. Die Königinmutter wurde herbeichauffiert, und ich ging dem Wagen entgegen, um sie zu begrüßen. Doch sie öffnete die Tür schon, bevor das Auto ausgerollt war, und begrüßte mich mit einem breiten Lächeln, als wären wir seit ewigen Zeiten gute Bekannte. Sie kam zu uns, rieb ihrem jungen Pferd die Nüstern und sprach mit Sean. Dann begrüßte sie Roger Oliver sowie Sir John und meine Frau. Sean ritt die junge Stute und wurde dabei vom Marstallmeister Roger Oliver begleitet, der auf einem erfahrenen älteren Tier voranritt. Sie ritten durch die Gärten und boten einen der herrlichsten Anblicke, den Mensch und Pferd gemeinsam schaffen können - eine Szene wie aus dem Bilderbuch. Sean ritt die junge Stute in allen Gangarten, und es gelang ihm wunderbar. Die Königin hatte an jenem Tag einen wichtigen Termin wahrzunehmen, hatte jedoch für den Fall, dass es ihr gelingen sollte, sich ein paar Augenblicke davonzustehlen, darum gebeten, sie auf dem laufenden zu halten. Wir befanden uns bereits auf dem Rückweg und ritten den ansteigenden Weg zum Schloß hinauf, als die Königin aus ihren Gemächern trat. Sie trug jetzt offizielle Kleidung, begrüßte uns aber mit einem herzlichen Lächeln und war voll des Lobes, als sie sah, wie die Stute geritten wurde. Fast eine Viertelstunde lang sprachen wir miteinander. Die Königin dankte mir für die Woche, die ich auf Windsor Castle verbracht hatte, und erläuterte mir ihre Pläne für meine bevorstehende Tour kreuz und quer durch das Land. Dann kehrte sie zu ihren Gästen zurück, während wir wieder zur Reithalle schlenderten. Ich genoß diesen Tag in vollen Zügen. Als ich über die Ereignisse nachdachte, wurde mir klar, dass diese Woche eine der kostbarsten in meinem ganzen Leben gewesen war. Jeglicher Druck war nun wie fortgeblasen — und unser Besuch war ein voller Erfolg gewesen. Es war für mich, für meine Familie und für Sean eine Woche wie in einer Märchenwelt. Am Nachmittag kehrten wir noch einmal nach Shotover House zurück, wo wir auch übernachteten. Sean freute sich insbesondere auf das Wiedersehen mit Sir Johns Butler, der - ausgerechnet - Horseman hieß. Auch Horsemans Frau arbeitete in Shotover House, und Sir John nannte sie »Horsewoman«. 300
Als ich eine Woche zuvor eingetroffen war, hatte Horseman mich empfangen. Ich sah ihn schnellen Schritts den Säulenvorbau vor dem Eingang dieses eleganten, rechteckig gebauten Herrenhauses durcheilen und auf mich zukommen - jeder Zoll der typische englische Butler. Er war vermutlich nicht älter als sechzig, sah aber aus wie fünfundachtzig. Er war gebeugt und grau und hatte ein trauriges, müdes Gesicht mit großen, wäßrigen Augen. Er war sehr ordentlich gekleidet, doch seinen Kragen und Manschetten sah man an, dass sie schon sehr lange getragen wurden. Zwar versuchte er, sich rasch zu bewegen, war dabei aber so unsicher auf den Beinen, als hätte er Probleme mit den Gelenken. Bei jedem Schritt murmelte er irgend etwas vor sich hin und dies gelegentlich so laut und röchelnd, dass man fast glaubte, er würde auf der Stelle tot umfallen. Dann verfiel er jedoch unvermittelt wieder in sein übliches Gemurmel, als wäre nichts geschehen. Er gab uns nie eine Erklärung für diese seltsamen Ausbrüche und war mit Sicherheit auch nicht an einer Reaktion meinerseits interessiert. Bei meiner Ankunft in Shotover House war er, so schnell ihn seine wackeligen Beine trugen, über den Kies getappt und hatte versucht, meinen Koffer zu heben, wobei er ununterbrochen murmelte: »Ohoh-oh-oh, den nehme ich ...« Ich hielt es für unpassend, ihn überhaupt etwas schleppen zu lassen, doch er wollte partout nichts davon hören, dass ich mein Gepäck selbst ins Haus trug. Sir John stellte ihn mir vor. »Das — äh — ist mein Butler Horseman. Er wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen.« Das Gewicht meines Gepäcks riß Horseman fast die Arme aus den Gelenken, doch Sir John fuhr ungerührt fort: »Das Himmelbettzimmer, Horseman.« Die niedrigen Eingangsstufen waren schon schwierig genug für ihn gewesen, doch nun standen wir vor einer veritablen Treppe mit mehreren Absätzen. Horseman marschierte unverdrossen weiter und lehnte kategorisch jede Hilfe ab. Allerdings musste er mehrmals stehenbleiben und ausruhen, um wieder zu Atem zu kommen; dabei klopfte er sich gegen die Brust und brabbelte vor sich hin. Er brachte mich zu meinem Zimmer, zeigte mir das Bad und alles andere. Mir kam es vor, als müsse er vier oder fünf Gänge machen, bis er die Handtücher geholt hatte, und dann kam er noch einmal mit einem Wasserkrug und einem Glas. Bei jedem seiner Gänge dachte ich, es könnte sein letzter sein. 301
Beim Dinner bekamen wir seine Frau - besagte »Horsewoman« — zu Gesicht, die nicht viel anders aussah als er, wenngleich nicht ganz so verbraucht. Sie hatte die Küche unter sich, glaube ich. Auf jeden Fall half sie ihm, das Essen hereinzutragen und auf dem Sideboard aufzutischen. Sean, der im Laufe der Woche zu uns stieß, kam gleich nach seiner Ankunft auf mich zu. Seine Miene verriet schiere Fassungslosigkeit. »Hast du schon diesen Butler gesehen?« Dieses Unikum faszinierte ihn maßlos. Sein Zimmer lag noch eine Treppe höher als unseres, und Gott allein mag wissen, wie lange Horseman gebraucht hatte, um Sean dorthin zu führen! Eines Abends erwartete Sir John wichtige Gäste. Er wandte sich daher an Horseman und sagte: »Können Sie dafür Sorge tragen, dass der Salon heute abend in einwandfreiem Zustand ist? Unterziehen Sie ihn bitte einer gründlichen Reinigung.« Bis zum Feierabend war es Horseman bei seinen vielen Tagespflichten noch nicht gelungen, dieser Bitte Sir Johns nachzukommen. Er war daher sehr in Eile, und wir kamen in den Genuß, ihm bei seiner Version einer »gründlichen Reinigung« zuschauen zu dürfen. Leise vor sich hinmurmelnd, hopste er in den Salon. In der Hand hielt er einen Staubwedel, mit dem er nun einfach auf alles einschlug, was ihm in den Weg kam. Dann nahm er die viereinhalb Meter langen Vorhänge und schlug sie heftig gegen die Wände, schob einen Stapel Zeitungen von einem Fleck zum anderen, und das war's dann auch schon. Das Zimmer war fertig. Vor dem Abendessen saßen wir in jenem Salon, während Sir John ein langes Telefongespräch führte. Horseman erkundigte sich bei den versammelten Gästen nach den Getränkewünschen und verschwand. Sir John telefonierte und telefonierte, und eine Minute nach der anderen verstrich. Niemand wusste, wo Horseman geblieben war. Schließlich war über eine Viertelstunde vergangen, und allmählich machten sich alle Anwesenden schon ein wenig Sorgen. Da Sir John noch immer am Telefon saß, erbot sich Sean, hinauszugehen und herauszufinden, was Horseman zugestoßen war. Ich bin überzeugt davon, dass jedem von uns das gleiche durch den Kopf ging: Vielleicht kehrt Sean mit einer betrüblichen Nachricht zurück. Er folgte also Horsemans Spuren und fand ihn an einem Side302
board in der Halle lehnend. Sean sah, wie er eine schwere Glaskaraffe an die Lippen hob und einen langen Zug daraus tat. Dann hob er eine andere Karaffe und probierte auch deren Inhalt. Inzwischen stand Sean direkt neben ihm. Horseman fing an, Unverständliches vor sich hin zu brabbeln, und schob dabei die Glaskaraffen wie Schachfiguren hin und her. Den wenigen verständlichen Worten konnte Sean entnehmen, dass es der Butler für nötig erachtet hatte, aus jeder der verschiedenen Karaffen einen Schluck zu probieren, um herauszufinden, welche davon welches Getränk enthielt. Gegen Ende des Abends hatte Horseman geradezu abgehoben. Sein Verhalten wurde immer exaltierter. Er spielte die Rolle des typisch englischen Butlers, als wäre sie ihm auf den Leib geschneidert, und verkündete den Namen jedes Neuankömmlings mit Stentorstimme, als müsse er Hunderte von Menschen überschreien. Es war phantastisch. Sean war restlos begeistert von Horseman und folgte ihm mit stets grinsender Miene überallhin wie ein junger Hund. Einmal erzählte er mir, er habe gesehen, wie Horseman sein, also Seans, Bad putzte. Horseman hatte sich über die Wanne gebeugt, in der Hand den Zipfel eines nassen Tuchs, das zufällig da herunterhing. Dann hatte er mit sichtlicher Mühe die Wanne mit dem Tuch in kreisförmigen Bewegungen ausgewischt, und der Job war erledigt. Sean und ich lachten uns scheckig über diesen Mann. Wir mochten ihn aufrichtig gern. Er war einfach unbezahlbar. Er und seine Frau sind inzwischen gestorben, doch sie haben uns unendlich viel Freude gemacht. Sir John wird sie bestimmt sehr vermissen. Für Sean, Pat und mich war es nun an der Zeit, Abschied von Shotover House zu nehmen und zu unserer großen Englandtour aufzubrechen. Die Königin hatte uns einen zuverlässigen, geräumigen und kugelsicheren Wagen zur Verfügung gestellt, in dem wir uns gut aufgehoben fühlten. Während an den Fenstern unseres Autos die Hecken von Oxfordshire vorbeiglitten, konnte ich es noch immer kaum fassen: Wir standen im Begriff, meine Methoden den Menschen in ganz Großbritannien vorzuführen! Erst Mitte der achtziger Jahre — vierzig Jahre, nachdem ich Ray Hackworth meine Methode, Mustangs einzureiten, demonstriert hatte - war ich mit meiner Arbeit wieder an die Öffentlichkeit gegangen. Und nun fuhr ich täglich Hunderte von 303
Kilometern in einem fremden Land herum, um sie so vielen Menschen wie nur irgend möglich vorzuführen! Ich tat mein Bestes, um mir die Unterstützung und Zustimmung des Publikums zu sichern, und das Ergebnis war einfach unglaublich. In Newmarket fanden wir fünf der wildesten Zwei- und Dreijährigen vor, die man sich überhaupt vorstellen kann. Sie waren nur eine Nuance ruhiger als Mustangs; extrem rohe, ungebändigte Neulinge, aber sehr gesund und wohlgenährt. Das Wetter war unfreundlich - am zweiten Tag hatten wir sogar böigen Wind und Regen -, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich viele Menschen diesen Verhältnissen aussetzen würden, nur weil es sie interessierte, wie ich diese »wilden Pferde« einritt. Es kamen dann aber doch zwei- bis dreihundert Leute. Sie trotzten den Unbilden der Witterung, und die Pferde machten ihre Sache ausgezeichnet. In einem Fall filmte Channel 4 die Prozedur und strahlte sie landesweit im Fernsehen aus. Scheich Mohammed und eine ganze Schar anderer Besucher aus den Vereinigten Arabischen Emiraten kamen ebenfalls zu meiner Vorführung. Wie man mir später mitteilte, hat sie ihnen gut gefallen. Michael Osborne und seine Frau luden uns nach Sandringham ein, einem Besitz der Königin. Sie gaben eine wunderbare Dinnerparty, auf der ich zahllose Fragen beantworten musste. Danach ging es weiter ins Yorkshire Riding Centre zur Familie Bartel, den Veranstaltern und Gastgebern. Die nächste Station war Gleneagles in Schottland, wo es ein eindrucksvolles Hotel und einen ebensolchen Freizeitpark gibt. Vier- bis fünfhundert Leute kamen zu meiner Vorstellung und stellten mir Fragen. Sie sprachen mit starkem schottischem Akzent, der für mich sehr ungewöhnlich klingt. Ich brauchte tatsächlich einen Dolmetscher! In Schottland war es auch, wo Sean mich mit einem seiner Kommentare zum Lachen brachte. Er hatte gerade einen vierjährigen Hengst geritten, ein recht aggressives Tier, wie ich mich entsinne, mit einem Stockmaß von 1,65 Meter, an die elf Zentner schwer und widerborstig. Als er nachgab und vergaß, dass er eigentlich ein Hengst war, ging er wie eine Eins. Sean, der erste Mensch, der auf seinem Rücken saß, konnte sich entspannen und rief mir lauthals zu: »Zum einundfünfzigstenmal hintereinander Glück gehabt!« Den Zuschauern musste ich mein Gelächter erklären. »Überall, wo 304
wir hinkommen, gibt es jemanden, der behauptet, das Ergebnis unserer Vorführung sei bloß ein glücklicher Zufall. Für uns ist das inzwischen schon ein alter Witz. Wir rechnen jedesmal fest mit dem Zwischenrufer, der uns >Glück gehabt!< zuruft. Neues Publikum, neues Glück! Ja, und dieses Pferd hier ist nun, wie Sean eben sagte, unser einundfünfzigster Glückszufall hintereinander in diesem Land. Jene Tausende von Pferden, die ich eingeritten habe, bevor ich in Heathrow gelandet bin, nicht mitgerechnet!« Von Schottland aus flogen wir auf die Isle of Man, wo uns die wohl eigenartigsten Erlebnisse bevorstanden. Auf dem kleinen Flugplatz wurden wir von einer Frau abgeholt, die Ende Sechzig sein mochte und im typisch englischen CountryStil gekleidet war, also mit Gabardinehosen und allem, was dazugehört. Sie trug den lustigen Namen Dizzy Wriggle. Ihr Gesicht war von Wind und Sonne gegerbt, und sie lächelte herzlich und zuvorkommend. Ihre Höflichkeit und Gastfreundschaft beeindruckten uns vom ersten Augenblick an. Sie tat alles, damit wir uns rundum wohl fühlten. Auf der Fahrt erzählte sie, sie habe einen Longierring für uns aufbauen lassen, der ihr allerdings einiges Kopfzerbrechen bereite. Als sie ihn uns später zeigte, sahen wir sofort, dass jedes ungezähmte Pferd problemlos daraus entkommen würde. Sie hatte in einem Kreis Pflöcke in den Boden schlagen und diese mit ein paar angenagelten Holzlatten verbinden lassen. Außerdem war kein Sand gestreut worden, so dass die Pferde wohl oder übel im Matsch herumschlittern mussten. Sie ließ ein paar mehr Latten besorgen, um die Konstruktion etwas solider zu gestalten. Dies hatte jedoch zur Folge, dass dem Publikum ein Teil der Sicht genommen wurde. Dann führte sie uns in den mit Kopfsteinpflaster befestigten Hof und erzählte uns, dass sie und ihr Mann inzwischen in den Ställen lebten, weil das alte Haus für sie zu groß geworden sei. »Es macht einfach zuviel Arbeit, wissen Sie, vor allem auch wegen Billys Gesundheitszustand.« Billy Wriggle, ihr Ehemann, saß im Rollstuhl. Dizzy Wriggle ergänzte: »Sie wohnen natürlich im großen Haus.« Als ich an der Sattelkammer vorbeikam, sah ich einen Tisch, der zum Lunch gedeckt war - mit kaltem Braten, Eiern, Salat und ande305
ren guten Dingen. Nichts davon war zugedeckt. Es sah ganz so aus, als sei eine größere Party geplant. Pat, Sean und ich folgten Dizzy, und wir wurden in das älteste Haus geführt, das ich je gesehen habe. Es musste an die tausend Jahre auf dem Buckel haben. Es schien eine Ewigkeit her, dass jemand hier gewohnt oder Ordnung geschaffen hatte. Ich weiß noch, dass mir in einem der Zimmer Aasgeruch entgegenschlug — irgend etwas, dachte ich, muß hier verendet sein. Der Gestank nahm zu, je näher wir dem Kamin kamen. Dann war mir plötzlich alles klar: Auf dem Kaminsims stand ein Pferdehuf! Dizzy Wriggle hatte einem ihrer Lieblingspferde einen Huf absägen lassen und ihn ohne jede Vorbehandlung wie Abkochen oder dergleichen auf den Kaminsims gestellt. In den riesigen alten Toiletten wimmelte es von Spinnen. Die Klosettsitze aus geborstenem Holz schienen aus dem Mittelalter zu stammen. Als ich die Spülung bediente, kamen Laub und kleine Zweige heraus. Dizzy Wriggle ging voraus und wies uns den Weg zu unseren Schlafzimmern. Wir fürchteten schon, ohne Ariadnefaden nie wieder den Weg ins Freie zu finden. Beim Betreten des ersten Schlafzimmers fing Mrs. Wriggle urplötzlich laut zu schreien an. Da wir keine Ahnung hatten, was los war, stürzten wir ihr nach. Vielleicht brauchte sie Hilfe gegen eine Bande von Einbrechern? Kaum waren wir jedoch bei ihr, sahen wir, dass sie bloß eine Hundemeute von unserem Bett jagte. Whippets, Spaniels und Setter rasten an uns vorbei. Dizzy Wriggle strich das Bettzeug glatt und ordnete die Kissen neu. »Alles in Ordnung«, sagte sie, »alles ist sauber.« Wir fragten uns, ob die Hunde ganz allein in diesem Haus lebten. Am Abend gab es Dinner im großen Haus. Mehrere Gäste waren eingeladen worden. Wir fanden ihre Gesellschaft sehr anregend. So unterschiedlich ihre und unsere Lebenserfahrungen auch waren ihre Gastfreundschaft und ihr Interesse an uns waren echt. Ein bildhübsches Mädchen wusste mit dem uralten Herd umzugehen und kochte exzellente Speisen. Die ganze Zeit über fragte ich mich, was mit den Köstlichkeiten in der Sattelkammer geschehen sein mochte. Hoffentlich hatte sie jemand aufgegessen. Die Gäste waren Angehörige der britischen Oberklasse. Obwohl 306
die Teller angeschlagen und die Gläser gesprungen waren, wurden die gesellschaftlichen Rituale strikt eingehalten. Der Weinkonsum im Laufe des Abends war beachtlich. Das schlohweiße Haar mit Pomade glatt zurückgekämmt, saß Billy Wriggle in seinem Rollstuhl an der Stirnseite des Tischs. Seine Haltung war stoisch, und seine Stimme klang so laut wie eine Fanfare; seine kanariengelbe Strickjacke war von oben bis unten mit Speiseresten bekleckert. Die Dame, die neben mir saß, verwickelte mich in ein äußerst seltsames Gespräch. »Wissen Sie, was Potpourri ist?« fragte sie. »Ja - diese Blütenblätter in einer Schale, die so gut riechen.« »Ja, aber wissen Sie auch, woher der Brauch kommt?« »Nein, Madam, das weiß ich nicht.« »Sehen Sie, es ist bekanntlich ungesund, sich zu waschen. Die viele Seife schadet bloß der Haut.« »Ach ja.« »Baden ist ein Zeichen für mangelnde Intelligenz. Unsere Vorfahren wussten das. In früheren Zeiten hatten die Menschen nicht diesen Waschfimmel. Wenn sie zur Toilette gingen, haben sie ihre Hände in eine Schale voll Potpourri getaucht und kamen wohlduftend und erfrischt zurück.« Darauf fiel mir einfach keine Antwort mehr ein. Dann aber kam der Clou: Die Damen wurden gebeten, den Raum zu verlassen. Dizzy Wriggle stand auf und verkündete mit gebieterischer Stimme: »Meine Damen, hier entlang!« Kaum waren die Frauen gegangen, zauberte Billy Wriggle ein Kistchen Havannazigarren hervor, die so aussahen, als stammten sie noch aus der Zeit, in der das Haus gebaut wurde. Dazu wurde Portwein serviert, und folgsam versuchten wir, die Dinger anzuzünden. Die Szenerie wirkte wie ein Gemälde aus einer Kunstgalerie in der Bond Street. Es wurden noch viele Fragen gestellt. Man diskutierte, stritt und trank vor allem, unter anderem auch auf die Königin. Ein Mann nach dem anderen stieß seinen Stuhl zurück, erhob sich und hielt in kerzengerader Haltung eine Rede, die etwas von einer militärischen Ansprache aus früheren Zeiten an sich hatte. Sean und ich waren überwältigt, denn dergleichen hatten wir in Kalifornien noch nie 307
erlebt. Jede einzelne dieser soldatisch klingenden Reden endete mit demselben Toast: »God Save the Queen.« Als die Reihe an Billy Wriggle kam, wurde er quicklebendig und redete überlegt und gefühlvoll. Hin und wieder schlug er dabei auf den Tisch, worauf sein Glas in der anderen Hand einen Hopser tat und sich Portwein über die gelbe Strickjacke ergoß. Ungerührt schlug Billy gleich wieder auf den Tisch. Irgendwann kehrten die Damen zurück, und die Party begann sich aufzulösen. Dizzy Wriggle rollte Billy aus dem Zimmer und zur Vordertür hinaus. Ich half ihr, ihn ins Auto zu setzen, in dem sie die kurze Strecke bis zu ihrem Quartier in den Ställen zurücklegen wollten. Ich muß zugeben, dass ich mir ernsthafte Sorgen darüber machte, ob die beiden es auch schaffen würden. Wie sich herausstellen sollte, waren meine Bedenken wohlbegründet. Pat, Sean und ich verabschiedeten uns zu diesem Zeitpunkt ebenfalls von der Party. Andere Teilnehmer waren offenbar fest entschlossen, bis zum Morgengrauen weiterzufeiern. Wir begaben uns ins Schlafzimmer, wo Pat sich in voller Montur zu Bett legte. Sie war fest davon überzeugt, irgendwann in dieser Nacht aus dem Bett springen und davonlaufen zu müssen — sei es vor Spinnen, Gespenstern oder sonst etwas. Am nächsten Morgen gingen wir drei zu den Ställen hinüber, um zu sehen, was sich dort inzwischen tat. Beim Näherkommen erblickten wir die Hundemeute vom Vortag. Die Tiere hatten einen Kreis gebildet, die Nasen auf einen bestimmten Punkt auf dem Boden gerichtet, und wedelten aufgeregt mit den Schwänzen hin und her. Was hatten sie da gefunden? Wir dachten, es müsse sich wohl um eine Ratte oder ein Kaninchen handeln. Als sie vor uns zurückwichen, erkannten wir eine ziemlich große Blutlache, an der die Hunde geleckt hatten. Minuten später begrüßten wir Dizzy Wriggle. Sie habe eine entsetzliche Nacht hinter sich, berichtete sie. Die kurze Strecke zwischen dem großen Haus und den Ställen hatten sie ohne Zwischenfall bewältigt. Als sie dann Billy jedoch aus dem Auto in seinen Rollstuhl half, hatte sie ihn fallen lassen, wobei er sich eine klaffende Beinwunde zugezogen und viel Blut auf dem Pflaster verloren hatte. Dizzy hatte ihn an Ort und Stelle liegen lassen müssen, um einen Kranken308
wagen zu rufen. Im Augenblick befand sich Billy noch im Krankenhaus, erholte sich aber zusehends. Junge, Junge - das war vielleicht ein Einblick ins traditionsreiche Leben der britischen Oberklasse! Als wir unseren Flug zurück auf die Hauptinsel antreten wollten, trafen wir das hübsche Mädchen, das den uralten Herd in Gang gesetzt und unser Dinner gekocht hatte. Wir erfuhren, dass es die Enkelin der Wriggles war. Ich traute mich kaum, die junge Frau nach ihrem Namen zu fragen, fürchtete ich doch, sie hieße »Twiggy Wriggle« oder »Piggy Wriggle«. Aber nein, sie hatte einen anderen Nachnamen. Welch ein Glück für sie! Von der Isle of Man ging es weiter nach Chichester, einem Städtchen im Süden Englands. Dort führten wir unsere Kunst an einigen New Forest Ponys und Wildpferden vor. Die Zuschauer waren überwiegend Mitglieder von Pony-Clubs. Nach einer Anzahl anderer Termine, die wir noch wahrnahmen, hatten wir am Ende insgesamt achtundneunzig Pferde und Ponys eingeritten. Unser Durchschnitt lag bei siebenundzwanzig Minuten, bis ein Tier Sattel, Zügel und Reiter akzeptiert hatte. Den letzten Tag verbrachten wir wieder in Shotover House, wo wir Sir John über den Verlauf unserer Tour Bericht erstatteten. Eine schriftliche Fassung des Berichts für die Königin hinterließ ich bei Sir John, der ihn ihr persönlich übergeben wollte. Als wir wieder nach Kalifornien zurückflogen, hatte ich das Gefühl, mein Leben würde fortan nie wieder dasselbe sein wie vorher. Das Flugzeug hob von dieser schönen, dichtbevölkerten Insel ab, und ich stellte mir all die Pferde dort unten vor, deren Leben für eine kurze Zeitspanne mit dem unseren in Berührung gekommen war. Ja, ich wollte weitermachen, ich war es noch lange nicht leid. Mir schoß der Gedanke durch den Kopf, dass ich wahrscheinlich noch oft nach England zurückkehren würde. Das erwies sich als durchaus richtig. Horse and Hound, eine Zeitschrift, die von einem Mann namens Michael Clayton vertreten wurde, sponserte im Herbst 1989 eine Reise. Zielorte waren Stoneleigh und Towerlands, wo wir jeweils ganztägige Schulungen abhielten. 309
Außerdem sah es ganz so aus, als würde auch meine Beziehung zum Königshaus nicht abbrechen. Die Queen hatte nachfragen lassen, ob sie ein paar von ihren Leuten nach Kalifornien schicken könne, damit diese meine Techniken erlernten und künftig in England die jungen Pferde der Königin nach meiner Methode einritten. So kam Victor Blackman zu uns, der früher in Dick Hearns und später in Lord Huntingtons Ställen gearbeitet hatte. Nach seiner Rückkehr wurde ihm von der Königin das Einreiten der jungen Pferde übertragen. Auch Corporal Major Terry Pendry, der für das Einreiten der Pferde der Household Cavalry zuständig war, sowie Richard Maxwell, ebenfalls von der Household Cavalry, ließen sich bei mir gründlich schulen. Mir bot sich eine Vielzahl neuer Gelegenheiten, und ich ließ sie mir nicht entgehen. Meine Tournee durch das Vereinigte Königreich zog weitere Reisen nach sich. So wurde ich zum Beispiel 1990 gleich zweimal nach Irland eingeladen. Mein irischer Kontaktmann war Hugh McCusker, der berühmt wegen seiner Hunter-Turnierpferde ist. Das gab meinem Besuch eine besondere Wendung und eröffnete mir eine ganz neue Welt. McCuskers Spitzname in der englischen Turniersportszene lautet »Der extravagante Ire«, und ich kann nur sagen, dass dies den Nagel auf den Kopf trifft. Die Iren erwiesen sich als sehr besonnen und bodenständig und prüften mich auf Herz und Nieren. Sie brachten mir schwierige Pferde und erwarteten, dass ich ehrlich und offen mit ihnen umging. Auch in Irland gab es ein paar besondere Erlebnisse, auf die ich näher eingehen möchte. Hugh McCusker hatte eine Vorführung im Städtchen Kill unweit von Dublin organisiert. Das Grundstück, auf dem sie stattfinden sollte, war gerade erst vom Präsidenten der Irish Draught Horse Association angekauft worden. Mit unserem Besuch und unserer Demonstration sollte die Öffentlichkeit auf seine Neuerwerbung aufmerksam gemacht werden. Er bat mich, zwei junge Stuten und möglicherweise auch noch ein drittes Pferd einzureiten. Wie wir es uns inzwischen zur Gewohnheit gemacht hatten, erschienen wir etwas früher, um die Pferde mit dem Longierring ver310
traut zu machen. Wir fanden ein sehr hübsches Gebäude vor. Der Ring war bereits für uns hergerichtet worden. Was wir außerdem vorfanden, war der spektakuläre dreijährige Irish-Draught-Hengst Stanley. Seine Hufe hatten den Umfang von Tellern, und sein Hals war so stark, dass man ihn kaum mit beiden Armen hätte umspannen können. Das war also das mysteriöse »dritte Pferd«. Ich unterzog Stanley den üblichen Prozeduren, durch die er an den Longierring und das Gebäude gewöhnt werden sollte. Er wirkte hellwach - ein richtig frecher Bursche, wenn es diesen Ausdruck für Tiere gäbe. Er war aggressiv und benahm sich ganz und gar nicht kooperativ. Ich fragte Hugh McCusker nach der Vergangenheit dieses Hengstes, aber er konnte mir nicht viel darüber erzählen. Sicher war nur, dass Stanley noch nie Sattel, Zaumzeug oder einen Reiter getragen hatte. Nachdem ich ihn an den Ring und an das Gebäude gewöhnt hatte, sagte ich, er könne in den Stall zurückgebracht werden. Ich erinnere mich, dass zwei Stallburschen kamen, um ihn zu holen. Es fiel mir damals nicht sonderlich auf, doch wenn ich heute zurückblicke, ist mir klar, warum zwei Stallburschen und nicht nur einer geschickt wurden. Nachdem der Hengst fort war, kümmerte ich mich um die beiden jungen Stuten; sie waren beide sehr gutmütig und schienen mir für unsere Vorführung bestens geeignet. Ich hielt es für völlig ausreichend, nur die beiden Stuten vorzuführen, denn mit Einführung, Fragen und Antworten kommen wir auf etwa eine Stunde pro Pferd. Eine zweistündige Abendvorstellung war lang genug. Bei unserer Ankunft am Abend sahen wir sofort, dass die Vorführung bestens besucht sein würde. Es gab Sitzplätze für fünfhundert Zuschauer, und die waren schon fast alle besetzt. Nach einer zwanzigminütigen Einführung in meine Arbeitsmethode nahm ich mir die erste der beiden Jungstuten vor, und sie machte ihre Sache sehr ordentlich. Nach einer Viertelstunde mit Fragen und Antworten wurde die zweite Stute gebracht. Ich beschränkte mich dieses Mal auf eine kurze einleitende Bemerkung, denn das Publikum wusste ja bereits, worum es ging. Auch diese Stute benahm sich gut und lieferte eine hervorragende JOIN-UP-Demonstration. 311
Eine weitere Viertelstunde verging mit Fragen und Antworten. Dann kam Mr. McCusker zu mir und sagte, der Besitzer wolle jetzt eine Pause verkünden und Erfrischungen anbieten; danach aber wünsche er, dass ich Stanley vorführe. Meinetwegen, dachte ich und stimmte zu. Irgendwer kündigte das Ereignis über Lautsprecher an, und mir fiel auf, dass alle Anwesenden den Namen dieses Tiers zu kennen schienen. Jedenfalls horchte die Menge interessiert auf. Meine Erfahrungen bei Rennen und Rodeos in amerikanischen Kleinstädten sagten mir: Da ist was im Busch. Als die Zuschauer nach der zwanzigminütigen Pause wieder zurückkehrten, erkannte ich, dass es mehr waren als zuvor - ziemlich ungewöhnlich für zehn Uhr abends. Alle Plätze waren besetzt, und viele Leute mussten stehen. Ich fragte Mr. McCusker nach dem Grund für dieses Interesse. Er antwortete, dass nach der Ankündigung, Stanley würde ohne Führstrick eingeritten werden, jeder seine Freunde und Bekannten angerufen habe: Dieser amerikanische Cowboy werde bei lebendigem Leibe vernascht werden, und das dürfe man sich nicht entgehen lassen. Stanley wurde von zwei Stallburschen an Führstricken in den Ring geführt. Sie waren sorgfältig auf Distanz bedacht. Hinterdrein ging eine Frau, die ihn vorwärts trieb. Die beiden Stallburschen betraten den Longierring ein gutes Stück vor Stanley. Ihr gesamtes Verhalten war von großer Vorsicht bestimmt. Als der Hengst ebenfalls im Ring stand, lösten sie behutsam die Führstricke. Der Adrenalinschub angesichts des Scheinwerferlichts und der ungefähr sechshundert Zuschauer ließ Stanley rund um die Arena traben. Er wirkte, als sei er Herr der Lage. Mir brauchte nun niemand mehr zu erzählen, dass es dieser Dreijährige faustdick hinter den Ohren hatte. Ich schaltete das Mikrofon ein, das ich am Jackenaufschlag trug, und gab bekannt, dass ich jetzt anfangen wolle. Als ich auf das Tor zum Longierring zuschritt, hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Kein Husten, nicht einmal mehr das Knistern einer Chipstüte war zu vernehmen. Ich öffnete das Tor und betrat den Ring. Stanley befand sich zu 312
diesem Zeitpunkt auf der gegenüberliegenden Seite, etwa fünfzehn Meter von mir entfernt. Ich schloß das Tor und trat zwei Schritte in den Ring hinein. Da wölbte Stanley seinen Hals und marschierte ungefähr drei Schritte in meine Richtung. Dann legte er die Ohren an, bleckte die Zähne und raste auf mich zu. Das Publikum stöhnte auf. Ich entriegelte das Tor und schlüpfte wieder hinaus. Wenige Zentimeter vor der Absperrung blieb der Hengst abrupt stehen, drehte ab und zeigte allen, wer der Herr im Haus war. Ich wandte mich ans Publikum. »Wow!« sagte ich. »Was haben Sie hier eigentlich vor mit mir?!« Ich schüttelte den Kopf, stemmte die Hände in die Hüften und richtete meinen Blick auf die Bänke, wo die Leute saßen und mich anstarrten. »Ihr netten Iren wollt mich doch sicher nicht in die Pfanne hauen, oder?!« Stille. Es fiel kein einziges Wort. Eine Zeitlang blieb ich stehen, dann setzte ich mich auf einen Stuhl gleich neben dem Tor und gab mir den Anschein, als hätte ich große Bedenken, den Longierring wieder zu betreten und mit diesem Pferd zu arbeiten. Dann wandte ich mich erneut ans Publikum: »Ich bin auf dieser Reise zahlreichen irischen Pferdekennern begegnet, die sehr skeptisch sind und meinen, meine Arbeitsmethode sei nicht glaubwürdig. Nun weiß ich aber, dass es in Irland viele hervorragende Pferdekenner gibt, von denen sich vermutlich eine ganze Menge hier in der Halle befinden. Und da ich ein alter Mann von sechsundfünfzig Jahren bin, der völlig außer Form ist und dem man schon die halbe Wirbelsäule wegoperiert hat, wäre ich sehr froh, wenn sich ein Freiwilliger melden würde, der mit diesem Pferd arbeitet. Es würde mich sehr interessieren, was irische Reiter mit einem derart aggressiven Pferd anfangen.« Ich blieb sitzen und lauschte sekundenlang der absoluten Stille. Um ehrlich zu sein: Ich wollte ein paar schamhaft gerötete Gesichter sehen. Schließlich tat ich höchst überrascht und fragte: »Was, kein einziger Freiwilliger? Nun kommen Sie schon! Es wird sich doch wohl irgendein durchtrainierter junger Mann finden lassen, der mit diesem Pferd umgehen kann. Ich bleibe hier draußen und gebe ihm ein paar Tips.« Wiederum rührte sich nichts, und niemand sagte auch nur ein 313
Wort. Es war totenstill - nur der Hengst war zu hören. Er schnaubte und scharrte mit einem riesigen Huf auf dem Boden der Arena. »Na schön«, sagte ich schließlich, »dann muß ich wohl doch selbst ran.« Ich ging zu meiner Ausrüstungstasche und holte das Nylonlasso; die leichte Longe blieb draußen. Dann trat ich durchs Tor und ließ sofort die Schlinge kreisen. Nun war es so, dass dieser Irish-Draught-Hengst noch nie einen echten Cowboy gesehen hatte. Er hielt daher Abstand, schritt an der Einfriedung entlang und ließ mich nicht aus den Augen. Das wirbelnde Lasso über meinem Kopf irritierte ihn ziemlich, so dass mit einem neuerlichen Frontalangriff nicht zu rechnen war. Sekundenlang umkreisten wir uns gegenseitig, und ich kam ihm immer näher. Stanley fiel in einen hochbeinigen Trab. Ich trieb ihn weiter an, und er steigerte sein Tempo. In echter Westernmanier - so, wie ich es mein Leben lang getan hatte - paßte ich den richtigen Moment ab und warf ihm das Lasso über den Kopf. Der junge Hengst drehte durch, bockte, stieg und tat, was er konnte, um dieses Seil abzuschütteln. Nicht mehr ich war jetzt sein Problem, sondern das Lasso. Hin und wieder zog ich ein bißchen daran. Dann ging er wieder in die Kreisbahn und tobte die Wut aus, die sich in ihm aufgestaut hatte. Das ging dreißig, vierzig Sekunden lang so weiter. Schließlich beruhigte er sich und blieb stehen. Ich nutzte meine Chance, ging zu ihm und wickelte ihm das Lasso nach der mir seit vierzig Jahren vertrauten »Come-along«-Methode um den Kopf, die ich an anderer Stelle bereits beschrieben habe. Die Druckpunkte des Seils pressen sich dabei gegen bestimmte Nervenknoten. Und dann brachte ich ihm das Come-along bei. Ein, zwei, ja vielleicht bis zu fünf Minuten lang waren seine aggressiven Neigungen noch unverkennbar. Dann beruhigte er sich allmählich und ging auf mich ein. Die ersten Signale für ein JOIN-UP waren erkennbar. Er richtete sein Ohr auf mich, was einer ersten Respektsbezeugung gleichkam. Schließlich sah ich seine Zunge durch die Zähne kommen. Er leckte und kaute, war also bereit, sich mit mir zu unterhalten - und ich verstand seine Sprache. Nach fünf bis acht Minuten kommunizierte ich schon ganz gut mit ihm. Ich ging nun allerdings nicht zum üblichen JOIN-UP über, son314
dem beschränkte mich weiterhin aufs Come-along. Im Longierring vom Lasso befreit, wäre dieses Pferd wieder so gefährlich geworden, dass eine Weiterarbeit kaum möglich gewesen wäre. Als Stanley sich an die Situation gewöhnt hatte, legte ich ihm den Sattel auf. Das gefiel ihm weniger gut; er beschwerte sich ein paarmal, aber nicht allzu heftig. Sein Herzschlag beruhigte sich allmählich, und er begann, mir zu vertrauen. Ich legte ihm Zaumzeug an und ließ ihn dann an der Longe zehn bis zwölf Minuten lang ziemlich flott gehen. Dann ließ ich meinen Reiter in den Ring kommen und aufsitzen - und ich muß sagen, ich bewunderte seinen Mut, auf dieses Ungeheuer zu steigen, das die Kraft von zwei normalen Pferden besessen haben dürfte. Inzwischen benahm sich Stanley jedoch sehr gut, und ich unterstützte und ermutigte ihn, soweit es ging. Kaum war der Reiter aufgesessen und konnte kontrolliert mit ihm im Zirkel reiten, gingen wir einen Schritt weiter und ließen Stanley zehn bis fünfzehn Minuten lang traben und galoppieren. Er machte sich prima. Die Vorführung dürfte als eine der besten gelten, die mir je gelungen ist. Die Zuschauer waren baß erstaunt und hatten so viele Fragen, dass ich mich noch Stunden mit ihnen hätte unterhalten können; ich wurde jedoch schon bald zu einer Abendeinladung im Haus des Besitzers entführt. Dort angekommen, erfuhr ich von ihm die Geschichte des jungen Hengstes. Stanley war im Jahr zuvor als Zweijähriger Champion der am Zügel geführten Irish Draught Horses auf der Pferdeschau in Dublin gewesen, danach jedoch so aggressiv geworden, dass man ihn seither permanent in einer abgedunkelten Box gehalten hatte. Als ich das hörte, war ich mehr als glücklich, dass es mir gelungen war, das Tier aus der Finsternis herauszuholen. Stanley würde nun seinen schlechten Ruf abschütteln und das Trauma überwinden können - vorausgesetzt, man behandelte ihn in Zukunft richtig. 1996 bin ich noch einmal nach Kill zurückgekehrt. Ich sah, dass man in einer Ecke des Platzes Hindernisse für Springreiter aufgebaut hatte, dachte mir aber nichts weiter dabei. Nach meinem Auftritt hatten die Veranstalter dann eine Überraschung für mich. »Monty, das ist Stanley. Er ist jetzt das beste Springpferd aller Irish Draught Horses.« Sie führten ihn herein, und ein junger Reiter ritt ihn in allen Gängen. Wunderbar, wie er über die Hindernisse ging! Seine gewal315
tige Kraft und seine Eleganz waren jetzt gebändigt und flüssig. Es war ein großartiges Erlebnis. Die Irish National Stallion Show sollte in Ballinasloe stattfinden, und um meine Bestürzung angesichts der folgenden Geschichte zu verstehen, müssen Sie sich ins Gedächtnis rufen, dass ich in Kalifornien geboren und aufgewachsen bin. Die Hengstparade war ein großes Ereignis und fand in einem Tal statt. Es goß in Strömen, und das Tal schien sich ziemlich schnell mit Wasser zu füllen. Es war ein einziger Morast. In Kalifornien fällt der Regen nur in Tropfen, wenn auch, vor allem bei Gewitter, mitunter in ziemlich großen. Aber solche Wassermassen, wie sie der Wind hier in Irland übers Land fegte, hatte ich noch nie gesehen. Ich konnte nicht verstehen, warum die Parade nicht abgesagt wurde. Doch Hugh McCusker erklärte mir, warum das nicht ging: Fingen sie erst einmal an, ein Ereignis wegen Regens abzusagen, dann gäbe es bald überhaupt keine Veranstaltungen mehr! Selbstverständlich erschienen die tapferen Iren trotz des schlechten Wetters in Scharen, um sich die verschiedenen Vorführungen anzusehen. Als wir endlich einen Wagen mit Allradantrieb organisiert und das Tal erreicht hatten, waren schon an die dreitausend Zuschauer da. Es sah aus wie in Woodstock — nur dass die Anwesenden alle Ölzeug trugen und höchstwahrscheinlich auch Anglerstiefel. Die beiden Hengste, die wir einreiten sollten, warteten auf einer nahe gelegenen Anhöhe auf uns. Mühsam bahnten wir uns unseren Weg dorthin. Die Tiere waren in einen winzigen Anhänger gepfercht worden, der fast aus den Nähten platzte und rundum verschlossen war. Aus den Frischluftventilen in der Decke dampfte es nur so. Die Pferde polterten und schlugen aus. Man hatte den Eindruck, der Anhänger würde sich jede Minute selbständig machen und den Hügel hinunterrollen. Daneben stand ein junger Ire von vielleicht zweiundzwanzig Jahren. Er war bis auf die Haut durchnäßt und hielt verschiedene Ausrüstungsgegenstände in der Hand, die ebenfalls durchweicht waren. Wir kamen überein, die Pferde nicht auszuladen, um ihnen den Longierring zu zeigen, denn wir hatten keine Ahnung, ob wir hinter316
her den Hügel wieder hinaufkämen. Die Vorführung musste diesmal also ohne Vorbereitung klappen. Als wir an der Reihe waren, hatte sich der Longierring in einen einzigen Sumpf verwandelt - und ich stand mittendrin. Ich bat um das Ansteckmikrofon und erhielt zur Antwort: »Ach ja, das Handmikrofon.« »Nein«, korrigierte ich, »das Ansteckmikrofon.« Sie hatten aber nur ein Handmikrofon, das ungefähr die Größe einer Salatgurke besaß. Man konnte es nicht an meinem Revers feststecken. »Ich muß aber beide Hände frei haben«, erklärte ich. Auch dafür fanden sie eine Lösung. Sie zogen mir Jacke und Hemd aus und befestigten das Gurkenmikrofon mit Klebeband an meiner Brust. Dann wrangen sie meine Kleider aus und gestatteten mir, sie wieder anzuziehen. Unser erster Hengst kam jetzt den Hügel heruntergeschlittert, den jungen Burschen hinter sich herziehend wie ein Beiboot im Kielwasser einer Yacht. Der zweite Hengst im Anhänger wieherte empört, und sein Freund wieherte zurück. Als er den Longierring betrat, versanken seine Hufe dreißig Zentimeter tief im Schlamm. Er wäre wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen, vor mir davonzulaufen, selbst wenn er es gewollt hätte. Ich begann mit meinen einführenden Worten: »Ladies and Gentlemen ...« Es zischte und krächzte - das Mikrofon hatte den Geist aufgegeben. Mir war das mittlerweile auch egal. Ich wollte einfach nur weitermachen, sehen, was von meiner geplanten Vorführung noch zu retten war - und dann so schnell wie möglich fort. Da sah ich Hugh McCusker zum Sprecherpult rennen. Sekunden später hörte ich seine Stimme über die Lautsprecher, klar und deutlich: »Monty Roberts' Mikrofon ist ausgefallen. Ich springe jetzt für ihn ein. Ich weiß, er hätte Sie ungefähr mit den folgenden Worten begrüßt: >Guten Tag, meine Damen und Herren, ich heiße Monty Roberts, und wir sind heute hierher gekommen, um .. .<« Die gesamte Vorführung hindurch war Hugh McCusker meine Stimme, und er machte es wirklich sehr gut. Die Pferde wollten wahrscheinlich genauso schnell ins Trockene wie wir, so dass sie geradezu ums JOIN-UP mit mir bettelten. Im 317
nachhinein weiß ich nicht mehr so genau, was passierte, wer sich wem anschloß oder was wir miteinander sprachen, oder wie wir unsere Schuhe an den Füßen beziehungsweise die Eisen an den Hufen behielten. Das einzige, was die Pferde im Kopf hatten, war, diesen kreisförmigen Matsch, in dem sie steckten, so bald wie möglich wieder zu verlassen. Als endlich alles vorüber war, suchten Hugh McCusker und ich auf schnellstem Weg die nächste Bezugsquelle für den besten irischen Maltwhiskey auf. Ich könnte wetten, noch bei meiner Rückkehr nach Kalifornien dampfte mir der Rücken und klebten die Schlammkrusten unter meinen Fingernägeln. Zu Hause fiel mir als erstes auf, dass Flag Is Up seltsam leer wirkte. »Wo ist Yoplait?« fragte ich. Niemand wusste es. Wie sich herausstellte, hatte mein Hirsch Yoplait den Highway vor der Farm überquert und war von einem Auto angefahren worden. Er hatte sich die rechte Hüfte gebrochen, und sein rechtes Hinterbein schlenkerte hin und her wie eine Fahne im Wind. Ich fand ihn auf dem Rasen vor dem Haus; es sah aus, als wolle er um Hilfe bitten. Gemeinsam mit ein paar Mitarbeitern hievten wir den Hirsch auf die Ladefläche meines Pick-up. Wir brachten ihn zu einem der Ställe und quartierten ihn in einer Box ein. Wenn man das Bein eingipsen kann, dachte ich, hat er vielleicht eine Überlebenschance. Zusammen mit dem Tierarzt versuchte ich ihm dann einen Gipsverband anzulegen, aber der Hirsch duldete die Beteiligung eines Fremden nicht. Wir gaben unsere Bemühungen schließlich auf, denn so wie Yoplait sich gegen alles wehrte, hätte der Gipsverband mehr Schaden als Nutzen angerichtet. Fortan kümmerte ich mich allein um ihn. Er beruhigte sich mit der Zeit so weit, dass er auf einem Lager liegen konnte, dessen dickes Strohpolster das gebrochene Bein stützte. Ich stellte ihm Hafer, Heu und Wasser in Reichweite, und er blieb zwei Wochen lang liegen, bevor er wieder auf die Beine kam. Ich stellte fest, dass der Heilungsprozeß fortgeschritten und das Bein ziemlich steif war. Zwei bis drei weitere Wochen belastete er es nicht, und das Bein heilte tatsächlich aus. 318
Am Ende konnte Yoplait wieder gehen, ohne auch nur andeutungsweise zu hinken. Es ist unglaublich, was Hirsche alles auskurieren können. Oft habe ich erlebt, dass Yoplait und andere Hirsche Verwundungen überstanden, die für jedes Pferd tödlich gewesen wären. Später brach sich Yoplait bei einer weiteren Kollision mit einem Auto mehrfach den Kiefer und verlor dabei einige Zähne. Um ihn durchzubringen, musste ich ihn mit heißem Brei füttern. Sein Kiefer heilte. Er lebte glücklich und zufrieden weiter, auch wenn er von Stund an immer zu grinsen schien. Seine Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme war aber nicht beeinträchtigt. Zu jener Zeit hatte ich bereits angefangen, mit einem anderen Hirsch zu arbeiten. Bambo, so heißt er, erwies sich als durchschlagender Erfolg und schloß sich mir eng an. Heute ist er so zahm, dass ich auf ihn zurennen und mir dabei auf die Schenkel schlagen kann - er ignoriert das einfach und kommt näher. Bambo ist jetzt zwölf Jahre alt und hat alle Eifersuchtsphasen, die ich auch an Yoplait und anderen Hirschen beobachtet habe, hinter sich, wenngleich sie bei ihm weniger heftig ausfielen. Obwohl Bambo generell über ein gutmütigeres Naturell verfügt und auch weniger Anstoß an Fremden nimmt, so ist er dennoch besitzergreifend und behält unsere Beziehung sehr genau im Auge. Er verbringt einen Großteil seiner Zeit in der Nähe unseres Hauses, achtet darauf, mir pünktlich guten Morgen zu sagen, und schaut um die Abendessenszeit vorbei, wenn er weiß, dass ich daheim bin. Ich arbeite regelmäßig mit ihm, um das JOIN-UP-Phänomen zu verstärken. Wir sind inzwischen so weit, dass ich Bambo jederzeit auf einen kilometerlangen Spaziergang durch die Berge mitnehmen und dabei mit Hilfe der Kommunikationstechniken seine Bewegungen steuern kann. Erst seit 1990 arbeite ich auch mit einer jungen Hirschkuh, die wir Patricia nennen. Sie ähnelt Yoplait insofern, als sie zurückhaltend und kühl ist und einen zeitweise völlig ignoriert. Andererseits ist sie praktisch ausdruckslos bei der Kommunikation. Der charakterliche Unterschied zwischen Patricia und Yoplait liegt darin, dass sie nicht launisch ist. Sie ist überhaupt nicht böswillig, nicht einmal Fremden gegenüber, sondern einfach nur zurückhaltend und distanziert. Fremde beachtet sie kaum und hält sich fern von ihnen. Was die Kontaktaufnahme angeht und den Punkt, an dem 319
ich ihre Reaktionen voraussagen könnte, stellt sie für mich die bisher bei weitem größte Herausforderung dar. Die Arbeit mit Patricia ist alles andere als ein reines Vergnügen. Ein paar Jahre später begann ich, mich mit einer weiteren Hirschkuh zu beschäftigen. Sie heißt Feline und unterscheidet sich charakterlich deutlich von Patricia. Feline gehört zu den entzückendsten, gutmütigsten und aufmerksamsten Hirschen, denen ich je begegnet bin. Sie ignoriert mich nie, und ihre Reaktionen sind sehr ausgeprägt. Wenn ich sie auffordere, sich zu entfernen, macht sie aus ihrem Unwillen gegen diese ihrer Meinung nach furchtbare Art der Disziplinierung keinen Hehl. Sie schüttelt dann den Kopf, scheut, buckelt und steigt. Diese Reaktion entspricht der eines Pferdes, das die Nase am Boden im Kreis schwenkt, und besagt: »Ich will nicht weggehen. Ich habe das nicht so gemeint. Tut mir leid, dass ich mich so schlecht benommen habe.« Sobald man Feline erlaubt zurückzukommen, kann man sie beinahe lächeln sehen. Sie reagiert freudig und kommt schnell zurück, ganz anders als Patricia. Dennoch habe ich auch schon mit beiden Hirschkühen gleichzeitig gearbeitet. Eines Morgens tauchte Feline beim Wohnhaus auf, und ich arbeitete eine Zeitlang mit ihr, bis ich herausfand, dass sie von einer Spinne oder einem Insekt gebissen worden war. Nüstern und Nasenrücken waren fast auf den doppelten Umfang ihrer normalen Größe angeschwollen. Da auch ihr Gaumen geschwollen war, behinderte sie dies bei der Nahrungsaufnahme. Es war jedoch nicht weiter schlimm, und die Schwellung ging binnen weniger Tage zurück. Fast alle Hirsche, die ich mir zur Schulung ausgesucht habe, kamen bei Verletzungen rasch zum Haus und präsentierten sich auf dem Rasen, als wollten sie sagen: »Ich brauche deine Hilfe und Fürsorge.« Mit Feline zu arbeiten war und ist ein Vergnügen: Sie reagiert mit größerem Eifer und sensibler als jedes Pferd, mit dem ich bisher zu tun hatte. Eine der Hirschkühe gebar auf der Farm Zwillinge, ein männliches und ein weibliches Kalb (Zwillingsgeburten sind bei Hirschen häufig). Dann entfernte sie sich von den Neugeborenen und kehrte nicht zu ihnen zurück. Ich sah die Kälber zweimal etwa dreihundert Meter vom Haus entfernt auf dem Hang. Beim ersten Mal waren sie 320
gerade auf die Welt gekommen, ganz feucht, und konnten noch nicht stehen. Vier oder fünf Stunden später kam ich wieder vorbei, und die Hirschkuh war noch immer nirgendwo zu sehen. Inzwischen waren die Zwillinge aufgestanden und gingen ein wenig herum, waren aber ziemlich schwach und hungrig. Auch bis zum Sonnenuntergang ließ sich die Mutter nicht blicken. Die Zwillinge waren etwa fünfzehn Meter weiter den Hang hinuntergegangen und fingen nun an, sich auf der Suche nach Nahrung gegenseitig anzustupsen. Ich beschloß, bis zum nächsten Morgen zu warten, bevor ich einschritt, denn ich hoffte, die Alte würde im Laufe der Nacht vielleicht doch noch auftauchen und die beiden säugen. Am nächsten Morgen waren die beiden Neugeborenen dem Fuß des Hangs um weitere fünfzehn Meter näher gekommen, und noch immer war weit und breit keine Mutter in Sicht. Inzwischen machten sie einen erbarmungswürdigen Eindruck. Bis zum Mittag wollte ich noch abwarten. Aber die Mutter kam nicht wieder. Ungefähr achtundzwanzig Stunden nachdem ich die jungen Hirsche erstmals gesehen hatte, gab ich ihnen jeweils knapp hundert Gramm Ziegenmilch, die ich eingefroren hatte, kurz nachdem die betreffende Ziege gejungt hatte. Biestmilch also, die erste Milch. Dann überließ ich sie wieder sich selbst. Nachdem die Mutter bis zum Sonnenuntergang des nächsten Tages noch immer nicht aufgetaucht war, brachten wir die beiden Hirschkälber in die Deckhalle und fütterten sie drei Tage lang alle vier Stunden mit Ziegenmilch. Auf einem Gestüt, das Vollblutzucht betreibt, läßt sich so etwas leicht einrichten, denn es gibt einen Fohlenwart, der sich auch nachts um die Tiere kümmert und sich auf diese Arbeit versteht. Schließlich brachte ich eine Ziege zu ihnen, die gerade Junge bekommen hatte. Sie wurde die Pflegemutter der Zwillinge und fing gleich an, sie zu säugen. Cyrus und Reba, wie wir die beiden nannten, wurden im Alter von etwa drei Monaten erfolgreich freigelassen. Die meiste Zeit über halten sie sich in einem Umkreis von wenigen hundert Metern um das Haus herum auf. Sie haben so hervorragend auf die Kommunikationsschulung reagiert, dass man inzwischen meinen könnte, sie sprächen Englisch. Es ist eine Freude, sie um uns zu haben! Beide sind sehr lieb und 321
umgänglich, sowohl uns als auch Fremden gegenüber. Ich kann sie jederzeit mit mir nehmen oder zu Hause lassen, ganz wie ich will. Sie fressen mir aus der Hand, und wenn man nicht aufpaßt, folgen sie einem sogar durch die Tür ins Haus. In einem Punkt, das muß ich gestehen, tue ich den Hirschen, mit denen ich arbeite, keinen Gefallen. Haben sie erst einmal einen Teil ihres Fluchtinstinkts aufgegeben, wird das Leben in freier Wildbahn riskanter für sie. Ich habe daher die Verantwortung für ihren Schutz übernommen. Abgesehen von der Kommunikationsschulung belasse ich ihre Lebensumstände aber so natürlich wie nur möglich. Wenn ich mich irgendwo in der Welt mit Pferdefachleuten unterhalte und dabei meine Arbeit mit Hirschen in freier Wildbahn erwähne, stoße ich meist auf große Skepsis. Wild flieht immer, glauben sie und halten es für unmöglich, dass man mit ihm kommunizieren kann. Richtig, das Wild flieht. Doch wenn man ihm folgt und den Bogen, den es schlägt, richtig interpretiert, wird man feststellen, dass es seine Kreise oft innerhalb eines bestimmten Gebiets zieht. Es flieht nicht einfach ziellos in die Ferne. Man kann den Durchmesser des Gebiets, in dem man mit den Tieren arbeiten wird, ungefähr auf drei bis fünf Kilometer ansetzen. Das ist natürlich ein zeitraubendes Geschäft, das nicht jedermanns Sache ist. Von dem Lehrgeld, das ich bezahlt habe, können jetzt andere profitieren; sie brauchen nicht mehr wochenlang in den Bergen herumzulaufen. Ich kann Ihnen versichern, dass es bei mir praktisch immer funktioniert hat. Ich brauche mir im Gelände bloß einen Longierring von drei Kilometern Durchmesser vorzustellen und ansonsten so zu tun, als wären die Hirsche Pferde - und schon kann ich erfolgreich mit ihnen kommunizieren. Allerdings muß ich bei Hirschen doppelt soviel Beharrlichkeit und Umsicht aufwenden wie bei Pferden, aber es klappt. Diese — dank der Hirsche — erheblich verfeinerte Methodik kam mir dann wiederum bei Dually, einem meiner eigenen Pferde, sehr zugute. Dually ist ein eingetragener Quarterhorse-Wallach, dunkelbraun mit schwarzer Mähne, schwarzem Schweif und schwarzen Flecken. Er hat eine weiße Fessel an der linken Hinterhand und zwischen den Augen einen weißen, unregelmäßigen Stern mit einer Strichblesse bis 322
zu den Nüstern hinunter. Bei einem Stockmaß von 1,42 Meter und 544 Kilogramm Gewicht ist Dually ein recht kompakter Bursche. Ich habe ihm aus Sympathie den Namen eines bestimmten Lastwagentyps gegeben, den wir in den USA »dually« nennen - mit verstärkter Ladefläche und Zwillingsreifen hinten, so dass man einen Anhänger damit ziehen kann. Von hinten wirken sie sehr breit und stark genauso wie mein Wallach Dually. Seine Hinterpartie sieht aus wie zwei kleine Hügel, die man zusammengeschoben hat, und verleiht ihm unglaubliche Kraft. Er ist ein echtes Turbopferd mit zwei Triebwerken und geht ab wie eine Rakete. Sein Gleichgewichtsgefühl und seine Koordination sind typisch für die modernen Zuchtpferde seiner Rasse. Brownie und Johnny Tivio kann Dually zwar nicht ersetzen, doch er ist ihr natürlicher Nachfolger - sowohl was meine Zuneigung zu ihm betrifft, als auch hinsichtlich seiner Leistungen. Auch er ist von Natur aus ein Weltklassepferd und Champion. Vom ersten Tag an spürte ich, dass ich ein beinahe perfektes Arbeitspferd aus ihm machen könnte. Gleich nach dem JOIN-UP schloß sich Dually eng an mich an, und heute folgt er mir wie einst Johnny Tivio ohne Zaumzeug überallhin auf der Farm. Wenn ich den Hang zum Aussichtspunkt hinaufsteige, geht er neben mir her, als gäbe es eine unsichtbare Verbindung zwischen uns. Seine Schulung erfolgte ausschließlich nach den Methoden, die ich in diesem Buch beschrieben habe. Ich habe ihn nicht trainiert, sondern ihm ein Umfeld geschaffen, in dem er lernen wollte. Ich habe ihn nie geschlagen oder an seinem Maul herumgezerrt - statt Lederzügeln hätte ich auch einen Baumwollfaden nehmen können. Und doch wird er, wenn er die Aufforderung »Whoa« hört und spürt, dass sich mein Gewicht im Sattel nach hinten verlagert, bei völlig lockeren Zügeln aus vollem Galopp heraus zum Sliding Stop kommen. Und ebenfalls am losen Zügel wird er sich drehen wie ein Kreisel, wenn der Zügel nur ganz leicht an seinem Hals anliegt und er den leichten Druck des Schenkels an der Innenseite spürt. Er hat ein großes Herz, mein Dually, und das ist auch gut so, denn meine experimentellen Trainingsmethoden fordern von beiden Seiten Geduld und Einsatz. Ich habe allerdings aus meinen Erfahrungen mit Brownie und Fancy Heels und Hunderten anderer Pferde gelernt und sorgfältig darauf geachtet, dass Duallys Arbeitshunger nicht 323
durch Wiederholung und Überforderung in Langeweile umschlägt. Dass er sich seine Frische und Munterkeit bewahrt hat wie eh und je, ist für unsere gemeinsamen Fortschritte unerläßlich. Dually ist heute sechs Jahre alt und steht in der Blüte seines Lebens. Das Verständnis zwischen uns ist stetig gewachsen und gereift. Wir haben unser Vergnügen in der Arena ebenso wie bei Ausritten auf Flag is Up, diesem herrlichen Fleckchen Erde - er bar aller Sorgen, ich stets in Gedanken versunken, wie ich mit diesem oder jenem Pferd umgehen soll und die Hirsche davon abhalten kann, sich in menschliche Wesen zu verwandeln. Jeder Mensch hat Schlüsselerlebnisse, die sein Leben und dessen Rhythmus verändern. Mein erstes war der Tod des Schwarzen durch die Hand meines Vaters im Jahr 1943; das zweite mein Gespräch mit Brownie 1948 und das dritte meine Hochzeit mit Pat am 16. Juni 1956. Ihre Unterstützung und ihre Toleranz gegenüber meinen Unzulänglichkeiten und Schwächen sowie meiner ans Manische grenzenden Einstellung zur Arbeit ist, wie ich heute weiß, völlig unverzichtbar. Irgendwie war mir das Glück beschieden, gleich beim ersten Versuch genau die Richtige zu finden. Weitere prägende Schlüsselerlebnisse, die mein Leben verändert haben, waren, wie schon erwähnt, die Geburt unserer Kinder Debbie, Lori und Marty am 10. April 1957, 12. Januar 1959 und 1. Februar 1961. Was meine Arbeit mit den Pferden betrifft, so gibt es ein Leben vor Johnny Tivio und eines nach ihm. Weder vorher noch nachher bin ich einem Pferd begegnet, das ein Gehirn wie Johnny Tivio hatte. Er war es, der mich trainierte - nicht umgekehrt. Und dann gibt es vielleicht auch noch den Monty Roberts vor dem April 1989 und seiner ersten Woche bei der Queen und ihrer Familie - und einen anderen Monty Roberts danach. Für das jüngste Ereignis dieser Größenordnung sorgte ein Pferd. Es heißt Lomitas und wurde 1988 in England geboren. Sein Vater ist Niniski, seine Mutter La Colorada, eine Tochter von Surumu. Der Besitzer ist Walther J. Jacobs in Bremen. Lomitas, in Bremen von dem jungen Trainer Andreas Wöhler ausgebildet, war ein gutaussehender Fuchs, der unter den Farben des Gestüts Fährhof im Besitz der Familie Jacobs Rennen lief. Anfang 1990 zeigte sich das Potential, das in diesem Pferd steckte, 324
als er im Februar und März ein paar sehr schnelle Galopprennen lief. Im Frühsommer gab er zu großen Hoffnungen Anlaß. Er gewann beide Rennen, zu denen er 1990 antrat, und galt damit als der international am höchsten bewertete Zweijährige in Deutschland. Spitzenpferde waren nichts Ungewöhnliches auf Gestüt Fährhof, doch es ist immer wieder eine Ehre, einen Zweijährigen-Champion zu haben. Man kann sich auf das Derby freuen, und auch andere klassische Rennen für Dreijährige bieten aufregende Ziele. Lomitas war ein Pferd dieser Kategorie. Erste Anzeichen für Probleme zeigten sich im April 1991. Lomitas war auf sein Debüt als Dreijähriger bestens vorbereitet. Doch als man versuchte, ihn in den Transporter zu führen, der ihn zum Rennen fahren sollte, machte er eine Menge Scherereien. Auf der Rennbahn gab es dann ein gravierendes Problem: Lomitas wollte nicht in die Startbox. Man führte ihn hin, und er scheute davor hineinzugehen. Er warf den Kopf auf, tänzelte zur Seite, ging rückwärts — er weigerte sich ganz einfach. Alle anderen Pferde waren mit ihren Jockeys bereits in den Boxen und mussten auf Lomitas warten. Niemand mag solche Situationen, am wenigsten die anderen Jockeys, deren Nerven so kurz vor dem Start ohnehin blank liegen. Nach einer Viertelstunde oder zwanzig Minuten drohte die Rennleitung, Lomitas zu disqualifizieren, doch beim letzten Versuch gelang es dann doch noch, ihn in die Startbox zu bugsieren. Er gewann das Rennen. Man kann sich die Nervosität vorstellen, die im Lager von Gestüt Fährhof herrschte, als der Champion der Zweijährigen vor seinem ersten Rennen als Dreijähriger soviel unerfreuliches Aufsehen erregte. Zwei Wochen vergingen mit erneutem Training und Testläufen. Dann faßte man das nächste Rennen ins Auge. Es fand in Köln statt. Lomitas in den Transporter zu verfrachten war schwer genug, doch auf der Rennbahn geschah schier Unglaubliches. Er wurde als letztes Pferd in seine Startbox geführt - aber er ging nicht hinein. Alle anderen Pferde standen still und warteten etwa zwanzig Minuten lang, während sich die Fährhof-Mannschaft mit Lomitas abplagte. Schließlich verband man ihm die Augen und band ihm den Schweif über den Rücken und die Schulter des Jockeys. Ungefähr ein Dutzend Männer versuchte, ihn in die Startbox zu bug325
sieren. Es endete damit, dass er aggressiv wurde und schließlich erschöpft am Boden lag. Das Rennen begann ohne Lomitas; man hatte ihn disqualifiziert. Unmittelbar nach dem Rennen verkündete die Rennleitung ein lebenslanges Startverbot für Lomitas. Er sollte heimgebracht werden und nie wieder auf einem Rennplatz erscheinen. Seine Besitzer, das Ehepaar Jacobs, waren verzweifelt, als sie die Rennbahn verließen. Ihr junger Champion hatte nicht nur den Start verweigert, sondern war jetzt obendrein mit einem generellen Startverbot belegt worden. Ich hatte mir zu jener Zeit bereits einen Namen als erfolgreicher Therapeut für gestörte Vollblutrennpferde gemacht. Aus aller Welt wurden mir Problemfälle anvertraut. Lomitas' Trainer, Andreas Wöhler, rief mich an und fragte, ob ich nicht kommen und das Pferd wieder auf Vordermann bringen könne. Also ließ ich am 12. Juni 1991 alles stehen und liegen und flog von Kalifornien nach Deutschland. Auf dem Flughafen stach mir ein Mann in Reithosen ins Auge, der aber viel zu jung für einen Trainer aussah. Doch er trug Reithosen. Vielleicht war er von Andreas geschickt worden, um mich abzuholen. Ich ging zu ihm und fragte: »Kennen Sie Andreas Wöhler?« Worauf er lächelnd antwortete: »Ich bin Andreas Wöhler.« Ich wusste nicht, wie alt er wirklich war, doch für seine Erfolgsbilanz sah er einfach zu jung aus. Wir fuhren direkt vom Flughafen zur Bremer Rennbahn, wo verschiedene Trainer wie Andreas Trainingsanlagen und Ställe für ihre Pferde gepachtet haben, und dort traf ich den Superstar Lomitas zum erstenmal. Ich betrat seine Box, und da stand er nun und wandte mir den Kopf zu, um mich anzusehen. Er war ein reiner Vollbluthengst, 1988 geboren, mit einem Stockmaß von 1,62 Meter und 522 Kilogramm Gewicht; ein Fuchs mit weißer Fessel hinten rechts, mit einem Stern zwischen den Augen und einer Blesse, die sich bis zu den Nüstern herunterzieht. Mir entfuhr ein ehrfürchtiges »Phantastisch!« Jeder Knochen seines Skeletts saß am richtigen Platz. Lomitas stand an der Rückwand der Box und kaute Heu. Ich ging zu ihm hin und begrüßte ihn mit einem Klaps auf den Hals. »Hallo, Lomitas, na, du bist ja ein feiner junger Mann, nicht wahr?« Dann 326
strich ich ihm mit den Händen über den Leib und spürte, dass er von der Wand abrücken und meinen Händen entgegenkommen wollte. Ich hielt dem Druck stand, und sofort schlug er mit der Hinterhand aus. Ich sah darin eine mögliche Reaktion auf eine ganze Reihe von Ursachen und fuhr fort, mich mit ihm bekannt zu machen. Lomitas war ein wahrhaft atemberaubendes Tier, dessen Blick überdies hohe Intelligenz verriet. Ich, der ich eine weite Reise auf mich genommen hatte, um in diesem Stall zu stehen, war plötzlich sehr froh, dass ich es getan hatte. Meine Aufgabe war genau umrissen: Ich sollte dieses schöne, intelligente Pferd von seiner Angst vor der Startbox kurieren. Andreas hatte, wie bereits vor meiner Ankunft vereinbart, eine Trainingsstartbox mit festen Wänden gebaut, die viel mehr Sicherheit bot als die üblichen Startboxen. Ich konnte mit Lomitas im Zentrum einer Reithalle unweit der Bremer Rennbahn arbeiten. Das war eine solide Grundlage. Man brachte mich in einem nur wenige Kilometer von den Ställen entfernt liegenden Hotel unter und holte mich am nächsten Morgen um sieben Uhr ab. Als ich Andreas bat, mir jemanden zur Seite zu stellen, der Englisch sprach und vor allem ein erfahrener Pferdekenner und Reiter war, stellte er mir einen jungen Mann namens Simon Stokes vor. Die Menschen sind bei erfolgreichen Korrekturen gestörter Pferde oft genauso wichtig wie die Pferde selbst. Auch in diesem Fall traf das zu, wie Sie im weiteren Verlauf der Geschichte sehen werden. Simon Stokes ist etwa 1,68 Meter groß und wiegt knapp sechzig Kilogramm. Er stammt aus Chichester in England, ist ehemaliger Hindernisjockey und hat mehrere Nasenbrüche hinter sich, weil er des öfteren mit dem Kopf voran Hindernisse umgestoßen hatte. Er ritt aber nicht nur Hindernisrennen, sondern auch Flachrennen und half Andreas beim Trainieren der Pferde. Er lebte bereits seit elf Jahren in Deutschland und sprach fließend Deutsch. Für mich war das geradezu traumhaft — ein Assistent, der die Landessprache beherrschte, sich mit Pferden auskannte und außerdem noch Englisch sprach! Aber nicht nur das: Simon Stokes erwies sich, wie ich bald herausfinden sollte, als begabter, höflicher und loyaler Mann. Für alle, die 327
ihn und sein unvergleichliches Lächeln kennen, ist er einer der sympathischsten und nettesten Menschen, die es gibt. Am 13. Juni 1991 betrat ich also dieses Traumland und fand dort Lomitas vor, den Pferdesuperstar, dazu Andreas Wöhler, einen Pferdemann, und außerdem Simon Stokes. Eine seltene Kombination! Was in diesem Bild noch fehlt, sind die Besitzer. Zwar bekam ich das Ehepaar Jacobs in den ersten Tagen mit Lomitas kaum zu sehen, doch später lernte ich sie recht gut kennen. Walther J. Jacobs ist wahrscheinlich der bedeutendste Gestütseigner, den es in diesem Gewerbe je gegeben hat. Damals, 1991, war er vierundachtzig Jahre alt. Sein Mut und seine Entschlossenheit werden im weiteren Verlauf der Lomitas-Geschichte noch eine Rolle spielen. 13. Juni 1991, acht Uhr morgens: Eine Pferdegruppe verläßt mit Andreas Wöhler den Hof und begibt sich zur nahe gelegenen Rennbahn, wo sie trainiert werden soll. Ich hatte mit Andreas vereinbart, dass ich unterdessen Lomitas auf den überdachten Reitplatz bringen und mich mit ihm beschäftigen würde, um ihn besser kennenzulernen. Dieser überdachte Reitplatz war wie eine kleine, ovale Rennbahn mit einer Breite von etwa fünf Metern. Eine Runde betrug schätzungsweise zweihundert Meter. Ich führte Lomitas dort hin und blieb bei ihm stehen. Dann ging ich zum Ende der Longe und bat ihn, zu mir zu kommen. Er zögerte sichtlich, in mein Revier einzudringen. Abrupt hob ich erst den einen, dann den anderen Arm über den Kopf. Lomitas schien das nicht sonderlich zu beunruhigen, woraus ich schloß, dass er nie mit erhobener Hand bestraft oder mißhandelt worden war. Dann stellte ich mich neben ihn und hob mein Knie unter seinen Bauch. Keine unwillkürliche Anspannung der Bauchmuskeln, kein plötzliches Schnauben und kein Heben des Brustkorbs war wahrzunehmen - kurz, er war auch auf diese Weise nicht mißhandelt worden. Als nächstes nahm ich ein kurzes Lasso und schwang es vor seinem Kopf hin und her. Er stand still und sah mich an. Dann wich er zur Seite aus und blieb wieder stehen. Hochintelligent, wie er war, gab er sich die größte Mühe, mich zu verstehen. Das Ausbleiben jeder Panikreaktion verriet mir, dass Lomitas auch nicht gepeitscht worden war. 328
Schließlich führte ich ihn näher an die Wand und legte ihm die Hände auf die Seite, als wollte ich ihn an die Mauer drücken. Sofort schlug er aus und schoß nach vorn. Das waren klassische Symptome für Klaustrophobie. Sein Verhältnis zu uns Menschen war alles in allem in Ordnung. Doch gab Lomitas uns die Schuld dafür, dass er in verschlossene Räume wie Startboxen und Transporter eingesperrt wurde — und dies gab er seinen Betreuern durch aggressives Verhalten deutlich zu verstehen. Ich gönnte uns eine Atempause. Ich sah dieses prächtig gebaute Pferd vor mir und spürte die außergewöhnliche Intelligenz, die aus seinen Augen sprach. Du hast es hier mit wahrer Größe zu tun, dachte ich bei mir. Verlier bloß nicht die Geduld. Diese Aufgabe erfordert Fleiß und Kompetenz, denn dieses Pferd ist etwas ganz Besonderes ... Lomitas war kein mißhandeltes Pferd, glaubte aber, dass man ihm übel mitspielen wollte, wenn man ihn in diese engen, Klaustrophobie hervorrufenden Räume sperrte. Seiner Auffassung nach wurde er unfair behandelt. Mein Test auf mögliche Mißhandlungen war kein Ausdruck des Mißtrauens gegenüber meinen neuen Bekannten Andreas und Simon. Es ist nur so, dass ich allen Pferden, mit denen ich zu tun habe, den Respekt erweise, sie für sich selbst sprechen zu lassen. Denn während ich von Menschen schon des öfteren belogen worden bin, ist ein Pferd zur Lüge nicht imstande; das liegt einfach nicht im Bereich seiner Möglichkeiten. Was Lomitas mir erzählte, war folgendes: »Ich glaube, ich bin unfair behandelt worden. Und ich fürchte, dass es noch schlimmer kommt.« Als Andreas und Simon in den Stall zurückkehrten, war auch ich wieder da und führte Lomitas in der Nähe seiner Box umher. »Gibt es hier irgendwo einen Longierring, in dem ich mit ihm arbeiten kann?« fragte ich sie. »Hmmm ... das wird sich kaum machen lassen.« »Ich brauche das deshalb, weil ich ihn freilassen muß. Er soll nach seinem eigenen Gusto herumlaufen können, damit er lernt, mir zu vertrauen.« Ich hatte das Gefühl, dass Lomitas, wenn mir erst einmal ein JOINUP gelang und ich sein Vertrauen errang, vielleicht auch Vertrauen zu 329
den geschlossenen Räumen haben könnte, die wir ihn zu betreten baten. Andreas dachte eine Weile nach und sagte dann: »Na ja, da gibt's einen Parcours, aber der liegt etwa fünfzehn Kilometer von hier entfernt. Das heißt, wir müßten Lomitas im Transporter hinbringen, und das klappt ja nicht.« »Doch«, erwiderte ich, »das klappt, da bin ich mir ganz sicher. Bestellen wir einen und lassen ihn den Nachmittag über hier stehen. Das Problem mit dem Einsteigen beseitigen wir sofort.« Andreas und Simon waren ziemlich nervös, aber sie sahen ein, dass uns nichts anderes übrigblieb. Also bestellten sie einen Pferdetransporter, der gleich nach dem Mittagessen kam. Da Simon für Andreas übersetzte, wurde jeder Satz doppelt gesprochen. Ich glaube, es war ziemlich komisch. »Gehen wir hinein?« fragte Andreas, und Simon wiederholte: »Shall we go inside? Andreas schlägt vor, den Transporter rückwärts in den Stall zu setzen, so dass die Rampe im Mittelgang steht. Das gibt Lomitas weniger Platz, zu den Seiten hin auszubrechen.« Ich antwortete: »Er wird ohnehin lernen müssen, den Anhänger wie ein Gentleman zu betreten. Da gehen wir lieber gleich genauso vor wie später auch. Stellen wir also den Transporter mitten in den Hof und machen von Anfang an alles wie gewohnt.« Der Transporter fuhr an die angegebene Stelle, und die Rampe wurde heruntergelassen. Ich legte Lomitas Longen an und arbeitete ungefähr eine halbe Stunde lang mit ihm. In dieser Zeit gab es keinerlei Probleme; er war gehorsam und fleißig, und sein Benehmen ließ nichts zu wünschen übrig. Blieb also nur noch, ihn in den Transporter zu verfrachten. Solange Lomitas bei mir keine Schwierigkeiten machte, wollte ich ihn wie ein ganz normales Pferd behandeln. Er ging die Rampe hinauf und folgte mir ohne die geringste Schwierigkeit in den Laster. Kaum war er drin, sprangen die herumstehenden Helfer herbei und wollten die Rampe hochschlagen, aber ich hielt sie zurück: »Nein, läßt sie unten. Ich werde mehrmals mit ihm rein- und rausgehen.« Zwei von den Stallhelfern, die Englisch sprachen, sagten: »Nein, bloß nicht. Wenn er erst wieder draußen ist, bringen Sie ihn nicht noch einmal rein.« Ich bat sie um etwas Vertrauen in mich und meine Absichten. 330
Daraufhin ließen sie die Rampe unten, und ich führte Lomitas aus dem Transporter heraus und wieder hinein. Er machte keinerlei Schwierigkeiten. Wir wiederholten die Prozedur fünfzehn- bis zwanzigmal, bis wir die Rampe endlich hochklappten und zum Parcours fuhren. Das Gebäude hatte einen guten Boden, doch war der Platz etwa fünfundvierzig Meter lang und dreißig Meter breit. Für meine Zwecke brauchte ich einen Longierring von fünfzehn Metern Durchmesser. Aus den herumstehenden Hindernissen und Stangen baute ich mir in einer Ecke des Gebäudes einen Behelfslongierring. Lomitas stand in der Mitte und beobachtete mich. Schließlich war er ringsum eingeschlossen. Ich machte mich ans Werk. Nachdem ich seinen Kopf von Führstricken und Longen befreit hatte, begab sich Lomitas sofort auf die Flucht, als ich ihn von mir wegtrieb. Er galoppierte gleichmäßig an der Peripherie des Behelfsrings entlang, wobei er mir aber bereits ein Ohr zuwandte. Binnen ein, zwei Minuten verstand er, was ich tat, und ich konnte sehen, wie er zu lecken und zu kauen anfing. Wegen seiner hohen Intelligenz dauerte es nur zehn bis fünfzehn Minuten, bis wir uns miteinander unterhielten. Keinerlei Probleme waren absehbar. Ich erreichte ein sehr schnelles, gutes IOIN-UP. Lomitas vertraute mir. Dieses Vertrauen wollte ich aber noch verstärken. Ich entfernte die Hindernisse, so dass uns nun die ganze Arena zur Verfügung stand. Es dauerte ein paar Minuten. Lomitas lief ein Stück von mir fort und dachte wohl, nun würde er die Führung übernehmen. Doch sobald ich ihm sagte, er solle sich noch weiter entfernen, wollte er unbedingt zurückkommen und sich mir anschließen. Ich konnte jetzt überall in dieser Halle hingehen - Lomitas blieb stets bei mir, die Nüstern an meiner Schulter. Als wir so weit gekommen waren, war mein Respekt vor seiner überdurchschnittlichen Intelligenz noch gestiegen. Wir konnten uns nun seinen Schwierigkeiten mit den Startboxen zuwenden. Als wir ihn wieder zum Transporter brachten, marschierte er wie ein altes, erfahrenes Pferd, das noch nie in seinem Leben irgendwelche Probleme damit gehabt hatte, die Rampe hinauf. Zur Feierabendzeit waren wir wieder in Bremen. Wir brachten 33l
Lomitas in seine Box, fütterten ihn und ließen ihn allein. Er hatte sich seine Nachtruhe verdient. Am 15. Juni 1991 fing ich an, mit Lomitas in der Übungsstartbox zu arbeiten. Ich baute auf sein Vertrauen und ging in einzelnen Schritten vor. Mein Ziel war, dass er von sich aus den Wunsch entwickelte, die Box zu betreten. Binnen kürzester Zeit ging er hinein und wieder heraus. Alles verlief völlig reibungslos. Später an jenem Vormittag sattelte Simon ihn und saß auf. Ich führte Lomitas in die Box und wieder heraus. Wir konnten sogar die Klappe hinter ihm schließen und damit anfangen, ihn entspannt vorne herausspazieren zu lassen. So verging der ganze Vormittag. Für den Nachmittag hatte Andreas den Starter der Bremer Rennbahn, Herrn Dunker, eingeladen. Er sollte sich ansehen, wie Lomitas die Trainingsbox betrat und wieder verließ. Herr Dunker blieb etwa eine Stunde und zeigte sich beeindruckt von dem, was er zu sehen bekam. Er sagte uns, er wolle der Rennleitung empfehlen, die Lage neu zu bewerten und Lomitas noch einmal eine Chance zu geben vorausgesetzt, er bestand die erforderlichen Prüfungen. Mit der Bremer Rennbahn wurde vereinbart, dass uns am nächsten Vormittag - also am 16. Juni - echte Startboxen zur Verfügung standen. Wieder war Herr Dunker anwesend und sah uns zu. Lomitas war beunruhigt und gebärdete sich bisweilen etwas schwierig, doch mir zuliebe gab er sich alle Mühe und ging noch vor der Mittagszeit mühelos in die Startboxen hinein und wieder heraus. Herr Dunker sagte uns, er hätte sich mit der Rennleitung zusammengesetzt. Für den 18. Juni war ein Startboxentest für Lomitas vereinbart worden. Man wollte sehen, ob er sich auch dann noch ruhig verhielt, wenn neben ihm andere Pferde in den Startboxen standen. Zum vereinbarten Zeitpunkt trafen die Herren von der Rennleitung ein und erlebten mit, wie Lomitas seine Prüfung mit Bravour bestand. Ihr Bild von Lomitas, der an diesem Vormittag sehr beeindruckend wirkte, hatte sich gewandelt. Auch ich war mit seinen Fortschritten sehr zufrieden, hatte aber noch nicht ganz das erreicht, was ich wollte. Lomitas war noch immer etwas zögerlich beim Betreten der Box und innerhalb derselben ein bißchen nervös. Andreas sagte mir, am 23. Juni fände in Bremen ein Rennen statt, 332
bei dem er Lomitas starten lassen wolle. Die Herren von der Rennleitung wollten vorher noch einen weiteren Test sehen - und dabei müsse Lomitas dann so gut wie perfekt sein. Erst danach wollten sie über seine Wiederzulassung entscheiden. Am Vormittag des 20. Juni kamen sie wieder. Wir befanden uns in der Mitte der Zielgeraden vor der Haupttribüne. Drei andere Pferde leisteten uns Gesellschaft. Lomitas kam der Perfektion so nahe, wie man es sich von einem Pferd nur wünschen kann. Die Rennleiter hoben die Sperre befristet auf und erteilten ihm eine Startgenehmigung für ein Rennen auf Probe; danach wollten sie weitersehen. Sie fügten noch die Klausel hinzu, dass ich Lomitas begleiten müsse und nur ich ihn führte. Außerdem sollte Lomitas als letztes Pferd in die Startbox geführt werden, damit er nicht so lange darin stehen bleiben musste. Diese Vereinbarung wurde von allen Beteiligten akzeptiert. Das Rennen fand drei Tage später statt. Ich hatte mit Lomitas nur sieben Tage gearbeitet. Der Morgen des 23. Juni brach an, und ich fühlte mich unter Hochspannung - wie auf einem riesigen Präsentierteller. Als ich kurz vor Rennbeginn zu den Startboxen auf der Zielgeraden ging (die Renndistanz betrug eineinviertel Meilen), waren um die siebentausend Zuschauer anwesend. Außerdem schien jeder einzelne dieser Siebentausend zu den Startboxen gekommen zu sein, um den Nationalhelden Lomitas zu sehen, der zu einer Art Legende geworden war — das Pferd, das mit seinen Trainern gekämpft und den Start verweigert hatte. Hinter den Startboxen führte ich Lomitas noch ein wenig auf und ab. Ich sah Eltern ihre Kinder über den Zaun halten, und die Kleinen riefen: »Ach, Lomi, Lomi, Lomi!« Es kam mir vor, als müßten wir ewig hinter jenen Boxen herumgehen. Schließlich spürte ich, dass irgend etwas nicht stimmte. Alle anderen Pferde, die zum Rennen antreten sollten, standen auf einer Seite der Bahn im Pulk beisammen. Die Jockeys diskutierten eifrig. Andreas unterhielt sich mit dem Starter und mehreren Funktionären. Da alle Deutsch sprachen, verstand ich nicht, worum es ging. Nach einer ganzen Weile kam er zu mir und erklärte mir, dass die Jockeys das Rennen boykottieren wollten, wenn ich mit Lomitas nicht als erster in die Startbox ginge. Sie meinten, sie hätten es satt, in 333
den Boxen auf Lomitas zu warten. Lomitas solle als erster an den Start gehen. Ich war einverstanden und führte Lomitas direkt in seine Box. Er war ganz brav und blieb ruhig stehen, als die anderen Pferde in ihre Boxen geführt wurden, von denen einige - welche Ironie des Schicksals! - ganz erhebliche Schwierigkeiten machten. Dann wurde das Rennen gestartet, und Lomitas sprang aus seiner Box, ungestüm wie kein anderes Pferd. Schon mit dem ersten gewaltigen Sprung setzte er sich an die Spitze des Feldes. Ich spürte mein Herz vor Sympathie höher schlagen. Der Anblick dieses großartigen Pferdes, das einem sicheren, verdienten Start-Ziel-Sieg entgegenstürmte, war ein wahres Vergnügen. Dieser Triumph war der erste in einer wahren Siegesserie, die Lomitas zum Dreijährigen-Champion 1991 und zum »Galopper des Jahres« machten. Seine Preisgelder summierten sich zu einem Betrag von annähernd 1,5 Millionen DM. Nach einer solchen Erfahrung mit einem Pferd dieser Qualität entsteht eine enge innere Bindung zwischen Mensch und Tier, die für Außenstehende nicht leicht zu beschreiben ist. Innerhalb kürzester Zeit empfand ich die gleiche Zuneigung zu Lomitas wie zu Johnny Tivio, Brownie und Ginger. Lomitas beendete das Jahr mit drei Gruppe-I-Siegen in Folge und war das höchstdotierte Pferd in der Geschichte des deutschen Rennsports. Zur Vorbereitung auf die kommende Rennsaison unterzog Andreas Wohler Lomitas im Winter 1991/92 nur einem vergleichsweise leichten Trainingsprogramm. Wir alle hofften auf ein weiteres hervorragendes Jahr für ihn, und keiner von uns ahnte etwas von den Ereignissen, die ihm und uns einen Strich durch die Rechnung machen sollten. Anfang 1992, noch vor Beginn der Rennsaison, erhielt Herr Jacobs einen Erpresserbrief, in dem die Zahlung von vierhunderttausend Mark verlangt wurde; andernfalls werde Lomitas verletzt oder sogar getötet werden. Jacobs, der sich natürlich große Sorgen machte, berichtete mir, man hätte besondere Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um die Sicherheit von Lomitas zu gewährleisten. Herr Jacobs war zu jenem Zeitpunkt bereits fünfundachtzig Jahre alt. Vielleicht, dachte ich, nimmt er Lomitas aus dem Rennsport her334
aus und wird sich so aus der Affäre ziehen. In Gesprächen, die ich in der Folgezeit mit ihm führte, wirkte er auf mich jedoch entschlossener denn je. Er war bereit, sich der Herausforderung zu stellen. Im Juni 1992 war ich in Hamburg und beobachtete Simon mit dem Pferd bei den Startboxen. Lomitas hatte keinerlei Probleme und gewann auch dieses Rennen. Alles schien bestens zu laufen. Herr Jacobs erzählte mir allerdings, dass immer noch in regelmäßigen Abständen Erpresserbriefe eingingen. Der Erpresser wich nicht von seinen Forderungen ab: entweder werde bezahlt, oder dem Pferd stoße etwas zu. Um seinen Drohungen Nachdruck zu verleihen, steckte er auf Gestüt Fährhof eine Scheune voll Heu in Brand. Nun wurden Sicherheitskräfte mit Hunden angeheuert, die das Gestüt rund um die Uhr bewachten, und auch auf der Bremer Rennbahn wurden zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Ende Juli 1992 sollte Lomitas bei einem Rennen in Düsseldorf starten. Er bewältigte die Reise, ging problemlos in die Startbox und lief sein Rennen. Aber er wurde nur Fünfter und gab eine sehr lustlose Vorstellung. Nach dem Rennen war klar, dass Lomitas nicht ganz auf der Höhe war. Er wurde nach Gestüt Fährhof zurückgebracht und einer Reihe von Tests unterzogen, um festzustellen, ob der Erpresser ihm etwas angetan hatte. Etwa zur gleichen Zeit, als Lomitas dort eintraf, kam ein weiterer Brief, in dem der Erpresser angab, er habe dem Pferd gerade so viel Gift verabreicht, dass es indisponiert gewesen sei. Damit wollten der oder die Erpresser zeigen, dass sie bereit waren, Lomitas umzubringen, falls ihre Geldforderung nicht erfüllt wurde. Nach dieser schlimmen Wendung der Dinge überstürzten sich die Ereignisse. Es wurde beschlossen, Lomitas, sobald es ihm wieder besser ging, nach England zu schicken und ihn dort zu verstecken. Als nächste Station waren - nach entsprechender Quarantäne - die Vereinigten Staaten vorgesehen. In Kalifornien sollte er dann wieder zu Rennen antreten. Die Kraft und Beharrlichkeit, mit der Walther J. Jacobs dies alles in die Tat umsetzte, beeindruckte mich. Er hätte ohne weiteres einen Rückzieher machen und vor dem Erpresser in die Knie gehen können. Aber er bot dem Unbekannten die Stirn und sagte: »Dieser Kerl wird mich nicht daran hindern, mein Pferd auf die Rennbahn zu schicken, wenn ich es wünsche.« 335
Wir mussten zuerst jedoch etwa fünfzehn Tage warten, denn Lomitas erkrankte schwer. In dem Erpresserbrief hatte gestanden, man hätte ihm ein schwermetallhaltiges Gift verabreicht. Dieses hatte Lomitas' Leber und andere lebenswichtige Organe angegriffen. Der Hengst bot einen grauenhaften Anblick: Das herrliche Pferd ließ den Kopf hängen, seine Augen waren trübe und interesselos. Lomitas war ganz und gar in sich gekehrt und konzentrierte sich auf die Krankheit und die Schmerzen. Alle, die mit ihm zu tun hatten, kochten vor Wut und konnten nicht begreifen, wie jemand zu einer solchen Untat fähig sein konnte. Es dauerte acht bis zehn Tage, bis Lomitas die schlimmsten Vergiftungserscheinungen überwunden hatte. Er trug den Kopf wieder hoch, begann ein wenig Nahrung aufzunehmen, und seine Miene war nicht mehr ganz so teilnahmslos. Kurz darauf wurde er nach Newmarket in England gebracht, wo wir ihn auf Susan Piggots Hof versteckten. Wir gaben ihm sogar einen falschen Namen - Pirelli. Während der vierwöchigen Quarantäne blieb Simon bei Lomitas. Ganz allmählich konnte er wieder mit dem Training beginnen. Nach einem Monat in England war Lomitas wieder fit und zeigte — den Umständen entsprechend — recht gute Leistungen. Dann flog Simon Stokes mit ihm nach Kalifornien. Mitte September trafen sie dort ein, und Lomitas nahm das Training bei Ron McAnally in Santa Anita auf. Im Oktober und November wurde er nur leicht trainiert, ab Anfang Dezember dann aber härter herangenommen. Denn nun begannen die Vorbereitungen auf das Rennen, das gleich nach Weihnachten in Santa Anita stattfand. Mitte Dezember berichtete mir der Futtermeister, Lomitas sei mit einem Riß im rechten Vorderhuf vom Training zurückgekommen. Das war eine böse Überraschung für mich, denn in Deutschland hatte es weder beim Training noch beim Rennen jemals Probleme mit den Hufen gegeben. Wir brachten eine Art Plastikgips an, und das Training ging weiter. Doch es dauerte nicht lang, und es erschien zunächst ein Riß an einem Hinterhuf und dann einer im linken Vorderhuf. Das alles geschah innerhalb von drei Wochen. Die Risse befanden sich unweit der Rückseite der Hufe, setzten am Kronrand an und zogen sich ein bis zwei Zentimeter weit hinunter. Mr. McAnally, Lomitas' Trainer, sagte mir, er kenne einen sehr 336
guten Spezialisten für Hufspalt, einen Mann namens Ian McKinley in New York. Wir ließen ihn einfliegen, und ich traf mich mit ihm an der Rennbahn, zusammen mit den Tierärzten und den Hufschmieden. Wir setzten uns zusammen und diskutierten die Lage. McKinley fragte mich: »Was ist mit diesem Pferd vor ungefähr fünf Monaten passiert?« »Es wurde vergiftet«, erwiderte ich, und mir ging ein Licht auf. McKinley zeigte mir, dass sich die Hufwand an allen vier Hufen. etwa eineinhalb Zentimeter breit gelockert hatte. Warum ich nach der Vergiftung nicht daraufgekommen bin, den Schmieden zu sagen, sie sollten auf eventuelle Hufprobleme achten, weiß ich bis heute nicht. Dass zwischen diesem Ereignis und der Verletzung eine Verbindung bestehen könnte, begriff ich erst, als Ian McKinley mir die entsprechende Frage stellte. Man konnte sehen, wie sich der Ring im Huf rund um das Bein verdunkelt hatte. Während der Huf nach unten nachgewachsen war, hatte der Ring die Stärke der hinteren Beinpartie zunehmend beeinträchtigt, wodurch es dann zu den Rissen gekommen war. Mr. McKinley benutzte eine Substanz namens Equilox, die er kompressenartig an allen vier Hufen von Lomitas anbrachte, ob sie nun Risse aufwiesen oder nicht. Das Auftragen dieses Polymers aus der Weltraumforschung bewirkte eine künstliche Verstärkung der Trachtenwände. Schließlich konnte das Training fortgesetzt werden, ohne dass neue Risse auftraten. Es dauerte allerdings bis Februar, bis Lomitas wieder an einem Rennen teilnehmen konnte. Nach seinem ersten Rennen wurde er zum Sieger erklärt, weil ihn das Pferd, das vor ihm über die Ziellinie gelaufen war, behindert hatte. Der nächste Start fand im April in Hollywood Park statt, und Lomitas lag von Anfang an neun Längen hinter dem Feld, weil er genau in dem Moment, da sich die Startboxen öffneten, abgelenkt worden war. Als das Feld auf die Zielgerade einbog, hatte sich sein Rückstand auf zwölf bis fünfzehn Längen vergrößert. Und dann wurde er doch noch Zweiter. Er lief die schnellste Viertelmeile, die unseres Wissens je in Hollywood Park gelaufen worden war. Es fehlte nicht viel, und er hätte einen Weltrekord aufgestellt. Leider machten uns Lomitas' Hufe auch in Zukunft noch große Sorgen, so dass beschlossen wurde, ihn von den Rennen zurückzu337
ziehen und als Deckhengst zu verwenden. 1994 kehrte er aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland zurück und wurde auf Gestüt Fährhof bei Bremen für die Zuchtsaison 1995 bereitgestellt. Lomitas' Auftritt in Amerika war zwar nicht so erfolgreich gewesen, wie ich es mir erhofft hatte, doch er brachte immerhin annähernd hunderttausend Dollar ein und machte sich in der amerikanischen Vollblutszene als fabelhaftes Wettkampfpferd einen Namen. Der Zuchthengst Lomitas fand bei den deutschen Züchtern großen Zuspruch. 1995 waren fünfzig Stuten zu ihm gebucht. Wie es sich für einen echten Champion gehört, erwies er sich auch diesem Job voll gewachsen. Die Erfolgsrate seiner Deckungen liegt bei über neunzig Prozent. Es wird interessant sein festzustellen, ob Lomitas seine Talente an die nächste Generation weitergeben kann. Ich hoffe, dass seine Geschichte gerade erst beginnt. Wegen des Erpressungsversuchs wurde schließlich ein Mann festgenommen und verhört. Briefe kamen keine mehr. Ein englisches Landhaus in tiefster Nacht ist ein unheimliches Gebäude. Ich band mir meinen Morgenmantel zu, warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass es drei Uhr früh war. Ich verließ das Schlafzimmer und ging im oberen Flur des Hauses unruhig auf und ab. Was konnte ich für dieses Pferd — Prince of Darkness — tun? Was war das Richtige? Woran lag es, dass ich dieses große, energiegeladene Tier noch immer nicht verstand? Jetzt hörte ich etwas, kaum wahrnehmbar, aber doch, ja, es waren Schritte. Ich blieb mucksmäuschenstill stehen und lauschte. Eine Tür ging auf, und Sir Mark Prescott erschien, ebenfalls im Morgenmantel. Wir blinzelten uns zu. »Ah, Monty.« »Sir Mark! Es tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe, aber ich konnte nicht schlafen.« »Macht nichts, ich auch nicht.« »Ich habe ein heißes Bad genommen und weiß Gott was probiert, aber mein Gehirn kommt einfach nicht zur Ruhe.« »Mir geht's ganz so wie Ihnen.« Sir Mark stellte sich ans Fenster, wo das Mondlicht auf sein 338
Gesicht fiel. Plötzlich veränderte sich seine Miene. »Nanu? Das darf doch nicht wahr sein«, sagte er leise. »Was?« »Kommen Sie mal her, und sehen Sie sich das an.« Ich stellte mich neben ihn. Er deutete hinaus. »Da, schauen Sie ...« Über die Dachschräge fiel unser Blick in den Stallhof. Im Mondlicht konnten wir Prince of Darkness erkennen, dessen Kopf zuerst am Fenster seiner Box auftauchte, dann an der Tür. Auch er ging auf und ab. Er war ebenso wach wie wir. Sir Mark seufzte und sagte: »Demnach versuchen wir jetzt zu dritt herauszufinden, was nicht stimmt.« Prince of Darkness wurde von Sir Mark Prescott in Newmarket trainiert. Seine Besitzer waren die Pinoak Stables of Kentucky mit ihren englischen Partnern, darunter Graham Rock, Graham Moore, Neil Greig und Wally Sturt. Er war ein großes Pferd, mit einem Stockmaß von 1,66 Meter. Er hatte starke Muskeln und einen langen, gestreckten Körperbau. Die üblichen Startboxen waren für ihn zu klein: Selbst wenn er vorn schon mit der Nase anstieß, knallte ihm die rückwärtige Klappe auf die Hinterhand. Außerdem war er so breit, dass er rechts und links an den Trittbrettern anstieß. Wie in achtzig Prozent aller Fälle, bei denen es um Probleme mit den Startboxen geht, war auch er die ersten Male anstandslos hineingegangen. Als man ihn dann eines Tages beim Training auf der Heide von Newmarket in die Startbox führen wollte, war er nur einige Schritte hineingegangen — und dann stehengeblieben. Als ihm ein Helfer einen Klaps auf die rechte Hinterhand gab, hatte Prince of Darkness ausgeschlagen und die Boxenwand getroffen. Seither war seine Abneigung gegen die Startboxen unverkennbar, gleichgültig, ob er auf sie zuging, in sie hineingeführt wurde oder bereits in einer stand. Ich war schon einmal in England gewesen, um ihm zu helfen, und hatte gedacht, die Sache wäre erledigt. Doch kaum war ich drei Tage wieder in Kalifornien, erhielt ich einen neuerlichen Anruf von Sir Mark. Prince of Darkness, berichtete er, sei zu den Startboxen auf der Heide gebracht worden und von Anfang an sehr erregt gewesen. Es war zwar gelungen, ihn in die Box zu bugsieren, doch dann hatte er versucht, sie kurz und klein zu treten. Von jenem Augenblick an war es unmöglich, ihn auch nur in die Nähe einer Startbox zu bringen. 339
Diese Nachricht enttäuschte mich sehr, denn ich stehe hinter meiner Arbeit. Wir einigten uns darauf, dass Sir Mark mir den Flug bezahlte, während ich mich ohne zusätzliches Honorar noch einmal des Problems annehmen wollte. Nun war ich also wieder in England, und das Rätsel, das uns Prince of Darkness aufgab, raubte uns den Schlaf. Sobald man seinen langen Körper in eine Startbox verfrachtete, geriet das Pferd in Panik und brach wutentbrannt nach vorne aus. Die Veränderung, die sich mit ihm vollzogen hatte, war mir unbegreiflich, denn er hatte sich von mir mühelos hinein- und herausführen lassen. Beim Dinner fragte ich Sir Mark, wie sich Prince of Darkness beim Transport verhalte. Er erwiderte, dass es keinerlei Probleme gebe, weder in einer breiten Box noch in einer engen. Nach allem, was ich den Tag über an den Startboxen erlebt hatte, war das kaum zu glauben. Sir Mark schlug daher vor, einen Transporter mit verstellbaren Boxenwänden zu bestellen, damit ich mir selbst ein Bild machen könne. In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages traf der Transporter ein. Während wir uns mit der Innenausstattung vertraut machten, instruierte ich den Fahrer. »Okay, wir machen folgendes: Sie fahren, während ich mich hierher neben den Kopf von Prince of Darkness stelle. Da kann ich mit Ihnen sprechen und gleichzeitig das Pferd beobachten.« »Machen wir.« »Erst führen wir ihn hinein und geben ihm eine ziemlich weite Box.« Ich deutete auf die Vorrichtung auf dem Boden des Transporters. »Hier bringen wir die Trennwand an. Dann fahren wir langsam durch die Gegend - egal, wohin -, und ich behalte ihn im Auge.« »Okay.« »Als nächstes machen wir die Box ein bißchen enger, und Sie fahren ein bißchen schneller. Unser Ziel ist herauszufinden, was die Klaustrophobie bei ihm verursacht.« Wir verfrachteten Prince of Darkness in den Transporter und begannen unsere Rundfahrt durch Newmarket - zuerst ganz langsam und sehr behutsam in den Kurven. Das Tier fühlte sich absolut wohl in seiner Box. Also hielten wir an und verstellten die Trennwand, so dass die Wände der Ladefläche den Flanken von Prince of Darkness näher rückten. 340
An seinem Wohlbefinden schien das nichts zu ändern. Ich bat den Fahrer, die Geschwindigkeit zu erhöhen und die Kurt ven ein wenig aggressiver zu nehmen. Er begann, heftiger am Steuert rad zu drehen, und das Motorengeräusch stieg um etliches an. Prince of Darkness, der vor mir stand, kümmerte das alles überhaupt nicht. In den Kurven stemmte er sich gegen die Fliehkraft, und wenn sein Körper hie und da an den Wänden oder anderen Teilen des Transporters anstieß, ließ ihn das völlig kalt. »Können wir noch ein bißchen schneller fahren?« rief ich. Der Fahrer stieg aufs Gaspedal, und der Transporter jagte ruckartig vorwärts. Jetzt rasten wir durch die Stadt. Wer immer hinter uns herfuhr, muß uns für Idioten gehalten haben, die den Transporter gestohlen hatten. Die Reifen quietschten in den Kurven, und in halsbrecherischem Tempo umrundeten wir jeden Kreisverkehr. Prince of Darkness und ich kugelten herum wie in einem Schiff auf hoher See. Der Fahrer kurbelte an seinem Lenkrad, als steuere er einen Krankenwagen im Notfalleinsatz. Prince of Darkness stand jetzt in der engsten Box, und der Fahrer setzte seinen Führerschein aufs Spiel. Es war eine Fahrt, wie man sie in seinem Leben nur einmal macht. Doch Prince of Darkness schlug nicht aus, lehnte sich nicht an, zeigte nicht den geringsten Widerstand oder Ärger. Sein Verhalten war mit dem Theater an den Startboxen überhaupt nicht vergleichbar. Worin lag der Unterschied zwischen der Box im Transporter, in der er sich wohl fühlte, und der Startbox, die er am liebsten kurz und klein getreten hätte? Nachdem wir mit heiler Haut wieder im Hof angekommen waren, unterzog ich beide Boxen einer gründlichen Inspektion. Die psychischen Ursachen waren mir ein Rätsel. Woher kam diese Angst? Ich musste nur die Ursache seiner Angst finden, dann ließ sich alles in Ordnung bringen. Um Klaustrophobie handelte es sich jedenfalls nicht, denn Prince of Darkness hatte sich im Transporter wohl gefühlt. Es musste irgend etwas an der Startbox sein, das ihm nicht geheuer war. Nur was? Ich kam einfach nicht darauf. Am liebsten hätte ich Sir Mark in jener Nacht gesagt, ich müsse das Handtuch werfen und ihm sein Geld zurückerstatten. Aber ich brachte die entsprechenden Worte nicht über die Lippen. Allein der 34l
Gedanke daran, am Ende als Versager dazustehen, brachte mich fast um. Wir hatten uns jetzt schon drei Tage lang mit dem Problem herumgeschlagen, und ich hatte nicht das Gefühl, der Lösung nähergekommen zu sein. Ich wollte noch einen weiteren Versuch unternehmen. Der folgende Tag war der härteste von allen - weitere acht bis neun Stunden anstrengende, gefährliche Arbeit. Geraldine Rees, eine Bekannte von Sir Mark, kam vorbei und verfolgte geduldig das Geschehen. Als Prince of Darkness in die Startbox geführt wurde, stellte ich mich vor ihn, so, wie ich im Transporter vor ihm gestanden hatte. Ich wollte sein Verhalten bis in jedes Detail beobachten, um mir auch nicht den kleinsten Hinweis entgehen zu lassen. Er fing sofort wieder mit den bekannten Scherereien an. Kaum war er in der Box, machte er einen Satz vorwärts und raste vorne wieder heraus, als stünden an beiden Seiten lauter wilde Indianer, die ihn mit Lanzen in die Flanken stechen wollten. Dass ich im Weg stand, kümmerte ihn nicht: Er rannte mich einfach über den Haufen. Ich stand auf und klopfte mir den Staub ab. Das Problem war, dass ich noch näher an ihn heran musste. Als er das nächste Mal aus der Box schoß - mit wirbelnden Beinen, wehendem Schweif, den Kopf wild hin- und herwerfend -, stieß er mich wieder um. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was ihn dazu veranlaßte. Für einen Mann meines Alters, dem obendrein ein Stück Wirbelsäule fehlt, war das eigentlich nicht der passende Zeitvertreib. Dennoch war ich fest entschlossen, so nahe wie möglich heranzugehen. Der dritte Versuch verlief nicht anders als die ersten beiden. Diesmal warf er mich allerdings nicht nur um, sondern trat mir auch noch auf mein Bein, in die Seite und auf ein Ohr. Dann lief er so weit, wie es ihm meine Come-along-Longe gestattete, blieb etwa sieben Meter entfernt von mir stehen, drehte sich um und sah mich an. Mir tat alles weh. Doch auf einmal kam mir die Erleuchtung! Obwohl mein Hirn ziemlich durchgeschüttelt worden war, hatte ich in dem Moment, bevor Prince of Darkness seinen Satz gemacht und mich überrannt hatte, noch mitbekommen, wie seine Augen nach hinten gerollt waren und seine rechte Flanke inspiziert hatten. Seine Aufmerksamkeit schien sich dabei auf das auf der rechten Seite der Box angebrachte Trittbrett für die Jockeys zu konzentrieren. 342
Da stand ich nun, verletzt und geschlagen, und Blut tropfte mir in den Kragen. Aber ich wusste Bescheid: Das Trittbrett war die Ursache seiner Angst - natürlich! Ich hätte mich selbst in den Hintern treten können, weil mir das nicht früher eingefallen war. Aber ich war begeistert über meine Entdeckung, denn ich hatte den Grund gefunden: Irgend etwas an den Trittbrettern, die an der Innenwand der Boxen entlangliefen, versetzte Prince of Darkness in Panik. Nach einigen weiteren Versuchen wusste ich, dass ich richtiglag. Ich konnte von Glück sagen, dass ich noch beide Ohren am Kopf und mir keine Knochen gebrochen hatte, aber das Rätsel war gelöst. Ohne diese Trittbretter wäre Prince of Darkness schon am nächsten Morgen wieder in der Lage gewesen, zum Rennen anzutreten. Am Abend setzten Sir Mark und ich uns zusammen und beratschlagten, was zu tun sei. Anschließend rief Sir Mark verschiedene Rennleiter an, um auszuloten, ob es vielleicht möglich wäre, bei der jeweiligen Startbox die Trittbretter zu entfernen. Wie sich jedoch herausstellte, war das nicht so einfach: Entfernte man das Trittbrett in einer Box, so montierte man damit automatisch auch das in der benachbarten ab. So waren diese Dinger nun einmal konstruiert. Es war offenkundig, dass die Rennleitung etwas Derartiges nicht genehmigen würde. Am nächsten Morgen, es war Gründonnerstag, machte ich einen Vorschlag, der mir durch den Kopf gegangen war: Wenn wir eine Art Schutzkleidung zusammenschneiderten, wie sie die Pferde der Picadores beim Stierkampf tragen, einen Überwurf aus dickem Leder, der die Hinterhand bedeckte und schwer genug war, die Flanken zu schützen, dann war es vielleicht möglich, Prince of Darkness davon zu überzeugen, dass ihm diese heimtückischen Trittbretter nichts anhaben konnten. Das war natürlich eine verrückte Idee, die ich im Grunde gar nicht für realisierbar hielt. Vor vielen Jahren hatte ich selbst einmal eine Art Ledercape benutzt, das genau über die Hinterhand meines Pferdes paßte. Es war am Westernsattel befestigt und wirkte, wenn ich mein Tier zum Sliding Stop aus vollem Galopp aufforderte, als zusätzliche Ermunterung, die Hinterhand hinunterzudrücken, so dass die Hinterhufe am Boden blieben und das Gewicht des Capes trugen. »Wäre vielleicht Teppichboden dafür geeignet?« meinte Geraldine Rees. 343
Das klang mir sehr plausibel. Teppichboden war statt des schweren Leders vielleicht die Lösung. Wir sprangen in ihr Auto, fuhren in die Stadt und kauften Teppichbodenreste. Anschließend fuhren wir zur Sattlerei Gibson, und ich begann zu beschreiben, wie ich mir den Flankenschutz vorstellte. Im Grunde war es nichts weiter als ein auf eine Stalldecke aufgenähter Teppichboden, der rechts und links in doppelter Stärke herabhing. Der Teppichstoff wurde auf beiden Seiten der Decke festgenäht. Nach wenigen Stunden war der Überwurf fertig. Wir fuhren zurück zu den Ställen, um die verstärkte Decke auszuprobieren. Als wir Prince of Darkness mit seiner neuartigen Verkleidung in die Startbox brachten, war mir sofort klar, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Ich klopfte Geraldine Rees dankbar auf die Schulter. »Sehen Sie, er hat zwar immer noch Angst und ist mißtrauisch, aber er bleibt wenigstens drin.« Es war schon ein angenehmes Gefühl, vor diesem Riesentier zu stehen und tatsächlich auch stehen zu bleiben ... Je mehr sich Prince of Darkness an den Boxenseiten rieb, indem er mal einen Schritt rückwärts, mal einen Schritt vorwärts tat, desto deutlicher wurde ihm, dass ihm die Trittbretter nichts mehr anhaben konnten. Schließlich wich seine Anspannung, und er beruhigte sich. Wir machten Fortschritte. Auf schnellstem Wege fuhren wir wieder zur Sattlerei, denn die Osterfeiertage, an denen Gibson seine Werkstatt schloß, standen bevor. Er war aber so entgegenkommend, dass er den gesamten Abend und auch noch den Karfreitagvormittag an der Weiterentwicklung unseres Prototyps arbeitete. Er nähte eine zweiteilige Decke, die beiderseits nur die Partien hinter dem Sattel bedeckte. An der Vorderkante waren Riemen angenäht, die unter dem Gurt des Jockey-Sattels liegen sollten, damit die Decke nicht verrutschte. Schließlich brachten wir noch einen Ring an, und zwar an einer Stelle, die direkt über dem Pferdeschweif zu liegen kam. An dem Ring konnte man einen Strick befestigen. Wenn man daran zog, rutschte die Decke herunter, sobald das Pferd die Startbox verließ. Am Vormittag des Ostersonntags war ich mit Prince of Darkness wieder im Hof bei Henry Cecil, und wir arbeiteten vier Stunden lang sowohl an den Übungsboxen als auch an der Rennbahnstartmaschine. 344
Sir Mark, der nach Frankreich gefahren war, hatte angeordnet, das Pferd nach Warwick zu bringen. Dort sollte am Osterdienstag ein Rennen stattfinden. Aus diesem Grund setzten wir für Sonntagnachmittag ein Training an, in dessen Verlauf Prince of Darkness mit anderen Pferden in die Startboxen gebracht wurde. Er trug seine schützende Decke. Meiner Gewohnheit folgend, öffnete ich die Boxenklappe von Hand, damit er langsam abspringen konnte. Er reagierte zufriedenstellend. Am Montagmorgen übten wir erneut mit ihm. Als ich am Abend mit Sir Mark telefonierte, versicherte ich ihm, dass das Pferd meiner Überzeugung nach am nächsten Tag in Warwick einen sehr guten Start hinlegen würde. Ich fuhr mit George Duffield, dem Jockey, der Prince of Darkness reiten sollte, zum Rennen in Warwick. George amüsierte sich köstlich über die neuentwickelte Teppichdecke, die ihm aber auch ein wenig peinlich war. »Teppich? Er trägt Teppichboden?« »Richtig, daraus haben wir's genäht.« »Ist es gemusterter Teppichboden oder einfarbiger?« »Man würde ihn wohl als dezent gemustert bezeichnen.« »O nein ...«, stöhnte er. »Mögen Sie keinen gemusterten Teppichboden?« Er hob die Hände und tat, als füge er sich kampflos in sein Schicksal. »Nein, nein - schon gut. Es stört mich nicht, wenn ich wie ein ausgemachter Trottel wirke. Vielleicht sollte ich sogar dasselbe Muster tragen. Dieselben Farben. Los, tauschen wir meine JockeySeide um. Vielleicht können wir unterwegs bei diesem Teppichladen anhalten und für einen hübschen Perser Maß nehmen lassen.« Ohne den maßgeschneiderten Teppich würde er auf seinen Start verzichten müssen, versicherte ich ihm. Prince of Darkness würde gar nicht erst antreten. Kurz vor Beginn des Rennens sah ich Prince of Darkness bei den Startboxen. Der Starter war ziemlich besorgt wegen der Decke. Da er Sir Mark deren Verwendung jedoch ausdrücklich gestattet hatte, konnte er jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Ich drapierte unsere ungewöhnliche Vorrichtung hinter George Duffield über den Pferdeleib, was zu zahlreichen Kommentaren von seiten der anderen Jockeys Anlaß gab. Die Situation entbehrte tat345
sächlich nicht einer gewissen Peinlichkeit: In ein paar Sekunden geht das Rennen los, und hinter deinem Pferd steht einer mit einem Strick in der Hand. Wir brachten Prince of Darkness in seine Startbox, und ich hoffte inständig, dass unsere Erfindung auch auf Anhieb funktionierte, was bei Erfindungen ja nur selten der Fall ist. Nun übernahm der Starter das Kommando. Ich stemmte die Hakken in den Boden und wickelte mir das Seil um die Schulter, um das Gewicht der Decke zu übernehmen, wenn Prince of Darkness die Box verließ. Und dann waren sie fort! Ich spürte einen fürchterlichen Ruck am Seil, während Prince of Darkness einen perfekten Start hinlegte. Der Teppich lag auf dem Boden der Box. Ein voller Erfolg! Das Rennen in Warwick geht über vierzehnhundert Meter und schließt eine scharfe Linkskurve ein. Achtzehn Pferde nahmen teil. In der Kurve lag Prince of Darkness deutlich in Führung. Er gewann das Rennen zwar nicht, hatte aber den besten Start des Tages. Spätere Rennen sahen ihn wieder als Sieger. Damals wusste ich noch nicht, dass das gelungene Experiment mit Prince of Darkness dazu führte, dass ich die »Monty-Roberts-Decke« für Pferde mit ähnlichen Ängsten erfand. Sie ist inzwischen von über tausend Pferden benutzt worden. Kürzlich habe ich etwas Wunderbares gesehen. Um Ihnen davon zu erzählen, muß ich Ihnen zuerst einen Herrn namens Greg Ward vorstellen. Greg Ward wurde 1935 in Bakersfield, Kalifornien, geboren. Sein Vater war Immobilienmakler, seine Mutter Lehrerin an der Grundschule. Sie lebten in einer Vorstadt von Bakersfield. Mit acht oder neun Jahren fing Greg an, sich für Pferde zu interessieren. Er sprach davon im Familienkreis, doch weder seine Eltern noch sein älterer Bruder teilten sein Interesse. In der High-School war Greg eine Sportskanone mit hervorragenden Leistungen als Läufer, im Football, Basketball und Baseball. Unter seinen Sportlehrern und Trainern sagten ihm damals viele eine erfolgreiche Profikarriere voraus, sofern er sich für diese Laufbahn entschied. Am 19. Oktober 1952 fuhr er auf einer benachbarten Farm Traktor. Er wollte etwas dazuverdienen, um sich ein Pferd kaufen und endlich 346
reiten lernen zu können. Er rodete Buschwerk an einem Hang. Dabei geriet er in Schräglage, und der Traktor überschlug sich. Greg fiel herunter und wurde überrollt. Ein Metallstück drang in seinen Schädel ein. Bewußtlos und blind blieb er liegen. Wochenlang lag er im Krankenhaus und musste zahllose Operationen über sich ergehen lassen. Unter anderem wurde ihm eine Platte in den Kopf eingepflanzt. Erst danach stabilisierten sich seine Muskeln wieder, und seine Sehkraft kehrte zurück - allerdings mit Ausnahme des größten Teils seines peripheren Gesichtsfelds. Mit dieser Sehbehinderung waren seine Karrierechancen im Spitzensport dahin. Als Greg wieder halbwegs auf dem Damm war, beteiligten sich seine Eltern am Kauf seines ersten Pferdes, das den berühmten Namen Blackie trug. Blackie war, als Greg ihn kaufte, ungefähr acht Jahre alt und kostete, einschließlich eines guten Sattels, dreihundertfünfzig Dollar. Im September 1953, fast ein Jahr nach dem Unfall, immatrikulierte sich Greg an der Cal-Poly in San Luis Obispo und nahm Blackie samt Sattel mit. Als ich an die Cal-Poly kam, war Greg schon zwei Jahre dort. Er wollte gern in das Rodeoteam der Uni aufgenommen werden und stellte deshalb viele Fragen. Er ließ sich Tips geben und verfolgte aufmerksam das Verhalten der Reiter bei vielen Wettkämpfen. Ich weiß noch, wie ich damals beim Anblick von Greg und Blackie über das kleine dicke Pferd lachte und mich fragte: Wieso verschwendet er nur seine Zeit mit einem solchen Gaul? Jung und an Spitzenpferde gewöhnt, konnte ich mit so einem gewöhnlichen Pferd wie Blackie nichts anfangen. Wenn ich heute an jene Zeit zurückdenke, weiß ich, wie falsch es damals war, über Blackie zu lachen. Für Greg war er das wichtigste Pferd auf der ganzen Welt, ja, er war sogar eines der wichtigsten Pferde für die gesamte Westernpferdreiterei, denn er brachte Greg Ward das Reiten bei - einem Mann, der zu einem der besten Pferdekenner aller Zeiten avancieren sollte! Schon damals hätte ich es besser wissen sollen, denn schließlich hatte ich selbst ein Pferd namens Brownie besessen, das für mich von großer Bedeutung gewesen war. Ich mochte Greg. Als Studenten waren wir befreundet. Wir tauschten Informationen aus, wo und wann wir konnten, und ich weihte ihn sogar in meine am strengsten gehüteten Geheimnisse ein. 347
Wie schnell und gut Greg lernte, fiel mir damals gar nicht auf. Es gelang ihm schließlich, ins Rodeoteam aufgenommen zu werden. Obwohl er noch in der Lernphase war, leistete er bereits einen Beitrag zu unseren Erfolgen bei den Nationalen Championships 1958 und 1959. Greg schaffte es auch, in der Nähe von Tulare dreiundvierzig Morgen Land zu erwerben und dort eine Trainingsanlage zu errichten, die ihm noch heute gehört. Er hat sie im Laufe der Zeit ausgebaut. Inzwischen weist sie zwei überdachte Trainingsarenen, mehrere Freiluftanlagen und eine Achthundert-Meter-Bahn auf. Noch als Student heiratete Greg 1957 Laura Odle. 1959 wurde ihr Sohn John geboren, 1961 und 1963 kamen die Töchter Wendy und Amy zur Welt. Alle drei Kinder lernten reiten und nahmen an Gregs Vorführungen teil. Die Töchter sind inzwischen verheiratet und von der Ranch weggezogen, doch John ist in die Fußstapfen seines Vaters getreten und leitet heute die ganze Anlage. In über dreißig Jahren haben Pferde, die auf der Ward Ranch trainiert wurden - entweder von Greg oder von seinem Sohn John —, einen der unglaublichsten Rekorde aufgestellt: Sie gewannen zwölf Weltmeisterschaften im Cutting und Reining sowie mehrere Millionen Dollar an Preisgeldern. Außerdem brachten die auf der Ward Ranch gezüchteten Pferde Verkaufserlöse in Millionenhöhe und weitere Millionen bei Pferdeschauen ein. Der derzeit berühmteste auf der Ward Ranch gezüchtete und aufgezogene Hengst ist Dual Pep, der gegenwärtig um die zwei Millionen Dollar wert ist. Dual Pep hat über dreihunderttausend Dollar an Preisgeldern gewonnen, und sein Einkommen als Deckhengst beträgt jährlich eine halbe Million. Ich könnte mühelos fünfzig Seiten mit den Verdiensten der Wards und ihrer Pferde füllen, aber ich beschränke mich darauf festzustellen, dass ihr Betrieb, was Westernpferde betrifft, die Spitzenadresse in Nordamerika ist. Da die Rancharbeit inzwischen weitgehend von seinem Sohn John übernommen worden ist, hat Greg jetzt die Möglichkeit, mit Trainingsmethoden zu experimentieren, für die ihm zuvor immer die Zeit fehlte. Und damit sind wir bei dem wunderbaren Anblick, den man auf der Ward Ranch genießen kann, wenn Greg eine Gruppe von jungen Pferden einreitet. Billig sind diese Tiere mit Sicherheit nicht. Der jüngste Jahrgang 348
von zweiunddreißig Pferden ist schätzungsweise zweieinhalb bis drei Millionen Dollar wert. In dieser Gruppe gibt es einen Junghengst, der auf eine Million Dollar geschätzt wurde. Von Gregs Pferden werden schon aus rein wirtschaftlichen Gründen Höchstleistungen erwartet, denn sie sollen ihren Preis wieder einbringen. Doch was ich eigentlich sagen will, ist, dass Gregs Trainingsmethoden nicht auf irgendeiner verschwommenen Vorstellung vom liebevollen Umgang mit Tieren beruhen - obwohl er seinen Pferden immer mit außerordentlicher Freundlichkeit und großem Respekt begegnet. Seine Methoden sind nicht nur die besten, wie seine Erfolge auf einem äußerst hart umkämpften Markt beweisen, sondern auch diejenigen, die den Pferden am meisten entgegenkommen. »Monty«, sagte Greg, als ich ihn einmal auf seiner Ranch in Tulare besuchte, »komm und schau dir meine neuen Babys an.« Und dann zeigte er mir etwas, das einen unvergeßlichen Eindruck bei mir hinterließ. Fünf Personen brachten die jungen Pferde von der Koppel herein, ohne auch nur einmal an den Führstricken zu zerren. Sie ließen die leicht erregbaren jungen Tiere herumgehen, wie sie wollten, und folgten ihnen einfach so lange, bis sie von selbst in den Hof gehen wollten. Dort wurden sie gesattelt, und die Reiter stiegen vorsichtig auf. »In den ersten zwanzig Tagen, in denen sie geritten werden«, erklärte Greg, »können sie tun, was sie wollen. Die Zügel werden überhaupt nicht aufgenommen.« Ich sah zu, wie die Reiter zum Hof hinaus auf einen Weg geführt wurden, über den sie zur Übungsbahn kamen. Die Tore wurden zwar geschlossen, damit die Pferde nicht davonlaufen konnten, doch davon abgesehen, hatten sie auf der ovalen Halbmeilenbahn völlige Bewegungsfreiheit. Ein sechster Reiter saß auf einem erfahrenen Pferd und trug einen langen Stab mit einer Plastikfahne an der Spitze bei sich, um im Falle eines Falles die Pferde daran zu hindern, sich gegenseitig zu gefährden. Greg sagte: »Die Richtung, die sie einschlagen, ist völlig gleichgültig. Sie können gehen, wohin sie wollen.« Ich beobachtete, wie die fünf Pferde mit ihren Reitern herumwanderten. Wenn sie stehenbleiben und eine Weile auf dem Grünstreifen am Zaun grasen wollten, dann blieben sie stehen. Wollten sie die 349
Bahn überqueren, dann taten sie es. Wollten sie eine Weile galoppieren, dann galoppierten sie, bis sie wieder stehenbleiben wollten. Standen sie einfach nur herum, dann standen sie eben herum. Wollten sie sich hinlegen und wälzen, so war auch das in Ordnung; der Reiter stieg einfach ab und sah ihnen zu. Kurzum, was immer die jungen, frisch eingerittenen Pferde zu tun beliebten, konnten sie tun. »Wie lange dauert diese Phase?« fragte ich. »Zwanzig Tage.« Ich war voller Bewunderung für dieses Vorgehen und die ihm zugrunde liegende Logik. Diese Pferde lernten, das Gewicht eines Reiters zu tragen, und hatten nicht die geringste Angst, man könnte sie für irgend etwas bestrafen. Ganz allmählich gewöhnten sie sich an den Reiter auf ihrem Rücken. Für die Entwicklung von Vorbehalten oder aggressiven Verhaltensweisen gegenüber ihren menschlichen Partnern gab es für sie nicht den geringsten Anlaß. Der Erfolg dieser und anderer in diesem Buch beschriebenen Methoden hat mich in meinem Glauben bestärkt, dass ein neues Zeitalter in der Beziehung zwischen Mensch und Pferd angebrochen ist und dass ich in der glücklichen Lage bin, zu diesem neuen Geist des gegenseitigen Verständnisses beitragen zu dürfen. Das Bild der jungen Pferde auf der Ward Ranch illustriert diesen Sachverhalt aufs beste und zeigt die gelungene Umsetzung jener Theorien, von deren Richtigkeit ich überzeugt bin. Als ich kürzlich, wieder einmal auf der Rückreise nach Kalifornien, in England Station machte, erreichte mich eine Einladung der Königin. Sie wollte bezüglich meiner Arbeit auf den neuesten Stand gebracht werden. Corporal Major Terry Pendry chauffierte mich durch die mittlerweile schon vertraute Umgebung von Schloß Windsor. »Sie werden Ihre Majestät draußen im Freien treffen ...«, sagte er, als er mich auf die bevorstehende Begegnung vorbereitete. Draußen im Freien? Was hatte das zu bedeuten? Sollten wir gemeinsam durch den Park spazieren oder uns bei den Marställen treffen und einige ihrer Pferde besichtigen? Terry Pendry hielt neben der großen Rasenfläche an, die vor dem Schloß sanft abfällt, und stieg aus. Ich folgte ihm. 350
»Dort ist sie.« Er deutete auf den Rasen. Inmitten des weiten, perfekt manikürten Grüns stand ein kleiner Tisch, an dem eine Person saß. Vom Tisch aus schlängelte sich einweißes Kabel über den Rasen und verschwand im Schloß. Ich trat den langen Marsch über die Rasenfläche an. Beim Näherkommen erkannte ich, dass die Person am Tisch Ihre Majestät war. Die Ecken des schneeweißen Tischtuchs flatterten in der leichten Brise. Zur Teestunde war feines Porzellan und Silberbesteck gedeckt. Die Königin begrüßte mich ohne jede Förmlichkeit, und ich setzte mich an den Tisch. Sie drückte auf einen Knopf am Ende des weißen Kabels und schickte ein Signal ins Schloß. Wir hatten gerade mit unserer Unterhaltung begonnen, als ein Bediensteter des Hofes Tee und Erfrischungen auftrug. Es war eine außergewöhnliche Situation in einer wunderschönen Umgebung. Wir sprachen über Pferde, und wieder erwies sich die Königin als interessierte, gut informierte Pferdebesitzerin. Sie wollte meine Ansichten über alles mögliche kennenlernen. Dass mir die Begegnung mit dieser Frau vergönnt war, die der Lauf der Geschichte in ein einzigartiges Amt gebracht hat, empfinde ich als unbeschreibliches Privileg. Es war kaum zu fassen: Da saß ich, ganz allein, mitten auf dem Rasen vor Windsor Castle, trank meinen Tee mit der Königin von England und unterhielt mich mit ihr, als wären wir alte Freunde! Es freute mich, sie über das Seminar informieren zu können, das gegenwärtig am West Oxfordshire College unter Leitung von Kelly Marks stattfindet und dessen Ziel es ist, die in diesem Buch beschriebenen Trainingsmethoden weiterzuentwickeln. Es ist das erste Seminar dieser Art, das in den Lehrplan aufgenommen und eigens für diese speziellen Anforderungen ausgearbeitet wurde. Ich berichtete der Königin auch von meinen jüngsten Erfahrungen im Zusammenhang mit Startboxenproblemen und der Art und Weise, wie die Rennkommissionen darauf reagierten. Dann erzählte ich Ihrer Majestät, wie sehr ich mich schon auf die Zukunft freue, wenn Studenten meiner Methodik unser Wissen so weit vorangebracht haben, dass sie meine Praktiken als völlig veraltet bezeichnen. Und während ich diese Sätze schreibe, sind einige Tierärzte bereits dabei, Mittel und Wege zu ersinnen, die es ihnen eines Tages vielleicht ermöglichen werden, auf die Pferde »zu hören« und 35l
von den Tieren selbst zu erfahren, wo genau im Bauch sie Schmerzen haben — im Zwölffingerdarm, im Dünndarm oder im Dickdarm. Lange nach dem offiziell angesetzten Ende der Teestunde erhoben wir uns. Unser Abschied war aufrichtig herzlich und zwanglos. Die Königin kehrte ins Schloß zurück, während ich mich wieder zu Terry Pendry begab, der am Rand der großen Rasenfläche auf mich wartete. Auf einmal hatte ich eine merkwürdige Vision. Wie stellte sich diese Szene wohl dar, wenn man sie von den Zinnen des Schlosses aus betrachtete: der große grüne Rasen, der weiße, quadratische Tisch in seiner Mitte, das Teegeschirr, die zurückgeschobenen Stühle; die Königin von England in die eine Richtung schreitend — und dieser Cowboy aus Kalifornien in die andere, immer noch ungläubig den Kopf schüttelnd angesichts der höchst ungewohnten Umgebung, in die er hier geraten ist. Vor nahezu achthundert Jahren hatte ein ganz anderer Herrscher, ein Eroberer namens Temudschin, eine ganzlich andere Einstellung zu seinen Pferden. Sein Mongolenreich wuchs unentwegt und erstreckte sich schließlich von den nördlichen Gestaden des Schwarzen Meers bis hin zum Stillen Ozean. Als er ein Viertel der damals bekannten Welt beherrschte, änderte er seinen Namen und nannte sich Dschingis-Khan - »Herr über alles« -, ein Name, der heute zu Recht mit unvorstellbarer Grausamkeit, einem eisernen Willen und unbeugsamer Entschlossenheit verbunden wird. Sein Hauptverbündeter bei der erstaunlichen Ausdehnung seines Macht- und Einflußbereichs war das Pferd. Mit Stricken, Peitschen und ausgesuchten Qualereien machte sich Dschingis-Khan die Kraft, den Mut und die Geschwindigkeit des Pferdes nutzbar. Die Pferde konnten sich gegen seine Grausamkeit nicht wehren; sie hatten keine Stimme. Doch sie hatten eine Sprache. Niemand konnte sie hören, und niemand versuchte, sie zu verstehen, aber sie existierte damals schon und ist bis heute die gleiche geblieben. Es gibt sie bereits seit Millionen von Jahren, und sie dürfte sich in der Zwischenzeit kaum verändert haben. Die fehlende Kommunikation zwischen Mensch und Pferd hatte eine verheerende Geschichte grausamster Mißhandlungen zur Folge, die uns Menschen wahrlich nicht zum Ruhm gereicht. Da wir uns die freiwillige Bereitschaft der Pferde zur Zusammenarbeit mit uns nicht zunutze gemacht haben, konnten wir nicht halb so viel erreichen, wie 352
uns möglich gewesen wäre. Dieser Verlust trifft nicht nur den emotionalen Bereich, sondern er schadet auch der Leistung und der Arbeitskraft, die wir in unserer selbstsüchtigen Art den Pferden abverlangen. Es ist ein Gleichgewicht, das ich in meiner lebenslangen Arbeit mit Pferden immer wieder gesucht und wiederherzustellen versucht habe. Zweiundsechzig Jahre lang habe ich darauf hingearbeitet, und ich bin noch immer mit ganzem Herzen dabei.
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JOIN-UP DIE MONTYROBERTSMETHODE Schritt für Schritt
JOIN-UP, die Monty-Roberts-Methode, ist erlernbar, vorausgesetzt, Sie glauben fest an Ihre eigenen Fähigkeiten und haben vor Pferden keine Angst. Zunächst einmal möchte ich Sie bitten, sich von allem freizumachen, was Sie bislang über das Starten (oder Einreiten, Zureiten) von jungen Pferden zu wissen glaubten. Nicht vergessen sollten Sie dagegen jene Erfahrungen, aus denen Sie gelernt haben, Pferde nicht zu fürchten und sich in ihrer Gegenwart sicher und zweckmäßig zu bewegen. Halten Sie sich immer vor Augen, dass ein Pferd kein Unrecht tun kann und dass all seine Reaktionen - vor allem, wenn es sich um ein junges, noch nicht eingerittenes Tier handelt — mit großer Wahrscheinlichkeit von Ihnen selbst ausgelöst wurden. Als Reiter und Pferdefreunde können wir einem Pferd nur wenig beibringen. Wir können jedoch eine Umgebung schaffen, in der es von sich aus lernen kann. Beim Menschen ist das meiner Überzeugung nach nicht viel anders. Ein Schüler, dem auf Teufel komm raus Wissen eingetrichtert wird, lernt wenig. Hat er sich dagegen von sich aus zum Lernen entschlossen, ist seine Aufnahmekapazität sehr groß. Taten
sind
mehr
als
Worte
Dieses Sprichwort geht uns leicht über die Lippen. Nur halten wir uns meist nicht so recht daran. Pferde verfügen über eine leicht vorhersehbare, erkennbare und effektive Sprache. Das Unglaubliche daran ist, dass sie keinen Dolmetscher brauchen: »Equus« ist eine Sprache, die unter Pferden rund um die Welt verstanden wird. Wir Menschen, die wir das am höchsten entwickelte Gehirn aller Lebewesen besitzen, sind dagegen oft auf Hilfe angewiesen, wenn wir miteinander kommunizieren wollen. Wie jede Form der Kommunikation erfordert auch die Sprache »Equus« eine gewisse Anstrengung, bis man sie beherrscht. Wer nicht daran glaubt, dass sich ein Pferd durchaus »beredt« verständlich machen kann, erzielt möglicherweise bestimmte Trainingserfolge, indem er ihm Schmerz zufügt. Wer dagegen an die Kommunikationsfähigkeiten des Tiers glaubt, wird auch eingestehen, dass wir uns durch eine Ausbildung, die mit Schmerzen verbunden ist, keine Freunde schaffen. Stellen Sie sich einmal vor, Ihr Lehrer würde Ihnen 357
gleich am ersten Schultag eine Kette durch den Mund oder über die Nase ziehen und ruckartig daran zerren. Und wenn Sie dann wegzulaufen versuchen, würde er die Peitsche zücken. Würde Ihnen das gefallen? Und wie würde es sich auf Ihr künftiges Verhältnis zu ihm auswirken? Würden Sie danach noch gern zur Schule gehen? Auch wenn sein Gehirn nicht so hoch entwickelt ist wie das unsere, reagiert ein Pferd meiner Meinung nach bis zu einem gewissen Grad ganz ähnlich wie wir. Den Kern meiner Methode bildet der Aufbau einer auf Vertrauen und Zuverlässigkeit beruhenden Beziehung zwischen Mensch und Pferd, einer Beziehung, die sich dahingehend äußert, dass sich das Pferd dem Menschen »anschließen«, zum Team gehören, die gleichen Rennfarben tragen möchte oder, wie ich es ausdrücke, das JOIN-UP vollziehen will. Nach meiner Überzeugung haben die meisten konventionell zugerittenen Pferde eine »feindliche« Einstellung zu den Menschen, für die sie arbeiten. Sie mögen zwar die geforderte Leistung erbringen, tun es aber nur widerwillig. Meine erste Regel für das Einreiten eines jungen Pferdes lautet daher: Ohne Schmerzen Wir schlagen ein Pferd nicht, wir treten, zerren, ziehen, fesseln und zügeln es nicht. Läßt sich in bestimmten Situationen eine gewisse Disziplinierung nicht vermeiden, so darf sie nur mit den sanftesten Mitteln erfolgen und sollte dem Pferd nicht das Gefühl vermitteln, es handele sich um ein »Muß«. In dem Ambiente, das wir schaffen wollen, hat dieses Gefühl ohnehin nichts zu suchen. Wir können dem Pferd signalisieren, dass es uns lieb wäre, wenn es dieses oder jenes täte, nicht jedoch, dass es etwas Bestimmtes tun »muß«. Eine Disziplinierung mit dem Ziel, dass das Pferd in unserer Nähe bleibt, sollte eher den Charakter einer Ermutigung als den einer Forderung haben. 358
Pferde sind klassische Fluchttiere. Unter Druck gesetzt, neigen sie dazu, sich zu entfernen statt zu kämpfen. Angesichts dieser Tatsache stieß ich auf ein Phänomen, das fast allen Tieren der Erde zu eigen ist: »Vorstoß und Rückzug« (advance and retreat) ist ein durchgängiges Prinzip in allen Beziehungen zwischen Tieren untereinander (sowohl innerhalb ein und derselben Art als auch zwischen verschiedenen Arten) und findet sich sogar in zwischenmenschlichen Beziehungen wieder. Wir kennen es aus dem täglichen Leben: Wir forcieren gewisse Dinge und nehmen dann wieder Abstand von ihnen, um die Auswirkungen unseres Handelns aus der Distanz zu betrachten. Dieses Prinzip manifestiert sich sowohl in privaten Beziehungen als auch im Geschäftsleben. Ein Beispiel dafür ist der Vierzehnjährige im ersten High-School-Jahr: Er fühlt sich von einem bestimmten Mädchen in seiner Klasse angezogen und folgt ihr auf Schritt und Tritt. Sie sagt, sie könne ihn nicht ausstehen, und geht weg. Er bleibt ihr beharrlich auf den Fersen - im allgemeinen etwa sechzig Tage lang — und gibt dann auf. Bald können wir beobachten, dass nun sie anfängt, sich für ihn zu interessieren, und überall dort auftaucht, wo er hingeht. Meine im folgenden beschriebene Methode beruht auf genau diesem Phänomen. Kommen wir zur Praxis des Einreitens oder Startens (den Begriff »Brechen«, wie es im Amerikanischen heißt, verwende ich, wie eingangs erklärt, nie): Es ist unsere Absicht, das Tier dazu zu bringen, Sattel, Zaumzeug und Reiter zu akzeptieren, ohne dass dieser Prozeß zu einer traumatischen Erfahrung wird. Bei meinen Vorführungen nehme ich ein junges Pferd, das noch niemals gesattelt, aufgezäumt oder geritten wurde. Innerhalb von etwa einer halben Stunde bringe ich es so weit, dass es all dies akzeptiert. Nähme ich Pferde, die bereits an die Trense gewöhnt sind, so wären die Zuschauer skeptisch und würden vielleicht glauben, es sei doch schon mehr mit ihm unternommen worden. Geht es nicht gerade um eine Vorführung, nimmt man sich am besten ein paar Tage Zeit dafür, das junge Pferd ans Gebiß und an ein gewisses Maß an Kommunikation über Longen und über sein Maul zu gewöhnen, und beginnt gleich danach mit dem eigentlichen Einreiten.
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Folgende Punkte sollten beim Einreiten erreicht werden: 1. JOIN-UP 2. FOLLOW-UP 3. Empfindliche Körperpartien 4. Hufe anheben 5. Satteldecke 6. Sattel 7. Zaumzeug 8. Longen 9. Reiter . 10. Vollständige Runde links 11. Ein Schritt zurück 12. Vollständige Runde rechts13. Ein Schritt zurück ' Liste
der
A u s r ü s t u n g s g e g e n s t ä n d e
2 Longen (jeweils neun Meter lang) 1 Zaumzeug mit Wassertrense 1 Sattel (nach Ihrer Wahl) 1 Satteldecke 1 Bügelriemen Halfter am Pferd Auf meiner Farm arbeite ich in einem Longierring (round pen). Obwohl es auch ohne ihn geht, erleichtert er doch vieles. Mein Ring mißt sechzehn Meter im Durchmesser, hat geschlossene Wände von 2,40 Metern Höhe und ist überdacht. Den Boden bedeckt eine zirka sechs Zentimeter dicke Sandpolsterung. Ich habe allerdings auch schon Pferde in freier Wildbahn ohne jede Umzäunung eingeritten. Es geht auch auf einem quadratischen Platz, bei dem man aber die Ecken am besten abrundet. Ein Durchmesser von sechzehn Metern ist meiner Meinung nach optimal für mittelgroße Pferde. Ein guter Untergrund ist für die Sicherheit von Mensch und Pferd unerläßlich. Bringen Sie das Pferd mit angelegtem Halfter in den Longierring, 360
und nehmen Sie eine leichte Longe von etwa neun Metern Länge mit. Stellen Sie sich ungefähr in die Mitte des Rings, und machen Sie sich mit dem Pferd bekannt, indem Sie ihm mit der flachen Hand die Stirn reiben (nicht tätscheln). Das gilt auch für den Fall, dass Sie und das Tier sich bereits kennen. Dann gehen Sie am Pferd vorbei in Richtung seiner Hinterhand, achten aber darauf, ihm nicht so nahe zu kommen, dass es ausschlagen und Sie treffen könnte. Wenn Sie hinter dem Tier stehen oder es vor Ihnen flieht - egal in welcher Reihenfolge - , werfen Sie die Longe über sein Hinterteil. Sie darf auf seinen Rücken fallen, SCHLAGEN DÜRFEN SIE DAS PFERD JEDOCH NICHT. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird jedes junge Pferd fliehen und im Kreis durch den Longierring rennen. Da das Pferd nun auf dem Rückzug ist, müssen Sie in die Offensive gehen. Lassen Sie jetzt nicht locker. Werfen Sie etwa zweimal pro Umlauf mit der Longe nach ihm, oder tun Sie, was immer nötig ist, um das Pferd in der Fluchtbewegung zu halten. Nehmen Sie dabei eine aggressive Haltung ein: Sehen Sie dem Tier mit starrem Blick in die Augen und richten Sie die Schultern quer zu seinem Kopf aus. Gehen Sie auf das Pferd zu, aber bringen Sie sich nie in den Trittradius. Versuchen Sie, das Tier dazu zu bringen, fünf oder sechs Runden im leichten Galopp zurückzulegen, erst in der einen Richtung, dann in der anderen, und dann das Ganze noch einmal von vorn - nur, dass Sie nach dem zweiten Richtungswechsel dem Pferd zu verstehen geben, dass es Ihnen signalisieren darf, wenn es keine Lust mehr hat. Behalten Sie vor allem das der Ringmitte zugewandte Ohr im Auge. Es wird sich allmählich weniger schnell bewegen oder ganz zur Ruhe kommen, während das rechte weiterhin in Bewegung bleibt und wachsam aufnimmt, was in der Umgebung vorgeht. Schließlich wird sich der Kopf des Pferdes senken, Ohren nach innen, Nase nach außen, und der Hals senkt sich ein wenig, um den Kopf näher in Ringmitte zu bringen. Wahrscheinlich wird das Pferd nun auch lecken und kauen und dabei die Zunge herausstrecken. Schließlich sollte es mit gestrecktem Hals den Kopf fast bis auf den Boden senken. Das Ohr erweist Ihnen seinen Respekt, das Näherkommen bedeutet das gleiche. Das Lecken und Kauen besagt: »Ich bin ein Fluchttier, und ich fresse, weil ich dich nicht zu fürchten brauche.« Mit dem zu Boden gereckten Hals bringt das Pferd zum Ausdruck: »Wenn wir noch mal miteinander verhandeln könnten, würde ich dich als Chef akzeptieren.« 361
Mit zunehmender Erfahrung werden Ihre Sinne für diese Art der Kommunikation immer empfänglicher. Wenn Sie ein Pferd in dieser Haltung sehen, so bedeutet dies stets, dass es Sie bittet, keinen Druck mehr auszuüben, und dass es eine Pause braucht. Rollen Sie nun die Longe auf, und nehmen Sie eine eher unterwürfige Haltung an: Senken Sie den Blick, und sehen Sie dem Tier nicht mehr in die Augen. Bringen Sie Ihre Schulterachse in einen Fünfundvierzig-Grad-Winkel zum Pferd. Damit fordern Sie es auf, zu Ihnen zu kommen, Sie zumindest anzusehen und die Flucht abzubrechen. Wenn es jetzt zu Ihnen kommt, ist das ausgezeichnet. Bleibt es dagegen stehen und sieht Sie an, ohne näher zu kommen, gehen Sie auf das Tier zu, aber nicht auf einer geraden Linie, sondern in Bögen oder Halbkreisen. Wendet es sich jetzt von Ihnen ab, lassen Sie es noch ein paarmal im Kreis laufen und beginnen mit der Prozedur von vorn. Wenn Sie auf das Pferd zugehen, achten Sie darauf, dass Sie Ihre Schulterachse im Fünfundvierzig-Grad-Winkel zu seiner Körperachse halten, so dass Sie ihm also beinahe den Rücken zukehren. Es sollte von sich aus auf Sie zukommen und Sie mit der Nase an die Schulter stupsen. Das ist das JOIN-UP. Sobald Sie seinen Kopf berühren können, reiben Sie ihm gründlich die Stirn zwischen den Augen. Dann entfernen Sie sich in kreisförmigen Bewegungen. Ich gehe am liebsten zuerst nach rechts und ziehe dabei einen Kreis von etwa drei Metern Durchmesser. Der Rechtsdrehung lassen Sie eine Linksdrehung folgen. Wiederholen Sie das Ganze mehrmals. Jetzt sollte das Pferd Ihnen folgen oder zumindest den Kopf so drehen, dass er immer in Ihre Richtung weist. Tut es das nicht, stehen Sie plötzlich wieder hinter ihm und lassen es wieder ein paar Runden drehen. Wahren Sie den Sicherheitsabstand. Auf diese Weise wird Ihnen am Ende ein JOIN-UP und ein FOLLOW-UP gelingen. Sobald das FOLLOW-UP erreicht ist, begeben Sie sich mit dem Pferd wieder in die Mitte des Longierrings und stellen sich auf den nächsten Schritt ein. Sie widmen sich jetzt den empfindlichen oder verletzlichen Körperpartien des Tiers. Fangen Sie mit beiden Händen auf der linken Körperseite an, und massieren Sie dem Pferd Hals, Widerrist, Rücken, Hüfte, Vorder- und Hinterflanken. Wiederholen Sie das gleiche auf der rechten Körperseite. Danach sind Sie so weit, dass Sie die Hufe anheben können. Heben Sie jeden Huf einzeln an, 362
und denken Sie dabei an die üblichen Sicherheitsvorkehrungen des Reiters. Nach erfolgreichem Abschluss der geschilderten Maßnahmen können Sie Ihre Ausrüstung in den Ring bringen. Legen Sie sie an zentraler Stelle auf den Boden, und lassen Sie dem Pferd Zeit, sich alles genau anzusehen. Gehen Sie währenddessen mehrmals zwischen dem Tier und der Ausrüstung hin und her, bis sich die Neugier des Pferdes legt und es lieber Ihnen folgt. Sobald seine Aufmerksamkeit wieder Ihnen gilt, bringen Sie eine Longe am Halfter an, und legen Sie sie in ungefähr einem Meter Entfernung vom Haken über Ihren linken Arm. Als nächstes legen Sie dem Pferd die Satteldecke vorn am Widerrist auf und lassen sie von dort auf die richtige Stelle gleiten. Wenn sich das Pferd jetzt entfernt (was nur sehr wenige tun), bestrafen Sie es nicht, sondern lassen es einfach locker im Kreis laufen, bringen es wieder zum JOIN-UP und wiederholen die Prozedur. Liegt die Decke an ihrem Platz, nehmen Sie den Sattel mit hochgeschobenen Steigbügeln und aufliegendem Sattelgurt zur Hand. Streichen Sie mit Ihrem Körper auf der linken Seite des Pferdes bis zur Schulter entlang, und legen Sie den Sattel, den Sie bis dahin mit Ihrer rechten Hüfte gestützt haben, behutsam auf den Rücken des Pferdes. Dann gehen Sie vorne um das Tier herum und reiben ihm die rechte Halsseite. Lassen Sie den Sattelgurt langsam und vorsichtig, aber ohne Verzögerungen herunter und bis auf Fesselgelenklänge fallen. Schlüpfen Sie dann wieder auf die linke Seite des Pferdes und reiben ihm dabei den Kopf. Stellen Sie sich neben die linke Vorderhand, holen Sie den Gurt zu sich herüber, und machen Sie die erste Schnalle an der vorderen Gurtstrippe fest. Achten Sie auf die Reaktion des Pferdes: Der Gurt darf nicht zu eng sitzen, aber auch nicht so locker, dass er sich dreht, wenn das Tier bocken sollte. Die hintere Gurtstrippe wird etwas straffer gezogen als die vordere, die zum Schluss aber noch einmal nachgezogen werden sollte, um einen optimalen Sitz zu gewährleisten. Nehmen Sie die Longe ab, behalten Sie sie aber in der Hand, und entfernen Sie sich langsam von Ihrem Pferd, bis Sie hinter ihm stehen. Wahren Sie den Sicherheitsabstand, treiben Sie das Tier mit der Longe von sich fort, und achten Sie darauf, dass Sie es nicht gleichzeitig zum JOIN-UP und zum Buckeln veranlassen. 363
Bleiben Sie ruhig Ihr Pferd muß glauben, dass der Sattel nur ihm allein etwas ausmacht, andernfalls wächst seine Neigung zum Bocken. Achten Sie auf die Zeichen, die den Wunsch nach neuerlichem JOIN-UP verraten. Gestatten Sie es aber erst, wenn Sie sehen, dass das Pferd mit dem Sattel gut zurechtkommt. Sobald das Tier wieder bei Ihnen ist, legen Sie ihm das Zaumzeug an und machen die Zügel unter dem Sattel oder an einer anderen sicheren Stelle fest. Achten Sie darauf, dass die Zügel locker genug hängen. Nun nehmen Sie den rechten Bügelriemen und ziehen ihn durch den rechten Steigbügel, so dass er zur Hälfte durchhängt. Dann gehen Sie auf die linke Seite und fixieren den linken Steigbügel auf die gleiche Weise. Die Steigbügel werden unter dem Pferd zusammengebunden. Nehmen Sie beide Longen an den Haken, und legen Sie eine so über die Sitzfläche des Sattels, dass der Haken auf der rechten Seite genau den Boden erreicht. Dann ziehen Sie den Haken der zweiten Longe (von hinten nach vorn) durch den linken Steigbügel und haken ihn am linken Trensenring fest. Dasselbe wiederholen Sie auf der rechten Seite und kehren wieder nach links zurück. Nehmen Sie nun beide Longen in die Hände, und gehen Sie seitlich rückwärts, ohne in die Gefahrenzone zu geraten. Lassen Sie das Pferd vorwärtsgehen und den rechten Zügel über die Flanken zu den Longen schwingen. Wenn Sie keine Erfahrung mit den Longen haben, lassen Sie es langsam angehen. Sie wollen jetzt über das Gebiß im Maul ein wenig kommunizieren. Das ist möglich, doch sollten Sie dabei große Vorsicht walten lassen. Es wäre ratsam, erst einmal intensiv mit älteren und erfahreneren Pferden zu üben, bevor man sich an ein junges, noch nicht eingerittenes Tier wagt. Denn bei mangelnder Erfahrung droht Ihnen und dem Pferd Verletzungsgefahr. Haben Sie bereits Erfahrung im Umgang mit den Longen, so fordern Sie Ihr Pferd nun auf, im leichten Galopp und im Trab im Zirkel zu gehen, sowohl links herum als auch rechts herum mit diversen Kehren und Stopps. Zum Abschluss bringen Sie das Tier mit abgewandtem Gesicht von der Ringmitte zum Stehen und fordern es auf, einen Schritt zurückzutreten. 364
In diesem Stadium ist das Pferd in den meisten Fällen bereit, einen Reiter zu tragen. Ob Sie selbst das sind oder jemand anderes, spielt keine Rolle. Überprüfen Sie noch einmal den Sitz von Sattel und Sattelgurt. Wenn nicht Sie selbst, sondern ein anderer Reiter aufsitzen soll, so lassen Sie diesen jetzt - selbstverständlich mit Helm - in den Longierring treten. Befestigen Sie eine Longe am linken Gebißring und geben ihm ein paar Minuten Zeit, sich mit dem Tier bekannt zu machen, ihm die Flanken zu reiben und es auch sonst so zu behandeln, wie Sie es getan haben. Ich persönlich helfe meinem Reiter jetzt auf das Pferd. Ich bitte ihn, sich zunächst mit dem Bauch über das Widerriststück am Sattel zu legen. Dann lasse ich das Pferd vorsichtig zwei oder drei Kreise linksherum gehen, dann ebenso lange rechtsherum. Fühlt es sich wohl und akzeptiert es den aufliegenden Reiter, führe ich dessen linken Fuß in den Steigbügel, während er sich in den Sattel setzt. Es folgen weitere Kreise in beide Richtungen. Zeigt Ihr Pferd keine Zeichen von Anspannung und akzeptiert den Reiter im Sattel, können Sie den Radius erweitern. Nehmen Sie vorsichtig die Longe ab, und helfen Sie dem Reiter, jeweils einen vollen Kreis rechtsherum und linksherum zu vollenden. Nicht galoppieren; Schritt und Trab genügen. Nach jeder vollendeten Runde bitte ich meinen Reiter, das Pferd einen Schritt zurückgehen zu lassen. Spielen Sie nicht den Helden. Hat Ihr Pferd heute keine Lust, einen Reiter zu tragen, dann probieren Sie es am nächsten oder übernächsten Tag noch einmal. Bedenken Sie, dass ich bei meinen Vorführungen nur deshalb das gesamte Programm auf einmal durchexerziere, weil die Zuschauer alles sehen wollen. Das heißt aber nicht, dass auch Sie ein solches Tempo vorlegen müssen. Mit meiner Methode sparen Sie so viel Zeit, dass Sie es sich leisten können, sich Zeit zu lassen. Das Wichtigste ist die Qualität Ihrer Arbeit, nicht das Tempo. Am Ende wollen wir alle ein gut erzogenes, zufriedenes und williges Pferd haben; danach wird man Ihre Arbeit beurteilen. Nun haben Sie das Ziel erreicht, das Sie sich gesteckt haben: Ihr Pferd akzeptiert Zaumzeug, Sattel und Reiter. Das Pferd sollte dabei NICHT traumatisiert werden und lieber freiwillig bei Ihnen bleiben, als von Ihnen wegzugehen. Denken Sie immer daran, Ihrem Tier seinen freien Willen zu lassen. HALTEN SIE ES NICHT FEST. Geben Sie 365
ihm vielmehr das Gefühl, dass es ihm bei Ihnen gutgeht, and lassen Sie ihm die Freiheit, wenn es von Ihnen fortstrebt. Fügen
Sie
ihm
keinen
Schmerz
zu
Gelingt Ihnen das Einreiten nach der hier geschilderten Methode, dann haben Sie mir dabei geholfen, diese Welt pferdegerechter zu machen. Mein Ziel ist es, dass die Welt, wenn ich sie eines Tages verlasse, für Pferde und Menschen schöner ist als zu Beginn meines Lebens. Wenn Sie mich dabei unterstutzen wollen und dazu Informationen über Kliniken, Tagungen, Ausbildungsvideos oder anderes pädagogische Material benotigen, dürfen Sie sich gern mit mir in Verbindung setzen: Telefon: (USA) 805/688-4264 Internet: www.MontyRoberts.com E-mail:
[email protected] Ich danke Ihnen! Monty Roberts
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EPILOG DER KREIS SCHLIESST
SICH
Seit meinem siebzehnten Lebensjahr habe ich mir immer gewünscht, irgendwann einmal mit einem Mustang in freier Wildbahn das JOINUP durchzuführen. Alle Welt erklärte mich für verrückt. Das sei viel zu gefährlich, hieß es. Einfach unmöglich. Das könne niemand. Ein selbstgewähltes Himmelfahrtskommando... Dennoch ging mir die Sehnsucht, mich in einem ganz bestimmten Punkt beweisen zu wollen, fünfundvierzig Jahre lang nicht aus dem Hinterkopf. Ich wollte zeigen, dass das JOIN-UP ein Augenblick echten Vertrauens und der Kommunikation zwischen Mensch und Wildpferd ist und dass es dazu weder eines Longierrings noch einer leichten Longe bedarf, sondern dass auch in offenem Gelände diese Art der Begegnung möglich ist. Als ich älter wurde, sagte ich mir insgeheim, nein, dazu wird es nie kommen. Man hat dir den halben Rücken wegoperiert, und du bist mittlerweile zweiundsechzig Jahre alt. Du würdest es ohnehin nicht mehr schaffen ... Und trotzdem ließ mich dieser Wunsch nicht los. Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien im Herbst 1996 in England. Sechs Monate später, im Februar 1997, eröffnete sich mir plötzlich die Gelegenheit, mein langersehntes Ziel zu erreichen oder es zumindest zu versuchen. Im vorliegenden Nachwort für die amerikanische, kanadische und deutschsprachige Ausgabe möchte ich meinen Lesern von diesem einmaligen Abenteuer erzählen. Alles begann mit der englischen Dokumentarfilmserie QED. Schon vor ungefähr drei Jahren hatte die BBC, die diese Serie ausstrahlt, eine halbstündige Sendung über das JOIN-UP gedreht. Jetzt bot man mir die für einen JOIN-UP-Versuch in freier Wildbahn erforderliche Unterstützung an. Als mir der Sender den Vorschlag unterbreitete, war allerdings höchste Eile geboten, denn der Film sollte noch im gleichen Jahr gedreht werden. Da die Klapperschlangen normalerweise im April ihr Winterquartier verlassen, kam nur noch der März für die Dreharbeiten in Frage. Damit ich auch nachts etwas sehen konnte, mussten wir uns überdies nach den Mondphasen richten. Wir zwängten also sämtliche Drehtermine in die letzte Märzwoche 1997, und für alle Beteiligten begann eine hektische Vorbereitungszeit. 369
Welcher Mustang sollte es sein? Die Frage erwies sich als ein Problem, das nicht unterschätzt werden durfte. Seit meinen beiden Nevada-Expeditionen in den fünfziger Jahren hatte sich die Situation grundlegend geändert. Die Mustangs sind heute in den Vereinigten Staaten eine geschützte Tierart. Nach einem vom Kongreß verabschiedeten Gesetz ist es verboten, sie in welcher Form auch immer zu behelligen. Sie sind Eigentum einer Behörde, die sich Bureau of Land Management (BLM) nennt, und es ist nicht erlaubt, sich ihnen dort, wo sie in freier Wildbahn noch vorkommen, zu nähern. Vergeblich erläuterte ich dem BLM meine Absichten. Man anerkannte zwar die Bedeutung meines Vorhabens, doch wenn man für mich eine Ausnahme mache, würde man künftig auch für andere Antragsteller das Gesetz brechen müssen. Mein Ansinnen wurde rundweg abgelehnt. Um dennoch an einen Mustang heranzukommen, musste ich einen »adoptieren«. Das hängt mit dem System des Herden-Managements zusammen. Von Zeit zu Zeit wird eine bestimmte Anzahl von Mustangs mit Hilfe von Hubschraubern im offenen Gelände von der Herde getrennt, am Hals mit ins Fell eingebrannten Registriernummern versehen und zur Adoption an anerkannte Halter freigegeben. Diese Mustangs werden nicht verkauft, sondern verlost. Der Bewerber, dessen Name aus dem Hut gezogen wird, kann bis zu vier Tiere auf einmal adoptieren. Ein auf diese Weise eingefangener Mustang ist nicht weniger wild als seine Artgenossen. Es ist, als habe man einen Löwen gefangen, nach London transportiert und auf dem Trafalgar Square freigelassen. Sein Adrenalinspiegel wird alle Rekorde brechen, denn das Erlebnis macht ihn völlig kopflos. Er wird sich kaum beruhigen lassen, sondern wahrscheinlich noch wilder sein als zuvor. Vor der Adoption kommt jedoch die Lotterie, und diese findet nicht jede Woche statt, sondern nur hin und wieder. Inzwischen war der Februar schon ziemlich weit fortgeschritten. Mir kam jedoch - Gott ist mein Zeuge! - der Zufall zu Hilfe:, Gerade als ich von QED die Finanzierungszusage erhalten hatte, kam ein Student zu mir auf die Flag Is Up Farms und erzählte mir, am nächsten Tag finde in Paso Robles eine Mustang-Adoption statt! Wir fuhren sofort los. Ich brauchte drei- bis fünfjährige Hengste, keine Stuten; denn letztere konnten trächtig sein. Unter den zweihundertzwanzig zur 370
Adoption freigegebenen Pferden fielen nur zwanzig in diese Kategorie. Wir warfen also Zettel mit unseren Namen in einen Hut. Nur zweiundfünfzig Glückliche würden an diesem Tag die Chance haben, Mustangs zu adoptieren. Die Namen wurden aufgerufen. Ich wartete. Nummer neunundvierzig kam. Wieder nichts. Ich wollte das gesamte Projekt aufgeben und nach Hause fahren. Nummer einundfünfzig - wieder ein anderer Name. Ich war drauf und dran, bei QED anzurufen und den Filmtermin abzusagen. Mein Name wurde als zweiundfünfzigster gezogen. Der letzte Glückliche im Hut. Ich brauchte drei Pferde: ein erstklassiges, das vor den Filmkameras eine brillante Figur machte, sowie zweifachen Ersatz. Die Reservepferde waren unerläßlich, da viele Dinge schiefgehen konnten, auf die ich keinen Einfluß hatte. Vielleicht verletzte sich der Mustang bei den Dreharbeiten und fing an zu lahmen. Vielleicht wurde er von einer Klapperschlange gebissen. Angesichts der finanziellen Mittel, die für den Versuch bereitgestellt wurden, ging man besser kein Risiko ein. Eine zweite Chance bekamen wir nur dann, wenn wir entsprechend vorbereitet waren. Ich sah mir die auf einer Koppel zusammengetriebenen Mustangs näher an und notierte mir drei eingebrannte Nummern. Nachdem alle anderen Bewerber ihre Wahl getroffen hatten, waren die drei von mir ausgesuchten Mustangs noch übrig. Aus unserem Projekt schien doch noch etwas zu werden! Meine drei Junghengste wurden in die Verladevorrichtung getrieben. Sie hatten keine Ahnung davon, dass sie von mir adoptiert worden waren, um an einem einmaligen Experiment teilzunehmen. Doch nun standen wir vor der nächsten Hürde: Ein solcher Mustang darf in seiner natürlichen Umgebung nicht wieder freigelassen werden, denn es ist verboten, die entsprechenden Gebiete des BLM zu betreten. Im Vertrag heißt es, dass die Pferde nur auf Privatland gehalten werden dürfen. Also musste ich die drei Mustangs auf eine Ranch bringen, die dem natürlichen Lebensraum der Pferde mehr oder weniger glich. Die Ranches dort oben in der Hochwüste sind über vierzigtausend Morgen groß. Das einzige, was sie von unberührter Wildnis unterschei37l
det, sind die Zäune, die das Gebiet in Abständen von rund zwanzig Kilometern durchschneiden ... Doch gerade diese Zäune erschwerten mir meine Aufgabe. Sie waren das Schlimmste, was mir zustoßen konnte, denn Mustangs kennen keine Zäune - und meiden sie deshalb auch nicht. Bei meinem Versuch, ein JOIN-UP in freier Wildbahn zu erreichen, musste ich mich also mit einer Notlösung zufriedengeben. Denn ich arbeitete in einem umzäunten Gebiet, so weiträumig und wild dieses ansonsten auch sein mochte. In Wirklichkeit war genau das Gegenteil der Fall. Ich sah mich mit einer Fülle von Problemen konfrontiert, die zu bewältigen zusätzliche harte Arbeit erforderte. Auch um eine neutrale Beobachterin kümmerte ich mich rechtzeitig. Ich heuerte eine Mitarbeiterin von Santa Barbara Wildwatch an. Nachdem die drei Mustangs ins Gelände gebracht und in halbwilde Ranchherden integriert worden waren, fuhr sie zweimal in der Woche hin und sah nach, ob sie in der Zwischenzeit auch wirklich nicht von Menschenhand geführt oder gebändigt worden waren. Ausgangspunkt für den Mustang erster Wahl war Pat Russells Ranch, The Chimeneas. Von dort aus suchte und fand ich eine zweite und eine dritte Ranch für die beiden Ersatzpferde. QED beauftragte darüber hinaus den Zoologen und Verhaltensforscher Dr. Bob Miller damit, das Unternehmen unter wissenschaftlichem Aspekt zu beobachten und im Film zu kommentieren. Auch er bestätigte, dass die drei Mustangs völlig wild waren. Dann erhielten wir eine Warnung: Die Klapperschlangen waren drei Wochen früher als sonst aus dem Winterschlaf erwacht. Die Dreharbeiten hatten noch nicht einmal begonnen, als zwei Pferde von ihnen gebissen und getötet wurden. Die Schlangen reagieren auf Körperwärme und sind in der Zeit nach Verlassen ihrer dunklen Winterquartiere besonders gereizt und unberechenbar. Eine Katastrophe schien sich abzuzeichnen. Wurde ein Mustang gebissen, kamen wir vielleicht noch mit dem ersten oder zweiten Reservepferd über die Runden. Auch ein Reitpferd ließ sich ersetzen; doch wenn es mich erwischte, war alles vorbei. Andererseits konnten wir die Schlangen auch nicht bitten, sich wieder zu verkriechen und ihren Winterschlaf um ein Weilchen zu verlängern! Wir machten einfach weiter. 372
Am Samstag, dem 29. März 1997, traf ich mich im Maverick Saloon in Santa Ynez mit der Filmcrew. Art Green's Band spielte zum Tanz auf, und zum großen Vergnügen der Filmleute verkündete der alte Dutch Wilson jedem, der es hören wollte, im breitesten Südstaatenakzent: »Total übergeschnappt, dieser Monty, der geht garantiert bei der Sache hops ... Wer von euch will den denn noch begleiten?« An jenem Abend fühlte ich mich so locker und entspannt wie schon lange nicht mehr. Selbst wenn es mit der Erfüllung meines Traums nicht klappen sollte, könnte ich immerhin sagen, dass ich es wenigstens versucht hatte! Ich hatte mich auf einen langen Ritt vorbereitet, der gut und gern ein, zwei Tage ohne Unterbrechung dauern konnte. Um die Innenseiten meiner Beine zu schützen, hatte ich ein Spezialpflaster auf die entsprechenden Körperpartien geklebt. Nach einer Stunde ist es verschwunden. Es ist wie eine zweite Haut. Marathonläufer kleben es sich auf die Fersen, und auch Triathleten benutzen es. Außerdem hoffte ich, mit halblangen Unterhosen, Elastikstrümpfen, Hosen und Chaps Hautabschürfungen während des Dauerritts vorzubeugen. Um keine Beschwerden mit meinem lädierten Rücken zu haben, nahm ich entzündungshemmende Mittel ein; für alle Fälle hatte ich ein Stützkorsett dabei. Am Samstagabend gegen halb zehn war es dann soweit: Ich bestieg den Transporter und fuhr mit meinen drei Pferden — Dually, Big Red Fox und The Cadet - nach The Chimeneas, dem Hauptquartier der Filmcrew und der ersten Ranch, die ich ausgewählt hatte. Im Morgengrauen des Ostersonntags ging es dann richtig los; während der kalten Nacht hatte ich im Laster geschlafen. Das Gebiet dort ist in jeder Hinsicht ein großes Land, ein Land, in dem die Anzeigenkampagnen für eine bekannte Zigarettenmarke entstehen. Die Morgensonne erfüllte alles mit Leben: Mir fielen die weißen Bienenstöcke für die Bienen auf, die sich von Beifußpollen ernährten. Die ausgetrockneten Flußbetten wurden von Ahornbäumen gesäumt, und auf dem staubigen Boden gediehen Agavengewächse sowie Kakteen. Fährt man mit dem Auto durch diese Gegend, kann es passieren, dass Bienen wie Hagelkörner auf die Windschutzscheibe prasseln. Taranteln sind so häufig, dass sie mitunter die Straße völlig bedecken. Ich selbst bin farbenblind und kann nur schwarzweiß sehen. Doch 373
ich weiß von Normalsichtigen, dass sich hier die Farben Ocker, gebranntes Orange, Schiefergrau, Kreideweiß und Rahmgelb mischen. An jenem Tag kam es zunächst darauf an, den Mustang von der Herde zu trennen. Fünf Reiterinnen und Reiter halfen mir dabei: Pat Russell, Cathy Twisselman und ihr Sohn Caleb, Barney Skelton und Scott Silvera. Unser Ziel war es, die Herde nach Westen zu treiben, dabei den Mustang zu isolieren und ihn zur Flucht in die entgegengesetzte Richtung, also nach Osten, in das weite, offene Land zu bewegen. Cathy Twisselman, eine meiner Schülerinnen, rettete unseren Film nicht nur bei dieser Aktion, sondern auch später noch einmal, als sie schnell genug war, den Mustang daran zu hindern, auf einen Zaun loszustürmen. Schließlich hatten wir es geschafft: Nachdem wir die Herde erfolgreich nach Westen abgedrängt hatten, trieb ich den Mustang über die Hochebene. Dabei wurden wir vom Hubschrauber aus gefilmt: ein schlanker, schneller Mustang mit fließenden, jugendlichen Bewegungen, dem ein alter, gut ausgepolsterter Cowboy hinterhergaloppiert. Im Longierring entspricht diese Verfolgungsjagd jener Phase, in der man das Pferd mit der leichten Longe auf die Kreisbahn schickt. Nach den psychologischen Gesetzen der Wildpferdherde war ich die Leitstute, die das junge Pferd vertreibt, um ihm zu zeigen, dass sie mit ihm unzufrieden ist und auf eine Respektbezeugung wartet. Der Unterschied bestand lediglich darin, dass diese Phase in der Natur nicht nur zehn Minuten, sondern voraussichtlich einen ganzen Tag dauerte. Ich hatte nicht damit gerechnet, welche Panik der Hubschrauber bei dem fliehenden Mustang auslöste. Im nachhinein ist mir klar, dass wir die Begleitung in der Luft von vornherein auf die ersten zwanzig Minuten hätten beschränken müssen. Danach hätte die Maschine abdrehen und uns eine Pause gönnen sollen. Wir hätten uns dann neu formieren und flexibel der jeweiligen Situation anpassen können. Statt dessen trieb uns der Hubschrauber beinahe ins Verderben. Wir legten am ersten Tag fast einhundertsechzig Kilometer zurück, wobei der Mustang über anderthalb Stunden seinen vollen Galopp durchhielt. Es war ein unvergeßlicher Ritt. 374
Ich versuchte, den Hubschrauber mit Handzeichen zum Abdrehen zu bewegen und brüllte beim Reiten ins Funksprechgerät. Doch die Verständigung klappte nicht so gut, wie wir uns das vorgestellt hatten. Das Funksprechgerät schlenkerte hin und her, und das weiße Hemd, das ich mir in die Jacke gesteckt hatte, um der Hubschrauberbesatzung damit Zeichen zu geben, wurde aus der Luft nicht gesehen. Außerdem verstand ich wegen des Motorenlärms nicht viel. Anderthalb Stunden im Galopp sind mörderisch. Einen Großteil der Zeit musste ich darüber hinaus im leichten Sitz zurücklegen, um den Rücken meines Pferdes zu schonen. Ich kannte das Gebiet nicht, und ein einziger Fehltritt konnte bei dieser Geschwindigkeit fatale Folgen haben. Zum Schluss betete ich nur noch darum, die Sonne möge endlich untergehen. Dieser Tag hatte es in sich. Ich ritt The Cadet, mein erstes Pferd, fast zuschanden; am Abend hatte es geschwollene Beine, war aber glücklicherweise von ernsten Verletzungen verschont geblieben. Hinzu kam die Angst vor den Zäunen. Doch in diesem Punkt erwies sich der Hubschrauber als sehr hilfreich, denn er überholte den Mustang rechtzeitig und hielt ihn auf. Zwanzig Kilometer lagen zwischen den einzelnen Zäunen. Doch Mustangs kennen keinen Stacheldraht, da sie ihn überhaupt nicht wahrnehmen. An diesem langen ersten Tag ernährte ich mich von getrocknetem Rindfleisch aus der Satteltasche und Wasser aus der Feldflasche. Die einzigen Erholungspausen waren die Wechsel von einem Reitpferd zum anderen. Es war ein wahnsinniges Rennen. Dann wurde es endlich dunkel, und der Helikopter flog nach Hause. Das nächste Ereignis zeigte mir, dass unser Projekt unter einem guten Stern stand: Ich entschied mich, während der Nacht Big Red Fox zu reiten. Dieses Pferd ist ein Vollblut mit beendeter Turfkarriere. Auf Flag Is Up kümmern wir uns darum, dass er für seine Besitzer, die ab und zu vorbeikommen und ihn reiten, in Form bleibt. Big Red Fox ist kein schönes Pferd, weshalb wir ihn untertags nicht vor der Kamera einsetzen wollten. Er rettete aber den gesamten Film - in der Nacht. Trotz Dunkelheit zeigte uns der Halbmond, wo sich der Mustang vor uns aufhielt. Das Gebiet war voller Dachsbauten, doch wir hatten Glück und traten in kein Loch. 375
Der Mustang wurde langsamer. Ich gewährte ihm eine Rast, damit er fressen und trinken konnte, blieb ihm aber auf den Fersen. Ich musste ihn unter Druck halten, so, wie ich das Wildpferd im Longierring von mir wegtreiben muß, bis es mir zu verstehen gibt, dass es sich mir anschließen will. Ich sorgte also dafür, dass sich der Mustang meiner Gegenwart stets bewußt war, drängte ihn langsam und vorsichtig von mir fort und hielt ihn so im Dunkel der Nacht unter Kontrolle. Meine Farbenblindheit erwies sich nun als Vorteil, denn nachts sehe ich besser als normalsichtige Menschen. Gegen Mitternacht zog Nebel auf und verdeckte den Mond. Es war pechschwarze Nacht. Ich konnte den Mustang nicht mehr sehen. Jetzt saß ich in der Klemme: Wenn ich ihn verlöre, fing das ganze Spiel noch einmal von vorn an. Doch Big Red Fox sorgte dafür, dass wir die Spur nicht verloren. Er blieb stehen, ging weiter, führte mich nach links, dann nach rechts, alles aus eigener Initiative. Er verfolgte den Mustang, als trüge dieser einen Minisender bei sich. Selbst wenn ich blind gewesen wäre, hätte ich den Mustang in der Schwärze der Nacht nicht verloren. Ich ließ die Zügel sinken, und Big Red Fox übernahm die Regie. Ab und zu blieben wir stehen. Dann sah ich mich um und starrte angestrengt in den Nebel, nur um plötzlich, keine zwei Meter von mir entfernt, den Mustang zu erspähen. Es war reine Magie. Die Haare in meinem Nacken sträubten sich. Big Red Fox blieb in unmittelbarer Tuchfühlung zu dem Mustang. Manchmal sah ich einen Schatten, durch den mich Big Red Fox hindurchführte - und wir standen vor dem Mustang. So verging die ganze Nacht; es war, als läge ein Zauber über der Landschaft. Gegen vier Uhr morgens zeigte sich ein Lichtschimmer am östlichen Horizont, und Big Red Fox wurde auf einmal schneller. Wir trabten, und als der Schimmer noch heller wurde, verfielen wir in leichten Galopp. Der Mustang unternahm einen letzten Versuch, uns abzuschütteln. Als gegen halb fünf der neue Tag anbrach, begann eine rasante Verfolgungsjagd über eine Strecke von fast fünfundzwanzig Kilometern. Es war der wildeste Ritt meines Lebens. 376
Keine Kamera hatte uns im Visier, und ich saß seit annähernd vierundzwanzig Stunden ununterbrochen im Sattel. Aber ich machte weiter. Es muß gegen fünf Uhr morgens gewesen sein, als Pat Russell, der auf einer Anhöhe wartete, mich durch seinen Feldstecher erblickte. Er sah mich in vollem Galopp auf das Talende zureiten. Durch einen glücklichen Zufall entdeckte er zur gleichen Zeit auch das Kamerateam, das sich von Nordosten her näherte. Pat ritt zurück und sagte den Filmleuten, wo sie mit mir rechnen konnten. Gegen Viertel vor sechs waren die Geländewagen der Filmcrew zur Stelle, und die Kamera wurde aufgebaut. Ich war noch ungefähr achthundert Meter entfernt, als die Dreharbeiten begannen. Noch immer jagte ich durch das Tal, auf dessen Grund tückische Senken und große Felsblöcke das Reiten ziemlich erschwerten. Doch dann galoppierten wir aus dem Tal hinaus in flacheres, offeneres Gelände, und das Terrain wurde leichter. Der Mustang wurde auf einmal langsamer. Wie sich herausstellte, war die flache Niederung am Ausgang des Tals eine Art Erholungszone für den Mustang. Hier wuchs hohes Gras, das er fressen konnte, ohne den Kopf zu sehr neigen zu müssen; er brauchte noch nicht einmal stehen zu bleiben. Außerdem gab es Wasser. Mustangs sind Überlebenskünstler: Die Stellen, an denen es sich wohl sein läßt, erkennen sie auf Anhieb. Und dann fing er an, mich anzusehen. Er akzeptierte meine Gegenwart, denn vor mir zu fliehen hatte nichts gebracht. Also musste er mich um Hilfe bitten. Es lag jetzt an mir, seine Sprache zu verstehen und ihm meinerseits zu signalisieren, dass ich zur Hilfe bereit war und auf seiner Seite stand. Der Zeitpunkt für einen JOINUP-Versuch war gekommen. Mit Hilfe einer starken Taschenlampe, mit der ich auch bei Helligkeit meine Position angeben konnte, machte ich das vereinbarte Zeichen für einen Pferdewechsel. Denn für die bevorstehende Aufgabe benötigte ich Dually. Caleb Twisselman brachte ihn mir, und ich wechselte von einem Tier aufs andere. Jetzt konnte ich »Equus«, die Sprache der Pferde, sprechen. Wenn der Mustang mir ein Ohr zuneigte und seine Nüstern senkte, nahm ich Dually sofort zurück und verringerte damit den Druck auf den Mustang. Ich ließ ihn gleichsam vom Haken. Entfernte 377
sich der Mustang hingegen, war Dually sofort wieder an ihm dran, trieb ihn vor sich her und machte ihm klar, dass wir die Stelle der Leitstute eingenommen hatten. Wie im Longierring kommunizierten Dually und ich mit diesem Wildpferd in der Sprache, die es verstand. Auf einem Pferd, das so gut ausgebildet ist wie Dually, konnte ich alle die in dieser Situation erforderlichen Bewegungen durchführen, um dem Mustang zu zeigen, dass er uns vertrauen konnte. Dually und ich bildeten eine Einheit. Seine Geschwindigkeit und die Genauigkeit seiner Reaktionen machten es möglich, dass er meine Kommandos mit größter Präzision umsetzte. Allmählich begann der Mustang uns zu folgen. Er versuchte, die Lage zu interpretieren. Noch nie hatte er etwas Vergleichbares erlebt, doch war er offenbar bereit, uns zu akzeptieren. Das JOIN-UP gelang. Es war wie Zauberei, als wir zusammen mit Caleb Twisselman ganz nah bei ihm standen und der Mustang uns gestattete, ihn zu berühren. Alles geschah ohne Lasso oder Longen und ohne jede Zwangsmaßnahme. Das Wildpferd war nervös und unruhig, und wir mussten jederzeit mit seiner Flucht rechnen. Doch sein Vertrauen zu uns war groß genug. Es war ein denkwürdiges Ereignis. Dieser Mustang, so Dr. Bob Miller, könne »auf fünf Meter Entfernung eine Fliege von einer Mauer treten«; er sei ein explosives, wildes Tier. Und doch war er aus eigenem, freiem Willen bereit, sich von Menschen berühren zu lassen. Dies war ein ganz besonderes Privileg. Inzwischen hatte ich auch einen Namen für ihn gefunden: Shy Boy. Nachdem uns dies gelungen war, wusste ich, dass nichts mehr schiefgehen konnte — abgesehen von einem Klapperschlangenbiß. Rund um den Globus hatte ich in befestigten Longierringen oft genug das JOIN-UP mit wilden Pferden vorexerziert. Jetzt wusste ich, dass es auch in der Natur klappte, in einem Longierring von annähernd zwanzig Kilometern Durchmesser. In gewisser Weise schloß sich nun mein Lebenskreis. Als Teenager hatte ich diese Pferde in freier Wildbahn beobachtet und dabei Dinge gesehen, von denen meiner Überzeugung nach kein Mensch etwas wusste. Ich hatte mich veranlaßt gesehen, meine Techniken insge378
heim zu entwickeln - und nun geschah es vor einem Fernsehteam, das sich keine Bewegung des Mustangs entgehen ließ. Dually war inzwischen von meinem Gewicht so erschöpft, dass ich zum drittenmal in sechsunddreißig Stunden das Pferd wechselte. Das vierte Tier gehörte nicht mir, sondern der Ranch. Es hieß George. Sofort bemerkten wir eine Veränderung, die auch Dr. Bob Miller nicht verborgen blieb: Der Mustang spürte, dass George in dieser Gegend zu Hause war, obwohl er ihn nie zuvor gesehen hatte. Aus dem, was die beiden Pferde gefressen und getrunken hatten, aus ihrem Geruch und ihrem Auftreten schloß er, dass George — im Gegensatz zu Dually — ein ähnliches Leben führte wie er selbst. Dies hatte zur Folge, dass der Mustang George entschieden mehr vertraute als Dually; er ließ mich näher an sich herankommen. Vorsichtig warf ich ein Lasso über seine Mähne, nahm das andere Ende auf und band es mit einem lockeren Knoten zusammen. Einmal riß Shy Boy den Kopf hoch und traf mich an der Hand; doch von dieser nervösen Reaktion abgesehen, ließ er sich leicht führen und bald beruhigen. Das sollte für den ersten Tag genügen. Shy Boy konnte sich erholen, die neuen Erfahrungen verarbeiten und in Ruhe grasen und trinken. Ich war heilfroh, im Buckhorn Hotel eine ordentliche Mahlzeit zu mir nehmen zu können - und ein wenig zu feiern. Trotz der sechsunddreißig Stunden im Sattel fühlte ich mich ausgezeichnet. Nicht einmal mein Rücken hatte protestiert, und ich hatte kein einziges Mal das Stützkorsett anlegen müssen. Als ich mich Schicht um Schicht aus den Kleiderlagen schälte, stellte ich fest, dass meine Haut dank des verwendeten Spezialpflasters völlig unversehrt geblieben war. In jener Nacht schlief ich in meinem Hotelbett wie ein Stein. Shy Boy hielt sich unterdessen nach wie vor in der Niederung am Ausgang des Tals auf. Die Pferde der anderen Reiter waren nicht weit weg, und er blieb gern in ihrer Nähe. In der Nacht wurde mehrmals nach ihm gesehen, doch ich war mir sicher, dass er sich nicht allzuweit entfernen würde. Am nächsten Morgen teilte man mir mit, Shy Boy sei in der Nacht ausgerissen und auf dem Highway von einem Auto überfahren wor379
den. Ich erstarrte vor Schreck Poch dann fiel mir ein, welches Datum wir hatten. April, April... Wir machten uns wieder an die Arbeit. Es war an der Zeit, den Sattelgurt anzulegen. Ich stieg vom Pferd und näherte mich Shy Boy zu Fuß. Das war der entscheidende Augenblick. Ich war jetzt nicht nur verletzlicher als vorher, sondern auch ein anderes Wesen als die Einheit Pferd/Mensch, der er am Tag zuvor sein Vertrauen geschenkt hatte. Aber alles ging glatt, wie im Lehrbuch. Mit Hilfe eines Drahts von 1,20 Meter Länge, an dessen anderem Ende ein Haken befestigt war, angelte ich mir die Schnalle unter seinem Bauch. Shy Boy musste lernen, dass es keine Schlange war. Der Sattel war eine völlig neue Erfahrung für ihn. Obwohl wir mit einem Kindersattel anfingen, muß er mich, als ich mit dem Sattel auf ihn zukam, für ein Raubtier gehalten und mit einer Menge Unannehmlichkeiten gerechnet haben. Dr. Bob Miller pflichtete mir bei: Wenn ich Shy Boy gleich den großen Westernsattel aufgelegt hätte, »hätte er bestimmt einen Anfall bekommen«. Unsere Vertrauensbasis wuchs immer mehr. Shy Boy lernte während dieses langen Tages, dass der Sattel keine große Raubkatze war und dass wir weder die Absicht hatten, ihm weh zu tun, noch ihn sonst in irgendeiner Weise einzuschränken. Insgesamt benötigten wir drei Sättel: einen kleinen, einen mittelgroßen und zum Schluss den großen Westernsattel. Jeder Schritt wurde sorgfältig geplant. Das Vertrauen zwischen uns war wie ein Baumwollfaden, der nicht riß. Der zweite Tag verging mit mühevoller, geduldiger Arbeit: Sattelgurt, erster Sattel, zweiter Sattel, dritter Sattel. Mit dem Davonlaufen der Flucht - war es ein für allemal vorbei; die Anspannung dagegen war eher noch größer geworden. Am nächsten Tag, dem 2. April 1997, lernte ich Shy Boy besser kennen. Er war ein intelligentes und - bis zu einem gewissen Grad - auch tolerantes Pferd. Nur außerhalb seiner arteigenen Sprache fühlte er sich nicht wohl. Außerdem arbeiteten wir an diesem Tag daran, das mit dem Sattel bereits Erreichte zu festigen und Shy Boy an Zaumzeug zu gewöhnen. 380
Dann war es an der Zeit herauszufinden, wie gefährlich dieser Mustang noch war. Scott Silvera sollte ihn als erster reiten. Gerne wäre ich selbst der erste Reiter auf seinem Rücken gewesen. Aber das konnte ich weder ihm noch mir zumuten. Ganz abgesehen davon, dass ich schwerer bin als ein junger Mann, musste ich an mein Alter und die Gefahren denken, die sich daraus für mich und das Pferd ergeben konnten. Als Scott Silvera auf Shy Boy zuging und seinen Fuß in den Steigbügel setzen wollte, verlangten wir noch erheblich mehr Vertrauen von ihm als ohnehin schon. Ein anderer Mensch mit anderem Geruch auf seinem Rücken bedeutete für Shy Boy eine völlig neue Situation und Belastung. Bei Scotts erstem Versuch sprang Shy Boy zurück und schlug mit den Vorderhufen aus. Für jeden von uns kam es nun darauf an, die größtmögliche innere Ruhe zu bewahren und ohne jede Hast vorzugehen. Diese Pferde brauchen nämlich viel Geduld. Gibt man ihnen zu verstehen, man hätte nur eine Viertelstunde Zeit, dauert es einen ganzen Tag. Tut man dagegen so, als habe man den ganzen Tag Zeit, dauert es nur eine Viertelstunde. Endlich gelang es Scott, den Fuß in den Steigbügel zu bringen. Vorsichtig schwang er sich über den Pferderücken - und setzte sich in den Sattel. Für mich war dies ein aufregender Moment, auf den ich voll Spannung mein Leben lang gewartet hatte. Und nun war es wie eine Explosion. Mein Traum war wahr geworden, und die Realität glich einem Geschenk. Es war ein Moment großen Glücks, und ich spürte, dass ich etwas längst Begonnenes endlich abgeschlossen hatte. Ich wusste, was wir vollbracht hatten. Anderthalb Stunden lang führte Scott Silvera mit Shy Boy ein behutsames Training durch. Er ritt ihn im Schritt, wendete ihn, ließ ihn traben, und nach jeder Übung richtete er das Pferd einen Schritt zurück. Zum Schluss ritt Scott Silvera Shy Boy auf die Ranch von Pat Russell, The Chimeneas. Als ich vor fünfundvierzig Jahren nach meinen Erlebnissen in Nevada nach Hause zurückkehrte und meinem Vater sowie anderen erfahrenen Reitern erzählte, was ich bei der Beobachtung der Wildpferdherden herausgefunden hatte, war ich auf völlige Verständnislosigkeit und Ablehnung gestoßen. 381
Diesmal kehrten wir unter dem Jubel unserer Freunde und Kollegen zurück. Alle gratulierten uns. Außerdem war das Ereignis im Film festgehalten worden. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Den Filmleuten gelang es sogar, den alten Zyniker aus dem Maverick Saloon in Santa Ynez vor die Kamera zu bringen. Als er sah, dass wir erfolgreich aus der Wildnis zurückgekehrt waren, meinte er nur: »Na ja, wenn man einen Mann auf den Mond schicken kann, wird Monty ja wohl auch einen Mustang heimbringen können.«
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DANKSAGUNG Ich habe mich bei meiner Frau Pat sowie bei all meinen Kindern und engen Freunden dafür zu bedanken, dass sie mir den Freiraum ließen, den ich brauchte, um dieses Buch zu schreiben. Mein besonderer Dank gilt Pat für ihre monatelange Mühe beim Lesen, Kritisieren und Abschreiben des Manuskripts. Auch anderen, die an der Entstehung dieses Buches beteiligt waren, schulde ich Dank: Sue Freestone, meiner Lektorin, die mich von Anfang an bei diesem Ausflug in die Welt der Literatur voller Begeisterung unterstützt hat; Sam North, der um die halbe Welt gereist ist, um meinem Text in mehreren Wochen sorgfältiger Arbeit den letzten Schliff zu verleihen; Jane Turnbull, meiner begeisterungsfähigen und stets hilfsbereiten Literaturagentin, die immer an mich geglaubt hat; Kelly Marks, die in England alles so hervorragend für mich organisiert hat; und meinen Kunden, die mir bei der Durchführung dieses Projekts zur Seite gestanden haben: Sir Mark Prescott, Henry Cecil, Walther J. Jacobs und Dr. Andreas Jacobs. Ganz besonders dankbar bin ich selbstverständlich Ihrer Majestät Königin Elizabeth II., die meine Arbeit ins Rampenlicht rückte, und Sir John Miller, der die Verbindung zum Königshaus knüpfte, sowie Terry Pendry, meinem Freund, der mich mit großem Engagement unterstützt hat. Anerkennung verdienen auch meine neun Schüler, die es zu »fortgeschrittenen Profis« gebracht haben: Crawford Hall, Sean McCarthy, Kelly Marks, Richard Maxwell, Terry Pendry, Tim Piper, Satish Seemar, Simon Stokes und Hector Valadez.
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Der Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach, dankt Pat Roberts für die freundlicherweise erteilte Genehmigung, ihre Zeichnung Equus, das Fluchttier in diesem Buch als Illustration verwenden zu dürfen. Sämtliche Fotos stammen, wenn nicht anders vermerkt, aus dem Privatarchiv von Monty Roberts, Solvang, Kalifornien. Foto Vor- und Nachsatz: Copyright © 1997 by Christopher Dydyk, Solvang, Kalifornien. Copyright © 1996 by Monty Roberts Titel der Originalausgabe: The Man Who Listens To Horses Originalverlag: Hutchinson / Random House (UK) Limited, London SWiV 2SA © 1997 für die deutsche Ausgabe bei Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach Ins Deutsche übertragen von Till R. Lohmeyer, Ulrike Maier und Christel Rost Umschlagentwurf: KOMBO KommunikationsDesign GmbH, Köln, unter Verwendung eines Fotos von Kathi Lamm / TONY STONE Bilderwelten, München Satz: Typo Forum Groger, Singhofen Gesetzt aus der Minion Regulär, Italic, Black Druck und Einband: Clausen & Bosse, Leck Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdruckliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form reproduziert oder übermittelt werden, weder in mechanischer noch in elektronischer Form, einschließlich Fotokopie. Printed in Germany ISBN 3-7857-0904-8 10 9 8