Jean-François Revel / Matthieu Ricard
Der Mönch und der Philosoph Buddhismus und Abendland
Ein Dialog zwischen Vater u...
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Jean-François Revel / Matthieu Ricard
Der Mönch und der Philosoph Buddhismus und Abendland
Ein Dialog zwischen Vater und Sohn
Kiepenheuer & Witsch
1. Auflage 2003 Titel der Originalausgabe: Le moine et le philosophe © b y Jean-FranÇois Revel, Matthieu Ricard et NiLeditions, Paris 1997 Aus dem Französischen von Christoph Vormweg © 1999, 2003 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung: Barbara Thoben, Köln Umschlagfoto: © photonica/Johner Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindearbeiten: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-462-03239-9
Inhalt
9 17 40 72 103 140 173 197 215 229 242 261 273 284 292 307 325 334 337 351 375 381
Einleitung Von der wissenschaftlichen Forschung zur spirituellen Suche Religion oder Philosophie? Das Phantom in der Black box Eine Wissenschaft des Geistes? Buddhistische Metaphysik Wirkung auf die Welt, Wirkung auf sich selbst Buddhismus und Abendland Religiöse Spiritualität und laizistische Spiritualität Woher kommt die Gewalt? Weisheit, Wissenschaft und Politik Rote Fahne auf dem Dach der Welt Der Buddhismus: Niedergang und Renaissance Glaube, Ritual und Aberglaube Der Buddhismus und der Tod Das Individuum als König Buddhismus und Psychoanalyse Kulturelle Einflüsse und spirituelle Tradition Fortschritt und Neuerung Der Mönch befragt den Philosophen Fazit des Philosophen Fazit des Mönchs
Einleitung von Jean-François Revel
Wie ist die Idee zu diesem Buch entstanden? Woher kam u n s e r Bedürfnis, es zu m a c h e n ? Und w o h e r das einiger Wohlgesonnener, uns - wie m a n in der Politik sagt - freundschaftlich zu drängen, d a r a n zu denken? Wenn ich diese Einleitung allein schreibe, so aus syntaktischer Bequemlichkeit. Es ist sehr schwierig, ein Thema, für das sich zwei Personen gleichermaßen, a b e r aus unterschiedlichen Gründen interessieren, ohne schwerfällige, langwierige Umschreibungen einzugrenzen. Die komplexe, zweifache intellektuelle Realität sollen die folgenden Gespräche herausarbeiten und nach und nach ausleuchten. Wenn ich auch der Verfasser dieser Einleitung bin, so ist Matthieu doch ihr Koautor, denn wir haben vorher gemeinsam über sie gesprochen, und er hat sie noch einmal gelesen und korrigiert oder gemäß seiner Sicht der Dinge vervollständigt. Zur Vermeidung u n e r w ü n s c h t e r R e d u n d a n z e n wollen wir nicht vorwegnehmen, was in den Gesprächen ausführlich entwickelt wird, sondern n u r die beiden spirituellen und persönlichen Werdegänge resümieren, von denen der zündende Funke a u s g e g a n g e n ist. Mein Sohn Matthieu Ricard, geboren 1946, hat nach dem Besuch des Gymnasiums Janson-de-Sailly mit glänzendem Erfolg Molekularbiologie studiert. 1972 hat er sich habilitiert. Der Vorsitzende der Prüfungskommission war der weithin bekannte Nobelpreisträger Frangois Jacob, unter dessen Leitung er seine Forschungen d u r c h g e f ü h r t und etliche J a h r e am Institut Pasteur gearbeitet hatte. Danach teilte Matthieu seinem Lehrer und mir die für uns sehr beunruhigende Neuigkeit mit, daß er vorhabe, die wissenschaftliche Forschung aufzugeben und nach Asien zu gehen, um dort den Unterweisungen der buddhistischen Rinpoches aus Tibet zu folgen. 9
Eine totale V e r ä n d e r u n g seiner Existenz, die ihn dahin bringen sollte, selbst ein buddhistischer Mönch zu werden. Was mich betrifft, so hatte ich die universitäre Laufbahn eingeschlagen, mit Literatur und Philosophie als Schwerpunkt. Nach etlichen Jahren als Philosophiedozent hatte ich die Universität 1963 verlassen, um mich ganz meiner neuen Arbeit als Schriftsteller und Leitartikler zu widmen. Die Philosophie, von der mehrere meiner Bücher handeln*, gab ich deshalb aber nicht auf. Und ich habe im Gegensatz zu vielen anderen Philosophen immer großes Interesse für die Entwicklung der Wissenschaft empfunden. Daher meine Befriedigung, einen hochkarätigen Forscher als Sohn zu haben, und daher meine Enttäuschung, als ich sah, wie er seiner Arbeit nach mehr als vielversprechendem Beginn ein abruptes Ende setzte. Meine persönlichen, völlig irreligiösen, atheistischen Positionen ließen mich den Buddhismus zudem nicht sonderlich ernst nehmen, ohne daß ich ihn - das versteht sich von selbst - deshalb verachtet hätte. Denn unter den spirituellen Lehren nimmt er nun einmal einen geläuterten Platz ein, was ihm übrigens die Achtung einiger der anspruchsvollsten abendländischen Philosophen eingebracht hat. Trotz meiner vorübergehenden Verstimmung bin ich mit Matthieu daher nie »verkracht« gewesen. Wir haben nicht einmal auf gespanntem Fuß miteinander gestanden. Diesen anekdotischen Hinweis gebe ich nur, weil sich 1996 etliche Fernsehsendungen und Zeitungsartikel mit dem Buddhismus und mit Matthieu befaßten - sei es anläßlich der Veröffentlichung seines Buches über seinen spirituellen Meister Dilgo Khyentse**, sei es wegen der Frankreich-Reise des Dalai Lama, auf der er ihn begleitete - und fast überall verbreitet w u r d e , wir h ä t t e n uns seit zwanzig J a h r e n nicht gesehen und das Buchprojekt kündige unser Wiedersehen, * I n s b e s o n d e r e die Histoire de la philosophie occidentale de Thaies ä Kant ( G e s c h i c h t e d e r a b e n d l ä n d i s c h e n P h i l o s o p h i e von T h a i e s bis Kant), NiL e d i t i o n s , P a r i s 1 9 9 4 , s o w i e Pourquoi des philosophes? ( W a r u m Philosop h e n ? ) . Laffont, Bouquins 1997. ** L'Esprit du Tibet (Der Geist Tibets). Das Leben und die Welt von Khyentse Rinpoche. Photos und Text von Matthieu Ricard, Editions du Seuil, Paris 1996.
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um nicht zu sagen unsere Versöhnung an. Das ist frei erfunden und entspricht in keiner Weise den Tatsachen. Wir h a b e n nie aufgehört, uns zu sehen, soweit es die Entfern u n g und die Reisekosten zuließen. Bereits 1973 bin ich nach Darjeeling in Indien gereist, wo er bei seinem spirituellen Meister lebte, später dann nach Bhutan, nach Nepal etc. ... Die einzigen Unwetter, die sich je über unseren Köpfen z u s a m m e n g e b r a u t h a b e n , w a r e n die des asiatischen Monsuns. Im übrigen konnte Matthieu mit der Zeit durch die immer häufigeren Reisen im Dienste der zunehmenden Verbreitung des Buddhismus im Westen ziemlich regelmäßig n a c h Europa kommen. Als Begleiter und Dolmetscher des Dalai Lama nahm die Zahl seiner Reisen noch zu, zumal n a c h d e m dieser den Friedensnobelpreis e r h a l t e n hatte. Die Ausbreitung des Buddhismus ist das unvorhergesehene Phänomen, das mit dazu beigetragen hat, uns auf die Idee zu einem Gespräch über das Thema »Der Buddhismus und das Abendland« zu bringen. Im übrigen ist das der Titel, den wir unserem Dialog zunächst geben wollten, bis unsere Verlegerin, Nicole Lattes, einen weit besseren fand: Der Mönch und der Philosoph. Worauf beruht genau der Buddhismus? Antworten zu diesem Fragenkomplex fielen vor allem Matthieu zu. Warum gewinnt der Buddhismus heute so viele Anhänger und erregt so viel Neugier in der westlichen Welt? Das Aufstellen erklärender Hypothesen hinsichtlich dieser spirituellen Expansion k a m eher mir zu. Hat sie ihre Ursache in den jüngsten, vielleicht enttäuschenden Fortentwicklungen der abendländischen Religionen und Philosophien sowie unserer politischen Systeme? Der Inhalt unseres Meinungsaustausches - das versteht sich von selbst - bekommt seine besondere Bedeutung dadurch, daß er sich nicht zwischen einem westlichen Philosophen und einem orientalischen Weisen abspielt, sondern vielmehr zwischen einem westlichen Philosophen und einem aus dem Westen stammenden, orientalisch geschulten Mönch, der überdies von Haus aus Wissenschaftler ist, in der Lage, die beiden Kulturen durch sich und in sich 11
auf höchstem Niveau einander gegenüberzustellen. Seine wissenschaftliche Strenge hat Matthieu nämlich gewissermaßen auf das Studium der tibetischen Sprache und Tradition angewandt und die grundlegenden, alten wie modernen heiligen Texte des tibetischen Buddhismus in den letzten zwanzig Jahren zusammengestellt, ediert und übersetzt. Zumindest die noch vorhandenen Texte. Denn die chinesischen Kommunisten haben, wie jeder weiß, ganze Bibliotheken vernichtet, mitsamt den etwa sechstausend Klöstern, die sie beherbergten. Massaker und Zerstörungen b e g a n n e n 1950 mit der chinesischen Invasion in Tibet, das 1951 annektiert wurde, und verschärften sich in der Zeit der Repression nach dem niedergeschlagenen tibetischen Volksaufstand im Jahre 1959 und später während der Kulturrevolution. 1959 verließen der Dalai Lama und mehr als h u n d e r t t a u s e n d Tibeter ihr Land, um nach Indien oder in die Königreiche des Himalaya zu emigrieren, bevor sie sich über die ganze Welt zerstreuten. Der kommunistische Kolonialismus duldet keine andere Ideologie als die seine, duldet keine intellektuelle, geistige und künstlerische Freiheit. Er verwandte nicht nur eine erbarmungslose Hartnäckigkeit darauf, die natürlichen Reichtümer Tibets schamlos zu plündern, sondern auch die Kultur bis hin zur Sprache zu zerstören. Weit davon entfernt, mit der Zeit nachzulassen, ist die chinesische Auslöschung des tibetischen Volkes und seiner Kultur während der achtziger J a h r e trotz der angeblichen »Liberalisierung« unter Maos Nachfolgern fortgesetzt worden. Auch wenn es nach 1980 weiterhin Folterungen und Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren gegeben hat, so ist jedoch nicht zu leugnen, daß die Vernichtung nicht mehr zu vergleichen war mit der w ä h r e n d der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre, als eine Million Tibeter, ein Fünftel der Bevölkerung, ausgerottet worden sind. Die Zerstörung der Kultur geht allerdings weiter. Die Liberalisierung ist - aus Pragmatismus und im Bemühen um eine Verbesserung der materiellen Situation - auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt geblieben. Über diese Grenzen hinaus gibt es keine Freiheit in China, nicht einmal für die Chinesen. Die Nachfolger Maos 12
wenden in Tibet die alte Methode des stalinistischen Kolonialismus an und besiedeln die fremden Regionen mit ihren eigenen Staatsangehörigen, bis sie den Einheimischen zahlenmäßig überlegen sind. Ich kann nicht leugnen, daß meine Empörung über das Martyrium des tibetischen Volkes mit dazu beigetragen hat, mein Interesse für den Buddhismus zu verstärken. Hinzu kam noch ein anderer, offensichtlicherer Gefühlsgrund: das Wissen, daß mein Sohn ihn angenommen hatte. Ich wollte die Gründe für seine Entscheidung und ihre Folgen besser begreifen. Der chinesischen Politik habe ich 1983 in meinem Buch Comment les democraties finissent* etliche Seiten gewidmet, die zum großen Teil auf Matthieus Informationen basierten. Ich wollte den Genozid am tibetischen Volk, der seit fast drei J a h r z e h n t e n andauerte, ohne daß sich die Weltöffentlichkeit erregte oder auch nur informiert wurde, einmal detailliert beschreiben. Daß dieses kleine, isolierte, seinen großen N a c h b a r n nicht im mindesten b e d r o h e n d e , friedliebende Hirtenvolk, das sich mit einer Spiritualität identifizierte, die keinerlei Bekehrungseifer an den Tag legte, vom stalinistisch-maoistischen Marxismus zum Gegenstand eines derartigen Vernichtungsunternehmens gemacht worden war, schien mir ein Sinnbild unseres nahezu von Anfang bis Ende von der totalitären Logik durchdrungenen Jahrhunderts zu sein. Obwohl es lange schwierig war, Informationen über Tibet zu erhalten, gab es sie doch. Bereits 1959 schrieb Claude L a n z m a n n - der s p ä t e r e Regisseur von Shoah, einem der Meisterwerke des Kinos und der Geschichte unserer Zeit - im damaligen Prunkstück der anspruchsvollen französischen Frauenpresse, dem Magazin Elle, einen langen Artikel mit dem Titel »Das geheime Leben des Dalai Lama«**. Noch im selben J a h r m u ß t e dieser emigrieren, um der Versklavung, ja dem Tod zu entrinnen. In den fol* Titel d e r d e u t s c h e n A u s g a b e : So enden die Demokratien. Aus d e m F r a n z ö s i s c h e n von Ulrich F r i e d r i c h Müller. P i p e r Verlag, M ü n c h e n / Z ü r i c h 1 9 8 4 . Ü b e r s e t z t in die wichtigsten e u r o p ä i s c h e n S p r a c h e n . ** Elle, Nr. 6 9 6 , 27. April 1959.
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genden fünfzehn bis zwanzig J a h r e n wurde die tibetische Frage jedoch u n t e r den Teppich gekehrt - a u f g r u n d der Selbstzensur eines dem maoistischen Götzendienst frönenden Westens, der der Kritik des kommunistischen China keine Aufmerksamkeit schenken wollte. Die Erinnerung an die Verbrechen der chinesisch-kommunistischen Barbarei lenkt uns keineswegs vom T h e m a der Gespräche zwischen »dem Mönch und dem Philosop h e n « ab. Der verlängerte Auslandsaufenthalt des Dalai Lama und zahlreicher a n d e r e r Lamas, spiritueller Meister und tibetischer Rinpoches ist nämlich die Ursache f ü r die verstärkte Verbreitung des Buddhismus im Westen, da er, geographisch gesehen, den Zugang der westlichen Völker zur authentischsten Unterweisung in die Lehre erleichtert hat. Einer Unterweisung, die nicht m e h r bücherbezogen, theoretisch und indirekt, sondern lebendig ist, die aus erster Hand kommt, aus der Quelle selbst, von ihren herausragenden Spendern. Die Prüfungen, die der chinesische Kommunismus auferlegt hatte, brachten a u ß e r d e m das politische Talent des Dalai Lama zum Vorschein. Um der Unterjochung seines Volkes ein Ende zu setzen, hat er China niemals andere Lösungsvorschläge unterbreitet als realistische, maßvolle und gewaltlose. Überdies zielen sie auf eine Demokratisierung Tibets ab, was dem Westen, wenn nicht sogar den Besatzern gefallen dürfte. Stets ist er mit freundlichem Scharfsinn im Kreis der Entscheidungsträger der westlichen Demokratien aufgetreten, obwohl er wußte, daß sie vor ängstlicher Unterwürfigkeit gegenüber den empfindlichen Pekinger Bürokraten wie gelähmt waren. Das Abendland hat sich den Buddhismus - einer früher weitverbreiteten Auffassung zufolge - lange als eine Weisheit der Passivität, der Untätigkeit und des »Nirvana« vorgestellt, das als Indolenz gegenüber dem Selbst definiert wurde, als eine Weisheit, die gleichgültig sei gegenüber der Verwaltung von Staat und Gesellschaft. Heute sieht man, daß dem nicht so ist. Wie die meisten abendländischen Philosophien verfügt auch der Buddhismus über eine humane, soziale und politische Dimension. 14
Das sind, kurz gefaßt, die Umstände und Motive, die Matthieu und mich dazu gebracht haben, uns gegenseitig unsere Fragen und unsere Neugier entgegenzuhalten, um die Übereinstimmungen zwischen uns auszuleuchten, ohne die Meinungsverschiedenheiten zu verschleiern. So k a m es, daß die folgenden Gespräche im Mai 1996 in Hatiban, Nepal, stattfanden, in der Abgeschiedenheit einer hoch oben auf einem Berg über Katmandu gelegenen Gegend.
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Von der wissenschaftlichen Forschung zur spirituellen Suche JEAN-FRANgois - Ich glaube, als erstes müssen wir hervorh e b e n , d a ß die Idee zu diesem Buch w e d e r von Dir noch von mir s t a m m t . Der Vorschlag ist von Verlegern gekommen, die in Kenntnis Deines Werdegangs und u n s e r e r verwandtschaftlichen Bindung gedacht h a b e n , es sei interessant, unsere Standpunkte einander gegenüberzustellen. Ursprünglich hast Du, um das noch einmal klarzustellen, mit g l ä n z e n d e m Erfolg Biologie studiert, bist Schüler von Frangois Jacob gewesen, hast etliche J a h r e als Forscher am Institut Pasteur gearbeitet und an der naturwissenschaftlichen Fakultät von Paris vor einer Prüfungskommission mit Frangois Jacob und a n d e r e n Biologen von Rang den Grad eines habilitierten Doktors der N a t u r w i s s e n s c h a f t e n erlangt. Der Reiz u n s e r e r vielen Gespräche liegt also darin, d a ß Du j e m a n d bist, der eine e u r o p ä i s c h - a b e n d l ä n d i s c h e wissenschaftliche Ausbildung auf höchstem Niveau hat und der sich nach oder schon w ä h r e n d des Studiums dem Buddhismus, dieser aus dem Orient s t a m m e n d e n Philosophie oder Religion, zugewandt hat. Um es g e n a u zu sagen: Du hast Dich ihr nicht zugewandt, um eine existentielle Ergänzung oder einen spirituellen Zusatz zu einer n a c h westlichen Kriterien n o r m a l v e r l a u f e n e n beruflichen L a u f b a h n zu finden, sondern um Dich nach Aufgabe dieser Laufbahn voll und ganz der Praxis des Buddhismus zu widmen. Meine erste Frage ist daher: »Wann und w a r u m hat dieser Entschluß in Dir zu keimen begonnen?« M A T T H I E U - Meine wissenschaftliche Laufbahn hat ihren Ursprung in meiner Entdeckungsleidenschaft gehabt. Alles, was ich danach getan habe, stellt in keiner Weise eine Verw e r f u n g der in vielerlei Hinsicht fesselnden wissenschaftlichen Forschung dar, sondern ist das Ergebnis der Feststellung, d a ß sie u n f ä h i g ist, die g r u n d l e g e n d e n F r a g e n des 17
Daseins zu lösen. Kurz, so i n t e r e s s a n t die Wissenschaft auch ist, sie genügte nicht, um meinem Leben einen Sinn zu geben. Ich bin dahin gelangt, die Forschung, so wie ich sie erlebte, als eine endlose Verzettelung in Detailfragen anzusehen, und konnte mir nicht m e h r vorstellen, ihr mein ganzes Leben zu widmen. Ausgelöst w u r d e dieser Wandel zugleich durch ein w a c h s e n d e s Interesse am spirituellen Leben, an einer »kontemplativen Wissenschaft«. Anfangs war mir dieses Interesse nicht eindeutig bewußt, da ich vollkommen areligiös erzogen worden bin und nie praktizierender Christ war. Trotzdem empfand ich als Außenstehender eine Art Ehrfurcht, wenn ich eine Kirche betrat oder einem Geistlichen begegnete. Über die Religion selbst wußte ich aber nichts. In meiner Jugend habe ich einige Bücher über verschiedene spirituelle Traditionen gelesen. Über die Christenheit, den Hinduismus, den Sufismus, doch p a r a d o x e r w e i s e wenig über den Buddhismus, denn damals, in den sechziger Jahren, gab es kaum zuverlässige Übersetzungen buddhistischer Texte. Die wenigen vorhandenen Aufsätze und Übersetzungen spiegelten die unbeholfene und verzerrende Weise wider, in der das Abendland den Buddhismus im letzten Jahrhundert wahrgenommen hat: als eine nihilistische Philosophie, die die Gleichgültigkeit gegenüber der Welt predigt. Dank meinem Onkel, dem Seefahrer Jacques-Yves Le Toumelin, habe ich aber auch die Schriften des französischen Metaphysikers Rene Guenon entdeckt. All das hat meine intellektuelle Neugier für die Spiritualität geschürt und genährt, ohne daß diese Neugier konkrete Auswirkungen gehabt hätte. Das blieb bei mir sehr intellektuell. J. F. - In welchem Sinne intellektuell? M. - Diese sinnträchtigen L e s e e r f a h r u n g e n f ü h r t e n in meinem Fall, abgesehen von einer tiefen Befriedigung und einer Öffnung des Geistes, zu keiner inneren Wandlung. J. F. - Und in welchem Alter hast Du die Texte gelesen? M. - Oh... etwa mit fünfzehn. Ich hatte auch die gesammelten Gespräche mit R a m a n a Maharshi gelesen, einem 18
indischen Weisen, dem man nachsagte, er sei zur inneren Erkenntnis der ä u ß e r s t e n Natur des Geistes, der NichtDualität, gelangt. Doch was mein Interesse für den Buddhismus geweckt hat ... das war 1966 ... J. F. - Da warst Du zwanzig J a h r e alt. M. - Ich w a r noch an der N a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Fakultät, kurz vor meinem Wechsel ans Institut Pasteur, als ich einem Freund, Arnaud Desjardins, beim Schnitt seiner Filme über die großen tibetischen Meister zugesehen habe, die sich nach ihrer Flucht vor der chinesischen Invasion auf die Südhänge des Himalaya zwischen Kaschmir und Bhutan zurückgezogen hatten. In Begleitung eines ausgezeichneten Beraters und Dolmetschers hatte Arnaud die Meister auf zwei Reisen über m e h r e r e Monate hinweg in ihrer vertrauten Umgebung gefilmt. Es w a r e n sehr beeindruckende Filme. Zur gleichen Zeit kam ein anderer Freund, der Arzt Leboyer, ebenfalls au£ Darjeeling zurück, wo er einigen von diesen Weisen begegnet war. Ich hatte gerade meine Halbjahresprüfung abgelegt und bis zum Beginn meiner Forschungsarbeit sechs Monate Ferien. Ich dachte daran, eine große Reise zu machen. Es w a r die Zeit der »Hippies«, die sich in ihren 2CVs oder per Anhalter über die Türkei, Iran, Afghanistan und Pakistan in Richtung Indien a u f m a c h t e n . Mich zogen die Kampfsportarten an, und ich hatte erwogen, nach J a p a n zu reisen. Aber der Anblick der Bilder, die Arnaud und Frederick Leboyer mitgebracht hatten, die wenigen Worte dieser Freunde, die Beschreibung, auf w a s sie im Himalaya gestoßen waren ... all das hat mich veranlaßt, lieber dorthin zu fahren. J. F. - Also der Film von Arnaud Desjardins. M. - Es gab verschiedene, Le Message des Tibetains (Die Botschaft der Tibeter) und Himalaya terre de serenite (Himalaya, Land der Ruhe) [darin Les Enfants de la Sagesse (Die Kinder der Weisheit) und Le Lac des Yogis (Der See der Yogis)], insgesamt vier Stunden. Man konnte in den Filmen lange die großen spirituellen Meister sehen, die gera19
de aus Tibet gekommen waren ... ihre äußere Erscheinung, die Art, wie sie redeten, wie sie unterrichteten. Das war ein lebendiges, äußerst inspirierendes Zeugnis. J. F. - Sind die Filme im Fernsehen ausgestrahlt worden? M. - Von 1966 an mehrfach, und sie sind vor kurzem als Videokassetten neu h e r a u s g e b r a c h t worden*. Es sind außergewöhnliche Dokumente. J. F. - Waren die tibetischen Meister während der Kulturrevolution geflüchtet, als sich die chinesische Repression in Tibet erneut verstärkte? M. - Tatsache ist: Wer vor ihnen fliehen konnte, hat das schon viel früher, in den fünfziger J a h r e n , getan. Nach einer Meinungsverschiedenheit hatte Tibet die diplomatischen Beziehungen zu China zwischen 1915 und 1945 praktisch abgebrochen. Tibet h a t t e eine Regierung und unterhielt Beziehungen zu verschiedenen Ländern, als China damit begann, das Land zu infiltrieren. Vertreter des chinesischen Staates k a m e n zu Besuch und b e k u n d e t e n ihre Sympathie für das tibetische Volk und seine Kultur. Sie gingen so weit, in den Klöstern Opfergaben darzubringen und den Tibetern anzubieten, bei der Modernisierung ihres Landes zu helfen usw. Doch 1949 d a n n m a r s c h i e r t e n sie von Osten her in Tibet ein, zunächst in die Kham-Region. Die Invasion war gnadenlos. Im Laufe der Jahre zeigte sich, daß sie das Zentrum Tibets erobern und die Herrschaft und den Dalai Lama unter ihre Kontrolle bringen würden. 1959 floh dieser d a h e r nach Indien. Gleich darauf w u r d e n die Grenzen geschlossen, und die e r b a r m u n g s l o s e Unterdrückung nahm ihren Anfang. Männer, Frauen und Kinder w u r d e n ins Gefängnis geworfen und in Arbeitslagern zusammengepfercht. Ob sie nun exekutiert w u r d e n oder die Folter und den Hunger in den Lagern und Gefängnissen nicht überlebten: mehr als eine Million Tibeter - ein Fünftel der Bevölkerung - sind infolge der chinesischen Invasion umgekommen. Reihenweise füllten sich riesige Massengräber. Noch vor der Kulturrevolution wurden sechstausend * Alizee Diffusion, C h e m i n du Devois, 3 0 7 0 0 St. Siffret.
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Klöster zerstört, so gut wie alle. Die Bibliotheken w u r d e n verbrannt, die Standbilder zertrümmert, die Fresken verwüstet. J. F. - Wie?... Sechstausend! M. - Man hat s e c h s t a u s e n d e i n h u n d e r t f ü n f z i g Klöster gezählt, die dem Erdboden gleichgemacht worden sind. Und wenn m a n bedenkt, daß in Tibet die Klöster die Zentren der Kultur waren! Das erinnert an Göring, der erklärte: »Wenn ich das Wort >Kultur< höre, ziehe ich meine Pistole.« In der Menschheitsgeschichte ist es wahrscheinlich ein beispielloser Sachverhalt, daß in Tibet bis zu zwanzig Prozent der Bevölkerung in einem Orden w a r e n - Mönche, Nonnen, Eremiten, die in den Grotten ihre Zurückgezogenheit verbrachten, und Gelehrte, die in den Klöstern unterrichteten. Die spirituelle Praxis w a r u n b e s t r e i t b a r das Hauptziel des Lebens. Selbst die Laien erachteten ihre alltäglichen Verrichtungen, so notwendig sie auch waren, für zweitrangig im Vergleich zum spirituellen Dasein. Die ganze Kultur drehte sich also um das spirituelle Dasein. Folglich wurde durch die Zerstörung der Klöster, Studienzentren und Eremitagen die Seele, die Wurzel der tibetischen Kultur schlechthin vernichtet. Die Seelenstärke der Tibeter haben sie aber nicht brechen können. Anbiederung, Geld, P r o p a g a n d a , Folter und Ausrottung: die Chinesen haben alles versucht, um die geistige Haltung der Tibeter zu untergraben. Doch nichts hat ihnen etwas anhaben können. Die Hoffnung, ihre Kultur zu retten und ihre Unabhängigkeit wiederzuerlangen, besteht unvermindert. J. F. - Ich komme auf Dich zurück ... die Filme von Arnaud Desjardins. Du sagst, sie hätten einen starken persönlichen Eindruck auf Dich gehabt. Könntest Du diesen Eindruck analysieren und näher bestimmen? M. - Ich meinte, Menschen zu sehen, die das Ebenbild dessen w a r e n , was sie lehrten ... d e r a r t außerordentlich wirkten sie. Es gelang mir nicht, eindeutig zu begreifen weshalb, a b e r am meisten verblüffte mich, daß sie dem Ideal des Heiligen entsprachen, des vollkommenen Wesens, des Weisen, einer Kategorie von Menschen, die m a n im 21
Abendland offensichtlich kaum noch fand. So stellte ich mir den heiligen Franz von Assisi vor oder die großen Weisen der Antike. Doch diese Vorstellung hatte für mich ihre Aussagekraft verloren: Ich konnte mich nicht zu Sokrates aufmachen, mir keine Rede Platons anhören, mich nicht dem heiligen Franz von Assisi zu Füßen setzen! Und mit einem-mal tauchten Menschen auf, die der lebendige Ausdruck der Weisheit zu sein schienen. Und ich sagte mir: »Wenn es, menschlich gesehen, möglich ist, zur Vollkommenheit zu gelangen, dann dort.« J. F. - Was Deine Definition angeht, so wollte ich Dir sagen, daß es fast schon ein Allgemeinplatz ist, wenn man betont, die Philosophie der Antike sei charakterisiert ... durch die Übereinstimmung von Theorie und Praxis. Für den Philosophen der Antike war die Philosophie nicht bloß eine intellektuelle Schule, eine Theorie, eine Interpretation der Welt oder des Lebens. Sie war eine Seinsweise. Im All-tag wurde seine Philosophie von ihm und seinen Schülern zumindest so weit umgesetzt, wie sie in ihren Reden darüber theoretisierten. Dich hat bei den Tibetern zu Anfang eine Sichtweise überrascht, die ursprünglich auch in der abendländischen Philosophie galt. Die Philosophen spielten daher auch bis zum Ende des Römischen Reichs - vor allem zur Zeit von Mark Aurel, die Renan die »Regentschaft der Philosophen« nennt - für viele bedeutende Per-sönlichkeiten die Rolle von Vertrauenspersonen, von spirituellen Lehrmeistern, von Führern, von moralischen Stützen und erbaulichen Gefährten. Es hat diese Einstellung, sich nicht mit der Unterweisung zu begnügen, sondern durch sein Auftreten das Ebenbild dessen darzustellen, was man unterrichtet, im Abendland also gegeben. Ob sich das in der Praxis mit der wünschenswerten Vollen-dung umsetzen ließ, ist allerdings eine andere Frage ... In vielen Fällen ist diese Vorstellung von Philosophie auch mit religiösen Aspekten verknüpft. Die Philosophie der Antike verfügte meist über diese Dimension, da sie gleichermaßen eine Spielart der persönlichen Heilsfindung war. Das sieht man bei den Epikureern (obwohl das Wort 22
»epikureisch« im modernen Sprachgebrauch eine Gleichgültigkeit gegenüber jeglicher spirituellen Dimension evoziert). Es gab also immer schon diese doppelte Notwendigkeit, eine Lehre a u s z u a r b e i t e n und zugleich selbst ihre Verkörperung zu sein. Zur Zeit der antiken Philosophie gibt es demnach keinen grundlegenden Unterschied zum Orient. M. - So ist es, wenn m a n einmal davon absieht, daß die tibetischen Meister keine Lehre entwickeln, sondern die treuen und vollkommenen Verwahrer einer tausendjährigen Tradition sein wollen. Wie dem auch sei, für mich war es erleichternd zu sehen, d a ß es noch eine lebendige, zugängliche Tradition gab, die sich darbot wie ein Schaufenster schöner Dinge. Nach meiner intellektuellen Reise durch die Bücher konnte ich nun auf eine wirkliche Reise gehen. J. F. - Entschuldige, wenn ich Dich unterbreche... Was für schöne Dinge? Was hattest Du von dieser Lehre begriffen? Es genügt doch nicht, selbst eine Lehre zu verkörpern. Diese Lehre muß auch zu etwas nütze sein! M. - Ich hatte damals keine Vorstellung vom Buddhismus. Die einfache Tatsache aber, diese Weisen zu sehen, und sei es n u r das, was ein Film durchscheinen läßt, ließ mich eine zutiefst inspirierende Vollkommenheit erahnen. Aufgrund des Kontrastes wirkte das wie eine Quelle der Hoffnung. In dem Milieu, wo ich aufgewachsen bin, sind mir, dank Deiner, Philosophen, Denker und Theaterleute begegnet. Dank meiner Mutter, der Kunstmalerin Yahne Le Toumelin, habe ich Künstler und Dichter getroffen ... Andre Breton, Maurice Bejart, Pierre Soulages, dank meines Onkels, Jacques-Yves Le Toumelin, berühmte Forschungsreisende und dank Frangois Jacobs b e d e u t e n d e Wissenschaftler, die am Institut Pasteur Vorträge hielten. Ich bin also mit in vielerlei Hinsicht faszinierenden Persönlichkeiten in Kontakt gebracht worden. Das Genie jedoch, das sie in ihrer Disziplin an den Tag legten, ging nicht notwendigerweise einher mit, sagen wir, ... menschlicher Vollkommenheit. Ihr Talent, ihre intellektuellen und künstleri23
sehen Fähigkeiten m a c h t e n aus ihnen noch keine guten Menschen. Ein großer Dichter kann ein Filou sein, ein großer Wissenschaftler unglücklich mit sich selbst, ein Künstler voller Hochmut. Sämtliche Kombinationen, gute oder schlechte, sind möglich. J. F. - Übrigens erinnere ich mich, daß Du damals auch von der Musik begeistert warst, von der Astronomie, der Photographie, der Ornithologie. Du hast im Alter von zweiundzwanzig J a h r e n ein Buch ü b e r die Migrationen der Tiere* geschrieben und Dich in einer Phase Deines Lebens intensiv mit Musik beschäftigt. M. - Ja ... Ich bin Igor Strawinsky und anderen großen Musikern begegnet. Ich hatte das Glück, vielen von denen, die im Westen Bewunderung hervorrufen, zu begegnen und mir selbst einen Eindruck verschaffen und mich fragen zu können: »Ist es das, wonach ich trachte? Will ich so werden wie sie?« Ich hatte das Gefühl, nicht auf meine Kosten zu kommen, denn trotz meiner B e w u n d e r u n g entging mir nicht, d a ß das Genie, das diese Menschen in einem bestimmten Bereich zum Ausdruck b r a c h t e n , nicht einherging mit den einfachsten menschlichen Tugenden wie Uneigennützigkeit, Güte oder Aufrichtigkeit. Diese Filme, diese Photographien ließen mich dagegen etwas D a r ü b e r h i n ausgehendes entdecken, das mich zu den tibetischen Meistern hinzog. Ihre Lebensweise schien das Abbild dessen zu sein, was sie lehrten. Also bin ich aufgebrochen, um es zu erkunden ... Christian Bruyat, ein a n d e r e r F r e u n d , der damals die Aufnahmeprüfung für die Ecole Normale vorbereitete, hat genauso reagiert, als er im Radio die letzten Worte einer Sendung von Arnaud Desjardins hörte, wo er im wesentlichen sagte: »Ich glaube, die letzten großen Weisen, lebendige Beispiele der Spiritualität, sind die tibetischen Meister, die sich in den Himalaya von Indien geflüchtet haben.« In dem Moment hat auch er sich zu dieser Reise entschlossen. * Les migrations animales. Robort Laffont, Paris 1968. L n g l i s c h s p r a e h i g e A u s g a b e : Animal Migrations. Hill a n d Wang, New York 1970, sowie: Constable, London 1970.
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Ich bin also mit einem Billigflug nach Indien aufgebrochen. Ich sprach so gut wie kein Englisch! Du hattest es für wichtiger befunden, daß ich Deutsch, Griechisch und Latein lerne, Sprachen, die schwieriger sind als das Englische, das sich aber, wie Du mir sagtest, wie von selbst lernen ließ. Was sich bewahrheitet hat ... doch mittlerweile habe ich das Deutsche und den Rest vergessen! Ich bin in Delhi mit einem kleinen Handwörterbuch angekommen und hatte die größte Mühe, mich durchzuschlagen, ein Eisenbahnticket nach Darjeeling zu kaufen und vor den schönsten Gipfeln des Himalaya anzukommen. Ich wandte mich an die Adresse eines Jesuitenpaters, dem Doktor Leboyer Geld anvertraut hatte, um für den Unterhalt von Kangyour Rinpoche zu sorgen, einem großen tibetischen Meister, der einige J a h r e zuvor nach Indien gekommen war. Damals lebte er mit seiner Familie in größter Armut in einem Holzhäuschen, mit all den Büchern, die er aus Tibet hinübergerettet hatte. Der Zufall wollte es so, daß der Sohn des Meisters am Tag nach meiner Ankunft zur Mission kam, um die kleine monatliche Unterstützung entgegenzunehmen. Es war also der Sohn von Kangyour Rinpoche, der mich zu seinem Vater brachte. Drei Wochen lang blieb ich bei ihm ... Das war sehr beeindruckend. Der Siebzigjährige lehnte, strahlend vor Güte, mit dem Rücken an einem Fenster, hinter dem sich das Wolkenmeer erstreckte, aus dem der Kangc h e n j u n g a mit seiner Höhe von m e h r als a c h t t a u s e n d Metern majestätisch emporragte ... Ich saß ihm den ganzen Tag gegenüber und hatte den Eindruck, das zu tun, was die Leute »meditieren« nennen, das heißt mich einfach in sein e r Gegenwart innerlich zu sammeln. Unterweisende Worte erhielt ich nur wenige, fast keine. Sein Sohn sprach Englisch, ich so gut wie nicht. Es w a r e n seine Persönlichkeit und sein Wesen, die mich beeindruckten ... die Tiefe, die Kraft, die Ruhe und die Liebe, die von ihm ausgingen und meinen Geist öffneten. Dann bin ich nach Kaschmir weitergereist, bin in Indien an Typhus erkrankt und habe die Heimreise angetreten ... Beim Zwischenstopp in Damaskus bin ich aus dem Flug25
zeug gestiegen und habe mir gesagt, daß es zu dumm wäre, diese Länder nicht alle zu sehen, und so bin ich mit Zug und Auto weitergereist. Ich habe das Grab des großen heiligen Sufi Ibn Arabi besucht, den Krak des Chevaliers, die Moscheen von Istanbul. Beendet habe ich meine Reise per Anhalter in der Abtei von Tournus, wo ich mich in der Kühle des stillen, einsamen Klosters innerlich sammelte, w ä h r e n d draußen die Heimkehrer aus den Sommerferien die Straßen verstopften. Von dort habe ich erschöpft den Zug nach Paris genommen. Die Reise hinterließ also eine schwere körperliche Erschütterung und eine große innere Entdeckung. Erst nach der Rückkehr aus Indien - während meines ersten J a h r e s am Institut Pasteur - ist mir klargeworden, welche Bedeutung die Begegnung mit meinem Meister gehabt hatte. Ständig dachte ich an seine Vorzüge. Mir w u r d e bewußt, daß es dort eine Realität gab, die imstande war, mein Dasein zu inspirieren und ihm einen Sinn zu geben, selbst wenn ich sie noch nicht in Worte fassen konnte. J. F. - Diese bedeutende Wandlung - um nicht voreilig das Wort »Bekehrung« zu b e n u t z e n - w u r d e also nicht durch eine Vertiefung der intellektuellen, die Lehre betreffenden, philosophischen Kenntnis der buddhistischen Texte ausgelöst, sondern anfänglich in erster Linie durch einen persönlichen Kontakt. M. - Genau. Das Studium der Lehre kam erst später. J. F. - Fuhren damals nicht viele junge Leute aus dem Westen, Europäer wie Amerikaner, in Indien herum? M. - Es war ein Jahr vor dem Mai 68. Diese jungen Leute suchten etwas, das a n d e r s war, r a u c h t e n M a r i h u a n a ... Manche widmeten sich der spirituellen Suche und besuchten die hinduistischen Ashrams, a n d e r e erforschten die Berge des Himalaya. Alle w a r e n auf der Suche, mal hier, mal dort. Oft tauschten sie Gedanken und Informationen aus: »Diese b e m e r k e n s w e r t e Persönlichkeit ist mir an jenem Ort begegnet ... Jene wundervolle Landschaft habe ich in Sikkim gesehen ... Diesen Meister der Musik habe ich in Benares getroffen, jenen Yogameister im Süden Indiens« 26
etc. Damals stellte m a n die Dinge in Frage, man forschte nicht nur in Büchern, sondern in der Realität. J. F. - Sind von den jungen Leuten aus dem Westen, die eine neue Spiritualität suchten, viele nach Darjeeling aufgebrochen? M. - Damals nur sehr wenige. In den sechziger und siebziger J a h r e n vielleicht ein p a a r Dutzend. Im Laufe der Zeit hat das Interesse an den tibetischen Meistern und ihren Unterweisungen zugenommen. 1971 haben die ersten tibetischen Meister den Westen bereist - Frankreich, Amerika. Nach und nach haben erst einige Hunderte, dann Tausende mit ihnen studiert. Viele verbrachten J a h r e bei den tibetischen Meistern in den Bergen des Himalaya oder suchten sie regelmäßig auf. Um auf die Frage z u r ü c k z u k o m m e n , die Du vorher gestellt hast: Mein Interesse gründete also nicht auf dem Studium des Buddhismus. Weder auf meiner ersten Reise noch auf den zwei oder drei folgenden war das im übrigen so. Ich kehrte nach Indien zurück, um meinen neuen Meister wiederzutreffen. Von ihm erhielt ich zwar essentielle spirituelle Instruktionen, doch niemals fortgesetzten Unterricht in Buddhismus. Mir hat er gesagt: »Es gibt viele interessante Dinge im Buddhismus, aber man muß vermeiden, sich in einem rein theoretischen oder b ü c h e r b e z o g e n e n Studium zu verlieren. Sonst läuft man Gefahr, darüber die spirituelle Praxis zu vergessen, die der Kern des Buddhismus und jeder inneren Wandlung ist.« In seiner Gegenwart hatte ich intuitiv eines der Fundamente im Verhältnis von Lehrer und Schüler erkannt: das In-Einklang-Bringen des eigenen Geistes mit dem des Lehrers. Man nennt das »seinen Geist mit dem des Lehrers verschmelzen«, wobei der Geist des Lehrers das »Wissen« ist und der unsrige die Verwirrung. Es geht also darum, durch die »spirituelle Vereinigung« von der Verwirrung zur Erkenntnis zu gelangen. Dieser rein kontemplative Schritt stellt einen der wesentlichen Punkte in der Praxis des tibetischen Buddhismus dar. J. F. - Was Du Erkenntnis nennst, ist aber doch ... die Initiation in eine religiöse Lehre. 27
M. - Nein, das ist das Ergebnis einer inneren Wandlung. Als Erkenntnis bezeichnet m a n im Buddhismus die Erhellung der Natur der Erscheinungswelt, der Natur des Geistes. Was sind wir? Was ist die Welt? Letztlich ist das allem voran eine direkte Kontemplation der absoluten Wahrheit, jenseits der Begriffe. Das ist Erkenntnis in ihrem grundlegendsten Aspekt. J. F. - Also die philosophische Frage schlechthin? M. - Genau! J. F. - Die Frage der Philosophie bis zum Aufkommen der Naturwissenschaft. Bis dahin gab die Philosophie noch vor, sich in allem auszukennen. Denn die Philosophien der Antike bis hin zur Entstehung der m o d e r n e n Physik im 17. J a h r h u n d e r t schlössen die Kenntnis der materiellen Welt mit ein, die Kenntnis der lebendigen Welt, die Moral, die Kenntnis des Menschen, des Jenseits und der Gottheit, sei es, daß diese Gottheit wie bei Aristoteles personalisiert war, sei es, daß sie, wie bei den Stoikern oder bei Spinoza, die Natur selbst war. Eine solche vollständige Lehre der Wirklichkeit als Ganzes hat m a n seither aber nicht m e h r e r n s t h a f t f ü r realisierbar erachtet. Wir w e r d e n d a r a u f zurückkommen. Andererseits steckt im Wort »Erkenntnis« ein weiterer Gesichtspunkt. Ich würde ihn die sokratische Haltung nennen. Für Sokrates ist die Weisheit Folge des Wissens. Für ihn gibt es weder eine instinktive Weisheit noch eine instinktive Moral. Alles g r ü n d e t in der Erkenntnis. Beide gehen also auf das Wissen zurück. Die antiken Philosophien waren Philosophien, wo der Zugang zu einer bestimmten Form von Weisheit und Glück, zu dem, was m a n »das höchste Gut« nannte - das heißt der Weg hin zu einer Art von vollständigem Gleichgewicht, indem m a n sich mit der Tugendhaftigkeit gegenüber den anderen und mit dem eigenen Glück identifizierte -, von wissenschaftlicher Erkenntnis abhing, von dem, w a s m a n in der Antike als wissenschaftliche Erkenntnis ansah. Hat das nicht auch ein wenig den Buddhismus charakterisiert, als Du ihn entdeckt hast? Als Dir Dein Meister sagte: Erkenntnis heißt, dem äußersten Wesen 28
der Dinge auf den Grund zu gehen. Eine solche Erkenntnis ist ein umfangreiches Programm, wenn ich so sagen darf! Denn das setzt die Kenntnis sämtlicher Erscheinungen der äußeren Welt, deiner Selbst und möglicherweise des Übernatürlichen voraus. M. - Der Buddhismus schließt das Studium der althergebrachten Wissenschaften wahrlich mit ein: so das Studium der Medizin, der Sprachen, der Grammatik und der Dichtung, das Studium der B e r e c h n u n g e n in der Astronomie (vor allem der Sonnen- und Mondfinsternis) und der Astrologie sowie das des Handwerks und der Künste. Die tibetische Medizin, die auf Pflanzen und Mineralien a u f b a u t , erfordert jahrelange Studien, und die tibetischen Chirurgen waren, wie es heißt, in der Lage, den grauen Star mit einem goldenen Skalpell zu operieren, auch wenn diese Operation heute in Vergessenheit geraten ist. Die »Haupt«-Wissenschaft ist jedoch die Erkenntnis des Selbst und der Wirklichkeit unter der grundlegenden Fragestellung: »Was ist das Wesen der Erscheinungswelt, des Denkens?« Praktisch gesehen heißt das: »Was sind die Schlüssel zu Glück und Leid? Woher kommt das Leid? Was ist das Nicht-Wissen? Was bedeutet spirituelle Verwirklichung? Was ist Vollkommenheit?« Diese Art von Entdeckungen k a n n m a n als Erkenntnis bezeichnen. J. F. - Ist die Ausgangsmotivation, dem Leid zu entgehen? M. - Leiden ist eine Folge des Nicht-Wissens. Also muß das Nicht-Wissen beseitigt werden. Nicht-Wissen bedeutet in der Essenz Festhalten am »Ich« und an der Beständigkeit der Erscheinungen. Es ist eine Pflicht, die unmittelbaren Leiden der anderen zu mildern, doch das genügt nicht: Man muß die Ursachen des Leids beheben. Aber ich sage noch einmal, daß mir das alles nicht klar war. Ich sagte mir: »Es gibt keinen Rauch ohne Feuer. Wenn ich meinen Meister ansehe, seine physische Erscheinung, die Art, wie er redet, wie er handelt, was er ist ..., so vermittelt mir das die tiefe Überzeugung, daß es da etwas Wesentliches gibt, das ich vertiefen möchte. Es gibt dort eine Quelle der Inspiration, der Gewißheit, eine Vollkommenheit, die ich mir aneignen 29
will.« Im Verlauf meiner Reisen - ich bin fünf- oder sechsmal nach Indien gefahren, bevor ich mich dort niedergelassen habe - ist mir klargeworden, daß ich das Institut Pasteur, das mein Leben in Europa darstellte, in Gegenwart meines Meisters rasch vergaß, w ä h r e n d meine Gedanken im Institut Pasteur immer in die Berge des Himalaya abdrifteten. Also habe ich die nie bereute Entscheidung getroffen, mich dort aufzuhalten, wo ich sein wollte! Damals hatte ich meine Habilitationsarbeit abgeschlossen, und Professor Jacob dachte daran, mich in die Vereinigten Staaten zu schicken, damit ich die Arbeit an einem neuen Forschungsprojekt aufnähme. So wie viele Forscher j e n e r Zeit hatte er sich nach dem Studium der Bakterien den tierischen Zellen zugewandt, weil das ein umfangreicheres Forschungsfeld war, das die Entwicklung der Zellularbiologie beträchtlich voranbrachte. Ich habe mir gesagt, daß ich ein Kapitel abgeschlossen hatte. Über meine fünfj ä h r i g e Forschungsarbeit hatte ich Artikel veröffentlicht und so die Investitionen meiner Familie in meine Ausbildung und die von Frangois Jacob, der mich in sein Laboratorium aufgenommen hatte, also nicht vertan ... Jedenfalls w a r es ein Wendepunkt in meiner Forschungsarbeit ... Ich konnte mich f ü r einen a n d e r e n Weg entscheiden, ohne etwas zu zerstören, ohne j e n e zu e n t t ä u s c h e n , die mir geholfen hatten, mich zu habilitieren. Mit ruhigem Gewissen konnte ich nun meine persönlichen Ziele verwirklichen. Im übrigen hatte mir mein Meister Kangyour Rinpoche immer gesagt, ich solle das begonnene Studium zu Ende führen. Also habe ich nichts überstürzt und mehrere Jahre, von 1967 bis 1972, gewartet, bevor ich mich im Himalaya niederließ. Erst d a n n h a b e ich meinen Entschluß gefaßt und Frangois Jacob und Dir meinen Wunsch mitgeteilt, in den Himalaya und nicht nach Amerika zu gehen. Es ist mir klargeworden, daß es wirklich das war, was ich tun wollte, und daß es besser wäre, es in jungen Jahren zu tun, als mit fünfzig zu bedauern, diesen Weg nicht gewählt zu haben. J. F. - Vereinbar schien Dir beides nicht? M. - Eine grundlegende Unvereinbarkeit von Wissen30
schaft und spirituellem Dasein gibt es nicht, doch das eine schien mir wichtiger als das a n d e r e . In der Praxis k a n n m a n nicht zwischen zwei Stühlen sitzen bleiben oder mit einer Nadel nähen, die zwei Spitzen hat. Ich hatte kein Verlangen mehr, meine Zeit zu teilen, ich wollte sie allein dem widmen, was mir am wesentlichsten erschien. Später ist mir k l a r g e w o r d e n , daß meine wissenschaftliche Ausbildung, vor allem in ihrem Streben nach Gewissenhaftigkeit, sehr gut vereinbar war mit der Annäherung an die buddhistische Metaphysik und Praxis. Außerdem ist das kontemplative Dasein für mich eine echte Wissenschaft des Geistes mit seinen Methoden und seinen Ergebnissen. Es geht wirklich darum, sich zu verändern, nicht bloß darum, zu träumen oder Maulaffen feilzuhalten. In den fünfundzwanzig J a h r e n danach habe ich mit der wissenschaftlichen Geisteshaltung, so wie ich sie verstehe, das heißt mit der Suche nach Wahrheit, nie Probleme gehabt. J. F. - Gut... Ich verstehe wohl, daß Du bei Deinen Nachforschungen zur Philosophie und Geschichte des Buddhismus, zu Texten etc. dieselbe Strenge hast walten lassen wie zuvor auch. Doch die molekularbiologische Forschung hat in den letzten dreißig J a h r e n mit zu den wichtigsten Entdeckungen der Geschichte der Wissenschaft beigetragen. Du hast keinen Anteil d a r a n . Du h ä t t e s t ihn aber h a b e n können. M. - Die Biologie entwickelt sich ohne mich genauso gut. An Forschern mangelt es nicht auf der Welt. Für mich war die eigentliche Frage, mein Dasein hierarchisch nach Prioritäten zu ordnen. Ich hatte zunehmend den Eindruck, das menschliche Lebenspotential nicht optimal zu nutzen, mein Leben von Tag zu Tag verfallen zu lassen. Für mich war die Masse der wissenschaftlichen Erkenntnisse »ein wichtiger Beitrag zu untergeordneten Bedürfnissen« geworden. J. F. - Was Du in der Folgezeit getan hast, hat Dir erlaubt, eine jahrhundertealte Lehre zu vertiefen, nicht aber, neue Erkenntnisse beizusteuern, wie es Deine Mitarbeit in der Molekularbiologie getan hätte. Im übrigen sage ich nicht, daß man unbedingt neue Entdeckungen machen muß, um 3i
sein Leben erfolgreich zu gestalten. Ich sage nur, daß Du auf dem erreichten Niveau - Deine Habilitation w a r zugleich ein Abschluß und der Ausgangspunkt für bedeutendere Forschungen - über alle Voraussetzungen verfügt hast, um an einem der außergewöhnlichsten intellektuellen und wissenschaftlichen A b e n t e u e r der Menschheitsgeschichte teilzunehmen. Die jüngsten Entdeckungen in der Molekularbiologie bezeugen das. M. - Vorsicht, was den Buddhismus betrifft, ging es nicht darum, den Staub einer alten, überholten Lehre aufzuwirbeln. Sofern die spirituelle Suche ihren Ausdruck in einer wirklichen inneren Wandlung findet, ist sie eine ungeheuer lebendige Suche von einer Reinheit, die sich ständig erneuert. Eine metaphysische Tradition wie der Buddhismus kann nicht »altern«, da sie sich den grundlegendsten Fragen des Lebens widmet. Die Geschichte hat gezeigt, daß es viel öfter die wissenschaftlichen Theorien sind, die auf natürliche Weise veralten und ständig von anderen ersetzt werden. J. F. - Ja, aber sie w e r d e n aus guten Gründen durch a n d e r e ersetzt: weil das Wissen zunimmt, weil m a n neue Tatsachen beobachtet, weil die Erfahrung Hypothesen entkräftet. M. - Es stimmt, daß die Biologie und die theoretische Physik erstaunliche Erkenntnisse über den Ursprung des Lebens und die Entstehung des Universums ermöglicht haben. Doch können diese Erkenntnisse die grundlegenden Mechanismen von Glück und Leid erhellen? Man darf die Ziele, die man sich setzt, nicht aus den Augen verlieren. Es ist ein unbestreitbarer Fortschritt, die Form und die exakten Ausmaße der Erde zu kennen. Ob sie nun rund oder flach ist, ändert aber nicht viel am Sinn des Lebens. Was auch immer die Fortschritte der Medizin sein mögen: die Leiden, die fortwährend auftauchen und ihren Höhepunkt im Tod erreichen, kann sie nur vorübergehend lindern. Ein Konflikt, ein Krieg läßt sich beilegen, doch es wird zu anderen kommen, wenn sich die Geisteshaltung der Menschen nicht ändert. Gibt es kein Mittel, einen inneren Frieden zu 32
finden, der nicht von der Gesundheit, der Macht, dem Erfolg, dem Geld und den S i n n e s f r e u d e n a b h ä n g t , einen inneren Frieden, der Quelle des äußeren Friedens w ä r e ? J. F. - Ich verstehe das wohl, aber ich sehe nicht, worin die Unvereinbarkeit der beiden Wege liegt. Die Biologie, die Naturwissenschaft, im vorliegenden Fall die Molekularbiologie liefern Heilmittel gegen Krankheiten und tragen folglich dazu bei, die menschlichen Leiden zu verringern. Und die intellektuelle Befriedigung, die grundlegenden Mechanismen des Lebens aufzuspüren, ist eine selbstlose Befriedigung. Hast Du nie d a r a n gedacht, diese beiden Aspekte Deiner Anliegen zu kombinieren? M. - Der Buddhismus stellt sich nicht gegen die Wissenschaft. Er b e t r a c h t e t sie als eine wichtige, aber partielle Vorstellung von Erkenntnis. Daher empfand ich nicht das Bedürfnis, ihr dieselben A n s t r e n g u n g e n zu widmen und mein Leben zu teilen. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Vogel im Käfig und hatte nur einen Gedanken: »Freiheit!« J. F. - Hältst Du Dich in bezug auf die Wissenschaft auf dem laufenden? M. - Die Entdeckungen in der Biologie verfolge ich weiter, mit um so größerem Interesse, als ich meine Tage nicht m e h r - wie w ä h r e n d meiner f ü n f j ä h r i g e n Forschungsarbeit - damit zubringe, die genetische Struktur des Chromosoms einer Bakterie festzustellen. Die Ergebnisse der Recherchen, die Tausende von Forschern im Laufe der J a h r z e h n t e gesammelt h a b e n , sind im ganzen gesehen gewiß fesselnd. Doch das Leben eines Forschers besteht oft darin, ü b e r J a h r e hinweg n u r einen ganz bestimmten Aspekt zu studieren, den Baustein eines Puzzles, das erst zusammengesetzt ein klares Bild des physikalischen oder biologischen Phänomens gibt. Der Durchschnittsforscher empfindet zuweilen ein Gefühl der Frustration, wenn große Anstrengungen nur zu unbedeutenden Ergebnissen führen. Natürlich kommt es vor, daß ein Forscher eine wichtige Entdeckung macht, zum Beispiel die der DNS-Struktur ... J. F. - Der Doppel-Helix ... M. - ... die ihn für seine Mühen in hohem Maße entschä33
digt. Doch das ist die Ausnahme, und mein Interesse an der wissenschaftlichen Forschung war nicht vergleichbar mit dem an der spirituellen Suche, die Befriedigung verschafft, f o r t w ä h r e n d e Freude - m a n h a t das Gefühl, ein Pfeil zu sein, der geradewegs auf sein Ziel zufliegt: Jeder Augenblick ist kostbar, auf die bestmögliche Art genutzt. J. F. - Was hast Du danach gemacht? M. - Sieben J a h r e lang h a b e ich Darjeeling nicht verlassen. Bei meinem Meister Kangyour Rinpoche habe ich bis zu seinem Tod im Jahre 1975 gelebt. Anschließend habe ich in einer kleinen Eremitage oberhalb des Klosters weiterpraktiziert. In dieser Zeit bin ich meinem zweiten Meister Dilgo Khyentse Rinpoche begegnet, der angereist war, um die Bestattungsriten für Kangyour Rinpoche abzuhalten. Ein J a h r h a b e ich auch in Delhi verbracht, um etwa fünfzig Bände mit sehr seltenen tibetischen Manuskripten zu vervielfältigen und zu drucken. Als Freunde von mir im Begriff w a r e n , die traditionelle dreijährige Zurückgezogenheit in der Dordogne a u f z u n e h m e n , habe ich Khyentse Rinpoche gefragt, ob ich mich ihnen anschließen solle. Er antwortete mir: »Solange ich am Leben bin, bleib bei mir, um zu lernen.« So habe ich zwölf J a h r e an seiner Seite verbracht, seine Unterweisungen gehört, ihm gedient und ihn auf seinen Reisen begleitet. 1979 bin ich Mönch geworden. Die J a h r e in seiner Gegenwart boten die beste Zurückgezogenheit und Unterweisung, die mir zuteil werden konnten, unvergeßliche Jahre, in denen ich eine innere Gewißheit erlangt habe, die mir nichts und niemand mehr entreißen kann. J. F. - Du hast auch in Bhutan gelebt. Aber hast Du Tibet kennengelernt? M. - Bhutan ist ein gebirgiges Königreich, das seit dem 8. Jahrhundert, als dort der Buddhismus eingeführt wurde, von Invasionen verschont geblieben ist. Die buddhistische Kultur hat sich so ohne Hindernisse ausbreiten können, und ihre Werte sind tief in der Geisteshaltung seiner Bewohner verankert. Nach seiner Flucht vor den chinesischen Besatzern Tibets w u r d e Khyentse Rinpoche in Bhutan der vom König bis zum untertänigsten Bauern am meisten verehrte 34
buddhistische Meister. Für mich war es also ein Privileg, in diesem Land zu leben. Ich hatte auch das Glück, Khyentse Rinpoche dreimal nach Tibet zu begleiten. Von seinem Kloster w a r e n n u r Ruinen übriggeblieben, doch für die Überlebenden, die oft genug f ü n f z e h n oder zwanzig J a h r e im Gefängnis verbracht hatten,war die Rückkehr von Khyentse Rinpoche nach dreißig J a h r e n Exil wie die Sonne, die nach einer langen, finsteren Nacht plötzlich aufgeht. Trotz der Tragödie, die sich dort weiterhin abspielt, bleibt Tibet ein außergewöhnliches, für das kontemplative Dasein ungemein günstiges Land. Ich w e r d e die Befragung jetzt gewissermaßen umkehren. Du hast mich meinen Werdegang beschreiben und erläutern lassen und wirst mich sicher noch einmal darauf ansprechen. Doch welchen Weg bist Du selbst gegangen? Was hat Dich dieses Gespräch wünschen lassen? J. F. - Ein Weg wie Deiner m a c h t natürlich neugierig, weil er einen radikalen Bruch mit dem voraussetzt, was durch Dein Leben, Deine Ausbildung und Deine kulturelle Zugehörigkeit vorgezeichnet zu sein schien. Mein Werdegang ist weitaus klassischer, auch wenn ich innerhalb mein e r Kultur und im Verhältnis zu meiner u r s p r ü n g l i c h e n Ausbildung ebenfalls eine Art f o r t w ä h r e n d e n Bruch mit den vorherrschenden Strömungen meiner Generation vollf ü h r t habe, eine Art Rebellion gegen das konventionelle Denken meiner Umgebung. Doch, wie gesagt, nur im Rahmen meiner eigenen Kultur. M. - Was hat den Wunsch in Dir geweckt, mit dem Vertreter einer anderen Kultur, der ich geworden bin, zu diskutieren? J. F. - Zunächst einmal ist es eine andere und doch dieselbe Kultur. Die Philosophien des Fernen Ostens gehören zum allgemeinen Kulturerbe - so bedauerlich es auch ist, d a ß sie bei uns a u ß e r h a l b der Spezialistenkreise nicht genug studiert werden. Wenn ich über das Motiv nachdenke, w a r u m ich mich als Neunzehnjähriger zu Beginn des Studiums der Philosophie zuwandte und nicht der Literatur oder der Geschichte, woran ich so viel Gefallen fand, dann 35
deshalb, weil mir die Philosophie imstande zu sein schien, den Schlüssel zu einem Wissen zu liefern, das jedem anderen Wissen übergeordnet war, eingeschlossen dem der Liter a t u r und der Geschichte, ja selbst dem der Naturwissenschaft. Den Schlüssel zu einem Wissen, das gleichzeitig eine Weisheit war, das heißt eine Lebenskunst in Verbindung mit einer Moral. M. - Und die abendländische Philosophie hat Dir diesen Schlüssel nicht verschafft? J. F. - Ganz so w ü r d e ich es nicht a u s d r ü c k e n . Eher w ü r d e ich sagen, sie h a t ihre Aufgabe, wie mir scheint, absichtlich verraten, vor allem seit Beginn des 19. J a h r hunderts. Zu dieser Schlußfolgerung kam ich natürlich erst, nachdem ich mich etliche Jahre direkt mit den Texten auseinandergesetzt hatte, wobei ich die ultimativen Aufforderungen der konformistischen Vulgata, sofern sie »neuinterpretierend« war, auf Distanz hielt. Meine Ansicht brachte mich schließlich dazu, mein erstes Buch Pourquoi des philosophes? (Wozu Philosophen?) zu schreiben, das 1957 erschien. Es w a r ein Erfolg oder traf jedenfalls auf eine Resonanz, die mich selbst überraschte. Das Aufsehen, das es erregte, war sicher nicht nur zustimmend, im Gegenteil: Das beleidigte Gezeter des philosophischen Klüngels w a r o h r e n b e t ä u b e n d . Das A u s m a ß der Kontroverse zwang mich, auf sie einzugehen und meinen W i d e r s a c h e r n in einer 1962 erschienenen Fortsetzung von Pourquoi des philosophes? zu antworten. Sie t r u g den Titel Cabale des devots (Kabale der Frömmler). M. - Danach hat man Dich aber vor allem als politischen Schriftsteller kennengelernt. Wie erklärst Du diese Wandlung? J. F. - Das w a r keine Wandlung, denn die politische Reflexion ist immer ein Zweig der Philosophie gewesen. Ich werde hier aber nicht mein ganzes Leben erzählen, zumal ich gerade meine Autobiographie* veröffentlicht habe. Die * Le voleur dans la maison vide (Der Dieb im l e e r e n Haus). Plön, P a r i s 1997.
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politische Theorie hat nicht n u r stets zur Philosophie gehört, sondern sie ist seit dem 18. und besonders seit dem 19. J a h r h u n d e r t zum Kernpunkt der Moral geworden. Denn die Leitvorstellung des Jahrhunderts der Aufklärung und später dann des »wissenschaftlichen« Sozialismus von Marx und Lenin war, daß die Allianz von Glück und Gerechtigkeit nicht durch eine individuelle Suche nach Weisheit verwirklicht w e r d e n könne, s o n d e r n n u r durch eine Erneuerung der ganzen Gesellschaft. Um eine neue Gesellschaft zu erschaffen, mußte man die alte zuerst völlig zerstören. So bekommt der Begriff der Revolution Ende des 18. Jahrhunderts seine moderne Bedeutung. Das persönliche Wohl ist fortan dem kollektiven Wohl untergeordnet. In unseren folgenden Gesprächen werden wir dieses grundlegende Thema wohl noch n ä h e r ausführen. Im Augenblick soll der Hinweis genügen, daß ich das unwiderrufliche Scheitern dieser Illusion, die die Mutter der großen Totalit a r i s m e n war, die u n s e r 20. J a h r h u n d e r t heimgesucht haben, etwa 1965,1970 festzustellen meinte. Um das kundzutun, schrieb ich 1970 mein erstes allgemeines politisches Werk (zuvor hatte ich zwei oder drei andere veröffentlicht, die a b e r hauptsächlich F r a n k r e i c h betrafen). Es hieß Ni Marx ni Jesus*, ein Titel, der eine doppelte Absage enthielt: an den politischen Totalitarismus und an den religiösen Totalitarismus. Das Buch rief eine gewisse Überraschung hervor, weil ich b e h a u p t e t e , die w a h r e Revolution des 20. J a h r h u n d e r t s würde letzten Endes die liberale Revolution sein und nicht die mittlerweile gescheiterte sozialistische. Es wurde ein Welterfolg. In den Vereinigten Staaten blieb es fast ein J a h r auf der Bestsellerliste (weil ich die amerikanische »offene Gesellschaft« gegen die sozialistische oder faschistische »geschlossene Gesellschaft« verteidigte). Es wurde in fünfzehn oder mehr Sprachen übersetzt. Ich habe sogar ein Exemplar auf madagassisch! M. - Ist es nicht der Erfolg Deiner Bücher gewesen, der * Titel d e r d e u t s c h e n A u s g a b e : Die Revolution kommt aus Amerika. Aus d e m F r a n z ö s i s c h e n von M a r g a r e t Carroux. H o f f m a n n & C a m p e . H a m b u r g 1971.
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Dich von der eigentlichen Philosophie entfernt und in die Rolle des politischen Schriftstellers und Leitartiklers großer Zeitungen gedrängt hat? J. F. - Ich h a b e mich nicht von ihr entfernt. So wie Ni Marx ni Jesus w e r f e n auch meine wichtigsten s p ä t e r e n Werke Fragen auf, die in der menschlichen Natur selbst verankert sind, zeitlose Fragen, selbst wenn ich sie anhand zeitgenössischer Beispiele darlege, aber nicht nur. Im Mittelpunkt von La Tentation totalitaire* steht die Frage: Gibt es im Menschen ein heimliches Verlangen nach politischer und intellektueller Sklaverei, ein um so perverseres Verlangen, da es sich als Freiheitssuche drapiert? Anderes Beispiel: La connaissance inutile (Das nutzlose Wissen, 1988) hat folgendes Rätsel als Ausgangspunkt: Wie kommt es, daß das Menschengeschlecht nicht n u r heute, sondern immer schon b e w u ß t die v e r f ü g b a r e n Informationen ignoriert, durch die es sich bestimmte Katastrophen ersparen könnte? Warum stürzt es sich so häufig geradezu vorsätzlich in den Mißerfolg, in Leid und Tod? Das sind, wenn ich mich nicht irre, philosophische Probleme. Aber ich w e r d e Dir keine Vorlesung über meine gesammelten Werke halten. M. - Und haben diese Bücher international genausoviel Anklang gefunden wie Ni Marx ni Jesus? J. F. - Etwa genausoviel, obwohl je nach Land verschieden. So hat La connaissance inutile in den Vereinigten Staaten weniger Erfolg gehabt. In den romanischen Ländern Spanien, Italien, Portugal und Lateinamerika - ist es dagegen ein Bestseller gewesen, genauso wie in Frankreich und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahre 1989, der die freie Zirkulation von Büchern und Ideen wieder möglich machte, auch in den ehemaligen kommunistischen Ländern. Das eigentliche Phänomen liegt jedoch nicht da, sondern in folgendem Rätsel: Viele Leser zu haben heißt nicht, auch wirklich verstanden zu werden oder die Wirklichkeit de facto zu beeinflussen, selbst w e n n man, wie ich, das * Titel d e r d e u t s c h e n Ausgabe: Die totalitäre Versuchung. Aus d e m F r a n zösischen von Hva Brückner-Ffai'f'enberger. Ullstein Verlag, F r a n k f u r t a. M./ Berlin/Wien 1 9 7 6 .
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Glück hat, außer in Büchern auch noch in der nationalen und internationalen Presse über Foren zu verfügen, die es mir erlauben, meine Vorstellungen einem noch breiteren Publikum nahezubringen und zu erläutern. M. - Wie läßt sich dieses Rätsel erklären? J. F. - Wenn es sich vollständig erklären ließe, könnte m a n die Geisteskrankheit heilen, auf der es b e r u h t . Was uns zurück zur sogenannten »ursprünglichen« Philosophie führt, die auf die persönliche Aneignung von Klarsicht und Vernunft abzielt, kurz, zurück zum zentralen Thema unserer Gespräche.
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Religion oder Philosophie?
JEAN-FRANgois - Ich habe Dich mit Blick auf Deine Berufung als westlicher Naturwissenschaftler zu Deinem Werdegang befragt. Nun w ü r d e ich gerne wissen, wie sich Deine Entscheidung in bezug auf die a n d e r e n Religionen und spirituellen Lehren einordnen läßt. Denn Du hast Dich dem Buddhismus nicht aus Enttäuschung über irgendeine abendländische Religion zugewandt, sondern weil Du im Grunde aus einer areligiösen Kultur kamst. Obwohl Dein Vater und Deine Mutter aus katholischen Familien stammten, praktizierten sie diesen Glauben nicht. Du hast in einem wissenschaftlichen Umfeld, das im ganzen nicht sonderlich zur Frömmigkeit neigte, eine bekenntnisneutrale, rationalistische Erziehung erhalten. Im Westen w e n d e n sich heute viele Menschen anderen Religionen zu, wie zum Beispiel dem Islam oder dem Buddhismus, weil sie von ihrem traditionellen Glauben enttäuscht sind. Du hingegen hast alles in allem aus einer Art Gleichgültigkeit oder religiöser Schwerelosigkeit zum Buddhismus gefunden. Aber Vorsicht ... ich habe gerade »religiös« gesagt ... gerade da b e r ü h r e n wir aber eines der großen Auslegungsprobleme des Buddhismus. Ist der Buddhismus eine Religion oder eine Philosophie? Darüber wird heute noch diskutiert. Der von Dir beschriebene erste Kontakt mit dem Weisen hat auf Dich großen Eindruck gemacht, auch wenn er, da Ihr praktisch in keiner Sprache miteinander kommunizieren konntet, gar nicht mit Dir geredet hat. Diese erste E r f a h r u n g erinnert mich an einen jungen Griechen, der einem Weisen begegnete und ohne jede theoretische Initiation von dessen vorbildlicher Persönlichkeit ergriffen war. Wenn man diese erste Erfahrung berücksichtigt, handelte es sich dann um eine Bekehrung im religiösen Sinne oder um eine Art rein philosophischer Erleuchtung? 40
M A T T H I E U - Um zunächst auf den ersten Aspekt Deiner Frage zurückzukommen, so glaube ich, daß es für mich ein großes Glück war, mit u n b e r ü h r t e m Geist zum Buddhismus zu kommen. Mein Interesse am Buddhismus hat daher nie einen inneren Konflikt h e r a u f b e s c h w o r e n , nie ein Gefühl der »Verwerfung« gegenüber einer anderen Religion oder einem anderen Glauben. Obwohl ich in einem freidenkerischen Milieu aufgewachsen bin, hatte ich nie eine negative Einstellung gegenüber den Religionen. Über meine Lektüre hatte ich ein tiefgehendes Interesse für die großen spirituellen Traditionen - den Hinduismus, den Islam, die Christenheit - entwickelt, ohne mich persönlich durch das Praktizieren eines Glaubens engagiert zu h a b e n . Was mich angeregt hat, den wirklich spirituellen Weg einzuschlagen, w a r also in der Tat die Begegnung mit einem der großen spirituellen Meister, mit dem Weisen Kangyour Rinpoche. Er w a r das Modell einer Vollkommenheit, deren Aspekte ich noch nicht alle erfaßte, auch wenn sie mir offensichtlich erschienen. Eine solche Begegnung ist sehr schwer zu beschreiben - ein Tibeter würde sagen, »genauso schwierig wie f ü r einen Stummen, den Geschmack des Honigs zu beschreiben«. Ihr Wert beruht darauf, daß es sich nicht um eine a b s t r a k t e Spekulation handelt, s o n d e r n um eine unmittelbare Erfahrung, eine Feststellung, die ich mit eigenen Augen gemacht habe und die mehr wert ist als tausend Vorträge. Wie habe ich den Buddhismus dann nach und nach entdeckt und ergründet? Ist er eine Religion? Ist er eine Weisheit, eine Metaphysik? Das ist eine Frage, die dem Dalai Lama häufig gestellt wird und auf die er oft mit Humor antwortet: »Armer Buddhismus! Von den Geistlichen wird er verworfen, weil er eine atheistische Philosophie ist, eine Wissenschaft des Geistes, und von den Philosophen, weil sie ihn den Religionen zuordnen. Nirgends hat der Buddhismus das Recht, sich einzubürgern.« Der Dalai Lama fügt hinzu: »Vielleicht ist das aber ein Vorteil, der es dem Buddhismus erlaubt, eine Brücke zwischen den Religionen und den Philosophien zu schlagen.« Im wesentlichen würde ich sagen,
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der Buddhismus ist eine metaphysische Tradition, von der eine Weisheit ausgeht, die sich auf alle Momente der Existenz und unter allen Umständen anwenden läßt. Der Buddhismus ist keine Religion, sofern m a n u n t e r Religion die Zugehörigkeit zu einem Dogma versteht, das durch einen blinden Glaubensakt akzeptiert werden muß, ohne daß es nötig ist, die Wahrheit der Lehre selbst zu entdecken. Wenn m a n jedoch eine der Grundbedeutungen des Wortes Religion in Betracht zieht, die Bedeutung »was miteinander verbindet«, so steht der Buddhismus ganz gewiß mit den höchsten metaphysischen Wahrheiten in Verbindung. Der Buddhismus schließt den Glauben nicht aus, sofern m a n u n t e r Glauben eine ganz persönliche, u n e r schütterliche Überzeugung versteht, die auf der Entdeckung einer i n n e r e n Wahrheit b e r u h t . Der Glaube ist auch ein E r s t a u n e n angesichts der i n n e r e n Wandlung. Andererseits veranlaßt die Tatsache, daß der Buddhismus keine theistische Tradition ist, viele Christen dazu, ihn nicht als eine »Religion« im üblichen Sinne anzusehen. Schließlich ist der Buddhismus kein »Dogma«. Denn der Buddha hat immer gesagt, man müsse seine Unterweisungen überprüfen und über sie nachdenken und dürfe sie nicht einfach aus Respekt vor ihm akzeptieren. Man müsse die Wahrheit seiner Unterweisungen erfassen, indem m a n die Etappen, die zur spirituellen Verwirklichung führen, eine nach der anderen durchläuft. Der Buddha sagte, m a n müsse sie prüfen wie ein Stück Gold. Um zu wissen, ob es rein ist, reibt m a n das Gold ü b e r einen flachen Stein, schlägt mit dem Hammer darauf und läßt es über dem Feuer schmelzen. Die Unterweisungen des Buddha sind wie S t r a ß e n k a r t e n auf dem Weg der Erleuchtung, der ä u ß e r s t e n Erkenntnis der Natur des Geistes und der Welt der Erscheinungen. Warum wird der Buddha verehrt? Er wird nicht wie ein Gott oder ein Heiliger verehrt, sondern wie der Weise an sich, wie die Personifizierung der Erleuchtung. Das sanskritische Wort »Buddha« bedeutet »der, der begriffen hat«, der, der die Wahrheit geistig erfaßt hat. Die tibetische Übersetzung »sanguie« besteht aus zwei Silben. »Sang« bedeu42
tet, daß er alles »beseitigt« hat, was das Wissen verschleiert, und auch, daß er »erwacht« ist aus der Nacht des Nicht-Wissens. »Guie« bedeutet, daß er alles »zur Entfaltung gebracht« hat, was es zu entfalten gibt, das heißt sämtliche spirituellen und menschlichen Vorzüge. J. F. - Du sprichst von der Lehre des Buddha. Was ist das aber genau für eine Lehre? Es gibt keine Originaltexte des Buddha ... M. - In Wirklichkeit gibt es im Buddhismus mehr kanonische Lehren als in jeder anderen Überlieferung. Der Buddha hat sie nicht selbst aufgeschrieben, doch die Sammlung seiner Predigten, die Lehrreden des Buddha, füllen einhundertdrei Bände des tibetischen Kanons. J. F. - Aber sind sie von ihm? M. - Auf einem Konzil kurz nach seinem Tod versammelten sich f ü n f h u n d e r t der ihm am n ä c h s t e n s t e h e n d e n Schüler - vor allem jene, die den größten Teil ihres Lebens bei ihm verbracht hatten -, um die Gesamtheit der Unterweisungen des Buddha zusammenzutragen. Die Predigten oder Lehrreden des Buddha - die Sutras - sind also von seinen besten Schülern rezitiert worden, wobei die Zuhörenden sie, falls nötig, korrigierten. Man m u ß sich in Erinnerung rufen, daß bei der Wissensübermittlung im Orient die mündliche Überlieferung immer die entscheidende Rolle gespielt hat, und zwar bis zum heutigen Tag, und daß die Orientalen oft über ein erstaunliches Gedächtnis verfügen. Das ist keine Erfindung. Ich selbst habe so m a n c h e s Mal tibetischen Meistern und Schülern zugehört, wenn sie Texte von mehreren hundert Seiten aus dem Gedächtnis rezitiert haben und dabei von Zeit zu Zeit innehielten, um den Sinn zu kommentieren. Ihre Zuverlässigkeit hat mich, der ich dem Text auf dem Papier folgte, stets verblüfft! Die Sutras beginnen mit der Wendung: »An dem und dem Ort unter den und den Umständen habe ich den Buddha so sprechen hören ...« Wenn man bedenkt, daß der Buddha von seinem dreißigsten Lebensjahr an bis zu seinem Tod im Alter von achtzig J a h r e n ohne U n t e r b r e c h u n g lehrte und, wie die buddhistischen Meister heute auch, immer wieder die glei43
chen Themen aufgriff, dann darf m a n wohl annehmen, daß die ihm am nächsten stehenden Schüler nach dreißig bis vierzig J a h r e n eine getreue Version der Lehren des Meisters im Gedächtnis behalten hatten, selbst wenn die Version nicht aufs Wort genau stimmte. Diejenigen von uns, die rund zwanzig Jahre bei den tibetischen Meistern verbracht haben, ohne mit außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet zu sein, sind imstande, die Essenz der Unterweisungen in angemessen getreuer Weise zum Ausdruck zu bringen. Den Lehrreden hinzugefügt sind noch zweihundertdreizehn Bände mit Kommentaren, Exegesen und Schriften h e r a u s r a g e n d e r indischer Weiser und Gelehrter aus den J a h r h u n d e r t e n nach dem Tod des Buddha sowie Tausende von Bänden, die anschließend in Tibet verfaßt worden sind. Sie machen die klassische tibetische Literatur nach der sanskritischen und der chinesischen zur reichsten Literatur des Orients. J. F. - Du meinst die reichste zum Thema Buddhismus? M. - Nicht nur. Die tibetische Literatur ist zwar voll und ganz den buddhistischen Unterweisungen und den hinzukommenden traditionellen Wissenschaften gewidmet - der Medizin, der Grammatik, den Sprachen, der Astronomie ... Trotzdem ist sie vom Reichtum und vom Umfang h e r die dritte Literatur des Orients. Bis in die letzten Jahre hinein hatte es nie tibetische »Romane« gegeben ... Die Wirklichkeit bietet genug Herausforderungen! J. F. - Ja ... Wenn m a n aber auf das Studium des Buddhismus die Kriterien der Geschichtsforschung anwendet, scheint es so, als hätten die Nachfolger des Buddha beträchtliche Phantasie an den Tag gelegt.* Hinsichtlich seiner wundersamen Geburt hat sich eine Hagiographie herausgebildet: Den Mutterleib soll er über die rechte Seite verlassen haben, und bereits zehn Monate vor der Nieder* H. W. S c h u m a n n : Der historische Buddha. E u g e n D i e d e r i c h s Verlag, 1 9 8 2 . Thich N h a t H a n h (Alter Pfad, weiße Wolken. Leben und Werk des Gautama Buddha. T h e s e u s Verlag, 1994-) gibt u n s eine a n r e g e n d e poetis c h e Version vom Leben des B u d d h a , die die ü b e r n a t ü r l i c h e n Aspekte ausspart.
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k u n f t soll er in der Brust seiner Mutter voll ausgebildet gewesen sein usw. Es scheint so, als habe die orientalische Einbildungskraft, wie in allen Hagiographien, eine ganze Menge hinzugedichtet. Jedenfalls dürfte es schwierig sein, das historisch authentische Substrat der Lehre des Buddha wiederzufinden. Du wirst mir entgegenhalten, dasselbe gelte für Sokrates, von dessen Denken wir nur über andere wissen. Man weiß nicht genau, was in den Erzählungen seiner Schüler von Sokrates selbst stammt und was von Piaton oder Xenophon hinzugefügt worden ist. Es handelt sich hier jedoch um Zeitgenossen des Sokrates. Außerdem verfügen wir über das Zeugnis des Aristophanes, eine interessante Kontrolle, da er Sokrates feindlich gesonnen war. Im Falle des Buddha scheint der der indischen Phantasie eigene Sinn f ü r das W u n d e r b a r e eine u n w i d e r l e g b a r e Eingrenzung der authentischen Lehre des Buddha äußerst schwer gemacht zu haben. M. - Der Inhalt der Unterweisungen des Buddha ist, wie ich eben gesagt habe, zunächst von seinen Zeitgenossen festgehalten worden. Außerdem zieht das Wunderbare, von dem Du sprichst, den Wortlaut der Unterweisungen nicht in Mitleidenschaft. Es betrifft n u r die Buddha-Hagiographien, die im Laufe der J a h r h u n d e r t e geschrieben worden sind. Die Unterweisungen selbst behandeln philosophische oder metaphysische Themen - das Wesen des Seins, das NichtWissen, die Ursache des Leids, die Nicht-Existenz des Selbst und der Erscheinungen als selbständige Entitäten, das Gesetz von Ursache und Wirkung etc. Solche Themen sind wohl k a u m dazu geeignet, mit W u n d e r b a r e m ausgeschmückt zu werden! J. F. - Kommen wir nun auf die Frage zurück: Philosophie oder Religion? Oder Philosophie und Religion? Mich erstaunt, daß der Buddhismus im Westen im wesentlichen ein positives Image hat. Nicht n u r im Augenblick, wo die Sympathie vom Mitgefühl f ü r die Leiden des tibetischen Volkes stimuliert ist, das noch verstärkt wird durch das Ansehen, das die Person des Dalai Lama auf internationaler Ebene erlangt hat, durch die Zuneigung, ja Verehrung, die 45
er selbst auf Kontinenten, wo der Buddhismus unbekannt ist, auf sich gezogen hat. Abgesehen von diesem aktuellen politischen Faktor genießt der Buddhismus im Westen einen Respekt, der älteren Datums ist. Man hat in ihm immer eine geläuterte Lehre gesehen. Er ist also geeignet, vom kritischen Verstand, vom abendländischen Rationalismus angenommen zu werden, indem er ihm eine moralische und spirituelle Dimension hinzufügt: eine Dimension von Weisheit, wenn nicht sogar mehr, die mit den Kriterien, die im Abendland seit dem Zeitalter der sogenannten »Philosophie der Aufklärung« und des Rationalismus im 18. J a h r h u n d e r t entwickelt worden sind, und mit dem modernen wissenschaftlichen Geist nicht unvereinbar ist. Wenn m a n nach Asien kommt, wird diese ätherische Vorstellung allerdings auf eine harte Probe gestellt. Jemand wie ich ist über viele Aspekte der buddhistischen Praxis, die ich n u r als abergläubisch bezeichnen kann, erstaunt, ich w ü r d e sogar sagen schockiert. Die Gebetsfahnen, die Gebetsmühlen, den Glauben an die Reinkarnation. M. - Bevor ich den Begriff der »seelenlosen Reinkarnation« kläre, antworte ich in der Reihenfolge Deiner Fragen. Zuerst hast Du festgestellt, der Buddhismus w e r d e im Abendland als intellektuell völlig a n n e h m b a r e Metaphysik angesehen. Ich glaube, der Hauptgrund dafür ist, daß sich der Buddhismus fundamentalen, jedes Lebewesen betreffenden Sorgen zuwendet und daß seine wesentlichsten Lehren weder exotisch gefärbt noch von derartigen kulturellen Faktoren beeinflußt sind, wie sie Dich überrascht haben. Der Buddhismus analysiert und zerlegt die Mechanismen von Glück und Leid. Woher kommt das Leid? Was sind seine Ursachen? Wie ist denen abzuhelfen? Über die Analyse und die Kontemplation dringt der Buddhismus so nach und nach zu den grundlegenden Ursachen des Leids vor. Das ist eine Suche, die für jeden Menschen von Interesse ist, ganz gleich, ob er nun Buddhist ist oder nicht. J. F. - Definiere, was Du als Leid bezeichnest. M. - Leid ist ein Zustand tiefer Unzufriedenheit, der mit physischem Schmerz einhergehen kann, aber in e r s t e r 46
Linie eine geistige E r f a h r u n g ist. Natürlich n e h m e n verschiedene Personen dieselben Dinge unterschiedlich wahr, sei es als angenehm oder als u n a n g e n e h m . Leid entsteht, wenn das »Ich«, das wir lieben und schützen, bedroht wird oder nicht bekommt, was es sich wünscht. Die intensivsten physischen Leiden können, je n a c h geistiger Verfassung, auf sehr unterschiedliche Weise erlebt werden. Außerdem können die alltäglichen Lebensziele wie Macht, Besitz, Sinnesfreuden oder Ansehen vorübergehend Befriedigung verschaffen. Sie sind a b e r nie die Quelle einer d a u e r h a f t e n Befriedigung und verwandeln sich f r ü h e r oder später in Unzufriedenheit. Zu einer dauerhaften Vollkommenheit, zu einem inneren Frieden, der gegen äußere Umstände gefeit ist, verhelfen sie nie. Wenn wir u n s e r ganzes Leben lang weltliche Ziele verfolgen, h a b e n wir genauso wenig Aussicht, wirkliches Glück zu erlangen, wie ein Fischer, der seine Netze in einem ausgetrockneten Fluß auswirft. J. F. - Wir kennen das in exakt den Begriffen aus dem Epikureismus und dem Stoizismus. M. - Dieser Zustand der Unzufriedenheit ist charakteristisch f ü r die bedingte Welt, die von Natur aus n u r vergängliche Befriedigungen verschaffen kann. In der buddhistischen Begrifflichkeit sagt m a n , die Welt oder der »Kreislauf« der Wiedergeburten, der Samsara, ist von Leid erfüllt. Das ist jedoch in keiner Weise eine pessimistische Weltanschauung, sondern eine bloße Feststellung. Der folgende Schritt besteht nämlich darin, Heilmittel gegen das Leid zu suchen. Deswegen muß man seine Ursache kennen. In einer ersten Analyse kommt der Buddhismus zu dem Schluß, das Leid habe seine Ursache in der Begierde, in der Neigung, im Haß, im Hochmut, in der Eifersucht, im Mangel an Unterscheidungsvermögen sowie in sämtlichen geistigen Faktoren, die als »negativ« oder »verdüsternd« bezeichnet werden, da sie den Geist trüben und in einen Zustand der Verwirrung und Unsicherheit versetzen. Diese negativen Gefühlsregungen gründen in der Vorstellung eines »Ich«, das wir lieben und um jeden Preis schützen wollen. Die Anhänglichkeit ans Selbst ist eine Tatsache, doch das 47
Objekt der Zuneigung, das »Ich«, hat keine reale Existenz es existiert nirgendwo und in keiner Weise als selbständige, dauerhafte Entität. Es existiert weder in den Bestandteilen, die das Individuum a u s m a c h e n - dem Körper und dem Geist -, noch außerhalb dieser Bestandteile, noch in ihrer Verbindung. Wenn m a n b e h a u p t e t , das Selbst sei der Zusammenschluß dieser Bestandteile, so läuft das auf das Eingeständnis hinaus, d a ß es sich n u r um eine einfache Bezeichnung handelt, die der Intellekt dem vorübergehenden Zusammenschluß verschiedener, voneinander abhängiger Elemente gegeben hat. Das Selbst existiert nämlich in keinem dieser Elemente, und der Begriff des Selbst verschwindet, sobald sich die Elemente trennen. Nicht-Wissen ist, wenn m a n den Schwindel des Selbst nicht aufdeckt: die vorübergehende Unfähigkeit, das w a h r e Wesen der Dinge zu erkennen. Das Nicht-Wissen ist also der w a h r e Grund für das Leid. Wenn es uns gelingt, unser fehlerhaftes Verständnis des Selbst und den Irrglauben an die Beständigkeit der Erscheinungen auszuräumen, wenn wir erkennen, daß das »Ich« keine eigene Existenz besitzt, weshalb sollten wir dann befürchten, daß wir nicht bekommen, was wir ersehnen, und daß wir erleiden, was wir nicht wünschen? J. F. - Dieser Teil der Analyse ist dem Buddhismus und vielen abendländischen Philosophien - sagen wir der Weisheit der Antike - gemeinsam. In Frankreich findet man ihn bei Montaigne wieder und später mit einem apologetischen christlichen Vorsatz bei Pascal. M. - Vielleicht ist es wegen dieser ursprünglichen Einfachheit des Buddhismus, wegen seiner Allgemeinverständlichkeit, daß sich die abendländische Welt mit seiner Lehre vertraut fühlt und auf Anhieb Zugang zu ihm finden kann. J. F. - Was m a n c h e abendländischen Philosophen am Buddhismus angezogen hat, ist m e i n e r Ansicht n a c h die Vorstellung, zu einer gewissen Gelassenheit zu gelangen. Ich möchte hier nicht das Wort »Apathie« in seiner negativen Bedeutung v e r w e n d e n . Es handelt sich d a r u m , w a s einige psychologische Schulen mit dem hochgestochenen Wort Ataraxie bezeichnet haben. Ataraxie ist jener Zustand 48
der Unerschütterlichkeit, den der Weise - laut Stoizismus erreichen muß, das heißt die Tatsache, daß man den unvorh e r s e h b a r e n Einflüssen des Guten und Bösen, die in der Alltagswirklichkeit auftreten, nicht mehr ausgeliefert ist. M. - Es ist wichtig, Gelassenheit und Apathie nicht zu verwechseln. Ein Kennzeichen f ü r eine f o r t w ä h r e n d e spirituelle Praxis ist das Gefeitsein gegen äußere, günstige oder ungünstige Umstände. Den Geist des Praktizierenden vergleicht m a n mit einem Berg, den die Winde nicht ins Wanken bringen können: Weder läßt er sich durch Schwierigkeiten in Sorge versetzen, noch durch Erfolg in Überschwenglichkeit. Eine solche innere Unerschütterlichkeit ist aber weder Apathie noch Gleichgültigkeit. Sie geht einher mit einem wirklichen inneren Jubel und einer Öffnung des Geistes, die sich in absoluter Selbstlosigkeit äußert. J. F. - Das ist das allen Weisheitslehren gemeinsame Element. Man hätte glauben können, es handle sich um das Porträt eines stoischen Weisen. Im übrigen verwundert es nicht, daß der Buddhismus ausgerechnet in einem wissenschaftlichen Zeitalter ein gewisses Ansehen im Abendland erlangt hat. Denn die Philosophien h a b e n das Weisheitsideal a u f g e g e b e n , das d a r i n b e s t a n d , den Lesern oder Zuhörern die Wege der Weisheit zu eröffnen. Der Reiz des Buddhismus scheint freilich über das allen Weisheitslehr e n gemeinsame Gut noch ein kleines Stück hinauszugehen ... Bis zum Aufgehen des Selbst in einer Art Indetermination. M. - Es geht ganz und gar nicht darum, in einer amorphen Unbestimmtheit zu erlöschen, sondern d a r u m , mit Klarsicht a n z u e r k e n n e n , daß das »Ich« ü b e r h a u p t keine eigene Existenz hat und daß es die Ursache all unserer Leiden ist. Der Buddhismus bietet eine vielfältige Auswahl von Mitteln an, um zum inneren Frieden zu gelangen. Die Voraussetzung dafür ist die Lockerung der Bindung ans Selbst. Man begnügt sich nicht damit, die geistigen Begebenheiten zu beschreiben, sondern man transformiert und »befreit« sie. Bevor ich auf diese Mittel zu sprechen komme, möchte ich ein paar Worte zum Ego sagen, zur Anhänglichkeit ans 49
Selbst, die der Hauptausdruck des Nicht-Wissens und die Ursache für die störenden Gefühlsregungen ist. Denn der Buddhismus bietet eine sehr detaillierte Analyse des EgoBegriffs, der Art, wie man sich selbst als »Person« und die ä u ß e r e n Erscheinungen als beständige »Entitäten« wahrnimmt. Die Wurzel sämtlicher störenden Gefühlsregungen liegt in der Wahrnehmung unserer Person, unseres »Ich« als einer Entität, die auf autonome Weise für sich existieren soll, sei es im Strom unseres Denkens, sei es in u n s e r e m Körper. Wenn es dieses Selbst aber wirklich gibt, wo ist es dann? Im Körper? Im Herzen? Im Gehirn? Ist es überall im Körper verstreut? Es ist leicht zu erkennen, daß das »Ich« nirgendwo im Körper existiert. J. F. - Ich habe den Eindruck, auf jene Epoche zurückzukommen, als sich die abendländischen Philosophen fragten, wo sich die Seele im Körper befindet. Descartes lokalisierte sie in der Zirbeldrüse, der Hirnanhangdrüse. Aber ist diese Frage nicht kindisch? Das Selbstbewußtsein existiert, ohne daß es sich deswegen in diesem oder jenem Teil des Körpers aufhalten muß! M. - Der nächste Schritt besteht daher darin, sich zu fragen, ob das »Ich« in u n s e r e m Geist, im Strom u n s e r e s Bewußtseins gegenwärtig ist. Dieser Strom kann in vergangene, gegenwärtige und zukünftige Gedanken untergliedert w e r d e n . Das »Ich« kann a b e r nicht die Summe dieser Momente sein, denn eine solche Summe existiert zu keinem dieser speziellen Momente. Das vergangene Denken ist tot, es existiert nicht mehr. Wie könnte das Selbst zu etwas gehören, das nur noch Erinnerung ist? Die Zukunft ist noch nicht angebrochen, folglich kann sich das Selbst auch nicht in einer inexistenten Zukunft befinden. Bleibt die Gegenwart. Um zu existieren, müßte die Entität des »Ich« ganz bestimmte Merkmale aufweisen. Doch es hat weder eine Farbe noch eine Form noch eine Lokalisierung. Je m e h r m a n n a c h ihm sucht, desto weniger findet m a n es! Das Selbst ist also nur die Bezeichnung f ü r eine Scheinkontinuität. Mit einer solchen Methode läßt sich die Anhänglichkeit an 50
die Vorstellung eines »Ich« schwächen, das wie eine allmächtige Entität betrachtet wird und uns dazu bringt, zu wollen, was wünschenswert ist, und zurückzuweisen, was es nicht ist. Dieses Gefühl eines selbständigen »Ich« provoziert gewöhnlich einen Bruch zwischen dem »Ich« und »den a n d e r e n « . Der Wechsel von Anziehung und Abstoßung bringt eine Unzahl störender Gedanken und Gefühlsregungen mit sich, die sich in Worten und Handlungen niederschlagen und u n s e r Leid b e g r ü n d e n . Wenn m a n durch unmittelbare Erfahrung, durch Analyse und vor allem durch Kontemplation entdeckt, daß das »Ich« keine wirkliche Existenz hat, so ist das ein ungeheuer befreiender Vorgang. Ich glaube, diese Art der Analyse hat sich für viele Menschen aus dem Westen als nützlich erwiesen, um so mehr, als sie mit einer unglaublichen Vielfalt von Techniken einhergeht, die es erlauben, die Gedanken zu bearbeiten, um nicht mehr ihr Sklave zu sein. Aber wir kommen darauf noch zurück. J. F. - Uff! Die p a a r technischen Details h ä t t e n wir gerne ... M. - In der Theorie spricht man von vierundachtzigtausend Zugängen oder Eingangstüren zum Buddhismus! Die Zahl macht deutlich, daß im Grunde j e d e r da a n f a n g e n kann, wo er sich befindet. Zur Besteigung des Mount Everest kann m a n entweder aus einem Pariser Vorstadtstau a u f b r e c h e n oder aus der sattgrünen nepalesischen Landschaft: Das Ziel ist dasselbe, nur die Reisemodalitäten sind verschieden. Genauso beginnt der spirituelle Weg an dem Punkt, wo er oder sie sich gerade befindet: mit einem Naturell, mit inneren Anlagen, einer geistigen Haltung, unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen ... Jeder kann einen Weg »nach Maß« finden, um sein Denken zu beeinflussen, um sich nach und nach vom Joch der störenden Gefühlsregungen zu befreien und schließlich das äußerste Wesen des Geistes zu erkennen. J. F. - Die Methoden sind zwar nicht überall die gleichen, doch diesen Aspekt kennen wir auch aus einer bestimmten Tradition der abendländischen Philosophie. Die Frage, wie m a n seinem eigenen Denken Disziplin auferlegt, ist eines 5t
der großen Themen der antiken Philosophie. Die moderne Philosophie hat weit mehr den Ehrgeiz, die Funktionsweise des Geistes zu erkennen, als ihn zu modifizieren. M. - Der Buddhismus kombiniert die Erkenntnis der Funktionsweise des Geistes, dem er ganze Abhandlungen widmet, mit der Erkenntnis seines äußersten Wesens. Eine solche Erkenntnis hat im Hinblick auf die »Ich«-Bezogenheit eine befreiende Wirkung. Das zu diesem Zweck entwickelte Angebot ist wirkungsvoll und vielfältig zugleich. Ein erster Schritt ist der Einsatz von Gegenmitteln gegen die s t ö r e n d e n Gefühlsregungen: Gegen den Zorn bringt man die Geduld zur Geltung, gegen die Begierde die NichtAnhänglichkeit, gegen die mangelnde Einsicht die Analyse der Mechanismen von Ursache und Wirkung. Wenn m a n den Emotionen freien Lauf läßt, wird der Haß zum Beispiel nur Haß erzeugen. Die Geschichte der Menschen und Völker hat wirklich gezeigt, daß der Haß noch nie einen Konflikt gelöst hat. J. F. - Das hängt davon ab, für wen ... Im uralten Spiel von Macht und Verbrechen gibt es leider Sieger. Wege zur Beseitigung des Hasses findet m a n in den Evangelien. M. - Natürlich! Es ist interessant und vom spirituellen Standpunkt aus normal, auf solche Übereinstimmungen mit den abendländischen Traditionen zu stoßen. Aber kommen wir auf den Haß zurück. Nehmen wir zum Beispiel jemanden, der uns in einem Anfall von Wut mit einem Stock schlägt. Niemand wird d a r a n denken, dem Stock böse zu sein - das ist klar. Sollen wir auf die Person zornig sein, die uns angreift? Wenn m a n es recht bedenkt, wird sie von einer Zornesaufwallung verzehrt, die ihre Ursache im Nicht-Wissen hat. Sie hat jede Kontrolle über sich verloren. In Wirklichkeit ist diese Person genauso bemitleidenswert wie ein Kranker oder ein Sklave. Man kann ihm nicht wirklich böse sein. Der w a h r e Feind, der kein Mitgefühl verdient, ist letztlich die Wut selbst. J. F. - Ja, aber Du vergißt bei alldem ein wenig die praktische Seite ... Möglicherweise hat Dich die Person, bevor Du ü b e r h a u p t die Zeit g e f u n d e n hast, diese glänzende 52
Überlegung anzustellen, bereits niedergeschlagen und vom Leben ins Jenseits befördert! Also ... M. - Am besten wäre es natürlich, der Auseinandersetzung zu entgehen, indem m a n den Angreifer ausschaltet oder die Flucht ergreift. Das schließt den Einsatz aller angemessenen Mittel und der nötigen Robustheit nicht aus. Haß darf man jedoch niemals einsetzen. Im tiefsten Innern seiner selbst muß m a n ein unbezwingbares Mitgefühl und unerschöpfliche Geduld behalten. Es geht w e d e r d a r u m , sich passiv der Willkür der Angreifer auszuliefern, noch zu versuchen, sie mit Gewalt zu vernichten, da immer wieder a n d e r e a u f t a u c h e n w e r d e n . Es geht vielmehr um die Erkenntnis, daß der Hauptfeind, den m a n gnadenlos bekämpfen muß, der Wunsch zu schaden ist. Das ist es, was m a n begreifen und n a c h Möglichkeit den a n d e r e n verständlich machen muß. J. F. - Warte! Du wirst mir noch die ganze buddhistische Lehre herunterspulen! Das könnte ein bißchen lange dauern ... Wir kommen darauf zurück ... Aber Du bist, wie ich sehe, noch nicht auf meinen Einwand hinsichtlich des Aberglaubens eingegangen. M. - Wir kommen noch dazu. Gestatte mir aber zuerst, den Überblick zu vervollständigen. Die Verwendung von Gegenmitteln ist eine effiziente, aber beschränkte Methode. Störende Gefühlsregungen gibt es nämlich in unendlicher Zahl, und man müßte eine unendliche Zahl von Gegenmitteln einsetzen, um ihnen entgegenzuwirken. Der zweite Schritt besteht d a h e r in dem Versuch, das Wesen der Gedanken zu erfassen und zu ihrem Ursprung vorzudringen. So sitzt uns ein Gedanke des Hasses, der uns außerordentlich stark und machtvoll erscheint, wie ein Knoten in der Brust und verändert unser Verhalten völlig. Wenn man ihn jedoch betrachtet, sieht m a n , d a ß er keine Waffe schwingt, daß er uns nicht wie ein Fels zermalmen oder wie ein Feuer v e r b r e n n e n kann. In Wirklichkeit hat alles mit einem winzigen Gedanken a n g e f a n g e n , der gleich einer Gewitterwolke nach und nach angewachsen ist. Sommerwolken können von weitem sehr eindrucksvoll und fest 53
erscheinen, so als könne m a n sich auf sie setzen. Wenn man aber in sie eindringt, ist da nichts, sie sind nicht greifbar. Wenn m a n einen Gedanken b e t r a c h t e t und zu seinem Ursprung vordringt, findet m a n ebenfalls nichts Greifbares. Noch im selben Moment löst sich der Gedanke auf. Man nennt das »die Gedanken befreien, indem m a n ihr Wesen schaut«, indem man ihre »Leere« erkennt. Ein so »befreiter« Gedanke wird keine Kettenreaktion auslösen, er wird sich verflüchtigen, ohne eine Spur zu hinterlassen, wie ein Vogel, der am Himmel fliegt. J. F. - Diese optimistische Vorstellung gehört zu einer allgemein verbreiteten Tradition beruhigender Weisheit. M. - Man soll sich nicht täuschen. So einfach die Befreiung der Gedanken auf den ersten Blick auch erscheinen mag, sie ist weder eine optimistische Vorstellung noch eine unhaltbare Sammlung erfolgloser Mittel. Die angewandten Techniken leiten sich von einer j a h r t a u s e n d e a l t e n »kontemplativen Wissenschaft« ab. Unter beträchtlichen Mühen wurde sie von Eremiten erarbeitet, die sich über zwanzig oder dreißig J a h r e ihres Lebens hinweg viele Stunden am Tag mit ihr b e f a ß t e n . Es ist unerläßlich, zumindest die ersten Schritte auf dem Gebiet der Erfahrung zu machen, um zu sehen, worum es geht. Manch einer zweifelt nämlich ein solches Wissen an, das mit u n v e r t r a u t e n Methoden angesammelt worden ist. Jeder Wissenschaft ihre Instrumente: Ohne Teleskop kann man nicht die Krater des Mondes w a h r n e h m e n , ohne kontemplative Praxis nicht das Wesen des Geistes. J. F. - Vorgestern zum Beispiel haben wir in Eurem Kloster in Katmandu die Darstellung eines dreijährigen Kindes gesehen, das vor kurzem als die Reinkarnation Deines verstorbenen Meisters Khyentse Rinpoche »erkannt« worden ist. Kraft welchen Verfahrens hat m a n entschieden, daß sich der Rinpoche in diesem Kind reinkarniert hatte? M. - Das F o r t d a u e r n des Bewußtseins nach dem Tod gehört in den meisten Religionen zur offenbarten Lehre. Im Falle des Buddhismus begibt man sich auf die Ebene der kontemplativen Erfahrung von Menschen, die zwar außer54
gewöhnlich, doch zahlreich genug sind, daß m a n ihrem Zeugnis, angefangen mit dem des Buddha, Glauben schenken kann. Zunächst einmal m u ß m a n begreifen, daß die buddhistische Vorstellung von der Reinkarnation mit der Seelenwanderung, mit der Metempsychose, nichts zu tun hat. Solange m a n in Begriffen der Entität denkt statt in solchen der Funktion und der Kontinuität, k a n n m a n den buddhistischen Begriff der Wiedergeburt nicht verstehen. Man sagt, »daß sich kein Faden durch die Perlenkette der Wiedergeburten zieht«. Nicht die Identität einer »Person« zieht sich durch die aufeinanderfolgenden Wiedergeburten, sondern die Konditionierung eines Bewußtseinsstroms. J. F. - Gibt es die Metempsychose, die Seelenwanderung, im Buddhismus nicht? Ich habe zu verstehen geglaubt, die S e e l e n w a n d e r u n g sei eine grundlegende Lehre des Buddhismus. M. - Der Buddhismus spricht von Existenzzuständen, die aufeinanderfolgen: Nicht alles b e s c h r ä n k t sich auf das gegenwärtige Dasein. Vor unserer Geburt haben wir andere Existenzzustände e r f a h r e n , nach dem Tod werden wir a n d e r e k e n n e n l e r n e n . Das f ü h r t uns natürlich zu einer grundlegenden Frage: Existiert ein immaterielles, vom Körper deutlich zu unterscheidendes Bewußtsein? Man kann nicht von Reinkarnation sprechen, bevor m a n nicht die Beziehungen von Körper und Geist untersucht hat. Da der Buddhismus die Existenz eines individuellen, als abgetrennte Entität aufgefaßten »Ich«, das von Existenz zu Existenz wandert und von einem Körper zum nächsten übergeht, verneint, kann m a n sich a u ß e r d e m fragen, was die aufeinanderfolgenden Existenzzustände verbindet. J. F. - Das ist schwer zu begreifen. M. - Es handelt sich um ein Kontinuum. Ein Bewußtseinsstrom setzt sich fort, ohne d a ß es eine bestimmte selbständige Entität gibt, die ihn durchläuft. J. F. - Eine Folge von Wiedergeburten ohne jede determinierte Entität, die sich reinkarniert? Das wird ja immer obskurer ... M. - Man kann das mit einem Fluß vergleichen, auf dem 55
kein Boot hinabfährt, oder mit der Flamme einer Lampe, die eine zweite Lampe anzündet, die dann wiederum eine dritte und so fort: Am Ende der Kette ist die Flamme weder dieselbe noch eine andere ... J. F. - Bloße Metaphern ... M. - Wir sollten damit anfangen, diverse moderne und f r ü h e r e Vorstellungen über das Verhältnis von Geist und Körper zu analysieren. J. F. - Ja, das ist eines der großen Themen ... Aber ich w a r mir über ein paar Aspekte, zum Beispiel die Gebetsfahnen, noch nicht im klaren. In den geläutertsten Religionen sagen wir jenen, die sich am weitesten vom Aberglauben distanzieren - ist das Gebet etwas sehr Persönliches. Die Vorstellung, ein mechanischer, zum Rotieren g e b r a c h t e r Gegenstand wie die Gebetsmühlen oder eine Fahne, die nach und nach im Wind zerfranst, könnten an die Stelle des Gebets treten, scheint mir die niedrigste Stufe, der Nullpunkt des Gebets zu sein! Man begreift nicht, wie eine so subtile Lehre wie die des Buddhismus solche Glaubensüberzeugungen befürworten kann! M. - Diese Bräuche sind in Wirklichkeit sehr weit vom Aberglauben entfernt. Sie spiegeln nur den Reichtum der vom Buddhismus aufgebotenen Mittel, um unsere Geistesgegenwart fortwährend neu zu beleben. Sämtliche Naturelemente - den Wind, der die F a h n e n flattern läßt, das Feuer der Lampe, dessen W ä r m e eine Gebetsmühle zum Drehen bringt, den Stein, in den m a n die Gebete einritzt, das Wasser eines Gebirgsbaches, das die Flügel einer ander e n Gebetsmühle antreibt - benutzt m a n als Mahnung, damit jede Tätigkeit, jedes Naturelement, alles, was sich unseren Augen darbietet, ein Anreiz zur inneren Andacht, zur Selbstlosigkeit ist. Wenn ein Tibeter die Gebetsfahnen bedruckt und sie im Wind flattern läßt, denkt er: »Wohin der über diese Gebete hinwegstreichende Wind auch immer weht, mögen alle Lebenden vom Leid und den Ursachen des Leids befreit werden. Mögen sie das Glück kennenlernen und die Ursachen des Glücks.« Er erneuert das Gelübde des Bodhisattva ... 56
J. F. - Der Bodhisattva, das ist ... M. - Das ist der, der zum Wohle der a n d e r e n die Buddhaschaft anstrebt, die Vollkommenheit. Sein Gelübde ist nicht egozentrisch. Er denkt nicht: »Möge ich vom Leid befreit werden, von allen Widrigkeiten des gewöhnlichen Lebens, vom Teufelskreis des Samsara.« Es ist ein selbstloses Gelübde, das seinen Ursprung in der Kontemplation der menschlichen Leiden hat: »Ich bin derzeit nicht fähig, die vielfältigen Leiden der Menschen zu lindern. Möge ich mir das Wissen aneignen, um imstande zu sein, ihnen allen dabei zu helfen, sich von den Ursachen des Leids zu befreien.« Man profitiert von äußeren Anstößen, damit alles, was wir sehen und hören, die selbstlose Haltung ins Gedächtnis ruft und zur Reflexionsstütze wird: Die Natur selbst wird so zum Lehrbuch. Alles regt uns zur spirituellen Praxis an. Das ist überdies eine sehr menschliche Methode, um Buddhas Anweisungen nicht zu vergessen. J. F. - Bist Du sicher, d a ß dieses Konzept dem durchschnittlichen Buddhisten etwas bedeutet? Glaubt er nicht ganz einfach, daß die Gebetsmühle für ihn betet? M. - Selbst w e n n nicht alle Tibeter die Lehre und den Symbolismus im einzelnen kennen, glaube ich, daß sie eine Gebetsmühle nicht in Bewegung setzen, damit ihre alltäglichen Wünsche - in bezug auf Gesundheit, Wohlstand und Erfolg - in Erfüllung gehen. Sie sind geistig geprägt von der Vorstellung, »Verdienst« anzuhäufen. Unter Verdienst versteht m a n einen positiven geistigen Faktor, der dazu beiträgt, die negativen geistigen Faktoren zu beseitigen. Vorherrschend ist bei ihnen der Gedanke, den Strom ihres Denkens durch eine »Anhäufung von Verdiensten« zu verbessern, zu läutern, und so diesen positiven, zur Erkenntnis neigenden Strom zu stärken. Deshalb werfen sich die Leute nieder, deshalb kreisen sie respektvoll um die heiligen Monumente und bringen in den Tempeln Lichtopfer dar. J. F. - Das Anzünden einer Kerze in einer Kirche schließt im Katholizismus die ü b e r a u s abergläubische Vorstellung mit ein, daß uns diese Kerze im Hinblick auf die Erhörung eines Wunsches die Gunst eines Heiligen, die Gunst der 57
Jungfrau Maria oder die von Gott selbst verschaffen könne. Der Aberglaube geht so weit, daß m a n häufig Leute, die selbst nicht praktizieren, ja nicht einmal gläubig sind, dabei beobachtet, wie sie beim Besuch einer Kathedrale eine Kerze darbringen. M. - Solche Bräuche sind nützliche äußere Anstöße, die es den Gläubigen erlauben, sich mit einer inneren Wahrheit in Verbindung zu setzen. Wenn die gläubigen Tibeter Tausende von Butterleuchten - die Entsprechung der Kerzen d a r b r i n g e n , so ist ihnen, wie ich aus eigener E r f a h r u n g weiß, bewußt, daß das Licht die Erkenntnis symbolisiert, die die Finsternis vertreibt. Das Gebet, das ein Gläubiger beim Darbringen der Leuchten spricht, lautet: »Möge das Licht der Erkenntnis in mir und in allen Menschen aufgehen, in diesem und in den folgenden Leben.« Selbst den einfachen Leuten ist der Symbolismus bewußt. Genauso ist es, wenn sie die Mantras aufsagen. J. F. - Definiere ein Mantra. M. - Etymologisch bedeutet Mantra »was den Geist schützt«, nicht vor irgendeinem Unheil, sondern vor der Zerstreutheit, der geistigen Verwirrung. Ein Mantra ist eine kurze, mehrfach wiederholte Formel, so wie beim Herzensgebet der Orthodoxen, wo der Name Jesu fortwährend wiederholt wird. Diese Technik der Wiederholung findet sich in allen spirituellen Traditionen. J. F. - Spirituell ist das nicht ihr höchster Gesichtspunkt. M. - Warum nicht? Das Rezitieren dient der Beruhigung der oberflächlichen Geistesregungen und gestattet es, das Wesen dieses Geistes zu beobachten. J. F. - Zugegeben. Aber k o m m e n wir auf die Frage der Seelenwanderung oder der Reinkarnation zurück. Du führst das Beispiel eines Flusses ohne Boot an ... Daran mißfällt mir in erster Linie die Vorstellung eines unpersönlichen Flusses, der von Individuum zu Individuum fließt, und daß diese Individuen im übrigen Menschen oder Tiere sein können ... M. - ... oder auch andere Formen ... J. F. - Oder andere Lebensformen. Das Ziel der buddhi58
stischen Praxis ist demnach, zur Auflösung des Selbst im Nirvcma zu gelangen - das heißt, wenn ich recht verstanden h a b e , die völlige Entpersönlichung des spirituellen Elements. Wie kann man unter diesen Voraussetzungen aber mit Gewißheit sagen, daß sich dieses bestimmte Individuum - das heißt eine klar und deutlich charakterisierte Persönlichkeit - in jenem bestimmten Individuum reinkarniert hat? In Anbetracht der Tatsache, daß mehr als sechs Milliarden Menschen auf der Erde leben, zuzüglich der ich weiß nicht wie vielen Milliarden Tiere etc., gibt es also dementsprechend viele Flüsse, die fließen ... Die provisorischen, k o n k r e t e n individualisierten Formationen ausfindig zu machen, in denen dieser oder jener Fluß nach dem Tod der vorherigen Inkarnation fließt, scheint mir ein völlig unmögliches Unterfangen ... Es sei denn, m a n nimmt magische oder subjektive Identifikationsprinzipien von der Größeno r d n u n g des W u n d e r b a r e n in Anspruch, die nicht s e h r überzeugend sind. M. - Man kann von »individuellem« Bewußtsein sprechen, selbst wenn das Individuum nicht als isolierte Entität existiert. Der ausbleibende T r a n s f e r diskontinuierlicher Entitäten steht der Weiterführung einer Funktion nämlich nicht im Wege. Daß das Selbst keine eigene Existenz hat, unterbindet nicht, daß ein bestimmter Bewußtseinsstrom Merkmale hat, die ihn von einem anderen unterscheiden. Obwohl kein Boot auf dem Fluß schwimmt, kann er trotzdem voller Sedimente, von einer Papierfabrik verschmutzt oder s a u b e r und klar sein. Der Zustand des Flusses zu einem bestimmten Zeitpunkt ist das Abbild und das Ergebnis seiner Geschichte. Entsprechend sind die individuellen Bewußtseinsströme mit dem Ergebnis der positiven oder negativen Gedanken beladen sowie mit den Spuren, die die aus diesen Gedanken resultierenden Taten und Äußerungen im Bewußtsein hinterlassen haben. Absicht der spirituellen Praxis ist, diesen Fluß nach und nach zu reinigen. Der äußerste Zustand der Klarheit ist die sogenannte spirituelle Verwirklichung. Dann sind sämtliche negativen Gefühlsregungen, sämtliche Schleier, die das Wissen verhüllen, 59
aufgelöst. Es geht nicht darum, das »Ich«, das nie wirklich existiert hat, zunichte zu machen, sondern bloß darum, seinen Betrug aufzudecken. Wenn dieses »Ich« wirklich eine Existenz an sich hätte, könnte man es niemals von der Existenz zur Nicht-Existenz befördern. J. F. - Du willst demnach etwas beseitigen, das anfangs nicht existiert. M. - Man kann ein inexistentes Selbst nicht »beseitigen«, a b e r m a n k a n n seine Inexistenz a n e r k e n n e n . Wir wollen eine Illusion beseitigen. Der Irrtum hat keine eigene Existenz. Folgendes Beispiel f ü h r e n wir an: Wenn m a n im Halbdunkel eine bunte Schnur wahrnimmt und sie für eine Schlange hält, verspürt man ein Gefühl der Angst. Vielleicht wird m a n versuchen, die Flucht zu ergreifen oder die Schlange mit einem Stock zu entfernen. Wenn aber jemand das Licht anmacht, sehen wir sofort, daß es sich gar nicht um eine Schlange handelt. In Wirklichkeit ist nichts passiert: Man hat die Schlange nicht »beseitigt«, weil sie nie existiert hat. Man hat bloß eine Illusion ausgeräumt. Solange das »Ich« als eine ganz reale Entität w a h r g e n o m m e n wird, neigt m a n dazu, alles, was m a n für a n g e n e h m und wohltuend erachtet, anzuziehen, und alles, was m a n f ü r u n a n g e n e h m oder abträglich hält, von sich zu weisen. Sobald m a n erkennt, daß das »Ich« keine wirkliche Existenz hat, verflüchtigen sich solche Reize und Abneigungen genauso wie die Angst vor der Schnur, die m a n für eine Schlange gehalten hat. Das »Ich« besitzt weder Ursprung noch Ende und hat deswegen in der Gegenwart keine andere Existenz als die, die ihm das Geistige zuweist. Kurz, das Nirvana ist keine Auslöschung, sondern die letzte Erkenntnis des Wesens der Dinge. J. F. - Wenn das so ist, wie und warum hat sich dann die Illusion des Selbst herausgebildet? M. - Es gibt ein natürliches Selbst- und Ich-Gefühl, das uns denken läßt: Mir ist kalt, ich habe Hunger, ich gehe etc. Dieses Gefühl ist an sich neutral. Es trägt von sich aus weder zum Glück noch zum Leid bei. Doch dann stellt sich die Vorstellung ein, daß unser Selbst eine Art Konstante ist, 60
die trotz der körperlichen und geistigen Veränderungen, die wir erleben, unser ganzes Dasein durchmißt. Wir hängen an dieser Vorstellung des Selbst, dieser Vorstellung u n s e r e r »Person«, wir denken »mein« Körper, »mein« Name, »mein« Geist etc. Der Buddhismus spricht von einem Kontinuum des Bewußtseins, aber er bestreitet die Existenz eines dauerhaften, beständigen und autonomen »Selbst« i n n e r h a l b dieses Kontinuums. Die Essenz der buddhistischen Praxis ist daher, diese Illusion eines »Ich«, das u n s e r e Vorstellung von der Welt verfälscht, zu zerstreuen. J. F. - Aber ich komme auf meine Frage zurück. Wie kann man bestimmte Bewußtseinsströme wiedererkennen? M. - Um das Beispiel des Flusses beizubehalten, so ist es vorstellbar, daß m a n einen Fluß hundert Kilometer stromabwärts vom ersten Beobachtungspunkt wiedererkennen kann, indem m a n die Beschaffenheit des m i t g e f ü h r t e n Schwemmlandes, der Minerale, Pflanzen etc. untersucht. Wenn j e m a n d imstande ist, die Bewußtseinsströme der Menschen unmittelbar zu erfassen, könnte man sich ebenso vorstellen, daß er die Charakteristika eines bestimmten Bewußtseinsstroms w i e d e r e r k e n n e n k a n n . Die Frage ist also: Kann m a n die Fähigkeit entwickeln, Bewußtseinsströme wahrzunehmen, oder nicht? J. F. - Im Augenblick macht Deine Erklärung die Sache für mich eher rätselhafter, als sie aufzuklären. M. - Wir stehen vor einem methodischen Problem. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus würde man sagen, ein Experiment ist verläßlich, wenn es von anderen Forschern wiederholt w e r d e n kann. Das setzt voraus, daß alle über dieselben Forschungsmittel verfügen. Im sportlichen Bereich räumt man sehr wohl ein, daß Athleten nach intensivem Training außerordentliche Fähigkeiten entwickeln. Wenn man jemandem, der noch nie etwas von den Olympischen Spielen gehört hat, sagte, ein Mensch könne zwei Meter vierzig hochspringen, dann würde er ausrufen, das sei schlicht und einfach ein Scherz. Nun kann jeder, selbst der Dümmste, inklusive derer, die wie ich nur einen Meter 61
zehn hochspringen können, im Fernsehen oder in Wirklichkeit einen Champion sehen, der imstande ist, zwei Meter vierzig hochzuspringen. Es wird a n e r k a n n t , d a ß das die Frucht einer beharrlichen körperlichen Anstrengung ist. Wenn es aber um die Schulung des Geistes geht, ist es sehr viel schwerer, ihre Resultate zu erkennen und einzugestehen, daß m a n eine Stufe geistiger Beherrschung erreichen kann, die genauso außergewöhnlich ist wie die Körperbeherrschung eines Athleten. J. F. - Ja. Aber j e d e r k a n n ü b e r p r ü f e n , daß ein Athlet zwei Meter vierzig hochspringt oder hundert Meter in weniger als zehn Sekunden läuft. M. - Warum? Weil sie es sehen! J. F. - Ja. M. - Wäre es nicht ersichtlich, könnten sie es nur überprüfen, w e n n sie selbst trainierten, w e n n sie erst einen Meter zehn h o c h s p r ä n g e n , d a n n einen Meter achtzig ... und, sofern sie hochtalentiert sind, zwei Meter vierzig. J. F. - Wäre es nicht ersichtlich, liefe es darauf hinaus, dem Champion auf sein Wort hin zu glauben. M. - Im wissenschaftlichen Bereich sieht m a n sich immer wieder angehalten, Entdeckungen und m a t h e m a t i s c h e n B e r e c h n u n g e n auf Ehrenwort hin zu glauben, ohne d a ß m a n selbst die geringste u n m i t t e l b a r e E r f a h r u n g damit hätte. Man erkennt ihre Gültigkeit an, weil man weiß, daß eine gewisse Zahl achtbarer Wissenschaftler die Hypothesen unabhängig voneinander überprüft haben und zu denselben Ergebnissen gekommen sind, und daß andere Wissenschaftler sie ü b e r p r ü f e n können, sofern sie sich die Mühe machen wollen. Um selbst zu solchen Schlußfolgerungen zu gelangen, müßte man einen langen Lehrprozeß auf sich n e h m e n . Man k a n n eine Beteuerung für gültig e r a c h t e n , wenn m a n gute Gründe hat, einer Bezeugung Glauben zu schenken. In gewissen Fällen kann man jemandem auf sein Wort hin glauben, ohne ihm deshalb blind zu vertrauen. Man kann seine Integrität prüfen und, als letztes Mittel, selbst den Weg der inneren Wandlung einschlagen. Über welches andere Mittel - abgesehen von der persönli62
chen E r f a h r u n g - verfügen wir, um das Wissen ü b e r die subtilen Bewußtseinsaspekte zu beurteilen? Das Wesen des Bewußtseins hat weder Form noch Substanz noch Farbe, es ist nicht quantifizierbar. Sich nicht auf die persönliche Erfahrung zu stützen, liefe darauf hinaus, a priori jede Möglichkeit einer geistigen Schulung zu leugnen, die geeignet wäre, überdurchschnittliche Fähigkeiten hervorzubringen, und damit den Erkenntnisbereich auf die sichtbare oder meßbare materielle Welt zu beschränken! Das hieße auch, daß ein Phänomen, um zu existieren, notwendigerweise für alle verständlich sein müßte, zu jeder Zeit, an jedem Ort, und ausschließlich im materiellen Bereich. J. F. - Es gibt zwei Aspekte in Deiner Argumentation. Um noch einmal den Vergleich mit dem Hochsprung heranzuziehen, so ist da zum einen die Tatsache, d a ß m a n einen Sprung ü b e r zwei Meter vierzig, ohne den Athleten zu sehen, nicht für möglich hält. Zum anderen ist da der Glaube, daß sich nach dem Tod des Athleten die Fähigkeit, zwei Meter vierzig hoch zu springen, in einem Neugeborenen wiederfindet, den m a n n a c h speziellen Methoden ausersieht ... M. - (Lachen) Das ist es natürlich nicht, was ich sagen will. Das Beispiel des Hochspringers b e s c h r ä n k t sich auf den Hinweis, daß die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Sportlers anerkannt werden, weil sie jeder mit seinen eigenen Augen w a h r n e h m e n kann. J. F. - Auch im spirituellen Bereich ist das immer anerkannt worden. Daß man durch Arbeit, Lernen und Übung intellektuelle Fähigkeiten oder eine geistige Beherrschung entwickeln kann, die überdurchschnittlich sind, hat man stets für möglich gehalten. Im modernen Unterrichtswesen, das sich, übrigens auf Kosten großer Scheinheiligkeit, egalitär gibt, tut m a n das weniger. Wider besseres Wissen. Denn m a n weiß sehr wohl, d a ß es auf geistiger Ebene außergewöhnliche Leute gibt und daß solche exzeptionellen Charaktere nichts leisten, wenn sie nicht durch intensive Schulung und tägliche Praxis dazu gebracht w e r d e n . Genauso weiß man, daß sich so etwas nicht von einem Indi63
viduum auf das nächste übertragen läßt, auch nicht durch die Ausbildung. M. - Ich werde dieselbe Überlegung durchführen, aber auf der Ebene der kontemplativen Wissenschaft, nicht nur auf der des »Intelligenzquotienten«. So möchte ich auf die Tatsache zu sprechen kommen, daß die Äußerungen derjenigen, die im Laufe ihres Lebens außergewöhnliche spirituelle Fähigkeiten entwickelt haben, von außen sehr schwer zu beurteilen sind. Um ihre Fähigkeiten unmittelbar zu erfassen, müßte m a n sie selbst entwickelt haben, was ein ganzes Leben analytischer und kontemplativer Arbeit am Geist voraussetzt. Außerdem sind die physischen Leistungsu n t e r s c h i e d e im Beispiel des Hochsprungs quantitativer Ordnung, während die Leistungsunterschiede im geistigen Bereich qualitativer Ordnung sind. Das Abendland hat sich k a u m für die kontemplative Wissenschaft interessiert. In den Schriften von William James, einem der Begründer der modernen Psychologie, hat mich eine Sache verblüfft. Ich zitiere ihn aus dem Gedächtnis: »Ich habe versucht«, sagte er, »meine Gedanken für einige Augenblicke anzuhalten. Offensichtlich ist das unmöglich. Sie kommen sofort wieder.« Seine Behauptung brächte Hunderte von tibetischen Eremiten zum Lächeln, die - n a c h d e m sie J a h r e damit zugebracht haben, ihren Geist zu beherrschen - fähig sind, ü b e r einen langen Zeitraum in einem Zustand des Wachseins zu verharren, der frei von geistigen Assoziationen ist. J. F. - William J a m e s ist der amerikanische Autor, der den Ausdruck »Bewußtseinsstrom«, »stream of consciousness«, geprägt hat. Und in der Tat, wenn Du mir sagst, es gelänge den buddhistischen Eremiten, den Fluß i h r e r Gedanken zu stoppen, wer beweist das? Muß m a n auch ihnen auf ihr Wort hin glauben? M. - Warum nicht? Diese Fähigkeit hat nichts Außergewöhnliches. Selbst weniger begabte Leute können diese Erfahrung im Laufe ihrer Übungsjahre machen. Es genügt, sich die Mühe zu machen. Es geht nicht darum, die Gedanken zu blockieren, sondern einfach d a r u m , in einem Zu64
stand von wacher Gegenwärtigkeit, von Klarheit und Wissen zu verharren, in dem die diskursiven Gedanken zur Ruhe kommen. J. F. - Was heißt hier »zur Ruhe kommen«? M. - Das heißt, das Rad der diskursiven Gedanken hört auf, sich zu drehen, die Gedanken hören auf, sich endlos aneinanderzureihen. J. F. - Es findet also doch ein Denken statt, es kommt zu Vorstellungen. M. - Das ist eine wache Gegenwärtigkeit, ein Zustand klaren Bewußtseins, der meist frei von Vorstellungen ist. Das ist kein lineares Denken mehr, sondern ein unmittelbares E r k e n n e n . Eine solche Übung läßt sich wie folgt beschreiben. Der Versuch, die Gedanken zu beherrschen, m a c h t zunächst größte Mühe. Die Gedanken gleichen einem Wasserfall, der von einer Klippe stürzt, es hat sogar den Anschein, als seien es mehr als sonst - was nicht heißt, daß es wirklich m e h r sind, s o n d e r n einfach, d a ß m a n anfängt, sich ihrer Zahl bewußt zu werden. Die folgende Phase wird mit einem Fluß verglichen, dessen Wasserlauf mal aus Stromschnellen, mal aus r u h i g e r e n Passagen besteht. Sie entspricht einem Zustand, wo der Geist ruhig bleibt, es sei denn, er wird durch die Wahrnehmung äußerer Vorkommnisse angeregt. Zuletzt wird der Geist wie ein Ozean bei ruhigem Wetter: Windstöße diskursiver Gedanken fahren gelegentlich über seine Oberfläche, doch in der Tiefe gerät er nie aus der Ruhe. So k a n n man einen Bewußtseinszustand erreichen, den man »klares Bewußtsein« nennt. In ihm ist der Geist vollkommen luzide, ohne ständig in diskursive Gedanken verwickelt zu werden. J. F. - William James hätte diesen Punkt nicht bestritten. Ich glaube, sämtliche Psychologen und Philosophen haben immer a n e r k a n n t , daß ein Unterschied besteht zwischen dem Zustand beherrschten, auf einen bestimmten Gegenstand hin konzentrierten, gesteuerten Denkens und dem Zustand undisziplinierten Denkens mit seinen ungelenkten Gedankenassoziationen, eben jenen, die der Psychoanalytiker aus seinem Patienten hervorlocken möchte. Dabei han65
delt es sich jedoch nicht um eine totale Unterbrechung des Bewußtseins. M. - Natürlich handelt es sich nicht um eine Unterbrechung des Bewußtseins, sondern um ein vorübergehendes Aussetzen der diskursiven Gedanken, der Gedankenassoziationen. J. F. - Durch was werden sie ersetzt? M. - Durch einen reinen Bewußtseinszustand. J. F. - Ja, aber hat das klare Bewußtsein ein Objekt? M. - Nein, das ist ein Zustand des reinen E r w a c h e n s ohne Objekt. Gewöhnlich wird das reine Bewußtsein mit der Wahrnehmung eines Objekts in Verbindung gebracht, und deshalb erkennen wir es nicht. Es ist uns nah, aber wir sehen es nicht. Wir fassen das Bewußtsein lediglich als ein durch sein Objekt bestimmtes auf. Es ist jedoch möglich, die unmittelbare Erfahrung dieser reinen, wachen Gegenwärtigkeit zu machen, wenn m a n die Begriffe, Erinnerungen und Erwartungen in der leuchtenden Leere des Geistes sich auflösen läßt, sofern sie sich dort formieren. Um den Geist zu beruhigen, übt man sich zunächst in der Konzentration auf »einen einzigen Punkt«. Als Stütze dient ein ä u ß e r e s Objekt, zum Beispiel ein Bild des Buddha, oder ein inneres Objekt, ein Begriff wie das Mitleid oder ein visualisiertes Bild. So gelangt m a n in einen Zustand der Gleichmut, zugleich t r a n s p a r e n t , klar und wach, wo die Dichotomie von Subjekt und Objekt nicht mehr existiert. Sofern von Zeit zu Zeit ein Gedanke im Innersten dieser wachen Gegenwärtigkeit auftaucht, löst er sich spurlos wie ein Vogel am Himmel von selbst wieder auf. Es genügt aber nicht, nur für ein p a a r Augenblicke zu versuchen, den Strom der Gedanken zu stoppen, so wie es William J a m e s gemacht hat. Das erfordert persönliche Übung, die Jahre dauern kann. Unter den vielen Weisen, die ihr Leben der Kontemplation gewidmet haben - wie mein spiritueller Meister Khyentse Rinpoche, der siebzehn J a h r e zurückgezogen in Grotten und Gebirgseremitagen v e r b r a c h t e -, gelangen einige zu einer außergewöhnlichen Beherrschung des Geistes. Wie soll m a n ihren Aussagen Glauben schenken? Indirekt. 66
Indem man alle Aspekte ihrer Person beurteilt. Es gibt keinen Rauch ohne Feuer. Ich habe zwanzig J a h r e bei einigen dieser Meister verbracht, die behaupten, daß es ein immaterielles Bewußtsein gebe und d a ß es möglich sei, den Bewußtseinsstrom eines a n d e r e n Menschen w a h r z u n e h men. Ich habe sie noch nie lügen hören, sie noch nie irgend j e m a n d e n betrügen sehen, nie den geringsten Gedanken, die geringste Äußerung oder Handlung bei ihnen festgestellt, die anderen zum Schaden gereicht hätten. Mir scheint es daher vernünftiger, ihnen Glauben zu schenken, als den Schluß zu ziehen, sie erzählten bloß Witze. Wenn der Buddha sagt, der Tod sei n u r eine Lebensetappe und das Bewußtsein setze sich nach dem Tod fort, so besitzen wir nicht die Fähigkeit, dieses Bewußtsein selbst wahrzunehmen. Angesichts der Tatsache, daß alle ü b e r p r ü f b a r e n Äußerungen und Lehren des Buddha wahrheitsgemäß und vernünftig erscheinen, ist es ebenfalls wahrscheinlicher, daß er die Wahrheit sagt, als umgekehrt. Ziel des Buddha w a r es, die Menschen aufzuklären, und nicht, sie irrezuführen, ihnen bei der Bewältigung ihrer Qualen zu helfen, und nicht, sie ihnen auszusetzen. J. F. - Ganz gleich, was Du sagst, es ist mehr eine Frage des Vertrauens als ein Beweis. M. - Drei Kriterien gestatten es dem Buddhismus zufolge, eine Behauptung als rechtmäßig anzusehen: die Überprüfung durch die unmittelbare Erfahrung, die unwiderlegbare Deduktion und das vertrauenswürdige Zeugnis. Hier handelt es sich also um die dritte Kategorie. Aber kommen wir auf die tibetischen Meister zurück, die den Bewußtseinsstrom eines verstorbenen Weisen wie Khyentse Rinpoche w i e d e r e r k e n n e n . Das W i e d e r e r k e n n e n , das seinen Ursprung in meditativen Erfahrungen hat, erlaubt ihnen zu sagen, in welchem Wesen sich der Bewußtseinsstrom des verstorbenen Meisters fortgesetzt hat, ganz so, als könnte m a n - wenn es eine solche Sache bei den Christen gäbe sagen, daß sich der spirituelle Einfluß des heiligen Franz von Assisi in diesem oder jenem Kind fortgesetzt hätte. J. F. - Ja, aber ich kenne Priester oder Laien, die über die 67
moralischen Qualitäten verfügen, die Du gerade aufgezählt hast, und die an die Wunder von Lourdes glauben oder an das Erscheinen der Muttergottes von Fatima in Portugal, w a s f ü r mich reine P h a n t a s m a g o r i e n sind. J e m a n d k a n n s e h r wohl völlig aufrichtig sein oder noch nie versucht haben, jemanden zu betrügen, und sich doch Illusionen hingeben. M. - In dem Fall, von dem ich spreche, geht es nicht um wunderbare Begebenheiten, sondern um innere Erfahrungen, die zahlreiche Meister im Laufe der J a h r h u n d e r t e gemacht haben. Das ist etwas anderes. J. F. - Ach, nein ... Wenn j e m a n d behauptet, Zeuge eines Wunders in Lourdes gewesen zu sein, ist das keine Frage der Auslegung! Er ist überzeugt, d a ß er einer Tatsache gegenübersteht. Im übrigen kann er sehr wohl die größte Ehrlichkeit an den Tag legen, die größten moralischen Vorzüge und m u ß ü b e r h a u p t nicht d a r a u f aus sein, Dich zu betrügen. M. - Nehmen wir den konkreten Fall von Khyentse Rinpoche wieder auf. Ein ihm n a h e s t e h e n d e r Schüler und Gefährte, ein spiritueller Meister, der zweihundert Kilometer von Katmandu entfernt in den Bergen lebt, schickte uns einen Brief. In Träumen und Visionen, die sich deutlich in seinem Geist abzeichneten, hätte er genaue Hinweise zu den Namen des Vaters und der Mutter der Inkarnation von Khyentse Rinpoche und über den Ort erhalten, wo wir sie suchen sollten. J. F. - Und hat m a n den Beweis, daß er die Namen der Eltern des Neugeborenen nicht kennen konnte und sie trotzdem exakt angegeben hat? M. - Er hatte gar keinen Grund, die Eigennamen des Vaters und der Mutter zu k e n n e n . Der Vater des kleinen Jungen ist nämlich selbst ein Lama und nur unter seiner Rangbezeichnung b e k a n n t . Unter ihren Familiennamen wendet sich in der tibetischen Gesellschaft niemand an ihn oder seine Frau. Was die Exaktheit der Namen betrifft, so w a r ich zugegen, als der Brief dem Abt unseres Klosters überreicht und zum ersten Mal verlesen wurde. Man muß 68
sich klarmachen, daß besagter Meister die Reinkarnation seines eigenen Meisters suchte, das heißt der Person, die er am meisten auf der Welt respektiert. Das Ziel w a r nicht, irgendeinen Nachfolger für das oberste Klosteramt zu finden, sondern die spirituelle Fortsetzung eines Weisen zu identifizieren, in der Hoffnung, daß er sich, wie sein Vorgänger, Fähigkeiten aneignen würde, die es ihm erlaubten, den Menschen zu Hilfe zu kommen. J. F. - Nun, um dieses Gespräch über die Frage, ob der Buddhismus eine Religion oder eine Philosophie ist, abzuschließen, würde ich sagen, daß er von beidem etwas hat. Mit Sicherheit gibt es ein Glaubensmoment. Denn selbst wenn m a n die Erklärungen, die Du gerade abgegeben hast, billigt - mich, für meinen Teil, überzeugen sie nicht -, existiert nichtsdestoweniger ein Moment des Glaubens, des Vertrauens gegenüber bestimmten Individuen und ihren Bezeugungen. Und das gehört, wie Du zugestehen wirst, nicht in die Kategorie des rationalen Beweises. M. - Gewiß, aber es handelt sich nicht um blinden Glauben, und dogmatische B e h a u p t u n g e n finde ich wirklich schwerer zu akzeptieren als Bezeugungen, die auf spiritueller Erfahrung und Verwirklichung beruhen. J. F. - Allerdings! M. - Im täglichen Leben werden wir im Grunde ständig von Ideen und Überzeugungen beeinflußt, die wir für wahr halten, weil wir die Kompetenz unserer Informanten anerkennen - sie kennen sich da aus, das funktioniert, also muß das wahr sein. Von daher das Vertrauen. Doch die meisten u n t e r uns w ä r e n nicht imstande, die wissenschaftlichen Wahrheiten selbst zu beweisen. Überzeugungen wie etwa die, daß das Atom ein kleines, festes, um den Atomkern kreisendes Teilchen sei, beeinflussen die Auffassungsweise der Menschen übrigens oft noch lange, nachdem sie von den Wissenschaftlern selbst aufgegeben worden sind. Wir sind bereit zu glauben, was m a n uns sagt, vorausgesetzt, daß es einer a n e r k a n n t e n W e l t a n s c h a u u n g entspricht. Alles, was ihr nicht entspricht, betrachten wir jedoch als suspekt. Im Falle der kontemplativen Sehweise liegt der 69
Grund f ü r den Zweifel, den viele u n s e r e r Zeitgenossen gegenüber den spirituellen Wahrheiten hegen, in der fehlenden Praxis. Viele Dinge werden daher bis zu dem Tag als ü b e r n a t ü r l i c h eingestuft, an dem m a n begreift, wie sie zustande kommen, oder an dem m a n sie selbst erfährt. Wie Cicero sagte: »Was nicht geschehen kann, ist nie geschehen, und was geschehen kann, ist kein Wunder.« J. F. - Aber ich komme noch einmal auf die Tatsache zurück, daß es in den von Dir angesprochenen Begebenheiten ein Moment irrationalen Glaubens gibt. M. - Es wäre gerechter, von einem Moment des Vertrauens zu sprechen, das auf einer ganzen Reihe beobachtbarer Faktoren beruht. Nachdem ich viele Jahre bei Meistern dieser Art gelebt h a b e , ist eine der wichtigsten Lehren f ü r mich, daß sie in vollkommenem Einvernehmen mit dem stehen, was sie lehren. Du hast mir gegenüber die mystische E r f a h r u n g von einigen Priestern erwähnt. Mit Sicherheit hat es sehr große Weise in der Christenheit gegeben, etwa den heiligen Franz von Assisi, aber ich glaube, nicht einmal bei aufrichtiger, rechtschaffener Praxis gelangen alle Priester und Mönche zu spiritueller Vollkommenheit. In Tibet befanden sich zwanzig Prozent der Bevölkerung in Ordensgemeinschaften, und im Laufe unseres Jahrhunderts sollen unter all diesen Praktizierenden nur um die dreißig zu spiritueller Vollkommenheit gelangt sein! Man kommt also durch die Beurteilung ihres g e s a m t e n Wesens zu dem Schluß, daß diese Weisen wissen, wovon sie sprechen, wenn sie Hinweise zur Bestimmung eines spirituellen Nachfolgers geben. Warum sollten sie es auf einen Betrug absehen? Die meisten leben als Eremiten und wollen weder irgendwen überzeugen, noch sich selbst in den Vordergrund drängen. Um zu zeigen, wie sehr der Buddhismus Hochstapelei verurteilt, füge ich hinzu, daß einer der vier Hauptverstöße gegen die Klosterregeln die fälschliche Behauptung ist, ein höheres spirituelles Niveau erlangt zu haben. Nun ist der Weise, der Khyentse Rinpoche in dem neugeborenen Kind wiedererkannt hat, aber einer der mustergültigsten Lamas der Klostergeschichte. Er hat Tausende von 70
Mönchen geweiht und würde sich nicht erlauben, Weihen zu spenden, wenn er seine Gelübde selbst gebrochen hätte. Also kann m a n vernünftigerweise annehmen, daß er seine Visionen in bester Kenntnis der Sache und in völliger Aufrichtigkeit mitgeteilt hat, um seinen eigenen spirituellen Meister wiederzufinden. J. F. - Nicht seine Aufrichtigkeit stelle ich in Zweifel! Ich mache nur auf das Phänomen der Selbstüberzeugung aufmerksam. Das ist ein wohlbekanntes Phänomen, das auch in anderen Bereichen auftritt. Viele Menschen haben sich selbst von der Rechtmäßigkeit des Kommunismus oder des Nazismus überzeugt, und das oft in völlig uneigennütziger Weise. Wenn die großen totalitären Systeme - mit denen ich den Buddhismus, der das genaue Gegenteil ist, gar nicht vergleiche, ich spreche einzig und allein unter dem Blickwinkel der Selbstüberzeugung ... w e n n die großen totalitären Systeme nur von Dummköpfen und Gesindel verteidigt w o r d e n w ä r e n , h ä t t e n sie keine fünf Minuten ü b e r d a u e r t ! Das D r a m a ist, daß hochintelligente Leute, große Gelehrte wie Frederic Joliot-Curie oder selbst Albert Einstein nach dem Zweiten Weltkrieg Kommunisten oder Weggefährten des Kommunismus gewesen sind. Andere haben sich ihm ergeben, haben ihr Leben für ihn geopfert, auf ihr Vermögen verzichtet, auf ihre privaten Neigungen. Die Frage der absoluten Aufrichtigkeit einer Person, die an etwas glaubt, hat also nie einen Beweis dargestellt. Diese Feststellung betrifft einen Teil des Buddhismus, der f ü r mich - als Vertreter einer rationalistischen a b e n d l ä n dischen Tradition - mehr zum nicht verifizierbaren religiösen Glauben gehört als zur Philosophie, zur rationalen Weisheit. M. - Ich glaube, in unserem nächsten Gespräch über die Beziehungen von Körper und Geist werden einige Punkte, so hoffe ich, Wasser auf meine Mühlen sein. J. F. - Nichts wünsche ich mehr.
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Das Phantom in der Black box
- Bei der Analyse der buddhistischen Psychologie und ihrer Verbindung zur abendländischen Psychologie, wie sie sich insbesondere seit dem 19. J a h r h u n dert herausgebildet hat, m ü s s e n wir das Verhältnis von Bewußtsein und Körper untersuchen. Das ist die klassische Frage: Ist der Mensch eine Z u s a m m e n s e t z u n g - die berühmte »menschliche Zusammensetzung«, von der Descartes sprach -, das heißt, besteht er aus einem Geist, der im I n n e r e n eines Körpers wohnt? Oder ist die Psyche, getrennt von ihrer materiellen Hülle, nicht in Wirklichkeit eine Illusion, wie es die materialistischen Philosophen und ein Teil der modernen Neurophysiologie behaupten? MATTHIEU - Zwischen den zwanziger und den sechziger J a h r e n ist die Psychologie zum großen Teil von der Vorstellung bestimmt worden, daß m a n zur Erforschung der Funktionsweise des Geistes das ä u ß e r e Verhalten und ja nicht den Geist selbst beobachten müsse. Der Geist, sagte man, k a n n sich selbst nicht auf objektive Weise erkennen. Was natürlich jede kontemplative Annäherung ausschließt. Nur die äußeren Manifestationen der geistigen Vorgänge wurden untersucht - eine Haltung, die von vornherein sämtliche mentalen Vorgänge, die sich nicht im Verhalten niederschlagen, ausschließt. Die meisten Experimente w u r d e n übrigens an Tieren durchgeführt. Diese Sicht der Dinge ist d a n n z u n e h m e n d von den kognitiven Wissenschaften ersetzt worden (Neurologie, kognitive Psychologie, Linguistik, künstliche Intelligenz etc.), die den Geisteszuständen einen sehr viel wichtigeren Platz e i n r ä u m e n , sei es hinsichtlich der Art, wie bei der Erkenntnis Informationen aus der Umwelt bezogen w e r d e n (die W a h r n e h m u n g e n , die Kommunikation, die Gefühlsregung), sei es im Hinblick auf die Autonomie dieser Erkenntnis (die Träume, die Erinne-
JEAN-FRANQOIS
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rungen, die Vorstellungskraft, die Sprachentwicklung etc.). Doch auch heute noch scheint die Introspektion, der Blick, den der Geist auf sich selbst richtet, nicht als rechtmäßige Forschungsmethode zu gelten, denn einstweilen kann man die Ergebnisse der Introspektion nicht in physikalisch nachweisbare Phänomene verwandeln. Im übrigen ist die Mehrheit der Neurobiologen zu der Ansicht gelangt, m a n könne ganz ohne das »Phantom in der Black box« a u s k o m m e n , das heißt ohne den Begriff des Bewußtseins oder des Geistes als distinkter Faktor des z e r e b r a l e n Systems. Ihnen zufolge genügen die Struktur und die Funktionsweise des neuronalen Netzes sowie die dort auftretenden chemischen Reaktionen und elektrischen Phänomene, um das zu erklären, was wir das Denken nennen. Der Begriff des Geistes, zumal der des immateriellen Bewußtseins, ist demnach völlig überholt. Das Modell der komplexen Neuronennetze, die sich auf verschiedene Regionen des Gehirns verteilen, gilt als das beste. Vielleicht können wir diese Auffassung als »verdinglichend« oder »reduktionistisch« bezeichnen, weil sie das Bewußtsein auf chemische Reaktionen und eine biologische Struktur reduziert. J. F. - Im Abendland ist die Debatte in Wirklichkeit noch älter. Ende des 19. Jahrhunderts w a r e n bereits Verhaltenslehren bestimmend, die behavioristische Schule oder die damals praktizierte Psychophysik mit ihrer Behauptung, das Bewußtsein sei nur ein Epiphänomen, eine Art Lichtschein, der dem neurozerebralen System nachträglich hinzugefügt worden sei. Der Mensch erschien als ein Komplex physikalisch-chemischer und biologischer Reaktionen. Das Bewußtsein w a r eine Widerspiegelung dieser Prozesse, hatte aber keinerlei Einfluß auf sie. Gegen diese, die Psychologie ihrer Zeit b e h e r r s c h e n d e Schule h a t sich ein b e r ü h m t e r philosophischer Schriftsteller gewandt: Henri Bergson. In seinem gesamten Werk, namentlich 1889 in seinem ersten Buch, seiner Dissertation Les Donnees immediates de la conscience (dt. Zeit und Freiheit), und 1900 in Matiere et memoire (dt. Materie und Gedächtnis), dem 73
wichtigsten und substantiellsten Buch, das er dieser Frage gewidmet hat, versucht Bergson zu zeigen, daß die Behauptung, das Bewußtsein sei nur die Widerspiegelung eines Zusammenwirkens neurophysiologischer Prozesse, falsch ist. Es habe eine Realität, die sich nicht auf diese Prozesse beschränke. Bereits im 18. J a h r h u n d e r t gibt es diese Auseinandersetzung. Schriftsteller wie La Mettrie, Autor des Buches L'homme-machine (dt. Der Mensch eine Maschine), stellen die These auf, daß der Mensch nur ein Zusammenspiel von Mechanismen sei. Andere Materialisten des 18. J a h r h u n d e r t s - so Helvetius in seinem Buch De l'Esprit (dt. Vom Geist), Holbach oder Diderot - versuchen, dieselbe These zu beweisen. Es handelt sich also um eine ziemlich alte Auseinandersetzung, die im abendländischen Kontext aus dem Kartesianismus stammt. Descartes ist der Auffassung, der menschliche Körper, das Biologische als solches, existiere nicht. Er sei das »Ausgedehnte«, das dem Determinismus der Außenwelt Unterworfene. Die Seele sei etwas vom Körper völlig Getrenntes, könne aber trotzdem auf den Körper einwirken. Descartes ging so weit und verlegte die Seele in eine Hirndrüse, die Zirbeldrüse. Alle großen Postkartesianer, ob nun Spinoza, Malebranche oder Leibniz, haben über diese These gespottet. Sie räumten ein, daß die Seele vom Körper zu unterscheiden sei, nicht jedoch, daß sie auf die Materie einwirken könne. Um die Spontaneität des Willens zu erklären, hat jeder ungemein ausgeklügelte, komplizierte Theorien ausgeheckt, die eine unwahrscheinlicher als die andere. Ich beschließe, meinen Arm auszustrecken. Es gelingt mir, nicht weil meine Seele auf meinen Körper einwirkt, sondern weil es zwei parallele Determinismen gibt. Das ist, sagen wir, die These von Malebranche. Alle haben versucht, eine Lösung zu finden, um die scheinbare Gleichzeitigkeit unseres Wollens und Tuns zu erklären. Ich habe auf diese Autoren kurz hingewiesen, um daran zu erinnern, daß es sich nicht um eine neue Frage handelt. Die Entwicklung der modernen Wissenschaft und der Neurophysiologie hat mit weit mehr Präzision zur Vorstellung des neuronalen 74
Menschen geführt, der ein Komplex neurophysiologischer Mechanismen ist. Die Psyche stellt demnach nichts anderes d a r als diese Mechanismen oder höchstenfalls eine Art Widerspiegelung, die diesem Komplex angefügt ist, ohne ihn jedoch zu beeinflussen. M. - Glaubt der Westen, die Frage »Körper und Geist« gelöst zu haben? J. F. - Die Entwicklungen der zeitgenössischen Wissenschaft haben eher die antispiritualistische These bestätigt und die Vorstellung widerlegt, daß im Menschen ein spirituelles und ein materielles Prinzip vorhanden seien - und zwar, im Rahmen der Natur, einzig und allein im Menschen. Die spiritualistische oder dualistische These zieht in Betracht, daß das Universum selbst aus einer spirituellen und einer materiellen Substanz zusammengesetzt ist. Das ist ein metaphysisches Postulat, das ist die alte platonische, plotinische oder christliche These, was immer m a n will. Unter den Lebewesen soll sich diese w u n d e r b a r e Begegnung, die Vereinigung des spirituellen und des materiellen Prinzips, allein im Menschen vollziehen. Die ganze abendländische Philosophie hat sich mit dem Versuch abgemüht, einerseits die Beziehungen zwischen Körper und Geist, das heißt auf griechisch zwischen Sorna und Psyche, zu erklären, und andererseits zu beweisen, daß beim Tod des Körpers die Seele entweicht, um a n d e r s w o glücklichere Tage zu verleben. Dagegen h a t sich - mit deutlichem Nein! - eine ganze monistische und materialistische Strömung gewandt. (Dem Monismus zufolge gibt es im Universum nicht zwei Prinzipien, s o n d e r n ein einziges: die Materie. Man könnte a u c h behaupten, das sei der Geist. Aber es zeigt sich, daß seit drei J a h r h u n d e r t e n eher der materialistische Monismus dominiert.) Der Mensch ist d e m n a c h ein körperliches Wesen ... biologisch wie die a n d e r e n . Die w a h r e Unterscheidung ist die zwischen der Materie und dem Belebten. Und auch, ob das Belebte aus der Materie hervorgegangen ist. Das Bewußtsein ist danach aus der Gesamtheit der neurozerebralen Faktoren entstanden, deren Fortentwicklung 75
zur Sprache geführt habe. Im wesentlichen sei es die Sprache, die die Matrix des Bewußtseins - des Bewußtseins von den Dingen und des Bewußtseins von sich selbst - und das Instrument des Denkens sei. Und daher sei es eine Illusion zu glauben, daß es sich um eine vom Körper g e t r e n n t e Wirklichkeit handle. In den Augen eines nichtspezialisierten Beobachters haben die Fortschritte der modernen Neurophysiologie eher die zweite, von Dir reduktionistisch g e n a n n t e These bestätigt. Wie steht der Buddhismus zu dieser vorherrschenden Strömung? M. - Er unterscheidet verschiedene Bewußtseinsstufen oder -aspekte. Der Aspekt, den man als »grob« bezeichnen könnte, entspräche dem neuronalen System. Ein subtilerer Aspekt wäre vielleicht der von Dir erwähnte »Lichtschein«, der als Epiphänomen des neuronalen Systems angesehen wird. Letztlich ist der immaterielle Aspekt des Bewußtseins der wesentlichste. Er stellt das Kontinuum des Bewußtseins dar, das sich von Leben zu Leben fortsetzt. Dieses Kontinuum hat weder Anfang noch Ende. Denn das Bewußte kann nicht aus nichts entstehen und auch nicht aus dem Unbelebten: J e d e r Bewußtseinsmoment entsteht aus einem Bewußtseinsmoment, der ihm vorausgeht, und erzeugt einen Bewußtseinsmoment, der ihm folgt. So wie beim Prinzip der Energieerhaltung in der Physik - die Materie-Energie k a n n w e d e r erzeugt w e r d e n noch verschwinden, sie k a n n sich n u r verwandeln - könnte m a n hier von einem Prinzip der Bewußtseinserhaltung sprechen. Es gibt also für jedes Wesen ein Kontinuum, einen Bewußtseinsstrom, der sich v e r ä n d e r n kann, ganz so wie das Wasser eines Flusses, das verschmutzt oder gereinigt werden kann. Im Verlauf der Verwandlung k a n n m a n so vom Zustand der Verwirrung des Durchschnittsmenschen zum Zustand der Erleuchtung eines Buddha gelangen. J. F. - Was aber kann der Buddhismus den Neurophysiologen entgegnen, die glauben, d a ß alles erklärt w e r d e n könne, ohne die Vorstellung eines vom Körper getrennten Geistes heranzuziehen? M. - Auf materieller Ebene ficht der Buddhismus die 76
Beschreibung des n e u r o n a l e n Menschen in keiner Weise an. Die Behauptung, das Bewußtsein beschränke sich auf seine körperliche Inschrift, ist ihm zufolge jedoch eine metaphysische Wahl und kein wissenschaftlicher Beweis. Untersuchen wir zum Beispiel die Wirkung von »Crack« einer Droge - auf das Gehirn. J. F. - Crack ist ein Derivat von welcher Droge? M. - Von Kokain ... Crack ist ein Molekül, das durch die Verhinderung der e r n e u t e n Dopamin-Absorption einen Zustand der Euphorie auslöst, der den einzelnen während der Wirkungsdauer der Droge dazu verleitet, jede andere Tätigkeit zu vernachlässigen. Die Person hört auf zu essen, zu arbeiten, zu schlafen. Sie verharrt in dieser künstlichen Euphorie. Die Droge erzeugt a u ß e r d e m eine Gewöhnung, die das ganze Leben anhält. Die einzige Hoffnung, da wieder rauszukommen, besteht darin, nichts mehr zu nehmen und Rückfälle zu vermeiden. Doch die Faszination bleibt. Den Neurobiologen zufolge drängen sich zwei Schlußfolger u n g e n auf. Die erste ist, d a ß ein einfaches Molekül eine beträchtliche Wirkung auf den Geist haben kann, ohne daß jedoch ersichtlich wird, wie sie mit einem immateriellen Bewußtsein interferieren könnte. Faktisch ist das Dopamin bei den meisten lustvollen Empfindungen im Spiel, ob sie nun durch Drogen, Tabak, Sex oder Schokoladenkonsum hervorgerufen werden! Die zweite Schlußfolgerung ist, das Bewußtsein sei höchstens eine Art Leser der Gehirnvorgänge, ohne an Entscheidungen wirklich teilhaben zu können. David Potter, ein Forscher der Harvard-Universität, der am Treffen mit dem Dalai Lama teilgenommen hat, folgert: »Sind die Entscheidungen und Gefühlsregungen, d e r e n Funktionsweise sich dem Bewußtsein entzieht und über die das Bewußtsein keine Kontrolle hat, ist dieses Entscheidungsvermögen einfach von den Nervenzellen berechnet? Das Bewußtsein wäre dann eine Art Zeuge, der das Ergebnis dieser Berechnungen oder dieser elektrischen und chemischen Reaktionen registriert, ohne aktiven Anteil am Funktionieren des Gehirns oder Entscheidungsgewalt zu haben.« Das ist also der äußerste Punkt, zu dem wir gelan77
gen. Diese Auffassung wird von der Mehrheit vertreten, ohne deshalb von allen Wissenschaftlern geteilt zu werden. J. F. - Was führst Du gegen sie an? M. - Ich glaube, der Unterschied der Standpunkte spiegelt im wesentlichen eine metaphysische Wahl wider: Die Wissenschaft lehnt die Vorstellung eines immateriellen Bewußtseins ab, das mit physikalischen Messungen definitionsgemäß nicht nachzuweisen ist. Hierin spiegelt sich der Hang, alles zu verdinglichen, das Bewußtsein wie die Erscheinungen. Die Tatsache, daß naturgegebene oder drogenbedingte Anomalien des Gehirns die Selbstkontrolle beträchtlich schwächen, kann die Existenz eines immateriellen Bewußtseins weder widerlegen noch beweisen. Man kann sehr wohl sagen, Crack beeinflusse nicht das immaterielle Bewußtsein, sondern bringe seinen zerebralen Träger in Unordnung. Das Bewußtsein kann nicht mehr mit dem Gehirn interagieren, genauso wie ein Pilot am Steuer eines beschädigten Flugzeugs nicht imstande ist, seinen Kurs zu halten. Die Euphorie, die die Droge hervorruft, ist nur eine erbärmliche Simulation wahren Wohlgefühls, zum Beispiel der Glückseligkeit des Weisen. Diese Euphorie ist ein verschleiertes Leiden: Sie bringt Selbstentfremdung und Unersättlichkeit mit sich und gipfelt in der Angst, in der nicht zu u n t e r d r ü c k e n d e n »Entzugs«-Erscheinung. Sie f ü h r t zum psychischen Verfall, der den körperlichen Verfall nach sich zieht. Die Ausgeglichenheit, die Glückseligkeit des Weisen hingegen muß durch keinen ä u ß e r e n Reiz ausgelöst werden. Zudem ist sie gegen alle günstigen oder ungünstigen Daseinsumstände gefeit, was sie festigt. Alles a n d e r e als kurzlebig, wächst und erstarkt sie mit der Zeit. Sie veranlaßt das Individuum nicht, sich in einem »künstlichen Paradies« zu verschanzen - besser sollte man sagen: in einer künstlichen »Hölle« -, sondern sich gegenüber den anderen weiter zu öffnen. Diese Ausgeglichenheit kann vermittelt und übertragen werden. J. F. - Diese Argumente scheinen mir als Antwort auf die Neurophysiologen nicht auszureichen. M. - Eine wesentliche Frage bleibt noch: Dem Modell des 78
neuronalen Menschen zufolge und a fortiori im Falle jedes Mechanismus' künstlicher Intelligenz sieht man nicht, wie es dem Bewußtsein möglich sein sollte, sich über sein eigenes Wesen zu befragen. Wie könnten wir uns fragen: »Wer bin ich? Was ist das Wesen meines Geistes?« Das Modell des neuronalen Menschen ist im wesentlichen nicht anders als das einer künstlichen Intelligenz. Das zerebrale System ist weit flexibler, interaktiver und selbstorganisatorischer als die Computer, über die wir verfügen. Doch es gibt keinen grundlegenden Unterschied. Daß eine künstliche Intelligenz beim Schachspiel gewinnen kann, besagt nicht, daß der Computer ein Bewußtsein hat, sondern nur, daß arithmetische Berechnungen ohne Bewußtsein d u r c h g e f ü h r t werden können. Das wichtigste ist zu bedenken, wozu die künstliche Intelligenz nicht fähig ist. Sie kann weder Freude noch Angst, w e d e r F r e u n d s c h a f t noch Selbstlosigkeit empfinden, sie kann Schönheit oder Häßlichkeit nicht beurteilen und auch keine metaphysische Frage stellen: Ohne großes Risiko kann m a n sagen, daß sich keine künstliche Intelligenz j e m a l s f r a g e n wird, was sie ist und w a s n a c h dem Tod oder vielmehr nach dem Versiegen ihrer Batterien mit ihr geschehen wird! Der leistungsfähigste Computer hat nicht m e h r Bewußtsein als ein Besen. Ist nicht schon die Tatsache, daß das Bewußtsein fähig ist, sich über seine eigene Existenz zu b e f r a g e n , ein Hinweis, daß dieses Bewußtsein nicht ausschließlich ein materieller oder neuronaler Mechanismus ist, wie ausgeklügelt der auch immer sein mag? Kurzum, das Modell des neuronalen Menschen scheint dem Bewußtsein j e d e s Entscheidungsvermögen abzusprechen: Alles, was einer Entscheidung gleicht, wäre dann in Wirklichkeit von einem komplexen Zusammenspiel interneuronaler Wechselwirkungen bestimmt, und der freie Wille hätte in diesem Schema nicht viel Platz. J. F. - Zwei Fragen darf m a n nicht verwechseln. Die Frage, wie m a n in E r f a h r u n g bringt, ob ein spirituelles Prinzip existiert, das beim Menschen metaphysisch vom materiellen Prinzip unterscheidbar ist - das heißt, wie man in Erfahrung bringt, ob der Mensch die Verbindung zweier 79
heterogener Substanzen ist -, und andererseits die Frage des menschlichen Handelns und der menschlichen Freiheit. Ich persönlich glaube, der Mensch besitzt eine gewisse Freiheit. Aber ich glaube nicht an die Existenz der Seele oder an ihre Unsterblichkeit. Das sind zwei verschiedene Probleme. M. - Woher soll diese Freiheit denn kommen? J. F. - Ich glaube, es gibt so etwas wie die sogenannte Psyche. Sie ist die Resultante einer neurophysiologischen Fortentwicklung des Gehirns und des Aufkommens der Sprache, der Tatsache, daß wir täglich, und zwar bewußt, mit einer Auswahl verschiedener Möglichkeiten experim e n t i e r e n , daß wir nicht völlig von den Umständen bestimmt werden, von den Begehrlichkeiten, Wünschen und Abneigungen, wie das zum Beispiel bei den Tieren der Fall sein kann. Das ist eine existentielle Realität, und ich verwende das Adjektiv mit Absicht, um in diesem Punkt einem Philosophen Anerkennung zu zollen, dem ich im allgemeinen kaum beipflichte: Jean-Paul Sartre. Die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten darf a b e r nicht a b s t r a k t bewiesen werden. Diese Wahl ist variabel. Sie erfolgt, wie Sartre sagt, im Innern einer »Situation«, die nicht von dir selbst h e r b e i g e f ü h r t ist. Die Wahlmöglichkeiten sind beschränkt oder vielfältig. Es gibt Umstände, unter denen dir Umgebung und Kontext nur sehr wenig Möglichkeiten lassen. Wenn du in einen Krieg verwickelt wirst, eine feindliche Armee das Land erobert und dir nichts mehr bleibt, sind die Wahlmöglichkeiten sehr begrenzt, nicht w a h r ? . . . Du hast n u r eine Wahl, zu fliehen oder zu sterben, und m a n c h m a l bleibt dir nicht einmal die Möglichkeit zur Flucht. Unter a n d e r e n Umständen - und deshalb bin ich ganz konkret dem Frieden und der Demokratie verbunden - hast du einen großzügigeren Kontext, du lebst in einer Gesellschaft, die verschiedene Daseinsformen und ethische Modelle zugesteht, wo der Staat deine Sicherheit im Prinzip garantiert. In dem Fall hast Du m e h r Wahlmöglichkeiten. Du hast Dich entschieden, buddhistischer Mönch zu werden, statt am Institut Pasteur Forscher zu bleiben. Wäre 80
das während des Zweiten Weltkriegs geschehen, hättest Du diese Wahl nicht gehabt, nicht wahr? Nur die Analyse konk r e t e r Situationen läßt also die Überlegung zu, d a ß das menschliche Handeln im günstigsten Fall eine Folge der Intelligenz ist. So kann man sehr wohl vertreten, daß eine menschliche Freiheit in gewissen Grenzen existiert, eine Zustimmung zu bestimmten Werten und eine Ablehnung anderer, sowie die Handlungen, die sich d a r a u s ergeben. Das bedeutet aber noch nicht, daß wir in uns einen unsterblichen, spirituellen Ursprung haben. M. - Der Buddhismus zieht keine unsterbliche Entität in Betracht, s o n d e r n eine sich ständig v e r ä n d e r n d e Kontinuität, eine Interdependenz. Zudem habe ich nicht in dem Sinne von Willensfreiheit gesprochen, wie Du es verstanden hast, das heißt als freie Wahl der Ausrichtung seiner Existenz, s o n d e r n einfach vom Entscheidungsvermögen im jeweiligen Moment. Ein mechanisches System wird eingerichtet, um auf diese oder jene Weise auf diesen oder jenen Umstand zu reagieren. Selbst wenn es lernfähig ist, hat es keinen Grund, dieses oder jenes zu wollen. Es ist ihm egal. J. F. - Ich mag das Wort Willensfreiheit nicht, weil es ein altes Wort ist, das von der Annahme ausgeht, die Seele verfüge über unbegrenzte Entscheidungsmöglichkeiten. M. - Woher soll beim n e u r o n a l e n Menschen das Entscheidungsvermögen kommen? J. F. - Ich glaube, wir k e n n e n die Funktionsweise der menschlichen Maschine, des menschlichen Wesens und des Gehirns noch nicht genug, um das zu wissen. Wir h a b e n Fortschritte gemacht. Aber den Artikeln und Büchern zufolge, die ich lesen, und den Gesprächen, die ich mit ihren Autoren führen konnte, sind wir in der Kenntnis der zerebralen Mechanismen gerade erst am Anfang. Ich verstehe nicht, w a r u m m a n nicht akzeptieren kann, daß das Entscheidungsvermögen im Anschluß an eine Fortentwicklung des Nervensystems aufgetaucht ist, die dann zum menschlichen Gehirn geführt hat, so wie es sich vor nicht allzu langer Zeit gezeigt hat, sagen wir mit dem Homo sapiens, mit der Sprache. Wir stellen fest, daß dieses Vermögen die Auswir81
kung einer bestimmten Entwicklung des Nerven- und Zerebralsystems ist. Und wir stellen fest, daß dieses Stadium eine Wahlmöglichkeit impliziert, daß es sie mit sich bringt und zuläßt, natürlich innerhalb eines bestimmten Determinismus, des Determinismus der Natur, dem wir unterworfen sind, und sei es n u r als biologische Wesen innerhalb des geschichtlichen und soziologischen Determinismus. Ich glaube, die Analyse der einzelnen menschlichen Schicksale und der Geschichte der Gesellschaften läßt die Aussage zu, daß es - wie schon gesagt, abgesehen von den extremen Fällen totalen Zwangs - immer die Möglichkeit gegeben hat, jederzeit zwischen mehreren Handlungsmustern zu wählen. Dazu dient das Denken. Dazu dient das Urteilsvermögen. Dazu dient das Informiertsein. Das ist das Aussetzen der Handlung, die Möglichkeit, verschiedene Hypothesen, verschiedene Vermutungen in Betracht zu ziehen - es wie der Schachspieler zu machen, der versucht, mehrere Züge vorherzusehen, und daraus Konsequenzen zieht, die eher die eine Entscheidung begünstigen als die andere. M. - Aber was verstehst Du im Zusammenhang mit dem neuronalen Menschen unter: »Dazu dient das Denken«? In Wirklichkeit soll er doch nur ein Computer aus Fleisch und Blut sein? J. F. - Die Wahlmöglichkeit ist eine Sache der Erfahrung. Wenn dem nicht so w ä r e , wenn die Verkettung der Ereignisse, wie zum Beispiel die Marxisten behaupten, allein dem Determinismus des historischen Materialismus unterläge, dann ließe sich im übrigen überhaupt nicht einsehen, wozu die Regierungen, die internationalen Institutionen und die Institute für politische Wissenschaft dienen sollten. Wenn man sagt, was geschehen ist, mußte geschehen, bräuchten die Gerichte ja niemanden zu verurteilen, nicht einmal die Schuldigen der Verbrechen gegen die Menschheit. M. - In der Tat, wenn all jene, die - wie [zur Zeit] in Bosnien - von einem Tag auf den a n d e r e n beschließen, ihre Nachbarn zu töten, lediglich unter schlechten neuronalen Verbindungen litten, bliebe nichts anderes übrig, als ihnen eine Rente auf Lebenszeit zu gewähren! Sie zu verurteilen 82
liefe auf Eugenik hinaus. Nun ist es aber unsere Motivation, die darüber entscheidet, ob eine Tat negativ oder positiv ist, und diese Motivation ist eine Modalität u n s e r e s Bewußtseinsstroms. J. F. - Daher glaube ich, um auf den zentralen Punkt der Diskussion z u r ü c k z u k o m m e n , daß m a n die Existenz der individuellen Freiheit, allgemeiner: der menschlichen Freiheit, wirklich nicht abstreiten kann. Deswegen m u ß m a n auf metaphysischer Ebene aber nicht gleich e i n r ä u m e n , daß es beim Menschen zwei Instanzen gibt, ein spirituelles und ein materielles Prinzip. M. - Gewiß, aber kommen wir auf den Initialmoment einer Entscheidung zurück. Gibt es einen Übergang von einem Zustand der Unentschiedenheit zu einem Zustand der Entschiedenheit oder nicht? Ist die Antwort nein, sind wir vollkommen determiniert. Was wir Bewußtsein nennen, w ä r e d a n n lediglich ein m a r i o n e t t e n h a f t e r Zeuge, ohnmächtig und nutzlos. Die Neurologie sagt uns, an die 90 Prozent der Hirnaktivität seien unbewußt: Warum nicht 100 Prozent, wenn das Bewußtsein doch nur ein passiver Zeuge ist, der zu nichts taugt? Wenn sich das n e u r o n a l e System in einem Zustand des Gleichgewichts befindet, verfügt es in sich über eine gewisse Anzahl von Potentialitäten. Sie sind mit den neuronalen Konnexionen verbunden, die sich aus unserem genetischen Erbe und unseren Konditionierungen ergeben. Das Gleichgewicht muß in die eine oder in die andere Richtung kippen können. Wer könnte, abgesehen vom Willen und vom Denken, die Richtung bestimmen, die das System nehmen wird? Der Zufall? Dann herrschen Chaos und Inkohärenz. Die Notwendigkeit? Dann fällt man wieder dem Determinismus anheim. J. F. - Ja ... vorausgesetzt, das System ist imstande, die eine oder die andere Richtung einzuschlagen. M. - Man kann willentlich seinen Atem anhalten, m a n k a n n aus Altruismus beschließen, j e m a n d a n d e r e m den Vorteil zu lassen oder einen anonymen, selbstlosen Akt von Großmut zu vollbringen, man kann sich entscheiden, den Passionen, obwohl sie normale biologische Neigungen sind, 83
zu entsagen, m a n k a n n den Entschluß fassen, Mönch zu w e r d e n , sich s t u n d e n l a n g ü b e r die Natur des Geistes zu befragen etc. J. F. - Ja, a b e r der Wille ist niemals absolut, s o n d e r n einer gewissen Zahl von Beschränkungen ausgesetzt. Weisheit ist, dem Rechnung zu tragen und sich in Erinnerung zu rufen, d a ß der Wille niemals absolut ist, und auch die Knechtschaft nicht. Der Ausdruck »freier Wille« impliziert die Vorstellung einer vollkommenen menschlichen Freiheit, so als sei der Mensch ein souveräner Gott, der dem Wirklichen seinen Willen aufzwingen könne. Das ist a b e r nun ganz und gar nicht der Fall. M. - Ich rede nicht von totaler Freiheit, sondern vom Entscheidungsvermögen, das im übrigen sehr weit geht, da wir Macht über unser eigenes Leben haben. Dem Buddhismus zufolge gibt es zwischen dem immateriellen Bewußtsein und dem vorübergehend mit ihm verbundenen Körper eine Wechselwirkung. Der Bewußtseinsstrom setzt sich n a c h dem Tod fort und erfährt zwischen jeder Geburt und jedem Tod verschiedene Existenzzustände. »Die körperliche Inschrift des Geistes«, um einen Ausdruck von Francisco Varela zu benutzen, bestimmt die Beziehungen zwischen Bewußtseinsstrom und z e r e b r a l e m System. Man könnte diese Inschrift auch den groben Aspekt des Bewußtseins nennen, da sie mit dem physischen Körper in Verbindung steht. Die Fähigkeit des subtilen Bewußtseins, mit dem Körper zu interagieren, erklärt das Entscheidungsvermögen. J. F. - Das ist die Metapher vom »ghost in the machine«, vom Geist in der Maschine. Das ist auch Bergsons These: Das Bewußtsein geht über das Gehirn hinaus. M. - Es gibt wirklich einen Geist in der Maschine: unseren Bewußtseinsstrom. Dieser Strom - muß ich es noch einmal sagen? - impliziert nicht die Existenz einer gleichbleibenden Entität, die er von Leben zu Leben befördert. Er bewahrt jedoch die Kennzeichen seiner eigenen Geschichte. Das Bewußtsein erlaubt es dem Willen, den Körper in den physiologischen Grenzen zu beeinflussen, die dieser Körper zugesteht. 84
J. F. - Wie setzen sich Bewußtsein und Gehirn miteinander in Verbindung? M. - Dem Buddhismus zufolge ist der Gegensatz von materialistischem und spiritualistischem Standpunkt, von Geist und Materie, ein falsch gestelltes Problem. Denn den meisten Philosophen geht es d a r u m , eine »feste« Materie einem »immateriellen« Geist gegenüberzustellen. Diese Sehweise wirft natürlich unlösbare Probleme auf. Die eigentliche Frage ist hier, sich über die »Wirklichkeit« der Materie selbst k l a r z u w e r d e n . Dem Buddhismus zufolge sind die Atomteilchen weder »beständig«, noch haben sie eine Existenz an sich. Eine Sammlung solcher Entitäten, wie groß ihre Zahl auch sein mag, ist nicht wirklicher als ihre Bestandteile. Ich möchte hier die Zusammenhänge mit der modernen Physik nicht allzu sehr in Anspruch nehmen. Doch d r ä n g t sich der Gedanke an Heisenberg auf, der schrieb: »Die Atome und selbst die Teilchen sind nicht wirklich. Sie bilden eine Welt der Potentialitäten oder Möglichkeiten statt der Gegenstände oder Fakten.« Wir kommen jetzt zurück auf die buddhistische Analyse der Wirklichkeit der Erscheinungen. Unserem Standpunkt nach ist der Gegensatz von Geist und Materie nicht irreduzibel, da beide nicht auf selbständige, d a u e r h a f t e Weise existieren. Deshalb spricht a u c h nichts dagegen, daß sich das Bewußtsein im Gehirn über chemische Reaktionen aktualisieren und physiologische Prozesse auslösen kann, die auf den Körper einwirken, und d a ß diese Prozesse im Gegenzug einen Einfluß auf das Bewußtsein haben. Die Wechselwirkung besteht fort, solange das Bewußtsein mit dem Körper in Verbindung steht. Es ist eine philosophische Entscheidung der Wissenschaftler, die Vorstellung eines immateriellen Bewußtseins nicht anzuerkennen, und eine metaphysische Entscheidung des Buddhismus, sie zu bekräftigen. Von Natur aus entzieht sich das Bewußtsein den Forschungsverfahren der Physik und der Chemie. Nichts zu finden, ist aber kein Beweis für seine Inexistenz. Die Entscheidung des Buddhismus gründet in der Erfahrung des kontemplativen Daseins. Letztlich 85
läßt sich die Frage also nur entscheiden, indem m a n prüft, ob es indirekte Anzeichen gibt, die die Existenz eines Bewußtseins beweisen können, das vom Körper getrennt ist. Der buddhistischen Terminologie zufolge ist das subtile oder immaterielle Bewußtsein »ohne Form«, a b e r nicht »nicht-existent« oder »nicht-offenbar«, denn es ist imstande, eine Funktion zu erfüllen. Dieses Bewußtsein trägt die Fähigkeit in sich, mit dem Körper, der selbst keine letzte Realität hat, zu interagieren. J. F. - Warte! ... Mich als Berufsphilosoph hat es immer sehr mißtrauisch gemacht, wenn die Metaphysik versucht hat, bestimmte Entwicklungen der Naturwissenschaft zur Rechtfertigung metaphysischer Thesen heranzuziehen. Die Naturwissenschaft ist dafür nicht vorgesehen. Ein Beispiel ist Heisenbergs Unschärferelation. Als ich mein Abitur in Philosophie vorbereitete - das heißt ganz zu Anfang des Zweiten Weltkriegs -, war der Indeterminismus in der Mikrophysik das große naturwissenschaftliche Phänomen der Zeit. Sämtliche spiritualistischen Philosophen h a b e n sich den Begriff des Indeterminismus zunutze gemacht, um zu sagen: »Ah! Seht nur! Die Willensfreiheit ist sehr wohl möglich, da die Materie nicht vollständig bestimmt ist ...« Ich schätze diese Art von Argumentation nicht sehr. Es ist nicht ersichtlich, wieso der Indeterminismus in der Mikrophysik dem Menschen die Bestimmung der natürlichen Erscheinungen leichter machen soll. Andere Verwendungsmöglichkeiten der von mir so g e n a n n t e n »Hilfsdisziplinen« sind später aufgetaucht. So hat Michel Foucault die Sprachwissenschaft in alles andere als gewissenhafter Weise genutzt, um Les Mots et les choses (dt. Die Ordnung der Dinge) zu schreiben. Solches S c h m a r o t z e r t u m der Metaphysik gegenüber der Naturwissenschaft, das es übrigens seit dem 18. J a h r h u n d e r t gibt, tritt periodisch auf. Sehr gewissenhaft erscheint es mir nicht. M. - Bezüge dieser Art, da stimme ich zu, sind ein wenig künstlich. Die buddhistische Philosophie ist k o h ä r e n t genug, um auch ohne sie auszukommen. Manchmal jedoch läßt sich so eine Brücke oder wenigstens ein Steg zwischen 86
dem buddhistischen Diskurs und dem der abendländischen Philosophie schlagen. Daher f ö r d e r n solche Bezüge eine größere Offenheit des Geistes. J. F. - Daß es ein spirituelles Prinzip gebe, das dem Gehirn anhängt, aber über es hinausgeht, entspricht - wie schon e r w ä h n t - exakt der These Bergsons in Matiere et memoire (dt. Materie und Gedächtnis). Geschrieben hat er dieses Buch am Ende einer Zeit, in der sich die Neurophysiologie in e r s t e r Linie mit der Erforschung der Aphasie beschäftigt hatte. Durch den Nachweis, daß die Aphasie, das heißt der völlige oder teilweise Verlust der Sprache, auf genau lokalisierte Gehirnschädigungen z u r ü c k z u f ü h r e n war, glaubte die Neurophysiologie belegt zu haben, daß bei der Zerstörung solcher Gehirnpartien auch das Bewußtsein zerstört wird. Das Bewußtsein w ä r e demnach nicht m e h r als die Gehirnzellen. In seinem Bemühen, diese Schlußfolg e r u n g zu widerlegen, hat Bergson sechs J a h r e lang die Literatur zur Aphasie studiert. Mit seinem Buch wollte er zeigen, daß das Gedächtnis, das heißt das Bewußtsein, das Gehirn » ü b e r r a g t « . Es h ä n g e an ihm, sagte er, »wie der Mantel an der Garderobe«, doch lasse es sich darauf genausowenig reduzieren wie der Mantel auf die Garderobe oder das Übernatürliche auf das Natürliche. M. - Die Tatsache, daß eine Schädigung bestimmter Gehirnteile Gedanken und Fähigkeiten so stark beeinflußt, beweist letzten Endes nichts. Sofern ein immaterielles Bewußtsein existiert, kann es sich in einem gestörten oder zurückgebliebenen Gehirn verständlicherweise nicht normal äußern. Bis zum Äußersten, wenn der Tod das Bewußtsein vom Körper trennt, kann dieses Bewußtsein dem Körper keine Weisungen mehr erteilen. J. F. - Ist die Existenz eines immateriellen Bewußtseins für den Buddhismus nicht deshalb eine unentbehrliche Vorstellung, weil die Wiedergeburt ein fundamentaler Begriff der Lehre ist? M. - In der Tat, das einzige, was definitiv die Tatsache eines immateriellen Bewußtseins bewiese, w ä r e die Existenz der Reinkarnation oder genauer: der Kontinuität des 87
Bewußtseins. Doch ich möchte zuerst ein p a a r Worte zur Gedankenübertragung sagen, die ebenfalls ein immaterielles Bewußtsein voraussetzt. Die Anerkennung der Gedank e n ü b e r t r a g u n g ist f ü r die Tibeter beinahe ein Gemeinplatz, so viele Beispiele gibt es dafür. Sie werden nicht nur in den Schriften überliefert, s o n d e r n auch im täglichen Leben beim Kontakt mit den spirituellen Meistern. Betrachtet wird sie als eine Äußerung der gegenseitigen Abhängigkeit der Erscheinungen. Da sich jedoch nichts mit der persönlichen Erfahrung vergleichen läßt, bin ich gezwungen, auf meine eigene zurückzugreifen. Wiederholt habe ich in den zwanzig Jahren, die ich bei tibetischen Meistern verb r a c h t habe, festgestellt, daß sie sich ganz b e s t i m m t e r Gedanken bewußt waren, die ich selbst oder Freunde von mir g e r a d e gehabt h a t t e n . Ich w e r d e n u r ein Beispiel a n f ü h r e n , das mich am meisten verblüfft hat. Als ich in einer Eremitage, unweit von meinem ersten Meister Kangyour Rinpoche, meditierte, habe ich angefangen, an die Tiere zu denken, die ich in meiner Jugend getötet hatte. Bis zu meinem f ü n f z e h n t e n Lebensjahr, als mir plötzlich bewußt wurde, was es heißt, zu töten und einem Lebewesen Leid zuzufügen, hatte ich geangelt und einmal mit einem Gewehr auf eine Ratte geschossen. In meine Überlegung mischte sich tiefes Bedauern und eine Art Ungläubigkeit, daß ich imstande gewesen war, gegenüber dem Leid a n d e r e r völlig blind zu sein und es als banal anzusehen. Also beschloß ich, Kangyour Rinpoche a u f z u s u c h e n und ihm zu sagen, was ich g e m a c h t hatte - ihm in gewisser Weise zu beichten. Ich traf ihn an. Tibetisch sprach ich noch nicht, aber sein Sohn war da ... J. F. - Der als Dolmetscher diente ... M. - Als mich Kangyour Rinpoche erblickte, sah er mich lachend an. Bevor ich mit meiner »Beichte« beginnen konnte, sagte er ein p a a r Worte zu seinem Sohn. »Wie viele Tiere«, übersetzte er für mich, »hast Du in Deinem Leben getötet?« J. F. - Das ist interessant. M. - Im ersten Moment ist mir der Vorfall ganz selbstver88
ständlich vorgekommen ... Ich h a b e gelächelt. Ich hatte nicht den Eindruck, in eine s o n d e r b a r e , ü b e r n a t ü r l i c h e Atmosphäre versetzt zu sein! Doch gleichzeitig ... Einmal genügt, um den Geist zu öffnen. Es genügt, sagt man, einen Tropfen vom Ozean zu kosten, um zu wissen, daß er salzig ist. J. F. - Völlig einverstanden ... Doch die Tatsache, d a ß gewisse Psychen mit anderen Psychen kommunizieren können - w a s selten ist, a b e r vorkommt, wie Dein g e r a d e beschriebenes Beispiel zeigt -, kann nicht gänzlich beweisen, daß es beim Menschen ein rein spirituelles Prinzip gibt. M. - Sie beweist es nicht, aber sie läßt es mit Nachdruck vermuten. Hinzufügen muß m a n außerdem, daß die spirituellen Meister Tibets stets eine sehr bescheidene Haltung an den Tag legen. Vielleicht machen sie diese Art von Erfahrung ständig, ohne es jedesmal durchblicken zu lassen. Sie stellen ihre Fähigkeiten nicht gerne zur Schau und streben nicht danach, die anderen zu beeindrucken. Bei den großen tibetischen Meistern ist diese Fähigkeit relativ weit verbreitet und geht stets Hand in Hand mit einem hohen Grad spiritueller Verwirklichung. Bei gewöhnlichen Gläubigen habe ich sie nie beobachtet noch davon gehört. Nun sind es aber eben jene Meister, die aufgrund ihrer E r f a h r u n g von einem Bewußtseinszustand nach dem Tod sprechen. Angesichts der Fähigkeiten, die m a n bei ihnen beobachten kann, und all der anderen Vollkommenheiten, die sie im Alltagsleben unter Beweis stellen, erscheint es mir wahrscheinlicher, daß sie die Wahrheit sagen. Das ist alles, was ich sagen kann. J. F. - Exakt dieses Argumentationsmuster, diese Erwägungen, die Du gerade angestellt hast, findet m a n in etlichen Dialogen Piatons wieder. Menschen, die einen hohen Grad von Spiritualität erreicht haben und durch diese oder j e n e Demonstration von Uneigennützigkeit, Demut und E r h a b e n h e i t ihren außergewöhnlichen Charakter u n t e r Beweis stellen, sind scheinbar mit der Wahrnehmung übernatürlicher Phänomene begabt. Wer für diese Argumentation empfänglich ist, soll v e r a n l a ß t w e r d e n , die Hypothese 89
eines spirituellen Prinzips und der Unsterblichkeit der Seele zu akzeptieren. Kommt jedoch kein Glaubensakt hinzu, können sie durch die zwingende Beweisführung allein nicht zu diesem Schluß gelangen. M. - Wenn m a n den Glauben als eine erfahrungsbedingte Überzeugung definiert, w a r u m soll m a n einen solchen Glaubensakt dann nicht vollziehen? Gewiß, es ist immer schwierig, jemandem, der nicht dieselbe Erfahrung gemacht hat, eine solche Überzeugung nahezubringen. J. F. - Natürlich! Nun ist aber schon die Beweisführung an sich unabhängig von subjektiven Erfahrungen. M. - Warum an sich? Der Glaube an den Buddhismus ist kein blinder, irrationaler Glaube an bestimmte Dogmen. Andre Migot meinte dazu in seinem Buch über den Buddha*: »Der Glaube wird zum Aberglauben, wenn er die Vernunft ausklammert, oder mehr noch, wenn er sich ihr entgegenstellt. Wenn er jedoch mit der Vernunft einhergeht, hindert er sie d a r a n , nur ein intellektuelles Spiel zu bleiben.« Hier handelt es sich also nicht nur um einen Vertrauensakt, sondern um die Erklärung, die am glaubhaftesten ist. J. F. - Da ist er: der große, ständige Versuch - ich sage bewußt Versuch -, das Bestreben, das Irrationale zu rationalisieren. Auch hier gibt es einen grundlegenden Bezug zu Piaton oder Pascal. Es geht um den Versuch, mit einer Dialektik im platonischen und nicht im Hegeischen Sinne, mit einer in seinem »Wort f ü r Wort«-Gefüge sehr strengen, rationalen Argumentation etwas mittels der Urteilskraft zu beweisen, das nicht von der Urteilskraft abhängt. So gelangt man stets an eine letzte Grenze. Denn es gibt immer einen Schritt zu vollziehen, der nicht mehr von der Beweisführung abhängt. M. - Manche Schritte sind es wert, vollzogen zu werden! Das Verhalten dieser Weisen scheint vollkommen kohärent, ohne das geringste störende Detail. Warum sollten all diese vorzüglichen Menschen, die noch leben oder in die lange * Le Rouddha. Club F r a n c i s du Fivre, i 9 6 0 , Complexe, 1990.
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Geschichte des Buddhismus eingegangen sind, plötzlich anfangen, Scheinwahrheiten zu fabrizieren, wenn es um ihre E r f a h r u n g eines immateriellen Bewußtseinsstroms geht, der sich nach dem Tod fortsetzt? J. F. - Nein! Der Glaubensakt ist nicht unbedingt ein Betrug. Er ist ein Zeugnis wie in der Geschichtsforschung, aber kein absoluter Beweis. M. - Vorsicht, wir sind es, die den Glaubensakt vollziehen. Er betrifft nicht jene, die wie der Buddha versichern, d a ß das Bewußtsein immateriell sei, daß sich sein Strom n a c h dem Tod fortsetze, und daß es möglich sei, einen Bewußtseinsstrom unter anderen wiederzuerkennen. Für jene handelt es sich um eine unmittelbare Erfahrung, nicht um einen Glaubensakt. J. F. - Für die Mystiker in der abendländischen Tradition w a r die Situation ähnlich. Nimm den heiligen J o h a n n e s vom Kreuz, die heilige Katharina von Siena oder andere, die zu Lebzeiten im Taumel, in Zuständen der Ekstase Gott gesehen haben. Für sich haben sie wirklich die Erfahrung des Göttlichen gemacht. Die meisten Christen glauben ihnen aber aufs Wort, ohne ihre Aufrichtigkeit oder ihre Demut in Zweifel zu ziehen. Ihr Zeugnis ist jedoch nicht mit einer rationalen Beweisführung gleichzusetzen. Bei diesem Typ von Argumentation ist festzustellen, daß über zwei verschiedene Wege vorgegangen wird. Einerseits nimmt m a n bestimmte Aspekte der Naturwissenschaft f ü r sich in Anspruch, um zu versuchen, über die Wege der rationalen Beweisführung die Existenz eines spirituellen und unsterblichen Prinzips nachzuweisen. Andererseits beruft man sich auf übersinnliche und ü b e r n a t ü r l i c h e E r f a h r u n g e n . Von dem, der über sie berichtet und der als vollkommen ehrenwerte Person nicht gewillt sein kann, uns zu täuschen, können sie in aller Aufrichtigkeit erlebt worden sein. Aber das genügt nicht! Die Geschichte der Menschheit ist voll von absolut aufrichtigen Leuten, die sich geirrt haben! M. - Wie kann m a n sich bei einer solchen E r f a h r u n g irren? J. F. - Man kann eine Erfahrung machen, von der m a n 9i
annimmt, sie beweise die Existenz eines Prinzips, das sich in einem Jenseits fortsetzt, die aber in Wirklichkeit nur ein Eindruck ist. Hat sich d a s betreffende Individuum nicht geirrt? Für den, der die Erfahrung nicht gemacht hat, stellt das keinen Beweis dar. Das kann nur im Bereich des Wahrscheinlichen oder Möglichen bleiben. M. - Beweisen kann m a n es nur, indem m a n die Erfahrung selbst macht. J. F. - Das ist das Problem! ... Die Bibliotheken der Philosophie und der Theologie sind voll von Versuchen, die Existenz Gottes oder die Unsterblichkeit der Seele rational zu beweisen. Es gibt Tonnen davon, seit Jahrhunderten ... Leider haben sie nie ausgereicht, um die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele rational zu beweisen! Kant hat daher seinerseits auf den indirekten Beweis über den Begriff des Guten und über die Moral zurückgegriffen. Keinesfalls aber über die Rationalität. M. - Ich f ü h r e hier in der Tat einen indirekten Beweis an: den der Verläßlichkeit der Aussage. Es bleibt aber noch ein zweiter Punkt, den wir ansprechen müssen: die Menschen, die sich an ihre f r ü h e r e n Existenzen erinnern. Er könnte letzten Endes nämlich die Frage der Wiedergeburt klären. J. F. - Ja, natürlich, sofern uns diese Menschen davon überzeugen können, daß es sich um wirkliche Erinnerungen handelt und nicht um einen Roman ... Pythagoras behauptete auch, sich an seine früheren Leben zu erinnern. M. - Es hat etliche Nachforschungen zu Fällen dieser Art gegeben. Sogyal Rinpoche e r w ä h n t in seinem Buch* zwei der i n t e r e s s a n t e s t e n . Einer davon ist der eines kleinen Mädchens aus Punjab in Indien, das sich an eine Fülle von Einzelheiten erinnerte, die die Umstände ihres Todes betrafen, ihre f r ü h e r e Familie, ihr Zuhause etc. Von den Beobachtern, die der Dalai Lama ausgesandt hatte, sind diese Fakten ebenfalls beschrieben worden. Ich verfüge hier aber über keine unmittelbaren Erfahrungen, und es brächte uns * Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben. Hin Schlüssel z u m tief e r e n V e r s t ä n d n i s von Leben u n d Tod. Mit e i n e m Vorwort des Dalai Lama. Scherz Verlag, M ü n c h e n 1 9 % ' \
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nichts, lange über die Verläßlichkeit der Zeugnisse zu diskutieren. In eigener Kenntnis der Sache kann ich nur darüber sprechen, was in der tibetischen Welt mit den kleinen Kindern geschieht, die als spirituelle Fortsetzung verstorbener Weiser betrachtet werden. Es gibt etliche Fälle, wo diese Kinder Schüler der verblichenen Meister wiedererkannt haben oder ihnen gehörige Gegenstände oder Orte, an denen sie gelebt hatten. J. F. - Ist das wirklich bewiesen? M. - In der Geschichte Tibets sind Hunderte von Fällen überliefert. Mir persönlich sind einige Zeugnisse aus erster Hand zu Ohren gekommen, an denen ich wenig Grund zu zweifeln habe. Und ich kann von einem Fall berichten, an dem ich keinen Grund zu zweifeln habe, da ich selbst Zeuge gewesen bin. J. F. - Aber wie bestimmt man, daß ein dreijähriges Kind j e m a n d e n wiedererkennt?... Lächelt es ihn an? Winkt es mit der Hand? M. - Manchmal r u f t es j e m a n d e n aus dem Umfeld des verstorbenen Meisters beim Namen. J. F. - Ohne ihn je gehört zu haben? Na! M. - Ich gebe Dir zwei Beispiele. Das erste kann ich nicht persönlich bezeugen, aber es ist mir von jemandem erzählt worden, dem ich Glauben schenke. Es handelt sich um einen großen Weisen, der 1903 gestorben ist. Er hieß Dudjom Lingpa und lebte in Amdo, im Nordosten Tibets. Kurz vor seinem Tod erklärte er seinen Schülern, sie sollten in die zwei Monate F u ß m a r s c h von Amdo entfernte Region Pemakeu aufbrechen, die in der Nähe der indischen Grenze im Süden Tibets liegt. Nach dem Tod des Meisters machten sich etwa hundert seiner Schüler im Glauben an seine letzten Worte nach Pemakeu auf, in der Vorstellung, dort die Inkarnation des Weisen wiederzufinden. Fast fünf J a h r e lang suchten sie vergeblich, dann kehrten sie einer nach dem a n d e r e n zurück. Nur r u n d f ü n f z e h n Unnachgiebige setzten ihre Suche fort. Eines Tages kamen sie zum Eingang eines Dorfes, wo eine Gruppe Kinder spielte. Ein kleiner Junge rannte unter ihnen herum, der seinen Eltern gesagt 93
hatte: »Heute w e r d e n F r e u n d e k o m m e n , m a n m u ß eine Mahlzeit f ü r sie vorbereiten.« Die Kinder e r f r e u t e n sich daran, über eine kleine Steinmauer zu springen. J. F. - Wie alt war das Kind? M. - Fünf oder sechs J a h r e ... Als sich die Mönche näherten, stolperte es über einen Stein und ergriff im Fallen die Hand des Lama neben ihm. Dabei rief es ihm zu: »Yeshe, hilf mir!« Das war wirklich der Name des Lama. Es versetzte ihm einen Schock, doch zunächst einmal sagte er nichts. Die Reisenden w u r d e n eingeladen, mit der Familie die Mahlzeit zu teilen. Nun fand es sich aber, daß der Lama Yeshe ein Reliquienkästchen um seinen Hals trug, das eine Haarsträhne enthielt. Als das Kind das Reliquienkästchen sah, rief es: »Oh! Das sind ja die Haare, die ich dir gegeben habe!« Es w a r tatsächlich eine H a a r s t r ä h n e , die ihm der vorherige Weise gegeben hatte. Aus dem Kind wurde Dudjom Rinpoche, der 1987 starb und einer meiner wichtigsten spirituellen Meister war. Und n u n die Geschichte, die ich persönlich bezeugen kann: die Geschichte der Reinkarnation von Khyentse Rinpoche, dem Meister, bei dem ich fünfzehn J a h r e lang gelebt habe. J. F. - Den ich 1973 in Darjeeling kennengelernt habe? M. - Nein ... Dem Du 1986 in Bhutan begegnet bist. Identifiziert wurde er von einem seiner ihm am nächsten stehenden Schüler, auch er ein großer Meister, der jetzt zweiundsiebzig Jahre alt ist und in den Bergen von Nepal lebt. Seine Träume und Visionen, von denen wir gestern sprachen, h a b e n es möglich gemacht, das Kind zu finden. An den Nachforschungen h a b e ich persönlich teilgenommen. Nach Auffinden des Kindes wurde beschlossen, in einer heiligen Grotte im Osten Nepals eine Langlebigkeitszeremonie zu feiern. Also h a b e n wir uns in diese Grotte begeben, unweit von der, in der damals der Weise Trulshik Rinpoche seine Zurückgezogenheit verbrachte. Etwa hundert ehemalige Schüler von Khyentse Rinpoche folgten uns. Während der Zeremonie las Trulshik Rinpoche dem Kind den Namen vor, den ihm der Dalai Lama gegeben und übersandt hatte, 94
überreichte ihm die Festtagskleider und vollführte zu seinen Ehren ein Ritual des langen Lebens. Am letzten Tag fand ein Fest statt, bei dem der zelebrierende Meister den Teilnehmern eine geweihte Substanz verabreichte. Wir warteten darauf, daß Trulshik Rinpoche, der Vorsitzende der Zeremonie, die Substanz verteilte. Als das Kind sah, wie Trulshik Rinpoche damit b e g a n n , beschloß es aber, sie selbst zu verabreichen - auch wenn es damals erst zweieinhalb J a h r e alt war. Ganz gelassen, die Szene hat wohl fünf Minuten gedauert, ließ es seine Mutter zu sich kommen, gab erst ihr einen Tropfen der Substanz, dann dem Enkel von Khyentse Rinpoche, den es kannte, sowie rund zwanzig Personen, d e r e n Namen es nur ein- oder zweimal gehört hatte. Als es sie rief, sprach es die Namen etlicher dieser Personen, die ihm am Vortag vorgestellt w o r d e n w a r e n , deutlich aus. J. F. - Mit zweieinhalb Jahren! Aber in dem Alter spricht m a n doch kaum! M. - Kaum, aber genug, um die Leute mit Namen anzusprechen. J. F. - Das setzt bei diesem merkwürdigen Subjekt ein phänomenales Gedächtnis voraus! M. - Als ich das Kind tags zuvor auf meinem Arm hielt, hatte ich es auf meinen Freund Luc aufmerksam gemacht, einen französischen Ingenieur, der auch Schüler von Khyentse Rinpoche w a r und gerade eines u n s e r e r Klöster in Indien baute. Halb im Scherz hatte ich gesagt: »Das da, das ist Luc, der Ihr Kloster in Bodhgaya baut.« Am nächsten Tag hat es Luc bei seinem Namen gerufen und ihm die Segnung erteilt. Gut, dieses Kind w a r besonders aufgeweckt und mit einem erstaunlichen Gedächtnis ausgestattet. Aber das war nicht das Verblüffendste. Unter den etwa hundert Anwesenden befand sich eine Gruppe Bhutaner, die gerade aus ihrer Heimat angereist w a r e n , in dreitägigem Fußmarsch von der nepalesischen Grenze aus. Einer von ihnen w a r ein langjähriger Diener des verstorbenen Khyentse Rinpoche. Als das Kind alle in seiner Nähe Stehenden gesegnet hatte, fragte es ein Mönch: 95
»Gut, nun ... war es das?« Da antwortete es: »Nein, nein« und zeigte mit dem Finger auf j e m a n d e n in der kleinen Gruppe. Ein anderer Mönch ging hin, um in der Richtung, die das Kind wies, auf einige der sitzenden Personen zu zeigen - »Der da? Die hier? Die da?« -, bis er zu dem langjährigen bhutanischen Diener kam und das Kind sagte: »Ja! Der!« Da ließ man den alten Mann näher treten, und das auf seinem Thron sitzende Kind erteilte ihm den Segen. Der Mann brach in Tränen aus. J. F. - Das ist sehr erstaunlich. Ich sage aber noch einmal, daß solche Vorfälle n u r dann Beweise sind, wenn m a n sie selbst erlebt hat. Auch dann, wenn m a n an die absolute Ehrlichkeit der Zeugen glaubt. M. - Ich verstehe. Ich erzähle diesen Fall nur, weil ich ihn selbst erlebt habe, denn er hat f ü r mich ein g r ö ß e r e s Gewicht an Wahrheit, als w e n n ich n u r von ihm gehört hätte. Doch ich m u ß hinzufügen, daß ich von Dutzenden ähnlicher Vorfälle gehört habe. Als der Dalai Lama, der die Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit selbst ist, gefragt wurde, ob er derartige Erinnerungen habe, erzählte er: »Sobald ich in Lhasa ankam, sagte ich meinem Gefolge, meine Zähne befänden sich in einer Schachtel in einem bestimmten Zimm e r von Norbulingka, dem Sommerpalais. Als sie die Schachtel öffneten, fanden sie die Zahnprothese, die dem dreizehnten Dalai Lama gehört hatte. Ich h a b e mit dem Finger auf die Schachtel gezeigt und gesagt, da seien meine Zähne drin ... doch gegenwärtig e r i n n e r e ich mich an nichts!« J. F. - Gut ... sagen wir, das gehört zu den metaphysischen Glaubensüberzeugungen des Buddhismus. Es charakterisiert meiner Ansicht nach die Auffassungen metaphysischer, um nicht zu sagen religiöser Natur. Das rationale Denken ist d a d u r c h gekennzeichnet, d a ß j e d e B e w e i s f ü h r u n g nachvollzogen, ja durchgesetzt w e r d e n kann, auch gegenüber j e m a n d e m , der die D u r c h f ü h r u n g des Experiments selbst nicht beobachtet hat, der nicht einmal imstande wäre, es selbst durchzuführen, aber gezwungen ist, seine stets mögliche Wiederholung zu akzeptieren. 96
Im Gegensatz dazu ist der von Dir angesprochene Typ von E r f a h r u n g n u r für den vollkommen überzeugend, der ihn selbst erlebt hat. Es handelt sich um ein einmaliges Zeugnis wie bei den Mystikern und all j e n e n , die eine b e s o n d e r e religiöse oder andere Erfahrung gemacht haben. M. - Über die Kriterien des rationalen Denkens und die Tatsache, daß seine Beweise nachvollzogen oder durchgesetzt werden können, bin ich mir wohl im klaren. Die Überzeugung etwa, daß eine m a t h e m a t i s c h e Beweisführung richtig sei, hat ihren Ursprung im Geist, nicht? Wenn sie physikalisch anwendbar ist, kann man sie auch experimentell überprüfen. Das kontemplative Denken führt ebenfalls zu einer Überzeugung, die im Geist entsteht. Die Kraft der Gewißheit, die aus einem Leben in kontemplativer Praxis an der Seite eines spirituellen Meisters erwächst, ist genauso stark wie der Beweis eines Lehrsatzes. Der einzige Unterschied bei der experimentellen Verifizierung liegt darin, daß sie meist innerlich ist, was ihr nichts von ihrer Authentizität nimmt. Die äußerlichen Aspekte - die Güte, die Toleranz, das Mitleid, die Weisheit - sind nur »Zeichen« der inneren Verwirklichung. J. F. - Ich bestreite die Authentizität nicht für die, die sie selbst erleben. In u n s e r e m Gespräch, das den Sinn des Buddhismus für jemanden aus dem Westen genauer darlegen soll, möchte ich nur hervorheben, daß zur Dimension praktischer, rein psychologischer Weisheit zweifellos eine metaphysische, übernatürliche Dimension hinzukommt. M. - Bei den erwähnten Begebenheiten handelt es sich keineswegs um eine mystische E r f a h r u n g . Was ich hier bezeuge, hat nichts Metaphysisches an sich. Ich h a b e das mit eigenen Augen gesehen, und zwar nicht in einem Zustand der Schwärmerei, sondern unter den ruhigsten, ich w ü r d e fast sagen den »normalsten« Umständen, die m a n sich vorstellen kann. Da Du die mystischen Zeugnisse erwähnst, möchte ich eine Zwischenbemerkung einfügen. Mitunter hat m a n alles d a r a n g e s e t z t , solche Zeugnisse durch eine Art »medizinischen Materialismus« zu schmälern. So wurde behauptet, die heilige Theresia von 97
Avila sei hysterisch gewesen, der heilige Franz von Assisi habe erblich bedingte psychische Störungen gehabt und der heilige Paulus auf dem Weg von Damaskus einen epileptischen Anfall. Und Jeanne d'Arc soll schizophren gewesen sein. Es ist wahr, daß die Erregung bestimmter Partien des Gehirns oder seiner Fehlfunktionen Halluzinationen hervorrufen kann. In diese Kategorie kann m a n aber nicht die spirituellen Erfahrungen von Tausenden von Menschen einordnen, die sich der Kontemplation widmen und geistig völlig gesund sind! Was die Fakten hinsichtlich des kleinen Kindes betrifft, so kann ich dir versichern, daß weder ich noch die anderen Anwesenden in »mystischen Zuständen« waren. Ohne meine innere Überzeugung im geringsten aufdrängen zu wollen, kann ich doch nicht an meinen Sinnen zweifeln! J. F. - Auch wenn m a n nicht auf entwürdigende, sagen wir verächtliche Erklärungen zurückgreift, wie Du sie gerade erwähnt hast, kann, ja muß m a n in einer guten Methodologie trotz allem zwischen jenem Beweistyp unterscheiden, der nachvollziehbar ist und der gesamten Menschheit auferlegt w e r d e n kann, und j e n e m , der n u r f ü r den ein Beweis ist, der eine bestimmte Erfahrung gemacht hat. M. - Das ist wirklich ein methodisches Problem: Wenn m a n ein außergewöhnliches, nicht reproduzierbares Phänomen ausschließt, wie soll man dann erkennen können, ob es gegebenenfalls der Realität entspricht? J. F. - Ich bin der Ansicht, m a n m u ß es ausschließen, solange es uns selbst nicht begegnet ist. M. - Aber dann könnten ja n u r solche Dinge von allen zugleich anerkannt werden, die sichtbar oder feststellbar sind! J. F. - Meiner Meinung nach gehört das, worauf Du ansprichst, zur Kategorie des historischen Zeugnisses und nicht zu der des wissenschaftlichen Beweises. Das historische Zeugnis - das heißt: »Soundso hat das gesagt. Ich war zugegen und habe es gehört.« - ist ein Argument von hohem Wert, ohne das es keine Geschichtswissenschaft gäbe. Es ist jedoch nie ein endgültiger Beweis. Jeder Histo98
riker kann dahin gebracht werden, einen anderen Historiker anzufechten und zu sagen: »Ich habe eine andere Quelle gefunden, die beweist, daß dieses Zeugnis falsch oder einseitig ist.« Die Geschichtsschreibung ist daher eine Wissenschaft, aber keine exakte Wissenschaft. Sie beruht ausschließlich auf dem Zeugnis einer begrenzten Anzahl von Individuen hinsichtlich einer Erfahrung, die nicht wiederholbar ist. Sie ist allerdings wissenschaftlicher als die von Dir erwähnten Zeugnisse. Denn abgesehen von persönlichen Aussagen stützt sich die Geschichtsschreibung auf unpersönliche Dokumente und Monumente, obwohl auch sie verschieden interpretierbar sind. Im Hinblick auf die übernatürlichen Erfahrungen stehen sich hier zwei Einstellungen gegenüber. In diesem Thema werden wir jetzt nicht weiterkommen ... Wir müssen es bei folgender Überlegung b e w e n d e n lassen: Wenn m a n einem bestimmten Glaubenssystem nicht anhängt - im erhabensten Sinne des Wortes, ich wiederhole das -, wird einem stets etwas fehlen, um eine Anschauung beweisen zu können, die definitionsgemäß metaphysisch ist. Nun ist eine metaphysische Anschauung aber niemals völlig zu beweisen. Seit zweitausendfünfhundert J a h r e n versucht man, rationale Metaphysik zu betreiben und die Metaphysik genauso unwiderlegbar zu machen wie die Mathematik. Geschafft hat m a n es nie! Weil die Metaphysik an sich diesem System der Beweisführung nicht unterliegt! M. - Sie ist aber abhängig von der spirituellen Verwirklichung, die eine unleugbare Tatsache ist und sich auf der Ebene der kontemplativen Erfahrung abspielt, dem unmittelbaren Schauen einer Wahrheit, die sich dem Geist aufdrängt, weil sie in seinem Bereich der Natur der Dinge entspricht. Was nicht heißen soll, daß dieser Standpunkt »irrational« ist, sondern einfach, d a ß er die begriffliche Beweisführung transzendiert. J. F. - Es läuft also darauf hinaus, daß es zwei verschiedene Sehweisen gibt. Bei einer Weisheit dieses Typs, deren Bedeutung niemand leugnet, ist daher die Unterscheidung wichtig, was von der Metaphysik abhängt und was nicht. 99
Was kann j e m a n d , der seiner metaphysischen Dimension nicht beipflichtet, für Lehren aus dem Buddhismus ziehen, um seine L e b e n s f ü h r u n g zu v e r b e s s e r n ? Meiner Ansicht nach ist das die interessanteste Frage. Hier liegt im übrigen das Problem j e d e r Religion und j e d e r Philosophie. Ganz besonders fesselnd ist es aber im Falle des Buddhismus, der gleichzeitig beides ist und weder das eine noch das andere, nicht w a h r ? M. - Greifen wir unsere Frage aber noch einmal von der anderen Seite auf. Nimm einmal für einen Moment an, daß es solche außergewöhnlichen Phänomene wie die Erinnerung an f r ü h e r e Leben wirklich gibt. Wie könnte m a n sie klar herausstellen, w e n n ihre Außergewöhnlichkeit sie schon u n a n n e h m b a r macht? J. F. - Man müßte über einen unparteiischen Beobachter verfügen, der die Sprache fließend beherrscht, der in der tibetischen Klostergemeinschaft akzeptiert ist und der den Sachverhalt mit Skepsis und Unnachsichtigkeit beobachten kann. M. - Wenn es nur das ist, stellt sich Dein demütiger Dien e r als Kandidat zur Verfügung. Ich persönlich versuche immer, größtmögliche Objektivität an den Tag zu legen, wohl wissend, daß ich sonst denjenigen ein günstiges Ziel biete, die solche Behauptungen anprangern, die auf blinder Leichtgläubigkeit b e r u h e n . Wenn ich mit meinen tibetischen Freunden diskutiere, versuche ich stets, mich zum Anwalt des Teufels zu machen. Um der Debatte Würze zu geben, n e h m e ich immer den Standpunkt des Materialismus ein. Auch ich konnte der Gedankenübertragung nicht so recht Glauben schenken, bevor ich ihr Zeuge geworden bin. Ich bin froh, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie das Kind den alten Mann zu sich kommen ließ. Meine tiefgehendste Überzeugung auf dem spirituellen Weg ist aber nicht von äußerlichen Vorkommnissen dieser Art hervorgerufen worden. Sie kommt von einer ständigen Bestätigung bestimmter metaphysischer und kontemplativer Wahrheiten. J. F. - Meine nicht endgültige Schlußfolgerung wäre die 100
eines jeden gewissenhaften Historikers: In meinen Augen besitzt Dein Zeugnis m e h r Gewicht als d a s eines leicht u n t e r Drogen stehenden Hippies, der sich dem Buddhism u s in u n a u f r i c h t i g e r Weise angeschlossen hat. In der Geschichtswissenschaft verfährt man genauso: Die Aussage eines b e s t i m m t e n Zeugen h a t sehr großes Gewicht, doch es ist n u r eine Bezeugung. Noch einmal, laß uns die Geschichtswissenschaften, die Geisteswissenschaften und die H u m a n w i s s e n s c h a f t e n von den s o g e n a n n t e n »strengen« Wissenschaften unterscheiden, die Beweise liefern, auf die man insistieren kann, ganz gleich, welche Auffassung Dein Gegenüber hat. Die H ä u f u n g von Zeugnissen stellt eine immer wahrscheinlichere Mutmaßung dar und strebt einer Grenze absoluter Gewißheit zu, die jedoch nie völlig erreicht wird. M. - Ich kann Dir versichern, daß Du bei einem Bewohner der Wälder von Neuguinea keine Chance hättest, auch nur ein Hundertstel der wissenschaftlichen Entdeckungen durchzusetzen. Er müßte über vergleichbare geistige Schemata verfügen und über J a h r e in einer bestimmten Weise geschult werden. Genausowenig lassen sich die Ergebnisse der kontemplativen Suche d e n e n aufzwingen, die ihren Geist für sie nicht geöffnet h a b e n . Auch da ist Erziehung vonnöten. Um unsere Diskussion abzuschließen, kann man sich fragen: Durch welche Methode und welches Kriterium könnte man sich bei dem von Dir vertretenen Standpunkt veranlaßt sehen, die Echtheit und die Existenz eines Phänomens a n z u e r k e n n e n , das nicht willentlich r e p r o d u z i e r b a r ist? Und wie ist es zu vermeiden, daß es a priori ausgeschlossen wird? J. F. - Es wird nicht a priori ausgeschlossen! Man soll nie irgend etwas a priori ausschließen. Es gibt Fälle, wo sich gewisse Behauptungen, die von der Realität auf allzu offensichtliche Weise widerlegt werden, nicht a priori, sondern a posteriori ausschließen lassen. So gibt es anscheinend eine Vereinigung von Leuten, die behaupten, die Erde sei flach! Es gibt keinen Grund, sie zu belästigen. Sollen sie sich doch IOI
v e r s a m m e l n , w e n n es ihnen Spaß macht. Doch letzten Endes kann man klar und deutlich nachweisen, daß sie im Irrtum sind. Manche Wahrheiten sind nichts a n d e r e s als Vermutungen, die ein Maximum ernstzunehmender Historiker a u f g r u n d der H ä u f u n g der Zeugnisse schließlich glaubt. Das schließt jedoch nie die Möglichkeit aus, d a ß fünfzig J a h r e später ein a n d e r e r Historiker kommt und sagt: »Ihr habt Euch vollkommen geirrt, hier ist der Beweis.« M. - Im naturwissenschaftlichen Bereich kommt das ständig vor. J. F. - Kurz, in den Wissenschaften des Nicht-Reproduzierbaren gibt es einen bestimmten Typ von Wissen, der nur auf der Konfrontation der Zeugnisse beruht, die niemals abgeschlossen ist. M. - Im übrigen ist es nicht das Ziel der Wissenschaften des Reproduzierbaren, metaphysische Fragen zu lösen oder dem Dasein einen Sinn zu geben, sondern auf möglichst g e n a u e Weise die materielle Welt zu beschreiben. In dem Kontext, in dem die Naturwissenschaft operiert, ist die Auffassung, daß sich die Wirklichkeit auf die Materie beschränkt und das Bewußtsein lediglich eine Eigenschaft des n e u r o n a l e n Systems ist, n u r eine Definition. Das kontemplative Dasein hat auch seine Regeln, und die tiefgreifende Überzeugung, die sich beim Praktizieren herausbildet, beeinflußt den Geist genauso stark wie ein Experiment, das auf materieller Ebene durchgeführt wird. Die rein kontemplative Beobachtung der Natur des Geistes kann eine genauso vollkommene Gewißheit erzeugen wie die Beobachtung des Falls eines Körpers unter dem Einfluß der Schwerkraft.
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Eine Wissenschaft des Geistes?
- Wir kommen jetzt zu etwas, was man die buddhistische Psychologie nennen könnte, das Phänomen der Kontrolle des Denkens. Das ist ein Aspekt des Buddhismus, der jüngst besonders im Westen Interesse erregt hat. Im 19. J a h r h u n d e r t interessierten sich Philosophen wie Schopenhauer vor allem für die buddhistische Weisheit, für das Verfahren, in der Selbstvergessenheit eine Art Ausgeglichenheit zu finden. In jüngster Zeit sind es die Techniken der Kontrolle des Denkens. So fand 1991 in Harvard ein Kolloquium statt, das den Dalai Lama und verschiedene Forscher zusammenbrachte.* Das ist äußerst interessant, weil es sich um westliche, mit der abendländischen wissenschaftlichen Psychologie vertraute Forscher handelte, die ihre Ansichten mit denen des Dalai Lama konfrontierten. Einige der Forscher waren bereits im Orient gewesen, um sich vor Ort über die Praktiken zu informieren. So hielt Daniel Goleman, wissenschaftlicher Mitarbeiter der New York Times, während des Kolloquiums einen Vortrag über die tibetischen und die westlichen Modelle zur geistigen Gesundheit. Was läßt sich über die buddhistische Psychologie sagen? M A T T H I E U - Kennzeichnend für den Buddhismus, diese »Wissenschaft des Geistes«, ist, daß es nicht ausreicht, eine b e w u ß t e Gefühlsregung oder eine latente, an die OberJEAN-FRAN^OIS
* Mind Science: An Hast West Dialogue. The DalaT-lama a n d Participants in the H a r v a r d Mind Science S y m p o s i u m . H e r a u s g e g e b e n von Daniel Golem a n und Robert A. F. T h u r n m a n , Wisdom Publications, Boston 1991. Vergleiche a u c h : J e r e m y H a y w a r d / F r a n c i s c o J. Varela: Gewagte Denkwege. Wissenschaftler im Gespräch mit dem Dalai Lama (Serie Piper, B a n d 2115), Piper Verlag, M ü n c h e n 1 9 9 6 , s o w i e F r a n c i s c o J. Varela: Traum, Schlaf und Tod. Grenzbereiche des Bewußtseins. Der Dalai Lama im Gespräch mit westlichen Wissenschaftlern. Aus d e m Englischen von Matthias Braeunig. Fugen Diederichs Verlag, M ü n c h e n 1998.
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fläche z u r ü c k b e f ö r d e r t e Neigung w i e d e r z u e r k e n n e n , zu identifizieren, s o n d e r n daß m a n imstande sein m u ß , die Gedanken zu »befreien«. Die Gedanken zu befreien, heißt zu verhindern, daß sie in unserem Geist Spuren hinterlassen und ihn in Verwirrung stürzen. Andernfalls lösen sie nämlich leicht eine Kettenreaktion aus: So k a n n sich ein Gedanke des Mißfallens erst in Feindseligkeit verwandeln, d a n n in Haß, bis er schließlich in u n s e r e n Verstand vordringt und sich dort in Worten oder Taten niederschlägt. Wir fügen anderen Unrecht zu, und unser innerer Frieden ist zerstört. Genauso verhält es sich mit der Begierde, der Arroganz, der Eifersucht, der Angst etc. Wir können unserem Verlangen nach Zerstörung, Besitz oder Macht freien Lauf lassen, doch die Befriedigung, die wir daraus ziehen, ist n u r von kurzer Dauer. Nie wird eine tiefe, beständige Freude daraus, die sich verewigen ließe. J. F. - Doch nicht alle seelischen Leiden haben ihre Ursache allein im Haß und in der Begierde. M. - Sie k o m m e n von einer Vielzahl u n r u h e s t i f t e n d e r Gefühlsregungen her. Der Schlüssel zur Arbeit am Geist liegt nicht nur im Erkennen der Gedanken, sondern auch in ihrer Auflösung, ihrer Verflüchtigung im geistigen Raum. Eine gewisse Zahl von Techniken dient diesem Zweck. Die wichtigste besteht darin, sich nicht auf die Modalitäten der Gefühlsregungen zu konzentrieren, nicht auf die Ursachen und Umstände, die sie ausgelöst h a b e n , sondern zum Ursprung der Gedanken vorzudringen. Man unterscheidet zwei Arten von Meditationsformen: Die eine gleicht einem Hund, die a n d e r e einem Löwen. An die Gedanken k a n n man in der Tat wie ein Hund herangehen, der allen Steinen, die man nach ihm wirft, der Reihe nach hinterherläuft. Das ist der Normalfall beim Menschen. Wenn ein Gedanke aufkommt, läßt er sich von ihm forttragen: Der erste Gedanke zieht einen zweiten nach sich, einen dritten, dann eine endlose Kette von Gedanken, die die geistige Verwirrung schüren. Oder aber der Mensch reagiert wie ein Löwe. Gleich beim ersten Stein wendet er sich dem Werfer zu und springt auf ihn. Das zweite Beispiel entspricht dem Meditie104
r e n d e n , der sich n a c h dem U r s p r u n g des Gedankens »umdreht« und den Grundmechanismus untersucht, durch den die Gedanken in seinem Geist entstehen. J. F. - Jenseits der Metaphern: Was ist das für ein Mechanismus? M. - Man muß versuchen, den Gedankenstrom für einige Augenblicke zu unterbrechen. Ohne vergangene Gedanken festzuhalten oder zukünftige zu schüren, v e r h a r r t m a n , und sei es nur kurz, in einem Zustand gegenwärtigen Erwachens, der frei von diskursiven Gedanken ist. Mit der Zeit wird m a n fähig, dieses Erwachen zu verlängern und aufrechtzuerhalten. Solange die Wellen einen See aufwühlen, bleibt sein Wasser trüb. Sobald sich die Wellen beruhigen, setzt sich der Schlamm ab, und das Wasser wird wieder klar. Genauso wird der Geist »klarer«, wenn die diskursiven Gedanken zur Ruhe kommen, und es ist einfacher, sein Wesen zu erkennen. Anschließend muß m a n das Wesen der diskursiven Gedanken untersuchen. Hierfür geht man so weit, willentlich eine sehr starke Gefühlsregung hervorzurufen. Man denkt zum Beispiel an jemanden, der einem Leid zugefügt hat, oder, im Gegenteil, an ein b e g e h r t e s Objekt. Die Gefühlsregungen lassen wir in u n s e r e m Bewußtseinsfeld erscheinen. Dann richten wir unseren inneren Blick erst in analytischer, d a n n in kontemplativer Weise auf diesen Gedanken. Anfangs beherrscht und verfolgt er uns. Ständig kommt er wieder. Doch wenn m a n ihn genau untersucht, woraus zieht er dann seine scheinbare Stärke? Anders als ein Wesen aus Fleisch und Knochen verfügt er nicht über die Fähigkeit an sich zu schaden. Wo w a r er vor seinem Erscheinen? Hat er, wenn er sich in u n s e r e m Geist zeigt, irgendein Kennzeichen, eine g e n a u e Lokalisierung, eine Form, eine Farbe? Wenn er unser Bewußtseinsfeld verläßt, bewegt er sich dann irgendwohin? Je genauer man diesen Gedanken, der so mächtig erschien, analysiert, desto mehr entzieht er sich uns. Wir können ihn nicht »greifen« oder mit dem Finger auf ihn zeigen. So gelangt m a n in einen Zustand des »Nicht-gefunden-Habens«, in dem man einige 105
Augenblicke versunken bleibt. Technisch nennt m a n das »die Leerheit der Gedanken erkennen«. Es ist ein Zustand innerer Anspruchslosigkeit, ein Zustand klarer, erwachter, von Begriffen losgelöster Gegenwärtigkeit. Wenn m a n begreift, daß die Gedanken n u r eine Äußerung des w a c h e n Bewußtseins sind, verlieren sie ihre beengende Dauerhaftigkeit. Ist dieser Befreiungsprozeß n a c h stetiger Übung erst selbstverständlich, lösen sich e r n e u t a u f k o m m e n d e Gedanken im Moment ihres Erscheinens auf und verwirren und nötigen nicht länger unseren Geist. Sie entstehen und vergehen wie eine Fingerzeichnung auf der Wasseroberfläche, die im Moment ihrer Skizzierung verwischt. J. F. - An solchen Überlegungen verblüfft mich, daß alles so beschrieben wird, als gäbe es die ä u ß e r e Realität, das Handeln, die a n d e r e n Menschen und die Bedeutung der jeweiligen Situation gar nicht! Es gibt doch trotz allem Fälle, wo uns eine wirkliche Gefahr bedroht! Die Angst vor dieser Gefahr oder der Wunsch, sich ihrer zu entledigen, also die Einnahme einer aktiven feindlichen Haltung gegenüber der Bedrohung, zum Beispiel unter Lebensgefahr, läßt sich doch nicht allein durch eine Bearbeitung der Gedanken bewältigen! Das entscheidet sich durch eine ganz bestimmte äußere Handlung. M. - In einer gegebenen Situation k a n n man, je n a c h innerer Verfassung, auf unterschiedliche Weise reagieren. Das Handeln hat seinen Ursprung in den Gedanken. Ohne Beherrschung der Gedanken kann m a n seine Taten nicht beherrschen. Also muß man »lernen«, die Gefühlsregungen zu befreien ... J. F. - Ja, aber das sind Grenzsituationen ... M. - ... um anschließend diese Beherrschung in der Hitze des Gefechts zu nutzen. In der Umgangssprache sagt m a n doch, jemand sei in der Lage gewesen, »Herr seiner selbst zu bleiben«, oder er habe »völlig die Kontrolle über sich verloren«. Es geht hier darum, diese Beherrschung durch die Erkenntnis der Natur des Geistes zu vervollkommnen und zu festigen. Man soll keineswegs mit hängenden Armen teilnahmslos und gleichgültig zusehen, wenn sich ein Mör106
der anschickt, unsere Familie umzubringen, sondern den Gegner mit einem Minimum an Aufwand außer Gefecht setzen, ohne sich vom Haß überwältigen zu lassen oder den Angreifer aus Rachsucht zu töten. Die Beherrschung des Geistes ist daher grundlegend. J. F. - Existieren heißt aber nicht nur denken. Existieren heißt handeln. M. - Sind Körper und Sprache nicht die Diener des Denkens? Der Körper tut nur, w a s das Denken von ihm verlangt, und die Worte k o m m e n nicht auf u n b e w u ß t e oder reflexbedingte Art zum Vorschein. J. F. - Die Aussage, daß »der Körper n u r tut, w a s das Denken von ihm verlangt«, erscheint mir optimistisch. M. - Optimistisch? Ich spreche nicht von den organischen Funktionen des Körpers, sondern von Willensakten. Wenn wir in der Lage wären, unsere Worte und Taten zu beherrschen, würde das die meisten zwischenmenschlichen Konflikte lösen. Ohne die Beherrschung unseres Geistes ist das aber unmöglich. Es ist unser Geist, der unseren Handlungen die Richtung gibt. Je n a c h Motivation können zwei anscheinend identische Handlungen nämlich gegensätzliche, positive oder negative Auswirkungen h a b e n . Zum Beispiel kann m a n j e m a n d e m Geld geben, um ihm einen Gefallen zu tun oder um ihn zu bestechen. Aber um auf die Anwendung der Geistesbeherrschung in konkreten Situationen zurückzukommen, so ist die wahre Geduld kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Es geht nicht darum, alles passiv über sich ergehen zu lassen. Die Geduld gibt uns die Kraft, gerecht zu handeln, ohne daß wir von Haß oder Rachsucht verblendet sind, die uns jede Urteilsfähigkeit rauben. Toleranz besteht, wie der Dalai Lama oft sagt, nicht darin zu sagen: »Los, fügt mir Leid zu!« Sie bedeutet weder Unterwerfung noch Hingabe, sondern sie geht einher mit einem Mut, einer seelischen Stärke und einer Intelligenz, die uns vor unnötigen geistigen Leiden verschonen und uns d a r a n hindern, der Feindseligkeit zu verfallen. Die w a h r e , gewaltlose Geduld besteht in der Wahl der 107
uneigennützigsten Lösung. Einschmeichelnde Worte, die man in der Absicht von sich gibt zu betrügen, erwecken den Anschein der Sanftmut. Tatsächlich handelt es sich aber um Gewalt. Schimpft hingegen eine Mutter ihr Kind zu seinem Wohl und aus Liebe zu ihm aus oder gibt ihm einen Klaps, d a n n erweckt das den Anschein von Gewalttätigkeit. In Wirklichkeit handelt es sich aber um Gewaltlosigkeit. Was zählt, ist die Motivation, die unser Handeln bestimmt, und das Resultat. Die Wahl der Mittel hängt von der Geübtheit unserer Intelligenz ab. Theoretisch ist die Anwendung von Gewalt in guter Absicht also vorstellbar. In der Praxis ist es jedoch schwierig, sie erfolgreich einzusetzen. Gewalt zieht Gewalt nach sich und hat im allgemeinen verheerende Auswirkungen. Also sollte m a n dem Konflikt aus dem Weg gehen oder, wenn er unvermeidlich ist, den Gewaltbereiten neutralisieren, ohne dabei m e h r Gewalt anzuwenden, als unbedingt erforderlich ist, und ohne zusätzliche Gefühlsregungen ins Spiel zu bringen. J. F. - In dem, was Du sagst, liegt etwas sehr Berechtigtes. Anwendbar scheint es mir aber zunächst auf etwas, was ich als überflüssige, unnötige Gefühlsregungen bezeichnen würde, als ü b e r t r i e b e n e Gereiztheiten, als eher größenwahnsinnige als gerechtfertigte Ambitionen. Oder auch auf Exzesse, auf Ausschweifungen, wie bei der Entfachung von Räch- oder Vergeltungssucht, die ü b e r die Notwendigkeit der Neutralisierung einer realen Gefahr hinausgeht. Nun ist diese Kritik der unnötigen Gefühlsregungen, der Exzesse j e d e r Art aber ziemlich banal. Ich will nicht sagen, es sei einfach, das in die Praxis umzusetzen. Eine sensationelle Entdeckung ist es aber nicht. Der größte Teil der Gefühlsregungen und Wünsche, die wir empfinden, und der Ambitionen, die wir h a b e n , steht in Z u s a m m e n h a n g mit einer Aktions- und Reaktionshaltung gegenüber der Wirklichkeit. Das setzt ein ganzes Substrat an Gefühlen voraus, an Wünschen, Ambitionen, Argwohn und Vorsichtsmaßnahmen, die nicht alle überflüssig, verachtenswert oder unnütz sind, da sie in Zusammenhang mit realen Situationen stehen. Wenn ich ein Haus bauen will oder bestimmte Arbeiten oder wis108
senschaftliche Forschungen durchführen möchte etc., kann m a n sagen, daß ich einen Ehrgeiz habe. Er kann völlig legitim sein, m u ß weder auf Haß oder Gier beruhen, noch jemandem abträglich sein. Für mich kann er jedoch negative Gefühle der Enttäuschung nach sich ziehen, sofern sich Hindernisse auftun oder sich Leute einmischen und mein Proj e k t sabotieren. Solche Gefühlsregungen k a n n m a n nicht ausschalten, da sie nicht allein aus meinem Geist kommen. Sie werden von der Wirklichkeit induziert und haben Anteil an der Wirkung auf die Wirklichkeit. M. - Sie werden zwar durch die äußere Wirklichkeit ausgelöst, gehören ihr aber eigentlich nicht an. Dieselbe Person k a n n j e m a n d e m b e g e h r e n s w e r t und einem a n d e r e n hassenswert erscheinen. Ein Politiker möchte Macht ausüben, ein Eremit sich ihrer entledigen. Die Natur unserer Gefühlsregungen ist also durch die Art bestimmt, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Noch einmal, es geht keineswegs darum, sich von allen menschlichen Gefühlen abzukapseln, sondern sich einen vielseitigen, ausgeglichenen Geist anzueignen, der nicht länger Spielball der Emotionen ist, der vom Mißgeschick nicht erschüttert und vom Erfolg nicht berauscht wird. Streut man eine Handvoll Salz in ein Glas Wasser, wird dieses Wasser untrinkbar. Streut man es a b e r in einen großen See, ä n d e r t sich der Wassergeschmack k a u m . Aus geistiger Beschränktheit leiden die meisten Leute nun aber ständig und unnötigerweise darunter, daß sie nicht bekommen, was sie sich wünschen, und d a ß sie sich konfrontiert sehen mit dem, was sie nicht mögen. Ein a n d e r e r Grund für unser Leid ist die Egozentrik. Wenn wir vollkommen auf uns selbst fixiert sind, laufen die Schwierigkeiten, auf die wir stoßen, und das Mißbeh a g e n , das sie uns bereiten, u n s e r e m Wohlbefinden unmittelbar zuwider. Wir sind deprimiert und akzeptieren diese Probleme nicht. K ü m m e r n wir uns dagegen allem voran um das Wohl der anderen, so werden wir mit Freude die persönlichen Probleme akzeptieren, die sich bei seiner Verwirklichung ergeben können. Denn wir wissen, daß das Wohlbefinden der anderen wichtiger ist als das unsrige. 109
J. F. - Es gibt jedoch viele Fälle, wo man unbefriedigt ist, wenn m a n nicht bekommt, was man will: nicht aus artifiziellen Gründen oder wegen der Nicht-Beherrschung seiner i n n e r e n Gedanken, auch nicht weil das Gewünschte unr e c h t m ä ß i g oder einzig und allein dem Hochmut zuzuschreiben wäre, sondern aus Gründen, die in einer objektiven Wirklichkeit begründet sind, die sogar altruistisch sein kann. Ein Arzt, der einen Kranken heilen möchte, hat ein Gefühl, eine Gemütsbewegung, die ehrenwert sind. Wenn er scheitert, empfindet er eine ebenso ehrenwerte Enttäuschung. Er ist unzufrieden, aber aus guten Gründen. M. - Ja, diese Art von Ehrgeiz ist mehr als legitim. Sie ist notwendig. J. F. - Es gibt also einen Ort für die Klassifizierung ehrenwerter und nicht ehrenwerter Bestrebungen? M. - Ganz und gar. Unerwünschte Gefühlsregungen sind solche, die unser Urteilsvermögen irreleiten oder lähmen, nicht solche, die uns ermutigen, große Aufgaben zu erfüllen. Der Wunsch, das Leid der anderen zu lindern, der ein ganzes Leben inspirieren kann, ist ein bewundernswerter Ehrgeiz. Zweckmäßig ist die Unterscheidung zwischen negativen Gefühlsregungen wie Begierde, Haß und Hochmut, die unsere egozentrischen Vorstellungen weiter verfestigen, und positiven Gefühlsregungen wie selbstlose Liebe, Mitleid und Glauben. Letztere erlauben, daß wir uns nach und nach von den negativen und egozentrischen Neigungen befreien. Sie verwirren unseren Geist nicht, sondern stärken und stabilisieren ihn. J. F. - Sind wir da nicht wieder bei der epikureischen Unterscheidung zwischen notwendigen Wünschen und nicht notwendigen Wünschen? M. - Ein positiver Ehrgeiz - die Verfolgung des Wohls der a n d e r e n mit allen möglichen Mitteln oder der sehnliche Wunsch, sich selbst zu verändern - gehört zu den Kardinaltugenden des Buddhismus. Der Buddhismus hegt in der Tat den uneingeschränkten Ehrgeiz, das Leid aller Lebewesen unter dem Himmel zu lindern! Ohne diese Art von Emotion erläge m a n der Passivität und fehlte es einem an seelischer 110
Stärke. Also m u ß m a n die positiven und negativen, die altruistischen und egoistischen Gesichtspunkte des Ehrgeizes unterscheiden. Es heißt, ein Ehrgeiz sei positiv, sofern er darauf abziele, den anderen Gutes zu bringen. Das ist die einfachste Definition. Negativ ist ein Ehrgeiz hingegen, wenn seine Verwirklichung auf Kosten anderer geht. Eine Gefühlsregung ist negativ, wenn sie unseren inneren Frieden und den der anderen zerstört. J. F. - Schließt Du all j e n e positiven Bestrebungen aus, die unser persönliches Los verbessern sollen? M. - Ganz und gar nicht. Es empfiehlt sich, Rücksicht auf unser eigenes Wohlbefinden zu nehmen, doch niemals auf Kosten anderer. Übrigens verbessert man sein persönliches Los merkwürdigerweise am besten, indem m a n vor allen Dingen vom Los der anderen betroffen ist. Shantideva, ein buddhistischer Meister aus dem 8. Jahrhundert, hat gesagt: Alles Glück der Welt Kommt vom selbstlosen Herzen, Und all ihr Unglück Von der Selbstliebe. Wozu so viele Worte? Der Tor hängt an seinem Eigeninteresse, Und der Buddha gibt sich dem Interesse der anderen hin: Sieh selbst den Unterschied! Vielleicht ist es, um u n s e r e vorherige Diskussion abzuschließen, ein Allgemeinplatz zu sagen, daß Macht und Geld nicht glücklich machen, daß Eifersucht und Hochmut unsere Lebensfreude zerstören etc. Wenn dem so ist, würde es aber nichts d a r a n ändern, daß die Mehrheit der Menschen den Hauptsorgen der Welt - Gewinn und Verlust, Freude und Schmerz, Kritik und Lob, Ruhm und Schmach weiter in die Falle gehen und ihnen gegenüber völlig hilflos zu sein scheinen. Nicht jeden Tag versucht uns jemand ein Messer in den Rücken zu stoßen, doch in jedem Augenblick sind wir die Beute unserer negativen Gefühlsregungen. Wie viele Unglückliche sehen ihr Dasein von der Eifersucht ver108
pfuscht! Wären sie in der Lage gewesen, die Immaterialität der Eifersucht zu erkennen und sie dazu zu bringen, sich in ihrem Geist aufzulösen wie eine Wolke am Himmel, dann hätte die Eifersucht sie nicht nur in Frieden gelassen, sondern sicher auch nicht bis zu einem Verbrechen aufgestachelt. Eine kleine Wolke, sagt m a n , bringt keinen Regen. Man m u ß sich einem Gedanken widmen, w e n n er aufkommt, und nicht erst dann, wenn die Emotionen unkontrollierbar geworden sind. Man muß den Funken beherrschen. Denn was soll m a n noch tun, wenn erst der ganze Wald in Flammen steht? J. F. - Auch hier h e r r s c h t Übereinstimmung zwischen allen Philosophien, eine Art gemeinsame Basis der abendländischen und der orientalischen praktischen Weisheit. Das ist eine Kunst, die Gesamtheit u n s e r e r psychologischen Anlagen in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit so zu a r r a n gieren, daß alle Überspitztheiten, die letzten Endes n u r unglücklich und unzufrieden machen, vermieden werden. Unter der Psychologie, der Wissenschaft des Geistes, versteht m a n allerdings nicht allein diese Art von praktischem Leitfaden, der uns - wie der Leitfaden Epiktets im Stoizismus - weniger anfällig machen soll gegenüber den äußeren Umständen, den Zufällen des Lebens und den eigenen Leidenschaften ... Bevor man an eine praktische Anwendung denkt, an einen Weg hin zu innerer Ausgeglichenheit, ist die Psychologie erst einmal ganz einfach das Studium der kognitiven Phänomene. Auf dem Kolloquium in Harvard, auf das ich ansprach, sagten nun etliche amerikanische Teilnehmer, daß sie im Buddhismus eine Wissenschaft des Geistes entdeckt hätten, die sie für außergewöhnlich reich hielten. M. - Deshalb sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, daß es nicht sehr viele Forscher gibt, die sich für diese Art von Dialog mit dem Buddhismus interessieren. J. F. - Worin besteht denn nun diese Wissenschaft des Geistes? M. - Die buddhistische Psychologie hat viele Facetten. Sie u n t e r s u c h t zum Beispiel die Art und Weise, wie mentale Faktoren entstehen, w e n n der Geist am a n g e b o r e n e n 112
»Ich«-Gefühl festhält und das Selbst als eine wirklich existierende autonome Entität betrachtet. Eine Vielzahl miteinander verketteter mentaler Vorgänge haben ihre Ursache in dieser Anhänglichkeit ans »Ich«. J. F. - Ich u n t e r b r e c h e Dich! Du sagst, das Selbst sei angeboren? M. - Ich will sagen, daß wir alle von Natur aus über die Vorstellung eines Ich verfügen. Wir antworten, wenn m a n uns ruft, wir denken: »Mir ist heiß«, wenn es heiß ist, wir sind u n s u n s e r e r Existenz b e w u ß t etc. Der Buddhismus b e t r a c h t e t das als a n g e b o r e n e s Selbstgefühl. Zu diesem Gefühl kommt die Vorstellung, daß das »Ich« eine abgetrennte Entität ist, die »die Identität« des Individuums ausmacht. Dieser Begriff ist ein Produkt des Verstandes, eine bloße mentale Benennung, wie ich bereits erwähnt habe. Sucht m a n das »Ich« im Strom des Bewußtseins oder im Körper oder in der Kombination beider, schafft m a n es w e d e r durch Analyse noch durch Kontemplation, geistig oder physisch irgendeine Entität zu isolieren, die diesem individuellen »Ich« entspräche. J. F. - Ja, aber auch wenn sich das Selbst, die Persönlichkeit oder das Ich nicht lokalisieren lassen, ist das Gefühl dafür vielleicht nicht ganz und gar angeboren, da es je nach Zivilisation, Kultur und Individuum variiert. Es gibt Kulturen und Individuen, wo es besonders überschwenglich ist. Die Übersteigerung des Selbst ist ein kultureller und individueller Faktor. Das Gefühl persönlicher Identität ist durch die Gesellschaft und unsere eigene Geschichte zumindest genauso geprägt, wie es angeboren ist. M. - Genau das wollte ich sagen. Das elementarste IchGefühl ist angeboren, und alles, was hinzukommt, ist vom Individuum unter dem Einfluß der Gesellschaft und seiner Persönlichkeit herausgebildet. Das Grundgefühl, das mich spüren läßt, daß ich existiere, ist allen Menschen gemeinsam. Die Unterschiede hängen vom Grad der Übersteiger u n g ab, die das »Ich«-Gefühl annimmt, vom Grad des Glaubens, den wir in dieses »Ich« als eine an sich existierende Entität setzen. 113
J. F. - Was ist unheilvoll, was illusorisch? Ist es das Selbst als solches, oder sind es seine egomanischen Überspitztheiten? M. - Nicht das Selbst als solches. Sogar jemand, der von der Anhänglichkeit ans Selbst befreit ist, antwortet, wenn man ihn ruft. Unheilvoll sind natürlich die Überspitztheiten des Ego, aber auch harmlosere Formen der Anhänglichkeit ans Selbst. Obwohl weniger offensichtlich, sind sie nichtsdestoweniger die Ursache für die meisten unserer Qualen. Zu diesem Thema findet m a n im Buddhismus einen ganzen Katalog geistiger Faktoren, die sich von der Anhänglichkeit oder der Nicht-Anhänglichkeit ans Selbst herleiten. Zunächst w e r d e n achtundfünfzig davon beschrieben, d a n n noch etliche mehr. Das reicht von positiven Faktoren wie Unparteilichkeit, Selbstachtung, Wertschätzung der anderen, Vertrauen, Nicht-Anhänglichkeit, Wachsamkeit etc. bis hin zu negativen Faktoren wie Arroganz, Apathie, Unruhe, Heuchelei, Dogmatismus, Gleichgültigkeit etc. J. F. - Aber worin besteht die buddhistische Introspektion? M. - In erster Linie kann m a n sich fragen: »Was ist das Bewußtsein? Was löst eine Wahrnehmung aus? Kann sich der Geist selbst e r k e n n e n ? « Die Antwort auf die letzte Frage ist zum Beispiel, daß wir uns, relativ gesehen, unseres Geistes offenbar bewußt sind und die Bewegung und das Wesen u n s e r e r Gedanken beobachten können. Wir wären funktionsunfähig, wenn wir uns unserer Gedanken nicht bewußt w ä r e n . Letzten Endes k a n n der Gedanke jedoch nicht im selben Moment denken und sich selbst erkennen, genausowenig wie sich ein Heckenmesser selbst schneiden oder das Auge selbst b e t r a c h t e n kann. Also unterscheidet man hier, wie in den meisten Beispielen dieser Art, zwei Typen von Beweisführung oder Logik: Der eine basiert auf der relativen Wahrheit, das heißt, er fällt in den Bereich des gesunden Menschenverstandes, der andere auf der absoluten Wahrheit. In letzterem Fall zeigt sich schließlich, daß das Bewußtsein, sofern es denn als autonome Entität existierte, nicht zugleich sein und sich selbst 114
e r k e n n e n kann. Im Buddhismus gibt es philosophische Schulen von unterschiedlichem Niveau. Einige sagen in dem Fall, das Bewußtsein habe eine letzte autonome Realität und sei durch einen Vorgang selbstbewußt, der keine Subjekt-Objekt-Beziehung einschließe: so wie das Licht einer Lampe von selbst hell werde, ohne eine äußere Lichtquelle zu benötigen. Andere erwidern, das Licht b r a u c h e nicht »aufzuhellen«, denn es enthalte kein Dunkel, und wenn sich das Licht aufhellen könne, sei auch das Dunkel imstande, sich selbst zu verdunkeln. J. F. - Ohne in diesem Bereich die Originalität des buddhistischen Denkens abstreiten zu wollen, erkenne ich in dem, was Du gerade gesagt hast, eine klassische Fragestellung der abendländischen Philosophie wieder. Zum Beispiel: Kann sich der Gedanke selbst erkennen? Das ist die Frage, ob Introspektion oder rückbezügliches Denken überhaupt möglich sind. Können wir uns in der Wahrnehmung oder in der Erkenntnis zugleich des w a h r g e n o m m e n e n oder erkannten Objekts bewußt sein und unseres eigenen Denkens als bewußter Kraft? Manche Psychologen glauben, daß Introspektion möglich ist. Andere sind der Ansicht, daß wir nicht die geeigneten Richter sind, um uns selbst zu beobachten. Die Beobachtung des Innenlebens durch es selbst sei nicht zuverlässig, allein die Beobachtung des Verhaltens erlaube es, zum Ursprung vorzudringen. M. - Der letzte Gesichtspunkt verschließt natürlich jeder kontemplativen Wissenschaft, die die Essenz des Buddhismus ausmacht, die Tür ... J. F. - Welche Art von Wahrnehmungsanalyse führt Ihr durch? M. - Auf der Ebene der relativen Wahrheit entsteht jeder Bewußtseinsmoment in Kontakt mit einem Objekt, das die Wahrnehmung auslöst. Man könnte sagen, daß es zu jedem Zeitpunkt der Wahrnehmung für jedes Objekt ein Subjekt gibt. Trotz einer scheinbaren Kontinuität entstehen und vergehen W a h r n e h m u n g und diskursives Denken unaufhörlich. Letzten Endes existiert das Bewußtsein jedoch selbst im gegenwärtigen Moment nicht als eine unabhängi115
ge, deutlich abgegrenzte Entität. Sie ist nur ein Strom, eine Kontinuität vorübergehender Momente, die keine individuelle Existenz haben. Allein die nicht-dualistische »erleuchtete Gegenwärtigkeit«, die die diskursiven Gedanken transzendiert, ist unveränderlich, da jenseits der Zeit. J. F. - Die Erforschung der Wahrnehmungen, der Empfindungen, zunächst einmal über die Ideen: das ist die alte, auf die griechische Philosophie zurückgehende, bis zu Kant und d a r ü b e r hinaus verfolgte Frage, die traditionell die Frage der Erkenntnistheorie genannt wird, die Frage der Entstehung der Vorstellungen, der Begriffe, der Empfindungen, die Frage der Ausbildung des Denkens, der Urteilskraft ... Auf normativerer Ebene ist das auch die Logik, die einen der wichtigsten Zweige der abendländischen Philosophie darstellt. M. - Und der orientalischen Philosophie. Denn es gibt ganze Abhandlungen, die der Logik gewidmet sind, übrigens äußerst komplizierte ... J. F. - Logik bedeutet nicht allein, wie unsere Gedanken ablaufen, sondern wie sich unsere Vorstellungen herausbilden, wie sie sich organisieren, wie sie u n t e r e i n a n d e r zusammenwirken, um zu Urteilen zu gelangen, zu Beweisf ü h r u n g e n etc. A u ß e r d e m was nötig ist, um I r r t ü m e r zu vermeiden in der Beweisführung, in der Beurteilung, die ganze Lehre der Begriffsverknüpfungen ... Von Piatons Theaitet über Descartes' Abhandlung über die Methode bis hin zu Kants Kritik der reinen Vernunft ist das ein zentrales Thema. Also, noch einmal, interessant ist für mich bis jetzt zu sehen, daß der Buddhismus - bis vor kurzem praktisch ohne Kontakte zum Abendland - Fragestellungen erarbeitet hat, die den Fragestellungen der abendländischen Philosophien sehr ähnlich sind. M. - Der Buddhismus behauptet nicht, eine neue Wahrheit entdeckt zu haben. Der Begriff des »Neuen« ist naturgemäß jeder Erkenntnis fremd, die auf spiritueller Verwirklichung beruht. Diese zielt nämlich darauf ab, das Wesen der Dinge zu erkennen - und es gibt keinen Grund, warum das im Orient anders sein soll als im Abendland. Der Unter116
schied zu einer rein verstandesmäßigen theoretischen An Int) lyse ist, d a ß es sich um eine u n m i t t e l b a r e kontemplati^f? E r k e n n t n i s der N a t u r des Geistes h a n d e l t , die auf Erfa^ \ r u n g b e r u h t und nicht allein auf analytischer Reflexion. Dr^r Theorie wird hier nicht preisgegeben wie das Rezept ein n ci Arztes, das m a n auf dem Nachttisch zurückläßt, ohne d.LleHeilmittel zu n e h m e n . Sie kommt zum Einsatz, um a u s d e i Strom u n s e r e s Geistes alles zu entfernen, was ihn trüfct. o J. F. - Diese U n t e r s c h e i d u n g von diskursiver undko rftc t e m p l a t i v e r E r k e n n t n i s steht a u c h bei Piaton im Mittel if punkt. Das unmittelbare Schauen, die »theoria«, ist für ili das letzte Stadium der philosophischen Initiation. (J M. - Kommen wir kurz auf die W a h r n e h m u n g zurück. C] n.< m a n ein Objekt als w ü n s c h e n s w e r t oder nicht wünschenpr w e r t w a h r n i m m t , h ä n g t nicht vom Objekt selbst a b , s o ( i c d e r n von der Art, wie m a n es w a h r n i m m t . In einem sehr e t n e n Objekt gibt es keine i n h ä r e n t e Qualität, die für d J t « Geist von Vorteil w ä r e , in einem h ä ß l i c h e n Objekt nichi|ei w a s ihm s c h a d e n könnte. Wenn die Menschen aussterbet w ü r d e n , verschwände deshalb nicht die Erscheinungsweise! Die Welt, so wie sie von d e n M e n s c h e n w a h r g e n o r r m « f ü wird, h ä t t e j e d o c h keine D a s e i n s b e r e c h t i g u n g mehr. C^pr; Wahrnehmungs-»Welten« der a n d e r e n Lebewesen würd«as für diese weiter fortbestehen. Das klassische Beispiel ist d j a l des W a s s e r g l a s e s : Von einem Fisch wird es als Habitpn w a h r g e n o m m e n , von e i n e m M e n s c h e n als Getränk, v*im e i n e m Gott als N e k t a r der Unsterblichkeit, von einexls Wesen aus dem Reich der giergepeinigten »Gespenster« cjiBlut und Eiter und von dem, der die Welt als Hölle betrac : jr tet, als geschmolzene Bronze. Ein Zen-Gedicht sagt: »F den Liebenden ist eine hübsche Frau ein Objekt der Freucjn f ü r den E r e m i t e n ein v e r g n ü g l i c h e s T h e m a und für d^n Wolf eine gute Mahlzeit.« Obwohl unsere Wahrnehmung*^ von Objekten ausgelöst werden, sind sie letztlich Produkts des Mentalen. Wenn m a n ein Gebirge b e t r a c h t e t , ist d^ e r s t e Bild, das u n s e r s c h e i n t , eine r e i n e , u n v e r f ä l s c h t W a h r n e h m u n g . Doch schon im nächsten Moment werd^i sich einige sagen: »Oh! Dieses Gebirge scheint gefährliv i1
und unwirtlich.« Andere w e r d e n sich sagen: »Das ist ein geeigneter Ort, um eine Eremitage einzurichten.« Daran schließen sich zahlreiche Gedanken an. Wenn sich die Objekte durch sich selbst definierten und vom Beobachter unabhängige, intrinsische Eigenschaften besäßen, müßte sie jeder auf dieselbe Weise wahrnehmen. J. F. - Diese Analysen sind völlig zutreffend, a b e r f ü r einen Philosophen, ich wiederhole mich, auch klassisch. In welcher Verbindung stehen sie mit einer, sagen wir, Weisheit, die sich im alltäglichen Leben anwenden läßt? M. - Wenn wir unsere Wahrnehmungen auf kontemplative und analytische Weise untersuchen, werden wir schließlich nicht mehr an ihre Beständigkeit glauben. Man begreift die ephemere Relativität von Begriffen wie »Freund« und »Feind« - jemand, den wir heute als Feind betrachten, ist f ü r a n d e r e das Objekt großer Zuneigung, und vielleicht w e r d e n wir in ein p a a r Monaten die besten Freunde der Welt sein. Durch die spirituelle Schulung sollen wir die Festigkeit u n s e r e r Urteile, u n s e r e r W a h r n e h m u n g e n von Menschen und Dingen in gewisser Weise schmelzen lassen, so wie m a n einen Eisblock im Wasser schmelzen läßt. Eis und Wasser sind dasselbe Element. Ersteres ist aber hart, und m a n kann sich die Knochen d a r a n brechen, letzteres weich und flüssig. Man kann also die ganze Welt als potentiellen Feind betrachten, sie in » w ü n s c h e n s w e r t « und »nicht w ü n s c h e n s w e r t « unterteilen. Oder m a n sieht sie, ganz im Gegenteil, als eine Transformation an, die ständig im Wandel ist und keine eigene Existenz hat. In den Erscheinungen läßt sich sogar eine unendliche Reinheit e r k e n n e n , die gleichbedeutend mit der Leere ist. Das schafft natürlich einen enormen Unterschied. J. F. - Es gibt zwei Einstellungen gegenüber der Wirklichkeit, gegenüber der Menschheit als Ganzes. Die erste ist dem Epikureismus, dem Buddhismus und dem Stoizismus gemeinsam. Sie besteht in der A n n a h m e , das Ganze der Wirklichkeit der Welt und der Menschheit könne als solches nicht verbessert werden. Verbessert werden könne einzig und allein die menschliche Psyche. Die Lösung liege, alles in 118
allem, im Zugang zur Spiritualität, zur persönlichen Weisheit. Ich will von dem sprechen, was ich am besten kenne: dem epikureischen oder stoischen Weisen. Das ist jemand, der sich im Grunde sagt: »Je weniger ich mich um all die Komplikationen dieser Welt k ü m m e r e , indem ich den Wahnsinn der Menschen u n a b h ä n g i g von mir ablaufen lasse, desto mehr wird es mir gelingen, meine Schäfchen wie man im Volksmund sagt - ins Trockene zu bringen und mich nicht mehr in Widerwärtigkeiten verstrickt zu sehen, die mich zu verwirren drohen ... Ich muß vor allem vermeiden, mir einzureden, ich könnte d a r a n etwas ändern. Alles, was ich ä n d e r n kann, sind mein Verhalten und meine Gedanken gegenüber diesen Umständen. Vor allem darf ich nicht m e h r für dieses oder j e n e s Lager, diese oder j e n e Sache Partei ergreifen ...« Dieser Einstellung steht eine a n d e r e gegenüber, die besagt: »Aber nein, m a n kann die Wirklichkeit verändern, k a n n sie verbessern und Einfluß auf sie nehmen. Und deshalb ist das Ziel der Philosophie, meine Gedanken nicht derart zu beherrschen, daß ich an keiner objektiven Situation mehr teilnehme, sondern diese objektive Situation durch die Technik und die Politik zu verändern.« Piaton hat versucht, diese beiden Positionen zu verknüpfen. M. - Auch der Buddhismus schlägt meines E r a c h t e n s eine Kombination der beiden Auffassungen vor, eine Kombination jedoch, die mir auf wesentlicheren Prinzipien zu beruhen scheint als der Nicht-Einmischung einerseits und der Nutzung von Technik und Politik a n d e r e r s e i t s . Zunächst einmal besteht kein Bedarf, die Wirklichkeit selbst oder, sagen wir besser, das äußerste Wesen der Dinge zu verändern. Denn dem Buddhismus zufolge wird die Vollkommenheit, die ursprüngliche Reinheit der Dinge weder »beschädigt«, wenn m a n sie ignoriert, noch »verbessert«, w e n n m a n sie erkennt. Was wir v e r ä n d e r n können und müssen, ist unsere irrige W a h r n e h m u n g des Wesens der Dinge. Hierbei spielen die Beherrschung der Gedanken und der altruistische Vorstoß eine Rolle, der darin besteht, anderen die Mittel an die Hand zu geben, eine solche Wand119
lung zu vollziehen. Der buddhistische Weg besteht letzten Endes in einer neuen Wahrnehmung der Welt, in einer Wiederentdeckung des wahren Wesens der Menschen und der Erscheinungen. Er f ü h r t zu einer weit g r ö ß e r e n Widerstandsfähigkeit gegenüber den unliebsamen Überraschungen des Daseins. Denn man lernt, sie nicht nur mit »Gleichmut« zu n e h m e n , sondern mit Freude, indem m a n die Schwierigkeit und ihre erfolgreiche Überwindung als Katalysatoren nutzt, was rasche Fortschritte in der spirituellen Praxis erlaubt. Es geht also nicht darum, sich vor der Welt zu verschanzen, sondern ihr Wesen zu begreifen. Man wendet seinen Blick nicht vom Leid ab, sondern sucht ein Gegenmittel und transzendiert so das Leid. J. F. - Welche Art von Gegenmittel? M. - Jeder Mensch verfügt in sich über die Möglichkeit, ein Buddha zu werden, das heißt zur vollkommenen Befreiung und Erkenntnis zu gelangen. Verhüllt wird dieses Potential lediglich durch e p h e m e r e , über die sinnlichen W a h r n e h m u n g e n vermittelte Schleier, die es d a r a n hindern, sich Ausdruck zu verleihen. Diese Schleier bezeichnet m a n als »Nicht-Wissen« oder »geistige Trübungen«. Der spirituelle Weg besteht also darin, sich von den negativen Gefühlsregungen und dem Nicht-Wissen zu befreien und dadurch die bereits in uns vorhandene Vollkommenheit zu aktualisieren. Dieses Ziel hat nichts Egoistisches. Die Motivation, die uns auf dem spirituellen Weg leitet, zielt darauf, sich selbst zu wandeln, um den anderen helfen zu können, sich vom Leiden zu befreien. Diese altruistische Perspektive läßt uns zunächst unsere Ohnmacht angesichts des Leids der anderen erkennen und erzeugt so den Wunsch, sich zu vervollkommnen, um dem abzuhelfen. Es handelt sich also nicht um eine Gleichgültigkeit gegenüber der Welt. Die Indolenz gegenüber den äußeren Umständen wird zu einem Panzer, den m a n im Kampf wider das Leid der a n d e r e n anlegt. J. F. - Im Buch zum Harvard-Symposium erklärt Daniel Goleman, Doktor der Psychologie, am Anfang seines Aufsatzes: »Nach meinem Psychologie-Studium in Harvard sah 120
ich es als endgültig erwiesen an, d a ß die Psychologie ein wissenschaftliches Fachgebiet mit Ursprung in Europa und Amerika ist, entstanden auf diesen beiden Kontinenten, im Abendland w ä h r e n d des letzten J a h r h u n d e r t s ...« Hier erlaube ich mir die Bemerkung, daß es in der griechischen Philosophie eine Psychologie gibt... Sei's drum!... Er spricht von der wissenschaftlichen Psychologie, was man darunter im 19. und 20. Jahrhundert verstanden h a t . . . Nun habe er, wie er sagt, auf seinen ersten Reisen nach Asien aber entdeckt, daß es dort vor allem im Buddhismus eine sehr reiche, vielseitige, weitentwickelte psychologische Wissenschaft gebe. Rückblickend sei er verblüfft gewesen, d a ß seine Psychologie-Professoren im Westen nie das Bedürfnis v e r s p ü r t hätten, die dortigen psychologischen Schulen in derselben Sparte zu unterrichten wie die abendländischen. Voraussetzung dafür wäre natürlich die Existenz einer Psychologie im Orient, die nach den Kriterien der sogenannten wissenschaftlichen Psychologie im Westen definiert ist - die mir übrigens, mit A u s n a h m e ihres neurophysiologischen Bereichs, den Namen einer Wissenschaft nie ganz verdient zu h a b e n scheint. Nun sagt uns hier aber j e m a n d , dessen Beruf das ist, daß die unbeteiligte wissenschaftliche Haltung bei der Beobachtung von Phänomenen geistiger Prozesse nicht allein eine westliche sei. Vielmehr habe es schon seit langem Nachforschungen dieser Art gegeben, insbesondere im Buddhismus. M. - Nebenbei bemerkt, ist Goleman nicht der einzige gewesen, den das mangelnde Interesse an den orientalischen Disziplinen schockiert hat. Der Neurobiologe Francisco Varela, Forschungsleiter am C.N.R.S. (Centre National de la Recherche Scientifique) und Mitglied des C.R.E.A. (Centre de Recherche en Epistemologie Appliquee) an der Pariser Ecole Polytechnique, schreibt ebenfalls: »Wir behaupten, daß die Wiederentdeckung der asiatischen Philosophie, vor allem der buddhistischen Tradition, eine zweite Renaissance in der Kulturgeschichte des Abendlandes ist und daß ihre Wirkung so nachhaltig sein wird wie bei der Wiederentdeckung des griechischen Denkens während der 121
europäischen Renaissance. Unsere modernen Philosophiegeschichten, die das indische Denken ignorieren, sind verfälschend, da Indien und Griechenland nicht nur ein linguistisches indoeuropäisches Erbe mit uns teilen, s o n d e r n auch viele kulturelle und philosophische Anliegen.«* J. F. - Worin bestehen denn die buddhistischen psychologischen Forschungen, die nicht auf eine persönliche Besserung oder die Erringung innerer Ausgeglichenheit hinauslaufen, sondern der reinen Beobachtung m e n t a l e r und psychischer Vorgänge gewidmet sind? M. - Ich führe ein einfaches Beispiel aus der Wahrnehmungsforschung an, weil es sich dabei um eines der Hauptthemen bei der Erforschung der Funktionsweise des Mentalen handelt. Wenn m a n ein Objekt wahrnimmt, selbst das einfachste, zum Beispiel ein blaues Viereck, kann m a n die Oberfläche des Vierecks unterscheiden, die Winkel, die Seiten etc. Die einzelnen Bestandteile werden mittels Synthese als Viereck wahrgenommen. Gibt es nun eine unverzügliche G e s a m t w a h r n e h m u n g des Objekts mit all seinen Komponenten oder handelt es sich um eine rasche Aufeinanderfolge kurzer Bewußtseinsmomente von j e d e m Objektdetail, die zu einer synthetischen Vorstellung führen - so wie m a n beim schnellen Drehen einer Fackel am ausgestreckten Arm einen Feuerkreis sieht, w ä h r e n d es sich in Wirklichkeit nur um mehrfache Wahrnehmungen eines Lichtpunkts in fortgesetzter Bewegung handelt? In der buddhistischen Literatur gibt es eine ganze Reihe solcher Untersuchungen. Phänomenen dieser Art sind Abhandlungen von Hunderten von Seiten gewidmet. J. F. - Von wann stammen sie? M. - Angefangen mit den Predigten des Buddha im 6. J a h r h u n d e r t vor Christus bis ins 19. J a h r h u n d e r t , als sich bedeutende tibetische Exegeten mit den Schriften über die W a h r n e h m u n g befaßten. Solche Fragen w e r d e n w ä h r e n d der metaphysischen Streitgespräche, die fast * F r a n c i s c o Varela, F v a n T h o m p s o n , Hleanor Rosch: L'inscri.ption corporclle de l'esprit. Collection »Fa e o u l e u r des idees«. Editions du Seuil, Paris
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jeden Tag in unseren Klöstern stattfinden, weiter diskutiert und lebensnah analysiert. J. F. - Nun, das ist sehr interessant, denn das erinnert an eine der wichtigsten psychologischen Richtungen des 20. J a h r h u n d e r t s : die sogenannte Gestaltpsychologie. Sie kam zu Anfang des Jahrhunderts auf und wurde in Frankreich durch ein glänzendes Buch von Professor Paul Guillaume vorgestellt, den ich übrigens an der Sorbonne gehört habe. Vor m e h r als fünfzig J a h r e n hat er das heute noch verbreitete Buch La Psychologie de la forme geschrieben, ein Muster an Klarheit und Genauigkeit in der Schrift. Die Schule der Gestaltpsychologie ist mit folgender Feststellung gegründet worden: Die Psychologie sei bis dahin im wesentlichen analytisch gewesen, das heißt: davon ausgegangen, d a ß u n s e r e Objekt-Wahrnehmung eine Konstruktion sei, die von den Grundelementen der Objekte ausginge. Man habe angenommen, wir würden nach und nach zum endgültigen, vollständigen Objekt gelangen, w ä h r e n d es tatsächlich so sei - die Gestaltpsychologie arbeitete experimentell mit Laborversuchen -, daß wir auf Anhieb die synthetischen Komplexe w a h r n ä h m e n . Auch die n e u e r e n Theorien der kognitiven Wissenschaft zu Begriffen wie »Komplexität« und »Auto-Organisation« stellen die Frage der Gesamtwahrnehmung in Begriffen, die mit der buddhistischen Analyse vergleichbar sind. Das ist also eine Frage, die bereits 600 Jahre vor Christi Geburt mit fast denselben Begriffen in der buddhistischen Wahrnehmungsforschung gestellt worden ist. M. - Kein Objekt ist beständig. Die subtile Unbeständigkeit der Dinge ist so, daß sich das Objekt in jedem Augenblick ändert. Da das Bewußtsein durch das Objekt in Gang gesetzt wird, gibt es genauso viele Bewußtseinsmomente wie Zustände des unbeständigen Objekts. Die Vorstellung der momentanen Unbeständigkeit der Erscheinungen und des Denkens geht sehr weit. Denn sie zeigt, daß das Bewußtsein, wenn es in der Erscheinungswelt nur eine einzige unveränderliche, beständige, an sich seiende Entität gäbe, an diesem Objekt förmlich »kleben« bleiben und sich 123
unendlich a u s d e h n e n w ü r d e . Jedes Bewußtsein auf der Welt fände sich letzten Endes von diesem Objekt, von dem es sich nicht lösen könnte, in gewisser Weise »in die Falle gelockt«. Das Vorhandensein dieser subtilen Unbeständigkeit veranlaßt den Buddhismus, die Erscheinungswelt mit einem Traum oder einer Illusion zu vergleichen, mit einem veränderlichen, nicht greifbaren Strom. Selbst Dinge, die uns d a u e r h a f t erscheinen, zum Beispiel ein Tisch, veränd e r n sich in j e d e m Augenblick. Der Strom des Denkens setzt sich ebenfalls aus unendlich vielen Momenten zusammen, von denen jeder durch eine dieser unendlich vielen Veränderungen der äußeren Welt ausgelöst wird. Allein die Synthese dieser Momente vermittelt den Eindruck einer kompakten Realität. J. F. - Diese Auffassung ist das genaue Gegenteil einer sehr bedeutenden platonischen Vorstellung. Bei allen griechischen Philosophen, ganz besonders aber bei Piaton, findet m a n die Vorstellung - ich w ü r d e sogar sagen: die Zwangsvorstellung -, daß wir nicht erkennen können, was sich bewegt, was sich verwandelt. Für sie kann das Phänomen - das Wort heißt auf griechisch, wie jeder weiß, »was erscheint«, die Welt der Erscheinungen - im Zustand permanenter Bewegung nicht das Objekt einer beständigen, gesicherten, definitiven Erkenntnis sein. Daher das Bestreben j e d e r abendländischen Philosophie - nicht n u r der griechischen, sondern der ganzen abendländischen Philosophie bis hin zu Kant -, hinter der Erscheinung ein beständiges, dauerhaftes Element zu finden, das Gegenstand einer gesicherten Erkenntnis sein könnte. Dieses Stabilitätsmodell basiert auf dem mathematischen Modell. Für das begriffliche Denken war das am Ausgangspunkt des abendländischen Denkens das erste wirklich befriedigende Modell. Man sucht also hinter den Erscheinungen nach den u n v e r ä n d e r l i c h e n Prinzipien, die diese Erscheinungen bestimmen. Diese unveränderlichen Prinzipien sind Gesetze ... Um der chaotischen Wandelbarkeit der Welt der Erscheinungen zu entgehen, entdeckt man hinter ihr also diese Welt der Strukturen, der Beziehungen von Ursache 124
und Wirkung, der unveränderlichen Gesetze. Epikur, oder g e n a u e r sein Schüler, der lateinische Dichter Lukrez, bezeichnet diese Gesetze als »Pakte« (foedera), über die die Götter die Übereinstimmung von menschlichem Geist und Wirklichkeit gewährleisten. Die Pakte sind das stabile Element hinter der sich ständig wandelnden Realität der Erscheinungen. M. - Vorsicht! Das Vorhandensein von Gesetzen besagt nicht, daß es hinter den Erscheinungen unveränderliche Entitäten gibt. Der Buddhismus erkennt vollkommen an, daß die Erscheinungswelt unvermeidlicherweise durch die Gesetze von Ursache und Wirkung geregelt wird. Doch w e d e r diese Gesetze noch die d u r c h sie regulierten Erscheinungen sind permanente, autonome, für sich seiende Entitäten: Nichts existiert d u r c h sich und an sich, alles wird durch das Wechselspiel von Ursachen und Bedingungen hervorgerufen. Das Gesetz der Schwerkraft existiert nicht an sich, nicht ohne Objekte. Ein Fels ist aus Atomen z u s a m m e n g e s e t z t , die i h r e r s e i t s gleichbedeutend mit Energie sind. Ein Regenbogen bildet sich durch das Spiel eines Sonnenstrahls, der auf eine Regenwolke trifft - er erscheint, sichtbar, aber nicht greifbar. Sobald einer dieser Faktoren fehlt, verschwindet die Erscheinung. Also hat der »Regenbogen« kein eigenes Wesen, und m a n k a n n nicht von Auflösung oder Annihilation bei etwas sprechen, das gar nicht existiert. Dieses »Etwas« v e r d a n k t e sein illusionäres Erscheinen nur einer v o r ü b e r g e h e n d e n Verbindung von Elementen, die ihrerseits auch keine an sich seienden Entitäten sind. J. F. - Nicht alle natürlichen Erscheinungen sind auf die des Regenbogens reduzierbar! M. - Doch alle Erscheinungen sind das Ergebnis einer Kombination vergänglicher Faktoren. Nirgends gibt es unveränderliche und u n a b h ä n g i g e Erscheinungen. Es heißt: »Unabhängiges kann genausowenig erscheinen wie eine Blume am Himmel.« Um auf die Gesetze zurückzukommen: nichts beweist, daß sie als permanente Prinzipien existieren, die den Phänomenen zugrunde liegen. Nur über 125
unseren Verstand ist es möglich, sie zu erkennen. Es ist eine metaphysische Entscheidung, w e n n die Wissenschaft erklärt, man könne mit Hilfe unserer Begriffe das äußerste Wesen einer Erscheinungswelt erkennen, die unabhängig von u n s e r e n Begriffen existiert. Der Buddhismus w ü r d e hier Poincare folgen, der im wesentlichen sagte: Welches Wesen eine Realität, die unabhängig vom sie erfassenden Geist ist, auch h a b e n mag, uns wird dieses Wesen f ü r immer unzugänglich sein. Ohne die Menschen, kann m a n sagen, würde die Realität, so wie die Menschen sie wahrnehmen, aufhören zu sein. J. F. - Trotzdem gibt es physikalische Gesetze! M. - Das ist nicht so offensichtlich, wie es scheint. Man könnte in der Tat meinen, die der Erscheinungswelt zugrundeliegende Realität ließe sich in m a t h e m a t i s c h e n Begriffen ausdrücken, die nicht der Subjektivität unterworfen seien. Alan Wallace r e s ü m i e r t hierzu jedoch: »Die m a t h e m a t i s c h e n Axiome w u r d e n bis vor k u r z e m wie Gewißheiten betrachtet, die nicht bewiesen werden mußten. Doch im letzten J a h r h u n d e r t h a b e n Mathematiker nahegelegt, daß zum Beispiel die Postulate des Euklid w e d e r w a h r noch falsch seien, sondern einfach n u r die >Spielregeln<. [...1 Heute ist offenkundig, daß die mathematischen Axiome direkt oder indirekt von unserer Erfahrung abgeleitet worden sind. Man kann also nicht sagen, daß die Mathematik die Gesetze einer vollkommen erfahrungsunabhängigen Realität umfaßt.«* Die Auffassung, daß sich hinter den Phänomenen keine beständigen Entitäten nachweisen lassen, steht auch im Gegensatz zur Vorstellung »allgemeiner Archetypen«, die m a n in einigen hinduistischen Philosophien findet: So den Archetypus »Baum«, der in jedem Baum existiere, oder auch den Archetypus »existiert«, der die Essenz alles Existierenden wäre. J. F. - Das ist Piatons Idee! M. - Das ähnelt ihr. Der Buddhismus widerlegt diese Vorstellung, indem er sagt: Wenn ein solcher Archetypus * Alan B. Wallace-, Choosing Reality. S n o w Lion Publirations, Ithaca 1 9 9 6 .
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»Baum« existierte, d a n n w ä r e er notwendigerweise in j e d e m Baum derselbe, und folglich m ü ß t e n alle Bäume gleichzeitig und in gleicher Weise w a c h s e n , denn eine beständige Entität kann nicht die Ursache von etwas Veränderlichem und Vielfältigem sein. Die bloße Tatsache von Zeugung oder Wachstum zerstört die Beständigkeit der Entität, denn sie ist nachher nicht mehr dieselbe wie vorher. J. F. - Weder sollte man Axiom und Postulat verwechseln, noch die Postulate der Mathematik, einer vom Wesen her apriorischen Wissenschaft, mit der physikalischen und biologischen Erkenntnis gleichsetzen, die ein ständiges Hin und Her zwischen Beobachtung, Theorie und Experiment ist. Aber wir wollen hier kein Seminar über die Philosophie der Wissenschaften abhalten. Verfolgt m a n die Parallelismen zwischen Orient und Abendland weiter, so nähert sich die hinduistische Philosophie der Philosophie Piatons mehr an als der Buddhismus. Für Piaton existiert »der Baum an sich« in der übersinnlichen Welt. Sämtliche in der sinnlichen Welt der Erscheinungen existierenden Bäume sind sozusagen Kopien dieses Baums an sich, »sinnliche« Kopien des »intelligiblen« Baums, von denen keine die Vollkommenheit des Baums an sich widerspiegelt. Von daher diese Zwangsvorstellung, dieser Gegensatz zwischen der sinnlichen, u n e r g r ü n d b a r e n , da ständig sich wandelnden Welt und der übersinnlichen, die intelligiblen Entitäten betreffenden Welt. Läßt sich die hinduistische Philosophie mit dieser Vorstellung vergleichen, und hat der Buddhismus darauf reagiert? M. - Sagen wir, es gibt insofern einige gemeinsame Punkte zwischen der platonischen Vorstellung und den »allgemeinen Entitäten« des Hinduismus, als beide unveränderliche Entitäten hinter den Erscheinungen in Betracht ziehen. Der Buddhismus läßt sich hier auf eine komplizierte Diskussion ein, um die Existenz jeglicher permanenten Entität zu widerlegen. Am meisten hat er die hinduistische These eines allmächtigen Schöpfers wie Ishvara angefochten. In den Jahrhunderten vor und nach dem Aufkommen 127
des Christentums kam es zu Aussprachen mit Anhängern der wichtigsten hinduistischen Philosophien, von denen es etliche gab. Ich beziehe mich hier auf die Vorstellung einer unveränderlichen, schöpferischen, sich selbst genügenden Entität, die keine ihr v o r a u s g e h e n d e Ursache hat und d u r c h Willensakt erschafft. Die buddhistische Dialektik widerlegt diese Vorstellung Punkt für Punkt. Betrachten wir zum Beispiel die Allmacht, denn ein Schöpfer muß allmächtig sein. Entweder der Schöpfer »beschließt«, nicht zu e r s c h a f f e n , und verliert so seine Allmacht, da sich die Schöpfung a u ß e r h a l b seines Willens vollzieht. Oder er erschafft willentlich, dann ist er auch nicht allmächtig, da er u n t e r dem Einfluß seines Schöpfungswunsches erschafft. J. F. - Das ist so reizend wie die Paradoxa des Zenon von Elea. M. - Kann ein Schöpfer eine u n v e r ä n d e r l i c h e Entität sein? Nein, denn er ist, bevor er erschafft, a n d e r s als danach. Er wird nämlich »der, der erschaffen hat«. Wenn er zudem das ganze Universum erschafft, setzt das notwendigerweise voraus, d a ß sämtliche Ursachen des Universums in ihm gegenwärtig sein müssen. Nun ist aber eine der Grundlagen des Karma, des Gesetzes von Ursache und Wirkung, daß ein Ereignis nicht geschehen kann, solange nicht die Gesamtheit der Ursachen und Bedingungen seines Erscheinens versammelt sind, und daß es nicht nicht geschehen kann, wenn sie versammelt sind. Was hieße, daß der Schöpfer entweder nie erschaffen könnte oder ständig erschaffen müßte! Solche Überlegungen und noch etliche a n d e r e lassen sich auf alle Traditionen a n w e n d e n , die einen Schöpfer ins Auge fassen, der Permanenz hat, Allmacht, eine Existenz an sich etc. J. F. - Ich bin voller Bewunderung. Ich habe den Eindruck, einem skeptischen Dialektiker der Antike zuzuhören, oder einem Epikureer oder Stoiker, die die Vorstellung eines persönlichen göttlichen Schöpfers widerlegen. M. - In Asien animiert diese Art von Dialektik heutzutage 128
weiter die philosophischen Diskussionen. Man unterscheidet in gleicher Weise den relativen Aspekt der Erscheinungen, das heißt die Welt der Erscheinungen und ihr äußerstes Wesen. Von einem absoluten Standpunkt aus gesehen sagt der Buddhismus, daß eine wirklich existierende »Entität« weder entstehen noch vergehen kann. Ein Lebewesen k a n n d e m n a c h w e d e r aus dem Nichts entstehen - denn auch eine Unzahl von Ursachen könnte nicht zur Existenz bringen, was nicht existiert - noch aus bereits Existierendem, denn dann bräuchte es nicht geboren zu werden. J. F. - Man glaubt, Piatons Entgegnungen auf Parmenides zu vernehmen. M. - Der Punkt, auf den ich zu sprechen kommen will, ist folgender: Auf der relativen Ebene konventioneller Wahrheit, so wie wir alle sie wahrnehmen, sind die Gesetze von Ursache und Wirkung unvermeidlich. Begibt man sich aber auf die Ebene der absoluten Logik, dann können die Gesetze von Ursache und Wirkung nicht mit Entitäten funktionieren, die eine unveränderliche, beständige Existenz haben. In der Erscheinungswelt existiert demnach nirgends auch n u r eine einzige unveränderliche, unabhängige, an sich existierende Entität. J. F. - Du gehst von einem ereignisbezogenen Verhältnis von Ursache und Wirkung aus, doch es gibt auch strukturelle. Etwa bei einem Organismus, den m a n als Ganzes b e t r a c h t e t ... ein Schiff, das auf dem Wasser schwimmt. Wasser und Schiff sind gleichzeitig vorhanden. Die Dichte des Wassers ist die Ursache dafür, d a ß das Schiff schwimmt. Wasser und Schiff koexistieren. M. - Genau, zwischen Entitäten gibt es kein Verhältnis von Ursache und Wirkung, sondern n u r Relationen zwischen v o r ü b e r g e h e n d e n Erscheinungen. Du nennst sie strukturell, wir bezeichnen sie als Wechselbeziehungen: »Dies existiert, weil jenes ist. Dies hat sich auf der Grundlage von jenem ereignet.« Nichts existiert an sich und unabhängig von a n d e r e n Erscheinungen. Jedes Element der Kette von Ursache und Wirkung ist selbst ein Aggregat vergänglicher, sich in ständigem Wandel befindlicher Elemen129
te. Das ist ein Argument, das die Nicht-Realität autonomer, permanenter Erscheinungen offenkundig macht, ob es sich n u n um einen göttlichen Schöpfer handelt oder um ein durch sich selbst existierendes Atom, das weder Ursachen noch Bedingungen hat und unabhängig von a n d e r e n Erscheinungen ist. J. F. - Auch das ist eine Problematik, die in der abendländischen Philosophie stets eine Rolle gespielt hat. Mal existieren die Phänomene und stellen die Realität dar wie in der empiristischen oder realistischen Schule. Mal sind sie eine totale Illusion wie im absoluten Idealismus, so im 18. J a h r h u n d e r t in der Philosophie von Berkeley. Dann stellen sie ein Chaos aufeinanderfolgender Dinge dar, wobei das Verhältnis von Ursache und Wirkung aber völlig illusorisch ist. Das ist die Philosophie Humes. Dann wieder ist das Phänomen nicht die Wirklichkeit an sich, sondern eine Art Synthese, ein Z u s a m m e n t r e f f e n der uns u n b e k a n n t e n Wirklichkeit an sich, die sich hinter den Phänomenen befindet, und der schöpferischen Tätigkeit des menschlichen Geistes, eine Art intermediäres Resultat aus der Urmaterie, die die Wirklichkeit an sich bereitstellt, und der Verarbeitungskapazität des menschlichen Geistes. Anders gesagt, es ist zugleich real, zur Hälfte von der äußeren Welt bereitgestellt, und zur anderen Hälfte vom menschlichen Geist konstruiert. Das ist, kurz zusammengefaßt, die Theorie Kants in der Kritik der reinen Vernunft. In der abendländischen Philosophie sind also alle Varianten in Betracht gezogen worden. Ich für meinen Teil glaube nicht, daß das ein wirkliches Problem ist. Wenn die Phänomene im Buddhismus nicht existieren, was existiert dann? M. - Der Buddhismus nimmt einen Mittelweg. Er streitet nicht die Realität der Phänomene in der bedingten Welt der Wahrnehmung ab, sondern die Existenz unveränderlicher Entitäten hinter den Phänomenen. Deshalb spricht man von einem »Weg der Mitte«, der weder dem Nihilismus anheimfällt, f ü r den a u ß e r h a l b u n s e r e r W a h r n e h m u n g e n nichts existiert und alles nichtig ist, noch dem »Ewigkeitsdenken«, was doch wohl der von Dir angesprochene Realismus ist, 130
für den nur eine einzige, von jeglicher Wahrnehmung unabhängige Wirklichkeit existiert, die dann nur aus an sich existierenden Entitäten zusammengesetzt wäre. Die unteilbaren Materieteilchen und die unteilbaren Bewußtseinsmomente gehören zum Beispiel zu dem Typ beständiger Entitäten, den der Buddhismus widerlegt. Wir schließen uns den modernen Physikern an, die die Vorstellung aufgegeben haben, die Teilchen seien kleine Kanonenkugeln oder unendlich kleine Massen. Was m a n als Masse oder Materie bezeichnet, ist eher eine Art Energiespeicher. Die Vorstellung von der Irrealität der beständigen Welt bringt uns der Buddhismus durch eine intellektuelle Methode n a h e , die nicht beansprucht, eine wissenschaftliche Theorie zu sein, s o n d e r n v e r s t a n d e s m ä ß i g die Möglichkeit prüft, ob die Atome, das heißt etymologisch die »unteilbaren Teilchen«, überhaupt existieren können. J. F. - Existieren für den Buddhismus zwei Realitätsebenen: die Ebene der Erscheinungen und, dahinter, das reale Substrat, selbst wenn sich das nicht aus materiellen Atomen zusammensetzt und sich auf Energie beschränkt? M. - Wenn der Buddhismus von der »Leerheit« der Phänomene spricht, will er damit sagen, daß die Phänomene zwar »erscheinen«, doch in keiner Weise die Existenz beständiger Entitäten widerspiegeln. Die moderne Physik sagt, ein Elektron könne zum Beispiel entweder als Teilchen betrachtet werden oder als Welle, zwei für den gesunden Menschenverstand völlig unvereinbare Vorstellungen. Einige der von den Elektronen verursachten Interferenzp h ä n o m e n e lassen sich nur u n t e r der Voraussetzung erklären, d a ß ein Elektron im selben Moment zwei verschiedene Löcher passieren kann. Dem Buddhismus zufolge können die Atome nicht als beständige Entitäten angesehen w e r d e n , die nach einem einzigen, d e t e r m i n i e r t e n Modus existieren. Wie sollte die makrophysikalische Welt, von der m a n annimmt, daß sie sich aus diesen Teilchen z u s a m m e n s e t z t , d a n n eine u n v e r ä n d e r l i c h e Realität haben? All das trägt dazu bei, unsere Vorstellung von der Beständigkeit der Erscheinungen zu zerstören. In diesem 131
Sinne zeigt der Buddhismus, daß das äußerste Wesen der Erscheinungen Leerheit ist und daß diese Leerheit in sich ein unendliches Potential an Manifestationen birgt. J. F. - Diese prämonitorischen Hypothesen ü b e r die Natur und die Inkonsistenz der Materie sind formuliert worden von ...? M. - Von dem Buddha. Zusammengetragen und kommentiert worden sind sie dann in verschiedenen Abhandlungen von zwei der b e d e u t e n d s t e n buddhistischen Philosophen, von N a g a r j u n a (etwa im 2. J a h r h u n d e r t der christlichen Zeitrechnung) und Chandrakirti (im 8. J a h r h u n d e r t ) . Die Analyse des Atoms ist folgende: Betrachten wir ein makrophysikalisches Phänomen, zum Beispiel einen Tisch. Zerlegt m a n ihn in seine Bestandteile, ist er schon kein Tisch mehr. Dann sind da die Beine, eine Platte etc. Verarbeitet m a n die zu Sägemehl, verlieren auch diese Bestandteile ihre Identität. Untersucht m a n n u n einen Holzsplitter, so wird m a n Moleküle und dann Atome finden - im Orient w a r die Vorstellung des Atoms bereits zur Zeit Demokrits f o r m u liert. J. F. - In der Tat, der Begriff des Atoms taucht in der Philosophie von Demokrit und Epikur auf. Wissenschaftlich bewiesen wurde er jedoch genausowenig wie die anderen Theorien der antiken Physik. Es handelte sich um geistige Vorstellungen. M. - Das griechische Wort »Atom« heißt seltsamerweise »unteilbar«. J. F. - Genau. Der allerletzte Kern, der nicht mehr zweigeteilt werden kann. M. - Der Buddhismus benutzt dasselbe Wort. Man spricht von Teilchen, die »keine Bestandteile haben«, die nicht unterteilt werden können. Das wäre also die letzte Komponente der Materie. Betrachten wir eines dieser unteilbaren Teilchen, das als autonome Entität angesehen wird. Wie kann es sich mit anderen Teilchen verbinden, um die Materie zu bilden? Wenn sich solche Teilchen berühren, berührt der Westen eines Teilchens zum Beispiel den Osten des a n d e r e n . Wenn sie jedoch Richtungen haben, können sie 132
e r n e u t geteilt w e r d e n und verlieren ihren »unteilbaren« Charakter. Wenn sie weder Seiten noch Richtungen haben, sind sie mit einem mathematischen Punkt vergleichbar ohne Dimension, ohne Dichte, ohne Substanz. Versucht m a n , zwei dimensionslose Teilchen zu verbinden, d a n n berühren sie sich entweder nicht und können sich folglich nicht verbinden, oder aber sie treten in Kontakt und verschmelzen. So könnte ein Berg u n t e i l b a r e r Teilchen zu einem einzigen dieser Teilchen verschmelzen! Die Schlußfolgerung ist, daß es keine unteilbaren, diskontinuierlichen, an sich existierenden Teilchen geben kann, die Komponenten der Materie wären. Überdies: Ist ein Atom, wenn es eine Masse, eine Dimension, eine Ladung etc. hat, identisch mit der Gesamtheit seiner Attribute? Existiert es außerhalb sein e r Attribute? Das Atom ist nicht mit seiner Masse und auch nicht mit seiner Dimension identisch. Andererseits ist es a b e r auch nichts a n d e r e s als seine Masse und seine Dimension. Das Atom verfügt also über einen Komplex von Merkmalen, ohne jedoch eines von ihnen zu sein. Das Atom ist folglich nur ein Begriff, nur eine Bezeichnung, hinter der sich keine Entität verbirgt, die in unabhängiger, absoluter Weise existiert. Es hat nur eine konventionelle, relative Existenz. J. F. - Bei Demokrit und Epikur gibt es die Vorstellung, daß die letzten Bestandteile der Materie - und im übrigen auch der Lebewesen - die Atome sind, die sich in mannigfaltigen Konfigurationen anordnen, um die diversen Phänomene in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen zu bilden. Die äußeren Erscheinungsformen sind demnach nur Illusionen, die von der unterschiedlichen Anordnung der Atome h e r r ü h r e n . Um zu erklären, wie sich die Atome untereinander umgruppieren und w a r u m sich manche mit a n d e r e n zusammenschließen, hatten die antiken Philosophen die - natürlich völlig imaginäre - Theorie der »hakenförmigen« Atome entworfen: Bestimmte Atome h ä t t e n Haken, die sie veranlaßten, sich mit a n d e r e n Atomen zu verbinden, und bestimmte andere nicht. Man mußte eben e r k l ä r e n , w a r u m sich die Atome letztlich auf diese oder 33
jene Weise zusammenschlössen, um bestimmte Phänomene zu erzeugen. M. - Ein Buddhist würde sagen: »Wenn es Haken gibt, gibt es auch Bestandteile: das ä u ß e r s t e Ende und den Hakenansatz. Euer Unteilbares kann demnach geteilt werden.« J. F. - Das kann er sagen. In jedem Fall gibt es zu dieser Zeit im Abendland wie im Orient glänzende Theorien, allerdings metaphysische, nicht physikalische. M. - Natürlich, aber indem der Buddhismus nachweist, daß es keine unteilbaren Teilchen geben kann, behauptet er nicht, in dem Sinn Rechenschaft über physikalische Phänomene abzulegen, wie es die Naturwissenschaft heute tut: Er versucht nur, den intellektuellen Begriff von der Beständigkeit der Erscheinungswelt zu entkräften. Dieser Begriff läßt uns nämlich am »Ich« und an den Erscheinungen festhalten und ist folglich die Ursache der Dualität von Selbst und anderen, von Existenz und Nicht-Existenz, Anhänglichkeit und Abneigung etc. und der Grund für alle unsere Qualen. In jedem Fall stimmt der Buddhismus hier intellektuell mit einigen Auffassungen der zeitgenössischen Physik überein, und sein Beitrag m ü ß t e in der Ideengeschichte Berücksichtigung finden. Ich möchte einen der großen Physiker unserer Zeit, Henri Margenau, Professor an der Universität von Yale, zitieren, der schreibt: »Ende des 19. Jahrh u n d e r t s b e h a u p t e t e man, alle Interaktionen setzten materielle Objekte voraus. In unseren Tagen wird das im allgemeinen nicht m e h r als Wahrheit angesehen. Man glaubt vielmehr, es handle sich um die Interaktion von Energiefeldern oder anderen Kräften, die in der Hauptsache nicht materiell sind.« Heisenberg sagte: »Die Atome sind keine Dinge.« Für Bertrand Russell ist »die Vorstellung, es gäbe da eine kleine Kugel, eine kleine feste Masse, die das Elektron sei, ein illegitimes, vom Begriff des Tastsinns hergeleitetes Eindringen des gesunden Menschenverstandes«. Und er fügt hinzu: »Die Materie ist eine bequeme Formel, um zu beschreiben, was dort erscheint, wo die Materie in Wirklichkeit nicht ist, also dort, wo nichts ist.« 134
Übrigens ging Sir James Jeans in seinen Rede's Lectures so weit zu sagen, daß »das Universum anfängt, mehr einem großen Gedanken zu gleichen als einer großen Maschine«. J. F. - Intuitionen dieser Art sind sehr erstaunlich. In den früheren Philosophien, sei es nun im Abendland mit Demokrit, Epikur und Lukrez oder noch früher im Orient mit dem Buddhismus, sind sie sogar weit ausgearbeitet, weit vorangetrieben. Es gibt manchmal überraschende Vorgriffe auf die m o d e r n e Naturwissenschaft, die in reiner Reflexion, ohne Möglichkeit experimenteller Überprüfung entwickelt worden sind. In den chinesischen Philosophien lassen sich wahrscheinlich einige genauso verblüffende Antizipationen finden. Allein, im Abendland h a b e n diese Intuitionen zur experimentellen Revolution geführt, aus der die moderne Naturwissenschaft entstanden ist. Warum hat es mit dem Buddhismus keine Fortentwicklung dieser Art gegeben? M. - Natürlich gibt es die experimentelle Kontrolle auch im Buddhismus. Doch m a n darf ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren. Das Ziel ist die innere Erkenntnis, eine Erkenntnis, die sich im Laufe von mehr als zwei J a h r t a u senden kontemplativen Daseins und geistigen Studiums entwickelt hat. Vor allem in Tibet ist diese Art von Erkenntnis seit dem 8. J a h r h u n d e r t die Hauptbeschäftigung eines großen Teils der Bevölkerung. Ziel war nie, die äußere Welt durch physikalische Einwirkung zu v e r ä n d e r n , s o n d e r n durch die Schaffung besserer Menschen, indem man ihnen ermöglicht, ein inneres Wissen zu entfalten. Dieses Wissen hat verschiedene Ebenen. Die Metaphysik b e h a n d e l t die letzten Wahrheiten. Die Anwendung dieses Wissens in der bedingten Welt der Erscheinungen dient dazu, Licht ins Wirrwarr des Leidens zu bringen. Physisches oder mentales Leid ist die Folge von Handlungen, Ä u ß e r u n g e n und negativen Gedanken - Mord, Raub, Betrug, Verleumdung etc. Die negativen Gedanken haben ihre Ursache in der Tatsache, daß m a n das Selbst liebt und es schützen möchte, eine Haltung, die ihrerseits von der Vorstellung eines daue r h a f t e n , einzigartigen »Ichs« h e r r ü h r t . Der Glaube ans Selbst als eine unabhängige Entität ist n u r ein Sonder135
aspekt der Verdinglichung der P h ä n o m e n e . Indem wir e r k e n n e n , daß u n s e r Hang zum Selbst kein wirkliches Objekt hat, und unser Beharren auf der Dauerhaftigkeit der P h ä n o m e n e auflösen, u n t e r b r e c h e n wir den Teufelskreis des Leidens. Durch die intellektuelle Widerlegung der Vorstellung unabhängiger Teilchen läßt sich unser Festhalten an der Realität der P h ä n o m e n e und u n s e r e r Person vermindern, was uns erlaubt, uns von den störenden Gefühlsregungen zu befreien. Eine solche Analyse führt zu einer Erkenntnis, die, obwohl innerlich, nicht weniger große Auswirkungen auf unser Verhältnis zur Außenwelt und unseren Einfluß auf sie hat. J. F. - Ja, aber wie war das denn möglich? Die buddhistische Theorie ist doch die Theorie der Irrealität der Außenwelt, jedenfalls ihres Charakters ... M. - ... ihres sichtbaren, aber leeren. J. F. - Anders gesagt, diese Theorie des Atoms, das als wirklichkeitsbildendes Element keine letzte Realität hat, ist nicht experimentell überprüft worden. Also kann m a n nicht sicher sein, ob sie zutrifft. Die Wissenschaft des Geistes ist demnach auf einer Theorie der Materie aufgebaut, die nicht überprüft worden ist. M. - Das Ziel ist einfach, u n s e r e Begriffe von einer beständigen, u n v e r ä n d e r l i c h e n Realität zu zerstören, indem m a n beweist, daß diese Begriffe unlogisch und unbegründet sind. Die Prüfung vollzieht sich auf der Ebene der Wandlung des Menschen. Diese Analyse behauptet nicht, ein Abriß der Physik zu sein. Ihr Ziel ist nicht, die Zusammensetzung der Moleküle zu erklären, die Bewegung der Gestirne etc., sondern in sehr pragmatischer Weise zu wirken: als Mittel gegen das Leiden, das von der Anhänglichkeit gegenüber den Erscheinungen herrührt. J. F. - Erreicht wurde das Ziel aber nicht über die wissenschaftliche Gewißheit, was die äußere Welt nun wirklich ist - oder nicht ist -, sondern mittels einer Hypothese, einer passenden Vorstellung von der äußeren Welt, die von den Buddhisten nie experimentell überprüft worden ist. M. - Das hat wenig zu bedeuten, denn wir sprechen vom 136
Geist und seinem Irrtum. Im übrigen ist diese Vorstellung experimentell überprüft worden, doch in dem Bereich, zu dem sie gehört! Aspirin löst experimentell Kopfschmerzen, während eine derartige innere Arbeit den Haß auflöst, die Begierde, die Eifersucht, den Hochmut und alles, was den Geist verwirrt - das ist ein Versuchsergebnis, das mir, um es zurückhaltend auszudrücken, mindestens ebenso nützlich erscheint wie das Aspirin! J. F. - Für mich heißt das: Ich mache mir eine bestimmte Vorstellung von der Wirklichkeit, weil sie mir z u p a ß kommt, um die Moralphilosophie zu entwickeln, die mir zusagt. M. - Das ist mehr als nur eine praktische Vorstellung von der Wirklichkeit. Dadurch, daß m a n den Begriff des unteilb a r e n Teilchens durch eine v e r s t a n d e s m ä ß i g e , logische Analyse abstreitet, zerstört man das geistige Bild, das man sich bis dahin von der Dauerhaftigkeit der P h ä n o m e n e gemacht hatte. Unser Wunsch ist, ein wirkungsvolles Mittel gegen die Ursachen des Leids zu bekommen. Wenn dieses Ziel erreicht ist, ist das Ziel des spirituellen Daseins erreicht. Man darf, wenn man einen Pfeil abschießt, nicht vergessen, was das Ziel ist. Man kann es als Erfolg betrachten, auf den Mond fliegen zu können oder die Materie so weit gebändigt zu haben, daß m a n imstande ist, den Planeten in die Luft zu jagen - ein Erfolg, der im übrigen äußerst zweifelhaft ist! Durch jahrhundertelange intellektuelle und materielle Anstrengungen hat die Wissenschaft mit Hilfe von Generationen von Menschen, die ihr ihr Leben gewidmet h a b e n , bestimmte selbstgesetzte Ziele erreicht. Der Buddhismus hat andere Prioritäten, denen er im Laufe der Generationen ebenso große Anstrengungen gewidmet hat. J. F. - Dieser Weg ist d u r c h a u s in Betracht zu ziehen. Dennoch ist es ein Weg spirituellen Heils, der nicht von einer objektiven Erkenntnis ausgeht, sondern von einer wohltuenden Hypothese. M. - Was versteht man unter objektiver Erkenntnis? Die Natur der Teilchen ist, ungeachtet u n s e r e r Meßsysteme, nicht erkennbar. Ebenso ist ein von j e d e m menschlichen 137
Begriff u n a b h ä n g i g e s Universum f ü r den menschlichen Geist nicht erkennbar. Wer klammert sich aber an die Wirklichkeit der Erscheinungen? Der Geist. Und auf was wirken wir hier ein? Auf den Geist! Wenn es uns gelingt, daß der Geist seine Wahrnehmung der Welt als einer d a u e r h a f t e n aufgibt, eine Wahrnehmung, die zu endlosen Leiden führt, dann handelt es sich durchaus um eine objektive Erkenntnis - nicht der natürlichen Körperbeschaffenheit, sondern der Mechanismen des Leids - und um eine experimentelle Überprüfung der Ergebnisse der Wissenschaft des Geistes. J. F. - Diese Vorstellung von experimenteller Überprüfung befriedigt mich nicht ganz. M. - Glaubst Du, eine experimentelle Überprüfung kann n u r physikalische Phänomene betreffen? Diesem Standpunkt zufolge verdienten allein die quantitativen und physikalischen Wissenschaften den Namen exakter Wissenschaften. Um exakt zu sein, m u ß eine Wissenschaft von bestimmten Hypothesen ausgehen und bei der experimentellen Überprüfung rigoros verfahren, um die Hypothesen am Ende durch die Versuchsergebnisse zu bestätigen oder zu entkräften. Es gibt keinen Grund, diese Kriterien auf den physikalischen, objektiv g e n a n n t e n Bereich zu beschränken. Außerdem verstehe ich nicht, w a r u m m a n die Wissenschaften des Geistes von der persönlichen Besserung getrennt behandeln sollte, wie Du vorhin sagtest. Die Erringung innerer Ausgeglichenheit gilt in der kontemplativen Wissenschaft nämlich als experimenteller Beweis, so wie der Fall der Körper der experimentelle Beweis für das Gesetz der Schwerkraft ist. Nichts, wenn nicht der Geist selbst, kann die Erkenntnis des äußersten Wesens des Geistes ermöglichen. Wenn die Introspektion als wissenschaftliche Methode im Kontext der abendländischen Psychologie gescheitert und ausgemustert worden ist, dann, weil ihre Anwender nicht über das ents p r e c h e n d e Handwerkszeug verfügten, um ihre Experimente durchzuführen. Sie hatten nicht die geringste Ausbildung, nicht die geringste Kenntnis vom kontemplativen Bereich. Und sie kannten nicht die Techniken, die es erlau138
ben, den Geist zu beruhigen, um sein tieferliegendes Wesen zu beobachten. Das ist so, als ob jemand ein ausschlagendes Voltmeter benutzt und d a r a u s schlußfolgert, es sei unmöglich, die S p a n n u n g eines elektrischen Stroms zu messen. Das Erlernen der kontemplativen Techniken erfordert Ausdauer. Man k a n n sie nicht einfach vom Tisch wischen, nur weil sie so weit entfernt sind von den Hauptanliegen der westlichen Welt - die, man muß es sagen, eher materieller als spiritueller Natur sind - und weil man nicht geneigt ist, sie an sich selbst zu e r p r o b e n . Skeptizismus kann m a n nachvollziehen, nicht aber das Fehlen von Interesse und Bereitschaft, die Gültigkeit eines abweichenden Ansatzes zu p r ü f e n . Das Problem existiert auch von der anderen Seite. So habe ich Tibeter kennengelernt, die sich weigerten zu glauben, daß Menschen auf dem Mond gewesen sind!
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Buddhistische Metaphysik
JEAN-FRANgois - Ich glaube, wir brauchen das Thema jetzt nicht mehr zu umkreisen. Wir müssen zum zentralen Punkt des Buddhismus kommen und vor allem auf die berühmte Frage antworten: Ist der Buddhismus eine Philosophie, eine Religion oder eine Metaphysik? Was ist der Kern seiner Vorstellung vom Universum und der Stellung des Menschen darin, der die Verhaltensweisen und psychologischen Techniken erklärt, auf die wir in den vorangegangenen Gesprächen hingewiesen haben? M A T T H I E U - Ich kann nicht umhin, an dieser Stelle Andre Migot zu zitieren, der diese Frage in seinem Werk Le Bouddha*, wie mir scheint, sehr gut beantwortet: »Man hat viel d a r ü b e r diskutiert, ob der Buddhismus eine Religion oder eine Philosophie sei. Die Frage ist nie entschieden worden. Stellt m a n sie mit diesen Worten, ergibt sie nur für einen Menschen aus dem Westen einen Sinn. Nur im Westen ist die Philosophie ein reiner Wissenszweig wie die Mathematik oder die Botanik. Nur im Westen ist der Philosoph ein Mann, im allgemeinen ein Professor, der w ä h r e n d des Unterrichts eine bestimmte Lehre studiert, aber, einmal daheim, genauso lebt wie sein Notar oder sein Zahnarzt, ohne daß die Lehre, die er unterrichtet, den geringsten Einfluß auf sein Verhalten im Alltag hätte. Nur im Westen ist die Religion bei der großen Mehrheit der Gläubigen ein abgegrenzter, kleiner Bereich, den m a n an bestimmten Tagen öffnet, zu gewissen Stunden oder unter ganz bestimmten Umständen, den man aber sorgfältig wieder verschließt, bevor man handelt. Auch im Orient gibt es Lehrer der Philosophie. Dort ist ein Philosoph aber ein spiritueller Meister, der seine Lehre, umgeben von Schülern, * Club F r a n c a i s du Livre, 1960, Complexe, 1990.
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die sich an seinem Vorbild orientieren wollen, lebt. Seine Lehre ist nie bloß intellektuelle Neugierde. Sie hat nur Wert in ihrer Verwirklichung. Wozu soll es gut sein, sich künftig zu fragen, ob der Buddhismus eine Philosophie oder eine Religion ist? Er ist ein Pfad, ein Weg des Seelenheils, der den Buddha zum Erwachen führte. Er ist eine Methode, ein Mittel, um über intensive geistige und spirituelle Arbeit zur Befreiung zu gelangen.« Die einfachste Weise, den Buddhismus zu definieren, ist meines Erachtens, ihn zunächst einmal als Weg zu betrachten. Ziel des Weges ist, so könnte man sagen, die »Vollkommenheit« zu erreichen, die ä u ß e r s t e Erkenntnis, das Erwachen, oder, fachlich ausgedrückt, »den Zustand des Buddha«. J. F. - Einen Zustand, den m a n über mehrere aufeinanderfolgende Existenzen erreicht? M. - Ja, aber er aktualisiert sich natürlich im Laufe einer bestimmten Existenz, so wie bei dem Buddha Shakyamuni. Sein Erwachen, zuweilen auch »Erleuchtung« genannt, ist der Gipfelpunkt zahlreicher Leben, die der Entfaltung des Wissens, der Liebe und des Mitgefühls gewidmet waren. J. F. - Verschwindet man in dem Moment, wo m a n zur Entdeckung des vollkommenen Wissens gelangt? M. - Warum denn? Wer verschwindet? Ganz im Gegenteil. Wenn der Buddha sein eigenes Heil vollendet hat, indem er zum Erwachen gelangt ist, fängt er an, eine vielseitige Aktivität an den Tag zu legen, um den a n d e r e n zu helfen, um sie zu unterrichten und ihnen den Weg zu weisen. Seine Lehren sind der unmittelbare Ausdruck seiner spirituellen Verwirklichung. Wie ein Fahrtenbuch dienen sie dazu, die Menschen auf den Weg zu lenken, den er selbst gegangen ist. J. F. - Sein eigenes Selbst verschwindet also nicht? M. - Das einzige, was verschwindet, und zwar vollständig, ist das Nicht-Wissen. Nun ist das Festhalten an der Existenz des Selbst aber eine der hauptsächlichen Manifestationen des Nicht-Wissens. Folglich verschwindet auch diese irrige Vorstellung eines »Ichs«. Die Buddhaschaft ist ein 141
Erwachen hin zum äußersten Wesen der Dinge. Das ist kein Zeugungsprozeß, sondern eine Aktualisierung. Die Grundidee ist nämlich, daß j e d e r Mensch die Buddha-Natur in sich hat. Die Fähigkeit, zur äußersten Erkenntnis zu gelangen, dieses Potential i n n e r e r Wandlungsfähigkeit ist in j e d e m Menschen vorhanden, gleich einem Goldklumpen, dessen Reinheit unveränderlich ist, selbst wenn er anders verpackt oder in der Erde v e r g r a b e n wird. Bei gewöhnlichen Menschen ist diese Vollkommenheit, die BuddhaNatur, von zahlreichen Schleiern verhüllt. Die Schleier werden von den bereits e r w ä h n t e n negativen m e n t a l e n Faktoren gebildet und haben ihre Ursache in der Anhänglichkeit an die Vorstellung, daß das »Ich« und die Erscheinungen eine Realität an sich hätten. Der »Weg« besteht also darin, alles aufzulösen, was dieses wahre Wesen verschleiert, um es so sehen zu können, wie es ist. Besäßen wir dieses Potential nicht, so sagt m a n , w ä r e der Wunsch, die Buddhaschaft zu erlangen, so vergeblich wie der Versuch, ein Stück Kohle zu weißen. Somit ist der buddhistische Weg in der Tat eine Wiederentdeckung. J. F. - Das erinnert an die Theorie der Wiedererinnerung bei Piaton. Lernen ist für Sokrates, sich wieder an das zu erinnern, was man vergessen hatte. M. - Unter einem anderen Blickwinkel ist das auch ein Prozeß der Reinigung, nicht von einer Erbsünde oder einer grundlegenden Unkeuschheit, sondern von Schleiern, die durch die sinnliche Wahrnehmung verursacht werden und unser tieferliegendes Wesen verbergen. Wenn wir ein Flugzeug b e t r a c h t e n , das in die Wolkendecke eindringt, erscheint uns der Himmel grau und diesig, als gäbe es die Sonne nicht mehr. Doch es genügt - und das ist immer ein herrliches Schauspiel -, im Flugzeug zu sein, wenn es aus den Wolken auftaucht, um wiederzuentdecken, daß die Sonne in ihrer ganzen Helligkeit in einem unveränderlichen Himmel strahlt. Damit ist der buddhistische Weg vergleichbar. J. F. - Sokrates hat sich zu diesem Punkt in zahlreichen Dialogen, vor allem in Menon, geäußert. Seiner Auffassung 142
nach lernen wir, genau genommen, nichts. Wenn wir lernen, w ü r d e n wir uns in Wirklichkeit nur wiedererinnern. J e d e r einzelne verfügt demnach in sich über ein Wissen, das schon vor der Geburt in seinem Wesen vorhanden ist. Ein a n g e b o r e n e s Wissen. Im Laufe der Existenz h ä t t e n dann falsche Erkenntnisse, Anschauungen und künstliche Seelenzustände das wieder zugedeckt, was Du als das zentrale Goldstück bezeichnest. Um zu beweisen, daß Lernen im Grunde Sich-wieder-Erinnern ist, läßt Sokrates einen j u n g e n Sklaven n a m e n s Menon k o m m e n und fragt den Hausherrn: »Bist du ganz sicher, daß dieser Sklave bei dir geboren und niemals unterrichtet worden ist?« Und er läßt den jungen Sklaven, indem er mit einem Stock Figuren in den Sand zeichnet und Fragen stellt, ohne auch nur den geringsten Hinweis zu geben, den Beweis eines geometrischen Theorems wiederentdecken. Daher die sokratische Methode, mit Fragen vorzugehen. Man doziert nicht, sondern läßt den Schüler wiederentdecken, was er bereits wußte, ohne sich dessen bewußt zu sein. Daher die Vorstellung, jeder Mensch trage das Wissen in sich. Er müsse sich einfach in die Lage begeben, die es diesem Reichtum erlaube, zum Vorschein zu kommen. Im Buddhismus gibt es aber ein zusätzliches Postulat. Der Buddhismus macht mich neugierig. Es gibt da Dinge, die ich nicht verstehe und gern verstehen möchte. Lehrt der Buddhismus, daß die Menschen von Inkarnation zu Inkarnation fortschreiten und daß das Ziel ä u ß e r s t e r Glückseligkeit letztlich das sei, nicht m e h r reinkarniert zu werden, sondern endlich befreit zu sein von der Folge der Reinkarnationen und aufzugehen im kosmischen Unpersönlichen? M. - Es geht nicht darum, in irgendeiner Form zu erlöschen, s o n d e r n d a r u m , das letzte Wissen in sich zu entdecken. Ziel ist nicht, aus der Welt »herauszutreten«, sondern ihr nicht länger unterworfen zu sein. Die Welt ist nicht schlecht an sich. Unsere Art, sie wahrzunehmen, ist falsch. Ein buddhistischer Meister hat gesagt: »Nicht die Erscheinungen unterwerfen dich, sondern dein Festhalten an den Erscheinungen.« Der sogenannte Samsara, »der Teufels143
kreis der Welt der Existenzen«, wird in seiner Bewegung durch die Unwissenheit a u f r e c h t e r h a l t e n . Er ist insofern eine Welt der Leiden, der Verfehlung und der Verwirrung, als m a n endlos in ihr umherirrt, getrieben von der - Karma g e n a n n t e n - Wirkung u n s e r e r Taten. Das Karma unterscheidet sich von der geläufigen Vorstellung eines »Schicksals«. Es ist weder aus einem göttlichen Willen hervorgegangen, wie im Hinduismus, noch dem Zufall zu verdanken: Es ist die Frucht unserer Taten. Man erntet nur, was m a n gesät hat. Nichts nötigt einen Menschen, sich auf diese oder j e n e Weise zu r e i n k a r n i e r e n . Man ist immer die Schlußkomponente seiner Taten, wobei m a n unter »Taten« die negativen oder positiven - Gedanken, Äußerungen und körperlichen Handlungen versteht. Das entspricht Gut und Böse, wobei man sich aber ins Gedächtnis rufen muß, daß Gut und Böse hier keine absoluten Begriffe sind: Ob unsere Gedanken und Taten als gut oder böse betrachtet werden, hängt von ihrer wohltuenden oder schädlichen Motivierung und von ihrem Ergebnis ab - dem eigenen Glück oder Leid und dem der anderen. J. F. - Wir kommen zurück zur Moral. M. - Man kann das Moral oder Ethik nennen. In Wahrheit handelt es sich aber um die Mechanismen von Glück und Leid. Ständig holen uns die Folgen u n s e r e r vergangenen Taten ein, während wir unsere Zukunft über unsere gegenwärtigen Gedanken, Äußerungen und Taten gestalten. Im Augenblick des Todes bestimmt die Bilanz u n s e r e r Taten die Modalitäten der folgenden Existenz. Die Samenkörner, die wir gepflanzt haben, keimen zu Blumen oder zum giftigen Schierling. Man vergleicht das auch mit einem Vogel, der sich auf den Boden setzt: Sein bis dahin unsichtbarer Schatten - das heißt sein Karma - ist plötzlich deutlich sichtbar. Um ein m o d e r n e r e s Bild zu nehmen: Im Augenblick des Todes entwickeln wir den Film, den wir u n s e r ganzes Leben lang belichtet haben. Auf ihm befindet sich auch das, was im Verlauf aller vorherigen Existenzen gefilmt worden ist. J. F. - Aller früheren Existenzen? 144
M. - Im Laufe der gegenwärtigen, jetzt zu Ende gehenden Existenz hat m a n dem Karma positive oder negative Taten hinzufügen oder f o r t n e h m e n können, m a n hat es durch Reinigung oder Verschlimmerung verändern können. Nach dem Tod folgt ein Bardo genannter Zwischenzustand, wo der Zustand der folgenden Existenz Form annimmt und sich deutlicher abzeichnet. Im Bardo wird das Bewußtsein entsprechend der Resultante unserer positiven oder negativen Taten wie eine Feder im Wind fortgeweht. Am Schluß steht eine glückliche oder unglückliche Existenz oder eine Mischung von beiden. Das erlaubt uns, zu dem, w a s uns widerfährt, eine sehr vernünftige Haltung einzunehmen: Für das, was wir sind, sind allein wir zu tadeln, wir sind das Resultat u n s e r e r Vergangenheit, w ä h r e n d die Zukunft in unseren Händen liegt. J. F. - Es gibt demnach eine Vorstellung von der Mannigfaltigkeit der Existenzen und folglich der Wiedergeburten? M. - Einmal begangen, tragen die Taten ihre Frucht, und wir bewegen uns auf a n d e r e Existenzzustände zu. Wenn m a n keine Mittel einsetzt, um sich davon zu befreien, ist dieser Kreislauf der Existenzen praktisch endlos. Da wir ständig eine Mischung aus negativen und positiven Taten vollbringen, pendeln wir von einem Existenzzustand zum nächsten, mal glücklich, mal unglücklich, wie ein Paternoster, der unaufhörlich rauf- und runterfährt. Man sagt, als globales Phänomen gebe es in der bedingten Welt weder Anfang noch Ende. Jeder Mensch für sich habe jedoch die Möglichkeit, den Teufelskreis zu sprengen, indem er den Strom seines Bewußtseins reinigt und zum E r w a c h e n gelangt. Danach ist er vom Kreislauf der Wiedergeburten befreit. Das heißt, er hat die Ursachen des Leids beseitigt. Um zu einem solchen Ergebnis zu kommen, ist es nötig, das Problem an der Wurzel zu packen: der »Ich«-Bezogenheit und dem Nicht-Wissen, das sie verursacht. J. F. - Würdest Du folgendes Zitat von Alfred Foucher gutheißen, der die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele und vom Weiterleben nach dem Tod bei Christen und Buddhisten vergleicht und sagt: »Die Hoffnung auf Seelen145
heil und Unsterblichkeit ist beim Christen die Hoffnung zu überleben. Beim Buddhisten ist sie die Hoffnung zu verschwinden.« M. - Nicht mehr geboren zu werden. J. F. - Er sagt »verschwinden«. M. - Das Wort ist unzutreffend. Immer diese alten Vorstellungen aus zweiter Hand, wonach der Buddhismus ein Nihilismus sein soll! Der »Mittlere Pfad« heißt so, weil er weder zum Nihilismus tendiert noch zum Ewigkeitsdenken. Was verschwindet, ist das Nicht-Wissen, die Anhänglichkeit ans »Ich«. Die unendlichen Vorzüge des Erwachens aber »erscheinen« in ihrem ganzen Ausmaß. Man wird zwar nicht mehr unter dem Einfluß des negativen Karmas wiedergeboren. Doch fährt m a n durch die Kraft des Mitgefühls fort, sich in der bedingten Welt - ohne in ihr gefangen zu sein - zum Wohle der Menschen zu manifestieren. Nirvana heißt auf tibetisch übersetzt »jenseits des Leidens«. Wenn etwas erlöscht, dann das Leiden und die Verwirrung, die es auslöst. J. F. - Dann sind Karma ... Samsara ... Nirvana keine tibetischen Wörter? M. - Es sind sanskritische Wörter. Im Westen benutzt m a n sie häufiger als die entsprechenden tibetischen Wörter, denn die Laute des Sanskrit sind dem westlichen Ohr vertrauter als die tibetischen. J. F. - Ja, das ist eine indoeuropäische Sprache. M. - Und das Tibetische gehört zur tibetisch-birmanischen Gruppe. Daher ist in den westlichen Übersetzungen, die man bis zur Mitte des 20. J a h r h u n d e r t s fand, auch oft vom Nirvana als einer Art finalem Erlöschen die Rede. Dahlmann sprach von einem »Abgrund aus Atheismus und Nihilismus«, Burnouf von einem »Zunichtewerden«, Hegel und Schopenhauer vom »Nichts«. Vor kurzem hat RogerPol Droit in seinem Werk Le Culte du neant (Der Kult des Nichts) die historischen Bedingungen für diese Geringschätzung nachgezeichnet. Dem Großen Fahrzeug zufolge, zu dem der tibetische Buddhismus gehört, befindet sich derjenige, der den Zustand des Buddha erreicht, weder im 146
Samsara noch im Nirvana, die beide als »extrem« bezeichnet werden. Er befindet sich nicht im Samsara, weil er vom Nicht-Wissen befreit ist, und er ist nicht mehr das Spielzeug eines Karma, das ihn veranlaßt, sich endlos zu reinkarnieren. Doch er bleibt auch nicht im Frieden des Nirvana, da ihn unendliches Mitleid für die Menschen erfaßt, die weiter leiden. J. F. - Was tut er denn? M. - Er verwirklicht das Gelübde, das er zu Beginn seines E r w a c h e n s abgelegt hat: nämlich so lange f o r t z u f a h r e n , sich wissentlich zu ä u ß e r n - nicht u n t e r dem Zwang des Karma, sondern kraft seines Mitgefühls -, bis die bedingte Welt frei von allen Leiden ist, mit anderen Worten, bis es keine Gefangenen des Nicht-Wissens mehr gibt. Demnach ist er frei vom Samsara, bleibt aber nicht im Nirvana. Deshalb spricht man von Buddhas und Bodhisattvas, die in vielfältiger Weise tätig werden, um das Wohl der Menschen zu verwirklichen und sie auf den Weg des E r w a c h e n s zu führen. Zu ihnen zählt man die vollkommen verwirklichten spirituellen Meister. J. F. - Wann, wie und w a r u m hat sich, historisch gesehen, das Kleine Fahrzeug vom Großen Fahrzeug getrennt? M. - Die Anhänger des Großen und des Kleinen Fahrzeugs haben dazu natürlich nicht exakt dieselben Ansichten. Die Lehren des Kleinen F a h r z e u g s sind im Großen F a h r z e u g alle enthalten. Es gibt ihnen eine zusätzliche Dimension. Innerhalb des Buddhismus hat dieser Punkt zahlreiche Diskussionen ausgelöst. Die Anhänger des Großen Fahrzeugs behaupten, der Buddha habe zu Lebzeiten beide Fahrzeuge unterrichtet. Da der Buddha aber jeden nach seinen Fähigkeiten unterrichtete, hat er das Große Fahrzeug nur denen beigebracht, die über die nötige geistige Offenheit verfügten, um es auch zu verstehen. Das ist keine Frage der Esoterik, die es im Buddhismus übrigens auch gibt, sondern es geht um verschiedene Schulungsniveaus, die zur Zeit des historischen Buddha nominell nicht unterschieden wurden. Das Große Fahrzeug b e h a r r t darauf, daß die Befreiung vom Leid allein ein viel zu begrenz147
tes Ziel sei. Wenn m a n sich auf den Weg begebe, müsse m a n die Absicht h a b e n , zum Wohle aller Menschen den Zustand des Buddha zu erreichen. Man verändere sich, um die Fähigkeit zu erlangen, a n d e r e n dabei zu helfen, sich vom Leid zu befreien. Jeder von uns repräsentiere nur eine Person, während die anderen zahllos seien. Was mir widerf a h r e n k a n n , an Gutem oder Schlechtem, an Glück und Leid, sei d e m n a c h u n b e d e u t e n d im Vergleich zum Glück u n d Leid aller a n d e r e n . Die Tiefgründigkeit des Großen Fahrzeugs kommt von seinen Vorstellungen über die Leerheit und die absolute Wahrheit. Diese Leerheit hat nichts mit dem Nichts zu tun. Sie besteht darin, daß m a n begreift, daß die Erscheinungen keine Existenz an sich haben. Die Schüler des Kleinen Fahrzeugs bestreiten sowohl diese Sicht der Dinge als auch die Authentizität der Lehren des Großen Fahrzeugs. Auch ein drittes Fahrzeug sollte erwähnt werden, das wie die beiden anderen in Indien entwickelt worden ist, aber in Tibet eine besonders weite Verbreitung gefunden hat: das Vajrayana oder Diamant-Fahrzeug, das dem Großen F a h r z e u g zahlreiche esoterische Techniken des kontemplativen Weges hinzufügt. J. F. - Wenn die Buddhisten von Leid sprechen, scheint es mir so, als würden sie sich nur auf das Leid beziehen, das durch negative Leidenschaften verursacht wird: durch die Eifersucht, den Haß, die Begierde, durch die Enttäuschungen, die der Machthunger verursacht, sowie die a n d e r e n Aufwallungen, die unvermeidlicherweise Enttäuschungen, Mißerfolge, Verbitterungen und Knebelungen durch negative psychologische Zustände nach sich ziehen. Kurz, es ist nur von Leiden die Rede, die durch unsere eigenen Fehler ausgelöst werden, durch unsere Irrtümer, unsere Schwächen, u n s e r e n exzessiven Hochmut. Leid hat a b e r viele andere Ursachen! Etwa das physische Elend, den Hunger, den Völkermord, die Tatsache, von Tyrannen gefoltert und von feindlichen Bevölkerungsgruppen abgeschlachtet zu werden ... Hier sind wir die Opfer des Leids, nicht die Verantwortlichen. Nur ein Beispiel. Was die Tibeter, die in Tibet leben, derzeit bekümmert und was zahllosen Bevölke148
r u n g s g r u p p e n im Laufe der Geschichte w i d e r f a h r e n ist: d a f ü r sind sie nicht verantwortlich. Die Chinesen fügen ihnen das zu. Die Lebensumstände. Um das Übel abzustellen und zu überwinden, sind praktische und materielle Mittel weitaus nötiger als das Erwachen zur Buddhaschaft! M. - Ist die Lage erst außer Kontrolle, so ist man gezwungen, auf praktische Gegenmittel zurückzugreifen. Ein dauerhafter Frieden kann jedoch, selbst an diesem Punkt, nur von einer Änderung der Einstellung herkommen. Vor allem darf m a n aber nicht vergessen, daß die Hauptursache für Folter und Krieg der Haß bleibt, daß die Hauptursache für E r o b e r u n g e n die Gier ist und daß Haß und Gier von der Aufstachelung zum Egoismus, von der Anhänglichkeit ans »Ich« h e r r ü h r e n . Bis jetzt h a b e n wir den Akzent auf die H a u p t u r s a c h e n gelegt - die Feindseligkeit, die Begierde, den Hochmut etc. Die meisten anderen Übel, die uns heimsuchen, kommen von diesen negativen geistigen Faktoren. Sie sind ihre Auswirkungen. J. F. - Aber in diesem Beispiel kommt der Haß von den Chinesen, die Tibeter empfanden gar keinen. M. - Die Leiden, für die wir scheinbar nicht verantwortlich sind, die sich den Qualen zuschreiben lassen, die uns von anderen zugefügt werden, den Naturkatastrophen, den Krankheiten, können, wie bereits gesagt, auf folgende Weise verstanden werden: Diese Übel werden weder durch einen göttlichen Willen h e r v o r g e r u f e n noch durch eine u n a b w e n d b a r e Vorherbestimmung oder den Zufall, sondern durch die Auswirkungen u n s e r e r eigenen Taten. Sie sind Pfeile, die wir abgeschossen h a b e n und die auf uns z u r ü c k k o m m e n . Ich verstehe, d a ß m a n vom Begriff des Karma verunsichert sein kann. Was uns zustößt, ist dieser Vorstellung zufolge nicht unvorhersehbar. Die Ursachen für unser gegenwärtiges Leid haben wir selbst herbeigeführt. Im Falle von j e m a n d e m , der völlig unschuldig zu sein scheint (wie ein krankes Kind), kann das verwirren. Auch bei einer Person, die große menschliche Qualitäten an den Tag legt und dennoch schlimme Tragödien d u r c h m a c h t . Wir sind das Ergebnis eines komplexen Ganzen von Inter149
essen und Umständen, eine Mischung aus mal h e r v o r r a genden, positiven und selbstlosen, mal schädlichen oder zerstörerischen Handlungen. Nach und nach kommen diese Ursachen zum Ausdruck und reifen im Laufe unserer Leben heran. In Zusammenhang mit einer Spiritualität, die - wie der Buddhismus - zahlreiche aufeinanderfolgende Wiedergeburten in Betracht zieht, ergibt das alles einen Sinn. In einem anderen metaphysischen Zusammenhang ist in der Tat schwer ersichtlich, wie unser gegenwärtiges Glück und Unglück das Ergebnis u n s e r e r fernen Vergangenheit sein soll. Wir h a b e n d e m n a c h ü b e r h a u p t keinen Grund, uns gegen das aufzulehnen, was uns widerfährt. Wir brauchen a b e r auch nicht zu resignieren, da wir die Möglichkeit haben, die Situation wieder in Ordnung zu bringen. Es geht also darum zu erkennen, was man besser tut und was nicht, um sein Glück zu machen und dem Leid zu entgehen. Wenn m a n sich klar d a r ü b e r ist, d a ß negative Taten f ü r einen selbst und die anderen Leid verursachen und positive Taten Glück nach sich ziehen, dann ist es an uns, glaubwürdig zu h a n d e l n und durch die Aussaat guter S a m e n k ö r n e r die Zukunft a u f z u b a u e n . Wie sagt m a n doch: »Solange m a n seine Hand ins Feuer hält, ist es sinnlos, darauf zu hoffen, daß man der Verbrennung entgeht.« Wir bekommen weder »Lohn« noch »Strafe«, sondern beobachten einfach nur das Spiel von Ursache und Wirkung. Zahlreiche Beispiele für karmische Belohnungen sind von dem Buddha überliefert worden. Es stimmt, daß m a n zum Beispiel sagt, einem Jäger oder Söldner, der das Leben vieler Lebewesen verkürzt, werde in einem späteren Leben ein kurzes Dasein beschieden sein oder ein tödlicher Unfall widerfahren. Er kann aber auch positive Taten angehäuft haben, die dazu führen, daß sein Leben, obwohl kurz, glücklich und erfolgreich sein wird. Unzählige Kombinationen sind möglich, und allein die Allwissenheit eines Buddha, so sagt m a n , könne die Mannigfaltigkeit des Karma erfassen. J. F. - Ja, aber es gibt auch natürliche Leiden, das Alter zum Beispiel oder den Tod. M. - In seiner ersten Predigt formulierte der Buddha die 150
sogenannten »vier edlen Wahrheiten«: die Wahrheit vom Leid der bedingten Welt, die Wahrheit von der Ursache des Leids (das Nicht-Wissen und die negativen Gefühlsregungen, die das Karma bilden), die Wahrheit von der Möglichkeit, dem Leid ein Ende zu setzen, und die Wahrheit vom Weg, der sein Ende herbeiführt. Dieses Leid schließt natürlich die Leiden der Geburt, des Alters, der Krankheit und des Todes mit ein. Das A u f e i n a n d e r t r e f f e n mit u n s e r e n Feinden, den Verlust unserer Nächsten ... J. F. - Also das Leid, das mit dem menschlichen Schicksal v e r b u n d e n ist oder mit dem tierischen oder irgendeinem anderen? M. - Die Vorstellung vom Leid schließt die ganze Vergangenheit des Leids der f r ü h e r e n Existenzen und die ganze Zukunft des Leids der zukünftigen Existenzen aller Gattungen von Lebewesen mit ein. J. F. - Diese g r u n d l e g e n d e n Leiden - die Geburt, ein Dasein, das von allen erdenklichen negativen Taten und nutzlosen Leidenschaften durchdrungen ist, die Krankheit, der Tod - können aber unter mehr oder weniger tragischen Umständen erlitten worden sein. Dem wissenschaftlichen, technologischen und materialistischen Westen kann m a n zwar vorwerfen, den Sinn für gewisse Werte verloren zu haben. Wenn ich aber das Schauspiel des täglichen Lebens in den Straßen von Katmandu betrachte, dann kann m a n noch soviel ü b e r bestimmte Fehlschläge der westlichen Wirtschaft, ü b e r das Ausmaß der Arbeitslosigkeit etc. reden: Ein französischer Arbeitsloser ist im Vergleich zu einem nepalesischen Arbeiter trotzdem ein Milliardär! In Nepal gelten fünfhundert Francs im Monat als guter Lohn, zweihundert F r a n c s als üblich. Die Bedingungen, u n t e r denen sich das menschliche Leben in den westlichen Gesellschaften abspielt, haben trotz all ihrer Unzulänglichkeiten selbst bei den sogenannten »Ausgegrenzten« bestimmte Formen des Leids beseitigt, bestimmte Formen von Erniedrigung und radikaler, grausamer physischer Not, die es im Orient weiter im Überfluß gibt. Der Begriff des praktischen Gegenmittels scheint mir im Buddhismus ein wenig aus 151
dem Blick verloren. Im philosophischen Sinne ist das menschliche Schicksal nämlich das menschliche Schicksal. Man weiß sehr wohl, daß ein a m e r i k a n i s c h e r Milliardär psychologisch gesehen unglücklicher sein k a n n als ein nepalesischer Lastenträger. Man kann ein Rothschild sein und sich doch aus Verzweiflung umbringen, wie 1996 geschehen. Nichtsdestotrotz hängt das alltägliche Glück und Leid für die meisten weiterhin nicht von metaphysischen, sondern von zahllosen anderen Faktoren ab. M. - Vor vorschnellen Urteilen über den wohlbekannten, äußerst beklagenswerten Schmutz in den Straßen von Katmandu sollte man sich hüten. Wie viele orientalische Städte leidet Katmandu unter einer anarchischen Ausdehnung. Hervorgerufen wurde sie zum einen durch die wachsende V e r a r m u n g in den ländlichen Regionen, die mit einer sprunghaften Bevölkerungszunahme und einer ungebremsten Industrialisierung einhergeht, zum anderen durch die oft enttäuschte Hoffnung auf ein besseres Leben in städtischer Umgebung. Das Elend in Indien und Nepal schockiert unsere Empfindsamkeit übrigens zu Recht. Doch läuft m a n bei dieser Feststellung oft Gefahr, die in den vergangenen fünfzig J a h r e n e r r u n g e n e n Fortschritte zu ü b e r s e h e n . Allem voran Indien hat sich eine demokratische Regier u n g s f o r m zugelegt. Eine große Zahl von Indern aus der unteren Kaste haben so nicht nur Zugang zur Schulbildung bekommen, sondern auch zu Arbeitsplätzen, die bis dahin den höheren Kasten vorbehalten waren. Es gibt noch viele Arme in Indien, doch ein Viertel der Bevölkerung genießt heute einen zufriedenstellenden Lebensstandard. Man darf nicht vergessen, daß die von Dir angesprochenen sozialen Errungenschaften, von denen die Bürger im Westen profitieren, ein j ü n g e r e s P h ä n o m e n sind, das auf die Zwischenkriegszeit zurückgeht. Für so arme Länder wie Nepal und Indien ist es unvorstellbar, d a ß solche ä u ß e r s t kostspieligen Sozialleistungen in naher Zukunft auf die Gesamtheit der in schwindelerregendem Rhythmus w a c h s e n d e n Bevölkerung ausgedehnt werden können. Sie haben ganz einfach nicht die Mittel dazu. Paris und London waren zur 152
Zeit Ludwigs XIV. regelrechte Kloaken. Nicht jedoch die Geistlichkeit war dafür zu tadeln. Der Hauptgrund für das Elend in Indien liegt nicht in der Bedeutung, die m a n den spirituellen Werten beimißt! Das Elend hat dort ein derartiges Ausmaß angenommen, weil es neunhundertfünfzig Millionen Einwohner gibt. Und zu dieser Überbevölkerung k o m m t noch die Härte eines e x t r e m e n Klimas hinzu! In Europa leidet m a n nicht Jahr für J a h r erst an der Trockenheit und gleich darauf an k a t a s t r o p h a l e n Überschwemmungen! Das Kriegsleid, das Leid der Gefolterten und Unterdrückten muß man leider fast täglich zur Kenntnis nehmen. Es ist die Folge und unglückliche Frucht des Nicht-Wissens. Jeder Buddhist, jeder Christ, jeder Mensch, der sich respektiert ob er an eine Religion glaubt oder nicht -, ist es sich schuldig, alles ihm Mögliche zu tun, um den a n d e r e n hier zu Hilfe zu kommen. Für einen Gläubigen gehört das zur alltäglichen Umsetzung des spirituellen Daseins, für einen Nicht-Gläubigen ist es ein natürlicher Ausdruck von Hochherzigkeit. Ein von Güte geprägter Mensch wird sein Möglichstes tun, um dem Hungernden zu essen zu geben, dem F r i e r e n d e n einen Unterschlupf zu g e w ä h r e n , dem von Krankheit Heimgesuchten Medikamente zu verschaffen etc. Es nicht zu tun heißt, daß man keinerlei Sinn für menschliche Verantwortung hat. J. F. - Kommen wir auf das Problem der Moral zurück. Was Du gerade beschrieben hast, ist ein höchst lobenswertes Verhalten, das ich kennzeichnend finde für die abendländischen Heiligen und Wohltäter im Mittelalter. Umgeben von einem Meer der Not und des Leids, bei sehr niedrigem Lebensstandard, halfen sie - getragen von einem Gefühl christlicher Nächstenliebe - den Elenden, den Bettlern, Kranken und Leprösen, so gut sie konnten. Man tat alles in seiner Macht Stehende, um ihr Unglück zu lindern. Eine a n d e r e westliche Auffassung ist die der Reform des Systems selbst. Sie zielt auf eine Gesellschaftsform, wo diese Art von Elend beseitigt wird, ohne auf die Güte eines einzelnen gegenüber einem anderen angewiesen zu sein. 153
Im Buddhismus scheint es so, als sei die Hauptursache für das Leid der Menschen die fehlende B e h e r r s c h u n g der Gedanken. Es gibt jedoch objektive Leiden, die gar nicht davon kommen! M. - Natürlich, gerade haben wir über die anderen Form e n des Leids gesprochen. Aber wie beginnt ein Krieg, w e n n nicht durch Gedanken der Feindseligkeit und des Hasses? J. F. - Ja, da bin ich ganz Deiner Meinung. M. - Und warum sagt man, die Tibeter seien ein im allgemeinen pazifistisches Volk? J. F. - Das stimmt. M. - Das ist so, weil es grundsätzlich andere Mittel der Konfliktlösung gibt als den Krieg. Und weil diese a n d e r e n Mittel in der Rangordnung einer Gesellschaft und eines Landes sichtbare Spuren hinterlassen. J. F. - Auf dieser Ebene trifft das zu. M. - Das ist die praktische Konsequenz einer bestimmten Sicht der Dinge, eines bestimmten Existenzbegriffs. J. F. - Ja, aber die Not, die in Südasien herrscht, ist nicht allein auf Kriege zurückzuführen. Sie beruht überdies auf einem gewissen Entwicklungsmanko, auf der Tatsache, daß die Wirtschaftsstrukturen nicht unter Kontrolle gebracht und vielleicht auch die technischen Anwendungsmöglichkeiten der Wissenschaft in den Wind geschlagen w o r d e n sind. Die Wissenschaft des Gegenstands ist zugunsten der Wissenschaft des Geistes vernachlässigt worden. Eine bestimmte Anzahl von Leiden ist aus den westlichen Gesellschaften verschwunden, weil man das objektive Wissen auf die objektive Wirklichkeit angewandt hat. Nehmen wir zum Beispiel die Krankheiten. Es ist unbestreitbar, daß die hohe Lebenserwartung im Westen eine Folge der immer besseren medizinischen Versorgung ist. Wie a r m ein K r a n k e r auch ist, er wird von einem Komplex sozialer, im übrigen sehr kostspieliger Absicherungen geschützt - was beweist, daß Solidarität und Humanität auch westliche Tugenden sind. Sie sind nicht abhängig von der Entscheidung oder der Güte eines einzelnen, sondern bilden ein System, das sich 154
automatisch in Gang setzt, sobald jemand krank ist. Auch Techniken, die Früchte der Wissenschaft, tragen zur Linderung der physischen und seelischen Leiden bei. Die Not der Krankheit bringt gleichfalls intensive seelische Leiden mit sich. Daher packt m a n das Übel dort von der Seite seiner konkreten, äußeren Realität an. M. - Ich glaube, kein Buddhist wird die Segnungen des medizinischen Fortschritts, der Organisation humanitärer Hilfe, des gegenseitigen sozialen Beistands und der materiellen und wissenschaftlichen Entwicklung leugnen, w e n n sie das Leid lindern. Um Dir einige Beispiele für die Haltung buddhistischer Gemeinwesen zu geben, verweise ich auf Sri Lanka, ein mehrheitlich buddhistisches Land, das die höchste Alphabetisierungsquote Südasiens und eine bemerkenswerte medizinische I n f r a s t r u k t u r aufweist. Sri Lanka ist auch das einzige Land Südasiens, dem es gelungen ist, dem Bevölkerungszuwachs durch Geburtenkontrolle Einhalt zu gebieten. Diese Fortschritte sind von einer bekenntnisneutralen Regierung erreicht worden, deren Mitglieder aber in der Mehrheit Buddhisten sind. In Thailand sind buddhistische Mönche sehr aktiv im Kampf gegen die Geißeln Drogen und Aids. In einige ihrer Klöster nehmen sie Drogenabhängige und HIV-Positive auf, die von ihren Familien verstoßen w o r d e n sind. Bhutan, ein ganz und gar buddhistisches Land, wendet 30 Prozent seines Haushalts für die Erziehung auf, ein Prozentsatz, der sicherlich der höchste aller Nationen ist. Im übrigen ist es eines der wenigen Länder der Welt, wo ein äußerst striktes Umweltschutzprogramm durchgesetzt worden ist, bevor die Umwelt zugrundegerichtet war. Jagen und Angeln wie auch das Abschlagen von Bäumen sind dort absolut verboten. Man sollte also keinem Extrem verfallen. Es wäre lächerlich, den materiellen Fortschritt abzulehnen oder zu ignorieren, wenn er dem Leid abhelfen kann. Das entgegengesetzte Extrem ist aber genauso abträglich. Auf lange Sicht kann es noch schädlichere Folgen haben, die innere Entwicklung zugunsten einer rein äußerlichen Entwicklung zu vernachlässigen. Hier liegt nämlich die Ursache für Intole155
ranz und Aggressivität und damit für die Kriege. Hier liegt die Ursache für die unersättliche Gier nach Besitz, also für die Unzufriedenheit, die Ursache für das Streben nach Macht, also für den Egoismus. Ideal wäre es, den materiellen Fortschritt vernünftig zu nutzen, ohne daß er unseren Geist und unser Handeln beherrscht, und gleichzeitig der inneren Entwicklung, die aus uns bessere Menschen macht, den Vorrang einzuräumen. Trotz der Tragödie, die Tibet ereilt hat, trifft man in einigen Regionen, vor allem in Kham, auf Bevölkerungsgruppen mit traditioneller Lebensweise. Sie leben sehr einfach nach den Werten des Buddhismus und scheinen trotz der Leiden, die ihnen zugefügt worden sind, erstaunlich glücklich zu sein. Zwar h a b e n sie leider keinen Zugang zu modernen Krankenhäusern - der chinesische Kommunismus hütet sich halt davor, solche Verbesserungen einzuf ü h r e n -, doch v e r s p ü r t m a n bei weitem nicht eine so b e k l e m m e n d e Atmosphäre wie in den Straßen von New York oder eine physische Not wie in den Elendsvierteln, die während der industriellen Revolution rund um die großen Metropolen entstanden sind. J. F. - Das ist vollkommen richtig. Kommen wir aber auf die Lehrauffassungen und metaphysischen Anschauungen des Buddhismus zurück. Man hat mir gesagt, Papst Johannes Paul II. würde trotz seiner großen Sympathie für den Dalai Lama, den er mehrfach empfangen hat, nur mit Vert r e t e r n der monotheistischen Religionen Christentum, Islam und Judentum an einem neuerlichen ökumenischen Treffen wie in Assisi - wo der Dalai Lama zugegen war teilnehmen. Der Buddhismus würde nicht vertreten sein. Ist das so, weil es keinen buddhistischen Gott gibt? M. - Der Dalai Lama hat oft den Wunsch nach einer zweiten Konferenz wie der in Assisi geäußert. Er hatte sogar Jerusalem als Schnittpunkt verschiedener Religionen vorgeschlagen, weil er es für u n a n n e h m b a r hält, daß Konflikte wie in Bosnien oder im Mittleren Osten nach wie vor auch aufgrund religiöser Unstimmigkeiten entstünden. Der Dalai Lama betont immer wieder, jede praktizierte Religion habe 156
ihrem Geist e n t s p r e c h e n d das Glück der Menschen zum Ziel, und sie müsse zudem ein Friedensfaktor sein. Die Botschaft von Jesus Christus sei eine Botschaft der Liebe, und eine der Bedeutungen des Wortes »Islam« sei »Frieden«. Folglich könnten die im Namen einer Religion begangenen Gewalttaten und M a c h t m i ß b r ä u c h e und der Einsatz von Religionen zur Verschärfung der Zwietracht zwischen den Völkern nur Verirrungen sein. Man könne durch die Kraft der Wahrheit überzeugen, dürfe die Wahrheit aber nicht mit Gewalt durchsetzen. Mit anderen Worten, es gebe keine echte Wahrheit, die Gewalt nötig hätte, um sich zu beweisen. J. F. - Verirrungen sind häufig, das ist das mindeste, was man sagen kann ... M. - Angesichts dieser beklagenswerten Lage ist es eine der Hauptsorgen des Dalai Lama, die Vertreter der verschiedenen Religionen auf seinen Reisen rund um die Welt dazu anzuhalten, sich zu treffen, um sich besser kennenund gegenseitig respektieren zu lernen. Er betont die g e m e i n s a m e n Punkte aller spirituellen Traditionen, vor allem die Nächstenliebe und das Mitgefühl gegenüber den Leidenden. J. F. - Für die Kapazitäten trifft das vielleicht zu, nicht aber für die Mehrheit der Gläubigen. Christen und Moslems in Bosnien hindert es nicht, sich gegenseitig auszurotten, genausowenig wie die Moslems und J u d e n in Palästina! Aber um auf die Fragen zurückzukommen, die die Lehre betreffen: der Buddhismus kann nicht als monotheistische Religion angesehen werden. M. - Nein, denn er zieht keinen Demiurgen in Betracht, der - wie erwähnt - die Welt und die Lebewesen erschaffen hat. Versteht m a n unter Gott aber die absolute Wahrheit, die ä u ß e r s t e Wirklichkeit des Seins und die unendliche Liebe, dann ist das nur eine Frage der Worte. J. F. - In der Geschichte der Religionen gibt es eine sehr h a r t e Unterscheidung zwischen Polytheismus und Monotheismus. M. - Ein Polytheismus ist der Buddhismus aber genauso157
wenig. In der tibetischen Tradition gibt es zwar Darstellungen von Gottheiten. Mit »Göttern«, die als Entitäten mit a u t o n o m e r Existenz b e t r a c h t e t w e r d e n , h a b e n sie aber nichts zu tun. Es handelt sich um Archetypen der Erkenntnis, des Mitleids, des Altruismus etc., um Meditationsobjekte, die es möglich machen, über Visualisierungstechniken, auf die ich zurückkommen werde, um diese Eigenschaften in uns zu aktualisieren. J. F. - In der Geschichte der uns bekannten Religionen wird die Ansicht vertreten, der Monotheismus sei im Vergleich zum Polytheismus eine Art i m m e n s e r Fortschritt. Der Polytheismus, so sagt man, repräsentiere nämlich verschiedene Formen des Aberglaubens. Mir scheint hingegen, daß die großen monotheistischen Religionen, ob nun zeitgenössische oder vergangene, Unmengen von a b s u r d e n Tabus, Riten und Verboten mit einschließen. Dazu gehören auch Gebräuche, die ich f ü r vollkommen abergläubisch halte! Ich sehe also nicht, w a r u m der Monotheismus dem Polytheismus überlegen sein soll. Im Gegenteil! Ich würde eher sagen, der Polytheismus ist toleranter gewesen als der Monotheismus. M. - Er ist es immer noch. Heute gibt es den Polytheismus in Indien und Nepal. J. F. - Die Intoleranz ist vor allem mit dem Monotheismus aufgekommen. Wir sind in dem Moment in den Zyklus der Intoleranz und der Religionskriege eingetreten, als sich die Menschen erlaubt haben zu sagen: »Es gibt nur einen wahren Gott, und das ist der meine, folglich habe ich das Recht, all jene zu vernichten, die nicht an ihn glauben.« M. - Es ist traurig, das zu sagen. J. F. - Aber es ist eine historische Tatsache, und ein Übel, das in unserer Zeit, wo man nur von Toleranz und Pluralismus redet, weiter grassiert. M. - Im Namen der Religion werden weiter Völkermorde verübt. Es gibt zwei Hauptformen der Intoleranz. Die erste ist die der Individuen, die den tieferen Sinn ihrer Religion nicht durchschaut haben und die daher nicht als wirkliche Gläubige angesehen werden können. Sie benutzen die Reli158
gion wie eine Erkennungsfahne, um sektiererische, tribalistische oder nationalistische Leidenschaften Wiederaufleben zu lassen. Die zweite ist die der aufrichtig Gläubigen, die so tief von der Wahrheit ihres Glaubens überzeugt sind, daß sie jedes Mittel für recht halten, um ihn den anderen zu ihrem Wohle aufzuzwingen. Der erste Aspekt ihres Glaubens ist lobenswert, der zweite stürzt sie in den Irrtum. Sie verstehen es nicht, die spirituellen Traditionen der anderen und die Verschiedenheit der Menschen zu respektieren. Der Dalai Lama sagt oft: »Man muß von seinem eigenen spirituellen Weg absolut überzeugt sein und zugleich die anderen Wahrheiten vollkommen respektieren.« J. F. - Auf theologischer und kosmologischer Ebene ist allen monotheistischen Religionen ein u r s p r ü n g l i c h e r Schöpfungsmythos gemeinsam. Am besten k e n n e n wir natürlich den, der in der Bibel, der Genesis, dargestellt ist. Aber es gibt zum Beispiel auch den Demiurgen aus Piatons Timaios. Er ist der Schöpfer der Welt. Diese Vorstellung von der Erschaffung der Welt ist in zahllosen, auch polytheistischen Religionen anzutreffen. Im Monotheismus gibt es a u ß e r d e m die Vorstellung eines persönlichen Gottes, der alles sieht und ü b e r w a c h t , eine Vorstellung, die J u d e n , Christen und Moslems g e m e i n s a m ist und die von den großen klassischen Philosophen übernommen wurde. Der, laut Descartes, allwissende, allmächtige Gott, der Schöpfer der Welt und der ewigen Wahrheiten, der Erklärer der ganzen Wirklichkeit findet sich auch in der Metaphysik von Aristoteles, im b e r ü h m t e n »Buch Lambda«, oder bei den später so bedeutenden klassischen Philosophen, insbesondere bei Descartes und Leibniz. Findet m a n diese Auffassung im Buddhismus nicht? Hat es keine Schöpfung gegeben? Gibt es keinen persönlichen Gott, dessen Augen und Ohren die gesamte Menschheit überwachen? M. - Nein, ich habe die Argumente bereits erwähnt, die vorgebracht werden, um zu zeigen, daß eine beständige, allmächtige und selbständige Entität nichts e r s c h a f f e n kann, ohne ihre Eigenschaften der Beständigkeit und der Allmacht zu verlieren. Die Welt wird völlig von den Geset159
zen der Kausalität und der Interdependenz bestimmt. Versteht m a n unter Gott eine »unendliche Liebe«, wie die Christen m a n c h m a l sagen, so hat der Buddhismus keine Einwände gegen ein solches Verständnis von Göttlichkeit. Das ist nicht mehr als eine Frage der Worte. Ich möchte noch ein p a a r Worte dazu äußern, was der Buddhismus unter der ä u ß e r s t e n Wirklichkeit versteht. Man unterscheidet nämlich zwei Aspekte. Die Welt der Erscheinungen, so wie wir sie w a h r n e h m e n , gehört zur relativen Wahrheit. Das ä u ß e r s t e Wesen der Dinge, das jeden Begriff von Sein und Nicht-Sein, von Erscheinen und Vergehen, von Bewegung und Unbeweglichkeit, von einfach und vielfach transzendiert, gehört zur absoluten Wahrheit. Die absolute Wahrheit liegt d e m n a c h im Erreichen der Leerheit, der Erleuchtung, der Nicht-Dualität, die n u r durch kontemplative E r f a h r u n g erfaßt w e r d e n k a n n und nicht durch analytisches Denken. J. F. - Was verstehst Du unter Leerheit? Das Nichts? M. - Der Begriff der »Leerheit« verwirrt und kann manche sogar abschrecken. Sie meinen, aus der Leerheit könne nichts kommen, in diesem »Vakuum« könne nichts »funktionieren« und auch kein Gesetz wie das der Kausalität wirken. Die Leerheit, glauben sie, könne in sich nicht das geringste Manifestationspotential bergen, und sie verspüren ihr gegenüber ein Gefühl des Unbehagens. So verwechseln sie die Leerheit im buddhistischen Sinne mit dem Nichts. Im Nichts gibt es nichts, während die »Leerheit« in Wirklichkeit das Gegenteil des Nichts ist: nämlich die »universelle Potentialität«, das Weltall, die Lebewesen, die Bewegung, das Bewußtsein. Die Gesamt-Manifestation könnte sich nicht vollziehen, wenn ihr letztes Wesen nicht die Leerheit w ä r e . Genausowenig - aber das ist n u r ein Bild - wie sich die sichtbare Welt ohne Raum nicht entfalten könnte. Wäre der Raum an sich beständig und dauerhaft, w ä r e keine Manifestation, keine Transformation möglich. Deshalb sagen die Texte: »Da es Leerheit gibt, kann alles existieren.« Die Leerheit trägt somit alle Möglichkeiten in sich, wobei die Möglichkeiten voneinander abhängig sind. 160
J. F. - Ein bißchen ist das Wortspielerei. Du verwendest hier Leerheit nicht m e h r im Sinne von Beseitigung des Selbstbewußtseins, sondern im Sinne von leerem Raum, der dazu bestimmt ist, von Realitäten ausgefüllt zu werden. M. - Nein, das ist es nicht ganz. Das Beispiel des Raums, der den Welten erlaubt, sich zu formen, ist nur ein Bild, um zu zeigen, d a ß in der Welt der Erscheinungen nichts beständig, dauerhaft oder an sich existierend ist, weder das Selbst noch die äußere Welt. Das Nichtvorhandensein von eigentlicher Existenz erlaubt es den Erscheinungen, sich unendlich zu manifestieren. Die Leerheit ist also nicht vergleichbar mit dem leeren Raum in einem Behälter, sondern sie ist das Wesen selbst des Behälters und seines Inhalts. W a r u m ist es so wichtig, die relative Wahrheit von der absoluten zu unterscheiden? Solange Verwirrung herrscht über die äußerste und die sichtbare Form der Erscheinungen, solange wir glauben, die Erscheinungen hätten eine Existenz an sich, so lange wird auch unser Geist von einer u n b e r e c h e n b a r e n Zahl von Gedanken, von positiven oder negativen Gefühlsregungen ü b e r s c h w e m m t . Man kann natürlich versuchen, bei jeder Gefühlsregung ein spezielles Gegenmittel anzuwenden, etwa die Sympathie zur Bekämpfung der Eifersucht. Keines dieser Gegenmittel ist jedoch allein imstande, die Wurzel des Nicht-Wissens zu kappen: unser Festhalten an der Wirklichkeit der Erscheinungen. Um dieses Festhalten zu unterbinden, ist es nötig, das äußerste Wesen der Erscheinungen zu erkennen, das wir als Leerheit bezeichnen. Für den, der die Allwissenheit des BuddhaZustands erreicht hat, gibt es keine Dualität mehr zwischen der sichtbaren und der ä u ß e r s t e n Form der Dinge. Die Wahrnehmung der sichtbaren Erscheinungen besteht fort, doch ist diese W a h r n e h m u n g nicht mehr durch das NichtWissen verfälscht, das darin besteht, die Erscheinungen für wirklich existierende Entitäten zu halten. Ihre ä u ß e r s t e Form, die Leerheit, wird simultan wahrgenommen. J. F. - Wie das? M. - Die Leerheit unterscheidet sich nicht von den Erscheinungen, sie ist das Wesen selbst der Erscheinungen. 161
Auf dem Gebiet der relativen Realität ist die buddhistische Weltanschauung den Naturwissenschaften verwandt, wenn m a n die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Entstehungszeit des Buddhismus berücksichtigt. Der buddhistischen Kosmologie zufolge ist die Welt ganz zu Anfang aus einem Kontinuum von »Raumteilchen« entstanden. Sie sollen sich zu den konstitutiven Teilchen der vier Elemente oder Stoffe kondensiert und modifiziert haben, die das Universum bilden: Wasser, Erde, Feuer und Wind. Dann ist die Rede von einem ausgedehnten Urmeer, das von den Winden zu einer Art Sahne »gebuttert« worden sei. Sie habe sich verfestigt und so die Kontinente, Gebirge etc. gebildet. Dieser ganze Prozeß vollzog sich nach den Gesetzen von Ursache und Wirkung. Der Buddhismus sagt, die Welt habe keinen »Anfang«. Man kann in der Tat zeitlich nicht von einem Anfang sprechen. Denn zum Sichtbarwerden bedarf es immer einer vorhergehenden Ursache. Doch vor dem Sichtbarwerden ergibt die Zeitvorstellung keinen Sinn. Die Zeit ist nur ein Begriff, gebunden an eine Folge von Momenten, die von einem Beobachter w a h r g e n o m m e n wird. Die Zeit hat keine Existenz an sich, da sich eine Zeit nicht unabhängig von ihren Momenten erfassen läßt. Zeit und Raum existieren nur in bezug auf spezielle Referenzsysteme und in bezug auf unsere Erfahrung. J. F. - Das ähnelt ein wenig der Lehre Kants: Die Zeit hat keine Existenz an sich, sie ist ein menschlicher Modus zur Erfassung der Erscheinungen. M. - Die Zeit existiert nicht außerhalb der Erscheinungen. Wenn es keine Erscheinungen gäbe, wie sollte die Zeit da existieren? Der vergangene Augenblick ist tot, der zukünftige Augenblick ist noch nicht geboren, und im gegenwärtigen Augenblick ist der Lauf der Zeit nicht wahrnehmbar. Man spricht in der buddhistischen Metaphysik auch von der »vierten Zeit«, die die drei anderen - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - transzendiert und das unveränderliche Absolute darstellt. J. F. - Eine unveränderliche Zeit? Das ist widersprüchlich. 162
M. - Nein, diese »vierte Zeit« ist keine wirkliche Zeit. Sie ist nur ein symbolischer Ausdruck dafür, daß das Absolute jenseits der Zeit liegt, die zur relativen Wahrheit der Erscheinungswelt gehört. Die buddhistische Kosmologie faßt auch Zyklen ins Auge. Der Zyklus eines Universums setzt sich aus vier Phasen zusammen: eine Phase der Entstehung, eine Phase des Fortbestands, eine der Zerstörung und eine der Nicht-Manifestation. Danach kommt es zu einem neuen Zyklus. J. F. - Die Stoiker vertraten die These, daß die Geschichte des Kosmos immer wieder mit einem »Jahr Null« beginne, das regelmäßig wiederkehre und von einer gigantischen Umwälzung gekennzeichnet sei. M. - Hier ist nicht von einem ewigen Neuanfang der gleichen Dinge die Rede, w a s ü b e r h a u p t keinen Sinn hätte, sondern von einer unendlichen Fortsetzung des Offenbarwerdens nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung, dem Karma. J. F. - Die buddhistische Kosmologie ist also, abgesehen von ihrem archaischen Charakter, keine Lehre, die sich grundsätzlich gegen die Entdeckungen der Wissenschaft stellen würde? M. - Sicher nicht, d e n n diese Kosmologie fällt in den Bereich der relativen, auf Vereinbarung beruhenden Wahrheit, die sich gemäß der allgemeinen W a h r n e h m u n g der Menschen im Laufe der Geschichte verändert. Gleichwohl gibt es einen wichtigen Unterschied zu den wissenschaftlichen Theorien über die Entstehung des Bewußtseins. Wie bereits in einem der vorhergehenden Gespräche erwähnt, kann das Bewußte, laut Buddhismus, nicht aus dem Unbelebten entstehen. Der gegenwärtige, durch einen früheren Bewußtseinsmoment ausgelöste Bewußtseinsmoment löst den folgenden aus. Wir haben gesagt, die Welt habe keinen wirklichen Anfang in der Zeit: Mit dem Bewußtsein ist es genauso. Das ist auch einer der Gründe für unsere Ansicht, daß der Bewußtseinsfunke, der im Moment der Empfängnis das neue Lebewesen beseelt, als Ursache nur eine gleichgeartete Begebenheit h a b e n kann, das heißt eine bewußte, 163
selbst wenn der Funke genauso einfach wäre, wie man ihn sich bei einer Amöbe vorstellt. J. F. - Was vom Bewußtsein abhängt, kann nach traditioneller metaphysischer Anschauung nur aus dem Bewußten hervorgehen, genauso wie die Materie nur aus der Materie entstehen kann. Auch diese Auffassung findet man bei Piaton und in der klassischen Philosophie des 17. J a h r h u n derts. Eine kartesianische Ä u ß e r u n g besagt: In der Wirkung kann nicht mehr liegen als in der Ursache. Genau hier o f f e n b a r t jedoch die ganze m o d e r n e Wissenschaft - auf der Grundlage von Experimenten und Beobachtungen, die w e d e r von der Hand zu weisen noch geringzuschätzen sind - das Gegenteil. Namentlich Dein Lehrer J a c q u e s Monod vertritt in Le hasard et la necessite* die These, daß das Biologische aus der Materie entstehe und das Bewußtsein aus dem Biologischen. Demnach hat es folgende Art von Evolution gegeben: Auf die Entstehung des Lebens aus der Materie folgte die Entwicklung der Arten, die d a n n nach und nach zu Bewußtsein und Sprache geführt hat. Das ist das Schema, das von der zeitgenössischen Wissenschaft im allgemeinen akzeptiert wird. M. - Das Bewußte ist, dem Buddhismus zufolge, nicht bloß das immer mehr vervollkommnete Unbewußte. Es gibt da einen qualitativen Wandel, nicht nur einen quantitativen. Nichts stellt sich der Beobachtung der Tatsache in den Weg, daß die zunehmende Komplexität in der Organisation des Nervensystems und der Lebensformen Hand in Hand mit der Fortentwicklung der Intelligenz geht. Selbst eine sehr elementare Lebensform ist, dem Buddhismus zufolge, mit einer Form von Bewußtsein ausgestattet, äußerst primitiv zwar, doch von der reinen Materie zu unterscheiden. Auf der tierischen Entwicklungsleiter wird die Fähigkeit des Bewußtseins immer effizienter, tiefgehender und vollk o m m e n e r - bis hin zur menschlichen Intelligenz. Das Bewußtsein manifestiert sich d e m n a c h in verschiedenen * Titel d e r d e u t s c h e n Ausgabe: Zufall und Notwendigkeit. Aus d e m F r a n zösischen von Friedrich Griese. Piper Verlag, M ü n c h e n 1971.
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Trägern und u n t e r verschiedenen Bedingungen in wechselndem Umfang. J. F. - Die Tatsache, daß es eine tierische Psyche gibt, ist a n e r k a n n t . Allein Descartes bestritt ihre Existenz. Heute gibt es zahlreiche Bücher über die Psychologie der Tiere. Es ist offensichtlich, daß ein tierisches Bewußtsein existiert. Bei den e l e m e n t a r e n Lebensformen k a n n es sich jedoch nicht um Selbstbewußtsein handeln: Sie haben kein reflektierendes Bewußtsein. M. - Sicher, aber es handelt sich trotz allem um Lebewesen. Was die höheren Tiere angeht, so frage ich mich, ob diejenigen, die nach wie vor denken, es gebe keine animalische »Intelligenz«, nicht unbewußt von der jüdisch-christlichen Kultur beeinflußt sind, die den Tieren eine »Seele« abspricht. Vergessen wir nicht, daß noch vor wenigen Jahrh u n d e r t e n ein Konzil so weit ging, sich zu fragen, ob die Frauen eine Seele hätten! J. F. - Woher soll dieses, w e n n auch sehr primitive Bewußtsein in einem so winzigen Tier denn kommen? M. - Der Buddhismus antwortet, es stamme, dem Prinzip der »Bewußtseinserhaltung« zufolge, von einer f r ü h e r e n Existenz - analog der E n e r g i e e r h a l t u n g in der Welt der Materie. J. F. - Das ist natürlich absolut nicht der Standpunkt der Wissenschaft. Sie b e t r a c h t e t den Menschen als ein Tier u n t e r a n d e r e n , als ein Tier, bei dem sich eine bestimmte Dimension des perzeptorischen Bewußtseins aufgrund der zerebralen Entwicklung besonders ausgebildet hat. Sicher ist jedoch, d a ß für die m o d e r n e Wissenschaft das große Rätsel oder vielmehr der große Sprung der Übergang von der Materie zum Leben ist. Wenn man sich fragt, ob es in a n d e r e n Sonnensystemen, in a n d e r e n Galaxien oder auf dem Mars Leben gibt, fragt m a n sich im Grunde, ob sich das Zusammenspiel der Faktoren, das innerhalb der Materie zu den l e b e n s e r z e u g e n d e n chemischen Reaktionen g e f ü h r t hat, auch auf anderen Planeten, in anderen Sonnensystemen habe ereignen können. Vielleicht ist der Übergang vom tierischen oder pflanzlichen Leben zum Bewußtsein im Ver165
lauf der Evolution der lebenden Arten weniger rätselhaft als der Übergang von der Materie zum Leben. M. - Wir werden den Vergleich wohl kaum vertiefen können. Denn auch w e n n der Buddhismus nicht das Fortschreiten der Evolution zu immer komplexeren Lebensformen, zu i m m e r r a f f i n i e r t e r e n F o r m e n der Intelligenz abstreitet, so glaubt er - wie schon gesagt - dennoch, daß das Bewußtsein nicht aus dem Unbelebten entstehen kann. Die Wissenschaft sagt, die Zelle reagiere durch die Ausbildung einer immer komplexeren Struktur immer wirkungsvoller auf äußere Stimuli, und diese zunehmende Komplexität f ü h r e möglicherweise zum n e u r o n a l e n System, das nichts anderes als das Bewußtsein sei. Für den Buddhismus kann das Bewußtsein nicht aus einer chemischen Reaktion entstehen, ganz gleich, ob sie komplex ist oder nicht. J. F. - Das ist klar und deutlich. Aber kommen wir auf das zurück, was Du die absolute Wahrheit nennst, die Vorstellung der Leerheit. M. - Die Leerheit ist weder das Nichts noch ein leerer, von den Erscheinungen ab- oder ausgegrenzter Raum. Sie ist das Wesen selbst der Erscheinungen. Und deshalb sagt ein grundlegender Text des Buddhismus: »Die Leerheit ist Form, und die Form ist Leerheit.« Von einem absoluten Gesichtspunkt aus hat die Welt keine wirkliche oder konkrete Existenz. Folglich ist der relative Gesichtspunkt die Erscheinungswelt und der absolute Gesichtspunkt die Leerheit. J. F. - Der p h ä n o m e n a l e Gesichtspunkt ist a b e r völlig konkret und greifbar! M. - Die Vorstellung der Leerheit läuft unserer angeborenen Neigung zuwider, das Selbst, das Bewußtsein und die Erscheinungen zu verdinglichen. Wenn der Buddhismus sagt, »die Leerheit ist Form, und die Form ist Leerheit«, dann ist das begrifflich nicht viel anders als die Formulierung: »Die Materie ist Energie, und die Energie ist Materie.« Wir leugnen nicht unsere gewöhnliche Wahrnehmung der Erscheinungen. Doch wir bestreiten, daß diese Welt letztlich eine Realität an sich besitzt. Wenn die Atome, um die Formulierung von Heisenberg aufzugreifen, keine 166
Dinge sind, wie sollen dann so viele von ihnen - die sichtbaren Erscheinungen - »Dinge« werden? J. F. - Doch lehrt der Buddhismus nicht zum Beispiel, daß die Welt keine Existenz durch sich selbst habe, weil sie nur das Produkt unserer Wahrnehmung sei? Nennt man das in der abendländischen Erkenntnistheorie nicht den absoluten Idealismus? M. - Es gibt in der Tat eine buddhistische Schule, die sich »einziger Geist« nennt und behauptet: »Letztlich existiert n u r das Bewußtsein, alles übrige ist eine Projektion des Bewußtseins.« Dieser Monismus ist innerhalb des Buddhismus widerlegt worden. J. F. - In der abendländischen Erkenntnistheorie bezeichnet man das als den absoluten Idealismus. Das ist Berkeley oder Hamelin. M. - Die anderen Schulen des Buddhismus halten dem entgegen, d a ß die W a h r n e h m u n g der Erscheinungswelt eben über die Sinnesorgane ablaufen müsse und von den Bewußtseinsmomenten, die die Botschaft dieser Organe erfassen, gedeutet werde. Folglich n e h m e m a n die Welt nicht so wahr, wie sie sei, sondern n u r die Bilder, die sich in unserem Bewußtsein widerspiegelten. J. F. - Das ist der sogenannte »transzendentale« Idealismus von Immanuel Kant. M. - Ein Gegenstand wird von h u n d e r t verschiedenen Personen wie h u n d e r t Spiegelbilder in h u n d e r t Spiegeln wahrgenommen. J. F. - Und der Gegenstand ist derselbe? M. - Auf den ersten Blick ist es derselbe Gegenstand. Von verschiedenen Menschen kann er aber auf völlig verschiedene Weise w a h r g e n o m m e n werden, wie wir am Beispiel des Wasserglases gesehen haben. Nur der, der zur Erleuchtung gelangt, erkennt das äußerste Wesen des Gegenstandes: sichtbar, aber ohne Existenz an sich. Der abschließende Standpunkt des Buddhismus ist der des »Mittleren Weges«: Die Welt ist keine Projektion unseres Geistes, doch sie ist auch nicht völlig unabhängig von ihm. Eine besondere, unveränderliche, von jedem Begriff, jeder intellektuel167
len Erkenntnis und jedem Beobachter unabhängige Realität hat nämlich nicht viel Sinn. Es gibt eine gegenseitige Abhängigkeit. So vermeidet es der Buddhismus, dem Nihilismus oder dem Ewigkeitsdenken anheimzufallen. Die Erscheinungen entstehen in einem Interdependenzprozeß von Ursachen und Bedingungen, doch nichts existiert an sich oder durch sich. Die unmittelbare Kontemplation der absoluten Wahrheit transzendiert schließlich jeden intellektuellen Begriff, jede Dualität von Subjekt und Objekt. J. F. - Die Welt existiert nicht unabhängig von uns? M. - Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcker und Texturen sind keine der objektiven Welt inhärenten, unabhängig von unseren Sinnen existierenden Attribute. Die Gegenstände, die wir w a h r n e h m e n , erscheinen uns völlig »äußerlich«. Haben sie Merkmale an sich, die ihr wahres Wesen definieren? Was ist das wirkliche Wesen der Welt, so wie es unabhängig von uns existiert? Nichts erlaubt uns, das zu sagen, denn allein durch unsere Begriffe können wir es erfassen. Dem Buddhismus zufolge hat eine von jeder begrifflichen Bestimmung unabhängige Welt also für niemanden einen Sinn. Um ein Beispiel zu geben: Was ist ein weißer Gegenstand? Eine Wellenlänge, eine »Farbtemperatur«, Teilchen in Bewegung? Sind diese Teilchen Energie, eine Masse etc.? Keines der Attribute gehört an sich zum Gegenstand. Sie sind bloß das Ergebnis seiner Darstellung durch bestimmte Forschungsverfahren. In den Schriften des Buddhismus findet sich eine Geschichte von zwei Blinden, die verlangten, daß man ihnen die Farben erkläre. Einem der beiden antwortete man: »Weiß hat die Farbe des Schnees.« Der Blinde ergriff eine Handvoll Schnee und schloß daraus, daß das Weiß kalt sei. Dem anderen erzählte man, Weiß sei die Farbe der Schwäne, und als er das Rauschen der Flügel eines fliegenden Schwans hörte, folgerte er, daß Weiß »fru ... fru« mache. Kurz, die Welt kann sich nicht ganz allein determinieren. Täte sie es, würden wir sie alle auf dieselbe Weise wahrnehmen. Es geht weder darum, die beobachtbare Wirklichkeit zu leugnen, noch darum zu sagen, es gebe außerhalb des Geistes keine Wirklichkeit. Es geht einfach darum, daß 168
eine »Wirklichkeit an sich« nicht existiert. Die Erscheinungen existieren einzig und allein in Abhängigkeit von anderen, ihrerseits untereinander abhängigen Erscheinungen. J. F. - Man könnte das als die Kosmologie, die Physik und die Erkenntnistheorie des Buddhismus bezeichnen. Ohne die Originalität dieser Analysen und Lehren abstreiten zu wollen, die ja früher als die abendländischen Philosophien entstanden sind, erstaunt mich die Menge der gemeinsamen Punkte doch: nicht mit dieser oder jener abendländischen Lehre als Ganzes, sondern mit dieser oder j e n e r Phase der Entwicklung der abendländischen Philosophie von Thaies bis Kant. M. - Hinzufügen möchte ich, daß der Buddhismus nicht behauptet, allein über die Wahrheit zu verfügen oder ein »Novum« zu sein. Es handelt sich nicht um eine dogmatische Konstruktion, sondern um eine Wissenschaft des Geistes, die h i n f ü h r t zu einer persönlichen Wandlung und gleichzeitig zu einer kontemplativen Erfassung des äußersten Wesens der Dinge. J. F. - In jedem Fall ist der Buddhismus älter als die von mir aufgezählten Lehren. Es gab ihn nämlich schon vor den ersten Anfängen der griechischen Philosophie. Daher kann m a n auch nicht von irgendwelchen Anleihen sprechen. Interessant ist, daß die Menschen, wenn sie über die Wirklichkeit, das Bewußtsein, die Wahrheit und die Deutung der Welt nachdenken, alle eine gewisse Zahl möglicher Hypothesen Revue passieren lassen. Vor dem Aufkommen der eigentlichen experimentellen Wissenschaft, das heißt, solange sich die Menschen damit begnügten, nachzudenken und mögliche und plausible Deutungen der Wirklichkeit, der Beziehungen von Bewußtsein und Wirklichkeit und der besten Art, das menschliche Geschick zu lenken, auszuarbeiten, so lange sieht man, daß die Zahl der in Betracht zu ziehenden Lösungen nicht unendlich ist. Weit voneinander entfernte Kulturen, die sich wohl kaum gegenseitig beeinflußt h a b e n können, gehen denselben Hypothesen nach. Der Buddhismus hat Einfluß auf das Abendland gehabt, doch das Abendland hat keinen Einfluß auf die Entstehung 169
des Buddhismus h a b e n können. Die Menschen sind dennoch dahin gebracht worden, eine Reihe von Hypothesen, deren Zahl ziemlich beschränkt ist, ins Auge zu fassen. M. - Man rechnet in der Tat damit, daß glaubwürdige kontemplative Traditionen zu übereinstimmenden Ergebnissen führen. J. F. - Was unsere Ausgangsfrage - Religion oder Philosophie? - anbelangt, würde ich sagen, daß die Antwort für mich jetzt eindeutig ist. Der Buddhismus ist eine Philosophie, keine Religion. Es handelt sich um eine Philosophie mit b e s o n d e r s s t a r k e r metaphysischer Dimension. Die Metaphysik verbleibt jedoch im Rahmen der Philosophie und untersteht nicht der Offenbarung, selbst wenn sie ritualistische, zur religiösen Praxis gehörige Aspekte aufweist. Solche Aspekte finden sich übrigens auch in den Philosophien der Antike, etwa im Neoplatonismus. M. - Da wir gerade dabei sind, Parallelen zu ziehen: Du zitierst in Deiner Histoire de la philosophie (Geschichte der Philosophie) Aristoteles' Zusammenfassung der eleatischen Philosophie, die aus dem 6. Jahrhundert vor Jesus Christus, also aus der Zeit des Buddha stammt: »Keine daseiende Sache kommt zum Sein oder geht zugrunde, denn was vom Sein kommt, muß seinen Ursprung entweder im Seienden oder im Nicht-Seienden haben. Und beide Vorgänge sind unmöglich. Was ist, wird nicht, da es bereits ist, und nichts könnte von etwas kommen, was nicht ist.« Ich springe jetzt zu einem buddhistischen Text, der von Sein und Nicht-Sein spricht: »Wozu eine Ursache für die Sache, die da ist? Und wenn eine Sache nicht da ist, wozu dann noch eine Ursache? Milliarden von Ursachen würden das Nichts nicht verändern. Das Nichts kann nicht zur Existenz gelangen, ohne sein Wesen zu verlieren. Was aber könnte zur Existenz gelangen? Wenn sich weder die Realität noch die Nicht-Realität dem Geist darbieten, dann beruhigt sich der von Begriffen befreite Geist in Ermangelung jedes anderen möglichen Weges.«* * Shantideva-, Eintritt in das Leben zur Erleuchtung. Poesie u n d Lehre d e s M a h a y a n a - B u d d h i s m u s . Aus d e m S a n s k r i t von E. Steinkellner. E u g e n Died e r i c h s Verlag, Düsseldorf/Köln 1981.
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J. F. - Diese beiden Zitate sind sehr schön. Doch die Philosophie des P a r m e n i d e s will g e n a u das Gegenteil des Buddhismus aussagen. Parmenides versucht zu zeigen, daß Veränderung unmöglich ist, daß Evolution unmöglich ist, daß Beweglichkeit unmöglich ist. Das Sein des Parmenides ist voll und ganz gegeben und unbeweglich, ein für allemal! Nun ist das Sein im Buddhismus aber ein steter Fluß. Die berühmten »Paradoxa« von Zenon von Elea sollen widerlegen, daß es Bewegung gibt. Ein Pfeil bewegt sich demnach nie. Betrachtet man ihn in jedem Augenblick seines Fluges, so ist er in jedem dieser Augenblicke unbeweglich. Genauso holt der Hase nie die Schildkröte ein, denn jedesmal, wenn er sich ihr nähert, bleibt immer noch eine Hälfte des Weges zu laufen, selbst w e n n diese Hälfte immer kleiner wird. Diese »Paradoxa« sollen die Bewegung also zerlegen, um zu zeigen, daß es keine Bewegung gibt. M. - In seinen Principes du calcul infinitesimal (Prinzipien der Infinitesimalrechnung) sagt Rene Guenon, Zenons Paradoxa w ü r d e n einfach zu zeigen versuchen, daß ohne Berücksichtigung des Kontinuitätsbegriffs keine Bewegung möglich sei. Die Grenze gehöre nicht zur Reihe der sukzessiven Werte der Variablen: Sie liege vielmehr a u ß e r h a l b dieser Reihe, und der Übergang zur Grenze impliziere eine Diskontinuität. Der Buddhismus nutzt ähnliche Beweisführungen wie Zenon, um zu zeigen, daß das, was ein Spiel von Ursachen und Wirkungen zu sein scheint, vom Standpunkt der relativen Wahrheit aus gesehen keine wirkliche Existenz hat. Daher können die Dinge, von einem absoluten Standpunkt aus betrachtet, weder einen Anfang noch eine reale Existenz, noch ein Ende h a b e n . Ziel ist nicht, die Erscheinungswelt, die wir w a h r n e h m e n - und die der Buddhismus die »konventionelle Wahrheit« nennt -, zu leugnen, sondern zu zeigen, daß diese Welt nicht so real ist, wie man glaubt. Das Zur-Existenz-Kommen scheint in der Tat unmöglich, da das Sein, wie gesagt, nicht aus dem Nichts entstehen kann, oder es, sofern es schon existiert, nicht nötig hat zu entstehen. Gleichzeitig »hört« es nicht »auf«, da es nie zur Existenz gelangt ist. Das f ü h r t den 171
Buddhismus zu der Aussage, die Welt gleiche einem Traum oder einer Illusion. Er sagt nicht, daß die Welt eine Illusion oder ein Traum ist, denn d a n n verfiele m a n dem Nihilismus. Dem »Mittleren Weg« zufolge sind die ä u ß e r e n Erscheinungen Leerheit, und aus der Leerheit entstehen die äußeren Erscheinungen. J. F. - Dieser Anschauung zufolge gleicht die Welt, selbst wenn m a n die relative Wirklichkeit der Erscheinungswelt anerkennt, jedoch einer Illusion. Heißt das, sie hat im Grunde keine Existenz? M. - Sie hat keine wirkliche, selbständige Existenz an sich. J. F. - Aber f ü h r t das nicht zu einer Philosophie des Nicht-Handelns? Wozu soll es gut sein, auf etwas einzuwirken, das nicht existiert? M. - Absolut nicht! Im Gegenteil, das führt zu einer weit größeren Freiheit des Handelns und zur Öffnung gegenüber den a n d e r e n . Denn wir w e r d e n nicht m e h r d u r c h die Anhänglichkeit ans Selbst und an die Dauerhaftigkeit der Erscheinungen beeinträchtigt. Einige hinduistische Philosophien h a b e n dem Buddhismus tatsächlich das Argument entgegengehalten, das Du g e r a d e a n g e f ü h r t hast: Wenn alles einem Traum ähnelt, wenn Euer Leid einem Traum gleicht, was nützt es dann, wenn Ihr Euch vom Leid befreit? Wozu soll der Versuch, zur Erleuchtung zu gelangen, dann gut sein? Die Antwort ist: Da die Menschen die Erfahrung des Leids m a c h e n , ist es legitim, es zu beseitigen, selbst wenn es illusorisch ist. Würde Dein Argument, das mit dem der hinduistischen Philosophien übereinstimmt, zutreffen, könnte man es genausogut auf die Wissenschaft anwenden: Wozu handeln, da wir doch nur ein Zellenbündel sind, das von einer Horde Neuronen dirigiert wird? Wozu handeln, da wir doch aus Atomen und Teilchen zusammengesetzt sind, die »keine Dinge sind« und auf jeden Fall nicht »wir«?
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Wirkung auf die Welt, Wirkung auf sich selbst - Wenn ich als Laie auf dem Gebiet des Buddhismus richtig verstanden habe, ist der ganze Hintergrund unseres täglichen Lebens Schmerz. Um uns von ihm zu erlösen, müssen wir uns von dem irrigen Gefühl befreien, daß wir eine substantielle, dauerhafte Entität sind, ein von der Welt abgegrenztes, in der Zeit kontinuierliches Selbst. Dieses illusorische Selbst ist die Quelle der Begehrlichkeiten, der Gelüste, Ambitionen und Eifersüchte, die u n s e r Leid v e r u r s a c h e n . Die Befreiung besteht folglich darin, sich des illusorischen Wesens des Selbst bewußt zu werden. Aus diesem Kurzresümee wird ersichtlich, daß der Buddhismus die Antithese eines im Westen vorherrschenden Trends ist. Auch wenn einige westliche Philosophen, Moralisten und religiöse F ü h r e r häufig auf die Illusionen des Machtwillens und die heilsame Kraft von Gleichgültigkeit und Enthaltung hingewiesen h a b e n , hat sich das abendländische Denken in seinem Hauptstrom nichtsdestoweniger um zwei einander ergänzende Hauptachsen herausgebildet. Die erste besteht in der E r r u n g e n s c h a f t der menschlichen Autonomie und der Stärkung der Individualität, des persönlichen Urteilsvermögens und des Willens als bewußtes Subjekt und Entscheidungszentrum. Die zweite Achse besteht in der Wirkung auf die Welt. Der Westen ist eine Zivilisation der Tat, der Einwirkung auf die Geschichte der Menschen durch die Staatskunst, der Einwirkung auf die Welt durch die Kenntnis der Naturgesetze, in der Gewißheit, sie so v e r ä n d e r n und den Bedürfnissen des Menschen anpassen zu können. Das verträgt sich, wie mir scheint, nicht mit dem buddhistischen Ideal der Nicht-Bindung. Gibt es zwischen diesen beiden Auffassungen nicht einen von Grund auf unaufhebbaren Gegensatz? M A T T H I E U - Zunächst einmal: wenn Du Dir in Erinnerung JEAN-FRAN^OIS
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rufst, daß der Hintergrund des täglichen Lebens Schmerz ist, muß m a n präzisieren, daß die Wahrheit des Leids, die der Buddha in seiner ersten Predigt dargestellt hat, zur relativen W'ahrheit gehört und nicht das äußerste Wesen der Dinge beschreibt. Derjenige, der die spirituelle Verwirklichung erreicht, e r f r e u t sich nämlich einer unverbrüchlichen Glückseligkeit und nimmt die unendliche Reinheit der Erscheinungen w a h r : Sämtliche Ursachen des Leids sind aus ihm verschwunden. Warum dann das Leid so sehr betonen? Um sich erst einmal der Unvollkommenheiten der bedingten Welt bewußt zu werden. In dieser Welt des Nicht-Wissens ziehen die einen Leiden a n d e r e n a c h sich: Ein Teil unserer Eltern stirbt, der andere folgt ein p a a r Wochen später. Die kleinen F r e u d e n v e r k e h r e n sich in große Sorgen: Man bricht zu einem fröhlichen Familienpicknick auf, und u n s e r Kind wird von einer Schlange gebissen. Das Nachdenken ü b e r den Schmerz m u ß uns dazu bringen, den Weg der Erkenntnis einzuschlagen. Oft wird gesagt, der Buddhismus sei eine Philosophie des Leids. In Wirklichkeit macht die Wahrnehmung des Leids, je weiter m a n auf dem Weg v o r a n k o m m t , immer m e h r einer Glückseligkeit Platz, die unser ganzes Wesen erfüllt. Der Buddhismus ist das exakte Gegenteil von Pessimismus und Teilnahmslosigkeit. Ist das Leid nämlich erst einmal registriert, sucht er mit Scharfblick nach seinen Ursachen und macht sich tatkräftig daran, sie zu beheben. Der praktizier e n d e Buddhist b e t r a c h t e t sich selbst als Kranken, den Buddha als Arzt, seine Unterweisungen als Behandlung und die spirituelle Praxis als Heilungsprozeß. J. F. - Wenn man durch den Buddhismus dem Leid entkommen könnte, hätte sich der Westen dann nicht für ein a n d e r e s Vorgehen entschieden als die V e r ä n d e r u n g der äußeren Welt und der menschlichen Gesellschaften? M. - Die Wandelbarkeit der ä u ß e r e n Welt ist genauso begrenzt wie die Auswirkung der äußeren Veränderungen auf u n s e r inneres Glück. Die Verbesserung oder Verschlechterung der äußeren und der materiellen Bedingungen übt sicherlich großen Einfluß auf unser Wohlbefinden 174
aus. Letztendlich sind wir aber keine Maschinen, und es ist der Geist, der glücklich oder unglücklich ist. J. F. - Predigt der Buddhismus die Passivität gegenüber der Welt? M. - Ganz und gar nicht. Er glaubt aber, daß der Wille, auf die Welt einzuwirken, ohne vorherige Wandlung weder zu einem d a u e r h a f t e n noch zu einem tiefgehenden Glück f ü h r e n könne. Die Einwirkung auf die Welt, könnte m a n sagen, ist wünschenswert, die innere Wandlung aber unerläßlich. Die Stärkung der Persönlichkeit, so wie sie im Westen gefördert wird, läuft in der Tat dem Willen des Buddhismus zuwider, »den Betrug des Ego« zu demaskieren, dieses Ego, das so mächtig erscheint und uns so viel Pein bereitet, obwohl es keine Existenz an sich hat. Man m u ß dieses »Ich«-Gefühl jedoch zunächst festigen, um seine Merkmale alle zu erfassen. Im Grunde muß man paradoxerweise erst ein Ego haben, um sich darüber klarzuwerden, daß es nicht existiert. Jemand mit labiler, bruchstückhafter, nicht greifb a r e r Persönlichkeit hat wenig Aussichten, dieses »Ich«Gefühl identifizieren zu können, um dann in einem zweiten Schritt zu erkennen, daß dieses Gefühl gar keiner wirklichen Entität entspricht. Ein gesundes, kohärentes »Ich« ist also die Voraussetzung, um es analysieren zu können. Auf ein Ziel kann man schießen, auf Nebel nicht. J. F. - Aber das ist nur ein Schritt. Ist das Ziel nicht, wie Du sagtest, trotz allem die Erkenntnis, daß das Ego ein Betrug ist? M. - Ja, aber man darf auch nicht glauben, daß man sich in einem inneren Nichts wiederfindet, sobald der Betrug des Ego aufgedeckt ist - so als ob uns die Zerstörung der Persönlichkeit unfähig machen würde, zu handeln und zu kommunizieren! Ein Hohlraum wird m a n nicht. Ganz im Gegenteil. Indem wir aufhören, das Spielzeug eines - den Schatten in der Höhle Piatons ä h n e l n d e n - illusorischen Despoten zu sein, können sich u n s e r e Weisheit, u n s e r e Nächstenliebe und unser Mitleid frei zum Ausdruck bringen. Es handelt sich um eine Befreiung von den Beschrän175
klingen, die die Anhänglichkeit ans »Ich« mit sich bringt, und keineswegs um eine Ausschaltung des Willens. Die Öffnung der »Augen der Weisheit« steigert unsere Seelenstärke, unseren Eifer und unsere Fähigkeit, gerecht und selbstlos zu handeln. J. F. - Der »Ich-Kult«, wie Maurice Barres sagte, der Kult des Egoismus ist ein Ziel, das dem Buddhismus zuwiderläuft. Die abendländische Zivilisation gewährt der starken Persönlichkeit eine Art Bonus, sie mißt ihr höchsten Wert bei. Ihren außergewöhnlichen Epochen h a b e n h e r v o r r a gende Individuen in allen Bereichen ihren Stempel aufgedrückt. In seinem 1860 erschienenen klassischen Werk Die Kultur der Renaissance in Italien schreibt der deutschschweizerische Historiker Jacob Burckhardt die zu Recht als ein ganz großer Moment der abendländischen Zivilisation angesehene Renaissance in Italien einer Reihe starker Persönlichkeiten zu, seien es n u n kultivierte Fürsten wie Federigo da Montefeltro in Urbino oder gelehrte Künstler wie Leonardo da Vinci. Es ist kein Zufall, daß Burckhardt Nietzsche beeinflußte. Genauso treten unter den Idolen des Abendlandes im guten wie im schlechten Heroen der Tat in Erscheinung: Alexander der Große, Julius Cäsar, Christoph Kolumbus und Napoleon I. viel mehr als der heilige Franz von Assisi. Natürlich werden auch die großen Philosophen, die großen Künstler und Schriftsteller bewundert, doch der Tatmensch, der Weltveränderer oder Gesellschaftsreformer genießt eine Art Bonus. In dieser Grundtonalität, scheint mir, gibt es etwas, das im Gegensatz zum Geist des Buddhismus steht. Was aber läßt sich angesichts solcher grundsätzlich verschiedenen Ausrichtungen beider Mentalitäten heute von einem e r n e u t e n Kontakt dieser beiden Empfindungsweisen erwarten? M. - Sofern man unter Persönlichkeit die Übersteigerung des Ego versteht, scheint mir die bloße Tatsache, eine starke Persönlichkeit zu haben, ein sehr zweifelhaftes Erfolgskriterium zu sein. Hitler und Mao Tse-tung h a t t e n sehr starke Persönlichkeiten! J. F. - Leider ja! 176
M. - Also ist eine nicht umkehrbare, nicht zu bremsende Entschlossenheit an sich keine positive Eigenschaft. Alles hängt von der Motivation ab, die sie beseelt. J. F. - Das ist ein völlig berechtigter Einwand! M. - Eine starke Persönlichkeit sollte man nicht mit Seelenstärke verwechseln. Die Weisen, die ich habe t r e f f e n können, h a t t e n eine unbändige Seelenstärke, eine sehr b e e i n d r u c k e n d e Persönlichkeit. Sie strahlten natürliche Stärke aus, die spürbar war für alle, die ihnen begegneten. Der gewaltige Unterschied ist jedoch, daß m a n bei ihnen nicht die geringste Spur eines Ego a u s m a c h e n konnte, wobei ich jenes Ego meine, das Egoismus und Egozentrismus w a c h r u f t . Ihre Seelenstärke kam von einem Wissen, einer Ausgeglichenheit und inneren Freiheit, die sich nach außen hin mit unerschütterlicher Gewißheit manifestierten. Ein Abgrund trennt sie von Hitler, Mao Tse-tung und ihresgleichen, deren starke Persönlichkeiten ihren Ursprung in zügelloser Herrschsucht haben, in Hochmut, Gier oder Haß. In beiden Fällen befinden wir uns einer immensen Stärke gegenüber. Im ersten ist die Stärke jedoch ein Strom konstruktiver Selbstlosigkeit, im zweiten ist sie negativ und zerstörerisch. J. F. - Gewiß, aber diese dem abendländischen Denken inhärente Sehnsucht nach Taten hat zwei Aspekte. Einen Todesaspekt, der in der Tat zu Hitler oder Stalin führt, und einen Lebensaspekt, der zu Einstein führt, zu Mozart, Palladio, Tolstoi oder Matisse. Letztere geben der Welt Wahrheit und Schönheit. Gemeinsames Kennzeichen ist jedoch, daß die Mehrheit der großen abendländischen Denker in gewissem Maße immer den Wunsch haben, ihr Denken im Handeln zu aktualisieren. Piaton schafft in seiner Republik eine Verfassung, weil er die Gesellschaft v e r ä n d e r n will. Descartes sagt, der Mensch müsse sich zum »Herrn und Besitzer der Natur« m a c h e n . Rousseau entwickelt den Begriff des Gesellschaftsvertrages. Karl Marx führt die Praxis ein, das heißt den Übergang vom Denken zum Handeln, dem obersten Kriterium für die Richtigkeit einer Lehre. Ich komme jetzt auf meine Frage zurück. Der Buddhismus 177
begreift das Dasein in der Welt als Gefangenschaft, der man entkommen muß, indem m a n sich dem Zyklus der Wiedergeburten entzieht. Für j e m a n d e n aus dem Westen lindert m a n das menschliche Leid, indem m a n die Welt verändert und die Gesellschaft reformiert. Liegt hier nicht ein Gegensatz, der schwer zu überwinden ist? M. - Wenn ein Gefangener seine Leidensgenossen befreien will, muß er zuerst seine eigenen Ketten sprengen. Das ist die einzig mögliche Vorgehensweise. Wir müssen Kräfte schöpfen, um gerecht zu handeln. Ein Künstler m u ß zunächst die Wurzeln seiner Kunst entdecken, m u ß sich technische Fähigkeiten aneignen, seine Inspiration entfalten und imstande sein, sie auf die Welt zu übertragen. Die Methode des Weisen ist ähnlich, auch wenn sie nicht dieselb e n Ziele verfolgt. Der spirituelle Weg beginnt mit einer Phase der Zurückgezogenheit. Gleich einem verletzten Hirsch sucht m a n einen einsamen, ruhigen Platz auf, um seine Wunden zu heilen. Die Verletzungen sind die des Nicht-Wissens. Den Menschen zu f r ü h zu helfen w ä r e so, als schnitte man das Getreide, wenn es noch grün ist, oder wie bei einem tauben Musiker, der ein schönes Stück spielt, das er nicht hört. Um den Menschen helfen zu können, darf kein Unterschied mehr bestehen zwischen dem, was m a n lehrt, und dem, was man ist. Ein noch Ungeübter kann den starken Wunsch verspüren, anderen zu helfen, doch im allgemeinen hat er nicht genügend spirituelle Reife, um es zu tun. Wo ein Wille ist, gibt es aber auch einen Weg, und die Kraft des altruistischen Verlangens wird eines Tages Früchte tragen. Milarepa, einer der b e d e u t e n d s t e n Eremiten Tibets, sagte, es habe w ä h r e n d der zwölf J a h r e , die er zurückgezogen und allein in den Grotten verbrachte, nicht einen einzigen Moment der Meditation gegeben, nicht ein einziges Gebet, die er nicht dem Wohl der Menschen gewidmet habe. J. F. - Gewiß, aber dieser Altruismus ist mehr Verstehen als Handeln. M. - Die großen Weisen Tibets haben beträchtlichen Einfluß ausgeübt, nicht nur auf ihre Schüler, sondern auf die 178
gesamte Gesellschaft. Ihre starke Persönlichkeit wurde von denen, die um sie herum lebten, vollkommen positiv aufgefaßt. Khyentse Rinpoche, der Weise, bei dem ich die meiste Zeit verbracht habe, hat in seiner Jugend an die siebzehn J a h r e als Einsiedler gelebt, u n t e r b r o c h e n n u r von Besuchen bei seinen spirituellen Meistern. Als er fünfunddreißig J a h r e alt war, sagte ihm sein Meister: »Jetzt ist es an der Zeit, dieses Wissen und diese Erfahrung anderen zu vermitteln.« Fortan hat er nicht aufgehört zu lehren, unermüdlich bis zu seinem Tod. Lange vor der Morgendämmerung betete und meditierte Khyentse Rinpoche m e h r e r e Stunden lang. Gegen acht Uhr morgens brach er sein Schweigen und empfing den Strom der Besucher, die sich vor seiner Tür versammelt hatten. Je nach Bedürfnis gab er ihnen spirituelle Instruktionen, praktische Ratschläge, Unterweisungen oder einfach einen Segen. Es kam vor, daß er monatelang den ganzen Tag unterrichtete, ob nun eine Handvoll Leute oder ein p a a r Tausend. Selbst nach Tagen, die so angefüllt waren, ging er noch auf persönliche Gesuche ein und unterwies einen einzelnen oder eine kleine Gruppe bis spät in die Nacht. Keine Bitte wies er zurück. Eine solche Person übt wirklich sehr starken Einfluß auf die Gesellschaft um sie h e r u m aus, ja, sie ist sogar ihr Zentrum.* M. - Diese Haltung ist mit der abendländischer Gelehrter oder gar Künstler trotz allem nicht vergleichbar. Ihr Tun beschränkt sich nicht darauf, anderen beizubringen, was sie selbst verstanden haben! Den abendländischen Künstler unterscheidet, daß er das Selbst nicht als Phantasmagorie oder Betrug ansieht. Ganz im Gegenteil. Für ihn kommt die schöpferische Originalität des Künstlers aus der Einzigartigkeit seines Selbst, das mit keinem a n d e r e n Selbst vergleichbar ist und ihn deshalb befähigt, in der Literatur, der Malerei und der Musik etwas zu erfinden, das kein anderer an seiner Stelle ersinnen könnte. Im Abendland konzentriert sich, wenn Du so willst, alles auf zwei bestimmte * L'Hsprit du Tibet (Der Geist Tibets). Das Leben und die Welt von Khyentse Rinpoche. Photos und Text von Matthieu Ricard. Editions du Seuil, Paris 1996.
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Ziele: erstens auf die im Gegensatz zur buddhistischen Lehre stehende Aufwertung des Selbst als solches - wobei diese A u f w e r t u n g nicht bloß ein Schritt dahin ist, anschließend Kenntnisse an andere weiterzuvermitteln - und zweitens auf die Nutzung der Errungenschaften dieser findigen Originalität, sei es im Rahmen des politischen, ökonomischen, künstlerischen und kognitiven Handelns oder bei der Anwendung dieser Entdeckungen auf die Wirklichkeit. Hier scheint mir eine grundlegende Divergenz in der Orientierung vorzuliegen. M. - Der Aufwertung des Selbst entspricht im Buddhismus die möglichst vollkommene Nutzung des außerordentlichen, vom menschlichen Leben bereitgestellten Potentials. Seine Kreativität liegt darin, alle nötigen Mittel einzusetzen, um zur Erkenntnis zu gelangen. Die Aufwertung eines von sich selbst eingenommenen Ego, das den einzelnen drängt, um jeden Preis etwas Originelles zu ersinnen oder etwas Abweichendes zu tun, wird hingegen als kindliche Übung betrachtet. Das trifft besonders auf dem Gebiet der Ideen zu. Die übertriebene Aufwertung des Selbst als solches: Das ist so, als halte m a n seine Hand mit der Hoffnung ins Feuer, sich dort abzukühlen. Die Auflösung der geistigen Bindung an die Realität des Selbst geht einher mit einer Zerstörung. Zerstört w e r d e n jedoch Hochmut, Eitelkeit, Obsession, Überempfindlichkeit und Feindseligkeit. Diese Auflösung öffnet der Güte, der Demut und dem Altruismus Tür und Tor. Indem man aufhört, das Selbst zu lieben und zu schützen, bekommt man eine viel weitere und tiefere Vorstellung von der Welt. Der Weise, sagt man, ist wie ein Fisch, der mit weitgeöffneten Augen schwimmt: Er durchquert die Welt der Erscheinungen und hält die Augen der Erkenntnis weit offen. Die Bindung ans Selbst führt dazu, daß man völlig auf sich fixiert ist und sich selbst mehr Bedeutung beimißt als den anderen, daß man allein unter dem Gesichtspunkt reagiert, was diesem Selbst gefällt oder nicht, und d a ß m a n sich einen »Namen« machen will. Eine solche Einstellung b e s c h r ä n k t u n s e r e n Handlungsspielraum beträchtlich. Jemand, der frei von egozentrischen Wahrnehmungen ist, 180
hat viel weitreichenderen Einfluß auf die Welt. Du sagtest, die Hilfe der Weisen beschränke sich auf die Unterweisung. Diese Unterweisung b e k ä m p f t jedoch die Ursachen des Leids. Sie ist also viel grundlegender als materielle Heilmittel, die nur die vorübergehenden Symptome des Leids lindern! Was andere Formen des Handelns im übrigen nicht ausschließt. Die Blüte der Architektur, der Malerei und der Literatur ist in der tibetischen Zivilisation außergewöhnlich! Khyentse Rinpoche hat zum Beispiel fünfundzwanzig Bände mit Gedichten, Hagiographien und Abhandlungen zum kontemplativen Dasein geschrieben. Als er unser Kloster in Nepal bauen ließ, hat er an die fünfzig Künstler um sich gehabt - Maler, Bildhauer, Goldschmiede, Steinmetze... J. F. - Vorsicht! Es gibt da, glaube ich, ein Mißverständnis zwischen uns, was m a n denn n u n als »Wirkung auf die Welt« bezeichnet. Du beschreibst den Einfluß, den der Weise auf seine Mitmenschen haben kann. Aber seien wir korrekt. Wenn ich sage, das Abendland sei eine Zivilisation der Tat, so denke ich an die Veränderung der Welt durch das Erfassen seiner Gesetze. Ich denke da an die technischen Erfindungen: an die Erfindung der Dampfmaschine, die Nutzung der Elektrizität, die Erfindung des Teleskops und des Mikroskops, an die Nutzung der Atomenergie zum Guten wie zum Bösen. Es gibt die Atombombe, aber auch die Elektrizität nuklearen Ursprungs. All das kommt a u s dem Abendland. Wenn m a n also von der Wirkung auf die Welt spricht, handelt es sich nicht allein um den spirituellen Einfluß auf seine Mitmenschen, sondern um eine reale Verä n d e r u n g der Materialität der uns umgebenden Welt, um die Schaffung von Instrumenten, die vor fünf J a h r h u n d e r ten noch völlig undenkbar waren, von Werkzeugen, die die menschliche Existenz radikal v e r ä n d e r t haben. Wenn ich recht verstehe, ist dieser Typ von Wirkung auf die Welt für den Buddhismus im Grunde überflüssig? Jedenfalls hat er ihn nie zur Entfaltung gebracht. M. - Um eine Formulierung aufzugreifen, die ich bereits zitiert habe: Die abendländische Effizienz ist ein wichtiger Beitrag zu untergeordneten Bedürfnissen. 181
J. F. - Untergeordnete Bedürfnisse! Das ist schnell gesagt! M. - Von einem bestimmten Standpunkt aus gewiß. Der Wohlstand, den uns der technische Fortschritt durch die Verbesserung der Lebensbedingungen beschert, darf nicht geringgeschätzt werden. Im Gegenteil! Alles, was zum Wohl der Menschheit beiträgt, ist willkommen. Die E r f a h r u n g zeigt jedoch, daß diese Art von Fortschritt nur sekundäre Probleme löst - sich schneller fortbewegen, weiter sehen, höher steigen, tiefer vordringen etc. J. F. - Länger leben, mehr Krankheiten heilen ... Nehmen wir noch einmal ein konkretes Beispiel: Im benachbarten Indien ist die menschliche Lebenserwartung zwischen 1900 und heute von neunundzwanzig auf dreiundfünfzig J a h r e gestiegen! Natürlich k a n n m a n sagen, ein unglücklicher Mensch habe kein Interesse daran, länger zu leben, und in diesem Fall sei es besser, mit neunundzwanzig J a h r e n zu sterben als mit dreiundfünfzig! Für den, der von solchen Errungenschaften profitiert, ist das Leben aber gleichzeitig länger und erträglicher. In den f r ü h e r e n Philosophien gab es diese Dimension nicht. Auch das ist eine Art, dem Leid zu entgehen: nicht krank zu sein und nicht mit neunundzwanzig J a h r e n zu sterben! Im Westen besteht die Vorstellung vom Glück unter anderem in der Verlängerung des menschlichen Lebens, im wirkungsvolleren Vorgehen gegen Krankheiten, in der Möglichkeit, sich fünfzig Kilometer fortbewegen zu können, ohne zwei Tage lang durch den Schlamm laufen zu müssen, sowie a n d e r e n Nebenaspekten dieser Art, etwa der Tatsache, daß man als Zehnjähriger nicht an einer Blinddarmentzündung stirbt, was bei mir, ohne die Erfindung der modernen Chirurgie und der Asepsis, wahrscheinlich der Fall gewesen w ä r e . Wenn dieses typisch westliche Glück nicht von Interesse wäre, warum hat ihm der Orient dann mit soviel Leidenschaft nachgeeifert und es sich zu eigen gemacht? M. - Der richtige Weg ist oft der Weg der Mitte: Laßt uns also dank der medizinischen Fortschritte ein langes Leben führen und es dank der spirituellen Werte nach reiflicher Überlegung nutzen! Es geht nicht darum, die Bedeutung 182
eines materiellen Fortschritts, der das Leid lindern hilft, herunterzuspielen! Der Orient ist dem Westen dankbar für den Fortschritt in der Medizin und die Erhöhung der Lebenserwartung. Das sind Dinge, über die sich jeder freuen kann. Andererseits mangelt es einer Zivilisation, die sich fast ausschließlich um diese Art von Wirkung auf die Welt kümmert, offenkundig an etwas Wesentlichem, das der materielle Fortschritt, da er eine andere Bestimmung hat, nicht beisteuern kann. Der Beweis dafür ist, daß die westliche Gesellschaft diesen Mangel spürt und sich in manchmal unbeholfener Raserei auf die Suche nach allen Arten von Weisheitsformeln begibt, die aus dem Orient oder aus der Vergangenheit stammen. Besonders deutlich zeigt sich dieser Mangel in der Verwirrung, die so viele Gemüter befallen hat, in der Gewalt, die in den Städten herrscht, im Egoismus, der so viele menschliche Beziehungen bestimmt, in der trübseligen Resignation der Alten, die ihr Leben allein in Altersheimen beschließen, und in der Verzweiflung der Selbstmörder. Wenn die geistigen Werte eine Gesellschaft nicht mehr inspirieren, wird der materielle Fortschritt zu einer Art Fassade, die die Sinnlosigkeit des Daseins verbirgt. Länger zu leben heißt natürlich, mehr Chancen zu haben, dem Dasein einen Sinn zu geben. Vernachlässigt man diese Opportunität jedoch, indem man bloß nach einer langen, behaglichen Existenz strebt, wird der Wert des menschlichen Daseins vollkommen künstlich. Die Erforschung des Alterungsprozesses hat auf zellularer Ebene beträchtliche Fortschritte gemacht. Im Labor kann m a n die Lebensdauer von F a d e n w ü r m e r n und Fliegen mittlerweile verdoppeln. Es ist also nicht unvorstellbar, daß sich eines Tages auch die Dauer des menschlichen Lebens verdoppeln oder verdreifachen läßt. Diese Aussicht hebt die Erfordernis, dem Dasein einen Sinn zu geben, noch mehr hervor. Denn sonst läuft m a n Gefahr, zweihundert Jahre deprimiert oder dreihundert J a h r e schlechtgelaunt zu leben. Außerdem h a b e n sich die zerstörerischen Aspekte des technischen Fortschritts im selben Ausmaß entwickelt wie seine wohltuenden. In gewissen Fällen, so 183
bei der Umweltverschmutzung, haben sie sie sogar übertroffen. J. F. - Es ist offensichtlich, daß die aus der technologischen Gesellschaft hervorgegangene industrielle Zivilisation ein großer Verschmutzungsfaktor gewesen ist. Gleichzeitig sind wir aber dabei, Mittel gegen die Umweltverschmutzung zu erfinden, was in der Vergangenheit unvorstellbar war. Gegenwärtig wird in den Industriegesellschaften am stärksten gegen die Umweltverschmutzung gekämpft. Das ist sogar eine ihrer wichtigsten Industrien geworden! M. - Ein dürftiger Trost! J. F. - Die weniger entwickelten Gesellschaften sind es, die protestieren und die M a ß n a h m e n zum Schutz der Umwelt nicht anwenden wollen, weil dieser Schutz, wie sie behaupten, ihre Entwicklung verhindert. M. - Leider h a b e n sie nicht die Mittel dazu. Sie sind gefangen zwischen einem u n g e b r e m s t e n industriellen Wachstum und der Unfähigkeit, seine Nebenwirkungen zu b e h e b e n . In Indien und Nepal r e p a r i e r t m a n Autos oder Lastwagen, die fürchterliche Rauchwolken ausstoßen, zwanzig J a h r e lang, bevor m a n sich den Kauf von neuen leisten kann. J. F. - Ich komme auf eine grundlegendere Frage zurück. Die Kritik, die man an den negativen Aspekten der technologischen Zivilisation üben kann, erkenne ich völlig an. Im Westen ist sie übrigens - a n g e f a n g e n mit J e a n - J a c q u e s Rousseau bis hin zu Aldous Huxley - von vielen Schriftstellern vorgebracht worden, und auch von dem, was während der sechziger Jahre in Europa der Geist des Mai 68 oder in den Vereinigten Staaten die Subkultur genannt wurde. Ich könnte auch einen in Europa zu Unrecht verkannten Denker anführen, Jacques Ellul, dessen Buch La Technique ou l'enjeu du siecle (Die Technik oder der Einsatz des J a h r hunderts) in den Vereinigten Staaten unter dem Titel The Technological Society während der sechziger Jahre ein Riesenerfolg war. Er bringt die Kritik vor, die Du gerade formuliert hast. Die Frage, die ich Dir als Mitglied beider Kulturen stellen möchte, ist aber folgende: Lassen sich in einer 184
Zeit, wo sich der Buddhismus im Westen ausbreitet, Umrisse für eine Art von Kompromiß skizzieren, bei dem der Orient einige westliche Werte aufnimmt und umgekehrt? M. - Es ist nicht nötig, einen »Kompromiß« zu schließen, der den beiderseitigen Verzicht auf gewisse Werte einschließt. Vielmehr sollte m a n alles in Anspruch n e h m e n , was der materielle Fortschritt an Wohltuendem zu bieten hat, und gleichzeitig die Dinge an ihrem richtigen Platz belassen. Wer möchte keine Fortschritte in der Medizin und der Hygiene? Ein solcher wechselseitiger Nutzen w ä r e typisch für den »Mittleren Weg«, von dem ich g e r a d e gesprochen habe und auf den der Buddhismus immer wieder z u r ü c k k o m m t . Ein Arzt etwa k a n n den Sinn seiner Berufung nur vertiefen, wenn er die altruistischen Prinzipien des Buddhismus immer mehr in sich aufnimmt. Man darf nicht in das Extrem verfallen, alle Energien allein auf den materiellen Fortschritt zu verwenden. Der Westen hat sich davon mitreißen lassen. Sein Streben nach materiellem Komfort und Eigentum ist exzessiv. Ein tibetisches Sprichwort sagt: »Zwei Dinge zu wollen, wenn man eines davon hat, heißt, dem Teufel die Tür zu öffnen.« Es ist wahr, daß traditionelle Kulturen wie der Buddhismus der Wirkung auf sich den Vorrang eingeräumt haben und nicht der Wirkung auf die äußere Welt. Hierzu gibt es ein interessantes Beispiel. Im 19. J a h r h u n d e r t lebte eine Art tibetischer Leonardo da Vinci, ein Weiser n a m e n s Lama Mipham. In seinen Aufzeichnungen hat man Pläne für fliegende Maschinen und allerlei außergewöhnliche Erfindungen gefunden. Die meisten seiner Skizzen hat er jedoch mit der Erklärung verbrannt, es sei besser, sich der inneren Wandlung zu verschreiben, als sein Dasein auf die Erfindung von Maschinen zu verwenden und sich so in der Vielzahl äußerlicher Tätigkeiten zu verlieren. Es ist wahr, daß der Westen seit zwei J a h r h u n d e r t e n den größten Teil seiner Bemühungen darauf verwendet, Techniken zur Nutzung und zur Beherrschung der Naturkräfte zu erfinden. Man hat auf den Mond fliegen und die Lebense r w a r t u n g beträchtlich erhöhen können. Während dieser 185
Zeit, und in zahlreichen Jahrhunderten zuvor, hat sich die tibetische Zivilisation dem kontemplativen Dasein gewidmet sowie der Entwicklung eines sehr pragmatischen Wissens über die Art und Weise, wie der Geist funktioniert und wie m a n sich vom Leid befreit. Der Westen hat die Antibiotika produziert, die Menschenleben retten, und Tibet hat sich bemüht, dem Dasein einen Sinn zu geben. Das Ideal der Medizin ist, j e d e m zu e r l a u b e n , h u n d e r t J a h r e oder m e h r zu leben und dabei sämtliche Zähne zu behalten! Ziel des spirituellen Weges ist, jede Spur von Hochmut, Eifersucht, Haß, Habgier etc. aus dem Bewußtseinsstrom zu tilgen und j e m a n d zu werden, der anderen nicht das geringste Unrecht zufügt. Unsere westliche Gesellschaft ist auf diese Art von Streben, das über ihr Fassungsvermögen zu gehen scheint, nicht m e h r ausgerichtet. Warum sollte m a n die beiden Sehweisen dann nicht verbinden? Nichts spricht dagegen, daß ein Weiser die Segnungen der Medizin nutzt oder mit dem Flugzeug fliegt, doch er wird diese Annehmlichkeiten nie auf dieselbe Stufe stellen wie die spirituelle Suche. Das Spirituelle und das Vergängliche läßt sich - vorausgesetzt, man bleibt sich ihrer jeweiligen Bedeutung bewußt - auf intelligente und konstruktive Weise verknüpfen. J. F. - Es erscheint Dir also möglich, daß sich über die gegenseitige Toleranz hinaus eine Synthese vollziehen könnte und die westlichen Buddhisten - oder die in den Westen umgesiedelten Tibeter, Japaner, Vietnamesen etc. nicht bloß eine Art respektierter, aber abgesonderter Clan bleiben, sondern dazu beitragen, von innen heraus, und sei es langsam und unmerklich, die Anschauungen und Verhaltensweisen der westlichen Gesellschaft zu verändern, ohne daß diese sich von dem lossagt, was zweitausendfünfhundert Jahre lang ihre maßgebliche Ausrichtung gewesen ist? M. - Warum nicht? Alles hängt natürlich vom Interesse ab, das der Westen für die Prinzipien des Buddhismus an den Tag legen wird. Es sind die Ideen des Buddhismus, die dazu beitragen können, einen Mangel auszugleichen, nicht die buddhistische Kultur. Die westliche Welt benötigt keine 186
fünf Meter langen tibetischen Hörner, so originell sie auch sein mögen. Die Suche nach dem Wissen, das das Leid samt Wurzel beseitigt, betrifft dagegen jeden. J. F. - Du willst sagen: Um Buddhist zu werden, braucht man sich nicht den kulturellen Kontext anzueignen, in dem der Buddhismus entstanden ist und in dem er sich im Orient hat entfalten können. M. - Ich will sagen, daß die Essenz des Buddhismus nicht »buddhistisch«, sondern universell ist. Denn sie b e r ü h r t die grundlegenden Mechanismen des menschlichen Geistes. Der Buddhismus vertritt die Ansicht, jeder Mensch solle von da ausgehen, wo er sich befindet, und Methoden anwenden, die seinem Wesen und seinen persönlichen Fähigkeiten entsprechen. Diese Flexibilität, dieser Reichtum an Möglichkeiten könnten im Westen von Nutzen sein, ohne daß der Buddhismus deshalb seinen grundlegenden Werten abschwört. Es geht nicht darum, die Lehren des Buddhismus anzupassen, sondern darum, ihre Essenz verständlich zu machen, die keinerlei Anpassung nötig hat. Denn sie geht auf die grundlegendsten Sorgen jedes Menschen ein, an welchem Ort auch immer. J. F. - Das Interesse, das der Buddhismus im Westen hervorgerufen hat, scheint Dir also mehr als eine Mode zu sein, die rasch an ihre Grenze stößt. In Deinen Augen gibt es eine Übereinstimmung mit der allgemeinen westlichen Einstellung gegenüber dem Dasein. M. - Anders als bei einer Mode geht es, so meine ich, um die Kenntnisnahme einer besonders klaren Umschreibung der Daseinsprobleme. Der Buddhismus ist mit den geheimen Sehnsüchten eines jeden vereinbar. Daher könnte er zu einer Änderung der allgemeinen Einstellung beitragen, die »dem Haben« den Vorrang gegenüber »dem Sein« einräumt - einer Einstellung, die dem Buddhismus nicht gerade vernünftig erscheint. Es geht also darum, eine Rangordn u n g der Werte zu etablieren und der Suche n a c h dem inneren Glück die Priorität einzuräumen. J. F. - Es gibt ein anderes, näherliegendes Problem, das es zu berücksichtigen gilt: das des Buddhismus, der den 187
abendländischen Religionen auf deren »Territorium« gegenübersteht, so dem Christentum in seinen unterschiedlichen Abwandlungen, einschließlich der Orthodoxie, sofern auch orthodoxe Länder eines Tages in Kontakt mit dem Buddhismus kommen. M. - Das ist in der ehemaligen Sowjetunion seit langem der Fall, wo buddhistische B u r j a t e n und Mongolen mit orthodoxen Russen zusammenkommen. J. F. - Auch das J u d e n t u m gibt es, und den Islam, der gewissermaßen zu einer der westlichen Religionen geworden ist, so in Frankreich, wo er die zweitstärkste Religion des Landes ist. Dort gibt es mehr Moslems als Protestanten und J u d e n z u s a m m e n . Ich persönlich stelle diese Frage ohne jedes Eigeninteresse, da ich, obwohl katholisch geboren, in keiner Weise gläubig bin. Ich stelle sie vor allem aus kultureller Neugier. Besteht nicht eine Gefahr des Konflikts oder zumindest der Konkurrenz zwischen der buddhistischen Strömung und den Vertretern der etablierten abendländischen Religionen, da der Buddhismus doch, im Gegensatz zu ihnen, weder eine wesenhafte Seele kennt, die nach persönlicher Unsterblichkeit in einer anderen Welt streben kann, noch einen Gott, an den m a n Gebete richtet, damit er in den Lauf des Diesseits eingreift und uns im Jenseits empfängt? M. - Für eine solche Konkurrenz besteht überhaupt kein Grund. Um Aufsehen zu erregen, müssen sich beide d a r a n beteiligen! Wenn man von der einen Seite nicht versucht zu konkurrieren, erlischt die Konkurrenz von der anderen von selbst. J. F. - Das ist nicht sicher. Einige dieser Kollegen könnten als Konkurrenten reagieren und Euch Euren Einfluß übelnehmen, selbst wenn Ihr nicht versucht, ihn auszudehnen. M. - Alles hängt von ihrer geistigen Offenheit ab. Der Buddhismus versucht n i e m a n d e n zu bekehren. Daß eine w a c h s e n d e Zahl von Menschen im Westen eine Affinität zum Buddhismus empfindet, mag manche verärgern. Doch die Konfliktgefahren sind gering, da die Buddhisten immer darauf bedacht sind, jede Mißhelligkeit, jede Reibung zu 188
meiden und den gegenseitigen Respekt zu fördern. Ich habe das Glück gehabt, mit seiner Heiligkeit, dem Dalai Lama, die Grande Chartreuse zu betreten. Seit der Gründung des Klosters im 11. Jahrhundert, so sagte m a n uns, sei - außer den Mönchen - nicht mehr als rund zwanzig Personen der Zutritt gewährt worden. Als wir im TGV Richtung Grenoble reisten, wo der Dalai Lama Vertreter der Wissenschaft treffen und an der Universität einen Vortrag halten sollte, habe ich ihn d a r a u f h i n gewiesen, daß hinter dem Berg, an dem wir entlangfuhren, Mönche in Stille und Zurückgezogenheit lebten. Das hat ihn sofort interessiert, und er hat den Bürgermeister von Grenoble gefragt, ob es möglich wäre, diese Mönche zu treffen. Also ist ein Bote zur Grande Chartreuse geschickt worden, und der Superior hat geantwortet, er würde sich glücklich schätzen, den Dalai Lama zu treffen, w e n n es nicht aus Motiven der Publizität wäre! Um den Journalisten aus dem Weg zu gehen, hat der Bürgermeister von Grenoble so getan, als gebe er in seinem Amtssitz ein Mittagessen für den Dalai Lama. Statt zu ihm zu fahren, haben wir einen Hubschrauber genommen, der uns - den Dalai Lama, einen seiner Mönche und mich als Dolmetscher - im Gebirge, ein p a a r hundert Meter von der Chartreuse entfernt, abgesetzt hat. Der Superior und ein Mönch erwarteten uns am Tor. Eine Stunde lang, die r a s c h verging, h a b e n wir uns in einem kleinen Raum unterhalten. Das Gespräch hatte ausschließlich das kontemplative Dasein zum Thema, die Art und Weise, wie die Mönche in der Chartreuse und in Tibet ihre Exerzitien begingen, zu welcher Stunde sie beteten, was passierte, wenn ein Mönch s t a r b , wie sich das Gebet in reine Meditation verwandelte etc. Sie merkten, wie sehr sich die Modalitäten des Eremitendaseins bei beiden ähnelten. Der Superior hat sogar im Scherz gesagt: »Entweder haben die kontemplativen Christen und Tibeter vor mehr als tausend J a h r e n Kontakt gehabt, oder sie haben denselben Segen von oben erhalten!« Das Treffen w a r zugleich heiter und inspirierend. Sie sprachen dieselbe Sprache, die 189
des kontemplativen Daseins. Danach hat der Dalai Lama gefragt, ob wir uns in der Kapelle v e r s a m m e l n könnten, was wir auch eine Viertelstunde lang taten. Dann hat er das mit schönen Noten verzierte Stundenbuch betrachtet und sich verabschiedet. Später hat er mir gesagt, dieser Besuch sei für ihn der interessanteste Augenblick seines Frankreich-Aufenthalts gewesen. Zwischen spirituell Praktizierenden v e r s p ü r e m a n keine Barriere. Sie verstünden einander vollkommen. Deshalb glaube ich auch, daß sich Schwierigkeiten n u r unter denen ergeben können, die das kontemplative Dasein vernachlässigen und sektiererische intellektuelle Standpunkte einnehmen. J. F. - Dieser Bericht über Euren Besuch in der Grande Chartreuse ist sehr interessant und ermutigend. Jenseits der Mönchszirkel wird die Beseitigung des sektiererischen Standpunkts aus den menschlichen Verhaltensweisen jedoch ganz allgemein eine harte Aufgabe sein. Hoffen wir, daß es Euch gelingt. M. - Wohin sich der Dalai Lama auch wendet, überall bittet er die Organisatoren, Vertreter aller Religionen vor Ort einzuladen. In Frankreich w a r e n d a h e r unter den ersten Persönlichkeiten, denen wir in Grenoble, Marseille, Toulouse etc. begegneten, neben dem Bürgermeister und dem Präfekten immer der Bischof, ein Rabbiner, ein Imam oder ein Pope zugegen. Der Dalai Lama n a h m sie immer gleich bei der Hand, und das Eis war gebrochen. Er meint, daß die Gräben, die die Religionen zu trennen scheinen, nur einem Mangel an Kommunikation zuzuschreiben seien. J. F. - Das ist ein bißchen optimistisch. Die Haltung des Dalai Lama ist b e w u n d e r u n g s w ü r d i g . Leider h a b e n die Religionen, und im übrigen auch die Philosophien, in der Weltgeschichte öfter ihre sektiererische Seite zum Ausdruck gebracht als ihren Sinn für Austausch und Toleranz. M. - Dieses Religionsverständnis, das einige Völker im Laufe der J a h r h u n d e r t e dazu verleitet hat, die Religionen zum Zwecke der Unterdrückung und der Eroberung auszunutzen, wird immer beklagenswerter. Christus selbst hat 190
sich zu nichts anderem als der Nächstenliebe bekannt. Ich persönlich glaube nicht, daß er die Kreuzzüge und die Religionskriege gutgeheißen hätte. Und w a s die Inquisition anbelangt - wie h a b e n die, die sie praktiziert h a b e n , es wagen können, sich Christen zu nennen? J. F. - Es gibt eine Frage, auf die Du nicht geantwortet hast. Der Besuch in der Grande Chartreuse macht in meinen Augen offensichtlich, daß das Ideal des Buddhismus letzten Endes das Klosterleben ist. Vielleicht nicht das Eremitendasein, weil das, glaube ich, ein Nomadendasein ist, oder? M. - In der tibetischen Welt ist der ein Mönch, der auf Gesellschaft und Familienleben verzichtet hat, wörtlich »der, der von einem Zuhause zu einem Leben ohne Zuhause ü b e r g e g a n g e n ist«. Die Klöster sind jedoch offene Gemeinschaften. Die Laien kommen in großer Zahl dorthin, um den spirituellen Meistern zu begegnen und ihre Unterweisungen zu hören. Ein Eremit dagegen widmet sich voll und ganz dem kontemplativen Dasein und lebt allein oder zusammen mit einer kleinen Gruppe, die ihre Zurückgezogenheit ableistet, fernab in den Bergen und Wäldern. Ob er nun Mönch ist oder nicht: der Eremit legt im allgemeinen das Gelübde ab, drei, fünf oder mehr Jahre in der Zurückgezogenheit zu verbringen, ohne j e m a n d e m zu begegnen, a u ß e r denen, die die Zurückgezogenheit mit ihm teilen. Ebenso gibt es Eremiten, die von einer Eremitage zur nächsten ziehen, ohne sich irgendwo niederzulassen. J. F. - Ob es sich nun um das Kloster- oder das Eremitendasein handelt: die wenigen, mir bekannten Schriften des Buddhismus und meine Reiseerfahrungen - die ich dank Deiner in Darjeeling, Bhutan oder hier in Nepal und aus eigenem Antrieb in J a p a n gemacht habe - vermitteln mir den Eindruck, daß das Kloster- und Eremitendasein letztlich das Ideal der buddhistischen Weisheit ist. Reduziert das nicht ihre Fähigkeit, in alle Aspekte einer Zivilisation, die, wie die unsere, im wesentlichen weltlich ist, aufzugehen? Macht das aus dem Buddhismus nicht eine Randerscheinung aus Berufung? 191
M. - Die Entscheidung f ü r ein Kloster- oder Eremitendasein ist ein Zeichen dafür, daß unser ganzer Geist der spirituellen Praxis zugewandt ist. Beim Ablegen der Klostergelübde habe ich ein ungeheures Freiheitsgefühl empf u n d e n : Endlich konnte ich j e d e n Augenblick meines Daseins das tun, was ich wünschte. An diesem Tag hat mir mein Meister gesagt: »Du hast großes Glück, die Gelübde auf Dich genommen zu haben.« Es gibt jedoch alle möglichen Abstufungen zwischen einem Dasein der Entsagung und einem Durchschnittsleben im Westen. Die Ideen des Buddhismus können unseren Geist sehr stark durchdringen und ä u ß e r s t wohltuende Wirkungen auf uns h a b e n , ohne daß wir deshalb auf unsere Aktivitäten verzichten müßten. In Tibet, wo vor der chinesischen Invasion bis zu zwanzig Prozent der Bevölkerung in Ordensgemeinschaften lebten, w a r das Mönchsleben weit entwickelt. Ich stimme zu, daß m a n Vergleichbares im Westen kaum erwarten kann! Trotzdem glaube ich nicht, daß dieser Aspekt dort ein Hindernis f ü r das Verständnis des Buddhismus darstellt. Man k a n n sehr wohl ein reiches spirituelles Leben führen, wenn man nur ein p a a r Minuten oder eine Stunde pro Tag einer kontemplativen Übung widmet. J. F. - Wie läßt sich das mit den alltäglichen Aktivitäten in Einklang bringen? M. - Man unterscheidet »Meditation« und »Nach-Meditation«. Die Meditation besteht nicht einfach darin, sich ein paar Augenblicke hinzusetzen, um selige Ruhe zu erlangen. Sie ist eine analytische und kontemplative Methode, die es erlaubt, das Funktionieren und das Wesen des Geistes zu verstehen und die Seinsweise der Dinge zu erfassen. Die sogenannte Nach-Meditation soll verhindern, daß man dieselben Gewohnheiten wie vorher wieder a u f n i m m t . Sie besteht darin, im täglichen Leben das während der Meditation Begriffene umzusetzen, um eine größere Offenheit des Geistes, mehr Güte und Geduld zu erlangen, kurz, um ein besserer Mensch zu werden. Genau das spielt sich auch in der tibetischen Laiengemeinschaft ab, die in Symbiose mit der Klostergemeinschaft und den spirituellen Meistern lebt. 192
Sie nährt sich von dieser Inspiration, um das Alltagsdasein besser zu bewältigen. J. F. - Die abendländischen Philosophien und Religionen bieten im Prinzip aber auch die Möglichkeit, nach der Philosophie oder Religion seiner Wahl zu leben und sich gleichzeitig aktiv in seiner Zeit zu engagieren. Viele Geistliche sind Staatsmänner, Schriftsteller, Künstler, Philosophen und Forscher gewesen, selbst außerhalb ihrer Religion. Piatons T r a u m w a r der Philosophen-König, in seinen Augen die Garantie für eine gute Regierung des Stadtstaats. Wenn die Welt, wie der Buddhismus behauptet, nur eine Illusion ist, ein Strom von Bildern, die keine Realität haben, genausowenig wie das Ich, wozu soll es dann noch gut sein, Direktor eines Unternehmens, politischer Führer oder Forscher zu werden? Das brächte doch nichts! Das hieße doch, sich zum Komplizen einer erlogenen Illusion zu machen. M. - Für einen Eremiten h a b e n die gesellschaftlichen Aktivitäten, offen gestanden, nicht viel Sinn, sie ähneln Kinderspielen. Dennoch möchte ich die Bedeutung des Wortes »Illusion« im Buddhismus, die im Westen schwer nachvollziehbar zu sein scheint, an dieser Stelle genauer erklären. Für uns, die wir diese Illusion leben, ist die Welt so wirklich, wie sie nur sein kann. Doch genauso wie Eis nur verfestigtes Wasser ist, ist die Beständigkeit, die wir der Welt zuschreiben, nicht ihre äußerste Realität. Trotz des illusorischen Wesens der Welt sind die Gesetze von Ursache und Wirkung unanfechtbar. Ebenso werden die Physiker sagen, daß die Elektronen keine kleinen Kanonenkugeln, sondern Energiekonzentrationen sind. Diese Versicherung mindert in keiner Weise die Notwendigkeit, die Medizin fortzuentwickeln, die Leiden zu lindern und die alltäglichen Schwierigkeiten zu lösen! Auch w e n n das Selbst nur ein Betrug ist und die äußere Welt nicht aus Entitäten mit eigener Existenz besteht, ist es völlig gerechtfertigt, mit allen verfügbaren Mitteln dem Leid abzuhelfen und alle verfügbaren Mittel zu nutzen, um den Wohlstand zu erhöhen! Der Gelehrte, der begreift, daß wir nur aus Teilchen gemacht sind, die sich auf Energie beschränken, 193
wird Glück und Leid deshalb auch nicht gleichgültig gegenüberstehen. J. F. - Einmal mehr bin ich verblüfft über die Analogie dieser Theorie mit der Philosophie Kants: Die Erscheinung ist kein Ding an sich und doch u n s e r e Realität. Du hast meine Frage beantwortet. Ich werde Dir noch eine letzte stellen, zugegeben, eine Scheinfrage, die jedoch bei den Kommentatoren und Historikern des Buddhismus, wie ich gemerkt habe, klassisch ist. Wenn das tätige Selbst und der Einfluß, den das Selbst auf das Wirkliche haben kann, nur eine Illusion sind, was wird dann aus der moralischen Verantwortung? Ich bin nichts, also bin ich nicht verantwortlich. Daraus ergibt sich, wie mir scheint, ein Widerspruch, von dem ich hoffe, daß er n u r scheinbar ist: ein Widerspruch zwischen dem Buddhismus als Ethik, als Moral und dem Buddhismus als Metaphysik. M. - Die buddhistische Praxis u m f a ß t drei e i n a n d e r e r g ä n z e n d e Aspekte: die Vorstellung, die Meditation und das Handeln. Die »Vorstellung« entspricht der metaphysischen Perspektive, der Erforschung des äußersten Wesens der Dinge, der Erscheinungswelt und des Geistes. Sobald diese Vorstellung erstellt ist, besteht die Aufgabe der »Meditation« darin, sich mit ihr vertraut zu machen und sie durch die spirituelle Praxis in den Strom unseres Bewußtseins zu integrieren, so daß diese Vorstellung eine zweite Natur wird. Das »Handeln« in der ä u ß e r e n Welt ist Ausdruck des inneren Wissens, zu dem man durch Vorstellung und Meditation gelangt ist. Es geht darum, dieses Wissen unter allen Umständen anzuwenden und aufrechtzuerhalten. Hier kommt nun die Ethik oder die Moral zur Geltung. Diese Ethik verliert nicht an Gewicht, wenn man das illusorische Wesen der Welt erfaßt hat. Haben sich die Augen der Erkenntnis erst geöffnet, nimmt m a n die Mechanismen von Ursachen und Wirkungen noch klarer und deutlicher wahr, und man weiß, was man sich aneignen und was man meiden sollte, um weiter auf dem Weg fortzuschreiten und den anderen das Glück zu bringen. J. F. - Entschuldige! Wenn ich als »Ich« nichts bin, bin ich 194
kein moralisch wirkendes Wesen. Und wenn ich kein moralisch wirkendes Wesen bin, wie kann ich dann verantwortlich sein für das Leid, das ich anderen zufüge? M. - Um die Vorstellung Kants, die Du zitiert hast, zu übertragen, könnte m a n sagen: »Das Ich hat keine Existenz an sich, dennoch ist es unsere Realität.« Wir haben vorhin den »Ich«-losen Bewußtseinsstrom mit einem Fluß ohne Boot verglichen. Es gibt demnach kein beständiges, dauerh a f t e s Selbst, das wie ein Boot auf diesem Fluß f a h r e n könnte. Dennoch kann das Wasser eines Flusses mit Zyanid verseucht sein oder aber so rein, kristallklar und durststillend wie das eines Gebirgsbaches bleiben. Die Tatsache, daß es keine Identität der Person gibt, verhindert also nicht, daß jede Handlung ein Resultat hat. J. F. - Ja, aber Vorsicht! Die moralische Verantwortung leitet sich nicht von einem unvermeidlichen Kausalzusamm e n h a n g ab. Im Gegenteil, die Vorstellung moralischer Verantwortung taucht dann auf, wenn ein Zusammenhang zwischen einem Täter und den Konsequenzen seiner Tat besteht, die nichts Unvermeidliches ist. Das ist der Moment, wo der Handelnde die Wahl zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten hat. M. - Die Kontinuität des Bewußtseins sorgt f ü r den Z u s a m m e n h a n g zwischen dem Moment der Tat und dem Moment seiner glücklichen oder unglücklichen Konsequenzen. Die hinduistische Philosophie hat dem Buddhismus ein Argument entgegengesetzt, das Deinem ähnelt: Wenn es kein Selbst gibt, ist der, der das Resultat der Taten lebt, nicht mehr dieselbe Person. Wozu soll es dann gut sein, das Böse zu meiden und das Gute zu tun? Darauf antwortet der Buddhismus mit einem Gleichnis: Ein Mann läßt oben von einer Terrasse, wo er gerade zu Abend ißt, einen Kerzenleuchter fallen. Das Feuer entzündet das Stroh seines Hauses, und der Brand erfaßt nach und nach das ganze Dorf. Unter Anklage gestellt, entgegnet er seinen Richtern: »Ich bin nicht verantwortlich: Das Feuer, bei dessen Licht ich gegessen habe, ist nicht dasselbe wie das, das den Weiler verbrannt hat.« Dennoch ist er der Brandstifter. Auch ohne 195
ein individuelles, als selbständige Entität v e r s t a n d e n e s Selbst hat das, was wir gegenwärtig sind, seinen Ursprung in u n s e r e r Vergangenheit: Es gibt eine Vergeltung der Taten. Der wichtigste Punkt ist d e m n a c h die Kontinuität, nicht die Identität. Eine negative Tat wird kein Glück verursachen, genauso wie ein Schierlingssame einen Schierling hervorbringt und keine Linde. Die Tatsache, daß eine positive oder negative Handlung ein entsprechendes Ergebnis hat, das sich in Glück oder Leid niederschlägt, rechtfertigt, d a ß m a n sie a u s f ü h r t oder vermeidet - selbst w e n n der Betreffende kein dauerhaftes Selbst besitzt.
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Buddhismus und Abendland
- Alle Fragen, die wir angeschnitten haben, alles, was Du dargelegt hast zu Metaphysik, Erkenntnistheorie und Kosmologie des Buddhismus, zu den Wirkungen dieser großen philosophischen und metaphysischen Konstruktionen auf die F ü h r u n g der menschlichen Existenz, all das ist bei den Buddhisten von heute Gegenstand angeregter, lebhafter Debatten. Für sie ist das keine Philosophie- oder Ideengeschichte, sondern in der Gegenwart gelebte Philosophie und Metaphysik, genauso wie die Schüler von Sokrates und Piaton sie im Athen des 5. und 4. J a h r h u n d e r t s vor Christus lebten. Öffentliche Debatten dieses Ausmaßes über derartige Themen sind im Abendland seit langem verschwunden. Die Philosophien bleiben, offenbaren sich jedoch nicht m e h r in dieser Weise. Zwar sind in Paris kürzlich »Kaffeehaus-Philosophen« aufgetaucht, die bei freiem Eintritt öffentlich tagen. Doch das Niveau der von ihnen angeregten Debatten ist kaum höher als das am Tresen. Hat nicht - trotz der u n b e s t r e i t b a r e n Erfolge des Westens auf anderen Gebieten und in anderen Bereichen - diese Leere, dieses Fehlen einer Diskussion, die Interesse verdient, die erstaunliche Neugier hervorgerufen, die dem Buddhismus in jüngster Zeit im Abendland entgegengebracht wird? Das läßt mich an einen Satz des englischen Historikers Arnold Toynbee denken, der gesagt hat: »Eines der bedeutsamsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts wird die Ankunft des Buddhismus im Abendland sein.« MATTHIEU - Das Interesse für den Buddhismus hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zunächst bietet er jenen, die sich auf das spirituelle Dasein einlassen und einen Hauptbestandteil ihres Lebens d a r a u s m a c h e n möchten, nicht nur eine lebendige Metaphysik und Weisheit, sondern auch die Mittel, um diese Weisheit in ihr Sein zu integrieren. JEAN-FRAN^OIS
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Überdies - und hier kann der Buddhismus dem Westen vielleicht am meisten bringen - bietet er allen, ob gläubig oder nicht, eine Anschauung von Toleranz, geistiger Öffnung, Altruismus und ruhigem Vertrauen sowie eine Wissenschaft des Geistes, die uns hilft, u n s e r e n eigenen inneren Frieden aufzubauen und für die anderen den Weg dorthin zu ebnen. Außerdem bietet der Buddhismus seine Ideen n u r an und versucht nicht, sie a u f z u d r ä n g e n oder gar irgendwen bekehren zu wollen. Er schlägt einfach vor, eine Erfahrung mit denen zu teilen, die das wollen. J. F. - Es gibt keinen buddhistischen Bekehrungseifer oder gar erzwungene Konversionen? M. - Der Dalai Lama sagt oft: »Ich bin nicht in den Westen gekommen, um ein oder zwei Buddhisten mehr zu gewinnen, sondern einfach um meine Erfahrung mit einer Weisheit zu teilen, die der Buddhismus im Laufe der J a h r h u n derte entwickelt hat.« Am Ende seiner Reden fügt er stets hinzu: »Wenn Sie etwas Nützliches in dem finden, was ich Ihnen gesagt habe, profitieren Sie davon, ansonsten lassen Sie es bleiben!« Er geht so weit, den tibetischen Lamas, die auf Reisen gehen, zu raten: »Legen Sie nicht den Schwerpunkt auf die Lehre des Buddhismus, bieten Sie Ihre Erfahr u n g an, von Mensch zu Mensch.« Wenn m a n versucht, j e m a n d e n zu bekehren, kann es nicht n u r passieren, daß m a n scheitert, sondern auch, daß m a n unwillentlich den Glauben dieser Person an ihre eigene Religion schwächt. Ein solcher Weg ist also zu meiden. Besser ist, die Gläubigen zu ermutigen, ihren eigenen Glauben zu vertiefen. Kurz, es geht nicht d a r u m zu b e k e h r e n , sondern d a r u m , zum Wohl der anderen beizutragen. Jeder, der es wünscht, kann sich jedoch nach Belieben auf den Buddhismus einlassen, sofern er eine besondere Affinität für diesen spirituellen Weg empfindet. Er wird dann ernsthaft lernen und praktizieren müssen und sein Bemühen konsequent zu Ende führen, so wie jemand, der beim Ausheben eines Brunnens nicht aufgibt, bis er auf Wasser gestoßen ist. Obwohl m a n eine offene, tolerante Einstellung gegenüber den a n d e r e n Spiritualitäten bei198
behält, ist es zweckmäßig, sich der zu weihen, die m a n gewählt hat. Es wäre unnütz, zehn Brunnen bis zur Hälfte auszuheben, ohne je zum ersehnten Wasser vorzudringen. Mehrere hundert Teilnehmer aus dem Westen haben die traditionelle, drei J a h r e , drei Monate und drei Tage dauernde Zurückgezogenheit abgeleistet, der sich die Praktizierenden des kontemplativen Buddhismus in Tibet unterziehen. W ä h r e n d dieser drei J a h r e isolieren sich die Anwärter in kleinen Gruppen von der Welt und geben sich intensiv der Praxis hin, studieren ein oder zwei Stunden pro Tag die Philosophie und die Schriften über das kontemplative Dasein und lernen manchmal Tibetisch. In der übrigen Zeit zwischen Morgengrauen und Abenddämmerung versuchen sie, das Gelernte in ihr intimes Sein, ins Innerste ihrer Selbst zu integrieren. J. F. - In ihr Sein? Welches Sein? M. - Sagen wir in den Strom ihres Denkens. Man m u ß darauf achten, daß die Philosophie umgesetzt wird und nicht reine Theorie bleibt. Wir h a b e n zum Beispiel die Techniken erwähnt, die darauf abzielen, die Gedanken im Moment ihres Auftauchens zu »befreien«, damit sie sich nicht a n e i n a n d e r r e i h e n und so stark vermehren, daß sie den Geist überschwemmen. J. F. - Befreien? Eher disziplinieren, oder? M. - Wir haben gesehen, wie man die Gedanken disziplinieren kann, indem m a n spezifische Mittel gegen die negativen Gefühlsregungen einsetzt. Man kann, und das ist eine g r u n d l e g e n d e r e Methode, einen Gedanken aber auch befreien, indem m a n ihn im Moment seines Erscheinens »anschaut«, zu seinem Ursprung vordringt und feststellt, daß er keine Beständigkeit hat. In dem Moment, wo man seinen Blick so auf ihn richtet, löst er sich wie ein im Raum verblassender Regenbogen auf. Der Gedanke wird insofern »befreit« oder »aufgelöst«, als er keine Kettenreaktion mehr hervorrufen wird. Die Gedanken vergehen, ohne Spuren zu hinterlassen, und offenbaren sich nicht mehr in Worten oder Taten, die - wie Wut, Haß etc. - der gewöhnliche Ausdruck einer Gefühlsregung sind. Welche Bedingungen 199
auch h e r r s c h e n mögen: m a n gerät nicht m e h r u n t e r das Joch der Gedanken. Es ist wie bei einem erfahrenen Reiter, dem es anfangs schwerfiel, sich im Sattel zu halten, und der später wie die tibetischen Reiter in der Lage ist, in vollem Galopp einen Gegenstand vom Boden a u f z u h e b e n , ohne vom Pferd zu fallen. J. F. - Nun, ich schiebe hier einen kleinen Kommentar ein. Ich gebe zu, daß der Buddhismus die Selbstdisziplin auf neue Art darstellt, in einer für den Westen neuen Sprache. Trotzdem ist diese Übung im Abendland keineswegs unbekannt! In allen abendländischen philosophischen Lehren wird ein ganz klarer Unterschied zwischen dem desorganisierten und dem organisierten Denken gemacht. Wir wissen sehr wohl, daß es einerseits ein desorganisiertes Denken gibt, das sich auf vollkommen zufällige Weise dem Fluß der Ideenassoziationen überläßt, und andererseits ein organisiertes Denken, das gelenkte, dirigierte, disziplinierte Denken, zum Beispiel das m a t h e m a t i s c h e Denken, wo j e d e Beweisführung von der Logik des konstruierten Denkens gesteuert wird. Im Abendland gibt es große Logiker. Von Aristoteles über Leibniz bis hin zu Bertrand Russell ist die Kunst, sein Denken zu lenken, ohne es der Willkür der Ideenassoziationen zu überlassen, seit jeher eine Disziplin gewesen. Sie war sogar eines der Hauptziele der philosophischen Schulung! M. - Glaubst Du, Mathematiker und Logiker sind weniger anfällig für verwirrende Gefühlsregungen? Ich wünsche es ihnen. Wie dem auch sei, der Buddhismus, ich h a b e es betont, behauptet nicht, etwas Neues zu entdecken, sondern er setzt im Unterschied zu anderen spirituellen und philosophischen Traditionen unserer Zeit das theoretische, intellektuelle Verstehen auf extrem lebendige und energische Weise in die Praxis um. Dieser Aspekt effektiver Verwirklichung hat sicher die angezogen, die Interesse am metaphysischen Standpunkt hatten, aber nicht sahen, wie m a n ihn im Alltagsleben umsetzen konnte, um i n n e r e n Frieden zu finden. J. F. - Kann sich der Buddhismus an alle wenden, selbst 200
an die, die sich nicht für ein Leben in der Zurückgezogenheit oder im Kloster entscheiden können oder wollen? M. - Das ist ein anderer interessanter Gesichtspunkt. Aufgrund familiärer und beruflicher Verpflichtungen ist kaum j e m a n d in der Lage, sich isolieren zu können oder es auch nur zu wollen, um drei J a h r e lang an der Zurückgezogenheit teilzunehmen oder in ein Mönchskloster einzutreten! Die Techniken der geistigen Wandlung können jedoch zu jedem Zeitpunkt des Daseins angewandt werden und denen, die ein ganz gewöhnliches Leben f ü h r e n , erlauben, den größten Nutzen d a r a u s zu ziehen. Der Buddhismus ist in erster Linie eine Wissenschaft des Geistes. Schon allein deshalb k a n n er auf zahlreiche gesellschaftliche Fragen antworten: dank seiner Toleranz und seiner Reflexion über die Gewaltlosigkeit gegenüber Lebewesen und Umwelt. Es gibt also einen Weg für jeden, ob Mönch oder Laie. In Asien legt der Buddhismus weiterhin eine große Vitalität an den Tag. So haben die tibetischen Flüchtlinge in Indien und Nepal trotz ihrer totalen Mittellosigkeit vor dreißig J a h r e n - wieder Klöster gebaut, sobald sie es konnten. Für diese Klöster gibt es Anwärter in Hülle und Fülle, die dort lernen wollen. Zehn Prozent der e i n h u n d e r t d r e i ß i g t a u s e n d tibetischen Flüchtlinge in Indien sind bereits wieder in Klöstern! J. F. - Und im Westen? M. - Der Buddhismus erregt ein wachsendes Interesse, das auf dem Wunsch nach Austausch und Öffnung beruht. Man studiert ihn nicht unbedingt, um Buddhist zu werden, sondern zuweilen auch, um die Praxis seiner eigenen Religion besser zu verstehen oder um - vielleicht mit Hilfe bestimmter, vom Buddhismus angebotener Techniken - in ihr die Wahrheit und innere Kraft wiederzuentdecken. J. F. - Bezeichnet man das nicht als Synkretismus, das heißt als Vermischung verschiedener Lehren? Der Synkretismus ist nicht die höchste Stufe des Denkens. M. - Sicher nicht. Der Dalai Lama hat betont, es nütze nichts, »den Kopf eines Yaks auf einen Schafskörper kleben« zu wollen. Der Synkretismus k a n n die spirituellen Traditionen, die er zu vermischen sucht, nur verwässern, 201
wenn nicht gar entstellen. Ich habe auf bestimmte Techniken der Beherrschung des Geistes und der Kontemplation hingewiesen, die von universeller Bedeutung sind. 1994 ist der Dalai Lama eine Woche nach England eingeladen worden, um die Evangelien zu kommentieren. Anfangs hat er sich gefragt: »Wie werde ich vorgehen, da ich die Evangelien n u n einmal nicht studiert h a b e ? Wie w e r d e ich vom Prinzip eines göttlichen Schöpfers ausgehen, den wir im Buddhismus nicht in Betracht ziehen? Das erscheint mir ein bißchen schwierig. Trotzdem, laßt es uns versuchen! Warum nicht?« Also hat er vor einem Publikum aus Geistlichen und Laien Passagen aus den Evangelien kommentiert. Das Erstaunlichste war, daß zu Tränen gerührte christliche Priester, Mönche und Klosterbrüder, während er die Evangelien vorlas und kommentierte, den Eindruck hatten, bestimmte Passagen, die sie ihr ganzes Leben über gelesen hatten, zum ersten Mal zu hören! Warum? Weil ein jeder, wenn der Dalai Lama von Liebe und Mitleid sprach, spürte, daß diese Worte der direkte Ausdruck seiner E r f a h r u n g w a r e n , daß er lebte, w a s er sagte.* Die Menschen im Westen sind empfänglich für diesen lebendigen Aspekt der Tradition. Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben von Sogyal Rinpoche hat eine Auflage von fast einer Million Exemplare erreicht und ist in sechsundzwanzig Sprachen übersetzt worden. J. F. - Ist das ein altes, klassisches Buch? M. - Nein, das ist nicht die Übersetzung des Klassikers Das tibetische Buch der Toten, des Bardo Thödol, der den Zustand des Übergangs nach dem Tod erklärt. Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben ist eine einfache, unmittelbare Erläuterung der tibetischen Weisheit, unterbrochen von autobiographischen Anekdoten über Sogyal Rinpoches Begegnungen mit seinen Meistern. Vor allem ist es a b e r ein Lehrbuch ü b e r das Leben: Wie sein Leben leben? Wie an den Tod h e r a n g e h e n ? Wie den Sterbenden * Dalai L a m a : Das Herz aller Religionen ist eins. Die Lehre Jesu aus buddhistischer Sicht. Aus d e m Englischen von Michael Wallosseck. H o f f m a n n u n d C a m p e Verlag, H a m b u r g 1 9 9 7 .
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helfen? Wie dem Dasein einen Sinn geben und es bewerkstelligen, d a ß ein guter Tod der Höhepunkt eines guten Lebens ist? J. F. - Es ist ebenfalls bezeichnend, daß sich die Philosophen der jungen Generation in Frankreich immer häufiger auf den Buddhismus beziehen. Ich halte das Buch L'homme dieu ou le sens de la vie* von Luc Ferry in Händen, einen b e m e r k e n s w e r t e n Essay, der Anfang 1996 erschienen ist und großen Erfolg hat. Er beginnt ausgerechnet mit einem Hinweis auf Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben und f ü h r t bestimmte Vorstellungen des Buddhismus, f ü r die der Autor e r n s t h a f t e s Interesse bekundet, n ä h e r aus. Dennoch erhebt er nach ein p a a r erläuternden Seiten einen grundlegenden Einwand, der besagt: »Gut! Das ist sehr gut. Das ist äußerst sympathisch, nicht wahr, dieser Rückzug in sich selbst, diese Flucht aus der Welt ... Allein, selbst mit viel Mitgefühl für die gesamte Menschheit, so läßt sich das Auschwitz- oder Bosnien-Problem nicht lösen!« Was hast Du diesem Einwand entgegenzusetzen? M. - Man m u ß ein Mißverständnis a u s r ä u m e n , das m a n auch bei Papst J o h a n n e s Paul II. antrifft. In seinem Buch Varcare la soglia della speranza** behauptet er, der Buddhismus sei der Ansicht, » m a n m u ß die Bande zerreißen, die u n s mit der ä u ß e r e n Wirklichkeit vereinen«, und »je mehr wir uns von diesen Banden befreien, um so gleichgültiger stehen wir den Dingen dieser Welt gegenüber«. Ebenso beschreibt er das Nirvana als »einen Zustand völliger Indifferenz gegenüber der Welt«. Da sie auf einem Mangel an Informationen b e r u h e n , sind das gewiß entschuldbare Sinnwidrigkeiten, die viele Christen und Buddhisten bedauert haben. Denn das Ziel des Buddhismus ist ein äußerstes Verständnis der ä u ß e r e n wie inneren Erscheinungswelt. * Titel d e r d e u t s c h e n A u s g a b e : Von der Göttlichkeit des Menschen oder Der Sinn des Lebens. Aus d e m F r a n z ö s i s c h e n von Bernd Wilczek. Zsolnay Verlag, MünchenAVien 1997. ** Titel d e r d e u t s c h e n A u s g a b e : Die Schwelle der Hoffnung überschreiten. Aus d e m Italienischen von Irene F.sters. H e r a u s g e g e b e n von Vittorio Messori. H o f f m a n n & C a m p e , H a m b u r g 1994.
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Sich der Wirklichkeit zu entziehen, ist keine Lösung. Das Nirvana ist das g e n a u e Gegenteil der Gleichgültigkeit gegenüber der Welt. Es ist unendliches Mitgefühl und unendliche Liebe gegenüber der Gesamtheit der Menschen. Ein Mitgefühl, das um so stärker ist, da es der Weisheit entspringt - dem Verstehen, daß jeder Mensch die »BuddhaNatur« in sich hat - und da es sich nicht, wie in der gewöhnlichen Liebe, n u r auf ein p a a r Menschen b e s c h r ä n k t . Das einzige, wovon m a n sich lossagt, ist die kindliche, egozentrische Neigung zu den endlosen Faszinationen der Jagd nach Vergnügen, Besitz, Renommee etc. J. F. - Johannes Paul IL denkt ebenso, daß für den Buddhismus die »Entfernung von der Welt der Sinne« ein Ziel an sich sei. M. - In Wahrheit ist das Ziel, nicht m e h r der Welt der Sinne unterworfen zu sein, nicht mehr unter ihr zu leiden wie der Schmetterling, der sich, angelockt von einer Flamme, in sie stürzt und stirbt. Wer frei von jeder Anhänglichkeit ist, kann nämlich nicht nur die Schönheit der Welt und der Menschen nach Belieben genießen, sondern auch in den Schoß dieser Welt zurückkehren, um dort, ohne länger das Spielzeug seiner negativen Gefühlsregungen zu sein, ein unbegrenztes Mitgefühl zu entfalten. J. F. - Der Papst behauptet auch, »sich retten heißt« für den Buddhismus »vor allem: sich vom Bösen zu befreien, der Welt gegenüber gleichgültig zu werden, da sie die Quelle des Bösen ist«. M. - Alles hängt davon ab, was m a n als Welt bezeichnet. Wer würde sich nicht von ihr befreien wollen, wenn es die bedingte, leiderfüllte Welt derer wäre, die dem Nicht-Wissen ausgeliefert sind? Doch die Welt ist nicht schlecht an sich, da sie für den erwachten Menschen, für einen Buddha, »unendliche Reinheit« ist, »unveränderliche Vollkommenheit«. Kurz, daß die Karmelitermystik, wie Papst Johannes Paul II. behauptet, da beginne, wo die Überlegungen des Buddha aufhören, scheint ein wenig leichtfertig. Wie soll m a n von außen die Tiefe der Erleuchtung des Buddha beurteilen? Nach dem, was die Schriften sagen? »Die Wahrheit, 204
die ich gesehen habe, ist tief, friedlich, unbedingt, klar und frei von den Begrifflichkeiten des Intellekts«, hat der Buddha nach seinem Erwachen gesagt. Das scheint von anderer Natur zu sein als eine bloße »Überlegung«. Der Papst ü b e r n i m m t ein überholtes Verständnis, das zurückgeht auf die ersten Übersetzungen buddhistischer Schriften im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf der Grundlage lückenhafter Kenntnisse haben die Verfasser dieser ersten Exegesen das Beharren des Buddha auf dem Leid der bedingten Welt im Gedächtnis behalten und das Aufhören des Leids, das doch der Schlußpunkt eines Verstehens zum eigenen Wohl und zum Wohl der anderen ist, als ein Erlöschen begriffen. Zum Glück haben sich zahlreiche h e r v o r r a g e n d e Christen eine hohe Meinung vom Buddhismus gebildet. So z. B. der weithin bekannte amerikanische Trappistenmönch Thomas Merton, dessen Schriften in den Vereinigten Staaten große Ausstrahlung hatten und der von Papst Johannes XXIII. in den Orient entsandt worden war. Thomas Merton hat sich die Mühe gemacht, nach der Essenz des Buddhismus zu forschen. Nachdem er sich einige Zeit bei buddhistischen Meistern aufgehalten hatte, schrieb er in sein Asiatisches Tagebuch*: »Natürlich wäre ich glücklich, etwas aus eigener Erfahrung zu lernen. Es scheint mir, als seien die tibetischen Buddhisten die einzigen, die es bis jetzt auf eine beträchtliche Zahl von Menschen gebracht haben, die zu außergewöhnlichen Höhepunkten der Meditation und der Kontemplation gelangt sind.« W ä h r e n d des b e m e r k e n s w e r t e n , bereits e r w ä h n t e n Seminars über die Evangelien, das - so der Organisator, Benediktinerpater Laurence Freeman - »ein Modelldialog in gegenseitigem Zuhören« war, stellte der Dalai Lama, wie gewohnt, seine geistige Offenheit unter Beweis und erklärte: »Ich glaube, zwischen den buddhistischen und den christlichen Traditionen besteht eine außergewöhnliche * Aus d e m A m e r i k a n i s c h e n von Heinz G. Schmidt. Benziger Verlag, Zürich 1987.
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Übereinstimmung und ein Potential gegenseitiger Bereicherung über den Dialog, vor allem auf dem Gebiet der Ethik und der spirituellen Praxis - so bei den Praktiken des Mitgefühls, der Liebe, der Meditation und des Fortschritts in der Toleranz. Ich glaube auch, daß dieser Dialog sehr weit gehen und ein sehr tiefgründiges Niveau erreichen kann.« Er w a r n t e seine Zuhörer a b e r auch vor der Versuchung eines stets nutzlosen Synkretismus. J. F. - Kommen wir auf die Wirkungslosigkeit zurück, die m a n dem Buddhismus (und, offen gestanden, nicht n u r ihm) angesichts von Problemen wie in Bosnien vorwerfen kann. M. - »Wie Bosnien erklären?« Jedesmal, wenn dem Dalai Lama diese Frage gestellt wird, antwortet er, es seien die negativen Gefühlsregungen und der Haß, die derart zugen o m m e n h ä t t e n , daß sie völlig a u ß e r Kontrolle g e r a t e n seien. J. F. - Diese Erklärung ist etwas rhetorisch! Das ist eher eine Beschreibung als eine Erklärung. M. - Aber ist es nicht auch etwas rhetorisch zu sagen, der Buddhismus sei ohnmächtig angesichts der Schrecken in Bosnien? Es sind nämlich nicht seine Werte, die die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, sondern die des Abendlandes. Angenommen, Bosnien hätte sich vor einigen Jahrhunderten Werte wie die des Buddhismus zu eigen gemacht, und diese Werte prägten seine Kultur, dann w ä r e dort ein Konflikt dieser Art wahrscheinlich nicht a u s g e b r o c h e n . Grund des bosnischen Brandherdes war nämlich die Intoleranz. Die Religionen sind nicht genutzt worden, um die Harmonie zwischen den Volksgruppen zu fördern, sondern um den Haß anzuheizen und die einen gegen die anderen aufzubringen. Zwar haben Kriege auch buddhistische Länder wie Sri Lanka und Birma zerrissen, doch diese Kriege sind nie im Namen des Buddhismus g e f ü h r t worden: Sie sind denen zuzuschreiben, die sich von ihm distanzierten, ihn sogar bekämpften ... so den Kommunisten in Vietnam und den Tamilen in Sri Lanka. J. F. - Du mußt dem nicht beipflichten, was ich jetzt 206
sagen werde. Doch persönlich neige ich zu der Ansicht, daß die drei Religionen, die in Bosnien und ganz Ex-Jugoslawien koexistieren, das heißt der Islam, der Katholizismus und die orthodoxe Kirche, alle drei unzählige Beweise für ihre Intoleranz gegenüber anderen Religionen und den Freidenkern geliefert haben. Das sind eroberungssüchtige Religionen. Zahlreiche Texte, die den bosnischen Vertretern dieser drei Religionen zuzuschreiben sind, offenbaren im übrigen einen quasi offiziellen Wunsch, die anderen Religionen zu vernichten. Recht geben kann m a n Luc Ferry insofern, als der Buddhismus kein b r a u c h b a r e s Gegenmittel zur Bosnien-Frage oder zu a n d e r e n Dramen dieser Art beisteuern kann. Im übrigen sehe ich aber auch nicht, daß der vorgeblich rationale, dem effektiven Handeln zuneigende Westen das im Verlauf dieses langen Konflikts geschafft hätte. M. - Auf sämtlichen Treffen mit anderen Religionen hat der Dalai Lama immer betont, es seien die, die den Geist ihrer eigenen Religion verfälschten, die sie zum Zwecke der Unterdrückung benutzen. Die Nächstenliebe sei allen Religionen gemeinsam. Das dürfe genügen, ihre Differenzen in den Hintergrund zu drängen. J. F. - Was die Liebe anbelangt, so h a b e n die großen, weltbeherrschenden Religionen seit ihren Anfängen zwei Gegenstände des Hasses: die Untreuen und die Ketzer. Und sie kennen keine Hemmungen, sie auf die liebevollste Weise der Welt umzubringen. M. - Der Buddhismus hält es für einen schweren Fehler, die anderen Religionen geringzuschätzen, selbst wenn man einigen ihrer metaphysischen A n s c h a u u n g e n nicht beipflichtet. J. F. - Manchmal kommt einem zu Ohren: »Wie kann der Buddhismus dem Weltfrieden dienen? Das ist eine Philosophie der Gleichgültigkeit ohne jedes Interesse f ü r die Gesellschaft. Die Mönche leben allein in den Bergen und beten für die a n d e r e n . In Wirklichkeit können sie aber nichts für die Menschheit tun. Sie widmen sich ihrer persönlichen Vervollkommnung. Doch wozu ist das nütze?« M. - Der Teilnehmer an der Zurückgezogenheit isoliert 207
sich vorübergehend von der Welt, um spirituelle Kräfte zu sammeln, damit er den a n d e r e n besser helfen kann. Der spirituelle Weg beginnt mit einer inneren Wandlung. Erst wenn sie vollzogen ist, kann ein Individuum gebührend zur Veränderung der Gesellschaft beitragen. Wie der Buddhismus dem Weltfrieden dienen kann? Nehmen wir das Beispiel Tibets. Tibet hat als buddhistisches Land nie einen Religionskrieg geführt. Ständig predigt der Dalai Lama die Gewaltlosigkeit und schlägt in sehr konkreter Weise vor, aus seinem Land - sofern das kommunistische China es aus seinen Klauen freigeben will - eine Friedenszone zu machen. Er möchte einen Pufferstaat zwischen den größten Mächten des Orients schaffen: Das Dach der Welt befindet sich in der Tat zwischen China, Birma, Indien, Pakistan, der Mongolei und Rußland. Wenn Tibet seine Unabhängigkeit wiedererlangte und seine Neutralität erklärte, würde es ein wichtiger Stabilitätsfaktor in dieser Weltregion w e r d e n . Tibet w ü r d e auch eine Zone des Umweltschutzes werden: Die größten Flüsse Asiens - der Hwangho, der Jangtse, der Mekong, der B r a h m a p u t r a , der Indus etc. - entspringen in Tibet. Der Dalai Lama hat diese Idee wiederholt unterbreitet. J. F. - Verzeih mir, aber das sind die Ideen, denen alle Welt lebhaften Beifall spendet und die keiner in die Praxis umsetzt. M. - Ihre Verwirklichung hängt in diesem Fall nur davon ab, daß Tibet vom Joch der chinesischen Besetzung befreit wird. Wenn solche Ideen allzu oft scheitern, dann bloß, weil es unseren Machthabern an tiefer, unerbittlicher Entschlossenheit mangelt, alles für den Frieden zu tun. Warum kostet es so viel Zeit, um zur a t o m a r e n Abrüstung zu gelangen, zur Demilitarisierung der Nationen? Wie lange wird es dauern, bis es nur noch eine multinationale Streitmacht gibt, die nicht da ist, um Krieg zu führen, sondern nur um zu verhindern, daß die Nationen ihr Kriegspotential wieder aufbauen? J. F. - Das ist das Ziel der Vereinten Nationen! Warum scheitern sie? 208
M. - Der Dalai Lama sagt, die äußere Entwaffnung könne ohne die innere Entwaffnung nicht durchgeführt werden. Wenn das Einzelwesen nicht pazifistisch wird, wird eine Gesellschaft, die die Summe dieser Einzelwesen ist, es nie werden. Individuen, die sich für die Ideale des Buddhismus einsetzen und sie pflegen, können die Vorstellung, anderen wissentlich Schaden zuzufügen, nicht verstehen. Eine Gesellschaft, die sich in ihrer Mehrheit aus echten Buddhisten zusammensetzt, kann keine Kriege auslösen. J. F. - Das Ziel eines dauerhaften Friedens wäre demnach nur durch die Verbesserung der Individuen zu realisieren? M. - Das Gegenteil ist utopisch. Natürlich muß diese Verbesserung der Individuen allem voran unsere Machthaber mit einschließen! Der Dalai Lama weist immer wieder auf die u n a n n e h m b a r e Tatsache hin, daß sich die westlichen Nationen dem Waffenhandel hingeben - auf die Gefahr hin, daß anschließend mit den Waffen, die sie verkauft haben, auf sie geschossen wird! Es ist indiskutabel, daß westliche Länder, die sich als »zivilisiert« bezeichnen und vorgeben, den Frieden in der Welt zu sichern, aus kommerziellen Gründen todbringende Geräte verkaufen! Vorigen Monat habe ich j e m a n d e n getroffen, der bei der Entminung von Laos mitarbeitete. Er hat mir gesagt, daß die Fiat-Werke weltweit einer der größten Hersteller von Antipersonenminen sind. Und sie stellen sie jetzt - Ehre sei dem Fortschritt! - in Plastik her, ohne jedes Metallteil, damit m a n sie nicht orten kann. Der Generaldirektor und die Aktionäre von Fiat dürften sehr glücklich sein, wenn sie die Zahl der Frauen und Kinder erfahren, die noch Jahre nach Beendigung der Kriege auf diese Minen laufen. Vielleicht könnte Fiat jetzt ein bißchen m e h r Geld durch den Verkauf von Beinprothesen an die Überlebenden verdienen? Fünfundsechzig der fünfundachtzig Afghanen, die jeden Monat im Umkreis von Kabul von Minen verstümmelt werden, sind Kinder. Zehn Millionen Minen w a r t e n noch auf sie. Royal Ordinance in England und IBM in den Vereinigten Staaten stellen ebenfalls Einzelteile für diese Minen her. Diese Fir209
men könnten sich doch damit begnügen, durch den Verkauf von Autos und Computern reich zu werden. J. F. - Ich bin ganz Deiner Meinung! Das ist abscheulich. M. - Derzeit arbeiten acht Millionen Chinesen zehn bis fünfzehn Stunden pro Tag in den mehr als tausend Zwangsarbeitslagern, den Laogai*. Ein Drittel bestimmter gewerblicher Erzeugnisse, die China exportiert, stammen aus diesen Lagern. Auf die Zahlen hat der chinesische Dissident Harry Wu, der n e u n z e h n J a h r e in den Laogai v e r b r a c h t hat, ausführlich hingewiesen. Welche Sorte von Machthab e r n genehmigt den Import dieser Waren? Möchtet Ihr Euren Kindern zu Weihnachten Spielzeug schenken, das im Gefängnis hergestellt w o r d e n ist, auf Kosten von so viel Leid? Eine wirkliche Ethik k a n n n u r aus einer i n n e r e n Wandlung hervorgehen. Alles übrige ist nur Fassade. Der Dalai Lama sagt oft zu Journalisten: »Es ist sehr gut, den richtigen Riecher zu h a b e n und die Skandale des Staates aufzudecken. Ein zuverlässiger Politiker sollte nichts zu verbergen haben.« Wird man auf den endgültigen Zusammenbruch des asiatischen Kommunismus warten müssen, damit man offen von den chinesischen Gulags spricht? Vor dem Zweiten Weltkrieg hofierten, schonten und tolerierten die M a c h t h a b e r Hitler. Heute hofieren die derzeitigen Machthaber Li Peng und seinesgleichen. Das alles trifft auch auf die Umwelt zu. Der Dalai Lama spricht nicht nur von Gewaltlosigkeit gegenüber den Menschen, sondern auch gegenüber der Natur. In Bhutan ist das Fischen und Jagen im ganzen Land verboten, ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Ideale des Buddhismus auf gesamtgesellschaftlicher Ebene umsetzen lassen. Ein buddhistischer Staat würde das Verbot von vierzig Kilometer langen Schleppnetzen, die die Fische genauso fangen wie die Schildkröten oder Delphine und die das Meeresbiotop verwüsten, nicht einen Augenblick hinauszögern. Solche Ketzereien gegenüber der Umwelt stehen alle in Zusammen* Die Laogai sind G e f a n g e n e n l a g e r f ü r Z w a n g s a r b e i t , d e r e n Häftlinge meist im S e h n e l l v e r f a h r e n abgeurteilt w o r d e n sind. Die Laojiao sind Lager, wo o h n e Urteilsspruch inhaftierte G e f a n g e n e f ü r u n b e s t i m m t e Zeit a r b e i t e n .
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h a n g mit der Verlockung des Geldes und der Anmaßung, eine nicht kalkulierbare Menge von Tieren zu töten, weil m a n einfach die Macht hat, es zu tun. J. F. - Die Europäische Gemeinschaft hat solche Netze grundsätzlich verboten. M. - Doch vor allem Japan und Taiwan verwüsten weiter die Ozeane. J. F. - In dem, was Du gesagt hast, sind einige Gedanken charakteristisch für den Buddhismus, andere sind bereits von allen Menschen guten Willens g e ä u ß e r t worden. Die Idee, eine multinationale Streitmacht zu gründen, die die nationalen Streitkräfte kontrolliert, hat der Völkerbund zwischen den Weltkriegen gehabt. Heute wird sie vertreten von den Vereinten Nationen u n d von der Europäischen Gemeinschaft, die die nationalen Armeen in eine Art europäische Streitmacht integrieren will. Dieses Ideal taucht in regelmäßigen Abständen wieder auf, genauso wie es regelmäßig Abrüstungskonferenzen gibt. Weiter geht Deine Bemerkung, es stehe außer Frage, menschliche Gruppierungen d a r a n zu hindern, sich wie in Bosnien gegenseitig umzubringen, solange man nicht eine Wandlung der einzelnen herbeiführt und sie der Reihe nach gewaltlos macht. Also! Die Philosophien, die die Hoffnung auf einen weltweiten Frieden auf die Wandlung der menschlichen Natur stützen, sind sehr zahlreich. Ich würde sogar sagen, daß sämtliche Weisheitslehren, die großen Utopien und auch alle großen Religionen auf diese Möglichkeit gesetzt haben. Bis jetzt ist das immer fehlgeschlagen! Die Idee, die Menschen der Reihe nach zu Pazifisten zu machen, bis wir schließlich eine Menschheit haben, die der Gewalt in ihrer Gesamtheit feindlich gegenübersteht, scheint in der Praxis nicht realisierbar. Zumindest ist unser J a h r h u n d e r t auf diesem Weg kaum vorangekommen. M. - Gewiß, doch die Alternative einer Veränderung von » a u ß e n « , die darin besteht, widerspenstigen Individuen immer beengendere Gesetze, ja ein totalitäres System aufzuzwingen, ist nicht nur auf lange Sicht unrealisierbar, sondern von Grund auf falsch. Man kann die Schrauben eine 211
gewisse Zeitlang anziehen, doch die Geknechteten bringen ihre Unzufriedenheit letzten Endes immer zum Ausdruck und befreien sich vom Joch ihrer Unterdrücker, ob nun auf friedfertige oder gewaltsame Weise. Sie werden Wege finden, sich Waffen zu beschaffen, und sich ihrer bedienen. J. F. - Leider nicht nur die Unterdrückten! M. - Natürlich, die Menschen sind nicht vollkommen. Selbst in einem buddhistischen Land setzen sie die Grundsätze des Buddhismus nicht immer in die Praxis um. Dennoch w a r die tibetische Zivilisation eine im wesentlichen pazifistische. Viele Reisende haben die »buddhistische Sanftmut« hervorgehoben. Laut Andre Migot ist sie »kein leeres Wort, diese Sanftmut, die m a n um sich atmet und die allen, die in einem buddhistischen Land gelebt haben, aufgefallen ist. Das ist eine Haltung des Wohlwollens gegenüber allen Geschöpfen.«* J. F. - Gibt es eine Hoffnung, daß diese Haltung von der ganzen Menschheit angenommen wird? M. - Ich werde Dir ein Beispiel geben. Am 17. März 1989, einige Monate n a c h d e m der Dalai Lama den Nobelpreis erhalten hatte, beschloß das Volk von Lhasa, für die Unabhängigkeit von Tibet zu demonstrieren. Es wußte genau, was es erwartete, denn Lhasa ist von chinesischen Garnisonen umgeben. Es war die Zeit kurz vor Tiananmen. Rund zweihundert Tote hat es in Lhasa gegeben. Die Polizei hat in die Menge geschossen. Natürlich sagten die Chinesen: »Provokateure h a b e n die Polizei angegriffen. Es hat in erster Linie Verletzte unter den Ordnungskräften gegeben und elf Tote insgesamt.« Die ganze Welt hat ihnen geglaubt. Ich h a b e hier in Nepal f ü r Journalisten großer französischer Zeitungen, die auf der Durchreise in K a t m a n d u waren, ein Treffen mit Augenzeugen arrangiert, die kurz zuvor aus Lhasa geflüchtet w a r e n . Doch sie h a b e n nicht gewagt, d a r ü b e r zu schreiben, aus Furcht, zu einseitige Informationen erhalten zu haben. Zwei Monate später war * A n d r e Migot: Le Bouddha. Club F r a n c i s du Livre, 1 9 6 0 . C o m p l o x e , 1990.
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Tiananmen. Acht Tage darauf erklärten die Chinesen, daß nichts passiert sei, daß die Armee nicht geschossen habe etc. Vor kurzem noch hat die chinesische Regierung erneut b e h a u p t e t , es sei niemand getötet worden. Rückblickend hat das Blut von Tiananmen für das Blut von Lhasa gesprochen. Es hatte mindestens zweihundert Tote in Lhasa gegeben. Das Erstaunlichste im Verlauf dieser Konfrontation w a r jedoch, daß die Tibeter die erbeuteten chinesischen Gewehre nicht benutzten, um ihrerseits das Feuer auf die chinesische Armee zu eröffnen, sondern daß sie sie zerbrachen! Selbst in der Hitze des Gefechts haben sie sich also daran erinnert, w a s ihnen der Dalai Lama gesagt hatte: »Vor allem keine Gewaltakte. Sie können n u r eine Zuspitzung der Repression bewirken.« Die Gewaltlosigkeit hatte sich in ihr Sein eingeprägt. Dieses Beispiel h a t den Dalai Lama sehr ermutigt. Seine Botschaft war aufgenommen worden. Ein andermal suchte ein alter Mönch, der zwanzig J a h r e in chinesischen Gefängnissen gesessen hatte, den Dalai Lama in Indien auf. Während des Gesprächs fragte ihn der Dalai Lama, ob er während seiner langen, von Folterungen und Gehirnwäschen unterbrochenen Kerkerhaft Angst gehabt habe. Der Mönch antwortete: »Meine größte Angst war, meine Liebe und mein Mitgefühl für die zu verlieren, die mich folterten.« J. F. - Solche Beispiele zeigen in der Tat, daß der Buddhismus die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung seines Standpunktes, ja sogar zur wirkungsvollen Selbstverteidigung verabscheut. Die großen, uns bekannten Religionen haben sich dagegen allzu oft vom eigenen Ideal abgewendet. Auch das Christentum gründet zum Beispiel auf der Gewaltlosigkeit. Hat Christus nicht gesagt: »Wenn Dir jemand einen Streich gibt auf Deine Backe, dem biete die a n d e r e auch dar«, und: »Das gebiete ich Euch, daß Ihr Euch u n t e r e i n a n d e r liebet«? Dessen ungeachtet hat die Kirche ihre Zeit mit der Beseitigung von Bekehrungsunwilligen z u g e b r a c h t oder von Häretikern, die sich a n m a ß ten, Lehren zu verbreiten, die von denen des Papstes abwi213
chen - ja, die sich in wissenschaftliche Fragen einmischten, von denen die Kirche nichts verstand, so zur Zeit Galileis in die Frage, ob sich die Erde um sich selbst drehe oder nicht. Die Fähigkeit des Menschen, sich in krassem Widerspruch zum selbst verkündeten Ideal zu verhalten, ist also durch die Geschichte hindurch konstant. Ich frage mich, ob das dem Einfluß, den der Buddhismus im Westen haben kann, nicht gewisse Grenzen setzt. M. - Vielleicht ist es, im Gegenteil, auch die Tatsache, daß vom Buddhismus inspirierte Menschen versuchen, seine Toleranzprinzipien in die Praxis umzusetzen, die seine Anhänger im Westen sympathisch macht. Wie dem auch sei, m a n m u ß zuerst den Frieden mit sich selbst sichern - die innere Entwaffnung -, d a n n den Frieden in der Familie und im heimischen Dorf und schließlich den Frieden im eigenen Land und darüber hinaus ... Der Dalai Lama hofft, indem er diese Vorstellungen zum Ausdruck bringt, den Leuten zu helfen, ihre eigenen spirituellen Traditionen wiederzuentdecken. Wir sind also weit von einer missionarischen Haltung entfernt. Das Wiederaufkommen von religiösem Extremismus und Integrismus hat seine Ursache sicher in dem Gefühl, daß die traditionellen Werte in u n s e r e r Zeit f u r c h t b a r fehlen. Dieses Gefühl darf aber nicht zur schonungslosen Zurückweisung jener führen, die aus Mangel an spirituellen Anhaltspunkten auf den falschen Weg geraten sind. Eine solche Reaktion ist unbesonnen, ja wider den gesunden Menschenverstand. Denn man soll die Menschen da, wo sie sind, so nehmen, wie sie sind, und ihnen liebevoll helfen, die wesentlichen Werte des Daseins zu würdigen, und sie ganz gewiß nicht ausrotten!
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Religiöse Spiritualität und laizistische Spiritualität - In Anbetracht der aktuellen Verbreitung des Buddhismus im Westen kommt ein interessanter Aspekt der zeitgenössischen Wirklichkeit besonders anschaulich zur Geltung. Es sind die Z u s a m m e n h ä n g e zwischen dem Buddhismus und einigen philosophischen Texten der Neuen Generation. Luc Ferry habe ich bereits zitiert. Ich möchte auch Andre Comte-Sponville anführen, der vor zwei J a h r e n ein Buch mit dem Titel Petit traite des grandes vertus* veröffentlicht hat. Es handelt sich dabei um eine Reihe von Ratschlägen in praktischer Weisheit, die der französischen Tradition der Moralisten ähneln. Der Autor beschreibt Beobachtungen zu Verhaltensweisen und Psychologie des Menschen und gibt, ohne manchmal die Plattheit zu scheuen, praktische Ratschläge zur täglichen Lebensführung. Das ist eine Art Revolution im Denken am Ende dieses 20. Jahrhunderts. Denn die Moralisten sind von den Berufsphilosophen, die nur eine lange Reihe unerheblicher, anekdotischer und rein psychologischer Bemerkungen bei ihnen ausmachten, immer zutiefst verachtet worden. Die großen Systembegründer, die während meiner Jugend die Philosophie beherrschten, verwiesen die großen Moralisten in die Gesellschaftsliteratur. Es handle sich, so sagten sie, um diskontinuierliche Bemerkungen, um empirische und willkürliche Beobachtungen, die keinerlei Systematisierung erlaubten. Nun sieht man aber, daß sich die heutige Leserschaft, soweit sie sich noch für Bücher der »Philosophie« interessiert, Werken zuwendet, die auf die alten Rezepte der Moralisten zurückgreifen und mit viel Demut und prakJEAN-FRANQOIS
* Titel d e r d e u t s c h e n Ausgabe: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Hin k l e i n e s B r e v i e r d e r T u g e n d e n und W e r t e . Aus d e m F r a n z ö s i s c h e n von Josef Winiger, Nicola Volland und l ' n a Pfau. R o w o h l t Verlag. R e i n b e k 1996.
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tischem Gespür Ratschläge zur alltäglichen Funktionsweise des menschlichen Tieres erteilen. Der originellste unter den m o d e r n e n Moralisten, E. M. Cioran, auch ein bemerkenswerter Künstler und Stilist, ist vierzig Jahre lang ein kaum bekannter Autor mit zwei- oder dreitausend Lesern gewesen. Um 1985 haben dann plötzlich alle angefangen, ihn zu zitieren. Daß auch das Buch von Comte-Sponville gewaltigen Erfolg in F r a n k r e i c h gehabt hat, ist symptomatisch. Das läßt darauf schließen, daß die Allgemeinheit ein Bedürfnis n a c h Leitprinzipien hat, nach Hinweisen, wie m a n leben, wie m a n zur Kunst der Lebensführung zurücklinden und seine Existenz gestalten soll. Das sind Fragen, auf die unsere Philosophie schon seit sehr langem nicht m e h r antwortet. Nun bezieht sich auch Comte-Sponville recht oft auf den Buddhismus, vor allem im folgenden Satz, der interessant ist, weil er dort einen Vergleich zwischen Buddhismus und Christentum anstellt und im Hinblick auf Mitgefühl und Barmherzigkeit einen Gegensatz herausarbeitet. Ich zitiere ihn: »Das Mitgefühl ist die große Tugend des buddhistischen Orients. Man weiß, daß die Barmherzigkeit - zumindest den Worten nach - die große Tugend des christlichen Abendlandes ist. Muß m a n sich entscheiden? Wozu, da sich beides doch nicht ausschließt? Müßte man es dennoch, könnte man, wie mir scheint, folgendes sagen: Die Barmherzigkeit h ä t t e sicher mehr Wert, wenn wir ihrer fähig wären. Das Mitgefühl ist jedoch erreichbarer, durch die Sanftmut, die ihm ähnelt und die uns zu ihm führen kann. Oder mit anderen Worten: die Botschaft Christi, die Liebe, ist ergreifender, die Lehre des Buddha, das Mitgefühl, aber realistischer.« Nun, zwei Anmerkungen dazu. Comte-Sponville tut gut d a r a n zu sagen, daß die Barmherzigkeit »zumindest den Worten nach« die große Tugend des christlichen Abendlandes sei. Denn die christliche Barmherzigkeit hat oft genug Niederschlag gefunden in der Ausrottung der Indianer Amerikas, im Verbrennen der Ketzer auf dem Scheiterhaufen der Inquisition oder auch in den Verfolgungen von Juden und Protestanten. Zweite Anmerkung: Obwohl Comte-Sponville 216
die buddhistische Vorstellung des Mitgefühls würdigt, scheint er am Ende seiner Überlegung darauf hinzuweisen, daß sie trotz allem der christlichen Barmherzigkeit unterlegen sei. Nun, was denkst Du darüber, und wie kann m a n das buddhistische Mitgefühl definieren? M A T T H I E U - Zunächst möchte ich ein p a a r Worte zum ersten Aspekt Deiner Frage sagen. Warum gibt es wieder Interesse an Werken mit Ratschlägen in praktischer Weisheit? Vielleicht um der Tatsache entgegenzuwirken, daß die Sorge, ein b e s s e r e r Mensch zu w e r d e n , u n s e r e m Erziehungssystem heute b e i n a h e f r e m d geworden ist. Die moderne, vorzugsweise laizistische Erziehung hat nämlich in der Hauptsache das Ziel, den Intellekt zu entwickeln und Kenntnisse anzuhäufen. J. F. - Ein voller Erfolg ist sie übrigens nicht, auch nicht auf diesem Gebiet. M. - Die Intelligenz ist eine zweischneidige Waffe. Sie k a n n so viel Gutes wie Böses tun, k a n n konstruktiv wie destruktiv genutzt werden. Einst - als die Religionen ihre Ideale noch nicht verrieten - lehrten sie die Menschen, bessere Menschen zu werden, sich in Nächstenliebe zu üben, in Güte, Rechtschaffenheit, Freigebigkeit, Großmut ... Wenn man gegenwärtig fordern würde, solche Tugenden müßten in den Schulen unterrichtet werden, riefe m a n allgemeines Protestgeschrei hervor. Es w ü r d e entgegnet, daß solche Anliegen Privatsache seien und es Aufgabe der Eltern wäre, ihren Kindern menschliche Werte einzuschärfen. Unter den j ü n g e r e n Generationen ist die der heutigen Eltern aber selbst durch diese Schule gegangen, wo derartiges nicht mehr gelehrt wird. Nur wenige von ihnen haben eine religiöse Erziehung oder eine spirituelle Suche kennengelernt. Man geht sogar so weit zu sagen, daß Liebe und Mitgefühl in den Zuständigkeitsbereich der Religion fielen! Der Dalai Lama sagt oft, man könne auf die Religion verzichten, doch niemand könne ohne Liebe und Mitgefühl auskommen. Er unterscheidet die religiöse von der laizistischen Spiritualität. Letztere ziele einfach darauf ab, bessere Menschen aus uns zu m a c h e n und menschliche Qualitäten zu ent217
wickeln, die wir alle, ob gläubig oder nicht, imstande seien zu entwickeln. Ohne jegliche Spiritualität könne - sofern nicht der Zufall der Lektüre - nichts und n i e m a n d den Jugendlichen zeigen, was diese menschlichen Werte sind und wie man sie zur Entfaltung bringt. Daher ist es ermutigend, dieses wiedererwachte Interesse zu beobachten. J. F. - Ich f r e u e mich, daß Du diese Formulierung des Dalai Lama über die »laizistische Spiritualität« erwähnst. Denn ich wollte Dir entgegnen, d a ß sich meiner Ansicht nach Laizismus und moralische Erziehung nicht im Wege stehen. Laizismus heißt Neutralität eines Schulwesens, das sich keiner religiösen oder politischen Lehre unterordnet. Das schließt jedoch eine moralische Schulung, die auf dem Respekt der Gesetze und der anderen basiert, auf dem Gesellschaftsvertrag und der vernünftigen Nutzung der Freiheiten, kurz, auf dem, was Montesquieu die republikanische Tugend nannte, nicht aus. Im Gegenteil, es macht sie erforderlich. In letzter Zeit ist der Begriff des Laizismus auf die schiefe Bahn geraten. M. - Wahrer Laizismus ist nicht, den Religionsunterricht, wie geschehen, zu unterbinden. Wahrer Laizismus wäre, in der Schule sämtliche Religionen und philosophischen Sehweisen zu unterrichten, einschließlich, w a r u m auch nicht, des Materialismus. Und die Entscheidung, ob sie an diesem Unterricht teilnehmen oder nicht, müßte den Schülern ü b e r l a s s e n bleiben. So w ü r d e m a n den Kindern und Jugendlichen erlauben, sich eine Vorstellung vom vorhandenen Angebot zu machen. Oder sollen sie etwa bis zum Alter von sechzehn Jahren, bis zum Philosophieunterricht warten, damit man ihnen die Grundlagen der menschlichen Werte beibringt? J. F. - Das gäbe angeregte Diskussionen mit u n s e r e n grauen Eminenzen im Erziehungsministerium! Aber was ist mit dem buddhistischen Mitgefühl im Vergleich zur christlichen Barmherzigkeit? M. - Der Begriff des Mitgefühls spiegelt in typischer Weise die Schwierigkeit wider, orientalische Vorstellungen mit abendländischen Worten zum Ausdruck zu bringen. 218
Das Wort »Mitgefühl« ruft im Abendland m a n c h m a l eine Vorstellung von g ö n n e r h a f t e m Mitleid hervor, von Erbarmen, das eine Distanz zum Leidenden voraussetzt. Nyingje, das wir mit »Mitgefühl« ü b e r s e t z e n , bedeutet im Tibetischen jedoch »der Herr des Herzens«, der über u n s e r e Gedanken h e r r s c h e n soll. Mitgefühl ist dem Buddhismus zufolge der Wunsch, jeder Form des Leids und vor allem seinen Ursachen abzuhelfen - dem Nicht-Wissen, dem Haß, der Begehrlichkeit etc. Das Mitgefühl bezieht sich also zum einen auf die Menschen, die leiden, zum anderen auf das Wissen. J. F. - Setzt Du Mitgefühl mit Barmherzigkeit gleich? M. - Die Barmherzigkeit ist Ausdruck des Mitgefühls. Natürlich ist die Übung des Spendens eine Haupttugend des Buddhismus. Man unterscheidet verschiedene Formen der Spende: die Spende einer Sache wie Nahrung, Geld oder Kleidung, die Spende von »Schutz gegen die Angst«, die darin besteht, Gefährdete zu beschützen oder anderen das Leben zu retten, und schließlich die Spende des Unterrichts, die den Menschen das Mittel an die Hand gibt, sich vom Joch des Nicht-Wissens zu befreien. Diese Spendeformen werden in den buddhistischen Gesellschaften ständig praktiziert, und es kommt vor, daß Wohltäter ihre ganzen Besitztümer an die verteilen, die bedürftig sind. In der Geschichte Tibets gibt es etliche Beispiele von Menschen, die, inspiriert vom Ideal der Barmherzigkeit, ihr Leben zur Rettung a n d e r e r hingegeben h a b e n . Das entspricht der christlichen Barmherzigkeit. Um das Leid auf lange Sicht zu beseitigen, ist es zudem zweckmäßig, über den Ursprung des Leids nachzudenken. Dann wird einem bewußt, daß es das Nicht-Wissen ist, das die Kriege schürt, den Durst nach Rache, die Obsession und alles, was die Menschen leiden macht. J. F. - Welchen Unterschied gibt es zwischen Mitgefühl und Liebe? M. - Die Liebe, die definiert wird als der Wunsch, daß alle Menschen das Glück und die Ursachen des Glücks finden, ist die notwendige Ergänzung zum Mitgefühl. Ohne sie 219
kann es nicht existieren und noch weniger sich entfalten. Unter Liebe versteht man hier eine bedingungslose, totale, unterschiedslose Liebe für alle Menschen. Die Liebe zwischen Mann und Frau, die Liebe zu unseren Nächsten und Freunden ist oft besitzergreifend, ausschließend, begrenzt und mit egoistischen Gefühlen vermengt. Man e r w a r t e t zumindest so viel, wie m a n gibt. Eine solche Liebe mag tief erscheinen, a b e r sie verblaßt leicht, w e n n sie u n s e r e r E r w a r t u n g nicht m e h r entspricht. Zudem geht die Liebe, die m a n seinen Nächsten entgegenbringt, oft einher mit einem Gefühl der Distanz, ja der Feindseligkeit gegenüber »Fremden«, gegenüber denen, die für uns und für die, die wir lieben, eine Bedrohung darstellen könnten. Wahre Liebe und wahres Mitgefühl können sich auf unsere Feinde ausdehnen. Die Liebe und das Mitgefühl, die mit Neigung v e r b u n d e n sind, können j e m a n d e n , den wir als Feind betrachten, dagegen nicht einschließen. J. F. - Die Vorstellung von Liebe ist also auch im Buddhismus wichtig, nicht nur im Christentum? M. - Sie ist die Wurzel des Weges. Die wahre Liebe kann jedoch nicht polarisiert, nicht auf einen oder auf ein p a a r Menschen begrenzt oder parteiisch sein. Sie m u ß völlig uneigennützig sein und darf keine Gegenleistung erwarten. Eines der wichtigsten Meditationsthemen ist, zunächst an j e m a n d e n zu denken, den m a n innig liebt, und u n s e r e n Geist von diesem großherzigen Liebesgefühl durchdringen zu lassen. Dann sprengt m a n den Käfig der Vorbehalte und dehnt diese Liebe auf Menschen aus, denen gegenüber man neutrale Gefühle hat. Zuletzt beziehen wir all jene in unsere Liebe ein, die wir als unsere Feinde betrachten. Das ist die w a h r e Liebe. Zu wissen, daß uns j e m a n d Böses will, kann das wahre Mitgefühl nicht beeinträchtigen. Denn dieses Mitgefühl beruht auf dem tiefen Verständnis, daß dieser »Feind«, genauso wie wir, nach Glück strebt und das Leid fürchtet. J. F. - Welchen Unterschied gibt es dann zwischen dem buddhistischen Mitgefühl und der christlichen B a r m h e r zigkeit? 220
M. - Die Nächstenliebe, so wie sie in der Heiligen Schrift beschrieben ist, entspricht vollkommen der Liebe und dem Mitgefühl im Buddhismus. Theoretisch ist sie übrigens allen großen Religionen gemeinsam. Im Buddhismus bringt m a n mit der Liebe und dem Mitgefühl zwei andere Tugenden in Verbindung. Die eine besteht darin, sich über die Vorzüge und das Glück der a n d e r e n zu f r e u e n und zu wünschen, daß dieses Glück fortbestehe und zunehme: Diese Freude angesichts des Glücks der anderen ist das Heilmittel gegen die Eifersucht. Die andere Tugend ist die Unparteilichkeit, der Gleichmut: Sie besteht darin, Liebe, Mitgefühl und Wohlwollen sowohl denen, die uns teuer sind, als auch den Fremden und unseren Feinden entgegenzubringen. Wenn wir u n s e r persönliches Wohl gegen das der unzähligen Menschen aufwiegen, ist es einleuchtend, daß das erste verglichen mit dem zweiten von geringfügiger Bedeutung ist. Zudem müssen wir uns darüber klarwerden, daß unsere Freude und unser Leid mit der Freude und dem Leid der a n d e r e n eng v e r b u n d e n sind. Im Alltagsleben k a n n m a n den Unterschied b e m e r k e n zwischen denen, die sich nur um sich k ü m m e r n , und denen, d e r e n Geist ständig den a n d e r e n zugewandt ist. Erstere fühlen sich stets unwohl und unzufrieden. Ihre Engstirnigkeit schadet ihren Beziehungen zu anderen, von denen sie übrigens nur schwerlich irgend etwas erhalten. Ständig klopfen sie an verschlossene Türen. Wer dagegen einen offenen Geist hat und sich wenig um seine eigene Person sorgt, achtet stets auf das Wohl der anderen. Er besitzt soviel Seelenstärke, daß ihn seine eigenen Probleme wenig beeinträchtigen und ihm die anderen, ohne daß er es darauf anlegt, Beachtung schenken. Kurzum, im Buddhismus sind Liebe und Mitgefühl, wie ich bereits erwähnt habe, von der Weisheit, das heißt von der Erkenntnis des Wesens der Dinge, nicht zu trennen. Sie zielen darauf ab, die a n d e r e n vom Nicht-Wissen, das die Hauptursache für ihr Unglück ist, zu befreien. Diese Weisheit, diese Intelligenz ist es, die dem Mitgefühl seine ganze Kraft verleiht. J. F. - Läßt sich da nicht einwenden, daß all das nicht 221
sehr konkret ist? Heutzutage sorgt m a n sich um die sogenannten Gesellschaftsprobleme, um die Ungleichheiten, die Kriminalität, die Drogen, die Abtreibung, die Todesstrafe. Und ob m a n die Straffälligen diesseits der Todesstrafe, die definitionsgemäß nicht mehr rückgängig zu machen ist, ins Gefängnis stecken oder umerziehen soll? Und um die Fragen, die Du vorhin im Hinblick auf die Erziehung aufgeworfen hast: ob sie auf Zwang oder ausschließlich auf den Bestrebungen des Schülers beruhen soll? M. - Das Problem der Erziehung ist: Soll man unterrichten, was die Schüler h ö r e n wollen oder was sie wirklich nötig haben? Im ersten Fall geht m a n den Weg des geringsten Widerstandes, im zweiten zeigt man Verantwortungsbewußtsein. J. F. - Und die ganzen Probleme der sozialen Absicherung, der Arbeitslosigkeit, der Gewalt, der Integration der E i n w a n d e r e r und der Rassenkonflikte in den großen m o d e r n e n Gesellschaften: hat sich der Buddhismus dazu Fragen gestellt und hat er Antworten? M. - Die westliche Gesellschaft verfügt über mehr Mittel, um die durch ä u ß e r e Umstände v e r u r s a c h t e n Leiden zu dämpfen, aber es mangelt ihr ernstlich an Wegen, um inneres Glück a u f z u b a u e n . Es mangelt ihr gleichermaßen an Orientierungspunkten hinsichtlich der konkreten Existenzund Gesellschaftsprobleme, denn die spirituellen Grundsätze erhellen unseren Weg immer weniger. 1993, als ich den Dalai Lama auf seinem dreiwöchigen Frankreichbesuch als Dolmetscher begleitete, w a r ich s e h r e r s t a u n t ü b e r den Empfang, den ihm die Studenten bereitet haben. An den Universitäten ist er nämlich am enthusiastischsten empfangen worden. So in Grenoble, im Dezember, um acht Uhr abends. Es war kalt. Das Auditorium maximum war überfüllt. Draußen warteten drei- oder viertausend Menschen stehend in der Kälte, sahen den Dalai Lama auf einer Riesenleinwand und hörten seinen Vortrag. In Bordeaux dasselbe Phänomen: volles Auditorium maximum und Tausende von jungen Leuten draußen vor der Tür. Erstaunlich war das Gefühl der Erregung, des Enthusiasmus, das das Frage222
und-Antwort-Spiel des Dalai Lama belebte. Er hat etwa zwanzig Minuten gesprochen. Dann folgten alle möglichen Fragen - zur Todesstrafe, zur Abtreibung, zur Geburtenkontrolle, zur Gewalt, zur Liebe etc. Man hatte den Eindruck, sie fänden endlich einen Ansprechpartner! J. F. - Und was hat er geantwortet? M. - Hinsichtlich der Geburtenkontrolle sagte der Dalai Lama, das Leben sei das teuerste Gut, das wir besitzen. Jedes menschliche Leben sei außerordentlich kostbar, da es wie das Boot sei, das uns erlaube, in Richtung Erkenntnis zu segeln. Wenn diese kostbaren Leben aber zu zahlreich w ü r d e n , sähe sich die Menschheit im allgemeinen vor einem Problem. Denn die Ressourcen der Erde erlaubten es den Milliarden von Menschen nicht, ein a n n e h m b a r e s Dasein zu f ü h r e n . Die einzige Lösung sei, das Bevölkerungswachstum durch Geburtenkontrolle zu bremsen. Der Dalai Lama befürwortet eine Geburtenkontrolle, die er als »gewaltlos« bezeichnet: die Nutzung aller verfügbaren Verhütungsmittel. J. F. - Maßnahmen zur Verhütung von Geburten? M. - Alles, was möglich ist, um auf gewaltlose Weise eine exzessive Geburtenzahl zu vermeiden. J. F. - Der Abtreibung stünde er a b e r eher ablehnend gegenüber. M. - Der Buddhismus definiert den Tötungsakt als die Tatsache, »einem Lebewesen oder einem h e r a n w a c h s e n den Lebewesen das Leben zu nehmen«. Das ist eine logische Konsequenz aus der Vorstellung der Wiedergeburt, da mit der Empfängnis das aus dem vorherigen Leben stammende Bewußtsein bereits zugegen ist, wenn auch nur in einer sehr primitiven, fast nicht erkennbaren Form. In einigen Fällen, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, oder w e n n m a n weiß, daß das Kind mit schrecklichen Mißbildungen auf die Welt kommen wird, kann die Schwangerschaftsunterbrechung gerechtfertigt sein. Doch man kann sie nicht einfach aus Gründen persönlicher Bequemlichkeit zugestehen, die dem Egoismus unterliegen, etwa wenn die Eltern keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben und es 223
sie stört, ein Kind zu haben. Die wirksamen Verhütungsmittel müssen weiterentwickelt werden, um zu vermeiden, daß die Schwangerschaftsunterbrechung in Anspruch genommen wird. Diese Antwort hat die Zuhörerschaft anscheinend befriedigt. Und er hat im Scherz hinzugefügt: »Die beste Methode, das Bevölkerungswachstum zu kontrollieren, wäre ein Zuwachs an Mönchen und Nonnen.« Was das Publikum natürlich zum Lachen gebracht hat. J. F. - Ich füge hinzu, daß das Argument der Überbevölkerung in den entwickelten Ländern, wo die abnehmende Geburtenzahl unter die Schwelle der Erneuerung gesunken ist, kein Gewicht mehr hat. Das einzige Argument, das dort zur Diskussion steht, ist das der persönlichen Freiheit, der Entscheidungsfreiheit. Aber kommen wir zu einem anderen gesellschaftlichen Problem, dem der Todesstrafe. In den meisten m o d e r n e n westlichen Gesellschaften ist es geregelt. Fast keine hat die Todesstrafe beibehalten. Selbst in den Vereinigten Staaten gibt es nur wenige Staaten, die sie beibehalten haben, auch w e n n einige sie g e r a d e wieder eingeführt haben. Bleibt im allgemeinen die Verfolgung der Kriminalität, die Verfolgung des organisierten Verbrechens. Gegenüber dem organisierten Verbrechen kann m a n nicht allein die Gewaltlosigkeit in Betracht ziehen. Wie soll man sich gegen die Mafia verteidigen, wenn man keine Gewalt anwendet, wenn m a n die Kriminellen nicht ins Gefängnis steckt, w e n n m a n ihnen nicht die Möglichkeit nimmt zu schaden? M. - Gewaltlosigkeit hat nichts mit Schwäche zu tun! Ziel ist es, unter allen Umständen das Leid der anderen zu mindern. Es ist also notwendig, die Kriminellen mit geeigneten Mitteln a u ß e r Gefecht zu setzen. Das rechtfertigt a b e r w e d e r Vergeltungs- noch S t r a f m a ß n a h m e n , die von Haß und Grausamkeit diktiert sind. Vor k u r z e m h a b e ich im Radio eine bewegende Erklärung von den Eltern eines Kindes gehört, das bei einem Attentat getötet worden war. Am Tag vor der Verurteilung des Terroristen und Mörders sagten sie: »Wir brauchen nicht noch einen Toten.« Verglichen mit lebenslanger Haft, die es erlaubt, einen Verbrecher 224
daran zu hindern, erneut Schaden zuzufügen, erscheint die Todesstrafe wirklich wie ein Racheakt. Der Dalai Lama ä u ß e r t dazu in Tibet, Ort der Götter, Land der Tränen*: »Einen Menschen zum Tode zu verurteilen, ist ein schwerwiegender Akt. Es geht schlicht d a r u m , ein menschliches Wesen zu beseitigen. Nun ist es a b e r wichtig, daß das betreffende Individuum weiterleben kann, um die Möglichkeit zu haben, sein Verhalten zu ändern. Ich bin überzeugt, daß selbst bei den gefährlichsten Verbrechern eine Aussicht auf Wandlung und Besserung besteht. Indem m a n diesen Menschen leben läßt, gibt m a n ihm die Chance, die Wandlung zu vollziehen, die in unser aller Macht steht.« Vor k u r z e m , im J a h r e 1996, ist in den USA im Staate Arkansas ein Häftling zwölf Jahre nach seiner Verurteilung hingerichtet worden. In der Zwischenzeit hatte er die Abscheulichkeit seines Verbrechens begriffen und wollte den Rest seines Lebens dem Dienst an den a n d e r e n widmen, um so das Böse, das er getan hatte, nach besten Kräften w i e d e r g u t z u m a c h e n . W ä h r e n d seiner Haft h a t t e er auch Klostergelübde abgelegt. Es gelang ihm, sich per Telefon über einen lokalen Radiosender Gehör zu verschaffen und zu erklären: »Ich bin ein a n d e r e r Mensch geworden. Akzeptiert meine Erlösung. Tötet mich nicht. Wir wollen glauben, daß wir in einer menschlichen Gesellschaft leben. Das ist nicht der Fall. Es w ä r e besser, die Regierung betrachtet die Todesstrafe offiziell als Rache. Es ist offensichtlich, d a ß die Todesstrafe nicht die Funktion einer exemplarischen Bestrafung erfüllt, die die Kriminalitätsrate erfolgreich senken könnte.« Er fragte: »Warum richtet Ihr die Verurteilten immer ohne Wissen der anderen mitten in der Nacht hin? Wenn der Akt, den Ihr derart vollzieht, nicht unmenschlich w ä r e , wenn Ihr Euch nicht schuldig fühltet, w a r u m richtet man uns dann nicht am hellichten Tag vor laufenden Fernsehkameras hin?« Der Gouverneur von Arkansas, ein ehemaliger Geistlicher, verweigerte ihm * Aus d e m F r a n z ö s i s c h e n von Stefanie Windfelder. H e r d e r Verlag, F r e i b u r g 1996.
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die Begnadigung und legte den Vollstreckungstermin einen Monat vor, um zu vermeiden, daß der Verurteilte a n d e r e Gelegenheiten hätte, sich Gehör zu verschaffen. J. F. - Zu diesem Thema gibt es, glaube ich, ein ziemlich generelles Einvernehmen. Die einzige große demokratische Gesellschaft, die, wenn auch n u r in der Minderheit ihrer Staaten, an der Todesstrafe festhält, sind die Vereinigten Staaten. Und das gibt heute Anlaß zu zahlreichen Protesten. In Europa ist sie praktisch verschwunden. Sonst gibt es die Todesstrafe heute nur noch in totalitären Staaten wie China, einigen afrikanischen Staaten, Malaysia, Singapur, Irak natürlich, Iran ... M. - China, hundert Hinrichtungen pro Tag ... Und zudem verkaufen die Gefängnisse die Organe der Exekutierten oft auf dem Schwarzen Markt der Krankenhäuser von Hongkong und lassen die Familie den Preis für die Kugel bezahlen, die den Tod gebracht hat. J. F. - China, an die h u n d e r t Hinrichtungen pro Tag! Doch in so gut wie allen Rechtsstaaten ist das Problem der Todesstrafe gelöst. Über die Verhütung und Bestrafung von Verbrechen wird dagegen weiter debattiert. Man kann sich nicht immer auf den Standpunkt des Täters stellen. Man muß auch den Standpunkt des Opfers einnehmen und die Leute so weit wie möglich vor Rückfälligen schützen. Das ist vor allem der Fall, wenn m a n die Gesellschaft gegenüber terroristischen Gruppen und dem organisierten Verbrechen verteidigt. In dieser Hinsicht ist es ziemlich schwierig, rein gewaltlose Lösungen in Betracht zu ziehen. M. - Es geht nicht darum, in schädlicher, wirklichkeitsf r e m d e r Weise m e h r Mitleid mit dem Verbrecher als mit dem Opfer zu empfinden. Das Ziel ist natürlich, einen Übeltäter daran zu hindern, weiter Schaden anzurichten. J. F. - Zudem, wenn es sich um eine v e r b r e c h e r i s c h e Organisation handelt! M. - Das Ziel der Gewaltlosigkeit ist gerade, die Gewalt zu vermindern. Das ist keine passive Methode. Folglich ist es entscheidend, das Leid abzuschätzen, das auf dem Spiel steht. Die beste Lösung bestünde darin, auf die eine oder 226
andere Art die auszuschalten, die anderen großes Unrecht zufügen, ohne a n d e r e Formen der Gewalt hinzuzufügen. Während einer Versammlung der Preisträger des Prix de la Memoire an der Sorbonne fragte jemand aus dem Publikum den Dalai Lama: »Werden wir in Tibet Nürnberger Prozesse erleben, wenn dieses Land eines Tages seine Freiheit w i e d e r e r l a n g t ? « Der Dalai Lama antwortete, es w e r d e wahrscheinlich keine geben, und wenn es sie gäbe, dann w ä r e sein Ziel, auf die in Tibet v e r ü b t e n Grausamkeiten a u f m e r k s a m zu m a c h e n , wo m e h r als eine Million Menschen in Folge der chinesischen Besetzung umgekommen seien. Doch es würde keine Racheakte gegen Tibeter geben, die mit den Chinesen kollaboriert hätten. Der Dalai Lama gab folgendes Beispiel: Ein Hund, der alle beißt, müsse unbedingt unschädlich gemacht werden. Also lege m a n ihm einen Maulkorb an und isoliere ihn, wenn er gefährlich bleibe, bis zu seinem Tod. Wenn er aber alt und zahnlos sei und ruhig in seiner Ecke döse, würde man ihm unter dem Vorwand, er h a b e zehn J a h r e zuvor f ü n f z e h n Personen gebissen, keine Kugel in den Kopf jagen. J. F. - Nicht die Frage der Nürnberger Prozesse mit ihrer wirklich ungeheuren pädagogischen Bedeutung stellt sich. Es ist die Frage der Exekution der Schuldigen von Nürnberg. Damals sind die meisten von ihnen hingerichtet worden. Gegenwärtig läuft in Den Haag ein anderer Prozeß, um die Kriegsverbrecher im Bosnien-Konflikt zu verurteilen. Ich glaube, keiner dieser Verbrecher wird zum Tode verurteilt und hingerichtet werden, was übrigens nicht einmal nach den Gesetzen der betroffenen Länder möglich wäre. Das ist eine Haltung, die vollkommen mit der übereinstimmt, die der Dalai Lama zum Ausdruck gebracht hat. M. - Der Dalai Lama hat eine Formulierung benutzt, die auf englisch sehr frappierend ist: »We must forgive, but not forget«, das heißt: »Wie müssen vergeben, aber wir dürfen nicht vergessen.« J. F. - Ja ... nicht vergessen. Das ist vollkommen richtig. Aber diese Überlegung trifft auf die einzelnen Menschen zu. Heute ist die Kriminalität im wesentlichen organisiert. Das 227
ist eine politische Kriminalität, das sind Terroristen wie die der militärischen ETA oder der IRA oder die Separatisten der Sikhs vor einigen Jahren in Indien. Auch die organisierte Kriminalität der italienischen, russischen, chinesischen oder kolumbianischen Mafia zählt dazu. Das heißt, es handelt sich um Banden, die entweder aus Eigennutz oder ideologischem Fanatismus meinen, sie hätten ein Recht auf Verbrechen. Da würde es nicht ausreichen, diese oder jene Person zu bessern. Wenn m a n Toto Rina, den Anführer der sizilianischen Mafia, in Palermo festnimmt, ist das ein sehr großer Erfolg für die italienische Polizei, aber im Handumdrehen ist Toto Rina von jemand anderem an der Spitze der Mafia ersetzt worden. Der wahre Feind ist die Organisation und nicht dieses oder jenes Individuum. Nun ist es aber so, d a ß die Gesellschaft dazu neigt, u n u n t e r b r o c h e n verbrecherische Vereinigungen abzusondern, d e r e n Ziel die Bereicherung oder der politische Einfluß oder beides ist. Und die Gesellschaft hat kaum andere Mittel, sich gegen sie zu verteidigen, als Gewalt a n z u w e n d e n . Das ist Gegengewalt. M. - Das organisierte Verbrechen ist letztlich n u r eine Versammlung von Kriminellen. Die Kriminellen unschädlich zu machen, dämpft das Übel nur, es beseitigt nur die Symptome. Wenn m a n aber die Ursachen b e h e b e n will, muß m a n die Individuen bessern und ihnen helfen, sich zu verändern.
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Woher kommt die Gewalt?
- Das, w o r ü b e r wir g e r a d e gesprochen haben, führt uns zu einer metaphysischen Frage - sofern die Mafia überhaupt metaphysische Fragen mit sich bringen k a n n -, und zwar zur Frage des Bösen. Zu diesem Thema würde ich gerne die Haltung des Buddhismus kennen. Denn die großen abendländischen Religionen und Philosophien charakterisiert, daß sie die Frage nach dem Bösen, das heißt, die Vorstellung, daß das Böse an sich existiert, akzeptieren. Das ist eine der großen Fragen der Metaphysik und der Moral, sowohl in den großen Religionen als auch in den Philosophien, insbesondere im Christentum, wo der Begriff des Bösen mit dem Begriff der Erbsünde verknüpft ist. In den großen Philosophien - nehmen wir die klassischen Philosophien, den Kartesianismus, Leibniz - wirft die Möglichkeit des Bösen ein beängstigendes Problem für die Philosophen auf. Sie w a r e n Christen, und ihr philosophisches System gründete auf der Idee der Göttlichkeit, eines allmächtigen Gottes von höchster Intelligenz und unfehlbarer Güte. Wie duldet er das Böse? Das ist eine Frage, an der sich die Mehrheit der Philosophen und vor allem der Theologen gestoßen hat, ein unüberwindliches Hindernis, das begrifflich und im metaphysischen Kontext, in dem es gestellt wurde, nie gelöst worden ist. Alle Lösungen, die vorgeschlagen worden sind, um den Widerspruch zu überwinden, sind Scheinlösungen. Nimmt der Buddhismus die Existenz des Bösen an sich an? M A T T H I E U - Nein, grundlegend hat das Böse nicht mehr Existenz als ein Irrtum, und das äußerste Wesen aller Menschen ist vollkommen. Sofern diese Vollkommenheit von Nicht-Wissen, Begehren und Haß getrübt ist, bleibt sie im Innersten von uns selbst. Das Problem des Bösen scheint vor allem für jene unlösbar, die die Schöpfung als unmittelJEAN-FRAN^OIS
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bares Werk Gottes betrachten und daher gezwungen sind, ihn f ü r das Gute und f ü r das Böse verantwortlich zu machen. Für den Buddhismus ist die Buddha-Natur, so wie das Öl im Sesamkorn, in jedem Menschen vorhanden. Sie ist die wahre Natur der Menschen. Die jedem Menschen innew o h n e n d e Vollkommenheit k a n n verhüllt sein. Sie m u ß lediglich enthüllt und aktualisiert werden, indem m a n die Hüllen des Nicht-Wissens und der störenden Gefühlsregungen, die sich unter dem Einfluß des Nicht-Wissens gebildet h a b e n , beiseite schiebt. Diese Hüllen gehören nicht zur Buddha-Natur. Sie verhüllen, v e r ä n d e r n sie a b e r nicht. Dennoch passiert es leicht, daß die Menschen diese Natur aus dem Blick verlieren und den dualistischen, negativen Denkweisen verfallen, die ihren Ausdruck in abträglichen Äußerungen und Taten, also im Leid finden. Der scheinbare Gegensatz zwischen Gut und Böse existiert in Wirklichkeit nicht. Er hat seine Ursache in unserer Art, die Dinge zu sehen, er existiert für uns, doch nur für uns. Er ist eine Art von Halluzination. Das Falsche hat keine wirkliche Existenz und ist kein konstitutiver Bestandteil des Wahren. Das Böse ist also nur eine Verblendung, genauso wie der Irrtum n u r eine unrichtige W a h r n e h m u n g der Wirklichkeit ist. Die Verwirrung, die relative Wahrheit, in der wir leben, resultiert aus einer Zersplitterung der Wahrheit, aus der Erwägung, daß es etwas anderes gibt als die ursprüngliche Reinheit des Seins und der Erscheinungen. Das Böse existiert folglich nur in illusorischer Weise. Die Verwirrung ist eine Möglichkeit, doch wenn man die Natur des Buddha erfaßt, merkt man, daß der Irrtum nie wirklich existiert hat. J. F. - Es hat also, a n d e r s als im Christentum, keinen ursprünglichen Sündenfall gegeben? M. - Es hat weder einen Sündenfall noch eine Sünde gegeben, nur ein Vergessen der ursprünglichen Natur, ein Wegdösen, eine Amnesie. Sobald diese Natur einmal vergessen ist, taucht die Unterscheidung zwischen dem Selbst und den anderen auf, begleitet von all den machtvollen Neigungen im Z u s a m m e n h a n g mit Verlockung, Abscheu und 230
Egozentrismus, die das Aufflammen negativer Gefühlsregungen und intensiver Leiden zur Folge haben. J. F. - Woher kommen sie? Wenn der Mensch von Grund auf gut ist, wie haben sich dann die negativen Neigungen herausgebildet? M. - Tatsächlich haben sich die Gefühlsregungen und das Leid niemals »ereignet«, da nichts beständige Realität besitzt. Wenn m a n zum Erwachen gelangt, erwacht man in gewisser Weise aus einem schlechten Traum. Das NichtWissen h a t niemals wirklich existiert. Ein erleuchtetes Wesen wie der Buddha schaut das Nicht-Wissen der Menschen wie jemand, der in den Gedanken eines Schlafenden liest, der von einem Alptraum heimgesucht wird: Er kennt die Natur des Alptraums, er selbst läßt sich nicht von ihm täuschen. J. F. - Schöne Bilder! Selbst w e n n das Böse n u r eine Erscheinung ist, quält es uns. Das verschiebt das Problem nur. Wenn in der Wirklichkeit von Grund auf alles gut ist, wie kommt dann das Böse zum Vorschein? M. - Es »erscheint« in der Tat, a b e r es h a t deswegen keine eigene Existenz. Wenn man ein Seil für eine Schlange hält, hat die Schlange nie existiert, in keinem Augenblick und in keiner Weise, es sei denn in illusorischer. Der Irrtum hat also nur eine rein negative Existenzweise, er hat keine eigene Existenz. Das ist so, weil das ä u ß e r s t e Wesen des Nicht-Wissens das Wissen ist, daß das Nicht-Wissen beseitigt werden kann. Man kann ein Stück Gold waschen, aber man ist nicht imstande, ein Stück Kohle zu weißen. J. F. - Obwohl die Umschreibung nicht dieselbe ist wie im Christentum oder in der klassischen Metaphysik des 17. und zu Beginn des 18. J a h r h u n d e r t s , ähnelt sich das Problem ein wenig. Unsere abendländischen Philosophen m ü h e n sich mit der E r k l ä r u n g ab, wie ein Gott, der n u r Güte ist, die Existenz des Bösen in der Natur zulassen konnte. Man kann aber noch so oft sagen, daß das Böse nur eine Illusion sei, daß es nur auf eine Situation bezogen sei und an sich nicht wirklich existiere: Diese Antwort ist trotzdem nicht befriedigend. 231
M. - Wenn m a n sich der w a h r e n Natur der Dinge nicht bewußt ist, hält m a n sich an ihre Erscheinungsform. Die Dualität von Selbst und anderen, schön und häßlich, angenehm und unangenehm etc. bildet sich heraus und löst eine ganze Verkettung störender geistiger Faktoren aus. So erscheint das Nicht-Wissen wie eine Hülle, die den Menschen seine w a h r e Natur vergessen läßt und ihn dahin bringt, gegen seine innerste Natur zu handeln. Das ist wie eine Ablenkung, wie ein Trugbild, das den Geist zu etwas verlockt, das ihm selbst und den anderen schadet. J. F. - Aber w a r u m kommen diese negativen Faktoren, diese »Kräfte des Bösen« zum Vorschein? Wenn im Menschen eine grundlegende Güte ist, dürften sie nicht zutage treten können. M. - Das Nicht-Wissen ist eine »Möglichkeit«. Schon deshalb sieht es sich aufgerufen, sich zum Ausdruck zu bringen. Das Nicht-Wissen erscheint innerhalb des Wissens, gehört aber nicht zum äußersten Wesen des Wissens. Sein Wesen ist illusorisch. Wenn das Wissen erfaßt ist, hat sich d a h e r in Wirklichkeit nichts ereignet. Wenn Du beim Betrachten des Mondes auf Deine Augäpfel drückst, siehst Du zwei Monde. Es w ä r e zwecklos, sich zu fragen, wer oder was den zweiten Mond erzeugt hat. Stell Dir dennoch vor, j e m a n d drücke ständig auf seine Augen und komme zu der Überzeugung, daß es wirklich zwei Monde gibt. Für ihn ist das seine persönliche Wahrheit. Er wird d a n n alle Arten von Theorien über den Ursprung und die Natur des zweiten Mondes aufstellen. Doch f ü r den, der den Mond wie gewohnt betrachtet, stellt sich die Frage nach der Existenz des zweiten Mondes nicht einmal. Dennoch wird es ihn die größte Mühe kosten, dem Starrkopf das k l a r z u m a c h e n , sofern er nicht aufhört, auf seine Augen zu drücken. Das Nicht-Wissen, der Ursprung des Bösen und des Leids, ist ein zufälliges Versehen, ein plötzliches Vergessen. Am ä u ß e r s t e n Wesen des Geistes ä n d e r t es nichts, doch es erzeugt eine Verkettung von Schmerzen wie bei einem Alpt r a u m , der zwar nichts an der Tatsache ändert, d a ß m a n behaglich im Bett liegt, doch nichtsdestoweniger großes 232
mentales Leid hervorrufen kann. Diese Erklärung verweist - selbst wenn sie so erscheinen mag, als sei sie an den Haaren herbeigezogen - auf ein Faktum der kontemplativen Erfahrung. Der Erwachende hat keine Erklärungen nötig, um die illusorische Natur seines Traums zu verstehen. J. F. - Aber h a b e n ihn die inexistenten Begebenheiten nicht trotzdem leiden lassen? M. - In der Tat, selbst im Traum ist das Leid für den, der es d u r c h m a c h t , wirklich Leid. Die illusorische Natur des Leids mindert in keiner Weise die Notwendigkeit, ihm zu begegnen. Das rechtfertigt das altruistische Handeln, das Einschreiten zur Beseitigung des Leids, das die Menschen durchmachen, und den spirituellen Weg, der darauf abzielt, dem Haß und den anderen Ursachen des Leids abzuhelfen. Das Erscheinen des Leids wird durch die Gesetze von Ursache und Wirkung gesteuert: durch die Folgen u n s e r e r Taten, unserer Äußerungen und Gedanken. So tragisch das Leid auch sein mag, letztlich ist eine Sache immer gegenwärtig: die inhärente Vollkommenheit. Das Gold ändert sich nie, nicht einmal wenn es im Schlamm vergraben wird. Die Sonne leuchtet f o r t w ä h r e n d , auch w e n n sie von Wolken verhüllt ist. J. F. - Nun, was Du nicht sagst ... Die Antwort befriedigt mich nicht. Sie ähnelt ein wenig der Antwort von Leibniz, um die Antinomie, den Widerspruch zwischen einer Welt, in der das Böse existiert, und ihrem Schöpfer, einem durch und durch guten Gott, aufzulösen! Man windet sich mit der Erklärung h e r a u s , daß das Auftauchen des Bösen in der Welt nicht Gott selbst zuzuschreiben sei, sondern allen möglichen Faktoren, die durch die sinnliche Wahrnehmung h i n z u k ä m e n . Nun, eins von beiden: e n t w e d e r er ist allmächtig, und dann ist er verantwortlich für das Böse, oder er ist nicht allmächtig, und dann ist er nicht Gott! M. - Das ist eine der Überlegungen, die der Buddhismus anführt, um die Vorstellung eines allmächtigen Schöpfers zu widerlegen. J. F. - Leibniz hat mit seiner unerschöpflichen metaphysischen Vorstellungskraft die berühmte Theorie der besten 233
aller möglichen Welten ausgeheckt, über die sich Voltaire in Candide mokiert hat. Voltaire läßt Candide und den Philosophen Pangloss, einen Leibnizianer, auftreten. In den Ruin e n Lissabons, das gerade von einem Erdbeben zerstört worden ist, erklärt der Lehrer, während die Opfer unter den rauchenden Trümmern stöhnen, seinem Schüler, daß wir in der besten aller möglichen Welten leben. Das ist eine ironische, doch f r a p p i e r e n d e Veranschaulichung eines in der Tat u n l ö s b a r e n Problems. In seiner b e r ü h m t e n Theorie ging Mani von der Existenz zweier selbständiger, distinkter Kräfte in der Welt aus, dem Prinzip des Guten und dem Prinzip des Bösen, w o r a u s die Lehre des s o g e n a n n t e n Manichäismus entstanden ist. Die Kirche hat sie widerlegt und wie eine Ketzerei v e r d a m m t , die Philosophen, vor allem Immanuel Kant, haben sie generell verworfen. Selbst auf verbaler Ebene ist das eines der am schwierigsten zu lösenden metaphysischen Probleme. Der Buddhismus unterscheidet sich vom Christentum jedenfalls durch seine Ablehnung des Begriffs der Sünde, insbesondere der Erbsünde. M. - Die große »Macht« des Fehlers, der »Sünde« ist gerade, daß sie keine reale Existenz hat. Deshalb gibt es keinen negativen Akt oder negativen Gedanken, der nicht aufgelöst, gereinigt oder wiedergutgemacht werden könnte. J. F. - Andererseits k a n n Gott nicht als Urheber des Bösen beschuldigt werden, da Gott nicht existiert! M. - Wir sind selbst verantwortlich für unsere Übel. Wir sind die Erben der Vergangenheit und die Herren der Zukunft. Es gibt kein »Gut« und »Böse« an sich, es gibt Taten und Gedanken, die zum Leid führen, so wie andere zum Glück. Wesentlich ist nicht so sehr das metaphysische Problem des Leids oder des Bösen, sondern das Gegenmittel, um ihnen abzuhelfen. Eines Tages n a h m der Buddha eine Handvoll Blätter in seine Hände und f r a g t e seine Schüler: »Gibt es mehr Blätter in meinen Händen oder im Wald?« Die Schüler antworteten ihm, es gebe sicher mehr Blätter im Wald. Der Buddha f u h r fort: »Ebenso habe ich 234
m e h r Dinge begriffen, als ich gezeigt h a b e , denn es gibt viele Kenntnisse, die unnütz sind, um dem Leid ein Ende zu setzen und zum Erwachen zu gelangen.« J. F. - Wenn der Mensch »gut« ist, wie läßt sich dann so viel Gewalt erklären? M. - Die Vorstellung von »wahrer Natur« läßt sich beim Menschen als Zustand der Ausgeglichenheit verstehen, und die Gewalt als Unausgeglichenheit. Der Beweis dafür, daß die Gewalt nicht in der inneren Natur des Menschen liegt, ist, daß sie bei Opfer und Täter zugleich Leid hervorruft. Innerlich sehnt sich der Mensch nach Glück. Sagt m a n nicht, w e n n j e m a n d vom Haß b e h e r r s c h t wird, er sei »außer sich« und »nicht mehr er selbst«? Seinen Haß durch einen Mord zu stillen, hat dem Mörder noch nie den mindesten Frieden oder das kleinste Gefühl von Fülle gebracht, es sei denn zuweilen ein krankhaftes, kurzzeitiges Triumphgefühl. Ganz im Gegenteil. Der Mörder findet sich in einem Zustand tiefer Verwirrung wieder, in einem Zustand der Angst, der ihn manchmal dazu treibt, sich selbst umzubringen. Man k a n n auch gleichgültig w e r d e n gegenüber dem Morden, so wie jene afrikanischen Kinder, die von Söldnern zunächst gezwungen werden, ein Familienmitglied zu exekutieren, um jedes Empfindungsvermögen in ihnen zu zerstören und erbarmungslose Mörder aus ihnen zu machen. Einige der serbischen Freischärler aus Sarajewo sagten, Töten sei so selbstverständlich geworden, daß sie keine andere Betätigung mehr in Betracht ziehen könnten. Man fragte sie: »Wenn einer Eurer alten moslemischen Freunde durch Euer Schußfeld ginge, w ü r d e t Ihr schießen?« Sie antworteten mit »ja«. Es ist offensichtlich, daß diese Freischärler den Kontakt zu ihrer wahren Natur verloren hatten. Sagt man nicht von eingefleischten Kriminellen, daß sie »nichts Menschliches mehr an sich haben«? Kommt es aber dazu, daß sich verhaßte Todfeinde nach langer Zeit versöhnen, empfinden sie große Erleichterung und Freude, was gewiß vom Wiedersehen mit ihrer w a h r e n Natur herrührt. 235
J. F. - In der Frage, ob Gewissensbisse Schwerverbrecher in den Selbstmord treiben, bin ich weniger optimistisch als Du. Ich stelle fest, daß Stalin in seinem Bett gestorben ist, daß Mao in seinem Bett gestorben ist, daß Franco in seinem Bett gestorben ist, und daß sich Hitler umgebracht hat, weil er besiegt war, und nicht, weil er irgendwelche Reue wegen der Verbrechen verspürte, die er begangen hatte. Zu meinem Bedauern muß ich feststellen, daß sich Saddam Hussein noch nicht umgebracht hat, sondern weiter täglich Leute erschießen und ihnen die Ohren abschneiden läßt, da das nun einmal in Mode ist. Er läßt den Deserteuren die Ohren abschneiden und die Ärzte und Chirurgen aufhängen, die sich weigern, die Operation durchzuführen. Selbstmörderische Reue ist unter Kriminellen, statistisch gesehen, gering. M. - Es geht nicht um Gewissensbisse, sondern um Leid, um die völlige Abwesenheit von innerem Frieden. Mao ist nahezu geistesschwach gestorben, seine Frau hat sich selbst umgebracht, Stalin hat auf seinem Sterbebett verlangt, seine Geliebte zu töten, da er es nicht ertrug, daß sie mit anderen Zusammensein würde. J. F. - Ich bin sehr pessimistisch, was die Beseitigung des Bösen angeht. Im Gegensatz zu Rousseau glaube ich, daß der Mensch schlecht ist, und daß es die Gesellschaft ist, die ihn gut macht, sofern sie sich als Rechtsstaat konstituiert. Von Zeit zu Zeit können manche Gesellschaftstypen den Menschen ein bißchen weniger schlecht machen. Und warum? Weil das Böse irrational ist. M. - Und wider die Natur. J. F. - Wenn es eine Anwendung von Gewalt und eine Praxis des Bösen gäbe, die ich als ... realistisch definieren könnte, wäre das moralisch gesehen natürlich verwerflich. Aber zumindest könnte man diskutieren! Realistisch wäre für mich, wenn die Leute Gewalt nur in ihrem Interesse anwenden würden, mit der Aussicht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Das wäre eine egoistische und zynische, doch zweckmäßige Anwendung von Gewalt. Das würde ihren Einsatz bereits einschränken. Vor allen Dingen wäre das 236
auf einer Überlegung begründet, zwar einer amoralischen, doch einer, der man eine andere, noch realistischere entgegenstellen könnte. Leider ist festzustellen, daß die Anwendung von Gewalt meist vollkommen töricht ist und über die Verfolgung realistischer Ziele weit hinausgeht. Die fürchterlichste Anwendung von Gewalt, um die jüngsten Beispiele aus Algerien, Ex-Jugoslawien und Ruanda wieder aufzugreifen, ist die psychopathische. Das w a h r e Interesse der verschiedenen Völker Jugoslawiens w ä r e die Durchführung realistischer Verhandlungen gewesen. In der Mehrzahl der Kriege gehen die Kriegstreiber aber weit über die politischen und strategischen Ziele hinaus, die sie sich zu Beginn haben stecken können. Daß Hitler das französische linke Rheinufer und einige Gebiete in der Tschechoslowakei annektieren wollte, die er als deutsch ansah, könnte als Realpolitik durchgehen. Daß er sich aber in einen totalen Krieg gegen die gesamte Welt stürzt, daß er alle oder fast alle Juden Europas ausrottet, daß er sich auf einen irrsinnigen Feldzug gegen die Sowjetunion, seinen Verbündeten, einläßt, das alles läßt sich nur mit einem selbstmörderischen Verhalten erklären, das auch das deutsche Volk an den Tag legte. Eine halbwegs vernünftige Analyse hätte offensichtlich gemacht, daß diese Operation nicht gelingen konnte. Die Leute, die Gewalt anwenden, gehen oft weit über die konkreten Ziele hinaus. Als in Frankreich der Konvent die Revolte in der Vendee niedergeschlagen hatte und an den Grenzen keine militärische Gefahr mehr drohte, haben sich die schlimmsten Massaker an der Zivilbevölkerung ereignet. In der chinesischen Geschichte finden sich zahllose Berichte über Kaiser oder Feudalherren, die zehn-, fünfzehn- oder dreißigtausend Menschen e n t h a u p t e n ließen, als es vom Standpunkt realistischer Zielsetzungen völlig unnütz war. Ein rein sadistisches Verlangen nach Blutvergießen. Ein anderes, von Luc Ferry in seinem Buch angeführtes Beispiel, auf das der Buddhismus, wie er sagt, keinen Einfluß habe, ist der Völkermord in Ruanda. M. - Es ist offenkundig, daß der Buddhismus im Augen237
blick keinen Einfluß auf den Völkermord in Ruanda haben kann! Ich weise Dich aber darauf hin, daß niemand irgend etwas gegen diesen Völkermord hat tun können. Auch die großen, angeblich realistischen politischen Kräfte - die große, internationale Neue Ordnung der Westmächte - sind unfähig gewesen, ihn zu verhüten oder aufzuhalten. J. F. - Noch frappierender ist aber, daß ein Ende dieses Völkermords in Ruanda ü b e r h a u p t nicht a b s e h b a r ist. Wenn ein Krimineller ein Verbrechen begeht, das ihm etwas einbringt, verurteile ich das, aber ich verstehe es. Ich erkläre seine Tat mit einer Begierde, einem Machtwillen, einer realistischen E r w a r t u n g . Wenn aber kein Sinn erkennbar ist, wenn die massenhafte Ausrottung von Menschen für niemanden von Nutzen ist und keinem etwas einbringt, d a n n ist m a n wohl gezwungen, die Existenz des Bösen an sich - oder im Menschen - in Erwägung zu ziehen. M. - Es handelt sich e h e r um einen Verlust jeglichen Bezugspunktes, zu dem es kommt, wenn wir aus unserer w a h r e n Natur herausrutschen. Alles wird möglich. Das ist eine Art von tiefem Irrtum, von abwegiger Verirrung. Was Du sagst, deckt sich mit der Ansicht einiger Anthropologen, die diesen Typ von Vorfällen im Verlauf der Geschichte erforscht haben. Sie kommen zu dem Schluß, daß sich die Individuen einer Gruppe, wenn m a n sie ohne jede regulierende Kraft - spirituelle Grundsätze oder menschliche Konventionen - vollkommen sich selbst überläßt, letzten Endes gegenseitig umbringen. J. F. - Wie haben sie das nachgewiesen? M. - An Beispielen wie denen in Bosnien und Ruanda. Von dem Moment an, wo zugestanden wird, daß man seinen Nachbarn umbringen kann, macht man sich daran, alle Nachbarn zu töten, selbst wenn m a n bis dahin auf gutem Fuß mit ihnen stand. Die Überlebenden der Meuterei auf der Bounty haben sich, obwohl anfangs im Kampf vereint, auf der Insel, wo sie sich niedergelassen hatten, gegenseitig getötet. In dieser Weise Gruppen zu bilden, die sich gegenseitig ausrotten, hatte vielleicht zur Zeit der prähistorischen Volksstämme eine biologische Existenzberechtigung. 238
In u n s e r e r gegenwärtigen Gesellschaft ist dieser Verhaltenszug jedoch vollkommen irrational. J. F. - Jeder behauptet, in Notwehr gehandelt zu haben, um seine Tat zu rechtfertigen. Sicher ist, daß solche Gruppen von Individuen für keinerlei Argumentation empfänglich sind. M. - Selbst wenn es diese Neigung zur Gewalt gibt, ist das charakteristische Merkmal der Intelligenz jedoch, g e g e n z u s t e u e r n und i h r e m Einfluß nicht n a c h z u g e b e n . Denn woher kommt dieser Haß? Wenn man bis zu seinem Ursprung vordringt, hat alles mit einem simplen Gedanken angefangen. J. F. - Ja. In Ruanda ist das nur Haß in Reinform. Um das Beispiel Bosniens w i e d e r a u f z u g r e i f e n , so hat zunächst j e d e r Gebietsansprüche, die er a u f g r u n d der Geschichte, der Geographie oder der Besetzung des Gebietes durch seine Angehörigen für gerechtfertigt hält. Am Anfang steht die klassische Geopolitik, über die m a n diskutieren könnte. Doch niemand will verhandeln. Also f ü h r t m a n Krieg. Zu diesem Zeitpunkt ist das noch ein Krieg, den m a n als zweckmäßig bezeichnen könnte: der Krieg nach Clausewitz, der die Politik mit a n d e r e n Mitteln fortsetzt. Dann kommt es zum völlig ungerechtfertigten Blutbad. Es geht nicht nur über das selbstgesteckte politische Ziel hinaus, sondern macht es unerreichbar. Denn das Gemetzel ist letztlich derart u n a n n e h m b a r geworden, daß die internationale Gemeinschaft einschreitet. Sie versucht, alle unter Kontrolle zu bekommen, und entsendet Truppen vor Ort. Trotzdem bricht die totale, blutrünstige Anarchie aus. Die Kroaten töten die Moslems, die Moslems die Kroaten, die Serben alle, und über J a h r e hinweg schafft man es nicht, die kleinste Friedensvereinbarung durchzusetzen. In Wirklichkeit h a b e n wir die Selbstzerstörung aller beteiligten Gemeinschaften miterlebt. M. - Ich möchte das nicht auf der Ebene der politischen und geographischen Ursachenanalyse betrachten, sondern auf der Ebene der mentalen Prozesse, die zum Ausbruch des Hasses führen. 239
J. F. - Auch ich sage, daß die politischen und geographischen Ursachen nichts erklären. Hätten nur sie eine Rolle gespielt, hätte m a n zu einer vernünftigen Regelung kommen können. M. - Ob es sich nun um Gebietsansprüche, um die Wasseraufteilung bei der Bewässerung oder anderes handelt: sämtliche Konfliktgründe der Welt kommen von der Vorstellung, d a ß » m a n mir Unrecht tut«, gefolgt von einem Gefühl der Feindseligkeit. Dieser negative Gedanke ist eine Abweichung vom natürlichen Zustand und daher eine Quelle des Leids. Es ist also offensichtlich, daß wir u n s e r e Gedanken b e h e r r s c h e n müssen, bevor sie u n s e r e n Geist ü b e r s c h w e m m e n , genauso wie m a n die ersten F l a m m e n eines Feuers ersticken muß, ehe der ganze Wald in Flammen steht. Es ist wirklich sehr einfach, sich in beträchtlichem Ausmaß von der »grundlegenden Güte« zu entfernen, die in uns ist. J. F. - Wie läßt sich aber erklären, daß man sich viel öfter von ihr entfernt, als ihr treu zu bleiben? M. - Folgt m a n einem Gebirgspfad, braucht es wenig, um einen falschen Schritt zu machen und den Hang hinunterzustürzen. Das Hauptziel einer spirituellen »Disziplin« ist, immer völlig w a c h s a m zu sein. Die Aufmerksamkeit und die wache Gegenwärtigkeit sind grundlegende Qualitäten. Das spirituelle Dasein hilft uns, sie zur Entfaltung zu bringen. J. F. - Ja. Wenn man aber, um das Böse von der Welt zu e n t f e r n e n , w a r t e n muß, bis sechs Milliarden Individuen zum spirituellen Dasein finden, laufen wir Gefahr, lange zu warten! M. - Wie ein orientalisches Sprichwort sagt: »Mit Geduld wird der Obstgarten zu Konfitüre.« Daß es lange d a u e r n dürfte, ändert nichts an der Tatsache, daß es keine andere Lösung gibt. Selbst wenn die Gewalt im ganzen weiterwirkt, ist die einzige Art, ihr zu begegnen, die Wandlung der Individuen. Diese Wandlung kann sich anschließend vom einzelnen auf seine Familie ausdehnen, dann auf das Dorf und die Gesellschaft. Einigen Gesellschaften ist es in bestimm240
ten Momenten ihrer Geschichte gelungen, Mikroklimas des Friedens zu etablieren. Dieses Ziel kann erreicht werden, insofern jeder das Seine dazu beiträgt und die »universelle Verantwortung« der Menschen u n t e r e i n a n d e r an Bedeutung gewinnt.
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Weisheit, Wissenschaft und Politik
- Was denkst Du über folgendes Zitat des großen Physikers Erwin Schrödinger, der 1933 den Nobelpreis für Physik erhalten hat: »Das Bild, das die Wissenschaft von der Welt um mich herum gibt, ist sehr beschränkt. Sie liefert eine Menge faktischer Informationen und stellt unsere gesamte Erfahrung in eine kohärente, großartige Ordnung, doch sie ist in allem, was uns wirklich am Herzen liegt und wirklich für uns zählt, schrecklich verschwiegen.« JEAN-FRANgois - Ich w ü r d e sagen, es handelt sich um eine Banalität. Die Auffassung, daß die Wissenschaft nicht jedem von uns bei der individuellen Glückssuche aus dem Herzen spricht, ist nicht sehr originell! Im übrigen hat die Wissenschaft, abgesehen vielleicht von den Humanwissenschaften, nie behauptet, auf diese Frage zu antworten. Das Scheitern des Westens liegt nicht an der Wissenschaft. Im Gegenteil, die Wissenschaft ist der Erfolg des Westens. Die Frage ist, ob die Wissenschaft ausreicht. Es gibt einen ganzen Bereich, wo sie offensichtlich nicht ausreicht. Auch ist das Scheitern des Westens in erster Linie das Scheitern der nicht-wissenschaftlichen westlichen Kultur, insbesondere das Scheitern seiner Philosophie. In welchem Sinne ist seine Philosophie gescheitert? Sagen wir, bis ins 17. Jahrhundert, bis zu Descartes und Spinoza, bestand die Philosophie im großen und ganzen in ihrer doppelten Dimension fort, so wie sie seit ihren Anfängen praktiziert wurde: zum einen die wissenschaftliche Dimension oder die wissenschaftliche Absicht, und d a n n die a n d e r e Dimension, die Erringung von Weisheit, die Entdeckung eines Sinns, der dem menschlichen Leben und vielleicht auch einem Leben jenseits davon gegeben ist. Diese doppelte Dimension der Philosophie finden wir noch bei Descartes, obwohl er von einer »provisorischen« Moral spricht. Bei ihm ist die PhiloMATTHIEU
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sophie noch Wissenschaft und Weisheit zugleich. Die letzte Philosophie, wo die beiden Gesichtspunkte noch gleichzeitig verfolgt werden und sich vereinen, ist die Philosophie von Spinoza. In ihr wird zum letzten Mal die Vorstellung entwickelt, daß die höchste Erkenntnis gleichzusetzen sei mit der Freude des Weisen, der verstanden hat, wie das Wirkliche funktioniert, und der d a d u r c h die reine Freude, das höchste Gut, selbst kennt. M. - Aber w a r u m stellt die Philosophie keine Lebensmodelle mehr zur Verfügung? J. F. - Im Laufe der vergangenen drei Jahrhunderte vernachlässigt die Philosophie ihre Weisheitspflicht. Sie b e s c h r ä n k t sich auf die Erkenntnis. Gleichzeitig wird sie jedoch in ihrer wissenschaftlichen Funktion zunehmend von der Wissenschaft selbst entthront. Je stärker Astronomie, Physik, Chemie und Biologie in Erscheinung treten, je weiter sich diese Wissenschaften entwickeln, je selbständiger sie werden und Kriterien befolgen, die nichts mehr mit den philosophischen Denkmethoden zu tun haben, desto m e h r geht der wissenschaftlichen Funktion der Philosophie - wie es Kant in der Kritik der reinen Vernunft sehr treffend gesagt hat, auch w e n n die Philosophen dem in der Folge k a u m Rechnung getragen h a b e n - sozusagen ihr Gegens t a n d verloren. Im Grunde wird sie von ihrem eigenen Erfolg ruiniert, da es ihr Ziel gewesen ist, den verschiedenen Wissenschaften den Weg zu ebnen. Was den a n d e r e n Teil, die Weisheit, anbelangt, die die Suche nach Gerechtigkeit und Glück mit einschließt, wird die persönliche Ebene der Aneignung individueller Weisheit - anders als noch bei Montaigne oder Spinoza - nicht mehr in Betracht gezogen. M. - Liegt hier nicht das Hauptproblem des Westens? J. F. - Nicht notwendigerweise. Denn im 18. J a h r h u n d e r t verlagert sich der zweite Teil in den politischen Bereich. Die Erlangung von Gerechtigkeit und Glück wandelt sich zur Kunst, eine gerechte Gesellschaft zu organisieren, die ihre Mitglieder durch kollektive Gerechtigkeit beglückt. Anders gesagt, die Erringung von Wohl, Gerechtigkeit und Glück ist - sozial, kulturell und politisch - die Revolution. 243
Zu dieser Zeit nimmt der moralische Zweig der Philosophie in den politischen Systemen Gestalt an. Im 19. Jahrhundert beginnt bei uns die Ära der großen Utopien, die die Gesellschaft von Kopf bis Fuß erneuern wollen. Die wichtigste dieser Utopien ist der Sozialismus, insbesondere der Marxismus, der das politische Denken fast bis zum Ende des 20. Jahrhunderts beherrschen wird. Aus diesem Blickwinkel setzt sich die Philosophie moralisch das Ziel, von Grund auf eine völlig gerechte Gesellschaft aufzubauen. Der erste wichtige Versuch in dieser Richtung ist die Französische Revolution, die den modernen Revolutionsbegriff prägt. Von dem Moment an, wo den Urhebern einer Revolution ein Gesellschaftsmodell vorschwebt, das sie für vollkommen halten, glauben sie das Recht zu h a b e n , es auch durchzusetzen und, falls nötig, die zu beseitigen, die sich diesem Versuch widersetzen. Noch deutlicher wird das, als der Marxismus-Leninismus mit der bolschewistischen Revolution und später Mao in China zur Praxis übergehen können. Diesen Systemen ist allen die zentrale Idee gemeinsam, daß sich die Suche n a c h dem Heil und die Schaffung des »neuen Menschen« durch die Utopie an der Macht, durch die revolutionäre V e r ä n d e r u n g der Gesellschaft durchsetzen ließen. M. - Worin besteht die Moral, wenn der Sinn der Freiheit und der persönlichen V e r a n t w o r t u n g vom politischen System entwertet wird? J. F. - Sie besteht darin, diesem Ideal zu dienen, damit die absolute Revolution verwirklicht werden kann. Es gibt also keine individuelle Moral mehr, keine Suche nach persönlicher Weisheit. Die individuelle Moral liegt in der Mitwirkung an der kollektiven Moral. Auch im Faschismus und im Nazismus sieht m a n diese Idee der E r n e u e r u n g des Menschen. Für Mussolini wie für Hitler ist die bürgerlichkapitalistische Gesellschaft mit ihrem parlamentarischen System, das dem Geld, der Plutokratie und den J u d e n u n t e r w o r f e n sei, unmoralisch. Es geht d a r u m , den Menschen zu erneuern, indem man von Grund auf eine in allen Belangen vollkommen neue Gesellschaft aufbaut und jeden 244
»liquidiert«, der im Verdacht steht, sich dagegen aufzulehnen. Die revolutionäre Aktion hat die Philosophie und sogar die Religion ersetzt. M. - Mit dem »Erfolg«, den m a n in Rußland kennt und leider noch heute in China. Diese Art von Utopien, die nicht auf der Entwicklung menschlicher Vorzüge beruhen, haben folgendes Problem: Selbst wenn sie zum Beispiel den Egalitarismus und die Aufteilung der Güter predigen, w e r d e n diese Ideale rasch verdreht, und diejenigen, die die Zügel der Macht in der Hand halten, machen daraus ein Instrument zur U n t e r d r ü c k u n g und Ausbeutung ihrer »Genossen«. J. F. - Diese großen Systeme sind alle gescheitert. Sie sind im absolut Bösen zerschellt. Die letzten Demonstrationen dieser Ambition haben die überspanntesten Charaktere offenbart - zum Beispiel in Kambodscha, wo Pol Pot die Logik des Systems bis zum Äußersten getrieben hat. Um einen n e u e n Menschen zu schaffen, um das Vergangene auszulöschen und endlich eine vollkommen gerechte Gesellschaft zu errichten, muß m a n erst einmal alle derzeit lebenden Menschen, die von den vorigen Gesellschaften mehr oder weniger verdorben worden sind, aus dem Weg räumen. Auch wenn die Intellektuellen nicht alle zu derart k a r i k a t u r h a f t e n Kasteiungsexzessen neigen, n e h m e n die meisten von ihnen seit d r e i h u n d e r t J a h r e n an, d a ß die Moralisierung des Menschen und die Durchsetzung von Gerechtigkeit nur über die Schaffung einer neuen, gerechteren, ausgewogeneren und egalitäreren Gesellschaft möglich sei. Das praktische Scheitern und der moralische Mißkredit der politisch-utopischen Systeme - diese Hauptbegebenheit am Ende des 20. J a h r h u n d e r t s - bezeichne ich als das Scheitern der abendländischen Zivilisation in ihrem nichtwissenschaftlichen Bereich. Die soziale Erneuerung sollte an die Stelle der moralischen treten, w a s ins Desaster geführt hat, so daß m a n sich jetzt vollkommen ratlos vor einem Vakuum befindet. Von d a h e r das wiederbelebte Interesse für anspruchslosere Philosophien, die praktische, 245
aus der Erfahrung gewonnene, spirituelle und moralische Ratschläge zur Führung des täglichen Lebens geben. Von daher die wiederbelebte Neugier für Weisheitslehren, die wie der Buddhismus - vom Menschen und vom Mitgefühl handeln und nicht behaupten, die Welt durch Zerstörung zu e r n e u e r n oder die Menschheit durch ihre Beseitigung zu r e g e n e r i e r e n . Diese Wiederbelebung läßt sich mit dem e n o r m e n Fehlschlag der großen politischen Systeme und Utopien erklären, den ich g e r a d e in Kürze b e s c h r i e b e n h a b e . Die Wissenschaft trägt f ü r diese Katastrophe, die durch einen Fanatismus verursacht wurde, der ihr fremd ist, keine Verantwortung. M. - Ich glaube, kein Buddhist w ü r d e Deine Analyse anfechten. Ich erlaube mir, ein oder zwei Gedanken hinzuzufügen, nicht um die Wissenschaft an sich zu kritisieren, sondern um die Gründe zu verstehen, weshalb auch die Wissenschaft, die vorschnell als Allheilmittel b e t r a c h t e t worden ist, die Suche nach Weisheit in den Schatten stellen kann. Die Wissenschaft ist im wesentlichen analytisch und hat daher die Neigung, sich in der unerschöpflichen Komplexität der Erscheinungen zu verlieren. Die Wissenschaft geht an ein derart weites Forschungsfeld heran, daß sie das Interesse und die Neugier der brillantesten Köpfe unserer Zeit auf sich gezogen hat. Das läßt an einen endlosen Goldrausch denken. Die Spiritualität geht ganz anders an die Sache heran. Sie faßt die Prinzipien ins Auge, die dem Wissen und dem Nicht-Wissen, dem Glück und dem Unglück der Menschen zugrunde liegen. Die Wissenschaft berücksichtigt n u r die materiellen oder m a t h e m a t i s c h e n Beweise, während die Spiritualität die innere Überzeugung, die vom kontemplativen Dasein h e r r ü h r t , als gültig anerkennt. J. F. - Vorsicht! Man m u ß Wissenschaft und Wissenschaftsgläubigkeit unterscheiden. Die wissenschaftlichen Erfolge haben glauben machen, es ließe sich an alles auf wissenschaftliche Weise herangehen. Ich erinnere d a r a n , daß sich das gerade von mir kurz beschriebene Phänomen der Zwangsutopie »wissenschaftlicher« Sozialismus nann246
te. Wissenschaftliches hatte er natürlich nichts an sich. Das Gegenteil war der Fall. Die Behauptung, m a n wende wissenschaftliche Kriterien auf die Neugestaltung der menschlichen Gesellschaften an, ist jedoch hochinteressent. Das ist ein perverser Mißbrauch der Vorstellung von Wissenschaft, der viele Schäden angerichtet hat. M. - Bei der richtig verstandenen Wissenschaft besteht die Gefahr darin, im analytischen Eifer zu weit zu gehen und zu einer horizontalen Streuung der Kenntnisse zu gelangen. Fängt man erst an zu zählen, sagt ein arabisches Sprichwort, hört man nicht mehr damit auf. Während meines Geologiestudiums an der n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Fakultät h a b e n wir praktische Übungen zur Morphologie der S a n d k ö r n e r d u r c h g e f ü h r t . Es gab »blanke r u n d e « , »blinkende runde« etc. Daraus ließ sich das Alter der Flüsse oder die Herkunft der Körner ablesen, ob sie aus einem Fluß oder aus dem Meer stammten. Dieses Studium m a g einen begeistern, aber lohnt es wirklich die Mühe? J. F. - Für die Rekonstruktion der Erd- und Klimageschichte, des Wechsels von Erwärmungs- und Eiszeiten, ist das Studium der S a n d k ö r n e r sehr aufschlußreich. Außerdem ist es ganz offensichtlich ein menschliches Verlangen, die Gesetze der Natur kennenzulernen. So ist die Philosophie entstanden. M. - Ich glaube nicht, daß diese Studien, so interessant sie auch sein mögen, die Suche nach Weisheit in den Schatten stellen dürfen. J. F. - Die Wissenschaft, die richtige Wissenschaft, ist dann eine Form der Weisheit, wenn sie völlig unparteiisch ist. Die großen wissenschaftlichen Entdeckungen sind oft von Forschern gemacht worden, zu denen man gesagt hatte: Der Bereich, in dem Sie sich abmühen, ist zu nichts nutze. Nun gehorcht die Forschung aber zuerst dem Drang nach Erkenntnis, und erst dann dem Verlangen nach Zweckdienlichkeit. Überdies zeigt die Geschichte der Wissenschaft, daß die Forscher immer dann die nützlichsten Entdeckungen gemacht haben, wenn sie nur ihrer intellektuellen Neugier gehorchten. Den Nutzen suchten sie erst einmal nicht. 247
Es gibt in der wissenschaftlichen Forschung also eine Art von Gleichgültigkeit, die ein Ausdruck von Weisheit ist. M. - Der Erkenntnisdrang sollte aber auf etwas abzielen, das es wert ist, sein Leben daraufhin einzurichten, und die »Weisheit« den Forscher anhalten, aus sich und den anderen bessere Menschen zu machen. Was wäre das sonst für eine Weisheit? Ist die Neugier, die unparteiische, ein Zweck an sich? J. F. - Du kommst wieder auf Pascal zurück ... Meiner Ansicht nach liegen in unserer westlichen Gesellschaft die Grenzen der wissenschaftlichen Kultur eher darin, daß jeder die Möglichkeit hat, von ihr zu profitieren, aber n u r sehr wenige an ihr teilhaben. Nur eine ganz kleine Minderheit weiß, wie das Universum funktioniert, die Materie, das Leben. Aber Millionen von Menschen - mich mitgerechnet nehmen täglich Aspirin-Tabletten, ohne zu wissen, w a r u m Aspirin bei ihren Unpäßlichkeiten wirkt. Wenn m a n sagt, die Menschheit lebe im wissenschaftlichen Zeitalter, dann stimmt das überhaupt nicht! Sie lebt parallel zum wissenschaftlichen Zeitalter. Ein totaler Analphabet profitiert von den E r r u n g e n s c h a f t e n der Wissenschaft genauso wie ein großer Wissenschaftler. Angesichts der Tatsache, daß selbst der größte Teil der abendländischen Bevölkerung - der Wiege der klassischen und modernen Wissenschaft - innerlich nicht am wissenschaftlichen Denken teilnimmt, m u ß man ihnen jedoch etwas anderes bieten. Dieses andere sind bis vor kurzem die Religionen und die politischen Utopien gewesen. Abgesehen vom Islam erfüllen die Religionen diese Funktion nicht mehr. Und die Utopien haben sich in Blut und Lächerlichkeit zerschlagen. Folglich gibt es ein Vakuum. M. - Ich möchte die buddhistische Definition der Trägheit erwähnen, denn sie paßt zu unserer Diskussion über Wissenschaft und Weisheit. Man spricht von drei Formen der Trägheit. Die erste besteht darin, seine Zeit mit Essen und Schlafen zu verbringen. Die zweite, sich zu sagen: »Einem wie mir wird es nie gelingen, sich zu vervollkommnen.« Im Falle des Buddhismus führt diese Trägheit zu der Überle248
gung: »Unnötig, es zu versuchen, ich werde nie zur spirituellen Verwirklichung gelangen.« Aus Mutlosigkeit zieht man es vor, sich erst gar nicht zu bemühen. Die dritte, in u n s e r e m Fall interessanteste Form besteht darin, sein Leben mit zweitrangigen Aufgaben zu vergeuden, ohne jemals zum Wesentlichen zu kommen. Man verbringt seine Zeit mit dem Versuch, nebensächliche Probleme zu lösen, die sich endlos aneinanderreihen wie die Kräuselungen auf der Oberfläche eines Sees. Man sagt sich: »Wenn ich dieses oder jenes Vorhaben abgeschlossen habe, werde ich mich d a r u m k ü m m e r n , meinem Dasein einen Sinn zu geben.« Meines E r a c h t e n s hängt die horizontale Streuung der Kenntnisse von dieser Form der Trägheit ab, selbst wenn m a n sein ganzes Leben lang mit Eifer zu Werke geht. J. F. - Du sprichst von »nebensächlichen« Problemen. Das ist, meiner Ansicht nach, nicht die richtige Unterscheidung. Es wäre besser, von Problemen mit und ohne Bezug zur spirituellen Verwirklichung zu sprechen. Ein Problem kann aber wichtig sein und keinen Bezug zur spirituellen Verwirklichung haben. M. - Alles hängt von der Betrachtungsweise ab. So ist der finanzielle Ruin für einen ehrgeizigen Bankier ein wichtiges Problem, für jemanden, der der Geschäftswelt überdrüssig ist, jedoch nebensächlich. Aber k o m m e n wir zurück zur Trägheit. Das Heilmittel gegen die erste Form der Trägheit der bloßen Lust auf Essen und Schlafen - ist das Nachdenken über den Tod und die Nicht-Beständigkeit. Man k a n n w e d e r den Moment des Todes v o r a u s s e h e n noch die Umstände, die ihn hervorrufen werden. Daher sollte man keine Zeit verlieren und sich dem Wesentlichen zuwenden. Das Heilmittel gegen die zweite Form der Trägheit - die uns den Mut nimmt, uns einer spirituellen Suche zu verschreiben ist das Nachdenken über die wohltuenden Wirkungen, die die innere Wandlung mit sich bringt. Und das gegen die dritte - die Bevorzugung des Unwesentlichen gegenüber dem Wesentlichen - liegt darin zu begreifen, daß man nur dann ans Ziel seiner endlosen Vorhaben gelangen kann, w e n n m a n sie fallenläßt und sich ohne große Umschweife dem 249
zuwendet, was dem Dasein einen Sinn gibt. Das Leben ist kurz, und wenn m a n innere Vorzüge entwickeln will, ist es niemals zu früh, sich dem zu widmen. J. F. - Du nimmst hier Blaise Pascals Definition der »Zerstreuung« auf, die uns vom Wesentlichen »ablenke«. Auch die wissenschaftliche Forschung, libido sciendi, wo er sich doch so hervorgetan hatte, stufte er als Zerstreuung ein. Das ist ein Fehler. Sowenig man von der Wissenschaft spirituelle Verwirklichung f o r d e r n darf, sowenig sollte m a n glauben, die spirituelle Verwirklichung ersetze die Wissenschaft. Wissenschaft und Technologie gehen auf eine bestimmte Zahl von Fragen ein. Sie befriedigen den Wissensdurst, der schließlich ein g r u n d l e g e n d e r Aspekt des menschlichen Wesens ist. Durch ihre praktische Umsetzung lösen sie eine große Zahl menschlicher Probleme. In dieser Hinsicht bin ich ein Kind des 18. Jahrhunderts. Ich glaube an die Verbesserung des menschlichen Geschicks durch den technischen Fortschritt, sofern er richtig gelenkt wird. Er läßt jedoch ein Vakuum in dem Bereich, den wir im wesentlichen den moralischen Bereich n e n n e n w ü r d e n , den Bereich der Weisheit, der Suche nach persönlichem Gleichgewicht und Seelenheil. Dieses Vakuum läßt sich nach meinem Dafürhalten auf zwei Ebenen füllen. Für die erste ist der Buddhismus ein Beispiel, was seine gegenwärtige Verbreitung im Westen erklärt. Sie ist um so interessanter, als er im Gegensatz zum integralistischen Islamismus keine militante Propaganda betreibt. Er begibt sich n u r an Orte, wo er erwünscht ist oder wohin man ihn - den Unglücklichen - verjagt. Der zweite Weg, um das Vakuum zu füllen, bleibt, so glaube ich, die Umgestaltung der politischen Gesellschaft. Die wesentliche Vorahnung des 18. Jahrhunderts ist, denke ich, nach wie vor richtig. Nur hat m a n sich eben ungeschickt angestellt. Ich glaube - wie übrigens auch der Dalai Lama - an den Wert der demokratischen Gesellschaft, an die tiefe Moralität der Tatsache, daß j e d e r befähigt wird, an der demokratischen Verantwortung teilzuhaben, und an die Möglichkeit, von denen einen Rechenschaftsbericht zu for250
dern, die m a n gewählt hat, damit sie die Macht ausüben, das heißt von seinen Abgeordneten. Die sozialistische Verirrung und der Zusammenbruch der totalitären Systeme dürfen uns nicht glauben machen, daß wir die Hypothese der Errichtung einer gerechten Weltgesellschaft aufgeben müssen. Ganz im Gegenteil. Sie sollen uns daran erinnern, daß wir bei diesem Vorhaben beträchtlich ins Hintertreffen geraten sind, weil wir zugelassen haben, daß die Totalitarismen den demokratischen Ehrgeiz usurpieren. M. - Auf diesem Gebiet fehlt uns eine weitgefaßtere Vorstellung. Der Dalai Lama nennt sie den Sinn der »weltweiten Verantwortung«. Denn es ist u n a n n e h m b a r , daß sich bestimmte Teile der Welt auf Kosten anderer entwickeln. J. F. - Ja, aber jeder Teil der Welt macht, was er will Dummheiten inbegriffen. M. - Um auf das Scheitern der modernen Philosophie zurückzukommen: was mich an den Philosophien seit dem 17. J a h r h u n d e r t am meisten verblüfft, sind die geringen Nutzungsmöglichkeiten für die, die Anhaltspunkte und Prinzipien suchen, um ihrem Leben einen Sinn zu geben. Jeder spirituelle Weg - dessen Ziel es ist, eine wirkliche innere Wandlung herbeizuführen - fordert die praktische Anwendung. Ohne sie können sich die Philosophien eine rasche, hemmungslose Vermehrung von Ideen, von extrem komplizierten intellektuellen Spielen mit minimalem Nutzen leisten. Die Trennung zwischen der Welt der Ideen und der des Seins ist derart, daß es die Verkünder philosophischer Systeme nicht mehr nötig haben, sie selbst vorzuleben. Derzeit gilt es als völlig normal, daß ein großer Philosoph jemand sein kann, den - persönlich gesehen niemand zum Vorbild nehmen würde. Wie schon hervorgehoben: die Hauptfaszination des Weisen ist, daß er die Verkörperung der Vollkommenheit ist, die er lehrt. Diese Vollkommenheit beschränkt sich nicht auf die Kohärenz eines Ideensystems, sondern m u ß sich in allen Aspekten seiner Person abzeichnen und offenbaren. Ein Philosoph darf sich heute durchaus in seinen persönlichen Problemen verlieren oder ein Wissenschaftler in seinen Emotionen. 251
Wenn hingegen ein spirituell engagierter Schüler feststellt, daß die menschlichen Vorzüge - Güte, Toleranz, Frieden mit sich selbst und den anderen - im Laufe der Monate und J a h r e nachlassen statt zunehmen, würde er wissen, daß er sich auf dem falschen Weg befindet. Ich w ü r d e dieses Scheitern der Philosophie daher mit der Tatsache erklären, daß Ideen, ohne jede Wirkung auf die Person, leerlaufen können. J. F. - Ich glaube, die gerade von Dir a n g e f ü h r t e n Beispiele, die es in den westlichen Gesellschaften im Überfluß gibt, illustrieren exakt die Leerstelle, die die - im übrigen außerordentlich kostbaren - wissenschaftlichen Errungenschaften gelassen haben. Ich habe nur einen einzigen Denker erlebt, dessen Lebensweise im 20. J a h r h u n d e r t vollkommen mit dem übereinstimmte, was er schrieb. Das ist Cioran, der französische Moralist r u m ä n i s c h e r Herkunft. Cioran, der ein sehr pessimistischer Autor ist, mit ausgeprägtem Bewußtsein für die Grenzen der menschlichen Existenz - f ü r die Endlichkeit, wie die Philosophen der menschlichen Natur sagen -, hat in völligem Einklang mit seinen Prinzipien gelebt. Nach meiner Kenntnis hat er nie eine bestimmte berufliche Tätigkeit ausgeübt und Ehrungen stets abgelehnt. Ich habe ihn einmal angerufen, um ihm vorzuschlagen, einen ziemlich gut dotierten Literaturpreis entgegenzunehmen. Da ich wußte, daß er äußerst bedürftig war, dachte ich, er wäre glücklich, ihn zu bekommen. Doch er hat ihn rundweg abgelehnt. Er sagte, er wolle absolut keine offizielle Auszeichnung erhalten, ganz gleich, was für eine. Das ist so ein Fall eines Intellektuellen, der in Einklang mit seinen Prinzipien gelebt hat - oder jedenfalls mit seiner Analyse des menschlichen Loses. Die Schilderung, die Du g e r a d e gegeben hast, faßt zusammen, was man die Hauptwunde der abendländischen Zivilisation nennen könnte. Gemeint ist im Grunde die Disk r e p a n z , der Gegensatz, der Widerspruch zwischen den intellektuellen oder künstlerischen Großtaten, die der einzelne verwirklichen kann, und, a n d e r e r s e i t s , der häufig anzutreffenden Armseligkeit seiner moralischen Existenz
oder, ganz einfach, seiner Moral. Hier zeigt sich in der Tat das Vakuum, das die Philosophie durch die Aufgabe der Suche n a c h persönlicher Weisheit hinterlassen hat. Vom 17. Jahrhundert an ist diese Funktion nach alter Tradition von den s o g e n a n n t e n Moralisten ausgefüllt worden. Die Sammlungen von La Rochefoucauld, La Bruyere oder Chamfort t r a g e n z u s a m m e n , was in der Kenntnis der menschlichen Psychologie als recht und billig gilt. Aber auch sie geben in puncto Verhalten keine genauen Richtlinien vor. Letztlich vertreten sie eine Moral des Rückzugs. Sie halten fest, daß die Menschen alle töricht seien. Es gebe lediglich: Ehrgeizlinge, Politiker mit schwachsinnigem Machtwillen, unterwürfige Höflinge, die den Politikern folgen, um Vorteile zu ergattern, und eitle Heuchler, die sich einbilden, Genie zu haben, oder sich für lächerliche Ehren in Stücke reißen lassen. Folglich mischen wir uns in all das nicht ein, betrachten höhnisch grinsend das Schauspiel und hüten uns davor, solchen Schwächen zu verfallen. Gut ... man kann sagen, das sei der Beginn der Weisheit. Leider ist es aber keine Moral, die für alle von Vorteil sein kann. Die einzige Moral, die das könnte, besteht in der Schaffung einer gerechten Gesellschaft. Der Z u s a m m e n b r u c h der utopischen und totalitären Systeme, die eine Krankheit des modernen politischen Denkens w a r e n , und das von den m o d e r n e n Philosophien im Hinblick auf die Moral hinterlassene Vakuum führen heute zu einer sehr vagen Moral, die man als die Menschenrechte bezeichnet, als das H u m a n i t ä r e ... Das ist schon nicht übel, aber es bleibt schlecht definiert ... Das Humanitäre, das darin besteht, Notleidende zu pflegen und ihnen Nahrung zu bringen, ist überaus schätzenswert, und ich hege größte Bewunderung für die, die solche Aufgaben erfüllen. Allein, es lohnt nicht, das Blut einer Wunde aufzuwischen, wenn man nichts unternimmt, um sie zu schließen. Es lohnt nicht, Ärzte nach Liberia zu schicken, wenn m a n dort die niederträchtigen Schurken - die B a n d e n f ü h r e r der verschiedenen aufrührerischen Gruppierungen Liberias - weiter zur Tat schreiten läßt und sie sogar bewaffnet. Nur eine 253
politische Erneuerung kann gegen den Strom steuern und wirklich Einfluß ausüben. Von diesem Standpunkt aus ist die Politik der Menschenrechte seitens der Demokratien, die darauf hinausläuft, jedesmal widerwillig ein p a a r vage E r k l ä r u n g e n abzugeben, w e n n m a n einen chinesischen oder vietnamesischen M a c h t h a b e r empfängt oder ihn besucht und sich ihm zu Füßen wirft, um Verträge auszuhandeln, nicht ausreichend! M. - Du führst das Beispiel Ciorans an, eines pessimistischen Philosophen, der in Einklang mit seinem Denken gelebt hat. Es gibt da, glaube ich, einen wichtigen Unterschied zum Weisen. Es genügt nicht, in Einklang mit seinem Denken zu leben, um ein Weiser zu sein. Dieses Denken m u ß auch einer wirklichen Weisheit e n t s p r e c h e n , einem Wissen, das den Geist von aller Verwirrung und allem Leid befreit, einer Weisheit, die sich in menschlicher Vollkommenheit widerspiegelt. Sonst kann, äußerstenfalls, auch ein Einbrecher oder, schlimmer noch, ein Diktator in Einklang mit seinem Denken leben. Was die politischen Systeme angeht, so bestreitet - außer denen, die Interesse an der Verhöhnung demokratischer Werte h a b e n - niemand, daß die Demokratie derzeit das vernünftigste politische System ist. Doch die Demokratie ähnelt ein wenig einem leeren Haus ... Man muß wissen, was die Bewohner in diesem Haus machen werden: Werden sie es in Ordnung halten, es verschönern oder es nach und nach verfallen lassen? J. F. - Sehr richtig. M. - Im Begriff der Menschenrechte ist die Verantwortung des einzelnen gegenüber der Gesellschaft nicht berücksichtigt. Der Dalai Lama hebt oft die Vorstellung einer weltweiten Verantwortung hervor. In u n s e r e r Welt, die »geschrumpft« ist, da man in einem Tag bequem auf die a n d e r e Seite der Erde gelangen kann, ist sie besonders wichtig. Natürlich ist klar, daß die Umsetzung der demokratischen Ideale sehr schwierig sein wird, wenn sich nicht bei allen Menschen, die diese Erde teilen, ein Sinn für Verantwortung entwickelt. 254
J. F. - Was Du gerade b e s c h r i e b e n hast, nennt sich schlichtweg staatsbürgerliche Gesinnung. M. - Was mir von den Stunden in Staatsbürgerkunde auf der Grundschule in Erinnerung ist, hat mich nicht gerade inspiriert! Unweigerlich kommt man auf die Notwendigkeit zurück, daß sich der einzelne selbst bessern muß, durch Werte, die denen der Weisheit oder des spirituellen Weges verwandt sind, wobei es sich versteht, daß hier von einer Spiritualität die Rede ist, die nicht notgedrungen religiös ist. J. F. - Wie kann man sie definieren? M. - Das f ü h r t uns zum Begriff des Altruismus, der oft ganz falsch verstanden wird. Altruismus heißt nicht, von Zeit zu Zeit ein p a a r gute Taten zu vollbringen, s o n d e r n ständig um das Wohl der anderen besorgt zu sein. In unserer Gesellschaft ist das eine äußerst seltene Einstellung. In einem wirklich demokratischen System m u ß eine Gesellschaft eine Art Gleichgewicht a u f r e c h t e r h a l t e n zwischen dem Wunsch der einzelnen, ein Maximum für sich selbst zu ergattern, und dem allgemeinen Konsens, der die Grenze definiert, von der ab solche Wünsche nicht mehr tolerierbar sind. Nur sehr wenige sind jedoch wirklich vom Wohl der a n d e r e n betroffen. Diese Mentalität zieht auch den Bereich der Politik in Mitleidenschaft. Oft betrachten nämlich die, deren Aufgabe es ist, für das Gemeinwohl zu sorgen, ihre Mission als Laufbahn, in deren Zentrum ihre Person die Vorrangstellung hat. Unter diesen Umständen ist es für sie sehr schwer, vom Unmittelbaren - allem voran ihrer Popularität - abzusehen und das auf lange Sicht für das Wohl aller Wünschenswerte zu berücksichtigen. J. F. - Das ist bei Politikern in der Tat ziemlich selten! M. - Wer sich politisch und sozial engagiert, sollte nicht das Ziel haben, von den anderen Lob und Dankbarkeit zu erhalten, sondern aufrichtig versuchen, ihr Geschick zu verbessern. In dieser Hinsicht läßt sich am Beispiel des Umweltschutzes ein allgemeiner Mangel an Verantwortungssinn e r k e n n e n . Obwohl die schädlichen Folgen der Verschmutzung, der Ausrottung von Tierarten und der Zer255
Störung der Wälder und Naturlandschaften unbestreitbar und in der Mehrzahl der Fälle unbestritten sind, reagiert die Mehrheit der Menschen erst, wenn die Lage für sie persönlich unerträglich wird. So w e r d e n ernste M a ß n a h m e n zur Erhaltung der Ozonschicht wahrscheinlich erst in Kraft gesetzt, wenn es für den Durchschnittsbürger nicht m e h r möglich ist, sich zu sonnen, wie es in Australien langsam der Fall wird, oder wenn die Kinder nicht mehr den Himmel angucken dürfen, weil die ultravioletten Strahlen für ihre Augen zu gefährlich sind, was in Patagonien ebenfalls langsam der Fall wird. Solche Auswirkungen sind seit langem absehbar. Doch hatten sie noch keine unmittelbare Gefahr für die egoistische Bequemlichkeit eines jeden dargestellt. Daher glaube ich, daß der Mangel an Verantwortlichkeit eine der großen Schwächen unseres Zeitalters ist. Auch in diesem Sinne können persönliche Weisheit und spirituelle Praxis von Nutzen sein. J. F. - Ich bin völlig einverstanden ... Dennoch ist das, was im Westen heute mit einiger Ironie »das Recht des Hominismus« und im übrigen der Ökologismus g e n a n n t wird, ein klein wenig der Ersatz für die gescheiterten politischen Ideale des Sozialismus. Die einstigen Langzeitlinken, die keine zusammenhängende Doktrin gesellschaftlicher Umgestaltung m e h r h a b e n , stürzen sich auf das Humanitäre und die Ökologie, um ihresgleichen weiter zu tyrannisieren. M. - Schaffen wir die Ökologie nicht im Keim ab! Sie muß an Macht und Wirksamkeit hinzugewinnen. Ich erinnere mich noch an das Erscheinen des Buches Der stumme Frühling (Silent spring) von Rachel Carson. Ich w a r fünfzehn Jahre alt, und die paar Leute, die sich leidenschaftlich für den Umweltschutz einsetzten, w u r d e n als exzentrische »Hinterwäldler« angesehen. J. F. - Ich bin für die Menschenrechte und für den Schutz der Natur. Tragisch ist nur, daß das Gewicht der Ideologien, die Bankrott gemacht haben, auch hier weiterwirkt. Wer sich dem Schutz der Menschenrechte und der Umwelt verschreibt, hat im allgemeinen zweierlei Maß. Die Mehrheit 256
der h u m a n i t ä r Engagierten sind zum Beispiel eher links. Sie werden nicht zögern, die Existenz politischer Gefangener in Marokko anzuprangern. Warum? Weil Marokko eine alteingesessene Monarchie im amerikanisch-westlichen Lager und ein kapitalistisches Land ist. Für die Anpranger u n g der weitaus s c h w e r w i e g e n d e r e n Menschenrechtsverletzungen in Algerien h a b e n sie dagegen sehr lange gebraucht. M. - Oder in Tibet ... J. F. - Oder in Tibet... Ich spreche von Algerien, weil es als progressives Land gegolten hat, was augenscheinlich ein bitterer Scherz war. Und Tibet ist von China besetzt, einem a n d e r e n »progressiven« Land. Nun h a b e n sich aber zwei Drittel der französischen Intelligentsia zehn J a h r e lang freudig vor Mao Tse-tungs eiskalten, blutbesudelten Füßen gewälzt. Mit der Umwelt ist es nicht anders: Gegen welche Kernkraftwerke hat Greenpeace w ä h r e n d der Katastrophe von Tschernobyl Demonstrationen veranstaltet? Gegen die des Westens! Die viel sicherer waren! Greenpeace hat aber nicht den kleinsten Menschenauflauf gegen die UdSSR organisiert! ... Daß Greenpeace 1995 gegen die französischen Atomversuche im Pazifischen Ozean agitiert hat, ist ihr Recht... Daß sich dieselbe Organisation jedoch im Hinblick auf die weitaus bedrohlicheren Verschmutzungen durch den russischen, »ex-sowjetischen« Atommüll im Nördlichen Eismeer, wo sich überdies ich weiß nicht wie viele Millionen Barrel Erdöl aus lecken russischen Pipelines ergießen, zumindest diskret zeigt ... also, da kann ich nicht mehr an ihre Aufrichtigkeit glauben. Solange der Kampf für die Menschenrechte oder gegen die Umweltverschmutzung durch die alten Ideologien und Voreingenommenheiten, die dazu führen, daß die meisten sogenannten »Ökos« im wesentlichen Linke sind, aus dem Gleichgewicht gebracht wird, nun, solange wird m a n zu keinem Ergebnis gelangen! Solche Kämpfe können nur Anerkennung finden, wenn sie sich an den Realitäten ausrichten und nicht an den Vorurteilen derer, die sie führen. M. - Ich möchte ebenfalls eine Zwischenbemerkung ein257
fügen, um zu betonen, daß man immer nur von den Rechten des »Menschen« spricht. Daß m a n diese Rechte in den Demokratien, die sich laizistisch nennen, auf den Menschen beschränkt, spiegelt die jüdisch-christlichen Werte wider, die die Grundlage der westlichen Zivilisation bleiben. Ihrem Standpunkt zufolge h a b e n die Tiere keine Seele und sind nur zum Verzehr der Menschen da. Das ist eine Vorstellung, die für bestimmte Religionen charakteristisch ist. Mit Blick auf die ganze Welt ist sie jedoch nicht m e h r a n n e h m b a r . Unsere Gene sind zu 99 Prozent mit denen der Mens c h e n a f f e n identisch. Rechtfertigt der Unterschied von einem Prozent, daß wir diese Tiere in den Laboratorien oder in den Schlachthöfen, ohne zu zögern, als bloße Objekte behandeln? J. F. - Es gibt im Westen einen Tierschutzbund. M. - Es scheint aber nicht so, als habe er die Macht, die Gesetze, die die Tiere als »landwirtschaftliche Produkte« oder »Labormaterial« betrachten, zu ändern. Ich möchte hier einen Satz von Leonardo da Vinci zitieren. In seinen Aufzeichnungen* schreibt er: »Die Zeit wird kommen, wo Leute wie ich den Mord an einem Tier so einschätzen werden wie heute den Mord an einem Menschen.« George Bern a r d Shaw w i e d e r u m hat gesagt: »Die Tiere sind meine Freunde ... und ich esse meine Freunde nicht.« Es soll hier nicht bestritten w e r d e n , d a ß es Intelligenzunterschiede zwischen Tieren und Menschen gibt und daß das Leben eines Menschen verhältnismäßig m e h r Wert h a t als das eines Tieres. Doch w a r u m sollte das Recht auf Leben allein den Menschen vorbehalten sein? Alle Lebewesen streben nach Glück und versuchen, dem Leid zu entgehen. Sich das Recht anzumaßen, pro J a h r Millionen von Tieren zu töten, bedeutet ganz einfach, das Recht des Stärkeren auszuüben. Noch vor einigen Jahrhunderten hielt man den Handel mit »Schwarzen« - den Sklaven Schwarzafrikas - für annehmbar. Heutzutage gibt es die Sklaverei noch in Indien, in * Tagebücher und Aufzeichnungen. T e i l s a m m l u n g . von T h e o d o r Lücke. List Verlag, Leipzig 1 9 4 0 .
258
Aus
dem
Italienischen
Pakistan, im Sudan ... wo Kinder für die Fabrik- und Feldarbeit verkauft werden und junge Mädchen für die Prostitution. Anderswo wird die Sklaverei aber generell als Greuel angesehen. Was tun die Menschen, die Völker, wenn sie a u s g e b e u t e t oder u n t e r d r ü c k t w e r d e n ? Sie organisieren sich, schließen sich zusammen, lehnen sich auf ... Die Tiere sind dazu nicht imstande und werden folglich ausgerottet. Ich glaube, das ist ein Problem, das noch einmal völlig ü b e r d a c h t w e r d e n muß. Hinzufügen möchte ich g e r a d e noch, daß diese Art von Verblendung w ä h r e n d der Krise wegen des »Rinderwahnsinns« b e s o n d e r s f r a p p i e r e n d gewesen ist. Der britische Landwirtschaftsminister und seine Amtskollegen auf dem Kontinent h a b e n zu Anfang erklärt, sie seien bereit, Millionen von Rindern, so wörtlich, zu »vernichten«! Wenn fünfzehn Millionen Rinder durch die Straßen Londons geströmt wären, um ihr Recht auf Leben geltend zu machen, hätte die Regierung ihren Standpunkt gewiß noch einmal überprüft. J. F. - Das ist nicht einmal sicher! M. - Zu diesem Zeitpunkt w a r m a n noch nicht einmal sicher, daß die fünfzehn oder zwanzig Personen, die an der Nervenkrankheit gestorben waren, wirklich - wie vermutet - von Rindfleisch infiziert worden waren. Und wären sie es gewesen, wäre das nicht die Schuld der Rinder gewesen, sondern die der Züchter, die ihre Rinder mit a r t f r e m d e m Futter ernährt hatten. Den Wert eines Rinderlebens taxierte m a n auf u n g e f ä h r ein Fünfzehnmillionstel des Wertes eines Menschenlebens. J. F. - Du argumentierst so, als wäre der Mensch der einzige, der Tiere tötet. Die Tiere töten sich auch untereinander! Es genügt, einen Film über das Leben unter Wasser zu sehen, um festzustellen, daß sie sich alle gegenseitig fressen. Jedes Tier lebt ständig in der Furcht, vom anderen verschlungen zu werden! Wie erklärst Du das aus buddhistischer Sicht? M. - Das Leid, das allen Lebewesen widerfährt, die auf dieser Welt gefangen sind, ist die erste von vier Wahrheiten, die der Buddha gelehrt hat. Die Texte erwähnen übrigens, 259
wovon Du sprichst. Einer von ihnen sagt: »Die großen Tiere verschlingen eine unermeßlich große Zahl von kleinen Tieren, während sich viele kleine zusammenschließen, um die großen zu fressen.« Da ständig vom »Fortschritt« der sogen a n n t e n zivilisierten Welt gesprochen wird, könnte m a n meiner Ansicht nach die globale Verminderung des Leids, das wir anderen Lebewesen zu u n s e r e m Vorteil zufügen, in diesen Fortschritt noch einbeziehen. Es gibt a n d e r e Wege, sich zu e r n ä h r e n , als die Tiere systematisch abzuschlachten. J. F. - Während man d a r a u f w a r t e t , daß die Menschen im Westen - was sich nicht abzeichnet - alle Vegetarier werden, kann man jedenfalls dafür kämpfen - und m a n tut es bereits -, daß die Bedingungen der Tierhaltung weniger b a r b a r i s c h sind als bei der m o d e r n e n industriellen Aufzucht. Ihr Los hat sich nämlich verschlimmert im Vergleich zur traditionellen Aufzucht, die ich während meiner Kindheit in der Franche-Comte gekannt habe ... Das Vieh weidete friedlich auf den Wiesen. Im Winter gab man ihm im Stall Heu, niemals künstliches, chemisches Futter - oder Schafsabfälle, w a s den Rinderwahnsinn v e r u r s a c h t hat. Heute werden die armen Viecher unter furchtbaren Bedingungen aufgezogen, eingepfercht und transportiert... M. - Der technische Pseudofortschritt hat in diesem Punkt die Leiden der Tiere verschlimmert und, wie es scheint, gleichzeitig neue Krankheitsursachen für den Menschen geschaffen. Trauriger Fortschritt. J. F. - Da stimme ich mit Dir überein.
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Rote Fahne auf dem Dach der Welt - Kommen wir auf die politische Moral zurück. Meines Wissens hatte der überlieferte Buddhismus keine bestimmte politische Doktrin. Sofern der Einfluß des Buddhismus und der persönliche Einfluß des Dalai Lama zugenommen oder dazu beigetragen haben, das Vakuum in der abendländischen Reflexion über die traditionelle Weisheit zu füllen, ist es interessant festzustellen, daß der Dalai Lama, wie es scheint, über die Teilnahme an der intellektuellen und moralischen Diskussion im Westen seinerseits dazu gebracht w o r d e n ist, eine politische Reflexion aus buddhistischem Blickwinkel zu erarbeiten, die im Hinblick auf das Verhältnis von Demokratie und Gewaltlosigkeit immer weiter fortgeschritten ist. Zu einem ganz bestimmten Fall: Welches Vorgehen empfiehlt sich im Verhältnis von Tibet zu China, um zu konkreten Ergebnissen zu kommen und sich nicht länger darauf zu beschränken, im luftleeren Raum zu protestieren? MATTHIEU - Der Dalai Lama sagt oft, daß er sich nach der tibetischen Tragödie selbst der Fremde ausgesetzt sah, was ihm ermöglicht habe, neue Ideen zu erforschen und die verschiedenen politischen Systeme zu bewerten. Er hat das politische System der Tibeter im Exil vollständig demokratisiert. Sofern Tibet eines Tages seine Freiheit wiedererlange, hat er erklärt, werde er sich eine demokratische Regierung zum Geschenk machen. Er selbst, hat er klargestellt, werde sich dann - so wie Gandhi im Moment der indischen Unabhängigkeit - vom öffentlichen Leben zurückziehen und in der zukünftigen freien tibetischen Regierung keine offizielle Funktion übernehmen. Der Hauptgrund dafür sei, daß er als buddhistischer Mönch keiner politischen Partei mehr beipflichten könne als einer anderen. Derzeit sei sein Kampf im wesentlichen auf die Freiheit und das Wohl des JEAN-FRAN^OIS
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ganzen tibetischen Volkes gerichtet. Man muß jedoch auch daran erinnern, daß es zur Zeit des Buddha bereits demokratische Systeme in Indien gab, zum Beispiel das des Staates der Lichhavi. J. F. - Eine Demokratie in welchem Sinne? Mit Wahlen? M. - Eine Versammlung, die aus erfahrenen Persönlichkeiten zusammengesetzt war, beratschlagte und faßte Mehrheitsentscheidungen. J. F. - Das waren also keine Tyranneien? M. - Nicht einmal Königreiche. Die Beschlüsse wurden g e m e i n s a m gefaßt. Ich glaube a b e r nicht, d a ß es eine Abstimmung gab. Es handelte sich wohl um offene Diskussionen, an denen alle, die etwas Stichhaltiges zu sagen hatten, teilnehmen konnten. J. F. - Eine Demokratie ist das noch nicht ganz. Selbst im Abendland gibt es das allgemeine Wahlrecht aber erst seit sehr kurzer Zeit. M. - Sozialen und politischen Einfluß hat der Buddha insofern gehabt, als er unaufhörlich lehrte, daß alle Menschen dieselben Rechte auf Leben und Glück hätten. Daher stand es außer Frage, die Menschen nach Kaste oder Rasse zu unterscheiden. J. F. - Er hat gegen das Kastensystem gekämpft? M. - Einige Schüler aus niederen Kasten hat er erstaunt. Sie wagten nicht, sich ihm mit der Bitte um Unterweisung zu nähern, denn sie betrachteten sich als Unberührbare. Der Buddha sagte ihnen: »Kommt her, Ihr seid Menschen wie wir alle. Ihr habt in Euch die Natur des Buddha.« Seinen Unterricht allen zugänglich zu machen w a r also eine w a h r h a f t e intellektuelle und soziale Revolution. Die Vorstellung, daß die Menschen alle dasselbe Anrecht auf Glück haben, hat sämtliche buddhistischen Zivilisationen geprägt. J. F. - Die Gleichheit der Menschen: das kann n u r eine G r u n d s a t z e r k l ä r u n g gewesen sein. Der Dalai Lama ist durch die Lage der Tibeter im Exil jedoch gezwungen, sich auf eine modernere Umschreibung der Frage der Demokratie und der Menschenrechte einzulassen. Mit einemmal hat 262
er sich im Kontext geopolitischer Fragen wiedergefunden, im Kontext der Kämpfe zwischen modernen Staaten. Er lebt in einer konkreten Situation: als spiritueller und irdischer Führer eines eroberten Landes, das kolonisiert ist von einer imperialistischen Macht, die seine Kultur zerstören will. Dadurch sah sich der Dalai Lama gezwungen, mit politischem Ziel zu handeln und öffentlich Stellung zu beziehen, in allen Ländern der Welt, die er bereist, Erklärungen abzugeben. Sie können einen Protest zum Ausdruck bringen, d ü r f e n aber nicht die Tür f ü r Verhandlungen zuschlagen und den chinesischen Riesen so weit v e r ä r g e r n , d a ß jede Lösung unmöglich wird. Könnte m a n diese Folge von Begebenheiten als Einführung des Buddhismus in die moderne Diplomatie bezeichnen? M. - Gewiß. Der Dalai Lama hat es verstanden, ein politisches Engagement von großer Aufrichtigkeit mit den grundlegenden Prinzipien des Buddhismus, insbesondere dem der Gewaltlosigkeit, zu verknüpfen. Die Art, wie er von China spricht, steht nämlich in krassem Gegensatz zu den heftigen Vorwürfen der chinesischen Regierung, wenn sie über die »Clique des Dalai Lama« wettert. Er spricht immer von seinen »chinesischen Brüdern und Schwestern« und hält fest, daß China immer der große Nachbar Tibets sein wird: Die einzige d a u e r h a f t e Lösung, schließt er, sei die friedliche Koexistenz. Er wünscht gutnachbarschaftliche Beziehungen, die auf gegenseitigem Respekt gründen. Diese Toleranz müßte nur wechselseitig sein, und China müßte Tibet so leben lassen, wie es das wünscht. J. F. - Die Unterdrückung durch die Chinesen verschärft sich in Tibet jedoch täglich mehr. Wenn man sie so weitermachen läßt, werden sie die tibetische Kultur und vielleicht sogar das tibetische Volk in ein p a a r J a h r e n ausgelöscht haben. Wird der Dalai Lama das Prinzip der Gewaltlosigkeit dann wieder in Frage stellen müssen? M. - Wenn sich das tibetische Volk durch einen demokratischen Beschluß für die Gewalt entschiede, würde sich der Dalai Lama, wie er deutlich gesagt hat, vollständig aus dem politischen Leben zurückziehen. Für ihn ist es ganz klar, 263
daß die Gewaltlosigkeit die einzig realistische und annehmbare Methode ist. J. F. - Wie ist derzeit die Lage in Tibet? M. - Der menschliche Genozid, der einem Fünftel der tibetischen Bevölkerung das Leben gekostet hat, ist einhergegangen mit einem kulturellen Genozid. Gegenwärtig verwendet das kommunistische Regime alle Kräfte darauf, das tibetische Volk in einem Strom chinesischer Siedler aufzulösen. Obwohl die Umsiedlung keine erklärte Politik ist, ermutigt Peking die chinesischen Siedler mit allen erdenklichen Mitteln, sich in Tibet niederzulassen. Auf sieben Millionen Chinesen kommen in Großtibet* derzeit sechs Millionen Tibeter. Am liebsten hätten die Chinesen Verhältnisse wie in der chinesischen Mongolei, wo es nur noch fünfzehn Prozent Einheimische gibt. In einigen großen Städten des alten Tibet, so in Xining in der Provinz Amdo, leben in der großen Mehrzahl Chinesen. In Lhasa wird die Lage bald genauso sein. Auf dem Land sind die Tibeter aber nach wie vor in der Mehrheit. Vor kurzem haben die Chinesen in den Klöstern und Dörfern ihre Lehrgänge in »politischer Umerziehung« w i e d e r a u f g e n o m m e n . Die »Abschlußprüfung« besteht darin, eine Fünf-Punkte-Erklärung zu unterschreiben. »Der Schüler« e r k e n n t darin Tibet als einen Teil Chinas an, sagt sich vom Dalai Lama los, verpflichtet sich, keine ausländischen Radiosender zu hören etc. Der Dalai Lama befürwortet, was ihn anbelangt, eine Volksabstimmung, die unter der tibetischen Exilbevölkerung - etwas m e h r als h u n d e r t t a u s e n d Tibeter in Indien, Nepal und Bhutan - leicht durchzuführen wäre. In Tibet ist es natürlich unmöglich, die Tibeter frei abstimmen zu lassen. Doch man hofft, eine klare Vorstellung davon zu bekommen, was die Leute wünschen. Er wird sicher fragen: »Wollt Ihr, daß wir den >mittleren< Weg fortsetzen, den ich seit m e h r e r e n * Großtibet u m f a ß t die G e s a m t h e i t d e s tibetischen T e r r i t o r i u m s , so wie es w a r , b e v o r die C h i n e s e n es in f ü n f R e g i o n e n a u f t e i l t e n . Die s o g e n a n n t e » a u t o n o m e Region Tibet« b e s t e h t n u r u n g e f ä h r a u s e i n e m Drittel Großtibets. Die a n d e r e n Regionen sind c h i n e s i s c h e n Provinzen a n g e g l i e d e r t w o r den.
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Jahren befürworte: den einer wirklichen Autonomie, in der Tibet seine i n n e r e n Angelegenheiten selbst regelt und China die Kontrolle der auswärtigen Angelegenheiten und der Verteidigung überläßt?« Tibet würde dann ein neutraler Staat, was in dieser Weltgegend in hohem Maße zum Frieden beitrüge. J. F. - Ich würde eher sagen eine autonome Provinz wie Katalonien und kein neutraler Staat wie die Schweiz oder Österreich. M. - Das w ä r e ein außerordentliches Zugeständnis von Seiten des tibetischen Volkes. Sämtlichen Juristenkommissionen zufolge, die seit 1950 z u s a m m e n g e t r e t e n sind, ist Tibet nach internationalem Recht nämlich ein unabhängiges, von einer fremden Macht illegal besetztes Land*. Was die Chinesen übrigens am meisten v e r ä r g e r t und sie an ihrer empfindlichsten Stelle trifft, weit mehr als die Frage der Menschenrechte, ist die Infragestellung der Herrschaft Chinas über Tibet. Man müßte also die Unrechtmäßigkeit ihrer Besetzung Tibets hervorheben. Vor kurzem hat das kommunistische Regime den Dissidenten Liu Xiaobo inhaftiert, nachdem er gewagt hatte zu schreiben, man »müßte mit dem Dalai Lama auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes des tibetischen Volkes verhandeln«. Für die Chinesen war das der Bruch des größten Tabus. Denn das »Mutterland« müßte sich eigentlich Vereinigte Staaten von China n e n n e n , da China f ü n f u n d f ü n f z i g »Minderheiten« u m f a ß t . Nur der kommunistische Schraubstock hält die Teile des Puzzles zusammen. * Die U n t e r s u c h u n g des j ü n g s t e n Z e i t a b s c h n i t t s h a t i 9 6 0 die I n t e r n a t i o n a le K o m m i s s i o n d e r J u r i s t e n d a z u v e r a n l a ß t , in Genf zu e r k l ä r e n : »Zwis c h e n 1 9 1 3 und 1 9 5 0 h a t Tibet alle e r f o r d e r l i c h e n B e d i n g u n g e n erfüllt, die k e n n z e i c h n e n d sind f ü r die Kxistenz eines vom I n t e r n a t i o n a l e n Recht allg e m e i n a n e r k a n n t e n S t a a t e s . 1 9 5 0 g a b es ein Volk, ein T e r r i t o r i u m u n d eine auf d i e s e m T e r r i t o r i u m a m t i e r e n d e Regierung, die ihre i n n e r e n Angelegenheiten lenkte und keiner ä u ß e r e n Autorität u n t e r s t a n d . Von 1 9 1 3 bis 1 9 5 0 zeigen die ä u ß e r e n - allein von d e r t i b e t i s c h e n R e g i e r u n g u n d d e n mit ihr in B e z i e h u n g s t e h e n d e n L ä n d e r n u n t e r h a l t e n e n , in d e n offiziellen D o k u m e n t e n v e r m e r k t e n - B e z i e h l i n g e n T i b e t s , d a ß T i b e t de facto als u n a b h ä n g i g e r Staat b e h a n d e l t w o r d e n ist.«
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Die zweite Möglichkeit wäre, die völlige Unabhängigkeit zu f o r d e r n , auf die Tibet wegen seiner Geschichte ein Anrecht hat. Der Dalai Lama hat bekräftigt, er werde sich der Entscheidung des tibetischen Volkes anschließen und in diesem Sinne vorgehen, auch wenn er unter den gegenwärtigen Umständen die Autonomie-Lösung vorziehe. Sie sei realistischer, denn die Chinesen könnten sie leichter akzeptieren. Die dritte Lösung w ä r e die der Gewalt: zu versuchen, die Chinesen durch Gewalt, Terrorismus etc. dazu zu zwingen, Tibet zu verlassen. Sollten sich die Tibeter dafür entscheiden, so hat der Dalai Lama klar erkennen lassen, daß er sich vom öffentlichen Leben zurückziehen und nur noch ein »einfacher buddhistischer Mönch« sein würde. Es gibt Tibeter, die eine aggressive Politik bevorzugen würden. Im übrigen ist diese Haltung von westlichen Journalisten oft hochgespielt worden. J. F. - Wie viele sind das? M. - Der Dalai Lama diskutiert sehr offen mit den Vertretern dieser Haltung, die sich frei äußern können. Sie wohnen in Dharamsala, dem Sitz der tibetischen Exilregierung in Indien, r e p r ä s e n t i e r e n jedoch nur einen geringen Prozentsatz der tibetischen Exilbevölkerung. Ihr Standpunkt ist nicht sehr realistisch. Wenn die Tibeter zu den Waffen griffen, h ä t t e n sie ü b e r h a u p t keine Chance gegen Chinas Unterdrückungsmaschinerie. Ihr Los würde noch bedauernswerter. Selbst Länder, die über J a h r e hinweg Terror ausgeübt haben, sahen ihre Hoffnungen erst an dem Tag erfüllt, als sie beschlossen, eine friedliche Lösung auszuhandeln. J. F. - Oder als sie Hilfe von einer ausländischen Macht bekamen wie die Afghanen von den Vereinigten Staaten. M. - Der Dalai Lama möchte, daß die Gewaltlosigkeit u n t e r keinen Umständen aufgegeben wird. Von den Großmächten erbittet er nur, daß sie Druck auf die chinesische Regierung ausüben, damit sie mit dem Dalai Lama und der tibetischen Exilregierung wirkliche Verhandlungen aufnimmt. Im Laufe der Jahre ist die einzige Antwort der chinesischen Regierung gewesen: »Einverstanden, reden wir 266
über die Rückkehr des Dalai Lama nach Tibet.« Was überhaupt nicht zur Debatte steht. Deng Xiaoping hat vor fünfzehn J a h r e n erklärt: »Abgesehen von der völligen Unabhängigkeit Tibets kann über jede andere Frage diskutiert werden.« Diese Erklärung hat er aber nie eingelöst. So hat er sich allem voran geweigert, den Fünf-Punkte-Plan zu diskutieren, den der Dalai Lama 1987 während seiner Rede vor dem Amerikanischen Kongreß dargelegt hat*... 1988 hat der Dalai Lama vor dem Europäischen P a r l a m e n t in S t r a ß b u r g bekanntgegeben, daß er - obwohl Tibet historisch ein unabhängiges, seit 1950 von China besetztes Land sei - den Verzicht auf die Unabhängigkeit h i n n ä h m e . Er biete China Verhandlungen auf der Grundlage einer Autonomie an, die es Tibet gestatte, seine inneren Angelegenheiten selbst zu regeln, und China die Sorge um die auswärtigen Angelegenheiten und die Verteidigung überlasse. Trotz dieses großen Zugeständnisses haben die Chinesen nie akzeptiert, den Dialog mit dem Dalai Lama und der tibetischen Exilregierung aufzunehmen. J. F. - Leider! Die westlichen Demokratien üben k a u m Druck auf China aus, damit es eine Diskussion des FünfPunkte-Programms akzeptiert! M. - Die meisten westlichen Regierungschefs haben sehr große Sympathie für den Dalai Lama und die Sache Tibets. Diese Haltung rechtfertigt die unglaubliche Energie, die der Dalai Lama aufbietet. Ständig ist er auf Reisen, um für die Sache Tibets einzutreten. Sobald es jedoch d a r u m geht, einen Airbus zu verkaufen oder Erzeugnisse aus den Ar* F ü n f - P u n k t o - F r i o d e n s p l a n , v o r g e s c h l a g e n vom Dalai Lama am 21. Sept e m b e r 1 9 8 7 vor d e m A u s s c h u ß f ü r M e n s c h e n r e c h t e des a m e r i k a n i s c h e n Kongresses: 1) U m w a n d l u n g ganz Tibets (einschließlich der Provinzen Amdo und Kham) in eine Friedenszone; 2) Aufgabe der chinesischen Umsiedlungspolitik, die die Existenz d e r Tibeter als Volk b e d r o h t ; 3) Anerk e n n u n g d e r d e m o k r a t i s c h e n Freiheiten u n d d e r M e n s c h e n r e c h t e f ü r d a s tibetische Volk; 4) W i e d e r h e r s t e l l u n g und Schutz d e r n a t ü r l i c h e n U m w e l t Tibets u n d A u f g a b e d e r c h i n e s i s c h e n N u t z u n g Tibets f ü r die W a f f e n p r o d u k t i o n u n d die D e p o n i e r u n g von A t o m m ü l l ; 5 ) A u f n a h m e o f f e n e r Verh a n d l u n g e n ü b e r den zukünftigen Status Tibets und die B e z i e h u n g e n zwis c h e n d e m tibetischen u n d d e m c h i n e s i s c h e n Volk.
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beitslagern und Gefängnissen zu importieren oder neue Märkte in China zu erschließen, entpuppt sich diese Sympathie leider als folgenlos. Gut ... Der Dalai Lama sagt, er verstehe sehr wohl, daß diese Nationen für ihre wirtschaftliche Zukunft sorgen m ü ß t e n und daß keine Nation die Interessen Tibets vor ihre eigenen stellen könnte. Man könnte jedoch hoffen, daß die Achtung vor den demokratischen Werten die westlichen Regierungen zu konkreterem Handeln v e r a n l a s s e n würde! Die chinesische Regierung, die überaus zynisch ist, freut sich über ihre Laschheit. Die Chinesen stoßen maßlose Drohungen aus, die sie nicht imstande w ä r e n , in die Tat umzusetzen. Doch diese Drohungen genügen, um die Vertreter des Westens, die sich in beklagenswerter Weise bluffen lassen, zu lähmen. Was die Chinesen auch behaupten mögen: sie haben die westlichen Investitionen weitaus nötiger als der Westen die chinesischen Märkte. Es gäbe also durchaus Mittel, um Druck auszuüben, w e n n die westlichen Demokratien das wollten. F r ü h e r h a b e n die Chinesen Amerika einen »Papiertiger« genannt. Gegenwärtig sind sie die Papiertiger. Sowie m a n ihre Drohungen ignoriert, lassen sie sie fallen. J. F. - Der König von Norwegen, diesem kleinen Land von vier Millionen Einwohnern, hat gegenüber China, diesem Koloß von einer Milliarde zweihundert Millionen Einw o h n e r n , m e h r Mut bewiesen als alle westlichen Großmächte. M. - China hatte gedroht, die diplomatischen Beziehungen zu Norwegen abzubrechen, falls der König, wie es der Brauch will, dem Dalai Lama persönlich den Nobelpreis aushändigte. Der König hat erwidert: »Tun Sie es doch!« ... Und die Chinesen haben es natürlich nicht getan! 1996 hat China Australien gedroht, wichtige Wirtschaftsverträge aufzukündigen, falls der Premierminister und der Außenminister den Dalai Lama empfingen. Die Minister und das australische Volk h a b e n Wert darauf gelegt, den Dalai Lama in triumphaler Weise zu empfangen, und die chinesischen Drohungen sind wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Sowie sich die Regierungen aber von ihnen 268
erpressen lassen, reiben sich die Chinesen die Hände, und ihre Verachtung für den Westen nimmt noch zu. Ganz insgeheim w ä r e ich einem »gewaltlosen Terrorismus« nicht abgeneigt. So habe ich oft daran gedacht, die am Tiananmen-Platz aufbewahrte »Mumie« Mao Tse-tungs zu sprengen. Es gäbe kein Opfer - Mao k a n n nicht zweimal sterben -, a b e r was f ü r einen »Radau« w ü r d e das in der kommunistischen Kirche machen! Doch in Wirklichkeit geht nichts über die Gewaltlosigkeit. J. F. - Das Martyrium des heutigen Tibet hat eine zweifache Bedeutung. Zum einen zieht Tibet Mitgefühl auf sich, denn es ist eines der vielen Länder, die von einer kommunistischen Macht unterdrückt werden und dem Völkermord preisgegeben sind. Zum anderen zieht Tibet als idealer Sitz des Buddhismus Sympathien auf sich, zumal diese Weisheit gegenwärtig die Ausstrahlung in der Welt hat, von der wir eben sprachen. Diese beiden Faktoren machen einen ganz speziellen Fall daraus. Im übrigen ist eine Sache verblüffend in der Geschichte des Buddhismus: daß seine Vertreter, nachdem sie fast zwei Jahrtausende in ganz Indien gewirkt hatten, vom 12. J a h r h u n d e r t an mehr oder weniger im Exil lebten. Die buddhistische Diaspora ist Ursache sehr großer E n t t ä u s c h u n g e n und Schwierigkeiten für die Buddhisten gewesen, und sie ist vielleicht zugleich auch eines der Geheimnisse der Verbreitung der Lehre. M. - Der Dalai Lama sagt oft: »Tibet hat, a n d e r s als Kuwait, kein Öl für Motoren, doch es hat Öl für den Geist, was rechtfertigen würde, daß man ihm zu Hilfe kommt.« Als die Armeen des kommunistischen China 1949 n a c h Tibet einmarschierten, hat die tibetische Regierung einen Dringlichkeitsappell an die UNO gerichtet mit der Bitte um Unterstützung beim Widerstand gegen die Aggression. England und Indien haben der Vollversammlung empfohlen, nicht zu reagieren, um - wie sie sagten - einen Konflikt in großem Maßstab zu verhindern. Für die Mehrzahl der Länder war der Angriff Chinas auf Tibet jedoch eine Aggression. 1959, 1961 und 1965 wird das während der Debatten in 269
den Plenarsitzungen der UNO-Vollversammlung offensichtlich. Der Vertreter Irlands, Frank Aiken, erklärte: »Tausende von Jahren, oder zumindest zwei Jahrtausende lang, ist Tibet genauso frei und Herr seiner Angelegenheiten gewesen wie jede a n d e r e Nation dieser Versammlung, u n d t a u s e n d m a l freier, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, als viele der hier anwesenden Nationen.« Nur die Länder des kommunistischen Blocks haben offen Partei f ü r China ergriffen. W a r u m zum Teufel h ä t t e n die Chinesen Tibet - wie sie sagten - »befreien« sollen, wenn es ihnen nicht gehörte? Zu verschiedenen Zeiten seiner langen Geschichte hat Tibet unter dem Einfluß der Mongolen, der Nepalesen, der Mandschuren und der britischen Gouv e r n e u r e Indiens gestanden. Zu a n d e r e n Zeiten w a r es Tibet, das Einfluß auf die Nachbarländer ausübte - China inbegriffen, da die chinesische Provinz Xian einst Abgaben an den König von Tibet zahlte. Es wäre schwer, auf der Welt einen Staat ausfindig zu machen, der in seiner Geschichte noch nie unter fremder Vorherrschaft oder f r e m d e m Einfluß gestanden hat. Doch w ü r d e Frankreich Italien unter dem Vorwand einfordern, d a ß Napoleon es f ü r ein p a a r Jahre erobert hatte? J. F. - Ich denke, der Fall Tibets ist aus einer Vielzahl von Gründen kompliziert gewesen, insbesondere wegen seiner geographischen Lage. Nicht nur die Feigheit der westlichen Demokratien ist beträchtlich: Auf geostrategischer Ebene ist es auch sehr schwierig, in Tibet militärisch zu intervenieren. M. - Der Dalai Lama b e h a r r t gerade auf den Vorteilen, die sich aus Tibet ziehen ließen. Aufgrund seiner geographischen Lage könnte ein Pufferstaat aus ihm werden, eine Insel des Friedens inmitten der großen asiatischen Mächte. Gegenwärtig stehen sich die indische und die chinesische Armee auf Tausenden von Grenzkilometern gegenüber. 1962 hat die chinesische Armee ein Drittel von Ladakh annektiert und ist in Assam in zwei indische Provinzen eingedrungen. 270
J. F. - Die Demokratien begreifen nie, daß totalitäre Systeme ä u ß e r s t v e r w u n d b a r sind, vor allem durch die Waffe, die sie selbst so gerne gegen uns a n w e n d e n , das heißt durch die Propaganda. Mehr noch: w a r u m sind die Chinesen j e d e s m a l a u ß e r sich vor Wut, w e n n irgendein A n h ä n g e r Tibets vor einer Botschaft Chinas eine Fahne hervorholt? Warum protestiert China, sobald sich eine kleine Konferenz mit fünfzehn Teilnehmern zusammenfindet, um die Unabhängigkeit Tibets zu fordern? M. - Oder wenn hunderttausend junge Leute, wie kürzlich in Kalifornien, an einem dreitägigen Rockkonzert teilnehmen, das der Sache Tibets gewidmet ist. Oder w a r u m d r o h e n sie damit, die Niederlassung eines Disneyland in China zu verbieten, wenn Disney nicht auf die Produktion eines Films von Martin Scorcese über das Leben des Dalai Lama verzichtet. Mao gegen Mickey Mouse, das nimmt eine Wendung ins Lächerliche! J. F. - Sie tun das, weil sie sich völlig darüber im klaren sind, daß ihre Besetzung Tibets u n r e c h t m ä ß i g ist. Ein großer Historiker und Politologe, Guglielmo Ferrero, hat in seinem Buch Macht* gezeigt, daß illegitime Staaten eine Heidenangst vor allem h a b e n , was die fehlende Rechtmäßigkeit der von ihnen a u s g e ü b t e n Macht bloßstellen könnte. Die Demokratien nutzen aber nicht einmal die pazifistischen Waffen, über die sie verfügen. Zumal China, wie bereits gesagt, den Westen viel m e h r b r a u c h t als der Westen China. Demnach wäre es durchaus möglich, China zur Vernunft zu bringen und jedenfalls die g r a u s a m s t e n Extreme, die es Tibet derzeit zufügt, zu verhindern. M. - Wenn man den Dalai Lama fragt, worauf er seine Hoffnung auf ein freies Tibet gründe, antwortet er: »Auf die Tatsache, daß u n s e r e Sache berechtigt und legitim ist.« Die Wahrheit, sagt er, habe eine Kraft an sich. Die Lüge hingegen sei lediglich eine zerbrechliche Fassade, die nur unter ungeheuren, über kurz oder lang zum Scheitern verurteilten Mühen a u f r e c h t z u e r h a l t e n sei. Kurz, m a n * Übersetzt von F r a n c i s Bondy. Francke, Bern 1944.
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darf nicht vergessen, daß die Zukunft Tibets nicht n u r sechs Millionen Tibeter betrifft, sondern auch eine Weisheit, die zum Welterbe gehört und es wert ist, gerettet zu werden.
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Der Buddhismus: Niedergang und Renaissance - Es ist unbestreitbar, daß die Verbreitung des Buddhismus im Westen begünstigt worden ist d u r c h das D r a m a Tibets, d u r c h das e r z w u n g e n e Exil des Dalai Lama und die Flucht vieler Rinpoches, Lamas, Mönche und Laien, die so auf allen Kontinenten inner- und a u ß e r h a l b Asiens in Berührung mit anderen Kulturen gebracht worden sind. Das genügt zwar nicht, um das gegenwärtige Interesse zu erklären. Es stellt jedoch einen begünstigenden Faktor für die Neugier dar, die es in Europa hinsichtlich des Buddhismus gibt. Im übrigen hat er immer eine große Anpassungsfähigkeit bewiesen, da er sich seit Ende des 12. J a h r h u n d e r t s in die Diaspora gedrängt sah. Man muß d a r a n erinnern, daß sich die buddhistische Lehre zur Zeit des Kaisers Aschoka im 3. Jahrhundert vor Christus - eineinhalb J a h r h u n d e r t e n a c h dem Tod des Buddha (Kaiser Aschoka hatte sich selbst bekehrt) - in ganz Indien und seinen Nachbarländern verbreitet hatte. Vom 6. J a h r h u n d e r t vor Christus bis zum 12./13. Jahrhundert, als er infolge der islamischen Invasion in Indien verfolgt w u r d e , w a r der Buddhismus, neben dem Hinduismus, eine der beiden Hauptreligionen Indiens. Das Eindringen des Islam w a r ein beträchtlicher Schock f ü r alle, und vom 12. bis zum 18. Jahrhundert geriet ein Teil Indiens unter moslemische Herrschaft. Die hinduistische Religion ist trotz allem die vorherrschende Religion geblieben. Der Buddhismus dagegen ist vertrieben worden. Warum? MATTHIEU - Was die Diaspora anbetrifft, so ist es richtig, daß man an den Himalayahängen von Indien, Bhutan und Nepal um 1960 eine außergewöhnliche Konzentration der bedeutendsten spirituellen Meister Tibets antraf. Sie w a r e n vor der chinesischen Invasion geflohen. Wären sie in Tibet geblieben, hätte man eine monatelange Reise zu Fuß oder JEAN-FRAN^OIS
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zu Pferd unternehmen müssen, um sie zu treffen, vorausgesetzt, m a n hatte ü b e r h a u p t eine Ahnung von ihrem Dasein. Diese t r a u r i g e n Begebenheiten - die chinesische Besetzung und das Exil - haben dem Westen die Gelegenheit gegeben, mit diesen Meistern und Wahrern einer uralten Tradition in Kontakt zu treten. Etliche von ihnen w a r e n sehr alt, und viele sind nicht mehr am Leben. Auch das gibt den Filmen von Arnaud Desjardins ihren außergewöhnlichen Charakter. Allgemeiner gesagt: der Buddhismus ist im Laufe seiner Geschichte ganz schön h e r u m g e k o m m e n . Ursprünglich w a r e n die buddhistischen Mönche übrigens umherziehende Mönche. Der Buddha selbst reiste ständig h e r u m und blieb nur während der drei Sommermonate für die »Zurückgezogenheit der Regenzeit« an einem Ort. Während dieser Zurückgezogenheit suchten die Mönche Schutz in provisorischen Hütten aus Bambus und Blattwerk. Danach reisten sie wieder h e r u m . Im Laufe der J a h r e ä u ß e r t e n Wohltäter des Buddha den Wunsch, ihm einen Ort zu überlassen, wo er und seine Mönche jedes J a h r die SommerZurückgezogenheit verbringen könnten. Die Spender fingen also an, feste Gebäude zu errichten, die in ihrer Form an Bambushütten erinnerten. Mit der Zeit wohnten einige Mönche das ganze Jahr über in diesen »Vihara«, wie sie sich nannten. Dann ließen sich dort ganze Gemeinschaften nieder, und so bildeten sich die ersten Klöster. Anfangs blieb der Buddhismus lange auf die Provinz Magadha, das heutige Bihar in Indien, begrenzt. Anschließend verbreitete er sich in ganz Indien bis hin n a c h Afghanistan und erlebte eine Blütezeit. Es gab Kontakte zu Griechenland, von denen eine berühmte philosophische Dialog-Sammlung zwischen einem buddhistischen Weisen und dem griechischen König Maiandros zeugt, der im 2. Jahrhundert vor Christus Baktrien regierte. J. F. - Stellen wir für Leser, die in der antiken Geschichte nicht so b e w a n d e r t sind, klar, daß sich das hellenistische Zeitalter des Königs Maiandros von der Zeit des eigentlichen griechischen Stadtstaates, die im ausgehenden 4. Jahrhun274
dert vor Christus zu Ende geht, bis zur Mitte des 1. J a h r hunderts vor unserer Zeitrechnung, dem Zeitalter des siegreichen Römischen Reiches, erstreckt. M. - Sicherlich hat das Hin und Her der Händlerkarawanen eine Begegnung zwischen dem Buddhismus und der griechischen Zivilisation möglich gemacht, die sehr offen für geistige Strömungen von außen war. J. F. - Die Eroberungen Alexanders haben diese Kontakte noch vertieft, was allem voran zur Entstehung der griechisch-buddhistischen Kunst geführt hat. M. - Etwa im 8., vor allem a b e r im 9. J a h r h u n d e r t wurde der Buddhismus in Tibet von Padmasambhava eingeführt, der von König Trisong Detsen eingeladen worden war. Der König, der bereits einen buddhistischen Meister hatte, wollte das erste große Kloster Tibets erbauen. Auf A n r a t e n seines Lehrers lud er P a d m a s a m b h a v a , den g e a c h t e t s t e n Weisen seiner Zeit ein. P a d m a s a m b h a v a wird heute von den Tibetern als ein »zweiter Buddha« angesehen, weil ihm die Verbreitung des Buddhismus in Tibet zu verdanken ist. Der Meister kam also und überwachte den Bau von Samye, dem ersten tibetischen Kloster. Er war auch der Initiator der Übersetzung des Buddhistischen Kanons aus dem Sanskrit ins Tibetische. Rund h u n d e r t große buddhistische Gelehrte lud er d a f ü r aus Indien nach Tibet ein. Und er schickte junge Tibeter nach Indien, damit sie Sanskrit lernten. Etwa fünfzig J a h r e lang tagte ein Kollegium aus tibetischen Übersetzern und indischen Gelehrten in Samye, um die hundertdrei Bände der Lehrreden des Buddha und die zweihundertdreizehn Bände der indischen Kommentare zu übersetzen. Während der zwei oder drei folgenden J a h r h u n d e r t e gingen andere tibetische Meister nach Indien, wo sie manchmal zehn oder zwanzig J a h r e blieben. Sie brachten Texte mit nach Tibet zurück, die während der ersten Übersetzungswelle nicht übertragen worden waren. Mehrere spirituelle Strömungen - d a r u n t e r vier H a u p t s t r ö m u n g e n - t r a t e n unter der Inspiration besonders h e r a u s r a g e n d e r Meister hervor. Die Blüte des Buddhismus in Tibet setzte sich dann 275
ohne U n t e r b r e c h u n g bis zur kommunistischen Invasion Chinas fort. J. F. - Was passierte während dieser Zeit in Indien? M. - Die Verfolgung des Buddhismus durch die Moslems erreicht in Indien am Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Der bereits im Niedergang begriffene Buddhismus bietet ein leichtes Ziel. Die großen buddhistischen Universitäten sind nämlich leicht zu e r k e n n e n . In denen von Nalanda und von Vikramashila sammeln sich Tausende von Studenten unter der Vormundschaft der größten Meister der Zeit. Sie beherbergen riesige Bibliotheken, die in ihrem Reichtum vergleichbar sind mit der berühmten Bibliothek von Alexandria. Diese Bauwerke sind alle zerstört, die Bücher verbrannt und die Mönche ausgerottet worden. J. F. - Und die besondere Sichtbarkeit des Buddhismus aufgrund seiner Universitäten, Bibliotheken und Klöster soll erklären, daß er leichter zu vertreiben w a r als der widerstandsfähigere Hinduismus? M. - Nicht nur. Der Niedergang des Buddhismus hatte in Indien bereits begonnen, aus Gründen, die nicht ganz klar sind. Die neue Blüte brahmanischer Traditionen und die Verschmelzung einiger buddhistischer Anschauungen in dem Vedanta - einer der metaphysischen Hauptströmungen des Hinduismus - schwächten den Einfluß des Buddhismus seit dem 6. J a h r h u n d e r t ab. Nach seiner Ausbreitung in ganz Indien konzentrierte er sich wieder in der Region von Magadha, dem heutigen Bihar, sowie im heutigen Bangladesch. Der Vedanta advaita, der Nachdruck auf die Nicht-Dualität legt, hatte wichtige Punkte der buddhistischen Philosophie übernommen und sie gleichzeitig kritisiert. Dieser Einfluß half, den Graben, der den Buddhismus in der Lehre vom Hinduismus trennte, ein wenig zuzuschütten. Zudem war Indien dem Kastensystem, das der Buddhismus wissentlich ignorierte, stark verbunden. Es stimmt aber auch, daß die Studienzentren und Klöster aufgrund ihrer Bedeutung für die moslemischen Horden günstige Ziele boten. Manchmal hielten sie sie für Festungen und fackelten nicht lange! 276
J. F. - Haben bestimmte Vorstellungen des Buddhismus im Hinduismus überdauert? M. - Sagen wir, sie sind ihm nach und nach einverleibt worden, auch wenn die hinduistischen Philosophien den Buddhismus im Bereich der Lehre weiter attackierten. J. F. - Demnach ist der Buddhismus eines der seltenen Beispiele für eine - sagen wir der Bequemlichkeit halber Religion, die vom Schauplatz ihrer Entstehung, wo sie sich über mehr als ein Jahrtausend hinweg ausgebreitet hatte, vertrieben w o r d e n ist. Ein a n d e r e s Beispiel, das m a n a n f ü h r e n könnte, ist die Unterdrückung, das Aussterben und die teilweise Entwurzelung der präkolumbischen Religionen infolge der spanischen - allgemeiner der europäischen - Eroberung Lateinamerikas. M. - In einer Form, die sich Theravada nennt, hat sich der Buddhismus auch in Richtung Süden nach Sri Lanka ausgedehnt, dann in Richtung Osten nach Thailand, Birma, Laos ... Im 6. J a h r h u n d e r t hat er sich in Form des sogen a n n t e n »Großen Fahrzeugs« in Richtung Norden n a c h China ausgebreitet und d a n a c h n a c h J a p a n , wo er sich besonders in Form des Zen-Buddhismus fortentwickelt hat, der Nachdruck auf die Beobachtung der Natur des Geistes legt. J. F. - Nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist der ZenBuddhismus bis 1970 die im Westen bekannteste und modischste Form des Buddhismus gewesen. Während der Protestbewegung gegen die westliche Zivilisation in den sechziger J a h r e n schwärmten die Studenten von Berkeley sehr für den Zen-Buddhismus. Sogar da versuchten manche noch, eine Form des Synkretismus zwischen einer politischen Doktrin und dem Buddhismus herbeizuführen. Sie e r s a n n e n den von ihnen sogenannten »Zen-Marxismus«, der - wie ich feststellen, aber nicht bedauern muß - nicht sehr lange überlebt hat. M. - Der Zen-Buddhismus floriert im Westen i m m e r noch. Interessant ist jedoch, daß alle Aspekte und Stufen des Buddhismus - die sogenannten »Drei Fahrzeuge« - in Tibet mit großer Zuverlässigkeit b e w a h r t und überliefert 277
worden sind. Das erlaubt dem einzelnen, die unterschiedlichen Stufen der Lehre in seinen spirituellen Weg mit einzubeziehen. Die Praxis des Kleinen F a h r z e u g s - oder um einen respektvolleren Ausdruck zu benutzen: der Theravada, das »Wort der Ältesten« - hat ihren Ursprung in der Laienethik und der Klosterdisziplin, in der Betrachtung der Unvollkommenheiten der gewöhnlichen Welt und der Belanglosigkeit der Sorgen, die den meisten unserer Tätigkeiten z u g r u n d e liegen. Diese Überlegungen wecken im Praktizierenden den Wunsch, sich vom Leid und vom Kreislauf der Existenzen, dem »Samsara«, zu befreien. Dem T h e r a v a d a mangelt es w e d e r an Nächstenliebe noch an Mitgefühl für die Leidenden. Das Große Fahrzeug, das m a n in Tibet, China und J a p a n findet, hat jedoch besond e r e n Nachdruck auf die Liebe und das Mitgefühl gelegt. Seiner Lehre zufolge ist es unnütz, sich selbst vom Leid zu befreien, wenn alle Menschen um einen herum weiter leiden. Das Ziel des Weges ist im wesentlichen, sich zum Wohl der anderen innerlich zu wandeln. In Indien, vor allem aber in Tibet, hat sich gleichfalls ein drittes Fahrzeug herausgebildet: das Diamant-Fahrzeug oder Vajrayana. Es fügt den beiden Vorläufern spirituelle Techniken hinzu, die es erlauben, noch schneller die in uns vorhandene Buddha-Natur zu aktualisieren und die »ursprüngliche Reinheit« der Erscheinungen zu erfassen. Diese Vorstellung dämpft das Mitgefühl keineswegs, sie vertieft und stärkt es. Das Zusammentreffen geographischer und politischer Umstände hat es Tibet also erlaubt, die drei Fahrzeuge des Buddhismus auf einem einzigen Weg zu integrieren. J. F. - Infolge seiner Mißgeschicke scheint der Buddhism u s eine übernationale Berufung erlangt zu h a b e n , was seine gegenwärtige Verbreitung im Westen vielleicht begünstigt. Er ist an keine bestimmte Kultur gebunden, auch wenn er im Verlauf seiner Geschichte eng mit unterschiedlichen Kulturen v e r k n ü p f t war. Selbst wenn Tibet, das eine Art geographischer und zugleich spiritueller Festung ist, sämtliche Komponenten des Buddhismus über m e h r als ein Jahrtausend hinweg erhalten konnte, haben 278
sich die buddhistischen Lehren trotzdem in so unterschiedlichen Kulturen wie der Sri Lankas und Japans verbreitet. Nimmt der Buddhismus das »Kolorit« der Länder an, wo er eine Blütezeit erlebt? M. - In Tibet gab es zum Beispiel die alteingesessene Bön-Religion, die in einigen Aspekten mit dem Animismus verwandt ist. Sie besitzt aber auch eine vielschichtige Metaphysik und hat bis in unsere Zeit überlebt. Im 9. Jahrhundert rivalisierten der Bön und der Buddhismus in metaphysischen Fragen. Einige Bräuche des Bön w u r d e n vom Buddhismus v e r e i n n a h m t und »buddhisiert«. Ähnliche P h ä n o m e n e hat es in Thailand, J a p a n etc. gegeben und wird es sicher auch im Westen geben. Doch die Essenz des Buddhismus hat sich nicht geändert. J. F. - Lehre und Praxis des Buddhismus haben unzweifelhaft eine universalistische Bestimmung. Viele Religionen geben jedoch vor, universale Bedeutung zu haben. Selbstverständlich das Christentum, vor allem der Katholizismus, da das Wort »Katholizismus« aus dem Griechischen kommt und universal bedeutet. Daher das Recht, das er sich allzu oft angemaßt hat, die Menschen mit Gewalt zu bekehren. Auch der Islam hat einen Hang zur weltweiten Ausdehnung, bei Bedarf mit Messer und Gewehr. Denn um einer dieser Religionen anzugehören, muß man zuerst den Glauben an eine gewisse Zahl von Dogmen a n n e h m e n . Beim Buddhismus ist das nicht der Fall. Seine universale - sagen wir auf andere Kulturen als die seiner Herkunft ausdehnbare - Bestimmung ließe sich in keiner Weise mit der Ford e r u n g nach Unterwerfung seitens des neuen Anhängers verbinden: nicht unter einen Glauben und noch weniger unter einen Zwang. M. - Der Buddha hat gesagt: »Nehmt meine Lehre nicht aus Achtung vor mir an. Überprüft sie und entdeckt darin die Wahrheit wieder.« Ebenso hat er gesagt: »Ich habe Euch den Weg gezeigt, es ist an Euch, ihn zu gehen.« Die Lehre des Buddha ist wie ein Notizbuch, das den Weg zur Erkenntnis, den er selbst gegangen ist, beschreibt und erklärt. Um »Buddhist« zu werden, nimmt man, genaugenommen, 279
Zuflucht im Buddha: nicht indem m a n ihn wie einen Gott, sondern indem m a n ihn wie einen F ü h r e r betrachtet, wie das Symbol des Erwachens. Man nimmt auch Zuflucht in seiner Lehre, dem Dharma, der kein Dogma, sondern ein Weg ist. Schließlich nimmt m a n Zuflucht in der Gemeinschaft, in der Gesamtheit der Gefährten auf diesem Weg. Doch der Buddhismus versucht nicht, mit der Tür ins Haus zu fallen oder Bekehrungen vorzunehmen. Für ihn hat das keinen Sinn. J. F. - Die Eingliederung des Buddhismus in eine völlig andere Kultur als die seiner Herkunft verdient es - gerade weil er nicht auf erzwungene Bekehrungen zurückgreift, die aus seiner Sicht u n d e n k b a r sind -, u n t e r s u c h t und, sofern sie fortbesteht, erklärt zu werden. M. - Der Buddhismus hat keine Erobererpose. Eher wirkt er durch eine Art spiritueller Ausstrahlung. Wer ihn kennenlernen will, muß selbst den ersten Schritt machen und ihn über die eigene Erfahrung entdecken. Im übrigen ist es i n t e r e s s a n t zu sehen, wie der Buddhismus in Tibet und China zur Blüte kam: Große Weise sind dorthin gereist, und ihre Ausstrahlung hat die Schüler natürlich angelockt wie der Blumennektar die Bienen. J. F. - Während unserer Gespräche ist mir der außergewöhnliche M e t a p h e r n r e i c h t u m der buddhistischen Ausdrucksweise aufgefallen! ... Aber das stört mich nicht. Auch Piaton griff ständig auf Bilder, Mythen und Vergleiche zurück. Ich bin ganz und gar für die Einführung der Poesie in die Philosophie. Aber ich bin nicht völlig sicher, ob sie ausreicht, um auf alle Fragen, die man sich stellen kann, zu antworten. M. - Nun, ich werde Dir mit einem weiteren Bild antworten und sagen, daß die Metapher »ein Fingerzeig in Richtung Mond« ist. Es ist der Mond, den man betrachten muß, nicht der Finger. Ein Bild sagt oft mehr aus als eine lange Beschreibung. J. F. - Die wesentliche Frage für die westliche Zivilisation ist: Welche Art von Übereinstimmung und Konvergenz besteht zwischen bestimmten Bedürfnissen, die die westli280
che Zivilisation verspürt, ohne daß es ihr gelingt, sie mit ihren eigenen spirituellen Mitteln zu befriedigen, und der Antwort, die der Buddhismus eventuell beisteuern k a n n ? Allein, die Vorstellung, daß sich eine Lehre anpassen könnte, um auf bestimmte Fragen zu antworten, kann auch eine Falle sein. Im Westen gehören jede Menge Leute Sekten an, die der reinste Schwindel und m a n c h m a l sogar kriminell sind. Es stellt sich daher die Frage der Wahrheit und der Authentizität des Buddhismus als Wissenschaft des Geistes. M. - Oh ... der Hauptforschungsgegenstand des Buddhismus ist das Wesen des Geistes. Und er hat n u r zweitausendfünfhundert Jahre Erfahrung auf diesem Gebiet! Soviel zur Authentizität. Was seine Wahrheit angeht, was soll man da sagen ... Vielleicht, daß es seine Wahrheit ist, die seine Stärke ausmacht. Sie scheint, glaube ich, durch die Tatsachen und die Menschen hindurch und hält der Prüfung der Zeit und der Umstände stand - ganz anders als bei den Sekten, die n u r Fälschungen der a u t h e n t i s c h e n spirituellen Traditionen sind und deren Fassade bei erster Gelegenheit z u s a m m e n s t ü r z t . Das trügerische Wesen der Sekten, die trotzdem scharenweise Mitglieder anziehen, kommt im allgemeinen - wie das Zeitgeschehen häufig zeigt - in allen Arten von inneren Widersprüchen, Skandalen und manchmal Abscheulichkeiten zum Ausdruck. Im Vergleich dazu ist das z u n e h m e n d e Interesse f ü r den Buddhismus im Westen unauffälliger. Die »buddhistischen Zentren« sind Örtlichkeiten, wo m a n meist Freunde trifft, die dieselben Ambitionen haben. Sie möchten ihre Kräfte einen, um zu lernen, zu praktizieren und die Texte und Kommentare in die westlichen Sprachen zu übersetzen. Ihr Ziel ist, eine authentische, lebendige Tradition bekannt zu machen. Von der lokalen Bevölkerung werden sie im allgemeinen positiv wahrgenommen. J. F. - Ich wollte eine mehr als zwei J a h r t a u s e n d e alte Weisheit wie den Buddhismus in keiner Weise mit den oft ungeheuerlichen, fast immer kindischen Sekten vergleichen, die heute grassieren und meist auch noch Betrugsunternehmen sind. Dieser Gedanke liegt mir fern! Da ich den 281
Eingebungen der menschlichen Natur aber stets mißtraue, wollte ich einfach darauf hinweisen, daß die Begeisterung einer bestimmten Menge von Individuen für eine bestimmte Theorie und für Lehrmeister, die ihr Ansehen gewinnen und doch Betrüger sein können, d a ß diese Begeisterung nicht beweist, daß die fragliche Lehre zwangsläufig gut ist. Es bedarf eines zusätzlichen Beweises! M. - Ein solcher Beweis kann nur durch die Langzeitergebnisse der spirituellen Praxis erbracht werden. Es heißt: »Das Ergebnis der Übung ist die Selbstbeherrschung. Das Ergebnis des Praktizierens ist das Schwinden der negativen Gefühlsregungen.« Eine vorübergehende Begeisterung hat nicht viel Wert. J. F. - Das ist alles, was ich sagen wollte! Beschränkt man sich auf die bloße Beobachtung der Fakten, ist klar, daß kein Vergleich zwischen dem Buddhismus und den Sekten möglich ist. Dennoch darf m a n nicht vergessen, daß sich herausragende Köpfe mitunter von Belanglosigkeiten blenden lassen. Ich h a b e große Ärzte gekannt, die absoluten Mystifikationen anhingen. Sie h a b e n etliche J a h r e d a r a n geglaubt und sich allen Forderungen ihrer Sekte gefügt! Als Wahrheitsbeweis sollte nicht das aufrichtige Verlangen genügen, das Menschen nach einer Spiritualität haben können, die vielleicht eine Fälschung ist. Denn der Mensch hat leider eine fatale Neigung, Verlangen nach irgend etwas zu verspüren! Deshalb bleibt die Beweislast immer bei dem, der lehrt. M. - Ein authentischer spiritueller Weg setzt voraus, daß man anspruchsvoll gegenüber sich selbst und nachsichtig gegenüber den anderen ist. In den Sekten, wo man sehr oft viel von den a n d e r e n verlangt, w ä h r e n d m a n selbst den Idealen, die man lehrt, in krasser Weise zuwiderhandelt, ist das a n d e r s . Es genügt eine ansatzweise charismatische Person, die beschließt, die Macht, die sie auf andere ausübt, auszunutzen, und Charakterschwache, die Anschluß brauchen, zögern nicht, sich geistig und physisch zu unterwerfen. Der grundlegende Unterschied ist jedoch, daß die Sekten ihren Ursprung im allgemeinen in einem Synkretismus 282
aus nicht a u f e i n a n d e r abgestimmten Komponenten und pseudotraditionellen Überbleibseln h a b e n , die an keine authentische spirituelle Überlieferung gebunden sind und auf keinem wirklichen metaphysischen Prinzip b e r u h e n . Folglich können sie nicht zu einem dauerhaften spirituellen Fortschritt führen und erzeugen nur Verwirrung und Enttäuschung.
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Glaube, Ritual und Aberglaube - Die rituelle, als »Bigotterie« bezeichnete, in den meisten Religionen gegenwärtige Frömmigkeit - das Weihwasser, der Rosenkranz, der Palmsonntag, der Glaube an alle möglichen Ablässe, an die Wirksamkeit der Sakram e n t e oder bestimmter Gebete, an das A b b r e n n e n von Wachskerzen - steht im Gegensatz zur geläuterten Seite, die man dem Buddhismus zuschreibt. Das scheint einer der Gründe zu sein, daß auch Intellektuelle von dieser Weisheit angezogen w e r d e n können, sofern sie von b e s t i m m t e n Aspekten der etablierten Religionen abgestoßen sind, die ihnen zu pathetisch, zu formalistisch oder zu irrational erscheinen. Mir scheint das jedoch ein idealisiertes Bild des Buddhismus zu sein, das man haben kann, wenn m a n ihn aus der Ferne beobachtet und seine Lehre kennt, ohne an ihrer Umsetzung in die Alltagspraxis teilgenommen zu haben. Wenn man in die buddhistischen Länder reist und die Klöster betritt, fällt einem nämlich eine außergewöhnliche Vielfalt von Andachtsübungen, Gesängen, Prozessionen und Prosternationen auf. Für einen Agnostiker wie mich unterliegen sie scheinbar denselben Arten von Aberglauben oder Zwangsritualismus wie in der Orthodoxie, dem Katholizismus, dem Islam oder dem Judentum. Ich würde sogar sagen, daß einige Praktiken - so wie man sie hier mitten im 20. J a h r h u n d e r t vor seinen Augen ablaufen sieht dem mittelalterlichen Katholizismus v e r w a n d t e r zu sein scheinen als dem gegenwärtigen Katholizismus. Gibt es da nicht einen Aspekt der buddhistischen Praktiken, der ein wenig irrational, äußerlich und mechanisch ritualistisch ist? Und könnte er im Laufe der Jahrtausende die Weisheit des Buddha überlagert haben? M A T T H I E U - Zunächst einmal muß man im Buddhismus wie in allen spirituellen und religiösen Traditionen zwiJEAN-FRAN^OIS
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sehen Aberglauben und Ritual unterscheiden. Der Glaube wird zum Aberglauben, wenn er sich gegen die Vernunft stellt und sich vom Verständnis des tieferen Sinns des Rituals löst. Das Ritual h a t einen Sinn (das lateinische Wort ritus heißt übrigens »richtiges Tun«). Es gibt Anstoß zu einer Überlegung, zu einer Versunkenheit, einem Gebet, einer Meditation. Der Sinn der Worte, die in den Gesängen geäußert werden, ist immer ein Aufruf zur Kontemplation. Das trifft besonders im Fall des tibetischen Buddhismus zu. Wenn m a n sich mit dem Inhalt des Rituals a u s e i n a n d e r setzt, mit den Texten, die rezitiert werden, findet man darin wie in einem Leitfaden die verschiedenen Bestandteile der buddhistischen Meditation wieder - die Leerheit, die Liebe und das Mitgefühl. Ein Ritual ist eine spirituelle Übung, die in der inspirierenden Umgebung eines Klosters durchgeführt wird, in einer Atmosphäre der Ausgeglichenheit, verstärkt durch geistliche Musik, die die Gefühlsregungen nicht aufstacheln, sondern, im Gegenteil, besänftigen soll, um die innere Sammlung zu fördern. Die Musik wird als Opfergabe und nicht als künstlerischer Ausdruck angesehen. Manche Rituale w e r d e n ü b e r m e h r als eine Woche lang Tag und Nacht ohne Unterbrechung fortgesetzt. Ihr Ziel ist, die Teilnehmer dahin zu bringen, sich gemeinsam einer Phase intensiver Andacht hinzugeben. In der Meditation über ein Mandala legt man den Schwerpunkt auf die Konzentrationstechniken und nutzt einen sehr reichen Symbolismus. J. F. - Könntest Du das Mandala genau definieren? Ich habe nur eine vage Vorstellung davon. M. - Ein Mandala ist eine symbolische Darstellung des Universums und der Lebewesen in Form eines vollkommenen Ortes mitsamt der Gottheiten, die dort wohnen. Die »Gottheiten« der Mandalas sind keine Götter, denn der Buddhismus ist, wie bereits betont, genauso wenig ein Polytheismus wie ein Monotheismus. Es sind Archetypen, Aspekte der Buddha-Natur. Die Meditation über das Mandala ist eine Übung zur sogenannten »reinen Vorstellung«, das heißt zur Wahrnehmung der in allen Menschen gegen285
wärtigen Buddha-Natur. Die Visualisationstechniken erlauben es, unsere gewöhnliche Wahrnehmung der Welt - eine Mischung aus rein und unrein, aus gut und böse - zu verwandeln in ein Erfassen der grundlegenden Vollkommenheit der Erscheinungswelt. Indem wir uns selbst u n d die Menschen um uns h e r u m in Form dieser vollkommenen Archetypen, die die »Gottheiten« des tibetischen Pantheons sind, visualisieren, gewöhnen wir uns an die Vorstellung, daß die Buddha-Natur in jedem Menschen gegenwärtig ist. Man hört folglich auf, zwischen den ä u ß e r e n Modalitäten der Menschen - häßliche oder schöne, Freunde oder Feinde - zu unterscheiden. Kurz, diese Techniken sind geeignete Mittel, um die in uns selbst und in jedem Menschen innewohnende Vollkommenheit wiederzufinden. Es m u ß aber auch betont werden, daß die Rituale in den Augen der tibetischen Meister n u r eine ganz relative Bedeutung h a b e n . Die Eremiten, die sich ausschließlich der Meditation widmen, verzichten auf jede Form von Ritual. Manche, wie der große Yogi Milarepa, gehen sogar so weit, die Anwendung von Zeremonien und Riten offen herabzuwürdigen. Die Verschiedenheit der spirituellen Techniken entspricht der Verschiedenheit der Schüler und ist abhängig von den unterschiedlichen Stufen spiritueller Praxis. J. F. - Ja, aber neulich haben wir in Katmandu die Menge der buddhistischen Gläubigen gesehen, die gerade rund um dieses große Monument beteten ... wie heißt es doch gleich? M. - Ein Stupa. J. F. - Also, diese Gläubigen kreisten m e h r e r e Stunden lang in feierlicher Prozession um diesen Stupa herum. Und zwar immer im Uhrzeigersinn. W ä h r e n d einer f r ü h e r e n Reise n a c h Bhutan h a b e ich gelernt, daß m a n um einen Tempel oder einen Stupa immer im Uhrzeigersinn herumgehen muß, aus einem geheimnisvollen Grund, der sich mir entzieht und für den m a n mir nie eine befriedigende Erklärung gegeben hat. Ist das nicht reiner Aberglaube? M. - Das ist ein wichtiger Punkt. Sind nicht die meisten Handlungen des sogenannten »Alltagslebens« bloß zweckbetont und ohne tieferen Sinn? Gehen heißt oft, sich so 286
schnell wie möglich fortzubewegen, um irgendwo anzukommen, essen, sich den Magen zu füllen, arbeiten, so viel wie möglich zu produzieren etc. In einer Gesellschaft, wo das spirituelle Leben die ganze Existenz durchdringt, haben die alltäglichsten Handlungen dagegen einen Sinn. Im Idealfall gibt es gar nichts Alltägliches mehr. Geht m a n zum Beispiel, so meint man, auf dem Weg zum Erwachen zu sein. Zündet m a n ein Feuer an, wünscht m a n sich: »Mögen alle negativen Gefühlsregungen der Menschen verb r a n n t w e r d e n . « Beim Essen denkt m a n : »Könnte doch jeder den Geschmack der Kontemplation kosten.« Beim Öffnen der Tür: »Möge sich die Tür der Befreiung allen Menschen öffnen.« Und so weiter. Im Falle des Stupa denken die Tibeter, daß es bereichernder sei, eine Stunde um ihn herumzugehen, als zu joggen. Ein Stupa ist ein Symbol für den Geist des Buddha (wobei die Schriften seine Rede und die Statuen seinen Körper symbolisieren). Da die rechte Seite als Ehrenplatz betrachtet wird, um der Achtung vor dem Buddha und seiner Lehre Ausdruck zu verleihen, umkreisen sie den Stupa so, daß sie ihn auf ihrer Rechten behalten, das heißt im Uhrzeigersinn. Indem sie das tun, richtet sich ihr Geist auf den Buddha und damit auf seine Lehre. J. F. - Warum all diese Fresken, die allem Anschein nach übernatürliche Wesen darstellen? Ich dachte, es gäbe keine Götter im Buddhismus? M. - Noch einmal, das sind keine Götter, denen man eine Existenz an sich zuschreibt. Diese Gottheiten sind symbolisch. Das Gesicht einer »Gottheit« stellt das Eine dar, das Absolute. Ihre beiden Arme sind das Wissen von der Leerheit und die Methode des Mitgefühls. Einige Gottheiten haben sechs Arme, die sechs Vorzüge symbolisieren: Disziplin, Generosität, Geduld, Eifer, Konzentration und Weisheit. Statt sich normale Bilder anzusehen, ist es nützlicher, s i n n b e f r a c h t e t e Formen im Kopf zu haben. Dem, der sie visualisiert, rufen sie die verschiedenen Elemente des spirituellen Weges ins Gedächtnis. Die symbolischen Archetypen erlauben es, unsere Vorstellungskraft als einen Faktor des spirituellen Fortschreitens zu nutzen, statt uns von unseren 287
ungezügelten Gedanken mitreißen zu lassen. Eines der Haupthindernisse der i n n e r e n Sammlung ist nämlich die rasche, ungehemmte Vermehrung der Gedanken. Für die, deren Geist ständig erregt ist und denen es schwerfällt, den Strom ihrer Gedanken zu beruhigen, sind die Visualisationstechniken geeignete Mittel, um diesen Strom auf einen Gegenstand hin zu kanalisieren. Die Visualisation k a n n sehr kompliziert sein, doch statt den Geist zu zerstreuen, stabilisiert und beruhigt sie ihn. Eine korrekte Visualisation erfordert von uns drei Eigenschaften: eine klare Visualisation aufrechterhalten zu können - was voraussetzt, daß man den Geist ständig auf den Gegenstand seiner Konzentration zurücklenkt -, sich der symbolischen Bedeutung des Gegenstands, ü b e r den m a n meditiert, bewußt zu sein, und, schließlich, die W a h r n e h m u n g der Buddha-Natur, die in einem gegenwärtig ist, beizubehalten. J. F. - Ich habe in den Tempeln aber Gläubige gesehen, die sich vor der Statue des Buddha niedergeworfen haben! Das ist ein Gebaren, das m a n vor einer Gottheit, einer Divinität oder einem Götzen an den Tag legt, nicht aber gegenüber einem Weisen! M. - Sich vor dem Buddha n i e d e r z u w e r f e n ist keine ehrerbietende Huldigung gegenüber einem Gott, sondern gegenüber dem, der die letzte Weisheit verkörpert. Diese Weisheit und die erteilten Lehren h a b e n für den, der Respekt zollt, ungeheuren Wert. Dieser Weisheit zu huldigen ist auch eine Geste der Demut. Sie dient als Heilmittel gegen den Stolz, der ein Hindernis f ü r jede tiefgehende Wandlung ist. Der Stolz verhindert das Zutagetreten der Weisheit und des Mitgefühls. »Auf dem Gipfel eines Berges k a n n sich kein Wasser s a m m e l n , und auf der Spitze des Stolzes h ä u f t sich kein w a h r e r Verdienst an«, sagt ein Sprichwort. Das Sichniederwerfen ist a u ß e r d e m keine mechanische Geste. Wenn m a n beide Hände, beide Knie und die Stirn - fünf Punkte also - auf den Boden aufsetzt, will man sich der fünf Gifte Haß, Gier, Nicht-Wissen, Stolz und Eifersucht entledigen, indem m a n sie in fünf entsprechende Weisheiten verwandelt. Wenn m a n sich wieder 288
erhebt, gleiten die Hände über den Boden und man denkt: »Könnte ich doch die Leiden aller Menschen >auflesen< und entkräften, indem ich sie auf mich nehme.« So führt uns jede Geste des täglichen Lebens, weit davon entfernt, neutral, banal oder normal zu bleiben, zur spirituellen Praxis zurück. J. F. - Im christlichen Klosterleben ist die einzige Wirklichkeit Gott. Die Welt, in der wir leben - das »Weltliche«, wie die französischen Katholiken im 17. J a h r h u n d e r t sagten (sie s p r a c h e n davon, i n n e r h a l b oder a u ß e r h a l b des Weltlichen zu leben) -, ist nur eine Ablenkung der Aufmerksamkeit vom Wesentlichen: Gott. Das religiöse Leben von jemandem, der sich zurückzieht, sei es wie Pascal nach Port Royal oder wie die Kartäuser in ein Kloster, besteht darin, alle Abwechslungen - Pascal sagte »Zerstreuungen« - zu meiden, das heißt alles, was unsere Aufmerksamkeit auf die Belanglosigkeit der täglichen Interessen »ablenkt«, auf die falschen Werte des Erfolgs, auf die Befriedigungen der Eitelkeit, des Geldes etc. Die Stunden, die das weltliche Leben verweben, verbannt man, um all seine Aufmerksamkeit auf das einzige Verhältnis konzentrieren zu können, das zählt: das Verhältnis zur Divinität. Die Mönche der Grande Chartreuse ziehen sich von der Welt zurück, um sich ohne Unterb r e c h u n g und ohne Ablenkung auf Gott konzentrieren zu können. Im Buddhismus gibt es aber keinen transzendenten Gott. Worauf zielt bei ihm das Klosterleben und die Zurückgezogenheit aus Zeit und Welt? Mit einem Wort: Wenn der Buddhismus keine Religion ist, warum ähnelt er dann so sehr einer Religion? M. - Ich glaube, wir h a b e n dazu in den v e r g a n g e n e n Tagen einiges gesagt. Ob man ihn nun als Religion oder als Metaphysik bezeichnet, hat letztlich kaum Bedeutung. Das spirituelle Ziel, das der Buddhismus anstrebt, ist die Erleuchtung, die der Buddha selbst erreicht hat. Der Weg besteht darin, in die Fußstapfen des Buddha zu treten. Das erfordert eine tiefgehende Wandlung unseres Bewußtseinsstroms. Man kann also verstehen, daß die, die das tiefe Verlangen haben, diesem Weg zu folgen, ihre ganze Zeit darauf 289
verwenden. Man versteht auch, daß die äußeren Umstände die Suche, gerade bei einem Neuling, fördern oder beeinträchtigen können. Nur der, der die Erleuchtung erreicht hat, ist gegen die äußeren Umstände gefeit. Für ihn ist die Erscheinungswelt ein Buch, von dem jede Seite eine Bestätigung der Wahrheit ist, die er entdeckt hat. Ein spirituell verwirklichter Mensch wird vom Lärmgewirr einer Großstadt so wenig beeinträchtigt, als wäre er in einer Eremitage im Gebirge. Der Neuling aber muß nach günstigen Bedingungen suchen, die es ihm erlauben, seine Konzentration zu steigern und seine Gedanken zu wandeln. Im Tumult des Alltagslebens nimmt dieser Wandlungsprozeß viel mehr Zeit in Anspruch, und das Risiko, daß er vor sein e m Abschluß unterbrochen wird, ist hoch. Deshalb verbringen die praktizierenden Tibeter m a n c h m a l J a h r e in abgelegenen Eremitagen. Sie wollen sich der spirituellen Suche widmen, ohne jemals aus den Augen zu verlieren, daß ihr letztes Ziel die Erleuchtung ist, um anschließend anderen helfen zu können. J. F. - Wie läßt sich die Erleuchtung definieren? M. - Das ist die Entdeckung des äußersten Wesens von sich selbst und von den Dingen. J. F. - Und könntest Du g e n a u e r sagen, was m a n im Buddhismus unter Glauben versteht? M. - Offenbar hat das Wort im Westen eine ziemlich überladene Konnotation. Man unterscheidet vier Aspekte des Glaubens. Der erste ist der »einleuchtende« oder inspirierte »Glaube«, der erwacht, wenn man eine spirituelle Unterweisung oder die Lebensgeschichte des Buddha oder eines großen Weisen hört: In uns erwacht ein Interesse. Der zweite Glaube ist ein Verlangen. Das ist der Wunsch, m e h r zu wissen, selbst eine Lehre zu praktizieren, dem Beispiel eines Weisen zu folgen und nach und nach die Vollkommenheit zu erlangen, die er verkörpert. Der dritte Glaube wird zu einer »Überzeugung«, zu einer Gewißheit, die m a n erlangt, indem man selbst die Gültigkeit der Lehre und die Effizienz des spirituellen Weges verifiziert, aus dem m a n zunehmend Befriedigung und Fülle zieht: Diese Entdeckung 290
ähnelt der D u r c h q u e r u n g einer Landschaft, die i m m e r schöner wird, je weiter m a n sie durchstreift. Sofern diese Überzeugung, unter welchen Umständen auch immer, nicht nachläßt, erreicht man eine Beständigkeit im Praktizieren. Sie erlaubt es, sämtliche günstigen oder ungünstigen Existenzbedingungen zu nutzen, um Fortschritte zu machen. Die Gewißheit wird zu einer zweiten Natur: dem »irreversiblen« Glauben. Soweit die vier Etappen des buddhistischen Glaubens. Er ist also kein »Sprung« des Intellekts, sondern die Frucht einer fortschreitenden Entdeckung: der Feststellung, daß der spirituelle Weg seine Früchte trägt.
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Der Buddhismus und der Tod
JEAN-FRANgois - Die Tatsache, sich aus der Welt zurückzuziehen, ist aus buddhistischer oder christlicher Sicht auch eine Art Vorbereitung auf den Tod. Ein konsequenter Christ wie Pascal glaubt, daß es von dem Moment, wo m a n begreift, daß die einzige Wirklichkeit Gott ist, keinen Sinn mehr habe, in der Welt zu leben. Man müsse sich schon auf Erden in die Lage versetzen, vor dem Schöpfer zu erscheinen, und ständig wie jemand leben, der nur noch ein paar Augenblicke zu leben hat. In Pascals Pensees taucht diese Vorstellung, die übrigens aus den Evangelien stammt, sehr oft auf: Du weißt nicht, in welchem Moment Dich der Herr zu sich rufen wird, ob in zehn Jahren oder in fünf Minuten. Auch die Philosophie - sogar die ohne religiöse Konnotation - beharrt häufig auf der Tatsache, daß sie eine Vorbereitung auf den Tod sei. Ein Kapitel der Essais von Montaigne trägt den Titel »Philosophieren heißt sterben lernen«. Ich habe den Eindruck, daß diese Vorstellung von der Vorbereitung auf den Tod, auf den Übergang, auch in der buddhistischen Lehre eine sehr wichtige Rolle spielt. Den Zwischenzustand nach dem Tod nennt man, glaube ich, den »Bardo«. Es gibt doch ein Lehrbuch über den Bardo? MATTHIEU - In der Tat. Der Gedanke an den Tod bleibt ständig im Bewußtsein des Praktizierenden. Dieser Gedanke ist jedoch - weit davon entfernt, traurig oder morbid zu sein - ein Anreiz, jeden Moment des Daseins zu nutzen, um besagte innere Wandlung zu vollziehen, und nicht einen einzigen Augenblick u n s e r e s k o s t b a r e n menschlichen Lebens zu vergeuden. Ohne den Gedanken an den Tod und die Nicht-Beständigkeit läßt sich leicht sagen: »Ich werde erst einmal meine laufenden Angelegenheiten regeln und alle meine Vorhaben erfüllen. Wenn ich das hinter mir habe, w e r d e ich klarer sehen und mich dem spirituellen 292
Dasein widmen können.« So zu leben, als habe m a n noch alle Zeit vor sich, statt so zu leben, als blieben nur ein paar Momente, ist der verhängnisvollste Köder. Denn der Tod kann in jedem Augenblick unvermutet eintreten. Der Zeitpunkt des Todes und die Umstände, die ihn herbeiführen, sind u n v o r h e r s e h b a r . Sämtliche Umstände des täglichen Lebens - gehen, essen, schlafen - können sich plötzlich in Todesursachen verwandeln. Ein Praktizierender muß sich dessen stets bewußt sein. Wenn ein Eremit morgens das Feuer anzündet, fragt er sich, ob er am nächsten Tag noch dasein wird, um ein weiteres anzuzünden. Atmet er Luft aus seinen Lungen aus, wähnt er sich glücklich, erneut einatmen zu können. Das Nachdenken über die Nicht-Beständigkeit und den Tod ist also ein Ansporn, der immerfort zur spirituellen Übung ermuntert. J. F. - Ist der Tod für einen Buddhisten erschreckend? M. - Seine Haltung gegenüber dem Tod wandelt sich im Laufe seiner Praxis. Für einen Neuling ohne große spirituelle Reife ist der Tod ein Grund zur Furcht: Er fühlt sich wie ein Hirsch, der in der Falle sitzt und mit allen Mitteln versucht, sich zu befreien. Statt sich vergebens zu fragen: »Wie könnte ich dem Tod entgehen?«, fragt sich der Übende: »Wie den Zwischenzustand des Bardo ohne Angst, mit Vertrauen und Ruhe durchqueren?« Er ähnelt dann dem Bauern, der für die Ernte gepflügt, gesät und gesorgt hat. Ob es ungünstige Witterungseinflüsse gibt oder nicht: er b e r e u t nichts, denn er hat sein Bestes gegeben. Genauso verspürt der Übende, der sein ganzes Leben lang auf seine Wandlung hingearbeitet hat, keine Reue und geht dem Tod mit Ruhe entgegen. Kurz, der Praktizierende auf höchstem Niveau ist im Angesicht des Todes heiter. Warum sollte er ihn fürchten, da sich doch jede Bindung an die Vorstellung der Person, an die Beständigkeit der Erscheinungen oder an Besitztümer aufgelöst hat? Der Tod ist zum Freund geworden, ist nur ein Lebensabschnitt, ein einfacher Übergang. J. F. - Ohne sie unterschätzen zu wollen: diese Art von Trost ist nicht sehr originell. Hat der Buddhismus dem nichts hinzuzufügen? 293
M. - Der Sterbevorgang und die verschiedenen Erfahrungen, zu denen es dabei kommt, sind in den buddhistischen L e h r b ü c h e r n minuziös beschrieben worden*. Auf den Atemstillstand folgen verschiedene Phasen der Auflösung des Bewußtseins und des Körpers. Wenn sich die materielle Welt vor unseren Augen verflüchtigt, geht unser Geist in den absoluten Zustand auf, der im Gegensatz zum Zustand der bedingten Welt steht, den wir w a h r n e h m e n , wenn unser Bewußtsein mit dem Körper verbunden ist. Im Moment des Todes wird das Bewußtsein für einen ganz kurzen Augenblick in den sogenannten »Lichtraum des absoluten Plans« aufgenommen. Dann taucht es wieder auf, um einen Zwischenzustand oder Bardo zu durchqueren, der zu einer neuen Existenz, das heißt zur Wiedergeburt führt. Es gibt Meditationen, die das Ziel haben, in diesem absoluten Zustand vor Einsetzen der verschiedenen Erfahrungen des Bardo zu v e r h a r r e n , um in diesem Moment das äußerste Wesen der Dinge zu erfassen. J. F. - Nun ... Solche Überlegungen, die imstande sind, den Tod für den Menschen a n n e h m b a r zu machen, kennzeichnen die Geschichte der Philosophie und der Religionen. Man kann sie im großen und ganzen auf zwei Typen reduzieren. Der erste stützt sich auf den Glauben ans Überleben. Von dem Moment an, wo es ein Jenseits, eine Unsterblichkeit des spirituellen Prinzips und der Seele in uns gibt, genügt es, einen bestimmten Typ von Existenz g e m ä ß bestimmter Regeln zu f ü h r e n . In der christlichen Terminologie heißt das: Wenn man alle Todsünden vermeidet oder sie seinem Beichtvater gesteht, hat m a n die Gewißheit, im Jenseits unter guten Bedingungen weiterzuleben. Der Tod ist hier eine Art physischer Prüfung, wie eine Krankheit, die uns aber aus dieser Welt in eine bessere hinüberbringt. Die Priester, die den Sterbenden helfen, tragen dazu bei, die Angst zu lindern, die diesem Übergang innewohnt. Das Prinzip dieser Art von Tröstung ist, daß der * Siehe z u m Beispiel d a s bereits e r w ä h n t e Tibetische Buch vom Leben und vom Sterben.
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Tod nicht wirklich existiert. Der einzige Grund zur Unruhe ist: Werde ich erlöst oder verdammt? Der a n d e r e Typ von Überlegung ist rein philosophisch und betrifft auch die, die nicht an ein Jenseits glauben. Er soll eine Art von Ergebenheit und Vernunft kultivieren, indem m a n sich sagt, daß die Zerstörung, das Verschwinden der biologischen Tatsache, die ich bin, Tier unter anderen Tieren, ein unvermeidlicher, natürlicher Vorgang ist, und daß m a n imstande sein muß, sich damit abzufinden. Die Philosophen h a b e n sich über dieses Thema den Kopf zerbrochen, um e n t s c h ä r f e n d e Überlegungen beizubringen, die den Tod erträglicher machen. Epikur zum Beispiel verwendet ein berühmtes Argument. Er sagt: Wir brauchen den Tod nicht zu fürchten, denn in Wirklichkeit begegnen wir ihm nie. Sind wir noch da, ist er noch nicht da. Und ist er da, sind wir nicht mehr da! Demnach ist es sinnlos, daß wir Angst vor dem Tod haben. Da es Epikurs große Sorge ist, den Menschen von nutzlosen Ängsten - der Angst vor den Göttern, vor dem Tod und vor natürlichen Phänomenen wie Blitz und Erdbeben - zu befreien, bemüht er sich, sie auf sehr moderne Weise zu erklären: wie Phänomene, die Ursachen haben und Gesetzen gehorchen etc. Der einen oder anderen dieser beiden Erklärungs- oder Tröstungslinien entkommt m a n in puncto Tod jedenfalls nicht. Den Buddhismus w ü r d e ich zur ersten zählen. Obwohl er keine theistische Religion ist, stützt sich die spirituelle Technik, die den Tod a n n e h m b a r macht, auf eine Metaphysik, die ihn nicht als Abschluß erscheinen läßt. Und wenn er doch zu einem Abschluß wird, dann zu einem günstigen, denn das hieße, daß m a n von der unaufhörlichen Kette der Reinkarnationen in einer Welt des Leids befreit wäre. In der westlichen Welt wird der Tod - es ist häufig festgestellt worden - wie eine schamhafte Sache verhehlt. Unter dem Ancien regime war der Tod eine offizielle Angelegenheit. Man starb sozusagen mehrere Tage lang ... Die ganze Familie versammelte sich um den Sterbenden, man vernahm seine letzten Ermahnungen, die Priester kamen vorbei, spendeten die Sakramente ... Der Tod eines Herr295
schers war ein Schauspiel, bei dem fast der ganze Hof zugegen war. Heute läßt m a n den Tod verschwinden. Doch gleichzeitig ist man sich bewußt geworden, daß Stillschweigen nicht genügt. Es gibt heute Therapeuten, die den Sterbenden helfen, die versuchen, ihnen den Abgang annehmbar zu machen. M. - In unserer Zeit neigen die Leute oft dazu, den Blick vom Tod und vom Leid generell abzuwenden. Diese Verlegenheit kommt daher, daß er das einzige unüberwindliche Hindernis für das Ideal der westlichen Zivilisation ist: so lange und so angenehm wie möglich zu leben. Außerdem m a c h t der Tod zunichte, w o r a n m a n am meisten hängt: einen selbst. Kein materielles Mittel erlaubt, das unvermeidliche Fälligkeitsdatum a b z u w e n d e n . Also e n t f e r n e n wir den Tod lieber aus dem Bereich u n s e r e r Sorgen und halten so lange wie möglich das sanfte S c h n u r r e n eines künstlichen, zerbrechlichen, oberflächlichen Glücks aufrecht, das nichts löst und die Konfrontation mit dem wahren Wesen der Dinge nur aufschiebt. Zumindest, so werden wir b e h a u p t e n , h a b e n wir nicht in Angst gelebt. Sicher, aber während dieser »verlorenen« Zeit ist das Leben nach und nach zerfasert, ohne daß wir es genutzt haben, um zum Kern des Problems vorzudringen und die Ursachen des Leids zu entdecken. Wir haben es nicht verstanden, jedem Moment des Daseins einen Sinn zu geben, und das Leben ist nur Zeit gewesen, die wie Sand zwischen unseren Fingern hindurchgeglitten ist. J. F. - Was schlägt der Buddhismus vor? M. - Es gibt zwei Arten, sich dem Tod zu nähern. Entweder wir denken, daß unser Sein an sein Ende kommt - wie eine Flamme, die erlischt, wie Wasser, das vom trockenen Erdreich verschluckt wird -, oder der Tod ist nur ein Übergang. Ganz gleich, ob m a n nun der Überzeugung ist, daß sich unser Bewußtseinsstrom, einmal vom Körper getrennt, in anderen Existenzzuständen fortsetzen wird, oder nicht: der Buddhismus hilft den Sterbenden, gelassen hinzuscheiden. Das ist einer der Gründe, warum Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben von Sogyal Rinpoche einen sol296
chen Erfolg hat. Ein großer Teil von ihm ist der Vorbereitung auf den Tod, der Hilfe f ü r die Sterbenden und dem Sterbevorgang selbst gewidmet. »Der Tod«, sagt er, »bedeutet die letzte und unvermeidliche Zerstörung dessen, w o r a n wir am meisten hängen: u n s e r e r Selbst. Man sieht also, in welchem Punkt die Unterweisungen über das Nicht-Ich und das Wesen des Geistes helfen können.« Beim H e r a n n a h e n des Todes empfiehlt es sich demnach, die Nicht-Anhänglichkeit, den Altruismus und die Freude zu kultivieren. J. F. - Wenn ich recht verstehe, kombiniert der Buddhismus die beiden erwähnten Arten der Vorbereitung auf den Tod? M. - Das Fortbestehen des Bewußtseins oder eines spirituellen Prinzips über den Tod hinaus ist in den meisten Religionen Teil des Offenbarungsdogmas. Im Falle des Buddhismus begibt m a n sich auf die Ebene der direkten E r f a h r u n g . Sie ist von gewiß außergewöhnlichen, doch a u s r e i c h e n d vielen Menschen gemacht worden, um ihr Zeugnis zu berücksichtigen. Wie dem auch sei, es ist sicher vorzuziehen, die letzten Monate oder die letzten Augenblicke seines Lebens in heiterer Gelassenheit zu verbringen statt in Angst. Was nützt es, von der Vorstellung gequält zu werden, unsere Nächsten und unseren Besitz zurückzulassen, und im Grauen davor zu leben, daß unser Körper zerstört wird. Der Buddhismus lehrt, all die machtvollen Anhänglichkeiten zu lösen, die aus dem Tod oft mehr eine geistige Tortur als eine physische P r ü f u n g machen. Vor allem lehrt er aber, daß man mit den Vorbereitungen auf den Tod nicht bis zum letzten Augenblick w a r t e n darf. Denn die Stunde des Todes ist nicht der ideale Zeitpunkt, um damit anzufangen, einen spirituellen Weg zu praktizieren. Wir sind ständig in Sorge um die Zukunft, wir unternehmen alle nötigen Anstrengungen, damit es nie an Geld und Essen mangelt und wir gesund bleiben. Aber wir denken lieber nicht an den Tod, obwohl er von allen kommenden Ereignissen das wesentlichste ist. Der Gedanke an den Tod hat jedoch nichts Deprimierendes, sofern man ihn als 297
eine Mahnung nutzt, sich der Zerbrechlichkeit der Existenz bewußt zu bleiben und jedem Moment des Lebens einen Sinn zu geben. Eine tibetische Unterweisung sagt: »Durch die fortwährende Besinnung auf den Tod werdet Ihr Euren Geist der spirituellen Praxis zuwenden, Euren Übungseifer erneuern und den Tod schließlich als die Vereinigung mit der absoluten Wahrheit ansehen.« J. F. - Heute ist der Tod auch die Frage der Euthanasie. Im Westen stellt sich das Problem: Hat man das Recht, die Stunde seines Todes zu wählen? Ich spreche nicht vom Selbstmord, das ist noch etwas a n d e r e s . Doch hat ein Kranker, w e n n er sich verloren fühlt oder seine Leiden unerträglich sind, das Recht, seinen Tod zu fordern? Hat ein Arzt das Recht, ihm Sterbehilfe zu leisten? Diese Frage stellt sich auf moralischer und auch auf juristischer Ebene, und sie gehört zu den Gesellschaftsproblemen, die wir im Hinblick auf die Schwangerschaftsunterbrechung bereits angesprochen haben. Im übrigen ist diese Problematik derart präsent, daß der Papst im Mai 1996 auf einer Reise durch Slowenien eine Rede gehalten hat, wo er sich gegen die von ihm so genannten »Kräfte des Todes« aussprach, das heißt gegen die Befürworter der Abtreibung und der Euthanasie. Hat der Buddhismus zur Euthanasie Stellung bezogen? M. - Für einen spirituell Praktizierenden ist j e d e r Moment des Lebens kostbar. Warum? Weil jeder Moment, jedes Ereignis genutzt werden können, um weiter in Richtung Erwachen voranzuschreiten. Die Konfrontation mit einem starken körperlichen Leid kann dazu veranlassen, über das äußerste Wesen der Dinge zu meditieren, über die Tatsache, daß im Innersten dieses Leids das Wesen des Geistes unverändert ist und daß dieses Wesen weder von der Freude noch vom Leid b e r ü h r t w e r d e n kann. Wer große Seelenstärke besitzt und in seiner spirituellen Praxis Konstanz zeigt, kann also selbst die intensivsten Momente des Leids nutzen, um Fortschritte in Richtung Verwirklichung zu machen. J. F. - Vom richtigen Nutzen der Krankheiten heißt eine 298
kurze Abhandlung, die Pascal geschrieben hat, als er selbst schwer krank war. M. - Schmerz läßt sich auch nutzen, um uns die Leiden, die zahllose Menschen erdulden, in Erinnerung zu r u f e n und unsere Liebe und unser Mitgefühl neu zu beleben. Er k a n n auch die Rolle des »Besens« spielen, der u n s e r schlechtes Karma reinigt. Sofern das Leid nämlich das Resultat negativer, in der Vergangenheit begangener Taten ist, begleichen wir unsere Schuld besser, wenn wir über die Hilfe einer spirituellen Praxis verfügen. Aus diesen Gründen sind weder die Euthanasie noch der Selbstmord akzeptabel. Was a b e r nicht heißt, daß das Leben in absurder, nutzloser Weise verlängert werden soll, wenn keinerlei Hoffnung besteht. Der Einsatz von »HerzLungen-Maschinen« und die therapeutische Verbissenheit, das Leben eines Sterbenden oder eines unrettbaren KomaPatienten um ein p a a r Stunden zu verlängern, sind nicht sehr wünschenswert. Denn das Bewußtsein des Betreffenden »schwebt« über lange Zeit zwischen Leben und Tod, und so verwirrt man es nur. Es wäre besser, die Sterbenden die letzten Augenblicke ihres Lebens in bewußter Gelassenheit erleben zu lassen. J. F. - Aber wenn jemand kein Buddhist ist? M. - Wenn j e m a n d das Leid als unerträgliche Bedrückung empfindet, die das bißchen Ruhe, das man in den letzten Momenten des Lebens erhoffen könnte, zunichte macht... J. F. - Das ist im allgemeinen der Fall. M. - Dann kann m a n sich vorstellen, daß die Verlängerung dieses Lebens unnütz und nur eine Qual ist. Wie gerade erwähnt, vertritt der Buddhismus jedoch die Auffassung, d a ß das Leid w e d e r ein Zufall noch das Resultat eines Schicksals oder eines göttlichen Willens ist, sondern einfach die Frucht unserer vergangenen Taten. Es ist sicher besser, unser Karma a b z u b a u e n , als die karmische Schuld über den Tod hinaus mitzunehmen. Wer weiß, welcher Existenzzustand dem Tod folgen wird? Die Euthanasie löst nichts. J. F. - Die Frage der Sittlichkeit der Euthanasie stellt sich 299
nicht nur für den, der sein Leid abkürzen möchte, sondern auch für den, der ihm hilft und deswegen einen Menschen tötet, ein Leben beseitigt. Hier ist der Buddhismus, glaube ich, kategorisch: Man darf niemals ein Leben auslöschen. M. - Weder das seine noch das der anderen. Diese traurige Situation, die bloße Tatsache, daß man die Euthanasie für sich ins Auge faßt, spiegelt das fast völlige Verschwinden spiritueller Werte in u n s e r e r Zeit. Die Leute finden keinerlei Hilfsmittel in sich selbst und keine äußere Inspiration. Das w ä r e undenkbar in der tibetischen Gesellschaft. Dort w e r d e n die Sterbenden von den Unterweisungen gestützt, über die sie im Laufe ihres Lebens nachgedacht und durch die sie sich auf den Tod vorbereitet haben. Sie haben Orientierungspunkte, eine innere Stärke. Da sie es verstanden haben, dem Leben einen Sinn zu geben, verstehen sie es, dem Tod einen Sinn zu geben. Im allgemeinen profitieren sie außerdem von einem spirituell inspirierenden, herzlichen Beistand in Person ihres spirituellen Meisters. Das steht in krassem Gegensatz zur Erscheinung von Arzt-Vollstreckern wie Dr. Kervorian in den Vereinigten Staaten. Wie auch immer das Handeln dieser Ärzte motiviert sein mag: eine solche Situation ist erbärmlich. Das positive Herangehen an den Tod im Orient steht ebenso im Gegensatz zur Sentimentalität, zur Katastrophenstimmung oder gar zu der drückenden physischen und geistigen Einsamkeit, in der viele Leute im Westen sterben. J. F. - Was denkt ein Buddhist ü b e r Organspenden im Moment des Todes? M. - Ideal des Buddhismus ist, unseren Altruismus mit allen möglichen Mitteln zum Ausdruck zu bringen. Es ist also ganz und gar lobenswert, Organe zu spenden, damit unser Tod den anderen nützlich ist. J. F. - Und der Selbstmord? M. - Jemand anderen zu töten oder sich selbst bedeutet immer, Leben zu nehmen. »Nicht mehr existieren« zu wollen, ist zudem ein Lockmittel, eine Form der Anhänglichkeit, die, obgleich destruktiv, dennoch ein Bindeglied zum Samsara ist, dem Kreislauf der Existenzen. Wenn sich jemand 300
selbst umbringt, geht er nur in einen anderen Zustand über, nicht zwangsläufig in einen besseren. J. F. - Ja. Das ist dann dieselbe Sache wie im Christentum ... Wird m a n aus demselben Grund verdammt? M. - Es gibt keine Verdammung im Buddhismus. Die karmische Vergeltung der Taten ist keine Bestrafung, sondern eine natürliche Auswirkung. Man erntet nur, was m a n gesät hat. Wer einen Stein in die Luft wirft, darf sich nicht wundern, wenn er ihm auf den Kopf fällt. Das unterscheidet sich ein wenig vom Begriff der »Sünde«. Obschon, Pater Laurence Freedman zufolge, »Sünde im Griechischen >das Ziel verfehlen< bedeutet. Die Sünde ist, was das Bewußtsein von der Wahrheit ablenkt. Als Folge der Selbsttäuschung und des Egoismus enthält die Sünde ihre eigene Strafe. Gott straft nicht.«* Ich weiß nicht, ob ich es hinreichend betont habe, doch die Begriffe von Gut und Böse sind im Buddhismus nicht absolut. Niemand hat verfügt, d a ß irgendeine Sache gut oder schlecht an sich w ä r e . Taten, Worte und Gedanken sind gut oder schlecht aufgrund ihrer Motivation und ihrer Resultate, aufgrund des Glücks und des Leids, das sie verursachen. In diesem Sinne ist der Selbstmord negativ, da er ein Scheitern unseres Versuchs ist, der Existenz einen Sinn zu geben. Indem man sich tötet, zerstört man die Möglichkeit, in diesem Leben das Wandlungspotential, das in uns steckt, zu aktualisieren. Man wird von einer intensiven Krise der Mutlosigkeit überwältigt, die, wie wir gesehen h a b e n , eine Schwäche ist, eine Form von Trägheit. Indem man sich sagt: »Wozu leben?«, bringt man sich um eine mögliche innere Wandlung. Ein Hindernis zu überwinden, heißt, es in eine für das Fortschreiten hilfreiche Kraft zu verwandeln. Menschen, die in ihrem Dasein eine schwere Prüfung durchgestanden haben, ziehen d a r a u s oft eine Lehre und eine starke Inspiration auf dem spirituellen Weg. Kurz, der Selbstmord löst nichts, er verschiebt das Problem nur auf einen anderen Existenzzustand. * Pater L a u r e n c e F r e e d m a n . in: Dalai L a m a : Das Herz aller Religionen ist eins. Die Lehre Jesu aus buddhistischer Sicht. Aus d e m F n g l i s c h e n von Michael Wallosseck, l l o f f m a n n & C a m p e , H a m b u r g 1997.
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J. F. - Um auf den Bardo zurückzukommen: welches sind seine verschiedenen Phasen? M. - Bardo bedeutet »Übergang«, Zwischenzustand. Man unterscheidet mehrere davon. Zunächst gibt es den Bardo des Lebens, den Zustand zwischen Geburt und Tod. Dann den Bardo des Augenblicks des Todes, w e n n sich das Bewußtsein vom Körper trennt. Man spricht von zwei Phasen der »Auflösung«: der ä u ß e r e n Auflösung der physischen und sensorischen Fähigkeiten und der inneren Auflösung der geistigen Vorgänge. Die erste wird verglichen mit der Resorption der fünf Elemente, die das Universum bilden. Wenn sich das Element »Erde« auflöst, wird der Körper schwer, wir haben Mühe, uns aufrecht zu halten, wir fühlen uns beklommen wie u n t e r der Last eines Berges. Wenn sich das Element »Wasser« auflöst, trocknen unsere Schleimhäute aus, wir haben Durst, unser Geist wird wirr und driftet ab, als w ü r d e er von einem Fluß fortgeschwemmt. Wenn das Element »Feuer« verschwindet, fängt der Körper an, seine Wärme zu verlieren, und es wird immer schwieriger, die äußere Welt richtig wahrzunehmen. Wenn sich das Element »Luft« auflöst, fällt es schwer zu atmen, wir können uns nicht mehr bewegen und verlieren das Bewußtsein. Es kommt zu Halluzinationen, der ganze Film unseres Lebens läuft in u n s e r e m Geist ab. Zuweilen wird man große Ruhe empfinden, einen erleuchteten, stillen Raum sehen. Schließlich setzt die Atmung aus. Doch eine vitale Energie, der »innere Atem«, behauptet sich einige Zeit, bis auch sie aufhört. Das ist der Tod, die Trennung von Körper und Bewußtseinsstrom. Dieser Strom durchläuft dann eine ganze Reihe immer subtilerer Zustände - das ist die zweite, die innere Auflösung. Man macht nacheinander die Erfahrung einer großen Klarheit, einer großen Glückseligkeit und eines von jedem Begriff freien Zustandes. Das ist der Moment, wo man kurz die Erfahrung des Absoluten macht. Jemand, der in der spirituellen Praxis erprobt ist, kann in diesem absoluten Zustand verharren und zur Erleuchtung gelangen. Andernfalls geht das Bewußtsein in den Zustand zwischen Tod und 302
folgender Wiedergeburt über. Die verschiedenen Erfahrungen, die unser Bewußtsein macht, hängen also vom Stand u n s e r e r spirituellen Reife ab. Das m e h r oder weniger beängstigende Aussehen dieses Bardo wird bei j e m a n d e m ohne spirituelle Verwirklichung durch das Resultat sämtlicher Gedanken, Worte und Taten seines v e r g a n g e n e n Lebens bestimmt. Er kommt sich vor wie eine vom Wind des Karma fortgewehte Feder. Nur wer über eine gewisse spirituelle Verwirklichung verfügt, kann den Kurs bestimmen. Anschließend kommt der Bardo des »Werdens«. Dort beginnen die Modalitäten des folgenden Existenzzustandes zu erscheinen. Der Prozeß der Wiedergeburt ist bei durchschnittlichen Menschen derselbe wie bei verwirklichten. Doch reinkarnieren sich erstere durch die Kraft, die aus ihren vergangenen Taten resultiert, w ä h r e n d sich letztere, befreit vom negativen Karma, wissentlich u n t e r den e n t s p r e c h e n d e n Umständen reinkarnieren, um weiter den Menschen zu helfen. Daher ist es möglich, die neue Existenz eines verstorbenen Meisters zu identifizieren. J. F. - Gut... Wir werden nicht noch einmal die Frage der Reinkarnation aufgreifen. Verlockend am Buddhismus ist für viele Menschen aus dem Westen jedoch im Endeffekt, daß es sich hier - einer klassischen Einschätzung der Philosophiegeschichte zufolge - um eine Schule der Selbstbeherrschung handelt. M. - Selbstbeherrschung ist unerläßlich, doch sie ist nur ein Werkzeug. Der Äquilibrist, der Geiger, der Judoka und m a n c h m a l der Mörder: sie alle sind Herren ihrer Selbst, allerdings mit völlig verschiedenen Motivationen und Resultaten. Die Selbstbeherrschung erlangt ihren wahren Wert, wie viele andere Fähigkeiten auch, nur insofern, als sie auf einer richtigen Motivation und richtigen metaphysischen Prinzipien beruht. Für den Buddhismus besteht die Selbstbeherrschung darin, sich nicht von negativen Gedankenketten hinreißen zu lassen und das Wesen der Erleuchtung nicht aus den Augen zu verlieren. Man kann mit Recht von einer »Wissenschaft des Geistes« sprechen. 303
J. F. - Es handelt sich also um die Beherrschung seines spirituellen Seins im Hinblick auf das Gute, um die gleichzeitige Beherrschung seiner Gedanken, seiner Gefühle und folglich seiner Verhaltensweisen im Leben. Das bezeichnet m a n seit der Antike als das Verhalten des Weisen, das durch eine innere Metamorphose und durch innere Übung zustande kommt. In dieser Hinsicht beobachtet m a n im Westen eine Neugier für allerlei andere Techniken, besonders für den Yoga. Könntest Du kurz etwas über die Zusammenhänge von Buddhismus und Yoga sagen? M. - Yoga, oder jedenfalls seine tibetische Entsprechung Naldjor, heißt »Vereinigung mit der Natur«. Unser Geist soll sich mit dem Geist des Buddha oder des spirituellen Meisters vereinen, um d e r e n spirituelle Verwirklichung in unseren Geist mit einzubeziehen. Auch im Hinduismus gibt es mehrere yoga-Formen. Der Raja-Yoga besteht darin, auf dem Weg des Handelns große Seelenstärke zu entfalten. Der Bhakti-Yoga ist der Weg der Andacht, der Jnana-Yoga der Weg der Gnosis. Der Hatha-Yoga, der im Westen am bekanntesten ist, setzt Körper- und Haltungsübungen ein, die in Verbindung mit einer Kontrolle der Atmung psychosomatische Auswirkungen haben. Diese Übungen führen zu einem Zustand der Entspannung, der i n n e r e n Ruhe, der uns fähiger macht, den Geschehnissen des Daseins mit Gelassenheit zu begegnen. Der tibetische Buddhismus verfügt ebenfalls über Praktiken zur Beherrschung des Atems und Körperübungen, die nur im Rahmen einer verlängerten Zurückgezogenheit vermittelt werden - nie jedoch an Neulinge, die außerhalb eines bestimmten spirituellen Kontextes stehen. Dennoch gibt es einige Zeugnisse. Im Verlauf des bereits angesprochenen Harvard-Symposiums hat Professor Herbert Benson einen Vortrag über »Wechselwirkungen von Körper und Geist mit Hinweisen zur tibetischen Weisheit« gehalten. Ermutigt vom Dalai Lama, hat Professor Benson etwa fünfzehn J a h r e lang die Wirkungen der Meditation und bestimmter Techniken auf den menschlichen Körper untersucht. Er hat vor allem die Praktik des Tumo oder der inneren Hitze erforscht. Alexandra David304
Neel hat sie in ihrem Buch My Journey to Lhasa* bildreich beschrieben: »Einige dieser Meister in der Kunst des Tumo sah ich auf dem Schnee sitzen, Nacht f ü r Nacht, vollkommen nackt, bewegungslos, versunken in ihre Meditationen, w ä h r e n d um sie h e r u m f u r c h t b a r e W i n t e r s t ü r m e wirbelten und heulten. Im s t r a h l e n d e n Licht des Vollmonds w u r d e ich Zeuge der unglaublichen Prüfung, die ihre Schüler ablegten: Einige junge Männer wurden mitten im Winter an den Rand eines Sees oder Flusses geführt. Dort trockneten sie, völlig entkleidet, auf ihrer Haut Tücher, die ins eiskalte Wasser getaucht worden w a r e n . Kaum w a r ein Tuch trocken, w u r d e es durch ein a n d e r e s ersetzt. Steif vom Frost, sobald es das Wasser verließ, d a m p f t e es bald auf den Schultern des /tefo'arcg-Kandidaten, als w ä r e es auf einen glühenden Ofen gelegt worden. Fünf Wintermonate lang übte ich mich, in 3900 Meter Höhe nur mit dem dünnen Novizinnengewand aus Baumwolle bekleidet, selbst darin.« Benson h a t diese Praktik bei den Eremiten der tibetischen Exilgemeinschaft im Himalaya erforscht. Er hat festgestellt, d a ß d e r S a u e r s t o f f v e r b r a u c h bei dieser Art von Meditation bis auf vierundsechzig Prozent seines Normalmaßes absinken konnte, daß sich der Laktatgehalt im Blut verminderte, daß sich die Atmung verlangsamte etc. Er hat die Praktizierenden gefilmt, wie sie nicht nur eins, sondern mehrere dieser Tücher bei einer Temperatur von ein Grad trockneten. Laut Professor Benson hätte jeder andere gezittert und w ä r e vielleicht an Unterkühlung gestorben. Die Yogis hatten jedoch, weit davon entfernt, durchgefroren zu sein, eine ganz warme Körperoberfläche. Es geht hier nicht um Exhibitionismus. Ich h a b e selbst etliche tibetische Freunde, die in diesen Techniken Übung haben. Sie werden praktiziert, um den Körper und seine Energien über die * Titel d e r d e u t s c h e n Frau nach der verbotenen 1928.
A u s g a b e : Die erste Pilgerfahrt einer weißen Stadt des Dalai Lama. B r o c k h a u s , L e i p z i g
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Meditation zu b e h e r r s c h e n . Doch sie sind kein Zweck an sich. Ihr Ziel ist, uns zu helfen, in der Erkenntnis des Geistes voranzukommen. Es heißt: »Das Ziel der Askese ist die Beherrschung des Geistes. Wozu soll die Askese auch sonst nützen?«
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Das Individuum als König J E A N - F R A N ^ O I S - Fragt Ihr Buddhisten Euch m a n c h m a l , was die Errungenschaften unserer Humanwissenschaften, so wie sie sich seit ein oder zwei Jahrhunderten herausgebildet und entwickelt h a b e n , E u r e n Wissenschaften des Geistes bringen können? Oder glaubt Ihr, Eure Wissenschaft des Geistes, deren Grundlagen vor zweitausendfünfh u n d e r t J a h r e n gelegt w o r d e n sind, k a n n von diesen human genannten Wissenschaften nichts mehr lernen? M A T T H I E U - Die buddhistische Haltung besteht darin, für die Überlegungen und Bestrebungen aller völlig offen zu sein. Es geht also nicht d a r u m , sich in der Art zu verschließen, wie es der Westen gegenüber den Wissenschaften des Geistes tut. Doch darf man nicht vergessen, daß der Westen das Interesse an den kontemplativen Wissenschaften verloren hat, um sich auf die sogenannten Naturwissenschaften zu konzentrieren. Sogar die Psychologie, die ihrem Namen nach eine »Wissenschaft des Geistes« sein müßte, meidet merkwürdigerweise die Introspektion, die als nicht objektiv gilt, und bemüht sich, die mentalen Begebenheiten in meßbare Phänomene zu verwandeln. Sie ignoriert die kontemplative Methode also sowohl in der Praxis als auch aus Prinzip. Für den Buddhismus ist dagegen offensichtlich, daß die einzige Art und Weise, seinen Geist zu e r k u n d e n , in der u n m i t t e l b a r e n Erforschung liegt: zunächst auf analytische, dann auf kontemplative oder meditative Weise - wobei unter Meditation weit mehr zu verstehen ist als irgendeine vage m e n t a l e Entspannung, wie man im Westen oft meint. Als Meditation bezeichnet der Buddhismus eine in den Jahren der Praxis fortschreitende Erkundung der Natur des Geistes und der Art, wie sich die mentalen Begebenheiten dort manifestieren. Die Herangehensweise der abendländischen Psychologie erscheint da
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f r a g m e n t a r i s c h und im etymologischen Sinne des Wortes ein wenig oberflächlich. Denn sie b e r ü h r t nur die ä u ß e r e Schicht des Geistes. J. F. - Gegenüber den exakten Wissenschaften ist die buddhistische Haltung dagegen unmißverständlich, glaube ich. M. - In der Tat. Bei klar und zweifelsfrei bewiesenen mathematischen oder physikalischen Gesetzen nimmt der Buddhismus die gültige Erkenntnis an und läßt alles, was sich als unrichtig erwiesen hat, fallen. Daher hat er auch keine Mühe, seine W a h r n e h m u n g des physikalischen Universums, etwa in der Astronomie, zu modifizieren. Denn ob die Erde nun rund oder flach ist, ändert nicht viel an den grundlegenden Mechanismen von Glück und Leid. Der Dalai Lama sagt oft, in Tibet h a b e m a n ihm beigeb r a c h t , die Welt sei trapezförmig. Dennoch h a b e es ihm keine Mühe bereitet, zu verstehen und folglich anzuerkennen, daß sie rund ist! J. F. - In der abendländischen Philosophie bezeichnet man das als Verwerfung des Obrigkeitsarguments. M. - Eine alte buddhistische Kosmologie, die von den Schülern des Buddha abgefaßt worden ist, spiegelt das Bild wider, das m a n sich im Indien des 6. und 5. J a h r h u n d e r t s vor Christus von der Welt gemacht hat. Ein hoher Berg, der Meru, bildete die Achse des Universums. Um sie h e r u m d r e h t e n sich Sonne und Mond und e r s t r e c k t e n sich verschiedene Kontinente. Diese Kosmologie gehört zur sogen a n n t e n »relativen« oder »konventionellen Wahrheit«, einer Wahrheit, die die des Augenblicks war. J. F. - Bis in die letzten Jahre hinein schienen die Buddhisten gegenüber den Wissenschaften der Materie, den Wissenschaften des Lebens, der Biologie, der Astrophysik und der Evolutionstheorie der Arten jedenfalls eine viel offenere Haltung zu haben als die katholische Kirche und das Christentum im allgemeinen. Die Kirche hatte sich eine bestimmte, zum Dogma gehörende Erklärung des Universums und der Schöpfung der Lebewesen zu eigen gemacht. Von der Wissenschaft wurde sie nach und nach systema308
tisch widerlegt - und so betrachtete sie sie als Feindin. Noch im 19. J a h r h u n d e r t gab es in christlichen Kreisen feindselige Reaktionen auf die Evolutionstheorie der Arten. Letzten Endes hat sich die Kirche angepaßt, doch sehr spät. Noch in den fünfziger und sechziger Jahren stand ein Priester, der wie Hochwürden Teilhard de Chardin versuchte, die Evolutionstheorie der Arten mit der christlichen Lehre in Einklang zu bringen, lange auf dem Index der katholischen Kirche, weil er diese Theorie zum Ausgangspunkt seiner theologischen Forschungen gemacht hatte. Der Buddhismus hat eindeutig eine weniger dogmatische Haltung. M. - In der Tat. Die Vorstellung des Buddhismus von der Welt der Erscheinungen ist kein »Dogma«. Denn die Art, wie die Erscheinungswelt wahrgenommen wird, variiert je nach Mensch und Epoche. Die zeitgenössische Beschreibung des Kosmos entspricht unserer derzeitigen Wahrnehmung des Universums, und der Buddhismus akzeptiert sie als solche. Die Wissenschaft als Beschreibung der Fakten und Naturgesetze abzulehnen, steht a u ß e r Frage. Nicht akzeptieren k a n n der Buddhismus hingegen den quasi metaphysischen Anspruch der Wissenschaft, in jeder Hinsicht, materiell wie immateriell, über eine letzte Erklärung der Natur der Welt und des Geistes zu verfügen. Genausowenig hat der Buddhismus Grund, je nachdem, wohin der Wind der wissenschaftlichen Entdeckungen bläst, seinen Standpunkt grundlegend zu ä n d e r n . Denn die Prinzipien des spirituellen Daseins werden durch diese Entdeckungen weder bestätigt noch entkräftet. Daß der Altruismus eine Ursache des Glücks ist und der Haß eine Ursache des Unglücks, hat nichts mit der Rundheit der Erde oder dem »Urknall« zu tun. A priori läßt sich einräumen, daß die aufeinanderfolgenden wissenschaftlichen Theorien ein Bild vermitteln, das der physikalischen Realität immer n ä h e r kommt. Allerdings muß man sich ins Gedächtnis rufen, daß sich die Wissenschaft im Laufe ihrer Geschichte häufig Ideen zu eigen gemacht hat, die den vorangehenden diametral entgegengesetzt waren. Jedesmal war dann von einer 309
»wissenschaftlichen Revolution« die Rede, und m a n trug tiefste Verachtung für all die zur Schau, die die Ideen des Augenblicks nicht teilten. Ich sage nicht, daß man sich am Vergangenen f e s t k l a m m e r n soll. Man sollte der Zukunft aber auch nicht vorgreifen oder andere Vorstellungen von der Wirklichkeit geringschätzen. J. F. - Kommen wir jetzt zu den Humanwissenschaften ... Du hast mir vorhin gesagt, zuerst habe die Politologie, das heißt die Erforschung der Regierungssysteme, Eure Aufmerksamkeit erregt. M. - Ziel des Buddhismus ist, alle Formen des Leids zu beseitigen. Daher ist klar, daß die Kenntnis der Prinzipien einer gerechten, auf spirituellen Werten g r ü n d e n d e n Gesellschaft, die nicht n u r auf der Bedeutung der Menschenrechte, sondern auch auf den Pflichten des einzelnen beruht, größte Wichtigkeit hat. J. F. - Wie läßt sich ein gerechtes Regierungssystem aufbauen? Anders gesagt: Wie läßt sich eine Gesellschaft mit einem Regierungssystem entwickeln, das die Legitimität der Macht gewährleistet - das heißt die Tatsache, daß diese Macht wirklich von den Bürgern ausgeht, nach denen sie sich richten soll - und das die Gleichheit aller Bürger garantiert, für den Anfang zumindest vor dem Recht, dem Gesetz? Das ist, was man als Rechtsstaat bezeichnet. Und wie soll man vor allem die Gleichheit der Bürger gegenüber den Lebensrealitäten g a r a n t i e r e n : den wirtschaftlichen Realitäten, den Realitäten von Erziehung und Krankheit sowie allen Existenzdetails, von den Bedingungen des Wohnens bis zur Arbeit und der Erholung? M. - Natürlich sind die Grundlagen der Demokratie äußerst lobenswert: die Beseitigung der Ungerechtigkeiten und die Vergewisserung, daß das Wohl der Bürger für alle gleichermaßen berücksichtigt wird. Dennoch müssen die Prinzipien, die die Gesellschaft beseelen, von ihren Mitgliedern noch als unbestreitbare Gewißheit gelebt werden. A priori sind auch einige Ideale des Kommunismus wie die Güteraufteilung ä u ß e r s t lobenswert. Alles hängt von der Art und Weise ab, wie man sie umsetzt. 310
Im Laufe der letzten Jahre hat der Dalai Lama der tibetischen Exilregierung ein demokratisches System zur Pflicht gemacht. Denn er war der Ansicht, daß die Achtung, die er persönlich in spiritueller wie weltlicher Hinsicht genoß, die Errichtung eines demokratischen Systems bremste. Nach seinem Tod w ü r d e das jedoch das einzige sein, was den Tibetern erlauben würde, ihre Rechte vor der Weltgemeinschaft geltend zu machen. Der Dalai Lama hat zwei Verfassungen festlegen lassen: eine für die tibetische Regierung im indischen Exil, wo sich mehr als hundertdreißigtausend Flüchtlinge aufhalten, und eine weitere für Tibet, nachdem es die Unabhängigkeit oder zumindest die Autonomie wiedererlangt hat. Bei dieser Gelegenheit haben die Mitglieder der v e r f a s s u n g g e b e n d e n Versammlung den Wunsch geä u ß e r t , traditionelle Werte mit den besten Aspekten der Demokratie zu vereinen. Auf einer Reise durch Australien, wo m a n Bundesstaaten antrifft, die eine gewisse Autonomie genießen, hat sich der Dalai Lama vor allem für diese Art von System interessiert. Den Chinesen - die die völlige Unabhängigkeit, auf die Tibet grundsätzlich ein Anrecht hat, in Anbetracht der Umstände ablehnen - hat er nämlich ein System vorgeschlagen, bei dem Tibet seine inneren Angelegenheiten selbst verwalten und China die äußeren Angelegenheiten überlassen würde. Doch trotz aller Konzessionen, die den Auftakt f ü r Verh a n d l u n g e n mit den Chinesen h ä t t e n e r l a u b e n müssen, stößt er auf eine Mauer des Schweigens. Der Dalai Lama versucht mit diesem Vorgehen w e d e r Rücksicht auf die Wählermeinung zu nehmen, noch seine eigene Position zu wahren, da er ja im voraus darauf verzichtet hat, das freie Tibet zu regieren. Vielmehr möchte er die ideale Regier u n g s f o r m f ü r das heutige Tibet bestimmen. Abgesehen vom Begriff der Rechte des einzelnen hat er daher versucht, auch den Begriff der Verantwortung des einzelnen gegenüber der Gesellschaft und der Verantwortung des Staates gegenüber den anderen Staaten der Welt in die Verfassung aufzunehmen. J. F. - Ein Aspekt dessen, was man die Krise der moder3i 1
»wissenschaftlichen Revolution« die Rede, und m a n t r u g tiefste Verachtung für all die zur Schau, die die Ideen des Augenblicks nicht teilten. Ich sage nicht, daß m a n sich am Vergangenen f e s t k l a m m e r n soll. Man sollte der Zukunft aber auch nicht vorgreifen oder andere Vorstellungen von der Wirklichkeit geringschätzen. J. F. - Kommen wir jetzt zu den Humanwissenschaften ... Du hast mir vorhin gesagt, zuerst habe die Politologie, das heißt die Erforschung der Regierungssysteme, Eure Aufmerksamkeit erregt. M. - Ziel des Buddhismus ist, alle Formen des Leids zu beseitigen. Daher ist klar, daß die Kenntnis der Prinzipien einer gerechten, auf spirituellen Werten g r ü n d e n d e n Gesellschaft, die nicht n u r auf der Bedeutung der Menschenrechte, sondern auch auf den Pflichten des einzelnen beruht, größte Wichtigkeit hat. J. F. - Wie läßt sich ein gerechtes Regierungssystem aufbauen? Anders gesagt: Wie läßt sich eine Gesellschaft mit einem Regierungssystem entwickeln, das die Legitimität der Macht gewährleistet - das heißt die Tatsache, daß diese Macht wirklich von den Bürgern ausgeht, nach denen sie sich richten soll - und das die Gleichheit aller Bürger garantiert, für den Anfang zumindest vor dem Recht, dem Gesetz? Das ist, was m a n als Rechtsstaat bezeichnet. Und wie soll m a n vor allem die Gleichheit der Bürger gegenüber den Lebensrealitäten g a r a n t i e r e n : den wirtschaftlichen Realitäten, den Realitäten von Erziehung und Krankheit sowie allen Existenzdetails, von den Bedingungen des Wohnens bis zur Arbeit und der Erholung? M. - Natürlich sind die Grundlagen der Demokratie äußerst lobenswert: die Beseitigung der Ungerechtigkeiten und die Vergewisserung, daß das Wohl der Bürger für alle gleichermaßen berücksichtigt wird. Dennoch müssen die Prinzipien, die die Gesellschaft beseelen, von ihren Mitgliedern noch als unbestreitbare Gewißheit gelebt werden. A priori sind auch einige Ideale des Kommunismus wie die Güteraufteilung ä u ß e r s t lobenswert. Alles hängt von der Art und Weise ab, wie man sie umsetzt. 310
Im Laufe der letzten Jahre hat der Dalai Lama der tibetischen Exilregierung ein demokratisches System zur Pflicht gemacht. Denn er war der Ansicht, daß die Achtung, die er persönlich in spiritueller wie weltlicher Hinsicht genoß, die Errichtung eines demokratischen Systems bremste. Nach seinem Tod w ü r d e das jedoch das einzige sein, was den Tibetern erlauben würde, ihre Rechte vor der Weltgemeinschaft geltend zu machen. Der Dalai Lama hat zwei Verfassungen festlegen lassen: eine für die tibetische Regierung im indischen Exil, wo sich mehr als hundertdreißigtausend Flüchtlinge aufhalten, und eine weitere für Tibet, nachdem es die Unabhängigkeit oder zumindest die Autonomie wiedererlangt hat. Bei dieser Gelegenheit haben die Mitglieder der v e r f a s s u n g g e b e n d e n Versammlung den Wunsch geä u ß e r t , traditionelle Werte mit den besten Aspekten der Demokratie zu vereinen. Auf einer Reise durch Australien, wo m a n Bundesstaaten antrifft, die eine gewisse Autonomie genießen, hat sich der Dalai Lama vor allem für diese Art von System interessiert. Den Chinesen - die die völlige Unabhängigkeit, auf die Tibet grundsätzlich ein Anrecht hat, in Anbetracht der Umstände ablehnen - hat er nämlich ein System vorgeschlagen, bei dem Tibet seine inneren Angelegenheiten selbst verwalten und China die äußeren Angelegenheiten überlassen würde. Doch trotz aller Konzessionen, die den Auftakt für Verh a n d l u n g e n mit den Chinesen h ä t t e n e r l a u b e n müssen, stößt er auf eine Mauer des Schweigens. Der Dalai Lama versucht mit diesem Vorgehen weder Rücksicht auf die Wählermeinung zu nehmen, noch seine eigene Position zu wahren, da er ja im voraus darauf verzichtet hat, das freie Tibet zu regieren. Vielmehr möchte er die ideale Regier u n g s f o r m f ü r das heutige Tibet bestimmen. Abgesehen vom Begriff der Rechte des einzelnen hat er daher versucht, auch den Begriff der Verantwortung des einzelnen gegenüber der Gesellschaft und der Verantwortung des Staates gegenüber den anderen Staaten der Welt in die Verfassung aufzunehmen. J. F. - Ein Aspekt dessen, was m a n die Krise der moder3ii
n e n Demokratien n e n n e n könnte, ist in der Tat, daß die Bürger u n s e r e s Rechtsstaates meinen, sie hätten gegenü b e r der Gemeinschaft immer m e h r Rechte und immer weniger Pflichten. Dazu eine vergnügliche Anekdote. 1995 schrieb mir ein Leser: »Wußten Sie - denn ich hatte es völlig vergessen -, daß es während der Französischen Revolution nicht nur die Erklärung der Menschenrechte gegeben hat? 1795 hat es auch eine Erklärung der Bürgerpflichten gegeben. Ihren zweihundertsten J a h r e s t a g gedenkt heute niemand zu feiern.« Also habe ich einen Artikel verfaßt, um u n s e r e n Lesern von Le Point diesen Geburtstag ins Gedächtnis zu rufen. Er ist, wie ich zugeben muß, auf völlige Gleichgültigkeit gestoßen. Anscheinend interessiert die Frage der Bürgerpflichten nämlich viel weniger als die der Bürgerrechte. Dennoch sind es die beiden Seiten ein und derselben Wirklichkeit. Das aktuelle politische Denken des Dalai Lama und der Buddhisten wirft eine interessante Frage auf. In Asien gibt es eine sogenannte Theorie der »Relativität der Menschenrechte und der demokratischen Prinzipien«. Offensichtlich totalitäre Länder wie China, a b e r auch Länder wie Singapur, die autoritäre, aber keine totalitären Regime gekannt haben, bekunden, daß ihnen der Westen mit seiner Geschichte der Menschenrechte, der totalen Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, der Organisationsfreiheit und der auf pluralistischen Wahlen g r ü n d e n d e n Demokratie auf die Nerven falle. Ihnen zufolge gibt es in jeder Kultur eine eigene Auffassung der Menschenrechte. Folglich gebe es einen asiatischen Menschenrechtsbegriff, der nicht viel mit Demokratie zu tun habe, und einen westlichen Menschenrechtsbegriff, den wir gefälligst f ü r uns behalten sollten! Diese seltsame Theorie der Relativität der Menschenrechte ist in erster Linie vom berühmten Lee Kuan Yew entwickelt worden, der ein großer Staatsmann war, da er das moderne Singapur geschaffen hat. Diese Theorie der kulturabhängigen Relativität der Menschenrechte ist auch vom Präsidenten der französischen Republik, Jacques Chirac, bestätigt worden. Während sei312
nes Besuchs im April 1996 in Ägypten legte er in einer Grundsatzrede auseinander, d a ß jedes Land seinen Menschenrechtsbegriff habe und die Menschenrechte auf seine Weise in die Tat umsetze. Präsident Mubarak kam er entgegen, indem er sagte, daß Ägypten - obwohl es ein Land sei, das mit dem, w a s m a n n o r m a l e r w e i s e eine Demokratie nennt, nicht viel zu schaffen habe - auf der Ebene der Menschenrechte nicht zwangsläufig zu verurteilen sei. So kurz vor dem Besuch des chinesischen Premierministers Li Peng 1996 in Paris, einem Besuch, der in dieser Hinsicht einige Zwischenfälle und Reibereien h e r v o r g e r u f e n hat, warf diese Erklärung trotz allem ernstlich die Frage auf, ob es wirklich einen asiatischen oder afrikanischen Menschenrechtsbegriff gibt, der sich von dem unterscheidet, den die großen Denker der Demokratie immer verteidigt h a b e n ! Was f ü r eine Haltung h a b e n die Buddhisten in diesem Punkt? M. - Laut Buddhismus verlangen alle Menschen n a c h Glück und h a b e n dasselbe Recht, glücklich zu sein. Alle streben d a n a c h , vom Leid befreit zu werden, und h a b e n dasselbe Recht darauf, nicht mehr zu leiden. Diese Bestrebungen und Rechte h a b e n selbstverständlich universellen Wert. Es ist also zweckmäßig, Wesen und Wirksamkeit der menschlichen Gesetze und Institutionen zu überprüfen, um zu sehen, ob sie diese grundlegenden Rechte begünstigen oder beeinträchtigen. Der Orient neigt, m e h r als der Westen, zu der Ansicht, daß die Harmonie einer Gesellschaft nicht durch eine Form der Anarchie gefährdet werden darf, die darin besteht, den Menschenrechtsbegriff auszunutzen, um irgendwas irgendwann irgendwie zu tun, solange es nur »erlaubt« ist. Eine solche Haltung führt zu einer Unausgewogenheit zwischen Rechten und Pflichten, zwischen der persönlichen Freiheit und der Verantwortung g e g e n ü b e r den a n d e r e n . In den westlichen Gesellschaften herrscht »das Individuum als König«. Solange es sich im R a h m e n der Gesetze bewegt, k a n n es p r a k t i s c h alles tun. J. F. - Oft sogar, wenn es den Rahmen der Gesetze ver3i3
läßt! Die Rechte m a n c h e r Individuen und Gruppen erreichen eine Permissivität, die nicht mehr legal ist. Das sind Rechte außerhalb des Rechts. M. - Ein solches Verhalten bringt dem einzelnen kein Glück, keine Fülle, und außerdem wird er immer wieder die Gesellschaft stören, in der er sich bewegt. Es liegt in der Verantwortung des Individuums, die Harmonie der Gesellschaft bewußt zu schützen. Dahin kann m a n nur gelangen, wenn die Gesetze nicht aus Zwang befolgt werden, sondern aufgrund einer zugleich weltlichen und spirituellen Ethik. Wird eine Gesellschaft von einer Tradition bestimmt, die wie bis vor kurzem in Indien und Tibet - mehr spiritueller Natur ist, d a n n mißt sie dem Wohlbefinden der Gemeinschaft im ganzen verständlicherweise größere Bedeutung bei als der Respektierung des Individualismus um j e d e n Preis. Das Scheitern und das Drama totalitärer Regime liegt darin, daß sie sich gegen den Individualismus stellen, indem sie den einzelnen auf blinde, gewalttätige Weise beherrschen und gleichzeitig vorgeben, das Glück der Völker zu gewährleisten, obwohl die Tatsachen dem gewaltig widersprechen. Es geht also nicht darum, die Freiheit des Individuums einzuengen, sondern seinen Sinn für Verantwortlichkeiten zu schulen. Der Dalai Lama hat diesbezüglich mehrfach wiederholt, daß es wesentlich sei, die Gleichheit der Rechte von Mann und Frau zu gewährleisten, die Gleichheit der Grundrechte auf Leben, Glück und Schutz vor Leid, ganz u n a b h ä n g i g von u n s e r e r Rasse, u n s e r e r Kaste oder unserem Geschlecht. J. F. - Na! ... Offen gestanden glaube ich, daß solche spirituellen Sorgen bei der von Li Peng oder Lee Kuan Yew b e f ü r w o r t e t e n Unterscheidung eines afrikanisch-asiatischen und eines westlichen Menschenrechtsbegriffs keine Rolle spielen! M. - Li Pengs Menschenrechtsbegriff hat mit der Vorstellung der Verantwortlichkeit des einzelnen gegenüber dem Allgemeinwohl der Gesellschaft natürlich nichts zu schaffen. Er offenbart vielmehr die panische Angst vor dem Chaos - das Li Peng jederzeit bereit w ä r e , im Blut zu 3i4
ersticken - und die panische Angst vor Freiheiten, die das totalitäre Regime destabilisieren könnten. J. F. - Aber kommen wir auf die eben von Dir beschriebenen Mißbräuche zurück. Man weiß sehr gut, daß sie in den demokratischsten Gesellschaften ständig vorkommen. In welcher Weise? Die d e m o k r a t i s c h e n Gesellschaften m a c h e n bei allerlei Machenschaften mit, die es einer bestimmten Kategorie von Gruppen, berufssoziologischen I n t e r e s s e n g r u p p e n sowie Gruppen oder einzelnen mit bestimmten Privilegien - im Englischen, sogar im »Franglais«* n e n n t m a n sie »Lobbies« - erlauben, der Gemeinschaft spezielle Vorteile abzunötigen, indem m a n sie als demokratische Rechte apostrophiert. In den europäischen und amerikanischen Gesellschaften wird derzeit eine Debatte zum Thema »erworbene Vorteile« geführt. Denn gewisse Körperschaften haben im Laufe der J a h r e Vergünstigungen herausgeschlagen, über die die anderen Staatsbürger nicht verfügen. Häufig haben sie es im Namen b e s o n d e r e r Umstände oder Schwierigkeiten getan, denen sie früher einmal ausgesetzt waren. Anfänglich ließen sich die speziellen Ausnahmen und Vergünstigungen also rechtfertigen. Doch im Laufe der Jahre sind sie mißbräuchlich geworden und stellen Privilegien dar, die von ihren Nutznießern verteidigt werden, als ginge es um Allgemeininteressen. Zu dieser Art von Schädigungen kommt es in Demokratien ständig. Ich w ü r d e sagen, sie sind fast unvermeidlich! Um ihnen abzuhelfen, müßte man die Dinge in regelmäßigen Abständen z u r ü c k s c h r a u b e n und wieder bei Null anfangen, das heißt bei der Gleichheit aller, sowohl vor dem Gesetz als auch bei der Nutzung öffentlicher Gelder. Die Gefahr, daß sich bestimmte Gruppen und Individuen organisieren, um eine Vorzugsbehandlung gegenüber dem gemeinen Gesetz durchzusetzen und um sich der Verpflichtung zu entziehen, es zu achten, ist ein alter Dämon der * Das mit Anglizismen d u r c h s e t z t e F r a n z ö s i s c h , d a s die A c a d e m i e F r a n (,'aise seit .Jahrzehnten b e k ä m p f t . (A. d. Ü.)
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Demokratie! In Piatons Politeia ist er sehr treffend beschrieben. Piaton zeigt, wie die Demokratie, indem sie degeneriert, die Tyrannei nach sich ziehen kann: Von dem Augenblick an, wo die sogenannten »demokratischen Rechte« nur noch ein Mosaik von Partikularinteressen sind, die - unter Einsatz der Rhetorik des Gemeinnutzes - auf Kosten der a n d e r e n miteinander rivalisieren, steuert m a n auf einen Zustand unkontrollierbarer Anarchie hin. Und der bewirkt, daß unweigerlich die Versuchung zur autoritären Regierungsform aufkommt. Man hat diesen Prozeß im Italien der zwanziger Jahre und im Spanien der dreißiger J a h r e beobachten können. Ein diktatorisches Regime taucht nie aus dem Nichts auf. Bestimmte, für seine Entfaltung günstige Voraussetzungen müssen geschaffen sein. Die Gefahren, auf die der nach Kulturen und Kontinenten unterschiedene, meiner Ansicht nach i r r e f ü h r e n d e Begriff der Menschenrechte a u f m e r k s a m macht, verweisen in Wirklichkeit auf eine alte Problematik der Demokratie, auf ein Problem, das in den tragfähigsten Demokratien immer wieder auftritt. Lee Kuan Yew und Li Peng wollen sagen, daß ein gewisser Autoritarismus der Anarchie vorzuziehen sei. Statt das Problem zu lösen, beseitigen sie es ... auf ihre machtbetonte Art. M. - Nehmen wir ein Beispiel, das unablässig Kontroversen hervorruft: die Vermarktung von Sex und Gewalt in den Medien. Sobald die Legislative in den Vereinigten Staaten vorschlägt, die Ausstrahlung gewalttätiger oder pornographischer Bilder im F e r n s e h e n oder im Internet durch Gesetze zu kontrollieren, erregen sie heftiges Empörungsgeschrei seitens der Intellektuellen, die sich auf die Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g berufen. Hält m a n sich an die »Menschenrechte«, ohne die »Verantwortlichkeiten des Menschen« zu berücksichtigen, ist dieses Problem unlösbar! Man läßt die Gewalt zum täglichen Brot w e r d e n , so d a ß ein durchschnittlicher a m e r i k a n i s c h e r Jugendlicher mit neunzehn J a h r e n vierzigtausend Morde und zweihunderttausend Gewalttaten gesehen hat! Stillschweigend wird die Gewalt als beste, m a n c h m a l als einzige Art der Problemlösung dargestellt. So wird die Gewalt glorifiziert und, 316
da es sich n u r um Bilder handelt, vom körperlichen Schmerz getrennt. Diese Einstellung erstreckt sich auf etliche andere Bereiche. Der Boxer Mike Tyson ist zum bestbezahlten Sportler der Geschichte geworden - 75 Millionen Dollar in einem Jahr. Und aus welchem ehrenvollen Anlaß? Um einem a n d e r e n Faustschläge zu verpassen! Es ist nicht zu leugnen, daß diese generelle Einstellung die Anwendung von Gewalt in der Realität erhöht. Versucht man, solche Auswüchse zu beherrschen, heißt es, man lege der freien Mein u n g s ä u ß e r u n g einen Maulkorb um. Beherrscht m a n sie nicht, badet m a n in Gewalt. Das Problem kommt von einem Mangel an Verantwortungssinn. Die Produzenten, die solche Fernsehsendungen ausstrahlen und Wettkämpfe dieser Art veranstalten, wissen nämlich im Innersten ihrer Selbst ganz genau, daß sie der Menschheit keinen Dienst erweisen. Das Publikum ist jedoch von Gewalt und Sex fasziniert, und »kommerziell« läuft das! Die Produzenten sehen nur das Geld, das zu scheffeln ist, während die Gesetzgeber von der Scheu gelähmt sind, die »Freiheit der Meinungsäußerung« anzukratzen. Folge ist die totale Ausblendung des »Verantwortungs«-Begriffs und die Unfähigkeit, ihn in Gesetze oder Konventionen zu übertragen. Denn der Sinn f ü r Verantwortung soll seinen U r s p r u n g nicht in einer restriktiven Gesetzgebung, sondern in der Reife der Individuen haben. Und damit sie eine solche Reife erlangen können, d ü r f e n die spirituellen Prinzipien, die eine innere Wandlung erlauben, in der Gesellschaft nicht schmerzlich fehlen, sondern sie müssen dort noch lebendig sein. J. F. - Die Begriffe der Meinungs- und der Ausdrucksfreiheit sind in einem dreifachen Kontext entstanden: im politischen, im philosophisch-wissenschaftlichen und im religiösen Kontext. Im politischen Kontext heißt Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, daß in einer liberalen S t a a t s o r d n u n g jeder das Recht hat, eine politische Meinung zu äußern, sie zu verfechten und sie den Wählern zu unterbreiten. Man kann zudem Parteien gründen, die sie vertreten sollen, und Leute wählen lassen, die sich b e m ü h e n , sie in die Praxis 3i7
umzusetzen. Voraussetzung ist, daß die Rechte der anderen Staatsbürger dadurch nicht beeinträchtigt werden. Im philosophisch-wissenschaftlichen Kontext hat sich diese doppelte Freiheit gegenüber der religiösen Zensur behauptet, so zum Beispiel bei den Christen, die früher Bücher, die im Widerspruch zum Kirchendogma standen, öffentlich verb r e n n e n ließen. Einen ähnlichen Kampf hat es mit den m o d e r n e n totalitären Regimen gegeben. Auch sie ließen Bücher und Kunstwerke v e r b r e n n e n und Gelehrte ins Gefängnis sperren, weil ihre Forschungen dem philosophischen Dogma, auf dem der jeweilige totalitäre Staat gründete, entgegenstanden. Im religiösen Kontext scheint das Problem heute insofern naheliegend, als der Theokratismus gewisser Staaten wie des Irans m e h r von einer politisch-totalitären Ideologie geprägt zu sein scheint als von der Religion im engeren Sinne - abgesehen davon, d a ß solche Staaten gegenüber a n d e r e n Konfessionen ä u ß e r s t intolerant sind und unerbittlich zu Zwang und Repressionsm a ß n a h m e n greifen. Sämtliche großen modernen Demokratien gründen auf der Freiheit der politischen Meinung, der Freiheit der wissenschaftlichen und philosophischen Forschung sowie der religiösen Freiheit - doch immer unter dem Vorbehalt, daß die Rechte der a n d e r e n nicht beeinträchtigt werden. Ein anderer wichtiger Gesichtspunkt ist, daß die Freiheit der Meinungsäußerung nicht unumschränkt gilt. So befugt sie nicht dazu, zum Mord anzustiften. Wenn ich auf der Place de la Concorde eine Ansprache halte, um dazu aufzur u f e n , H e r r n und Frau Soundso u m z u b r i n g e n , fällt das nicht mehr unter das Recht auf freie Meinungsäußerung. Die Anstiftung zum Mord ist vom Strafgesetzbuch untersagt und wird mit Strafen geahndet. Ebenso sind Gesetze verabschiedet worden, um zu verbieten, daß die Tatsache des Holocaust, der Ausrottung der J u d e n im Dritten Reich, erneut in Frage gestellt wird. Diese Wiederinfragestellung ist als Kampf für die Freiheit der historischen Forschung bemäntelt worden. In Wahrheit hat sie gar nichts mit historischer Forschung zu tun. Denn nichts rechtfertigt, die Rea318
lität von Fakten anzufechten, die Tausende von Zeugen und Hunderte von Historikern voll und ganz bestätigt h a b e n . Hinter dieser angeblich historischen Kritik verbirgt sich die Absicht, bestimmten menschlichen Gruppierungen zu schaden. Folglich verletzt sie den Verfassungsartikel, der die Anstiftung zum rassischen und religiösen Haß verbietet. Um Mißbräuche zu vermeiden, ist es jedenfalls nicht nötig, einen angeblich asiatischen Menschenrechtsbegriff in Anspruch zu n e h m e n . Und m a n k a n n der Meinung sein, daß die Zurschaustellung von Gewalt oder einer entwürdigenden Pornographie über die Medien eine Verletzung der Menschenrechte darstellt und nicht der freien Meinungsäußerung unterliegt. M. - Die Furcht davor, die Freiheit der Meinungsäußerung einzuschränken, führt jedoch dazu, daß man mit der Verabschiedung von Gesetzen, die die Nutzung zu rein merkantilen Zwecken verbieten würde, zögert. Die Regisseure solcher Filme und Fernsehsendungen bleiben soeben diesseits der Aufstachelung zur Gewalt. Doch sie verherrlichen oder banalisieren sie und begünstigen sie somit. Das ist ausführlich bewiesen worden. Letztlich geht diese Haltung ganz einfach auf einen Mangel an Altruismus zurück. J. F. - Die engstirnigen Verbote der iranischen Ayatollahs sind aber nicht altruistischer. M. - Einstweilen sind die westlichen Nationen für Gewährenlassen. Einige orientalische Regierungen wie die Singapurs beschließen, den Mißbräuchen in a u t o r i t ä r e r Weise ein Ende zu bereiten. Weder die eine noch die andere dieser Lösungen ist völlig befriedigend. Das Gleichgewicht zwischen Recht und Verantwortung ist nicht verwirklicht. Aus Mangel an Weisheit und Altruismus, an ethischen und spirituellen Prinzipien unterscheidet man nicht eindeutig zwischen den w ü n s c h e n s w e r t e n Aspekten der freien M e i n u n g s ä u ß e r u n g u n d denen, die a n d e r e n Menschen direkt oder indirekt schaden. J. F. - Es ist unmöglich, Prinzipien zu definieren, die alle Sonderfälle v o r h e r s e h e n . Man könnte einige Tragödien Shakespeares verbieten, wo es alle fünf Minuten eine Lei3i9
che gibt! Überdies ist eines der Argumente, die in den dreißiger J a h r e n in konformistischen Kreisen gegen die Psychoanalyse vorgebracht wurden, daß es sich um Pornographie handle. Warum? Weil Freud auf die Rolle der Sexualität bei der Entstehung gewisser menschlicher Verhaltensweisen aufmerksam gemacht hat, selbst wenn diese ihrerseits nicht sexuell sind. Hier kommen wir zu dem, was ich die Kasuistik der Gesetzesanwendung nennen würde. Sie erfordert außerordentlich viel Feingefühl. Die kategorische, mechanische Anwendung ist nicht möglich. Das ist jedoch eine Eigenart aller Zivilisationen. Wären die Zivilisationen einfach, wären sie sehr langweilig. M. - Trotzdem, solange das v o r h e r r s c h e n d e Motiv die Verlockung des Geldes ist und nicht die Vertiefung der Kenntnisse, und solange die Konsequenzen verhängnisvoll sind, scheint mir die Berufung auf das geheiligte Prinzip der Freiheit des Ausdrucks eine zynische Täuschung von Seiten der Promotoren zu sein und eine neue Form des Aberglaubens seitens der Intellektuellen. J. F. - Vergessen wir aber nicht einen ziemlich wichtigen Faktor, der in den Demokratien zur Geltung kommt: die öffentliche Meinung. Der entscheidende Punkt ist die Schulung der öffentlichen Meinung. Ohne sie vermag der Gesetzgeber nichts. Gerade hier spielen die Informationsfreiheit und der freie Austausch der Standpunkte eine wichtige Rolle. Gegenwärtig gibt es eine Bewegung in der öffentlichen Meinung gegen die Gewalt im Fernsehen und im Kino. Nicht die Gesetzgeber, die Zuschauer sind es, die allmählich angewidert sind. Ich erinnere mich an ein Gespräch im J a h r e 1975 mit dem damaligen Minister für Kultur, Michel Guy. Das Ministerium für Kultur fragte sich damals, ob es die X-Filme, die brutalen »Hardcore«-Pornos, für Kinos zulassen oder sie auf bestimmte Kinos zu bestimmten Zeiten b e s c h r ä n k e n sollte ... Ich erinnere mich, wie ich Michel Guy, als er mich um meine Meinung bat, geantwortet habe: »Hören Sie, in aller Bescheidenheit, Sie müssen sie meiner Ansicht nach natürlich unter Vorbehalt der Altersbeschränkungen für 320
Zuschauer - bedingungslos zulassen, und zwar aus folgendem Grund: Diese Filme sind so schlecht, so eintönig, so vulgär, daß das Publikum angewidert sein wird.« Gut. Gewöhnlich ziehe ich nicht in Betracht, unweigerlich recht zu haben. Doch so ist es gekommen. Ich habe gesehen, wie in Paris die Kinos für »Hardcore«-Pornos eins nach dem a n d e r e n wieder schlössen. Heute findet m a n k a u m noch welche. Es gibt nur noch die spezialisierten Pornokinos, die sich nicht in öffentlichen Sälen befinden, sondern in Läden, wo m a n bei Bedarf hingeht. Die Öffentlichkeit hat also viel wirkungsvoller Einfluß genommen, als ein Verbot es getan hätte. Um auf das Wesentliche zurückzukommen: m a n k a n n also sagen, daß der Buddhismus und der Dalai Lama unter den politischen und spirituellen F ü h r e r n des Orients die Universalität der demokratischen Prinzipien a n e r k e n n e n und daß sie sich diese - meiner Meinung nach irreführende - Unterscheidung von Menschenrechten im Orient und Menschenrechten im Westen nicht zu eigen machen. M. - Gewiß, aber ohne zu vergessen, daß es darauf ankommt, die Interessen der anderen als genauso wichtig einzustufen wie die eigenen. J. F. - Ich bezweifle, daß die Verpflichtung zum Altruismus Gegenstand v e r f a s s u n g s m ä ß i g e r Verfügungen sein kann. Die Gefahr liegt hier in der Utopie. Die Utopisten haben, wie bereits angesprochen, versucht, Verfassungen von Grund auf neu zu e r a r b e i t e n . Mit ihnen wird oft die ziemlich a n r ü h r e n d e Vorstellung von Leuten verbunden, die sich Illusionen machen, aber gute Absichten haben. Nun ist das aber ganz und gar nicht so! Die Utopisten sind Erfinder totalitärer Systeme! Wenn m a n die großen Utopien untersucht - Piatons Politeia, Thomas Mores Utopia im 16., Campanellas Sonnenstaat im 17. oder die Schriften von Charles Fourier im 19. Jahrhundert - und zu den furchterr e g e n d s t e n , da in die Praxis umgesetzten Systemen der Marxisten-Leninisten und ihrer Fortsetzung bei Mao Tsetung und Pol Pot gelangt, merkt man, daß sämtliche Utopisten Väter totalitärer Verfassungen sind. Warum? Ausge321
hend von einer abstrakten Vorstellung, was der Mensch tun müsse, setzen sie ihre Verordnungen erbarmungslos durch. Das ist nicht die richtige politische Wissenschaft. Die Utopisten sind eine öffentliche Gefahr. Die richtige politische Wissenschaft b e r u h t einzig und allein auf der Beobachtung der Funktionsweise der menschlichen Gesellschaften, auf der Soziologie, der Ökonomie und der Geschichte. Daraus zieht m a n Lehren. Ausgehend von der Handhabung dieser Wissenschaften - niemals a priori kann man es sich erlauben, mit Bedacht eine gewisse Zahl von Leitprinzipien herauszuarbeiten. M. - Aber auf welchen Prinzipien b e r u h e n die Humanwissenschaften oder die Politologie? J. F. - W ä r e es n u r n a c h mir gegangen, das sage ich gleich, hätte ich sie niemals »Wissenschaften« genannt. Denn meiner Ansicht nach sind sie keine Wissenschaften im engeren Sinne des Wortes. Warum? Weil die Humanwissenschaften ständig zwei Gefahren ausgesetzt sind. Die erste würde ich die »philosophische Gefahr« nennen, das heißt den Ehrgeiz, ein Gesamtsystem erstellen zu wollen, das ein f ü r allemal das Funktionieren der menschlichen Gesellschaften erklärt. Eine sehr große Zahl moderner Soziologen und Anthropologen sind dieser Versuchung erlegen. Sie entthronten sämtliche Theorien ihrer Vorgänger und machten alle Theorien ihrer Nachfolger überflüssig. Diese totalitäre Versuchung der Soziologie ist noch bei einigen großen zeitgenössischen Autoren gegenwärtig. Einige Autoren der s o g e n a n n t e n »strukturalistischen« Schule scheinen mir dieser Schwäche ebenso verfallen wie die Soziologen der marxistischen Schule. Hier liegt die zweite, die ideologische Gefahr. Die Humanwissenschaften sind von Ideologien, oft sogar von Geschwätz und Schöngeistigem durchdrungen. Im Grunde genommen ist klar, daß keine dieser Disziplinen als Wissenschaft im kategorischen Sinne des Wortes angesehen werden darf. In jedem Fall handelt es sich um Versuche, die mehr oder weniger gewissenhaft sein können. Alles hängt von der peinlichen Sorgfalt desjenigen ab, der sich äußert, der schreibt, von seiner Kompetenz, seinen Arbeits322
fähigkeiten, seiner Findigkeit beim Forschen und vor allem von seiner Aufrichtigkeit: daß er keinen Schulen oder Cliquen gehorcht, denen er angehört. M. - Man k a n n sich aber nicht dieselben bodenlosen Freiheiten mit der Geschichte h e r a u s n e h m e n wie die Chinesen in bezug auf die Geschichte Tibets. J. F. - Nein, natürlich nicht. Im Zuge des Fortschritts der modernen Geschichte hat sich eine gewisse Anzahl wissenschaftlicher Prinzipien herausgebildet und ist bekräftigt worden. Eine Geschichtswissenschaft an sich gibt es jedoch nicht. Manche Historiker legen wissenschaftliche Skrupel an den Tag, andere tun dies weit weniger. In den Büchern a n e r k a n n t e r Universitätshistoriker bin ich oft auf Verzerrungen, ich würde sogar sagen auf derart tendenziöse Fehler gestoßen, daß ich sie n u r als vorsätzlich bezeichnen konnte. Ich sage dies im vorhinein, um Dir vollkommen die Befangenheit zu nehmen in bezug auf die Art, wie die Buddhisten, meiner Ansicht nach, das Studium der abendländischen Human- und Geschichts-»Wissenschaften« angehen müssen. Dennoch gibt es eine beträchtliche Sammlung von Nachforschungen und Überlegungen, auch Irrtümern und Verblendungen, die unvermeidlich als Sockel des politischen Denkens dienen. Zeigen die Buddhisten Interesse am politischen Denken? Haben sie sich mit der abendländischen Geschichte beschäftigt? M. - Die philosophische und ideologische Gefahr ist offenkundig, wenn es sich um intellektuelle Hypothesen handelt, um ein »unwissendes Wissen«, das auf alles antworten will, ohne sich auf ein tieferes Verständnis der Prinzipien zu stützen, die Glück und Unglück der Menschen und der Gesellschaft bestimmen. Die Geschichtsschreibung ist die strengstmögliche Beobachtung des Fortschritts der Menschheit. Sie kann aber höchstens Ereignisse beschreiben, Tendenzen herausarbeiten und Ursachen analysieren. Lebensprinzipien unterbreitet sie nicht. Natürlich sind die meisten Tibeter nicht über Einzelheiten der abendländischen Geschichte und Soziologie auf dem laufenden. Viele von ihnen haben aber eine ziemlich klare Vorstellung von 323
den Grundlagen, Orientierungen und Prioritäten, die den Unterschied a u s m a c h e n zwischen Zivilisationen, die von spirituellen Werten durchdrungen sind, und solchen, die sie vernachlässigen. Zudem haben der Dalai Lama und die Mitglieder seiner Exilregierung, die sich um die Zukunft des tibetischen Volkes k ü m m e r n , großes Interesse an der Geschichte und an den verschiedenen politischen, religiösen und weltlichen Systemen, ihren Erfolgen und Mißerfolgen. Sie versuchen festzustellen, welches System am geeignetsten wäre, um heute das Funktionieren der tibetischen Gesellschaft unter Beibehaltung der grundlegenden Werte des Buddhismus zu gewährleisten. Nur diese Werte, die dem demokratischen System alles andere als entgegenwirken, können eine gesteigerte Effizienz garantieren. Denn sie helfen den Menschen zu verstehen, daß das Prinzip der Verantwortung des einzelnen gegenüber der Gesellschaft der Gesamtheit der Gesetze zugrunde liegen muß, um ein besseres Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten zu ermöglichen.
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Buddhismus und Psychoanalyse
- Kommen wir zu einer a n d e r e n abendländischen Disziplin, mit der sich der Buddhismus wird auseinandersetzen müssen: der Psychoanalyse. Die Psychoanalyse ist keine exakte Wissenschaft. Sie ist eine Forschungsrichtung. Aber sie spielt im Westen seit h u n d e r t Jahren in der Vorstellung von der menschlichen Natur eine ungeheure Rolle. Zu einem gewissen Zeitpunkt konnte m a n sogar von einem allgemeinen Durchbruch der psychoanalytischen A n s c h a u u n g sprechen. Aber zur Frage, die uns interessiert. Der psychoanalytische Gesichtspunkt, den der Buddhismus berücksichtigen muß, ist die zentrale These Freuds: Welche innere Hellsicht ein Mensch auch aufbieten mag, wie groß seine Demut, sein Verlangen nach Aufrichtigkeit und sein Wunsch, sich selbst zu e r k e n n e n und zu ändern, auch sein mögen, es gibt etwas, das außerhalb der Reichweite der klassischen Introspektion bleibt und das Freud das Unbewußte nennt. Es gibt, kurz gesagt, psychische Formationen, Triebe und verdrängte Erinnerungen, die weiter aktiv sind und auf unsere Psyche, also auf unser Verhalten einwirken, ohne daß es uns bewußt ist und ohne daß wir sie kontrollieren können. Die einzige Technik, die es erlaubt, sie zu enthüllen, sie möglicherweise zu beseitigen und für uns beherrschbar zu machen, ist die Psychoanalyse. Freud ist der Ansicht, es sei illusorisch, die Barriere der Verdrängung, die diese psychischen Kräfte in unserem Unterbewußten verborgen hält, mit der üblichen Weisheit überwinden zu wollen. Wir könnten durch Innenschau und die Praxis spiritueller Übung nicht einfach Zugang zu ihm gewinnen. Hier handelt es sich einmal nicht um bloße Theorie. Die Behandlungserfahrung hat nämlich gezeigt, daß das Unbewußte - der klassischen Introspektion unzugänglich - eine Tatsache ist. JEAN-FRAN^OIS
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M A T T H I E U - Zu behaupten, man könne die »Barriere der Verdrängung« nicht überwinden, scheint mir ein wenig übereilt ... genauso übereilt wie die Behauptung von William James: »Man kann den Strom der geistigen Assoziationen nicht stoppen. Ich habe es versucht, es ist unmöglich.« Diese Art von Schlußfolgerungen läßt einen Mangel an persönlicher Langzeiterfahrung mit der Introspektion, mit der unmittelbaren Kontemplation der Natur des Geistes erkennen. Auf welchem Weg hat Freud versucht, die »Barriere der Verdrängung« zu überwinden? Indem er mittels seiner glänzenden Intelligenz ü b e r sie n a c h d a c h t e und mit Hilfe n e u e r Techniken an sie heranging. Doch hat er, wie es die tibetischen Eremiten tun, Monate und J a h r e damit zugebracht, sich voll und ganz auf die kontemplative Beobachtung des Geistes zu konzentrieren? Wie soll der Psychoanalytiker, ohne das äußerste Wesen des Denkens selbst erfaßt zu haben, den anderen dabei helfen, es zu erfassen? Im Vergleich zu einem qualifizierten tibetischen Meister macht er einen blassen Eindruck. Der Buddhismus mißt der Auflösung dessen, was im großen und ganzen dem Unbewußten in der Psychoanalyse entspricht, beträchtliche Bedeutung bei. Er n e n n t das »die a n g e s a m m e l t e n Neigungen« oder »die Schichten des Geistigen«, die nicht auf der Ebene der geistigen Assoziationen gegenwärtig sind, den einzelnen a b e r prädisponieren, sich so oder so zu verhalten. Unter einem gewissen Gesichtspunkt mißt der Buddhismus diesen Neigungen sogar m e h r Bedeutung bei, da sie ihm zufolge nicht nur auf die Kindheit zurückgehen, sondern auf unzählige frühere Existenzzustände. Man vergleicht sie mit Sedimenten, die sich nach und nach im Bett des Bewußtseinsstroms, dem sogenannten »Grundbewußtsein«, abgelagert haben. Man unterscheidet acht Bewußtseinskomponenten, aber ich werde hier nicht auf Einzelheiten eingehen. J. F. - Warum nicht? Das wäre interessant. M. - Das »unbestimmte Grundbewußtsein« ist der elementarste Bestandteil des Geistes, die schlichte Tatsache, »bewußt« zu sein und eine globale, unterschiedslose Wahrnehmung der Existenz des Universums zu haben. Danach
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unterscheidet man fünf Aspekte des Bewußtseins, die verk n ü p f t sind mit dem Sehvermögen, dem Gehör, dem Geschmack, dem Geruchs- und dem Tastsinn. Ferner gibt es den Bewußtseinsaspekt, der den geistigen Assoziationen entspricht. Und schließlich den Bewußtseinsaspekt, der verbunden ist mit den positiven und negativen Gefühlsregungen, die ihren Ursprung in den geistigen Assoziationen haben. Das ist das erste »Grundbewußtsein«, das den tief verwurzelten Neigungen als Stütze und Vehikel dient. Wenn m a n versucht, den Strom des Bewußtseins zu reinigen, indem m a n das Wesen des Geistes über die »Innenschau« oder die spirituelle Praxis erforscht - von denen Freud behauptete, sie erreichten das Unbewußte nicht -, schließt m a n die Auflösung dieser Neigungen natürlich mit ein. Sie sind übrigens schwerer zu beseitigen als die n i e d e r e n Gefühlsregungen, denn sie haben sich in einem beträchtlichen Zeitraum angesammelt. Man vergleicht das mit einem Blatt Papier, das lange zusammengerollt war. Versucht man, es auf einem Tisch glattzustreichen, bleibt es so lange glatt, wie m a n es festhält. Sobald m a n es losläßt, rollt es sich aber wieder zusammen. J. F. - Demnach r ä u m t der Buddhismus die Existenz unbewußter Neigungen und Vorstellungen ein - sofern m a n von unbewußten »Vorstellungen« sprechen kann. Ja, m a n kann insofern von ihnen sprechen, als man sich zumindest auf potentielle Erinnerungen bezieht, auf Vorstellungen, die v e r d r ä n g t worden sind. Und Du sagst, das u n b e w u ß t e Gepäck gehe nicht nur auf die frühe Kindheit zurück, sondern auch auf f r ü h e r e Leben? Demnach müßte die Arbeit der Anamnese, das heißt der Wiedererinnerung, die Sokrates seinen Schülern empfahl, weit über die ersten Lebensj a h r e zurückgehen. Den Kollegen von der Psychoanalyse böte sich hier ein n e u e s Forschungsfeld, beträchtliche Arbeit ... Ich hoffe, das wird die Geschäfte wiederbeleben! M. - Der Schock der Geburt ist verbunden mit einem Verblassen der früheren Erinnerungen - außer beim Weisen, der imstande ist, den Strom seines Bewußtseins zwischen Tod und Wiedergeburt durch den Bardo hindurch zu bändi327
gen. Beim gewöhnlichen Menschen kommt es zu einem Vergessen, das in einem anderen Stadium, beim Erwachsenen, verglichen werden kann mit dem Vergessen der frühkindlichen Erlebnisse. Beiläufig gesagt, lange vor Freud erklärt der Bardo Thödol, Das tibetische Buch der Toten*, daß sich der Mensch während seiner Entstehung, je nachdem, ob er Mann oder Frau wird, stark zu seiner Mutter oder zu seinem Vater hingezogen fühlt und gegenüber dem a n d e r e n Elternteil Widerwillen empfindet. Ganz anders sind jedoch die Art und Weise, wie sich der Buddhismus das Wesen des Unbewußten vorstellt, und die Methoden, die er anwendet, um es zu reinigen. Der Buddhismus teilt nicht Freuds Ansicht, d a ß m a n zu v e r g a n g e n e n Neigungen keinen Zugang finden und mit spirituellen Methoden nicht auf sie einwirken könne. Ziel des spirituellen Daseins ist gerade, diese Neigungen aufzulösen. Denn alle Gedanken von Anziehung und Abstoßung r ü h r e n von f r ü h e r e n Konditionierungen her. Die ganze Arbeit am Geist besteht darin, zur Wurzel dieser Neigungen vorzudringen, ihr Wesen zu erforschen und sie aufzulösen. Man kann das - nicht im moralischen, sondern im praktischen Sinne - als Reinigung bezeichnen, vergleichbar mit der Beseitigung von Schadstoffen und Ablagerungen, die die Sauberkeit und Klarheit eines Flusses trüben. Meine Erfahrungen mit Leuten, die sich einer »Analyse« unterzogen haben, sind begrenzt. Dennoch h a b e ich in ihrer Gegenwart immer den Eindruck gehabt, daß sie sich durch die Rückbesinnung auf ihre frühe Kindheit zwar der d r a m a t i s c h s t e n Punkte ihres Problems entledigt h a t t e n , daß sie aber nicht imstande waren, die tiefere Wurzel dessen zu durchtrennen, was ihre innere Freiheit einschränkt. Nach so vielen J a h r e n der Mühe scheinen mir diese Menschen keine ausgeglichene Erfülltheit auszustrahlen. Recht oft bleiben sie zerbrechlich, gespannt und unruhig. J. F. - Deine Beobachtung ist leider nicht die einzige, die * Die e r s t e O r i g i n a l ü b e r s e t z u n g a u s d e m T i b e t i s c h e n ist h e r a u s g e g e b e n von Eva K. Dargyay. B e r n / M ü n c h e n / W i e n 1 9 8 8 ' .
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in diese Richtung weist. Im übrigen haben sich einige neuere Schulen der Psychoanalyse von der Freudschen Vorstellung losgesagt, daß die Anamnese einer Heilung gleichkäme und sich das Unbewußte sogar vollständig ausleuchten ließe. M. - Daß die Neigungen, die E n t s p r e c h u n g des Unbewußten, nicht sichtbar sind, hat seinen Grund darin, daß sie latent bleiben wie die Bilder eines Films, der belichtet, aber noch nicht entwickelt ist. Die Psychoanalyse setzt alles daran, diesen Film zu entwickeln. Der Buddhismus findet es einfacher, ihn in Brand zu stecken und durch das Feuer der Erkenntnis zu verzehren. Denn sie erlaubt, das letzte Wesen des Geistes zu erfassen - seine Leerheit - und bei gleicher Gelegenheit jede Spur von Neigung zu eliminieren. Der Buddhismus arbeitet also auf ganz anderer Ebene. Es genügt nicht, ein paar unserer vergangenen Probleme wiederzuerkennen. Weit zurückliegende Ereignisse noch einmal an sich vorüberziehen zu lassen, ist als Heilmittel nur beschränkt wirksam. Ein paar innere Widerstände lassen sich so a b s c h w ä c h e n , doch ihre E r s t u r s a c h e wird nicht beseitigt. Ständig mit einem Stock im Bodenschlamm eines Teiches h e r u m z u r ü h r e n , trägt nicht dazu bei, das Wasser zu reinigen. J. F. - Nein! Das ist dann doch subtiler! ... Wen bezeichnet man als Neurotiker? Die Analyse wendet sich nämlich grundsätzlich an Leute, die unter Schwierigkeiten leiden. Nehmen wir zum Beispiel jemanden, der sich fortwährend, fast schon mit Absicht, in Mißerfolge hineinmanövriert. Er nimmt etwas in Angriff und ist gerade dabei zu reüssieren: In dem Moment, wo alles gut läuft, begeht er einen fatalen, d e r a r t k r a s s e n Fehler, daß er rational, zumal bei einem intelligenten Menschen, nicht zu e r k l ä r e n ist. Ich h a b e Freunde erlebt, übrigens sehr bekannte, die in einigen Phasen ihres Lebens eine Reihe verheerender Verhaltensweisen angenommen haben, die in unbegreiflicher Weise das zerstört h a b e n , was sie mit viel Können, Intelligenz und Hingabe aufgebaut hatten. Gut ... Es gibt keine rationale Erklärung. Und dem Betreffenden gut zuzureden, nutzt 329
rein gar nichts. Die Person bringt sich in ähnliche Situationen, ohne sich bewußt zu sein, daß sie immer wieder das gleiche tut. Sie kann die psychische Zwangsläufigkeit mit ihren eigenen introspektiven Fähigkeiten - ohne den Hebel, den das Eingreifen des Analytikers, die Übertragung etc. darstellt - nicht beheben. Freuds Hypothese fand sich dennoch recht oft bestätigt. Wir verfügen über die vollständigen Protokolle einiger sein e r Analysen sowie der a n d e r e r Analytiker. Aufgedeckt wird ein bestimmtes frühkindliches Drama, wo sich der Betreffende etwa in Konflikt mit seiner Mutter befand. Um sie gewissermaßen zu bestrafen, hat er etwas zerstört oder sich in der Schule absichtlich schlechte Noten eingehandelt. Denn er wollte sich für das rächen, was er als Entzug der mütterlichen Liebe ansah. Dieses in seinem Unterbewußtsein verborgene Schema des Mangels bestimmt als Erwachsener weiterhin sein Verhalten. Er setzt seine Rache an der Mutter fort, indem er zertrümmert, was er gerade geschaffen hat. Aber das weiß er nicht! Folglich befreit ihn die B e w u ß t m a c h u n g des ursprünglichen T r a u m a s - theoretisch - vom Beherrschtsein durch ein vergangenes, unbewußtes Erlebnis. Das bedeutet nicht, daß er in allen Punkten ein völlig harmonischer Mensch werden wird, doch in einigen Fällen kann ihn das im Hinblick auf eine bestimmte Neurose von Zwängen befreien. M. - Die Psychoanalyse ist im R a h m e n ihres eigenen Systems tadellos und funktionsfähig. Doch dieses System ist durch die Ziele, die es sich steckt, eingeschränkt. Nehmen wir zum Beispiel die Frage der Libido, der Energie der Begierde. Wenn man versucht, sie zu unterdrücken, nimmt sie Umwege, um sich auf a n o r m a l e Weise zu ä u ß e r n . Die Psychoanalyse hat das Ziel, sie auf ihr eigentliches Objekt zurückzulenken und ihr eine n o r m a l e Ausdrucksform zurückzugeben. Nach der kontemplativen buddhistischen Lehre soll die Begierde w e d e r u n t e r d r ü c k t werden, noch soll man ihr freien Lauf lassen, wie es ihrer Normalverfassung e n t s p r ä c h e . Ziel ist vielmehr, vollkommen von ihr befreit zu sein. Um das zu erreichen, wendet man eine Reihe 330
abgestufter Mittel an: angefangen mit der Abschwächung der Begierde durch Gegenmittel über das Erkennen ihrer Leerheit an sich bis hin zu ihrer Verwandlung in Wissen. Zuletzt knechtet die Begierde den Geist nicht m e h r und macht einer d a u e r n d e n inneren Freude Platz, die frei von j e d e r Neigung ist. W ä h r e n d der Buddhismus bestrebt ist, sich vom M a r a s m u s der Gedanken zu befreien, wie ein Vogel, der aus einer verpesteten Stadt in die reine Luft der Berge fliegen würde, scheint die Psychoanalyse ein Wiederaufleben von Gedanken und Träumen mit sich zu bringen, von Gedanken, die im übrigen vollkommen auf das Selbst zentriert sind. Der Patient versucht, seine kleine Welt zu reorganisieren und sie, so gut es geht, zu kontrollieren. Doch er bleibt in ihr gefangen. Das Abtauchen ins psychoanalytische Unterbewußtsein ist ein wenig so, als ob m a n schlafende Schlangen findet, sie aufweckt, die gefährlichsten entfernt und in Gesellschaft der übrigen bleibt. J. F. - Zumal, da man als Buddhist nicht das Recht hat, sie zu töten! Aber wie begegnet der Buddhismus dem Traum? M. - Es gibt eine ganze Reihe kontemplativer Übungen, die mit dem Traum in Verbindung stehen. Zuerst übt man, im Moment des Träumens zu erkennen, daß m a n träumt, dann übt man, den Traum zu verwandeln, und schließlich, nach Belieben verschiedene Traumformen zu erschaffen. Höhepunkt dieser Übung ist das Aufhören der Träume. Man sagt, ein Meditierender von außergewöhnlicher Vollendung träume - abgesehen von gelegentlichen Träumen, die Vorboten von Krankheiten sind - nicht mehr. Als Beispiel führt man Gampopa an, den Schüler des großen Eremiten Milarepa. Eines Tages träumte er von seinem kopflosen Körper, dem Symbol für den Tod der Gedankenkämpfe: Das w a r sein letzter Traum. Diese Übungsreihe kann J a h r e in Anspruch nehmen. Kurzum, für den Buddhismus liegt die Schwierigkeit der Psychoanalyse darin, daß sie die grundlegenden Ursachen des Nicht-Wissens und der i n n e r e n Knechtung nicht erkennt. Der Vater- oder Mutter-Konflikt und a n d e r e T r a u m a t a sind keine E r s t u r s a c h e n , sondern von den Umständen abhängige Ursachen. Die Erstursache 331
ist die Anhänglichkeit ans Ego. Sie erzeugt das Angezogensein und die Abneigung, die Selbstliebe und den Wunsch, sich zu schützen. Sämtliche geistigen Ereignisse, Gefühlsregungen und Triebe sind wie die Äste eines Baumes. Schneidet man sie ab, so wachsen sie nach. Kappt man den Baum dagegen an der Wurzel, indem man die Anhänglichkeit ans Ego auflöst, fallen alle Äste, Blätter und Früchte auf einen Schlag. Die Identifizierung der störenden Gedanken - und ihrer zerstörerischen oder h e m m e n d e n Auswirkungen reicht also nicht aus, um sie aufzulösen. Sie schlägt sich auch nicht in einer tiefgehenden und vollständigen Befreiung der Person nieder. Allein die Befreiung der Gedanken, die man erreicht, indem man sie - durch das unmittelbare Schauen des Wesens des Geistes - zu i h r e m U r s p r u n g zurückverfolgt, kann zur Lösung aller geistigen Probleme führen. Sämtliche Techniken der Meditation über das Wesen des Geistes versuchen zu enthüllen, daß Haß, Begierde, Eifersucht, Unzufriedenheit, Hochmut etc. n u r über die Kraft verfügen, die m a n ihnen zubilligt. Betrachtet m a n die Gedanken unmittelbar, in ihrer »Nacktheit«, zunächst, indem man sie analysiert, dann mit dem Blick der Kontemplation, bis m a n ihr ursprüngliches Wesen sieht, d a n n erkennt man, daß sie nicht die Beständigkeit und die beengende Macht besitzen, die sie auf den ersten Blick zu haben schienen. Diese Untersuchung des Wesens der Gedanken m u ß m a n m e h r f a c h wiederholen. Wenn m a n aber stetig übt, wird der Moment kommen, wo der Geist in seinem natürlichen Zustand bleiben wird. All das erfordert eine lange Praxis. Mit der Zeit beherrscht m a n den Prozeß der Befreiung der Gedanken immer mehr. Zu Anfang ist das Erkennen der Gedanken im Augenblick ihres Aufkommens so, als ob m a n einen Bekannten in einer Menschenmenge ausfindig mache. Sobald ein Gedanke des Begehrens oder der Ablehnung auftaucht, m u ß m a n ihn, bevor er eine Gedankenkette auslöst, e r k e n n e n . Trotz seines ä u ß e r e n Anscheins weiß man, daß er keine Beständigkeit und keine eigene Existenz hat. Dennoch weiß m a n nicht recht, wie 332
man ihn befreien soll. Die zweite Phase hat Ähnlichkeit mit der Schlange, die den Knoten löst, den sie mit ihrem eigenen Körper gemacht hat. Sie braucht dafür keine Hilfe von a u ß e n . Als Beispiel f ü h r t m a n auch den Knoten an, den m a n in einen Pferdeschwanz macht - er öffnet sich ganz von allein ... J. F. - Wie viele Metaphern! M. - Im Laufe dieser zweiten Phase legt m a n sich eine gewisse Erfahrung mit dem Prozeß der Gedankenbefreiung zu und braucht weniger auf die besonderen Gegenmittel für jeden negativen Gedankentyp zurückzugreifen. Die Gedanken kommen und lösen sich selbst auf. Zuletzt, in der dritten Phase, b e h e r r s c h t m a n die Befreiung der Gedanken vollkommen. Dann können sie uns keinen Schaden m e h r zufügen. Sie ähneln einem Dieb, der in ein leeres Haus einsteigt. Der Dieb hat nichts zu gewinnen und der Eigentümer nichts zu verlieren. Die Gedanken kommen auf und ziehen vorüber, ohne uns zu gängeln. In diesem Moment ist m a n frei vom Joch der gegenwärtigen Gedanken und der vergangenen Neigungen, die sie auslösen. Zugleich wird man vom Leid befreit. Der Geist v e r h a r r t in einer klaren, erleuchteten Gegenwärtigkeit, wo die Gedanken keinen störenden Einfluß mehr haben. Die einzige gute Eigenschaft der Negativität ist, daß sie geläutert und aufgelöst werden kann. Die Ablagerungen des Unbewußten sind nicht aus Stein. Sie sind vielmehr aus Eis und können in der Sonne der Erkenntnis schmelzen.
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Kulturelle Einflüsse und spirituelle Tradition - Die Haltung des Buddhismus zur Psychoanalyse ist also eindeutig. Wie steht es um die Lehren, die der Buddhismus aus den soziohistorischen Wissenschaften, a u s der E r f o r s c h u n g der Zukunft und der Gesellschaftsstrukturen ziehen könnte? Religionen und Philosophien entstehen im Kontext einer bestimmten Gesellschaft. Sie t e n d i e r e n dazu, G l a u b e n s ü b e r z e u g u n g e n als ewige W a h r h e i t e n zu b e t r a c h t e n , die in Wirklichkeit n u r Gewohnheiten der fraglichen Gesellschaft sind. Die größten Genies der antiken Philosophie hielten das Phänomen der Sklaverei für rechtmäßig und natürlich und das Vorurteil der Unterlegenheit der Frau g e g e n ü b e r dem Mann f ü r begründet. M A T T H I E U - Und das Recht der Tiere für noch minderwertiger, als wäre ihr Recht auf Leben nicht das eines jeden Lebewesens! J. F. - Erforscht sich nicht auch der Buddhismus ein wenig? Fragt er sich nicht, ob er aufgrund seiner Entstehung in bestimmten geographischen Zonen, in bestimmten sozialen, familiären und anderen Strukturen nicht Dinge für universelle Prinzipien hält, die einfach lokale Gewohnheiten sind? M. - Wenn die Mechanismen von Glück und Leid lokale Gewohnheiten sind, dann sind sie überall lokal, das heißt universell! Wer ist von diesen Prinzipien nicht betroffen? Wen k ü m m e r t es nicht, woher das Nicht-Wissen oder das Wissen kommt? Alle Menschen streben nach Glück und wollen nicht leiden. Sofern man wohltuende und schädliche Handlungen nicht nach ihrem äußeren Eindruck beurteilt, sondern nach der altruistischen oder egoistischen Absicht, die sie beseelt, und nach dem Glück und dem Leid, das sie nach sich ziehen, dann dürfte die aus solchen Prinzipien JEAN-FRAN^OIS
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abgeleitete Ethik nicht allzusehr vom kulturellen, historischen oder sozialen Kontext beeinflußt sein. J. F. - Ärgerlich ist nur, daß m a n sich nicht bewußt ist, wenn man von einer Besonderheit seines eigenen sozialen Systems beeinflußt wird! Charakteristisches Kennzeichen des Vorurteils ist, daß man es nicht als solches wahrnimmt. Im übrigen gibt es gute wie schlechte Vorurteile. Vom Standpunkt des Philosophen aus ist die Hauptsache, daß man sie für nichts anderes nimmt als untergeordnete historische Produkte. Wenn eine Religion oder eine Philosophie mit universalistischem Anspruch einen speziellen Grundzug der Gesellschaft, in der sie entstanden ist und sich entwickelt hat, vereinnahmt, dann geschieht dies ohne jedes Bewußtsein dafür, daß es sich um einen unwesentlichen, auf den sozialen Kontext zurückzuführenden Partikularismus handelt. M. - In der buddhistischen Tradition ist m a n ständig bemüht, solche Kontingenzen zu beseitigen. So prüft man a u f m e r k s a m die Motivierung mildtätiger Akte. Wird die Großzügigkeit aus Achtung vor den sozialen Konventionen praktiziert, oder handelt es sich um eine spontane Anwandlung von Altruismus? Damit sie vollkommen ist, m u ß die Gabe frei von jeglicher Erwartung auf Lohn sein, frei von jeder Hoffnung auf Lob, auf Dank oder gar auf Erhalt eines »Verdienstordens«. Damit sie nicht nur eine Quelle des Verdienstes, sondern auch der Weisheit ist, muß die Gabe von drei Begriffen frei sein: Das gebende Subjekt, das die Gabe erhaltende Objekt und der Akt des Schenkens müssen frei sein von der Anhänglichkeit an die Existenz an sich. Die echte Gabe wird mit einer Reinheit der Absicht ausgeführt, die ohne jede Neigung ist. Demnach ist es unerläßlich, den äußeren Aspekt einer Handlung außer acht zu lassen und sich besonders von kulturellen und sozialen Zufälligkeiten zu befreien. Denn - um eine tibetische Formulierung aufzugreifen, die man im übrigen auch im Abendland bei Fenelon antrifft: »Goldketten sind nicht weniger Ketten als Eisenketten.« J. F. - Ist das überhaupt möglich? Liegt die Gefahr nicht 335
in der Illusion, sich von den Kontingenzen befreit zu haben, obwohl m a n ihr Gefangener bleibt? M. - Man m u ß den Unterschied zwischen kultureller Kontingenz und spiritueller Tradition begreifen. Die spirituelle Tradition beruht auf einer tiefgehenden Erfahrung, die auf Vermittlung angewiesen ist. Im übrigen betont sie immer die Gefahr, die darin besteht, der Form mehr verhaftet zu sein als dem Inhalt.
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Fortschritt und Neuerung - Es gibt eine weitere Divergenz der abendländischen Zivilisation zum Buddhismus. Sie betrifft sowohl das Verhalten der ihr angehörenden Menschen als auch die intellektuelle Orientierung ihrer Denker. Die abendländische Zivilisation ist nämlich vollkommen geschichtsorientiert. Sie glaubt an die geschichtliche Entwicklung und die Fruchtbarkeit der Zeit. Sie glaubt - einem Begriff zufolge, den m a n vor allem im 19. J a h r h u n d e r t benutzte - an den Fortschritt. Es ist oft gesagt worden, daß dieser Glaube an den Fortschritt naiv sei. Hinter dem Glauben an den Fortschritt steckt die Überzeugung, daß die Geschichte nur Verbesserungen für das menschliche Geschick mit sich bringen kann: dank der technischen Neuerungen, der Wissenschaft, der z u n e h m e n d e n Kultivierung der Lebensweise und der Ausbreitung der Demokratie. Pascal verglich die Menschheit mit einem ewig lebenden Menschen, der im Laufe der Jahrhunderte immerfort lernt. Wir wissen heute, daß dieser Glaube - nicht an den Fortschritt, sondern an den Automatismus des Fortschritts von den Ereignissen widerlegt worden ist, vor allem von der ziemlich finsteren Geschichte des 20. J a h r h u n d e r t s . Dennoch ist der Wert, dem der Westen die meiste Bedeutung zumißt, der der Neuerung. Wenn die Menschen im Westen ein Loblied auf etwas anstimmen, sagen sie: »Das ist eine neue Idee.« In der Wissenschaft versteht sich das von selbst: Das ist eine Entdeckung, also ist sie neu. In der Kunst, auch in der Literatur, m u ß m a n Neuerungen einf ü h r e n , um zu überleben. Der größte Vorwurf, den m a n vorbringen kann, um ein Buch, ein Bild oder ein musikalisches Werk in Mißkredit zu bringen, ist zu sagen: »Das sind überholte, veraltete Formen, das ist akademisch, das ist schon so gemacht worden.« Auch in der Politik muß m a n JEAN-FRAN^OIS
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neue Ideen haben oder seine Ideen erneuern. Die westliche Gesellschaft steht so in Verbindung mit der Zeit, mit der Nutzung der Zeit als Faktor ständiger Veränderung, die als unerläßliche Voraussetzung f ü r die Verbesserung des menschlichen Loses a n g e s e h e n wird. Das Streben n a c h Vollkommenheit gilt als abhängig vom historischen Fortschritt, als abhängig von der Fähigkeit, neue Realitäten und neue Werte zu schaffen. Erscheint Dir die Mentalität, die ich gerade skizziert habe, mit dem Buddhismus und seiner Mitwirkung in der westlichen Welt vereinbar? M A T T H I E U - Der Gedanke, eine Wahrheit verdiene unser Interesse nicht mehr, weil sie alt ist, m a c h t nicht gerade Sinn. Der ständige Hunger nach Neuem führt oft dazu, daß m a n sich die wesentlichsten Wahrheiten versagt. Das Heilmittel gegen das Leid, gegen die Anhänglichkeit ans Selbst besteht darin, zum Ursprung der Gedanken vorzudringen und das äußerste Wesen unseres Geistes zu erkennen. Wie könnte eine solche Wahrheit altern? Welche N e u e r u n g könnte eine Lehre »veralten« lassen, die die geistigen Mechanismen freilegt? Verzichten wir auf diese Wahrheit, um einer endlosen Zahl nebensächlicher intellektueller Neuerungen hinterherzujagen, entfernen wir uns n u r von u n s e r e m Ziel. Der Reiz des Neuen hat einen positiven Aspekt: den berechtigten Wunsch, grundlegende Wahrheiten zu entdecken sowie die Tiefen des Geistes und die Schönheiten der Welt zu erforschen. Im Absoluten ist das Neue, das immer »neu« bleibt, jedoch die Frische des gegenwärtigen Moments, des klaren Bewußtseins, das die Vergangenheit nicht Wiederaufleben läßt und sich die Zukunft nicht ausmalt. Der negative Aspekt der Neuerungslust ist die unnütze, f r u s t r i e r e n d e Suche nach Veränderung um jeden Preis. Recht oft spiegelt die Faszination f ü r das »Neue«, das »Andere« eine innere Armut wider. Unfähig, das Glück in uns selbst zu finden, suchen wir es verzweifelt woanders in immer befremdlicheren Objekten, Erfahrungen, Denk- oder Verhaltensweisen. Kurz, m a n entfernt sich vom Glück, indem m a n es da sucht, wo es nicht ist. Verfährt man so, 338
läuft man Gefahr, seine Spur völlig zu verlieren. Der »Hunger nach Neuem« entspringt auf seiner banalsten Stufe einer Faszination für Überflüssiges, die dem Geist keine Ruhe läßt und seiner Ausgeglichenheit schadet. Man vermehrt seine Bedürfnisse, statt zu lernen, keine zu haben. Wenn der Buddha und zahlreiche seiner Anhänger wirklich zur letzten Erkenntnis gelangt sind: was kann m a n Besseres und »Neueres« als das erhoffen? Die Neuerung der Raupe ist der Schmetterling. Das Ziel eines jeden Menschen ist es, das Potential an Vollkommenheit, das er in sich hat, zu entfalten. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es nötig, von der Erfahrung derer zu profitieren, die den Weg durchlaufen haben. Diese Erfahrung ist kostbarer als das Ersinnen eines Überangebots neuer Ideen. J. F. - Ja, aber es gibt da dennoch eine Antithese, einen Antagonismus. In der abendländischen Zivilisation beobachtet m a n im Grunde beide Tendenzen. Zum einen sieht m a n eine gewisse Zahl von Denkern, die versuchen, eine Weisheit zu formulieren, die j e d e m einzelnen zu j e d e m beliebigen Zeitpunkt ermöglichen soll, sich eine annehmbare Lebensform zu schaffen, oft durch Indolenz gegenüber Leidenschaft, Eifersucht und Arroganz, was Mängel sind, die auch unsere Weisen bekämpfen. Gleichzeitig beobachtet m a n die Überzeugung, der Weg - nicht des absoluten Heils, sondern, sagen wir - eines im Vergleich zu f r ü h e r relativen Heils gründe in einem kontinuierlichen oder diskontinuierlichen Prozeß der globalen Verbesserung des menschlichen Loses, die a b h ä n g e von einer bestimmten Zahl von Neuerungen in Wissenschaft und Technik sowie im Bereich des Rechts, der Menschenrechte und der politischen Institutionen. Bei alldem sind wir ständig zugegen. Wir leben heute in einem Meer von Computern, die fast jede Handlung im persönlichen Dasein der Individuen und im kollektiven Dasein der Gesellschaften abstecken. Vor dreißig J a h r e n hätte sich das niemand ausgemalt. Soviel zur Technik. Das ist das Offensichtlichere. Doch auch in anderen Bereichen, allem voran in der Politik, in der Neugestaltung der Gesellschaften und der Ab339
Stimmung ihrer Organisation auf die Bedürfnisse von immer m e h r Individuen, glaubt der Westen, daß es sich um zeitabhängige Ziele und Prozesse handelt. Nehmen wir zum Beispiel die Kultur. Man ist der Meinung, authentisch sei n u r der Künstler, der ein n e u e s Werk schafft. Über den Gedanken, Kunstwerke des Mittelalters nachzubilden, würde man lachen - dafür gibt es Reproduktionstechniken. Aber das ist nicht alles. Seit r u n d fünfzig J a h r e n gibt es besonders in den entwickelten Ländern eine Kulturpolitik, die darauf abzielt, eine zunehmende Zahl von Menschen an den Freuden der Literatur, der Kunst und der Musik teilhaben zu lassen. Früher w a r das einer ziemlich begrenzten Elite vorbehalten. Ich e r i n n e r e mich noch, wie ein Museums- oder Ausstellungsbesuch in meiner Jugend ablief. Man hatte so viel Platz, wie m a n wollte, m a n ging hin, w a n n m a n wollte, und w u r d e beim Betrachten der Gemälde nie durch Gedränge gestört. Heute m u ß m a n m a n c h m a l ein p a a r Stunden Schlange stehen: So viele Kunstliebhaber gibt es, die sich für die Ausstellungen interessieren. In Paris oder New York hat man sich sogar d a r a n gewöhnt, seinen Platz oder seine Eintrittskarte wie im Theater zu reservieren. Die Vorstellung, daß Kultur zum einen ständige Erneuerung ist und sich zum anderen einer wachsenden Zahl von Personen zuwenden soll, ist sehr charakteristisch für die westliche Einstellung. Die Zeit wird benutzt, um Fortschritte zu verwirklichen, und eine wachsende Zahl von Individuen partizipieren an dieser allgemeinen Verbesserung. Anders gesagt, das Heil liegt in der Zeit und nicht außerhalb von ihr. M. - Die Rettung in der Zeit ist das »Gelübde des Bodhisattva«: so lange tätig zu sein, bis alle Menschen von Leid und Nicht-Wissen befreit sind. Der Bodhisattva wird nicht den Mut verlieren, nicht die Verantwortung zurückweisen, die er gegenüber allen Menschen verspürt, bis sich j e d e r von ihnen auf den Weg der Erkenntnis eingelassen und die Erleuchtung erlangt hat. Auf der anderen Seite erkennt der Buddhismus selbstverständlich die Existenz spezifischer Lehren zu den verschiedenen Epochen der Menschheit an: 340
von den alten bis zu den modernen, m e h r am Materialismus orientierten Gesellschaften. Je n a c h d e m , ob diese Gesellschaften spirituellen Werten m e h r oder weniger zugeneigt sind, werden gewisse Gesichtspunkte der Lehren mehr oder weniger herausgestellt. Das Wesen der Erleuchtung und des spirituellen Wissens bleibt hingegen außerhalb der Zeit. Wie sollte sich das Wesen der spirituellen Vollkommenheit auch ändern? Der Begriff der »Neuerung«, dieses Verlangen, ständig erfinderisch zu sein, um das Vergangene ja nicht nachzuahmen, erhöht in meinen Augen noch die Bedeutung, die der »Persönlichkeit« eingeräumt wird, der Individualität, die sich um jeden Preis in origineller Weise ausdrücken soll. Dort, wo m a n versucht, diesen Hang zum allmächtigen Selbst aufzulösen, erscheint diese Jagd nach Originalität zumindest oberflächlich. Die Vorstellung zum Beispiel, daß ein Künstler immer versuchen soll, seiner Vorstellungskraft freien Lauf zu lassen, ist für eine althergebrachte, sakrale Kunst, die Meditations- oder Denkstütze ist, natürlich b e f r e m d e n d . Die westliche Kunst versucht oft, eine imaginäre Welt zu erschaffen, während die sakrale Kunst hilft, das Wesen der Wirklichkeit zu durchdringen. Die westliche Kunst zielt darauf ab, die Leidenschaften zu erregen, die sakrale Kunst, sie zu besänftigen. Die sakralen Tänze, die sakrale Kunst und Musik dienen dazu, in der Welt der Formen und Töne eine Übereinstimmung mit der spirituellen Weisheit herzustellen. Diese Künste h a b e n zum Ziel, uns über ihren symbolischen Aspekt mit einem Wissen oder einer spirituellen Praxis in Verbindung zu bringen. Der traditionelle Künstler stellt seine Fähigkeiten in den Dienst der Qualität seiner Kunst. Doch er wird seiner Vorstellungskraft keinen freien Lauf lassen, um völlig neue Symbole oder Formen zu erfinden. J. F. - Das ist natürlich eine Kunstauffassung, die der abendländischen, jedenfalls seit der Renaissance, vollkommen entgegengesetzt ist. M. - Diese Kunst hält deshalb aber nicht s t a r r an der Vergangenheit fest. Die spirituellen Meister bereichern sie 341
ständig mit neuen, aus i h r e n meditativen E r f a h r u n g e n stammenden Elementen. Es gibt prachtvolle Ausdrucksform e n der sakralen Kunst in Tibet. Die Künstler widmen ihnen viel Herz und Talent. Doch ihre Persönlichkeit tritt völlig hinter das Werk zurück. Die tibetische Malerei ist d a h e r im wesentlichen anonym. Die Kunst ist auch eine Form des Austausches zwischen den Kloster- und Laiengemeinschaften. Mehrmals im J a h r f ü h r e n die Mönche auf dem Klostervorplatz Tänze von großer Schönheit auf, die den verschiedenen Phasen einer inneren Meditation entsprechen. Die örtliche Bevölkerung läßt sich solche Feiern nie entgehen. Ebenso ist die Kunst Tibets in sämtlichen Familien gegenwärtig, da sie Ikonen, Mandalas und Statuen bei Malern und Bildhauern in Auftrag geben. Das Volk ist von der Kunst ganz und gar nicht abgeschnitten. Ein Künstler, der sich Phantasien in bezug auf die Tradition erlauben würde, hätte jedoch keinen großen Erfolg. Wenn Künstler im Westen Flächen ganz blau a n m a l e n und m a n ihren Gemälden a u f g r u n d ihrer »Persönlichkeit« großen Wert beimißt und sie in Museen ausstellt, d a n n ist das einzige Problem, daß niemand ausruft: »Der König ist nackt!« Kürzlich habe ich in einer Wochenzeitschrift gelesen, das Museum f ü r zeitgenössische Kunst in Marseille h a b e das Werk eines Künstlers ausgestellt, das aus etwa dreißig gestohlenen Objekten bestand. Sie w a r e n als solche vorschriftsmäßig etikettiert. »Der Künstler« ist festgenommen und das Museum wegen Hehlerei belangt worden. Ich hatte mehrfach Gelegenheit, Museen in Begleitung von Tibetern zu besuchen. Sie bewunderten die klassischen Gemälde, die von großer, oft in j a h r e l a n g e n Mühen erlangter Meisterschaft zeugen. Die Leichtigkeit anderer Kunstformen dagegen - etwa die Ausstellung z e r d r ü c k t e r Objekte oder in ungewöhnlicher Weise angeordneter oder verpackter Alltagsgegenstände - erinnerten sie an den Unterschied zwischen den spirituellen Meistern Tibets, die auf der Grundlage einer in J a h r e n der Reflexion und Meditation e r w o r b e n e n Erfahrung lehrten, und denen, die heute die Spiritualität ohne große E r f a h r u n g lehren und deren 342
A n s p r a c h e n eher Schwätzereien sind als der Ausdruck wirklichen Wissens. Wer dem Neuen nicht nachjagt, kann trotzdem flexibel sein u n d bereit, n e u e n Situationen j e d e r Art zu trotzen. Wenn m a n die wesentlichen Wahrheiten im Geist präsent hält, ist man in Wirklichkeit besser gewappnet, um mit den Veränderungen der Welt und der Gesellschaft fertig zu werden. Unerläßlich ist vor allem, diese Wahrheiten zu erkennen und zu vertiefen, sie in sich zu aktualisieren und zu »verwirklichen«. Tut m a n das nicht, wozu soll es dann gut sein, um jeden Preis etwas Neues erfinden zu wollen? Kurzum, ich w ü r d e sagen, das spirituelle Dasein erlaubt im Gegensatz zur Jagd nach dem Neuen, die Einfachheit wiederzuentdecken, für die wir den Sinn verloren haben: unser Leben zu vereinfachen, indem wir vermeiden, uns für den E r w e r b von Nutzlosem zu quälen, und u n s e r e n Geist zu vereinfachen, indem wir vermeiden, immer wieder das Vergangene durchzugehen und die Zukunft auszumalen. J. F. - Ich glaube, es ist nicht nötig, Buddhist zu sein, um diese Art von Bemerkungen zu machen. Auch im Westen wissen viele - einschließlich derer, die die Entwicklung der Künste und selbst die letzten N e u e r u n g e n des künstlerischen Schaffens sehr genau im Auge behalten daß ein Aspekt der westlichen Kunst in der Kunst liegt, das Publikum an der Nase h e r u m z u f ü h r e n und die Naiven zu bluffen! Aber das ist glücklicherweise nicht ihr einziger Aspekt. Letztlich setzt sich die w a h r e Neuerung durch. Wenn ich dennoch Wert d a r a u f l e g e , diese im Westen so tiefgreifende Tendenz zu betonen, dann weil ihr auch Lebensbereiche erliegen, die gegen die Veränderungsgier eigentlich am besten gefeit sein müßten: zum Beispiel die Religionen, die grundsätzlich an die Lehre gebunden sind. So ist eine Offenbarungsreligion an ein bestimmtes Dogma gebunden, und m a n darf a n n e h m e n , daß ihre Adepten sie praktizieren, weil sie eine Art unveränderliches Element bereitstellt, das etwas Ewigem Ausdruck verleiht: der Ewigkeit des Übernatürlichen, des Jenseits und der Divinität. Demnach m ü ß t e dieser Aspekt der Geschichte des menschlichen 343
Bewußtseins normalerweise den Imperativen der Veränderung und der Erneuerung, die die weltlichen und zeitbezogenen Aktivitäten charakterisieren, entzogen sein. Dem ist nun aber nicht so. Nehmen wir die katholische Religion. Ich spreche hier als Unbeteiligter, da ich nicht gläubig bin. Unablässig ist die katholische Kirche den Angriffen von Modernisten ausgesetzt, die ihr vorwerfen: »Ihr wandelt Euch nicht genug! Wir brauchen neuerungswillige Theologen! Die Kirche muß sich der Zeit anpassen!« Nun, da darf m a n sich f r a g e n , wozu eine Religion gut sein soll. Wozu dient sie, wenn sie nicht jene Dimension des menschlichen Gewissens ist, die dieses Gewissen vor den Wechselfällen der zeitlichen Entwicklung sowie vor der Notwendigkeit schützt, sich zu erneuern? Unser Verlangen nach Erneuerung ist derart, daß wir oder zumindest die Gläubigen - von Gott selbst fordern, sich u n a u f h ö r l i c h zu wandeln. Ständig gibt es Konflikte zwischen dem Heiligen Stuhl, dem Hüter der theologischen Orthodoxie, und den avantgardistischen Theologen, die theologische Neuerungen vorschlagen, so wie auf anderen Gebieten Neuerungen in der Malerei, der Musik oder der Haute Couture vorgeschlagen werden. Schon der Begriff des »avantgardistischen« Theologen ist merkwürdig. In was k a n n die Ewigkeit Vor- oder Nachhut sein? Und der Vatikan befindet sich noch vor einem weiteren Dilemma. Erkennt er die neuen Theologien an, ist er gezwungen, die Abwandlung einiger fundamentaler Prinzipien des Dogmas zu akzeptieren. Erkennt er sie nicht an, wird er in seinem Festhalten an überholten Formen der Göttlichkeit als altmodisch, reaktionär und traditionalistisch beschimpft werden. Wird sich der Buddhismus im Westen diesem ständigen Hunger nach Veränderung anpassen, oder wird er, im Gegenteil, jenen als Refugium dienen, die von der Neuerungstyrannei angewidert sind? M. - Ich glaube natürlich an die zweite Option. Die Prinzipien können sich nicht ändern, denn sie entsprechen dem wahren Wesen der Dinge. Versucht man, den Hunger nach 344
E r n e u e r u n g eingehender zu analysieren, dann scheint es so, als gründe er in der Vernachlässigung des Innenlebens. Man dringt nicht mehr bis zum Ursprung vor, und so kommt einem der Gedanke, daß dieser Mangel auszugleichen sei, indem man alle möglichen neuen Dinge ausprobiert. J. F. - Ich w ü r d e trotzdem sagen, d a ß seit j e h e r die Gewohnheit, das Festgefahrensein den menschlichen Geist am meisten bedroht. Ohne den Ehrgeiz, sich nicht mit überkommenen Ansichten zu begnügen, sondern die Anschauungen, die uns u n s e r e Vorfahren hinterlassen, genau zu prüfen, sie nicht für bare Münze zu nehmen, sondern selbst zu überdenken, um zu sehen, was m a n aufgrund eigener Überlegungen und Erfahrungen beibehalten und was verwerfen sollte, ohne diesen Ehrgeiz w ä r e das menschliche Denken nur ein ausgedehnter, träger Schlaf. M. - Gewiß, aber sein Leben einer spirituellen Suche zu widmen, ist keineswegs ein Zeichen von Verkalkung, sondern ein fortwährendes Bestreben, die Schale der Illusion zu sprengen. Die spirituelle Praxis gründet auf Erfahrung. Man treibt die Erkundung der inneren Welt genauso weit wie die Naturwissenschaft die der äußeren. Die Erfahrung ist immer frisch und wird ständig erneuert. Sie bietet auch ihren Teil an Hindernissen und Abenteuern! Es geht nicht d a r u m , sich auf feststehende Sätze zu beziehen, sondern d a r u m , die E r f a h r u n g der Lehren im gegenwärtigen Augenblick zu machen: die guten und schlechten Umstände des Daseins nutzen zu können, mit Gedanken jeder Art fertig zu werden, die in u n s e r e m Geist a u f t a u c h e n , und die Art, wie sie u n s festhalten und wie m a n sich von ihnen befreit, selbst zu begreifen. Das w a h r h a f t Neue ist, es zu verstehen, jeden Augenblick des Daseins für das Ziel einzusetzen, das m a n sich gesteckt hat. J. F. - Ich persönlich wäre geneigt, einen Aspekt, den du gerade angesprochen hast, gelten zu lassen. Aber unter einem anderen Blickwinkel, wie sich nicht abstreiten läßt. Eine gewisse Anzahl von Problemen, die sich der Menschheit im Zusammenhang mit dem Leben, der Geschichte und den uns umgebenden Phänomenen stellen, sind abhängig 345
von dem, was ich die zeitliche Schöpfung nennen würde. Dennoch ist es wahr, daß sich das Abendland besonders vom 18. Jahrhundert an zur Lösung der menschlichen Probleme allzusehr auf den historischen Fortschritt und die Erneuerungsfähigkeit verlassen hat. Man hat gedacht, alle Fragen, die den Menschen betreffen, einschließlich der Fragen seines persönlichen Glücks, seiner Entfaltung, seiner Weisheit und seiner Fähigkeit, Leid zu ertragen oder sich seiner zu entledigen, all diese Probleme könnten durch die historische Dialektik, wie Hegel und Marx sagten, gelöst werden. Alle Probleme, die das Innenleben und die persönliche Erfüllung berührten, wären hingegen im Grunde ideologische Phantasmen, Überbleibsel von Illusionen, die glauben machten, man könne persönlich zu Glück und Ausgeglichenheit gelangen. Der Verzicht auf persönliche Weisheit zugunsten kollektiver Veränderung hat seinen Höhepunkt mit dem Marxismus erreicht. Wenn m a n aber ohne die Zeit nichts neu erschaffen kann, schafft die Zeit aus sich h e r a u s auch nichts. Seit zwei Jahrhunderten erwartet das Abendland das Heil des Menschen von historischen und kollektivistischen Lösungen. Diese starrsinnige, dogmatische Haltung, dieses Übermaß an Vertrauen in kollektivistische und politische Lösungen, die der bloße Geschichtsverlauf mit sich bringen soll, ist wahrscheinlich die Ursache für die Unzufriedenheit, die durch die Vormachtstellung dieses Denksystems vertieft wurde und die heute überall spürbar ist. Das Vordringen des Buddhismus in den Westen r ü h r t wahrscheinlich zum großen Teil von diesem Mangel her, vom Vakuum, das die Absenz einer wie auch immer gearteten persönlichen Ethik und Weisheit hinterlassen hat. M. - Damit die zwischenmenschlichen Beziehungen nicht länger in erster Linie durch einen Egozentrismus motiviert sind, der nur Reibereien und Mißhelligkeiten schafft, muß jeder einzelne seiner Existenz einen Sinn geben und eine gewisse innere Entwicklung vollziehen können. J e d e r Augenblick dieses spirituellen Wandlungsprozesses m u ß erfüllt sein von der Vorstellung, daß die Vorzüge, die m a n entfalten wird, dazu dienen, anderen besser zu helfen. 346
J. F. - Für einen dauerhaften Erfolg des Buddhismus im Westen gibt es zwei Voraussetzungen. Erstens ist der Buddhismus keine Religion, die einen blinden Glaubensakt erfordert oder verlangt, andere Lehren auszuschließen und zu verdammen. Diese Voraussetzung ist schon jetzt erfüllt. Zweitens, und hier liegt noch einiges im argen, m u ß der Buddhismus vereinbar sein mit der gigantischen Investition von fast z w e i t a u s e n d f ü n f h u n d e r t J a h r e n , die das Abendland in der wissenschaftlichen Erkenntnis und im politischen Denken und Handeln gezeitigt hat, das heißt in der Verbesserung des menschlichen Daseins in der Welt der Erscheinungen sowie in der Verbesserung der Gesellschaften und der innergesellschaftlichen Verhältnisse. Ich glaube, wenn der Buddhismus diese zweite Voraussetzung nicht erfüllen kann, wird er keinen d a u e r h a f t e n Einfluß im Westen haben. Die Verankerung in das wissenschaftliche, soziopolitische und historische Denken, wie ich es nenne, ist dort viel zu stark. M. - Noch einmal, der Buddhismus steht der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht prinzipiell entgegen. Denn er strebt danach, die Wahrheit auf allen, äußeren wie inneren Ebenen zu erkunden. Er setzt einfach eine Rangordnung der existentiellen Prioritäten fest. Ohne spirituelle Entwicklung kann die materielle Entwicklung nur zu der Malaise f ü h r e n , die m a n kennt. In einer Gesellschaft, die auf der Schulung der Weisheit gründet, sind die Orientierungen also ganz anders. Vereinfachend könnte m a n sagen, daß die eine mehr auf das Sein und die a n d e r e m e h r auf das Haben gerichtet ist. Die Faszination, immer mehr zu haben, und die horizontale Streuung der Erkenntnisse entfernen uns von der inneren Wandlung. Da man die Welt nur verändern kann, indem man sich selbst verändert, bedeutet es wenig, immer mehr zu haben. Ein praktizierender Buddhist denkt: »Der, der sich mit dem, was er hat, zu bescheiden weiß, besitzt einen Schatz in seiner hohlen Hand.« Unzufriedenheit entsteht aus der Gewohnheit, die überflüssigen Dinge für notwendig zu e r a c h t e n . Diese Erwägung trifft nicht nur auf Reichtümer zu, sondern auch auf Komfort, 347
Vergnügungen und »nutzloses Wissen«. Das einzige, dessen m a n nie überdrüssig werden darf, ist die Erkenntnis. Und die einzige Mühe, die m a n nie für a u s r e i c h e n d e r a c h t e n darf, ist die im Dienst des spirituellen Fortschritts und des Wohls der anderen. J. F. - Zum Schluß möchte ich Cioran, einen mir teuren Schriftsteller, zitieren, weil er deutlich macht, wie oft sich westliche Schriftsteller auf den Buddhismus beziehen und mit ihm beschäftigen. Es handelt sich um eine Passage aus dem Vorwort, das er zu einer Anthologie des Porträts in der französischen Literatur geschrieben hat. In diesem Vorwort sollte er sich zu französischen Moralisten wie La Rochefoucauld, Chamfort etc. äußern und natürlich zu den Porträtisten, die mit ihren Porträts bekannter Persönlichkeiten die Mängel des menschlichen Wesens h e r a u s a r b e i t e n . Und Cioran, der Pascal nicht zu den Moralisten zählt, sondern ihn über sie stellt, versteht es, sich auszudrücken. Er sagt ganz zu Recht: »Die Moralisten und die Porträtisten beschreiben u n s e r e Nöte, w ä h r e n d Pascal unsere Not beschreibt.« Und gleich darauf - das ist das Verblüffende sieht er sich veranlaßt, einen Bezug zum Buddhismus herzustellen. Hier nun die betreffenden Zeilen aus diesem, der klassischen französischen Literatur gewidmeten Text. Ich zitiere: »Als Mara, der Gott des Todes, dem Buddha das Weltreich durch Lockungen und Drohungen zu entreißen versucht, entgegnet ihm dieser, um ihn zu verwirren und von seinen Absichten abzubringen, unter anderem: Hast Du f ü r die Erkenntnis gelitten?« Cioran f ä h r t fort, d a ß m a n sich dieser Frage, »die Mara nicht b e a n t w o r t e n konnte, immer dann bedienen sollte, wenn m a n den genauen Wert eines Geistes ermessen möchte«. Was ist Dein Kommentar zu diesem Zitat? M. - Mara ist die Personifizierung des Ego. Der »Dämon« ist nämlich nichts anderes als die Anhänglichkeit ans »Ich« als einer an sich existierenden Entität. Als sich der Buddha in der Abenddämmerung unter den Bodhi-Baum setzte, im Begriff, die vollkommene Erkenntnis, die Erleuchtung, zu erlangen, gelobte er, sich nicht zu e r h e b e n , bis er alle 348
Schleier des Nicht-Wissens zerrissen hätte. Mara, das Ego, versuchte zunächst, ihm Zweifel einzuflößen, und fragte: »Mit welchem Recht gibst Du vor, zur Erleuchtung zu gelangen?« Worauf der Buddha antwortete: »Mein Recht gründet auf dem Wissen, das ich im Verlauf vieler Leben erworben habe. Ich nehme die Erde dafür als Zeugen.« Und in diesem Augenblick, sagt man, bebte die Erde. Dann probierte Mara, den zukünftigen Buddha in Versuchung zu führen, indem er seine wunderschönen Töchter - Symbole der Begierden - zu ihm schickte. Sie sollten versuchen, ihn von seiner letzten Meditation abzulenken. Doch der Buddha w a r von jedem Begehren vollkommen befreit, und Maras Töchter verwandelten sich in alte, zerknitterte F r a u e n . Dann versuchte Mara, den Haß im Geist des Buddha zu schüren. Er ließ gespenstische Erscheinungen herbeikommen, gewaltige Armeen, die brennende Pfeile abschössen und eine Flut von Beleidigungen hinausschrien. Man sagt, w e n n sich im Geist des Buddha auch n u r der kleinste Gedanke des Hasses geregt hätte, wäre er von diesen Waffen durchbohrt worden: Das Ego hätte über das Wissen triumphiert. Doch der Buddha war nur Liebe und Mitgefühl: Die Geschosse verwandelten sich in Blumenregen und die Beleidigungen in Lobgesänge. Im Morgengrauen, als die letzten Bruchstücke des Nicht-Wissens in sich zusammenfielen, erfaßte der Buddha die Nicht-Wirklichkeit des Menschen und der Dinge vollkommen. Er begriff, daß sich die Erscheinungswelt im Spiel der wechselseitigen Abhängigkeit manifestiert und daß nichts auf w a h r e , beständige Weise existiert. J. F. - Am meisten hat mich an Ciorans Zitat verblüfft, daß er den Westen daran erinnert, daß Erkenntnis Leiden ist - oder sich jedenfalls nur über Leiden erlangen läßt und daß der Wert eines Geistes daran zu bemessen sei, ob er diese Tatsache akzeptiert. Meiner Ansicht nach ist das eine heilsame Mahnung an die Menschen im Westen. Sie bilden sich nämlich immer mehr ein, man könne das Leid von vornherein beseitigen, und alles regle sich in Freuden durch den Dialog, die Kommunikation und den Konsens, 349
und allem voran die Erziehung und die Tatsache des Lernens ließen sich ohne Mühe und Leid bewältigen. M. - Genauso läßt sich der spirituelle Weg beschreiben. Die Vergnügungen der Welt sind auf den ersten Blick sehr verführerisch. Sie fordern zum Genuß auf, scheinen pure Annehmlichkeit, und es ist ganz leicht, sich auf sie einzulassen. Anfangs verschaffen sie eine kurzlebige, oberflächliche Befriedigung. Nach und nach sieht m a n jedoch, daß sie ihre Versprechen nicht halten und auf bittere Enttäuschungen hinauslaufen. Mit der spirituellen Suche ist es genau umgekehrt. Anfangs ist sie hart: Man muß sich selbst überwinden - m a n muß sich, den Worten Ciorans zufolge, »dem Leid der Erkenntnis« stellen oder gar »den Härten der Askese«. In dem Maße, wie m a n diesen inneren Wandlungsprozeß beharrlich f o r t f ü h r t , sieht m a n jedoch eine Weisheit, eine Ausgeglichenheit und eine reine Freude aufkommen, die den ganzen Menschen erfüllen und die, im Gegensatz zu den f r ü h e r e n Vernügungen, gegenüber den äußeren Umständen gefeit sind. Eine volkstümliche Weisheit lautet: »In der spirituellen Praxis tauchen die Schwierigkeiten am Anfang auf, in den weltlichen Angelegenheiten am Schluß.« Genauso sagt m a n : »Zu Anfang kommt nichts, in der Mitte bleibt nichts, am Ende geht nichts.« Ich füge hinzu, daß der für den Wissenserwerb nötige Eifer, genaugenommen, kein »Leid« ist: Man hat ihn definiert als die »in die Form der Mühe gegossene Freude«.
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Der Mönch befragt den Philosophen
- Du sagst oft: Wenn der Buddhismus d a r a u f abzielt, »den Betrug« des Selbst zu demaskieren, und dieses Selbst keine wirkliche Existenz hat, wozu soll es dann gut sein zu handeln? »Wer« wäre dann für seine Handlungen verantwortlich? In der Tat, selbst wenn der Begriff der »Person« keine wirkliche Entität birgt, führt jede Handlung unvermeidlicherweise zu einem Resultat. Doch auch die moderne Physik reduziert uns auf Elementarteilchen, die vielzitierten »Quarks«. Ich kann Dir diese Frage also meinerseits stellen: »Da wir n u r aus Elementarteilchen gemacht sind, die offensichtlich keine Spur unserer Individualität enthalten, wozu soll es dann Deiner Meinung nach gut sein zu handeln? Wozu denken, lieben, sich um Glück und Leid sorgen? Es sind nicht die Quarks, die leiden!« JEAN-FRANgois - Ja! ... Das ist eine sehr alte Überlegung, selbst in manchen philosophischen Theorien im Abendland. Wenn Du eine Lehre wie den Strukturalismus nimmst, ist das ein wenig dasselbe. Es h a n d e l t e sich, im Grunde genommen, um eine Reaktion auf den Existentialismus, der alles auf die Freiheit und die persönliche Entscheidung des einzelnen zentriert hatte, auf seine letztendliche Verantwortlichkeit. Der Strukturalismus sagte: Nein! Der Mensch an sich existiert nicht, er ist von Strukturen durchdrungen, die durch ihn hindurch wirken. M. - Was bezeichnen sie als Strukturen? J. F. - Pah ... Da es Philosophen sind, definieren sie sie sehr schlecht! Sagen wir, im großen und ganzen sind sie so eine Art aus Gesetzen b e s t e h e n d e r oder Gesetze begründender Entitäten, die organisierte Verhaltensweisen bewirken. Diesen Typ von Einwand findet man auch bei Epikur: Wir sind aus Atomen zusammengesetzt, sagte er, und was wir als Seele bezeichnen, ist nur eine Verbindung aus AtoMATTHIEU
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men. Folglich müßten wir die Gefühle, die wir empfinden, die Leiden, Begierden und Befürchtungen nicht ernst nehmen. Daß die Erscheinungen vor einem Hintergrund zu sehen seien, einer dahinterliegenden Welt, die einzig wirklich sei: dieses Argument ist ein alter Einwand. Ihm wird immer entgegengehalten, daß der Mensch auf der Erfahrungsebene dennoch gewisse Empfindungen und Erfahrungen durchlebe, die für ihn die einzige konkrete Wirklichkeit darstellten. M. - Genau das sagt der Buddhismus: Selbst wenn das Leid illusorisch ist, wird es als Leid w a h r g e n o m m e n , und daher ist es legitim und wünschenswert, es aus der Welt zu schaffen. Ich verstehe nicht, w a r u m m a n den Buddhismus angreift, indem m a n sagt: Wenn dieses »Ich«, von dem wir glauben, daß es eine Konstante unserer Existenz darstellt, eine Entität, die die Veränderungen der Existenz überdauert, w e n n dieses Selbst illusorisch ist, w a r u m sollte m a n sich dann über das Glück Gedanken machen ... J. F. - Dann werde ich es Dir erklären! Nimm einmal an, ein Felsen fällt auf Dein Haus, zerschmettert es und tötet einen Teil Deiner Familie. Du rufst die städtischen Behörden, Ärzte und Hilfspersonal herbei, aber m a n schickt Dir einen Geologen, der Dir sagt: »Hören Sie! Was geschehen ist, ist völlig n o r m a l ... Wissen Sie, die Erdkugel bewegt sich, es gibt unablässig Bodenbewegungen, tektonische Schollen, die gegeneinanderstoßen ... Es ist nichts anormal d a r a n . « Das stimmt, sofern ich im Maßstab von ein p a a r Millionen J a h r e n denke, dem Minimalzeitraum, den ein Geologe mit Selbstachtung ins Auge fassen kann. Doch die beiden sprechen gar nicht über dasselbe Phänomen! Einerseits hat der unbeirrbare Geologe recht. Andererseits erlebt der arme Mann, dessen Haus gerade mitsamt seiner Familie zerschmettert worden ist, auf der Ebene des persönlichen Empfindungsvermögens eine Tragödie. Keine der beiden Sehweisen kann die andere ausstechen. Daß Leute von Taifunen hinweggefegt werden, die m a n rational mit der Meteorologie, den Winden und der H o c h a t m o s p h ä r e erklärt, vermindert weder das Risiko noch das Unheil, die 352
das Leben in häufig von Zyklonen heimgesuchten Gegenden mit sich bringt. Wir h a b e n zwei Realitäten, ohne daß die eine die a n d e r e widerlegt. Die beiden E r f a h r u n g s e b e n e n müssen auseinandergehalten werden, denn sie sind beide real. M. - Also bist Du gleicher Meinung: Wenn das Selbst, wie der Buddhismus behauptet, n u r eine Marionetten-Entität ohne wirkliche Existenz ist, dann gibt es keinen Grund, in dieser Behauptung einen Beleg zu sehen für die Gleichgültigkeit gegenüber dem Handeln, gegenüber dem Glück und Leid der eigenen Person und der anderen. J. F. - Die allen Weisheiten dieser Familie gemeinsame Idee könnte ungefähr so zusammengefaßt werden: Der Einfluß, den ich auf den Lauf der Dinge haben kann, ist eine Illusion, die mir schrecklich viele Hoffnungen und Enttäuschungen bereitet. Sie läßt mich in einem Wechsel von Freude und Furcht leben, der mich innerlich quält. Wenn ich zu der Überzeugung gelange, daß das Selbst nichts ist und ich letzten Endes n u r der Durchgangsort eines bestimmten Realitätsflusses bin, werde ich zu einer gewissen Ausgeglichenheit finden. Viele Weisheiten streben das an! Sämtliche Überlegungen der Stoiker und Spinozas zielen darauf ab! Aber leider widersetzt sich die eigene Erfahrung dieser Argumentation. M. - Diese innere Auflehnung ist exakt die Ursache unser e r Qualen. Wir k l a m m e r n uns so stark an dieses Selbst, daß wir nicht imstande sind zu begreifen, daß wir all unsere Probleme durch die Ausschaltung der Illusion des Selbst lösen würden. Wir ähneln dem Verletzten, der Angst hat, die Fäden aus seiner Narbe zu ziehen. Der Stoiker, scheint mir, gelangt zu einer passiven Resignation, w ä h r e n d für den Buddhisten das Nicht-Ich eine befreiende E r f a h r u n g ist. J. F. - Nein! Stoiker zu sein bedeutet, das aktiv zu wollen, wozu sich die Natur entschlossen hat. Das ist nicht passiv. Man erleidet, was geschieht, nicht mit einer Art Fatalismus, sondern m a n identifiziert sich mit der Erstursache der Welt, die gleichzeitig Gott ist. Spinoza greift diesen Ge353
sichtspunkt wieder auf. »Gott oder die Natur«, sagt er. Er ist Pantheist. Der Zugang zur Weisheit liegt darin, nicht mehr das passive Spielzeug der kosmischen Notwendigkeit zu sein, sondern sich ihr im Rahmen des eigenen subjektiven Willens anzupassen. M. - Im wesentlichen entspricht das eher dem KarmaVerständnis des Hinduismus: Die ideale Art und Weise, sein Leben zu leben und die Welt zu sehen, liegt darin, das uns vorbehaltene Schicksal in vollem Umfang und widerstandslos zu akzeptieren. Die Haltung eines Buddhisten ist anders: Er akzeptiert die Gegenwart, weil das, was ihm widerfährt, das Resultat seiner v e r g a n g e n e n Taten ist. Die Zukunft jedoch hängt von ihm ab. Er befindet sich an einem Scheideweg. Die Feststellung der Inexistenz des Selbst führt nicht dazu, daß wir mit stoischem Gleichmut hinnehmen, was uns widerfährt, sondern daß wir mit größerer Freiheit handeln, frei von den Zwängen, die uns das »Ich« auferlegt, das sich so sehr selbst liebt, das denkt, es sei d a u e r h a f t , beständig etc., und das eine unendliche Verkettung von Anziehungskräften und Abneigungen erzeugt. Uns vom Egozentrismus zu befreien, gibt uns größere Handlungsfreiheit. Die Vergangenheit ist gespielt, die Zukunft ist es nicht. J. F. - Ich verstehe d u r c h a u s den Wert dieser Weisheit des Handelnden, der fähig wird, gegenüber seinen subjektiven Partikularismen, seinen Leidenschaften, also seinem Selbst Abstand zu gewinnen und etwas Umfassenderes als dieses Selbst, dessen Realität er so weit wie möglich relativiert, in Betracht zu ziehen. Das ist eine Garantie dafür, daß sein Handeln viel beherrschter, viel universeller sein wird, mit mehr Sinn für die a n d e r e n , und daß er besser in der Lage sein wird, die Welt zu begreifen und auf sie einzuwirken. Dennoch glaube ich, daß alle Bestrebungen gescheitert sind, das Selbst auszulöschen, um für immer das Gefühl auszuschalten, daß m a n feindlichen, u n a n g e n e h m e n Umständen ausgesetzt ist, daß moralische Entscheidungen zu treffen und Fehler zu vermeiden sind, und d a ß das menschliche Handeln nicht immer weitblickend, u n e r schrocken, luzide und effizient ist. Kurz, ich glaube, daß 354
sämtliche Bemühungen des menschlichen Denkens, uns zu beruhigen, indem m a n diesen Aspekt der Unsicherheit und der Verantwortung beseitigt, nicht zum Ziel gelangt sind. M. - Zu begreifen, daß die Anerkennung der Nicht-Existenz des Selbst in keiner Weise der Entschlossenheit, der Seelenstärke und dem Handeln im Wege steht, sondern daß sie uns die Augen hinsichtlich der Ursachen von Glück und Leid weit öffnet, scheint dem Westen sehr schwerzufallen. Diese A n e r k e n n u n g erlaubt ein gerechtes Handeln. Die »Ich«-Bezogenheit schärft nicht das Urteilsvermögen, sondern behindert es. Wenn u n s e r e Taten nicht immer weitblickend, unerschrocken, luzide und effizient sind, wie Du sagst, dann ist das so, weil wir dieser Ich-Bezogenheit ausgeliefert sind. Es heißt: »Die Ansichten des Weisen sind e r h a b e n e r als der Himmel, und sein Unterscheidungsvermögen hinsichtlich der Gesetze von Ursache und Wirkung ist feiner als Mehl.« Man kann sich nicht gegen das auflehnen, was man gesät hat. Doch m a n kann die Zukunft aufbauen, indem m a n unterscheiden kann zwischen dem, was ins Unglück führt, und dem, w a s uns davor b e w a h r t . Es geht also nicht darum, sich schicksalsgläubig einer unvermeidlichen Zukunft anzupassen. J. F. - Da stimme ich völlig überein, insofern als die Stoiker, wie auch Spinoza, zu unserer Beruhigung nachweisen wollten, daß nichts anderes geschehen konnte als das, was geschieht. M. - Wir h a b e n viel d a r ü b e r gesprochen, inwiefern der Buddhismus dem Leben einen Sinn gibt. Was aber gibt Deiner Meinung nach und der philosophischen Richtung zufolge, die Du vertrittst - dem Leben einen Sinn? J. F. - Zunächst einmal vertrete ich keine philosophische Richtung. Ich bemühe mich, die zu verstehen, die es gibt oder gegeben hat, was bereits nicht einfach ist. Um zu versuchen, Dir zu antworten, möchte ich so etwas wie den Hintergrund der verschiedenen Wege beschreiben, denen das abendländische Denken gefolgt ist. Seit der Entstehung der griechischen Zivilisation, denn sie ist der Ausgangspunkt 355
der abendländischen Zivilisation, hat es auf die Frage nach dem Sinn des Lebens drei große Antworten gegeben. Die erste ist die religiöse Antwort, vor allem seit der Vorherrschaft der großen Monotheismen Judentum, Christentum und Islam. Sie verlagert die Zweckbestimmtheit des Lebens ins Jenseits oder in eine Wahrheit, die in den Bereich der Transzendenz fällt, und damit in die Gesamtheit der Schritte, die es auszuführen gilt, und der Gesetze, die m a n achten m u ß , um das persönliche Heil der unsterblichen Seele sicherzustellen. Entsprechend der Verdienste im diesseitigen Leben wird sie ein ewiges Leben im Jenseits haben. Auf diesem Sockel hat das Abendland - übrigens mit Hilfe von Religionen, die alle aus dem Nahen Osten stammten - einige Jahrtausende lang seine Suche nach Lebenssinn begründet. Dennoch suchte ein jeder hier unten auf Erden Glück und Stabilität durch sein Tun, das mit der irdischen Realität in Zusammenhang stand: vom Bauern, der bemüht ist, eine gute Ernte einzufahren, ü b e r den König, der die auszuschalten versucht, die seine Eigenliebe kränken oder ihm Konkurrenz m a c h e n , bis hin zum Geschäftsmann, der danach strebt, sich zu bereichern. Abgesehen von den Religiösen im eigentlichen Sinne, den Mönchen und Mystikern, d e r e n Alltag dem Heilsideal entsprach, h a b e n also alle a n d e r e n eine, sagen wir, empirische Suche n a c h Glück betrieben. Sie schloß, obwohl die Suche nach der jenseitigen, ewigen Seligkeit fortgesetzt wurde, aber nicht aus, was die Religion Sünde nennt. Beide Ziele waren zu vereinbaren, da die Suche nach der ewigen Seligkeit die Vorstellung der Vergebung umfaßte, der Beichte, der Absolution, der Erlösung von allen auf Erden begangenen Sünden. M. - Gibt es keine Kulturen, die auf einer Metaphysik gründen, die unterschiedliche Existenzzustände nach dem Tod und vor der Geburt in Betracht ziehen, deren spirituelle Werte aber das gesamte alltägliche Tun durchdringen, so daß es keine wirklich »gewöhnlichen« Handlungen gibt? J. F. - Im Prinzip hatte es das Christentum darauf angelegt! Doch die Fähigkeit des Menschen, dem selbstverkündeten Ideal entgegenzuhandeln, ist unbegrenzt ... 356
M. - Dennoch führt ein richtig praktizierter Glaube nicht nur dahin, in der Hoffnung auf das Jenseits zu leben, sond e r n auch dahin, j e d e r Handlung des gegenwärtigen Lebens einen Sinn zu geben. J. F. - In der Theorie ja. Das Christentum ist vor allem ein Komplex von Geboten, um zu wissen, wie m a n sich in diesem Leben verhalten soll. Ob man seine ewige Seligkeit verdient, hängt nämlich davon ab, wie man sich in diesem Leben verhält. M. - Kommt zu diesen Geboten nicht noch eine metaphysische Anschauung vom Leben hinzu, die es inspiriert und die sich nicht auf den Verhaltensbereich beschränkt? J. F. - Vorsicht! Ich r e d e g e r a d e davon, was sich im Abendland abgespielt hat. Ich sage nicht, daß m a n , entsprechend der religiösen Lösung, in diesem Leben irgend etwas tun und trotzdem seine ewige Seligkeit verdienen konnte, auch wenn das die meiste Zeit der Fall gewesen ist! Spektakulärerweise haben die Europäer nämlich zweitausend Jahre lang im Gegensatz zur christlichen Moral gelebt, haben sich gegenseitig umgebracht, versklavt und bestohlen, Ehebruch begangen und sämtlichen Großsünden gefrönt - und das alles in der Hoffnung, trotzdem in den Himmel zu kommen, da ihnen ja die Buße und, sofern sie nach Abnahme der Beichte mit den Sakramenten versehen starben, die Erlösung offenstand. Gut! Wohlgemerkt sage ich nicht, daß es das war, was man ihnen riet. Der Klerus, die Seelsorger und Beichtväter verbrachten ihre Zeit damit, die Gläubigen daran zu erinnern, was Sünde ist und was es bedeutet, nach dem Gesetz des Herrn zu leben. Hervorheben wollte ich, daß die Tatsache, sich einer von Grund auf religiösen Suche nach dem Sinn des Lebens verschrieben zu haben, nicht davon abhielt, im Alltag den banalen Freuden nachzujagen. Die meisten von ihnen waren übrigens völlig mit der christlichen Moral vereinbar: Die Gründung eines Haushalts und einer Familie, die Freude über eine gute Ernte, die Bereicherung mit rechtmäßigen Mitteln - nichts von alldem war verboten. Doch wurden viele andere Taten unter offensichtlicher Verletzung der christlichen Gebote 357
begangen. Da die christliche Religion aber eine Religion der Sünde, der Buße und der Lossprechung von der Sünde war, funktionierte das nach dieser Dialektik. M. - Vielleicht ließen sich hier die vielfältigen Kapazitäten der großen Religionen und spirituellen Traditionen, eine Übereinstimmung von Theorie und Praxis zu inspirieren, ins Auge fassen. Niemand streitet ab, daß die Menschen große Schwierigkeiten haben, sich zu wandeln und die Vollkommenheit zu »aktualisieren«, die in ihnen steckt. Eine spirituelle Tradition sollte also einerseits nach der Glaubwürdigkeit ihrer metaphysischen Vorstellungen beurteilt w e r d e n und andererseits nach der Wirksamkeit der Methoden, die sie anbietet, um die innere Wandlung in jedem Augenblick des Daseins zu vollziehen. J. F. - Ein Minimum an Übereinstimmung zwischen Worten und Taten könnte wirklich nicht schaden! Den zweiten Weg, dem Dasein einen Sinn zu geben, w ü r d e ich als den philosophischen Weg im Sinne der Antike bezeichnen. Das Streben nach Weisheit und innerem Frieden - den Früchten einer Anschauung, auf die wir in diesen Gesprächen oft hingewiesen haben - besteht genau darin, sich von oberflächlichen Leidenschaften und Bestrebungen zu befreien und seine Energie höheren Ambitionen intellektueller, spiritueller, ästhetischer, philosophischer oder moralischer Natur vorzubehalten, um das Verhältnis zu den anderen und das Funktionieren des Stadtstaates so menschlich wie möglich zu gestalten. Das ist die Vorstellung, die wir bei den meisten großen Denkern der Antike finden, mal, wie bei Piaton, mit einer m e h r religiösen, m e h r metaphysischen Akzentuier u n g , mal, wie bei den Epikureern und den Stoikern, mit einer Akzentuierung, die mehr auf die fortwährende Ausgeglichenheit und das innere Ausbalancieren der menschlichen Fähigkeiten ausgerichtet ist, auf die Distanzierung gegenüber den gesellschaftlichen Leidenschaften, der Politik, der Liebe und den mannigfaltigen Begehrlichkeiten. Diese Weisheit findet man etwa in Senecas Briefen an Lucilius und, in ihrer modernen Version, zum Beispiel bei Montaigne, der uns Regeln zur Erringung einer Art innerer Frei358
heit und Gleichmut an die Hand gibt. Was nicht d a r a n hindert, die Freuden des Lebens zu genießen, vor allem die geistigen. Ungefähr seit dem 17. und 18. J a h r h u n d e r t ist dieser zweite philosophische Weg aufgegeben worden. Die Philosophie hat sich durch den Dialog mit der im 17. Jahrh u n d e r t a u f k o m m e n d e n m o d e r n e n Wissenschaft i m m e r m e h r der r e i n e n Erkenntnis und der Geschichtsdeutung zugewandt und die F ü h r u n g der menschlichen Existenz sowie die Suche n a c h einem Sinn, der sich ihr verleihen ließe, aufgegeben. M. - Das heißt, sie hat sich der Erkenntnis der »Fakten« zugewandt. J. F. - Ja. Durch das A u f t a u c h e n der Wissenschaft gelangt m a n zu der Überzeugung, daß es etwas gibt, das sich Objektivität nennt, ein Wissen, das allen Menschen und nicht allein dem Weisen offensteht. M. - Das spirituelle Wissen steht allen Menschen offen, die sich die Mühe machen wollen, es zu erforschen. So wird m a n ein Weiser. Ein »objektives« Wissen, das ohne die geringste Selbstüberwindung jedem in seiner Gesamtheit zugänglich ist, kann nur der kleinste gemeinsame Nenner des Wissens sein. Man könnte von einer mehr quantitativen als qualitativen Methode sprechen. J. F. - Sagen wir lieber, daß man im Westen von der Zivilisation des Glaubens zur Zivilisation des Beweises übergeht. M. - Die Früchte der spirituellen Praxis - Ausgeglichenheit, Wachsamkeit, Klarheit des Geistes - und ihre äußeren Manifestationen - Güte, Nicht-Anhänglichkeit, Geduld - fallen mehr in den Bereich des Beweises als in den des Glaubens. Man sagt, der Altruismus und die Selbstbeherrschung seien die Zeichen des Wissens und das Befreitsein von den Gefühlsregungen das Zeichen der Meditation. Diese Vorzüge verwurzeln sich letztlich in u n s e r e m Wesen und kommen durch unser Handeln spontan zum Ausdruck. J. F. - Historisch gesehen ersetzt vom 18. Jahrhundert an der Glaube an die Wissenschaft den Glauben an die Weisheit. Das ist ein erster Schritt, das ist »die Philosophie der 359
Aufklärung«. Um welche Aufklärung handelt es sich? Um die Aufklärung durch die Vernunft. Sie erlaubt, das Funktionieren der Wirklichkeit zu verstehen und die Illusionen, die Leidenschaften, die sinnwidrigen Glaubensüberzeugungen sowie den Aberglauben zu zerstreuen. Die Erringung persönlicher innerer Weisheit führt von nun an über den Weg der objektiven Erkenntnis. Um die Gemeinplätze der Epoche zu benutzen: die »Fackel der Vernunft« wird die Frage des menschlichen Glücks erhellen. M. - Der Buddhismus spricht von der »Fackel des Wissens«. Ohne Weisheit wird die Vernunft über das menschliche Glück grübeln, ohne es jemals zu erreichen. J. F. - Die neue, im 18. J a h r h u n d e r t aufkommende und das ganze 19. Jahrhundert überdauernde Idee ist, wenn Du so willst, daß der Fortschritt - ein vager Begriff, der gleichzeitig den moralischen und den wissenschaftlichen Fortschritt einschließt - vom Verstand herkommt, der uns die versteckten Triebkräfte des Universums und das Funktionieren des Menschen erklären wird. Das Paar Vernunft Fortschritt soll uns das Glück bringen. In gewissem Sinne ist das nicht falsch. Denn die Wissenschaft hat eine beträchtliche Verbesserung des menschlichen Daseins herbeigeführt. Man darf wirklich nicht vergessen, daß 1830 die Lebenserwartung in Frankreich fünfundzwanzig Jahre betrug! Praktisch keine Krankheit wurde geheilt. Es war selten, daß j e m a n d mit dreißig J a h r e n noch Zähne hatte. Wenn er ü b e r h a u p t dreißig w u r d e ! Die Entdeckung der Schutzimpfung gegen die Pocken, einer Krankheit, die so viele Opfer forderte, machte im 18. Jahrhundert ungeheuren Eindruck. Voltaire spricht noch lange davon. Endlich w a r e n die Dinge dabei, sich wirklich zu ändern. Du wirst mir sagen, das sei quantitativ. Dennoch vermittelten solche Verbesserungen in praktischer und materieller Hinsicht, die für die Masse der Leute ungemein bedeutsam waren, den Eindruck: Wir kommen in ein neues Zeitalter, die Welt ist, anders als man in der Antike dachte, keine fortwährende Wiederholung ihrer Selbst, sondern sie ist wandelbar, und es ist der durch die Wissenschaft und die Aufdeckung 360
der Naturgesetze erreichte Fortschritt, der es gestattet, die Bedingungen, in denen der Mensch lebt und vor allem leben wird, zu verändern. M. - Diese Sichtweise zielt also m e h r darauf ab, die Bedingungen des Lebens zu verändern, als ihm einen Sinn zu geben. W a r u m aber m u ß sich ein Gesichtspunkt zum Nachteil des anderen entwickeln? J. F. - Dank der Veränderung der Lebensbedingungen hat heute j e d e r Mensch weit m e h r Möglichkeiten, um zu persönlicher Weisheit zu gelangen. Es ist äußerst liebenswürdig, Horden von analphabetischen Bauern, die im Winter vor Kälte umkommen und bei der kleinsten Epidemie wie die Fliegen sterben, philosophische Weisheit zu predigen. Doch um von der Lehre Senecas profitieren zu können, müßten sie erst einmal ein Alter erreichen, wo m a n sie umsetzen kann! Der Gedanke, die materiellen Segnungen, die dem Fortschritt der Wissenschaft zu v e r d a n k e n sind, den e r h a b e n e n spirituellen Erfüllungen gegenüberzustellen, die jeder erringen kann, ist meiner Ansicht nach reaktionär. Das ist eine völlig falsche Antithese. Als die Menschen des 18. J a h r h u n d e r t s vom Fortschritt der Aufklärung sprachen, dachten sie ü b e r h a u p t nicht daran, daß die Wissenschaft aus sich selbst h e r a u s sämtliche Probleme ihres persönlichen Glücks lösen müßte! Sie dachten, daß ihnen die Wissenschaft einen R a h m e n gäbe, wo sie weit mehr Aussichten hätten, zumindest über die Zeiträume und die Bedingungen zu verfügen, die es ihnen gestatten w ü r d e n , eine gewisse Ausgeglichenheit zu erlangen. Zumal, da die stoische Weisheit, die nur dem Kaiser Mark Aurel und ein p a a r schmarotzenden Höflingen oder Hofphilosophen zugänglich war, wirklich nett ist, doch ein wenig elitär, fürs erste! M. - Kommen wir auf Dein Beispiel von den vor Kälte s t a r r e n Bauern zurück! Es hat mich an die tibetischen Nomaden erinnert, die extreme Kälte ertragen müssen und unter sehr einfachen materiellen Bedingungen leben. Nun h a b e n eben diese Nomaden aber eine Vorstellung vom Dasein, die ihnen eine Lebensfreude bereitet, die keines361
wegs einer Elite vorbehalten ist. Selbst in u n s e r e r Zeit h a b e n diese vor Kälte s t a r r e n B a u e r n Zugang zu einer Weisheit, die in ihr Alltagsleben hineinspielt. Es ist vorgekommen, daß ich monatelang in abgelegenen Tälern von Bhutan und Tibet gewesen bin, wo es weder Straßen noch Strom gibt und nichts darauf hinweist, daß wir uns im Zeitalter der Moderne befinden. Das Niveau der zwischenmenschlichen Beziehungen steht jedoch in grellem Gegensatz zu dem in den großen westlichen Metropolen. Wenn die auf die Spitze getriebene materielle Entwicklung dazu führt, Dinge zu fabrizieren, die in keiner Weise notwendig sind, sieht m a n sich - im extremen Gegenteil - vom Räderwerk des Überflüssigen erfaßt. Ohne spirituelle Werte kann der materielle Fortschritt nur in die Katastrophe führen. Es geht nicht d a r u m , eine utopische Rückkehr zur Natur zu predigen - oder zu dem, was noch von ihr übrig ist -, sond e r n zu verstehen, d a ß die Lebensqualität beträchtlich n a c h g e l a s s e n hat, obwohl sich das »Lebensniveau« im materiellen Sinne, wie m a n es heute begreift, beträchtlich v e r b e s s e r t hat. Die Nomaden Tibets und die Bauern von Bhutan »verdienen« ihren Lebensunterhalt nicht so gut wie ein amerikanischer Geschäftsmann, aber sie wissen, wie m a n das Leben nicht aus den Augen verliert! J. F. - Die Kritik der Konsumgesellschaft, wie m a n 1968 sagte, ist heute auch innerhalb der westlichen Zivilisation weit entwickelt. Doch das ist eine Debatte, die den sozialen Aufstieg voraussetzt. Noch einmal, die Philosophen des 18. J a h r h u n d e r t s sagten nicht, daß die Wissenschaft die Fragen des menschlichen Geschicks oder des Lebenssinns lösen würde, da sie selbst, insbesondere Rousseau, auch die Rückkehr und die Treue zur ursprünglichen Natur predigten. Ihre Anschauung war aber auch geprägt vom Glauben an die Wirksamkeit der Bildung und an die Fähigkeit, sich über die Möglichkeiten verschiedener Lebensweisen, Lehr e n und Religionen zu informieren, um sich frei f ü r eine entscheiden zu können. Von daher rührt die Idee der Toleranz, die zu dieser Zeit entstanden oder doch zumindest ihr ganzes Ausmaß angenommen hat. Wenn Du von den tibeti362
sehen Bauern sprichst, die dank des Buddhismus das Glück kennenlernen, so hat m a n ihnen nicht viel anderes vorgeschlagen! Sie haben keine Bibliotheken wie im Abendland, um sich zu sagen: »Sieh an! Ich werde lieber zur presbyterianischen Religion ü b e r t r e t e n oder zur Philosophie Heideggers ...« So wie den europäischen Bauern des Mittelalters hinsichtlich des Christentums bleibt ihnen im Grunde nichts anderes übrig. Der buddhistische Nomade aus Tibet ist vielleicht sehr glücklich, und das freut mich für ihn, aber m a n kann nicht sagen, daß m a n es mit Leuten zu tun hat, die eine bestimmte Weisheit frei gewählt haben. Sie haben die gewählt, die ihnen ihre Gesellschaft anbot. Sofern sie das glücklich macht, um so besser, aber das ist nicht derselbe Menschenschlag. M. - Ich bin nicht sicher, ob m a n alles versuchen muß, um den Wert einer Sache zu verstehen. Nimm das Beispiel eines reinen, durststillenden Wassers. Der, der es trinkt, kann seine Vortrefflichkeit würdigen, ohne von sämtlichen Süß- oder Brackwassern der Umgebung kosten zu müssen. Genauso b r a u c h e n die, die die F r e u d e n der spirituellen Praxis und der spirituellen Werte erlebt haben, keine andere Bestätigung als die ihrer persönlichen E r f a h r u n g . Die Glückseligkeit, die sich aus ihr ableitet, hat eine Kraft und eine innere Beständigkeit, die nicht lügen könnten. Ich möchte hier einige Verse aus einem Lied über die spirituelle Verwirklichung zitieren. Verfaßt hat sie ein tibetischer Eremit, der ebenfalls aus einer Nomadenfamilie stammte: Heute habe ich den Berg erklommen Oberhalb meiner vollkommenen Eremitage: Vom Gipfel aus habe ich die Augen erhoben Und den wolkenlosen Himmel gesehen. Er hat mich erinnert an den absoluten, grenzenlosen Raum, Und ich habe eine Freiheit erfahren Ohne Mitte und Ende, Stufenlos.
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Den Blick voraus, Habe ich die Sonne dieser Welt gesehen. Ihr unverhülltes Licht Hat mich erinnert an die Meditation, Und ich habe die ungeteilte Erfahrung Der leuchtenden Leere gemacht, frei Von aller begrifflichen Meditation. Ich habe den Kopf nach Süden gewandt Und ein Flechtwerk von Regenbögen gesehen. Sein Anblick hat mich daran erinnert, daß alle Erscheinungen Leer und sichtbar zugleich sind, Und ich habe eine ungeteilte Erfahrung gemacht: Der natürlichen Klarheit, völlig frei Von den Begriffen des Nichts und der Ewigkeit. Ebenso wie kein Dunkel im Zentrum der Sonne ist, Sind das Universum und die Wesen für den Eremiten vollkommen, Und er ist zufrieden. Ebenso wie kein Schotter auf einer goldenen Insel ist, Sind alle Klänge für den Eremiten Gebet, Und er ist zufrieden. Ebenso wie der Flug des Vogels am klaren Himmel keine Spur hinterläßt, Sind die Gedanken für den Eremiten die absolute Natur, Und er ist zufrieden. Der Autor dieser Verse hat es nicht nötig gehabt, um die Welt zu reisen und die Lustbarkeiten der einfachen Viertel New Yorks oder die Andacht in einer presbyterianischen Kirche kennenzulernen, um eine klare Vorstellung von der Wahrhaftigkeit seiner Erfahrung zu haben. Außerdem ist nicht so sicher, ob die Entscheidungsfreiheit, von der Du sprichst, in der heutigen Gesellschaft so groß ist. Dem Dalai Lama ist das nicht entgangen. »Wenn man das Leben in den Städten beobachtet«, so hat er festgestellt, »hat m a n den 364
Eindruck, daß alle Facetten des individuellen Lebens sehr genau definiert werden müssen, wie bei einer Schraube, die sich exakt ins Loch einpassen m u ß . In gewissem Sinne haben sie keine Kontrolle über ihr eigenes Leben. Um zu überleben, müssen sie diesem Modell und dem Rhythmus, der Ihnen bewilligt wird, folgen.«* J. F. - Sofern der Westen jedoch ein n e u e s Verlangen nach spiritueller Weisheit verspürt, was sein jüngstes Interesse am Buddhismus erklären würde, dann weil er seine f r ü h e r e n Erfahrungen mit den gegenwärtigen vergleichen kann. Die Philosophie der Aufklärung brachte eine Hoffnung mit sich, die sowohl im Aufschwung der Wissenschaft g r ü n d e t e als auch im Gebot der Wissensverbreitung. So kam es zur Idee der kostenlosen und bekenntnisneutralen allgemeinen Schulpflicht, die ein J a h r h u n d e r t später verwirklicht wurde. Das hieß aber nicht antireligiös, sondern areligiös, ohne daß eine bestimmte Lehre vertreten wurde. Das alles sollte, in Verbindung mit dem Zugeständnis der freien Wahl, dem Dasein in der Tat einen Sinn verleihen. Daß eine solche materiell ausgerichtete Zivilisation der angewandten Wissenschaft und der Industrie darüber hinaus überflüssige, u n m ä ß i g e und künstliche Bedürfnisse erzeugen kann, ist gewiß. Schon Epikur sagte, daß jedes befriedigte Bedürfnis neue Bedürfnisse schaffe und das Gefühl der Frustration vergrößere. Deswegen gibt es heute eine so große Nachfrage nach den Philosophien des antiken Griechenlands und des Buddhismus, die somit wieder ein Wörtchen mitzureden haben. M. - Erziehung sollte dennoch mehr sein als eine bloße Anhäufung wissenschaftlicher, technischer und geschichtlicher Kenntnisse. Sie sollte eine wirkliche Schulung des Menschen sein. J. F. - Gewiß. Aber k o m m e n wir zum dritten Teil des abendländischen Versuchs, vom 18. J a h r h u n d e r t an die Frage nach dem Sinn des Daseins zu beantworten. Dieser * Dalai Lama: Das Herz aller Religionen ist eins. Die Lehre Jesu aus buddhistischer Sicht. Aus dorn Englischen von Michael Wallosseck. H o f f m a n n & C a m p e Verlag, H a m b u r g 1997.
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Teil fällt in den Bereich der großen Verführung durch die Utopien. Sie betreffen die Neugestaltung der Gesellschaft, das heißt die Vorstellung der Revolution, die mit der Französischen Revolution aufkam. Bis dahin hatte das Wort nur den Umlauf eines Gestirns um die Sonne bezeichnet. Die Vorstellung von Revolution als Zerstörung der Gesellschaft, um sie von Grund auf und in allen Bereichen, wirtschaftlich, rechtlich, politisch, religiös und kulturell wieder aufzubauen, ist die »Idee von '89« schlechthin oder zumindest die von 1793. Hinzu kam die Überzeugung der Akteure dieser Revolution, daß sie das Recht hätten, im Namen ihres höheren Ideals all jene durch die Schreckensherrschaft zu liquidieren, die sich der großen Umwälzung entgegenstellten! Auch ohne derartige Auswüchse, die leider allzu oft vorkamen, hat sich die Vorstellung eingebürgert, daß sich das Glück des Menschen n u r durch eine totale Umwandlung der Gesellschaft erreichen ließe. Eine gerechte Gesellschaft sollte verwirklicht werden. Aus diesem Blickwinkel war der Versuch, einen Weg zu erarbeiten, der jeden Menschen, individuell gesehen, gut und hellsichtig machen sollte, unnütz. Die Gesellschaft mußte als geschlossenes Ganzes behandelt werden. Dem Dasein einen Sinn zu geben, war keine persönliche Frage mehr. M. - Wie kann man hoffen, daß ein Ganzes gut ist, wenn seine Bestandteile es nicht sind? Aus einem Paket Nägel macht man keinen Klumpen Gold! J. F. - Weil m a n a n n a h m , d a ß das Ganze auf die Bestandteile einwirken würde. Das ist typisch für eine Utopie. Sämtliche sozialen Theorien dieser Art sind Utopien. Die Verbesserung, die Erschaffung des Menschen vollzieht sich d e m n a c h über die g r u n d l e g e n d e , nicht allmähliche und teilweise, sondern plötzliche und totale Verbesserung der Gesellschaft. Ist die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit erst gerecht, wird jeder ihrer Bürger ein gerechter und glücklicher Mensch werden. In diesen Utopien treffen die beiden Komponenten der Philosophie der Aufklärung zusammen: zum einen das Ideal des wissenschaftlichen Fortschritts, der den materiellen Überfluß sichern und die Menschen 366
von den Sorgen der Entbehrung befreien sollte, zum anderen das Ideal gerechter sozialer Verhältnisse. Jeder einzelne w ü r d e als Bestandteil der Gesellschaft von dieser Gerechtigkeit profitieren und seinerseits eine moralischere Haltung a n n e h m e n . Die Moralisierung des Individuums und sein Weg zum Glück vollzogen sich über die Veränder u n g der Gesellschaft in i h r e r Gesamtheit. Der einzelne hatte keine eigene Existenz mehr, er existierte nur als Teil des sozialen Getriebes. Es gibt jede Menge Sätze von Lenin und Stalin über »den Menschen als Schraube« im Getriebe des kommunistischen Aufbaus. M. - Was geht Deiner Meinung n a c h am Ende des 20. J a h r h u n d e r t s vor sich? In welcher Lage befinden wir uns, wenn uns weder die Schraube noch die Mutter in Versuchung führt? J. F. - Nun, die abendländischen Religionen werden nicht mehr praktiziert. Der Papst hat vielleicht noch viele Zuhörer. Er schreibt Bücher, die weit verbreitet sind. Kardinal Lustiger, der Erzbischof von Paris, ist hoch angesehen. Man zieht ihn - abgesehen von religiösen Fragen, versteht sich in vielen Dingen zu Rate. Die Priester sind im übrigen unsere letzten Marxisten. Bedeutende Intellektuelle gehören der katholischen Kirche an. Doch die Leute gehen nicht mehr zur Messe und wollen die christlichen Gebote nicht m e h r umsetzen. Sie wollen Christen sein, ohne Regeln befolgen zu müssen, die sie für reaktionär halten. Zudem gibt es sehr wenig Priesterberufungen. Die Hoffnung auf das Jenseits, das läßt sich nicht bestreiten, ist kein Ausgleich mehr für die sozialen Leiden, die Arbeitslosigkeit und eine ratlose Jugend. Es gibt keine Priester mehr, um die Jugendlichen der Vorstädte zu sammeln und ihnen zu sagen: Wenn Ihr artig seid, erlasse ich Euch zwei Jahre Fegefeuer. Das zieht nicht mehr, das ist vorbei. M. - Was bietet man diesen Jugendlichen und den sehr Alten dann? J. F. - Man glaubt weiter an die Wissenschaft und erhofft sich von ihr in materieller Hinsicht und im Gesundheitsbereich einiges an Verbesserung. Zum einen sieht man aber, 367
daß sie auch negative Auswirkungen hat: die Verschmutzung, die chemischen und biologischen Waffen, die diversen Verseuchungen, die immer schlimmer um sich greifen, kurz, die Zerstörung der Umwelt. Zum anderen ist man sich bewußt, daß die Wissenschaft natürlich nicht zu persönlichem Glück verhilft. Wir leben in einer Welt, die durch die Wissenschaft verändert und vielleicht komfortabler geworden ist. Doch die Frage des persönlichen Daseins, des persönlichen Schicksals bleibt absolut dieselbe wie zur Zeit der Römer. Verblüffend ist übrigens, daß in Frankreich einer der größten Verkaufserfolge der Reihe »Bouquins«, einer bemerkenswerten Buchreihe mit Neuausgaben klassischer und moderner Texte, ausgerechnet die Werke Senecas sind. Kurz, die Geschichte des 20. J a h r h u n d e r t s ist die Geschichte des totalen Zusammenbruchs der sozialen Utopien. Man hat ganz einfach gesehen, daß es nicht funktionierte und n u r negative Resultate dabei h e r a u s k a m e n . Diese Gesellschaften haben das Rennen auf der Ebene, wo sie am meisten Gleichheit und Glück für alle erstrebt hatten, verloren. Denn ihr Abenteuer hat nun einmal mit einer offenkundigen materiellen Pleite abgeschlossen. Der Leb e n s s t a n d a r d der kommunistischen Gesellschaften w a r zehn- bis f ü n f z e h n m a l niedriger als in kapitalistischen Gesellschaften. Auch die Ungleichheiten w a r e n dort, obgleich verschleiert, stärker. Moralisch, auf der Ebene der menschlichen Freiheit und materiell sind sie vollkommen gescheitert. M. - Wie sagte doch George Orwell: »Alle Menschen sind gleich, aber einige sind gleicher als andere.« J. F. - Genau! Dieser Satz aus der Farm der Tiere sollte die Tatsache ironisieren, daß die kommunistischen Machth a b e r ein sehr komfortables, üppiges Leben f ü h r t e n , die Masse aber nicht. In Zivilisationen, wo Mangel herrscht, hat es immer eine Aristokratie gegeben, die ein luxuriöses Leben führte. M. - In Tibet zum Beispiel f a h r e n die chinesischen Machthaber in luxuriösen Geländewagen - die Tibeter nennen sie die »Prinzen der Wüste« - durch die v e r a r m t e n 368
Gegenden. Mit den Kosten für einen einzigen dieser Wagen könnten fünf kleine Dorfschulen gebaut werden. J. F. - Das ist typisch für die kommunistischen Regime. Jenseits solcher betrüblichen Einzelheiten besteht jedoch kein Zweifel, daß die Vorstellung, m a n könne eine Gesellschaft von Grund auf umgestalten, um eine vollkommene Gesellschaft aus ihr zu machen, durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts disqualifiziert und im Blut ertränkt worden ist. Nun, was bleibt? Die Rückkehr zur Weisheit nach den guten alten Rezepten. Das erklärt heute, wie wir im Verlauf unserer Gespräche bereits angemerkt haben, den Erfolg der Bücher einiger junger Philosophen. Sie h a b e n durch die sehr bescheidene Reaktivierung der Gebote des Anstands beträchtlichen Anklang gefunden. Vor vierzig J a h r e n h ä t t e m a n sich über dieselben Bücher lustig gemacht. M. - Letztlich sind wir uns m e h r oder weniger darin einig, daß eine Verbesserung der materiellen Bedingungen dem Dasein nicht einfach einen Sinn gibt. Wir sind nämlich keine Maschinen. Auch Verhaltensregeln können das nicht, da eine Fassade nicht genügt. Nur eine Veränderung des Wesens durch die Weisheit kann das bewirken. J. F. - Nicht ganz. Ich glaube, alle Weisheiten, mit denen wir versuchen, das Dasein erträglich zu m a c h e n , h a b e n Beschränkungen. Die größte B e s c h r ä n k u n g ist der Tod. Man muß bei den Weisheitslehren unterscheiden zwischen denen, die an ein Jenseits, an etwas Postmortales, an eine Form der Ewigkeit glauben, und denen, die vom Prinzip ausgehen, daß der Tod die totale Auslöschung des Seins ist und es kein Jenseits gibt. Ich persönlich bin der zweiten Überzeugung. In ihrem Rahmen ist die Suche nach Weisheit immer eine unsichere, vorläufige Sache. Sie hat ihren Platz in den Grenzen des gegenwärtigen Lebens, das einzige, das wir k e n n e n und als wirklich a n s e h e n , ohne daß es eine Hoffnung auf eine h ö h e r e Lösung enthält. Das f ü h r t uns immer wieder zurück zur grundlegenden Unterscheidung zwischen den Weisheitslehren oder Lebenssinnerforschungen mit weltlicher und mit religiöser Konnotation. 369
M. - Diese Unterscheidung scheint mir nicht so grundlegend, wie Du sagst. Selbst wenn m a n annimmt, daß es eine Folge von Existenzzuständen vor und nach diesem Leben gibt, sind diese Existenzzustände im wesentlichen von derselben Natur wie unser gegenwärtiges Leben. Findet m a n eine Weisheit, die diesem gegenwärtigen Leben einen Sinn gibt, wird dieselbe Weisheit auch u n s e r e n zukünftigen Leben einen Sinn geben. So sind Wissen und spirituelle Verwirklichung auf jeden Lebensmoment anwendbar, ob dieses Leben n u n lang oder kurz ist, ob es eines oder m e h r e r e davon gibt. Wenn m a n einen Sinn im Leben findet, braucht m a n nicht auf den Tod zu w a r t e n , um von ihm zu profitieren. J. F. - Ich glaube, die Frage der Weisheit stellt sich heute, hier und jetzt. In jeder Situation muß ich versuchen, mich entsprechend den Regeln zu verhalten, die ich - aufgrund von Erfahrung, Reflexion und Bildung - als die jeweils wirkungsvollsten erachte. Dennoch glaube ich, daß es einen großen Unterschied zwischen dieser Haltung und der Auffassung gibt, m a n könne in zukünftigen Leben weiterexistieren. Das setzt eine ganz andere Vorstellung vom Kosmos voraus. M. - Natürlich, aber es wäre ein Irrtum, sich zu sagen: »Es ist nicht schlimm, wenn ich jetzt nicht glücklich bin, da ich in einem zukünftigen Leben glücklich sein werde.« Das Erreichen tiefer spiritueller Verwirklichung hat auf den, der an die Segnungen der Weisheit und ihre Auswirkungen f ü r ihn und die a n d e r e n in s p ä t e r e n Existenzzuständen denkt, sicher weit mehr Einfluß als auf den, der meint, sie b e t r ä f e n lediglich die p a a r J a h r e , die ihm noch zu leben bleiben. Dennoch ist es qualitativ dasselbe. Sieh n u r das Beispiel der vielen Menschen, die wissen, daß sie von einer s c h w e r e n Krankheit betroffen sind: Oft finden sie, weit davon entfernt, den Mut zu verlieren, einen ganz n e u e n Lebenssinn. Dem Leben durch die Erkenntnis und die innere Wandlung einen Sinn zu geben, ist eine zeitlose Erfüllung. Sie gilt jetzt genauso wie für die Zukunft, ganz gleich für welche. 370
J. F. - Was Du sagst, trifft sicher für den Buddhismus zu, der keine Religion ist, die n u r auf der Jenseits-Hoffnung beruht. Ein Moslem jedoch lebt in der Vorstellung, er werde das P a r a d i e s n u r k e n n e n l e r n e n , w e n n er das göttliche Gesetz achtet - wie, e r k l ä r t e r m a ß e n , auch alle Christen, Katholiken oder Protestanten! Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele erklärt auch einen großen Teil der Gebote der sokratischen Weisheit. Der sokratische Piatonismus gewinnt seine ganze Bedeutung nur, weil er mit einer Metaphysik verbunden ist, wonach die Welt, in der wir leben, letztlich n u r eine illusionäre Welt ist. Ihm zufolge gibt es aber noch eine andere Welt. Zu ihr können wir schon jetzt Zugang finden über die philosophische Weisheit, die philosophische Kontemplation und die Theorie - theoria heißt etymologisch »Betrachtung«, die Tatsache, zu sehen. Nachdem die Unsterblichkeit der Seele nachgewiesen ist, werden wir d e m n a c h endlich die Vollkommenheit e r k e n n e n können. Das unterscheidet sich sehr von den Weisheitsformen, f ü r die das Akzeptieren der Vorstellung des Todes wesentlich ist. M. - Glaubst Du nicht, daß es eine Weisheit gibt, ein Wissen, das für den gegenwärtigen Augenblick genauso Gültigkeit besitzt wie für die Zukunft? Eine Wahrheit, die nicht geschmälert würde, selbst wenn m a n nur dieses Leben in Betracht zöge oder, äußerstenfalls, nur den gegenwärtigen Moment? Ich glaube, es ist jetzt und für immer von Wert, w e n n m a n das Wesen des Seins begreift, das Wesen des Geistes, das Nicht-Wissen und das Wissen, und die Ursachen von Glück und Leid. Welche Art von Weisheit w ä r e Deiner Meinung nach imstande, dem Dasein a u ß e r h a l b jeder zeitlichen Kontingenz einen Sinn zu geben? J. F. - Es gibt Weisheiten, die mit der metaphysischen Vorstellung zukünftiger Leben und zugleich mit der Hypothese operieren, daß das Leben, das wir leben, das einzige ist, das wir jemals haben werden. Ein Teil des Buddhismus gehört zu diesen Weisheiten. Ein anderes Beispiel ist der Stoizismus. Begründet w u r d e er auf einer kosmischen Theorie der ewigen Wiederkehr, einer Vorstellung des Uni371
versums. Dank ihrer Weisheit und ihres gesunden Menschenverstandes hatten die Stoiker jedoch unterschieden zwischen dem s o g e n a n n t e n esoterischen Stoizismus, zu dem n u r einige wenige Zugang finden konnten, die fähig w a r e n , das Wissen der Kosmologie und der Physik zu beherrschen, und einem exoterischen Stoizismus, der, ich sage das nicht geringschätzig, eine Art Leitfaden mit Regeln darstellte, um sich im Leben richtig zu verhalten. Das Handbüchlein des Epiktet zum Beispiel ist ein praktisches Lehrbuch mit empfehlenswerten Tugenden, bestimmt für Leute, von denen m a n nicht verlangen kann, daß sie sich dem eingehenden Studium des Kosmos als Ganzem widmen. Es wird also zwischen zwei Niveaus unterschieden. Dieser Typ von Lehre muß, um die von Dir angesprochene Doppelfunktion zu erfüllen, ü b e r einen a u s r e i c h e n d gewichteten Regelteil verfügen, der u n a b h ä n g i g von der Hypothese der Unsterblichkeit anwendbar ist. M. - Die Abstufung zwischen Exoterik und Esoterik gibt es in allen Traditionen, einschließlich im Buddhismus. Sie kommt den vielfältigen Bedürfnissen, Bestrebungen und Fähigkeiten der Menschen entgegen. Du sagtest aber, daß sich am Ende des 20. J a h r h u n d e r t s im Westen erneut die Frage der Weisheit stellt. Wie würdest Du diese Weisheit definieren, die jedem eine gewisse Vollkommenheit bringen könnte? J. F. - Ich glaube nicht an die Unsterblichkeit der Seele. Und Vollkommenheit ist, denke ich, in keiner Weise erreichbar. Kein Mensch, der um seine Sterblichkeit weiß und nicht ans Jenseits glaubt, kann meiner Ansicht nach ein Gefühl der Vollkommenheit empfinden. Er mag es gegenüber provisorischen Zielen empfinden, die eine gewisse Entfaltung gestatten. Ich glaube jedoch, es gibt keine vollständige Lösung der Sinnfrage außerhalb der großen transzendenten Lösungen, ob sie nun religiös, parareligiös oder politisch sind. Der Utopist, der den Sozialismus konstruierte, sagte sich: »Ich sterbe, aber ich sterbe für eine große Sache. Nach mir wird es eine wunderbare Welt geben.« Das war eine Form von Unsterblichkeit. 372
M. - Glaubst Du nicht, daß die Transzendenz, definiert als äußerste Erkenntnis des Wesens der Dinge, gegenwärtig wahrgenommen oder begriffen werden kann? J. F. - Nein. M. - Warum? J. F. - Weil Transzendenz definitionsgemäß bedeutet, daß das Leben nicht begrenzt ist und daß Du nach dem physischen, dem biologischen Tod weiterlebst. M. - Die Erkenntnis des Wesens des Geistes ist zum Beispiel eine äußerste Erkenntnis. Denn es ist der Geist, der in allen möglichen, gegenwärtigen und kommenden Existenzzuständen die Erfahrung der Erscheinungswelt macht. J. F. - So kämen wir noch einmal auf das Glück durch die Wissenschaft zurück! M. - Durch die Wissenschaft, sofern sie auf die Erkenntnis des Seins zentriert ist. Meinst Du nicht, daß das Erkennen des ä u ß e r s t e n Wesens des Geistes eine Form der Immanenz ist? J. F. - Nein ... ich glaube, die Lösung hängt von der Haltung eines j e d e n Menschen ab, von seiner persönlichen Entscheidung. Man kann, glaube ich, nicht sagen, daß das eine Lösung ist, die sich bei allen durchsetzen könnte. Es wird immer eine Akzentuierung geben, sei es auf der Vorstellung, daß m a n eine Phase in einer Kontinuität ist, die über den Tod hinausreicht, sei es auf der Vorstellung, daß m a n nach dem Tod nicht m e h r existieren wird. Man schreibt Malraux einen Satz zu, den ich immer f ü r ein wenig absurd gehalten habe: »Das 21. J a h r h u n d e r t wird religiös sein, oder es wird nicht sein!« In jedem Fall, das 21. Jahrhundert wird sein. M. - Hat er nicht »spirituell« gesagt statt »religiös«? J. F. - Spirituell wäre ein bißchen weniger falsch, doch vager. Die Suche nach Spiritualität ohne Transzendenz ist keine kohärente Methode. Nichts zu machen! Es gibt zwei Arten von Weisheit. Die eine gründet, um es noch einmal zu sagen, auf der Überzeugung, d a ß m a n zu einem Fluß gehört, in dem das gegenwärtige Leben nur eine Phase ist. Die andere, die ich eine Weisheit der Resignation nennen 373
würde, die aber nicht zwangsläufig eine Weisheit der Niedergeschlagenheit ist, gründet auf dem Gegenteil: dem Gefühl, daß dieses begrenzte Leben das einzige sein wird. Das ist eine Weisheit des Akzeptierens, die darin besteht, im gegenwärtigen Leben auf den am wenigsten unvernünftigen, den am wenigsten ungerechten und unmoralischen Weg zu b a u e n , doch wohlwissend, d a ß es sich dabei um eine vorübergehende Episode handelt. M. - Die Erscheinungen sind ihrem Wesen nach vorübergehend, die Erkenntnis ihres Wesens ist aber unveränderlich. Ich denke, m a n kann eine Weisheit, eine Vollkommenheit und eine Ausgeglichenheit erlangen, die aus der Erkenntnis hervorgehen oder aus dem, was man als die spirituelle Verwirklichung bezeichnen könnte. Ich glaube, wenn m a n das äußerste Wesen des Geistes einmal entdeckt hat, ist diese Entdeckung zeitlos. In den Biographien der großen spirituellen Meister verblüfft mich oft, daß sie alle sagen, der Tod mache keinen Unterschied. Der Tod, genauso wie die Wiedergeburt, ändert nichts an der spirituellen Verwirklichung. Natürlich hängt der Buddhismus der Vorstellung einer Kontinuität aufeinanderfolgender Existenzz u s t ä n d e an. Doch die w a h r e spirituelle Verwirklichung transzendiert das Leben und den Tod. Das ist die unwandelbare Wahrheit, die man im Inneren seiner selbst vergegenwärtigt, eine Vollkommenheit, die nicht mehr vom Werden abhängt. J. F. - Nun! Da Deine Hypothese optimistischer ist als die meine, werde ich Dir, zur Freude der Leser, das letzte Wort überlassen ...
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Fazit des Philosophen Welche Lehre h a b e ich aus diesen Gesprächen gezogen? Was h a b e n sie mir gebracht? Sie haben mir immer m e h r Bewunderung für den Buddhismus als Weisheit eingeflößt, und immer m e h r Skepsis gegenüber dem Buddhismus als Metaphysik. Sie h a b e n mich auch einige Erklärungen f ü r die gegenwärtige Anziehungskraft dieser Lehre im Westen erahnen lassen. Zunächst einmal füllt der Buddhismus ein Vakuum, das in der Lebenskunst und der Moral durch das A b t r ü n n i g w e r d e n der a b e n d l ä n d i s c h e n Philosophie entstanden ist. Vom 6. J a h r h u n d e r t vor u n s e r e r Zeitrechnung bis zum Ende des 16. J a h r h u n d e r t s b e s t a n d die Philosophie im Abendland aus zwei Hauptzweigen: der menschlichen Lebensführung und der Erkenntnis der Natur. Ungefähr in der Mitte des 17. J a h r h u n d e r t s hat sie das Interesse am ersten Zweig verloren und ihn so der Religion überlassen. Der zweite wurde von der Wissenschaft übernommen. Der Philosophie blieb also n u r die - zumindest zweifelhafte Erforschung von dem, was jenseits der Natur liegt: der Metaphysik. In den Anfängen der griechischen Philosophie ist es nicht die Theorie, die den Ausschlag gibt. Den Fragmenten B40 und 129 zufolge ist eindeutig, daß für Heraklit Gelehrtheit nicht ausreicht, um weise zu sein. Philosophieren heißt zu dieser Zeit vor allem, ein edler Mensch zu w e r d e n und durch die richtige Lebensweise zu Wohl und Glück zu gelangen. Gleichzeitig f ü h r t m a n die, die es w ü n s c h e n , durch Vorbildlichkeit und Unterricht auf den Weg der Weisheit. Die Griechen streben nach Weisheit a u f g r u n d ihres praktischen Werts. Der Weise ist gut, klug und trickreich. Die findige Scharfsichtigkeit kennzeichnet den »Sophisten«, ein Wort, das ursprünglich von jeder abschätzigen Bedeu375
tung frei ist. Die Philosophie ist damals keine Disziplin unter anderen, nicht einmal die höchste, die die a n d e r e n bestimmt. Sie ist eine integrale Metamorphose der Lebensweise. Von der abendländischen Philosophie ist dieses Terrain jedoch stiefmütterlich behandelt worden. Der Buddhismus okkupiert es heute mit um so größerer Leichtigkeit, als er bei uns auf keine Konkurrenz trifft. Mit Sokrates, Piaton und Aristoteles wird die Theorie im 5. und 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung als unerläßliche Stütze und intellektuelle Rechtfertigung der Weisheit ausschlaggebend. Wissen und Weisheit sind nicht mehr eins. Die Legitimität des Wissens besteht darin, zur Weisheit hinzuführen, die weiterhin die Priorität hat. Es gibt das gute Leben. Die Erkenntnis der Wahrheit umfaßt das Verstehen der Welt und gegebenenfalls dessen, was jenseits der Welt ist. Diese Verbindung der intellektuellen Betrachtung des Wahren mit der Eroberung des Glücks durch die Weisheit setzt sich hinsichtlich der Gerechtigkeit im Stoizismus und im Epikureismus fort. Ihren Abschluß findet sie am Ende des 17. J a h r h u n d e r t s in der Ethik Spinozas.* Seither h a t m a n die sokratische Frage: »Wie soll ich leben?« fallengelassen. In der Neuzeit sieht sich die Philosophie nach und nach auf eine theoretische Übung reduziert. Trotz ihres schulmeisterlichen Dünkels kann sie in diesem Bereich natürlich nicht mit der Wissenschaft rivalisieren. Die Wissenschaft ihrerseits entwickelt sich in völliger Unabhängigkeit, doch ohne eine Moral oder Weisheit zu begründen. Alles, was man ihr in dieser Hinsicht versucht hat beizubringen, ist nur Geschwätz. Jeder kann nachprüfen, d a ß die Wissenschaftler ethisch und politisch ü b e r genausowenig Weitblick und Gewissenhaftigkeit verfügen wie der Durchschnitt. * Ich s a g e intellektuelle B e t r a c h t u n g u n d nicht mystische. Das ist die erste B e d e u t u n g d e s Wortes »Theorie«. Theoria h e i ß t im Griechischen, bei Piaton, » u n m i t t e l b a r e W a h r n e h m u n g « d e s W a h r e n , g e n a u s o wie ü b r i g e n s die k a r t e s i a n i s c h e »Intuition«. Sie h a t nichts mit e i n e r W a h r s a g u n g zu t u n u n d k o m m t vom lateinischen intueri, s e h e n .
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Seit dem 17. J a h r h u n d e r t ist gerade die Politik Gegenstand neuer, grundlegender Werke, von denen unser gegenwärtiges Denken immer noch zehrt. Sie wird a b e r auch zum Refugium des Ordnungs- und Herrschaftsdenkens in der Philosophie. Ihre Rolle als Lenkerin des Gewissens hat die Philosophie im übrigen aufgegeben. Sie ist von ihrem Thron als Königin der Gelehrsamkeit vertrieben worden. Von da an, denn das ist alles, w a s ihr bleibt, widmet sie sich - über den autoritären, ja totalitären Entwurf der vollkommenen Gesellschaft - der Gerechtigkeit, dem Glück und der Wahrheit. Ihre a b s u r d e Behauptung, einen »wissenschaftlichen« Sozialismus gefunden zu haben, offenbart im 19. J a h r h u n d e r t die Ersetzung des Ziels individueller und sozialer Autonomie durch den kollektiven, pseudowissenschaftlich gerechtfertigten Zwang. Aristoteles' »zoon politikon« war kein Mensch mehr, sondern ein erbarmungswürdiger Affe, darauf dressiert, seine Herren unter Androhung der Todesstrafe nachzuahmen. Ich habe es in den vorangegangenen Gesprächen m e h r f a c h a n g e f ü h r t : Für mich ist das Scheitern der großen politischen Utopien, von dem unser J a h r h u n d e r t in v e r h e e r e n d e r Weise gezeichnet ist, auch einer der Gründe für die derzeitige Rückbesinnung auf die Suche nach persönlicher Weisheit. Der Nachteil des wissenschaftlich genannten Sozialismus war nicht, daß die Philosophie die Umgestaltung der Gesellschaft in Angriff genommen hat - was seit jeher ihr Recht und sogar ihre Pflicht gewesen ist. Der Nachteil w a r die Utopie. Ihrem Wesen entsprechend tritt die Utopie der menschlichen Wirklichkeit mit einem strengen, fertig vorbereiteten und in der Abstraktion bis in seine kleinsten Einzelheiten ausgearbeiteten Modell entgegen, das ohne jede Berücksichtigung empirischer Daten entworfen worden ist. Die menschliche Wirklichkeit sieht sich durch die Utopie also gleich in eine Rolle des Widerstands gegen das Modell gedrängt, in eine Rolle, die a priori die des Verschwörers und des Verräters ist. Nun ist die Intoleranz - wie uns der Buddhismus lehrt - aber nie das Vehikel des Guten, weder in der Politik noch in der Moral. Z w a n g s m a ß n a h m e n , 377
Bekehrungseifer, ja Propaganda sind, seiner Lehre nach, zu verbieten. Im posttotalitären Zeitalter, das wir gerade d u r c h q u e r e n , findet sich da vielleicht ein zusätzlicher Grund f ü r die Faszination, die sie auf die Menschen im Westen ausübt. Es steht außer Zweifel, daß die Politik für die Menschen der Antike zur Philosophie gehörte. Sie hing von der Moral und der Weisheit ab, von der Gerechtigkeit und der Ausgeglichenheit der Seele, die ineinander übergingen - bis Kant die Glückseligkeit zur Antithese der Tugend gemacht hat. A u ß e r d e m w u r d e n seit der vorsokratischen Zeit »die Bedürfnisse, die die Denker zu befriedigen suchten, als soziale Bedürfnisse empfunden«.* Das Bild vom antiken Weisen, der den Turbulenzen der Staatsangelegenheiten in egoistischer, leidenschaftsloser Gleichgültigkeit gegenübersteht, ist ein Klischee, das jeder Grundlage entbehrt. Eine der Komponenten des Buddhismus, deren Bedeutung ich w ä h r e n d dieser Gespräche erkannt habe, ist gerade seine politische Projektion. In welchem Sinne? In einem Sinne, der meines Erachtens dem der Stoiker nahekommt, die an ein universelles, zugleich v e r n u n f t g e m ä ß e s und moralisches Gesetz glaubten, das der Weise verinnerlichen muß und das zugleich eine »Weltbürgerschaft« begründet. Dieser Kosmopolitismus krönt, wörtlich genommen, die politische Philosophie. Er gesteht dem Weisen jedoch keine Gleichgültigkeit oder Verachtung gegenüber der Alltagspolitik der Gesellschaft zu. »Bei Chrysipp ist der Weise ein engagierter Mann.«** Ernest Renan läßt uns in einem bewegenden Kapitel seiner Histoire des origines du christianisme (Geschichte der Anfänge des Christentums)*** nacherleben, wie sich während der Zeit der Adoptivkaiser der zivilisiertesten des Römischen Reiches - Weisheit und * Michael Frede, in: Le Savoir grec. G e m e i n s c h a f t s w e r k u n t e r d e r Leitung von J a c q u e s B r u n s c h w i g u n d Geoffroy Lloyd. F l a m m a r i o n Paris, 1996. ** Malcolm Schofield, in: Le Savoir grec. Chrysipp w a r e i n e r d e r Vorsteher d e r Stoa, d e r dritte in d e r c h r o n o l o g i s c h e n Reihenfolge. Fr lebte von 2 8 0 bis 207 vor u n s e r e r Z e i t r e c h n u n g . *** Im Band ü b e r Mark Aurel, Kapitel III, »Le r e g n e des p h i l o s o p h e s « .
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Macht vereinen. Er zeichnet »die Bemühungen der Philosophie« nach, »die zivile Gesellschaft zu verbessern«. Gewiß, die Weisen, ob sie nun griechisch oder buddhistisch sind, müssen jedes Zugeständnis an die, im heutigen Sprachgebrauch, als »politisch« g e b r a n d m a r k t e n Machenschaften meiden. Welcher Grad an Einmischung kommt dem Weisen zu? Das ist eine antike Debatte. »Muß sich der Weise in die Politik einmischen? Nein, antworteten die Epikureer, es sei denn, er ist durch die Dringlichkeit der Ereignisse dazu gezwungen. Ja, sagten die Stoiker, es sei denn, er wird auf die eine oder andere Weise davon abgehalten.«* Auf diesem Gebiet haben uns die buddhistischen Unterweisungen viel mitzuteilen - ganz im Gegensatz zu jener trivialen, offenkundig widersinnigen Auslegung, die den Buddhismus lange Zeit als eine Lehre der Untätigkeit und des Nirvana dargestellt hat, u n t e r dem - ich weiß nicht, was für eine - vegetative Lethargie verstanden wurde. Der buddhistische Quietismus ist eine Legende. Das ist für mich eine der u n e r w a r t e t e n Entdeckungen dieser Gespräche. Und noch eine konkrete Feststellung, falls sie denn nötig ist: Der bescheidene, so praktische wie couragierte Scharfsinn des Dalai Lama, der unter tragischen Umständen als spiritueller und politischer A n f ü h r e r eines gepeinigten, das moralische Ideal achtenden Volkes vorgehen muß, braucht den Vergleich mit der ineffizienten Allwissenheit so vieler professioneller Staatsmänner in keiner Weise zu scheuen. Mein Gesprächspartner hat mich allerdings nicht von der Gültigkeit der metaphysischen Komponente des Buddhismus überzeugen können, da es sich nicht um eine Religion handelt, obschon es religiöse Verhaltensweisen gibt. Um es ganz klar zu sagen: der theoretische Hintergrund der buddhistischen Weisheit erscheint mir weiterhin unbewiesen und unbeweisbar. Obwohl ich diese Weisheit - die dem Westen, wo sie in Vergessenheit geraten war, gerade zur rechten Zeit unterbreitet wird - für sich genommen überaus schätze, fühle ich mich persönlich nur bereit, sie unter * Malcolm Schofiold, in: Le Savoir grec.
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ihrer pragmatischen Form aufzunehmen, so wie ich es mit dem Epikureimus oder dem Stoizismus tue. Für mich stellt sich die Situation so dar: Der Westen hat in der Wissenschaft triumphiert, doch er verfügt über keine glaubwürdige Weisheit und Moral mehr. Der Orient kann uns seine Moral und seine Lebensrichtlinien liefern, doch ihnen fehlen die theoretischen Grundlagen - a u ß e r vielleicht in der Psychologie, die nicht unbedingt eine Wissenschaft ist, genausowenig wie die Soziologie. Sofern m a n u n t e r Weisheit die Verbindung von Glückseligkeit und Moralität versteht, ist ein an dieser Weisheit orientiertes Dasein sicher s c h w e r e r zu f ü h r e n , w e n n sie sich in rein empirischen Grenzen bewegt, ohne die Unterstützung eines metaphysischen Hintergrundes. Dennoch m u ß sie diese Grenzen akzeptieren. Die Weisheit wird immer spekulativ sein. Vergebens hat sich der Mensch seit dem Buddha und seit Sokrates so verbissen darum bemüht, aus ihr eine Wissenschaft zu machen. Genauso zwecklos wäre der Versuch, aus dem Wissen, das beweisbar ist, eine Moral oder eine Lebenskunst abzuleiten. Die Weisheit b e r u h t auf keiner wissenschaftlichen Gewißheit, und die wissenschaftliche Gewißheit f ü h r t zu keiner Weisheit. Trotzdem gibt es sie beide: f ü r immer unentbehrlich, f ü r immer getrennt, f ü r immer einander ergänzend.
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Fazit des Mönchs
Im Laufe der letzten zwanzig J a h r e hat sich zwischen dem Buddhismus und den H a u p t s t r ö m u n g e n des abendländischen Denkens nach J a h r h u n d e r t e n gegenseitiger Unkenntnis ein richtiger Dialog entwickelt. Der Buddhismus nimmt so den Platz ein, der ihm in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften gebührt. Genauso interessant ist jedoch, daran zu erinnern, daß er in seiner Zeit eine Theorie des Atoms formulierte, die a u s g e a r b e i t e t e r und k o h ä r e n t e r w a r als die des Demokrit, und wo es nicht darum geht, bei ein paar Punkten zur Epistemologie zu verweilen. Der Buddhismus bietet eine Wissenschaft des Geistes an, eine kontemplative Wissenschaft, die aktueller denn je ist und es auch bleiben wird. Denn sie behandelt die grundlegendsten Mechanismen von Glück und Leid. Es ist der Geist, mit dem wir von morgens bis a b e n d s zu tun haben, in jedem Augenblick unseres Daseins. Und die kleinste Wandlung dieses Geistes hat große Auswirkungen auf den Verlauf unseres Lebens und auf unsere Wahrnehmung der Welt. Wenn man einmal jeglichen Exotismus beiseite läßt, ist es die Absicht des buddhistischen Weges, uns nach dem Muster aller großen spirituellen Traditionen dabei zu helfen, bessere Menschen zu werden. Die Wissenschaft hat weder die Absicht noch die Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Sie strebt zunächst an, die Natur der sichtbaren Erscheinungen zu erklären, um sie dann zu nutzen und im Lichte ihrer Entdeckungen zu transformieren. Die Wissenschaft ist also in der Lage, unsere Lebensbedingungen zu verbessern: Wenn uns kalt ist, w ä r m t sie uns, wenn wir k r a n k sind, heilt sie uns. Doch so macht sie aus uns nur »bequem e r e « Individuen. Von diesem Standpunkt aus w ä r e das Ideal, Hunderte von Jahren bei vollkommener Gesundheit 381
zu leben. Doch ob wir dreißig oder hundert Jahre alt werden: die Frage der Lebensqualität bleibt dieselbe. Die einzige Art, ein lebenswertes Dasein zu führen, ist, ihm innerlich einen Sinn zu geben. Und die einzige Art, ihm innerlich einen Sinn zu geben, ist, unseren Geist zu erkennen und zu wandeln. Man m u ß nicht erwarten, daß der Buddhismus im Westen so praktiziert wird wie im Orient, zumal unter seinem klösterlichen und eremitischen Gesichtspunkt. Doch er scheint über die notwendigen Mittel zu verfügen, um zum i n n e r e n Frieden eines j e d e n beizutragen. Es geht auch nicht darum, einen »westlichen Buddhismus« zu begründen, der verwässert wäre durch die vielfältigen Zugeständnisse an die Wünsche eines jeden, sondern d a r u m , die Wahrheiten des Buddhismus zu nutzen, um das Vollkommenheitspotential zu vergegenwärtigen, das wir in uns haben. Ich m u ß zugeben, daß ich anfangs überrascht gewesen bin vom Interesse, das der Buddhismus heute im Westen erregt. Als uns die Idee zu diesem Gespräch nahegelegt w u r d e , w a r ich mir nicht sicher, ob ein freidenkerischer Intellektueller vom Kaliber meines Vaters geneigt wäre, mit einem buddhistischen Mönch zu diskutieren, selbst wenn sich dieser Mönch als sein Sohn herausstellte. Mein Vater sagte mit Enthusiasmus zu und wählte die Stille der Berge Nepals als Rahmen für unsere Gespräche. Die für ein richtiges Zwiegespräch förderlichen Umstände w a r e n somit vereint. Mein Wunsch war es, während unserer Gespräche mitzuteilen und zu erklären, der meines Vaters, zu verstehen, zu analysieren und zu vergleichen. Daher hat der Philosoph in erster Linie den Mönch befragt. Der Mönch war es sich jedoch schuldig, den Philosophen zu fragen, was in den Augen eines zeitgenössischen westlichen Denkers der Sinn des Lebens ist. Das war der Anlaß für den letzten Teil uns e r e r Gespräche, die an der bretonischen Küste g e f ü h r t wurden. Die Verbundenheit mit meinem Vater hat im Verlauf mei382
ner vielen Reisen nie nachgelassen. Obwohl wir oft über die Tragödie Tibets diskutiert haben, hatten wir nie Gelegenheit, den Dingen auf gedanklicher Ebene auf den Grund zu gehen. Es war also eine beiderseitige Freude, in aller Ruhe über die Prinzipien, die unser Leben inspiriert h a b e n , zu reden und sie einander gegenüberzustellen. Kein Gespräch, so erhellend es auch sein mag, kann jedoch die Stille der persönlichen Erfahrung ersetzen, die unerläßlich ist für ein inniges Verständnis der Dinge. Die E r f a h r u n g ist nämlich der Weg. Und, wie der Buddha oft gesagt hat: »es obliegt jedem, ihn zu gehen«, damit der Bote eines Tages selbst die Botschaft werde.
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