Dorothy Cook
Der Mord,
der zweimal geschah
Irrlicht Band 346
»Das Schloß deiner Träume, Judith!« sagte Achim und...
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Dorothy Cook
Der Mord,
der zweimal geschah
Irrlicht Band 346
»Das Schloß deiner Träume, Judith!« sagte Achim und breitete seine Arme aus. »Bitte tritt ein und nimm Besitz von deiner Burg.« Judith ging nicht auf den Scherz ein, ihr war beklommen zu Mute. Ihr Herz klopfte und ihr Gesicht wurde blaß. Die ganze Umgebung war von einem Unheil erfüllt, das sie fast greifbar spüren konnte. Es drückte ihr die Kehle zu, so daß sie kaum zu atmen vermochte. Nur noch notdürftig waren die früheren Gebäudeteile zu erkennen. Ein breiter Graben trennte die beiden Wanderer von den düsteren Burgmauern. Er war mit grünlichem Wasser gefüllt. Ein Anblick, der Judith mit Schaudern erfüllte. Vorsichtig beugte sie sich vor. Etwas war in diesem Wasser. Mit einem entsetzlichen Schrei wich die junge Frau zurück.
Ein gellender Schrei schreckte Judith aus ihrem unruhigen Morgenschlaf. Es war ein Ruf, wie ein Mensch ihn in höchster Gefahr und Todesnot ausstößt. Verstört öffnete Judith ihre Augen, um zu sehen, wer sie so unbarmherzig geweckt hatte. Aber da gab es nichts Außergewöhnliches. Alles in ihrem Zimmer war wie gewohnt. Die Morgensonne schien herein, Vogelgezwitscher war zu hören, und unten auf dem Wirtschaftshof hinter dem Gutshaus herrschte die übliche Geschäftigkeit. Und doch war da dieser Schrei, und er hatte sie auch heute aus dem Schlaf geweckt. Seit Wochen quälte sie dieser Schrei, er gab ihr keine Ruhe. Es verlief immer nach der selben Weise: Erst glaubte sie an einen Eindringling, vor dem sie ängstlich unter die Bettdecke kroch. Später wurde ihr klar, daß sie selbst es war, die da geschrien hatte. Aber warum nur? Was bedrohte, was ängstigte sie im Schlaf? Sie ertappte sich dabei, daß sie insgeheim bereits auf diesen Ruf wartete. Schon beim Morgengrauen warf sie sich unruhig im Bett hin und her und verfiel anschließend in einen quälenden Halbschlaf, bis dieser Schrei sie endgültig weckte. Nach solchen Nächten fühlte sie sich wie zerschlagen und erhob sich schließlich völlig übermüdet. Die Tage und Nächte waren längst für sie zu einer ständigen Qual geworden. Zum Glück war ihr Zimmer weit entfernt von den Schlafzimmern der restlichen Familienmitglieder, da es im Turm des geräumigen Gutshauses lag. Niemand konnte bemerken, daß sie sich so seltsam verhielt. Judith begann, sich selbst zu beobachten und stellte fest, daß diesem Schrei fast immer ein entsetzlicher Alptraum vorangegangen war. Ein brutaler Mann spielte darin eine Rolle und Wasser, in dem er sie ertränken wollte. Ihre Träume waren wirr und unverständlich, sie ließen sich nicht erklären. Und doch
wiederholten sie sich stets auf die gleiche Weise und endeten wie immer mit ihrem Hilfeschrei. Dabei hatten vor kurzem die Sommerferien angefangen, die sie als junge Lehrerin hätte genießen können, statt sich mit einer unbestimmten Furcht zu quälen. Judith war müde und geisterhaft blaß, als sie am Frühstückstisch erschien. Wie abwesend begrüßte sie ihre Eltern und ihren Bruder Ingo. »Du siehst elend aus, mein Kind«, sagte ihre Mutter, die Gutsherrin Helga Lohmann, und betrachtete kopfschüttelnd die Tochter. »Nicht wie eine glückstrahlende Braut. In vierzehn Tagen ist Hochzeit, hast du das schon vergessen?« Nein, Judith hatte es nicht vergessen. Wenn sie nicht gerade über ihre Alpträume nachdachte, dann stand diese Hochzeit wie eine riesengroße Bedrohung vor ihren Augen. Noch vierzehn Tage… morgen würden es nur noch dreizehn Tage sein, und übermorgen noch zwölf. Die Zeit lief unerbittlich auf diesen Tag zu. Und dann? Was kam dann? Ein Leben in Angst und Schrecken, wie es ihr der ständig wiederkehrende Traum verriet? Oder war es vielmehr ein Leben voller Glück und Liebe, ein Leben mit einer eigenen Familie und mit einem liebevollen Mann an ihrer Seite, wie es ihr die Mutter immer wieder ausmalte? Judith wußte es nicht. Sie war hin und her gerissen, schwankend zwischen freudiger Erwartung und schlimmen Ahnungen. Sie hatte kaum etwas zu sich genommen, als sie sich von der Frühstückstafel erhob. »Entschuldigt mich. Ich… ich habe noch etwas in der Stadt zu erledigen«, murmelte sie und verließ das Frühstückszimmer, noch ehe sie jemand daran hindern konnte. Auch ihr Bruder Ingo, ein halbwüchsiger Teenager, verschwand bald. Wenn seine große Schwester ihre Launen hatte, dann hing bald der Haussegen schief, das wußte er aus
Erfahrung. Dann war es besser, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. »Daß diese Weiber immer so kompliziert sein müssen«, knurrte er vor sich hin, als die Tür sich hinter ihm schloß. Seine Eltern teilten seine Meinung, auch wenn sie sich anders ausdrückten, wie ihr einziger Sohn. »Ich weiß nicht recht«, meinte der Gutsherr Hartmut Lohmann, als seine Tochter gegangen war. »Wie eine glückliche Braut sieht sie wahrhaftig nicht aus. Sie ist blaß und abgemagert, sie redet kaum mit uns, und immer ist sie in Eile.« »Ja, sie gefällt mir auch nicht«, seufzte die Mutter. »Wenn ich nur wüßte, was in ihr vorgeht! Sie ist so zurückhaltend und verschwiegen, dabei wäre doch vielleicht ein Gespräch von Frau zu Frau ganz hilfreich. Als ich kurz vor unserer Hochzeit stand, da war ich immer fröhlich und zuversichtlich. Ich hatte den besten Bräutigam auf dieser Welt, meine Freundinnen beneideten mich darum. Meine Eltern waren glücklich über diese Heirat. Die Hochzeitsfeier war ein Traum. Schade nur, daß die anschließende Hochzeitsreise ausfallen mußte, weil Vater damals schwer erkrankte…« »Wir waren auch ohne diese Reise glücklich«, meinte ihr Mann. »Aber du hast recht, die jungen Leute sind heute ganz anders, als wir es waren. Aber ich denke, wir sollten das alles nicht so ernst nehmen. Oder gibt es da Probleme? Hat sie sich etwa mit ihrem Verlobten gestritten?« »Ich glaube nicht. Arno Kaliweit ist solch ein rücksichtsvoller, vertrauenswürdiger Mensch, mit dem man sich schwerlich streiten kann. Schließlich hat sie ihn haben wollen und hat um diese Heirat gekämpft. Es sind ja nur noch zwei Wochen bis zur Hochzeit. Ich hoffe zuversichtlich, daß sich dann alles zum Guten wendet.« »Kannst du nicht mal bei Arno Kallweit auf den Busch klopfen, Helga?«
»Wie soll ich das machen, Hartmut? Wir haben ›Ja‹ gesagt zu dieser Verbindung, und nun müssen die jungen Leute sehen, wie sie mit ihrem Leben fertig werden.« »Hoffentlich machen wir nichts falsch, Helga«, seufzte Hartmut Lohmann. Dann ging auch er, um auf den Feldern und in den Ställen nach dem Rechten zu sehen. Es wurmte ihn, daß seine einzige Tochter, die so hübsch und intelligent war, im Begriff war, eine unglückliche Ehe einzugehen. Aber er war eine optimistische Natur. Warum sollte er so schwarzsehen? Judith war ein vernünftiges Mädchen. Wenn sie sich für Arno Kallweit entschlossen hatte, dann wußte sie, was sie tat. Warum sollte sie unglücklich werden? Eine alte Tante fiel ihm ein, die immer behauptet hatte, daß junge Mädchen sich ganz unbewußt vor der Heirat fürchten. Sie stehen vor einem neuen Lebensabschnitt und wissen nicht, wie dieses Leben sich entwickelt. Vielleicht erging es Judith ähnlich. Vielleicht fürchtete sie sich insgeheim davor, die Geborgenheit des elterlichen Hauses zu verlassen und als erwachsene junge Frau selbständig zu werden. In einem gab Hartmut Lohmann seiner Frau recht: Es war gut, daß die Hochzeit schon bald stattfinden würde. Dann war diese Unruhe überstanden. Natürlich sollte dieses Fest alles in den Schatten stellen, was je auf Gut Lindenthal gefeiert worden war, das war er sich, seiner Tochter und der ganzen übrigen Familie schuldig.
*
Während man im Gutshaus Lindenthal über das schlechte Aussehen Judiths und über ihr verstörtes Verhalten nachsann, traf diese sich in der nahen Kreisstadt mit ihrer Freundin Silvia
Brandt. Sie hatten sich zu einem Eisbecher in einem Café verabredet. Während Silvia glänzender Laune war und die Freundin gleich mit einem ganzen Redeschwall empfing, war Judith ungewohnt schweigsam. »Ich freue mich wahnsinnig auf deine Hochzeit«, sagte Silvia und löffelte ihr Eis. »Verrat mir doch mal, was ich dir schenken darf. Hast du bestimmte Wünsche?« Judith schüttelte den Kopf. »Eigentlich habe ich nur einen Wunsch.« »Ja? Schieß los! Ich bin schon gespannt…« »Ich wünschte mir, daß diese Hochzeit niemals stattfände«, sagte Judith tonlos. Silvia vergaß vor Schreck ihr Eis. »Aber das ist doch ganz unmöglich, Judith«, sagte sie. »Die Vorbereitungen sind sicher schon weit gediehen. Dein Kleid ist genäht, die Gäste sind eingeladen. Um Himmels willen, du kannst das alles doch nicht absagen.« »Sicher hast du recht, Silvia. Es ist wirklich schwer. Aber noch schwerer ist es für mich, ›Ja‹ zu dieser Hochzeit zu sagen. Ich kann Arno nicht heiraten.« »Aber ihr wart doch ein Herz und eine Seele, ihr habt euch geliebt. Ist Arno untreu? Oder ist er jähzornig oder sonstwie unausstehlich?« »Wenn er das wäre, dann könnte ich ihm leichter den Laufpaß geben. Dann hätte ich einen Grund, die Verlobung aufzulösen. Aber das ist ja das Schlimme. Er hat sich nicht verändert, er ist liebevoll, rücksichtsvoll, ist voller Pläne und immer gutgelaunt. Ich habe mich verändert. Ich will nicht mehr heiraten.« »Das verstehe ich nun wirklich nicht. Tatsächlich siehst du schlecht aus, richtig leidend. Vielleicht solltest du ein paar Wochen Urlaub machen, allein. Dann sieht die Welt schon
wieder anders aus. Du kommst erholt zurück, und dein Arno gefällt dir wieder.« »Es ist schlimmer als du denkst. Ich leide unter furchtbaren Alpträumen, die ich nicht genau beschreiben kann. Dann ist mir, als sei ich eine andere, eine junge Frau, die vor vielen hundert Jahren einen ungeliebten Mann heiratete und bald darauf einen schrecklichen Tod erlitt. Ihr eigener Mann hat sie umgebracht. Dieser Traum kommt immer wieder und endet mit einem grauenhaften Schrei.« »Und? Was bedeutet dieser Traum für dich?« »Ich weiß es nicht, Silvia. Ich nehme ihn als Warnung vor der geplanten Heirat.« »Das ist doch Unsinn, Judith«, ereiferte sich Silvia. »Dein Arno kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Er ist doch kein Mörder. Er liebt dich und würde dich nie umbringen.« »Ich weiß… aber ich nehme den Traum ja auch nicht wörtlich. Er warnt mich vor der Hochzeit, so viel ist mir klar. Sie wird uns kein Glück bringen. Aber ich habe es zu spät erfahren. Wenn ich jetzt Arno den Ring zurückgebe, dann wird er sehr traurig sein. Ich enttäusche ihn und meine Eltern und alle die vielen, die kommen sollten. Aber ich kann auf niemanden Rücksicht nehmen, das wäre zu viel verlangt. Dann würde ich unglücklich werden und Arno auch.« »Aber du hattest dich doch für ihn entschieden, Judith. Gilt das nicht mehr?« »Darum fällt es mir ja auch so schwer. Silvia, du kennst mich, seit wir beide ins Gymnasium kamen. Ich war immer ein schwieriges Kind. Schüchtern und immer etwas menschenscheu. Du warst immer viel kontaktfreudiger als ich.« »Ich glaube, du übertreibst ein wenig, Judith. Du warst hübsch und gescheit, die Jungen pfiffen hinter dir her. Aber du machtest dir nichts daraus.«
»Mir lag nichts an solchen Freundschaften. Am liebsten habe ich mich mit kleineren Kindern beschäftigt. Sie sind ehrlich und aufrichtig und sind hilfsbedürftig. Darum sind sie auch so dankbar, wenn man sich ihnen zuwendet.« »Bist du deshalb Lehrerin geworden?« »Ja. Die Arbeit macht mir viel Freude. Obwohl meine Eltern eine andere Karriere für mich planten. Irgend etwas zwischen Chefärztin und Diplomatin. Sie hatten große Pläne mit mir. Aber noch lieber wäre es ihnen gewesen, wenn ich einen jungen Gutserben aus unserem Bekanntenkreis geheiratet hätte. Dann wäre ich ihnen auch als simple Hausfrau recht gewesen.« »Ich dachte immer, daß ihnen auch die Dorfschullehrerin lieb wäre.« »Sie haben sich daran gewöhnt«, gab Judith zu. »Da ich im Nachbardorf Burgfeld tätig bin, kann ich zu Haus in Lindenthal wohnen. Das versöhnt sie auch mit meinem Beruf. Das Dumme war nur, daß ich mich in meinen Kollegen Arno Kallweit verliebte und mich mit ihm verlobte. Sie mochten zwar den Menschen Arno, sahen aber in ihm nicht die passende Partie. Immer wieder warnten sie mich, er würde nicht genug Geld verdienen für meine Ansprüche. Als wenn ich je aufs Geld geschaut hätte.« »Vielleicht sind sie dann ganz froh, wenn du die Heirat absagst«, meinte Silvia. »Jetzt nicht mehr«, sagte Judith traurig. »Die Hochzeit soll ja schon bald sein. Die Einladungen sind verschickt. Jetzt wäre eine Absage für die ganze Familie eine Blamage. Und dann das Gerede in Verwandten- und Bekanntenkreisen. Der Klatsch würde blühen. Arno käme ganz ohne eigenes Verschulden in Verruf.«
»Das sehe ich auch so«, sagte Silvia nachdenklich. »Aber trotzdem: Du kannst nicht nur heiraten, um deine Familie vor Klatsch zu bewahren.« »Was würdest du tun, Silvia?« sagte Judith. »Ich bitte dich um deine ehrliche Antwort!« »Ich mag nicht mal darüber nachdenken. Du bist wirklich in einer schrecklichen Lage. Wenn du Arno nicht heiraten kannst, dann solltest du es auch nicht tun. Aber vielleicht gibt es einen Kompromiß?« »Wie sollte der denn aussehen? Es gibt doch nur entweder, oder. Hochzeit oder keine Hochzeit. Ein Zwischending ist unmöglich.« »Du könntest auch sagen, daß du dich nicht gesund fühlst. So, wie du aussiehst, glaubt dir das jeder. Du bittest um eine Verschiebung der Hochzeit. In dieser gewonnenen Zeit kannst du dir über deine wirklichen Wünsche klar werden.« »Das klingt vernünftig«, gab Judith zu. »Aber ich habe nicht mehr die Kraft, monatelang vernünftig zu sein. Ich halte es nicht mehr aus, von furchtbaren Träumen gequält zu werden. Ich will jetzt eine Entscheidung. Ich will frei sein von dem Druck, der auf mir lastet. Wenn ich mich auf deinen Vorschlag einließe, würde ich das Problem nur vor mir herschieben.« »Hast du dir auch schon einmal die beruflichen Konsequenzen überlegt? Du und Arno, ihr arbeitet in derselben Schule. Ihr seht euch jeden Tag. Wie stellst du dir diese Zusammenarbeit später vor?« »Vielleicht kann ich mich versetzen lassen. Burgfeld lag natürlich günstig. Aber es gibt auch andere Schulen. Das dürfte das kleinste Problem sein.« »Tu, was du tun mußt, Judith«, sagte Silvia. »Ich werde immer auf deiner Seite stehen, wie du dich auch entscheidest. Vielleicht schläfst du noch eine Nacht, ehe du deinen Entschluß verkündest. Mach’s gut, Judith!«
»Danke, Silvia!« sagte Judith bedrückt. »Wie gut, daß ich dich habe!«
*
Die Aussprache mit der Freundin hatte Judith gutgetan. Sie hatte bisher noch mit keinem Menschen über ihre Träume gesprochen und würde es auch in Zukunft nicht tun. Aber sie wußte jetzt, wie ihre Entscheidung aussehen würde: Trotz vieler Bedenken wollte sie sich von Arno trennen. Wahrscheinlich würde sie ihm gegenüber immer ein schlechtes Gewissen haben. Aber sie konnte nicht anders. Das Schlimme war nur, daß sie keinem Menschen ihre wahren Gründe nennen konnte. Die Nacht wurde schlimm, schlimmer noch als alle bisherigen. Sie hoffte, daß dieser schreckliche Traum sie verschonen würde, weil sie sich endlich entschieden hatte. Aber das war ein Irrtum. Wie ein Gespenst kam sie am anderen Morgen zum Frühstückstisch. Ihr schönes Blondhaar hing ihr in Strähnen auf die Schultern. Tiefe Schatten lagen um ihre Augen, die matt und müde blickten. Dabei waren sie noch vor wenigen Wochen das schönste in ihrem Gesicht gewesen. Meist strahlten sie in tiefem Blau, ein Spiegel ihrer Seele. Ihre rosige Gesichtsfarbe war einer wächsernen Blässe gewichen. Wie mager war sie geworden! Ihr hübsches Sommerkleid schlotterte um ihre schlanke Gestalt. »Bist du krank, Judith?« fragte ihre Mutter entsetzt. »Krank nicht. Aber ich habe ein Problem«, sagte sie zögernd. »Nanu?« fragte ihr Vater. »Wo siehst du ein Problem?«
»Ich werde Arno nicht heiraten«, antwortete sie schnell, um es endlich gesagt zu haben. »Es war kein leichter Entschluß«, sagte sie und senkte ihren Kopf. Ihre Schultern zuckten. »Was?« sagte ihr Vater scharf. »Das sagst du erst jetzt? Kaum zwei Wochen vor dem Hochzeitstermin? Findest du nicht, daß du uns eine Erklärung schuldig bist?« »Immerhin dreht sich hier im Haus alles um deine Hochzeitsfeier, wie du wohl bemerkt haben dürftest«, ereiferte sich die Mutter. »Hat Arno dich enttäuscht?« »Laß Arno aus dem Spiel, Mutter. Arno kann nichts dazu. Er war ein verständnisvoller Verlobter und ein aufrichtiger Freund. Aber ich kann ihn nicht heiraten. Es ist mir nicht möglich. Und wenn ihr mich zum Standesamt schleppt: ich würde auch im letzten Augenblick noch ›Nein‹ sagen. Ich meine, da ist eine Absage zum jetzigen Zeitpunkt doch besser. Ich werde noch heute mit Arno sprechen.« »Man könnte die Heirat ja auch aus Gesundheitsgründen verschieben«, schlug die Mutter vor. »Jeder, der dich sieht, wird diesen Grund glauben.« »Mutter hat recht. Wahrscheinlich bist du krank, Judith«, meinte der Vater. »Da fehlt einem leicht die Kraft zu Lebensveränderungen.« »Es ist vermutlich umgekehrt, Vater. Nur, weil ich mich vor dieser Ehe fürchte, geht es mir schlecht.« »Willst du denn ewig allein bleiben?« polterte der Vater. »Nein, Vater. Aber diese Heirat will ich nicht. Und nun gehe ich zu Arno und teile ihm meinen Entschluß mit. Ihr könnt allen geladenen Gästen mitteilen, daß die Hochzeit abgesagt wird. Und danach kann ich die Sommerferien genießen und mich erholen.« »Aber die Hochzeitsreise!« jammerte Frau Helga. »Wir wollten euch doch eine Nordlandreise zur Hochzeit schenken. Was wird nun daraus?«
»Dann fährst du eben mit Vater nach Norwegen, und ich hüte inzwischen das Haus. Wolltet ihr nicht selbst eine Hochzeitsreise in den hohen Norden machen? Damals wurde nichts daraus. Ihr habt bald Silberhochzeit. Es wird Zeit, daß ihr das Versäumte nachholt.« Hartmut und Helga Lohmann schauten einander verdutzt an. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht. Da wußte Judith, daß sich die Eltern mit der Nordlandreise trösten würden. Die Eltern wußten es nun. Aber das Schlimmste stand ihr noch bevor: Die Aussprache mit Arno.
*
Arno wohnte direkt in Burgfeld in der Nähe der Schule. Er lebte auf einem Bauernhof zur Untermiete. Judith traf ihn bei einem Gespräch mit seiner Vermieterin. Offenbar unterhielten sie sich über ein passendes Hochzeitsgeschenk, denn ihr Gespräch verstummte, als sie eintrat. »Ich möchte mit dir reden, Arno«, sagte Judith. »Laß uns einen Spaziergang machen. Dann spricht es sich leichter.« »Was gibt’s?« fragte er, als sie den Wiesengrund erreichten, der ihr bevorzugter Spazierweg war. Dort floß ein munterer Fluß zwischen malerischen Weiden dahin. Bunte Wiesenblumen schmückten seine Ufer. Als sie nicht gleich antwortete, fuhr Arno fort: »Wir waren doch heute Nachmittag bei euch zum Kaffee von deinen Eltern eingeladen. Wir wollten mit ihnen über die Hochzeitsfeier sprechen. Gilt das nicht mehr?« »Ich will es hinter mich bringen, Arno. Ich weiß, ich tue dir weh, und mein Verhalten muß dir unverständlich erscheinen,
aber ich kann dich nicht heiraten. Je näher der Hochzeitstag kommt, um so sicherer weiß ich es. Hab Dank für alles, Arno, und verzeih mir, wenn du kannst.« »Ich ahnte es, Judith«, stammelte er, nachdem er sein erstes Entsetzen überwunden hatte. »Ich fürchtete ein Hindernis, irgend etwas, was uns trennt. Sag, gibt es einen anderen Mann in deinem Leben?« Aber Judith konnte nicht antworten. Sie schüttelte ihren Kopf und wandte sich ab, damit er die Tränen nicht sehen sollte, die in ihren Augen standen. Dann wollte sie schnell davongehen, aber Arno hielt sie mit einem harten Griff fest. Von einem Augenblick zum anderen hatte der sonst so sanfte Arno sich gewandelt. Zornesröte stand auf seinem Gesicht. Seine Augen funkelten sie drohend an. Er schüttelte sie heftig. Judith versuchte, sich zu befreien, aber er hielt sie wie mit Fesseln fest. Sein Griff schmerzte, und sein Anblick ließ sie fürchten. Es fehlte nicht viel, und Arno hätte sie in den Fluß gestoßen. Judith schrie auf. Das Wasser schreckte sie. Gerade hier war der kleine Fluß gestaut, um weiter flußabwärts genug Wasser für eine Mühle zu liefern. Judith konnte nicht schwimmen… und Arno wußte es. »Das kannst du nicht mit mir machen«, sagte er wütend. »Auch eine Verlobung ist eine Verpflichtung. Ich werde dich zwingen. Ich werde mit deinen Eltern reden und mit unserem Schulleiter. Gemeinsam werden wir dich zwingen, dein Wort zu halten.« Endlich gelang es Judith, sich loszureißen. Wie gehetzt lief sie davon. Da gerade eine Bäuerin mit ihrem Handwagen vorüberkam, konnte Arno sie nicht verfolgen, ohne Aufsehen zu erregen. Judith blieb aufatmend stehen, als sie endlich vor ihm sicher war. War das der Mann, den sie geliebt hatte? Sie faßte es nicht. Zu welchen Taten war er fähig, wenn er solch einen Wutanfall bekam?
Bisher hatte Arno immer behauptet, sie zu lieben. Wie konnte er dann so brutal mit ihr umgehen? Hatte sie jetzt einen Blick in seine wahre Natur getan? Waren ihre Träume eine Warnung vor einer schrecklichen Zukunft gewesen? Ihre Arme schmerzten von dem harten Griff, mit dem er sie gehalten hatte, aber von ihrer Seele war ihr eine schwere Last genommen. Aber wie teuer war diese Befreiung erkauft worden durch die bittere Enttäuschung, die sie einander zugefügt hatte. Erschöpft zog sich Judith in ihr Zimmer zurück. Sie schloß sich ein und verzichtete auch auf die gemeinsame Abendmahlzeit mit ihren Eltern und ihrem Bruder. Sie konnte jetzt mit niemanden über ihre Gefühle reden, auch nicht mit ihrer nächsten Familie. Die nächste Nacht verlief ruhig. Es war seit langen Wochen das erste Mal, daß Judith keine Alpträume erlebte. Tief und fest schlief sie dem Morgen entgegen und erschien pünktlich am Frühstückstisch der Eltern. Sie schien sich erholt zu haben, wie die Mutter erfreut feststellte. »Ich habe mit Arno gesprochen«, sagte sie auf die fragenden Mienen der Eltern. »Wir haben uns getrennt. Es war nicht leicht, aber ich fühle mich wie befreit. Ich hoffe, daß auch ihr mit der Situation fertig werdet.« »Wir wollen schließlich dein Glück, Judith«, sagte Frau Helga Lohmann. »Darum werden wir uns damit abfinden. Es fiele uns allerdings leichter, wenn wir deine Gründe wüßten.« Judith verließ achselzuckend das Frühstückszimmer. Wie sollte sie etwas erklären, was sie selbst nicht recht verstand? Waren Alpträume und Todesschreie ein Grund dafür, eine Hochzeit abzusagen? Das Ehepaar Lohmann zog sich in Frau Helgas Salon zurück, um die neuesten Familienereignisse zu besprechen.
»Sie war schon immer ein schwieriges Kind«, seufzte Judiths Mutter. »Sagen wir mal, sie war eigenwillig«, meinte der Vater. »Das ist ja schließlich kein Nachteil, auch wenn es uns heute so scheint.« »Ich wurde oft in die Schule bestellt«, sagte Helga Lohmann. »Judith galt als versponnen, verträumt, in sich gekehrt und verschlossen. Wenn sie sich einmal beteiligte, dann brachte sie sehr gute Leistungen, aber das geschah nicht oft. Sie lebte in einer anderen Welt.« »Sie hatte eine panische Angst vor dem Wasser. Schon aus Sicherheitsgründen wollte ich eine gute Schwimmerin aus ihr machen. Wie oft stürzen Kinder ins Wasser, dann ist es gut, wenn sie sich selbst über kurze Strecken retten können. Aber mit ihr war nichts zu machen. Alle Schwimmlehrer erklärten mir nach kurzer Zeit, daß dieses Kind niemals schwimmen lernen würde, da sie sich zu sehr vor dem Wasser fürchtete«, erzählte Hartmut Lohmann. »Ja, es war schon seltsam«, stimmte seine Frau ihm zu. »Dabei sind wir beide doch ganz passable Schwimmer gewesen. Trotzdem ist es gut, daß wir sie nicht gezwungen haben. Von den wenigen Versuchen war sie ganz verstört.« »Vielleicht hätten wir frühzeitig mit ihr zu einem Kinderpsychologen gehen sollen.« »Das war damals noch nicht üblich, Hartmut. Ich weiß auch nicht, ob sie mehr mit ihr erreicht hätten als wir. Ich denke dauernd darüber nach, was wir wohl falsch gemacht haben«, klagte Frau Lohmann. »Sie hätte ja auch auf uns Rücksicht nehmen können, auf uns und auf ihren Verlobten. Wenn ich nur an das Gerede denke, das jetzt entsteht…« »Kümmere dich nicht darum, Helga. Geredet wird immer. Entweder ist den Leuten die Hochzeit zu prunkvoll, oder zu bescheiden, das Brautkleid finden die einen häßlich und die
anderen schön. Du wirst keine einhellige Zustimmung finden, was du auch tust. Darum solltest du nicht nach der Meinung der Leute fragen.« »Und was tun wir mit der Hochzeitsreise für die jungen Leute? Wir haben zwar eine Reisekostenversicherung, falls die Reise nicht angetreten werden kann. Aber ob eine geplatzte Hochzeit von der Versicherung anerkannt werden wird?« »Bestimmt nicht«, lachte Hartmut Lohmann. »Solche Gründe sind von der Versicherung nicht recht zu kontrollieren. Aber wir sollten Judiths Vorschlag aufgreifen und selber fahren. Das würde uns ein bißchen mit den Ereignissen versöhnen. Wir könnten uns erholen und ein wenig Ruhe von allem Trubel finden.« »Meinst du wirklich?« sagte Helga Lohmann. Ein glückliches Lächeln zog über ihr Gesicht. »Ich spreche heute noch mit dem Reisebüro. Die Umbuchung wird keine Schwierigkeiten machen.« »Aber du steckst doch mitten in der Ernte, Hartmut. Wie kannst du da verreisen?« »Erstens ist der Inspektor da. Im übrigen wird Judith uns vertreten. Auch Ingo, mit seinen sechzehn Jahren, kann eingespannt werden. Für Judith ist Arbeit die beste Medizin. Sie wird keine Zeit zum Grübeln haben. Und wenn wir zurückkommen, sieht alles schon ganz anders aus.« »Ich fange an, mich darauf zu freuen«, sagte Helga Lohmann aufatmend zu ihrem Ehemann. Als Judiths Eltern nach dem Mittagessen den gewohnten Mokka im Salon tranken, konnte Helga schon einiges berichten: »Ich habe heute vormittag bereits mit einem guten Dutzend der geladenen Gäste telefoniert, um sie wieder auszuladen. Es wäre gut, wenn du das am Nachmittag mal übernimmst, Hartmut. Dann weißt du, wie sie reagieren. Es ist das reinste
Spießrutenlaufen. Wir müssen auch alles sonstige abbestellen: Partyservice, Tanzkapelle, Lohndiener, Standesamt, Pfarrer, Zeitungsanzeigen, Privatdrucksachen. Hoffentlich vergessen wir niemanden, sonst rollen am Hochzeitstag die bestellten Torten, Eistorten, der Blumenschmuck, und was weiß ich noch, hier an.« »Vielleicht hast du noch die Listen, die du in Erwartung der Hochzeit aufgestellt hast, Helga. Die kannst du ja jetzt gleich zum Abbestellen nutzen. Wir müssen systematisch vorgehen.« »Du nimmst es ja ziemlich leicht, Hartmut. Für mich ist das alles eine Horrorgeschichte. Aber eines sage ich dir: Wenn Judith demnächst mit einem neuen Bräutigam kommt, dann wird keine große Hochzeit mehr vorbereitet. Noch einmal mache ich dieses Theater nicht mit.« »Ich wünschte, sie käme bald mit einem neuen Mann. Dann wüßte ich doch, daß sie diese Affäre überwunden hat und nicht länger darunter leidet«, sagte Hartmut Lohmann ernst. »Aber sie sollte nicht aus Trotz in eine neue Beziehung rennen. Lassen wir sie in Ruhe. Ich finde, daß sie heute früh schon viel glücklicher aussah, als in den vergangenen Wochen.« »Das stimmt, und das ist mir auch eine große Erleichterung.« Es kam, wie sie es besprochen hatten: Die Eltern Lohmann übernahmen die bezahlte Hochzeitsreise anstelle des jungen Paares. Judith mußte den Vater bei der Ernte vertreten, wobei ihr der jüngere Bruder Ingo tatkräftig zur Hand gehen sollte. Sie stürzte sich mit Feuereifer in ihre Aufgaben. Sie sah darin eine Möglichkeit, sich abzulenken und die Eltern für die entstandenen Aufregungen zu entschädigen. Einen unangenehmen Gang hatte sie noch vor sich: Sie mußte ihren Schulleiter in Burgfeld aufsuchen und um Versetzung an eine andere Schule bitten. »Das verstehe ich nicht, Frau Lohmann. Ich hatte doch den Eindruck, daß Sie sehr gern hier arbeiten. Außerdem können
Sie bei Ihren Eltern im Gutshaus von Lindenthal wohnen. Oder gibt es da Differenzen häuslicher Art?« »Nicht mit meinen Eltern«, sagte sie zurückhaltend. »Sie wollten doch jetzt während der Sommerferien heiraten, nicht wahr? Unseren Kollegen Arno Kallweit. Sehen Sie Probleme, wenn ein Ehepaar im selben Kollegium arbeitet?« »Nicht unbedingt. Bisher habe ich sie nicht gesehen. Aber ich werde Herrn Kallweit nicht heiraten. Wir haben die Verlobung einvernehmlich gelöst. Aber ich möchte ihm nicht täglich begegnen.« »Ich verstehe Sie sehr gut, Frau Lohmann. Da gäbe es aber doch auch die Möglichkeit, daß Herr Kallweit die Schule wechselt. Ich werde mal mit ihm sprechen.« »Es ist allerdings so, daß ich die Verlobung gelöst habe«, sagte sie und wurde rot. »Arno Kallweit wollte die Hochzeit und war sehr betroffen über meinen Entschluß. Es ist nicht recht einzusehen, daß er meinetwegen nun auch noch die Stelle verliert.« »Er verliert ja nichts, er geht nur in ein anderes Dorf. Das kann man einem Junggesellen schon zumuten. Ich darf doch offen sein, Frau Lohmann?« »Ja, natürlich«, sagte Judith und war gespannt, was nun kommen würde. »Wenn ich schon eine Lehrkraft verlieren soll, dann lasse ich lieber Herrn Kallweit gehen als Sie. Vertraulich möchte ich Ihnen sagen, daß Herr Kallweit mehrfach strafversetzt wurde. Er kam aus der Großstadt hierher, weil er in einer kleinen Landschule besser beobachtet werden konnte, und das geschah keineswegs auf eigenen Wunsch.« »Das… das wußte ich nicht«, sagte Judith verlegen. »Aber er hat doch hier zu Ihrer Zufriedenheit gearbeitet, nicht wahr?« »Anfangs ja«, seufzte der Schulleiter. »Aber seine verhängnisvolle Natur kam hin und wieder zum Ausbruch.
Normalerweise ist er ein guter Lehrer und geht einfühlsam mit den Kindern um. Er ist auch klug und weiß sehr viel. Nur leider ist er oft unbeherrscht und verängstigt die Kinder durch seine Wutausbrüche. Gelegentlich hat er sich auch zu Tätlichkeiten hinreißen lassen. Ich habe ihn schon öfter deswegen verwarnt.« Judith dachte an die Szene, die sie mit Arno im Wiesengrund erlebt hatte. Sie wurde abwechselnd blaß und rot. »Das wußte ich nicht«, stammelte sie. »Ich glaube, es ist gut, daß Sie sich noch rechtzeitig von ihm getrennt haben. Es hätte mir leid getan, wenn Sie in dieser Ehe unglücklich geworden wären. Ich kann verstehen, daß Sie nicht mehr mit Ihrem Ex-Verlobten zusammen arbeiten wollen. Ich werde sehen, was sich machen läßt. Einer von Ihnen beiden muß Burgfeld verlassen. Ich hoffe sehr, daß Sie bleiben, Frau Lohmann.« So, das war auch erledigt. Judith war erschöpft, als sie durch die Wiesen nach Haus radelte. Eigentlich war es nicht nett, daß plötzlich alle Leute ihre Verlobung mißbilligten und an ihrem Ex-Verlobten etwas auszusetzen fanden. Als sie sich am letzten Weihnachtsfest so unerwartet mit Arno verlobt hatte, da hatten dieselben Leute sie zu ihrer Wahl beglückwünscht. Aber hätte sie sich damals Kritik gefallen lassen? Bestimmt nicht. Und vielleicht wußten diese Leute damals noch nicht, was sie heute wußten. Nicht einmal ihr Schulleiter hatte sie gewarnt, und der kannte doch Arnos Personalakte. Siedend heiß fiel es Judith ein: Gleich nach ihrer Verlobung hatte sie die ersten Alpträume erlebt und hatte die Schreckensschreie gehört. Warum hatte sie so spät auf diese Alarmzeichen reagiert? Und jetzt, nach ihrer Trennung von Arno, konnte sie endlich wieder ruhig schlafen. War das nicht Beweis genug, daß irgend etwas in dieser Beziehung nicht stimmte? Aber was nur?
Die letzten Ferienwochen verliefen ruhig. Die Eltern riefen gelegentlich aus Norwegen an. Sie verlebten die schönste Hochzeitsreise, die man sich denken kann, so berichteten sie Judith. Die Landschaft sei zauberhaft und das Kreuzfahrtschiff sei ein einziges Schlaraffenland. »Hilft dir Ingo auch bei der Arbeit?« fragte der Vater. »Ein bißchen«, versicherte Judith, »aber ich werde auch sehr gut allein fertig. Ich bin froh, wenn ich beschäftigt bin. Nebenbei fange ich wieder an zu reiten. Auf dem Pferd kann man die verschiedenen Äcker am besten erreichen, und es macht mir wieder viel Spaß. Das Wetter ist gerade richtig, so daß die Ernte prima wird. Paß auf, Vater, ich werde noch eine tüchtige Landfrau!« »Mir soll’s recht sein!« lachte der Vater. »Und je tüchtiger du wirst, um so mehr finden deine Mutter und ich Geschmack am Reisen. Wir werden die reinsten Globetrotter, weil wir zu Haus so gut vertreten werden.« »Das freut mich, Vater. Grüß Mutter von mir.«
*
Als die Sommerferien vorbei waren, kehrte auf Gut Lindenthal das gewohnte Leben wieder ein. Ingo fuhr morgens in die Kreisstadt, wo er ein Gymnasium besuchte. Hartmut und Helga Lohmann waren aus Norwegen zurückgekehrt, beide braungebrannt und guter Dinge. Sie behaupteten voller Überzeugung, daß man erst im reiferen Alter eine Hochzeitsreise so richtig genießen könnte. »Dann macht ihr eben jetzt jedes Jahr eine weitere Hochzeitsreise!« lachte Judith.
Ihr stand die Rückkehr in die Schule bevor. Sie fürchtete die vielen Fragen der Kolleginnen. Aber seltsam: Niemand fragte taktlose Dinge. Arno Kaliweit war nicht mehr in der Schule, er war in ein entferntes Dorf versetzt worden, doch auch darüber schwieg man. Aber dieses Schweigen war allzu auffällig. Judith wußte, daß der Klatsch blühte, kaum, daß sie den Leuten den Rücken kehrte. Sie vermied darum den Kontakt mit den Kollegen. Ins Lehrerzimmer ging sie schon nicht mehr. Sie verbrachte die Pausen in der jeweiligen Klasse, wo sie sich mit den Klassenbüchern oder Zeugnislisten beschäftigte. Auf die Dauer konnte sie so nicht leben. Sie mußte endlich Abstand gewinnen, mußte ein neues Leben beginnen. Aber wie sollte ihr das gelingen, wenn sie in ihrer Umgebung blieb, bei ihrer Familie und den gewohnten Menschen? Hier erinnerte sie jeder Stein an eine Zeit, die so glücklich begann und die so schmerzlich endete. Sollte sie eine Reise machen, wie ihre Eltern sie gemacht hatten? Irgendwohin fahren, wo es andere Leute und eine neue Umgebung gab? Aber Judith war menschenscheu geworden. Sie fürchtete eine neue Enttäuschung. Vor allem aber hatte sie Angst, daß sie wieder die unheimlichen Erlebnisse haben würde, wie vor ihrer mißglückten Hochzeit. Zu Haus konnte sie geheimhalten, was sie bedrückte. In der Einsamkeit ihres Turmzimmers wohnte sie weit entfernt von ihren Eltern und ihrem Bruder. Niemand hörte, wenn sie schrie und niemand merkte, wenn Alpträume ihr die Ruhe raubten. In einem Hotel oder auf einem Kreuzfahrtschiff war das anders. Da würde man schnell auf sie aufmerksam werden. Freilich, seit sie sich von Arno getrennt hatte, waren diese HorrorTräume endlich ausgeblieben. Aber konnte sie sicher sein, alles überwunden zu haben? Sie war hin und her gerissen zwischen ihren Wünschen und ihren Befürchtungen. Das war um so schlimmer, als sie
überhaupt keine Erklärung für ihre Erlebnisse hatte. Sie besorgte sich allerlei Bücher, die von übersinnlichen Phänomenen berichteten. Aber etwas Ähnliches, wie sie es erfahren hatte, war nicht dabei. Allmählich wurde sie Stammgast in Bibliotheken und Büchereien in der Kreisstadt. Die Bibliothekarinnen und Buchhändlerinnen machten sie auf einschlägigen Neuerscheinungen aufmerksam oder holten bereits die entsprechende Lektüre für sie herbei. »Interessieren Sie sich für Esoterik?« fragte eine Buchhändlerin einmal. Judith errötete. »Nein, eigentlich nicht besonders«, wich sie aus. »Ich schreibe an einer psychologischen Arbeit und muß auch auf parapsychologische Erscheinungen eingehen. Ich weiß so wenig über Traumerlebnisse, darum muß ich mich über diese Fragen genau informieren.« »Ein interessantes Gebiet«, meinte die junge Dame. »Ich werde Sie auf die Neuerscheinungen aufmerksam machen.« Und so fuhr Judith jede Woche in die Stadt, um sich die neuesten Bücher anzusehen. Einmal betrachtete sie interessiert die neuen Reisebücher, die die Buchhändlerin gerade ausstellte. Es gab so vieles, was sie noch nie gesehen hatte. Indien, Japan, Neuseeland, Bali, es war verlockend. Aber kaum hatte sie in den Büchern geblättert, als sie sie gelangweilt wieder fortlegte. Nein, das konnte alles noch warten. Sie suchte jetzt etwas anderes, aber was nur? Sie versuchte es einmal in einem Reisebüro und holte sich einen dicken Stapel Prospekte. Aber auch diese verwirrten sie mehr als daß sie sie anzogen. Sie kehrte also wieder zu den Büchern zurück. Dort waren die Reiseziele beschrieben und nicht die Unterkünfte. Wieder einmal suchte sie in ihrer liebsten Buchhandlung nach Reisebüchern. Plötzlich sah sie ein Buch über
Regensburg. Auf dem Titelbild war die steinerne Brücke zu sehen, die sich seit Jahrhunderten über die Donau wölbte. Im Hintergrund sah man den prachtvollen Turm des gotischen Domes. Judith war gefesselt, eigentlich mehr als das. Sie wußte plötzlich, daß sie schon dort gewesen war. Sie kannte bereits alles, jeden Stein, jedes Haus, jede Brücke. Das Bild war ihr so vertraut wie das Gutshaus von Lindenthal. Es war ein Wiedersehen, das sie nicht erwartet hatte. Ohne lange zu überlegen, kaufte sie das Buch. Die Kassiererin fragte: »Sie haben gut gewählt. Soll ich das Buch als Geschenk verpacken?« Als Geschenk? Judith schreckte auf, als hätte sie geträumt. »Nein, nein, das ist nicht nötig. Ich will es gleich selbst lesen.« »Ach, Sie kennen Regensburg? Dann werden Sie Freude an dieser Neuerscheinung haben. Es ist eine zauberhafte Stadt.« »Ja, ich war schon dort«, sagte sie und wußte sogleich, daß das nicht stimmen konnte. Sie war niemals mit ihren Eltern oder allein in Regensburg gewesen. In den Sommerferien, wenn andere Kinder mit ihren Eltern verreisten, mußten die Lohmanns zu Haus bleiben, denn dann war Erntezeit. »Wenn Sie Regensburg kennen, werden die Bilder Sie an eine schöne Reise erinnern«, schwärmte die Buchhändlerin und überreichte ihr das Buch. In einem nahegelegenen Café betrachtete Judith es zum ersten Mal genau. Mit jeder Seite, die sie umblätterte, wurde die Gewißheit in ihr stärker: Sie war schon einmal in Regensburg gewesen, sie kannte alle Gäßchen, Brücken und Kirchen, die in dem Buch abgebildet waren. Nur die neueren Stadtteile, Fabrikviertel, Parks und Dampferanlegestellen, die waren ihr völlig unbekannt. Die Bedienung mußte zweimal fragen, was denn die Dame haben möchte, ehe Judith aufschaute und schließlich einen
Cappuccino bestellte. Sie ließ ihn kalt werden, weil sie sich noch immer mit ihrem Buch beschäftigte und sich nicht davon losreißen konnte. Es war alles so unbegreiflich. Sie erkannte alle Sehenswürdigkeiten wieder, noch ehe sie die erklärende Unterschrift gelesen hatte. Es war, als wäre sie täglich an ihnen vorbeigegangen. Aber genau so sicher wußte sie, daß sie niemals dort gewesen war. Am Abend zeigte sie ihren Eltern das Buch. »Seit wann interessierst du dich für Regensburg?« fragte ihre Mutter. »Mir ist, als wäre ich schon einmal dort gewesen«, sagte Judith. »Nein, nie«, Vater und Mutter sagten es fast gleichzeitig. »Aber es kommt mir alles so bekannt vor«, wagte Judith noch einen Vorstoß. »Du hast vielleicht früher einmal einen Film gesehen oder einen Lichtbildervortrag oder irgendwelche Dias. Und jetzt erinnerst du dich an diese Bilder und meinst, du wärest schon einmal dort gewesen.« »Ich werde in den Herbstferien nach Regensburg fahren«, erklärte Judith zum Erstaunen ihrer Eltern. »Ich habe mir im Reisebüro eine Menge Prospekte geholt, weil ich mir über mein Ziel noch nicht im klaren war. Aber als ich sie durchgesehen hatte, wußte ich, daß das alles nichts für mich ist. Ich will nach Regensburg fahren.« »Ich weiß nicht recht, Judith«, meinte ihre Mutter besorgt, »ob du jetzt schon reisen solltest. Wenigstens nicht allein. Ich würde dir allerdings raten, noch bis zum nächsten Frühling zu warten. Wenn du unbedingt im Herbst reisen willst, dann könnte ich vielleicht mitkommen. Was meinst du?« Judith schüttelte ihren blonden Lockenkopf.
»Heutzutage fahren die Teenager um die halbe Welt. Ich bin erwachsen, beinahe wäre ich auch schon verheiratet. Und da sollte ich nicht mal allein in eine schöne süddeutsche Stadt reisen können?« »Natürlich kannst du das, mein Kind«, sagte der Vater. »Wir machen uns nur Sorgen, weil dein Nervenzustand noch immer labil ist. Du hast dich gut erholt, aber du bist noch nicht wieder die Alte. Sei vernünftig und nimm eine Begleitung mit. Wenn deine Mutter mitkommen will, dann solltest du das akzeptieren.« »Nein!« sagte Judith störrisch. »Das will ich nicht. Ich will herausfinden, wieso ich Regensburg so gut kenne, obwohl ich doch niemals dort war, wie ihr sagt. Ich will mich selbst erkennen. Es gibt so vieles, was ich nicht begreife und was mich unsicher macht. Eine Begleitung könnte da nur stören und mich vom Ziel meiner Reise ablenken.« Da gaben es die Eltern auf, ihr die Reise auszureden. Aber Judith spürte ihren Widerstand. Dabei wußte sie genau, daß sie die Reise machen mußte, genau so, wie sie vor Wochen auf die Heirat mit Arno verzichtet hatte. Es war eine innere Stimme in ihr, die sie zwang, etwas zu tun, was ihre Umgebung erschreckte und was sie selbst auch nicht glaubwürdig begründen konnte. Sie sprach schon bald mit ihrer Freundin Silvia über die Reise nach Regensburg. »Und was versprichst du dir von dieser Fahrt?« fragte Silvia ruhig. »Ich kenne diese Stadt«, erklärte Judith der Freundin. »Mir ist, als hätte ich viele Jahre dort gelebt. Ich kenne die Gassen, die Brücken, die Kirchen. Und doch wird mir immer wieder gesagt, daß ich niemals dort war. Kannst du mir das erklären, Silvia? Ich will die Wahrheit herausfinden, ich will zu meinen Wurzeln zurückkehren.«
»Da du so sicher bist, Bekanntes zu entdecken, solltest du vielleicht wirklich nach Regensburg fahren. Entweder erfährst du dort das, was du die ›Wahrheit‹ nennst, oder du siehst, daß dich Traumvorstellungen genarrt haben. In jedem Falle hast du eine schöne alte Stadt kennengelernt.« »Endlich jemand, der mir zu der Reise rät!« freute sich Judith. »Ja und nein. Ich bin dafür, daß du fährst, aber lieber nicht allein. Ich würde mitkommen, wenn du das willst.« »Allmählich glaube ich, daß ihr mich alle für krank haltet«, ärgerte sich Judith. »Ich werde fahren, aber ich werde allein fahren. Ich gehe auf eine Entdeckungsreise und will nicht jeden Schritt meinen Begleitern erklären müssen, warum ich dies oder das tue. Ich will meiner inneren Stimme folgen und nicht meinen Ratgebern. Versteh mich doch ein wenig. Und nun: Ciao, Silvia!« Damit ließ sie die verdutzte Freundin allein zurück. Sie war entschlossener als je zuvor, aber sie sprach nicht mehr darüber. Insgeheim bereitete sie sich auf ihre Reise vor, um sofort am ersten Ferientag starten zu können.
*
An einem schönen Oktobermorgen war es endlich soweit. Der Himmel war wolkenlos blau, und die Sonne ließ das erste bunte Herbstlaub leuchten. Judith hatte nur eine Reisetasche gepackt und schon am Abend vorher in den Kofferraum ihres Kleinwagens gebracht. Morgens war sie damit noch in die Schule nach Burgfeld gefahren, wo sie noch drei Stunden Unterricht hatte, ehe für Schüler und Lehrer die Ferien begannen.
Sie kehrte nicht mehr nach Haus zurück. Aus einer Telefonzelle rief sie das Gutshaus von Lindenthal an. Zum Glück war ihr Bruder Ingo am Apparat. »Ich möchte Vater oder Mutter sprechen«, erklärte Judith ihm. »Geht nicht«, brummte er. »Die sind nicht zu Haus.« »Dann richte ihnen aus, daß ich erst in zwei Wochen wieder hier bin. Ich möchte eine Reise machen.« »Und ich soll ihnen das sagen?« entrüstete sich Ingo. »Dann kriege ich ihren ganzen Zorn zu spüren, während du in der Weltgeschichte herumgondelst. Hättest du es ihnen nicht selbst sagen können? Wohin fährst du denn überhaupt?« »Nach Regensburg.« »Allein?« »Natürlich allein. Ich brauche keine Begleitung. Bestell den Eltern Grüße von mir. Schöne Ferien!« »Halt, Judith! Leg nicht auf!« »Was ist denn noch?« »Wie wär’s, wenn du mich als Begleitung akzeptierst? Ich rede dir bestimmt nicht rein. Und besser als zu Haus ist die Fahrt auf jeden Fall. Ich packe schnell meinen Rucksack, und in zehn Minuten kannst du mich abholen.« »Nein! Ich will das nicht. Wir können auch nicht weiterreden, ich habe keine Münzen mehr für den Automaten…« Das Gespräch war unterbrochen, und Ingos Reiselust fand keine Zuhörerin mehr. Judith atmete auf. Wie schwer wurde es ihr doch gemacht, ihren Willen durchzusetzen! Mutter und Freundin hatte sie abgewiesen, und nun kam noch ein schwieriger Teenager und wollte mitgenommen werden… Sie ließ alle Gedanken an die Familie zurück und setzte sich in ihren Wagen und startete. Anfangs fuhr sie wie gehetzt, aber langsam fiel alle Nervosität von ihr ab. Zuerst hatte sie oft in den Rückspiegel geblickt, ob auch niemand ihr folgte. Bald
war sie ganz sicher: Sie war allein auf der Straße, sie war frei von allen häuslichen Zwängen, sie konnte ihre Ferien nach Gutdünken verleben. Vielleicht hatte Ingo es »vergessen« ihre Botschaft den Eltern auszurichten. Dann würden sie wohl erst beim Abendessen erfahren, daß sie abgereist war. In einem Landgasthof aß sie zu Mittag. Zum ersten Mal seit Wochen schmeckte ihr das Essen, obwohl es doch nur einfache Hausmannskost war. Dann fuhr sie weiter. Sie genoß die Landschaft, die herbstlich bunten Wälder, die von der Oktobersonne vergoldet wurden. Als sie die Autobahn verlassen hatte, freute sie sich auch über die malerischen Städtchen und Dörfer, die sie durchquerte. Dennoch machte sie nirgendwo Pause. Eine innere Unruhe zwang sie weiterzufahren. Dabei hatte sie das Gefühl, einem Unheil immer näherzukommen. Hätte sie noch umkehren können? Ihrem Schicksal ausweichen? Es ging nicht, sie fühlte sich wie gefangen von einer fremden Macht, die sie auf diesen Weg drängte. Am späten Nachmittag erreichte sie Regensburg, wo sie in einem romantischen Gasthaus ein Zimmer bekam. Alles war anheimelnd und gemütlich, so recht zum Wohlfühlen. Es war wie eine Heimkehr, so heimisch fühlte sie sich sofort. Bestimmt würde sie hier nicht von Alpträumen und Todesschreien verfolgt werden. Ihr war, als hätte sie eine innere Stimme geführt und hierher gebracht. Auch das Gasthaus hatte sie schon gesehen. Sie kannte die weißgescheuerten Tische und die dunklen Eichenbalken an der Decke. Selbst die knarrende Holzstiege, die zu den Gästezimmern führte, war ihr vertraut. Nur die Dusche kannte sie nicht. Man hatte sie wohl erst vor einigen Jahren eingebaut. Damals hat es so etwas noch nicht gegeben, sagte sie sich und fragte sich sogleich, wann denn das Damals
gewesen sein mochte. Vor hundert Jahren? Vor fünfhundert Jahren oder noch früher? Sie aß eine typische Mahlzeit zu Abend: Regensburger Rostbratwürstel mit Kraut und Brot und trank dazu eine Maß heimisches Bier. Wie gut das tat! Sie ging früh ins Bett. Sie schlief wie ein Murmeltier und erwachte erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Das Frühstück war so köstlich wie das Nachtmahl: Es gab knusprige Kaisersemmeln, frische Landbutter, und hausgemachte Konfitüre, dazu duftenden Kaffee. Im Gutshaus von Lindenthal pflegte man auch gut zu essen, aber es schien Judith, als sei es hier besser als irgendwo sonst. Gleich nach dem Frühstück machte sie sich auf den Weg. Sie brauchte niemanden zu fragen, sie kannte sich hier aus. Mit Entzücken wanderte sie durch die verwinkelten Altstadtgäßchen rings um den St. Petersdom. Erstaunt hielt sie inne. Woher wußte sie den Namen des Doms? Hatte sie ihn irgendwo gelesen, ohne sich dessen bewußt zu werden? Die Kirche schien ihr gut bekannt zu sein. Sie war sicher, hier schon manchen Gottesdienst erlebt zu haben. Einiges im Inneren war verändert, aber im Wesentlichen war alles so geblieben wie damals. Damals? Allmählich wurde sie ärgerlich, wenn sie daran dachte. Konnte es sein, daß sie schon einmal hier gewesen war und daß Regensburg ihre eigentliche Heimat war? Konnte man sich so viele Einzelheiten einbilden? Sie suchte verzweifelt nach einer vernünftigen Erklärung für ihre Erlebnisse der letzten Zeit und fand keine. Sie wußte nur, daß sie diese Erklärung nur hier in Regensburg finden würde. Sie war nah an ihrem Ziel. Wahrscheinlich mußte sie nur geduldig weitersuchen. Am Nachmittag wanderte sie wieder durch die Altstadt. Sie freute sich an den vielen winzigen Läden. Bestimmt würde sie hier für die Eltern, für Silvia und Ingo ein hübsches Geschenk
finden. Aber das eilte ihr nicht. Die Straßennamen stammten gewiß aus alter Zeit: »Weißgerbergraben«, das »Gäßchen vom schönen End«, die »rote Herzfleckgasse« und viele andere mehr. In der »blauen Liliengasse« wußte sie es plötzlich: Hier war sie schon viele Male gewesen. In diesem alten Patrizierhaus hatte sie als Kind gelebt. Durch diese Tür war sie aus und ein gegangen, als kleines Mädchen an der Hand einer Magd. Sie kannte alles: Die schöne Renaissance-Pforte mit dem Messingklopfer dran, der sie oftmals aus dem Schlaf geweckt hatte; sie kannte die Sandsteinstufen zur Tür, die in der Mitte von vielen Fußtritten ganz ausgehöhlt waren. Ein letztes Mal war sie am Arm ihres Vaters durch diese Tür gegangen, als er sie zum Traualtar in den St. Petersdom geleitete. Dort wurde sie schon von ihrem Bräutigam Albrecht erwartet, der gleich darauf ihr Ehemann wurde. Damit war ihr Schicksal besiegelt. Er brachte sie auf seine Burg, die sie nie wieder verließ. Sie kam nicht mehr nach Regensburg zurück und nicht in das väterliche Haus in der blauen Liliengasse. Sie wurde von ihrem Mann im Zorn gewürgt und von seinen Knechten ihres Mannes getötet und in den Berggraben geworfen, wo sie elend ertrank. Er hatte sie nie geliebt, nur der Reichtum ihres Vaters hatte ihn gelockt. Für Judith lag die Vergangenheit bisher in tiefem Dunkel. Jetzt zerrissen die Schleier vor ihren Augen. Sie sah etwas, was sie bisher niemals geahnt hatte. Sie war am Ort des Geschehens, alles lag greifbar nah vor ihren Augen. Ein unbeschreibliches Grauen erfaßte sie. Sie schrie laut auf und fiel ohnmächtig zu Boden. Hilfreiche Passanten brachten sie zu einem Arzt. Dieser machte ein bedenkliches Gesicht, doch Judith redete sich mit einem plötzlichen Schwindelanfall heraus.
»Ein solcher Schwindel muß eine Ursache haben. Sind Ihr Herz und Ihr Kreislauf in Ordnung? Hatten Sie schon öfter derartige Anfälle?« fragte der Arzt. »Nein, nie«, antwortete Judith. »Ich kann mir das Ganze nicht erklären. Ich kenne solche Schwächen nicht.« »Sie sind auch eigentlich zu jung dafür«, meinte der Arzt nachdenklich. »Ich schreibe Ihnen ein Medikament auf. Das nehmen Sie, so lange Sie Ihren Urlaub hier verbringen. Außerdem rate ich Ihnen zu Ruhepausen, so oft Sie sich erschöpft fühlen. Zu Hause suchen Sie gleich Ihren Hausarzt auf. Der kennt Sie gewiß schon länger und weiß, wo Sie gesundheitlich anfällig sind. Er kann dann eine gründliche Untersuchung veranlassen.« Judith bedankte sich und ging. Ach, sie kannte die Ursache ihres Ohnmachtsanfalls. Sie hatte einen Blick in ihre eigene Vergangenheit getan und was sie gesehen hatte, hatte sie zutiefst erschüttert. Oder war es eher der Blick in das Leben einer Ahnfrau gewesen? Auch das war möglich. Sie wußte nicht, was hier stimmte, aber sie wußte, daß sie nicht von hier fortfahren würde, ehe sie die ganze Wahrheit erfuhr. Sie ging zu ihrem Gasthof zurück und legte sich erschöpft ins Bett. Sie hoffte auf einen ruhigen Schlaf. Auf ein Abendessen verzichtete sie. Sie verspürte keinerlei Hunger.
*
Am nächsten Morgen nahm Judith an einer Stadtführung teil, die vom Regensburger Verkehrsamt veranstaltet wurde. Sie wollte mehr über die Geschichte der Stadt erfahren und nach Möglichkeit auch etwas über die Bewohner des Hauses Nr. 14 in der blauen Liliengasse. Der Führer ihrer Gruppe erwies sich
als sehr sachkundig. Er war Historiker und arbeitete als Assistent in der Universität. Während der Semesterferien machte er gelegentlich Führungen für das Verkehrsamt. Dr. Achim Wiesner spürte gleich, daß die junge blonde Dame sehr viel wissen wollte. Ihr spezielles Interesse an einzelnen Häusern überraschte ihn jedoch. »Ich wüßte gern mehr über das Haus in der blauen Liliengasse Nr. 14«, sagte sie ihm. »Kann man erfahren, wer dort gewohnt hat, wer die Erbauer und Besitzer waren? Gibt es Literatur dazu?« »Sie haben sich eines der schönsten Häuser herausgesucht, meine Dame. Reinste Renaissance, von einem kunstverständigen und sehr wohlhabenden Bauherrn im 15. Jahrhundert erbaut. Zum Glück hat es die Jahrhunderte fast unbeschädigt überdauert.« »Wissen Sie seinen Namen?« »Es handelt sich um einen reichen Kaufmann, namens Caspar Hagedorn. Die meisten Besucher gehen achtlos daran vorüber. Interessieren Sie sich dafür?« »Ja, sehr.« »Sind Sie Kunsthistorikerin?« »Nein, ich habe eher private Gründe für meine Neugier. Es besteht die vage Möglichkeit, daß unsere Familie ein wenig mit diesen Hagedorns verwandt ist. Können Sie mir bestimmte Bücher zu diesem Thema empfehlen?« »Übermorgen mache ich wieder eine Führung. Wenn Sie Zeit und Lust haben, dann beteiligen Sie sich doch bitte wieder. Ich bringe Ihnen eine Literaturliste mit. Sie können die Bücher in der Stadtbücherei einsehen oder in der Universitätsbibliothek. Auch in Buchhandlungen kann man Ihnen Auskünfte geben. Aber Sie sollten dort nur dann teure Bücher kaufen, wenn sie Ihnen neue Informationen bringen. Schauen Sie sich die Werke also vor dem Kauf gut an.«
»Danke, Herr Dr. Wiesner«, sagte Judith und lächelte. »Ich will mich umsehen. Übermorgen werde ich bestimmt wieder an Ihrer Führung teilnehmen. Übrigens, ich heiße Judith Lohmann und ich habe die Absicht, zwei Ferienwochen hier zu verbringen. Ich habe also genug Zeit, mich über das Haus in der blauen Liliengasse zu informieren.« Dr. Wiesner hielt Wort. Als Judith zur nächsten Führung erschien, überreichte er ihr eine umfangreiche Liste von Regensburger Heimatliteratur. Die bedeutendsten davon hatte er überdies rot angestrichen. »Ich hoffe, daß Ihnen das weiterhilft«, sagte er. Die zweite Führung wurde noch interessanter als die erste. Dr. Wiesner hatte offensichtlich in alten Archiven gekramt und hatte wichtige Bücher gewälzt. Das Haus Nr. 14 in der blauen Liliengasse wurde zu einer Hauptattraktion seiner Altstadtführung. »Caspar Hagedorn war Ratsherr und Kaufmann«, erzählte er. »Um 1460 heiratete er und bekam eine Tochter, die er Griseldis nannte. Seine Frau starb bei der Geburt des Kindes. Caspar hat niemals wieder geheiratet. Die Familie bestand also nur aus ihm und der kleinen Griseldis. Er widmete sich ganz der Erziehung dieser Tochter. Im privaten Bereich hat er also nicht viel Glück gehabt, um so erfolgreicher war er als Geschäftsmann. Er handelte mit Pelzen und Textilien, vor allem aber mit Gewürzen aus Indien, die es in Deutschland nicht gab. Seide beschaffte er sogar aus China, was zu jener Zeit ein waghalsiges Unternehmen war, denn die Waren mußten auf dem Landweg nach Regensburg geschafft werden. Der Seeweg war damals noch nicht gefunden worden. Er wurde sehr reich dabei und konnte sich sogar eines der prächtigsten Häuser seiner Zeit leisten.« »Was wurde aus der Tochter?« fragte Judith.
»Damals gab es noch keine öffentlichen Schulen für Mädchen. Darum ließ Caspar Hagedorn seine Tochter Griseldis privat unterrichten. Er stellte Lehrer für sie ein, die sie im Schreiben, Lesen und Rechnen, in Musik und Handarbeiten unterrichten mußten. Sie war also in ihrer Zeit eine hochgebildete junge Frau. Ihre Schönheit wurde von den Zeitgenossen gerühmt. Und natürlich war sie zu alledem auch das einzige Kind eines sehr reichen Mannes.« »Hat sie geheiratet?« fragte eine Teilnehmerin aus der Gruppe. »Griseldis wäre für alle reichen Kaufmannssöhne der Stadt eine gute Partie gewesen, wie man das heute nennen würde«, erzählte Dr. Wiesner. »Aber ihr Vater hatte große Ziele mit ihr. Sie sollte einen Ritter aus der Gegend heiraten. Doch die jungen Grafen und Freiherrn lehnten ab. Sie wünschten sich zwar eine reiche und schöne junge Frau, aber nicht die Tochter eines Emporkömmlings. Am Ende fand sich doch einer, der bereit war, auch eine Bürgerstochter zu heiraten, der Ritter Cord v. Bärenstein. Er war hoch verschuldet und hatte auch sonst einen schlechten Leumund. Ihn lockte der große Reichtum der Hagedorns, zumal er gerade in einer Geldklemme steckte. Caspar Hagedorn war mit diesem Schwiegersohn zufrieden, weil er ein Ritter war, und Griseldis wurde nicht gefragt.« »Und weiter?« fragte eine Touristin. »Mehr weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich hat Griseldis ihrem Ritter Cord eine Reihe prächtiger Kinder geschenkt und ist später an Altersschwäche gestorben, aber sicher ist das nicht.« Judith biß sich so heftig auf die Unterlippe, daß sie blutete. Sie ahnte, daß es anders war. Aber wie? Sie wußte selbst nichts Genaues und ihre Ahnungen konnte sie nicht beweisen. Auch Dr. Wiesner hatte ja nur Vermutungen geäußert. Sie schwieg
also, nahm sich aber vor, ihre Nachforschungen zu verstärken. Griseldis Hagedorn mußte doch irgendwelche Spuren hinterlassen haben. Dr. Wiesner machte seine Gruppe noch auf einige Besonderheiten aufmerksam, die Judith beim ersten Besuch übersehen hatte. Da war vor allem ein wunderschönes Wappen, das eine blaue Eidechse auf goldenem Grund zeigte. Dieses Wappen stand über einer kleinen Seitentür, die einige Meter vom Haupteingang entfernt in die Mauer eingelassen war. »Sie sehen hier ein Wappen, dessen Bedeutung uns bisher unbekannt geblieben ist. Das Wappen der Hagedorns ist es nicht«, erklärte Dr. Wiesner. »Es könnte das Familienwappen der so früh verstorbenen Ehefrau Caspar Hagedorns sein. Auffällig ist ja auch, daß man es an einer verschwiegenen Seitenpforte angebracht hat. Es könnte auch von späteren Besitzern stammen. Erst kürzlich wurde es renoviert, deshalb glänzt das Gold noch so hell wie am ersten Tag.« »Kann man das Haus besichtigen?« fragte Judith. »Im Augenblick leider nicht«, antwortete Dr. Wiesner. »Es wird zur Zeit im Innern gründlich restauriert, um das ursprüngliche Aussehen wieder herzustellen. Das erfordert viel Zeit. Über den späteren Verwendungszweck ist man sich noch nicht im Klaren. Es ist einiges im Gespräch: ein historisches Restaurant, ein kleines Stadtmuseum, ein Archiv oder eine Kunstgalerie.« »Schade, daß ich nicht genug Geld habe«, seufzte Judith. »Ich würde mitbieten.« »Ich fürchte, daß solche Unternehmungen das Vermögen eines Normalverdieners übersteigen«, lachte Dr. Wiesner. »Und außerdem: Wer will schon in einem Museum wohnen, ohne Strom und fließend Wasser?«
Am Sonntag leistete Judith sich ein Mittagessen im »Bischofshof.« Das Restaurant war gut besucht, so daß Judith Mühe hatte, einen Platz zu finden. Wieder wählte sie ein bayrisches Gericht, denn sie war der Meinung, daß man auf Reisen die landesüblichen Speisen bevorzugen sollte. Semmelknödel gab es und Braten. Dazu, wie konnte es anders sein, ein bayerisches Bier vom Faß. Es schmeckte ihr vorzüglich. Sie stellte sich vor, daß es auch bei Hagedorns Ähnliches gegeben hatte. Als sie einmal hochschaute, blickte sie in ein bekanntes Gesicht. Dr. Wiesner stand neben ihrem lisch und war auf der Suche nach einem freien Platz. Er begrüßte sie mit einem Kopfnicken und suchte weiter. Offenbar war seine Mühe vergebens, denn er kam kurz darauf unverrichteterdinge wieder bei Judith vorbei. »Hallo, Dr. Wiesner!« rief sie ihm zu. »Fehlt Ihnen ein Platz? Dann setzen Sie sich doch zu mir. Ich bin sowieso bald fertig, dann haben Sie den Tisch allein.« Dankbar nahm er ihr Angebot an. Sie hatte ihm zwar versprochen, bald zu gehen, aber da sie unerwartet einen netten Gesprächspartner hatte, dachte Judith nicht daran, so schnell das Feld zu räumen. Vielleicht verzögerte auch Dr. Wiesner ihren Abschied, indem er ihr viele interessante Dinge erzählte. Geschickt vermied er es, das Gespräch abreißen zu lassen, so daß Judith keine Gelegenheit fand, sich zu verabschieden. Es wäre ja unhöflich gewesen, wenn sie ihn abrupt unterbrochen hätte und davongegangen wäre. Warum auch? Sie hatte keine bestimmten Pläne für den Nachmittag. Auch hatte sie noch viele Fragen zur Geschichte der blauen Liliengasse. Dr. Wiesner hatte sich inzwischen eingehend informiert und konnte ihr Auskunft geben. »Cord v. Bärenstein lebte auf einer Burg namens Bärenstein«, berichtete er. »Seine Burg ist heute nur noch eine
Ruine. Der Verfall muß schon kurz nach seinem Tod eingesetzt haben. Sind Sie an Bärenstein interessiert, Frau Lohmann?« »Ja, sehr. Vielleicht gibt es dort noch Spuren dieser Griseldis Hagedorn.« »Durch Ihre Fragen bin ich selbst neugierig geworden. Ich möchte in der nächsten Woche einmal diese Burgruine besuchen. Hätten Sie Lust, mitzukommen?« fragte Achim Wiesner. »Ich kann es nicht auf später verschieben, denn am 15. Oktober beginnt an der Uni das Wintersemester. Dann bleibt mir keine freie Zeit mehr für solche Ausflüge.« »Dann muß ich auch wieder in der Schule sein«, sagte Judith und dachte mit Bedauern an die baldige Rückreise. »Was hat Sie eigentlich nach Regensburg geführt?« Judith druckste. Sollte sie Dr. Wiesner einweihen, sollte sie ihm ihre Erlebnisse erzählen? Oder sollte sie besser schweigen? Dr. Wiesner bemerkte ihr Zögern und sagte: »Ich will nicht neugierig sein, Frau Lohmann. Aber wenn ich da eine wunde Stelle bei Ihnen berührt haben sollte, dann lassen wir das Thema.« »Es kostet mich ein wenig Überwindung«, gab sie zu. »Aber ich sollte Ihnen doch die Wahrheit sagen. Vielleicht können Sie mir dann weiterhelfen.« »Ist Ihnen etwa Griseldis im Traum erschienen?« Die Frage war als Scherz gemeint gewesen, um so mehr verwunderte sich Dr. Wiesner über die Wirkung seiner harmlosen Worte. Judith Lohmann wurde abwechselnd rot und blaß, ihre Lippen zitterten. »Woher wissen Sie das?« fragte sie. »Bitte, beruhigen Sie sich doch. Es sollte nur ein Scherz sein«, sagte Achim Wiesner. »Wie ich sehe, war es kein guter Scherz. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir lassen Griseldis
ruhen und machen noch einen kleinen Stadtbummel. Dabei könnte ich Ihnen die Figuren am St. Petersdom erklären. Anschließend trinken wir irgendwo einen Kaffee. O.K.?« »Ich bin mit allem einverstanden«, sagte Judith und lächelte schon wieder. »Nur mit einem nicht. Wir wollen das Thema Griseldis nicht aussparen. Sie wird uns sowieso nicht in Ruhe lassen. Aber Sie sollen wissen, warum ich so an dieser Frau interessiert bin.« »Gut. Ich höre…« »Ich wollte in den Sommerferien im Juli heiraten. Alles war vorbereitet. Meine Eltern planten eine große Hochzeit. Doch schon Wochen vorher wurde ich von schrecklichen Alpträumen gequält. Er handelte von einer schönen jungen Frau, die von ihrem Mann ermordet wurde. Wahrscheinlich wurde sie ertränkt, denn in meinen Träumen kam immer wieder ein tiefes, unheimliches Wasser vor. Ich fand Tag und Nacht keine Ruhe. Ich nahm die nächtlichen Träume als Warnung vor einer unglücklichen Ehe. Erst, als ich die Verlobung löste, ging es mir wieder besser. Aber ganz beruhigt war ich auch dann nicht. Ich wollte der Sache auf den Grund gehen. Aber wie? Zufällig fand ich in einer Buchhandlung einen Bildband über Regensburg. Zu meiner Überraschung erkannte ich vieles wieder und war doch nie in Regensburg gewesen. Ich beschloß, meine Herbstferien hier zu verbringen. Es mußte doch einen Grund für die Alpträume geben und auch für die unheimliche Erinnerung an eine mir fremde Stadt.« Dr. Wiesner war ein aufmerksamer Zuhörer, aber eine Erklärung für Judiths Erlebnisse wußte er auch nicht. Da sie beide ihre Mahlzeit beendet hatten, verließen sie den »Bischofshof« und bummelten durch die Altstadt. Dr. Wiesner machte sein Versprechen wahr und führte Judith zum Dom, an dem mehrere Jahrhunderte gebaut worden war. Er erklärte ihr heute nur die Figuren an der Westfassade.
»Sie sind in der Zeit von 1411 – 1514 entstanden, als die Baumeisterfamilie Roritzer den Dom vollendete«, sagte er. »Wie üblich, wurden sie von wohlhabenden Bürgern der Stadt gestiftet. Modell für die Figuren waren oftmals Angehörige dieser Familien. Es ist gut möglich, daß Caspar Hagedorn seiner schönen Tochter Griseldis hier ein Denkmal gesetzt hat.« »Weiß man denn, welche Figur dafür in Frage kommt?« fragte Judith interessiert. »Nein, leider nicht. Es muß die Darstellung einer jungen Frau sein. Griseldis wurde um 1461 geboren. Um 1480, noch vor ihrer Hochzeit, müßte die Figur dann entstanden sein. Suchen Sie sich eine aus, die ihren Vorstellungen am besten entspricht.« Judith konnte sich nicht entscheiden. Wie soll man das Modell für eine Statue erkennen, wenn man diese Person nie gesehen hat? »Ich komme morgen mit meiner Kamera hierher. Dann fotografiere ich sie alle und kann sie später immer wieder betrachten«, sagte sie. »Das führt mich vielleicht zu der richtigen Griseldis.« Danach verbrachten Achim und Judith einige Zeit in einem netten, kleinen Café. Als es draußen dunkel geworden war, führte Dr. Wiesner seine Begleiterin in die blaue Liliengasse. Er wollte ihr zeigen, wie schön sie im Licht der schmiedeeisernen Laternen aussah. Er hatte es gut gemeint, aber die Folgen waren schrecklich. Wieder wurde Judith von einem Schreikrampf erfaßt, sie zitterte am ganzen Körper und schmiegte sich schließlich hilfesuchend an die Brust ihres Begleiters. Dr. Wiesner strich ihr leise über das Blondhaar und sprach ihr gut zu, bis sie sich beruhigte. Schließlich hob er ihr Gesicht zu sich empor und küßte sie zärtlich auf die Stirn.
»Entschuldigen Sie!« sagte sie schüchtern. »Ich habe mich wohl dumm benommen. Aber… ich… ich… konnte nicht anders.« »Das habe ich gesehen«, sagte Dr. Wiesner. »Ich weiß jetzt, wie schlimm es für dich ist. Sollen wir einen Notarzt aufsuchen, oder die Ambulanz einer Klinik?« Judith schüttelte ihren Kopf. »Dasselbe habe ich schon einmal in der blauen Liliengasse erlebt«, sagte sie. »Passanten brachten mich zum Arzt, aber er konnte nichts feststellen. Wahrscheinlich bin ich Griseldis begegnet oder ihrem Geist. Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt hätte.« »Mach dir keine Sorgen deswegen«, antwortete Achim und benutzte wie selbstverständlich das vertraute Du. »Aber da scheint es wirklich ein Geheimnis zu geben. Wenn ich kann, helfe ich dir gern bei der Lösung. Ich bin sicher, daß sie in der Vergangenheit liegt.« Sorgsam reichte er Judith seinen Arm und geleitete sie zu ihrem Gasthaus. Noch ehe sie sich von ihm verabschiedete, sagte auch sie Du zu ihm und ließ sich seinen Abschiedskuß gefallen. Sie stellten fest, daß sie einander sehr sympathisch fanden. Oder war es mehr? Bevor sie sich trennten, erinnerte Achim sie an ihren gemeinsamen Ausflug zur Burg Bärenstein für Dienstagmorgen. Am Montag wollte sich Achim Wiesner noch eingehend über das Rittergeschlecht derer v. Bärenstein und über ihre Burg informieren. Er hoffte, noch ein paar interessante Details zu erfahren. Judith freute sich auf den Dienstag. Sie überlegte sogar, ob sie am Montag schon einmal zu einer ersten Besichtigung nach Bärenstein fahren sollte. Sie war ja mit dem Auto nach Regensburg gekommen und war darum nicht auf Dr. Wiesners Fahrzeug angewiesen.
Aber sie wagte es nicht. Sie hatte Angst vor den Erlebnissen, die ihr dort nicht erspart bleiben würden. Dort war die Wahrheit, vermutlich eine schmerzliche Wahrheit. War sie stark genug, das alles allein zu ertragen? Zusammen mit Achim würde es leichter sein. Er würde sie beschützen und ihr die Angst nehmen. Außerdem wußte er mehr über die Burgen der Umgebung und ihre Bewohner als sie. So verbrachte sie den Montag damit, ziellos durch die Stadt zu bummeln und kleine Geschenke für ihre Angehörigen und ihre Freundin zu kaufen. Ansichtskarten schrieb sie ihnen allerdings nicht. Nichtssagende Grüße wollte sie ihnen nicht schicken, und das, was sie wirklich bewegte, konnte sie nicht schreiben. Also ließ sie es ganz. Vielleicht würde sie ihnen später vieles erzählen. Nachmittags steckte sie ihre Nase in eines der Bücher, die Achim Wiesner ihr empfohlen hatte. Aber sie fand wenig Neues über Griseldis Hagedorn und ihren Vater und auch wenig über deren Haus in der blauen Liliengasse. In einem einzigen Reiseführer wurde das Haus Nr. 14 erwähnt als ein prachtvolles Beispiel der Frührenaissance, wie es sich reiche Bürger in Regensburg zu bauen pflegten. Anfangs sei sogar einer der bekannten Regensburger »Geschlechtertürme« dort geplant worden. Der Platz im hinteren Hof des Hauses war dafür schon ausgewählt. Beim Bau der Fundamente stellte sich jedoch ein feuchter Baugrund heraus, vermutlich die Folge einer unterirdischen Quelle. Der Turm konnte darum dort nicht errichtet werden, sehr zum Leidwesen des Bauherrn und ersten Besitzers, Caspar Hagedorn. Es waren alles sachliche Berichte, aber Judith verschlang sie förmlich, als wären sie die spannendste Lektüre. Sie konnte es nicht erwarten, von Achim noch mehr zu erfahren und fieberte dem Dienstag entgegen.
*
Am Ausflugstag herrschte wunderschönes Herbstwetter. Achim Wiesner war pünktlich an Judiths Gasthof, um sie abzuholen. »Ich freue mich!« sagte er ehrlich. »Ich mich auch!« antwortete Judith und strahlte ihn an. »Freust du dich auf den Ausflug oder auf mich?« fragte er. »Ich freue mich auf den Ausflug mit dir!« Unterwegs erklärte er ihr, wo die Burgruine Bärenstein zu finden sei. In Regensburg müsse er die steinerne Brücke überqueren, um dann am nördlichen Donauufer ein kleines Stück weit nach Osten zu fahren. Danach wollte er dem Lauf des Regen folgen, bis sie Nittenau erreicht hätten. Anschließend müßten sie das Regental verlassen, um in Richtung Brück weiterzufahren. Auf halbem Wege dorthin fänden sie auf einem nicht allzu hohen kegelförmigen Berg die Burgruine Bärenstein. Achim zeigte Judith auf einer Autokarte, wie er fahren wollte. Aber sie hatte kaum Augen dafür. Ihr Herz klopfte zum zerspringen. Was würde sie heute erfahren? Was konnte man noch sehen von dem alten Bau? Vielleicht gab es nur ein paar verwitterte Steine zu sehen, die von Schlingpflanzen überwuchert waren. 500 Jahre waren eine lange Zeit, nicht nur für Menschen, sondern auch für ein Bauwerk, das nicht bewohnt wurde. Wenn sie nichts mehr von der alten Burg fanden, dann war alles vergebens gewesen, ihre Reise, Achims Bemühungen, der Streit mit den Eltern, alles… Judith fürchtete auch die Heimkehr, wenn sie mit leeren Händen zurückkehrte. Dann würde man an ihrem Verstand zweifeln, sie der Hysterie
bezichtigen oder sie auslachen. Arno würde nur Hohn für sie haben, falls er je davon erfuhr. Aber vielleicht war die Wahrheit schlimmer und schmerzlicher für sie als ein Mißerfolg. Auch diese Möglichkeit mußte Judith in Betracht ziehen. Sie fühlte sich also hin und her gerissen zwischen Erwartung, Hoffnung und Furcht vor dem Scheitern ihrer Mission. Es war ein Oktobertag wie aus einem Bilderbuch. Die Landschaft war in goldenes Licht getaucht. Doch Judith hatte keine Augen für all die Schönheit ringsumher. Sie hatte Angst. Es war eine Angst, die sich immer mehr steigerte, je näher sie ihrem Ziel kamen. Stumm hockte sie neben Achim auf dem Beifahrersitz. Seine Fragen beantwortete sie einsilbig oder gar nicht. Als sie den Burgberg erreichten, wäre sie am liebsten wieder zurückgefahren. Noch war Zeit zum Fliehen, noch konnte sie Regensburg und seine Umgebung verlassen und nach Lindenthal zurückkehren. Sie konnte weiterleben wie zuvor. Oder doch nicht? »Wir sind am Fuß des Burgbergs von Bärenstein!« verkündete Achim gutgelaunt. »Weiter geht es leider nicht. Es gibt keine Straße nach oben. Wir müssen das Auto hier stehen lassen und auf Schusters Rappen weiterziehen.« Er tat so, als bemerkte er Judiths Verzweiflung überhaupt nicht, und sie war ihm dankbar dafür. Sie wußte ja selbst nicht, warum ihre Unruhe ständig wuchs, je nähe sie ihrem Ziel kamen. Es führte nur ein schmaler Pfad nach oben, dem man ansah, daß sich nur selten jemand hierher verirrte. Dornige Sträucher erschwerten die Wanderung, und unter dem Moos gab es Wurzeln und knorrige Baumstümpfe, die gefährlich werden konnten. Achim schritt voran, damit er Judith davor warnen konnte. Sie folgte ihm mit schwachen Beinen. Sie hatte das
Gefühl, als würde sie bald auf den moosigen Grund sinken, so elend war ihr. Bald wurde der Anstieg steiler, so daß sie öfter Pause machen mußten, um Luft zu schöpfen… Ob wohl Griseldis hier auch gewandert war? Vermutlich war sie diesen Weg mehr als einmal gegangen. Aber sicher war das nicht, denn manche Burgherrinnen blieben oben, wenn sie einmal bis dahin gelangt waren. Ihre Ehemänner pflegten sie gut zu bewachen. Sie duldeten keine Extravaganzen oder gar Ausflüge ihrer Gemahlinnen. Der Weg war zwar nicht weit, aber er war steil und beschwerlich. Judith kämpfte gegen eine unbekannte Schwäche an, sie litt an Atemnot und Herzrasen. Die Dauer des Anstiegs erschien ihr wie eine Ewigkeit, doch in Wirklichkeit waren sie kaum eine halbe Stunde gewandert, als sich der Wald lichtete. Die hohen Bäume wurden seltener, dafür verbreiteten sich Büsche und Stauden im Gelände. Dazwischen lagen verstreute Steinquader und bucklige Pflastersteine. Also doch! Die ganze Burgruine bestand offenbar nur aus einzelnen Steinbrocken, die früher einmal die Mauern gebildet hatten. Es war unmöglich, aus ihnen die Anlage einer Burg zu erkennen. Judith seufzte, sie waren vergebens gekommen. Sie hatte es geahnt. Was sie gefunden hatten, war ein Steinbruch, keine Ritterburg. Aber vielleicht war es gut so. Vielleicht sollte sie froh sein über dies Ergebnis, denn jetzt konnten sie umkehren. Plötzlich stutzte Achim. Er blieb stehen und wandte sich zu Judith um. Mit der Hand wies er auf einen guterhaltenen Turm, der noch etwa 50 m entfernt war. Er stand ein wenig unterhalb einer Bergkuppe, die ihn bisher verdeckt hatte, so daß sie ihn erst jetzt sehen konnten.
Ein einfaches rechteckiges Gebäude aus Bruchsteinen schloß sich an. Es trug kein Dach mehr, nur noch die Außenwände waren erhalten. »Das Schloß deiner Träume, Judith!« sagte Achim und breitete seine Arme aus. »Bitte, tritt ein und nimm Besitz von deiner Burg.« Judith ging nicht auf den Scherz ein, ihr war beklommen zu Mute. Ihr Herz klopfte, und ihr Gesicht wurde blaß. Die ganze Umgebung war von einem Unheil erfüllt, das sie fast greifbar spüren konnte. Es drückte ihr die Kehle zu, so daß sie kaum zu atmen vermochte. Nur noch notdürftig waren die früheren Gebäudeteile zu erkennen. Ein breiter Graben trennte die beiden Wanderer von den Burgmauern. Er war mit grünlichem Wasser gefüllt, ein Anblick, der Judith mit Schauern erfüllte. Vorsichtig beugte sie sich vor. Etwas war in diesem Wasser. Mit einem entsetzlichen Schrei wich die junge Frau zurück. Ihr Gesicht hatte sich fratzenhaft verzerrt im trüben Grün gespiegelt. An einer schmalen Stelle des Grabens führte eine morsche Holzbrücke zu einem verfallenen Tor. Die dicken Mauern gleich hinter dem Graben waren sicher die Umfassungsmauern gewesen, die allen Feinden standhalten sollten, falls sie den Graben überwunden hatten. »Ich gehe voraus auf die Brücke«, sagte Achim. »Ich will probieren, ob sie noch eine Belastung aushält.« »Nein!« sagte Judith entsetzt. »Tu es nicht, Achim. Du könntest in das Wasser stürzen.« Achim Wiesner lachte. »Ich kann schwimmen. Schlimmstenfalls muß ich naß nach Regenburg zurückfahren.« »Und ich? Was wird aus mir, wenn ich ins Wasser falle? Ich kann nämlich nicht schwimmen«, jammerte Judith. »Ich fürchtete mich schon als Kind vor dem Wasser. Jetzt ist es
nicht besser. In meinen Alpträumen habe ich immer dieses grüne häßliche Wasser gesehen.« »Sorg dich nicht, Judith. Ich bin sogar Rettungsschwimmer. Ich hole dich raus, wenn es nötig sein sollte. Aber du kannst auch hier draußen auf mich warten, wenn dir das lieber ist. Dann brauchst du nicht über die Brücke zu gehen. Ich werde dir berichten, was ich gesehen habe.« »Das geht nicht«, lehnte Judith diesen Vorschlag ab. »Ich muß mich selber umschauen. Auch, wenn es mir schwerfällt. Und auch, wenn ich Angst vor diesem Wasser habe.« Achim war schon drüben, als Judith mit kleinen, vorsichtigen Schritten die morschen Bretter überschritt. Aufatmend ließ sie sich am jenseitigen Ufer in Achims ausgebreitete Arme fallen. Hinter der Burgmauer folgte ein leerer Platz, der jetzt von Gras und allerlei Kräutern überwuchert war. »Hier trafen sich die wenigen Landsknechte des Ritters Cord, wenn ein Feind nahte«, erklärte Judith zu ihrer eigenen Verblüffung. Es war, als spräche eine andere aus ihr, eine Frau, die sich hier auskannte. »Und drüben ist der Brunnen, die einzige Wasserquelle der Burg. Die Eimer mußten bis auf den Grund des Berges hinuntergelassen werden.« »Hat das die Burgfrau Griseldis selbst gemacht?« fragte Achim. Es sollte ein Spaß sein, aber Judith antwortete ganz ernsthaft: »Nein, das machte die Magd, sie hat auch gekocht. Manchmal mußten die Landsknechte beim Wasserholen helfen, wenn es der Magd zu schwer wurde.« Mit aller Vorsicht betraten Achim und Judith das innere der Burg. Judith verbarg ihr Gesicht in den Händen und lehnte sich schluchzend an eine der Wände aus groben Feldsteinen. »Vorsicht, Judith!« mahnte Achim. »Hier ist alles baufällig und brüchig. Die Steine halten nur noch aus alter Gewohnheit zusammen. Ein Windstoß könnte sie umreißen, aber auch eine junge Frau, die sich hier anlehnt.«
»Hier leben schreckliche Erinnerungen«, stöhnte sie. »Sie sagen mir, wie sehr Griseldis gelitten hat. Sie hat sich nach Haus gesehnt, nach Regensburg, nach ihrem stolzen Haus in der blauen Liliengasse. Sie sehnte sich nach Menschen und den Gesprächen mit ihnen. Sie wünschte sich, wieder bei ihrem Vater zu sein, der sie immer geliebt hatte. Manchmal, wenn der Wind in den Wipfeln der Bäume rauschte, meinte sie das Glockengeläut von St. Peter zu hören. Aber ihre Sehnsucht erfüllte sich nicht. Griseldis sah ihren Vater niemals wieder. Sie durfte auch die Burg nicht wieder verlassen. Ihr Mann erlaubte es ihr nicht.« »Woher weißt du das alles, Judith?« fragte Achim Wiesner. »Die Bäume sagen es mir und die Steine der Burg. Hörst du nicht, wie sie sprechen? Es ist, als hätten sie nur auf mich gewartet. Vielleicht ist es Griseldis selbst, die mir die böse Geschichte ihres Lebens erzählen will.« »Ich höre nur den Wind, wie er um die Mauern pfeift«, meinte Achim kopfschüttelnd. Die Reste einer Steintreppe führten nach oben. Jetzt endete sie im Nichts, man sah den blauen Himmel über ihr. »Dort oben hatte Griseldis ihre Kemenate. Dort schlief sie, dort hatte sie ihre Träume, ihre Sehnsucht«, sagte Judith, »aber das ist alles vom Wind und vom Regen zerstört worden. Oder Ritter Cord hat die oberen Räume abreißen lassen, damit nichts ihn an Griseldis erinnert.« »Hat sie mit ihrem Mann hier unten gelebt und gewohnt?« fragte Achim. »Hier am Fuß der Treppe war ein großer Raum. An der Wand dort drüben gab es auch einen Kamin, an dem man sich im Winter wärmen konnte. Du siehst noch die rauchgeschwärzten Steine. Er war neben dem Herd in der Küche die einzige Wärmequelle in der Burg. Trotzdem hat die arme Griseldis
immer sehr gefroren hier auf dem Berg, um den die kalten Winde stürmten.« Judith deutete auf einen leeren Platz und sagte: »Hier gab es einen großen Tisch, auf dem die Mahlzeiten von der Magd serviert wurden und davor standen Bänke, auf die sich die Burgbewohner setzten.« »Mahlzeiten?« fragte Achim. »Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Woher kamen die Lebensmittel? Wie sah der Speiseplan aus?« Judith lachte. »Die Ritter hatten oft nichts zu essen. Griseldis kannte das nicht. Im Hause ihres Vaters war der Tisch immer reich, gedeckt. Ritter Cord brachte manchmal einen Hasen mit, den er gejagt hatte. Wenn er Glück hatte, traf er auch mal ein Reh. Sie hatten ein Kräutergärtlein und eine Ziege, aber das war dann auch schon alles. Griseldis war entsetzt, als sie erfuhr, daß ihr Mann ein Raubritter war, und er und seine Landsknechte arme Bauern und Handelsleute ausplünderten. Deswegen gab es oft Streit zwischen den Eheleuten. Mit der Not konnte Griseldis sich abfinden, aber nicht mit dem Unrecht, das hier ständig geschah.« »Seit wann weißt du das alles, Judith?« fragte Achim erstaunt. »Ich wußte es nicht, als ich hierherkam. Aber seit ich hier bin, ist mir, als spräche eine andere aus mir. Ich sehe Dinge, die ich vorher nicht kannte. Jetzt weiß ich auch, warum es mich nach Regensburg gezogen hat und nach Burg Bärenstein. Es ist Griseldis selbst, die hier zu mir spricht. Sie will wohl, daß ich die Wahrheit erfahre. Sie hat auf mich gewartet. Griseldis will endlich Sühne für den Mord. Sie will mir sagen, was geschehen ist. Nach so langer Zeit will sie ihre Ruhe finden.«
Gemeinsam verließen sie die Räume der Burg und umrundeten das gesamte Gebäude. Auf der anderen Seite der Burg stießen sie wieder auf den Graben. Zwischen diesem und den Mauern der Burg war ein schmaler Pfad. Als sie darauf weitergingen, gelangten sie an eine schmale Stiege, die tief unter die Burg führte. Kühle, moderige Luft wehte ihnen entgegen, als sie vorsichtig ein paar Stufen hinabstiegen. »Meinst du, wir könnten dort runtersteigen?« fragte Achim. »Nein!« sagte Judith, und es klang wie ein verzweifelter Aufschrei. »Ich will nicht weitergehen!« »Was ist denn los, Judith?« fragte Achim verständnislos. »Ist dir nicht gut?« »Diese Treppe führt ins Burgverlies. Dort hat Griseldis die furchtbarsten Monate ihres Lebens verbracht.« »Aber warum denn?« »Ich sagte dir ja, daß sie keine Verbindung mehr zu ihrem Vater hatte. Natürlich wartete Caspar Hagedorn auf ein Lebenszeichen seiner Tochter. Und sie hoffte darauf, ihn einmal besuchen zu können. Sie schrieb ihm Briefe, die sie ihrem Mann mitgab, bekam aber nie eine Antwort darauf.« »Vielleicht hat sie sich über ihren Mann beschwert und Cord hat die Briefe gelesen und darum vernichtet«, meinte Achim. Judith schüttelte ihren Kopf. »Cord konnte nicht lesen, er war ein ungehobelter Klotz. Er hat wahrscheinlich die Briefe nie dem Schwiegervater übergeben. Möglich, daß er den Inhalt ahnte und mißtrauisch war. Schließlich schickte Vater Hagedorn einen Boten, einen jungen Nachbarssohn, den er in seinem Kontor beschäftigte. Dieser sollte in Erfahrung bringen, wie es Griseldis erging. Der Bote gelangte auch zur Burg und hatte Glück. Ritter Cord war auf einem seiner Beutezüge. Der Bote konnte also bis zur Burg gelangen und dort ungestört mit Griseldis reden. Aber Cord v.
Bärenstein kam unerwartet früh wieder zurück und fand seine Frau im Gespräch mit einem jungen Mann. Sein Zorn kannte keine Grenzen. Seine Frau wurde ins Verlies gebracht, wo die Wände kalt und feucht waren und wo Ratten und Mäuse herumhuschten. Der Bote wurde nie wieder gesehen, sein Schicksal wurde nicht bekannt. Für Griseldis begann eine furchtbare Zeit. Einmal täglich brachte ihr die Magd Wasser und Brot. Sonst war sie allein mit ihrer Angst.« Der kalte Schweiß stand Judith auf der Stirn. Sie zitterte. Hilfesuchend schmiegte sie sich an ihren Begleiter. Es war, als erlebte sie alle Ängste und Schmerzen der jungen Griseldis selbst noch einmal. »Sollen wir gehen?« schlug Achim vor. »Ich spüre doch, wie es dich belastet. Die Aufklärung der damaligen Vorgänge kann man auch anderen überlassen, die persönlich nicht so eng damit verbunden sind.« Judith schüttelte ihren Kopf. »Es ist meine Aufgabe, und ich werde sie lösen, wenn du bei mir bleibst.« »Natürlich bleibe ich bei dir, Judith. Wir verlassen die Burg erst, wenn du alle Rätsel gelöst hast und wenn du selbst wieder aufbrechen willst. Was geschah weiter mit Griseldis?« »Bald stellte sich heraus, daß Griseldis schwanger war. Sie bat die Magd, niemanden davon zu erzählen, denn sie fürchtete das Mißtrauen ihres Gemahls.« »Und dann?« fragte Achim. »Wollte sie wirklich im Verlies ein Kind aufziehen?« »Sie hoffte wohl auf eine Hilfe, die irgendwoher kommen sollte, vom Vater vielleicht oder von feindlichen Rittern, die Burg Bärenstein erobert und sie befreit hätten. Sie glaubte wohl auch, daß der Bote des Vaters wieder sicher in Regensburg eingetroffen war und dort berichtet hatte. Wie konnte sie wissen, daß Cord die Hunde auf ihn gehetzt hatte
und daß er dann den unliebsamen Zeugen selbst umgebracht hatte? Griseldis hoffte vergebens. Die Monate vergingen, und nichts geschah.« »Hat sie das Kind bekommen?« fragte Achim. »Ja, ein gesundes Mädchen. Durch das Weinen des Säuglings erfuhr der Ritter von der Geburt. Er verdächtigte Griseldis, ihm untreu gewesen zu sein. Er glaubte, daß der junge Bote der Vater des Kindes sei. Bis zuletzt beteuerte Griseldis ihre Unschuld. Nur Cord konnte der Vater sein, so versicherte sie ihm immer wieder. Außer sich vor Zorn würgte der Ritter seine junge Frau, deren leblosen Körper er von seinen Knechten in den Burggraben werfen ließ, wo sie elend ertrank. In höchster Not hatte Griseldis das Kind noch der Magd übergeben können. Diese brachte es zu Verwandten in ein Nachbardorf, wo es bei einer jungen Bäuerin aufgenommen und aufgezogen wurde. Das ist die Geschichte der schönen Griseldis.« »Schrecklich!« sagte Achim. »Und jetzt spukt sie bei jungen Frauen herum und warnt sie vor der Ehe. Warum hat sie gerade dich erwählt? Du warst doch noch nie hier. Außerdem liegen fünfhundert Jahre zwischen deinem Geburtsjahr und dem der Griseldis Hagedorn.« »Das weiß ich auch nicht, Achim. Noch nicht. Ich glaube, man kann das Rätsel nicht mit dem Verstand lösen. Man muß sein Herz für die arme unschuldige Rittersfrau sprechen lassen. Griseldis will ihre Ruhe finden, das hat sie gesagt.« »Normalerweise bedeutet das, daß sie ein ehrliches Begräbnis wünscht. Kann es sein, daß Ritter Cord seine Frau nie beerdigen ließ?« »Ihm ist alles zuzutrauen.« »Dann müssen wir weiter suchen. Vielleicht finden wir doch noch Spuren der Unglücklichen.«
Wenn Judith vor ihrem Ausflug mit Achim noch schwankend gewesen war, so war sie nach der Besichtigung der Burgruine ganz sicher geworden. Ja, das war Burg Bärenstein, dort war der Raum, wo die schöne Griseldis mit ihrem Gemahl zu speisen pflegte, dort draußen die schmale Treppe, die zum Burgverlies hinab führte und dort der Burggraben, in dem die Schwerverletzte Burgherrin ertrank. Ihr letzter sehnsüchtiger Gedanke hatte ihrem Kind gegolten. Judith wußte jetzt alles wieder, was damals vor fünfhundert Jahren hier geschah. Hörte sie Griseldis sprechen, oder war sie selbst Griseldis? Sie war in die Rolle einer Verstorbenen geschlüpft, oder diese war als Judith Lohmann wieder erschienen, um den Ritter Cord anzuklagen. Aber gab es das, daß Tote in anderer Gestalt in die Welt der Lebenden zurückkehrten?
*
»Weißt du, wo Griseldis begraben wurde?« fragte Dr. Wiesner seine Begleiterin. Offenbar glaubte auch er an Judiths früheres Leben. Sie konnte es ihm nicht auf Anhieb sagen. Griseldis war ja tot gewesen, als man sie dorthin geschleppt hatte. Nach langem mühsamen Suchen fanden sie ein verborgenes Gewölbe, dessen Eingang durch allerlei Gestrüpp fast verdeckt war. Und wirklich, in einem Winkel fanden sie menschliche Gebeine, die offenbar schon sehr alt waren. Sie mußten einer zierlichen Person, wahrscheinlich einer jungen Frau gehört haben. »Was nun?« fragte Judith ängstlich. Dr. Wiesner überlegte. Waren hier die Archäologen zuständig oder die ganz normalen Leichenbestatter, oder war das eher ein Fall für die Mordkommission? Auch war er nicht sicher, ob die
Tote wirklich Griseldis Hagedorn war. Als Achim mit der Taschenlampe die Höhle ausleuchtete, funkelte etwas an den knöchernen Fingern der Toten auf. Judith wandte sich ab, aber Achim untersuchte den Fund. Es war ein schmaler Goldring mit einem Wappen darauf: Auf goldenem Grund eine blaue. Eidechse, die aus kleinen blauen Edelsteinen zusammengesetzt war. Das Wappen von der blauen Liliengasse. Nur die schöne Griseldis konnte ihn getragen haben. »Schau mal, Judith. Was ich gefunden habe! Es gibt nun keine Zweifel mehr. Diese Tote ist Griseldis, die Frau des Ritters v. Bärenstein und die Tochter Caspar Hagedorns. Sie hat dich hierhergeführt, weil sie ein ordentliches Begräbnis wünscht. Sie hat dich aber auch vor einer verhängnisvollen Heirat gewarnt. Warum sie gerade dich warnte und viele andere junge Mädchen in eine unglückliche Ehe laufen läßt, wer weiß das schon?« An diesem Tag hatten Judith und Achim viele Rätsel lösen können, und doch war noch vieles unklar. Ratlos kehrten sie nach Regensburg zurück. »Wie konnte Ritter Cord seine Frau umbringen lassen, ohne dafür vor Gericht gestellt zu werden?« fragte Judith ihren Begleiter auf der Rückfahrt. »Und wieso wurde in Regensburg gar nichts über das Schicksal seiner früheren Bürgerin bekannt?« »Das ist schwer zu sagen. Vielleicht wurde ihm ja wirklich der Prozeß gemacht, wer weiß das schon. Aber damals gab es keine Zeitungen und sonstige Medien. Was sich in anderen Städten ereignete, wurde schon in Nachbarorten nicht immer bekannt. Griseldis hatte die Stadt nach ihrer Heirat verlassen, und darum war in Regensburg das Interesse an ihrer Person erloschen. Nicht einmal ihr Vater erfuhr, wie es ihr als Rittersfrau erging.«
Judith und Achim trennten sich gleich nach ihrer Ankunft in Regensburg. Sie waren beide erschöpft von den Anstrengungen des Tages. Sie hatten beide ihre Nachtruhe verdient, so meinten sie. Aber noch war der Tag nicht vorbei.
*
Am Abend telefonierte Judith mit ihrer Freundin Silvia. »Lebst du noch?« fragte Silvia ein wenig spöttisch. »Fast hätte ich eine Vermißtenanzeige aufgegeben.« »Es hat sich so vieles hier ereignet.« »Hier auch. Denk mal, dein Vater ist mit dem Traktor verunglückt. Deine Mutter hat sehr geweint, vor allem, weil sie deine Adresse nicht wußte und dich nicht benachrichtigen konnte.« »Ist… ist es lebensgefährlich?« fragte Judith besorgt. »Anfangs bestand Lebensgefahr. Aber inzwischen hat sich der Zustand deines Vaters stabilisiert. Ich glaube, du solltest nach Haus kommen.« »Gleich morgen früh fahre ich hier ab. Ich werde zuerst zu meinem Vater fahren. In welchem Krankenhaus finde ich ihn?« Silvia nannte der Freundin die Klinik und die Station, in der Hartmut Lohmann behandelt wurde. »Soll ich deinen Vater oder deine Mutter von deinem Kommen informieren?« fragte Silvia. »Oder willst du sie überraschen?« »Ich glaube, das wäre nicht gut, bei allen Aufregungen auch noch solche Überraschungen. Ich rufe selbst bei meiner Mutter an. Die kann entscheiden, ob mein Vater auf mich wartet und froh ist, wenn ich komme. Vielleicht sollte ich mich erst nach
meiner Ankunft bei dem Pflegepersonal erkundigen, ob ich ihn besuchen darf.« »Und wie geht es dir, Judith? Hat dir die Reise alles gegeben, was du davon erwartet hast?« »Ja… ich glaube schon. Ich habe viel Neues erlebt und ich verstehe mein Verhalten Arno gegenüber ein wenig besser. Regensburg ist eine bezaubernde alte Stadt, und die Umgebung ist ebenso schön. Man kann sich mühelos in längst vergangene Zeit zurückversetzen.« »Aber so allein? Da macht es doch kein Vergnügen.« »Ganz allein bin ich nicht«, lachte Judith. »Hier gibt es auch Menschen. Aber jetzt will ich Schluß machen. Ich will noch mit meiner Mutter sprechen. Ciao!« Damit hängte Judith auf und wählte die Nummer vom Gutshaus Lindenthal. Ihre Mutter war sofort am Apparat. »Endlich! Judith, ich warte verzweifelt auf eine Nachricht von dir. Vater ist verunglückt. Anfangs glaubte man, man müsse ein Bein amputieren, aber das ist zum Glück nicht mehr erforderlich. Sein Kreislauf ist auch wieder stabil, wir haben jetzt wieder Hoffnung.« »Ich starte gleich morgen früh, Mutter. In fünf Stunden kann ich bei euch sein. Das heißt, ich werde erst Vater im Krankenhaus besuchen. Danach komme ich nach Hause.« »Wir waren… etwas unangenehm berührt, weil du dich so heimlich davongemacht hast«, sagte Frau Helga Lohmann vorwurfsvoll zu ihrer Tochter. »Es war ein plötzlicher Entschluß. Ich hatte Ferien, warum sollte ich sie nicht nutzen? Schließlich waren meine Sommerferien alles andere als erholsam. Aber das können wir alles später besprechen. Bis morgen, Mutter!« »Bis morgen, mein Kind!« Judith legte auf, ehe sie die Mutter mit einer respektlosen Bemerkung ärgern konnte. »Mein Kind« hatte Mutter gesagt.
Aber Judith war längst kein Kind mehr. Sie hatte einen Beruf, in dem sie Befriedigung fand und selbst nach Meinung ihrer Vorgesetzten recht tüchtig war. Sie hatte auch schon eine Verlobung hinter sich und wäre sogar verheiratet, wenn sie sich nicht selbst aus dieser Verbindung befreit hätte. War man da noch ein Kind? Es war eine Frage, die sie nach ihrer Rückkehr klären mußte. Aber das war eine spätere Sorge. Erst einmal mußte sie sich um den verletzten Vater kümmern.
*
Judith sagte ihrem Wirt, daß sie leider am nächsten Morgen wieder abreisen müsse. Dann packte sie vorsorglich schon ihre Reisetasche. Danach rief sie Achim an, um sich von ihm zu verabschieden. »Wir können uns nicht mehr sehen, Achim. Mein Vater hatte einen Unfall, er liegt im Krankenhaus und wartet auf mich. Ich will morgen ganz früh losfahren. Es war schön, dich kennenzulernen. Vielen Dank auch für den Ausflug zur Ruine Bärenstein. Er hat mir viele Erkenntnisse gebracht.« »Mir auch, Judith«, sagte Achim Wiesner. »Vor allem die eine: Daß ich dich unbedingt heute abend noch sehen will. Es ist unser Abschied, Judith. Wir können doch nicht so sang- und klanglos auseinandergehen. Ich weiß eine nette kleine Weinstube, wo wir eine Flasche guten Pfälzer bekommen. Was meint du?« »Es klingt verlockend, Achim. Holst du mich ab?« »In einer Viertelstunde bin ich bei dir.« Er hielt Wort. Es dauerte nicht einmal eine Viertelstunde, bis Achim sich bei ihr meldete.
»Da bin ich«, sagte er einfach. »Ich hatte voller Sehnsucht an dich gedacht, als das Telefon läutete. Wie schön, dann deine Stimme zu hören! Es ist natürlich bitter, daß du abreisen mußt, aber auf diese Weise treffe ich dich noch an diesem Abend.« »Und was wird morgen und übermorgen und in der nächsten Woche?« »Dann werde ich leiden vor lauter Sehnsucht und werde wünschen, daß du an meiner Tür klopfst. Vielleicht erfüllt eine gute Fee ja mal meine Wünsche.« Es war schon dunkel draußen. Die Laternen brachten nur wenig Licht in die engen Gassen. Achim legte seinen Arm um Judiths Schulter, als wollte er sie beschützen vor allerlei unheilvollen Geistern, die in den Ecken und Winkeln hausen mochten. Sie schmiegte ihren Kopf an seine Brust. »Wohin führst du mich?« fragte sie. »Gleich sind wir da.« Die Weinstube lag im Keller eines alten Hauses. Man mußte ein paar Stufen hinabsteigen, um an die Eingangstür zu kommen. Drinnen gab es die üblichen weißgescheuerten Tische. Auf jedem flackerte eine kleine Petroleumlampe und gab ein behagliches Licht. In einem offenen Kamin knisterte schon ein Holzfeuer und verbreitete eine angenehme Wärme. »Gefällt’s dir?« fragte Achim. »Es ist wunderbar. Es entspricht genau meiner Stimmung.« Achim bestellte den versprochenen Pfälzer Wein und zwei Portionen Donau-Zander dazu. »Magst du Fisch?« fragte er seine Begleiterin. »Das fragt man eigentlich, ehe man bestellt!« lachte sie. »Aber keine Sorge: Ich mag Fisch. Wir haben zu Haus einen Fischteich mit Karpfen und Schleien. Forellen gibt es im Bach.«
»Wenn du ihn nicht gemocht hättest, dann hätte ich zwei Portionen gehabt«, lachte Achim. »Aber was habt ihr eigentlich alles?« »Ein großes Gutshaus, Reitpferde, viel Land, eine Jagd. Die Fischwasser erwähnte ich ja schon. Aber was wir, das heißt, was ich nicht habe: einen eigenen Willen. Meine Mutter hat heute noch ›mein Kind‹ zu mir gesagt.« »Vielleicht sollte das Kind sich eine eigene Wohnung nehmen. In Regensburg zum Beispiel. Und sollte sich eigene Freunde suchen.« »So etwas habe ich ja schon einmal versucht und habe Schiffbruch damit erlitten. Damals hat sich Griseldis eingemischt und hat mich gewarnt…« »Wobei wir wieder bei Griseldis wären. Eigentlich ist es dein ›Fall‹, ich habe dich nur zur Burg Bärenstein begleitet. Aber wenn du morgen früh fortfährst, dann muß ich ja wohl die Sache regeln und muß mich um die Beerdigung kümmern. Ich weiß zwar nicht, wer für Leichen aus dem 15. Jahrhundert zuständig ist, aber ich werde es schon herausfinden. Wir können Griseldis ja nicht einfach dort liegenlassen.« »Auf gar keinen Fall!« ereiferte sich Judith. »Sonst würde ich keine Ruhe vor ihr haben.« Der Wirt brachte den Wein in Steinkrügen und schenkte jedem ein. »Die zwei Portionen Zander kommen auch gleich«, versprach er. »Wohl bekomm’s!« Sie tranken einander zu. In ihren Augen las Achim mehr, als ihm ihr Mund verriet. »Auf dein Glück!« sagte er. »Vielleicht komme ich in deinem Glück ja auch ein wenig vor. Ich meine, daß dein und mein Glück eigentlich unser Glück wäre.«
»Mag sein«, sagte Judith und wurde rot. »Wenn mein Vater gesund wäre, dann könnte ich jetzt wirklich sehr glücklich sein.« »Aber wenn er gesund wäre, dann hätten wir uns heute abend nicht mehr getroffen und wir hätten keine Gelegenheit gehabt, voneinander Abschied zu nehmen. Weißt du nicht, daß man gerade beim Abschied sein Herz öffnet und das sagt, was man sonst noch nicht aussprechen mag?« »Nein, das wußte ich nicht. Aber du kannst recht haben. Weil man weiß, daß es morgen keine Fortsetzung gibt, da wagt man sich weiter aus seinem Schneckengehäuse heraus.« »Wer sagt denn, daß es keine Fortsetzung gibt?« entrüstete sich Achim. »Ein Abschied ist etwas Endgültiges. Meistens gibt es die Fortsetzung nicht.« »Du bist so pessimistisch, Judith. Warum sollen wir uns nicht wiedersehen? Du bist schon einmal nach Regensburg gekommen, warum sollst du es nicht noch ein zweites Mal tun?« »Und wenn mich Griseldis wieder warnt?« »Vor mir? Warum sollte sie? Ich werde ihr ein SuperBegräbnis besorgen. Sie wird mir ewig dankbar sein und dir nicht wieder abraten. Aber wenn dir die Fahrt zu weit ist, dann könnte ich dich ja auch besuchen, dich und die Pferde und die Fische, und alles, was du sonst noch hast.« »Ich habe gar nichts, Achim. Das Gut gehört meinem Vater, mein Bruder Ingo wird es erben. Ich darf dort wohnen, werde versorgt und darf alles benutzen. Und wenn ich mich verloben will, dann haben meine Eltern Einwände. Sollte ich aber diese Verlobung wieder lösen, dann sind sie auch nicht zufrieden.« »Ich darf dich erinnern, daß auch Griseldis etwas gegen diese Heirat hatte.«
»Laß Griseldis aus dem Spiel«, sagte Judith energisch. »Das ist etwas ganz anderes. Kümmere dich um ihre Beisetzung. Wenn ich kann, komme ich dafür sogar nach Regensburg.« Als der Zander kam, verstummte ihre Unterhaltung für eine kurze Zeit. Zum kühlen Pfälzer Wein schmeckten die frisch gesottenen Fische ausgezeichnet. Judith merkte jetzt erst, wie hungrig sie gewesen war und aß mit gesundem Appetit. Und dann kam die Abschiedsstunde. Judith hatte sich bemüht, diesen Zeitpunkt noch ein wenig hinauszuschieben, aber es half ja nichts. Sie mußte schon früh am Morgen Regensburg verlassen, wenn sie ihren Vater noch am Nachmittag im heimischen Kreiskrankenhaus besuchen wollte. Und sie mußte vorher noch ein wenig schlafen nach den Aufregungen und Anstrengungen des Tages. Achim? Die Trennung tat ihr weh. »Schreibst du mir?« fragte sie aus diesem Gedanken heraus. »Ich wüßte doch gern, wann und wo man Griseldis beisetzt. Ob ich kommen kann, das weiß ich nicht. Ich will’s versuchen.« »Und wie es mir geht, das interessiert dich nicht?« fragte Achim. »Doch sehr. Wie kannst du nur so etwas fragen? Vielleicht komme ich einmal zu einem verlängerten Wochenende hierher. Aber ich würde mich auch über einen Besuch bei uns auf Gut Lindenthal freuen.« »Ich denke mal darüber nach, Judith. Aber ich weiß jetzt schon, daß ich dich bald wiedersehen will.« Der Weg von der Weinstube bis zu Judiths Hotel dauerte für einen normalen Fußgänger höchstens fünf Minuten. Judith und Achim brachten das Kunststück fertig und dehnten ihn auf fünfzig Minuten aus.
Sie hatten sich so viel zu sagen und küßten sich viele, viele Male. Wieder und wieder beteuerten sie einander, wie sehr sie sich liebten. Arno? Judith dachte flüchtig an ihn, aber dann wandte sie sich wieder Achim zu. Arno war Vergangenheit, an die sie nicht mehr erinnert werden wollte. Sie hatte sich in ihm geirrt, aber dieser Irrtum hatte nicht zu einem lebenslangen Unglück geführt. Achim hingegen war Gegenwart. Vielleicht auch Zukunft? Judith wünschte es sich sehr. Aber dieses Mal wollte sie nichts erzwingen, sondern geduldig abwarten, wie sich ihre Beziehung entwickelte. Möglicherweise gab ihr ja auch Griseldis Hagedorn wieder einen Tip. Sie seufzte. »Woran denkst du, Judith?« fragte Achim. »An uns und an die seltsamen Umstände, die uns zusammengeführt haben. An Griseldis und ihr Schicksal. An ihre Warnungen.« »Hat sie dich auch vor mir gewarnt?« »Nein, das hat sie nicht.« »Da bin ich aber froh«, lachte Achim. »Weißt du, was ich gerade dachte?« »Nein.« »Daß ich dich sehr, sehr lieb habe. Du bist wie Griseldis, aber du bist lebendig, du kannst lachen und weinen. Ich kann dich küssen und du erwiderst diese Küsse. Deine Lippen sind rot und warm und nicht kalt und bleich.« »Die arme Griseldis! Gewiß ist sie auch nicht gern so früh gestorben«, sagte Judith mitfühlend. »Aber was kann sie dafür, wenn ihr Vater so ehrgeizig war und ihr Ehemann so geldgierig!« »Lassen wir sie ruhen«, sagte Achim, »und kehren wir in unser Jahrhundert zurück. Denk an mich, wenn du in deiner Heimat bist, Judith, und schreib mir mal.«
»Versprochen!« sagte sie und wischte sich verstohlen ein paar Tränen aus den Augen.
*
Das schöne Herbstwetter war vorbei. Judith hatte auf der ganzen Rückreise graues Regenwetter. Er schlug ihr gegen die Windschutzscheibe und bedeckte die Rückspiegel. Aber dieses Wetter entsprach ganz ihrer Stimmung. Der Abschied von Achim war ihr schwergefallen. Wie gern wäre sie noch ein paar Tage mit ihm zusammengeblieben! Gemeinsam hätten sie Regensburg erobert, hätten Ausflüge in die Umgebung gemacht und wären einander nähergekommen. Judith haderte mit ihrem Schicksal, wenn sie auch einsah, daß ihr Platz jetzt daheim bei den Eltern war. Sie hatte noch eine Woche Ferien und konnte entweder in dieser Zeit ihre Mutter im Gutshaus und in der Wirtschaft vertreten, damit diese den Vater besuchen konnte, oder aber sie konnte selbst im Krankenhaus vorsprechen, während Mutter daheim blieb. Wahrscheinlich würden sie einander abwechseln mit Krankenbesuchen und häuslichen Pflichten. Unterwegs quälte Judith sich mit der Frage, wie sie ihren Vater antreffen würde. Er war solch ein aktiver Mensch, der nie unter Krankheiten gelitten hatte. Wie sollte er sich abfinden mit einem langen Krankenlager und mit mühsamen Gehversuchen? Wie konnte sie ihn, der doch von Natur aus ungeduldig war, zu der notwendigen Geduld bringen? Wahrscheinlich würde er ihr auch Vorwürfe machen wegen ihrer heimlichen Abreise. Aber das mußte sie hinnehmen.
Vielleicht konnte sie ihn auch von der Notwendigkeit überzeugen. Aber wie? Sie näherte sich ihrer Kreisstadt und damit auch dem Krankenhaus, das am Stadtrand lag. Sie parkte ihren Wagen und besorgte einen schönen Herbststrauß, den sie dem Vater mitbringen wollte. In der chirurgischen Station erkundigte sie sich im Schwesternzimmer nach dem Befinden des Patienten. »Kann mein Vater Besuch empfangen?« fragte sie. »Ja, natürlich. Sind Sie die Tochter? Ihr Vater hat schon nach Ihnen gefragt.« Und dann stand sie an seinem Bett. Unwillkürlich schossen ihr Tränen in die Augen. Sie hatte ihn noch in Erinnerung, wie er am Tag vor ihrer Abreise war: Vital, stattlich, mit sonnengebräunter Haut und blitzblanken Augen, aus denen immer der Schalk lachte. Seither war gerade eine Woche vergangen, und was war aus ihm geworden! Mit bleichem Gesicht lag er in den weißen Kissen, die Augen waren geschlossen. Unruhig fuhren die wächsernen Finger über die Bettdecke, während das verletzte Bein in einem Gestell hing. »Vater!« schluchzte Judith. Ein Lächeln zog über Hartmut Lohmanns Gesicht. »Du bist gekommen, Judith«, flüsterte er, kaum hörbar. »Ja, ich bin hier. Seit gestern abend weiß ich, daß du einen Unfall hattest. Gleich heute morgen bin ich in Regensburg abgefahren. Gefallen dir die Blumen?« fragte sie. Er nickte. »Bleibst du in Lindenthal?« »Ja, natürlich, Vater.« »Ich glaube, daß Mutter deine Hilfe braucht. Versuche, sie ein wenig zu trösten, ja? Wir müssen diese schwierige Zeit gemeinsam überstehen.« »Ich werde mir Mühe geben, Vater. Eine Woche dauern meine Herbstferien noch, dann muß ich wieder in die Schule
gehen. Aber auch dann bin ich ja zu Haus. Ich denke, daß wir, Mutter und ich, dich abwechselnd besuchen können, damit du täglich Besuch hast. Ingo wird bestimmt auch kommen.« Judith sah, daß ihr Vater am Einschlafen war. Auf Zehenspitzen verließ sie das Krankenzimmer, um ihn nicht zu stören. Dann fuhr sie die wenigen Kilometer nach Lindenthal, wo ihre Mutter sie schon erwartete. Schweigend umarmten sich Mutter und Tochter. »Warst du schon im Krankenhaus, Judith?« fragte Helga Lohmann gleich nach der Begrüßung. »Ja, ich komme von Vater«, antwortete Judith. »Wir haben ein paar Worte gewechselt, doch dann schlief er ein. Er ist wohl noch sehr mitgenommen.« »Ja, so ist er schon seit dem Unfall«, seufzte Frau Helga. »Die Ärzte sind allerdings zufrieden mit ihm. Mehr könnte man im Augenblick noch nicht erwarten. Aber sie kennen ihn ja auch erst seit dem Unfall. Ich weiß aber, wie er noch wenige Stunden zuvor war. Außerdem bekommt er Schmerzmittel, darum wirkt er manchmal so schläfrig. Komm erstmal rein, Judith. Der Teetisch ist in meinem Salon gedeckt.« Es war wie immer. Der kleine Salon war mit wertvollen alten Biedermeiermöbeln ausgestattet. Alte Stiche hingen an den Wänden. Auf dem Tisch standen die Meißner Teetassen und eine Schale mit hausgemachten Teegebäck. So pflegte ihre Mutter schon seit Jahren die Teestunde vorzubreiten. »Ich habe Vater gesagt, daß ihn täglich eine von uns besuchen wird. Wir können uns bei den Krankenbesuchen und mit der Hausarbeit abwechseln. Es ist dir doch recht so, Mutter?« »Und wenn deine Schule wieder anfängt?« »Dann werde ich Vater am Nachmittag besuchen. Wenn du zu ihm fährst, dann versorge ich den Haushalt. Es wird schon gehen.«
»Kannst du dich nicht beurlauben lassen, Judith? Schließlich könntest du ja auch selbst einmal krank werden.« »Das kann ich nicht, Mutter. Ich bin berufstätig und muß meine Arbeit tun. Wir sind nur wenige Lehrer im Kollegium. Da ist es schwer, einen Kollegen zu vertreten. Ich kann nicht einfach fehlen.« »Und vorige Woche? Wie war denn das? Da hast du mich mit der ganzen Arbeit allein gelassen.« »Mutter, es war mein Urlaub. Vaters Unfall war ein Unglück, wir konnten ihn nicht vorhersehen. Ich bin ja auch gleich zurückgekommen, als ich davon erfuhr. Aber nachdem die Sommerferien einigermaßen verkorkst waren, hatte ich wohl Anspruch auf ein paar Tage Ferien.« »Wie ein Dieb in der Nacht hast du dich davongeschlichen, Judith. Findest du das richtig?« »Vielleicht war es falsch. Aber ich bin erwachsen und bin berufstätig. Kann ich da nicht selbst entscheiden, wie ich meine Ferien verbringe? Vielleicht sollte ich mir wirklich eine Wohnung am Arbeitsplatz suchen. Dann stellen sich solche Fragen gar nicht. Ich käme dann nur noch besuchsweise nach Haus. Niemand würde sich noch darum kümmern, was ich mit meiner freien Zeit mache. Man hat es mir schon vorgeschlagen.« »Und du willst wirklich ausziehen?« fragte die Mutter entsetzt. »Du läßt mich allein mit der ganzen Arbeit in diesem großen Haus? Du weißt, wie schwer es ist, Personal zu kriegen.« »Bislang wollte ich es nicht. Ich wollte nur meine Ferien einmal privat nutzen. Wenn das nicht möglich ist, dann muß ich mir doch wohl eine eigene Wohnung nehmen.« »Ich kenne dich nicht wieder!« klagte Frau Lohmann. »Du bist völlig verändert, seit du aus Regensburg zurück bist.«
»Das sind ja erst wenige Stunden, Mutter. Ja, vielleicht hat mich die Reise verändert.« »Ich weiß nicht, wie du gerade auf Regensburg verfallen bist. Kennst du da jemanden?« »Als ich hinfuhr, kannte ich niemanden. Aber jetzt kenne ich wen.« »In so kurzer Zeit? Ich hoffe, daß du diesmal etwas wählerischer bist.« »Niemand redet von Heiraten. Wir kennen uns von unserem gemeinsamen Interesse für die Regensburger Geschichte.« Zum Glück kam jetzt Ingo hereingeplatzt, lärmend und polternd wie immer. »Hi!« sagte er. »Da bist du ja wieder, Judith. Wolltest du nicht zwei Wochen fortbleiben?« »Schon. Aber ich kam zurück, weil Vater verunglückt ist. Da mußte ich die Reise abbrechen.« »Besuchen könntest du ihn auch noch in einer Woche. Da wird er bestimmt noch im Krankenhaus sein. Und helfen kannst du ihm sowieso nicht.« »Aber ich kann Mutter helfen. Außerdem hätte ich keine Ruhe im Urlaub, wenn ich wüßte, daß Vater einen Unfall hatte.« »Sehr edel von dir. Schade, daß du mich nicht mitgenommen hast. Dann wären wir bestimmt nicht mitten in den Ferien nach Haus gefahren. Ich hätte dir die verfrühte Heimreise schon ausgeredet.« »Ich gehe nach oben in mein Zimmer«, sagte Judith. »Ich will meine Reisetasche auspacken und mich ein wenig frischmachen. Wir sehen uns dann beim Abendessen.« Seufzend stieg sie die Treppe zu ihrem Turmzimmer hinauf. Es war wie immer. Mußten Mütter und halbwüchsige Brüder
so sein? Sie hoffte, daß sie wenigstens Gefallen an den mitgebrachten Geschenken hatten. Nur eines war gewiß: Sie würde kein Wort über Achim Wiesner sagen und auch nichts über Griseldis Hagedorn. Das alles war ihr ganz persönliches Geheimnis und sollte es auch bleiben. Wie weit entfernt war das alles schon! Dabei lag es doch erst kurze Zeit zurück.
*
Ein paar Tage später kam ihre Freundin Silvia Brand nach Lindenthal. Glücklicherweise war Helga Lohmann gerade mit dem Auto in die Kreisstadt gefahren. Sie wollte dort ein paar Besorgungen machen, anschließend irgendwo eine Kleinigkeit essen und dann ihren Mann in der Klinik besuchen, mit dem es langsam wieder aufwärts ging. Ingo hatte sich mit einem Freund zum Schwimmen im Hallenbad verabredet. So waren die beiden Freundinnen ungestört im Haus. »Der Frühstückstisch ist noch gedeckt«, sagte Judith zu ihrer Freundin. »Wenn du willst, kannst du noch frühstücken.« »Super!« sagte Silvia. »Ich habe noch nichts gegessen. Ich hatte gestern vergessen, für heute etwas einzukaufen. Da hast du es besser, Judith. Hier gibt es immer etwas, und du brauchst nicht an morgen zu denken.« »Dann faß nur zu!« lachte Judith. »Zur Gesellschaft trinke ich noch eine Tasse Kaffee mit dir.« Silvia ließ sich nicht zweimal bitten und aß mit großem Appetit: Schinkenbrötchen, Honigsemmel und Müsli, und alles in großen Mengen. »Das war meine Rettung«, bekannte sie. »Ich hatte nichts mehr im Kühlschrank. Jetzt kann die nächste Mahlzeit bis zum
Abend warten. Was ist los mit dir, Judith? Du bist nun schon seit Tagen wieder zu Haus, und wir haben uns noch nicht gesehen. Du siehst müde aus, Judith, wenn auch besser als in den Sommerferien.« »Ich habe die lange Autofahrt noch nicht verkraftet. Die Aufregung um meinen Vater tat ein übriges. Aber ich habe ja noch ein paar Ferientage zum Ausschlafen.« »Ich dachte, du wolltest dich in Regensburg richtig erholen. Und jetzt brauchst du Erholung vom Urlaub. War das Leben dort so anstrengend?« »Ja, ich habe Aufregendes erlebt.« »Ist ein Mann im Spiel?« »Ja, auch. Aber das war eine sehr nette Bekanntschaft. Die Aufregungen kamen aus einer anderen Richtung. Es ist alles noch so frisch, Silvia. Ich erzähle dir später mal davon.« »Ein Geheimnis also. Hast du kein Vertrauen mehr zu mir? Bislang haben wir uns immer alles erzählt. Du weißt doch, daß ich verschwiegen bin.« »Das weiß ich. Und wenn ich jemals einem Menschen erzählen sollte, was ich in Regensburg erlebte, dann wirst du es sein. Du sollst als erste davon erfahren.« »0 je!« seufzte Silvia und verdrehte ihre Augen. »Ich war hungrig und neugierig, als ich hierherkam. Jetzt bin ich nur noch neugierig. Du machst es wirklich spannend, Judith.« Der Briefträger läutete an der Tür und bewahrte Judith für kurze Zeit vor weiteren Fragen der Freundin. Er brachte für Frau J. Lohmann einen dicken Brief. Als Absender war ein Regensburger Fotogeschäft angegeben. »Wer schickt dir denn solch einen Brief?« fragte Silvia. »Oder gehört der auch zu dem Geheimnis?« »Unsinn!« sagte Judith ärgerlich und schlitzte den Brief mit einem Messer auf. Heraus fiel eine Serie von großformatigen Fotos. Sie alle zeigten etwas Ähnliches: Die Statuen von der
Westfassade des Regensburger Domes. Ein handgeschriebener Brief lag dabei. Judith versteckte ihn sogleich. Verwundert schaute Silvia auf die Bilder. »Hast du die Fotos in Regensburg aufgenommen?« fragte sie. »Nein. Ich hatte allerdings die Absicht, es zu tun. Aber durch meine plötzliche Abreise ist es leider unterblieben. Ich weiß nicht, wer sie mir nun geschickt hat.« »Dann lies mal den Brief, den du so schnell weggesteckt hast. Darf ich mir die Bilder mal anschauen?« Judith schob Silvia die Fotos hin. Sie hätte sie sich selbst gern angesehen, aber sie war froh, daß die Freundin für ein paar Momente abgelenkt war. So konnte sie ungestört den beigelegten Brief lesen. Er stammte von Achim Wiesner, der ihr schrieb… Liebste Judith! Wolltest Du nicht die Figuren von der Westfassade des Domes fotografieren? Ich nehme an, daß du es vor Deiner plötzlichen Abreise vergessen hast. Darum habe ich mich selbst daran gewagt und schicke Dir nun das Ergebnis. Der Fotohändler hat mir ein Firmenkuvert gegeben, damit ich die Fotos gleich zur Post bringen konnte. Schau sie Dir gut an! Entdeckst du eine junge Frau, die Griseldis sein könnte? Ich denke viel an Dich und würde mich über ein Wiedersehen sehr freuen. Vermißt Du mich auch? Dein Achim Judith las den Brief immer wieder und errötete vor Freude. Dieses Schreiben war ja mehr als ein Lebenszeichen. Es war der Beweis, daß die Beziehung zu Achim nicht abgebrochen war. Er dachte an sie und er wußte, womit er ihr eine Freude machen konnte. Silvia beobachtete die Freundin genau und sagte kopfschüttelnd:
»Komische Fotos sind das. Lauter alte Statuen. Wer interessiert sich denn für so was? Schreibt dir etwa der Fotograf einen so herzzerreißenden Brief?« »Quatsch!« sagte Judith wütend. »Und was meinst du damit: Herzzerreißend?« »Na, wenn du einen Brief mindestens sechsmal hintereinander liest und dabei einen hochroten Kopf bekommst, dann muß das doch etwas bedeuten.« »Ich freue mich, das ist alles, und die alten Statuen interessieren mich wirklich. Aber das ist ein Teil meiner Regensburger Erlebnisse. Sie hatten schon eine gewisse Bedeutung auf meiner Reise. Später einmal mehr.« »Wenn man wenigstens wüßte, wen diese alten Figuren darstellen sollen«, murrte Silvia und rief plötzlich aus: »Schau mal diese hier, Judith! Wenn sie nicht so altmodisch gekleidet wäre, dann…« »Was dann?« »Dann könnte man meinen, daß sie dich darstellt. Schau sie dir gut an. Da ist doch eine gewisse Ähnlichkeit!« Judith wurde kreidebleich. Hatte Silvia die Statue der Griseldis gefunden? Doch warum sollte sie ihr ähnlich sehen? Griseldis war vor mehr als fünfhundert Jahren einen grausamen Tod gestorben, aber sie selbst lebte. Und zwar hier und jetzt. Eingehend betrachtete sie das Foto, fand aber keine Ähnlichkeit. Fast hätte sie sich mit der Freundin deswegen gestritten. »Mein neuer Freund ist Fotograf«, sagte Silvia. »Er arbeitet beim Tageblatt. Gib mir mal die Fotos für zwei Tage, nur leihweise. Und dann brauche ich noch ein Foto von dir, du hast doch eine Sofortbildkamera?« »Willst du mich als Statue fotografieren? Dann aber bitte in meinem Turmzimmer, da sind wir ungestört.«
Zunächst wurden Judiths Gesicht und Hände mit hellem Puder geweißt. Dann stellte Silvia Judiths Zimmer auf den Kopf. Aus dem Bett nahm sie das Bettlaken und drapierte es malerisch um die schlanke Figur der Freundin. Anschließend frisierte sie lange an Judiths Blondhaar herum, bis sie der Frisur der Statue ähnelten. Am schwierigsten war die Kopfhaube nachzuahmen. Aber mit viel Phantasie, mit einem Barett vom letzten Karneval und einem zusammengedrehten Handtuch schaffte sie auch das. Anschließend verknipste sie den ganzen Film. Hochzufrieden verglich sie die beiden Foto-Serien. »Habe ich das nicht prima hingekriegt?« fragte sie die Freundin. »Den Rest besorgt mein Freund. Er kann so etwas, du wirst staunen.« Als sie nach zwei Tagen wiederkam, staunte Judith wirklich. Silvias Freund hatte ganz vorzügliche Arbeit geleistet. Die wirklichen Statuen waren von Judiths Fotos kaum zu unterscheiden. Jetzt konnte man auch Ähnlichkeiten feststellen. Unabhängig voneinander trafen Judith und Silvia ihre Wahl: Die dritte Statue von der Westfassade des Regensburger Domes und das fünfte Foto von Judith ähnelten sich am meisten. Dieselbe Haltung, dasselbe scheue Lächeln und die gleiche Handbewegung, die die Weite des Kleides zusammenhielt. »Man sollte meinen, du wärest es wirklich«, meinte Silvia überrascht. »Hast du etwas schon einmal gelebt? Am Ende des 15. Jahrhunderts?« »Unsinn!« wehrte Judith ab. »Das alles ist doch nur eine Spielerei. Niemand weiß genau, wen diese Statuen darstellen. Heute leben viele Millionen Frauen. Da findet sich leicht eine, die sich mit einem dieser Standbilder vergleichen läßt.«
»Immerhin hat man dir die Fotografien von der Westfassade geschickt. Das muß doch einen Grund haben. Wahrscheinlich hat schon ein anderer diese Ähnlichkeit entdeckt«, beharrte Silvia. »Und wenn dich diese Frage nicht interessiert hätte, dann wäre niemand auf den Gedanken gekommen, dir diese Fotos nach Lindenthal zu schicken.« »Ja, in Regensburg fand ich das alles interessant. Inzwischen bin ich wieder in Lindenthal, mein Vater liegt im Krankenhaus, in ein paar Tagen fängt meine Schule wieder an. Verstehst du nicht, daß ich jetzt andere Sorgen habe?« Für den Augenblick verzichtete Silvia auf weitere Fragen, aber sie nahm sich vor, später einmal einen günstigen Augenblick zu nutzen, um Judith gründlich auszuforschen. Sie ahnte, daß sich hinter der Ablehnung der Freundin das wohlgehütete Geheimnis von Regensburg verbarg.
*
Es war Freitag Nachmittag. Das letzte freie Wochenende der Ferien lag vor Judith. Darum wollte sie heute noch einmal ihren Vater besuchen. Im Gewächshaus des Gutes hatte sie sich die schönsten Chrysanthemen abgeschnitten und zu einem prachtvollen Strauß gebunden. Dazu kam ein Schälchen selbstgezogener Weintrauben. Sie waren der Stolz des Gutsherrn, der diese Muskateller Trauben an einer sonnenbeschienenen Steinmauer züchtete. Vor Wind und Wetter waren die Reben durch die Mauer geschützt. Natürlich war es nicht möglich, in Norddeutschland große Mengen davon zu ernten, aber für den Privatbedarf reichte es immer. Hartmut Lohmann strahlte jedes Mal, wenn die eigenen
Trauben ein Festessen abschlossen und die Bewunderung der Gäste fanden. Judith freute sich schon auf Vaters Gesicht. Gerade wollte sie aus dem Haus gehen, als das Telefon läutete. Ärgerlich über die Verzögerung nahm sie den Hörer ab. »Judith Lohmann!« sagte sie. »Judith, bist du’s wirklich?« kam die weiche Baritonstimme durch den Draht. Sie hätte sie immer und überall aus vielen Stimmen heraus erkannt. »Achim!« sagte sie glücklich. »Wie schön, dich zu hören. Sprichst du aus Regensburg? Oder bist du etwa hier in der Nähe?« »Ganz nah sogar. Ich bin in Burgfeld und stehe vor dem Schulhaus, denn dort ist der einzige Münzfernsprecher des Dorfes. Kannst du hierherkommen?« »Ich komme. In fünf Minuten bin ich bei dir.« Kurz darauf lag sie in seinen Armen. Sie herzten und küßten sich. Ein paar Glückstränen rollten Judith über die Wangen. »Ich habe nicht geglaubt, daß du so bald kommen würdest«, stammelte sie. »Aber manchmal gibt es auch gute Überraschungen.« »Ich hatte Sehnsucht, da bin ich gekommen.« »Nicht einmal angemeldet hast du dich. Sonst hätte ich mich doch auf den Besuch vorbereitet.« »Ich wollte euch nicht in Verlegenheit stürzen. Auch hatte ich Angst, daß man mich auf vier lange Wochen vertrösten würde, falls es nicht paßte. So kann es einem leicht gehen, wenn man vorher anfragt. Ich dachte mir, daß ich entweder Glück habe und du bist da. Oder ich bin vom Pech verfolgt und ich komme vergebens. Meine Chancen standen 50:50. Und siehe da, ich hatte Glück. Ich habe dich gesprochen, ich habe dich in meinen Armen gehalten, und alles Weitere wird sich finden.«
»Erst einmal muß ich meinen Vater im Kreiskrankenhaus besuchen«, erklärte Judith. »Danach können wir in ein Café gehen oder in ein Restaurant oder ganz einfach in den Wald. Wo wirst du schlafen?« »Weißt du einen sauberen Gasthof in der Nähe? Ich stelle keine großen Ansprüche.« »Wir haben Gästezimmer im Gutshaus. Meine Mutter würde dich sehr freundlich aufnehmen. Aber…« »Aber?« »Ich fürchte, meine Mutter würde sofort den möglichen Schwiegersohn in dir sehen.« »Wäre das so schlimm?« fragte er. »Nein, gar nicht. Aber ich möchte dich noch ein wenig für mich allein haben. Schwiegersohn kannst du noch lange genug sein. Ich weiß ein nettes kleines Hotel ganz in der Nähe der Klinik. Dort kannst du auf mich warten, während ich meinen Vater besuche.« Sie fuhren in Achims Wagen in die Kreisstadt und suchten zuerst das Hotel auf. Man konnte Achim ein schönes Einzelzimmer mit Dusche anbieten und einen Stellplatz für sein Auto. Während er zufrieden seine Reisetasche auspackte und sich im Zimmer einrichtete, besuchte Judith im naheliegenden Krankenhaus ihren Vater. Sie trafen sich wieder in der Bar des Hotels. Judith kam überraschend früh zurück. »Mein Vater ist müde«, sagte sie. »Wir haben miteinander gesprochen, aber er hat mich bald verabschiedet. Ich konnte noch den Stationsarzt nach seiner Meinung fragen, aber der hatte keine Befürchtungen. Vaters Zustand sei stabil, und während er Rekonvaleszenz sei Müdigkeit nicht besonders beängstigend. Du und ich, wir haben also Zeit füreinander. Laß uns in ein Café gehen. Ich weiß eine hübsche kleine Kaffeestube.«
Es war eine glückliche Stunde, die sie gemeinsam in einer abgelegenen Nische des Cafés verbrachten. Sie war um so schöner, als sie beide nicht damit gerechnet hatten. Achim hatte sich erst am Vormittag in Regensburg zu dieser Reise entschlossen und war dabei das Risiko eingegangen, Judith zu verfehlen. Judith wiederum war völlig überrascht von seinem unerwarteten Besuch. »Du bist wie ein Bote aus einer anderen Welt«, sagte sie glücklich. »Es gibt also noch etwas anderes als Lindenthal und Burgfeld, die Schule und den Haushalt, die Klinikbesuche und Mutters Ermahnungen.« »Und wie sieht diese andere Welt aus, Judith?« »Du gehörst dazu, die Liebe, das Glück. Regensburg und die blaue Liliengasse. Und auch Burg Bärenstein…« »Gut, daß du mich erinnerst, Judith. Unser archäologischer Fund hat einiges Aufsehen in der Stadt erregt. Man hat einen kleinen Trupp von Sachverständigen nach Bärenstein geschickt. Da ich ortskundig bin, durfte ich ihn begleiten. Wir konnten die Gebeine von Griseldis Hagedorn nach Regensburg überführen. Sie werden zunächst anatomisch untersucht, wobei man nach Möglichkeit auch die Todesursache feststellen will. Dann folgt eine Untersuchung nach der Radiocarbonmethode, die das genaue Alter der Gebeine bestimmt.« »Und was ist mit dem Ring vom Finger der Toten?« fragte Judith gespannt. »Ich habe ihn der Kommission übergeben. Sachverständige werden ihn untersuchen. Er ist wohl der beste Beweis dafür, daß es sich wirklich um Griseldis Hagedorn handelt.« »Und wann wird sie beigesetzt?« »Wenn alle Untersuchungen abgeschlossen sind. Man plant eine große Feier. Heimatvereine, Musikund Volkstanzgruppen wollen sich beteiligen.« »Wird sie ein Grab auf einem normalen Friedhof finden?«
»Nein, wahrscheinlich nicht. Am Ende der blauen Liliengasse ist eine kleine Kapelle, in der ihr Vater Caspar Hagedorn seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Sein Grab ist in eine Seitenwand eingelassen. Eine Grabplatte trägt seinen Namen. Man plant, die Platte abzuheben und die Gebeine seiner Tochter dem Vater beizufügen. Ich halte es für eine gute Lösung.« »Ich auch!« sagte Judith. »Dort wird sie ihren Frieden finden. Im Leben hat sie sich nach ihrem Vater gesehnt, als Tote kehrt sie heim zu ihm. Wenigstens dieser Wunsch wird ihr erfüllt.« »Es gibt noch eine zweite Lösung für ihr Grab«, meinte Achim Wiesner nachdenklich. »Die Heimatvereine machen sich dafür stark. Schließlich war sie mit dem Ritter Cord v. Bärenstein vermählt und hat Anspruch auf einen entsprechenden Ruheplatz. Sie wollen die Burg zwar nicht wiederaufbauen, aber doch die Ruine insoweit wiederherstellen, daß sie von Gerumpel, Schutt und Gestrüpp befreit und anschließend ständig gepflegt wird. An einer bevorzugten Stelle soll Griseldis dann begraben werden.« »Daß man die Burgruine pflegen will, finde ich gut«, sagte Judith nachdenklich. »Aber Griseldis war nicht glücklich dort oben, sie wurde sogar von ihrem eigenen Ehemann gewürgt und auf seine Anordnung hin ertränkt. Das ist kein Platz für sie, um dort Frieden zu finden. Auch ihr Vater ist nicht frei von aller Schuld. Warum mußte er Griseldis mit einem gewalttätigen Ritter verheiraten? Warum hat er sein einziges Kind seinem Ehrgeiz geopfert? Aber dennoch: Griseldis wollte in ihrer Not zum Vater zurück, sie hoffte auf seine Hilfe. Bei ihm soll sie begraben werden.« »Man hört auf mich und meinen Rat in der eigens gegründeten Kommission«, sagte Achim Wiesner bedächtig. »Ich habe schließlich den Fund angemeldet. Ich werde deine
Meinung vertreten und hoffe, Zustimmung zu finden. Hat Griseldis selbst dir das alles geraten?« Judith schüttelte ihren Kopf. »Seit ich wieder in Lindenthal bin, hat sie sich nie wieder gemeldet. Es gab keine Alpträume mehr und keine geheimen Botschaften von ihr. Ich konnte in meinem Bett wieder so ruhig schlafen wie früher. Darum nehme ich an, daß Griseldis jetzt mit mir zufrieden ist. Die wichtigste Aufgabe haben wir ja erfüllt: Wir haben ihre Gebeine entdeckt, und du hast ihre Beisetzung veranlaßt. Sie kehrt zu ihrem Vater zurück und wird endlich Ruhe haben.« »Ich glaube, es ist nicht alles, Judith«, sagte Achim nachdenklich. »Wann fingen deine Alpträume an, wodurch wurden sie ausgelöst?« »Als ich mich mit Arno verlobte«, sagte Judith bestürzt. »Die Alpträume wiederholten sich in immer kürzeren Abständen und steigerten sich, je näher die Hochzeit kam. Als ich mich von Arno trennte, wurden sie seltener.« »Sie wollte diese Heirat nicht«, sagte Achim ruhig. »Aber jetzt kennst du mich. Sie hat dich nicht vor mir gewarnt. Sie kann nicht wissen, ob unsere Beziehung zu einer Ehe führt. Doch bisher hat Griseldis keine Einwände gegen unsere Freundschaft gehabt. Man könnte also davon ausgehen, daß sie damit einverstanden ist.« Der Gedanke erheiterte Judith ein wenig. Sie kicherte. »Ist es nicht komisch?« sagte sie. »Ich würde nicht einmal meine Eltern um Erlaubnis fragen, ob ich den Mann meines Herzens heiraten darf. Aber auf die Meinung einer wildfremden Person, die vor fünfhundert Jahren lebte, soll ich hören. Oder meinst du, daß sie mir jeden Mann durch Spuk und Alpträume aus dem Herzen reißt?« »Mich nicht!« sagte Achim selbstbewußt. »Bist du sicher?« zweifelte Judith.
»Ich weiß es. Griseldis hat mir ein Zeichen geschickt. Ich habe ein Geschenk von Griseldis für dich, Judith. Schau hier!« Er nahm ein kleines Lederkästchen aus seiner Aktentasche und überreichte es Judith. Mit klopfendem Herzen öffnete sie es und stieß einen kleinen Schrei aus. Ein goldenes Armband lag drinnen auf einem Seidenkissen. Auf goldenem Grund sah man eine blaue Eidechse, die aus blauen Steinen gefügt war. Das Wappen aus der blauen Liliengasse… Fast wäre das Armband zu Boden gefallen, als Judith es mit zitternden Händen vom Kissen nahm. Aber Achim war aufmerksam, er rettete den Goldreif vor dem Fall und reichte ihn Judith. »Wieso meinst du, daß Griseldis ihn mir schickte?« fragte sie ungläubig. »Schau in den Armreifen, dann weißt du es.« Innen war ein Name eingraviert, er war aber vom vielen Gebrauch fast unleserlich geworden. Vorsorglich hatte Achim eine Lupe mitgebracht, die er Judith reichte. Und dann konnte sie es ganz deutlich lesen: Griseldis a. d. 1480. »1480, da war Griseldis neunzehn Jahre alt. Sie hat ihn wohl von ihrem Vater bekommen, denn ihr späterer Ehemann, der Ritter Cord v. Bärenstein, hätte ihr niemals ein solch kostbares Geschenk machen können«, erläuterte Achim das kostbare Geschenk. »Ich bin überwältigt!« sagte Judith dankbar. »Ist er wirklich für mich bestimmt? Wo hast du ihn gefunden?« »Ich suchte in einem Antiquitätengeschäft nach einem Geschenk für dich. Es sollte schon etwas Besonderes sein, denn du bist ja auch etwas Besonderes. Die Besitzerin des Geschäfts verhandelte gerade mit einer Bauersfrau aus der Umgebung, die diesen Armreifen verkaufen wollte. Er sei seit langem in ihrer Familie von einer Generation zur anderen
vererbt worden. Aber jetzt brauchten sie Geld für Landmaschinen und würden ihn gern verkaufen. Die beiden wurden sich nicht einig, denn die Bäuerin erwartete zu viel Geld, und die Händlerin wollte den Preis nicht zahlen. Als die Landfrau enttäuscht den Laden verließ, folgte ich ihr und habe sie zu Kaffee und Kuchen eingeladen.« »Und hast ihre Forderung sofort erfüllt?« »Natürlich. Ich wußte doch, wieviel der Schmuck dir bedeuten muß. Aber vor dem Kauf hat mir die gute Frau noch erzählt, wie dieser Armreifen in ihre Familie gelangt ist. Da habe vor vielen hundert Jahren auf Burg Bärenstein eine schöne junge Frau gelebt, die noch kurz vor ihrem Tod ein kleines Mädchen zur Welt gebracht hat. Ihr Ehemann sei gewalttätig und herzlos gewesen, da hat sie das Kind einer Magd anvertraut, die es vor seinem Vater retten mußte und es zu Verwandten ins Tal brachte. Für alle Unkosten und Mühen, die das Kind verursachte, gab die Rittersfrau ihren letzten kostbaren Schmuck her, eben diesen Armreifen. Alle ihre anderen Juwelen hatte ihr Ehemann schon lange zuvor bei Pfandleihern zu Geld gemacht.« »Es stimmt also alles, was mir Griseldis oben auf Burg Bärenstein erzählte«, sagte Judith nachdenklich. »Hat dir die Bäuerin auch gesagt, was aus dem Kind geworden ist?« »Sie nannten das Kind Sophia, so hatte es Griseldis gewollt. Das war auch der Name ihrer Mutter gewesen, der früh verstorbenen Frau Caspar Hagedorns. Sophia wuchs im Hause ihrer Pflegeeltern auf und war ein Kind wie die anderen. Später heiratete sie einen reichen Bauern in der Nachbarschaft und hatte selbst eine zahlreiche Familie. Ihre Spuren verloren sich im Laufe der Jahrhunderte, so meinte es jedenfalls die Bäuerin, die mir den Armreifen verkaufte…« »Hast du noch etwas herausgefunden?« fragte Judith atemlos.
»Ja, ich war fleißig, ich habe Kirchenbücher gewälzt und habe Archive durchsucht. Judith, du bist eine direkte Nachkomme dieser Sophia und natürlich auch von Griseldis.« »Ich fasse es nicht. Da war es also Griseldis selbst, die ihre Ur-Ur-Ur-Ur-Urenkelin vor einer schlimmen Ehe bewahren wollte?« »So muß man es wohl sehen.« »Hat eigentlich Cord v. Bärenstein nie Verdacht geschöpft und in der Nachbarschaft nach dem Neugeborenen gesucht?« fragte Judith. »Darüber ist mir nichts bekannt«, gab Achim zu. »Das Kind war dem Ritter wohl gleichgültig. Er hatte die vermeintlich ungetreue Ehefrau gebührend bestraft, mehr wollte er nicht. Nun mußte er sich ruhig verhalten, damit seine Untat nicht bekannt wurde. Ein Kleinkind wäre da eher hinderlich gewesen. Wie ich in Regensburger Urkunden feststellte, hat er bald darauf ein zweites Mal geheiratet. Aus dieser Ehe stammte ein Sohn. Ritter Cord ist schon kurz nach der Geburt des Sohnes auf einem seiner Raubzüge getötet worden, seine Frau verließ danach die Burg mitsamt ihrem Sohn. Seither verfiel die Burg…« »Was wurde aus dem Sohn?« »Ich habe viele Nachforschungen angestellt. Mit dem Computer ist das längst nicht mehr so zeitraubend wie es noch vor einigen Jahren gewesen wäre. Jobst v. Bärenstein, so hieß Cords Sohn, war ein Vorfahr von Arno Kallweit. Griseldis fürchtete eine Wiederholung ihres eigenen Unglücks und hat dich auf ihre Weise gewarnt. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß dich dein Verlobter getötet und ertränkt hätte.« »Ich schon«, sagte Judith ruhig. »Es fehlte nicht viel, und er hätte mich vor Zorn ins Wasser gestoßen, dort, wo es tief ist. Er wußte natürlich, daß ich nicht schwimmen kann. Auch, wenn man ihm eine Tötungsabsicht nicht zutraut, Griseldis
glaubte daran. Sie hat mich vor einem schweren Fehler bewahrt. Man kann schließlich auch töten, ohne die Hand zu erheben: Durch Lieblosigkeit, durch Kälte und Habsucht.« »Ich finde, wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen. Wir haben uns lange genug damit beschäftigt«, sagte Achim. »Jetzt müssen wir an die Zukunft denken.« »Hast du Vorschläge?« fragte Judith. »O ja! Erst einmal werden wir Griseldis auf ihrem letzten Weg begleiten, du und ich. Das sind wir ihr schließlich schuldig. Und dann werden wir Verlobung feiern. Nimm den Armreifen deiner Ahnfrau Griseldis als Vorschuß auf die künftigen Eheringe. Er soll dir Glück bringen.« »O, Achim!« jubelte Judith und fiel ihrem Liebsten um den Hals. Sie küßten sich leidenschaftlich und nahmen dabei keine Rücksicht auf die anderen Gäste im Café. »Nun bin ich doch noch der Schwiegersohn deiner Mutter geworden«, lachte Achim. »Ja, und wir hätten dich im Gutshaus einquartieren können. Soll ich bei meiner Mutter anrufen?« »Nein, Judith, laß das. Ich werde morgen zwischen elf und dreizehn Uhr meinen Antrittsbesuch bei ihr machen und sie um deine Hand bitten. Irgendwie habe ich den Eindruck, daß sie so etwas mag. Deinen Vater besuche ich auch, sobald er Besuch von Fremden haben darf.« »Du bist der Schwiegersohn in spe, kein Fremder«, korrigierte Judith ihren Achim. »Aber er weiß doch noch nichts von mir«, entgegnete Achim. »Er ist krank. Auf keinen Fall will ich ihn mit einer Schicksalsfrage überrumpeln, so lange er im Krankenhaus liegt.« »Wir beide gehen morgen nachmittag gemeinsam zu ihm«, erklärte Judith. »Er wird sich freuen. Vielleicht gibt es ihm den nötigen Antrieb, schnell wieder gesund zu werden.«
»Und wenn er mich nicht akzeptiert?« fragte Achim. Judith lachte übermütig. »Wir fragen ja nur pro forma, weil es sich so gehört und weil wir ihm den Gefallen tun wollen. Es muß alles seine Richtigkeit haben. Sollte er dennoch nein sagen, dann wirst du mich einfach entführen. Ich gehe mit dir bis ans Ende der Welt.« »Wie gut, daß ich das weiß. Dann kann ich ohne Sorge den morgigen Tag erwarten.« »Es gibt nur eine, deren Mißfallen ich fürchten würde«, seufzte Judith. »Nach allen Erfahrungen der letzten Zeit.« »Also doch! Und wer ist das?« »Griseldis. Gegen sie bin ich machtlos. Sie würde mich wieder zermürben mit Alpträumen und Schreckensschreien.« »Da habe ich keine Sorge!« lachte Achim. »Als Schwieger Ur-Ur-Urenkel bin ich ihr sogar sehr sympathisch. Hat sie mir doch ihren Armreif mit der blauen Eidechse geschickt.« »Es ist ein wunderbares Verlobungsgeschenk. Aber ich habe auch etwas für dich. Es ist bei weitem nicht so wertvoll und so einmalig, aber es wird dich immer an die Zeit erinnern, als wir gemeinsam auf den Spuren meiner Ahnfrau Griseldis wanderten.« »Da bin ich aber neugierig.« Judith breitete auf dem kleinen Caféhaus-Tischchen die Fotos aus, die Achim ihr geschickt hatte. Alle Figuren von der Westfassade des Regensburger Domes lagen hübsch ordentlich nebeneinander. »Sehr schön, Judith«, sagte Achim. »Aber ich kenne die Fotos. Ich habe sie selbst aufgenommen, als die Sonnenbeleuchtung gerade günstig war.« »Die Überraschung kommt erst noch«, sagte Judith und holte Silvias Aufnahmen hervor. Sorgsam legte sie die ähnlichsten Bilder nebeneinander.
»Das gibt es doch nicht!« sagte Achim verblüfft. »Du könntest die Zwillingsschwester von Griseldis sein.« »Oder eine Nachkomme nach mehr als fünfhundert Jahren.« Kopfschüttelnd verglich Achim immer wieder die Aufnahme der Statue mit dem Bild der lebenden Judith. »Wer hat dich so herausgeputzt, daß man dich für dein eigenes steinernes Abbild hält?« »Meine Freundin Silvia. Sie hat mein Gesicht weiß gepudert und mich mit einem Bettlaken herausstaffiert. Ihr Freund hat dann alle Fotos überarbeitet. Dadurch wurde die Ähnlichkeit für alle Betrachter sichtbar. Der Freund ist übrigens Fotograf. Ihm hat diese Arbeit viel Freude gemacht.« »Mir gefällt sie auch«, sagte Achim und schenkte Judith einen verliebten Blick. Dann zog er ihre Hand an seine Lippen und küßte sie. »Geliebte Judith!« sagte er bewegt. »Heute morgen war ich noch voller Zweifel. Ob ich dich antreffe und ob du Zeit für mich hast. Konnte ich wissen, daß du mich so liebst, wie ich dich? Ob wir gemeinsam eine Zukunft haben? Und nun ist alles klar. Selbst Griseldis ist einverstanden mit mir.« Ein Blick auf ihre Uhr sagte Judith, daß man sich auf Gut Lindenthal zum Abendessen vorbereitete. »Ich muß bei meiner Mutter anrufen«, sagte sie. »Sie weiß ja nur, daß ich meinen Vater besuchen wollte. Wenn ich nicht zurückkomme, glaubt sie, es wäre bei ihm eine Verschlechterung eingetreten. Einen Augenblick, Achim!« Offenbar hatte Helga Lohmann schon am Telefon gesessen und gewartet. »Was ist denn los, Judith. Ich warte mit dem Abendessen.« »Entschuldige, Mutter. Ich habe Vater besucht, es geht ihm gut. Und danach habe ich mich mit einem Bekannten aus Regensburg getroffen. Wir hatten uns viel zu erzählen…«
»So viel, daß du mich und die Abendmahlzeit vergißt?« klagte die Mutter. »Warum hast du mir nicht heute früh gesagt, daß du Besuch erwartest? Man hätte ja gemeinsam mit deinem Besuch hier in Lindenthal essen können.« »Da wußte ich ja selbst noch nichts davon. Der Besuch kam ganz überraschend. Er wird morgen früh in der Besuchszeit nach Lindenthal kommen und sich vorstellen.« »Ein offizieller Besuch? Das kommt mir… so plötzlich. Ich hätte zum Friseur gehen müssen, und mein gutes Kleid ist gerade in der Reinigung.« »Ach, Mutter, darauf kommt es doch gar nicht an. Vor ein paar Minuten hast du noch von einem gemeinsamen Abendbrot geredet. Da warst du doch auch nicht beim Friseur und dein Kleid stand ebenfalls nicht zur Verfügung. Also spielt das auch morgen keine Rolle.« »Da wußte ich ja auch noch nichts von einem offiziellen Antrittsbesuch. Nicht einmal Vater kann mir zur Seite stehen.« »Du kannst das auch allein, da bin ich sicher«, widersprach Judith ihrer Mutter. »Morgen nachmittag besuchen wir dann Vater in der Klinik. Wichtige Familienangelegenheiten soll er doch nicht versäumen, auch wenn er in der Klinik liegt.« »Wichtige Familienangelegenheiten sagst du?« ereiferte sich die Mutter. »Und das sagst du mir so einfach am Telefon?« »Wie hätte ich es dir denn sonst sagen sollen? Ich weiß es ja auch erst seit zehn Minuten. Ich komme nicht zum Abendessen, weil ich in der Stadt mit meinem Zukünftigen essen werde. Er schläft hier im Hotel. Warte nicht auf mich. Es kann später werden.« Damit legte Judith auf. Daheim sank ihre Mutter kraftlos in den nächsten Sessel. Welche Überraschung bahnte sich da an! Das klang alles ernstlich nach einer Verlobung. Der junge Mann, um den es sich handelte, wußte offenbar, was sich gehörte. Er machte zunächst einen Antrittsbesuch. Leider hatte
Judith der Mutter nicht verraten, wie er hieß und welchen Beruf er ausübte. Aber so waren die Kinder heutzutage. Sie vergaßen, daß die Eltern Anteil an den Freuden und Sorgen der Kinder nehmen wollten. Schließlich hätten sie manchen wertvollen Rat von den älteren Menschen haben können. Auch Ingo verhielt sich nicht so, wie die Mutter erwartete. Er war nicht rechtzeitig heimgekommen, so daß Frau Helga Lohmann allein zu Abend essen mußte. Heute machte es ihr nicht so viel aus. Sie hatte die Hoffnung, daß sie morgen eine große Freude erleben würde.
*
Nach dem Telefongespräch kehrte Judith zu Achim zurück. Die Kellnerin machte die beiden darauf aufmerksam, daß das Café in Kürze geschlossen würde. Draußen war es schon dunkel geworden. Judith schlug einen Bummel durch die abendliche Altstadt vor. Anschließend könnte man beim Italiener eine Pizza essen. »Es ist kein Donau-Zander!« sagte sie. »Aber darauf kommt es heute abend nicht an.« »Worauf kommt es dir an?« fragte Achim. »Darauf, daß du da bist. Daß wir zusammen sind. Daß wir glücklich sind.« Es wurde ein schöner Abend, den sie beide in vollen Zügen genossen. Die Schatten der Vergangenheit waren überwunden, sie konnten sich ihrer Liebe erfreuen. Die Zukunft würde glücklich werden, davon waren sie überzeugt. »Bring mich nach Burgfeld, Achim. Dort steht mein Auto, ich bin ja mit dir in deinem Wagen in die Stadt gefahren. Dann mußt du allein zurückfahren, leider. Aber morgen abend wird
meine Mutter für dich ein Gästezimmer im Gutshaus herrichten, dann gehörst du ja schon ein bißchen zur Familie.« An der Telefonzelle vor dem Schulhaus in Burgfeld nahmen sie voneinander Abschied. Sie küßten sich viele, viele Male, bis sie sich trennten. »Bis morgen!« sagte Judith mit Tränen in den Augen. »Leb wohl, mein Schatz!« sagte Achim. »Denk an mich!« Dann fuhren beide Wagen in verschiedene Richtungen in das Dunkel der Nacht hinein. Judith schaute auf die Uhr in ihrem Armaturenbrett. 23 Uhr! Noch elf Stunden bis zum Wiedersehen! Wie sollte sie diese lange Zeit überstehen… Auch Achim war traurig über die Trennung. Er ließ sich vom Zimmerkellner ein Viertel Frankenwein bringen und stellte sich das Fernsehgerät in seinem Zimmer an. Ermüdet von der Fahrt und von den Ereignissen des Tages, schlief er mitten im Programm ein und erwachte erst wieder, als die Nacht schon weit vorgeschritten war. »Judith!« dachte er voll Sehnsucht. Eigentlich hatte er sie noch vor dem Schlafengehen anrufen wollen, aber dazu war es nun zu spät. »Morgen«, dachte er, »morgen werde ich sie früh anrufen. Aber morgen ist ja eigentlich schon heute.«
*
Am anderen Morgen herrschte große Hektik im Gutshaus Lindenthal. Frau Helga Lohmann war aufgeregt wie selten. »Wo soll ich den Gast empfangen, Judith?« fragte sie. »In meinem Salon oder lieber in der Bibliothek? Oder ist Vaters Arbeitszimmer angemessen?« »Das mußt du entscheiden, Mutter«, sagte Judith. »Aber ich glaube, das ist völlig egal. Achim wird genauso aufgeregt sein
wie du und wird überhaupt nicht sehen, wo du ihn empfängst. Sag mir nur, wie du dich entscheidest, damit ich noch einen Blumenstrauß hinstellen kann.« Im nächsten Augenblick fragte die Mutter: »Ich möchte den Herrn zum Mittagessen einladen. Was meinst du dazu, Judith? Eigentlich ist es ja nur ein Antrittsbesuch.« »Ja, aber er ist extra von Regensburg gekommen. Nimm doch alles nicht so förmlich, Mutter.« »In der Kühltruhe ist noch ein Rehrücken, Judith. Meinst du, er mag so etwas?« »Bisher habe ich nur gesottenen Zander und eine Pizza in seiner Gesellschaft gegessen«, lachte Judith. »Ich nehme an, daß er auch Bratkartoffeln mögen wird. Aber für das Dessert sorge ich. Da gibt es einen Eisbecher Griseldis.« »Griseldis?« wunderte sich Frau Lohmann. »Nie gehört. Wo steckt denn nur Ingo wieder?« Zum Glück läutete es an der Eingangstür. Der Gast meldete sich und machte allen Überlegungen ein Ende. Judith öffnete ihm und ließ sich von ihm umarmen und küssen, obwohl ihre Mutter daneben stand. Als sich Frau Helga gerade diskret abwenden wollte, trat Achim Wiesner auf sie zu und begrüßte sie mit einem formvollendeten Handkuß. Damit hatte er auf Anhieb das Herz seiner künftigen Schwiegermutter für sich gewonnen. Das weitere war dann kein Problem mehr. Frau Lohmann fand den jungen Mann charmant, gut erzogen und gebildet. Zudem hatte er eine wissenschaftliche Laufbahn vor sich. Achim kam sehr bald zum wichtigsten Punkt seines Besuchs. »Ich liebe Ihre Tochter Judith, Frau Lohmann, und sie liebt mich. Wir möchten heiraten. Darf ich Sie um die Hand Ihrer Tochter bitte, gnädige Frau?«
Helga Lohmann schwamm in Seligkeit. Wer hätte gedacht, daß Judiths mißglückte Heirat solch glückliche Folgen gehabt hätte? »Ich würde ja gern zustimmen, lieber Herr Wiesner. Aber ich möchte doch meinen Mann nicht übergehen. Wie Sie wissen, liegt er zur zeit in der Klinik.« »Das ist doch kein Problem, verehrte Frau Lohmann. Die Umstände sind so, daß ich Sie einzeln fragen muß. Heute nachmittag werde ich Ihren Gemahl zusammen mit Judith im Krankenhaus aufsuchen und ihn um seine Einwilligung bitten. Sind Sie einverstanden mit mir als Schwiegersohn, das Ja Ihres Gemahls immer vorausgesetzt?« Dem konnte Helga Lohmann nur zustimmen. Es gab also das geplante Festessen, Champagner dazu und den von Judith erfundenen Eisbecher Griseldis. Ingo polterte herein, als die Suppe serviert wurde. »Hi!« sagte er. »Was ist denn hier los?« »Wir feiern Judiths Verlobung«, sagte seine Mutter würdevoll. »Natürlich heute nur im engsten Familienkreis, es ist noch inoffiziell.« »Hmm«, machte Ingo verdutzt, »schon wieder eine Verlobung? Wir hatten doch erst eine. Oder erinnere ich mich falsch?« »Du erinnerst dich richtig«, sagte seine Schwester. »Das war zwar eine offizielle Verlobung, aber es war der falsche Mann. Dies ist der richtige Mann, aber noch keine offizielle Verlobung. Komm, Ingo, du kannst deinen Schwager Achim begrüßen.« »Und was sagt Vater dazu?« »Wir werden ihn heute nachmittag fragen«, erklärte Judith ihrem Bruder. »Wieso heißt dieser Eisbecher Griseldis?« fragte Ingo neugierig.
»Griseldis war eine Ahnfrau von uns. Achim ist Historiker und hat es herausgefunden«, erklärte Judith. »Zur Verlobung schenkte er mir einen wertvollen Armreifen dieser Griseldis. Schaut her!« damit legte Judith den Schmuck ab und reichte ihn ihrer Mutter und ihrem Bruder. »Welch ein schönes Stück!« sagte Frau Lohmann bewundernd. »Ich habe nie etwas Schöneres gesehen!« »Ich auch nicht«, sagte Judith und strich versonnen über die blaue Eidechse. Der Nachmittag beim Vater verlief genau so harmonisch. Am Abend war Achim ganz und gar in der Familie aufgenommen. Frau Lohmann hatte ein Gästezimmer für ihn hergerichtet, und ein Hochzeitstermin war auch schon bestimmt. Kurz vor dem Weihnachtsfest sollten für Achim und Judith die Hochzeitsglocken läuten. Die Ärzte hatten Herrn Lohmann versprochen, daß er dann wieder laufen könnte, wie in seinen besten Zeiten. »Kann ich dann auch einen Hochzeitswalzer mit meiner Tochter tanzen?« fragte der Patient. »Auch das!« wurde ihm zugesichert. Die Ärzte hatten nicht zuviel versprochen. Pünktlich, eine Woche vor der Hochzeit, konnte Hartmut Lohmann auch die Reha-Klinik verlassen, in der er noch ein paar Wochen verbracht hatte. Für Helga Lohmann gab es nicht so viele Vorbereitungen wie damals für den Heiratstag, denn das junge Paar wünschte keine große Feier. Zu nah war noch die gescheiterte Hochzeit. Nur mit ein paar guten Freunden und den nächsten Verwandten wollten sie den Schritt in die Zukunft tun. Judith dachte manchmal an die schrecklichen Nächte, in denen ihr Griseldis im Traum erschienen war. Aber diese Zeit wiederholte sich nicht. Sie war glücklich mit ihrem Achim, und es gab nichts, was dieses Glück trüben konnte.
»Hattest du Angst?« flüsterte er ihr zu, als sie die Ringe getauscht hatten. »Ja, Achim. Aber das ist jetzt vorbei. Du bist bei mir und wirst mich immer schützen. Griseldis wird nun Ruhe geben, sie weiß ja, daß wir uns lieben.« »Und diese Liebe wird uns begleiten, so lange wir leben«, versprach er ihr mit einem Händedruck.