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Alle Rechte vorbehalten
Printed in the German Democratic Republic
Lizenz-Nr. 304-270/104/61 -(60- III A)
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Alle Rechte vorbehalten
Printed in the German Democratic Republic
Lizenz-Nr. 304-270/104/61 -(60- III A)
Satz und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden
2. Auflage
ES9D1
Für Leser von 7 Jahren an
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Peter Ramm geht in die dritte Klasse. Seine Freunde sagen Pitt zu ihm. Auch die Eltern nennen ihn Pitt. Wenn er sie ärgert, dann - dann sagen sie Peter zu ihm. Aber das kommt nicht oft vor. Oder doch, Pitt? Ach, Pitt will jetzt nicht darüber nachdenken. Er ist ja so fleißig. Pitt streicht den Gartenzaun an. Sein Gesicht glüht. So eifrig ist er. Hör nur, Pitt, wie die Vögel singen! Und über die Wiesen summen die Bienen. Gestern war Ostern. Da hat Pitt Schokoladeneier im Gras gefunden. „Peter!“ ruft die Mutti. „Peter, was tust du?“ Pitt steckt den Pinsel in die Blechbüchse, überall auf seinem Anzug sind Farbflecken. Selbst die Nase ist grün. Bunt sieht er aus, unser Pitt. Wie der Zeisig im Fliederbaum. „Komm sofort her, Peter!“ sagt die Mutter streng. Pitt runzelt die Stirn. „Ach du Schreck!“ ruft die Mutter. „Ich habe gearbeitet, Mutti“, sagt Pitt. Wirklich, der Zaun sieht wie neu aus. Fein hat Pitt ihn angemalt. Jetzt kommt auch Pitts Vater. Sie stehen nun alle drei vor dem Gartenzaun. Es duftet nach vielen Blumen. Und die Sonne scheint. „Na 3
ja“, sagt Pitts Vater. Er schaut seinen Jungen an und lächelt. Auch die Mutter lächelt jetzt. Pitt hat den Zaun angestrichen. Schön sieht er aus. Wirklich. Und im Keller steht eine Flasche mit Terpentin. Damit kann man die Farbflecke von Pitts Anzug und Nase entfernen. Brigitte, Siggi und Max fegen um die Ecke. Das Mädchen ist flinker als die beiden Jungen. Brigittes Haare fliegen. Und ihr Gesicht ist ganz rot vom Rennen. Sie ist zuerst da und begrüßt Pitts Eltern. Dann gibt sie Pitt die Hand. „Ich habe den Zaun angemalt“, sagt Pitt stolz. Nun sind auch Siggi und Max angelangt. Eine alte Frau geht mit ihrem Dackel vorbei. Der Dackel rennt zum Zaun und hebt das Bein. „Weg mit dir!“ ruft Pitt erbost. Aber es ist schon geschehen. Sie lachen alle. Nur Pitt ist ein wenig ärgerlich. Die lebhafte Brigitte sagt zu Pitts Vater: „Wir sind pünktlich gekommen, Herr Ramm. Dürfen wir jetzt - erzählen Sie uns nun die Geschichte vom Neger Jim?“ Sie hat ein Frühlingskleid an. Aufgeregt tanzt sie von einem Bein auf das andere. „Sei nicht so zappelig“, flüstert Max ihr zu. 4
Herr Ramm schaut auf seine Uhr: „Na ja“, sagt er, „ich weiß gar nicht, eigentlich müßte er schon hier sein “ „Wer denn, Herr Ramm?“ fragt Siggi neugierig. Da stößt Pitt einen lauten Freudenschrei aus. „Pjär, Pjär!“ ruft er und rennt die Straße hinunter. Die Freunde sehen ihm mit großen Augen nach. Pitts Mutter ist aufgeregt. „Da muß ich ja schnell Kaffee kochen“, sagt sie. Die Kinder staunen. Pitt umarmt stürmisch einen Mann. „Seht nur!“ ruft Brigitte. „Ein Neger!“ „Das ist unser Freund Pjär“, sagt Herr Ramm. Pitt geht stolz an der Hand des Negers. Herr Ramm umarmt den Freund. „Pjär, ich habe den Zaun angemalt“, sagt Pitt. Pjär lacht. Er hat ganz weiße Zähne. „Feine Arbeit hast du gemacht, Pitt“, sagt er. Brigitte staunt. Der spricht ja wie sie. Es klingt nur ein klein wenig fremd. Groß und kräftig ist er. Seine Augen sind lustig. Er hat ein freundliches, gutes Gesicht. Sie gibt ihm die Hand. „Guten Morgen, Herr Pjär“, sagt sie. 5
Pitt zeigt auf die Kinder: „Hier sind meine Freunde Max und Siggi und Brigitte.“ „Das ist eine Überraschung, was?“ fragt Pitts Vater. Pitt schaut auf seinen farbenverklecksten Anzug und wird verlegen. „Wenn ich gewußt hätte, daß Pjär heute kommt“, murmelt er. Max denkt: Schade, nun wird uns Pitts Vater die Geschichte nicht erzählen. Herr Ramm sagt: „Kommt alle mit, jetzt trinken wir zusammen Kaffee.“ „Und die Geschichte vom Neger Jim?“ fragt Brigitte enttäuscht. Herr Ramm blinzelt Pjär zu. Pitt rennt ins Haus hinein. Er will schnell einen neuen Anzug anziehen. „Jetzt wollt ihr wohl wissen, wer Pjär ist?“ fragt Pitts Vater. Die Kinder nicken heftig. „Na ja“, meint Herr Ramm, „das gehört nämlich schon zu der Geschichte. Kommt jetzt Kaffee trinken und Kuchen essen.“ Auf dem Tisch steht ein großer Fliederstrauß. Pitts Mutter bringt einen ganzen Kuchenberg aus der 6
Stube. Bienenstich und Käsekuchen. Es riecht nach Kaffee. Sie setzen sich um den Tisch. Pjär nimmt zwischen Pitt und Brigitte Platz. Siggi angelt sich das dickste Stück Käsekuchen. Er macht den Mund weit auf und beißt hinein. Vor dem Fenster fliegt ein gelber Schmetterling vorbei. Es ist ein heller Frühlingstag. Pitt hat ein weißes Hemd angezogen und das Pioniertuch um den Hals gelegt. „Wie war die Reise, Pjär?“ fragt Pitts Vater. Brigitte schaut zu ihrem Nachbarn. Sie freut sich, daß sie neben Pjär sitzen darf. „Kommen Sie direkt aus Afrika, Herr Pjär?“ fragt sie. Pjär und Herr Ramm lachen. Und Pitt zeigt mit dem Finger auf seine Stirn. „Peter!“ mahnt die Mutter. Pitt nimmt schnell den Finger von der Stirn. „Ich komme aus Leipzig“, sagt Pjär. „Dort studiere ich. Aber du brauchst nicht ,Herr Pjär‘ zu sagen. Pjär ist nämlich mein Vorname.“ Er holt einen No7
tizblock aus der Tasche und schreibt darauf: Pierre. „So wird mein Name geschrieben, seht ihr. Und gesprochen wird er: Pjär. Sagt einfach Pjär zu mir.“ Siggi kaut mit vollem Mund. Der Kuchen schmeckt herrlich. Max gibt den Zettel an Brigitte weiter. „Pier-re -- Pjär“, buchstabiert sie. Dann erinnert sie sich an die Geschichte. Was hat nur Pjär damit zu tun? Auch Pitt und Max sind schon ungeduldig. Aber sie müssen warten, bis Siggi seinen Kuchen vertilgt hat. Siggi ist lang und dünn, aber essen kann er für drei. Endlich ist er gesättigt. „Erzählen Sie nun, Herr Ramm?“ fragt Brigitte. Pitts Vater nickt. Sie stehen auf und gehen in das Wohnzimmer. Dort sind Regale mit vielen Büchern. Pitts Vater ist Parteisekretär im Ernst-ThälmannWerk. „So viele schöne Bucher“, sagt Brigitte. „Haben Sie die alle gelesen?“ „Klar“, erwidert Pitt, „die stehen doch nicht zum Spaß hier. Mein Vati weiß alles, was du dir denken kannst.“ „Na, na, Freundchen“, mahnt Herr Ramm und droht Pitt mit dem Finger. 8
Die Sonne scheint in die Stube. Durch das Fenster kommt ein Geruch von frischem Grün und Blumenerde. Pitt, Siggi und Max setzen sich um den runden Tisch. Pierre streckt seine langen Beine aus. Pitts Vater stützt die Hände auf den Tisch und schaut über die Gesichter hinweg. Es ist ganz still. „Tja“, sagt Herr Ramm, „die Geschichte vom Neger Jim wollt ihr erfahren. Dann hört gut zu.“ Er lehnt sich im Sessel zurück und beginnt zu erzählen: „Es war einmal ein junger Mann. Der hieß Peter ... “ „Wie ich, Vati?“ fragt Pitt. „Genau so.“ „Es war einmal?“ fragt Brigitte. „Ist das ein Märchen?“ Der Erzähler denkt lange nach. Er sieht zu Pierre, der still in seinem Sessel sitzt. „Es klingt beinahe wie ein Märchen“, sagt Pitts Vater, „aber es ist von Anfang bis Ende wahr. Peter 9
lebte vor zwanzig Jahren in einer Stadt an der Elbe. Er war Lehrling in einer Druckerei. Dort wurden Zeitungen gedruckt. Jeden Tag mehr als zehntausend. Wenn die Arbeiter abends nach Hause kamen, lasen sie die Zeitung. Damals waren viele Menschen arbeitslos, auch Peters Vater. Peter verdiente nicht viel als Lehrling. Er gab sein ganzes Geld der Mutter. Trotzdem reichte es nicht aus. Aber Peter ließ sich nicht unterkriegen. Er war im Arbeitersportverein Fichte. Jede freie Minute verbrachte er auf dem Sportplatz. Er war der beste Handballspieler. Zu dieser Zeit marschierten schon die braunen SAMänner durch die Straßen. Und Hitler schrie, er werde für alle Arbeit und Brot schaffen. In Wirklichkeit aber wollte er Kanonen und Flugzeuge bauen. Krieg wollte er machen. In der Arbeiterzeitung stand: ,Paßt auf! Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!‘ Peter und seine Genossen paßten auf. Sie warnten vor Hitler. Sie marschierten durch die Straßen. ,Kämpft gegen Hitler!‘ riefen sie. Manchmal wurden sie von Hitler-Leuten überfallen. Dann wehrten sie sich mit ihren Arbeiterfäusten. Das Jahr 1933 kam.
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Peter sollte im April seine Lehre beenden. Doch es kam anders. Die Nazis siegten, und es begann eine schlimme Zeit. Als Peter eines Tages zur Arbeit ging, waren die Maschinen in der Druckerei zerstört. Und vor dem Tor stand ein SA-Mann mit einem Gewehr. Peter ballte die Fäuste in der Tasche. Er war blaß vor Zorn. Am gleichen Abend drangen SA-Männer in das Sportlerheim ein. Die Arbeitersportler wehrten sich erbittert. Peter warf einen SA-Schläger die Treppe hinunter. Aber es kamen immer mehr SA-Männer. Sie hatten Knüppel und Pistolen bei sich. Zwei Arbeitersportler wurden ermordet. Peter entkam mit einigen Freunden. Er hatte einen Streifschuß am linken Arm abbekommen. Peter eilte nach Hause. Er traf die Mutter. Sie wartete in einer Seitenstraße auf ihn. Hastig zog sie ihn in einen Hausflur. Dort umarmte sie ihn und weinte. ,Du darfst nicht nach Hause kommen, Peter“, flüsterte sie, ,die Nazis haben Vater weggeschleppt. Auch dich wollten sie holen ... Ach, mein lieber Peter!‘ Peters Arm schmerzte sehr. Er biß die Zähne zusammen. Die Mutter sollte nicht merken, daß er
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verwundet war. ,lch komme bald wieder, Mutti. Weine nicht mehr‘, sagte Peter. Die Mutter trocknete die Tränen ab. Sie nahm ihre Geldbörse aus der Tasche und drückte Peter zwanzig Mark in die Hand. Das war alles, was sie hatte. ,Nimm, mein Junge‘, sagte sie. ,Ich denke immer an dich. Vielleicht kannst du bald zurückkommen.‘ ,Ja, Mutti. Mach dir keine Sorgen. Mich kriegen sie nicht.‘ Es war schon dämmerig. Und der kalte Aprilwind blies durch die Straße. Die Laternen brannten. Peter schlich im Schatten der Häuser zum Bahnhof. Eine Krankenschwester verband Peters Arm. ,Wie alt bist du?‘ fragte sie mitleidig. ,Siebzehn‘, erwiderte Peter. ,Du kannst im Krankenraum schlafen, wenn du willst.‘ Peter schüttelte den Kopf. ,Danke, Schwester‘, sagte er, ,aber ich muß fort.‘ Die Tür fiel ins Schloß. Peter fuhr mit dem nächsten Zug nach Leipzig. Nachts irrte er durch die große Stadt. Er wagte nicht, zu seinem Onkel zu ge12
hen. Vielleicht hatten die Nazis auch den Onkel geholt. Am nächsten Morgen ging früh die Sonne auf. Peter wanderte todmüde über die Landstraße. In einem Dorf kaufte er sich Brötchen und Wurst. Er fiel heißhungrig über das Essen her. Mittags legte er sich auf eine Wiese und schlief. Er erwachte spät. Etwas Feuchtes berührte sein Gesicht. Peter schreckte auf. Neben ihm stand eine Kuh. Sie beleckte seine Stirn und Wangen. Peter scheuchte sie weg. Dann überlegte er, was er weiter tun sollte. Nach Hause durfte er nicht zurück. Wohin aber sollte er wandern? Überall in Deutschland regierten die Hitlerleute. Der siebzehnjährige Peter beschloß, in ein fremdes Land zu gehen. Nach Frankreich wollte er wandern und von dort übers Meer nach Afrika. Das war schon immer sein Traum gewesen: Fremde Länder kennenlernen! Das Meer und die heiße Sonne sehen! Blumen an grünen Sträuchern und goldgelbe Früchte! Peter wanderte und träumte. Gerade zehn Mark hatte er noch in der Tasche.
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In einer Apotheke kaufte er Verbandzeug. Er wagte nicht, zu einem Arzt zu gehen. Jeden Abend verband er sich selbst. Er nahm die Zähne zu Hilfe. Manchmal übernachtete er in einer Jugendherberge. Meistens aber mußte er in Scheunen oder sogar im Freien schlafen. Endlich kam der Sommer. Das Korn reifte. Peter bettelte um Brot und Mittagessen. Immer war er in Sorge, von den Nazis verhaftet zu werden. Er lernte viele Städte und Dörfer kennen. Seine Gedanken waren oft zu Hause - bei der Mutter, dem Vater und den Genossen vom Sportverein. Nachts träumte er von dem Überfall. Und er sah die bleichen Gesichter der erschlagenen Freunde. Das trieb ihn weiter, immer weiter. Im August stand er am Ufer des Rheins. Sein Arm war zugeheilt. Er schmerzte noch ein wenig, wenn er ihn bewegte. Zu seinen Füßen floß der glänzende Strom. Auf den Uferwiesen duftete das Heu. Und drüben - drüben lag Frankreich. Ich muß hinüberschwimmen, dachte Peter, dann bin ich frei. Er sah zwei Wachposten mit Gewehren kommen. Hatten sie ihn schon gesehen? Peter duckte sich und verschwand im Gebüsch. Er hörte die Schritte. Sein Herz schlug schnell. Wenn die Wachposten ihn fanden, war er verloren. 14
Peter hob den Kopf und schaute durch die Zweige. Die Wachposten gingen vorbei. Sie hatten ihn nicht gesehen. Peter war hungrig. Doch er wagte sich nicht aus dem Gebüsch. Die Grenze war scharf bewacht. Er entdeckte Brombeersträucher und pflückte sich Beeren ab. Dann legte er sich hin und schlief. Nachts erwachte Peter. Er wußte nicht, wie spät es war, denn er hatte seine Uhr verkauft. Das Geld bewahrte er im Taschentuch auf. Die Nacht war still. Manchmal bellten Hunde. Der Mond schien. Peter kroch aus seinem Versteck. Gebückt lief er zum Ufer des Stroms. Er warf sich auf die Erde nieder und lauschte. Nichts war zu hören als das Rauschen des Stroms. Schnell floß das Wasser dahin. Peter zögerte. Er blickte über den Fluß. Hatte er Angst? Ja, Peter hatte Angst. Nicht weit vom Ufer schmatzten gierige Strudel. Wenn sie ihn nun packten und in die Tiefe zogen? Denk nicht daran, Peter! Du mußt hinüber! Er ließ sich vorsichtig ins Wasser gleiten. Der Strom ergriff ihn. Peter schwamm. Mit der Hand15
kante zerschlug er den Strudel. Er sank in die Tiefe und kam wieder nach oben. Dann ging es besser. Langsam näherte er sich dem anderen Ufer. Peter hatte keine Angst mehr. Am liebsten hätte er ein Lied angestimmt. Das Ufer war steil. Peter schwamm weiter, bis er an eine Bucht kam. Dort stieg er aus dem Wasser. Jetzt merkte er erst, wie sein Arm schmerzte. Er war so erschöpft, daß er im Gras niedersank. Zum Glück war die Nacht sehr warm. Kein Wind wehte. Peter zog die nassen Sachen aus. Er trocknete sie, so gut er konnte. Dann fand er eine breite Straße. Sie führte ins Land hinein. Diese Straße wanderte er entlang. Jetzt bin ich in Frankreich, dachte er, die Nazis können mich nicht mehr erwischen. Aber er war zu müde, um sich freuen zu können. Und er fror in seinen halbnassen Kleidern. Neben der Straße war ein Heuhaufen. Dort hinein kroch Peter. Und bald schlief er ein. Der Morgen kam. Glühend rot ging die Sonne auf. Doch sie wärmte noch nicht. Peter erwachte. Seine Zähne klapperten, und der Magen knurrte. Das Heu kitzelte sein Gesicht. 16
Peter streckte sich und kroch auf die Wiese. An den Grashalmen hingen Tautropfen - tausend und noch einmal tausend Unzählbar. Wie sie glitzerten! Peter schloß die Augen. Kalt war ihm. Seine Sachen waren noch feucht. Am liebsten wäre er wieder ins Heu geschlüpft. Mit einem Ruck sprang er auf und hüpfte auf der Wiese umher. So machte er sich warm. ,Ich bin in Frankreich!‘ rief er. ,In Frankreich bin ich, juchhe!‘ Er klopfte das Heu ab und strich seine Kleider glatt. Auf der Landstraße kam ihm ein Bauernwagen entgegen. Ein Ochse war davorgespannt. Gemächlich trottete er dahin. Der Kutscher schlief. Neben ihm lag sein Frühstück. Es war in ein Tuch geknüpft. Peters Augen wurden groß. Ein Stück Weißbrot und Käse ... Jetzt war der Wagen neben ihm. Der Kutscher schnarchte. Peter ging neben dem Wagen her. Er dachte immer nur an das Brot. Sein Arm streckte sich aus. Er brauchte nur zuzugreifen. Da sah er das müde Gesicht des Kutschers. Nein, dachte Peter, nein! 17
Er blieb stehen. Der Ochse trottete weiter. Und die Wagenräder klapperten über die Straße. Die Sonne stieg höher. Gegen Mittag zog Peter die Jacke aus. So warm war es geworden. Er kam in eine kleine Stadt. In den engen Gassen roch es nach Mittagessen. An den Läden waren Schilder in französischer Sprache. Peter konnte kein Wort lesen. Vor einem Bäckerladen blieb er stehen. Doch er wagte sich nicht hinein und ging weiter. Eisenbahnschranken versperrten ihm den Weg. Ein Zug fuhr vorbei. Peter folgte den Schienen und kam zum Bahnhof. In der Bahnhofshalle warteten Reisende mit Koffern und Körben. Peter las die Schilder mit den Abfahrtszeiten. Die fremden Wörter verwirrten ihn. Endlich fand er einen vertrauten Namen: Paris. Er holte sein Geld aus der Tasche, das er für die Uhr bekommen hatte. Zwanzig Mark waren es. Ob es reichte für eine Fahrkarte nach Paris? Die Reisenden gingen schon zum Bahnsteig. Bald stand Peter allein in der Halle. Er sah nach der Bahnhofsuhr. Es war eins. 18
Eben fuhr fauchend ein Zug ein. War es der Zug nach Paris? Peter hastete zum Schalter. Er zeigte zum Bahnsteig und fragte: ,Paris, ja?‘ Der Beamte nickte. ,Eine Karte nach Paris, bitte‘, sprudelte Peter aufgeregt. Der Beamte nahm den Zwanzigmarkschein in die Hand. ,Haben Sie keine Franken?‘ fragte er. Peter atmete auf. Ein Glück, daß der Mann deutsch verstand. ,Nein, kein anderes Geld‘, sagte er. Der Zug tutete. Unschlüssig blickte der Beamte auf den Geldschein. ,lch bin aus Deutschland geflohen‘, sagte Peter. ,Bitte, geben Sie mir eine Fahrkarte.‘ Der Mann sah Peter prüfend an. Sein strenges Gesicht wurde freundlich. Ergab Peter die Fahrkarte und einige französische Franken. ,Der Zug fährt gleich‘, sagte er. Peter lief auf den Bahnsteig. Der Bahnhofsvorsteher hob die Kelle, und die Räder begannen sich zu drehen. Peter sprang im letzten Augenblick auf den Zug und schlug die Tür hinter sich zu.
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Nun war er im Zug nach Paris. Er ging in ein leeres Abteil und setzte sich an das Fenster. Die Räder ratterten über die Schienen. Bald lag die kleine Stadt hinter ihm. Peter vergaß seinen Hunger. Wiesen und Felder und schlanke Pappeln tanzten vorbei. Er hatte ein wenig Angst vor Paris. Wie sollte er leben in der großen Stadt? In seiner Tasche klimperten die Franken. Sie sahen wie Ein- oder Zweimarkstücke aus. Er überlegte, wie lange er nichts gegessen hatte. Einen ganzen Tag und eine Nacht keinen Bissen! Denke nicht daran, Peter. Du bist in Frankreich. Hier gibt es keine SA-Männer. Du bist frei, Peter, frei! So redete er sich Mut zu. Aber der Magen wurde nicht voll davon. Peter schaute zum Fenster hinaus. Es wurde schon Abend. Der Zug raste durch die Dämmerung. Grüne und rote und weiße Lichter blinkten auf. Da schlief Peter ein und träumte. Er saß zu Hause am Abendbrottisch und aß Wurstbrote. Ein schöner Traum. Peter schmatzte mit den Lippen im Schlaf. Der Zug fuhr in einen riesigen Bahnhof ein. Ringsumher waren viele tausend Lichter. Die Bremsen 20
kreischten. Alle Leute stiegen aus. Peter aß noch immer Wurstbrote im Traum. Ein Mann rüttelte seine Schulter. ,Monsieur, Monsieur, c'est Paris! Herr, Herr, das ist Paris!‘ rief er. Nun war Peter also in Paris. Es war spät in der Nacht. Männer und Frauen hasteten durch die Bahnhofshalle. Sie redeten laut miteinander. Ihre Stimmen waren wie ein fremdes Lied. Peter verstand kein Wort. Aber es hörte sich schön an. Die große Halle war taghell erleuchtet. Eben kam wieder ein Zug. Ein Karren, mit Paketen hoch beladen, fuhr beinahe über Peters Zehenspitzen. Der Fahrerschimpfte. Peter sprang schnell zurück. Er hatte einen mächtigen Schreck bekommen. ,Schimpfe nicht, du ‘, rief er dem Fahrer nach. Keiner kümmerte sich um ihn. Erfühlte sich allein inmitten der Menschen. Da sah er auf dem Bahnsteig einen Brunnen. Ein Wasserstrahl sprudelte empor. Peter beugte sich nieder und trank. Das kühle Wasser erfrischte ihn. Er schlürfte es gierig. Es gluckerte in seinem leeren Magen. Jetzt nahm er sich vor, essen zu gehen. Hatte er nicht harte Frankenstücke? Peter steckte die Hände in die Hosentaschen und pfiff sich ein Lied. 21
Nicht unterkriegen lassen, Peter! Er verließ den Bahnhof. Eine breite Straße lief schnurgerade durch das Häusermeer. Autos, Omnibusse und Pferdedroschken fuhren vorbei. Über den hellen Schaufenstern leuchteten blaue, rote, grüne, gelbe Schriften. Peter war mitten im Herzen der großen Stadt Paris. Gegenüber war eine Gaststätte. Peter ging hinein und setzte sich an einen leeren Tisch. Es roch nach Braten und Weißbrot. Ein dicker Mann aß ein riesiges Kotelett. Peters Magen knurrte wütend. Der Kellner brachte die Speisekarte. Aber Peter konnte sie nicht lesen. Nur die Preise verstand er. Er zählte sein Geld. Fünfzehn Franken hatte er noch. Der Kellner kam an den Tisch. Seine Jacke war blütenweiß. Peter zeigte mit dem Finger auf die Karte. ,Das hier, für vierzehn Franken‘, sagte er. Der Kellner antwortete etwas und ging weg. Nach einer Weile brachte er einen Teller mit gebratenen Eiern, Schinken und Tomatensalat. Eine Riesen Portion! Dazu eine Stange Weißbrot, so lang wie Peters Unterarm.
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Peter starrte auf seinen Teller. Ein Mann setzte sich an seinen Tisch. Er sagte einen Gruß. Peter sah nur flüchtig auf. ,Guten Abend‘, murmelte er und stürzte sich heißhungrig auf das Essen. Wie das schmeckte! Bald hatte er auch das letzte Stück Brot verzehrt. Jetzt fühlte er sich besser. Er zählte vierzehn Franken auf den Tisch. Einen Franken legte er als Trinkgeld dazu. Gleichgültig strich der Kellner das Geld ein. Nun hatte Peter keinen Pfennig mehr. Er schlenderte durch die nächtlichen Straßen. Es war still geworden. Manchmal fuhr ein Auto vorbei. Die bunten Lichter gingen aus. Wie spät war es nur? Dort hing eine Uhr. Bald drei war es! Peter gähnte. Zwei Polizisten kamen ihm entgegen. Peter verschwand in einer Nebenstraße. Er fand einen verlassenen Park. Dort legte er sich auf eine Bank. Es war kühl geworden. Peter krümmte sich zusammen und preßte die Arme eng an den Körper. Ein Mann ging durch den Park. Er trug einen alten Sack über der Schulter. Vor der Bank blieb erstehen. Er knurrte etwas in sich hinein. Peter hörte
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es nicht. Peter schlief schon. Er hatte den Mund geöffnet und schnarchte. Der Mann nahm drei große Zeitungsbogen aus seinem Bettelsack. Dann legte er sich ins Gras. Der Sack diente ihm als Unterlage. Mit den Zeitungsbogen deckte er sich zu. Bald schnarchte er mit Peter um die Wette. Schon graute der Morgen. Die ersten Arbeiter gingen zur Frühschicht. Gemüsekarren ratterten über das Pflaster. Die Untergrundbahn donnerte unter der Erde. Wasserbäche spülten den Schmutz aus den Rinnsteinen. Vor Peters Bank standen zwei Polizisten. Einer rüttelte ihn wach. Peter richtete sich auf und blinzelte. Die Sonne fiel durch das Gebüsch. Der Bettler war längst verschwunden. Peter aber hatte bis in den späten Morgen hinein geschlafen. Er stand auf und streckte sich. Vor den Polizisten hatte er keine Angst. Der große mit dem Schnurrbart tippte auf Peters Brust. Und der andere redete laut auf Peter ein. Zwei Arbeiter und eine Frau blieben stehen. Peter war jetzt ganz munter. ,Guten Morgen‘, sagte er freund-
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lich, ,ich verstehe kein Wort.‘ Er hob die Schultern. ,Wirklich, ich verstehe kein Wort‘, wiederholte er. Der Polizist mit dem Schnurrbart sah ihn ärgerlich an. Ein Arbeiter fragte Peter: ,Du bist ein Deutscher?‘ Peter nickte heftig. Endlich verstand ihn jemand. ,Ja, ein Deutscher‘, sagte er. Der Arbeiter sah ihn böse an. ,Faschist?‘ fragte er. ,Nein, nein!‘ erwiderte Peter. Der Arbeiter und die Polizisten sprachen miteinander. ,Sie wollen deinen Paß sehen‘, sagte der Arbeiter. ,lch bin geflohen‘, erwiderte Peter, ,nichts habe ich. Nur mein Verbandsbuch ... Hier.‘ ,Laß es stecken , warnte ihn der Arbeiter. Dann sprach er mit den Polizisten. Peter dachte: So ein Pech! Gleich am ersten Tag stecken sie mich ins Loch. So ein Pech aber auch! ,Paß auf, was ich dir sage! sprach der Arbeiter zu Peter. ,Spring einfach ins Gebüsch und renne weg. 25
Komm um vier Uhr wieder hierher. Dann warte ich auf dich. Das ließ sich Peter nicht zweimal sagen. Er nahm die Beine in die Hand und lief weg. Der Arbeiter und die Polizisten rannten hinter ihm her. Peter hörte sie laut schreien und schimpfen. Wie der Blitz raste er durch die Straßen. Die Polizisten mußten die Verfolgung bald aufgeben. Der Arbeiter stand an der Straßenecke und lachte. Er schob seine Mütze aus der Stirn und ging zur Arbeit. Peter tauchte im Gewimmel eines Gemüsemarktes unter. Hier konnten ihn die Polizisten niemals finden. Die Sonne stieg höher. Heiß leuchtete sie in die Straßen hinein. Peter half einer dicken Marktfrau. Er schleppte Körbe mit Blumenkohl und Äpfeln und Birnen. Zur Belohnung bekam er eine Tüte mit Obst und eine Stange Brot. Er setzte sich auf eine Steintreppe und aß, bis nichts mehr in der Tüte war. Peter blieb in der Nähe des kleinen Parks. Er paßte gut auf. Die Polizisten sollten ihn nicht wieder erwi-
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schen. Schon um drei Uhr wartete er vor der Bank. Ungeduldig spazierte er hin und her. Endlich kam der Arbeiter. Punkt vier, wie er versprochen hatte. Er lachte Peter an. ,Da bist du ja. Zeig mir dein Verbandsbuch.‘ Peter holte das schwarze Buch aus der Tasche. Der Arbeiter blätterte es aufmerksam durch. Dann gab er Peter die Hand. ,Gut, Peter‘, sagte er. ,lch heiße Robert. Einfach zu merken, was? Robär mußt du sagen. So spricht man es bei uns aus. Meine Eltern wohnen an der Grenze. Daher kann ich deutsch.‘ ,Danke, Robär‘, sagte Peter. Der Arbeiter winkte ab. ,Wir gehen zur Gewerkschaft‘, sagte er, ,die muß dir helfen.‘ Sie fuhren mit der Metro. So heißt die Untergrundbahn in Paris. Peter staunte. Blitzschnell rasten die Wagen an den schwarzen Wänden vorbei. Und die Leute lasen gemütlich ihre Zeitungen. ,Aussteigen‘, sagte Robert, ,wir sind da.‘ Sie gingen in ein großes Haus. ,Merk dir die Straße‘, sagte Robert, ,hier ist das Komitee für die deutschen Flüchtlinge.‘ 27
Sie standen vor einer Tür. ,Geh hinein‘, sagte Robert, ,ich drücke die Daumen.‘ Peter klopfte an und ging hinein. Hinter einem Tisch saß ein grauhaariger Mann. Er sah auf. Peter blieb an der Tür stehen. ,Was gibt's so spät noch?‘ fragte der Mann. Peter reichte ihm sein Verbandsbuch. ,lch komme aus Deutschland‘, sagte er. ,So, aus Deutschland‘, erwiderte der Mann spöttisch. Das ärgerte Peter. Und er erzählte, warum er weggegangen war. Der Grauhaarige hörte aufmerksam zu. Sein Gesicht war ernst geworden. Er dachte eine Weile nach. ,Hm ... Hm.‘ Er blätterte in Peters Buch. ,Deinen Vater haben sie weggeschleppt? Und dich wollten sie auch holen?‘ Er sah Peter nachdenklich an. ,Du mußt morgen wiederkommen‘, sagte er, ,wenn die anderen Genossen da sind. Ich bin ganz allein heute. Komm morgen früh.‘ Peter blieb niedergeschlagen stehen. Sollte er wieder eine Nacht im Park verbringen? 28
,Wo schläfst du?‘ fragte der Mann. Peter zuckte mit den Schultern. Der Mann schrieb etwas auf einen Zettel und gab ihn Peter. ,Dort kannst du unterkommen‘, sagte er, ,kriegst auch Abendessen.‘ Er ging zum Fenster und zeigte Peter den Weg. ,Bis morgen‘, sagte er. Robert wartete im Flur. ,Alles in Ordnung?‘ fragte er. Peter nickte freudig. Erzeigte Robert den Zettel. ,Lamarck 17‘, las Robert, ,das ist auf Montmartre. Schön ist es dort oben, wirst sehen.‘ Er begleitete Peter bis zum Fuß des Berges Montmartre. Dann verabschiedete er sich. ,Meine Frau ist krank‘, sagte er, ,ich muß schnell nach Hause. Den Weg findest du nun.‘ Peter bedankte sich für alles. Robert umarmte ihn. ,Alles Gute, Peter.‘ Robert verschwand zwischen den vielen Menschen. Als Peter in die Tasche faßte, spürte er ein Geldstück. Robert hatte ihm heimlich fünf Franken in die Tasche gesteckt. 29
Der Berg Montmartre liegt mitten in Paris. Oben steht eine weiße Kirche. Peter sah hinauf. Der Himmel war grau. Beeil dich, Peter. Bald ist der Abend da. Er sprang die vielen Treppen empor. Atemlos kam er oben an. Vor der Kirche blieb er stehen. Robert hatte recht: Schön war es hier. Und still wie in einem Dorf! Ein Maler war vor seinem Bild eingeschlafen. Er saß auf der Treppe, lehnte den Kopf an die Steinmauer und schnarchte. Peter ging auf Zehenspitzen vorbei. Er stützte die Arme auf das Geländer und schaute über Paris hinweg. Die Stadt war unendlich groß. Auf den Dächern stand ein ganzer Wald von Schornsteinen. Peter roch Essen. Er ging dem Geruch nach. In einer Gasse röstete eine Frau Kastanien. Peter kaufte sich eine Tüte. Hungrig biß er in die mehligen Früchte. ,So, Peter, nun kannst du Schlafengehen‘, sagte er. Vor dem Eingang des grauen Hauses brannte eine Laterne. ,Lamarck Nr. 17‘, las Peter. Er ging durch 30
das Tor. Ein Mann kam über den Hof. Peter zeigte seinen Zettel. Der Mann las ihn und brachte Peter in einen großen Raum. Dort warteten viele Männer. Sie waren ärmlich gekleidet. Keiner sprach deutsch. Peter setzte sich auf eine Bank. Er war sehr niedergeschlagen, weil er mit keinem sprechen konnte. Und er nahm sich vor, bald französisch zu lernen. In dem düsteren Raum standen Tische und Bänke. Eine Frau brachte Blechschüsseln und Löffel. Die hungrigen Männer stürzten darauf zu. Zum Schluß blieb trotzdem noch eine Schüssel für Peter übrig. Nur einen Löffel bekam er nicht mehr. Vor dem Schlafengehen gab es eine dünne Suppe. Die konnte Peterauch ohne Löffel schlürfen. Ach, Peter war so müde! Mit den anderen ging er durch einen dunklen Korridor zum Schlafsaal. Auf einem Bett sank er nieder. In einem Heim für Obdachlose endete Peters erster Tag in Paris. Er ruhte sich auf dem Strohsack aus. Eine trübe Lampe brannte bis zum Morgen. Zehntausend deutsche Flüchtlinge lebten in der großen Stadt. Es war nicht möglich, allen zu helfen. Peter bekam dreimal fünfundzwanzig Franken von 31
der Gewerkschaft. Die halfen ihm über die erste schwere Zeit hinweg. Dann mußte er sich selber helfen. Er kaufte ein Wörterbuch und lernte französisch. Bald konnte er sagen: ,Ein wenig Brot, bitte!‘ Oder: ,Guten Morgen, meine Dame ... Guten Morgen, mein Herr, darf ich Ihren Koffer tragen?‘ Oder: ,Danke schön, mein Herr ... Tausend Dank, meine Dame.‘ Durch Paris fließt ein schmaler, dunkler Fluß, die Seine. Wenn die Sonne schien, saßen Angler auf dem gepflasterten Ufer. Nachts spiegelten sich unzählige Lichter in der Seine. Breite Steinbrücken verbanden die Ufer. Unter den Brücken schliefen die Bettler von Paris. Peter schauderte, wenn er die zerlumpten Männer auf den kalten Steinen sah. Lieber lief er die ganze Nacht durch die Straßen. Der Herbst kam. Goldgelb färbte sich das Laub an den Bäumen. Peter malte mit einer Zahnbürste Birken, Wasser und Brücken auf Postkarten. Dann ging er damit von Haus zu Haus. So verdiente er sich ein paar Franken.
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Die Tage waren schon kühl. Noch kühler waren die Nächte. Peter fror in seinem dünnen Anzug. Vielleicht finde ich Arbeit, dachte er, dann kaufe ich mir einen Mantel. Er lief von früh bis spät und fragte nach Arbeit. Die Leute lächelten oder schimpften. Ein Fleischermeister jagte ihn weg. Von einer Bäckersfrau bekam er ein Stück frisches Brot. Aber Arbeit bekam er nicht. Es gab genügend Franzosen, die auf Arbeit warteten. Peter lernte einen Buchdrucker kennen. Der sagte ihm die Adresse der Roten Hilfe. Die Rote Hilfe war ein Büro der Kommunistischen Partei. Dorthin ging Peter. Er klopfte an die Tür und trat in ein Zimmer. Zwei Männer sprachen laut miteinander. Eine junge Frau saß vor einer Schreibmaschine und tippte. In der Ecke stand ein Kanonenofen. ,Einen Augenblick, Genosse“, sagte die junge Frau. Peter war durchgefroren. Er stellte sich dicht an den Ofen. Die Wärme belebte ihn. Sein Gesicht und seine Hände färbten sich rot. ,Frierst du, Genosse?‘ fragte die junge Frau. 33
,Ein bißchen‘, sagte Peter. ,Siehst du nicht, Marcel - der junge Genosse friert‘, rief sie. Die Männer unterbrachen ihr Gespräch. Marcel sah auf. Er war klein und stämmig. Mit flinken Bewegungen holte er zwei Stühle und stellte sie vor den Ofen. ,Setz dich, Genosse. Wer bist du? Wie können wir dir helfen?‘ Peter erzählte seine Geschichte. Er sprach stockend und erklärte mit den Händen, was er französisch nicht sagen konnte. Marcel und die Frau hörten aufmerksam zu. Es knisterte im Ofen. Marcel runzelte die Stirn. ,Ja, ja‘, sagte er, ,es ist schwer ... Aber wir haben kaum noch einen Franken in unserer Kasse.‘ Er hielt Peter die leeren Hände hin. ,Was soll man da machen?‘ Peter starrte mutlos auf den Fußboden. ,Wir können ihn doch nicht wegschicken, Marcel‘, rief die Frau. ,Weißt du schon, wo du schläfst heute nacht?‘ fragte sie Peter.
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Peter schüttelte den Kopf. Die Frau sah Marcel fragend an. Marcel nickte ihr zu. ,Wir machen ihm ein Lager neben dem Ofen‘, sagte er. Draußen wehte der kalte Herbstwind. Peter schlief wie ein König diese Nacht. Er lag neben dem Ofen auf einem Strohsack. Als er aufwachte, standen fünf Genossen um sein Lagerund lachten. Marcel brachte ihm einen Mantel. ,Der ist von Yvonnes Vater. Yvonne, das ist die Genossin von gestern, weißt du. Sie kann heute nicht kommen. Nimm ihn.‘ ,Danke‘, sagte Peter noch ganz verschlafen, ,danke schön.‘ Auf dem Tisch lagen Brot und Wurst. Marcel holte eine Kanne Milchkaffee. Peter frühstückte. Schon lange war es ihm nicht so gut gegangen. Die Genossen berieten, wie sie Peter helfen könnten. Peter verstand sie nicht. Sie sprachen zu schnell. Nach einer Weile setzte sich Marcel zu Peter an den Tisch. ,Wenn du Lust hast, kannst du mit mir nach Marseille fahren‘, sagte er, ,dort ist es leichter für dich. In Paris sind zu viele Flüchtlinge, verstehst
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du. Morgen fahre ich mit dem Fernlastzug los. Kommst du mit, Peter?‘ Peter war sofort Feuer und Flamme. Marseille war eine große Stadt am Meer. Sie lag im Süden. Dort brannte die Sonne noch heiß. Peter fuhr mit dem Fernlaster über die Asphaltstraßen. Marcel saß am Steuer. Sein Chef saß neben ihm. Peter lag unter Säcken verborgen auf der Ladefläche. Marcels Chef durfte Peter nicht erwischen. Die Räder rollten. Tag und Nacht lag Peter in dem dunklen Versteck. Er fror in der Nacht. Aber er spürte, daß es wärmer wurde. Marcel schob ihm heimlich Brot, Fleisch und eine Flasche Bier unter die Plane. ,Bald sind wir in Marseille, Peter‘, flüsterte er, ,hältst du es noch aus?‘ ,Ja. Marcel, ich halte es noch aus.‘ Nach zwei Tagen und zwei Nächten kamen sie in Marseille an. Die Räder standen still. Der Motor lief nicht mehr. Peter hörte Schritte und Stimmen. Er wartete ungeduldig. Endlich klopfte es gegen die Planken.
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Peter kroch aus seinem Versteck. Das Licht einer Bogenlampe blendete ihn. Seine Beine knickten ein, als er auf den Boden sprang. Marcel stützte ihn. ,Hast du dich verletzt?‘ fragte er besorgt. ,Nein, Marcel.‘ Es war eine laue Nacht. Peter streckte sich. Dann sah er sich neugierig um. Sie befanden sich auf einem großen Hof. Drei Fernlastzüge standen nebeneinander. Im Halbdunkel lag ein langgestreckter Speicher. Ein Wächter ging über den Hof. Er klapperte mit seinem Schlüsselbund. Marcel und Peter duckten sich. Sie warteten, bis der Wächter verschwunden war. Marcel zeigte auf eine Mauer. ,Du mußt hinüberklettern‘, flüsterte er, ,siehst du die Kiste dort?‘ ,Ja, Marcel!‘ ,Ich muß im Auto schlafen‘, sagte Marcel ,morgen fahre ich nach Paris zurück. Leb wohl, Peter!‘ Er reichte Peter einen Hundert-Frank-Schein. ,Von den Genossen aus Paris‘, sagte er, ,nun lauf. Laß dich nicht erwischen.‘ 37
Er gab ihm einen freundschaftlichen Stoß. Peters Dank wehrte er ab. ,Links um die Ecke ist ein kleines Hotel‘, rief er ihm leise nach, ,dort kannst du schlafen.‘ Peter huschte über den Hof. Er sprang auf die Kiste und schwang sich über die Mauer. Mit klopfendem Herzen lauschte er. Es war totenstill. Lautlos schlich eine Katze über die Gasse. Über ihm war ein Stück Himmel. Er stand in einer Gasse - irgendwo in Marseille. Hier und da brannte eine trübe Lampe. Plötzlich packte ihn das Heimweh. Er dachte an die Eltern. Und die Tränen rannen über sein Gesicht. Nicht unterkriegen lassen, Peter! Er biß die Zähne zusammen, schnaubte sich die Nase und trocknete die Tränen ab. Hatte er nicht hundert Franken in der Tasche? Trotzig schob Peter die Schulter vor. Er dachte an Marcels Rat und ging zu dem Hotel. Eine mürrische alte Frau öffnete ihm. Sie gab ihm einen Schlüssel. Peter stieg die steile Treppe hoch und schloß die Zimmertür auf. Dann legte er sich schlafen.
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Spät erwachte Peter am anderen Morgen. Die Sonne schien schon in das Zimmer. Er sprang aus dem Bett und trat an das Fenster. Sein Herz wurde weit vor Freude. Er sah Wasser und Schiffe. Ein ganzer Wald von Schiffsmasten stand vor seinen Augen. Dazwischen baumelten Taue und hingen Segel. Der Himmel war tiefblau. Hinter dem steinernen Hafenbecken glänzte das Meer. Peter, Peter, träumst du? Er tanzte in der armseligen Kammer umher. Nein, er träumte nicht. Alles, was er sah, war Wirklichkeit. Über dem Stuhl hing sein Mantel, und auf dem Tisch lag der Hundert-Frank-Schein. Peter stürmte die Treppe hinunter. ,Halt, halt‘, schrie die Alte, ,zehn Franken für das Zimmer, mein Herr!‘ Ach ja, beinahe hätte er es vergessen. Nun besaß er noch neunzig Franken. Und das dämpfte seine Freude etwas. Peter schlenderte durch die Gassen zum Alten Hafen hinunter. Seinen Mantel trug er über dem Arm. Das war alles, was er hatte. Er ging zu den Fischerkähnen und Segelschiffen, die mit dicken Tauen an Pfählen oder eisernen Ringen festgebunden waren.
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Ein Dampfer tutete. Peter schaute hinüber, und er sah ein großes weißes Schiff. Es lief aus dem Neuen Hafen in das Meer. Der Neue Hafen mit den Kränen und Lagerhallen lag hinter den Gassen. Lange schaute Peter dem Dampfer nach. Wohin fuhr er? Vielleicht nach Afrika? Peter kaufte sich eine Flasche Milch und Brot. Dann setzte er sich auf die Kaimauer und ließ die Beine herabhängen. Unter ihm schillerte ein großer Ölfleck auf dem Wasser. Was nun, Peter? dachte er. Wirst du in Marseille Arbeit bekommen? Er ging rings um das viereckige Becken des Alten Hafens. Fischhändler, Obstverkäufer und Marktfrauen boten ihre Waren an. Vor den Ständen lungerten Matrosen und Hafenarbeiter umher. Ein breitschultriger Neger spuckte ins Wasser. Zwei Araber und ein Franzose saßen auf den Steinen und spielten Karten. Eine Seite des Hafens führte ins offene Meer. Über das Hafenbecken spannte sich eine riesige Transportbrücke. Die Mole, ein breiter Steinwall, lief weit in das Meer hinein. An ihrem Ende stand ein Leuchtturm. 40
Peter ging zum Leuchtturm. Mächtige Steinblöcke lagen als Schutz vor der Mole. Peter setzte sich. Der Wind zauste seine Haare. Die Wellen stürmten gegen die Steine. Wassertröpfchen, fein wie Staub, sprühten in Peters Gesicht. Er schaute über die weißen Schaumkronen. Das Meer war ohne Ende. Es machte klein und zaghaft, wenn man allein auf der Mole saß. Peter fröstelte. Er sprang auf und ging zurück. Eine breite Straße führte vom Hafen weg in die Stadt. Vor einem Laden standen Obstkisten und ein Faß mit Sauerkraut. Peter fragte den Verkäufer nach Arbeit. Der Mann lachte, als hätte Peter Spaß gemacht. Er gab ihm eine Handvoll Sauerkraut. ,Da, iß!‘ Sein dicker Bauch wackelte unter der weißen Schürze. ,Danke‘, sagte Peter und stopfte sich das Sauerkraut in den Mund. Er kam an Kaufhäusern und feinen Hotels vorbei. Damen und Herren saßen an weiß gedeckten Tischen. Sie schlürften bunte Getränke. Und eine Kapelle machte Musik dazu. Peter hatte noch den Geschmack vom Sauerkraut im Mund. Eine Dame aß weiße Schlagsahne. Sie bemerkte Peters hungrige Augen und sah weg. 41
Schlagsahne! Wie lange hatte er keine gegessen? Wie im Traum ging er zwischen den Tischen hindurch. Er setzte sich in eine Ecke und bestellte Schlagsahne. Drei Portionen. Peter lief kreuz und quer durch Marseille. Der November verging. Es wurde kalt. Vom Meer wehte ein eisiger Wind. Schon ging es auf Weihnachten zu. Peter stand an den Hintertüren der Hotels und bettelte um Essen. Manchmal gab man ihm etwas. Oft bekam er nichts. Es waren zu viele Menschen in Marseille, die nichts zu essen hatten. Eines Tages schmuggelte Peter sich in den Neuen Hafen ein. Er nahm eine Kiste und trug sie auf das große Schiff an der Kaimauer. Das Schiff lud Fracht für Afrika. Peter versteckte sich hinter einem Taubündel. Doch der Steuermann entdeckte ihn und trieb ihn von Bord. Peter war dünn wie ein Strich geworden. Nachts schlief er im Alten Hafen. Unter einem Holzstapel hatte er sich ein Lager aus Holzwolle zurechtgemacht. Dort kroch er Abend für Abend hinein. Er deckte sich mit Zeitungsbogen und seinem Mantel zu. Doch was nützte das? Blaugefroren und hungrig 42
wachte er auf. Und die Sonne am Himmel wärmte nicht mehr. In sechs Tagen war Weihnachten. Der Sturm heulte um den Holzstapel. Peters Zähne klapperten gegeneinander. Zusammengekrümmt ruhte er auf seinem Lager. Seine Stirn war fieberheiß, und die Wangen glühten. Wenn er hustete, rasselte es in der Brust. Ein Schauer flog über seinen Körper, und der Schweiß trat ihm aus allen Poren. Die Nacht war schwarz. Nicht ein einziger Stern stand am Himmel. Der eisige Wind stach Peter wie mit tausend Nadeln. Er erstarrte. Dann wieder wurde ihm glühendheiß. Stunde um Stunde verging. Peter versank in Fieberträume. Er spürte den Schmerz in seiner Brust und die Kälte nicht mehr. Der Tag kam. Peter merkte es kaum. Er dämmerte vor sich hin. Seine Hand war zu schwach, den Mantel über den Rücken zu decken. So lag er lange, ohne sich zu regen. Es wurde Mittag, Abend, Nacht. Ein neuer Morgen brach an. Peter erwachte aus seinen Fieberträumen. Der Wind hatte nachgelassen. Aber es war noch immer
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sehr kalt. Vor dem Holzstapel gingen Matrosen vorbei. Sie lachten. Steh auf, Peter! Wenn du nicht aufstehst, gehst du hier zugrunde. Steh auf! Peter kroch mit zitternden Armen aus dem Versteck. Er zog sich mühsam an den Brettern empor. Jede Bewegung tat weh. Taumelnd ging er über den kleinen Platz. Vor einem Friseurladen blieb er stehen. Er sah sein Gesicht im Spiegel und erschrak. Es war totenbleich. Schwankend ging er weiter. Drüben in der Mauergasse war eine Hafenkneipe. Dort spielte der Neger Jim auf der Ziehharmonika. Peter drückte die Klinke nieder und ging hinein. Wärme und Tabakrauch schlugen ihm entgegen. Peter sah das Gesicht des Negers. Es erschien ihm weit entfernt. Auch die Stimmen und das Lied der Ziehharmonika, kamen aus weiter Ferne zu ihm. ,Eh, mach die Tür zu! rief eine grobe Stimme. Peter sank an einem Tisch nieder. Seine Stirn fiel auf die Tischplatte. ,Schmeiß ihn raus! Der ist ja stockbetrunken!‘ sagte der Wirt. Jim schob seine Ziehharmonika zusammen. Das Lied brach jäh ab. ,Laß ihn in Ruhe!‘ sag44
te er. Er stand auf. Sein Kopf berührte die Decke, so groß war er. ,Weiterspielen, Jim!‘ ,Ja, spiel weiter!‘ Jim stieß einen Mann, der den Weg versperrte, zur Seite. ,Seht ihr nicht, daß er krank ist?‘ fragte er. ,Spiel weiter, Jim!‘ schrie der Wirt. Jim hängte seine Ziehharmonika über den Rücken. Seine kräftigen schwarzen Hände richteten Peter auf. Die Matrosen und Hafenarbeiter drängten sich um den Tisch. Sie wurden still, als sie Peters eingefallenes Gesicht sahen. ,Er ist halb verhungert‘, flüsterte einer. Der Wirt klirrte mit seinen Gläsern. ,Brauchst nicht wiederzukommen mit deiner Katzenmusik‘, sagte er zu Jim. ,Halt dein Maul!‘ erwiderte ein Matrose. Jim beugte sich nieder. ,Wo wohnst du?‘ fragte er. ,lch will dich nach Hause bringen.‘ Peter hörte die Worte. Er versuchte zu antworten. Doch er konnte nicht sprechen. Da nahm Jim ihn auf die Arme. An der Tür drehte er sich um. ,Er ist leicht wie ein Kind‘, sagte er. 45
Jim war Hafenarbeiter. Wenn viele Schiffe einliefen, gab es Arbeit für ihn. Dann verdiente er fünfundvierzig Franken am Tag und brauchte keine Musik zu machen. Er wohnte in der Mauergasse. Vorsichtig stieg er die Treppen hoch. Er schloß die Tür auf und öffnete sie mit der Schulter. Es war dunkel im Zimmer, obwohl draußen heller Tag war. Jims Zimmer hatte kein Fenster. Trotzdem kostete es hundert Franken im Monat. Jim knipste das Licht an. Er legte Peter auf das eiserne Bettgestell. ,lch werde dir Obst holen‘, sagte er. Er deckte den Kranken zu und ging einkaufen. Bald kam er zurück. ,Hier sind Apfelsinen, Brot und Wurst‘, sagte er, ,du kannst auch geröstete Kastanien essen.‘ Peters Augen waren weit geöffnet. Sie glänzten. Das Fieber hatte ihn wieder gepackt. Er wußte nicht, daß er auf einem Bett lag, Jims Gestalt war wie ein riesiger Schatten. Peter stöhnte und wälzte sich auf die Seite.
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,Er versteht mich nicht‘, murmelte Jim, ,warte, ich werde dir einen warmen Umschlag machen.‘ Jim brannte den Spirituskocher an, setzte Wasser auf und holte ein Leinentuch aus dem Kasten. ,So, gleich packen wir dich warm ein.‘ Er sprach mit Peter, als würde der alles verstehen. ,Wenn ich bloß wüßte, woher du kommst?‘ Er zog Peter aus und wickelte ihn in das warme Tuch. Dann deckte er ihn fest zu. Peters Lippen waren rissig wie trockene Baumrinde. Jim preßte eine Apfelsine aus, goß Wasser dazu und flößte das Getränk dem Kranken ein. Peter lallte fremde Worte, die Jim nicht verstand. Besorgt schaute er auf ihn nieder. Wer war der Fremde? Vielleicht ein Verbrecher, den die Polizei suchte? Wenn er nun starb in seinem Zimmer? Viele Fragen gingen durch Jims Kopf. Er durchsuchte Peters Taschen und fand die Papiere. Ein breites, gutes Lächeln ging über sein Gesicht, als er das Verbandsbuch und den Schein vom Flüchtlingskomitee fand. ,Armer Junge‘, sagte er, ,so jung ... so jung ...‘ Er ballte die mächtige Faust. ,Verdammte Faschisten!‘
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Wie eine Mutter bemühte Jim sich um Peter. Nachts schlief er neben dem Bett. Ohne Decke lag er auf dem blanken Fußboden. So vergingen zehn Tage. Peters Fieberaugen wurden klarer. Mit schwacher Stimme verlangte er nach Essen. Jim klatschte vor Freude in die Hände. ,Jetzt sind wir über den Berg!‘ rief er. ,Warte, gleich gibt es Essen.‘ Er kochte Peter eine kräftige Suppe und löffelte sie ihm ein. Mit dem Arm stützte er den Rücken des Kranken. ,Wo bin ich?‘ fragte Peter. Jim legte ihn vorsichtig hin. ,Du mußt jetzt schlafen‘, sagte er. Peter war sehr matt. Er schlief sofort wieder ein. Jim schlich auf Zehenspitzen durch die Stube. Er schob ein Scheit Holz in den Ofen und zog seine Jacke über. Jim ging, zur Hafenkneipe. Der Wirt knurrte einen Gruß.
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,Setz dich, Jim‘, sagte ein Hafenarbeiter. Die Männer begrüßten Jim. Sie versammelten sich um seinen Tisch. ,Wann spielst du wieder?‘ ,Hast du ihn gesund gepflegt?‘ ,Wer ist er eigentlich?‘ So schwirrten die Fragen. Jim wartete, bis es ruhig geworden war. Dann erzählte er. Die Männer hörten aufmerksam zu. ,Spielst du heute abend?‘ rief der Wirt hinüber. Jim nickte. ,Ein junger Deutscher also‘, sagte der Hafenarbeiter. ,Gut, Jim, daß du ihm geholfen hast.‘ Jim lächelte. Er spreizte die leeren Hände und sagte: Jetzt habe ich keinen Pfennig mehr.‘ ,Hört ihr es,‘ fragte der Hafenarbeiter. Jim hat keinen Pfennig mehr.‘ Die Männer griffen in Ihre Taschen. Ein Matrose legte zehn Franken auf den Tisch. ,Für den Jungen aus Deutschland!‘ 49
Jeder gab, was er geben konnte. Selbst der Wirt spendete einen Schein. ,Bring ihn zu uns, wenn er wieder gesund ist‘, sagten die Männer, ,bald laufen wieder Schiffe im Hafen ein. Dann werden wir sehen ...‘ An diesem Abend spielte Jim seine schönsten Lieder. Als er spät in der Nacht nach Hause kam, erwachte Peter. Mit großen Augen sah er sich im Zimmer um. Jim lächelte ihm zu. Er zeigte auf das Geld. ,Das ist für dich‘, sagte er, ,ich soll dich von allen grüßen.‘ Peter erinnerte sich an die Hafenkneipe. Wann war er dort gewesen? Gestern? Vorgestern? Er fragte Jim. ,Du warst lange krank, Peter‘, sagte Jim. Es dauerte noch vier Wochen, bis Peter aufstehen konnte. Wie schön war die Stadt, als er zum ersten Mal mit Jim spazierenging. Die Sonne schien warm, und das Meer war nur leise bewegt. Sie gingen durch einen Park. Im Sandkasten spielten die Kinder, und auf der Wiese blühten die ersten Blumen.
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Schiffe kamen aus allen Teilen der Welt. Es gab Arbeit im Hafen. Jims Freunde schmuggelten Peter durch das Tor in den Hafen. Ein Schreiber trug seinen Namen in die Listen ein. Peter bekam einen Ausweis. Jetzt gehörte er zu den Hafenarbeitern. Die Arbeit war schwer: Säcke und Kisten schleppen! Fässer in das Lager rollen! Schwere Arbeit für Peter! Doch Jim und die anderen halfen ihm. Seine Muskeln wurden stark. Und dann schaffte er es allein. Jim und Peter blieben unzertrennliche Freunde, solange sie in Marseille zusammen waren. Es war eine schöne Zeit ...“ Pitts Vater schweigt. Siggi, Max, Brigitte und Pitt sitzen ganz still auf ihren Stühlen. Der Wind spielt mit der Gardine am Fenster. Im Kirschbaum lärmen die Spatzen. Pitts Mutter steht neben dem Fliederstrauch und spricht mit der Nachbarsfrau. Keiner im Zimmer bemerkt, was draußen geschieht. 51
Pierre räuspert sich und streicht sich über das Haar. Plötzlich schauen ihn alle an. Brigitte zappelt mit Händen und Füßen. Pjär ... Pjär, denkt sie. „Du, Pjär?“ fragt sie. „Ja?“ „Bist du Jim?“ Brigitte wird rot. Sie merkt, daß sie etwas Dummes gesagt hat. „Mensch, Brigitte!“ sagt Pitt, „Pjär ist doch erst achtzehn Jahre ... Nicht wahr, Pjär?“ „Stimmt“, erwidert Pierre, „gerade achtzehn geworden.“ Pitts Vater lächelt vor sich hin. „War das nun ein Märchen, Brigitte?“ fragt er. Brigitte schüttelt den Kopf. „Nein, nein ... Aber Sie sagten doch ... Was hat denn Pjär mit der Geschichte zu tun?“ „Frag ihn doch selbst“, meint Pitts Vater. Brigitte wagt nicht zu fragen. Sie sieht Pierre nur bittend an. „Ich will es euch verraten“, sagt Pierre, „Jim ist mein Vater.“ 52
Die Männer stehen auf. Pierre ist groß und breitschultrig - wie sein Vater Jim. „Na ja“, sagt Herr Ramm, „dann geht in den Garten. Pjär und ich - wir wollen uns noch ein bißchen unterhalten.“ Damit sind Brigitte, Siggi und Max gar nicht einverstanden. Es gibt noch so viele Fragen. Wie könnten sie da in den Garten gehen? Herr Ramm meint, Pitt solle ihre Fragen beantworten. Doch bitten sie ihn so sehr, daß er schließlich weitererzählt: „Na ja ... Dann hört zu. Eines Tages fuhr Jim mit einem Schiff in seine Heimat. Er war an der Westküste von Afrika zu Hause. Lange hörte Peter nichts von seinem Freund. Nach Monaten aber bekam er einen Brief von Jim. Peter schrieb die Adresse in sein Notizbuch und bewahrte sie gut auf. Sooft es ihm möglich war, schrieb er an Jim. Doch er bekam nie mehr Antwort. Als die Naziherrschaft vorbei war, ging Peter nach Deutschland zurück. Nach Jahren blätterte er in seinem alten Notizbuch und fand die Adresse. Du mußt es einmal versuchen, dachte Peter. 53
Er schrieb an Jim einen Brief und bekam wirklich Antwort. Jim war inzwischen verheiratet und hatte einen Sohn. Der hieß Pierre. Und was weiter geschah, könnt ihr euch ja denken. Jim schickte seinen Sohn in die Deutsche Demokratische Republik. Und nun studiert er in Leipzig. Das ist alles. Seid ihr nun zufrieden?“ fragte Pitts Vater. „Nein“, erwiderte der lange dünne Siggi. „Wo der Peter jetzt steckt, möchte ich wissen. Der hat mir mächtig gefallen.“ Da lachten Pierre, Herr Ramm und Pitt. „Das ist doch klar“, sagt Pitt stolz, „Peter - Peter ... Das ist mein Vater ... Der heißt doch Peter Ramm genau wie ich.“
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