Der Pakt von Timothy Stahl
Mayab, die Hermetische Stadt unter der nächtlichen Sonne, ist dem Untergang geweiht. Die Ty...
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Der Pakt von Timothy Stahl
Mayab, die Hermetische Stadt unter der nächtlichen Sonne, ist dem Untergang geweiht. Die Tyrannen sind tot, das Volk in Panik, und der Weltenpfeiler droht zu zerbrechen. Es ist wie der Tag des Jüngsten Gerichts – und nur Landru und die Werwölfin Nona besitzen die Fähigkeit, Mayab zu verlassen. Alle anderen, auch Lilith Eden, scheitern an der unsichtbaren Barriere! Inmitten des Chaos beginnt für Lilith ein Wettlauf gegen den Tod – und ihre größte Aufgabe: eine ganze Welt und ihr Volk vor dem Untergang zu bewahren. Dabei weiß sie wohl, daß es keine Rettung geben kann. Bis Hilfe von unerwarteter Seite kommt: vom Bösen selbst …
Was bisher geschah … Bei der Flucht aus den Gefilden der Hölle – eine Dimension, die einst durch den Fall des Engels Luzifer entstand – werden die Persönlichkeiten von Lilith Eden und ihrem ärgsten Feind Landru gelöscht; sie wissen nicht einmal mehr, daß sie Vampire sind! Während Lilith in Australien nach Spuren ihrer Herkunft sucht, taucht Gabriel, eine Inkarnation Satans, bei Landru auf. Er schließt einen Pakt mit ihm und gibt ihm die Erinnerung zurück. Von der Werwölfin Nona erfährt Landru, daß der Dunkle Dom, die Heimstatt der Hüter, zerstört ist! Er muß in Erfahrung bringen, was dort geschah – schließlich war er selbst einer jener Hüter, die mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire verbreiteten. Zuvor aber kümmert er sich um Lilith; mit ihr hat er besondere Pläne. Derweil erwacht im Dunklen Dom der letzte überlebende Kelchhüter: Anum, der damals auch der erste Hüter war. Landru offenbart Lilith, daß sein Gedächtnis zurückgekehrt ist. Er gibt vor, sich auch an ihre Identität zu erinnern: In Mittelamerika gäbe es eine Stadt, in der ihre gemeinsamen Kinder auf sie warteten. Diese Stadt – Mayab – ist mit Kelchmagie von der Umwelt abgeschirmt. In ihr leben Maya noch so wie vor einem halben Jahrtausend. Doch etwas in Lilith wehrt sich gegen die von ihr verlangten Grausamkeiten, und so zieht sie sich gleichermaßen den Zorn Landrus, den Unmut ihrer »Kinder« … und die Sympathien der Maya zu, für die sie zum Hoffnungsträger wird. Zu lange schon hat Landru sich mit seiner Erzfeindin befaßt; nun bricht er zum Ararat auf. Doch Anum hat den Dom bereits verlassen. Aus der EWIGEN CHRONIK, der Geschichtsschreibung des Bösen, erfuhr er von Landrus Machtgelüsten und Versagen. Nun will er das Schicksal seines Volkes in die eigenen Hände nehmen. Um die CHRONIK zu schützen, füllte Anum den Dom mit Säure und ließ einen Wächter zurück. Landru tappt in die Falle, erringt letztendlich aber das Buch.
Er selbst kann die Schrift darin nicht lesen, weiß aber, daß Lilith diese Fähigkeit besitzt. In Mayab spitzt sich die Situation zu. Liliths Einsatz für die Bevölkerung ermutigt die Widerstandsbewegung der Tiefen, einen Schlag gegen die Tyrannen zu führen. Nona, die auf Lilith achten sollte, plagen andere Sorgen: Die unsichtbare Barriere über Mayab verhindert ihre Metamorphose zur Werwölfin. Nona verläßt die Stadt – und kann so nicht verhindern, daß die Vampire Lilith ein lähmendes Gift verabreichen. Nur ihr Symbiont schützt sie vor einem feigen Mord – während die Rebellen den Palast angreifen. Landrus Rückkehr beendet die Rebellion, die nur vier der Tyrannen überleben, auf drastische Weise. Dann zwingt er Lilith unter Hypnose, ihm aus der EWIGEN CHRONIK vorzulesen. Doch seine Frage nach dem Wirken des Satans endet im Fiasko: Plötzlich beginnt Lilith, von einer fremden Macht beseelt, das Buch zu zerstören! Und das ist nicht alles! Der Weltenpfeiler, der das Gewölbe über Mayab stützt, flackert – die Welt ist dem Untergang geweiht!
Vor Tagen war für Tikal jedes Licht verloschen. Finsternis war zur Welt des jungen Maya geworden. Seither lebte er im Reich der Tiefen, einem Labyrinth aus Stollen und Höhlen unter seiner einstigen Heimat Mayab. Tage wie Ewigkeiten lagen hinter Tikal. Tage, in denen er versucht hatte, sich mit seinem Schicksal abzufinden. Gerade begann ihm seine Bürde zumindest erträglich zu erscheinen – als die Schwärze des tiefen Reichs um Tikal her zu widernatürlichem Leben erwachte! Und sie tat es mit dem wütenden Grollen eines Ungeheuers, das aus äonenlangem Schlaf gerissen worden war …
Für zwei oder drei Sekunden schien der Stollenboden unter Tikals Füßen Wellen zu schlagen. Die plötzliche Bewegung brachte den jungen Maya aus dem Gleichgewicht. Er taumelte, schlug blind gegen die Wand, verletzte sich an vorstehendem Gestein und stürzte schließlich. Zu spät streckte er die Hände vor, so daß er hart mit dem Gesicht auftraf, und für einen Moment durfte Tikal noch einmal schauen, was ihm mit dem Augenlicht geraubt worden war – alle Farben des Spektrums. Schmerz ließ ihre Pracht in seinem Geist explodieren und narrte seine toten Augen mit Eindrücken, die sie nie mehr wirklich sehen würden. Als die seit Tagen gewohnte Schwärze ihn wieder einhüllte, so undurchdringlich, als sei er bei lebendigem Leibe in einem Loch begraben, richtete Tikal sich mühsam und stöhnend auf. Seine Hände tasteten blindlings umher auf der Suche nach einem Halt. Sie berührten die Wand des Stollens, und an ihren steinernen Vorsprüngen rappelte sich der Tiefe vollends in die Höhe. So blieb er stehen und lauschte atemlos in die Finsternis. Sein rasender Herzschlag steigerte das Rauschen des Blutes in seinen Ohren zu dem eines Wasserfalls. Konzentriert filterte Tikal dieses Ge-
räusch aus seiner Wahrnehmung, horchte einzig nach dem, was zuvor und während des Sturzes zu ihm gedrungen war. Dieses dumpfe Grollen, das aus Boden und Wänden gekommen zu sein schien, dazu ein fernes Krachen wie von berstendem Stein … Zusammen hatte es geklungen, als – Tikal fiel kein Vergleich ein, der ihm passend erschienen wäre; es sei denn – – als würden die Gänge und Höhlen des tiefen Reichs einstürzen! »Unmöglich!« stieß Tikal hervor, halblaut zwar nur, aber der Schrecken in diesem einen Wort war so eisig, daß er ihm wie Frost in die Lippen biß. Und dabei hatte der junge Maya geglaubt, daß ihn nichts mehr schrecken könnte nach all dem, was er in den vergangenen Tagen durchgemacht hatte. Begonnen hatte es mit seinem Fluchtversuch, der an der magischen Barriere, die Mayab seit Generationen von der Außenwelt abschottete, gescheitert war. Die Macht, die jener Grenze innewohnte, hatte Tikal hinab in das Labyrinth geschleudert, wo die Tiefen, wie sie sich nannten, ein eigenes geheimes Reich gegründet hatten.* Sie alle waren einst auf die gleiche Weise hierher verschlagen worden, und droben in der Hermetischen Stadt wußte nur eine Handvoll Menschen von ihrer Existenz. Nicht einmal die Vampire, die Mayab seit Anbeginn tyrannisierten, hatten Kenntnis von diesem tiefen Reich. Dafür hatten jene, die dort eine neue Heimat gefunden hatten, gesorgt – indem sie ihr Augenlicht opferten! Damit entzogen sie sich auf drastische Weise der fremden Sicht, die es den vampirischen Herrschern Mayabs ermöglichte, durch die Augen eines jeden Menschen zu sehen, der ihren Keim im Blut trug. Und es gab niemanden in der verborgenen Stadt, der vor ihrem Biß verschont geblieben wäre … *siehe VAMPIRA T31: »Tempel der Unsterblichen«
Jeden Neuankömmling in ihrem Reich schlugen die Tiefen mit Blindheit, zu seinem und ihrem eigenen Schutz. Und aus dem gleichen Grund verätzten sie ihm die Haut. Damit tilgten sie das Stigma, das der Kontakt mit der Barriere unweigerlich darauf hinterließ, und so konnten die Jagdtiere der Vampire den Verschwundenen nicht länger wittern. Durch diese Maßnahmen waren die Tiefen lange Zeit unentdeckt geblieben. Bis sie selbst, ermutigt durch den Tod eines der Tyrannen, aus dem Dunkel ihrer unterirdischen Zuflucht hervorgekommen waren – vor wenigen Stunden erst! Gemeinsam mit ihren sehenden Helfern hatten sie sich gegen die vampirischen Könige aufgelehnt und waren ohne jede Warnung zum Angriff auf den Palast übergegangen.* Der Kampf dort oben mochte inzwischen vielleicht schon vorüber sein. Tikal wußte es nicht. Er hatte sich nicht daran beteiligt. Zum einen, weil er – wohl seiner Unerfahrenheit wegen – nicht dazu aufgerufen worden war, und zum anderen, weil er sich selbst nicht zu einem solchen Unterfangen bereit gefühlt hatte. Ihn beschäftigte und plagte anderes. Das Schicksal, fortan ein Tiefer zu sein, blind und entstellt. Dieses Leben schien ihm schlimmer noch als sein vorheriges, in dem er der grausamen Willkür der Tyrannen ausgesetzt gewesen war und ihr Joch tragen mußte. Um darüber nachzusinnen, hatte Tikal sich von den anderen abgesetzt und zurückgezogen in Bereiche des Labyrinths, wo er allein sein konnte. Und wenn seine noch schwach ausgeprägten Übersinne, die den Tiefen das Augenlicht im Laufe der Zeit halbwegs zu ersetzen vermochten, nicht trogen, befand er sich in der Randzone des tiefen Reichs; dort, wo am Ende gesicherter Stollen sich die Barriere auch unterirdisch fortsetzte, als sei sie in ihrer Gesamtheit eine riesenhafte Blase, die Mayab ganz umschloß. *siehe VAMPIRA T34: »Liliths Kinder«
In dieser selbstgewählten Einsamkeit hatte Tikal seinen trüben Gedanken freien Lauf gelassen, in der Hoffnung, sie mögen sich verirren in dieser Weite und nicht mehr zu ihm zurückkehren. Statt dessen jedoch hatte ihm das Alleinsein – im übertragenen Sinne freilich nur – die Augen geöffnet und ließ ihn eine Wahrheit schauen, für die er nur zu gern blind geblieben wäre bis ans Ende seiner Zeit: Wenn er seinen ohnehin fast aussichtslosen Fluchtversuch nur um ein paar Tage aufgeschoben hätte, und wenn die Menschen dort oben tatsächlich den Sieg über die Vampire errangen – dann wäre ihm, Tikal, das Los eines Tiefen erspart geblieben … »Elender Narr«, schalt er sich selbst, »trägst allein die Schuld an dem, was aus dir geworden ist …« Trost waren ihm die Worte nicht. Im Gegenteil schnürten sie ihm die Kehle nur noch enger und ließen die vage Bereitschaft, sich doch mit allem abzufinden, zerspringen wie spröden Lehmverputz auf einer alten Wand. Tikal spürte den Sog der Verzweiflung. Er packte nach ihm wie mit wirklichen Händen und wollte ihn noch tiefer hinabzerren in jenes Loch, in dem er ohnedies schon steckte und an dessen Grund er sich endlos in Selbstmitleid und Schmerz suhlen konnte. Die Aussicht darauf schreckte ihn nicht einmal, lockte ihn eher noch, und aus eigener Kraft hätte er wohl schwerlich widerstanden, wenn nicht – – etwas anderes geschehen wäre! Etwas, das Tikal herausriß aus dem Gespinst seiner Gedanken, das ihm jeden Sinn trübte und alle Vernunft lähmte. Der Boden – Die Wände – – sie bebten von neuem! Ungleich heftiger diesmal! So stark, daß Tikal glaubte, einen Stoß in den Rücken zu erhalten, der ihn nach vorne trieb, bis zur gegenüberliegenden Stollenwand, an der entlang er zu Boden stürzte. Das Grollen und Knirschen klangen deutlich lauter als zuvor,
nicht wie von weither, sondern wirklich und wahrhaftig um ihn herum entstehend! Flach lag er am Boden – und spürte, wie die Erde unter ihm aufbrach. Klüfte entstanden, so breit, daß seine Arme und Beine darin verschwanden. Noch in derselben Sekunde verschoben sich die Schollen, und es kam Tikal vor, als steckten seine Glieder in erdigen Mäulern fest, die daran zerrten und sie nicht mehr freigeben würden. Panik überfiel den Blinden. Er wollte fortkriechen, sich befreien, doch ehe es ihm gelingen konnte, stürzte schweres Gewicht auf ihn herab – – die Decke! Die Stollendecke brach ein! Staub wölkte auf, drang Tikal in Mund und Nase, ließ ihn husten und keuchen. Er versuchte sein Gesicht zu schützen, wandte es ab – und schrie auf, als ihm splitterndes Gestein entgegenprasselte! Unvorstellbare Kräfte mußten den Fels in der Stollenwand förmlich zermalmt haben, und unter dem immensen Druck spritzten die winzigen Trümmer davon. Wie glühend bohrten sie sich in Tikals ohnehin zerschundene Gesichtshaut. Etwas schlug mit Urgewalt in den Boden, so dicht vor seiner Nase, daß Tikal den Luftzug wie heftigen Wind spürte. Lehm stob auf und klatschte ihm ins Gesicht. Ein Stein, vermutete der Blinde, ein gewaltiger Stein muß das gewesen sein. Nur eine halbe Armeslänge näher, und … … fast wünschte er, der niederstürzende Felsbrocken hätte ihn erschlagen. Dann wäre es vorbei gewesen, noch ehe es richtig begonnen hatte. Welche Ursache das Beben auch immer haben mochte, Tikal war sicher, daß er es nicht einmal dann wirklich begriffen hätte, wäre es ihm möglich gewesen, alles mit eigenen Augen mitanzusehen. Vielleicht war es ja eine Gnade, daß er es nicht konnte … Auch dieser Gedanke vermochte ihn nicht zu trösten. Was er er-
lebte, die Art und Weise, wie er es zu erleben gezwungen war – hilflos und blind –, all dies war schlicht entsetzlich und solcherart beklemmend, wie es sich ein Sehender niemals vorstellen konnte. Das Donnern sich bewegender, verschiebender Erd- und Gesteinsmassen riß jetzt nicht mehr ab. Ein Sturm tobte um Tikal her, wie er ihn nie zuvor erlebt hatte. Und wie er ihn nie mehr erleben würde …
* In Mayab geboren zu werden hatte seit jeher geheißen, zum Leben verdammt zu sein. Für einen allzu flüchtigen Moment hatte es den Anschein gehabt, als könnten sich die Dinge für das Volk zum Besseren wenden, nun endlich, da die Tyrannen, unter deren Herrschaft zwanzig Generationen gelitten hatten, nicht mehr waren. Die Unsterblichen waren gestorben, das Volk befreit von ihrem Joch! Aber die so gewonnene Freiheit erwies sich als trügerisch. Denn nach wie vor waren die Menschen gefangen hinter jenem Wall, den nichts und niemand zu durchbrechen vermochte und der Mayab seit einem halben Jahrtausend vor der Außenwelt gleichsam abschottete. Und nun schien es zudem noch, als wäre selbst diese Freiheit nur von geringer Dauer. Der Tod mochte zwar die vampirischen Despoten hingerafft haben, zufrieden schien er damit jedoch nicht zu sein. Unersättlich, einem Moloch gleich würde er erst ruhen, wenn alles Leben aus Mayab getilgt war. Angst lag in der Luft wie ein Gift, das jeden traf. Es trieb die Menschen auf, und nie zuvor hatte solche Unruhe, ja Panik in Mayab geherrscht. Nicht einmal die stete Furcht vor den Tyrannen hatte solches je bewirkt.
Menschen rannten, flohen, alle einem Ziele zu, und doch konnte auch dieses gemeinsame Ziel ihnen keine Rettung verheißen, nur einen Aufschub vor dem Unausweichlichen bescheren. Von den äußeren Bereichen Mayabs her strömten sie der Mitte ihrer Welt zu, während hinter ihnen das Unfaßbare seinen Lauf nahm. Der alte Apas – und als alt galt in der Hermetischen Stadt schon einer, der an die vierzig Jahre hatte überleben dürfen – spürte, wie die Panik auch nach ihm greifen wollte. Doch er widerstand ihr, ließ sich nicht forttreiben und mitzerren, und so wirkte er geradezu fremd, wie er ruhig dastand, während der Strom der Menschen um ihn herumfloß. Um Apas und den kleinen Jungen an seiner Seite, den es wohl nur deshalb nicht mitriß, weil er sich an der Hand des Alten festhielt, als sei sie sein ganz eigener Anker in diesem Sturm. »Wie Vieh wurden sie all die Jahre von den Tyrannen gehalten, und nun führen sie sich auf wie Vieh – rennen ohne Sinn und Verstand. Meinen, sie könnten fliehen – an einem Ort, von dem es nie eine Flucht gab«, sagte Apas leise, wie zu sich selbst. Die zarten Finger des Jungen krampften sich härter, als man es seiner zierlichen Gestalt zugetraut hätte, um die magere Hand des Alten. »Wenn es keinen Weg zur Flucht gibt, dann –«, begann er zaghaft und ließ den Rest unausgesprochen. Aber sein Blick sprach Bände, und seine Züge wirkten trotz der lebhaft bunten Bemalung schon jetzt so, als hätte der Tod ihnen alle Kraft genommen. Apas nickte stumm. »So wenig weiß ich über meine Heimat«, fuhr der Junge nach einer Weile fort. »Und nun werde ich ihre Geschichte nie erfahren.« Seine Worte und sein Tonfall klangen auf geradezu erschreckende Weise wie die eines greisen Mannes, als wiege ein Jahr in dieser Welt dutzendfach schwerer als draußen, jenseits ihrer Grenze. »Sieh hin, Ezil«, sagte Apas und wies mit dem Kinn zum Mittelpunkt Mayabs hin, wo sich ein eher unscheinbarer Pyramidenbau
erhob. Im Innern aber mußte sich etwas von größter Bedeutung befinden, dem sogar die Tyrannen stets Ehrfurcht gezollt hatten. Worum genau es sich dabei aber handelte, wußte im Volk niemand. »Was meinst du?« fragte der kleine Ezil. Er mühte sich, zwischen den dahineilenden Menschen hindurchzusehen, um zu erkennen, worauf der Alte ihn aufmerksam machen wollte. »Siehst du die beiden dort? Den Mann mit der eigenartigen Haut und die Frau, deren Züge so anders sind als die unseren?« Ezil nickte. »Ja.« Der Mann und die Frau mit dem kurzen Haar waren eben die Stufen der Pyramide herabgestiegen und standen nun am Fuß der Treppe, das Gewölbe über Mayab betrachtend, als könnten sie nicht fassen, was sie da sahen. »Was mit unserer Welt geschieht –«, Apas ließ den Blick bedeutungsschwer in die Runde schweifen, »– ist allein deren Schuld. Sie haben das Unheil nach Mayab getragen.« »Wer sind sie?« wollte der Junge wissen. »Ich kenne ihre Namen nicht, aber ich spüre, daß sie auf ihre Art schlimmer noch sind, als die Tyrannen es je waren!« Ezil sah wie gebannt zu dem Paar hin, und in seine Miene trat ein Ausdruck, der an ein witterndes Tier gemahnte. Nach einer Weile nickte er. »Du hast recht, Apas. Ich – spüre es auch …« Und dann fügte er noch hinzu: »Von welcher Art mögen sie nur sein, daß sie solche Macht entfalten können?« In Apas’ Züge stahl sich ein Ausdruck, als wisse er ganz genau, wovon er sprach. »Die Wurzel allen Übels.«
* Die Welt ist ein Schauplatz; du kommst, siehst, gehst vorüber.
Matthias Claudius Seit Jahrhunderten war er ihr Geliebter. Und nie hatte Nona in all der Zeit Grund gehabt, Landru zu fürchten. Jetzt aber, in diesem nicht enden wollenden Augenblick, tat sie es. Oder hatte sie nicht Angst vor, sondern um ihn? Wie versteinert stand der Vampir da. Allein in seinen Zügen war Bewegung, als modellierten unsichtbare Hände in Windeseile immer und immer wieder neuen Ausdruck in die wächserne Haut – stets den von Wut und Enttäuschung, doch jedesmal stärker in seiner Wirkung. Bis Landrus Gesicht nur noch eine Maske war, verzerrt und fremd, kaum mehr seinem wahren ähnelnd. Der flammende Blick seiner Augen war starr emporgerichtet zum Himmel über Mayab, der doch nur scheinbar war. Das wirkliche Himmelszelt nämlich lag jenseits dessen, was sich über die Hermetische Stadt spannte – ein magisches Gewölbe, das Teil der Barriere war, die vor Jahrhunderten errichtet worden war, von einer Macht, die nicht einmal Landru in seiner Eigenschaft als Hüter des Lilienkelchs zu beherrschen verstanden hatte. Weil er sich gegen eben diesen Kelch und die darin wohnende Kraft versündigt hatte … Wie ein Schirm breitete sich dieses Gewölbe seither über Mayab, als Firmament einer Welt, die von der äußeren abgetrennt worden war, und keine Gewalt hatte es je erschüttern können. Nur Regen, Licht und Wind konnten es durchdringen, damit alles Natürliche auch innerhalb der magischen Grenze gedieh. »Was hat das zu bedeuten?« Nona konnte sich die Frage nicht länger verkneifen. Jedoch flüsterte sie die Worte, als fürchtete sie, jeder laute Ton könnte Landrus Zorn auf sie lenken. Aber er schien sie nicht einmal zu hören. Seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich weiter auf das Gewölbe. Nach einer Weile aber meinte Nona, eine weitere Regung aus seinem beunruhigenden Mienenspiel herauszulesen – war es Unverständnis? Als könne
Landru nicht begreifen oder zumindest nicht glauben, was er da sah? »Es kann nicht sein …« Seine Lippen bewegten sich kaum, und die Worte klangen, als kämen sie knirschend zwischen zwei Steinen hervor, die aufeinander rieben. »Es kann unmöglich sein! Es DARF nicht sein!« Nona fuhr zusammen, als sei sie unversehens ins Zentrum eines Gewitters geraten und würde von Blitz und Donner umtost. Und tatsächlich fühlte sie sich ganz ähnlich, denn Landrus Stimme war mit einemmal von der Macht eines Sturmes, so dröhnend laut und gewaltig, daß alles in unmittelbarem Umkreis darunter zu erzittern schien. Zögernd langte Nona nach der Schulter des Vampirs. Ihr Blick pendelte zwischen ihm und dem Himmelszelt hin und her, als wisse sie nicht recht, was ihr größere Sorge bereitete – der fassungslose und zutiefst erschütterte Gefährte in einem jahrhundertealten Leben … … oder das Gewölbe, das zu flackern begonnen hatte, als wolle die Sonne dahinter verlöschen, um sich dann doch stets wieder eines anderen zu besinnen. Mittlerweile waren überdies noch Blitze auszumachen, die den Schild über Mayab durchliefen. Nicht wie die eines wirklichen Gewitters jedoch, sondern auf schwer zu beschreibende Weise zäh. Und sie verschwanden auch nicht, blieben bestehen und sahen aus wie gezackte Risse, durch die unirdisches, purpurfarbenes Licht drang, zu schwach jedoch, als daß der Schein bis zum Erdboden herabgereicht hätte. Landru reagierte nicht gleich auf Nonas Berührung. Als müsse sich die Wahrnehmung noch mühsam ihren Weg durch das Chaos bahnen, das sichtlich in ihm herrschte, wandte er sich ihr erst nach Sekunden zu. Doch in dem Moment, da sein Blick den ihren traf,
sprang etwas von seinem Entsetzen auf Nona über, wie ein elektrischer Funke. Noch tiefer stürzte sie in Verwirrung. Denn obgleich sie nun Landrus Empfindungen teilte, kannte sie doch deren Grund noch immer nicht. »Was ist los?« Ihre Stimme war ein einziges Flehen, dem Heulen eines Wolfes ähnlich. Sie bettelte schier um eine Erklärung. »Vorbei«, Landrus Ton war geradezu erschreckend kraftlos. »Es geht zu Ende. Alles war umsonst.« »Was redest du da?« Nona packte Landru nun mit beiden Händen an den Schultern, rüttelte an ihm, als könne sie wecken, was sie in ihm wußte, was ihn in all den langen Jahren stets ausgezeichnet hatte – eine Kraft, die ihr mit keiner anderen auf Erden vergleichbar erschienen war! Diese Macht, die jene eines jeden anderen Vampirs überstieg, mußte doch noch wirken – sie konnte, sie durfte nicht erloschen sein unter dem, was Landru auf seiner Reise in die Außenwelt erlebt und erfahren hatte, was es auch gewesen sein mochte. Nona war überzeugt davon – und so, wie sie Landrus Entsetzen teilte, mußte er nun ihre Überzeugung teilen! Tief versenkte sie sich in seinen Blick, und obgleich sie der vampirischen Fähigkeit der Suggestion nicht mächtig war, gelang es ihr, Landru zu vermitteln, was da in ihr verwurzelt war – der Glaube an ihn. Die Übertragung geschah über jenes besondere Band, das die Zeit zwischen ihnen geknüpft hatte. Und endlich, als Nona schon befürchtet hatte, das Feuer in Landrus Augen würde vollends niederbrennen, flackerte es von neuem auf, füllte sie mit jener schwarzen Glut, deren kalte Hitze sie so oft gespürt und genossen hatte. Landrus Stimme indes klang noch immer müde. »Mayab vergeht«, sagte er nur, und es kam ihm wie ein Seufzen von den Lippen. Nona wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch Landru gebot ihr mit einer matten Bewegung zu schweigen.
»Mein Plan ist hinfällig«, fuhr er dann fort. »Die Falle, die ich dem Hurenbalg gestellt habe, erwies sich als Bumerang.« Er lächelte, und die Art, wie er es tat, machte Nona schaudern, denn dieses Lächeln ließ Landru für einen flüchtigen Moment beinahe menschlich wirken. »Ich habe Lilith Eden unterschätzt.« »Verdammt!« fuhr Nona auf, und ihr Zorn schien den Vampir wie eine Woge zu treffen. »Reiß dich zusammen! Es muß nicht zu spät sein!« Ruckartig streckte sie den Arm vor und wies in die Runde, meinte ganz Mayab mit ihrer Geste. »Diese Welt gehört dir, Landru. Du bist mehr als ihr König – du bist ihr Gott! Du hast die Macht zu verhindern, was immer hier geschieht – du mußt sie nur nutzen. Also – tu es. Tu es endlich, verflucht, ehe es wirklich zu spät ist!« Landrus Züge verhärteten sich, und einen Augenblick lang fürchtete Nona, sie könnte zu weit gegangen sein. Dann aber fand sie zumindest einen Anflug des altvertrauten Ausdrucks von Stärke und jener Überlegenheit, die an Arroganz grenzte, in der Miene ihres Geliebten, und ein kleines Lächeln stahl sich um ihre Lippen; eine Bewegung, die sich wie spiegelverkehrt auf Landrus Mimik übertrug, denn seine Mundwinkel verzogen sich nach unten und komplettierten endlich das Bild, das Nona seit 500 Jahren kannte. »Vielleicht hast du recht«, sagte er knapp. Sein Blick strich wie eisiger Wind übers Land, und für einen zeitlosen Moment schien, was davon ausging, bedrohlicher als das, was über ihnen am Himmelsgewölbe geschah. »Dann solltest du dir Gewißheit verschaffen«, schürte die Wölfin weiter. »Das werde ich.« Ohne jedes weitere Wort wandte Landru sich um und stieg die Stufen zu dem kleinen Tempel hinauf, der exakt im Mittelpunkt Mayabs lag. Die Wächter zu beiden Seiten des Eingangs duckten sich wie verängstigte Lämmer – ohnehin schon, weil ihnen das Himmelsschauspiel Angst einflößte, und nun überdies noch unter Landrus
Aura, die ihnen entgegenbrandete. Wie von Geisterhand bewegt öffnete sich das zweiflüglige Tor vor ihm, so heftig, daß die Hälften drinnen dröhnend gegen die Wände krachten. Nona eilte dem Geliebten nach. Sie fand ihn vor jenem wahnsinnweckenden Strudel aus rotierender Schwärze, der nur scheinbar vom Boden bis zur Decke reichte, tatsächlich jedoch weiter in Tiefe und Höhe ragte. Die Wölfin ertrug den Anblick kaum, wandte die Augen ab von dem Weltenpfeiler, jener Säule, die das Gewölbe Mayabs stützte und mithin das wirkliche Zentrum, der wahre Dreh- und Angelpunkt dieser Welt in der Welt war. Als sie es endlich wieder wagte, hinzusehen, nach Landru zu schauen – – war der Vampir verschwunden. Als habe ihn das wirbelnde Gebilde, dieses unheimliche Ding, für das kein Wort wirklich genügte, es zu beschreiben, verschlungen …
* Kurz zuvor … … kniete Lilith Eden schweratmend auf dem steingefliesten Boden einer Nebenkammer desselben Tempels. Auf die Hände gestützt, den Kopf vornüber hängend, das Gesicht verborgen hinter zerzauster schwarzer Mähne, erinnerte ihre Haltung an die eines erschöpften Raubtiers. Und ganz ähnlich fühlte sich Lilith auch. Wie ein Tier hatte sie eben noch gewütet. Bis ihre Kräfte versagt hatten. Ihre Kräfte …? Lilith war sich dessen nicht völlig sicher. Rückblickend kam es ihr
vor, als wäre fremde Kraft wie aus dem Nichts über sie gekommen. Und als habe ihr Körper sich dieser Kraft so rasch wie irgend möglich entledigen wollen, hatte er sie in einem berserkerhaften Toben verbraucht, binnen weniger Sekunden. Jetzt, da sie diese Sekunden in Gedanken rekonstruierte, schien es Lilith kaum vorstellbar, daß wirklich sie es gewesen sein sollte, die in einen solchen Rausch sinnloser Zerstörungswut verfallen war. Doch sie mußte nur den Blick wenden, um den Beweis dafür zu sehen, daß es sich weder um einen Traum noch um Illusion gehandelt hatte. Dort drüben, kaum drei Schritte von ihr entfernt, lag das Buch – die CHRONIK, wie Landru es genannt hatte –, zerrissen von ihr, und im weiten Umkreis sah sie Fetzen, die zuvor einzelne Seiten dieser ominösen CHRONIK gewesen waren. Landru hatte sie mitgebracht, von woher auch immer, und Lilith mittels Magie gezwungen, ihm daraus vorzulesen, weil sie die Einzige war, die das darin Geschriebene zu entziffern verstand. Weshalb dem so war, wußte Lilith selbst nicht zu sagen. Jedenfalls hatte sie es unter dem Zwang eines flirrenden, magischen Dolches, den Landru ihr in die Brust gerammt hatte, getan. Hatte aus der geheimnisvollen Schrift gelesen und Antworten darin gefunden auf jede Frage, die Landru ihr – oder vielmehr dem Buch selbst – gestellt hatte. Wie ohne ihre Zutun hatten ihre Finger stets die richtige Seite der CHRONIK gefunden. Lilith war gleichsam zum Werkzeug und Sprachrohr dieses mysteriösen Buches geworden …* Ihre Überlegungen stockten. Hatte sie tatsächlich eine Antwort auf jede von Landrus Fragen gefunden? Liliths Erinnerung war und blieb unklar in diesem Punkt. Aber sie spürte auf ganz eigenartige Weise, daß dem nicht so war; daß sie *siehe VAMPIRA T35: »Ich, die Chronik«
nicht jede Frage Landrus hatte beantworten können – weil etwas sie daran gehindert hatte. Nur – was? Es mußte mit dem zusammenhängen, was sie eben noch als »fremde Kraft« bezeichnet hatte, sann Lilith. Dieses Fremde hatte ihr gewissermaßen den Mund verboten und zugleich dafür gesorgt, daß niemand je wieder die entsprechenden Antworten in der CHRONIK würde finden können. Denn die betreffenden Seiten waren für alle Zeit verloren. Die anderen Seiten dieser unheimlichen Schrift jedoch – Lilith vergaß ihr ursprüngliches Vorhaben, Landru und Nona zu folgen. Was immer draußen auch vorgehen mochte, das Nona so alarmiert hatte, daß sie Landru eilends hinzugerufen hatte – Lilith würde es früher oder später schon noch erfahren. Etwas anderes zu erfahren erschien ihr im Moment dringlicher, und vielleicht würde sich die Möglichkeit später nie wieder ergeben. Ganz gewiß sogar würde die Gelegenheit nie günstiger sein. Denn kehrte Landru erst zurück, würde er die CHRONIK an sich nehmen – und Lilith würde sie nicht noch einmal in die Hände bekommen. Nicht ohne größere Schwierigkeiten zumindest. Jetzt aber lag das Buch aufgeschlagen vor ihr. Zum Greifen nah. Und es war nicht vollends zerstört. Der weitaus größte Teil seiner Seiten war nahezu unversehrt geblieben. Seiten, auf denen die andere Geschichte dieser Welt geschrieben stand. Jene Geschichte, von der kaum ein Mensch wußte, weil menschlicher Geist nicht dafür geschaffen war, sie zu verstehen. Von Dingen und Geschehnissen war auf diesen Seiten die Rede, die nirgends sonst Erwähnung fanden – und von Wesen wurde da erzählt, die alles andere denn menschlicher Natur waren. »Von Wesen wie – mir?« Lilith erschrak fast vor dem Klang ihrer Stimme. Rauh und fremd war sie mit einemmal, kaum noch als die ihre zu erkennen, wie fiebrig zitternd.
Und tatsächlich kam Lilith sich vor wie von Fieber gepackt. Einem ganz besonderen jedoch, einem, das nicht von Krankheit herrührte, sondern seine Ursache in brennender Neugier fand – mehr noch: in etwas, das Neugier bei weitem übertraf. Lilith kroch auf das Buch zu. Kniete sich hin, wie vor einen Altar. Ihre Finger berührten die aufgeschlagenen Seiten, die, wie sie wußte, aus Menschenhaut gefertigt und mit Blut beschrieben waren. Die Schrift war leicht erhaben, weil die Flüssigkeit nicht gänzlich eingedrungen war. Was jedoch auf diesen Seiten geschrieben stand, interessierte Lilith nicht. Sie wußte, ohne es lesen zu müssen, daß es sich nicht um das handelte, wonach sie suchte. »Lilith Eden«, hauchte sie, als wolle sie sich einem Fremden vorstellen, dessen bloße Präsenz sie irritierte und einschüchterte. Wie von eigenem Leben beseelt, begannen ihre Hände in der Blutbibel zu blättern. Nichts wies optisch darauf hin, daß es sich um die gesuchte Stelle handelte. Trotzdem fand Lilith sie so zielsicher, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan, als in diesem Buch zu lesen und sich jede Seite einzuprägen. Jede Seite … Das muß unmöglich sein! ging es ihr beiläufig durch den Sinn. Denn die Zahl der Seiten in der CHRONIK schien unendlich groß: Obgleich Lilith längst Dutzende davon umgeschlagen hatte, nahm die Stärke der vorderen Hälfte des Buches nicht sichtlich zu, ebensowenig wie die hintere Hälfte an Dicke abzunehmen schien. Und dann endlich –! Lilith hielt inne. In fast andächtiger Geste strich sie über die nunmehr aufgeschlagenen Seiten. Zeit schien alle Bedeutung zu verlieren. Wer immer die Worte geschrieben haben mochte, Lilith meinte seine Stimme zu vernehmen – als lese nicht sie selbst aus dem Buch, sondern jener namenlose Schreiber. Fast glaubte sie sogar zu sehen,
wie er den Federkiel spitzte und ihn schließlich eintauchte ins lebendige Rot, das ihm als Tinte diente. Dann schrieb er in ihrer so lebhaften Illusion, und jedes Wort, von dem seine Hand berichtete, formten seine Lippen flüsternd nach … Ihr Name ist Lilith. Sie schläft in einem Haus, dessen Zugänge bloße Attrappen sind, versiegelt von Mystik und mächtigem Zauber. Kelchmagie. Lilith ist aus der unmöglichen Verbindung einer untoten Vampirin und eines sterblichen Menschen hervorgegangen …
* Wirbelnde Elektrizität durchdrang Landru, nahm ihn auf und flutete sein Denken. Mit einem einzigen Schritt hatte er die Welt verlassen und war eins geworden mit dem, was Mayab seit einem halben Jahrtausend aufrechterhielt: eine Säule rotierender Energie, die sich nie verzehrte, nie aufgebraucht war, in ewiger Bewegung blieb. Weil sie mit keiner anderen Kraft auf Erden zu vergleichen war. Diese Manifestation von Kelchmagie gehorchte allein ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit, die aller Natur hohnsprach. Zum dritten Mal seit seiner Rückkehr in die Hermetische Stadt war Landru nun in den Weltenpfeiler vorgedrungen. Und wie bei den anderen Malen erfuhr er buchstäblich am eigenen Leibe, daß der Weltenpfeiler sehr viel mehr war als bloße Stütze der magischen Hülle um Mayab. Als habe die Säule Wurzeln, die jenseits von Zeit und Raum verankert waren, stand das wirbelnde Gebilde in Verbindung mit weit entfernten Orten, die in der Geschichte der Alten Rasse eine Rolle spielten oder gespielt hatten. Und es barg Informationen über jedes Ereignis, das sich dort zugetragen hatte. Zugleich teilte der Weltenpfeiler dieses Wissen mit dem, der sich ihm anvertraute. Nicht durch Worte, nicht durch geheimnisvolles
Flüstern und Wispern; Landru erhielt dieses Wissen, als würde es in seinen Geist eingespeist, als verschmelze es mit seinem Bewußtsein, so daß es ihm vorkam, als habe er seit jeher um all diese eben noch fremden Dinge gewußt. Beim ersten Mal hatte dieses neue Wissen Landru veranlaßt, Mayab umgehend zu verlassen. Er hatte den Berg Ararat aufgesucht, wo ein Bruder erwacht war – Anum, der in grauer Vorzeit, da sie mit ihren Geschwistern als Hohe Herren über das Zweistromland geherrscht hatten, ihrer Mutter Lieblingssohn gewesen war. Landrus Reise zur einstigen Heimstatt der Hüter, die zu einem Hort der Verdammnis geworden war, hatte in einem Desaster geendet. Mit sehr viel Glück hatte Landru zwar die CHRONIK aus dem zerstörten Dunklen Dom bergen können, darin jedoch erschöpfte sich die Auflistung seiner Erfolge auch schon. Aber auch jetzt, da er sich ein weiteres Mal in die Säule tosender Kelchmagie gestürzt hatte, drängte es Landru fort aus Mayab – mit ungleich größerer Macht diesmal! Der Wille, die Hermetische Stadt zu verlassen, brüllte schier in ihm, Entsetzen und Panik verliehen ihm Stimme, und Landru gehorchte ihm wie einem Befehl von übermächtiger Stelle. Denn er wußte: Tat er es nicht, war er des Todes … Der Weltenpfeiler war kein Ort im herkömmlichen Sinne. Räumlichkeit galt im Wirbel seiner Energien nichts, Zeit verlor alle Bedeutung. Landru dachte einen Schritt und –
* Nona stand starr und stierte hin zu der Säule aus kochenden Energien. Der Anblick verursachte ihr Schwindel und Übelkeit, und er fraß wie mit Rattenzähnen an ihrem Verstand. Aber sie ertrug ihn, versuchte mit Blicken durchzudringen, um ins Innere des Wirbels zu
sehen – vergeblich. Was immer sich darin und dahinter verbarg, es schützte sich vor jedem, der nicht befugt war, es zu schauen. Darin … dahinter … Befand Landru sich darin oder dahinter? Und wenn ja, war er gegen seinen Willen dorthin gelangt – oder hatte er es aus freien Stücken getan? Eine wellenartige Bewegung schien das Gold in Nonas Augen zu durchlaufen. Ein kurzes Zucken, das von keimendem Mißtrauen kündete. Weil ihr ein unliebsamer Gedanke in den Sinn gekommen war: Hatte Landru sich am Ende ein weiteres Mal abgesetzt? War es ihm möglich, Mayab durch den Weltenpfeiler zu verlassen – und hatte er sie, seine seit Jahrhunderten loyale Geliebte, einmal mehr zurückgelassen? Die bloße Vorstellung, daß es so sein könnte, ließ Nonas Blut in Wallung geraten. Heftig pochte es in ihren Schläfen, so stark, daß es ihr vagen Schmerz bereitete. »Landru?« flüsterte sie zum Weltenpfeiler hin und kam sich noch im gleichen Augenblick lächerlich vor; wenn Landru darin steckte, würde er sie unmöglich hören können. Zwar rotierten die Energien dort in geradezu unheimlicher Lautlosigkeit, aber sie waren spürbar mehr als lediglich ein Wirbel von etwas Unvorstellbarem – sie waren in erster Linie unvorstellbar, unfaßbar, und was immer sich im Zentrum dieser Säule befinden mochte, es konnte nicht mehr Teil dieser Welt sein. Einen Moment lang meinte Nona etwas wie ein Locken zu spüren, oder wenigstens doch eine Versuchung – den stillen, aber doch mächtigen Wunsch, sich selbst in das rotierende Etwas dort zu stürzen. Es wäre so leicht, flüsterte es in ihr, einfach hingehen, und dann bräuchte es nur einen Schritt und – Und – was? Sterben würde ich! schrie sie die Phantomstimme in ihren Gedan-
ken nieder. Sie war nicht wie Landru! Ihr würden die Energien des Pfeilers sehr wohl etwas anhaben können. Sie trug ja nicht einmal mehr den Keim des Geliebten in sich, der sie vielleicht zu schützen vermocht hätte. Und vor allem: Sie durfte ihr Leben nicht mehr so leichtfertig aufs Spiel setzen, wie sie es sich in fünf Jahrhunderten hatte erlauben dürfen – denn die Jahre, die der natürliche Lauf ihr noch ließ, waren unendlich kostbar geworden für Nona … Vielleicht war es diese Überlegung, die Nona soweit brachte, einen anderen, seit langem gehegten Wunsch in die Tat umzusetzen: Mayab zu verlassen, endlich und endgültig! Sie hatte diese ewig düstere Welt gehaßt, vom ersten Augenblick an, da sie ihren Fuß über die Grenze gesetzt hatte. Das Leben hier war ein erbärmliches, und obwohl Nona jedes nur erdenkliche Privileg genossen hatte, war ihr, als müsse sie ein Gift atmen, das depressiv und schwach machte. Jede Stunde, die sie länger hier zubrachte, würde sie weiter auslaugen. Sie kam sich ohnedies schon vor wie eine Fremde. Sie wollte ihr altes Leben wiederhaben und zurück in die Welt, die ihr Jagdgrund war. Denn auch ihren ureigenen Trieb konnte sie in Mayab nicht ausleben – hier durfte sie nur Nona sein, nicht aber die Wölfin. Sie wollte endlich wieder jagen unter vollem Mond, dessen Licht die Hermetische Stadt nicht erreichte. Eine einzige solche Jagd, das wußte, spürte Nona, würde genügen, um sie wieder zu alter Stärke zu führen. »Leb wohl, Landru«, flüsterte sie in die Richtung des Weltenpfeilers. »Wo immer du bist, was immer du tust – mögen unsere Wege sich wieder kreuzen. Aber ich muß wieder meinen eigenen gehen.« Die Worte klangen bitter, und sie hinterließen einen ebensolchen Geschmack in Nonas Mund. Weil sie wußte, daß dieser eigene Weg ein kurzer werden würde. Kurz im Vergleich zu ihrem bisherigen – denn sie stand nicht länger im Schutze der Unsterblichkeit, die
Landru ihr einst verliehen hatte. Im Berg Ararat war ihr genommen worden, was den Prozeß des Alterns einst eingefroren hatte. Fortan würden die Jahre nicht mehr spurlos an ihr vorübergehen. Um so dringlicher schien es ihr, jedes einzelne davon zu nutzen und zu genießen. Nona wandte sich ab und wollte schon zum Tor hinaus, als sie innehielt. Ihr Blick ging in die Richtung jenes Tempelraumes, wo sie Lilith wußte. Lilith und – die CHRONIK! Jenes Buch, in dem alles Geheime dieser Welt niedergeschrieben war. Schon einmal hatte Nona es gesehen, bei ihrem unglückseligen Besuch im Ararat. Damals hatte sie von den Kindern Ninmahs erfahren, daß in dieser Blutbibel auch die Geschichte des Werwolfgeschlechts festgehalten war … Eine Idee nahm Gestalt an hinter Nonas Stirn. Ja, sie würde Mayab verlassen. Aber sie würde es nicht ohne die CHRONIK tun! Das darin gesammelte Wissen konnte von unschätzbarem Wert sein – gerade für sie. Denn womöglich würde es ihr einen ganz neuen eigenen Weg weisen … Jemanden zu finden, der die Schrift der CHRONIK zu lesen verstand, schien ihr im Moment das geringste Problem. Unweigerlich dachte sie an Chiyoda, ihren weisen Mentor, der im fernen China lebte. Ihm schien kein Geheimnis verborgen zu bleiben. Also war es möglich, daß er auch das der Blutbibel kannte – oder zumindest würde lüften können. Nona schob ihren Fluchtplan auf und wollte tiefer in den Tempel hineingehen, wo Lilith zurückgeblieben war. Doch sie hatte kaum fünf Schritte getan, als sie erneut verhielt; eine Stimme ließ sie in der Bewegung verharren – erschrocken, beinahe alarmiert. Denn obwohl ihr die Stimme vertraut war, lag etwas in ihrem Tonfall, das Nona zutiefst beunruhigte – und die Worte taten ein Übriges dazu. »Wir müssen raus hier!« rief Landru ihr zu, hörbar aufgeregt, fast
panisch! »Schnell – ehe es zu spät ist!«
* Liliths Blick verschlang förmlich, was in der CHRONIK geschrieben stand, während ihr Geist ihre Geschichte gleichsam aufsaugte und trank. Die Geschichte ihres wirklichen, echten Lebens! Lügen zerbrachen mit jeder Seite, die Lilith las. Und im gleichen Maße wuchs ihr Zorn. Auf Landru! Auf Nona. Auf alle, die mitgewirkt hatten an jenem Netz aus Lügen, in dem Lilith sich verfangen hatte. Jede Seite ihrer wahren Geschichte führte Lilith einen Schritt weiter heraus aus diesem Gespinst aus Lug und Trug. Zurück in eine Wirklichkeit, die alles andere denn angenehm war, aber wenigstens doch real, tatsächlich gelebt. Lilith las … … daß sie ein Kind zweier Welten war, eine Halbvampirin. … daß sie hundert Jahre im Traumschlaf hätte zubringen sollen, jedoch zwei Jahre vor der Zeit erwacht war. … daß sie ihre Bestimmung deshalb nicht wie vorgesehen erfüllen konnte und einen langen und leidvollen Weg zur Erlangung ihrer vollen Reife hatte zurücklegen müssen: … daß sie Unglück über Freunde gebracht und diese Freunde verloren hatte. Und sie erfuhr, daß Landru ihr ärgster Widersacher war – ihr Todfeind! Lilith hielt inne und sah auf. Ihr Blick brannte, spiegelte jenes Feuer wider, das tief in ihr zu brennen begonnen hatte, während sie zur Tür starrte, durch die Landru vorhin verschwunden war. Ihre Lippen bewegten sich unter einem lautlosen Schwur, den sie
im Stillen ablegte, bei allem, was ihr je von Bedeutung gewesen war: Ihre Feindschaft zu Landru sollte enden. Noch heute. Mit seinem Tod – oder dem ihren …
* »Dann ist es also vorbei …« Nonas Worte wehten als bloßer Hauch von ihren Lippen. Fassungslosigkeit zeichnete ihre Züge. Knapp hatte Landru erklärt, was er im Weltenpfeiler erfahren hatte – was unmittelbar bevorstand. »Ja, so kann man es wohl nennen«, sagte er jetzt. Nona schüttelte entgeistert den Kopf. »Ich hätte nie und nimmer geglaubt, daß so etwas möglich wäre –« Sie sah in die Runde, auf das Mauerwerk des Tempelinneren, aber ihr Blick schien hindurchzugehen, nach draußen, um über ganz Mayab zu schweifen. »Es wird geschehen«, sagte Landru bestimmt, »und es hat bereits begonnen.« Er packte Nona am Arm, wollte sie mit sich ziehen. »Komm, laß uns gehen.« Sie befreite sich aus seinem Griff. »Warte –« »Worauf?« erwiderte der Vampir ungeduldig. Unter seiner rohen Haut zuckte es, als bewege sich dort winziges Getier. »Die CHRONIK«, antwortete Nona nur. »Was soll damit sein? Wir brauchen sie nicht mehr.« Landru unternahm einen weiteren Versuch, Nona dazu zu bewegen, ihm zu folgen. »Ich gehe nicht ohne das Buch!« erklärte Nona, und ihr Ton ließ kein Widerwort zu. »Du magst darin ja vielleicht Antworten auf alle Fragen gefunden haben, die für dich von Interesse waren. Mir aber kann die CHRONIK noch vieles verraten.« Landru lachte freudlos auf. »Wer sollte dir daraus vorlesen? Es gibt niemanden, der es könnte. Nur das Hurenbalg vermag die
Schrift von Ninmahs Kindern zu entziffern. Und –« »Und?« hakte Nona nach, als Landru kurz zögerte. »Lilith Eden wird hier zurückbleiben«, sagte er dunkel. »Laß es ruhig meine Sorge sein, was draußen weiter mit der CHRONIK geschieht«, meinte Nona. »Ich werde diesen Schatz nicht hierlassen. Dazu ist er zu wertvoll – für mich jedenfalls.« Vielleicht für mein weiteres Leben – und meine Geschwister im Fluch, ergänzte sie stumm. Sekundenlang maßen die Wölfin und der Vampir sich schweigenden Blickes. Womöglich hätte niemand von beiden das lautlose Duell gewonnen, hätte nicht etwas anderes zu seinem Ende geführt – ein Geräusch wie von fernem Donner, gefolgt von einem sachten Beben des Steinbodens. Wäre die Situation eine andere gewesen, hätten sie diesen Signalen vielleicht nicht einmal besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Mit dem Wissen jedoch, das Landru aus dem Weltenpfeiler geschöpft hatte, gewann beides beängstigende Qualität. Landru nickte. »Nun gut, laß uns das Buch holen –«, knirschte er, und als übertrage sich sein Tonfall auf die Wände um sie her, knirschte es plötzlich auch in deren Gefüge. »Rasch!« fügte er seinen Worten alarmiert hinzu. Nona lief voran. Erst an der Tür zu der Kammer angelangt, in der die CHRONIK und Lilith zurückgeblieben waren, ließ sie dem Vampir den Vortritt. Landru stieß die Tür auf – und blieb in ihrem Rechteck so abrupt stehen, als habe eine unsichtbare Wand seinen Vorwärtsdrang gestoppt. Nona, die ihm hatte folgen wollen, prallte gegen seinen Rücken. »Was –?« fragte sie, verstummte aber wie abgeschnitten, als sie an Landru vorbei in die Kammer sah. Lilith stand inmitten des Raumes. Irgend etwas vergiftete die At-
mosphäre darin. Etwas, das von Lilith ausging, das sie umwehte wie ein eisiger Wind. Selbst ihre Stimme klirrte wie Frost. »Landru«, sagte sie. »Schön, daß du kommst – das erspart mir die Mühe, dich zu suchen.« Sie lächelte kalt. Landrus Miene zuckte, als wolle er die Geste erwidern, doch sie gefror ihm zur Grimasse. Und Lilith spie ihm die nächsten Worte mitten hinein. »Du verlogener Bastard!«
* Landru verstand. Und dazu hätte es Liliths auffälligen Blickes, mit dem sie die offen zu ihren Füßen liegende Blutbibel bedachte, nicht einmal bedurft. Lilith Eden wußte Bescheid! Die CHRONIK enthielt auch ihre Geschichte, und sie schien jede Zeile davon gelesen zu haben. »Es war ein Fehler, dieses Buch nach Mayab zu bringen«, sagte Lilith, unverändert lächelnd. Landru zuckte die Schultern. »Wer gibt dir die Gewißheit, daß alles, was darin steht, der Wahrheit entspricht?« Der Versuch erschien ihm selbst geradezu widerwärtig erbärmlich. Lilith legte die Hand auf die Brust, wo vor kurzem noch der magische Dolch gewütet hatte, bis er sich rückstandslos auflöste. Die Wunde war bereits vollständig verheilt. »Etwas hier drin«, erklärte sie, »verrät es mir. Etwas, an dem ich nicht zweifle. Etwas, das du mir nicht nehmen konntest!« Landru lachte hart auf. Dabei ging er unauffällig, wie schlendernd einen Schritt vor, dann noch einen. »Ich habe dir nichts genommen, Lilith«, sagte er, bemüht jovial. »Im Gegenteil – ich habe dir etwas geschenkt: Ein Leben, wie es großartiger nicht sein könnte. Eine Welt habe ich dir zu Füßen ge-
legt. Was könntest du mehr wollen?« »Es gibt nur eines, das ich will, Landru«, erwiderte Lilith. Sie stieg über das Buch hinweg und trat ihm wiegenden Schrittes entgegen, mit laszivem Augenaufschlag. Ihre Hand berührte seine Brust, ihre Finger krochen träge zu seinem Hals hinauf. Landru erstarrte. Mißtrauen flammte in ihm auf. »Was?« fragte er leise. »Was willst du, Lilith Eden?« »Deinen Kopf!« zischte Lilith. Speichel flog von ihren Lippen. Haß sprühte aus ihrem Blick. Und noch im selben Moment rang sie Landru nieder und schlang ihm die Arme um Hals und Schädel, bereit, ihm mit einem einzigen Ruck das Genick zu brechen!
* Den Triumph dieser einzigen Sekunde, das wußte Lilith, würde sie niemals mehr vergessen. Länger jedoch währte er nicht. Bevor sie auch nur die Armmuskeln anspannen konnte, um Landru sein verzerrtes Gesicht auf den Rücken zu drehen, löste sich ihr Klammergriff wie aufgesprengt. Schmerz explodierte in ihrer Brust, mörderische Wucht trieb sie von Landru weg, und sie glaubte das Knacken ihrer Rippen noch zu hören, als sie zwei Meter entfernt hart zu Boden schlug. Nona hatte den Fuß schon zum nächsten Tritt erhoben, holte aus, traf Lilith diesmal in den Bauch. Sie krümmte sich im Versuch, Nonas nächster Attacke die Angriffsfläche zu nehmen. Furienhaft stürzte sich die andere auf die Halbvampirin, krallte ihre Finger in deren schwarze Mähne, zog sie daran halb hoch und drosch ihr die Faust an die Schläfe. Wieder wurde Lilith zurückgestoßen. Aber Schmerz und Überraschung lähmten sie nicht länger – im Gegenteil, sie wurden zu Öl auf das Feuer ihres Hasses. Lilith kam hoch. Ihr vorgestrecktes Bein erwischte Nona im
Sprung. Die Gegnerin ging zu Boden. »Jetzt reicht’s, du Schlampe«, knirschte Lilith. Und setzte nach! Aus dem Stand warf sie sich auf Nona, nagelte sie mit ihrem Gewicht regelrecht am Boden fest. Weit nahm Lilith den Kopf zurück – und ließ ihn mit aller Kraft wieder vorschnellen, mitten hinein in Nonas Gesicht, aus dem die Wut längst alle Schönheit getilgt hatte. Doch die Wölfin gab sich nicht geschlagen. Sie hatte in ihrem Leben schon unzählige Kämpfe ausgefochten – und überstanden. Irgendwie gelang es ihr, die Beine anzuziehen, zwischen sich und Lilith zu bringen, um die Halbvampirin schließlich von sich zu katapultieren. Lilith flog förmlich nach hinten weg. Die Wand bremste ihren unfreiwilligen Flug. Augenblicklich streifte sie die Benommenheit ab, stieß sich ab, um sich von neuem auf Nona zu stürzen – – hielt auf halbem Wege jedoch irritiert inne. Weil Nona ihr in dieser Sekunde nicht mehr die geringste Aufmerksamkeit widmete, keinerlei Anstalten traf, sich zur Wehr zu setzen. Der Blick ihrer Augen irrte durch den Raum, und Lilith erkannte, was die Wölfin in Menschengestalt ablenkte. Landru! Oder vielmehr die Tatsache, daß er verschwunden war! Und mit ihm – die CHRONIK … »Landru!« Nonas Schrei glich dem eines Tieres. Rauh, kehlig, heulend. »Elender Kretin«, entfuhr es Lilith, »ich krieg’ dich!« Noch in der Sekunde verwandelte sie sich. Pfeilschnell raste sie in neuer Gestalt aus der Kammer. Nona folgte ihr, langsamer zwar, aber mit einer ganz ähnlichen Verwünschung für Landru auf den Lippen … Vor ihr stob die Fledermaus mit peitschenden Schwingen aus dem Tempel. Fünfzehn, zwanzig Meter weit schoß Lilith hoch über dem Erdboden noch dahin, dann bremste sie erschrocken ihren Flug wie-
der ab – – weil sie ihren Sinnen kaum traute! Das Bild, das ihre animalische Wahrnehmung von der Umgebung aufzeichnete, glich nicht mehr dem vertrauten. Die Grenze Mayabs hatte sich … verändert. Schien – auf unmögliche Weise! – nähergerückt zu sein! Der Wall, der die Hermetische Stadt als sichtbare Barriere abriegelte, türmte sich höher als zuvor, und entlang seines Fußes türmten sich frisch aufgeworfene Erde und zermahlenes Gestein, das von Urgewalt aus der Tiefe hochgedrängt worden sein mußte. Starr vor Überraschung sackte Lilith nieder. Doch bevor sie unsanft aufkam, trieb sie sich mit kräftigem Flügelschlag wieder in die Höhe. Der Frage, was hier vorging, konnte sie später nachgehen. Vielleicht konnte auch Landru sie ihr beantworten – mit seinen letzten Worten sozusagen … In rasendem Flug nahm sie die Verfolgung des silbergrauen Wolfes auf, der in Richtung der Grenze hetzte.
* Die Distanz zwischen Wolf und Fledermaus schmolz zusehends. Unter anderen Umständen wäre das Raubtier dem geflügelten wohl überlegen gewesen. Das Gewicht der CHRONIK, die der Wolf zwischen den Fängen trug, behinderte ihn jedoch, so daß Lilith aufschließen konnte. In der Zwischenzeit fand sie Gelegenheit, auch den Himmel über Mayab eingehender zu betrachten. Der Eindruck, den ihr Sonarsinn übertrug, war zwar nicht mit wirklichem Sehen gleichzusetzen, dennoch war unverkennbar, daß das Gewölbe sich verändert hatte. Es schien tiefer gesunken zu sein, und es wirkte – faltig. Wie alte Haut, die ihre Spannkraft verlor. Und purpurfarbene Blitze zeichneten glo-
sende Klüfte hinein. Nicht jetzt! Denk später darüber nach! ermahnte Lilith sich – zum einen, um ihr dringlicheres Ziel nicht aus den Augen zu verlieren; zum anderen, um sich nicht länger mit der zutiefst beunruhigenden Beobachtung befassen zu müssen … Der Wolf befand sich annähernd unter ihr. Zwei, allenfalls drei Meter trennten sie noch von ihm. Lilith legte die Schwingen an. Wie ein Stein raste sie schräg in die Tiefe. Dann, als ihre Krallen das silbergraue Fell des Tieres berührten, breitete sie die Schwingen von neuem aus, ließ sie schlagen, drosch sie dem Wolf um den Schädel. Landru hielt im Laufen inne. Schüttelte sich, um die Fledermaus abzuwerfen. Seine Kiefer öffneten sich, die Blutbibel fiel zu Boden. Blitzende Fänge schnappten nach Lilith, verfehlten sie klackend. Der Wolf sprang hoch, schlug mit den Pfoten nach der Fledermaus, die ihn umflatterte – – und dann wie der Blitz aus heiterem Himmel auf ihn niederstieß, sich in seinem Nackenfell verkrallte. Dornenspitze Klauen gruben sich in die Haut darunter. Wieder klatschten ihm lederne Schwingen um den Kopf. Schwingen, die im nächsten Augenblick zu Armen wurden – die sich würgend um seine Kehle schlangen! Hände wühlten sich in sein Fell, packten seine Schnauze. Muskeln spannten sich. Landru spürte es durch seinen Pelz – – und gab den Impuls zur Transformation. Lilith hing ihm noch immer im Nacken, doch ihr Griff hatte sich gelockert. Landru langte nach hinten, bekam sie zu packen und beugte sich ruckartig vor. Lilith flog über ihn hinweg, landete unsanft zu seinen Füßen. Einen Moment lang war die Versuchung, sich auf sie stürzen und seiner Mordlust freien Lauf zu lassen, fast übermächtig. Aber Land-
ru widerstand ihr. Liliths Schicksal war ohnedies besiegelt. Und es würde grausamer sein als alles, was er ihr mit eigenen Händen hätte antun können … Hastig wandte er sich um, wollte die CHRONIK aufnehmen und die Flucht fortsetzen. »Vergiß es.« Nona lächelte ihn an. Auf eine Weise, wie sie es nie zuvor getan hatte. Das jahrhundertealte Band zwischen ihnen war brüchig geworden. Und es lag nicht allein daran, daß Nona den Keim verloren hatte, den Landru ihr einst eingeflößt hatte. Es hatte sich sehr viel mehr geändert … Die Blutbibel fest an sich gepreßt, wich Nona Schritt um Schritt zurück, wurde immer schneller, wandte sich schließlich um und rannte fort in Richtung des grollend näherrückenden Horizonts der verborgenen Stadt. »Nona –«, begann Landru und wollte ihr nachsetzen. Statt dessen aber stürzte er vornüber! Lilith stand drohend über ihm. »Vielleicht triffst du sie ja in der Hölle wieder«, meinte sie. Landru wälzte sich herum und kam in der gleichen Bewegung in die Höhe. Seine gespannte Haltung signalisierte, daß er sich kein weiteres Mal überrumpeln lassen würde. »Was willst du, Hurenbalg?« knurrte er, Lilith aus geschmälten Augen im Visier behaltend. »Ich schlage dir einen Handel vor«, erwiderte sie. »Was hättest du mir schon anzubieten?« fragte er amüsiert. »Dein Leben.« »Oh, wie großzügig. Und welchen Preis müßte ich dafür erbringen?« »Bring mich aus dieser elenden Welt heraus«, verlangte Lilith. Landru gab sich den Anschein, als denke er tatsächlich darüber nach. Und schließlich nickte er sogar. Aber seine Miene ließ keinen
Zweifel daran, daß er nicht im Traum daran dachte, Lilith wirklich behilflich zu sein. »Folge mir«, sagte er, »oder – versuch es wenigstens!« Sein gehässiges Lachen erstarb in unhörbarem Ultraschall, als er wie ein schwarzer Blitz in die Höhe schoß! Lilith brauchte ungleich länger für die Verwandlung. Sie war ihr noch nicht wieder in Fleisch und Blut übergegangen. Als sie sich dann endlich aufschwang, hatte Landru schon die Hälfte der Strecke zum Gewölbe hinauf zurückgelegt.
* Lilith gab nicht auf. Alle Kraft legte sie in die Schläge ihrer Schwingen, drosch ihren pelzigen Leib förmlich durch die Luft, immer weiter hinauf, wo Landru als dunkler Punkt auszumachen war. Ein Punkt jedoch, der an Größe und schließlich Kontur gewann, als Lilith ihm näherkam. Spielte er mit Lilith, oder war es tatsächlich nicht mehr soweit her mit seinen Kräften? Hatten die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit so sehr daran gezehrt, daß sie sich noch nicht wieder regenerieren konnten? Lilith hoffte es. Denn wäre Landru im Vollbesitz seiner ganzen Macht und nicht gezeichnet von Erschöpfung, hätte sie kaum eine Chance gegen ihn. Zumindest nicht in einer direkten Konfrontation, in der beide einzig ihre Kraft in die Waagschale zu werfen hatten. Das Glück schien Lilith hold. Landru wurde langsamer. Die Bewegungen seiner Flügel wirkten nun sichtlich angestrengt. Sein Kurs war keine gerade Linie mehr; mal schwankte die gewaltige Fledermaus über Lilith zur einen, dann wieder heftig zur anderen Seite. Und die Entfernung schmolz. Die Landschaft unter ihnen war zur Miniatur geschrumpft. Das
Gewölbe schien durch seine Nähe gewaltig. Und die Blitze, die von unten dürren Ästen gleichgesehen hatten, wuchsen zu Klüften, in denen purpurne Glut gloste, so kalt aber, daß Lilith meinte, ihre Muskeln müßten gefrieren. Das Vorankommen bereitete nun auch ihr solche Mühe, als versuchte sie sich unter Wasser zu bewegen. Trotzdem fiel es ihr leichter als Landru. Der Vampir erweckte den Eindruck, als ziehe er sich mit seinen Schwingen an unsichtbaren Stufen in die Höhe, angestrengt, Stück um Stück. Dann hatte Lilith zu ihm aufgeschlossen. Und griff an! Ihre vorgestreckten Krallen zielten nach seinen Flughäuten, trafen und bohrten sich in das dunkel geäderte Leder. Lilith schlug heftig mit den Schwingen, stieg auf und riß klaffende Löcher in die Flügel des Vampirs. Landru kreischte auf, für einen Menschen unhörbar, für Lilith indes markerschütternd. Der Schlag seiner Schwinge mochte eher zufällig in ihre Richtung gehen – an seiner Wirkung änderte diese Zufälligkeit nichts. Lilith fühlte sich wie von einem Hammerschlag erwischt, der sie haltlos forttrudeln ließ. Hektisch schlug sie mit den Schwingen, bis sie ihren Flug wieder stabilisiert hatte. Landru hatte die wenigen Sekunden genutzt und Boden gutgemacht. Fast zum Greifen nahe mußte ihm das flackernde Gewölbe sein. Neue Blitze flammten auf und badeten die Kontrahenten in kaltem Licht. Lilith wußte, daß jetzt Sekunden zählten. Sie mußte Landru erreichen, bevor er seinerseits das Gewölbe erreichte, die Hülle, die Mayab hermetisch vor der Außenwelt verschloß. Wenn sie in dem Moment, da er die Grenze überwand, Kontakt zu Landru hatte, dann würde er sie unweigerlich mit hinübernehmen. Schneller. Schneller! SCHNELLER! Ihre Flügel peitschten förmlich die Luft, in so rascher Folge, daß es
mit bloßem Auge kaum noch nachzuverfolgen gewesen wäre, hätte jemand dieses Duell in den Lüften hoch über Mayab beobachtet. Die wirkliche Entfernung, die Landru noch zurückzulegen hatte, war für Lilith nicht abzuschätzen. Ihr fehlten die Anhaltspunkte – zum einen; zum anderen war sie außerstande, genügend Aufmerksamkeit darauf zu verwenden. Die Abstimmung ihrer Schwingenschläge erforderte ihre ganze Konzentration. Schon konnte sie den Wind spüren, den Landrus Flügel verursachten. Lilith streckte ihren pelzigen Leib, trieb sich zu noch schnellerem Flug. Wieder flammte das Gewölbe, die Haut der Blase, in der Mayab steckte, auf, gleißender als zuvor, geradezu blendend hell. Für den Bruchteil einer Sekunde war Lilith nahezu blind. Nur noch Licht war um sie her, brannte eisig auf ihren Flughäuten und fuhr beißend durch ihren borstigen Pelz. Und dann war das Gewölbe heran! Tatsächlich heran – nähergekommen. Ein Stück niedergestürzt. So weit, daß Landru es berührte – – und darin verschwand! Für Lilith sah es aus, als wäre ein Stein in ein stehendes Wasser geworfen worden. Die Stelle, an der Landru ins Gewölbe eingetaucht war, leuchtete in strahlendem Purpur auf, und von diesem Punkt liefen kreisförmige Wellen weg, deren Strahlen abnahm, je größer sie wurden. Bis sie sich vollends verloren. Dieser Beobachtung widmete Lilith jedoch nicht mehr als eine Zehntelsekunde. Sie mußte sich darauf konzentrieren, das Gewölbe nunmehr nicht selbst zu berühren. Denn sie wußte, was dann passieren würde – hatte es schon einmal erlebt: Berührte ein Wesen, das keinen »Schlüssel« zu Passage besaß, die Barriere, wurde es von deren Magie fortgeschleudert, an einen beliebigen Punkt Mayabs. Und dieses Ziel konnte buchstäblich überall innerhalb der Grenzen der Hermeti-
schen Stadt liegen – auch metertief unter der Erde beispielsweise … Lilith spreizte die Flügel. Ihre Geschwindigkeit verlangsamte sich augenblicklich. Und sie hätte es geschafft – – wäre das Gewölbe nicht in genau diesem Augenblick ein weiteres Stück niedergestürzt! Um eine Winzigkeit nur. Aber doch weit genug, um Lilith zu berühren. Magie entlud sich auf eine Weise, die sich mit Sinnen nicht nachvollziehen ließ – – und riß Lilith fort! Irgendwohin.
* Nona schaute nicht zurück. Nur nach vorne. Im buchstäblichen wie auch im übertragenen Sinn. Die Vergangenheit, die jüngste jedenfalls, interessierte sie nicht länger. Landrus perfider Plan, Mayab – all das wollte und würde sie aus ihrem Gedächtnis streichen. Nur die Zukunft zählte noch für die Wölfin. Ihr strebte sie mit raumgreifenden Schritten zu. Sie würde beginnen in dem Moment, da sie die Grenze der Hermetischen Stadt hinter sich gelassen hatte. Die Grenze … Nona schauderte unwillkürlich, als sie daran dachte und in der Folge den Blick hob, um den Wall um Mayab ins Auge zu fassen. Er mochte noch annähernd einen Kilometer entfernt liegen – trotzdem war er näher, als er es hätte sein dürfen! Wie in einer Würgeschlinge mußte Mayab all die Jahrhunderte in seinem Griff gelegen haben. Und nun zog diese Schlinge sich enger … Jedes Wort, das Landru Nona darüber verraten hatte, entsprach offensichtlich der Wahrheit – so unmöglich, ungeheuerlich es auch
war. Landru … Hatte sie ihn verloren? Nona schüttelte den Kopf, als müsse sie jemandem auf die selbstgestellte Frage antworten. Sie lächelte. Nein, verloren hatte sie Landru sicher nicht. Ihre Wege hatten sich in der Vergangenheit oft für Jahre getrennt, und doch waren sie einander immer wieder begegnet und so vertraut miteinander umgegangen, als wäre nicht mehr als ein Tag vergangen seit ihrem Abschied. Es hatte viele Abschiede gegeben in jenem halben Jahrtausend seit ihrem Kennenlernen. Viele waren bitter gewesen, manche hatten sie im Streit genommen. Aber nie hatte ein Streit die Zeit überdauert. Die Jahre hatten jede Auseinandersetzung vergessen gemacht – und die Leidenschaft füreinander geschürt. So würde es auch diesmal sein. Wenn es Landru gelang, aus Mayab zu entkommen … Jetzt warf Nona doch einen Blick zurück. Doch weder von Landru noch von Lilith entdeckte sie auch nur den Hauch einer Spur. Beide schienen wie vom Erdboden verschluckt. Und als reagiere der Boden unter Nona auf ihre Gedanken, durchlief ihn just in diesem Augenblick ein dumpfes Vibrieren und Grollen, als wolle er zeigen, daß er sehr wohl willens und imstande wäre, jemanden zu verschlingen … Nona schlang die Arme fester um den steinharten Einband der CHRONIK, als könne das Buch ihr Halt geben. Die Blutbibel … Was würde sie Nona verraten, wenn es ihr erst gelungen war, ihre rätselhafte Schrift zu entschlüsseln? Die Wölfin war zuversichtlich, daß sie – oder Chiyoda – es schaffen würde. Sie hatte das sichere Gefühl, einen gewaltigen Schatz in Armen zu halten. Vielleicht den größten, den es auf dieser Welt je gegeben hatte.
Wieder schaute Nona nach vorn. Die Distanz zum Erdwall war weiter geschrumpft. Viel schneller, als es durch die bloße Geschwindigkeit ihres Laufes möglich gewesen wäre. Erdverwerfungen und Bodenspalten, die es vor Tagesfrist noch nicht gegeben hatte, zwangen Nona vom direkten Kurs auf die Grenze ab. Sie mußte die Klüfte und Aufbrüche umgehen, und je weiter sie ging, desto größer wurde die Zahl dieser Hindernisse. Rumpelnder Donner ließ den Boden wieder beben, und jetzt sah Nona auch, wie der Wall sich bewegte. Als stemmten sich unvorstellbar gewaltige Kräfte von der anderen Seite dagegen, die ihn vorwärtsschoben. Der Vergleich hinkte freilich, und er versagte, was das unablässige Flackern des Gewölbes anging. Denn auch der falsche Himmel schien näher als zuvor, ganz so, als stürze er langsam, aber unaufhaltsam ein. Nona kannte den Grund. Aber sie kam nicht dazu, ihn in Gedanken zu reflektieren. Weil etwas anderes ihre Aufmerksamkeit beanspruchte. Jemand! Wie aus dem Nichts tauchte dieser Jemand auf, als speie ihn ein unsichtbarer Riese aus. »Du?« entfuhr es Nona ungläubig und wütend in einem. »Hast du jemand anderen erwartet?« Ein verunglücktes Lächeln auf den Lippen, stemmte Lilith sich hoch und klopfte sich Staub und Erde vom Symbionten. »Wo ist Landru?« Hastig sah sich Nona nach allen Seiten um. Nach Liliths überraschendem Auftauchen mochte es gut sein, daß Landru auf ganz ähnliche Weise erschien. Aber sie waren und blieben allein. Lilith wies mit dem Daumen über die Schulter. »Er hat es wohl geschafft«, meinte sie. »Landru hat Mayab verlassen?« hakte Nona nach.
Lilith nickte. »Scheint so.« Nonas Miene war von maskenhafter Starre. Ihre goldfarbenen Augen aber verrieten ihren inneren Aufruhr. Lilith verzog die Lippen. »Sieht aus, als hätte dein elender Bock dich im Stich gelassen, nicht wahr?« Ihre Worte waren provozierend, ihr Tonfall gehässig. Aus der CHRONIK hatte sie genug erfahren, um sich ein Bild über die Beziehung zwischen Landru und Nona machen zu können. Nona lachte rauh. »Gewiß nicht«, antwortete sie. »Wir waren nie ein Paar von jener Art, die – nun, wie soll ich es ausdrücken, damit auch du es begreifst? – naiven Mädchen feuchte Träume beschert.« Für einen winzigen Moment schien ihr verborgenes wölfisches Ich wider alle Natur durch ihre Züge brechen zu wollen. »Du irrst dich«, erwiderte Lilith ruhig. »Aber ich kann dir gerne zeigen, was mich in meinen ›feuchten Träumen‹ erregt –« So schnell, daß Nona es kaum nachvollziehen konnte, war Lilith heran und hielt ihr die geballte Rechte dicht vors Gesicht. Als die Halbvampirin die Faust aufschnappen ließ, wanden sich unter der Haut ihrer eben noch schlanken Finger knotige Muskeln, und die Nägel waren zu dolchspitzen Klauen gewachsen. Dennoch hatte Nona sich so gut unter Kontrolle, daß sie nicht einmal mit der Wimper zuckte. Statt dessen drückte sie in fast beiläufiger Bewegung Liliths drohend hingereckte Klaue beiseite und lächelte, scheint’s gelangweilt. »Laß es gut sein«, sagte sie ruhig. »Ich bin sicher, daß du mir nichts tun wirst.« »Was könnte mich davon abhalten?« zischte Lilith. »Das Wissen darum, daß ich deine einzige und letzte Fluchtmöglichkeit aus dieser verdammten Welt bin!« Lilith erstarrte für eine Sekunde. Zweifel zeichnete sich auf ihre Züge. Dann trat sie einen kleinen Schritt zurück. Ihre Haltung war
lauernd, von geradezu spürbarem Mißtrauen geprägt. »Was redest du da?« fragte sie leise und fuhr gleich fort: »Soll das heißen –?« Nona nickte, lächelnd und ihren Triumph kaum verhehlend. »Genau das. Ich habe, wie Landru, den Schlüssel, der den Weg nach draußen öffnet – zurück in unsere Welt.« Lilith blieb angespannt, und ihr Mißtrauen schwand um keinen Deut. »Warum erzählst du mir das?« fragte sie. Wie zufällig streifte ihr Blick dabei die CHRONIK in Nonas Armen. Sie ahnte den Beweggrund der anderen bereits. Nona registrierte Liliths Blick sehr wohl, und wieder nickte sie. »Ich sehe, du verstehst. Ich bin bereit, dir zur Flucht aus Mayab zu verhelfen – unter einer Bedingung.« »Und die wäre?« »Sobald wir die Grenze hinter uns gelassen haben, wirst du mir daraus vorlesen«, verlangte Nona. Mit der flachen Hand schlug sie auf den Einband der Blutbibel. Das Geräusch allein klang so unheimlich, wie es das Buch selbst war. »Was steht darin, das für dich von Interesse ist?« wollte Lilith wissen. Natürlich war sie innerlich längst bereit, auf das Angebot der anderen einzugehen. Trotzdem versuchte sie ihre Hoffnung nicht allzu deutlich zu zeigen. Irgend etwas, ein Instinkt oder etwas in dieser Art zumindest, veranlaßte Lilith, die Gunst des Moments zu nutzen – die Gelegenheit, weitere Informationen zu sammeln, würde vielleicht nie mehr kommen. »Meine Geschichte«, erwiderte Nona knapp. »Deine Geschichte? Kennst du sie denn nicht?« »O doch, natürlich. Aber ich möchte wissen, wie meine Rasse sich entwickelte – und wo ihr Ursprung liegt.« »Was kümmert dich Vergangenes?«
»Die eigenen Wurzeln – will nicht jedes denkende Wesen wissen, wo sie liegen?« fragte Nona, und es lag fast etwas wie Mitleid in ihrer Stimme, als sie hinzufügte: »Müßtest nicht gerade du das verstehen?« Etwas wie eine unsichtbare Faust schien sich um Liliths Kehle zu legen, und so nickte sie nur stumm. »Heißt das, daß unser Handel gilt?« fragte die Wölfin. »Er gilt.« »Dann laß uns gehen«, sagte Nona und wandte sich der Grenze Mayabs zu. Sie ging einen Schritt, den zweiten – und strauchelte, stürzte fast, als der Boden unter ihr so stark bebte, daß die Erde an weiteren Stellen aufbrach. Ein wirres Muster aus Sprüngen zeichnete sich um Nona und Lilith her auf dem Boden ab, wie auf einer zerschlagenen Glasscheibe. »Was ist das?« stieß Lilith hervor. Zum ersten Mal schien ihr wirklich bewußt zu werden, daß da etwas ganz und gar Abnormes vor sich ging. »Du weißt es nicht?« gab Nona zurück. Verwundert sah sie die Halbvampirin an, während sie so vorsichtig auf die Beine kam, als stehe sie auf den Planken eines im Sturm tanzenden Schiffes. Lilith schüttelte den Kopf. »Nein.« Wieder durchlief ein Zittern den Boden. Diesmal allerdings glichen die beiden so ungleichen Frauen die Bewegung aus. Nona wartete, bis das Vibrieren verebbt war. Dann erst antwortete sie, und ihr nüchterner Ton war ihren Worten völlig unangemessen. Trotzdem minderte er kaum ihre Dramatik. »Mayab vergeht.«
*
»Vergeht?« echote Lilith, nach Sekunden erst, als hätten Nonas Worte so lange gebraucht, um ihre bewußte Wahrnehmung zu erreichen. »Ich verstehe nicht –« »Was gibt es daran nicht zu verstehen?« Nona lachte hart auf, aber es lag nicht der geringste Funke Humor darin. Sie wies in die Runde und schließlich in die Richtung des Walls. »Siehst du es denn nicht?« Lilith folgte ihrem ausgestreckten Finger mit Blicken und sah, daß sich der Erdwall nicht einfach nur verändert hatte, sondern nähergekommen war – und sich noch immer bewegte. »Es sieht aus, als würden Planierraupen den Wall auf uns zuschieben«, meinte sie lahm. »Deine Phantasie ist erbärmlich«, sagte Nona verächtlich. »Trotzdem wünschte ich, es wäre so, wie du glaubst – so einfach …« »Ach?« machte Lilith. »Und wie verhält es sich tatsächlich – Klugscheißerin?« Nona verzog die Lippen zu einem freudlosen Grinsen. »Wie ich sagte – Mayab vergeht. Diese Welt wird schon bald nicht mehr existieren.« »Und aus welchem Grund? Ich meine – warum gerade jetzt, nach all der Zeit?« fragte Lilith. »Weil sie ihren Sinn und Zweck erfüllt hat«, fuhr Nona fort und berichtete weiter, was sie zuvor von Landru erfahren hatte, der sein Wissen um den Untergang Mayabs wiederum aus dem Weltenpfeiler mitgebracht hatte. Sie erzählte Lilith in knappen Worten von Landrus verbotener Kelchtaufe, die er vor einem halben Jahrtausend hier vollzogen hatte. Die Macht, deren Werkzeug der Lilienkelch war, hatte nicht gewollt, daß die vampirische Saat unter das Volk der Maya gebracht wurde. Nachdem Landru sich darüber hinweggesetzt hatte, war Mayab entstanden – eine verborgene Welt, versiegelt durch Kelch-
magie, damit der Keim der Alten Rasse nicht nach draußen getragen werden und Verbreitung finden konnte. Nun, nachdem auch das letzte der Kelchkinder ausgelöscht worden war, befand die Kraft im Weltenpfeiler es nicht länger für erforderlich, die Hülle um Mayab aufrechtzuerhalten: Der Kerker wurde nicht mehr gebraucht – und sollte zerstört werden. »Die magische Blase, die Mayab umhüllt, zieht sich immer weiter zusammen – bis sie schließlich nicht mehr vorhanden ist«, schloß Nona und sah erst zum Wall hin und dann zum Himmel auf, an dem die nächtliche Sonne inmitten des purpurnen Flackerns kaum mehr auszumachen war. Entsprechend unwirklich geriet das »Tageslicht« allmählich – schattenhaft wie eh und je in dieser Welt, nur düsterer noch und unsteter. Lilith schluckte hart. Sie gedachte all der Menschen, die hier zurückbleiben mußten – dem sicheren Tod geweiht. Gerade jetzt, da sie endlich befreit waren vom Joch der vampirischen Tyrannei und ein neues Leben in einer neuen Welt vor ihnen gelegen hätte … Blick und Miene schienen ihre Gedanken verraten zu haben, denn Nonas Stimme peitschte förmlich auf Lilith ein: »Denk nicht einmal daran! Dazu hätten wir nicht einmal dann Zeit, wenn ich es wollte.« »Würdest du es denn wollen?« entgegnete Lilith. »Ich meine – hast du Mitleid mit diesen Menschen?« Mit einer schwachen Kopfbewegung wies sie über die Schulter zurück, wo die Ziegelhütten lagen – jede einzelne das Zuhause einer Familie … Nona zögerte einen kurzen Moment, dann nickte sie, so rasch jedoch, als tue sie es gegen ihren eigentlichen Willen. »Ja«, sagte sie leise, »ich fürchte ja, ich habe Mitleid – und gerade deshalb möchte ich so schnell wie möglich von hier weg! Diese Welt verdirbt mich …« Sie sah sich wie abschiednehmend um und schluckte, als liege ihr ein übler Geschmack auf der Zunge, den sie zu vertreiben trachtete. Entschlossen setzte Nona sich wieder in Bewegung. Doch Liliths Stimme hielt sie ein weiteres Mal zurück.
»Einen Augenblick!« »Was denn noch?« Nona fuhr herum. Zorn und irgend etwas anderes – die Angst davor, daß jede Sekunde, die sie länger in Mayab zubrachte, ihr ursprüngliches Wesen weiter untergraben werden könnte? – funkelten in ihren goldenen Augen. »Das Buch«, verlangte Lilith. »Das Buch?« wiederholte Nona. »Warum sollte ich es dir geben? Was willst du damit?« »Es ist mein Pfand. Meine Garantie dafür, daß du mich auch wirklich mit hinausnimmst«, erklärte Lilith. Auffordernd streckte sie die Hand aus. »Gut, meinetwegen.« Nona grinste. »Dann muß ich mich wenigstens nicht damit abschleppen.« Mit beiden Händen und leise ächzend warf sie es Lilith zu, die es sichtlich müheloser auffing. »Und nun komm endlich!« rief Nona, schon weiterlaufend. Lilith folgte ihr, schweigend und lächelnd. Das Gewicht der CHRONIK vermittelte ihr etwas Beruhigendes. Sie würde ihren Teil des Handels einhalten und Nona daraus vorlesen, wenn sie die Grenze überwunden hatten – – aber sie würde dieses Buch der Bücher nicht wieder aus der Hand geben! Denn obgleich Lilith in der kurzen Zeit, die ihr zur Verfügung gestanden hatte, vieles über sich darin hatte finden können, hatte sie doch noch längst nicht alles erfahren, was ihre Vergangenheit betraf. Das Wissen um ihr Leben war noch lückenhaft, und sie wollte jedes einzelne dieser Löcher schließen. Darüber hinaus mochten in der CHRONIK Ereignisse festgehalten sein, die nur indirekt mit ihrer eigenen Geschichte zu tun hatten, aber durchaus von Bedeutung dafür sein mochten. Jede Seite dieses Buches wollte Lilith lesen. Wenn Mayab erst hinter ihr lag. Und wenn nicht –
– alles ganz anders gekommen wäre! Ein weiteres Beben erschütterte die verborgene Welt, brachte sie dem Untergang näher, mit größerer Gewalt als all die Male zuvor. Der Boden schien sich um die beiden Frauen her regelrecht aufzubäumen. Quadratmetergroße Schollen wurden hochgedrückt, meterbreite Klüfte taten sich auf, als die »Hülle« um Mayab ein weiteres Stück schrumpfte. Lilith hatte das Gefühl, als würde ihr der Boden buchstäblich unter den Füßen weggezogen. Sie fiel vornüber, versuchte ihren Sturz mit den Händen abzufangen und ließ dabei unweigerlich die CHRONIK los. Das schwere Buch schlitterte vor ihr über die Erde, kam für einen Moment zur Ruhe, bis gerade dieses Stück Boden ebenfalls aufgeworfen wurde. Die CHRONIK rutschte weiter – Lilith warf sich im Liegen nach vorne. Ihre Finger berührten die Blutbibel. Bekamen sie beinahe zu fassen – – und schafften es doch nicht. Geradezu provozierend langsam kippte die CHRONIK über die Kante einer Bodenspalte. Und verschwand darin.
* »Du ungeschickte Kreatur!« keifte Nona. Federnd setzte sie neben Lilith auf, nachdem sie über die Kluft im Boden gesprungen war. »Was hast du getan?« schrie sie weiter. »Wie konntest du nur –?« Lilith winkte im Liegen ab. »Krieg dich ein«, sagte sie lapidar. »Alles halb so wild – ich kann das Buch sehen.« Sie hatte sich fast bis zum Bauchnabel über die Kante der Bodenspalte geschoben. Die CHRONIK lag ein Stück darunter auf einem Vorsprung. Der Grund der Kluft verlor sich in Dunkelheit.
Lilith reckte den Arm hinunter, streckte die Fingerspitzen, ohne jedoch den Einband der Bibel auch nur berühren, geschweige denn das Buch fassen zu können. Es fehlte mindestens ein halber Meter. »Hilf mir«, keuchte sie. »Wie denn?« fragte Nona. »Du mußt mich halten«, erwiderte die Halbvampirin. »Nimm meine Füße und laß mich hinab – aber vorsichtig, ja?« Sie spürte Nonas Hände an ihren Knöcheln und hörte die Wölfin schnauben: »Verdammt, das hätte ich mir in meinen schlimmsten Alpträumen nicht träumen lassen.« »Das Leben steckt eben voller Überraschungen – selbst ein so langes wie unseres.« Lilith grinste über die Schulter nach oben. Nona grinste zurück. »Was weißt du schon von einem wirklich langen Leben, du Grünschnabel?« Lilith schob sich weiter vor. Mit beiden Händen stützte sie sich dabei an der senkrechten Wand der Kluft ab, grub ihre Fingernägel in das feuchte Erdreich, während Nona von hinten Stück um Stück nachschob. »Langsam«, kommandierte Lilith, »noch ein kleines bißchen. Ich hab’s – gleich …« Die Fingerspitzen ihrer Rechten streiften das steinharte Leder des Buchdeckels, rutschten ab. »Noch ein –« Lilith griff auch mit der Linken hinunter. Ihre Finger berührten die CHRONIK, hielten den Kontakt. Jetzt mußte sie das Ding nur noch sicher in den Griff bekommen – Sie hörte das Grummeln und Donnern eine Sekunde, bevor sie die Auswirkungen am eigenen Leibe zu spüren bekam. Erde löste sich von den Wänden der Bodenspalte, rieselte in die Tiefe. Immer mehr und mehr. Der Untergrund, auf dem sie noch bis zu den Oberschenkeln lag, erzitterte – ganz sacht erst, dann heftiger, und schließlich so stark, daß Lilith selbst zu beben meinte. »Verflucht, hast du es endlich?« hörte sie Nona über sich schreien.
Genau in dem Moment, als der Wandvorsprung unter ihr zu bröckeln begann – – und das Gewicht der CHRONIK nicht länger zu tragen vermochte! Zeitlupenhaft brach die Nase aus Erde und Stein weg, und die Blutbibel fiel in einem Regen aus Lehmbrocken und Felssplittern in die Tiefe. Einen Aufprall vernahm Lilith nicht. Es schien, als hätte die Schwärze dort unten die CHRONIK aufgesaugt. »Nein!« rief sie entsetzt. »Nein?« kam es von oben wie ein Echo zurück. »Was heißt das – nein?« »Nein heißt nein!« brüllte Lilith. »Hol mich rauf!« »Was ist mit der CHRONIK?« »Weg.« »Weg?« »Verloren!« stieß Lilith hastig hervor. Das Beben des Bodens nahm weiter zu. Sie spürte, wie die Kante der Kluft nachgab. »Verdammt, zieh mich hoch!« Verzweifelt nach Halt suchend, krallte Lilith ihre Finger in die von Rissen durchzogene Wand. »Warum sollte ich das tun – wenn du das Buch nicht hast?« rief Nona. Lilith schrie auf, als sie spürte, wie Nonas Hände sich noch fester um ihre Knöchel schlossen. Sie riß Liliths Beine hoch – und schob mit aller Kraft! »Ohne die CHRONIK bist du wertlos für mich!« Lilith rutschte ruckartig ein Stück tiefer – und stürzte vollends, als Nona losließ! Verwandeln! Der Gedanke durchraste Lilith wie ein Schrei. Doch sie kam nicht mehr dazu, sich in eine Fledermaus zu transformieren, um den Fall mit deren Flügeln abzubremsen und dann aus der Tiefe aufzusteigen.
Hart schlug Lilith erst mit der Stirn, dann mit der Schläfe gegen eine Felsnase, die in ihre Sturzbahn ragte. Für einen winzigen Moment schien alles um sie her gleißend hell illuminiert. Dann fraß Finsternis alles Licht. Und Lilith selbst.
* So viele Grausamkeiten hatte ihm das Leben in Mayab beschert, daß Bonampak nie geglaubt hätte, sie könnten binnen weniger Tage noch übertroffen werden. Und doch war es geschehen. Die Greuel der vergangenen Tage, ja Stunden im Grunde nur, hatten jedes Maß überstiegen, alles bislang Erlebte und Erlittene in den Schatten gestellt. Und ein Ende des Schreckens schien nicht abzusehen – Die Gedanken des jungen Maya stockten. Sein Blick ging über die Zweige des Gebüschs, das ihm als Versteck diente, hinweg und hin zum Wall, der in unerklärliche Bewegung geraten war – der wuchs und näherrückte! Wenn diese Beobachtung dem entsprach, was Bonampak befürchtete, dann war ein Ende wohl doch abzusehen: das absolute Ende, der Untergang seiner Welt – und der Tod all jener, die mit ihm darin zu leben verdammt waren … Aus sicherer Entfernung und sich stets versteckt haltend hatte Bonampak alles beobachtet, was in den zurückliegenden Stunden in Mayab vorgegangen war: die Vernichtung des Tyrannenpalasts durch Feuer und Donner; die Rückkehr des Hohen Vaters der Könige; die Folterung und Ermordung jener, die den Palast zerstört hatten, unter ihnen Calot, der Tiefe, und sein getreuer Verbündeter Vador; und schließlich die Hinrichtung der noch verbliebenen Tyran-
nen, die deren Vater selbst zum Tode verurteilt hatte.* Die Menschen Mayabs gerieten darauf in hellen Aufruhr. Sie glaubten sich befreit von der blutrünstigen Herrschaft jener, die zwanzig Generationen ihres Volkes unterdrückt hatten. Doch die so unverhofft erlangte Freiheit war vorüber, kaum daß sie begonnen hatte – denn mit dem Verschwinden der Tyrannen schien auch die Existenz ihrer mysteriösen Welt beendet zu sein. Bonampak kannte die genauen Zusammenhänge nicht, konnte sie lediglich erahnen. Doch ohnedies galt sein Interesse all dem nur in zweiter Linie. Zuvorderst behielt er eine ganz bestimmte Figur in diesem grausamen Spiel im Auge – jene, die sich Lilith Eden nannte. Die sich zunächst seine Freundschaft erschlichen – – und ihn dann auf furchtbarste Weise enttäuscht hatte! Als sie die Maske aus Freundlichkeit fallenließ und Bonampaks Familie hinschlachtete … Daß nicht Lilith es gewesen war, die das Massaker angerichtet hatte, sondern die Tyrannen, wußte Bonampak nicht. Die Vampirin Atitlá hatte seinen Geist dahingehend beeinflußt, daß Bonampak überzeugt an Bilder glaubte, die er so tatsächlich nie gesehen hatte. In seiner gefälschten Erinnerung war es nach wie vor Lilith, die ihm Frau und Kind auf abscheulichste Weise genommen hatte …** Und so verfolgte Bonampak die vermeintliche Mörderin, nicht nur auf Schritt und Tritt und mit Blicken, sondern vor allem mit seinem Haß. Schmerzhaft brannte und fraß er in ihm, und er wußte, daß es nur einen Weg gab, dieses verzehrende Feuer zu löschen – den Weg über Lilith Edens Leiche. Er wollte diesen Haß nicht mit in den Tod nehmen, der ihm – dazu brauchte er nur zum Wall hin oder zum Gewölbe aufzusehen – unausweichlich drohte. Denn der Tod, das spürte Bonampak, würde diesen Haß nicht tilgen können. Er würde weiter in seiner Seele lo*siehe VAMPIRA T35 **siehe VAMPIRA T34
dern und ihn nicht die ewige Ruhe finden lassen. Aber plötzlich – Bonampak zermalmte einen bitteren Fluch zwischen den Zähnen. Sein Ziel, das schon zum Greifen nahe gelegen hatte, schien mit einemmal in weite Ferne gerückt, vielleicht sogar unerreichbar fern! Er hatte Lilith beobachtet, war ihr gefolgt. Hatte mitangesehen, wie sie sich mit dem Hohen Vater der Tyrannen duelliert hatte, und schon da hatte er befürchtet, sie könnte ihm – seiner Rache! – entkommen. Doch der Vampir war allein durch das Gewölbe geflohen, Lilith war zurückgeblieben. Als sie dann auf die seltsame Fremde getroffen war, von der Bonampak nicht mehr als den Namen – Nona –, wußte, hatte er endlich zuschlagen wollen. Aber wieder war etwas seinem Plan zuwidergelaufen! Nach einem kurzen Intermezzo, bei dem es offenbar darum gegangen war, einen verlorenen, für Bonampak völlig fremdartigen Gegenstand aus der Tiefe zu bergen, hatte eben jene Nona Lilith in eine Bodenspalte hinabgestoßen – und sie damit unbewußt vor Bonampaks Vergeltungssucht gerettet. Jetzt wurde er Zeuge, wie Nona weiter auf den Wall zuhetzte, ihn schließlich unter Mühen erklomm und sich gegen die Barriere warf, die sich darüber und darunter als sinnzerrüttender Wirbel erstreckte. Dann war die Fremde verschwunden, spurlos. Unbewußt sah Bonampak sich nach allen Seiten hin um, ob er Nona nicht doch irgendwo entdeckte, gesetzt den Fall, die Macht der Grenze hatte sie fortgeschleudert, zurück in die Hermetische Stadt. Daß er sie nirgendwo ausmachte, mußte nicht zwangsläufig bedeuten, daß es ihr gelungen war, die Grenze unbeschadet zu überwinden. Wie auch immer – das Schicksal Nonas kümmerte Bonampak ohnehin nicht. Sein Trachten galt allein Lilith Eden!
Wie tief mochte sie gestürzt sein? fragte sich der rachsüchtige Maya. Tief genug, daß sie sich ihren verdammten Hals gebrochen hatte? Hoffentlich nicht. Denn das war etwas, das er gern selbst übernommen hätte … Aber auch wenn Liliths Sturz ihn seiner Rache beraubt haben sollte, so wollte er sich doch mit eigenen Augen von ihrem Tod überzeugen … Bonampak nahm all die Dinge auf, die er sich in aller Eile zusammengestellt hatte, um der Mörderin damit den Tod zu bringen. Dann ging er dorthin, wo der Boden Lilith Eden verschlungen hatte. Um ihr in die Tiefe nachzufolgen. Getrieben von ärgerem Grimm denn je zuvor schritt Bonampak aus. Du entkommst mir nicht, Lilith Eden! dachte er. Ob es mir nun vergönnt ist, dich mit eigener Hand zu töten, oder ob du schon tot bist – in jedem Fall werde ich auf deinen Leichnam speien! Und wieder schwor er sich: Und wenn es das Letzte ist …
* Aus kalten Augen sah Tenango hinab auf die Adobehütten, die den Tempelbezirk umstanden. Aufregung herrschte unter den Menschen dort, und Tenango spürte, wie diese Aufregung sich auch seiner bemächtigen wollte. Doch er widerstand ihr. Im Gegensatz zu einigen anderen, die wie er der Priesterschaft angehörten. Jener Priesterschaft, die nun, nach dem Ableben der Hohen Könige Mayabs, ohne jeden Nutzen war. Wenn wir denn je einen wirklichen Nutzen zu erfüllen hatten, ging es Tenango düster durch den Sinn. Er selbst zählte zu den ältesten Priestern. Dennoch erinnerte er sich noch gut jener Zeit, da die Hohen Könige ihn in ihren unmittel-
baren Dunstkreis befohlen hatten. Stolz hatte ihn erfüllt, zu einem gewissen Teil zumindest; in erster Linie aber hatte er sich damals einfach nur glücklich geschätzt. Denn wer zum Priester berufen wurde, der hatte es geschafft, dem ward das Joch der Tyrannei abgenommen. Ein Priester hatte nicht länger zu leiden unter der grausamen Willkür der Herrschenden; er gehörte eher zu ihnen als noch zu dem Menschenvolk, dem er entstammte. Und er brauchte nicht mehr Stund für Stund um sein Leben fürchten. Dieses Glücksgefühl jedoch, sann Tenango weiter, hatte sich – in seinem Fall wenigstens – nur allzu rasch gelegt. Als ihm klar geworden war, daß er nur ein bitteres Los gegen ein kaum minder übles eingetauscht hatte … Denn die Priesterschaft lebte weder frei von Sorgen und Nöten noch in Saus und Braus. Das einzige Privileg, das ihre Angehörigen genießen durften, war, daß die Könige sie nicht – oder nur ganz selten zumindest – zu Opfern erkoren, die sie in grausamen Spielen gegeneinander trieben oder auf die sie wilde Jagd machten. Den meisten Priestern genügte dieser Lohn. Tenango indes war nie zufrieden damit gewesen. Trotzdem hatte er kein Wort über seinen Unmut verlauten lassen oder gar versucht, tatsächlich etwas dagegen zu unternehmen. Stoisch und duldsam hatte er darauf gewartet, daß seine Stunde käme, da die Zeit des Dienens vorüber wären – – und nun, da eben dieser Zeitpunkt gekommen schien, war er offenbar auch schon vorüber … Die Zeichen, die Tenango selbst sah, waren schwerlich zu mißdeuten, und ebenso verhielt es sich mit den Berichten jener, die draußen gewesen waren. Etwas geschah mit Mayab, und alles wies darauf hin, daß das Ende dieser versiegelten Welt gekommen war. Wer oder was immer das Gewölbe über der Hermetischen Stadt einst errichtet haben
mochte, schien nunmehr beschlossen zu haben, sein Werk dem Untergang preiszugeben. Der Brandgeruch hing noch immer über den verkohlten Mauerresten des zuvor so prachtvollen Palastes der Hohen Könige. Nicht nur die Herrscher hatte der Tod ereilt, auch etliche der Priester waren in den Flammen und nachfolgenden Wirren umgekommen. Das Volk hatte sich wider seine Herren erhoben – und einen bitteren und allzu flüchtigen Sieg errungen. Die Strafe für ihren Frevel erhielten die Menschen nun von höherer Macht. Wehmütig sah Tenango zum flackernden, von purpurnen Blitzen durchwirkten Himmel auf, dann noch einmal hinab zu den Menschen, die ihn in ihrem Aufruhr an Ameisen erinnerten, deren Bau zerstört worden war. Schließlich wandte er sich von der Fensterhöhlung ab und jenen zu, die hinter seinem Rücken schon die ganze Zeit über in heftige Gespräche vertieft waren. Dabei schien es weniger um Worte und Argumente zu gehen als vielmehr darum, die anderen an Lautstärke zu übertreffen. Tenango gestattete sich ein dünnes Lächeln, das viel von jener Enttäuschung verriet, deren bitterer Geschmack ihm nun schon seit so vielen Jahren den Mund füllte, als hätte er in all der Zeit nichts anderes gegessen als verdorbene Früchte. In der Tat, dachte er resignierend, die Priesterschaft unterscheidet sich nicht vom gewöhnlichen Volk. Allenfalls durch Äußerlichkeiten … Gedankenverloren strich er über sein aufwendig gearbeitetes Gewand. Nur – was nutzt uns das …? Flüchtig sah Tenango sich in dem weitläufigen Raum um, in dem sie, die noch verbliebenen Priester, sich versammelt hatten. Er war Teil des sogenannten Priesterpalastes, der dieser Bezeichnung aber bestenfalls durch seine Fassade gerecht wurde. Dahinter war alles von schlichter Zweckmäßigkeit, und die Gemächer der Priester waren nichts anderes als einfache Kammern, kärglich möbliert.
Am eindrucksvollsten waren noch Räume wie dieser. Hier hatten die Priester die Opfer für die Rituale vorbereitet – und die Überbleibsel hernach entsorgt … Die Drecksarbeit hatten wir zu verrichten, nichts anderes! befand Tenango in Gedanken, wie so oft in so vielen Jahren. Und jetzt endlich hätten wir uns zu wirklich Privilegierten, zu Herrschern aufschwingen können – – ginge unser kaum gewonnenes Reich nicht gerade unter … Stumm gesellte Tenango sich zu den anderen und lauschte ihren Debatten. Sie entwarfen die abstrusesten Erklärungen für den drohenden Untergang Mayabs, doch ihre Phantasie versagte, wenn es darum ging, einen Ausweg zu ersinnen, eine Möglichkeit, wie das Ende abzuwenden sei. Ihre endlosen Litaneien wirkten einschläfernd auf Tenango. Nichts vernahm er darin, was ihm nicht selbst schon in den Sinn gekommen wäre, ohne daß es ihn zu einer brauchbaren Lösung geführt hätte. Bis – »Die Götter wurden erzürnt«, sagte einer. Die Götter erzürnt … Tenangos halbgeschlossene Lider schnappten regelrecht auf. Irgend etwas in ihm schlug an, etwas wie ein feines Glöckchen, dessen heller Ton seinen müden Geist weckte. »Die Götter sind tot«, behauptete ein anderer. »Ich rede nicht von den Hohen Königen«, erwiderte der erste Redner. Tenango sah zu ihm hin – Hapai. Tenango kannte ihn als stets zurückhaltenden Mann, der wenig sprach; nur dann, wenn er etwas von Bedeutung zu sagen hatte. »Von wem dann?« »Von den Göttern«, erklärte Hapai betont. »Den wahren Göttern unseres Volkes.« Dabei ging der Blick seiner altersgrauen Augen ehrfürchtig in die Höhe. »Du meinst –?«
Hapai nickte. »Ich meine jene, denen sich selbst die Hohen Könige unterordneten. Weshalb sonst sollten sie all die Rituale zelebriert und Opfer dargebracht haben?« »Aus purer Lust an Grausamkeit und Tod«, meinte ein anderer aus der Runde. »Vielleicht wollten sie uns das glauben machen«, mutmaßte Hapai. »Bei mir jedenfalls haben sie es nicht geschafft. Ich bin überzeugt, daß sie die Gunst der Götter erwerben wollten.« »Was ihnen offensichtlich nicht gelungen ist.« Eine Priesterin, Labná mit Namen und noch jung an Jahren, hatte gesprochen und wies nun in Richtung der Fensterfront, meinte mit ihrer Geste aber, was jenseits davon seinen Lauf nahm. »Ihnen nicht«, entgegnete Hapai geheimnisvoll. Wie zufällig tauschte er einen Blick mit Tenango. Als könne er spüren, wo seine Andeutungen auf fruchtbarsten Boden fielen und Sinn trugen. Tenango nickte wissend und schaltete sich erstmals in das Gespräch ein: »Vielleicht können wir wettmachen, was den Hohen Königen nicht gelang.« Stille senkte sich wie eine jeden Laut schluckende Glocke über die Versammelten. Nicht einmal das Geräusch ihres Atmens war mehr zu vernehmen. Dafür aber klang das Rascheln ihrer Kleidung überlaut, als alle sich Tenango zuwandten. »Ich sehe, du verstehst«, brach Hapai schließlich das Schweigen. Labnás Blick pendelte zwischen ihm und Tenango hin und her. Ein Funke glomm in ihren dunklen Augen auf, wuchs und wurde zur Flamme des Verstehens – und schließlich zum Feuer der Begeisterung. »Ihr wollt –?« begann sie. Tenango nickte und vollendete: »– die erzürnten Götter besänftigen. Ja, es könnte uns gelingen.« »Aber wie?« Hapai lächelte in Tenangos Richtung, wartete dessen zustimmen-
des Nicken ab und sagte dann in feierlichem Ton: »Durch etwas, das alles bisher Dagewesene übertrifft! Eine Opferzeremonie, deren Ausmaß die Götter gnädig stimmen muß, auf daß sie den Untergang unserer Welt aufhalten –!« Und Tenango fügte hinzu, jedoch leiser und verschlagener: »– ein Ritual, das den Göttern zeigen wird, wer wirklich der Ehre wert ist, über Mayab zu herrschen …«
* Der Abstieg gestaltete sich weniger schwierig, als Bonampak befürchtet hatte. Die Wände der durch das Beben entstandenen Schlucht waren nicht ganz senkrecht, sondern wiesen eine leichte Neigung auf, und zahlreiche Risse darin boten seinen Fuß- und Fingerspitzen einigermaßen Halt, da der junge Maya kein sonderliches Schwergewicht war. Am meisten machte ihm noch seine Ausrüstung zu schaffen. Immer wieder behinderte sie ihn, während er einer viergliedrigen Spinne gleich in die Tiefe kletterte, und ein paarmal hätte er sie ums Haar verloren, wenn er sich besonders strecken oder verrenken mußte, um den nächstmöglichen Halt zu erreichen. Im Nachgreifen geriet er dann in durchaus brenzlige Lagen, wäre sogar zwei- oder dreimal beinahe abgestürzt. Ob ein Sturz wirklich gefährlich gewesen wäre, konnte Bonampak nicht beurteilen – er wußte nicht, wie tief es unter ihm noch hinabging. Zumindest waren die Sichtverhältnisse so schlecht, daß er den Grund der Kluft nicht erkennen konnte. Andererseits – wenn sich lockeres Gestein und Erdreich unter seinen Füßen und Händen lösten, vermochte er kein Aufprallgeräusch zu hören. Was wohl darauf hindeutete, daß der Boden noch sehr weit entfernt war … und vielleicht auch darauf, daß er Lilith Eden nur noch tot auffinden würde.
»Verflucht«, zischte Bonampak. Zwar hatte er sich oben noch mit der Aussicht darauf begnügt, wenigstens ihren Leichnam zu sehen – Lilith tot zu seinen Füßen zu sehen! –, aber insgeheim hatte er doch darauf spekuliert, ihr selbst den Todesstoß versetzen zu können. Sollte ihm denn nicht einmal das mehr vergönnt sein – nachdem sein Leben sonst schon sinnlos geworden war? Nach weiteren zwei oder drei Metern, für die Bonampak etliche Minuten brauchte, hielt er inne. Wieder war unter ihm loses Gestein weggerutscht – und diesmal hörte der Maya etwas! Aber es war kein Laut von jener Art, mit der Stein aus großer Höhe auf festen Grund fiel – sondern … ja, was? Es war ein dumpfes Platschen, als befände sich dort unten – Wasser? Ein unterirdischer See? Bonampak versuchte in der Tiefe etwas auszumachen, aber das spärliche Licht von oben genügte gerade, um ihn noch die Hand vor Augen erkennen zu lassen. Also stieg er vorsichtig weiter hinab, bis er eine Stelle erreichte, die ihm sicher genug schien, daß er die Hände von der Wand lösen konnte. Dann griff er über die Schulter, zog einen mit Pech präparierten Stab aus seinem Köcher und entzündete ihn mittels zweier Feuersteine. Als die Fackel endlich brannte, reckte Bonampak sie hinab und schwenkte sie langsam hin und her. Ein Schimmer zeichnete sich unter ihm in der Dunkelheit ab, der seine Bewegung widerspiegelte. Tatsächlich erstreckte sich dort unten also ein See – aber war es wirklich Wasser? Erst jetzt bemerkte Bonampak den eigenartigen Geruch, der zu ihm hochstieg. So roch selbst verdorbenes Wasser nicht, befand er, gestand sich aber ein, daß er den stechenden Geruch nicht näher zu definieren wußte. Ein brennender Span löste sich von der Spitze seiner Fackel. Trudelte flackernd in die Tiefe. Berührte die Oberfläche des Sees dort unten. Verlosch noch immer nicht, sondern –
Bonampak schrie auf! Feuer fauchte und brüllte zu ihm empor, als der See sich in ein Flammenmeer verwandelte! Gluthitze versengte ihm die Haut. Schmerz ließ seinen Körper sich krümmen. Bonampak verlor jeglichen Halt. Und stürzte hinab in den brennenden Pfuhl.
* Kurz zuvor Kälte und Nässe weckte Liliths Lebensgeister. Reflexhaft öffnete sie die Lider – und schloß sie sofort wieder, als sie glaubte, etwas wie Säure würde ihr die Augäpfel verätzen! Instinktiv widerstand sie einem weiteren Reflex – dem, den Mund zu öffnen und zu atmen. Trotzdem schmeckte sie etwas Stechendes, Öliges auf der Zunge. Das Zeug mußte ihr über die Lippen gedrungen sein, als sie, noch besinnungslos, hierher geraten war. Hierher …? Wo bin ich? schrie es in Lilith. Sie merkte, wie sie tiefer und tiefer sank, nicht schnell wie in freiem Fall, sondern langsam, fast wie schwebend. Ein See? Bin ich in einem See gelandet? fragte sie sich. Aber es war gewiß kein Wasser, sondern – – Petroleum? Raus hier! befahl sie sich selbst und begann automatisch Arme und Beine zu bewegen. Sekundenlang meinte Lilith, nicht vom Fleck zu kommen. Dann stieg sie, noch immer mit fest geschlossenen Augen, endlich doch in die Höhe, so langsam jedoch, als müsse sie gegen zähen Widerstand angehen.
Wie lange kann ich ohne Luft sein? fragte sie sich bang. Längst tanzten feurige Kreise hinter ihren Lidern, bettelten ihre Lungen um Sauerstoff. Nach jeder Bewegung ihrer Glieder fiel es Lilith schwerer, sich zur nächsten zu zwingen. Ihre Kräfte schwanden, wollten gänzlich versagen, und dann – – Luft! Stinkend und kaum atembar, aber für Lilith in diesem Augenblick so köstlich wie reinster Sauerstoff! Tief sog sie den Atem ein, so heftig und unkontrolliert, daß ihr schwindelte. Mühsam zwang sie sich zur Beherrschung, atmete dann flach, um die Wirkung der Dämpfe um sie her zu minimieren, und schließlich hatte sie genug Kraft gesammelt, um weiter zu schwimmen. In irgendeine Richtung, denn ein Ufer dieses unterirdischen Sees ließ sich nirgendwo erkennen. Von irgendwo über ihr fiel zwar ein schwacher Lichtschein herab, den ihre Augen verwerten konnten, aber er genügte nicht, um weiter als zwei oder drei Meter zu sehen. Ein Mensch indes wäre völlig blind gewesen hier unten. Ein Geräusch wie ferner Donner drang an Liliths Ohr. Die Oberfläche des Petroleumsees geriet in Wallung, stinkende Wellen schwappten ihr ins Gesicht, überspülten ihre Lippen. Sie spie aus. Und sie dachte: Nona, ich wünschte mir, wir würden uns noch einmal begegnen – du würdest mich richtig kennenlernen! Aber Lilith wußte, daß es dazu nicht kommen würde. Sie war gefangen in Mayab, jetzt noch mehr als zuvor, in der Tiefe dieser sterbenden Welt, und es gab keine Chance zu entkommen. Vielleicht würde sie nicht einmal mehr die Oberfläche erreichen, das Licht der nächtlichen Sonne sehen, bevor es ganz zu Ende ging … Dafür aber erstrahlte plötzlich ein ganz anderes Licht um Lilith her: ein flackerndes, blendend helles – und mörderisch heißes! Alles ging so schnell vonstatten, daß Lilith nichts unternehmen,
nur tatenlos zusehen konnte. In der einen Sekunde registrierte sie, aus den Augenwinkeln nur, den tanzenden Schimmer, der von oben auf den Petroleumsee herabfiel. Noch bevor sie ihn näher lokalisieren oder gar erkennen konnte, worum genau es sich dabei handelte, sah sie den flimmernden Funken, der wie ein einsamer Tropfen niederging – und den See in Flammen aufgehen ließ! Im Nu war Lilith in Feuer gebadet! Aber bevor sich der Symbiont auf ihren geistigen Befehl hin einmal mehr in einen Kokon verwandelte, der sie vor den Flammen schützte, hörte Lilith einen furchtbaren Schrei und sah etwas aus der Höhe auf sich zustürzen – – jemanden! Und sie erkannte das Gesicht des anderen, obwohl Panik und Schmerz es verzerrten. »Bonampak!« entfuhr es ihr, bevor die fließende Schwärze des Symbionten ihr die Lippen versiegelte und auch die Augen, künstlichen Lidern gleich, verschloß. Dann spürte sie nur noch, wie der Maya neben ihr in das brennende Petroleum eintauchte.
* Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid? Lukas, Kap. 9, Vers 55 Von bleierner Schwere schienen ihm seine Lider; sie aufzuschlagen drohte Landrus Kraft zu übersteigen. Und als er es schließlich geschafft hatte, kam es ihm vor, als bohre sich das flimmernde Sonnenlicht wie glühende Lanzen in seine Augäpfel und tief in sein Hirn
hinein. Dennoch widersetzte er sich dem Reflex, die Augen wieder zu schließen – weil er insgeheim fürchtete, sie dann nie wieder öffnen zu können. In weit über tausend Jahren war Landru dem Tod mehr als nur einmal gegenüber getreten. Aber nie war er ihm so nahe gekommen, nie hatte ihre Begegnung so lange gewährt wie dieses Mal. Als willfähriges Opfer mußte er dem Schnitter gelten, wie er kraftlos dalag, buchstäblich zu Tode erschöpft. Und tatsächlich gaukelten Landrus Sinne ihm vor, er würde ein hohles Lachen aus knöchernem Munde hören und den geschwungenen Schatten eines Sensenblattes über sich sehen. Als er sich jedoch bei dem stillen Wunsch ertappte, eben dieser Schatten möge ein Ende machen mit allem, kam wieder Leben in Landru – oder etwas zumindest, das ihn hochtrieb, ihm wenigstens genug Kraft eingab, um sich auf Hände und Knie zu stützen. Das Passieren der Grenze hatte ihn regelrecht ausgelaugt. Die Macht darin hatte sich in einem Maße konzentriert, daß Landru meinte, eine tatsächlich stabile Mauer durchdringen zu müssen. Zugleich hatte er den Eindruck gehabt, unsichtbare Klauen würden nach ihm greifen, um ihn zurückzuhalten – um ihn mit Mayab in den Untergang zu reißen! Um ihn Jahrhunderte nach seinem Frevel wider das Verbot des Grals endlich dafür zu bestrafen … Landru atmete keuchend durch. Er war entkommen. Und nur das zählte. Im Augenblick jedenfalls … Sein Blick suchte den Wall, der – für seine Augen – die Grenze um Mayab markierte. Oder markiert hatte? Denn er fand ihn nicht. Grün, schattig und lärmend erstreckte sich der Dschungel Yucatáns um Landru her, mit Blicken kaum zu durchdringen und scheinbar endlos. War Mayab schon vergangen? Oder hatte es ihn, Landru, nur soweit von der Hermetischen Stadt fortgetragen, daß sie seinem Blick-
feld entschwunden war? Auch das war letztlich nicht von Belang. Nicht mehr. Nona kam ihm in den Sinn. Ob sie es geschafft hatte, aus der sterbenden Welt zu fliehen? Gewiß, beruhigte er sich. Und wußte doch, daß es nicht mehr war als der bloße Versuch, sich zu beruhigen. Aber auch die Sorge – oder ein Gefühl wenigstens, das einem Wesen wie Landru als Sorge galt – um Nona verging. Ein anderer Gedanke drängte mit Macht in den Vordergrund. »Der Plan«, kam es Landru kraftlos über die Lippen, »er ist nicht aufgegangen, fehlgeschlagen …« Jener Plan, der Lilith Edens Schicksal zum Inhalt hatte, der sie ein erlogenes Leben hatte führen lassen sollen … Landru hatte alle glauben lassen, dieser Plan wäre seine Idee gewesen. Nur er wußte, daß auch dies eine Lüge war. Er – und jener, der ihn tatsächlich ersonnen hatte. Landru hatte in diesem Plan lediglich die Rolle des Ausführenden gespielt – und versagt. Ihn wollte schaudern, als er daran dachte, welche Konsequenzen sein Scheitern nach sich ziehen konnte. Eilends beschwor Landru das Bild desjenigen, der ihn als Werkzeug benutzt (mißbraucht!) hatte, vor seinem geistigen Auge herauf, und umgehend schwand das Schaudern, verging die Furcht. Wenn das Äußere jenes anderen nicht trog, dann bestand kein Grund, ihn zu fürchten. Nicht für Landru zumindest … So machte er sich endlich auf zu jenem sagenhaften Ort, weit entfernt, den der andere ihm als Treffpunkt genannt hatte, vor Wochen schon, auf einem Friedhof in Paris. Dort angekommen, würde Landru nicht zögern, das Mißlingen des Planes zu gestehen. Aber er würde sich ihm nicht beugen. Er würde sich nicht erniedrigen lassen – – von einem Knaben …
* Im tiefen Reich Stinkende Flüssigkeit erstickte Bonampaks Schrei. Hitze versengte ihm nun auch die Mundhöhle, wollte sich Bahn fressen hinab in seine Lungen, und dieser Schmerz übertraf noch jenen, der seinen Leib badete und ummantelte wie eine tatsächliche zweite Haut aus Glut und Feuer. Nur noch Sekunden – dann würde es vorbei sein! hoffte er. Und seine Gedanken brüllten in Agonie und Verzweiflung: Dann MUSS es vorbei sein …! Wie ein Stein, zu keiner Regung fähig, sank Bonampak tiefer in den feurigen Pfuhl. Plötzlich – eine Berührung. Nicht wie von einem wirklichen Hindernis, sondern eher ein Tasten, wie von einer blind um sich greifenden Hand. Dann – war es vorbei. Der Schmerz blieb. Aber die Hitze schwand. Wie ausgelöscht. Finsternis, vollkommen und Bonampak wie stofflich erscheinend – er konnte sie tatsächlich auf seiner versengten Haut fühlen! –, umgab ihn nicht einfach, sondern hüllte ihn buchstäblich ein. Und schließlich – die Stimme. Ganz dicht an seinem Ohr. Ihre verhaßte Stimme! Und wieder gaukelte sie ihm nur falsche Freundlichkeit vor, indem sie sagte: »Du bist in Sicherheit – mein Freund …«
* Lilith befahl dem Kokon, sich zu öffnen. Die schwarze Schale, wie
die einer monströsen Frucht anmutend, teilte sich. Sengend heiße Luft, der das Feuer nahezu allen Sauerstoff entzogen hatte, strich sowohl über ihr Gesicht als auch über das Bonampaks. Seine Haut erinnerte in ihrer Farbe an den Panzer eines Krebses. Und fast glaubte Lilith, die davon ausgehende Hitze spüren zu können. Der Maya mußte höllische Schmerzen haben. Aber er lebte. Und seine Verbrennungen waren nicht so schlimm, daß er sich nicht wieder davon erholen würde. Geschafft! dachte Lilith erschöpft – ohne indes recht zu wissen, wie sie es geschafft hatte. Bonampak mit in den Schutz des Symbionten aufzunehmen, war noch der leichteste Teil der Übung gewesen; blind und durch das Gewicht des Maya zusätzlich belastet und in ihren Bewegungen behindert durch den Petroleumsee zu schwimmen, der weitaus schwierigere. Doch Lilith wußte, daß sie es aller Anstrengung zum Trotz nicht geschafft hätte, wären ihr nicht Glück und Zufall zu Hilfe gekommen: das Glück, sich unwissentlich schon in Ufernähe befunden zu haben, und der Zufall, die Beine just in dem Moment sinken zu lassen, da der Grund des Sees nahe genug war, um ihn zu berühren. So hatte sie nicht länger schwimmen müssen, sondern konnte mit Bonampak im Schlepp durch die Flammen waten und hatte schließlich das rettende Ufer erreicht – wenn auch alles andere denn wohlbehalten … Die Gefahr allerdings war längst nicht gebannt! Hinter ihnen loderte noch immer das Feuer, spie Gift und fraß den Sauerstoff. Lilith atmete schwer, Bonampak ebenso. Aber in seinen Augen – Sie hatte erwartet, etwas wie Dankbarkeit darin zu finden, vielleicht auch nur Unverständnis, Nichtbegreifen – nicht aber das, was tatsächlich und allein darin stand: Aus Bonampaks Blick sprühte Lilith blanker Haß entgegen! So machtvoll, daß sie ihn wie den Hieb
einer Faust zu spüren meinte! Lilith schrak zurück. Und Bonampaks Haß entlud sich auf eine Weise, die sie seiner geschundenen Gestalt nicht zugetraut hätte!
* Sie wagt es, mir ins Gesicht zu sehen, als wäre nichts geschehen – als hätte sie mir nicht das Liebste genommen, was ich besaß! Der Zorn über Liliths Unverfrorenheit mobilisierte Kräfte in Bonampak, von denen er nicht einmal geahnt hatte, daß er sie besaß. Sie fluteten sein verbranntes Fleisch, schossen in sengendem Schmerz in seine Muskeln, und wie im Reflex sprang der Maya auf – – und Lilith buchstäblich an die Kehle! Seine Ausrüstung, mit der er ihr hatte zu Leibe rücken wollen, hatte er bei seinem Sturz in den Flammensee verloren, aber die Macht der Verzweiflung trieb ihn unwiderstehlich in den Kampf gegen Lilith! Er baute darauf, daß ihm das Glück wenigstens dieses eine Mal hold sein würde, und er hoffte, daß das Moment der Überraschung ihm zum Vorteil gereichen würde. Wie die Klauen eines Greifvogels krallte er seine Finger in Liliths Hals, wollte ihr mit bloßen Nägeln den Kehlkopf zerfetzen! Und zwei Sekunden lang schien Lilith in der Tat nicht auf seinen Angriff reagieren zu wollen. Nur ihre Augen weiteten sich vor Schreck, und Schmerz entstellte ihre Züge. Bonampak kostete schon vom süßen Geschmack des Triumphs. Sein eigenes Gesicht geriet zur Grimasse, weil aufgewühlte Emotionen ihn übermannten und seine Kraft noch steigerten. Blut quoll unter seinen Fingernägel aus Liliths Haut, und der Anblick ließ ihn nahezu in Raserei verfallen. Es – ist – möglich! hämmerte es im Takt seines eigenen rauschen-
den Blutes in ihm. Du – kannst – sie – töten! Liliths Fäuste schlossen sich um die Handgelenke des Maya, versuchten seinen Griff zu sprengen. Oh, sie war stark, verdammt stark! Bonampak meinte seine Knochen unter ihrem Druck knirschen zu hören, aber er gab nicht nach – niemals würde er aufgeben, nicht solange auch nur ein Funken Kraft und Wille in ihm wach waren. An Kraft mangelte es Bonampak auch fürderhin nicht. Wohl aber an Willen … Lilith tat etwas, das Bonampak weder nachvollziehen noch verstehen konnte. Etwas griff nach ihm wie mit Geisterhänden, und obwohl es sich seinem Blick entzog, spürte Bonampak, daß das Unbegreifliche von Lilith ausging. Es berührte ihn, drang durch sein Gesicht und immer tiefer, bis es wie mit klammen Totenfingern nach seinem Denken langte – und zurückschrak, ganz so wie wirkliche Hände, die unversehens etwas glühend Heißes berührt hatten! Aber es war zu spät! Das Netz, das eine andere Vampirin mit gleicher Macht um Bonampaks Geist gewoben und mit falscher Erinnerung gefüllt hatte, riß unter Liliths »Berührung«! Und mit dem Gewebe fiel alles der Zerstörung anheim, was darin war – Wahrheit und Lüge gingen in Scherben, vermengten sich zu einem Durcheinander, das menschlicher Geist nicht mehr aufzulösen vermochte. Bonampak bekam noch mit, wie sein Verstand beinahe im wörtlichen Sinn zerbrach; es tat weh auf eine Art, die er nie zuvor kennengelernt hatte – und die er schon im nächsten Moment vergessen hatte. Wie alles, was er je gedacht hatte und was ihm je von Bedeutung gewesen war …
*
»Was habe ich getan?« entfuhr es Lilith. Entsetzen packte und schüttelte sie. Bonampak sackte vor ihr zusammen, krümmte sich fötenhaft und kroch in dieser unmöglichen Haltung von ihr fort. Sie hatte gespürt, wie ihre geistigen Fühler auf Widerstand getroffen waren, auf etwas, das den Geist des Maya verkapselt oder eingesponnen hatte. Und sie hatte wie instinktiv gespürt, daß jeder noch so winzige Sekundenbruchteil, den sie länger daran rührte, zu verheerenden Folgen führen konnte. Dennoch hatte sie zu spät losgelassen. Und fast war sie überzeugt, daß auch nicht die allerschnellste Reaktion die Katastrophe hätte verhindern können. Sie hatte Bonampak in den Wahnsinn geschickt! Daß es ohne Absicht geschehen war, änderte für Lilith nichts. Das Schuldgefühl lastete schwer auf ihr, drückte ihr den Atem ab, wollte ihr Herz und Seele zermalmen. Derweil sah Bonampak zu ihr auf wie ein Hund, der den Tritt seines Herrn fürchtet, ohne zu verstehen, weshalb er ihn überhaupt hinnehmen mußte. Die Züge des Maya waren schlaff, wie ohne Leben, dennoch kam es Lilith vor, als bewege sich dahinter ein Kaleidoskop von Emotionen, in irrsinniger Raserei. Doch immer blieb panische Angst Teil dessen, was sie in Bonampaks Gesicht las. Als wäre Angst das einzige, das ihm noch wirklich zu Bewußtsein kommen konnte. Vorsichtig näherte sie sich ihm wie einem verschreckten Tier. Doch wich er um die Distanz eines jeden Schrittes, den sie tat, vor ihr zurück. »Komm«, sagte sie, bemüht ruhig, obgleich sie sich selbst in höchstem Aufruhr befand, »ich will dir nichts tun, Bonampak. Nur helfen –«
Als könnte ich ihm wirklich helfen, dachte Lilith bitter. Als könnte irgend jemand oder etwas ihm noch helfen …! Aber zumindest aus dieser Unterwelt hinaus würde sie ihn bringen. Sie streckte die Hand nach ihm aus, zeitlupenhaft, und ging selbst in die Hocke, um mit Bonampak auf gleicher Höhe zu sein. Sein zermürbter Geist jedoch mißverstand ihre Bewegung und trieb ihn weiter zurück – hinein in den brennenden See! »Nein!« schrie Lilith. Aber ihre Stimme ging unter im Prasseln und Fauchen jenseits des Ufers. Als wären die Flammen lebende, feurige Tentakel, so langten sie nach Bonampak – und er ergab sich willig ihrem Griff, ließ sich hineinzerren in den Pfuhl. Als sei ihm jedes Schicksal lieber, als Lilith ausgeliefert zu sein. Ohne jeden Laut ging Bonampak unter. Und starb stumm. Liliths Blick verschwamm. Sie versuchte nicht einmal, sich glauben zu machen, es liege am Wabern der Hitzeschleier. Still ließ sie ihren Tränen freien Lauf … Als sie sich schließlich abwandte, hatte sie Mühe, klar zu erkennen, wohin der Uferstreifen des Petroleumsees sich weiter erstreckte. Der Widerschein des Feuers erweckte lediglich die Schatten zum Leben, in denen der Boden verschwand. Lilith wischte sich übers Gesicht, konzentrierte sich, und endlich sah sie, daß ein Stück entfernt mehrere Stollen aus der Seehöhle führten. Nur – welchen Weg sollte sie gehen? Welcher würde hinausführen aus diesem Labyrinth? Aufs Geratewohl entschied sie sich für die mittlere Öffnung. Sie unterschied sich durch nichts von den übrigen; dahinter lag die gleiche Finsternis wie überall. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie in ihre Fledermausgestalt schlüpfen sollte. Deren Wahrnehmung hätte sie frühzeitig auf etwaige Verschüttungen aufmerksam gemacht. Doch sie entschied sich
dagegen. Als Mensch fühlte sie sich einfach sicherer … Gerade wollte Lilith den Fuß über die imaginäre Schwelle des Stollenzugangs setzen, als sie in der Bewegung innehielt wie gelähmt. Erst glaubte sie einer Täuschung erlegen zu sein. Womöglich hatte sie das Geräusch der Flammen als Flüstern mißgedeutet. Dann aber wisperte es von neuem, und diesmal deutlicher: »Hierher …« Lilith folgte der Richtung, fand hinter der nächsten Gangöffnung schließlich jenen, der da auf sich aufmerksam gemacht hatte – – und erstarrte vor Entsetzen.
* Der Junge bot einen fürchterlichen Anblick. Seine Haut wirkte wie gesotten, die Augen waren ihm aus den Höhlen gestochen worden, den Wunden zufolge vor noch nicht allzu langer Zeit. Darüber hinaus jedoch zeigte sein Leib Verletzungen, die noch bluteten, und aus der Haut seines rechten Armes stak das zersplitterte Ende eines Knochens … Es war nicht schwer zu erraten, wie der junge Maya sich diese Verletzungen zugezogen hatte: Ein Gang oder eine Höhle mußte über ihm eingestürzt sein, die Trümmer hatten ihn unter sich begraben. Ob es als Glück zu bezeichnen war, daß er es überlebt hatte, wollte Lilith nicht behaupten … »Wer bist du?« kam es flüsternd von seinen Lippen. Er mußte ihre Nähe spüren. Sie nannte ihren Namen. »Lilith«, echote er. »Ich kenne dich nicht. Dein Name klingt fremd. Gehörst du zu uns?« »Zu euch?« »Zu den Tiefen.« »Zu den Tiefen?« wiederholte Lilith unsicher. »Nein, ich –«, sie zö-
gerte kurz, »– bin tatsächlich fremd hier.« »Dann kommst du von draußen?« fragte der Junge. Die Aufregung schien ihn alle Schmerzen für den Moment vergessen zu lassen. »Von jenseits der Grenze?« »Ja.« »Dann weiß ich, wer du bist«, sagte der Junge mit belegter Stimme. »Die Mutter der Tyrannen, nicht wahr?« Lilith schüttelte den Kopf. Als ihr bewußt wurde, daß er ihre Geste nicht wahrnehmen konnte, sagte sie: »Nein, das bin ich nicht. Niemand war die Mutter dieser Brut.« »War? Dann sind –« Vage Hoffnung schwang im Ton des Verletzten mit. »Sie sind tot«, bestätigte Lilith. »Verrate mir deinen Namen.« »Tikal.« Er hielt kurz inne, als das stete Grollen um sie her an Macht gewann. »Sag, was hat es mit diesem Donner auf sich? Ich –« Er berichtete, was Lilith bereits vermutet hatte – daß ein Stollen über ihm zusammengebrochen war, und wie er sich mühevoll unter den Trümmern hatte hervorarbeiten können. Blind war er dann bis hierher gekrochen, wo er jemandes Gegenwart zu spüren gemeint hatte. »Mayab geht unter.« Lilith sah keine Veranlassung, dem Jungen etwas vorzumachen. »Geht unter?« wiederholte Tikal verständnislos. »Aber wie –? Warum –?« »Unwichtig«, erwiderte Lilith. »Laß uns lieber zusehen, daß wir hier herauskommen.« Als hätte sie das Stichwort gegeben, wurde ihr in der nächsten Sekunde deutlich vor Augen geführt, daß es allerhöchste Zeit war, zu fliehen! Das flackernde Licht um sie her nahm ab. Sie wandte sich um und sah, daß das Feuer erlosch – – weil etwas die Flammen erstickte!
»Was ist das?« keuchte sie. Es sah aus wie – ein anderes Feuer … Ein kaltes, widernatürliches. Zäh wabernd. Purpurleuchtend. Und dieses neue Feuer war ungleich gefährlicher als jenes, das es verzehrte. Denn das kalte Purpurfeuer – kam näher!
* »So geht denn hin und kehrt zurück, wenn ihr die Wahl unter euch getroffen habt – wenn die nächtliche Sonne um eine Fingerbreite am Gewölbe weitergezogen ist, wollen wir die alten, unsere wahren Götter mit dem Volke Mayabs versöhnen!« Tenango verharrte noch einige Atemzüge lang in predigender Haltung, wartete, bis das Echo seiner Stentorstimme verhallt war und die anderen Priester seine Worte mit einem einmütigen »So sei es!« bestätigt hatten. Als er die erhobenen Hände schließlich senkte, geriet auch Bewegung in die am Fuße der Tempelpyramide versammelte Menge. Wie erstarrt, gebannt von seiner Rede, hatte das Volk Tenango gelauscht, und es mochte sein, daß die Menschen noch gar nicht recht begriffen hatten, was er ihnen letztlich mitgeteilt und aufgetragen hatte – ebensowenig, daß es zwecklos war, sich dem Vorhaben der Priesterschaft zu widersetzen. Denn Tenango war sicher, daß nach der vorgegebenen Entscheidungsfrist eine ausreichende Zahl Überzeugter auf der Seite der Priesterschaft stehen würde, um sich den Rest des Volkes gegebenenfalls gefügig machen zu können … Tenango wandte sich um, während sich unter ihm das Volk zerstreute, um die schwerste Entscheidung zu treffen, die ihm je aufgebürdet wurde. Die anderen Priester, zwölf an der Zahl und jeder von ihnen wie er mit einem festlichen Gewand bekleidet, hatten hinter ihm im Halbkreis Aufstellung genommen. Ein beeindruckender Anblick, der sei-
ne Wirkung sicher nicht verfehlt hatte. Gedankenverloren rieb Tenango sich die mageren Hände. »Bereitet alles vor!« wies er die anderen an. Er hatte sich ohne Absprache zum Wortführer erhoben, und niemand hatte sein Veto eingelegt. Im Gegenteil schienen einige sogar ganz froh darüber, daß ein anderer sie der unangenehmen Aufgabe enthob. »Die Zeit ist knapp bemessen«, mahnte Tenango zur Eile. Ohne jedes weitere Worte verließen die Priester die Tempelplattform, stiegen die steilen Stufen an der Pyramidenfront hinunter und strebten dann dem Priestertempel zu. Nur Tenango blieb zurück. Er wartete, bis auch der letzte Priester außer Sicht war, dann ging er hinüber zum Heiligtum, einem hüttenähnlichen Aufbau auf der Pyramidenspitze mit hochaufragendem, reich verziertem Dachkamm. Vier Türen führten in dieses Tempelgebäude. Tenango trat ein, und als wolle er der bedrückenden Enge des Innenraums so rasch wie möglich entkommen, legte er eine fieberhafte Eile an den Tag. Hastig zählte er die steinernen Bodenplatten entlang der Wand ab, trat dann an die exakt in der Mitte des Raumes gelegene heran und bückte sich. Mit der Klinge seines prächtigen Dolches stocherte er in den Fugen der Platte herum, bis er auf nachgiebigen Widerstand traf und ein feines Schnappen hörte. Der Stein schwang etwas nach oben, gerade weit genug, daß Tenango seine Finger in den entstandenen Spalt zwängen konnte. Ächzend zog er die Platte dann in die Höhe, bis sie endlich senkrecht stand. Ein einfacher Riegelmechanismus verhinderte, daß sie wieder vornüber kippte. Darunter lagen die ersten Stufen einer schmalen Stiege, die tief in die Öffnung hinein führte. Kaum jemand außer Tenango kannte diesen geheimen Zugang ins Pyramideninnerste – und ebensowenig wußte jemand, was dort zu finden war. Tenango ging die Stufen hinab, bis zur ersten Treppenkehre. Aus
einer verborgenen Mauernische zog er dort eine Fackel und Feuersteine. In flackerndem Schein setzte er seinen Weg schließlich fort. Er passierte Zugänge zu kleineren Kammern, die entweder leer waren oder in denen allenfalls uralte Gebeine verrotteten. Den entsprechenden Gestank, der seine Nase traf, ignorierte der Priester. Sein Ziel war die größte Kammer der Pyramide. Sie war vor langer Zeit, noch bevor es den Wall gegeben hatte, zu dem Zweck angelegt worden, daß ein Herrscher darin seine letzte Ruhe finden möge. Dafür jedoch war der Raum nie genutzt worden. Statt dessen hatte ihn einst ein Priester für sich und seinen eigenen Zweck entdeckt, und sein Geheimnis war flüsternd weitergegeben worden. Tenango war – bislang – das letzte Glied in dieser Kette von Geheimnisträgern. Und wenn es gelang, Mayab vor dem Untergang zu bewahren und die Priester als neue Herrscher zu etablieren, würde er sein Wissen allen offenbaren. Weil dann dieser Raum und was er enthielt zum neuen Heiligtum des Mayabschen Volkes werden würden … Aber noch war es nicht soweit. Noch gestattete Tenango nur sich selbst den Zutritt. Zu beiden Seiten des Eingangs steckte er zwei Fackeln in Brand, dann eine Reihe weiterer, die in Halterungen entlang der Wände staken. Und schließlich war die Kammer in geheimnisvolles, tanzendes Licht gehüllt, das die Bedeutung dieses Ortes noch unterstrich. Daß ihn draußen, in der Welt jenseits des Walls jedes Museum um die Ausstattung dieser Kammer beneidet hätte, konnte Tenango freilich nicht wissen. Daß es aber ein ganz besonderer Schatz war, den er hier hütete, wußte er wohl. Stelen, Räuchergefäße und Figuren jedweder Art und Größe reihten sich aneinander. Ihr üppiges Dekor beeindruckte Tenango stets aufs Neue, aber ungleich mehr noch bedeutete ihm, was sie »erzählten«: die Geschichte des Maya-Volkes, bevor mit Mayab ein ganz eigenes, unseliges Kapitel darin aufgeschlagen worden war.
Die kunstvollen Dinge hier waren Zeugen jener Zeit, als Tenangos eigene Urväter und die eines jeden anderen Menschen hier noch in Freiheit gelebt hatten. Die Tyrannen hatten vieles davon zerstört, als könnten sie damit die Zeit vor ihrer Existenz auslöschen. Aber jener Priester, der diese Kammer einst entdeckte, hatte so viel wie nur möglich gerettet, um es für nachfolgende Generationen zu bewahren – auf daß die alten Götter nicht vollends in Vergessenheit gerieten in Mayab … Tenango verharrte vor jeder Stele, in die das Abbild eines solchen Gottes gemeißelt war, und erflehte stumm deren Hilfe für das Vorhaben der Priesterschaft. Und es schien ihm, als würden seine bloßen Gedanken an diesem besonderen Ort von den Wänden aufgefangen und flüsternd zu ihm zurückgetragen. Er fröstelte. »Steht uns bei«, bat er dann leise, eine Figur des Gottes K in Händen, den ein rauchendes Beil in der Stirn charakterisierte. »Uns, dem Volke Mayabs – und helft mir, ich flehe Euch an, es zu führen …« »Das dachte ich mir!« Tenango erstarrte für Sekunden, als sei er plötzlich selbst aus Stein. Dann endlich gelang es ihm, sich umzudrehen. »Labná?« Die Priesterin stand im Eingang der Geheimen Kammer. Still lächelnd kam sie näher. Katzenhaft erschien Tenango die Art ihres Gehens – wiegend. Erregend … »Wie konntest du mich hier finden?« fragte er lahm. »Ich wußte schon seit längerem von deinem … kleinen Geheimnis.« Sie setzte eine wohlbemessene Pause und fügte dann hinzu: »Und nun kenne ich auch dein großes!« »Wovon sprichst du?« »Macht. Der Wunsch zu regieren und zu herrschen – er beseelt dich.« »Ich –«
»Leugne es nicht«, unterbrach Labná. »Ich habe deine Worte wohl vernommen. Und sie bestätigten nur, was ich schon vermutete.« Sie lächelte abgründig. »Und?« Tenango zuckte die Schultern und lächelte gleichgültig. »Was gedenkst du nun zu tun? Geh hin und verkünde den anderen, was du erfahren hast. Es kümmert mich nicht.« »Das habe ich nicht vor.« »Sondern?« »Gehört nicht an die Seite eines Königs –«, sie trat noch näher zu Tenango, bis er ihren Atem in seinem Gesicht spüren konnte, »– auch eine Königin?« Ihre Finger griffen in den Stoff seines Gewandes und fanden zielsicher, was sich längst darunter regte und verhärtet hatte. Tenango stöhnte wohlig auf. »Ich bin bereit, dich stets wie einen König zu behandeln – wenn du mich stets an deiner Seite hältst.« Labná lächelte verheißungsvoll und ging vor ihm in die Knie. Flink hob sie den Saum seines Gewandes. Tenango half ihr, und schon Sekunden später erfüllten Laute die Heilige Kammer, wie sie nie zuvor hier laut geworden waren.
* Lilith hetzte wie von Teufeln gejagt durch das unterirdische Labyrinth! Den jungen Maya trug sie auf ihren Schultern. Sein qualvolles Stöhnen, die Berührung seiner fürchterlich entstellten Haut versuchte sie zu ignorieren. Dennoch kam es ihr vor, als übertrage sich sein Schmerz durch den bloßen Kontakt auf sie selbst. »Es – tut mir – leid«, flüsterte sie schweratmend. »Schon gut«, kam es wimmernd zurück. In unregelmäßigen Abständen warf Lilith einen Blick zurück, ob sie schon den Widerschein des Purpurfeuers ausmachen konnte.
Aber es schien sich letztlich doch träger voranzufressen, als sie es aus der Nähe betrachtet befürchtet hatte. Hinter ihnen gähnte nur Schwärze. Noch … Was mochte es mit diesem kalten Feuer auf sich haben? überlegte sie im Laufen. Kelchmagie kam Lilith in den Sinn. Hatte sie nicht in der CHRONIK gelesen, daß die Macht im Lilienkelch sich stets mit Purpurlicht zu maskieren pflegte? Da konnte durchaus ein Zusammenhang bestehen. Schließlich hatte Kelchmagie den Wall um Mayab entstehen lassen, und das purpurne Feuer mochte nun den Untergang der Hermetischen Stadt begleiten … Lilith schüttelte den Kopf, als könne sie damit die müßigen Gedanken loswerden. Sie waren unwichtig – es zählte jetzt allein, dem Feuer zu entkommen, ganz egal, woher es auch rührte und welchen Sinn es erfüllte. Eher um sich abzulenken, als daß sie sich wirklichen Erfolg davon versprochen hätte, schilderte sie Tikal ihre unmittelbare Umgebung. Beschrieb die Verzweigungen der Stellen, schätzte die Größe der Höhlen ab, die sie passierten, in der vagen Hoffnung, der junge Maya könne ihr daraufhin verraten, in welcher Richtung der nächste Weg an die Oberfläche zu finden war. Aber dann plötzlich, als sie eine Grube erreichten, über die Lilith mit einem Sprung hinwegsetzen mußte – »Geradeaus!« rief Tikal erregt. »Geh weiter geradeaus!« »Bist du sicher?« erkundigte sich Lilith zweifelnd, während sie an der nächsten Abzweigung schon vorüberlief. »Ziemlich«, kam die Antwort etwas kleinlaut. »Na schön«, murmelte Lilith, »was haben wir schon zu verlieren?« Tikal hatte sich nicht geirrt. Der Gang führte sie in seinem weiteren Verlauf stetig nach oben, und schließlich erreichten sie eine Rampe aus festgestampftem Lehm, an deren oberem Ende trübes
Licht schimmerte. Es wurde kaum nennenswert heller, als sie die Schräge erklommen und sich schließlich mühsam durch das enge Loch zwängten, das den Ausstieg markierte. Lilith gönnte sich zwei, drei Sekunden, in denen sie nur nach Atem ringend und mit hängendem Kopf dakniete. Dann erst hob sie den Blick – und stöhnte auf. »Was ist?« fragte Tikal bang. Lilith fand nicht die geeigneten Worte, um zu beschreiben, was sie sah. Es war – infernalisch …
* »Ich wünsche mir von Herzen, daß du mir einen Sohn geschenkt hast mit diesem letzten Mal. Er soll deinen Namen tragen.« Wie Perlen rollten Tränen über Quiris schmales Gesicht, und ihre Stimme erstickte fast in haltlosem Schluchzen, als Chetumal sein erschlaffendes Glied aus seiner Liebsten zog. Einmal hatten sie noch beieinander sein wollen, so nah, wie Mann und Frau es nur sein konnten. Aber es war ein klägliches Erlebnis gewesen, ohne jede Lust und Freude, nur von Trauer diktiert – und von den Worten des Priesters Tenango überschattet. Einer aus jedem Hause … »Ich hoffe, dein Wunsch erfüllt sich – dann brächte ich mein Opfer letztlich auch für meinen Sohn«, sagte Chetumal rauh. Sein Blick ruhte sekundenlang auf Quirls nacktem Bauch, als wolle er sehen, ob darin eine Empfängnis stattfand. Er lächelte über die Unsinnigkeit seines Gedankens, wandte sich ab und erhob sich vom Lager. »Bleib noch, ich bitte dich«, sagte Quiri leise. »Jeder Augenblick ist mir jetzt kostbarer als mein ganzes Leben es war.« »Dein Leben«, erwiderte Chetumal und schlüpfte in sein Gewand, »war nicht. Es wird weiter sein. Und es soll dir kostbarer sein als al-
les – sonst wollte ich nicht meines für das deine und das unserer Kinder geben.« Einer aus jedem Hause … Schon jetzt war ihm, als weiche das Leben aus ihm und als zeige es ihm im Fortziehen noch einmal alles, was sich in den Jahren ereignet hatte: Bilder der Kindheit, die er schon mit Quiri verbracht hatte; wie sie von seiner Freundin zur Geliebten und zum Weibe geworden war; wie ihnen zwei Kinder geboren wurden … Aus Liebe zu ihnen und Quiri mußte Chetumal gehen. Die Entscheidung war ihm leichtgefallen. Quiris Augen flehten ihn an, zu bleiben. Er versuchte zu lächeln; es mißlang. Er zwang sich, nicht mehr zu ihr niederzuknien. Weil er wußte, daß sie ihn dann nicht würde gehen lassen. Aber er mußte. Weil einer gehen mußte. Einer aus jedem Hause … Chetumal verließ die Ziegelhütte fast fluchtartig. Draußen saßen sein Sohn und seine Tochter auf dem lehmigen Boden, zeichneten grobe Figuren hinein. Schweigend strich der Vater seinen Kindern übers Haar. Sie waren noch zu klein, um zu verstehen, wohin er ging – und weshalb er es tat. Ihre Mutter mochte es ihnen erzählen, eines Tages – wenn Mayab diesen Tag noch erleben durfte … Wenn das Opfer die Götter versöhnte … Das Licht der nächtlichen Sonne war kaum mehr wahrzunehmen. Ein anderer, unwirklicher Schein hatte sich über die Hermetische Stadt gelegt. Von den Horizonten kam er, purpurfarben – das Leuchten eines kalten Feuers, das sich auf den Mittelpunkt Mayabs zufraß, in gespenstischer Lautlosigkeit diese Welt verzehrte. Chetumal ging los, und auf seinem Weg zur Tempelpyramide schlossen sich ihm andere an – Männer wie Frauen, alte und junge. Sie reihten sich in die Menschenschlange, die sich über die steilen Stufen zur Plattform hinaufschob. Sie alle waren …
… einer aus jedem Hause.
* Tenangos Stöhnen verriet eher Schmerz denn Lust. Nachdem Labná ihn zum ersten Höhepunkt getrieben hatte, wollte Tenango von ihr ablassen, doch sie ließ ihn längst noch nicht gehen. Mit der rechten Hand hielt sie seinen Schaft und rieb ihn, damit er nicht erschlaffte, während sie sich mit der linken geschickt und schnell ihres Gewandes entledigte. Dann streifte sie auch Tenango die Kleidung ab. Wie eine Schlange wand sie sich an seinem nackten Leib, ließ ihn ihre Brüste spüren. Hart rieben ihre Knospen über Tenangos welke Haut. Schweiß wusch wirre Muster in beider Körperbemalung. Labná drehte sich um und preßte sich wieder an ihn, so daß Tenangos Glied sich in die Spalte ihres Gesäßes drängte, heiß und pochend. Er packte sie im Nacken, drückte sie nach vorne. Sein pralles, aber keineswegs stolzes Glied tauchte in ihre feuchte Scham, die ihm einer Blüte gleich vorkam und deren herber Duft ihm die Sinne verwirrte. Ganz langsam wollte er in sie dringen, doch Labná übernahm es, das Tempo zu diktieren, indem sie sich ruckartig vor und zurück bewegte. So war es ihm nicht möglich, kurz vor dem Gipfel höchster Lust innezuhalten. Doch Labná wollte noch mehr. Kaum daß er sich zum zweiten Mal verströmt hatte, kniete die Priesterin schon wieder vor ihm. Ihre schlanken Finger liebkosten ihn – allzu heftig. Tenango stöhnte auf und mußte an sich halten, um nicht laut zu schreien, diesmal allein vor Schmerz. Fast schien es ihm, als wolle Labná ihn zugrunderichten. Und viel-
leicht war es ja so! Vielleicht wollte sie ihn auf diese – durchaus einfallsreiche – Weise beseitigen, um an seiner statt die Herrschaft anzutreten – ohne einen König an ihrer Seite dulden zu müssen. Tenango stieß das Weib von sich! Leise aufschreiend und zugleich gurrend lachend fiel Labná zurück – und kam doch so zu liegen, daß sie dem Priester ihren Schoß förmlich hinreckte, glänzend vor Schweiß und bereit, ihn ein weiteres Mal zu empfangen. Tenango spürte, wie sein Glied sich wieder regte, gegen seinen Willen. Wie von eigenem Leben erfüllt zuckte es ihm zwischen den Schenkeln, aber nicht mehr kräftig genug, um sich aufzurichten. »Was ist?« raunte Labná heiser. Wie zufällig strichen ihre Finger über den flachen Bauch und weiter hinab, um die Blätter der Blüte dort zu teilen. »Laß uns noch nicht aufhören«, flüsterte sie weiter. »Es beginnt doch gerade erst.« Tenango griff nach seinem Gewand und streifte es über. »Später«, sagte er dabei. »Später werden wir alle Zeit dafür haben – wenn uns erst gelungen ist, was wir vorhaben.« Labná verzog enttäuscht die Lippen, und Tenango glaubte nicht länger, daß sie ihm Übles wollte. In der Tat schien es schlicht so, daß er Labnás Lust in all den Jahren unterschätzt oder einfach nicht erkannt hatte. Er lächelte ihr zu. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.« Ohne jedes weitere Wort zog auch sie sich wieder an. Nicht jedoch ohne sich selbst so zu berühren, daß ihr ein bebendes Stöhnen von den Lippen kam … »Die Frist ist fast verstrichen«, sagte Tenango auf dem Weg nach oben. »Glaubst du, sie werden deinem Ruf Folge leisten?« fragte Labná. Tenango nickte. »Ich bin überzeugt davon. Einer aus jedem Hause wird bereit sein, sich zu opfern für seine Familie.«
»Zugegeben – deine Rede war von einer Eindringlichkeit, wie ich sie nie zuvor gehört habe. Aber was wird geschehen, wenn das Ritual keinen Erfolg zeitigt? Wenn alle Opfer vergebens sind?« Ganz leiser Zweifel schwang in Labnás Worten mit. Tenango zuckte gleichgültig die Schultern. »Es liegt allein an den Göttern«, erwiderte er. »Niemand wird mich oder uns zur Rechenschaft ziehen, wenn sie unser Flehen nicht erhören. Zumal dafür dann ohnedies keine Gelegenheit mehr wäre –« Mit einer herrischen Handbewegung schnitt er sich selbst das Wort ab. »Aber wir sollten nicht selbst unser Tun in Frage stellen!« fuhr er fort. »Wie können wir erwarten, daß die Götter sich unserer erbarmen, wenn wir nicht selbst daran glauben, daß sie es tun werden?« »Du hast recht. Und ich glaube –«, Labnás Hand streifte ihn wie zufällig an der noch immer höchst empfindsamen Stelle, »– an dich.« Sie erreichten das Ende der Treppe. Gemeinsam verschlossen sie die Bodenöffnung, dann traten sie heimlich aus dem Heiligtum. Sie sahen über den Rand der Pyramidenplattform hinab und lächelten synchron. »Es scheint, als liefe alles wie von dir geplant«, sagte Labná. Tenango nickte zufrieden, während er das Szenario dort drunten beobachtete. Menschen strömten der Großen Pyramide zu. Einer aus jedem Hause … »Laß uns zu den anderen gehen, um nachzusehen, ob sie alles vorbereitet haben«, sagte Tenango und eilte schon die steilen Stufen hinab. An ihrem Fuße nahmen schon die ersten Opferwilligen Aufstellung, gesenkten Blickes und bangen Herzens. Tenango und Labná gingen an den wartenden Männern und Frauen vorüber, wandten sich dem Priestertempel zu. Dort waren die anderen dabei, die Vorbereitungen für das große Ritual abzuschließen. Aufwendig gearbeitete Dolche wurden mit
Pulvern und Säften eingerieben. Kräuter und andere Substanzen wurden in großen Schalen entzündet. Und jeder Priester hatte seine Körperbemalung erneuert, sich mit Pflanzenfarben und konserviertem Blut monströse Figuren und mysteriöse Glyphen auf die Haut gezeichnet. Letzteres holten nun auch Tenango und Labná nach. Dann wandte Tenango sich an die Priesterschaft. »Seht hinaus, seht all jene, die bereit sind, ihr Leben zu geben für Mayab. Nun ist es an uns, diese Opfer in die rechten Hände zu befehlen, auf daß jene uns erhören, die allein unser Schicksal noch zu ändern vermögen.« Er hielt kurz inne, bevor er fortfuhr: »So frage ich euch denn: Seid ihr bereit zu tun, was getan werden muß – und was nur wir allein tun können?« Ein vielstimmiges »Ja!« wie aus einem Munde war die Antwort. Tenango nickte, übertrieben theatralisch. »So laßt uns denn hingehen, um unser Wissen und unsere Macht zum Wohle unseres Volkes zu nutzen.« Er drehte sich um und ging hinaus. Die anderen folgten ihm, jeder einen Dolch in Händen oder eines der heiligen Feuer tragend. Schweigend machten ihnen die Menschen draußen Platz, als die Prozession der Priester sich der Tempelpyramide näherte. Tenango intonierte eine gebetartige Litanei, in der er wortreich um die Gunst der Götter flehte und die immer wieder in ein lautes »Erhöret uns!« mündete, in das erst die Priester und schließlich auch die Opferwilligen mit einfielen. Der betörende Rauch, der den Feuerschalen entstieg und sich wie Nebel über die Menschen legte, trug sein Scherflein dazu bei, sie dahingehend zu beeinflussen. Gemessenen Schrittes stiegen die Priester die Stufen empor. Bis hinter ihnen erschrockenes Raunen laut wurde, das rasch von lauten Rufen überlagert wurde. Die Prozession hielt inne, und Hapai sah als erster, was die Aufmerksamkeit der Menge unter ihnen erregt hatte.
»Seht nur!« rief er. Seine ausgestreckter Arm wies zum Horizont, der in steter Bewegung war – – und nun auch noch … brannte? Etwas wie kaltes Feuer fraß die Trümmer dort, purpurleuchtend, wabernd – und immer näher kommend. Tenango rief zur Eile. »Rasch! Folgt mir. Das Ritual muß beginnen! Jetzt, sofort!« Die Prozession verlor alles Feierliche, als die Priester die Stufen zur Plattform geradezu hochstürmten. Oben angekommen, bereiteten sie in aller Hast den Opferplatz vor, plazierten die Feuerschalen, wie es Tenango ihnen auftrug, und bemalten die Opferblöcke mit Glyphen, die er ihnen nannte. Dann trat Tenango an die Treppe und rief mit Stentorstimme hinab: »Kommt, ihr Retter unseres Volkes und unserer Welt! Die Götter erwarten euch!« Und sie kamen. In der Hoffnung, daß tatsächlich die Götter ihrer harren mochten – und nicht allein der Tod …
* Mayab verbrannte in kaltem Purpurfeuer! Lilith war erschüttert, obwohl sie es doch schon geahnt hatte. Aber etwas vermuten und es sehen, das waren und blieben zwei gänzlich verschiedene Dinge. Sie konnte den Blick nicht abwenden, beobachtete, wie die wabernde und flackernde Hitzewoge unaufhaltsam weiterrollte und die Trümmer, zu denen die Grenze Mayabs von ungeheurer Macht zermahlen wurde, restlos verschlang. Von der einstigen Größe der Hermetischen Stadt mochte noch die Hälfte geblieben sein. Schon mußte es möglich sein, von der einen Seite zur anderen zu sehen. Ob bereits Menschen ihr Leben hatten lassen müssen, konnte Lilith
freilich nicht feststellen. Aber der Strom der Flüchtlinge, der einwärts, dem Zentrum zu zog, legte die Vermutung nahe, daß jeder einzelne darauf bedacht war, das Ende so lange wie möglich hinauszuzögern – vielleicht in der Hoffnung auf … ein Wunder? Ja, genau das ist es, was Mayab braucht, dachte Lilith, die Menschen hier – und ich. »Was siehst du?« drängte Tikal wieder, und Lilith erschrak fast vor seiner Stimme. Das Szenario um sie her hatte sie den Jungen beinah vergessen lassen. Sie schilderte es ihm in unbeholfenen Worten und glaubte nicht, daß er dadurch eine Vorstellung von der Wirklichkeit bekam. Fast beneidete sie ihn in diesem Augenblick um seine Blindheit. »Laß uns den Menschen nachgehen«, meinte Tikal. »Sie hassen mich«, wandte Lilith bitter ein. »Sie müssen mich hassen –« – schließlich bin ich nicht unschuldig am Untergang ihrer Heimat. Aber diese Worte ließ sie unausgesprochen. »Sie werden andere Sorgen haben«, sagte der Junge und versuchte auf die Beine zu kommen. Erst als Lilith ihn stützte, gelang es ihm. Seinen Arm um ihre Schulter, gingen sie los. Lilith legte Wert darauf, im Sichtschutz von Sträuchern, Feldern und Hütten zu bleiben. Sie wollte es nicht auf eine Konfrontation mit den Menschen anlegen. Wohin die Begegnung mit Bonampak geführt hatte, stand ihr noch zu deutlich vor Augen … »Was weißt du eigentlich über diese Pyramide?« fragte sie dann unvermittelt, als sie das Gebäude in der exakten Mitte Mayabs passierten. Der Eingang war verwaist. Die Wächter hatten ihren Posten verlassen. »Welche Pyramide?« fragte Tikal und brachte dabei das Kunststück fertig, ein kleines Lächeln auf seine verbrannten Lippen zu zaubern. »Oh, tut mir leid«, erwiderte Lilith, ebenfalls lächelnd, und Tikal
meinte etwas wie Wärme zu spüren. »Dieses kleine Bauwerk genau im Zentrum eurer Welt meine ich«, präzisierte Lilith dann. »Der Götze haust darin«, antwortete Tikal düster. »Der Götze?« »Der Dämon, der Gott der Hohen Könige – nenn es, wie du willst.« »Hast du ihn schon gesehen, diesen – Dämon?« »Nein, kein Mensch hat das je!« erwiderte Tikal erschrocken. Der bloße Gedanke, diesem »Dämon« gegenüberzutreten, schien ihn bis ins Mark zu schockieren. Dämon, dachte Lilith, Gott der Hohen Könige … Was soll man sich darunter vorstellen? Sie war ja selbst schon im Innern der Pyramide gewesen, aber etwas wie einen »Dämon« hatte sie nicht darin gesehen. Vielleicht nur ein weiterer Trick der Vampire, mit dem sie die Furcht der Menschen geschürt haben, tat sie Tikals Bemerkungen schließlich ab. Zumal etwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregte: die hochaufragende Tempelpyramide, die vor Tagesfrist noch den Palast der Tyrannen überschattet hatte! In scheinbar endloser Reihe standen auf ihrer Treppe Menschen jeden Alters, beiderlei Geschlechts, und ihre Zahl war so groß, daß die Stufen sie nicht zu fassen vermochten. Bis in die Stadt hinein setzte sich die Schlange fort. Und oben auf der Plattform – farbenprächtig gekleidete Gestalten, Räucherwerk entfachend, Dolche schwingend, monotone Gesänge leiernd … Es war nicht schwer zu verstehen, was dort geschehen sollte. Und was in diesem Moment begann! Ein erster Schrei wehte von der Pyramidenspitze herab. Weitere folgten ihm, wie Echos – und Lilith wünschte, es wären tatsächlich nur Echos gewesen. Aber jeder einzelne kündete vom Tod eines Menschen. Jener Menschen, die Stufe um Stufe zur Plattform auf-
rückten – sich freiwillig opferten! »Das ist Wahnsinn!« keuchte Lilith zutiefst entsetzt und völlig fassungslos. »Was? Was geschieht da?« fragte Tikal aufgeregt. Er vernahm nur die Schreie, aber sie allein genügten schon, ihn schaudern zu lassen. »Etwas, das gleich zu Ende sein wird«, knirschte Lilith. Jede Sekunde, die sie zögerte, kostete ein weiteres Menschenleben. Ungezählte Todesschreie begleiteten ihren rasenden Flug hinauf zur Pyramidenspitze.
* Blut lackierte den Stein der Plattform. Die Gewänder der Priester troffen vor dunkler Nässe. Und die aufwendige Bemalung ihrer Gesichter war fortgewaschen, von einer einzigen Farbe ersetzt worden. Jedem Gott hatte Tenango ein Feuer geweiht. Die Flammen speiste er mit warmen Herzen. Und ihm schien, als züngelten sie gierig nach dem, was er ihnen zuwarf. Seine Augen loderten, als brenne darin ein weiteres Feuer, das größte von allen. »Es gelingt«, flüsterte er heiser, »es muß gelingen. Sieh nur, wie dankbar sie meine Opfer annehmen!« »Unsere Opfer«, korrigierte Labná, leckte sich anzüglich die Lippen und reichte ihm ein weiteres Herz, derweil der Todeschor um sie her nicht verstummte. Dann plötzlich tanzten die Feuer, als striche ein Sturmwind darüber! Tatsächlich aber war es – ein Schatten, der darüberflog, so rasend schnell, daß die Augen der Priester ihn nicht zu erkennen vermochten. Erst als er für eine halbe Sekunde im Flug verhielt und mit schlagenden Flügeln gleichsam in der Luft stand, traf die Erkenntnis sie wie ein Blitzschlag.
»Ein Hoher König!« entfuhr es einem von ihnen in höchstem Erstaunen. Sie standen starr, während die Reihe der Opfer an und auf der Treppe in hektische Bewegung geriet. Fragen wurden laut, Angstrufe, im Nu entstand ein Tohuwabohu. Doch da tobte unter den Priestern schon das Chaos. Lilith.
* Als erstes schlug Lilith, wieder in menschlicher Gestalt, den Priestern die Dolche aus den Händen, ehe ein weiterer Todesstich geführt werden konnte. Dann setzte sie mit Fäusten und Füßen nach, schlug und trat um sich wie eine Furie. Die Gegenwehr der Priester machte ihr kaum zu schaffen. Zu groß war ihre Wut auf diese Mörder, und diese Wut war ein unerschöpflicher Quell von Kraft. Nur eines irritierte sie – der Blutgeruch. Warm und dampfend stieg er auf, und Lilith mußte sich eisern zwingen, sich seiner Lockung nicht zu ergeben. Eine Klinge blitzte vor ihrem Gesicht auf. Hastig nahm sie den Kopf zur Seite, riß die Arme hoch. Trotzdem entging sie dem Stich nicht. Der Dolch schnitt ihr ins Fleisch des Oberarmes – – und dunkelrotes Blut trat aus der Wunde! Nicht schwarzes. Landrus Lügengespinst zerbröckelte noch immer, obwohl Lilith geglaubt hatte, es längst aufgelöst zu haben. Die Überraschung lähmte sie für einen winzigen Moment, lange genug jedoch, um eine weitere Verletzung hinnehmen zu müssen. Der Dolchstoß des Priesters schlitzte ihr die Wange auf. Und brachte sie erst recht in Rage! Ob der Kerl seinen Angriff mit dem Leben bezahlte, wußte Lilith
nicht. Er interessierte sie schon in dem Moment nicht mehr, da er schreiend über den Rand der Plattform stürzte. Ihr entfesselter Zorn entlud sich über den verbliebenen Gegnern. Allmählich verebbten ihre Schreie. Nur Stöhnen wehte noch über die Pyramidenspitze. So zielsicher, als wisse sie, wer der Rädelsführer war, beugte sie sich zu Tenango nieder und zerrte die zerschlagene Gestalt hoch. »Was sollte das hier werden, he?« fragte sie, Feuer in Blick und Stimme. Tenango mußte mehrmals ansetzen, ehe er halbwegs verständliche Worte hervorbrachte. »Einzige Möglichkeit … den Untergang abzuwenden …«, murmelte er, »die Götter besänftigen … versöhnen …« Die Götter besänftigen …, echote es in Lilith, mit fremder Stimme jedoch – mit Tikals Stimme? Etwas wie Mosaiksteine fügte sich hinter Liliths Stirn aneinander. Zwar vermochte sie das Bild nicht zu erkennen, aber sie wußte, spürte, daß es Sinn ergab – Hoffnung … Wie zufällig fiel ihr Blick über den Rand der Plattform in die Tiefe und verfing sich am genauen Mittelpunkt Mayabs. Jener kleinen Pyramide, in der – Der Dämon, der Götze – der Gott! Lilith wollte losstürmen, nahm sich aber doch noch die Zeit, um den Priestern ihre »dummen Gedanken auszutreiben« – und durch eigene zu ersetzen. Während die einstigen Würdenträger begannen, beruhigend auf die Opferbereiten einzureden, rannte Lilith schon zum Rand der Plattform, stieß sich ab – und sprang! Eine Sekunde lang genoß sie das irrsinnige Gefühl des freien Falls. Dann fing sich die Luft unter Flügeln, die einen kleinen, pelzigen Körper davontrugen. Hin zum Dämon, Götzen, Gott – oder was immer Lilith in der klei-
nen Pyramide dort finden würde. Und vielleicht besänftigen konnte …
* Lilith warf sich gegen die Torflügel. Sie flogen regelrecht auf, krachten drinnen donnernd gegen die Wände. Wo sollte sie suchen? Und wonach sollte sie suchen? Als Landru sie hierher geführt hatte – es lag erst Stunden zurück, kam ihr aber vor, als sei es Ewigkeiten her –, war sie nur in jenem kleinen Raum gewesen, wo sie ihm aus der CHRONIK hatte vorlesen müssen. Wie viele Kammern mochte es hier geben, vielleicht sogar verborgen hinter geheimen Zugängen?. Tief atmete Lilith durch. Irgendwo mußte sie mit ihrer Suche beginnen. Warum nicht mit der nächstbesten Tür? Lilith trat vor, öffnete sie – – und taumelte zurück, als schierer Wahnsinn sie ansprang!
* Die Kammer jenseits der Schwelle – und sie schien größer zu sein, als ihre äußeren Abmessungen es eigentlich zuließen! – war erfüllt von einem Malstrom kochender Energie. Ein anderer Vergleich wollte Lilith nicht in den Sinn kommen, obwohl er völlig unzureichend beschrieb, was dort rotierte und wirbelte und toste. Lilith spürte, daß es darin rumorte, knirschte und heulte. Doch sie hörte nichts. Als wäre das Ding imstande, jeden eigenen Laut im Moment des Entstehens schon zu vernichten. Ein Sturm auf engstem Raum war es. Etwas, das mit Krallen und
Klauen nach dem Verstand eines jeden schlug, der nur hinsah. Ein Dämon? Ein Gott? Lilith wußte es nicht. Aber was immer es auch war, das die Tyrannen in dieser Pyramide verschlossen hielten – sie hatte es gefunden. Und mußte ihm nun begegnen, ihm gegenübertreten. Kontakt aufnehmen. Nur – wie? Würde ein Schritt genügen? fragte sie sich. Es kam auf den Versuch an …
* Lilith wußte nicht, was sie erwartet hatte. Sie hatte sich nicht einmal wirklich Gedanken darüber gemacht. Es wäre ohnedies müßig gewesen … … denn was ihr tatsächlich widerfuhr, nachdem sie sich in den entarteten Weltenpfeiler gestürzt hatte, sprach allem Vorstellbaren Hohn, war so andersartig, im wörtlichsten Sinne fremd, daß es kaum Worte gab, die es auch nur annähernd zu beschreiben vermochten. Lilith glaubte zu spüren, wie ihr Verstand sich mit aller Macht gegen das Unsagbare auflehnte, das ihm entgegenbrandete und ihn verschlingen wollte – und sie meinte zu hören, wie er schließlich scheiterte und unter der Anstrengung zu zerbrechen drohte: ein Geräusch, so monströs, wie es nur hier und nirgends sonst erklingen konnte. Dann, als Lilith schon sicher war, ihr Geist würde zerrieben und zerschmettert unter der Sturzflut abseitiger Gewalten, geschah etwas, das sie sich ebensowenig erklären konnte wie alles andere hier. Etwas geschah in ihr, mit ihrer Wahrnehmung, ihrem Verstand – sie veränderten sich. Wurden, so kam es ihr vor, wie aus ihrem tiefsten Inneren heraus neu justiert, als gäbe es da einen geheimen Teil ihres Ichs, der empfänglich war für die Macht und das Wesen des
Pfeilers, und der damit umzugehen wußte. Und diese Art des Verständnisses ergriff nun ganz und gar Besitz von Lilith, bediente sich ihrer Sinne, beeinflußte sie und machte sie sehend, hörend und fühlend an diesem Nicht-Ort, in dieser NichtWelt – in dieser Manifestation purer Magie. Es war ein Gefühl, als fliege und schwebe sie, ohne sich von der Stelle zu rühren. Lilith sah kochende, wirbelnde Schwärze, die sie streifte, ohne sie mitzureißen, als befände sie sich im Auge eines Orkans, wie es ihn auf Erden niemals geben konnte. Und sie hörte eine Stimme, die unentwegt zu flüstern schien, wie in ein endloses Selbstgespräch versunken. In einer Sprache, die nie und nirgends wirklich gesprochen worden war und die Lilith doch verstand! Was ihr unmöglich vorkam – und kaum hatte sie diesen Gedanken gefaßt, da erstickten die Worte in unverständlichem Murmeln und Heulen, wurden zu bloßen Geräuschen des Sturmes. Erst als Lilith nicht länger über die Unmöglichkeit nachsann, gerieten die Laute wieder zu Worten. WAS WILLST DU? Die Stimme floß in Liliths Ohr, einem kribbelnden Strom gleich, und die Worte waren in ihr, als würden sie ihrem eigenen Denken entspringen, nur gesprochen in fremdem Ton. Wer bist du? Lilith antwortete, ohne Lippen und Zunge bewegen zu müssen. EIN ENDLICH STERBENDES … Wie kannst du sterben? Bist du ein Wesen, eine Kreatur …? Lilith wollte sich über die eigene Frage wundern, unterdrückte es aber im letzten Moment. Weil sie wußte, daß die Kommunikation dann beendet gewesen wäre. Wie sie plötzlich, als wäre es ihrem Geist eingepflanzt worden, so vieles wußte, was sie zuvor nicht einmal verstanden hätte …
GEWISS KEIN WESEN, DAS VON DIR ZU BEGREIFEN WÄRE. ABER ICH WURDE IM LAUFE DER ZEIT ZU ETWAS DENKENDEM, UND ICH BIN DES DENKENS UND DES SEINS SEIT LANGEM ÜBERDRÜSSIG. Was warst du vor dieser Zeit? Liliths Gedanken flossen ohne ihr bewußtes Zutun. TEIL JENER MACHT, DIE EINST DIE ALTE RASSE BESEELTE – UND TEIL DER WURZELN JENER WESEN, DIE SICH SELBST DIE HOHEN NENNEN. DER KELCH SETZTE MICH AN DIESEN ORT, NACHDEM LANDRU, DIESER NARR UND HENKER DES VAMPIRISCHEN VOLKES, SICH DEM GESETZ DES GRALS WIDERSETZT HATTE UND EINE VERBOTENE KELCHTAUFE VORNAHM. Verbotene Kelchtaufe? echote Lilith in Gedanken. Aus welchem Grund sollte eine solche Taufe verboten sein? Ist es nicht Aufgabe eines Hüters, überall auf der Welt Sippen zu gründen und sie zu betreuen? So hatte Lilith es zumindest in der Blutbibel gelesen. NICHT ÜBERALL AUF DIESER WELT! widersprach die Stimme, und der plötzliche Zorn darin ließ Liliths Kopf dröhnen und schmerzen. ES GIBT VÖLKER, DIE NICHT GEEIGNET SIND, DEN KEIM DER ALTEN RASSE ZU EMPFANGEN. DIE SAAT KÖNNTE IN IHNEN ENTARTEN UND SICH UNSEREM ZIEL ZUWIDER ENTWICKELN – DU KENNST EINEN VAMPIR, MIT DEM GENAU DIES GESCHAH … Ich kenne einen …? wiederholte Lilith lahm. Erstaunen ließ sie frösteln, als sie schlußfolgerte: Dann – kennst du mich? Du weißt, wer ich bin und – was ich bin? LILITH EDEN, TOCHTER VON CREANNA UND SEAN LANCASTER, DAS KIND ZWEIER WELTEN. AUF BETREIBEN LILITHS GEBOREN, ADAMS ERSTEM WEIBE UND DER UR-MUTTER ALLER VAMPIRE, ZUM ZWECKE, SIE MIT GOTT ZU VERSÖHNEN. WAS DIR AUCH GELUNGEN IST …
Der Ton der Stimme war nüchtern, als wären die Worte ohne größere Bedeutung. Lilith aber fühlte sich dennoch wie erschlagen von jedem einzelnen. Hoffnung keimte in ihr, vergessen war alle Todesangst! Konnte sie hier vielleicht erfahren, was ihr die EWIGE CHRONIK nicht mehr hatte verraten können …? Was weißt du noch über mich? Und – woher weißt du all dies? Die Fragen sprudelten förmlich aus ihrem Geist, wie Wasser aus einer Quelle. ALLES. UND ICH WEISS ES, WEIL ICH IN VERBINDUNG MIT JEDEM ORT STEHE, DER JE VON BEDEUTUNG WAR IN DER GESCHICHTE DER ALTEN RASSE – UND MIT JEDEM ORT, DER JE VON BEDEUTUNG SEIN WIRD … Lilith zögerte einen zeitlosen Moment lang. Dann stieß sie regelrecht hervor: Teile dieses Wissen mit mir! Ich bitte dich – nein, ich flehe dich an! DAS KANN ICH NICHT. DAS ZUKÜNFTIGE WISSEN KÖNNTE ICH DIR OHNEDIES NICHT VERMITTELN. ZU VIELSCHICHTIG UND UNGEWISS IST ES – UND ZU GROSS DIE GEFAHR, DASS JEMAND EINFLUSS DARAUF NEHMEN KÖNNTE, AUF EINE ART, DIE NICHT SEIN DARF. UND WESHALB SOLLTE ICH DICH MIT VERGANGENEM BELASTEN? WO DU DOCH KEINEN NUTZEN MEHR DARAUS ZIEHEN KANNST … Weshalb nicht? Liliths Gedanken brüllten schier hinter ihrer Stirn. WEIL DU –, die Stimme verharrte kurz, und fuhr dann in ihrem widernatürlich nüchternem Ton fort, – STERBEN WIRST. MIT DIESER WELT – UND MIT MIR …
* Aber – warum?
Der Gedanke wehte einem Hauch gleich durch Liliths Bewußtsein, still und leise, und doch barg er all ihre Verzweiflung in sich. Mühsam beherrscht dachte sie dann weiter: Warum vernichtest du diese Welt? Warum willst du mit ihr vergehen? WEIL ES MIR – ENDLICH! – GEGEBEN IST, EBEN DIES ZU TUN! SO LANGE WIRKTE ICH DARAUF HIN – UND NUN IST ES SOWEIT! ICH DARF DIESE NIE GEWOLLTE EXISTENZ AUFGEBEN. Diesmal meinte Lilith, Emotion im Tonfall der Stimme zu vernehmen – etwas wie Erleichterung hatte sich hineingedrängt … Aber die Menschen in Mayab, versuchte sie weiter, die fremde Macht zu einer Änderung ihrer Pläne zu bewegen, hast du denn kein Mitleid mit ihnen? Weshalb strafst du sie mit dem Tod – nun, da sie endlich ein Leben in Freiheit führen könnten? DIE MENSCHEN … ALS HÄTTEN SIE MICH JE GEKÜMMERT! MEINE AUFGABE WAR ES ALLEIN, DIE VAMPIRISCHE BRUT EINZUKERKERN. NUN, DA DIE KELCHBASTARDE NICHT MEHR SIND, MUSS AUCH ICH NICHT MEHR SEIN. MEIN PLAN HAT ENDLICH FRÜCHTE GETRAGEN. Von welchem Plan sprichst du? KANNST DU ES DIR NICHT DENKEN? SEIT ICH EIN BEWUSSTSEIN ENTWICKELTE, PLAGTE MICH DIESES DASEIN, ZU DEM ICH VERDAMMT WAR – NUR GRENZE SEIN ZU MÜSSEN, SELBST GETRENNT VON DEM, WAS MIR HEIMAT IST. SEITHER SANN ICH DARÜBER NACH, WIE DIESES LOS ABZUSTREIFEN WÄRE – UND ICH MACHTE MIR DIE MENSCHEN NUTZBAR ZU DIESEM ZWECK … Du hast dir die Menschen hier gefügig gemacht – wie konntest du das? Liliths Neugier obsiegte einmal mehr über alles, was von existentiellem Belang war. Für den Moment zumindest – zumal Zeit nicht von allzu großer Bedeutung zu sein schien an diesem »Ort«.
NICHT ALLE MENSCHEN, schränkte die Stimme des Pfeilers ein. NUR JENE, DIE EINEN FLUCHTVERSUCH AUS MAYAB UNTERNAHMEN, KONNTE ICH BEEINFLUSSEN. DER KONTAKT MIT MIR, MIT DER BARRIERE ALSO, MACHTE SIE IMMUN GEGEN DIE MAGIE UND HYPNOSE DER VAMPIRE. DASS SICH VIELE VON IHNEN ZUM BUND DER TIEFEN ZUSAMMENFANDEN, WAR AUSSERDEM IN MEINEM SINN. SO HOFFTE ICH, DASS IHR MUT EINST GROSS GENUG SEIN WÜRDE, UM SICH GEGEN DIE TYRANNEN AUFZULEHNEN – UND LETZTLICH GESCHAH ES AUCH SO. OBSCHON ICH GESTEHE, DASS DEIN ERSCHEINEN IN MAYAB GEWISSERMASSEN ERST DER ZÜNDFUNKE DAFÜR WAR … Lilith graute schier vor ihrem nächsten Gedanken, aber er ließ sich nicht mehr aufhalten. Müßtest du mir deswegen nicht zu Dank verpflichtet sein? Habe ich nicht letztlich zu deiner Erlösung beigetragen? Solltest du mir dafür nicht das Leben schenken? Sie wollte vor Scham versinken ob dieser Fragen. Hießen sie im Grunde doch nichts anderes, als daß sie ihr Leben und Schicksal über das jener Menschen stellte, die in Mayab schon den sicheren Tod vor Augen hatten. DAS KANN ICH NICHT, erhielt sie lapidar zur Antwort. Nicht das geringste Bedauern war im Tonfall des »Pfeilers«, diesem abgespaltenen und entarteten Teil jener Kraft, deren wichtigstes Werkzeug der Lilienkelch war. Ist deine Macht so gering? versuchte Lilith sich im Provozieren. DAS IST NUR DER EINE GRUND. Und der zweite? ES IST ZU SPÄT! Lilith schrie auf – und diesmal tat sie es nicht nur gedanklich! Die um sie her rotierenden Energien, die Lilith bislang nicht angetastet hatten, schlossen das Auge des Sturms. Packten Lilith.
Und rissen sie mit sich!
* Die Menge an der Tempelpyramide wollte sich nicht zerstreuen. Alle Worte, die Lilith den Priestern eingeimpft hatte, fruchteten nicht. Statt dessen brandete ihnen eine unaufhörliche Flut von Fragen entgegen, von denen die Priester nicht eine einzige zu beantworten wußten. Die Situation änderte sich erst, als ein explosionsartiges Krachen alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte! Drunten, im Zentrum Mayabs, war die Pyramide, die das Geheimnis der Tyrannen geborgen hatte aufgeplatzt wie eine monströse Frucht! Und sie entließ ihren entarteten »Kern«. Was einmal der Weltenpfeiler gewesen war, brach sich Bahn, riß alles um sich her in sich hinein. Wühlte einen rasend schnell größer werdenden Trichter in die Tiefe und saugte das Gewölbe zu sich herab. Schlürfte das purpurne Feuer heran, bis es sich über die Ränder seines Kraters ergoß. Die Luft, komprimiert und magieverseucht, war nicht länger atembar. Die Menschen sanken tot zu Boden, bewegten sich aber scheinbar noch im Tode. Denn jeden einzelnen Leichnam zerrte es in die brodelnde Schwärze, in die Tiefe hinab – – und darüber hinaus.
* Lilith kam sich vor wie in der Umarmung nekrotischer Muskeln –
totenkalt und mürbe, aber noch von einer Kraft, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. Mit einemmal erlangten auch Oben und Unten ihre Bedeutung zurück, trotzdem vermochte Lilith in dem Wirbel, der sie gefangenhielt, nicht auszumachen, ob es sie nun nach oben oder unten trieb. Die tosende Schwärze zerrte nicht nur an ihr, sondern drang in sie und riß an ihrem Innersten, scheinbar an jeder Faser ihres Leibes. Ihr Bewußtsein brannte vor explodierendem Schmerz und weigerte sich dennoch zu verlöschen, gestattete Lilith nicht die Gnade einer Ohnmacht. Ihr Schädel dröhnte unter dem Mahlen der Gewalten, und jenseits davon, kaum wahrnehmbar, glaubte sie die Schreie anderer zu hören – jener, die in Mayab bis zu diesem Moment dem Untergang ihrer Welt getrotzt hatten. Das magische Bewußtsein der Barriere um Mayab riß alle und alles mit sich ins ersehnte Nichts. Doch nur das Wesen selbst fand Erfüllung darin … Vorbei! Lilith wußte nicht, wie ihr geschah. Wußte nur eines: Es ist vorbei! Für den Moment wenigstens … Das zermalmende Rotieren, das Entgleisen der Energien um sie her – alles war zum Stillstand gekommen. Aber nicht wirklich zu Ende. Nur angehalten, wie eine Maschinerie, in deren Getriebe etwas geraten war, das ihren Lauf aufhielt. Tatsächlich glaubte Lilith etwas wie Knirschen und Quietschen zu hören, als stemme sich dieses Perpetuum Mobile gegen das Hindernis, als wolle es sein Räderwerk mit aller Gewalt wieder in Gang bringen. Und – ruckte das wie eingefroren wirkende Szenario um sie her nicht schon weiter? Kam nicht bereits wieder Bewegung in die erstarrten Wirbel und Schlieren aus Schwärze? »Was hat das zu bedeuten …?« kam es von Liliths Lippen, in der
Hoffnung, die andere Stimme möge sich wieder zu Wort melden. Und Lilith erhielt Antwort. Von einer völlig fremden Stimme jedoch, die nicht in ihrem Kopf aufklang, sondern an ihrem Ohr, so nahe, daß sie den kühlen Atem des anderen spürte – und fröstelte. »Es kann alles bedeuten«, flüsterte er. »Es liegt ganz bei dir.« Im Reflex wollte Lilith herumwirbeln, aber das Vakuum des Pfeilers machte ihre heftige Bewegung träge. So geriet der andere nur allmählich in ihr Blickfeld, und es blieb ihr dabei noch Zeit, sich darüber zu wundern, daß sie ihn in dieser Lichtlosigkeit überhaupt sehen konnte. Ihn – – diesen … Knaben?
* »Wer bist du?« Der Anblick des Fremden ließ Lilith schaudern, obgleich nichts Erschreckendes an ihm war. Der Jüngling – Lilith schätzte ihn seinem Äußeren nach auf höchstenfalls achtzehn Jahre, eher lag sein Alter noch darunter – war in klassischem Sinne gutaussehend: ebenmäßige Züge, von schlanker und doch kräftiger Gestalt, das dunkle Haar fast schulterlang, die Augen – – schwefelgelb? Eine Täuschung, stellte Lilith fest (erleichtert? Weshalb erleichtert?). Der andere hatte einmal kurz die Lider geschlossen, und als er sie wieder aufschlug, zeigte die Iris seiner Augen eine dunkle Färbung. Seine ebenfalls dunkle Kleidung war von zeitloser Eleganz, dennoch wirkte sie hier fehl am Platze. Vielleicht aber lag dieser Eindruck auch nur daran, daß Lilith sich in den Wochen ihres Aufenthalts in Mayab an den Anblick von Lendenschurzen und ähnlich
schlichter Kleidung gewöhnt hatte. »Dein Retter?« entgegnete der Knabe. »Mein –?« setzte Lilith an, unterbrach sich aber selbst und fuhr anders fort: »Wie kommst du hierher? Und wer bist du wirklich?« Der Junge lächelte gewinnend. »Ich komme von –«, er deutete irgendwohin, »– dort, und ich könnte wirklich dein Retter aus größter Not sein.« Das unheimliche Knirschen, das Lilith zuvor schon einmal gehört zu haben glaubte, wurde wieder laut, und diesmal entsprang es ganz sicher nicht ihrer Einbildung. Zugleich bewegte sich die Schwärze wieder, um ein winziges Stück nur, als handele es sich um eine zähe Masse, die sich ganz allmählich verflüssigte. »Mir scheint, dies ist weder die rechte Zeit noch der geeignete Ort, um Rätselspiele zu veranstalten«, sagte Lilith. »Wie wahr, wie wahr«, erwiderte der junge Mann. »So denn – wie stehst du zu meinem Angebot?« »Welches Angebot?« »Oh, verzeih –«, der Fremde lächelte entschuldigend, »– ich habe mich wohl unklar ausgedrückt: Ich bin bereit, dir zu helfen – dein Leben zu retten.« Lilith sah ihn groß an. »Aber wie? Und warum?« »Das Wie überlaß ruhig mir«, antwortete der andere, unverändert lächelnd. »Und warum? Nun, ich würde es natürlich nicht ganz umsonst tun.« Lilith grinste hart. Die Situation wurde immer irrsinniger, und sie begann an einen Traum zu glauben, mit dem ihr Verstand sie vielleicht vor dem Wahnsinn schützen wollte, in den sie längst gestürzt war. »Gesetzt den Fall, ich glaube, daß du mir helfen könntest – was würdest du im Gegenzug verlangen?« Der Junge zuckte die Schultern. »Sagen wir – eine Gefälligkeit.«
»Welcher Art?« »Alles zu seiner Zeit«, sagte der Fremde. »Ich würde mich bei dir melden, wenn es soweit wäre.« »Weshalb sollte ich mich darauf einlassen?« fragte Lilith. »Ich weiß weder, wer du bist, noch was du von mir willst –« »Die Antwort ist so simpel«, meinte der Knabe, kopfschüttelnd, wie man es einem Kind gegenüber tut. »Ach ja?« »Ja. Weil du sonst stirbst!« Der Fremde tat – irgend etwas. So rasch, daß Lilith es nicht erkannte. Nur die Folge registrierte sie: Das Rotieren und Mahlen um sie her begann von neuem! Noch langsam, aber es steigerte sich in seiner Geschwindigkeit, griff wieder nach Lilith und zerrte sie mit sich. Der Fremde schien unberührt davon, und Lilith umkreiste ihn, als sei er das Zentrum des Wirbels. »Nun?« fragte er. »Was?« rief Lilith, und dann lauter, verzweifelter, als sie den Sog fühlte, der sie hinabschlürfen wollte, in eine Tiefe, die spürbar mehr war als Bodenlosigkeit: »Was willst du von mir?« »Dein Versprechen!« antwortete der Knabe ruhig. »Ich tu’s!« schrie Lilith. »Ich verspreche dir jeden Gefallen – wenn du mich hier herausholst …« »Nun gut«, sagte der Fremde, aber Lilith unterbrach ihn. »… und die Menschen in Mayab rettest!« Der Knabe lächelte sinister. »Keine Sorge – um die habe ich mich schon gekümmert.« »Was hast du –?« »Willst du reden oder gerettet werden?« fragte der Fremde. Der vernichtende Sturm gewann an Gewalt. Lilith vermochte den anderen kaum mehr zu erkennen. Die unheimliche Kraft zerrte sie tief und tiefer hinab … »Verdammt, tu etwas!« brüllte sie.
Und der Knabe tat etwas. Er schnippte lediglich mit den Fingern! Übergangslos verkehrte sich das Wirbeln, das Lilith gefangenhielt, ins Gegenteil – rotierte anders herum! So abrupt und gewaltsam, daß sie meinte, ihr würde jeder Knochen im Leibe förmlich zermalmt. Der Sog nach unten verging. Statt dessen trieb unvorstellbare Kraft Lilith nach oben, immer weiter, immer schneller, bis sie sich vorkam wie ein lebendes Geschoß. Lebend … Nicht mehr lange! Diesen »Flug« konnte sie unmöglich überleben, ganz gleich, wo er auch enden mochte – wenn er denn je endete … Wir sehen uns …! Sie wußte nicht, ob sie die Stimme des mysteriösen Fremden tatsächlich hörte, oder ob ihre Sinne sie narrten. Und im nächsten Moment schon konnte sie der Frage nicht länger nachgehen. Weil ihr Körper etwas durchschlug, das ihr Denken und Empfinden auslöschte. Das, was jahrhundertelang die Hülle um Mayab getragen und nun vollends entartet war, spie Lilith aus! Daß unter ihr eben diese Hülle gänzlich verging, zu einem Staubkorn wurde, bekam sie nicht mit. Haltlos stürzte sie vom Himmel. Durchbrach Geäst und Strauchwerk des yukatekischen Dschungels. Schlug hart am Boden auf. Und blieb reglos liegen, mit zerschmetterten Gliedern. Wie tot. Epilog Tenango lebte. Aber er brauchte lange, um es zu realisieren. Nachdem der Tod, wie ihm schien, eine Ewigkeit lang bei ihm gewesen war. Die Flut unbegreiflichen Wissens, die ihm das Hirn hatte sprengen wollen, war verebbt. Die fremden Gedanken waren vergessen.
Der allgewaltige Mahlstrom hatte ihn ausgespien. Doch wohin? Tenango öffnete die Augen. Und sah eine Welt, deren Ödnis alle Vorstellung übertraf. Grauer Staub bedeckte eine Ebene, die weder Anfang noch Ende hatte und irgendwo mit dem gleichfarbenen Himmel verschmolz. Übelster Gestank wie aus einer Fäkaliengrube erfüllte die Luft, und jeder Atemzug geriet zu schmerzhaftem Würgen. Tenango blinzelte irritiert. Dort, weit entfernt, was war das? Ein – Tor? Selbst über die Distanz erkannte Tenango, daß es sich um das gewaltigste Portal handelte, das er je gesehen hatte. Es wucherte gleichsam aus der kahlen Staubwüste, und es führte – nirgendwohin, wie es schien. Denn es stand völlig frei … Tenango erstarrte, als er erkannte, daß er nicht allein war in dieser Welt – und daß ihm keiner jener anderen fremd war. Er hatte fliehen wollen aus einer sterbenden Welt, in der es kein Morgen mehr gab. Und er war gestrandet in einer Welt, in der das Morgen nie starb. In einer Welt, die spürbar gewiß von jedem Gott verlassen war – besetzt aber schon von Götzen … Eine Hand wühlte sich in Tenangos schütteres Haar, zog ihm den Kopf in den Nacken. Die faltige Haut seines Halses straffte sich. »Willkommen daheim!« sagte Atitlá, seit jeher die grausamste der Tyrannen. Und grub ihre Zähne in Tenangos Schlagader. Wie eh und je … ENDE
Hurlak, der Jäger Leserstory von Rudolf Gebhardt Hurlak war der einzige Überlebende. Die besten Jäger seines Clans, die mit ihm zur großen Mammutjagd im Spätherbst aufgebrochen waren, lebten nicht mehr. Einer nach dem anderen hatte einen unerklärlichen Tod gefunden. Grausam verstümmelt, mit zerrissenen Kehlen hatten die Männer in ihrem Blut gelegen. Die Spuren, die in der Nähe der Leichen entdeckt worden waren, hatten auf ein großes Raubtier hingedeutet; jedoch verschwanden sie nach einigen Schritten, als hätte sich das Tier in Luft aufgelöst. Angst hatte sich unter den Jägern breitgemacht – es war die Rede von einem bösen Geist, einem Dämon. Doch alle Vorsichtsmaßnahmen waren vergeblich gewesen; trotz verstärkter Wachen und einem Feuer, das die ganze Nacht unterhalten wurde, starben weitere Männer. Heute morgen schließlich hatte es Kroll erwischt – den letzten und besten von Hurlaks Männern. Jetzt war nur er noch übrig: Hurlak, der Jäger und Schamane. Und er würde sich dem Untier zum Kampf stellen. Hurlak warf einige trockene Reiser in die Glut. Prasselnde Helligkeit erfüllte die Höhle. Hierher hatte er sich zurückgezogen, um noch vor Einbruch der Nacht die Waffe fertigzustellen. Der blutgierige Dämon würde ihn nicht unvorbereitet antreffen. Zufrieden wog Hurlak das Steinstück in seiner Hand – es war eine gute Arbeit. Er hatte mehrere Versuche gebraucht, bis die Klinge aus Feuerstein seinen Vorstellungen entsprochen hatte. Der Steinsplitter war lang und hatte eine völlig glatte Oberfläche; das war wichtig, wenn der Zauber gelingen sollte.
Wieder legte er Holz nach, diesmal dickere Scheite, blies kräftig in die Flamme und hoffte, daß die Hitze des Feuers für seine Zwecke ausreichen würde. Indem er die Steinklinge in das gespaltene Ende eines langen Holzstabs klemmte, konnte er sie in die Glut halten. Als er glaubte, die Klinge sei heiß genug, holte er das kleine Stück schimmernden Metalls aus seinem Zauberbeutel. Er nahm den Steinsplitter aus dem Feuer und strich mit dem Metallstück darüber. Der erste Versuch mißlang, aber nachdem Hurlak die Waffe noch einmal ins Feuer gelegt hatte, reichte die Temperatur aus. Die Spitze der Steinklinge erhielt einen dünnen Überzug aus Silber. Er umwickelte das Ende des Holzstabs noch fest mit einer Lederschnur, dann war Hurlak gewappnet: Er verfügte über einen magischen Speer. Das glänzende Metall, das die Klinge bedeckte, war eines der stärksten Zaubermittel, die er kannte. Mit dieser Waffe konnte er den Dämon töten. Allmählich verdichtete sich die Dämmerung vor dem Höhleneingang. Die Nacht breitete ihre schwarze Decke über das Tal, während sich der Vollmond noch hinter dem Horizont verbarg. Der Schamane warf einige Kräuter ins Feuer, und würziger Rauch erfüllte die Höhle. Hurlak blieb unbeweglich sitzen, als er das klickende Rollen eines Kiesels am Höhleneingang hörte. Er kauerte vor der Feuerstelle, schien zu schlafen, doch seine Sinne hellwach waren. Er verstärkte den Griff der rechten Hand um den Speer. »Wach auf, Hurlak!« ertönte eine Stimme. Hurlak hob den Kopf, mehr überrascht als erschrocken, denn er kannte den Sprecher. Es war Kroll! Heute Morgen erst hatte er dessen verstümmelten Körper bestattet, mit dem zerfetzten Gesicht nach Osten und mit seinen Waffen, wie es der Brauch verlangte. Nun stand Kroll vor ihm, und er atmete und scharrte unruhig mit den Füßen. Seine Verletzungen waren verheilt; nicht einmal eine Narbe war zu sehen, obwohl das Untier ihm fast den Kopf abgeris-
sen hatte. Daß Kroll lebte, verwunderte Hurlak nicht so sehr – es war durchaus möglich, von den Toten zurückzukehren. Er selbst war mehrere Male ins Reich der Geister gereist, und jedesmal war seine Seele wieder zurückgekehrt. Etwas Anderes erregte seinen Argwohn. Kroll hatte gesagt, daß er aufwachen solle. Und Kroll kannte ihn gut – so gut, daß er wissen mußte, daß Hurlak nicht geschlafen hatte. Hurlak war schlau genug, sich sein Mißtrauen nicht anmerken zu lassen. Er erhob sich gemächlich, wobei er den Speer als Stütze benutzte, betrachtete Kroll und begrüßte ihn stumm. Unter den Männern des Clans sprach man nicht viel. Ein Großteil der Verständigung beruhte auf Gesten, was sich besonders auf der Jagd auszahlte, wenn jedes Geräusch zu vermeiden war. Hurlak machte eine kreisende Bewegung mit der Linken, die mit einem fragenden Blick zum Ausgang der Höhle endete. Jeder seiner Jäger hätte ihn verstanden und nun seinerseits angedeutet, ob im näheren Umkreis Gefahr lauerte. Doch Kroll verstand nicht; sein Blick wanderte unruhig durch die Höhle und verharrte nur einmal kurz auf der versilberten Speerspitze. Der Anblick steigerte offenbar seine Unruhe. »Du mußt mit mir kommen, Hurlak!« sagte er, und seine Stimme klang rauh. »Bald wird der Mond aufgehen und das Tier wiederkehren.« »Ich fürchte mich nicht vor dem Kampf!« entgegnete Hurlak und versuchte den unsteten Blick seines Ersten Jägers einzufangen. »Aber wenn du sicher bist, daß der Dämon kommen wird, dann sind wir im Vorteil, wenn wir ihm an einem Ort auflauern, wo wir uns gut verbergen können. Wir gehen nach draußen!« Er zeigte mit der Kinnspitze zum Höhlenausgang. Während sie ins Freie gingen, versuchte Hurlak den Ausdruck im Gesicht seines früheren Freundes zu deuten. Da waren Zögern, Angst, Erwartung und ein Anflug von Spott. Es war Kroll – und
dann war er es doch wieder nicht. »Hast du dich eigentlich nie gefragt, wie die Bestie an den Wachen vorbeigekommen ist?« fragte Kroll, als er Hurlak in die Nacht folgte. »Und warum keiner der Männer geschrien hat, als er gerichtet wurde?« Hurlaks Schritte wurden zögernd. Was wollte ihm Kroll da erklären? Daß der Dämon unsichtbar war? Dann wäre selbst der magische Speer keine sichere Waffe mehr. Eine andere Vermutung drängte sich in Hurlaks Überlegungen. Was, wenn der Dämon die Jäger während der ganzen Zeit begleitet hatte? Unsichtbar, oder – in Gestalt einer seiner Männer. Aber die waren alle tot, zerfleischt bis zur Unkenntlichkeit. Lediglich Kroll war noch auf unerklärliche Weise am Leben. Für Hurlak gab es nur eine Erklärung: Der Dämon mußte von Krolls Körper Besitz ergriffen haben! Ihm blieb demnach nur eine Möglichkeit: Er mußte schneller als der Dämon sein, er mußte Kroll töten und so seinen besessenen Körper befreien. Dann, so vermutete Hurlak, würde die Bestie ihm in ihrer wahren Gestalt gegenüberstehen, und er konnte den Kampf gegen sie aufnehmen.
* »Hier werden wir uns auf die Lauer legen«, bestimmte Hurlak und zeigte auf einen mannshohen Felsspalt, der durch die Krone einer niedrigen Kiefer geschützt war. »Von hier aus können wir das ganze Tal überblicken, und sobald der Mond aufgegangen ist, kann uns der Gegner nicht mehr überraschen. Was meinst du, Kroll?« »Deine Anstrengungen sind ohne Nutzen!« antwortete Kroll, und Hurlak glaubte Mitleid aus der Stimme herauszuhören. »Der Gegner – wie du ihn nennst – wird kommen, so oder so. Mich wundert nur, daß du nicht weißt, wer er ist!«
»Dein Gerede kann mich nicht verunsichern!« Hurlak hob den Speer, die silberne Spitze zeigte auf Krolls Hals. Er war entschlossen, die Sache zu Ende zu bringen! »Du denkst, ich wüßte nicht, wer du bist! Aber da irrst du dich, Dämon! Du magst zwar aussehen wie mein bester Jäger, aber du bist es nicht: du benutzt nur seinen Körper, um mich zu überlisten. Du bist nicht Kroll!« Und er holte zum tödlichen Stoß aus. »Warte. Hurlak!« rief Kroll. »Gib mir und dir noch etwas Zeit – nur bis der Mond aufgegangen ist. Wenn du mich dann noch töten willst, tu es. Ich werde dich nicht daran hindern. Nicht ich – und auch nicht die anderen!« Überrascht ließ Hurlak den Speer sinken. Aus der Schwärze der Nacht waren unbemerkt mehrere Gestalten aufgetaucht, und an den Umrissen konnte Hurlak unschwer erkennen, daß es seine Jäger waren. Für einen Augenblick verließ ihn der Mut, aber sofort drängte er die Angst zurück. Wenn es sein mußte, würde er auch mit mehreren Gegnern kämpfen. Nicht umsonst war er der beste Jäger seines Stammes. Hurlak stellte sich auf, den Rücken zur Felswand, seinen Speer schräg vor dem Körper, bereit, den ersten Angriff abzuwehren und im gleichen Atemzug zurückzuschlagen. Zuversichtlich glitt sein Blick über die magische Speerspitze, die jetzt im Mondlicht aufblitzte. Mondlicht? Hurlak sah zum Horizont, der rötlich zu schimmern begann. Der Mond ging auf! Die kreisrunde Scheibe leuchtete in dunklem Orangerot und zog Hurlaks Blick auf sich wie ein Magnet. »Fühlst du die Kraft des Mondes?« hörte er Kroll fragen. Und da spürte der Schamane die Veränderung! Das rote Licht des Monds schien sich mit seinem Blut zu vereinen; es pulste schneller und kräftiger durch seine Adern. Eine übermenschliche Kraft wuchs in seinem Körper heran, machte ihn stärker – und Hurlak erkannte den Ursprung dieser Kraft: Die Macht
des Wolfs durchströmte ihn – seines Totemtiers, das er in zahlreichen Traumreisen beschworen hatte, in tiefer Trance am Boden sitzend, reglos. Reglos? Nein – er war während seiner Trance nicht untätig gewesen! Hurlak ahnte die Wahrheit, als sein Blick sich vom Leuchten des Mondes löste und auf seine Männer fiel. Auch sie hatten sich dem Mond zugewandt, und fast gleichzeitig verwandelten sie sich! Sie sanken zu Boden, bis sie auf allen Vieren kauerten, das Gesicht nach oben gereckt, die nackten Leiber mehr und mehr behaart. Ihre Rücken krümmten sich, und aus ihren Kehlen drang ein Heulen – das Heulen von Wölfen. Vergeblich wehrte sich Hurlak gegen die Kraft, die auch ihn verwandelte. Sein Totemtier übernahm die Kontrolle. Hurlak wurde zum Wolf. Und das nicht zum ersten Mal! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schock! Mit einem Schlag erkannte Hurlak die ganze furchtbare Wahrheit. Auch in den Nächten zuvor hatte er sich in eine Bestie verwandelt! Während er geglaubt hatte, in tiefer Trance vor dem Feuer zu sitzen, hatte er in der Gestalt eines Wolfs nach und nach die eigenen Leute getötet und zu ruhelosen Wesen gemacht. Nun wurden auch sie im Licht des Vollmonds zu Wölfen. Er, Hurlak, der Jäger und Schamane, hatte sie auf dem Gewissen; er hatte sie getötet – und nun war er ihr Leitwolf!
* Auch in seiner Wolfsgestalt kam Hurlaks Autorität zum Ausdruck. Groß, stark und grau stand er vor seinem Rudel, das sich winselnd vor ihm auf die Erde drückte, hechelnd darauf wartend, daß sein Anführer die nächtliche Jagd eröffnete. Der magische Speer ragte neben Hurlak auf, dort wo er ihn kurz vor seiner Verwandlung mit der Spitze nach oben in den Boden ge-
rammt hatte. Da sprang Hurlak los! Er warf seinen Wolfskörper dem Speer entgegen – und spießte sein Fleisch auf die silberne Spitze. Das Metall drang tief in seine Brust bis in sein Herz, und dort entfaltete die Magie des Silbers ihre Wirkung: Die Macht des Wolfs über Hurlak und seine Jäger wurde gebrochen. Ein letzter Gedanke erfüllte seinen Geist, bevor Hurlak starb: Die Bestie ist besiegt! Die Jagd war erfolgreich! © 1997 Rudolf Gebhardt. Schmalzbergstr. 10. 91207 Lauf ENDE
Im Zeichen des Adlers von Timothy Stahl Schon seine Taufe machte ihn zu einem Besonderen seiner Art: Der Mond verbarg sich im Schatten der Erde, als der Arapaho-Indianer vor Jahrhunderten durch den Trunk aus dem Lilienkelch zum Vampir wurde. Durch die Verbundenheit mit seinem Totemtier gelang es Hidden Moon jedoch, den dunklen Trieben zu entsagen. So lebte er in Einklang mit der Natur – bis das Böse nach ihm griff … Seither ist er der gefährlichste aller Vampire. Und er steht erst am Anfang seines Weges in eine Zukunft, wie sie dunkler nicht sein könnte. Denn sein Herr ist der Leibhaftige!