Der Preis des Überlebens Maddrax Band 66 von Jo Zybell
Das Wasser brodelte. Der Katamaran stieg dem Schwarz des Himmel...
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Der Preis des Überlebens Maddrax Band 66 von Jo Zybell
Das Wasser brodelte. Der Katamaran stieg dem Schwarz des Himmels entgegen und fiel wieder in die Schwärze des Sees zurück, und Cyleste fragte sich, woher das Licht stammte, das die Schaumkronen auf den Wogen weiß aufscheinen ließ; so weiß wie die Fellmäntel ihrer beiden Töchter, die zwischen ihren Beinen kauerten. Sie waren zu siebt, suchten Halt am Segelmast, an den Bordkanten, an den Riemen entlang der Innenwand, und jeder beobachtete den schwarzen Berg, der inmitten weißen Schaums und hunderttausend weißer Blasen auf sie zu pflügte. Ein Waal. Sein Atem stieg als Säule aus Wasser und Gischt empor, und die Mädchen wimmerten und klammerten sich an den Schenkeln ihrer Mutter fest. »Keine Angst«, sagte Cyleste. »Keine Angst...«
Was bisher geschah Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub le gt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... *** Beim Wettlauf zum Kometenkrater, wo laut der ISS-Daten vielfältiges Leben wuchert, haben Matt Drax, Aruula und der Cyborg Aiko Konkurrenz: Der Weltrat (WCA), Nachfolger der US-Regierung unter Präsident Victor Hymes und General Arthur Crow, setzt seine Ziele unerbittlich durch, indem er barbarische Völker unterstützt, die andere Zivilisationen ständig angreifen und so klein halten. Crows Tochter Lynne leitet die WCA- Expedition, begleitet von Professor Dr. Jacob Smythe, der mit Drax aus der Vergangenheit kam, durchdrehte und Allmachtsfantasien entwickelte. Auch Matts Freund, der Barbarenhäuptling Pieroo
hat sich dem Unternehmen angeschlossen. Die zweite Fraktion ist eine Rebellengruppe namens Running Men, die gegen die WCA kämpft. Ihr Anführer Mr. Black ist ein Klon des früheren US-Präsidenten Schwarzenegger. Mit dabei sind u. a. Philipp Hollyday, der eine Gedächtnis-Kopie Professor Dave McKenzies in sich trägt, eines alten Kameraden von Matt Drax, und Merlin Roots, der früher für die WCA beim Nordmann-Projekt in Skandinavien tätig war. Matt, Aruula und Aiko machen sich von Los Angeles aus auf den Weg. Durch ein Experiment hat Aruula ihre telepathischen Kräfte eingebüßt. Im versunkenen San Francisco treffen sie auf Menschen und Hydriten, die eine neue Spezies entstehen lassen: die mental begabten Mendriten. In Portland steigt man auf ein Schiff zur Eisgrenze um, wo ein mitgeführter Eissegler zusammengesetzt wird. Nun geht es an der Westküste entlang hinauf nach Kanada, wo Matt in einer Biosphäre - der Citysphere 01 des Milliardärs De Broglie - von einem Lava-Drachen entführt wird. Aiko und Aruula folgen der entschwindenden Kreatur mit dem Zeppelin der Sphäre... *** Sonst sprach niemand etwas, auch nicht die sieben Eisherrscher im Katamaran; schon seit sie das erste Mal in der Ferne die Wasserfontäne des Waals gesichtet hatten nicht. Sie hielten sich nur fest und überließen ihre Körper dem wilden Tanz des Katamaran. Der Sturm riss an ihren Haaren und Fellmänteln. Ihre runden, rötlichen Gesichter waren feucht von der Gischt und so glatt und ausdruckslos wie die Eisschollen, die um diese Jahreszeit auf dem See trieben. Ihre Augen waren Schlitze und spähten nach dem herannahenden Waalrücken, als gäbe es sonst nichts auf der Welt.
Keiner weinte, keiner schrie, keiner drängte sich an den anderen, nein - ihre Haltung, ihre Mimik und Gesten verrieten nicht die geringste Spur von Angst. Dabei schwand die Distanz zwischen Katamaran und Waal mit jedem Atemzug, und der gewaltige Rücken des Tieres wuchs und wuchs. Elyshee, die weißhaarige Alte auf der Ruderbank neben Cyleste schlug der Jüngeren auf den Rücken. »Geh!« Mit ausgestrecktem Arm wies sie zum Bug des Katamaran. Die Männer vor ihnen auf den Paddelbänken rückten zur Seite, um Cyleste den Weg frei zu machen; die Mädchen weinten und wollten ihre Mutter nicht freigeben. Elyshee griff erst nach dem älteren, dann nach dem kleineren Mädchen. Als wären sie so leicht wie eine Handvoll Schnee, zog sie die Kinder hoch und drückte sie an sich. Die alte Elyshee war ihre Großmutter. Noch drei Speerwürfe war der Waalrücken entfernt. Rechts und links von ihm teilte sich das Wasser. Ein Delfis und ein Orgara schossen aus dem See, rissen einen Schweif aus Wasser und Schaum hinter sich her, flogen in hohem Bogen durch die Luft und bohrten sich kopfüber wieder in die Fluten. Jetzt ging ein Ruck durch die Eisherrscher, wie ein Mann schrieen sie, aber es war kein Aufschrei der Panik: Wie Staunen klang es, ja fast wie Bewunderung. Der Kranz aus Wasser und Schaum, den die gewaltige Schwanzflosse des schwarzweiß gescheckten Orgaras aufgepeitscht hatte, war noch nicht zusammengebrochen, da sprang der Delfis ein zweites Mal aus dem See, und während er für einen Augenblick wie schwerelos über den Zenit seiner Bogenbahn schwebte, stieß er ein schnatterndes Meckern aus, laut und hart, sodass man es trotz des Sturmes und des Tosens der Wellen deutlich hören konnte; wie das Kichern eines betrunkenen Jägers klang es. »Jaou, jaou!«, riefen einige Männer, andere lachten; Elyshee verzog ihr Pergamentgesicht zu einem vergnügten Grinsen, das
ältere Mädchen in ihren Armen klatschte in die Hände und das jüngere riss Augen und Mund auf. Die beiden Männer auf der vorderen Paddelbank, Nyoto und Ikoreis, griffen hinter sich und zogen Cyleste über die Bank. Auf den Knien rutschte sie zum Bug, hielt sich dort an den zusammenlaufenden Bordkanten fest und blickte dem immer weiter wachsenden Berg entgegen. Er schob eine breite Bugwelle vor sich her, wurde langsamer, und plötzlich tauchte sein zerklüfteter und tausendfach zerfurchter Schädel aus den Fluten auf. Wasser schäumte und strömte zu beiden Seiten an ihm hinunter. Sein riesiges Maul öffnete sich, groß genug, um den Katamaran samt Besatzung zu verschlingen. Cyleste richtete sich auf und begann zu singen. *** »Was war das nur für eine Kreatur?!« Aruula kniete neben Aikos Pilotensitz auf dem Boden und stützte sich auf ihr Schwert. Sie konnte noch immer nicht fassen, was sie vor wenigen Minuten erlebt hatten: Eine Bestie aus der Lava hatte sich Maddrax gegriffen und aus der gläsernen Kuppelstadt entführt, die »Biosphäre« genannt wurde. »Bei Wudan, Aiko, das kann doch kein lebendes Wesen sein! Ich sage dir, der finstere Dämon Orguudoo hat es geschickt, um Maddrax zu vernichten!« Sie wurde sichtlich gequält von der Sorge um ihren Gefährten. Der Cyborg aber schien sie gar nicht zu hören. Seine Finger flogen über Tastaturen und Schalter, seine Rechte hielt die Steuersäule. Er musste alles gleichzeitig im Blick behalten: die unbekannten Kontrollinstrumente über ihm, die Displays auf der Mittelkonsole und den rauchenden Lavasee im rechten Gondelfenster, wo vor wenigen Minuten noch Citysphere 01 gestanden hatte.
Jetzt war die Stadt in sich zusammengefallen und versunken in dem Höllenloch, aus dem der Drache - oder was immer aufgetaucht war. Inzwischen war das Biest, das Matt Drax entführt hatte, am nordöstlichen Horizont verschwunden. Der Cyborg mochte noch so oft durch das Frontfenster spähen; selbst seine bionischen Augen konnten den kleinen Punkt nicht mehr ausmachen. Er hatte Aruulas Frage gehört, aber er wusste keine Antwort darauf. ›Ein Drache, der in flüssigem Gestein lebt – unmöglich‹, dachte Aiko. ›Keine Bioform kann in Lava existieren.‹ Doch in seiner Überlegung gab es zwei gravierende Fehler. Erstens hatte er den rauchenden, grünschwarzen Schuppenpanzer der gut zwölf Meter langen Kreatur mit eigenen Augen gesehen, genau wie die Lava, die von ihrem schnabelartigen Kopf tropfte und an den Spitzen der sicher fünfundzwanzig Meter durchmessenden Flughaut glühte. Und zweitens wusste er sehr wohl von Kleinstlebewesen, die sich in kochenden Geysiren und Schwarzen Rauchern am Meeresgrund fortpflanzen konnten. Oder falsch: Die sich nur und ausschließlich dort fortpflanzen konnten. ›Ein thermophiles Flugreptil‹, dachte er, ›wie kann das sein? Warum gibt es darüber keinerlei Aufzeichnungen?‹ »Siehst du ihn noch, Aiko?«, riss ihn Aruula aus seinen Gedanken. In ihrer Stimme hielten sich Hoffnung und Panik die Waage. Sie packte die Lehne des Copiloten-Sitzes und zog sich daran in die Höhe. In diesem Moment erfasste eine starke Boe das Luftschiff und ließ es schwanken. Ein Schwindelanfall zwang Aruula augenblicklich wieder in die Knie. Sie fürchtete sich vor dem Blick aus den Gondelfenstern. Schon der Flug mit dem Gleiter war ihr nicht geheuer gewesen, aber sie hatte sich daran gewöhnt. Diese schwankende Gondel machte ihr eine höllische Angst. Sie schloss die Augen, atmete gegen die Übelkeit an, unterdrückte das Bedürfnis, sich zu übergeben.
»Ich weiß, in welche Richtung er fliegt«, antwortete Aiko ausweichend. »Solche Kreaturen«, sie schüttelte sich, »solche Kreaturen kenne ich nur aus den Erzählungen des Göttersprechers.« Sie blickte zu Aiko hoch. »Welche Chance haben wir gegen einen Dämon?« »Es ist kein Dämon!«, presste Aiko hervor, während er das Steuer herumzog. »Es war irgendein Reptil, eine Flugechse kein übernatürliches Wesen. Ich bin mir sicher, dass wir es erlegen können.« »Wenn Maddrax dann noch lebt.« Aruula hockte sich hin. »Ich werde zu Wudan beten, dass er ihm beisteht.« Aiko blickte auf sie hinab. Er trug jetzt die Verantwortung für Matts Gefährtin. Solange er dieses Luftschiff nicht beherrschte, konnte alles passieren. Seine Hand schloss sich um ihren Oberarm. »Komm, setz dich hin und schnall dich an.« Er drängte sie in den Copilotensessel, und als sie sich verkrampfte und festklammerte, beugte er sich kurz hinüber und schloss den Gurt um ihre Taille. Dann konzentrierte er sich wieder auf Instrumente und Kontrollanzeigen. Aruulas Kopf ruckte hin und her, als sie aus dem Gondelfenster sah. Über ihr, fast zum Greifen nahe, wölbte sich der silberne Rumpf des Fluggeräts, geformt wie die Keule eines Riesen. Unter ihr hatte sich Orguudoos Reich aufgetan. Säulen aus Feuer stiegen hoch und griffen mit Flammenhänden nach dem Luftschiff. Aiko zog die Steuersäule näher zu sich heran, das Fluggerät gewann an Höhe. Allmählich gewann er ein Gefühl für diese silberne Ziga rre, auf deren Hülle die Bezeichnung »LZ-N08« stand, und groß darüber »De Broglie Enterprises«. »Ich verstehe nicht, wie ein Ding fliegen kann, das mit Luft gefüllt ist«, sagte Aruula. Ihre Stimme zitterte »Gas, nicht Luft.« Der Cyborg ließ die Steuersäule los,
belauerte die Instrumente, ließ die Hand über den Armaturen schweben, rieb Daumen- und Zeigefingerkuppe gegeneinander. Ihre Fluglage änderte sich nicht. Sehr gut. »Das Gas hält es in der Luft, Propellermotoren treiben es an«, erklärte er weiter. Aruulas Augen lösten sich von dem Rumpf des Fluggeräts, sie blickte zum Horizont. Viele hundert Speerwurfe entfernt verhüllten schwarze Rauchschleier den Himmel. Zwischen dem Rauch glühte es rot. Das war die Stelle, wo vor einigen Tagen der letzte Lavasee aufgebrochen war. Die glutflüssige Masse grub sich in die weiße Einöde. Wasser kochte und verdampfte. Aruula beugte sich nach vorn und presste ihre Stirn an das kühle Material des Fensters. Nie zuvor hatte sie ein ähnliches Naturschauspiel beobachtet. Die Stadt - oder das, was von ihr übrig geblieben war - konnte sie aus dieser Perspektive nicht sehen. Trotzdem dachte sie wehmütig an die vielen Toten, die der Lava und den giftigen Dämpfen zum Opfer gefallen waren. Am meisten schmerzte sie der Verlust Jodees. Und Maddrax? Lebte er noch? Und wenn ja, wie lange würde er die mörderische Kälte dort draußen überstehen? Aruula schloss die Augen, ihr Kopf fiel gegen das Nackenpolster. Ganz hinten auf ihrer Zunge brannte das Verlangen nach Wasser. ›Warum nur habe ich immer solchen Durst?‹ Aiko spähte durchs Frontfenster und fluchte innerlich. Die Bestie und ihr Opfer entfernten sich viel schneller, als der Zeppelin an Fahrt gewann. Ein Blick auf die Kontrollinstrumente: Tausendsechshundert Meter zeigte der Höhenmesser bereits, aber der Balken des Tachometers zitterte immer noch bei fünfundfünfzig Stundenkilometern. Viel zu langsam! Ein Blick auf das Radardisplay beruhigte Aiko wenigstens vorübergehend. Auf ihm würde die Echse noch eine Zeitlang zu sehen sein. »Wir brauchen mehr Stoff!« Aiko sprach mit sich selbst, tippte
dabei in die Tastatur, legte diesen oder jenen Schalter um, bis ihm ein Display signalisierte, dass die Stellung der drei Motoren endlich optimal synchronisiert war. »Schneller, verdammt!« Der Balken in der Geschwindigkeitsanzeige kroch über die sechzig hinaus und der siebzig entgegen. »Wir holen es nicht mehr ein«, flüsterte Aruula »Und selbst wenn - Maddrax ist verloren.« Aiko hörte das Flehen um Widerspruch in ihrer Stimme. Er zog es vor zu schweigen. *** Den Kopf in den Nacken gebogen und mit weit offenem Mund stieß Cyleste langgezogene hohe Tone aus. Ihre feine Stimme schraubte sich in eine Höhe, die Nyoto und Ikoreis und einige andere Manner schon als schmerzhaft empfanden. Ihr Gesang schwoll an und ab, tanzte über dem Heulen des Sturms und dem Rauschen des Wassers, ging plötzlich in Glucksen und Trällern über, perlte die Tonleiter hinauf und hinab, um dann wieder kristallklar zwischen zwei, drei Tönen hin und her zu schwingen. Es war ein Tirilieren, ein Zwitschern, Pfeifen und Summen, das die Männer als überirdisch empfanden, ja als göttlich. Obwohl er manchmal glaubte, jemand würde ihm mit feinen Gräten die Trommelfelle durchstechen, konnte Nyoto nicht widerstehen. Er musste einfach von Zeit zu Zeit die Hände von den Ohren nehmen, um Cylestes Gesang zu lauschen. Genauso Ikoreis und die anderen Männer. Sie hörten den Wind durch die Knohenösen der Jagdzeltriemen pfeifen, sie hörten das Flehen des Seeadlerjungen nach Futter und Wärme, das Ächzen der Bootsplanken bei schwerer See, das Schweigen der Sterne in klarer Nacht, das Splittern des Eises im Frühling und das lautlose Klingen der Schneeflocken, wenn sie nah aneinander vorbei schwebten, sich berührten und ineinander verhakten,
bevor sie auf die Igludächer fielen. Auch der Waal schien zu lauschen. Es war Finnilosh, das Haupt der Potter; bis auf die Mädchen, die zum ersten Mal an einer Versammlung teilnahmen, kannten ihn alle an Bord des Katamaran. Den mächtigen zerklüfteten Schädel aus dem Wasser gereckt, mit der Schwanzflosse nur noch behutsam wedelnd, beäugte er die singende Cyleste. Er bewegte sich kaum noch voran, trieb nur in den abflauenden Wogen dahin, sodass er bald seitlich des Katamarans vorbeigleiten würde. Ein paar Speerlangen neben ihm wölb te sich der schwarzweiße Rücken des Orgaras aus den Fluten, viel kleiner als Finnilosh, und doch so ungeheuer groß. Oshavan hieß dieser Waal - am langen Einriss seiner schwertartigen Rückenflosse hatte Elyshee ihn schon während seines Sprungs erkannt. Auch er hob den stumpfen Schädel knapp über der Wasseroberfläche und lauschte dem Gesang der kleinen Frau am Bug des Katamaran. Und fast in Reichweite von Cyleste, seitlich des Bugs, stand der spitze Kopf des Delfis im schwarzen Wasser. Ein sehr junger Delfis - Elyshee kannte ihn nur flüchtig. Vermutlich ein Sohn des alten Ylish, des Oberspielers der Eisherrscher. Seine schnabelartige Nase zuckte manchmal nach vorn, als wollte er nicken, und sein Maul war leicht geöffnet, sodass man die Reihen seiner spitzen, dreieckigen Zahne sehen konnte. »Sie erzählt ihnen von dem milden Winter und den vier Neugeborenen, die ihn überlebt haben«, sagte Elyshee. Über Jahrzehnte war sie die Hauptsängerin der Eisherrscher gewesen. Doch seit fünf Wintern machte ihre alte Stimme nicht mehr mit. Aber natürlich verstand sie die Bedeutung des Gesangs ihrer Tochter und übersetzte ihn. »Sie bedankt sich für die Verstorbenen, die sie uns vor dem Winter überlassen haben, und für die Hilfe während des Jagdzugs entlang der Eisgrenze.« Mit geschlossenen Augen konzentrierte Elyshee sich auf die
Töne, die ihre Tochter ausstieß, und ihre Enkelinnen und die Männer hingen jetzt an ihren Lippen. »Sie erzählt, wie friedlich Kören in den immerwährenden Sonnentag eingegangen ist, und dass die Ayritzen zwei Kinder und eine Sängerin verschleppt und wahrscheinlich gefressen haben.« Die Versammlung mit den Seeherrschern - ein über Hunderte von Schneeschmelzen gewachsenes Ritual. Die jeweilige Hauptsängerin erzählte - sang - all die großen und kleinen Ereignisse, die das Leben der Eisherrscher während der zurückliegenden Monde bestimmt hatten. Danach sangen erzählten - die Abgesandten der Seeherrscher von den Wechselfällen des Lebens ihrer Sippen und Rassen. Zwei Versammlungen in zwölf Monden gehörten zum Jahresrhythmus der Eisherrscher - wie die beiden Jagdzüge, das Sonnenfest und der Tag der Hochzeiten - eine Versammlung kurz vor dem Winter, eine nach der Schneeschmelze. Wenn Not oder unvorhergesehene Ereignisse es erforderlich machten, konnte jeder der Bü ndnispartner eine Sonderversammlung einberufen. Cyleste schilderte Körens Tod und richtete die letzten Grüße des großen Jägers an seinen Freund Finnilosh aus. Sie berichtete von der neuen Route zur Nordmeerküste, die ihr Volk gefunden hatte, und vom Zurückweichen der Eisgrenze, das einige Jäger beobachtet hatten, von den noch immer gleichmäßig sprudelnden heißen Quellen, vom Sonnenfest, von den Hochzeiten und den schwangeren Frauen, und von der beunruhigenden, schon seit drei Schneeschmelzen anhaltenden Wanderung des gemeinsamen Feindes. Immer mehr Ayritzen machten sich auf den Weg von der Nordmeerküste zu den Sandbanken am Westende des Sees. Ohne ihren Gesang zu unterbrechen, drehte die junge Eisherrscherin sich irgendwann um und deutete auf ihre Tochter und die beiden Männer auf der vorderen Paddelbank.
»Sie sagt ihnen, dass wir die Mädchen in der Kunst des Gesangs unterrichten, und stellt ihnen ihre Väter vor«, übersetzte Elyshee. Ikoreis und Nyoto hoben die Köpfe und lächelten. Der Stolz trieb ihnen noch mehr Röte in die Gesichter. Cyleste verstummte, und nun begannen Finnilosh und der junge Delfis zu singen. Es war so, dass der Gesang der Potter besonders hohe Töne beinhaltete, die ein menschliches Ohr nicht wahrnehmen konnte. Außerdem pflegten die Potter eine sehr einfache Sprache - komplizierte, ja abstrakte Inhalte konnte ihr Gesang nur unzureichend zum Ausdruck bringen. Aus diesem Grund übersetzte und ergänzte häufig ein Delfis - oder ein Spieler, wie sie auch genannt wurden - den Gesang der anderen Seeherrscher. Elyshee richtete sich auf und ließ die Kinder los. »Hört«, flüsterte sie. »Hört gut zu.« Eine Symphonie aus Pfiffen, Klicklauten, feinsten langgezogenen Tönen, flötendem Vibrato und dunklem Knurren erfüllte die Luft. Elyshee griff hinter sich an den Segelmast und zog sich hoch. Der Katamaran schwankte auf den Wogen, und der feuchte Wind zerrte das Weißhaar der Alten aus der Fellkapuze. Sie übersetzte nicht, ihr altes Gehör nahm auch die besonders hohen Töne des jungen Spielers nur noch undeutlich oder gar nicht mehr wahr, doch die Bruchstücke, die sie verstand, trieben das Lächeln aus ihrem Gesicht. Ihre Mundwinkel sanken nach unten, finster wurde ihre Miene. Der Delfis und der Potter sangen nicht lange, neun oder zehn Atemzüge vielleicht. Das war ganz und gar unüblich und verstieß sogar gegen das Ritual. Cyleste drehte sich langsam um, so langsam, dass Nyoto den Atem anhielt. Bleich war die Mutter seiner jüngsten Tochter plötzlich, und ihre Augen schienen noch schmaler als sonst. »Finniloshs Gefä hrtin Hanulesh ist den Ayritzen in die Falle gegangen«, sagte sie. »Und mit ihr drei Junge und Gilesh, die Gefährtin seines ältesten Sohnes.«
Cyleste ließ sich von den Knien auf ihr Gesäß sinken. Kraftlos lehnte sie sich gegen den Bug des Katamaran. Ihre Arme hingen über die Bordkante, schlaff, als gehörten sie nicht mehr zu ihrem Körper. Ein paar Atemzüge lang hörte man nur das Rauschen der Wogen und das Heulen des Sturms. Traurig und erschöpft betrachtete die Sängerin ihre Tochter. »Wo?« Heiser bellte Elyshee die Frage heraus. »Tausende von Speerwürfen Richtung Sonnenuntergang bei den Sandbänken. Finniloshs ältester Sohn Potterosh hat sich auf den Weg gemacht, um zu retten, was zu retten ist. Finnilosh fürchtet nun auch um sein Leben.« Jeder an Bord des Katamaran wusste, was sie den Verbündeten schuldig waren; sogar die beiden kleinen Mädchen wussten es schon. Die Eisherrscher konnten nicht leben ohne die Seeherrscher, und die Seeherrscher wären längst ausgestorben ohne die Eisherrscher. Man schuldete einander das Leben, nicht weniger. Elyshee suchte die Blicke Nyotos und Ikoreis'. Beide nickten. Am Segelmast entlang ließ die Alte sich auf die Paddelbank gleiten. »Sag ihnen, wir schicken unsere besten Jäger zu den Sandbänken.« *** Eine peinliche Geschichte eigentlich, aber plötzlich war er mittendrin. Das Glas in seiner Hand hätte gar nicht wirklicher sein können, so wie der Barhocker, auf dem er saß, die Theke, auf die er sich stützte, die verdammten Schmerzen an Rücken und Taille, der bärtige, schweinsäugige Wirt, die Frau am anderen Ende der Theke und die Betrunkenen rechts und links von ihm. Die Frau spielte mit einer Strähne ihrer langen Locken, wiegte die Hüften im Rhythmus der Musik aus den Boxen, drehte sich, neigte den Kopf und schickte ihr Lächeln auf die Reise zum
anderen Ende der Theke - zu ihm. Heiß durchrieselte es ihn, dabei war ihm sowieso schon viel zu heiß. »Letzte Runde«, sagte Malcolm und sah ihn dabei an. Er nickte und fragte sich, warum gewisse Frauen - nicht die Hässlichsten zumeist - ständig mit ihren Haaren spielen mussten. Liz tat das nie. Und er fragte sich, warum es so abscheulich heiß war, und woher dieser Scheißschmerz um seine Taille stammen mochte. Malcolm, der Wirt, stellte das Bier vor ihn hin, die Betrunkenen glotzten von der Seite, und die Frau hatte endlich ihr Haar losgelassen, drehte und wiegte sich schneller und wilder, sodass die schwarzen Locken im Kreis wirbelten und um ihre halbentblößten Schultern peitschten. Zwei, drei Mädchen fielen ihm ein, mit denen er vor ein paar Leben etwas gehabt hatte. Frauen, die auch mit ihrem Haar zu spielen pflegten. Komische Angewohnheit... vielleicht Langeweile oder Verlegenheit? Oder beides? Klar, das musste es sein: Langeweile und Verlegenheit. Liz langweilte sich nie, und wenn es ihm je gelungen sein sollte, sie in Verlegenheit zu bringen, konnte er sich nicht daran erinnern. Er griff nach dem Glas, setzte es an die Lippen und trank. Das Bier war brühwarm, ganz im Ernst: Es schmeckte abscheulich. Zorn stieg wie eine heiße Säule hinter seinem Brustbein hoch; und zugleich erfüllte ihn eine unbestimmte Furcht. Langsam, ganz langsam begriff er, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Die Geschichte stimmte nicht - niemals hatte er in Malcolm's Potomac Island brühwarmes Bier getrunken, niemals! Doch komisch, abgesehen vom warmen Bier stimmte alles: Der bärtige Malcolm trug seine braune Lederschürze, die Musik toste aus den ohrmuschelförmigen Boxen neben der Spiegelbar, die Blicke der Tänzerin meinten eindeutig ihn, und die verhangenen Augen der Betrunkenen rechts und links ebenfalls. Auch das Datum auf dem Kalender in den Händen der nackten
Meerjungfrau zwischen dem Södpol der Theke und dem Vorhang vor dem Toilettengang stimmte: 11. November 2005. Der Tag, an dem sich Matthew Drax entschied, die Versetzung nach Deutschland anzunehmen. Es war gegen Ende der Religionskriege, einer der ersten dienstfreien Abende seit langem - der Kommandeur hatte die Alarmbereitschaft herabgesetzt. Malcolm's Potomac Island gehörte zu den wenigen Kneipen in der Nähe der Andrew Air Force Base, die man auch als Offizier betreten konnte, ohne gleich seinen guten Ruf aufs Spiel zu setzen. Neben dem Bierglas lag sein Mobiltelefon. Selbstverständlich musste er erreichbar sein, und selbstverständlich musste er auf Alkohol verzichten. Hatte er tatsächlich Bier getrunken, damals? Gut möglich, er trank ja oft ein paar Bier, wenn Liz ihm eine Szene machte. Und sie hatte ihm eine Szene gemacht - Heiliger Jesus, und was für eine! ›Warum ist mir so heiß...?‹ An Rücken und Taille spürte er die Hitze am deutlichsten. Er wand sich, drückte das Kreuz durch, tastete nach seiner Hüfte, und seine Hand zuckte zurück, als hätte sie eine heiße Herdplatte berührt. Rechts neben ihm fiel ein Barhocker um, und als er den Kopf wandte, war der Platz an der Theke rechts neben ihm leer. Der Mann, der ihn eben noch mehr oder weniger aufrecht beansprucht hatte, lag jetzt quer über dem Barhocker auf dem Boden und glotzte aus roten Augen zu ihm hoch. Niemand kümmerte sich darum; Malcolm nic ht, die Tänzerin nicht, und die anderen Betrunkenen sowieso nicht. Warum bloß waren fast alle Leute betrunken heute Abend? Seit dem verdammten Bürgerkrieg - ja, so nannte sein Vater das -, also seit dem Beginn der Kämpfe soffen die Leute mehr als früher; jedenfalls wollte ihm das so scheinen. Genau: Auch das hatte er damals gedacht, als der Mann neben ihm zu Boden ging. Also stimmte die Geschichte doch! Aber
warum war das Bier dann warm? Warum war es so unerträglich heiß? 11. November, behauptete der Kalender doch, und nicht 11. August! Allerdings hatte Liz ihm wirklich eine Szene gemacht; weil er nach Berlin gehen wollte, und weil sie nicht daran dachte, deswegen ihren Job aufzugeben. Himmel noch mal - diese eigensinnigen Weiber! Nun ja, und dann begann der peinliche Teil der Geschichte. »Darf ich kassieren, Matt?«, fragte Malcolm. »Dreizehn Dollar und sechzig Cent.« Matt öffnete seine Brieftasche - und fand weiter nichts als einen Bußgeldbescheid und ein Kondom (das trug er tatsächlich immer bei sich, weil Liz und er sich manchmal im Auto liebten, und überhaupt wollte er diesbezüglich nichts riskieren). Er starrte in die Leere seiner Brieftasche und glaubte es nicht. »Was ist los - Geld vergessen?« Genauso war es gewesen. Aber dann schloss Matt die Augen, und gleichzeitig öffnete jemand in seinem benebelten Hirn die Augen: Er sah einen Himmel voller Rauch, und er spürte den Schmerz so deutlich, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen. Über sich nahm er ein eigenartiges Rauschen war, und unter sich sah er nichts als Eis. ›Unmöglich! Ich träume im Stehen...‹ Sofort riss er die Augen wieder auf - und blickte in Malcolms unerbittliche Miene. »Dann wirst du fliegen müssen, Matt«, sagte der Wirt. Er deutete zu einem der großen Fenster, die zur Straße zeigten, und zwar zum mittleren. Matts Blick folgte dem ausgestrecktem Arm - da stand ein Hochhaus auf der anderen Straßenseite, erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum und bestimmt dreißig Stockwerke hoch. Nie und nimmer stand der Central Tower in der Nähe der Andrew Air Force Base!
Central Tower? Wie kam er auf diesen Namen? Von da an stimmte überhaupt nichts mehr in der Geschichte. Die Musik verstummte von einem Augenblick zum anderen; bis auf ein paar Kerzen, deren Standort Matt nicht bestimmen konnte, erlosch das Licht, und der Kerl neben ihm auf dem Boden packte die runde Sitzfläche des Barhockers und rammte ihm die Beine des Möbelstücks gegen den Bauch. So gezielt, dass die Hockerbeine seine Hüften und seine Taille einklemmten - Himmel, tat das weh! Auf einmal hingen sie alle um ihn und über ihm: die Betrunkenen, Malcolm und die Tänzerin. Alles andere als schön sah die Frau plötzlich aus - die Augen schmal, der Mund viereckig, das Haar wie Stachelborsten vom Schädel abstehend, spreizte sie die Finger über seinem Gesicht, und ihre angeklebten Nagel erinnerten ihn plötzlich an die Fänge eines Greifen, eines Falken oder eines Seeadlers. Ruckzuck ging das alles; wie ein Video, das man im PlayModus vor- oder zurückspulte, rauschten Bilder und Eindrücke an ihm vorbei: Schmerzen, gehässige Gesichter, Fäuste, der Geschmack des Fußbodens auf seiner Zunge, Hitze, Rauschen, Atemnot... Hände aus Eisen packten ihn, knochige Hände eines Riesen, und plötzlich schwebte er über der Straße. Sie war ein von Lichtern begrenzter dunkler Strich tief unter ihm, und Autos glitten darüber, die genauso gut Glühwürmchen hätten sein können, aber er wusste, dass es Autos waren, und dass der Weg zu ihnen hinunter verflucht lang war. »Alles klar, Matt«, hörte er Malcolms Stimme aus dem Off sagen. »Du kannst nicht zahlen, also fliegst du.« Und dann flog er. Er schloss die Augen, weil die Panik seinen Verstand ausschaltete, weil der Schmerz brannte, weil ihm übel wurde, und kaum hatte er sie geschlossen, riss etwas in ihm sie wieder auf. Und was sah er? Keine Straße, keine Lichter, keine Autos,
nein: Er sah weiter nichts als Eis; eine schier unendliche Wüste aus Eis... Gern hätte er die Augen wieder geschlossen, aber es ging nicht: Er musste das Eis anstarren, er musste! Tief unter ihm glitt es dahin, viel tiefer als nur dreißig Stockwerke! Und der Schmerz um Hüfte und Rücken überfiel ihn mit solcher Heftigkeit, dass seine Gesichtsmuskulatur sich verkrampfte. Nichts konnte er schließen: nicht die Augen, nicht den Mund. Selbst die Schließmuskeln drohten seiner Kontrolle zu entgleiten, denn als er nach oben blickte, sah er es - das Reptil. Seinen flachen fischartigen Schädel; seinen langgestreckten spindelförmigen Körper; seine Hinterläufe wie junge Bäume unter dem flach auslaufenden Schwanz zusammengelegt; die pulsierenden Muskelgeflechte über seinem halbkugelförmigen Brustkorb und um seinen gewölbten Bauch. Und alles, sogar die Läufe, war von grünschwarzen, rautenförmigen Schuppenplatten bedeckt, an Brust, Bauch und Schenkeln groß wie Dachziegel, an der Kehle und unter dem Schädel nicht größer als Brillengläser. ›Ich träume‹, dachte Matt. ›Das hier ist der Traum, die Kneipe ist die Wirklichkeit...‹ Von Malcolm's Potomac Island trennten ihn lächerliche fünfhundertdreizehn Jahre, von dieser schuppigen Bestie fünfhundertdreizehn Ewigkeiten! Er spürte, dass der Gedanke so wenig stimmte wie das brühwarme Bier an der Theke eben. Doch mit der verzweifelten Verbissenheit eines Ertrinkenden versuchte er sich daran festzuhalten. Aber die Schwingen - diese riesigen, von hundert Venen oder Aststrünken durchzogenen Lederplanen, die da zu beiden Seiten auf und ab wippten! Oberhalb des schuppigen Bauches wuchsen sie aus der Brustmuskulatur des ganz und gar unwirklichen Wesen heraus. Sie klangen fast wie das Rauschen der Brandung am Strand des untergegangenen Santa Monica! ›Das ist nicht wahr‹, dachte Matt, und er war vollkommen
überzeugt von der Richtigkeit seiner Gedanken, ›das ist ein Albtraum - die Geschichte ist wahr! Malcolm hat vollkommen Recht: Ich kann nicht zahlen, also muss ich fliegen...‹ Doch diese unerträgliche Hitze! Die Klauen der Albtraumbestie brannten sie in seinen Rücken und seine Taille. Der mächtige Schuppenleib strahlte sie ab, als wäre er ein Hochofen, in dem Stahl gekocht würde. Matt spürte, dass er schweißnass war. Er versucht sich zu erinnern: Da war ein Luftschiff, da waren Aiko und Aruula und jene Bewohner der Biosphäre im Eis. Lava brodelte in der Tiefe, und es gab einen Kampf... Und einen Filmriss, wie es schien - undeutlich nur sah Matt die brennende Stadt, die brodelnde Lava, über der er aus irgendeinem Grund schwebte, und plötzlich die Umrisse der unglaublichen Kreatur. War sie aus dem Lavasee aufgetaucht? Ausgeschlossen... ›Das hier ist der Traum‹, dachte Matt, ›die Kneipe ist die Wirklichkeit...‹ Er schloss die Augen, um wieder am 11. November 2005 in Malcolm's Potomac Island aufzuwachen. Seine Schmerzen waren es schließlich, die ihn lehrten, Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden - der brennende Schmerz am Rücken und an der Taille. Die Klauen der Vorderläufe hielten ihn dort fest. Sie waren so wirklich wie das Eis, wie der rauchverhangene Himmel im Westen, wie die Bestie selbst, und wie seine Angst. Matt begann zu schreien... *** Die Dunkelheit war allgegenwärtig. Nirgendwo Licht, nirgendwo Schatten, nirgends eine Spur von Dämmerung vollkommene Finsternis überall. Das tonnenschwere Geflecht seiner Muskulatur streckte sich,
zog sich zusammen, streckte sich, bebte, pulsierte; eine Explosion von Kraft war sein Körper, ein Konzentrat von Wille und Wut, das sich im Stoßrhythmus seiner Schwanzflosse entlud. So bohrte er sich in die Finsternis, weiter und weiter, pflügte durch Querströmungen, schoss durch Algenwälder, schraubte sich durch Wolken aufgewirbelten Schlamms, riss Orkane aus Wirbeln, Fischen, Pflanzen und Schaum hinter sich her. Dabei sang er ununterbrochen, und das Echo seines Gesangs brandete ihm von allen Seiten aus der Dunkelheit entgegen. Ein Trommelfeuer von Echosignalen blitzte durch sein Hirn und rang der lichtlosen Welt um ihn herum Konturen und Bilder ab: der Algenwald, die Felsformation vierundzwanzig Körperlängen links von ihm, davor der Bug des aus Schlamm und Seegras ragenden Kutterwracks, die beiden flüchtenden Welse siebzehn Längen voraus und die Ruinen hundertneunundsechzig Längen rechts, auf dem dichtbewachsenen Hang, der zum Ufer anstieg. Selbst die Anzahl der Eisschollen achtzehn Längen über ihm registrierte sein Hirn, und die fast gerade verlaufende Bruchkante der Eisdecke achtunddreißig Längen links davon ebenso. Ihr musste er folgen, um die noch viele tausend Längen entfernten Sandbänke zu erreichen. Er sah, weil er sang. Ein Stakkato von Tönen schoss aus seinem Schädel in die Dunkelheit - Pfiffe, Klicklaute, Brummen, Summen und Blöken - und dazwischen eine immer wiederkehrende Sequenz: »Potterosh kommt!«, bedeutete sie. »Potterosh kommt! Haltet durch!« Manchmal hörte er eine Antwort: »Komm schnell.« Ein weit entferntes Flehen, ein langsam ersterbendes Klagelied: »Gilesh will leben, komm schnell.«, oder »Hanulesh hat Angst um ihre Kinder, du musst jetzt kommen.« Seine Mutter und seine Geliebte. Ihr flehender Gesang presste ihm das mächtige Herz im Brustkorb zusammen. »Potterosh
kommt! Er kommt so schnell er kann!« Er bäumte sich auf, schoss schräg nach oben, bohrte sich aus der Seeoberfläche. Die Sonne war untergegangen. Er blies eine Fontäne aus Luft, Wasser und Schaum in die Dämmerung hinauf, saugte sich voll mit frischer Atemluft und tauchte wieder in die Fluten. »Potterosh kommt! Haltet durch!« Von fern klang erneut der Gesang seiner Mutter und seiner Geliebten, schwach nur, aber deutlich genug, um ihre Todesangst zu spüren. Ein Zittern durchlief seinen Körper vom Atemloch bis zur Schwanzflosse - Wut und Furcht zugleich, und Sehnsucht nach seiner Gefährtin. Er schraubte sich hinunter zum Seegrund und rauschte weiter durch die Dunkelheit, weiter und weiter. *** Hitze und Rauch drangen durch verborgene Fugen ins Innere der Gondel. Aiko hatte Sauerstoffmasken in den Lehnen der Sitze gefunden. Den stinkenden Trichter vor Mund und Nase gepresst, hing Aruula im Copiloten-Sessel. Ihr Mund und ihre Kehle waren trocken und brannten vor Durst, ihre weit aufgerissenen Augen blickten zwischen Radar und Frontfenster hin und her. Ein haarfeiner Strich kreiste über dem Display. Und bei jeder Runde ließ er im Rhythmus von Aruulas Herzschlag einen kleinen Punkt grün aufleuchten. Die Flugechse und Maddrax, behauptete Aiko, und solange der Punkt auf dem Display aufleuchtete, gäbe es Hoffnung. Vor den Gondelfenstern war es dunkel von den schwarzen Rauchschwaden. Luftverwirbelungen rüttelten am Luftschiff. Manchmal rissen die Böen den Rauchschleier für einen Atemzug auseinander, dann sah Aruula unter sich rotglühende Linien und Flecken. Als würde das Land bluten.
Es waren die Seen aus glutflüssigem Gestein, die sich in einer geraden Linie bis zur Kuppelstadt aufgetan hatten. Sie mussten entstanden sein, als der Lavadrache von Zeit zu Zeit zur Erdoberfläche getaucht war. Nun war er auf dem Weg zurück, dorthin, wo er hergekommen war. Nur nicht unterirdisch, sondern im Flug. Aiko schien die orangerot glühende Holle unter dem Luftschiff nicht wahrzunehmen. Er hatte nur Augen für die Instrumente und Displays. Sichtflug war unmöglich, er musste sich ganz auf den Navigationsrechner verlassen. Anders als Aruula hatte der Cyborg sich die Sauerstoffmaske umgeschnallt, sodass er beide Hände benutzen konnte. Er hätte drei oder vier brauchen können. Der Autopilot weigerte sich beharrlich die Steuerung des Luftschiffs zu übernehmen - die Turbulenzen waren einfach zu heftig -, und Aiko versuchte das Gerät manuell zu steuern. Dicht über der Erde kochte die Luft, und während heiße Wirbel in die Kaltluftmassen hinauf fegten, sackte eisige Luft in die heißen Luftschichten ab. Hundertdreißig Kilometer trennten den Zeppelin inzwischen von der untergegangenen Stadtsphäre, und Aiko bekam ihn immer besser in den Griff. Ein Auge beharrlich auf dem Radardisplay, synchronisierte er die Motoren ständig neu. Doch der Leuchtbalken des Geschwindigkeitsmessers wollte und wollte die achtzig nicht überschreiten. Viel zu langsam. Eben schickte der Computer die aktuelle Berechnung des Abstands zwischen Luftschiff und dem Objekt auf dem Radar auf das Display: 31,6 km, und als der Cyborg zwei Minuten später wieder auf den Bildschirm sah, waren es schon 33,1 km. Zweitausend Meter, behauptete der Höhenmesser. Aiko kannte die maximale Flughöhe des Luftschiffs nicht. In der Hoffnung, die Turbulenzen unter sich zurücklassen zu können, steuerte er es höher. Raus aus den sturmgepeitschten Luftschichten, das schien ihm die einzige Chance zu sein, die Flugleistung des
Geräts auszureizen. Er hatte auch keine genaue Vorstellung von der Höchstgeschwindigkeit eines Luftschiffes - wenn sie nicht ganz entscheidend jenseits jener achtzig lag, bei der die Anzeige im Moment noch zitterte, war Matt sowieso verloren. Aiko gab sich keinen Illusionen hin Im Stillen suchte er nach Argumenten gegen seine Vermutung, dass die Flugechse Matthew schon langst getötet hatte. Er fand keine. Aruula neben ihm lag mehr in ihrem Sitz, als dass sie denn saß. Wenn sie nicht in den Rauch hinausstarrte, hing ihr Blick am Radardisplay. Sie sprachen nicht miteinander in diesen Minuten - zu laut toste der Sturm, und die Sauerstoffmasken verdeckten ja ihre Lippen. Jeder hing seinen Gedanken nach, seinen Ängsten und Sorgen. Der Sturm stemmte sich gegen den Rumpf des Luftschiffs. Böen rüttelten an der Gondel. Zweitausenddreihundertvierzig Meter, sagte der Höhenmesser. Der Leuchtbalken auf der Geschwindigkeitsanzeige kroch zwischen achtzig und fünfundachtzig herum. Schon über neununddreißig Kilometer Entfernung vom Objekt auf dem Radar. Aiko presste die Lippen zusammen. Irgendwann ließ der Sturm nach, rissen die Rauch- und Wasserdampfwolken auf. Sie kamen in ein Gebiet, in dem die Oberfläche der Lavaseen schon wieder erkaltet war und keine Turbulenzen mehr verursachte. Aiko zog sich die Maske vom Mund und kontrollierte den Höhenmesser. Er war sich jetzt ziemlich sicher, dass die angezeigten zweitausendfünfhundert Meter die maximale Flughöhe darstellten. Der Leuchtbalken des Geschwindigkeitsmessers erreichte die neunzig. »Na also!« Der Cyborg rammte seine Faust in die Handfläche. »Wir werden schneller!« Allerdings hatte sich der Abstand zum Objekt auf dem Radardisplay bis jetzt kontinuierlich vergrößert: einundfünfzig Komma sieben Kilometer wurden angezeigt.
Auch Aruula nahm die Maske vom Gesicht und zog den Fellmantel über ihre Schultern. Die Temperatur innerhalb der Gondel sank beträchtlich. Aikos Finger tasteten die Schalter und Knöpfe auf der Instrumentenkonsole ab. Er suchte die Regler für die Heizung. Die Barbarin starrte den Leuchtpunkt auf dem Radardisplay an. Ihre Augen schimmerten grünlich. Wahrscheinlich spiegelte sich das Licht des Radars darin. »Wie weit ist er entfernt?« Aiko hatte die Frage längst erwartet. »Fast zweiundfünfzig Kilometer«, sagte er. Aruulas Blick verriet ihr Unverständnis. »Fünfhundertzwanzig Speerwurfe«, übersetzte der Cyborg. »Werden wir ihn einholen?« Wie erschöpft und traurig sie aussah. Er musste die Hand ausstrecken und sie streicheln. Sie schloss die Augen und lehnte ihre Wange in seine Hand. »Werden wir ihn einholen?«, fragte sie noch einmal. ›Fifty- fifty‹, wollte er sagen und hatte damit nicht Drax, sondern das Flugreptil gemeint Insgeheim war er fast überzeugt davon, dass der Mann aus der Vergangenheit längst mit zerbrochenen Knochen irgendwo auf dem Eis lag oder, noch schlimmer, zermalmt im Magen der Bestie. »Ich hoffe es«, sagte er einigermaßen wahrheitsgemäß. »Ich habe Durst«, sagte Aruula. Sie schnallte sich los und stand auf, um nach Wasservorräten zu suchen. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist - warum habe ich immer diesen entsetzlichen Durst?« Aiko tippte den Kurs ein, den das Objekt auf dem Radardisplay nahm. Jetzt, außerhalb des Sturmgebietes mit seinen Turbulenzen wollte er es noch einmal mit dem Autopiloten probieren. Er schaltete ihn ein und beobachtete minutenlang die Kontrollinstrumente. Es schien zu funktionieren, und der Cyborg schöpfte Hoffnung. Bis sein Blick wieder auf das Radardisplay fiel: Der grün leuchtende Punkt war verschwunden...
*** Matts Bewusstsein taumelte zwischen Schlaf und dämmrigen Wachzuständen hin und her. Wenn er schlief, verschmolzen das allgegenwärtige Schwingenrauschen, die Hitze und der Schmerz zu einem heißen Wildwasserfluss, in dem ihn eine unbekannte Macht zu kochen versuchte; oder zum Triebwerk eines Jets, an dessen Tragfläche geschmiedet er durch die Stratosphäre flog; oder zum Todesröcheln eines großen Tieres, in dessen Blut er unterging. Wenn er wach war, schrie er oder erbrach sich oder wünschte sich zu sterben. Einmal wand er sich in den Fängen der heißen Bestie, stemmte sich gegen sie, bearbeitete Schuppen und Klauen mit Fäusten. Er hoffte, der eiserne Griff würde sich lösen und er könnte entschlüpfen, würde abstürzen und den Albtraum gemeinsam mit seinem Schädel zertrümmern. Vergebliche Hoffnung: Der Schmerz zwang ihn in eine Art Duldungsstarre, bevor ein halbwegs gnädiger Schlaf sein Bewusstsein auf Neue betäubte. Ein anderes Mal - die Dämmerung tauc hte die Eiswelt in trostloses Grau und das Lavareptil verlor an Höhe - hing er schlaff in den Fängen und grübelte darüber nach, welche Schuld er auf sich geladen haben mochte, dass ein Fluch ihn durch einen Zeitriss geschickt hatte, statt ihn mit der Welt des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts untergehen zu lassen. Und wieder ein anderes Mal versuchte er sich zu erinnern, um welche Tageszeit die Lava in Citysphere 01 eingebrochen war. War es morgens oder schon mittags gewesen? Matt wusste es nicht mehr genau; sein Zeitgefühl hatte ihn verlassen. Jetzt war es Nacht - jedenfalls war die Sonne für ein paar wenige Stunden hinter dem Horizont verschwunden. Die Schwingen der Bestie rauschten links und rechts neben ihm. Manchmal sah er die Konturen eines Bergmassivs in der
Eiswüste unter sich, und einmal glitt sogar ein Gipfel an ihm vorbei. Die Bestie hatte tatsächlich an Flughöhe verloren, nein, das zumindest war kein Traum. Sie jagte mit hoher Geschwindigkeit knapp über dem Boden dahin. Auch die Hitzeabstrahlung ihres riesigen Körpers schien ihm weniger intensiv als noch vor Stunden. Matthews Hüften, sein Rücken waren taub vor Schmerzen, das Blut staute sich in seinem herabhängenden Kopf, und die Augäpfel drängten sich ihm schier aus den Höhlen. Durst und Hunger wühlten in seinen Eingeweiden. Er fragte sich, wohin dieser Flug ihn führen würde und warum dieses Albtraum- Biest ihn nicht gleich an Ort und Stelle gefressen hatte. Und er fragte sich, welche Laune der Evolution einen Organismus hervorbringen könnte, der das heiße Milieu im Inneren eines Vulkans bevorzugte, und wie Haut, Stoffwechsel und Physiologie einer solchen Kreatur beschaffen sein mussten. Aber wahrscheinlich trug die Evolution gar keine Verantwortung für dieses Monstrum; wahrscheinlich hatte die grausame Mutationsenergie der grünen Kristalle, die mit dem Kometen auf die Erde gekommen waren, das Biest auf dem Gewissen; wie viel zu viele andere Verzerrungen des Lebens auch. Doch all das waren nur Gedankenfetzen, die kurz aus dem warmen Morast seines aufgewühlten Unterbewusstseins auftauchten und rasch wieder versanken, um anderen Schimären, Gefühlen und unsinnigen Grübeleien Platz zu machen. Matthew Drax war längst nicht mehr in der Lage, einen Gedanken zu Ende zu denken. Hitzewellen strömten durch seinen geschundenen Körper, dann überkam ihn wieder ein Frösteln. Kurz dachte er an Fieber, durch den Durst vielleicht, oder hatten sich die Klauen der Bestie in sein Fleisch gebohrt und die Wunden sich infiziert?
Es war vollkommen gleichgültig, woran er starb. Er würde sterben, so viel war klar. Es war aus und vorbei. Stumpfe Trauer ergriff ihn und ging langsam in Apathie über. Wenigstens betäubte das Schmerz und Entsetzen ein wenig. Er dämmerte wieder in düstere Träume hinüber. Als er das nächste Mal zur Besinnung kam, war ihm kalt, und eine graue, fast ebene Eisfläche glitt keine acht Meter unter ihm dahin. Er hob den Kopf; sein Nacken wollte ihm kaum gehorchen. Etwa sechs oder sieben Meter entfernt zeichnete sich in verschwommenen Umrissen der Fischschädel der Bestie vor dem grauen Himmel ab. Der spitze Unterkiefer schien zu wackeln, und er hörte ein Geräusch, als würden Pflastersteine gegeneinander geschlagen. Fror die Bestie womöglich? Er spürte, wie ein dunkler Strudel sein Bewusstsein ansog. Es versank darin und nahm den Anblick der aufgehenden Sonne am östlichen Horizont mit in den nächsten Fiebertraum... *** Auf dem See, zehn, fünfzehn Speerwürfe vom noch halb mit Schnee bedeckten Strand entfernt, stiegen Fontänen in den dunklen Himmel. Von Zeit zu Zeit erhob sich der mächtige Leib eines Waals aus den Fluten, sprang speerlängenweit in die Höhe, beschrieb einen Bogen, bohrte sich zurück ins Wasser, wo seine breite Schwanzflosse einen Schaumschleier aufpeitschte, bevor sich der See über ihr schloss. Ein gutes Dutzend Potter und Orgaras spielten dort draußen ihr ausgelassenes Spiel. Über dem Seeufer zu beiden Seiten der Anlegestellen standen Dampfwolken über Strand und Wasser, und etwas oberhalb des Strandes, auf den teils mit Schnee und teils mit niedergedrücktem Gras bedeckten Dünen sah man zahllose Menschen. Fast vollkommen reglos verharrten die meisten. Man hätte meinen können, sie wären im Stehen eingeschlafen.
Ein verwaschener Fleck klebte im grauen Himmel über dem Horizont, als würde dort eine Pfü tze aus Reenamilch zerfließen, in die jemand ein paar Tropfen Blut gespritzt hatte. Die Morgensonne. Schweigend wie alle anderen und ganz in ihren Anblick versunken stand Elyshee zwischen Schneekrusten und bräunlichem Gras. Ihre welken Lippen bewegten sich stumm, und über der Menschenmenge lag ein Gemurmel und Geraune, das die Trance der Greisin noch vertiefte. Etwa vierhundert Frauen, Kinder und Männer - Angehörige dreier Eisherrscherstämme des mittleren Seeufers - hatten sich an diesem Morgen am Strand eingefunden. Einige Männer hockten schon unten in den Katamaranen bei den Anlegestellen. Vor Sonnenaufgang bereits hatten sie Waffen und Proviant verstaut und die Segel gehisst. Jetzt aber ruhte die Arbeit - die Manner sahen zu, wie der rötliche Fleck sich allmählich vom Horizont löste und seine zerfransten Ränder Ausläufer bildeten, die nach und nach in das Grau und Schwarz des Himmels hinein krochen. Die Hände vor dem Brustbein übereinander gelegt, murmelten auch die Jäger in den Katamaranen das Gebet, mit dem die Eisherrscher von alters her die Morgensonne zu begrüßen pflegten. Elyshee dachte an die vielen Sommer, die sie an der Küste des Nordmeeres verbracht hatte. Wenn man sich dort zum Morgengebet versammelte, sah man deutlicher, wie Schwester Sonne aus dem Meer auftauchte, wohin sie auf der Flucht vor Bruder Mond geflohen war. Neun Schneeschmelzen war es her, dass Elyshee zum letzten Mal mit den Jägern und Jägerinnen an die Küste gewandert war, um Robben und Pinguine zu jagen. In den Zeiten nach dem Weltenbrand, als Schwester Sonne für unzählige Winter todkrank auf dem Meeresgrund lag, überschwemmte das Nordmeer das Land, und man konnte nicht zwischen dem See und dem Nordmeer unterscheiden. So wussten es die Überlieferungen der Ahnen zu berichten.
Schwester Sonne selbst war es gewesen, die in diesem Zeitalter vor dem Neubeginn die Seeherrscher aus dem Nordmeer in den See geschickt hatte. Sie kannte ja die kommenden Zeiten wie die vergangenen und die gegenwärtigen und wusste, dass sie den Fluten gebieten wü rde, sich zurückzuziehen und das Land wieder freizugeben. Und sie wusste auch um das arme Häuflein der Gerechten, das den Weltenbrand und die lange Nacht danach überleben würde - die Urahnen der Eisherrscher. Hier, am Ufer des Sees, hatte sie den Auserwählten neuen Lebensraum geschenkt, als sie sich zum ersten Mal wieder aus dem Meer erhob. Lebensraum und die Freundschaft ihrer geliebten Seeherrscher. Keine Sage, kaum ein Gebet, das die Freundschaft der Seeherrscher nicht pries. Elyshee kannte all diese Dic htungen auswendig. Und inzwischen, nach einundachtzig Schneeschmelzen, wusste sie aus eigener Erfahrung, dass die Eisherrscher die harten Winter ohne die Waale nicht überleben konnten. Damals nicht und heute nicht, wo Schwester Sonne die Eisgrenze Sommer für Sommer ein Stück weiter Richtung Untergang drängte. Das Rauschen der Brandung drang in ihr Bewusstsein. Der Wind zerrte an ihren Fellen und Haaren. Längst verstummt war das Gemurmel der Betenden. Elyshee hob die Arme und rief mit brüchiger Stimme den Segen aus: »Die sich aus dem Meer erhoben, bescheine eure Ausfahrt und Einfahrt!« »Jaouha!«, antwortete es aus vierhundert Kehlen. »Jaouha!« »Die uns die Freundschaft der Seeherrscher zugedacht, die uns die heißen Quellen geschenkt, die uns auserwählt hat, Eis und Seeufer zu bewohnen, härte eure Speer- und Pfeilspitzen, führe eure Schwerter und stärke eure Herzen!« Und wie ein Mann rief die Menge erneut: »Jaouha! Jaouha!« »Schwester Sonne wird eure Hände nicht zaudern, eure Füße nicht straucheln, eure Schiffe nicht sinken lassen, bis ihr eingeht zum immerwährenden Sonnentag!«
»Jaouha! Jaouha!« Elyshee legte die Hände vor der Brust zusammen und neigte den Kopf in Richtung der aufgehenden Sonne. Vierhundert Frauen, Kinder und Männer taten es ihr gleich. Ein paar Atemzuge lang verharrte die Menge so, bevor die alte Sängerin sich aufrichtete. Nach und nach erhob sich Gelächter und Stimmengewirr. Etwa sechzig Jäger schulterten Ledersäcke und Waffen: Speere, Schwerter, Bögen und prallvolle Köcher. Einige besonders kräftig gebaute Manner hievten schwere Äxte hoch. Angeführt von Cyleste und ihren beiden Töchtern lösten sich die Jäger aus der Menge. Begleitet von Schulterklopfen, flüchtigen Küssen, Geplapper und zärtlichen Gesten betraten sie den schmalen Pfad, der an Elyshee vorbei zu den Anlegestellen führte. Vor ihrer Mutter blieb Cyleste stehen und ließ sich umarmen. »Was ihr für die Seeherrscher tut, tut ihr für uns«, flüsterte ihr die Alte ins Ohr. Cyleste nickte, wischte sich eine Träne aus den Augen und beugte sic h zu den beiden Mädchen hinunter, küsste sie nacheinander und drückte sie dann von sich in die Felle der Alten. Danach sprang sie auf und rannte über den von getautem Schnee nassen Sand zu den Katamaranen. Die alte Elyshee umarmte jeden einzelnen Jäger und küsste ihn zum Abschied auf die Wange. Und jedem flüsterte sie etwas Persönliches ins Ohr. Sechs der meist jungen Männer hatte sie zur Welt gebracht, doch sie behandelte alle so, als wären sie ihre Söhne. Ikoreis und Nyoto hielt sie an den Ärmeln ihrer Fellmantel fest und zog sie zu sich. »Wer von euch beiden mir fünfhundert Ayritzenfelle bringt, wird Körens Nachfolge antreten und ein zweites Kind mit meiner Tochter zeugen«, raunte sie ihnen zu. Mit vielen anderen schloss sie sich dem Jagdzug an. Cyleste stand schon am Bug eines der Katamarane und sang. Die Waale draußen auf dem See brachen ihr Spiel ab. Wasserberge wälzten sich der Anlegestelle entgegen. Die schwertartigen
Rückenflossen von sechs Orgaras durchschnitten die Seeoberfläche. Die sechzig Jäger verteilten sich auf die sechs Katamarane. Sie verstauten Waffen und Gepäck und griffen zu den Paddeln. Nacheinander lösten sich die Boote vom Ufer, und als sie etwa einen Speerwurf weit davon entfernt waren und sich die Segel blähten, zogen die Jäger ihre Paddel ein. Knapp sechs Speerwürfe vor dem Strand drehten die Seeherrscher ab und glitten parallel der Küstenlinie langsam Richtung Sonnenuntergang. Sie warteten auf die Katamarane. Gefolgt von etwa hundertzwanzig Frauen, Kindern und Männern lief Elyshee am Ufer entlang. Sie rannten durch das flache Wasser, stampften durch den feuchten Sand und winkten, riefen und lachten. Die Katamarane steuerten auf den Kurs der Seeherrscher. Die Waale schwammen langsamer, und als die Boote sich ihnen bis auf wenige Speerlangen genähert hatten, stand in jedem Fahrzeug ein Jäger auf, schwang ein zusammengelegtes Ledertau über dem Kopf und schleuderte es bugwärts ins Wasser. Elyshee ließ sich von zwei Halbwüchsigen auf die Wasserröhre helfen, die in der Nähe der Dampfwolken hüfthoch aus dem Sand ragte. Eine Röhre aus mit gegerbter Waalhaut bespannten Delfisbrustkörben. Durch sie leiteten die Eisherrscher an vielen Stellen der langen Küste Wasser aus den heißen Quellen in den See. Auf diese Weise blieb er seit Generationen über eine Breite von fünfzig bis sechzig Speerwürfen eisfrei. Von der Röhre aus sah Elyshee, wie die Jäger die Segel einholten und die Katamarane an Fahrt gewannen. Die Orgaras hatten die Schlaufen am Ende der Taue mit ihren Zähnen gepackt und zogen die Wasserfahrzeuge. Die Katamarane entfernten sich rasch. Bald waren sie nur noch dunkle Flecken auf dem dunklen See, und schließlich
verschwammen sie ganz mit der Dämmerung. Eine Zeitlang konnten die Zurückbleibenden noch die eine oder andere Atemfontäne der Seeherrscher erkennen, dann erloschen auch sie im Einerlei von See und Himmel. Vier alte Sängerinnen begleiteten Elyshee auf die höchste der Dünen. Dort hatte man ein Zelt aus Reena-Fellen für sie aufgeschlagen. Ein Feuer brannte vor dem Eingang, und über dem Feuer hing an einem Gestell aus Metall ein verrosteter Topf. Wasser dampfte aus ihm. Daneben stand eine große tönerne Schussel, bis über den Rand mit Schnee gefüllt. Elyshee kroch in das Zelt und ließ sich hinter dem Eingang auf einem sesselartigen Gestell aus fellüberspannten Waalknochen nieder. Hier würde sie bleiben, nichts als geschmolzenen Schnee zu sich nehmen und beten und warten - bis Cyleste, die Jäger und die Eisherrscher zurückkehrten... *** Überall Schaum, überall Wirbel - Pfiffe, wohin sie lauschte, pfeilschnelle Schatten, wohin sie sich wandte. »Futter«, sangen die Schatten. »Fette Fische, schöne Spiele, Freundschaft, wir lieben dich...« Sie umkreisten ihren massigen Körper so blitzschnell, dass ihre Töne sie nicht treffen, ihr Echo nicht zu ihr zurückkehren konnte. »Wir lieben dich, Hanulesh«, sangen die Schatten, »schön, dass du da bist, Hanulesh«. Schossen durchs Wasser und spannten ihre tödlichen Netze. »Wir lieben dich, wir lieben dich...« Oh, wie sie diesen nachgeäfften Gesang, wie sie die schlauen Mörder hasste! Warum nur war sie dem verlockenden Gesang gefolgt? Warum hatte sie seine Verlogenheit nicht erkannt? Ausgerechnet sie - gehörte sie nicht zu den erfahrensten Seeherrschern? Hatte sie die Jungen nicht oft genug vor der Falle gewarnt, in die sie nun selbst hinein geschwommen war? Und nicht allein das: wehe, wehe! Eis und Nacht über sie! Drei
Junge und die Gefährtin ihres Sohnes hatte sie in die Todesfalle geführt! Hanulesh pfiff, kreischte, klickte, knurrte. Sie schlug mit der Schwanzflosse um sich, riss den Rachen auf, schnappte blind in alle Richtungen. Mehr aus Zufall erwischte sie hin und wieder einen der kleinen pelzigen Schatten. Und jedes Mal zermalmte sie ihn mit der Wut einer Verlorenen zwischen den Zähnen und verschlang ihn. Doch es waren zu viele, viel zu viele, und schon spürte sie, wie das klebrige Netz sich um ihre Rückenflosse zusammenzog. Wie ihr fettes Herz hämmerte - womm! womm! - ihr Brustkorb würde bald platzen - womm! womm! - ihr ganzer Körper war nur noch Herz, - womm! womm! Luft! Sie brauchte Luft! Sie richtete sich auf. Ihre Schwanzflosse schlug in den Sand, und im nächsten Augenblick hüllte eine Wolke sie ein, sie und die Schatten. Sie schoss nach oben, dem matten Licht entgegen. Die Schatten folgten ihr. »Gilesh!«, sang sie. »Wo bist du?! Du musst leben!« Das Echo ihrer Töne zauberte die Konturen der anderen in ihr Hirn: Ein riesiger Körper, größer als ihrer, wand sich zehn oder zwölf Längen von ihr entfernt in den Ausläufern der Sandbank etwa vier Längen unt er der Wasseroberfläche - Gilesh, die junge Gilesh! Wie träge ihre Bewegungen waren, wie kraftlos und vergeblich! Wie jämmerlich ihr Gesang! Das Netz zog sich um sie zusammen, ein Kokon aus Schaum hüllte sie ein, und vierzig, fünfzig Schatten schwirrten um sie herum durch das aufgeschäumte Wasser. »Weg«, wimmerte ihr ersterbendes Gepfeife, »nimm die Kinder und schwimm so schnell du kannst...« Hanulesh schraubte sich senkrecht nach oben, dem matten Licht entgegen. »Gilesh muss leben!«, sang sie. »Hanulesh will leben! Komm, Potterosh, komm jetzt!« Sie spürte den Widerstand des Netzes an ihrer Rückenflosse
zerren; sie bog sich, drehte sich, schlug mit Schwanz- und Brustflossen um sich, sie bohrte sich dem matten Licht und der Seeoberfläche entgegen. Luft, endlich Luft! Sie versprühte ein Stakkato von Pfiffen: »Sie haben deine Gefährtin! Komm schnell, Potterosh, komm oder Gilesh stirbt!« Die Schatten hängten sich an ihre Brustflossen, spannen ihr Netz um ihren Bauch, schlitzten ihre Haut auf. »Kinder!«, sang sie. »Meine Kinder, wo seid ihr?! Flieht, flieht!« Kein Echo kam zurück, nirgendwo der Gesang ihrer Zwillinge, nirgendwo das dunkle Brummen von Gileshs Erstgeborenem! Hanuleshs Lungen brannten, gleich würden sie platzen, gleich würde ihr Herz zerspringen! Sie tobte, schlug Saltos, drehte Pirouetten, schnappte um sich und biss doch nur ins Wasser. Das Licht, das Licht, o komm endlich, Licht! Sand und Schaum um sie herum, und die Schatten allgegenwärtig - ewige Eisnacht über sie! Zwei krallten sich an den Algen und Muscheln entlang ihres Unterkiefers fest, einer bohrte seinen mörderischen Finger in ihr Auge. Sie schüttelte sich, warf den Schädel hin und her, doch vergeblich: Ihren Augapfel in den Klauen, trudelte der Schatten in die Finsternis des Seegrundes zurück und zog eine Spur von Blutschlieren durch den Schaum. Wie sie pfiff, wie der Schmerz aus ihr heraus schrillte! Sie schoss aus dem Wasser und trompetete ihren Jammer in die Morgendämmerung. Aber Luft, endlich Luft! Mit einem Seufzen wie aus hundert menschlichen Kehlen blies sie schäumendes Wasser und heiße Luft aus dem Atemloch. Sie drehte sich. Der Himmel sah aus wie schmutzige Gischt und die Sonne wie ein in Blut zerquetschtes Auge, und die Fontäne brach über ihr zusammen. Ihr Atemloch dehnte sich, während sie in hohem Bogen durch Schaum und Morgenluft flog - aber nicht die Morgenluft strömte in ihre Lungen. Etwas anderes rutschte in ihr Atemloch, etwas Pelziges: Die Mörderschatten schnitten ihr den Atem ab! Nicht wie ein lebendiger Seeherrscher - wie der abgeschmolzene
Brocken eines Gletschers klatschte sie ins Wasser. Die Luftnot raubte ihr jede Orientierung. Ihre Lungen, ihr Hirn drohten zu reißen. Instinktiv presste sie ihr Atemloch zusammen, presste und presste und stieß den zerdrückten Schatten mit letzter Kraft aus sich heraus. Und noch einmal hinauf, noch einmal ans Morgenlicht. Wie schwer ihr Körper sich anfühlte, wie heiß und wie lahm! Röchelnd sog sie die Luft in sich hinein. Einäugig blinzelte sie über den See. Schatten dicht unter der Wasseroberfläche, überall Blasen und Schaum, pelzige Köpfe tauchten auf, gierige Augen blitzten sie an, Netze in schwarzen knochigen Klauen; ihr schrilles Gemecker und Gekreische raubte Hanulesh jede Orientierung. Die Ayritzen schienen sie auszulachen, einige wagten sich nahe an ihren Schädel, streckten den Stechfinger nach ihrem zweiten Auge aus. Hinter ihnen, sieben, acht Längen entfernt stieg die Sandbank aus dem See. Und in der Brandung wimmelte es von Mörderpelzen. Das Netz in hundert Klauen zerrten und zogen sie, und der mächtige Schädel eines Seeherrschers tauchte aus den Fluten auf und bewegte sich ruckartig der Sandbank entgegen. »Gilesh!«, sang Hanulesh. Sie wollte abtauchen, mit der Schwanzflosse den Schattenschwarm hinter sich zerschlagen aber mehr als ein schlaffes müdes Wedeln brachte sie nicht mehr zustande. Das Netz! Das klebrige Netz spannte sich schon zwischen ihren Brustflossen und ihrer Schwanzflosse; das widerliche, das tödliche Netz. »Leb wohl, Gilesh«, sang sie; und: »Wo seid ihr, meine Kinder?«; und: »Potterosh, o Potterosh, mein Sohn! Warum kommst du so spät...!« *** »Wir sind da.«
Aikos ruhige Stimme drang in Aruulas Traum. Sie schreckte hoch und riss die Augen auf. »Da...?« Mehr als ein Krächzen brachte sie nicht zustande. Bei Wudan - was für einen Durst sie hatte! Sie richtete sich auf, blickte aus dem Gondelfenster und sah nur Eis: Eisgipfel, Eistäler, Eishänge, Eisschluchten - Eis, so weit ihr Auge blickte. Über ihr hing der silbergraue Rumpf des Luftschiffes. Die Wolkendecke war an manchen Stellen aufgerissen, und dahinter leuchtete der Himmel in der Farbe blankgeputzter Schwertklingen. In Flugrichtung hing ein Dunststreifen über dem Horizont, und darüber stand die Morgensonne - eine rote flimmernde Kugel. Für einen Atemzug durchperlte Aruula etwas wie Glück, und noch einmal spürte sie die Geborgenheit, die sie aus ihrem Traum mitgenommen hatte; sie hatte geträumt, in einem Kanu und auf den Schoß ihrer Mutter gekuschelt dem Strand von Kalskroona entgegen zu fahren. »Wo sind wir?« Sie begriff nicht, was Aiko meinte, und blickte ihn an. Seine Kaumuskeln pulsierten, sonst war sein Profil eine Maske aus gelblichem Stein. »Wir sind exakt an der Stelle, an der das Objekt vom Radar verschwand.« Er sagte nicht Maddrax, er sagte das Objekt. Aruula glaubte zu verstehen. Sie blickte aus dem Seitenfenster. Keine Spur der Bestie, keine Spur von Maddrax. »Wie hoch fliegen wir?« »Zwanzig Speerwürfe. Wir sinken bereits seit einigen Minuten.« Als wollte er vermeiden, ihrem Blick zu begegnen, starrte Aiko auf den Höhenmesser. »Die Echse muss plötzlich abgesackt sein; anders kann ich mir nicht erklären, dass sie so schnell vom Radar verschwand.« Seine Hände flogen über die Instrumentenkonsole. Er schaltete den Bodenradar ein. Für einen Augenblick hatte Aruula das Gefühl, der Sitz unter ihr würde sich auflösen und sie in einen bodenlosen Abgrund stürzen. ›Wir werden ihn nie wieder finden, nie wieder...‹ Sie
schnallte sich los und stand auf. Nur nicht daran denken. »Und jetzt?«, krächzte sie. Dieser verdammte Durst... An fünf Sesselreihen vorbei tastete sie sich zum Heck der Gondel. Dort gab es Stauraum unter und über den Fenstern, Schränke mit Proviant, Ersatzkleidung und Geschirr, eine kleine Truhe, in der es immer kühl war, Werkzeug - und zwei große Wasserkanister. »Wir fliegen weiter in dieselbe Richtung«, sagte Aiko. »Irgendwann wird der Drache ausruhen müssen. Mit der Thermo-Optik meiner bionischen Augen werden wir alles dort unten entdecken, das noch Wärme abstrahlt.« Aruula wusste zwar, dass »Thermo-Optik« ein elektronischer Zauber war - so nannte sie das bei sich selbst -, aber sie hatte nur eine vage Vorstellung davon, wie es funktionierte: Sehen in der Nacht, Wahrnehmen von Wärme und so weiter. Sie öffnete einen der unteren Schränke. »Du glaubst, er is t tot, nicht wahr?«, fragte sie. »Ich hoffe, er lebt noch«, sagte Aiko knapp. »Und ich glaube, dass er lebt«, sagte sie trotzig und kramte in dem Fach über den Wasserkanistern nach dem Kunststoffbecher, den sie dort hineingeworfen hatte, nachdem sie sich vor dem Schlaf zum letzten Mal mit Wasser abgefüllt hatte. Zusammen mit ihm fiel ein durchsichtiger Plastikbeutel mit Lederhandschuhen auf den Boden. Aruula warf sie zurück in den Stauraum und drehte den Hahn des Wassertanks auf. »Wir werden ihn finden.« Plätschernd rann das Wasser in den Becher. Sie betrachtete ihre Rechte. Irgendetwas stimmte nicht, mit der Hand. Hinter sich hörte sie das Klappern der Tastatur. »Von der Stadtsphäre bis hierher hatte die Echse einen Kurs wie mit dem Lineal gezogen«, sagte Aiko. »Sie flog keine Schleifen, wich keinen Turbulenzen aus.« Der Becher lief über, das Wasser tropfte auf ihre Hand. Aruula erwachte aus ihrer Erstarrung und drehte den Hahn zu. Was war mit ihrer Haut los? Die Hand mit dem Becher zitterte. Ihre Haut
hatte einen deutlichen Grünstich. Und sie war trocken - als hätte sie das Wasser sekundenschnell aufgesogen! »Wenn ich die Gerade zwischen der Stadt und unserem Standpunkt verlängere, führt sie über den Großen Bärensee zur Küste.« Aiko schien mit sich selbst zu sprechen. »Ich kann mir nicht erklären, was ein thermophiles Wesen im Nordpolarmeer sucht, aber ich werde auf diesem Kurs bleiben.« »Ja.« Aruula hatte nur mit halbem Ohr zugehört. »Tu das, mein Liebster...« Sie hielt die Linke neben die Hand mit dem Becher - sie war ebenfalls grünlich, und zwar so unverkennbar, dass die Barbarin unwillkürlich aufblickte und nach einer grünen Lichtquelle suchte. Die LED-Leuchten an den Rändern der Gondeldecke verbreiteten ein eher weißes Licht. Die Haut ihrer Hände aber war grün; von den Fingerkuppen bis zu den Handgelenken. »Na und?«, murmelte sie. Sie leerte den Becher in einem Zug, griff gleichzeitig nach den eingeschweißten Handschuhen und riss die Plastikfolie auf. Vier Paar Handschuhe. Ohne lange zu überlegen streifte sie sich die kleinsten über, schwarze Handschuhe aus Wildleder, und sie passten. Grüne Hände - warum nicht? Sie füllte den Becher ein zweites Mal, leerte ihn und stand auf. Aiko hatte sich umgedreht und musterte sie prüfend. Seine dunklen Augen hielten ihren Blick fest. »Was hast du da eben gesagt?« Er sprach leiser als sonst und betonte fast jede Silbe. Aruula war verwirrt. Was hatte sie denn gesagt? »›Tu das‹, hab ich gesagt. Warum?« ›Ihre Nerven‹, dachte Aiko. ›Sie ist in Gedanken bei Matt, deshalb hat sie »Liebster« gesagt...‹ Von Sitz zu Sitz tastete Aruula sich zum Sessel des Copiloten. Aiko starrte auf ihre Hände. »Warum trägst du Handschuhe?«, fragte er. »Es ist kalt hier drinnen, findest du nicht?« Aruula ließ sich in den Sessel fallen. Aus den Auge nwinkeln nahm sie Aikos
Blicke wahr. ›Ich muss Handschuhe tragen, weil mir kalt ist, na und? Also gut: Ich hab grüne Hände. Kein Problem, aber besser, er sieht es nicht. Wir haben genug Schwierigkeiten, oder etwa nicht...?‹ »Was tun wir jetzt?« Sie sah ihm ins Gesicht. Ein schöner Mann eigentlich. Sie hätte ihn gern geküsst. Und gleichzeitig erschrak sie über den Gedanken. Was war mit ihr los? Maddrax war verschwunden, vielleicht tot, und sie wünschte sich einen anderen Mann zu küssen? ›Grüne Hände, Durst wie ein Wakuda und scharf auf einen anderen Mann - drehst du langsam durch?‹ Sie biss die Zähne zusammen und lächelte, um ihre Panik vor ihm und vor sich selbst zu verbergen. »Warum antwortest du nicht? Ich will wissen, was wir jetzt tun sollen.« Der Cyborg wandte sich ab, etwas zu abrupt, wie Aruula fand. Er bediente ein paar Schalter und starrte dabei auf das Display des Navigationsrechners. »Wir halten den Kurs, gehen auf unter zweihundert Meter und suchen den Boden ab«, sagte Aiko. »Du glaubst nicht mehr, dass er noch lebt, stimmts?«, fragte Aruula. Der Cyborg überhörte die Frage. »Du glaubst, er ist tot, gibs doch zu.« »Ich wünsche mir, dass ich mich täusche.« Heiser klang Aikos Stimme plötzlich. »Ich wünsche mir, ihn lebend zu finden. Genau wie du. Aber wir müssen den Fakten ins Auge sehen, Aruula, wir müssen auf das Schlimmste gefasst -« »Still!« Ihr Herz krampfte sich zusammen. »Er lebt, Aiko, er lebt...!« Der Cyborg schwieg. Abwechselnd beobachtete er die digitale Geschwindigkeitsanzeige und den Höhenmesser. Siebzehnhundert Meter zeigte er an. »Er schafft es, Aiko, glaub mir, Maddrax schafft es.« Aiko blickte zum Seitenfenster hinaus. Die Eisschlucht unter ihnen sahen aus wie ein Strom aus Teer. Er sagte kein Wort.
»Du kennst ihn nicht.« Aruula beugte sich zum Pilotensitz hinüber und packte Aikos Oberarm. »Ich kenne ihn, glaub mir. Du machst dir keine Vorstellungen davon, wie zäh er ist...« »Schon möglich«, murmelte Aiko. *** Als er sich aus den schäumenden Wogen erhob und die Morgensonne hinter dem Wasserschleier seiner Atemfontäne leuchten sah, schöpfte Potterosh Hoffnung. »Gib mir Kraft«, pfiff er. »Gib mir Kraft, Schwester Sonne!« So prallvoll sog er sich mit der Morgenluft, dass seine Lungen schier barsten. Und wieder hinein in die Fluten, und weiter. In flachem Winkel pflügte er dem Seegrund entgegen, achtzehn oder neunzehn Längen hinab, bevor Schlammschlieren ihn einhüllten und Seegras gegen seinen Bauch peitschte. Er spürte es kaum, so konzentriert lauschte er. Stille zunächst, bange Stille. Er fieberte nach der Stimme seiner Mutter. »Sing, Hanulesh!« Er wartete auf den Gesang seiner Gefährtin. »Sing, Gilesh, sing!« Ein Wald aus Seegras teilte sich vor ihm, Fischschwärme stoben ein, zwei Längen vor seinem Schädel auseinander, Schlammwolken stie gen hinter seiner Schwanzflosse aus dem Grund. Keine Antwort aus der Dunkelheit vor ihm. Sein Körper vibrierte vor Erwartung und Angst. Das Letzte, was er gehört hatte, war das ›Zu spät‹ seiner Mutter und kurz darauf ihr ›Leb wohl‹. Er glaubte es nicht, wo llte es nicht glauben. Weiter schwang sich sein gewaltiger Leib durch das Wasser. Niemals würde er es glauben...! Und dann, viele Längen später, Gesang. Die liebliche Stimme seiner Gefährtin. »Komm, Potterosh, komm! Die Netze zerreißen, Potterosh, wir scha ffen es, komm!« Es war, als würde der Paukenschlag seines Herzens sich in
Kraft verwandeln. Wut und Hoffnung fegten die bange Starre aus seiner Muskulatur. Seine Rückenflosse erzitterte, sogar in den Spitzen seiner Schwanzflosse pulsierte die Hoffnung. Wie ein riesiger, von Kraft und Willen geschwollener Speer fegte er über den Seegrund dahin. »Ihr lebt!«, sang er. »Schwester Sonne sei Dank! Ihr lebt!« Und wieder die Stimme seiner Gefährtin: »Wir sind frei, Potterosh, wir fliehen, aber die Schatten verfolge n uns! Komm schnell, komm uns zur Hilfe!« Nur kurz dachte er an die Kinder, nur kurz fragte er sich, warum er die Stimme seines Sohnes nicht hörte. Und warum sang Hanulesh, seine Mutter nicht mehr? Doch die Hoffnung berauschte ihn; da war ja die Stimme der Gefährtin, also lebten sie! »Komm uns entgegen, Potterosh, komm!« Wie schön der Gesang seiner jungen Gilesh, wie verlockend! Kräftiger schwang seine Schwanzflosse, geschmeidiger bog und streckte er sich. Wut und Hoffnung brannten Bilder in sein Hirn, die Kräfte freisetzten, von denen er bisher kaum geahnt hatte, dass er sie besaß. Schon schuf das Echo seines Gesangs die Konturen der ansteigenden Sandbank in seinem Hirn; vierzig, höchstens fünfzig Längen entfernt. Und auf einmal, völlig unerwartet, der zitternde Gesang seines Sohnes: »Flieh, Potterosh, flieh!« Ein paar Herzschläge lang trieb er wie erstarrt über den Seegrund. Und wieder: »Flieh, Potterosh!« Es war der Gesang eines Verlorenen, und er riss Potterosh aus seiner Lähmung. Panik und Hass trieben ihn voran, der Sandbank entgegen. Er brüllte seinen Wutgesang ins Halbdunkel hinein. Das Echo zauberte das Bild der nahen Sandbank in sein Hirn - er »sah« eine zuckende Schwanzflosse sieben Längen entfernt knapp unter der Wasseroberfläche, den leblosen Leib seiner Gefährtin fast zwölf Längen entfernt und nur noch halb unter Wasser, und schließlich die kleineren Körper der Kinder über zwanzig
Längen entfernt und ebenfalls völlig reglos. Und trotzdem sang Gilesh: »Wir haben es geschafft! Gut, dass du da bist, Potterosh...!« Betrug! Er sang sein Entsetzen hinaus, und schlagartig schickte ihm das Echo die Bilder der Schatten ins Hirn: Dutzende tauchten ihm entgegen, dicht gestaffelt in drei oder vier Jagdreihen. Eine Falle! Potterosh bäumte sich auf. Auch von hinten kamen sie, und von links und rechts. Er schraubte sich nach oben, stieg aus dem Wasser, blies seinen Atem in den Himmel, drehte sich, saugte sich voll und fiel seitlich in den See zurück. Steil nach unten bohrte er sich, blies die Luft aus, stieg wieder hinauf, atmete erneut ein, tauchte und blies die Luft ins Wasser. Ein weites Netz aus Schaum und Luftblasen hüllte ihn ein und verbarg ihn vor den Augen der Schatten. Gescheitert, betrogen, in die Falle geschwommen - die Wahrheit wollte ihm den Lebenswillen rauben. Allein der Gedanke an seine Sippe verbot es ihm, aufzugeben. Sein Leben gehörte nicht nur ihm, es gehörte der Gemeinschaft der Seeherrscher. Also blies er einen Blasen- und Schaumschleier nach dem anderen ins Wasser, sprang, atmete und tauchte, wieder und wieder. Bei letzten Sprung sah er auf der entfernten Sandbank Schädel und Rückenflossen seiner Mutter und seiner Gefährtin. Er sang seinen Schmerz in den neuen Tag, seinen Schmerz und den letzten Gruß an die Geliebten. »Hanulesh wird nie vergessen werden! Gilesh wird immer geliebt sein...!« Dann tauchte sein mächtiger Leib in den See ein. Die Schatten waren ihm zur Oberfläche gefolgt. Nur zwei Längen unter ihm zog sich ihr dichter Pulk zu einem Ring zusammen. Die ersten stießen schon die Netzfäden aus und schossen in ihrem ruckartigen Zickzackkurs hin und her, in dem sie sich immer
dann bewegten, wenn sie das tödliche Netz spannen. Potterosh blies die Luft aus und bohrte sich durch das Zentrum des Jagdringes, wo er die geringste Dichte der Mörderschatten ortete. Er schnappte um sich, packte drei oder vier, zerbiss sie und spuckte die blutenden Leiber aus. Er bog sich, änderte mit jedem Flossenschlag den Kurs, um dem Netz auszuweichen, und so gelang es ihm, unter den Schatten weg zu tauchen. Potterosh nahm Kurs aufs Eis. Es war noch über hundertdreißig Längen entfernt. Die Schatten verfolgten ihn; sie waren flinke Taucher. Doch sie mussten viel öfter wieder an die Wasseroberfläche, um zu atmen. Mehr und mehr blieben sie zurück. Aber sie gaben nicht auf. Hartnäckig verfolgten sie ihre Strategie: Hetzjagd, bis die Beute erschöpft an der Wasseroberfläche trieb. Bald ortete Potterosh den schmalen Streifen Eisschollen über sich und ein Stück weiter die dünne Bruchkante. Noch einmal tauchte er auf, um Luft zu holen. Danach floh er unter die geschlossene Eisdecke, halb besinnungslos von Schmerz und Hass. Dorthin folgten die Mörderschatten gewöhnlich nicht. Wie sollten sie unter dem Eis zum Atem auftauchen? Es wäre ihr Tod gewesen. *** Es war der 8. Februar 2012, und Commander Matthew Drax setzte seine F-17 Alpha 2 auf einem von Eisklippen umgebenen Schneefeld auf. Die Cockpit-Kuppel war weggesprengt, weil sich Minuten zuvor sein Copilot Professor Dr. Smythe mit dem Schleudersitz gerettet hatte, und eine Wolke aus Schnee und Eispartikeln fegte dem Commander ins Gesicht. Er schloss die Augen und wusste noch nicht, dass der verdammte Komet ihn durch einen Zeitriss um fünfhundertvier Jahre in die Zukunft geschleudert hatte.
Als er sie wieder aufriss, wusste er es: kein Jetbug, kein Staurohr weit und breit und schon gar keine Steuersäule oder Armaturen. Statt in den Gurten eines Pilotensitzes hing er in den schuppigen Klauen eines Flugreptils, wie es in keinem zoologischen Standardwerk verzeichnet war, und statt eines Winterhimmels breiteten sich über ihm dick geäderte Flughäute aus. Schnee und Eispartikel allerdings fegten ihm trotzdem ins Gesicht, wie damals, als er in dem Eisgebirge dieser postapokalyptischen Welt notgelandet war. Ein Eisgebirge, dass sich später als die italienischen Alpen herausstellte. Das Biest flog so dicht über dem Boden, dass sein Fischschädel und seine Flügelspitzen über das Eis und durch verkrustete Schneehalden scheuerten; und Matthew Drax' Stiefel und Knie leider auch. So schnell hatte der Mann aus der Vergangenheit noch nie einen Traum abgeschüttelt. Geistesgegenwärtig und mit letzter Kraft machte er ein Hohlkreuz und bog Beine und Brust nach oben, um die schmerzhaften Berührungen mit Eis und Schnee zu vermeiden, und legte die Handflächen vor die Augen. Wie Glassplitter prasselten die Eispartikel ihm gegen Stirn und Handrücken. Wollte das Reptil landen, oder was war geschehen? Für einen Augenblick ebbten Eis- und Schneeböen ab, und Matt nahm die Hände vom Gesicht. Das Flugwesen torkelte hin und her. Keine Landung also, »Maschinenschaden« - nach einer Notlandung sah das alles aus. Bis auf Schneeverwehungen hier und da erschien ihm die Eisfläche auffallend eben. Es war relativ hell, und die Klauen um seine Taille kamen ihm nicht mehr so heiß vor wie noch vor Minuten oder Stunden, als er zum letzten Mal aus seiner Ohnmacht in eine Art Halbschlaf gedämmert war. ›Ausgekühlt‹, dachte er, ›das Vieh ist ausgekühlt... Es kann nicht mehr, stürzt ab...‹
Die Eiswelt schwankte. Das Biest bog seinen Schädel in den Nacken und stieß ein Röcheln aus, und diesem Moment sah Matt, dass es auf eine fünfzig, sechzig Meter entfernte Schneeverwehung zuflog. Wieder sackte es ab, und seine Greifklauen unter Matts Körper kratzten über Eis und durch Schnee. Kalte Gischt hüllte ihn ein. Matt schrie und barg das Gesicht in den Armen. Dann knirschte es, der Druck um seine Hüften ließ schlagartig nach, sein Körper prallte in nasse Kälte, überschlug sich, rutschte rücklings erst durch einen Schneehügel, rollte über Eis, und blieb schließlich auf dem Bauch liegen. Erst realisierte er gar nicht, was geschehen war; mehr einem Fluchtimpuls als seiner Neugier folgend hob er den Kopf: Das Reptil schlug mit seinen mächtigen Flughäuten. Halb flatterte, halb stolperte es über das Eis. Noch einmal stieß es sich ab, gewann sogar ein wenig an Höhe, trudelte aber bald wieder der Eisfläche entgegen, prallte etwa dreihundert Meter von Matt entfernt auf, überschlug sich ein paar Mal und blieb schließlich auf der Seite liegen. Matt wimmerte wie im Fieber, als er sich aufrappelte. Kein Nervensystem ist unbegrenzt belastbar, weiß Gott! Und war der Mann aus Riverside etwa ein Roboter? Nein, ganz und gar nicht. Hüften und Rücken taten ihm weh, seine Kniegelenke fühlten sich an wie mit heißen Re ißnägeln gefüllt, und statt in der Brust schien im das Herz im Schädel zu klopfen. Rückwärts stolperte er durch die aufgepflügte Schneeverwehung. Die Lavabestie schlug noch mit einem Flügel auf das Eis, ihr knotiger Schwanz zuckte, und sie versuchte den Kopf zu heben. Fast sah es aus, als würde sie hinter ihrem Opfer herlinsen, als suchte sie Hilfe. Matt rannte los, schlug lang hin, rappelte sich auf und lief weiter. So schnell er eben konnte. Jetzt erst begann er seine Umgebung wenigstens beiläufig wahrzunehmen. Eis natürlich, überall eine ebene, geschlossene Eisdecke. Überall? Nein - in
der Ferne glaubte er Berge zu erkennen, die sich nur schemenhaft gegen den Himmel abhoben. Davor schien, von Nebel verhüllt, ein dunkles Band zu liegen, in dem weiße Flecken schwammen. Eisschollen in einem Fluss? Er schlug diese Richtung ein. Zu den anderen drei Seiten war nichts als eine endlose weiße Ebene bis zum Horizont. Jedes Mal, wenn er stolperte, blickte er zurück. Wasserdampf stieg von der Bestie auf. Offensichtlich strahlte sie noch Resthitze ab. ›Ihr Leben dampft aus ihr heraus‹, dachte Matt. Als die Kreatur sich überhaupt nicht mehr bewegte, blieb er stehen. Vierhundert Meter mochten ihn jetzt von der Lavaechse trennen. Dampfschleier verhüllten sie allmählich. Dennoch sah Matt deutlich, dass der riesige Körper ein Stück abgesackt war; der Druck und die gestaute Hitze beschleunigten noch die Eisschmelze direkt unter dem sterbenden Tier. In diesem Moment wurde Matt bewusst, dass er zitterte. Es war kalt, verdammt kalt. Er sah zu den fernen Bergen hin. Würde er diese Strecke überhaupt schaffen? Und was dann durch diesen Fluss schwimmen? Im eiskalten Wasser würde seine Lebenserwartung - optimistisch geschätzt - bei drei Minuten liegen. Aber blieb ihm eine Wahl? Er konnte schlecht hier stehen bleiben und auf den Tod warten. Und was waren schon drei Minuten Qualen gegen Stunden langsamen Erfrierens? Matt ging in die Hocke und kratzte verharschten Schnee vom Eis. Er hatte höllischen Durst. »Was ist das überhaupt für ein Fluss?«, murmelte er, während er sich den Schnee in den Mund steckte. »Wo bin ich hier...?« Er versuchte das Zittern unter Kontrolle zu bringen und sich die Geographie von Nordkanada ins Gedächtnis zur rufen. ›Eine untypische Anstrengung für einen, der sich gerade überlegt hat, ob er lieber schnell oder lieber langsam sterben will‹, dachte er und musste wider Willen kichern. Plötzlich erklang ein dumpfes Knirschen. Das Eis vibrierte.
Der Schmerz fuhr Matt ins Kreuz, als er aufsprang. Gekrümmt stand er da, als sei er schon fest gefroren. Wieder vibrierte das Eis. »Himmel... was ist das?« Lauf, schrien alle seine Instinkte, lauf so schnell du kannst... aber sein geschundener Körper streikte; der Schreck lähmte ihn, und wohin hätte er laufen sollen? Dann ertönte hundertfaches Splittern und Krachen um ihn herum. Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Matt glitt auf den Bauch, stützte sich auf die Ellenbogen und blickte zurück zu dem Drachen. In den Dampfschwaden, die ihn umgaben, türmten sich Eisplatten wie zerbrochene Glasscherben schräg in den Himmel. Und plötzlich sackte der massige Körper nach unten weg. Matthew stützte sich auf beide Hände und sah noch, wie die Hinterläufe der Echse für Sekunden starr in die Dampfwolke ragten, bevor sie zur Seite fielen. Die Eisplatte, auf der die Echse lag, drehte sich auf die Seite und versank zusammen mit dem Lavawesen. Und breite Risse rasten durch das brechende Eis! Matt spurtete los. Der Eisboden schwankte unter seinen Sohlen, und als er ausglitt und ein Stück über die glatte Fläche rutschte, merkte er, dass er sich auf einer Scholle befand. Das Durchschmelzen der Echse hatte das Eis über Hunderte von Quadratmetern in viele kleine und große Stücke brechen lassen. Alle drifteten sie in Richtung des Gewässers auseinander. Die, auf der sich Matt bewegte, war etwa so groß wie ein BasketballFeld. Als er ihren Rand erreichte und in Richtung der Berge blickte, erkannte er seinen Irrtum. Es war kein Fluss, der zwischen ihm und dem rettenden Land lag und von Nebelschwaden verhüllt wurde. Es war ein eisfreier Teil des Sees, auf dem er sich befand, mindestens fünf Kilometer breit. Diese Strecke würde er niemals schwimmend zurücklegen können.
Ihm sank der Mut. Er kniete sich nieder und schöpfte Wasser mit der Hand. Es schmeckte leicht salzig, ganz leicht nur, und er trank. Es war so kalt, dass ihm die Zahne wehtaten. Als die Kälte durch den Stoff seiner Uniformhose drang und ihm wie mit Nadelstichen malträtierte, erhob er sich wieder und sah sich um. Er war nicht der Typ, einfach aufzugeben. Irgendwie ging es immer weiter. Und tatsachlich: Hinter den nächsten Eisschollen glaubte er jetzt knapp achtzig Meter entfernt eine Sandbank aus dem Wasser ragen zu sehen. Matt erkannte ein paar längliche Schneeverwehungen und bräunliche Grasbüschel. Der größte Teil der Sandbank lag im Nebel. Er stand auf, trat ein paar Schritte zurück, lief an und sprang auf die benachbarte Eisscholle und von dort auf die nächste. Auf diese Weise gelangte er bis zur Sandbank. Vollkommen erschöpft sank er dort auf den feuchten Grund. Endlich wieder Boden unter den Füßen! Achtzig, neunzig Meter weit erstreckte sich die Sandbank nach links - nach Norden, wie Matt annahm -, bevor sie im Nebel verschwand. Rechts sah er schemenhaft zwei dunkle Hügel im milchigen Dunst, seltsam steil und gleichmäßig geformt. Er wankte durch Sand, Kies und Schnee darauf zu. Seine Zähne schlugen gegeneinander; er zitterte am ganzen Körper. ›Zwei Stunden‹, dachte er, ›noch zwei Stunden in dieser Kalte, höchstens zweieinhalb, dann lege ich mich einfach hin und schlafe ein; für immer...‹ Wahrscheinlich narrte ihn sein Zeitgefühl, aber er brauchte sicher eine halbe Stunde, bis er den Hügeln nahe genug kam, um zu erkennen, dass es keine Hügel waren. Es waren Wale, tote Wale! Die Luft über dem Kadaver, der ihm am nächsten war, flimmerte, und Dampf stieg von der Haut des mindestens fünfundzwanzig Meter langen und drei oder vier Meter hohen Giganten auf. Das Tier war schwarz und hatte einen klobigen
Schädel, in dem Matt spitze Reißzahne wie die eines Krokodils erkannte. Offenbar eine Mutation, so wie fast die gesamte Tierwelt des Planeten mehr oder weniger mutiert war. Knapp hundert Meter weiter lag ein zweiter, etwas kleinerer Kadaver, und nahe am Eis entdeckte Matt ein riesiges Walskelett. Über vereinzelte Grasbüschel und viele Schneebretter stolperte er dem toten Tier entgegen. Dessen Rachen stand weit auf, und man konnte seine spitzen langen Zähne und die violettfarbene Zunge sehen. Der Dampf umgab es wie ein lebendiger Schleier. ›Es kann noch nicht lange tot sein‹, dachte Matt, ›es strahlt noch Warme ab...‹ Wärme - wie sehnte er sich nach Wärme! Zitternd schleppte er sich zu dem Wal. Matt achtete nicht auf den Boden; er sah nur den Dampf und die flimmernde Luft über dem gigantischen Rucken. So wäre er fast gestolpert, als sich seine Stiefelspitzen in einem grobmaschigen Netz verfingen, das aus feinem, fast durchsichtigen Material bestand und an vielen Stellen zerrissen war. Ein Netz?! Also war der Wal von Fischern gejagt worden! Die Frage lautete nur: Waren diese Walfänger in der Nähe, oder hatte er es Ewigkeiten mit sich herumgeschleppt, bevor er hier verendet war? Eine Frage, die Matthew hier und jetzt nicht beantworten konnte. Also schüttelte er die Maschen ab, kletterte über die Zahne des Unterkiefers und ließ sich in den Rachen des Kadavers rollen... *** Nebel verdeckte den Blick auf die Sandbänke. Ikoreis kniete mit Cyleste am Bug des Katamaran und deutete auf die Nebelbank. »Dahinter«, sagte er. »Noch dreiundvierzig Speerwürfe entfernt.«
Nicht einmal ein Ausläufer der Sandbank war zu erkennen, und trotzdem zweifelten weder Cyleste noch Nyoto an Ikoreis Behauptung. Ob bei Nebel oder wahrend der Nacht - viele Jäger der Eisherrscher wussten immer genau, wo sie sich befanden. Sie verfügten über eine Art inneren Orientierungssinn. »Überlegen wir genau, wie wir angreifen«, sagte Cyleste. »Wir sind es unseren Stämmen schuldig, so wenige Jäger wie möglich zu verlieren. Was schlagt ihr vor?« »Der Nebel ist ein Geschenk von Schwester Sonne«, sagte Nyoto. »Die Ayritzen werden in ihren Erdlöchern liegen und sich von der Jagd ausruhen; einige haben vielleicht schon damit begonnen, die Ermordeten zu zerlegen. Der Nebel wird uns verhüllen, sodass sie uns erst entdecken, wenn es zu spät ist.« »Ich wünschte mir, du wurdest Recht behalten«, sagte Ikoreis. »Wir müssen so viele töten wie nur möglich. Teilen wir uns in zwei Gruppen...« Sie schmiedeten ihren Plan. Danach holten sie die Taue ein, und Cyleste schickte die Orgaras weg. Mit Paddeln und Segeln steuerte die kleine Flotte in sicherer Entfernung von der Nebelbank die Eisfläche an. Dort stiegen dreißig Jäger aus den Booten. Unter Nyotos und Cylestes Führung sollten sie vom Eis her auf die Sandbank vorstoßen. Die andere Hälfte der Strafexpedition verteilte sich auf die sechs Katamarane. Fünf Fahrzeuge würden unter Ikoreis Führung in den Nebel eindringen und auf der Sandbank landen, sobald die Besatzung Cylestes Gesang hörte. Ein sechster Katamaran mit acht Bogenschützen an Bord hatte den Auftrag, die Sandbank zu umschiffen und flüchtenden Ayritzen den Weg über die schmale, zum Ufer hin in den See reichende Sandzunge abzuschneiden. Schweigend saß Ikoreis auf der vordersten Paddelbank seines Katamarans. Er stützte sich auf seinen Speer und blickte in den Nebel. Hinter ihm tauchten die Jäger geräuschlos die Paddel ins Wasser. Langsam glitten fünf Katamarane der Nebelwand
entgegen. Es war fast windstill, und der Nebel würde sich eher noch verdichten. Ikoreis brannte darauf, die gefräßigen Ayritzen anzugreifen. Nicht nur, weil er sich geschworen hatte, fünfzig Pelze zu erbeuten - nicht nur also, weil er Körens Nachfolger werden und Cyleste ein zweites Mal begatten wollte -, sondern weil er die mörderischen Raubpelze hasste. Mit jedem Seeherrscher, den sie töteten, vernichteten sie auch ein Stück der Lebensgrundlage seines Volkes. Er wusste, dass er nichts überstürzen durfte. Ein guter Jäger konnte vor allem eines: warten. Und jetzt galt es zu warten. So lange eben, wie eine Jagdrotte brauchte, um unbemerkt dreiundvierzig Speerwürfe weit über Eis zu schleichen... *** Das Feuer brannte. Matt hatte schon nicht mehr geglaubt, dass er es schaffen würde, aber jetzt brannte es doch. Die uralte Drillbogenmethode mal wieder, ein Hoch auf die Indianer, und ein Hoch auf die US Air Force, auf deren Ausbildungsprogramm für Jet-Piloten auch Überlebenstraining in der Wildnis stand; damals, in den glorreichen Zeiten, als es noch eine US Air Force gab. Wie ein kleiner Junge freute Matt sich an dem Feuer. Als er sich in der feuc hten Wärme des Kadaverrachens ein wenig erholt hatte, war er zum Walskelett gelaufen, um ein paar Knochen herauszubrechen. Und Glück gehabt: Im großen Skelett fand er das kleine eines Ungeborenen. Die Knochen des Muttertiers hätten sich allenfalls zum Bau einer Hütte verwenden lassen, und ein paar kleinere vielleicht als Prügel. So aber konnte er die Endglieder der Flossenknochen als Reibstab und Drillbogen verwenden - den Bogen bespannte er mit einem Faden des rätselhaften Netzes - und einen Mittelflossenk nochen als Glutfläche.
Ein paar Risse klafften in der Haut des Walkadavers. Aus einem besonders tiefen quoll flüssiges Fett, das noch warm war. Lange konnte das Tier also noch nicht tot sein. Matt tauchte einen zusammengerollten Fetzen seines Hemdes in das Öl. Fast eine Stunde ließ er den Knochenstab in dem flachen Mittelflossenknochen tanzen, bis sich erst die Splitter und dann das ölgetränkte Hemd entzündeten. Als Brennmaterial dienten ein paar Wirbel und Rippen. Er saß im Rachen des toten Wals nah an seinem Feuerchen, wärmte sich die Hände und hoffte, die Hosenbeine seiner Pilotenkombi würden schnell trocknen. Das sehnige rote Fleisch rund um die Flammen warf Blasen und verfärbte sich dunkel. Es roch wie bei einem Barbecue. Matt blickte an den riesigen Zä hnen vorbei auf die Eisfläche, die sich über die Sandbank bis auf wenige Meter zu seinem Unterschlupf vorschob. Er hatte keine Ausrüstung dabei, kein Messer, nichts, und spielte mit dem Gedanken, noch einmal das Gerippe des ungeborenen Wals zu plündern. Vielleicht fand sich ja ein Knochensplitter, den er als Schnittwerkzeug verwenden konnte, um ein Stück Walfleisch aus dem toten Tier zu schneiden oder das gegarte Rachenfleisch abzuschaben. Das improvisierte Werkzeug zum Feuermachen lag neben ihm. Er betrachtete den Drillbogen. Die Sehne hatte es ihm angetan. Mit bloßen Händen hatte er zunächst probiert, sie aus dem Netz zu reißen - unmöglich. Auch den Versuch, die Fasern durchzubeißen, musste er schnell aufgeben. Schließlich rieb er sie so lange über seine Gürtelschnalle, bis sie endlich riss. Eine zeitaufwendige Arbeit, und eine schweißtreibende dazu, trotz der niedrigen Außentemperatur. Matt fragte sich, aus was für einem Kunststoff die Walfänger das Netz wohl hergestellt haben mochten. Schon die tonnenschwere Beute sprach für eine hoch entwickelte Zivilisation. Niemand holte einfach so einen Wal aus dem Wasser.
Nun, gut, er würde sie kennenlernen. Die rätselhaften Jäger würden ihre Beute kaum hier verrotten lassen. Matt vermutete, dass sie eher früher als später aus dem Nebel auftauchen würden, der über die Sandbank der Eisfläche entgegen kroch. Positiv denken, sagte er sich und ging erst einmal davon aus, dass die Fremden ihm helfen würden. »Ayhayii«, maunzte es plötzlich neben ihm. Matt zuckte zusammen und fuhr herum. Ein Tier, genauso erschrocken wie er selbst, sprang zurück und fauchte ein heiseres »Chrayii!« Es besaß zwei flossenartige Beine und war fast so groß wie Matt, wirkte aber kleiner, weil es gebückt stand. Blitzschnell griff sich der im Eis gestrandete Mann einen glühenden Rippenknochen aus dem Feuer und hielt ihn drohend vor sich. Doch das fremdartige Wesen schien nicht an Angriff zu denken - stocksteif wie er verharrte es und belauerte ihn. Der Überraschungsgast stank widerlich. Blut, Fett und Fleischfetzen hingen auf seiner schwarzbraunen Haut. Den langen Schädel und den Hals vogelartig nach vorn gebeugt, sah er ein wenig aus wie eine Kreuzung aus Windhund und Känguru - im Verwesungsstadium. Spitze Zähne ragten aus dem lefzenlosen Maul, Schulterknochen, Rippen und zopfartige Muskelstränge zeichneten sich unter der Haut ab. Die langen Flossenbeine sahen aus wie in dreckige Fetzen eingewickelt und die Arme und Hände wie das Geäst einer vom Sturm gestauchten Mooreiche. An den unglaublich dürren und langen Fingern klebte besonders viel Blut, Fett und Fleisch. »Was bist denn du für einer?«, murmelte Matt, als er wieder seine Sprache fand. »Siehst aus, als hätte dich der Teufel ausgespuckt.« Innerlich schüttelte es ihn beim Anblick der knochigen Kreatur mit dem Hundeschädel und der feuchten, bräunlichen Haut. »Cool bleiben, okay?« Matts Blick wich den kalten Knopfaugen nicht aus. »Du pinkelst mir nicht ans Bein, und ich pinkle dir
nicht ans Bein.« Er betonte jede Silbe und bemühte sich um einen gelassenen Tonfall. »Leben und leben lassen, was hältst du davon?« Das Tier - oder was auch immer da aus dem Nichts aufgetaucht war - tat einen Schritt zur Seite und noch einen. Große Hautlappen öffneten sich an Knien und Unterschenkeln; bei jedem Schritt flatterten sie und erinnerten Matt irgendwie an die Lederchaps eines Cowboys. Jetzt sah Matt auch den langen knochigen Schwanz. Unterhalb der Stelle, wo er aus dem Körper austrat, hingen ein paar helle Fäden herab, die Matt zunächst an Schleim denken ließen. Zwischen den spitzen Ohren und auf Armen und Schultern sträubte sich dichtes kurzes Haar. Was Matt anfangs für Haut gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein feuchter kurzhaariger Pelz. Langsam und ohne Matt aus den Augen zu lassen bewegte sich die Kreatur am Wulst des Walunterkiefers und seinen Zahnen vorbei, bis das Feuer zwischen ihr und dem blonden Mann brannte. Und genauso langsam ging sie vor dem Feuer in die Hocke, wobei sie sich mit ihrem Schwanz abstützte. Matt schluckte und atmete gegen einen Brechreiz an. Das Wesen verbreitete einen Gestank, der seinem Aussehen Konkurrenz machte: Säuerlich und tranig roch es, ein bisschen nach geronnenem Blut, ein bisschen nach Kot. Der knochige Hundeschädel reckte sich vorsichtig dem Feuer entgegen. »Verbrenn dir nicht die Schnauze«, warnte Matt. Die ganze Situation kam ihm auf einmal so unwirklich und skurril vor, dass er wahrscheinlich wieder gekichert hatte, wäre da nicht der Brechreiz gewesen. Die koboldartige Kreatur verbrannte sich natürlich das Maul und zuckte zurück. Ihre schwarzen Augen flogen zwischen Matt, dem glühenden Knochen in seiner Hand und den Flammen hin und her. Sie spreizte die Finger ihrer Rechten, und Matt sah die spitzen schmalen Krallen. Der Mittelfinger war
unverhältnismäßig stark und lang - dreißig Zentimeter, schätzte Matt. »Ayuay, vebrendir«, maunzte das Wesen und bohrte den Zeigefinger in eine bräunliche, halb angebrannte Stelle des Rachenfleisches. Schnell schälte es ein faustgroßes Stück heraus und biss davon ab. »Ayhayii...«. In der Kuhle, die es ausgeschält hatte, sammelte sich blutiges Sekret. »Bist mir ein schlaues Fingertier«, sagte Matt. »Aber auf die Idee bin ich auch schon gekommen.« Matt betrachtete seine ungepflegten Nägel und versuchte sein Glück ebenfalls; mehr als ein paar Fleischfasern konnte er nicht abschaben. Mit der freien Hand stach die Kreatur erneut zu, und ehe Matt sich versah, drückte sie ihm einen halbrohen Brocken Rachenfleisch in der Hand. Er widerstand dem Drang, daran zu riechen. »Vebrendir«, fiepte das Wesen. »Schlauafingatir.« Matt runzelte die Stirn. Das hässliche Tier schien eine Begabung für Stimmimitation zu besitzen; wie ein vorapokalyptischer Papagei. Es blitzte Matt aus seinen schwarzen Augen an, riss den Rachen auf und versenkte das restliche Fleisch darin. Danach sprang es auf, wandte Matt seinen knochigen Rücken zu und begann die Wangeninnenwand des Walmauls mit seinen Messerfingern zu bearbeiten. »Schlauafingatir.« In Windeseile riss es Brocken von Fettgewebe und Muskelfleisch heraus und warf sie zu Matt neben das Feuer. Der hielt sich nicht lange mit Staunen auf - erst die Mahlzeit und dann die Wissenschaft -, bohrte ein Stück fettarmes Muskelfleisch auf seinen Drillbogen und hielt es über die Flammen. »Wo kommst du her?« Sein Blick blieb am Schwanz des Fingertieres hängen, oder vielmehr an den hellen Fäden, die aus einer feuchten Verdickung unterhalb des Schwanzes baumelten. Plötzlich begriff er, und das Nackenhaar sträubte sich ihm: Aus genau solchen Faden bestand das Netz...! Mit offenem Mund betrachtete Matt das feuchte, blut- und
fettverschmierte Rückenfell des Fingertieres und seine flossenartigen Beine. Es kann tauchen, und Netze produzieren wie eine Spinne...! Das Fleisch an seinem Walbabyknochen verkohlte, und auf einmal kam es dumpf aus dem Rachen des Kadavers: »Ayhayii, ayhayii, ayhayii...« Matt starrte in die dunkle Rachenhöhle. Der Zungengrund bewegte sich, als wollte der tote Wal noch ein letztes Mal schlucken. Ein rötlicher, mannshoher Fleischzapfen wurde zur Seite geschoben, und nacheinander krochen vier Fingertiere aus dem Schlund des Wals. Eines zerrte ein weißliches, noch blutiges Stück Fleisch hinter sich her, das nächste einen halb verdauten Wels, das dritte einen Fettlappen und das letzte einen zerfetzten Artgenossen. Matt ließ seinen Fleischspieß fallen, stand auf und taumelte zum Unterkiefer des Wals. Mit beiden Händen hielt er sich an einem Eckzahn fest, der ihm bis zum Kinn reichte. Der Nebel lag wie eine Daunendecke über der Sandbank; Schwaden krochen auf das Eis. ›Durchatmen‹, sagte er sich, ›tief durchatmen...‹ Es nützte nichts. Matt beugte sich über die niedrigeren Schneidezähne und erbrach sich aus dem Walmaul in den Sand hinaus... *** Der Leuchtbalken der Tachometers kroch zwischen fünfzig und fünfundfünfzig Stundenkilometern hin und her, der Höhenmesser zeigte etwas mehr als hundertzehn Meter an. Aiko hatte eine Karte dieser Gegend auf dem Armaturenbrett ausgebreitet. Hin und wieder blickte er sich um und suchte nach Orientierungspunkten. Dabei ließ er den Infrarot-Modus seiner bionischen Augen zugeschaltet. Doch mehr als einige Robben und einen Izeekepir hatte er bislang nicht erspäht.
»Wenn Maddrax irgendwo da unten ist, werde ich ihn finden«, sagte er zu Aruula gewandt und eigentlich nur, um das Schweigen zu brechen, das sich seit einer halben Stunde zwischen ihnen ausgebreitet hatte. Aruula antwortete nicht. Sie spähte zum seitlichen Gondelfenster hinaus. Die Eislandschaft erinnerte sie an die Winter im Land der Dreizehn Inseln, wo sie ihre frühe Kindheit verbracht hatte. Sie dachte an ihren Traum - an den vertrauten Geruch ihrer Mutter, an die Wärme ihres Schoßes, an das einschläfernde Schaukeln des Kanus -, und plötzlich sehnte sie sich nach dieser Geborgenheit. Nach Liebe. »Erst durch meine Wärmesensoren wird mir klar, wie kalt diese Welt da unten wirklich ist«, redete Aiko weiter. »Eiskalt, einsam und gnadenlos. Wenn man das sieht, sehnt man sich nach Wärme und Geborgenheit.« Aruula sah ihn verblüfft an. Konnte er plötzlich ihre Gedanken lesen? Sie wollte den Kloß in ihrem Hals herunterschlucken - es gelang ihr nicht. Sie wollte dieses fremde Verlangen in sich auslöschen, mit dem sie sich plötzlich zu Aiko hingezogen fühlte - aber das gelang ihr erst recht nicht. War es nur die Sehnsucht nach Nähe und Wärme, die sie wünschen ließ, er würde sie in den Arm nehmen? Oder war es mehr? Sie riss sich zusammen und verbot sich den Gedanken. Das Schicksal hatte sie mit Maddrax vereint, und sie war den Göttern dankbar dafür. Es drängte sie, auch Aiko davon zu erzählen. Damit er Besche id wusste. Und um sich selbst daran zu erinnern. »Ich will dir etwas erzählen, was ich bisher noch nicht einmal Maddrax erzählt habe«, begann sie unvermittelt. Aiko drehte sich mit erstauntem Blick zu ihr herum, doch sie ließ ihm keine Zeit, Fragen zu stellen. »Als ich sechzehn Jahre alt war«, fuhr sie fort, »und mit Sorbans Horde aus dem Nordland durch Euree zog, begegneten wir einer uralten Göttersprecherin. Unser
Göttersprecher Baloor saß mit ihr vor ihrem Zelt, und beide waren ins Gespräch vertieft. Dennoch sah sie mich von weitem und rief mich zu sich.« Obwohl Aiko wieder zum Seitenfenster der Gondel hinaussah, wusste sie, dass er zuhörte. Sie sah es an seinem leicht geneigten Kopf, seinen hochgezogenen Schultern und der Reglosigkeit, in der er verharrte. »Man nannte sie ›Wudans Auge‹. Ohne mich je zuvor gesehen zu haben, sagte sie mir auf den Kopf zu, dass ich von den Dreizehn Inseln stamme und lauschen könne. Dann hat sie mir die Hände aufgelegt und Wudans Wort über mein Leben offenbart.« Die Erinnerung überwältigte Aruula. Vergessen war die Sorge um ihren Gefährten, vergessen die grün verfärbten Hände unter den Handschuhen, vergessen plötzlich auch der Durst und die fremdartigen Empfindungen in ihr. Es war, als würde sie die Stimme der Alten hören: ›So spricht Wudan, der Allgewaltige höre, Aruula von den Dreizehn Inseln: Großes und Wundersames hat Wudan mit dir vor, doch fürchte dich nicht...‹ »Sie hat meinen Körper mit diesen Zeichen bemalt.« Aruula deutete auf die blauen und grünen Linien, die sie von Zeit zu Zeit mit einer Paste erneuerte. »›An ihnen‹, so sagte sie, ›wird jeder Wissende erkennen, dass du eine Auserwählte Wudans bist.‹ Viele Winter später, als das Schicksal Maddrax und mich getrennt hatte, bin ich ihr ein zweites Mal begegnet...« Aruula verstummte. Sie merkte plötzlich, dass sie über Geheimnisse sprach, die, einmal preisgegeben, ihre Kraft verlieren könnten. »Was hat sie dir prophezeit?« »Manches. Ich rede nicht darüber, nur über Maddrax will ich sprechen. Wudans Auge hat unserem Göttersprecher Baloor befohlen, mich keinem Jäger aus Sorbans Horde zur Frau zu geben, und dann sagte sie: ›Ein mächtiger Krieger wird kommen, von Wudan gesandt. Der wird ihr Gefährte sein.‹ Und als Baloor wissen wollte, woher dieser mächtige Krieger
stammte, deutete sie zum Himmel hinauf.« Aruula schloss die Augen und lehnte sich zurück. Plötzlich fand sie sich in das Eisgebirge zurückversetzt, das Maddrax ›Die Alpen‹ nannte. Sie roch den scharfen Gestank der Taratzen, sie schwang ihr Schwert gegen die Schwarzpelze, sie sah den Jet mit dem bewusstlosen Piloten in der Eisspalte hängen... »Acht Winter später fiel Maddrax mit seinem Feuervogel vom Himmel.« Leise sprach sie weiter. »Alle hielten ihn zunächst für einen Gott aus Wudans himmlischem Heer - auch ich. Und dennoch: Insgeheim ahnte ich damals schon, dass er der mächtige Krieger war, den Wudans Auge geweissagt hatte. Etwas in mir hat es vom ersten Augenblick an gewusst: Maddrax ist der Gefährte, dem ich folgen werde...« Sie öffnete die Augen und begegnete Aikos Blick. Ernst und forschend sah der Cyborg sie an. Aruula legte ihre Hand auf seinen Arm. »Fünf Winter hatte ich erst gesehen, als die Horde von Sorbans Vater meine Mutter und meine Königin am Strand von Kalskroona töteten und mich raubten. Fast neunzehn Winter lebte ich mit Sorbans Horde nach der Weise der Wandernden Völker: Ich zog durch Eis und Schnee des Nordlands, ich überquerte Meerengen, Seen und Flüsse, ich wanderte durch Euree und den Großen Fluss hinunter über das Eisgebirge bis ins Südland. Ich lebte von der Jagd und vom Fischfang. Ich weiß nicht viel über die Welt vor Kristofluu und über die Welt, aus der Maddrax kommt. Das Wenige, was ich von seiner Welt kenne, habe ich aus seinen Geschichten. Ich weiß nicht, was für eine Horde die US Air Force war, ich habe keine Ahnung, was das Wort ›Zeitriss‹ bedeutet – eines aber weiß ich ganz genau: Wudan selbst hat Maddrax zu mir geschickt, und er wird ihn mir nicht wieder nehmen...« Aiko nickte langsam, sagte aber kein Wort. Was auch? Er begriff ja nicht einmal, warum sie ihm die Geschichte erzählt hatte. Er konzentrierte sich auf die Eislandschaft und die
Instrumente. Das flache Tal mündete in die Ebene. »Ein zugefrorener See«, murmelte er und blickte auf die Karte. »Müsste der Große Bärensee sein...« *** Neugierig hatten sie sich um das Feuer geschart und saßen jetzt dicht gedrängt auf der Walzunge. Sie schienen sich nicht vor den Flammen zu fürchten. Fast alle verbrannten sich zwar Schnauzen und Finger, doch irgendwann warfen sie das Walfleisch in die Flammen und spießten ihre Beutestücke nach Matts Beispiel auf einem Knochen auf. Sie schnatterten und maunzten, Fett spritzte und verbrannte und der Geruch von gebratenem Fleisch mischte sich unter den ekelhaften Gestank, den die feuchten Gesellen verbreiteten. Gegen einen Eckzahn gelehnt, beobachtete der Mann aus der Vergangenheit die fünf knochigen Kreaturen. Feuchtigkeit und Fett tropften vom oberen Gaumen des Walrachens auf sie herab. Der Widerschein der Flammen flackerte auf dem dunkelroten, feuchten Rachenfleisch und auf den Zähnen, Rauch sammelte sich im Oberkiefer und quoll aus dem Walrachen. Matt kam sich vor, als wäre er auf dem Friedhof von Brooklyn in eine Grillparty auferstandener Toter geraten; halb verrottete, halb skelettierte Tote, die dennoch putzmunter genug waren, über ihre Erlebnisse im Hades zu plaudern. Außerdem hatten sie einen gesegneten Appetit: Sie stocherten mit ihrem Schwertfinger Zungen- und Wangenfleisch aus dem Kadaver, brieten es kurz und stopften sich voll damit. Dabei maunzten und fiepten sie unentwegt, und zwar häufig in Matts Richtung. Fast hatte er den Eindruck, sie wollten sich bei ihm bedanken, und manchmal glaubte er, etwas wie Bewunderung in ihren Tierschädelfratzen zu erkennen. Aber sicher war sich nicht. Es fiel ihm schwer in diesen fast dämonischen Mienen zu lesen.
Der Brechreiz plagte seinen Magen noch immer, und der Geschmack von Galle ätzte seine Zunge. Was für ein unwirkliches Schauspiel! Er wandte sich ab von Feuer und Fingertieren und spuckte den sauren Speichel in den Nebel, der draußen wallte. Dann schwang er sein Bein über zwei Zähne, um aus dem Walrachen zu springen. Der gallige Geschmack musste von der Zunge; er wollte Schnee essen oder von dem Seewasser trinken. Auf jeden Fall wollte er raus aus dieser stinkenden Fleischhöhle. Aber was auch immer er wollte - er vergaß es sofort wieder: Zuerst hörte er einen langgezogenen Ruf, als würde jemand unglaublich hoch singen, und dann schälten sich Schatten aus dem Nebel. Eine kleine Rotte Fingertiere hetzte dem Walkadaver entgegen. Sie wirkten massiger als die Knochengestalten um das Feuer, und schnell erkannte Matt auch, warum: Sie sträubten ihre Pelze. Geschrei und Gefiepe erhob sich von allen Seiten. Und die knochigen Burschen, die sich zu ihm ans Feuer einge laden hatten, tauchten sofort neben ihm auf, auch sie mit aufgeplusterten Fellen. »Ayhayii, chayiayii...!« Rund um ihn her fauchte und pfiff es; der Nebel und die Sandbank schienen erfüllt davon: »Ayhayii, chayiayii...!« Dutzendweise strömten die Hundeschädel plötzlich herbei, und wie aus dem Nichts prasselte ein Pfeilhagel wenige Schritte vom Kadaver entfernt in Sand und Kies. Gedankenschnell ließ Matt sich auf das schleimige Zungenfleisch fallen und rollte auf den Unterkiefer hinab. Die Fingertiere aber sprangen über die Zähne hinaus ins Freie. Ihr Geschrei veränderte sich jäh: Schrilles Kreischen gellte jetzt durch den Nebel draußen, und ein Gackern, das Matt an das Krähen vieler Truthähne erinnerte. Seine Füße berührten einen Körper - er blickte auf: Das Fingertier, das ihn als erstes aus der Fassung gebracht hatte, lag dort mit einem Pfeil in der Stirn. Sein Rachen schnappte, als wollte es eine Fliege fangen; seine Klauen öffneten und
schlossen sich wie außer Kontrolle geratene Greifzangen eines Roboters. Geschrei kam nun auch aus dem Rachen des Wals: Ein Fingertier nach dem anderen drängte sich aus dem Schlundloch hinter dem Fleischzapfen des toten Meeresriesen, zwanzig, dreißig oder mehr - Matt zählte sie nicht. Teilweise auf allen Vieren hüpften sie über die Zunge, durchs Feuer, und einige sprangen auf Matt und dem Toten ab, um ins Freie zu gelangen. Vielen schossen schon die weißlichen Fäden aus den Drüsen unter den Schwänzen. Matt barg den Kopf in seinen Armen. Kein klarer Gedanke formte sich mehr in seinem Schädel, nur Panik und der Wunsch, dass dieser verdammte Albtraum endlich enden möge... *** »Jaouhajaou! Jaouhajaou!« Im Rhythmus ihres Jagdgesangs stießen die Jäger ihre Paddel ins Wasser. »Jaouhajaou! Jaouhajaou!« Sie sangen ihn leise, fast summend; es hörte sich an, als würde Wind durch eine Eishöhle wehen. Die Katamarane glitten durch Wasser und Nebel. Breitbeinig stand Ikoreis am Bug, umklammerte seinen Spieß und lauerte in den Nebel. Irgendwo in dieser Wand aus Dampf hörte er den wilden Gesang seiner Gefährten, und dazwischen, immer lauter und zorniger, das gellende Ayhayiichaylayn der Ayritzen. Nyoto, Cyleste und die anderen kämpften schon mit den Mördern. Endlich knirschten Kies und Sand unter den Kielen. Ein Ruck ging durch Ikoreis' Katamaran, und er sprang ins kniehohe Wasser. Hinter sich hörte er die Paddel in die Boote fallen und seine Jäger in den See springen. Mit gezückten Schwertern, drohend in den Nebel gerichteten Speerspitzen und gespannten Bogen wateten sie auf die Sandbank. Die Konturen zweier lebloser Seeherrscher schälten sich aus dem Nebel, einer zwei, der andere fast drei Speerwurfe entfernt
Der Anblick schnürte Ikoreis' Herz zusammen Hinter sich hörte er seine Jäger aufstöhnen, einige voller Schmerz, andere zornig, wieder andere enttäuscht. Waren sie also doch zu spät gekommen? Um die riesigen Waalkörper herum sahen sie verschwommene Schatten. Die Gefährten im Kampf mit den Ayritzen! Nyoto und Cyleste hatten ihre Truppe geteilt. Mit einer Handbewegung bedeutete Ikoreis auch seinen Männern, sich in zwei Gruppen aufzuteilen. Dreizehn Jäger huschten eiswarts in den Nebel, er selbst führte elf Jäger nach rechts zu dem kleineren der beiden Kadaver. Wie die meisten anderen, hatte auch Ikoreis schon oft gegen Ayritzen gekämpft, er wusste, dass die Mordpelze lieber starben, als ihre Beute preiszugeben. Dort, bei den Leibern der Seeherrscher, konnte man sie also am ehesten stellen. Jagdgesang und Ayritzen-Geschrei rückten naher »Jaouhajaou! Jaouhajaou!« und »Ayhayn, chayiayn!« Auch Ikoreis und seine Männer stimmten jetzt laut in den Jagdgesang ein und stürmten los. Für einen Atemzug verstummte das kreischende Ayhaynchaylayn der Waalmörder. Die unerwartet aus dem Nebel preschenden Jäger überraschten sie. Und als ihr Geschrei wieder einsetzte, klang es panisch und noch schriller. Sechzig oder siebzig Ayritzen umringten den Kadaver, schlugen mit gespreizten Fingern nach Nyotos Jägern, sprangen auf und ab, hin und her, wie sie es immer taten, wenn sie ihre tödlichen Netze webten. Die Jäger stachen mit Speeren auf sie ein und ließen Schwert- und Axtklingen auf sie niedersausen. Im größten Getümmel: Nyoto - er brüllte und fuhr mit seiner schweren Axt unter die Waalmörder. Von der Schwanzflosse her drangen nun auch Ikoreis und seine Jäger auf die Ayritzen ein. An der schwarzweißen Zeichnung der Flosse erkannte Ikoreis die Tote Hanulesh, Finniloshs Gefährtin. Sie war tot, ohne Zweifel. Tief schnitt das Ayritzen-Netz hinter den Brustflossen und am Rücken in ihr
Fleisch ein. Und noch etwas musste er sehen. Zwei Jäger lagen im Sand einer mit aufgerissenem Leib, der zweite eingeschnürt in ein weißes Ayritzen-Netz und mit blutenden Augenhöhlen. Brennender Zorn trieb Ikoreis die Tränen in die Augen. Er schrie, durchbohrte die erstbeste Ayritze mit seinem Speer und riss sein Schwert aus der Rückenscheide. Den Spieß in der Linken, um die ihn anspringenden Mordpelze auf Distanz zu halten, hieb er mit dem Schwert in der Rechten auf sie ein. Rechts und links von ihm schwangen seine Jäger ihre Waffen. Das hassliche Geräusch brechender Knochen, splitternder Schädel und reißenden Fleisches mischte sich in das Jagdgebrüll der Eisherrscher und die Wut- und Angstschreie der bedrängten Ayritzen. Fast zwei Dutzend Ayritzen kletterten plötzlich auf den Rücken des Waals; sie griffen nach den Fasern des Netzes oder hackten einfach ihre Finger in sein Fleisch und zogen sich blitzschnell hinauf. Die Hälfte fiel den Pfeilen der Bogenschützen zum Opfer, doch mindestens elf Ayritzen gelang es, in weiten Sätzen hinter die Angriffslinie der Jäger zu springen. Sofort warfen sie sich in die Rücken ihrer Feinde und rissen ein paar Jäger zu Boden. Zwei andere Männer schrieen qualvoll, weil sich Mordpelze in ihre Nacken verbissen und ihre Gesichter und Hälse mit ihren Mittelfingern zerschlitzten. Ikoreis sah die Netzfäden aus den Drüsen der Waalmörder schießen, er hörte die entsetzten Schreie der gestürzten und angefallenen Jäger, und er merkte, wie die schon dicht an den Kadaver zurückgedrängten Ayritzen ihren Widerstand verstärkten. Der unverhoffte Erfolg ihrer Artgenossen fachte ihren Kampfeswillen neu an. Über erschlagene und noch zuckende Leiber hinweg sprangen sie in die Klingen und Speere der Jäger hinein. Plötzlich wichen die Eisherrscher zurück, ihre Angriffsreihe löste sich an zwei Stellen auf. Ihr Jagdgesang verebbte. Die
meisten Männer sehnen entweder oder kämpften stumm und verbissen. Ein noch unerfahrener Halbwüchsiger ging an Ikoreis Seite in die Knie. Ein Mordpelz hatte sich in seinem Schwertarm verbissen, zwei andere sprangen um ihn herum und spannen dabei ihr Netz. Ikoreis holte aus und rammte dem Mordpelz, der den Jung-Jäger umklammerte, seinen Speer in die Flanke - doch zu spät Der Mittelfinger der Ayritze steckte schon in der Augenhöhle des Mannes und hatte sich tief in sein Hirn gebohrt. Gemeinsam schlugen beide im blutgetränkten Sand auf. Besinnungslos vor Schmerz und Zorn brüllte Ikoreis. Sein Schwert köpfte einen der Netzspinner und fuhr dem zweiten in den Bauch. Er sah sich um. Vorn am Kopf des Kadavers wütete Nyoto mit seiner Axt unter den Ayritzen. Schwertkampfer und Speerträger waren an seiner Seite. Zwei Jäger zerhackten unweit von Ikoreis ein Netz, in dem sich ein Gefährte wand. Mehr als die Hälfte der Waalmörder war erschlagen oder kampfunfähig, aber auch sechs oder sieben Jäger sah Ikoreis am Boden liegen. Viele Männer hatten die Schwerter weggesteckt und zu den Jagdbogen gegriffen, weil die Ayritzen sich darauf verlegt hatten, auf den Waalrücken zu klettern und von dort aus ihre Gegner anzuspringen und zu Boden zu reißen. O ja, sie lernten schnell, diese gierigen Mörder. Drei, vier Schatten auf einmal fielen auf die beiden Männer herab, die sich um ihren im Netz verstrickten Gefährten bemühten. Beide stürzten bäuchlings in den Sand, und sofort fiel eine Rotte Mordpelze über sie her. Ikoreis ging mit gezücktem Schwert und angelegtem Spieß auf sie los. »Über dir, Ikoreis!«, hörte er Nyoto brüllen. Aus den Augenwinkeln sah er gespreizte Klauen und aufgerissene Rachen heranfliegen. Die Wucht des Aufpralls stieß ihn in Kies und Sand. Er schlug und trat um sich, doch das Gewicht eines Körpers, den seine Schwertklinge durchbohrte, blieb über seiner Brust liegen. Instinktiv wandte Ikoreis den Kopf, versuchte sich
zu drehen und seine Augen zu schützen. Der Gestank vo n Blut und Fett umgab ihn. Überall nur noch feuchte Pelze, Flossenbeine, knochige Schädel und Klauen. Schon zog sich das Netz um seine Schenkel zusammen. *** Einen Pfeil nach dem anderen schoss Cyleste ab. Mit zwei Bogenschützen kniete sie auf dem Schädel der toten Gilesh. Sie zielten auf die Ayritzen, die aus Gileshs weit geöffnetem Maul sprangen. Schon neunzehn Waalmörder lagen im Sand, den meisten steckten Pfeile im knochigen Rücken. Von den siebzig oder achtzig Ayritzen, die Cyleste und Nyoto schon am Eisrand dabei überrascht hatten, wie sie einen jungen Seeherrscher aus dem Wasser zerrten, lebten noch höchstens dreißig. Eng an ihr gewaltiges Opfer gedrängt und mit gesträubten Fellen erwehrten sie sich mit Klauen und Zähnen den wütenden Hieben und Stichen der Jäger. Und natürlich mit ihren mörderischen Netzen. Zwei Männer hatten sie damit schon zu Fall gebracht und mit ihren Speerfingern aufgeschlitzt. Der Schmerz über den Verlust hatte Cylestes Jäger nur noch mehr angestachelt. Ein ungleicher Kampf, zumal inzwischen dreizehn Jäger aus Ikoreis' Gruppe zu ihnen gestoßen waren. Die meisten Ayritzen verendeten durch die Pfeile, die von oben auf sie nieder prasselten - auch an Gileshs Rückenfinne und nahe ihrer Schwanzflosse waren je zwei Bogenschützen in Stellung gegangen. Cyleste hoffte, dass Nyoto und Ikoreis genauso leichtes Spiel hatten, denn der junge Seeherrscher auf dem Eis lebte noch. Wenn sie die Ayritzen früh und zahlreich genug töteten, würden sie ihn noch zurück in den See ziehen und retten können. Und vielleicht - wenn Schwester Sonne gnädig war - lebten ja auch die beiden anderen Jungen noch. Sogar für Hanulesh hatte Cyleste noch Hoffnung.
Wild und kraftvoll tönte der Jagdgesang ihrer Gruppe, und das Gekreische und Gefiepe der Ayritzen wurde ängstlicher und dünner. Manchmal drang Kampfgeschrei von Sonnenaufgang her aus dem Nebel: Dort tobte der Kampf zwischen Nyotos und Ikoreis' Jägern und einer Ayritzen-Rotte. »Schwester Sonne, gib, dass Hanulesh noch am Leben ist«, murmelte Cyleste. Kein Mordpelz entschlüpfte dem Waalrachen mehr. Die beiden Bogenschützen an Cylestes Seite richteten ihre Pfeile nun zu beiden Seiten des Kadavers nach unten und schossen auf Ayritzen, denen es gelungen war, einen Jäger mit Netzen einzuschnüren oder sich gar in ihn verbissen hatten. Einen Pfeil auf der Sehne, zielte Cyleste auf den Platz direkt vor dem Waalmaul. Nebel kroch über die Leichen und den blutgetränkten Sand dort. Doch keiner der Mordpelze zeigte sich mehr. Cyleste glaubte nicht, dass sich noch Ayritzen in Gileshs Körper verbargen. Höchstens ein paar Neugeborene. Wenn es darum ging, ihre Beute zu verteidigen, stellten sich diese gierigen Geschöpfe jedem Feind; sogar ihre Halbwüchsigen scheuten dann den Kampf nicht. Sie blickte nach allen Seiten auf den Kamp fplatz hinunter. Grausen und Ekel jagten ihr einen Schauer über den Rücken: Unzählige Ayritzenleiber zuckten in ihrem Blut und zwischen abgeschlagenen Köpfen und Gliedern. Nicht einmal ein Dutzend Mordpelze leisteten den Jägern noch Widerstand. Ein Dutzend von fast Achtzig! Rauchwolken quollen aus dem Rachen der toten Waalfrau. Zunächst hielt Cyleste sie für Nebel, aber die Schwaden waren dunkler als die Dunstschleier. Misstrauisch spähte die junge Sängerin über den klobigen Oberkiefer hinweg nach unten. Rauch im Rachen eines ermordeten Seeherrschers? Wie konnte das sein? Sie nahm die Hand vom Bogen und legte sie auf Gileshs Haut.
Die fühlte sich wärmer an als die Luft, aber das war normal: Im Todeskampf entwickelten die Riesenkörper hohe Temperaturen, so hoch, dass man sich an austretendem Fett die Haut verbrühen konnte. Und wenn ein toter Seeherrscher lange am Ufer, auf dem Eis oder einer Sandbank lag und verfaulte, kam es auch vor, dass der Verwesungsprozess seinen Körper aufsprengte. Cyleste hatte das erst ein Mal erlebt, aber sie erinnerte sich an Dampfwolken, die aus dem geplatzten Leib aufgestiegen waren. Aber Gilesh war noch nicht lange tot; außerdem roch der Rauch nicht nach Fett oder dampfendem Blut, sondern nach Glut und Feuer. Sollte es den Ayritze n etwa gelungen sein, Feuer zu machen...? Ein ungeheuerlicher Gedanke! Cyleste hielt den Atem an. Und plötzlich fiel ihr auf, dass der Kampflärm aus dem Nebel sich verändert hatte. Sie richtete sich auf und lauschte. Trotz des Gesangs, des Angstgeschreis und der Schläge rund um Gileshs Leiche konnte ihr feines Gehör die Rufe aus dem Nebel aufnehmen. Dort, drei oder vier Speerwürfe entfernt, kreischten die Ayritzen anders als hier, und keine Männerstimme sang mehr das Jaouhajaou der Jäger ihres Volkes. Statt dessen hörte sie Gebrüll, das ihr Angst machte. Es hörte sich an, als wären Jäger in Todesnot! Cyleste sprang auf. »Nyoto und Ikoreis!«, schrie sie und schoss einen Pfeil auf eine Ayritze ab. »Sie sind in Not! Zehn von euch kommen mit mir!« Über die Muschelbänke an Gileshs rechter Schädelseite rutschte sie auf die Sandbank hinunter. Ein anderer Bogenschütze nahm ihre Stellung ein. An der Spitze von zehn Jägern drang sie in den Nebel ein. Je näher sie Hanuleshs Körper kamen, desto deutlicher hörten sie verzweifeltes Gebrüll und Schmerzensschreie aus Männerkehlen, und dazwischen, nicht weniger laut, das wütende Ayhayiichayiayii der Waalmörder. Und instinktiv erfasste Cyleste, dass auch Hanulesh gestorben war.
»Singt!«, rief sie ihren zehn Begleitern zu. »Singt, so laut ihr noch könnt!« Sie selbst stimmte den Fressgesang der Orgaras an. Bald tauchte der riesige Seeherrscher-Leib aus dem Nebel auf, und schnell erfassten sie die gefährliche Lage ihrer Jagdgefährten: Sieben oder acht Jäger - jedenfalls erschreckend viele - lagen in Netze verstrickt oder aufgeschlitzt oder von kreischenden Mordpelzen bedeckt in Sand, Kies und Schnee. Drei Bogenschützen wichen langsam zurück und schossen nur zögerlich auf die Ayritzen, weil sie befürchten mussten, ihre eigenen Gefährten zu treffen. Die nämlich kämpften in drei kleinen Gruppen Rücken an Rücken gegen von allen Seiten auf sie eindringende Mordpelze. Sechs Jäger nur zählte Cyleste außer der Bogenschützen auf dieser Seite des Kadavers. In einer Kampfgruppe entdeckte sie Nyoto - mit Speer und Axt zugleich schlug er um sich und brüllte dabei wie ein verwundeter Waalrossbulle. Wo aber war Ikoreis? Bei Schwester Sonne - wo steckte er nur? Und was mochte sich auf der anderen Seite des Kadavers abspielen? »Folgt mir!«, rief sie den drei Bogenschützen zu. An ihrer Spitze rannte sie in weitem Bogen um den Kampfplatz herum zur Rückenflosse der ermordeten Waalfrau. Ihre zehn Begleiter eilten den bedrängten Gefährten zur Hilfe und griffen die überrumpelten Ayritzen an. Ein Ayritzen-Netz überzog fast den gesamten Leib der Toten. An seinen Fäden hangelten sie sich über die Schwanzflosse bis zur Rückenfinne hinauf. Auf der anderen Seite des Kadavers sah es besser aus: Acht Jäger droschen dort in halbwegs geordneter Reihe auf nur noch wenig mehr Ayritzen ein. Ein Mann lag reglos in ein Netz geschnürt und mit zerfleischter Kehle zwischen toten Mordpelzen. Cyleste und ihre drei Bogenschützen stimmten erneut den Jagdgesang an -»Jaouhajaou! Jaouhajaou!«. Die Jäger unter
ihnen blickten nach oben und fielen sofort ein. In fließenden Bewegungen legten Cyleste und die Bogenschützen ihre Pfeile auf die Sehnen und schossen sie ab. Ihre Arme kreisten rasch zwischen Bogensehne und Köcher: Ein Pfeilhagel ging auf die Ayritzen nieder, und in wenigen Atemzügen war der Kampf auf dieser Seite des Kadavers beendet. »Zu Nyoto!« Cyleste winkte den Jägern. Um Schwanzflosse und Schädel des Seeherrschers herum stürmten sie auf die andere Seite. Die plötzliche Verdoppelung ihrer Gegner verwirrte die Ayritzen. Sie wichen zurück bis an den Kadaver, und die neugeordnete Kampflinie der Jäger gewann rasch die Oberhand. In kurzer Zeit töteten sie über zwanzig Mordpelze. Dem Rest - etwa sieben Ayritzen - gelang die Flucht in den Nebel. Cyleste hoffte, sie würden den Bogenschützen am Ende der Sandzunge in die Falle laufen. Vielleicht zogen sie sich aber auch nur zu den beiden jungen Seeherrschern zurück, die noch nicht gefunden worden waren, um sich dort neu zur Verteidigung ihrer Beute zu sammeln. Die Sängerin kletterte vom Kadaver hinunter. Aus dem Nebel kam eine Gruppe von zwölf Jägern; auch der Kampf bei Gileshs Leichnam war vorüber. Erschöpft hockten Nyoto und seine Jäger im Sand. Sie stützten sich schweratmend auf ihre Waffen und starrten ins Leere. Einige weinten auch, als sie die vielen gefallenen Gefährten sahen. Die Bogenschützen und die neu hinzugekommenen Jäger kümmerten sich um die Verletzten. Cyleste stand bei der Schwanzflosse am Rand des Kampfplatzes. Ihre Augen suchten den Vater ihrer jüngeren Tochter. »Ikoreis!«, rief sie. »Wo ist Ikoreis?!« Einige Jäger standen um einen leblosen, in ein Netz verwickelten Körper. Sie hoben die Köpfe und blickten schweigend zu ihr. Einer deutete mit seinem Speer auf den Toten.
Cyleste lief zu ihnen. Unnatürlich verkrümmt und mit violett verfärbtem Gesicht lag Ikoreis inmitten von toten Ayritzen. Sein Hals war eingeschnürt, seine schwärzliche Zunge hing ihm aus dem Mund, und aus seinem linken Auge quollen geronnenes Blut und Hirnmasse. Die Sängerin wandte sich ab. Ihr Fuß stieß gegen Ikoreis' herrenloses Schwert. Stumm bückte sie sich danach, holte aus und schlug auf die toten Ayritzen in Ikoreis Umgebung ein. Die Männer senkten die Blicke. Einige begannen die toten Jäger vom Kampfplatz weg zu ziehen. An seiner Axt stemmte Nyoto sic h ächzend hoch. Er wankte zur Mutter seiner Tochter und packte ihren Arm. Widerstandslos ließ sich Cyleste das Schwert abnehmen. Keuchend stand sie eine Zeitlang einfach nur mit geschlossenen Augen und hochgezogenen Schultern da. Nyoto legte den Arm um sie und zog sie an seine Brust. Ein paar Atemzüge lang weinte die Sängerin stumm in seinen Fellmantel. Dann machte sie sich los. »Wir haben nur eines der Kinder gefunden«, flüsterte sie. »Nimm dir sechzehn Jäger und suche die anderen beiden.« Sie schritt über die Leichen hinweg und wankte in den Nebel zurück Richtung Eisfläche. »Der Kampf bei Gileshs Leiche ist zu Ende«, sagte einer der Jäger. »Was willst du dort noch, Sängerin?« »Wir müssen den jungen Seeherrscher zurück in den See bringen«, sagte Cyleste ohne sich umzudrehen. »Und hab ihr nicht den Rauch aus Gileshs Rachen aufsteigen sehen? Kommt mit mir, wir wollen uns das anschauen...« *** Die Glieder des Fingertiers zuckten. Zentimeter für Zentimeter schob es sich rücklings vom Kiefer weg über die Zunge, und bei jeder seiner Bewegungen zitterte der Pfeil in seiner Stirn. Matt nahm an, dass es sich im Inneren des Wals in Sicherheit bringen wollte. Vielleicht waren es aber auch nur die letzten
Reflexe seines absterbenden Hirns, die es bewegten. Als die Kreatur neben dem verglimmenden Feuer lag, schien sie das Leben zu verlassen. Ihr Arm fiel in die Glut, ohne dass sie auch nur zuckte. Sofort roch es nach verbranntem Haar und angesengtem Fleisch. Beißender Rauch quoll auf. Matt Drax rückte dichter an den Wall von Zähnen heran. Er hätte seinen Unterschlupf liebend gern verlassen, aber angesichts des Massakers, das draußen tobte, wäre das nicht nur selbstmörderisch, sondern ausnehmend dumm gewesen. Auf der Sandbank war eine Schlacht im Gange, aber solange er nicht einmal wusste, wer gegen wen stand und worum es ging, würde er sich gewiss nicht einmischen. Also kauerte er sich unter einem der Eckzähne auf den feuchten Unterkiefer. Seine Augen tränten vom Rauch, er hustete in seine Schulter - so leise es eben ging - und wischte sich hin und wieder den kalten, klebrigen Schweiß aus dem Gesicht. Als Geschrei und Kampflärm draußen auf der Sandbank endlich verstummten, hörte er viele Männerstimmen durcheinander rufen. Irgendjemand schrie, als litte er Schmerzen, eine Art Fluch erklang, aber so angestrengt der Mann aus der Vergangenheit auch lauschte, er verstand kein Wort. Immerhin klangen die Stimmen irgendwie menschlich, auch wenn ihre Sprache an keine erinnerte, die er jemals irgendwo gehört hatte; und er war ziemlich weit herum gekommen. Der Arm des Fingertiers schmorte in der Glut, sein Mittelfinger stach ruckartig nach oben wie der Stachel einer sterbenden Wespe, und sein knochiges Känguruh-Hundemaul schnappte unregelmäßig ins Leere. Nur noch reine Reflexe. Matt überlegte, ob er nicht einfach aufstehen und aus dem Walrachen klettern sollte. Hallo Leute, Maddrax ist mein Name, und seid bitte nett zu mir. Aber leider hatte sich der Lärm der vergangenen Stunde nicht besonders friedlich angehört. Das Hauen und Stechen, das
Surren von Pfeilen, die Schreie der Sterbenden auf beiden Seiten klangen jetzt noch in ihm nach. Schritte stapften ziemlich nah vor dem Walrachen durch den Sand; viele Schritte diesmal. Die Stimmen klangen jetzt leiser, als tuschelten sie da draußen miteinander. Matt presste den Arm vor Mund und Nase - Rauch und Gestank wurden unerträglich. Er neigte den Kopf und lauschte. Eine Frauenstimme! Schon während des Kampfes hatte er geglaubt, eine weibliche Stimme aus dem Geschrei herauszuhören. Jetzt war er sich ganz sicher: Die klarste und energischste Stimme da draußen gehörte einer Frau. Die Gespräche verstummten, Schritte näherten sich rasch. ›Okay‹, dachte Matt, ›Zeit, sich vorzustellen.‹ Es würde keinen Sinn machen, sich weiter hier zu verbergen; dann lieber die Initiative ergreifen. Er richtete sich auf und trat an die Zahnreihe des Wals heran. Zwei Gesichter tauchten vor ihm auf. Glatte runde Gesichter von der Farbe schmutzigen Waches; sie erinnerten ihn an Eskimos, und eines war blutverschmiert. Schwarzes fettiges Haar hing aus grauen Lederkapuzen, und schmale dunkle Augen blickten ihn an - zunächst erschrocken, dann mit unverhohlener Feindseligkeit. »Hallo«, begann Matt und hob als Zeichen, dass er unbewaffnet war, die Hände. »Ich bin -« Weiter kam er nicht. Einer der beiden Männer brüllte etwas; fast gleichzeitig schwangen sie sich über die Walzähne. »Nicht so voreilig, Freunde!«, rief Matt. »Wir können über alles reden!« Doch sie rissen Schwertklingen aus ihren Rückenscheiden und belauerten ihn so vo ller Hass, als hätte er gerade ihre Frauen geschändet. Die Männer waren gut einen Kopf kleiner als er selbst, aber was nützte ihm das? Sie hatten Schwerter und Matt nur seinen Lebenswillen. »Ich will keinen Kampf«, beteuerte er und versuchte es in der
Sprache der Wandernden Völker: »Eja tweeno wa feesa, versteht ihr?« Sie verstanden natürlich nicht. Er wich zwei Schritte zurück, als einer der beiden auf ihn zu kam, das Schwert erhoben. Doch dann trennte der Eskimo nur den Schädel des Fingertiers von dessen knochigem Körper. »Ihr seid nicht gut auch die Viecher zu sprechen, stimmt’s?«, sagte Matt. »Glaubt ihr mir, dass ich nicht zu denen gehöre?« Sie glaubten es natürlich nicht. Und wandten sich nun ihm zu. Matt spannte seinen Körper an und suchte einen festen Stand auf der glitschigen Oberfläche des Walkiefers. Er hatte zwar kaum eine Chance gegen ihre Schwerter, aber ohne Gegenwehr würde er sich nicht abschlachten lassen. Einer der Männer schlug zu! Matt wich zur Seite, und die Klinge fuhr in die Zunge des Kadavers. Schon holte der zweite aus... Eine herrische Frauenstimme schrie etwas, und das Wunder geschah: Die Schwertkämpfer wichen zurück und ließen die Klingen sinken. Drei weitere Eskimos kletterten über die Zähne; einer richtete einen Speer auf Matt. Draußen stand eine Frau in grauem Fellmantel, eine ziemlich junge Frau mit schwarzem Langhaar und einem harten, kantigen Gesicht. Sie fixierte Matt nicht weniger feindselig als ihre Krieger. »Ich bin hier gestrandet«, versuchte er noch einmal, sich verständlich zu machen. »Mit diesen Fingertieren habe ich nichts zu schaffen.« Er verstummte, weil ihm der Speerträger die Spitze seiner Waffe an den Hals setzte. Die anderen hielten plötzlich dieses verteufelt reißfeste Netzmaterial in den Händen und fesselten ihm die Arme auf den Rücken. Ein anderer legte ihm eine Schlinge um den Hals. So zerrten sie ihn aus dem Walrachen hinaus in die eisige Kälte...
*** Er kniete im feuchten Sand. Ein junger, mit einem Speer bewaffneter Jäger stand ein paar Schritte hinter ihm und hielt die Netzfasern fest, die sie dem Gefangenen um den Hals geschlungen hatten. Und ein paar Schritte vor ihm wachte ein Bogenschütze. Sein gespannter Pfeil war auf den Fremden gerichtet. Cyleste schritt nachdenklich um ihn herum. Nie zuvor hatte sie einen blonden und derart großen Mann gesehen. Er würde längst nicht mehr atmen, wenn es nach den Jägern gegangen wäre. Doch Cyleste wollte Elyshee über sein Schicksal entscheiden lassen. Vom Eis her drangen rhythmische Gesänge aus dem Nebel. Über zwanzig Jäger versuchten dort Gileshs Sohn zurück in den See zu ziehen. Eine schwere Arbeit. Von Nyoto und seinen Jägern hatte sie noch keine Nachricht. Lebten die anderen beiden Seeherrscherkinder noch? Konnten die Jäger die geflohenen Ayritzen töten? Sie wartete ungeduldig auf eine Botschaft. Der Fremde folgte ihr mit dem Blick seiner blaugrünen Augen. Er stieß Worte aus, die Cyleste nicht verstand; laute, heftige Worte, als wollte er ihr etwas Wichtiges mitteilen. Sie fand seine Sprache abstoßend, aber seine tiefe Stimme gefiel ihr. Und die Augen - noch nie hatte sie solche Augen gesehen. Sie fragte sich, ob dieser Mann wirklich Seite an Seite mit den Ayritzen die beiden Waalfrauen gefangen und getötet hatte. Irgendwann hörte er auf zu reden und folgte ihr auc h nicht mehr mit seinem Blick. Müde und erschöpft kam er ihr vor, wie er da mit gesenktem Kopf im Sand kniete und vor sich hin starrte. »Hol ihm Wasser«, wandte Cyleste sich an den Bogenschützen. »Und zieh einem der gefallenen Jäger den Mantel aus und bring ihn mir.«
Der Jäger reichte ihr seinen Bogen und verschwand im Nebel. Cyleste nahm zwar die Waffe, richtete aber den Pfeil nicht auf den Gefangenen. Er sah nicht aus wie ein Mann, der noch Kraft für einen Kampf hatte. Von Sonnenaufgang her näherten sich Schritte aus dem Nebel, rasche Schritte. Einer von Nyotos Jägern lief zu ihr. »Wir haben noch dreizehn Ayritzen getötet!«, rief er schon von weitem. »Nur wenige konnten fliehen. Die Bogenschützen im Katamaran werden sie mit ihren Pfeilen begrüßen.« »Was ist mit den jungen Seeherrschern?«, wollte Cyleste wissen. »Einer ist tot. Die Ayritzen hatten schon begonnen ihn auszuweiden. Der andere lebt. Nyoto und die Gefährten bereiten alles vor, um ihn in den See zurück zu schaffen. Aber sie brauchen Hilfe.« Cyleste nickte und wandte sich ab. Drei ermordete Seeherrscher! Welch ein schwarzer Tag... Sie hob den Bogen und richtete den Pfeil auf den blonden Mann. »Weißt du nicht, dass sie die Lieblinge von Schwester Sonne sind?!«, fuhr sie ihn an. »Weißt du nicht, dass wir keine besseren Freunde haben? Ohne sie können unsere Völker nicht existieren!« Der Gefangene hob den Kopf und sah sie verständnislos an. Seine Zähne schlugen gegeneinander, er zitterte vor Kälte. Cyleste senkte den Bogen. Nein, in den Augen dieses Mannes konnte sie keine Spur von Gier und Hinterlist finden wie in den kalten Augen der Ayritzen. Der Bogenschütze kam zurück, einen blutverschmierten Mantel über dem linken Arm und einem wassergefüllten Ledersack in der rechten. Ein wenig unschlüssig blieb er vor Cyleste stehen und blickte zwischen ihr und dem Gefangenen hin und her. Die Sängerin nahm den Wassersack entgegen und gab ihm den Bogen zurück. Sie ging zu dem blonden Mann, und ihre Schritte
hatten nichts Zögerliches. »Trink!« Er legte den Kopf in den Nacken, und sie setzte die schlauchartige Öffnung des Wassersacks an seine Lippen. Er trank gierig, und als er genug hatte, meinte Cyleste etwas wie Dankbarkeit in seinem Blick zu erkennen. »Bring den Mantel her!« Der Bogenschütze kam bis auf vier Schrit te heran und warf ihr den Mantel zu. Cyleste breitete ihn um die Schulter des zitternden Mannes. Er sagte ein Wort, das wie ein Segen oder ein Dank klang. Bald lichtete sich der Nebel. Der Himmel riss auf, und hinter den Wolken wurde die Sonne sichtbar. Cyleste und ein paar Jäger stimmten ein Loblied auf Schwester Sonne an. Sie brauchten lange, bis sie Gileshs und Potteroshs Sohn und Hanuleshs Tochter zurück in den See gezogen hatten. Eine Herde Orgaras nahm sie in Empfang und geleitete sie in die eisfreien Weiten des Sees zurück zu ihren Vätern. Danach begannen die Jäger die Mordpelze zu häuten. Cyleste drängte zum Aufbruch, aber Nyoto bestand darauf, mindestens fünfzig Pelze mit nach Hause zu nehmen. Als sie mit dieser blutigen Arbeit fertig waren, schleiften sie die Kadaver und Körperteile der Ayritzen zum Ufer der Sandbank. Zwei Mal mussten sie mit drei voll beladenen Katamaranen auf den See hinausfahren. Hundertsiebenundvierzig tote Ayritzen warfen sie ins Wasser. Schnell sammelte sich eine große Herde von Seeherrschern, Orgaras und Potters. Ein großes Fressen setzte ein, und das Seewasser verfärbte sich rötlich. Cyleste und Nyoto verzichteten darauf, Fleisch und Fett der toten Waalfrauen zu bergen. Die Jäger waren vom Kampf erschöpft, und sie hatten weder geeignete Klingen noch Gefäße dabei. Eine Schlachtergruppe musste sofort nach der Heimkehr aufbrechen, um die Arbeit nachzuholen. Als die Sonne sank, ließ Cyleste den Gefangenen in ihren Katamaran bringen. Es dämmerte bereits, als sie die Boote von der Sandbank abstießen. Eine schweigsame Heimfahrt begann -
sieben verwundete Katamaranen...
und
elf
tote
Jäger
lagen
in
den
*** Aruula öffnete die Augen. Ihr Traum zerplatzte wie das Spiegelbild eines fremden Gesichtes im Wasser, wenn man einen Stein hinein wirft. Ein Traum voller Pflanzen, sattgrün und mit langen gewundenen Ästen, so viel wusste sie noch. Und dass es ein Traum voller Sehnsucht und Verlangen gewesen war. Ihr Schoß brannte. Die Motoren brummten. Auf den Armaturen blinkten rote und grüne LED-Leuchten. Der Himmel vor den Gondelfenstern war grau; mattes Licht erfüllte die Gondel. War es schon wieder Nacht? »Wie lange habe ich geschlafen?« Sie streckte sich, und eine Duftwolke stieg ihr aus ihren Kleidern in die Nase - eine Mischung aus feuchter Erde und verrottetem Leder. Sie fragte sich, wann sie zum letzten Mal mit Wasser in Berührung gekommen war. »Vier Stunden etwa.« Der grünliche Schein des Radardisplays lag auf dem Gesicht des Cyborgs. Es sah aus, als würden seine Augen von innen heraus leuchten. »Die Sonne ist vor anderthalb Stunden gesunken. In knapp einer Stunde wird sie wieder aufgehen.« »Hast du irgendwas entdeckt?« »Ein paar kleine Schmelzstellen im Eis. Sie wiesen geringfügig höhere Temperaturen auf als das Eis selbst. Sekrete der Flugechse, nehme ich an. Oder Kot.« ›Oder Blut‹, dachte er, sprach es aber nicht aus. »Wenigstens bestätigt das meine These: Der Drache hat einen schnurgeraden Kurs eingehalten. Wenn wir ihn weiter verfolgen, müssen wir zwangsläufig auf seine Spuren stoßen.« Aruula dachte an Matt. »Bei Wudan...«, seufzte sie, »ihm wird
furchtbar kalt sein. Hoffentlich erfriert er nicht...« Sie blickte auf den Geschwindigkeitsmesser: sechzig Stundenkilometer flog das Luftschiff. »Nein, er lebt«, sagte sie trotzig. Und dann: »Warum fliegen wir so langsam?« »Ich will nichts übersehen da unten. Außerdem habe ich die Geschwindigkeit erhöht, seit wir den See überfliegen.« »Du bist ganz sicher, dass es ein See ist?« »Ganz sicher. Und er ist nicht einmal vollständig zugefroren. Wir sind nur noch achtundzwanzig Kilometer von der Eisgrenze entfernt.« Angstbilder drängten sich der Barbarin auf: Maddrax, wie er aufs Eis stürzt, und sich das Genick bricht; Maddrax, wie die Lavaechse ihn ins kalte Wasser fallen lässt, in dem er erfriert oder ertrinkt; die grauenhafte Kreatur, wie sie Maddrax im Flug zerhackt und seinen Körper verstümmelt... Aruula kämpfte einen stummen Kampf gegen ihre Fantasien. Manchmal schossen ihr zu allem Überfluss auch noch Traumfetzen durch den Kopf, Äste und Laub und dieses lebendige Grün; und woher nur stammte dieses körperliche Verlangen? Natürlich kannte sie Hunger nach Sex, und nicht nur wenn sie ihre fruchtbaren Tage hatte - aber ihr Hunger richtete sich immer ausschließlich auf einen: Maddrax. Mit dem in tausend bedrohlichen Situationen geschärftem Instinkt einer Kriegerin spürte sie, dass etwas Fremdes von ihr Besitz ergriff. Und merkwürdigerweise beängstigte sie das überhaupt nicht, es verblüffte sie lediglich und verwirrte sie manchmal; so wie jetzt. Eine halbe Stunde später verfiel Aiko in eine ungewöhnliche Hektik. Seine Finger flogen über Knöpfe und Schalter, ständig blickte er ins Dämmerlicht hinaus und durchforschte die Nacht mit seinen elektronisch geschärften Augen. »Eisschollen«, sagte er plötzlich. »Dahinter eine Wasserfläche. Und davor ein Loch im Eis.« Aruula hörte es seiner erregten Stimme an, dass er einen Zusammenhang zwischen Maddrax und dem Loch
vermutete. ›Bitte nicht, Wudan, bitte, bitte nicht...‹ Sie betete stumm. Er ging mit dem Luftschiff bis auf sechzig Meter hinunter und kreiste eine Zeitlang über dem großen Eisloch. »Ein schwerer Körper muss es durchschlagen haben«, sagte er irgendwann. »Ein Körper, mindestens so groß wie der des Flugreptils. Das Eis rund um das Loch ist zerbrochen...« Sie sanken bis auf dreißig Meter - und dann ortete Aiko plötzlich drei Wärmequellen. »Bei meinen Vorfahren!«, entfuhr es dem Cyborg. »Es sind riesige Lebewesen, eines fast dreißig Meter lang, das andere über zwanzig, und das kleinste immer noch zwölf!« Aiko steuerte die Wärmequellen an. »Der See muss über die ganze Uferbreite eisfrei sein.« Er betrachtete abwechselnd Radarschirm und Karte. »Das feste Land liegt nur zwischen fünf und acht Kilometer entfernt.« Nebelschleier lagen über den Wärmequellen. Dennoch verriet der Radar, dass sie nicht im Wasser schwammen. »Eine Sandbank«, sagte Aiko. »Ich lande.« Zielsicher sprangen seine Finger über die Armaturen. Er justierte die Motoren so, dass sie einen genügend steilen Schubvektor erzeugten, und schaltete das Gebläse ein, das die Luftkammern innerhalb der Luftschiffhülle füllte. Das Brummen der Motoren klang jetzt ein wenig tiefer und sie hörten das Gebläse zischen. »Es sind Wale«, sagte Aiko, während sie sanken. »Gestrandete Wale! Im größten herrscht eine Temperatur von über vierzig Grad Celsius. Lange können sie noch nicht tot sein.« Er drückte Aruula Matts Driller in die Hand, den er im Luftschiffhangar von Citysphere 01 vom Boden aufgeklaubt hatte. »Außer den Tieren kann ich zwar keine Lebewesen orten, aber sicher ist sicher.« Aiko selbst hängte sich seine Tak 02 um die Schulter. Der Cyborg wusste in etwa, wie ein solches Luftschiff ohne Hilfe vom Boden aus zu landen war. In den langen Flugstunden hatte er die Armaturen und die Konstruktionspläne studiert.
Etwa acht Meter über der Sandbank schoss er den Ankerspeer ab, eine harpunenähnliche Stange, die metertief in weichen Boden eindringen konnte und dort drei Widerhaken ausklinkte. Für den Start musste man einen im Ankerspeer integrierten Motor aktivieren, der die Haken einzog, so dass ein kräftiger Ruck genügte, um den Anker aus dem Boden zu lösen. Sie ließen eine Strickleiter hinunter und stiegen aus der Gondel. Es dämmerte bereits, als sie vor einem der toten Wale standen. Schweigend untersuchten sie den Kadaver und seine Umgebung. Ein straff zusammengezogenes Netz war über die Walhaut gespannt. Links und rechts des Kolosses tränkte Blut Kies und Sand. Auch zerrissene Netzteile fanden sie, und merkwürdige Fetzen, die verdächtig nach Haut und menschlichem Fleisch aussahen. Aruula ging allein zum Strand. Wenn hier ein Kampf stattgefunden hatte, mussten es irgendwo Tote oder Verletzte geben. Oder hatte man sie abtransportiert? Dann hatten vielleicht Schiffe und Stiefel Spuren hinterlassen. Eine sanfte Brandung rollte auf die Sandbank. Aruula sah auf den dunklen See hinaus. Viele Eisschollen trieben im Wasser. Das gegenüberliegende Ufer konnte sie nicht erkennen. Über dem südöstlichen Horizont zeigte sich ein silbriger Streifen - der erste Gruß des neuen Tages. Aruula würde sich nie an diese kurzen Nächte gewöhnen. Das Wasser plätscherte einladend. Sie roch an ihren Kleidern und sah sich nach Aiko um. Anderthalb Speerwürfe entfernt näherte er sich dem zweiten Walkadaver. Die Barbarin dachte nicht lange nach: Weg mit Stiefe ln, Handschuhen und Kleidern. Nackt rannte sie ins Wasser hinein. Wie tausend spitze Messer stach die Kälte in ihre Haut. Sie biss die Zähne zusammen und tauchte bis über die Schultern ein. Blitzschnell rieb sie unter Wasser ihren Körper ab. Dann schnell zurück, raus aus dem Wasser und hinein in Lendenschurz, Lederhosen, Hemd, Weste und Mantel...
»Aruula!« Aikos Stimme aus dem Nebel. »Komm schnell!« Irgendetwas hatte er gefunden, sonst würde seine Stimme anders klingen. Mit klammen Fingern befestigte sie die Lederschnallen des Fellmantels und schnürte ihre Stiefel zu. Sie atmete gepresst. Die Kälte steckte ihr in allen Knochen und Muskeln, strömte in ihrem Blut durch ihren Körper. Aber es tat gut, so gut. »Komm schon, Aruula!« Sie verzog trotzig den Mund. Wenn sie etwas nicht leiden konnte, dann den Befehlston, den manche Kerle sich herausnahmen. Maddrax tat das nie... Im Laufen wollte sie die Handschuhe überstreifen - und stutzte. Die Dämmerung war inzwischen so weit fortgeschritten, dass Aruula die grünliche Verfärbung ihrer Hände deutlich erkennen konnte. Bis über die Handgelenke reichte sie schon. Aber nicht das war es, was ihre Aufmerksamkeit fesselte. Es waren die schlängelnden Bewegungen unter ihrer Haut. Sie blieb stehen und hielt den Atem an. An beiden Händen bemerkte sie es - als wären ihre Venen hervor getreten, als wären sie lebendig und wollten nun wie kleine Schlangen unter ihrer Haut zu den Schultern hinauf klettern. Ein paar Mal atmete sie tief durch und dachte kurz an ihren Traum. Schnell weg damit! Schnell die Veränderung unter den Handschuhen verbergen und bloß nicht mehr daran denken...! Sie zog die Handschuhe über die Handgelenke hoch und rannte los. Auf halbem Weg zwischen Walkadaver und Strand hockte der Cyborg und deutete auf ein paar Spuren: Abdrücke von Schuhen oder Stiefeln, und Schleifspuren. Aruula kniete sich neben ihn. Ihr Blick folgte seinem ausgestrecktem Zeigefinger. Aiko deutete auf einen Stiefelabdruck, der sich deutlich von den anderen unterschied. Einmal war er größer, und anders als die vielen kleinen Abdrücke hatte die Sohle ein deutliches Profil im Sand hinterlassen.
»Maddrax«, flüsterte Aruula. »Er war hier...!« Bis zum Strand konnten sie die Stiefelspuren verfolgen. Dort richtete Aiko sich auf und blickte in die aufgehende Sonne. »Er lebt«, sagte er. »Irgendwie ist er der Echse entkommen...« ›... und wer weiß welchen Teufeln in die Hände gefallen‹, führte er in Gedanken fort. *** Er sah die Fontänen wie dunkle Bäume sechzig oder siebzig Meter vor den Katamaranen aus dem See steigen - die Nacht war hell genug -, und als die Sonne aufging, sah er auch die Rücken der Wale. Die Hände auf dem Rücken gefesselt, hockte er zwischen zwei Eskimos auf der Paddelbank, fror sich den Arsch ab und traute seinen Augen nicht: Sie ließen ihre Katamarane tatsächlich von Walen ziehen. Im Nacken spürte er die Blicke der Frau, und wenn er sich von Zeit zu Zeit umdrehte, begegneten sich ihre Blicke. Die Härte war aus ihren Zügen verschwunden; fast sah es aus, als täte er ihr Leid. Die Fahrt zo g sich hin, die Sonne versank schon wieder im Nordwesten, als sie nach fast zwanzig Stunden an hölzernen Anlegestellen festmachten. Eine Menge Volk stand am Ufer, sicher hundertzwanzig Frauen und Kinder und ein paar Männer. Die meisten trugen graues Lederzeug - Mäntel, Jacken und Hosen aus Walhaut -, einige auch schmutzigweiße Fellcapes. Anfangs winkten sie, riefen und plapperten, doch als einige die Heimkehrer zählten und sie die Toten in den Katamaranen sahen, breitete sich das gleiche dumpfe Schweigen über die Menge aus, das schon die ganze Fahrt begleitet hatte. Sie zerrten ihn aus dem Boot und durch die Menge die Dünen hinauf. Hundert feindselige Blicke durchbohrten ihn. Selbst die Kinder schnitten Grimassen, als würden sie sich ekeln; zwei alte
Weiber spuckten ihn an. Die Frau und vier kleine, schlitzäugige Kerle trieben ihn eine sandige Anhöhe hinauf. Auf der Düne stand ein Zelt und davor ein Topf über rauchender Glut. Eine alte Frau hockte dort; zu ihr brachten sie ihn. Sie hatte langes weißes Haar und ein zerknittertes Gesicht wie aus rissigem Leder. Sie musterte ihn kalt, während die Jüngere mit ihr sprach. Plötzlich fing sie an zu heulen, raufte sich die Haare, stampfte mit den Füßen in den Sand und sprang auf. Zwei Mal schlug sie Matt mit dem Handrücken ins Gesicht. Danach stießen sie ihn die Düne hinunter. Im Abendlicht sah er eine Ansammlung von Zelten zwischen niedergedrücktem Gras und verharschten Schneeflecken. Die meisten Zelte waren aus grauschwarzer Walhaut, einige aus ehemals weißem Fell. Sie erinnerten Matt an die Wigwams der Dakota, die er auf Ferienreisen während seiner Schulzeit in Wyoming gesehen hatte, nur dass sie eine kuppelähnliche Form hatten. Ihm hatten sie ein Zelt aus Walhaut reserviert. In dessen Mitte schlugen sie einen Pflock in den Boden, fesselten ihm Hände und Füße daran und befestigten seine Halsschlinge unter der Zeltspitze, wo drei hellgraue, gebogene Leisten zusammen gebunden waren. Über die Leisten war die Zeltplane gespannt, und als Matt genauer hinsah, erkannte er, dass es Leisten aus leicht gebogenen Knochen waren; Walknochen vermutete er, wahrscheinlich Rippen. Kein Wunder; in dieser Gegend gab es keine Bäume, die als Baumaterial hätten dienen können. Die junge Frau verließ als letzte sein Zelt. Vorher betrachtete sie ihn - nicht kalt, auch nicht feindselig, eher mit einer Mischung aus Trauer und Erbarmen. Schließlich nickte sie ihm zu und ging aus dem Zelt. Die Eingangsplane ließ sie offen, und Matt hörte Schritte, Räuspern und Stimmen vor dem Zelt. Wie viele Wächter er ihnen Wert war, wusste er nicht. Die Nacht brach an, es wurde dunkel. Da hockte er nun und wusste einmal mehr nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb und ob das Schicksal noch etwas wie Zukunft für
ihn vorgesehen hatte. Zugegeben: Es war ein wenig bequemer, als in schwindelnder Höhe in den Klauen eines Flugreptils zu hängen, andererseits aber war es kälter als im Walrachen. Erst als nach drei oder vier Stunden die Dämmerung wieder heraufzog, nickte er ein. Irgendwann trat ihn jemand in den Rücken. Matt schreckte aus dem Schlaf und sah zwei Männer mit kurzen Spießen über sich stehen. Sie banden ihn los und stießen ihn aus dem Zelt. Es war hell; die Sonne strahlte in einem fast wolkenlosen Himmel. Zu viert führten sie ihn an den Kuppelzelten vorbei und aus dem Lagerplatz hinaus. Ganze Familien saßen oder standen vor den Zelten. Viele streckten ihre Arme Richtung Sonne. Dumpfes Summen und Murmeln lag über dem Dorf. Manchmal schüttelte jemand die Fäuste nach ihm. Matt schielte nach den Waffen seiner Begleiter - Speere, Messer und Schwerter - und überlegte fieberhaft, wie er der drohenden Hinrichtung vielleicht doch noch entgehen könnte, denn mit nichts anderem rechnete er. Sie brachten ihn zu einer Sandkuhle, in der es feucht aussah und aus der es fürchterlich nach Kloake stank. Erleichtert begriff er: Sie wollten ihm Gelegenheit geben sich zu entleeren. Das wenigstens deckte sich mit seinen eigenen Interessen. Sie beobachteten ihn, während er sein Geschäft erledigte. Danach führten sie ihn zurück zu seinem Zelt. Die Luft war so klar, dass man weit auf den See hinausblicken konnte. Dort stiegen Fontänen aus dem Wasser. Schaumig sah das Wasser in ihrer Umgebung aus. Matt erkannte drei oder vier Walrücken darin. Sie schwammen um einen Katamaran, und an dessen Bug stand eine kleine Gestalt in hellem Pelzmantel. Mehr als einen kurzen Blick konnte er nicht auf die unwirkliche Szene werfen, denn schon stießen sie ihn wieder in sein Zelt. ›Jesus‹, dachte er, während sie ihn am Pflock und am Zeltkreuz festbanden, ›sie sprechen sogar mit den Walen...‹
*** Den ganzen Tag ruhte die Arbeit, niemand aß etwas, niemand trank etwas. Alle blieben bei ihren Zelten und klagten Schwester Sonne ihren Schmerz und ihre Trauer über die toten Jäger und die drei ermordeten Seeherrscher. Cyleste verbrachte diesen langen Trauertag mit ihren beiden Töchtern auf der Düne vor dem Zelt ihrer Mutter. Die ganze Zeit, während Schwester Sonne ihre Bahn über den Himmel zog, saßen sie vor dem Zelt auf Fellhockern, blickten auf den See hinaus und murmelten die Namen der gefallenen Jäger und die der Waalfrauen und ihres Jungen. Die Luft war so klar an diesem Tag, dass Cyleste in der Ferne die Eisfläche glitzern sah. Manchmal stiegen wenige Speerwürfe entfernt die Atemfontänen der Seeherrscher auf, und sie konnten ihre Klagelieder hören. Dann fielen auch Mutter und Tochter in die Sprache der Seeherrscher und stimmten in ihre Gesänge mit ein, Elyshee krächzend und heiser, Cyleste mit heller, eisklarer Stimme. Die kleinen Mädchen lauschten mit offenen Mündern. Als der Abend heraufdämmerte und am Horizont nur noch ein roter Streifen waberte, fand sich der ganze Eisherrscherstamm nach und nach am See bei den Anlegestellen ein. Frauen, Männer und Kinder wuschen sich die Tränen aus dem Gesicht und Elyshee sprach ein Trostgebet und einen Segen. Mit Anbruch der kurzen Nacht wurden Feuer entzündet und Waalfleisch gebraten. Man aß und trank wieder, zum Zeichen, dass das Leben weiterging. Für die Toten wurden Fellhocker an die Feuer gebracht und vor jeden Sitz ein Becher Wasser und ein kleines Stück gebratenen Fetts gestellt. Nach dem Mahl trafen sich Elyshee, Cyleste, Nyoto und sieben meist alte Männer und Frauen zur Ratsversammlung vor Elyshees Dünenzelt. Das Feuer unter dem großen Topf brannte. Hin und wieder legte Nyoto zerhackte Rippenknochen nach. »Was spricht Finnilosh?«, wollte er wissen.
»Er vermisst seine Gefährtin und sein Kind«, sagte Cyleste. »Und er macht sich Sorgen um seinen Sohn. Potterosh frisst nicht mehr. Er treibt entlang der Eisgrenze durch die Schollenfelder und singt von Hass, Schmerz und Tod.« Eine Zeitlang schwieg die Versammlung. Cyleste wusste, wie schwer der Verlust Hanuleshs und Gileshs und vor allem des Jungen für die Seeherrscher wog. Es lebten nur etwas mehr als siebenhundert Seeherrscher zwischen Ufer und Eis. Und nicht einmal hundertvierzig davon gehörten zum Volk der Potter. »Was geschieht mit dem Gefangenen?«, fragte Nyoto. »Und vor allem: Wann geschieht es?« »Morgen«, sagte Elyshee. »Gleich nach Sonnenaufgang.« Cyleste erschrak, und gleichzeitig verwirrte sie dieses Erschrecken. Was ging sie der große Fremde an? Sie konnte sich die Frage nicht beantworten, sie spürte nur, dass ihr Herz ihn mochte. »Was geschieht nach Sonnenaufgang?« Ihre Mutter runzelte die Stirn und musterte sie. »Was für eine Frage, meine Tochter! Du weißt, was unter den Völkern der Eisherrscher mit Frevlern geschieht und stellst eine solche Frage?« »Wir verstehen seine Sprache nicht, er nicht die unsere«, sagte Cyleste. »Wie können wir wissen, dass er gegen das Gesetz von Schwester Sonne verstoßen hat? Wir wissen es nicht sicher.« »Er hat sich in Gileshs Rachen versteckt!« Nyoto klang ungehalten. »Er hat sogar ein Feuer darin entzündet! Viele Ayritzen flohen aus dem Rachen, als wir angriffen. Wäre er nicht ihr Freund, hätten wir ihn nicht mehr lebend dort gefunden. Eine Ayritze lag bei ihm im Rachen. Wäre er ihr Feind, wäre sie durch seine Hand gestorben. Sie starb aber an unserem Pfeil.« »Vielleicht haben sie ihn gefürchtet, weil er mit Feuer umgehen kann«, gab Cyleste zu bedenken. »Noch schlimmer«, meldete sich eine Älteste zu Wort. »Dann wollte er ihnen das Feuer bringen. Wer den Ayritzen das Feuer
bringen will, ist ein Feind der Seeherrscher. Wer ein Feind der Seeherrscher ist, ist unser Feind.« »Jaou, jaou!« Alle stimmten zu. »Jaou, jaou!« Alle, außer Cyleste. »Wir wissen nichts von ihm«, sagte sie. »Gar nichts. Wenn wir einen Unschuldigen bestrafen, sind wir es, die gegen das Gesetz freveln.« Wieder ein paar Atemzüge lang Schweigen. Ratlose Blicke richteten sich auf die alte Sängerin. »Hat er dir den Sinn verdreht?« Elyshee zischte böse. »Hat er dein Fleisch erhitzt?! Wir wissen das, was eure Augen sahen! Er war mit Ayritzen im Rachen der toten Gilesh! Das habt ihr gesehen! Haben deine Augen noch etwas anderes gesehe n, etwas, das ihn entlasten könnte?!« »Ja.« »Dann sprich! Aber sprich klar und kurz!« Elyshee funkelte ihre Tochter an. Ihre Lippen waren nur noch ein blasser Strich, und an ihrer zerfurchten Stirn schwoll eine Ader. Die anderen blickten verlegen auf ihre Knie oder ins Feuer. Die beiden Sängerinnen stritten selten vor fremden Ohren. Doch wenn sie es taten, taten sie es laut und heftig. »Ich habe gesehen, was jeder von euch hätte sehen können, wenn er nur mit seinem Herzen hinschauen würde!« Auch die junge Sängerin scheute sich nicht, ihre Stimme zu heben. »Ich habe sein klares Gesicht gesehen und seinen aufrechten Gang, und ich habe seine gütigen Augen gesehen! Ich will nicht, dass er wie ein Frevler behandelt wird! Er ist stark und gut - wenn er bei uns ble ibt, haben wir einen mächtigen Jäger gewonnen.« Ein paar Atemzüge lang hielten sich Mutter und Tochter mit wütenden Blicken fest. Elyshees Kaumuskeln pulsierten, doch es gelang ihr, ihrem Zorn Zügel anzulegen. »Gut!«, blaffte sie. »Dann muss der Rat beschließen!« Sie blickte sich in der Versammlung um. »Cyleste will den Fremden als Jäger bei uns leben lassen.«
»Jaou, jaou!«, sagte Cyleste. Alle anderen blieben stumm. »Ich dagegen will, dass er den Weg aller Frevler geht!«, rief Elyshee. »Jaou, jaou! Jaou, jaou! Jaou, jaou...«, kam das Urteil aus neun Kehlen. Aus Nyotos am lautesten... Cyleste war überstimmt. Und das Schicksal des Fremden besiegelt. *** Gesänge erfüllten den nächtlichen See, Gesänge von Werden und Vergehen, von Einatmen und Ausatmen, vom ewigen Kommen und Gehen. Sie versuchten ihn zu trösten. Den mächtigen Schädel auf das Eis gelegt, verharrte Potterosh reglos. Er lauschte den Gesängen. Die Lieder der Delfis klangen lockend und lieblich, die der Orgaras kraftvoll und zornig, und die seine s eigenen Volkes schwermütig und schicksalsergeben. Manche Stimmen kannte Potterosh gut - die seines Vaters Finnilosh zum Beispiel. Er sang nicht weit entfernt, vielleicht fünfhundert oder sechshundert Längen. Auch er sang vom Werden und Vergehen, von Zeiten des Glücks und Zeiten des Schmerzes, von Zeiten der Mühe und Zeiten des Spiels. Dabei trauerte er selbst; und nicht nur um seine Gefährtin, sondern auch um sein Kind. Andere Lieder brummten, summten und pfiffen von weit her durch den nächtlichen See. Ze hntausende von Längen entfernt sangen Seeherrscher, die er nur flüchtig kannte, für ihn und seinen Vater. Manchmal rutschte Potterosh vom Eis und ließ sich ein Stück ins Wasser sinken, um besser zu verstehen. Doch all die tröstenden Worte vermochten seinen Schmerz und seinen Hass nicht zu löschen. Nicht einmal die ihm zugesungene Erinnerung an die Rettung seines erstgeborenen Sohnes vermochte das. Tief in ihm brannte
das Verlangen nach Rache. »Potterosh hat Gefährtin und Mutter verloren!«, sang er dann. »In einer einzigen Stunde ist Potteroshs Herz zerbrochen!« Und wieder brandeten begütigende und tröstliche Gesänge an sein Ohr. Alles, was im See singen konnte, schien nur für ihn zu singen. Doch sein Schmerz war eine unheilbare Wunde. Irgendwann hörte er Finnilosh rufen. »Komm, Potterosh, komm mit Finnilosh zum Ufer der Eisherrscher. Ein Mörder lebt noch, kein Schatten, aber ein Schattenfreund - ein menschlicher Mörder. Unsere Freunde wollen ihn richten! Komm mit mir, Potterosh!« Keinen einzigen der getöteten Mordschatten hatte Potterosh angerührt. Die anderen hatten sie verschlungen. Aber jetzt zu hören, dass ein Eisherrscher gemeinsam mit den Schatten gemordet hatte, fachte seinen Hass an. Für Potterosh gab es nur eine Sorte Mensch, eben die Eisherrscher. Er saugte sich mit kalter Nachtluft voll und tauchte. Ein Mörder lebte noch! Er hatte lange nicht gefressen, doch die Aussicht auf wenigstens eine Spur von Genugtuung erfüllte das gigantische Muskelgeflecht unter seiner dicken Haut mit Kraft. Er tauchte den Gesängen seines Vaters hinterher... *** ›Was ist das Schlimmste, das dir passieren kann?‹, fragte er sich. Die Morgensonne hatte ihn geweckt. Gegen den Pflock gelehnt blickte er zum Zelteingang hinaus und sah sie kommen. ›Du frierst erbärmlich, du hast Hunger wie eine Taratze, du bist in einer Welt gestrandet, die sich der Satan ausgedacht haben muss - was kann dir eigentlich noch groß passieren?‹ Er zählte zehn Männer in grauen Ledermänteln. Einige schulterten Speere und Äxte, andere trugen Jagdbogen und Schwerter. Die junge Frau ging ihnen voran. Matt hatte längst
begriffen, dass Frauen hier den Ton angaben. »Das Schlimmste, was dir passieren kann, ist die Axt im Nacken; das Zweitschlimmste ein Speer im Bauch. Danach kommen Schwert und Pfeil, und zwar in der Reihenfolge. Na und?« Er dachte laut; seine eigene Stimme machte ihm Mut, und er fühlte sich weniger einsam, wenn er sich reden hörte. »Ich werde nicht mehr frieren, ich werde nicht mehr hungern, ich werde nicht mehr durch diese Hölle streunen müssen...« Sie kamen näher. Die Gesichter der Männer waren hart und bestätigten seine Gedanken: Es war vorbei. Die Gesichtszüge der Frau konnte er nicht genau einordnen. Trauer? Entschlossenheit? Vielleicht beides. Jedenfalls war sie so grau wie kalte Holzasche. »Es wird ganz schnell gehen«, murmelte Matt. »Ein Hieb, ein Stich, und Schluss.« Nur dass er Aruula nicht mehr wiedersehen würde, versetzte ihm einen Stich ins Herz. Wenn er sich doch wenigstens von ihr hätte verabschieden können... Vor dem Kuppelzelt blieben sie stehen, und Matt verstummte. Sein Herz schien sich geteilt zu haben, und jede Hälfte schlug direkt hinter den Trommelfellen. Sie zerrten ihn aus dem Zelt. Für ein paar Sekunden standen sie sich gegenüber. Die Frau sagte nichts, Matt sagte nichts. Dann packten ihn zwei Schwertkampfer und zerrten ihn an den Zelten vorbei. Zwei Speerträger und zwei Eskimos, die schwere Äxte geschultert hatten, gingen voraus. Schöne Aussichten. Einer der Axtkämpfer hielt seine Halsschlinge fest. Der Rest folgte. Die Frau ging nahe hinter ihm, das spürte Matt; es war, als würde ihr Geist ihn berühren. Eigenartiges Gefühl. Vor den Zelten standen Kinder, Frauen und Männer. Diesmal drohte ihm niemand, niemand schrie ihn an und niemand spuckte nach ihm. Der Lärm der Schritte hinter ihm nahm zu, und als Matt sich umdrehte, begegnete er erst dem brennenden Blick der Frau und sah dann, dass der ganze Stamm sich dem Hinrichtungskommando anschloss.
Nein, allein würde er nicht sterben, so viel war immerhin klar. Am Anstieg zur Düne packten sie seine Halsschlinge zu zweit und zerrten ihn hoch und auf der anderen Seite hinunter zur Anlegestelle. Die Fesseln schnitten ihm in den Hals; Matt würgte. Vor Wut zerrte er an den Handfesseln auf seinem Rücken, vergeblich. Die Frau hinter ihm blaffte einen Befehl. Sofort lief die Vorhut langsamer und das straffe Seil entspannte sich etwas. Plötzlich spürte er ihre Hände an seinem Nacken. Sie lockerte die Schlinge ein wenig. Am Anlegesteg wartete die Alte, die ihn zur Begrüßung geschlagen hatte, mit drei Männern und vier Frauen. Die Frauen hatten ähnlich viele Jahre auf dem Buckel wie die Weißhaarige. Matt hielt die Greisin für eine Art Häuptling. Unter den drei Männern erkannte Matt einen wieder, der schon während der Fahrt über den See die Rolle eines zweiten Offiziers gespielt hatte. Die Frau hatte ihn »Nyoto« oder so ähnlich genannt. Ein relativ junger Kerl mit langem Schwarzhaar und Stiernacken. Matt schätzte, dass er unter seinem Fellmantel mit Muskeln bepackt war. Dieser Nyoto also fixierte ihn mit unverstellter Feindseligkeit und Verachtung. Die Greisin hob beide Arme zur Sonne und rief etwas, das Matt natürlich nicht verstand; eine Beschwörung oder ein Gebet vermutlich. Danach stießen sie ihn in einen Katamaran. Die junge Frau - Matt hätte ihren Namen gern gewusst - nahm neben ihm Platz. Dabei hatte sie es eilig, als wollte sie einem anderen zuvorkommen. Das zehnköpfige Hinrichtungskommando verteilte sich auf Bug, Heck und Paddelbänke. Jemand band den Katamaran los und die Eskimos griffen nach den Paddeln. Matt begriff, dass es draußen auf dem See geschehen sollte. Wahrscheinlich wollten sie ihn irgendeinem Wassergott opfern. Auch gut. Dann bekam er wenigstens noch ein letztes Bad.
Das Pochen seines Herzens erschwerte ihm den Galgenhumor erheblich. Nur eine hauchdünne Decke zitterte über seiner Angst, eine Decke aus Sarkasmus und Verdrängung. Der geringfügigste Anlass würde sie zerreißen. Die Frau neben ihm stützte sich auf einen langen Speer, den ihr ein Paddler gereicht hatte, und drehte sich um. Über die Köpfe seiner Mörder in spe hinweg sah Matt zum inzwischen hundertfünfzig Meter entfernten Ufer. Dort standen sie, stumm wie die Fische, und glotzten dem Katamaran hinterher. Oder nein: Ihm glotzten sie hinterher. Hinter dem Katamaran schwamm ein kleines leeres Boot; sie hatten es ans Heck gebunden. Kalter Schweiß rann ihm unter dem Hemd über seine Rippen; kalter Schweiß tropfte von seinen Brauen auf die Wangen. Er wischte sich die Hände an den Knien ab; nur sein Mund war noch trocken. Er schluckte. Sein Herz hatte sich inzwischen dreigeteilt. Ein besonders großer Brocken schlug ihm jetzt auch noch in der bedrohlich engen Kehle. Matt fragte sich, wie lange es her war, dass er dem Tod zum letzten Mal ins Auge geschaut hatte. Ein paar Wochen? Ein paar Monate? Jedenfalls schien er aus der Übung gekommen zu sein. ›Warum, zum Teufel, schleppen sie ein leeres Boot mit?‹ Wieder drehte er sich um, diesmal ziemlich ruckartig - der Paddler neben ihm rammte ihm den Ellenbogen in die Rippen. Ein leeres Boot - wollten sie ihn auf dem See aussetzen? Zum ersten Mal seit Tagen regte sich in dem Mann aus der Vergangenheit etwas wie Hoffnung. Aber nicht lange. Als das Ufer nur noch ein dunkler Streifen zwischen See und Himmel war, erhob sich die Frau neben ihm. Auf den Speer gestützt, tastete sie sich an den Paddlern vorbei bis zum Bug. Dort fing sie an zu singen. Es war ein Gesang aus kehligem Summen, Knacklauten und Tönen, die so hoch waren, dass sie Matt in den Ohren gellten. Plötzlich begann zweihundertfünfzig Meter entfernt das
Wasser zu schäumen, überall bildeten sich Blasen und Strudel. Dann tauchte ein gewaltiger Walrücken auf und schließlich ein riesiger dunkler Schädel. Der schwarze Wal gehörte zur gleichen Rasse wie Matthew Drax' vorübergehender Unterschlupf auf jener Sandbank. Er schien auch ähnlich groß zu sein - etwa fünfundzwanzig bis dreißig Meter lang und vielleicht fünf oder sechs Meter hoch. Seine Schwanzflosse peitschte das Wasser und er blies eine schäumende Fontäne aus dem Atemloch. Es war, als würden hundert Neonröhren in einem dunklen Raum aufflammen und der Raum sich auf einmal als Hinrichtungsort entpuppen. Von einem Augenblick zum anderen wusste Matt, was die Stunde geschlagen hatte. Der Wal, der verdammte Wal war sein elektrischer Stuhl...! Fast sehnte er sich nach seinem Lavadrachen zurück... *** »Potterosh will ihn!« Der Seeherrscher hatte einen Fressgesang angestimmt. »Hass und Schmerz zerreißen Potteroshs Herz! Gebt ihn mir...!« Langsam drehte Cyleste sich um. Auch ihr Herz zerriss schier die Liebe zu ihrem Volk und zu den Gesetzen von Schwester Sonne zog es auf die eine Seite, die Liebe zur Gerechtigkeit auf die andere. Und vielleicht noch ihre Schwäche für diesen Fremden. Es hatte nichts mit Gerechtigkeit zu tun, was sie hier tat. Die Dolchklinge in ihrem rechten Mantelärmel schnitt in ihre Handfläche. Auf den Langspeer gestützt balancierte sie von Paddelbank zu Paddelbank über den schwankenden Katamaran zurück zu dem Todgeweihten. Nyoto, der mit einem zweiten Jäger hinter ihm saß, warf ihr finstere Blicke zu. Bei Sonnenuntergang hatte er sie bedrängt
bei ihm zu schlafen. Ihre Mutter hätte ihm ein zweites Kind von ihr versprochen. Cyleste hatte sich verweigert. Wasser und Schaum regneten auf sie und die Jäger herab - der Seeherrscher hatte wieder geblasen. Weniger als einen Speerwurf entfernt umkreiste er ungeduldig den Katamaran. Nyoto und der Jäger neben ihm rissen den Todgeweihten von der Paddelbank und drängten ihn zum Heck. Cyleste hielt sich dicht hinter ihnen. Sie fixierte die Fesseln um die Handgelenke des großen Fremden. Seine Hände hatten sich blaurot verfärbt. Am Heck angelangt, sprang Nyoto in das leere Boot. Der anderen Jäger wollte den Delinquenten hineinstoßen, doch Cyleste hielt den blonden Mann fest. Sie drängte sich an seinen Rücken und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Wenn du unschuldig bist, wird Schwester Sonne dir gnädig sein«, flüsterte sie. Der Dolch rutschte aus ihrem Ärmel in ihre Rechte, und mit einer kaum sichtbaren Bewegung durchtrennte sie seine Fesseln... *** An alles Mögliche dachte Matthew Drax, als er am Heck des Katamaran stand und in das leere Boot starrte, ein kurzes Kanu, in dessen Bug ein Paddel lag. Zum Beispiel dachte er an die bedauernswerten Menschen, die in den glorreichen Zeiten der Vereinigten Staaten von Amerika nach weiß Gott wie vielen Jahren Todeszelle ihren letzten Gang zur Gaskammer oder zum elektrischen Stuhl antraten. Und er fragte sich, warum sie ihn nicht einfach ins Wasser stießen - so ein Wal würde einen kleinen Happen wie ihn doch auch unter Wasser und ohne Boot aufspüren. Aber wahrscheinlich regelte das irgendein Gesetz dieser Eskimos. In jenen glorreichen und zivilisierten Zeiten hatte man Verurteilte ja auch nicht direkt nach dem Urteil in den Nacken geschossen.
Auch an seine Eltern dachte er, während sich von hinten die Frau an ihn drängte. Und an Aruula; und an seine Ex-Frau auch; sogar an seinen alten Freund Burt Cassedy. Ungefähr tausend Herzen erfüllten in diesem Augenblick seinen Körper mit ihren tausend Schlägen. Im Boot saß schon dieser Nyoto - er band es vom Katamaran los, streckte seinen Arm nach Matt aus und funkelte ihn böse an. Und die Frau hinter ihm flüsterte ihm etwas ins Ohr. Es klang vollkommen unverständlich in seinen Ohren, aber irgendwie feierlich. Und plötzlich waren seine Hände frei. Von diesem Augenblick an dachte der Mann aus der Vergangenheit nicht mehr nach. Jäh sah er seine Chance, und sein Lebenswille übernahm das Kommando. Blitzschnell riss er der Frau den Langspeer aus der Hand, sprang hinüber ins Boot und schlug den Speerschaft Nyoto gegen die Schläfe, sodass der benommen über die Paddelbank fiel. In der gleichen Bewegung fuhr Matt herum und stieß sich mit dem Speer vom Katamaran ab. An dessen Bord brachen Hektik und Geschrei aus. Ein Axt segelte über Matts Schädel und klatschte irgendwo hinter ihm ins Wasser. Ein paar Eskimos hoben ihre Speere, und zogen ihre Schwerter. Matt riss Nyoto hoch, nutzte ihn als Deckung und setzte ihm die Spitze des Speers an die Kehle. »Weg mit den Waffen!«, brüllte er. »Weg damit, oder er stirbt!« Er brüllte es zwar auf Englisch, aber der Sinn seiner Worte war kaum misszuverstehen. Die Speere senkten sich, die Schwerter rutschten zurück in die Scheiden. Die Frau stand reglos am Heck und sah Matt aus traurigen Augen an. Matt sah ihren Blick und das Messer in ihrer Rechten - und jetzt begriff er. »Zurück ans Ufer!« Er deutete auf das Paddel, und wahrscheinlich schrie er so laut, weil er wusste, wie sinnlos sein Befehl war. Nyoto griff widerstrebend zum Paddel. Den Kopf
leicht in den Nacken gelegt, weil die Speerspitze ihm in die Haut drückte, steuerte er das kleine Boot weg vom Katamaran. Matt ging in die Knie und zog dem Eskimo das Schwert aus der Scheide. »Ans Ufer! Beeil dich!« Er bohrte die Klinge über der linken Niere des Mannes in den Fellmantel. Den Katamaran ließ er keinen Moment aus den Augen. Schon gut zwanzig Meter trennten ihn von seinen Richtern. Sein Henker aber war fast dreißig Meter lang. Hinter dem Katamaran stieg eine Wasserwand in den Himmel, dahinter tauchte die Schwanzflosse des Wals in den See ein. Matt hatte keinen Plan - am Ufer erwartete ihn eine Menschenmenge, die ihn tot sehen wollte, und hier im See trachtete der Wal nach seinem Leben. Nein, er hatte keinen Plan - der Mann aus der Vergangenhe it gehorchte in diesen Sekunden einzig und allein seinem Instinkt. Auf einmal stiegen hunderttausend Blasen links und rechts des Bootes an die Wasseroberfläche. Im nächsten Moment glitt es durch Schaum, das Wasser schien zu kochen, und dann hob sich der Bug und der Katamaran schaukelte plötzlich sechs Meter unter Matt in den aufgepeitschten Wogen. Er und seine Geisel polterten ins Heck. Matts Finger verkrampften sich um Schwertgriff und Speerschaft, während er über den glitschigen Walrücken rutschte, gegen die Rückenflosse prallte und schließlich ins Wasser stürzte. Die Eiseskälte traf ihn wie ein Keulenschlag. Er glaubte, sein Herz stünde still. Als er Sekunden später auftauchte und nach Luft schnappte, sah er Nyoto an der Rückenflosse des Wals hängen. Der Katamaran war nicht mehr als eine lächerliche Nussschale neben dem Koloss. Der Eskimo rutschte seitlich über den gigantischen Rücken. Hände streckten sich nach ihm aus und zogen ihn in den Katamaran hinein. Und dann kehrte der Wal zurück. Matt kämpfte mit der Ohnmacht. Die Kälte drang auf ihn ein
wie Säure. Aus den Augenwinkeln sah er das Boot auf den Wellen tanzen - vielleicht fünfzehn Meter hinter ihm -, hatte aber keine Gelegenheit mehr, sich darüber zu wundern, dass es nicht gekentert und gesunken war. Vor ihm öffnete sich ein Rachen voller mannshoher Zähne; ein Abgrund, eine Halle aus Fleisch, ein stinkender, schleimiger Tunnel. Er merkte nicht, dass er brüllte; und auszuholen und das Schwert in diesen Abgrund zu schleudern war nichts weiter als ein Reflex, der ihm kaum bewusst wurde. Er klammerte sich am Speer fest, wie ein Ertrinkender an einem Eiszapfen. Eine Woge spülte ihn an einem Eckzahn vorbei, ein schleimiger Teppich von Zunge krümmte sich unter ihm, er fühlte Grund unter den Stiefeln, stemmte sich hoch, rammte den Speer in ein Gewölbe aus gerippter Schleimhaut und hielt sich am Schaft fest. Es war so kalt, so furchtbar kalt - fast spürte er seine Zehen und Finger nicht mehr. Dennoch hielt er sich am Speer fest, schluckte Wasser und rutschte auf der tanzenden Zunge des Wals hin und her. Die Speerspitze steckte zwischen den Schneidezähnen des Oberkiefers, das Schaftende hatte sich neben dem spitzen Eckzahn des Unterkiefers verkeilt. Der Wal konnte seinen Rachen nicht schließen. Er bäumte sich auf, und Matt sah für einen Augenblick den Himmel über sich. Dann strömte wieder Wasser an ihm vorbei, es wurde dunkel und dann wieder hell. Geräusche, die nicht zum Wal und nicht zum See gehörten, dröhnten über und hinter ihm. Matt zog sich hoch. Er schaffte es, das rechte Bein über einen der unteren Zähne zu bringen. Und als der Walschädel sich neigte, ließ er den Speer los und sprang aus dem Rachen. Die Welt verging in einem rasenden Wirbel. Für den Bruchteil einer Sekunde glotzte ihn ein riesiges Auge an, dann glitt schwarze Walhaut an ihm vorbei, berührte ihn zwei oder drei Mal und riss ihn jedes Mal herum wie einen Kreisel.
Der Sog zog ihn ein Stück weit mit nach unten, als der Wal tauchte. Binnen kürzester Zeit brannten seine Lungen. Es drängte ihn, Luft zu holen, aber er sah den hellen Schimmer des Tageslichts und kraulte verbissen darauf zu. Als er auftauchte und Luft in seine Lungen pumpte, sah er einen silbernen Wal über sich. Ein fliegender Wal? Dann erkannte er, dass es sich um einen Flugkörper handeln musste. Woher er kam und warum er über ihm schwebte, konnte sein Verstand nicht mehr verarbeiten. Die Kälte zerrte an seinen Haarwurzeln und seinen Hirnwindungen. Seine Kraft war verbraucht und das Leben brannte nur noch auf Sparflamme in seinen Gliedern. Beiläufig nahm er Explosionen wie von einem Driller wahr. Das Wasser um ihn herum sprudelte und färbte sich rot. Von irgendwo her, ziemlich weit weg schon, schrien Mensch vor Wut und Angst. Und wie aus dem Nichts rief eine Frauenstimme direkt über ihm: »Deine Hand, Maddrax! Gib mir deine Hand...!« Aruula schwebte wie ein Engel über ihm... nein, sie hielt sich an einem Seil fest und streckte ihm ihre Rechte entgegen. Und über ihr hing ein silbergrauer Zeppelin am Himmel... *** Später, als sein Verstand wieder zu arbeiten begann und die Temperatur seines Blutes allmählich anstieg, lag er nackt unter einem Berg von Fellen und Decken. Warme Arme und Schenkel umschlangen ihn - Frauenarme und Frauenschenkel -, und Hände rieben über seinen Rücken und seine Glieder. Aruula steckte mit ihm unter dem Berg von Kleidern und wärmte ihn. »Ihr... ihr hättet... ihn nicht töten dürfen«, stammelte Matthew Drax. »Ich... ich glaub, der Wal... er war klug... so klug wie wir...« Er umarmte Aruulas Körper und barg sein Gesicht
zwischen ihren warmen Brüsten. »Ihr hättet... hättet nicht auf ihn schießen dürfen...« Jemand zog die Felle über seinem Gesicht zur Seite, griff in sein Haar und bog seinen Kopf in den Nacken. Matt erkannte ein Gondelfenster, den wolkenlosen Himmel dahinter und ein Stück des silbernen Zeppelinrumpfes - und Aikos Gesicht. »Nicht schießen?« Der Cyborg setzte ihm einen Metallbecher an die Lippen und flößte ihm heißes Wasser ein. »Schon möglich, Matt«, sagte er. »Aber wir bildeten uns ein, du hättest noch ein bisschen was vor mit deinem Leben.« Matt trank gierig, und unter den Fellen hielt Aruula ihn fest, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. *** Erst nach Sonnenaufgang wagten sich die Ersten wieder aus ihren Zelten. Der graue Seeherrscher am Himmel ha tte den ganzen Stamm in Angst und Schrecken versetzt. Schwester Sonne stand am Zenit, als Cyleste auf dem Anlegesteg saß und beobachtete, wie die Jäger ihres Stammes den aufgeplatzten Körper Potteroshs aus dem See zogen. Elyshee stand hinter ihr. Ihr weißes Haar flatterte im Wind. »Du bist Schuld an seinem Tod«, krächzte sie. »Du weißt, was das bedeutet.« »Ein göttlicher Seeherrscher hat ihn getötet und dem Fremden das Leben gerettet, Mutter«, sagte Cyleste. »Ich habe nichts damit zu tun. Schwester Sonne ha t ihr Urteil gesprochen. Sie hat den grauen Seeherrscher geschickt, sie hat dem Todgeweihten das Leben geschenkt - also war er ein Gerechter.« »›Ein göttlicher Seeherrscher...‹«, äffte Elyshee sie nach. »Hast du je gehört, dass ein Seeherrscher fliegt!? Es war ein Dämon! Du hast dem Frevler das Leben gerettet! Du hast ihm die Fesseln durchgeschnitten!« »Er war ein mächtiger Jäger, Mutter«, sagte Cyleste. »Und ich
wollte, dass er wie ein mächtiger Jäger stirbt - im Kampf.« Elyshee wandte sich ab. Ohne ein Wort zu verlieren verließ sie die Anlegestelle. Bis zur Dämmerung blieb Cyleste allein am Seeufer. Allein blieb sie auch in den Tagen danach. Niemand außer ihren Töchtern sprach mit ihr. Wer ihr zwischen den Kuppelzelten oder am See begegnete, wich ihrem Blick aus. Drei Sonnenuntergänge nach Potteroshs Tod berief Elyshee eine Ratsversammlung ein. Ohne Cyleste. Man hörte die erregten Stimmen der Ältesten aus dem Zelt der greisen Sängerin. Nyoto palaverte am lautesten. Als Cyleste nach Sonnenaufgang aus ihrem Zelt kroch, standen zwei mit Speeren und Bogen bewaffnete Jäger davor. In der Abenddämmerung lösten zwei andere sie ab. Wenn Cyleste sie ansprach, blieben sie stumm. So ging das zwei Tage und zwei kurze Nächte. Und in jeder Abenddämmerung berief Elyshee eine Ratsversammlung ein. Cyleste war eine Sängerin - es gab nicht viele Sängerinnen. Hier am Seeufer nicht und an der Küste des Nordmeeres auch nicht. Irgendein Stamm an der Küste würde ihr und ihren Töchtern ein Zelt aufschlagen. In der dritten Nacht standen Jäger vor ihrem Zelt Wache, die ihr wohlgesonnen waren. Cyleste packte getrocknetes Waalfleisch, Felle und Werkzeug zusammen. Sie zog ihren Töchtern je drei Mäntel an und schulterte Bogen und Köcher. Die Wächter taten, als merkten sie nichts. Cyleste und ihre Kinder flohen in die Nacht... ENDE
Spielball der Götter von Michael Schönenbröcher In einem Gewittersturm aus tausend Metern Höhe mit einen Zeppelin abzustürzen ist kein Zuckerschlecken. Sich einer Horde grimmiger Eingeborener gegenüber zu sehen, kaum dass man seine Knochen sortiert hat, macht die Sache auch nicht besser. Vor allem wenn der Häuptling des Stammes davon überzeugt ist, die Götter wollten ihn strafen - und die Fremden wären die Vollstrecker. Matt, Aiko und Aruula geraten vom Regen in die Traufe, als ihr Luftschiff beim kanadischen Fort McPherson niedergeht. Ihre einzige Hoffnung ist der Schamane des Dorfes, der ein ganz anderes, Jahrhunderte altes Geheimnis hinter ihrem Erscheinen vermutet. Und der sie damit auch von der Traufe zurück in den Regen bringt ...