Heinrich Sobeck
Der Professor An der Kölner Universität gehen merkwürdige Dinge vor sich. Zuerst verschwinden Bücher, V...
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Heinrich Sobeck
Der Professor An der Kölner Universität gehen merkwürdige Dinge vor sich. Zuerst verschwinden Bücher, Videos und CDRoms. Dann sterben 2 Mitarbeiter der Germanistik auf absurde Art und Weise. Der König der Fachschaft Germanistik setzt den royalen Investigator Marc Koster ein, um den Fall aufzuklären. Marc kommt einem neuen Professor auf die Spur und deckt einen Fall esoterischer Verschwörungen auf. Eine Satire aus dem Jahr 1994. Ziemlich abgedreht. Und ein Trauerspiel für alle Anhänger des Okkultismus.
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Alles auf Anfang I. Als Marc Koster geboren wurde, legte man den Grundstein für den Neubau des Philosophikums an der Kölner Universität. Eine Pyramide aus Beton erhob sich über dem Albertus-Magnus-Platz, unter dem die Innere Kanalstraße verschwand. Das einladende Gebäude ließ Generationen von Studenten ein, ertrug lethargisch jede Demonstration und jeden Streik. Hätte dieses Gebäude gewußt, welche Vorgänge sich im Herbst des Jahres 1994 dort abspielten, vielleicht wäre es grau vor Entgeisterung geworden. Der Beginn des Wintersemesters an der Kölner Universität zeigt jedes Jahr wiederkehrende Regeln. Eine dieser Regeln ist die mit dem ersten Tag des Semesters einsetzende chronische Überfüllung der Bahn von der Innenstadt Richtung Universität. Weil er früh genug einstieg, hatte Marc das Glück, den Sitzplatz eines Schäferhundes übernehmen zu können. An den Fenstern des überfüllten Wagens kondensiert das Wasser, melancholische Tropfen laufen am Glas herunter. Marc streift mit dem Ärmel seiner Jacke das Kondenswasser vom Fenster und sieht nach draußen. Die Feuchtigkeit wabert durch die Bahn, er blickt auf den vergangenen Sommer zurück. Was hatte er sich nicht alles vorgenommen... Arbeiten, bis das Geld für den Urlaub reicht, dann irgendwo in den Süden. Was war passiert? Er hatte mit Mühe einen Platz in einem Seminar ergattert und sich voll in das Thema hineingekniet, "Der sadomasochistische Ansatz des Gretchen in Goethes Faust". Woche um Woche war vergangen, die Bücher füllten den kärglichen Raum in Marcs kleiner Bude aus, je näher der Abgabetermin rückte. Kurz vor Ende der Ferien streikte der Computer, er mußte Nachtschichten einlegen, um die Arbeit rechtzeitig abgeben zu können. Sein Blick fällt auf die Gesichter der Menschen in der Bahn. Es ist Montag, die sprichwörtliche Lethargie zu Anfang der Woche zeigt sich in den Augen der Älteren. Die Jüngeren sind offensichtlich Studenten, und bei diesen unterscheidet Marcs geschultes Auge zwei grundsätzliche Charaktere. Da sind die höheren Semester, denen ein routinierter und gelangweilter Ausdruck ins Gesicht geschrieben ist. Sie wissen, was sie an der Uni erwartet. Die zweite Gruppe ist die der Erstsemester, für die es heute der erste Tag ist. Sie haben ja noch gar keine Ahnung, worauf sie sich hier eingelassen haben. Marc kommt ins Grübeln. Was hat dieses junge Gemüse überhaupt für eine Ahnung vom Leben? Er gleitet in die Zeit zurück, als er selbst frisch an der Uni war. Es war falsch, direkt zur Uni zu gehen, den aalglatten Weg einer vorgezeichneten Karriere einzuschlagen. Ihm war viel Zeit verloren gegangen, weil er überhaupt nicht wußte, wofür er sich interessieren würde, was er sich als späteren Job vorstellen konnte. Mit Grauen dachte er an sein erstes Semester in BWL zurück, an das Gefühl, ein Fremdkörper im Ausbildungslager zukünftiger 2
Juppies zu sein. Jetzt stehen diese Anfänger neben ihm in der Bahn und sind in der gleichen Situation wie er selbst vor einigen Jahren. Die werden sich auch noch die Illusionen abstoßen, denkt er. An der Haltestelle "Universität" leert sich die Bahn explosionsartig, das Fahrgestell seufzt erleichtert auf. Eine Welle junger Menschen strebt dem Hauptgebäude zu, Marc setzt sich von der Masse ab und geht an der Bibliothek vorbei zum Philosophikum. Der Teich zwischen dem Betonblock und der Inneren Kanalstraße ist leer, die ersten Fröste haben sich angemeldet. Ein Obdachloser schläft im Gebüsch daneben seinen Rausch aus. Auch eine dieser Gestalten, die zum Lokalkolorit der Uni zählen, sagt Marc zu sich. Alles wiederholt sich, es ist als ob ein Film zweimal im Jahr zurückgespult wird und von vorne beginnt. Die Akteure sind jedesmal andere, haben aber das gleiche Erscheinungsbild. Der Ort der Handlung bleibt stets derselbe, der Platz vor dem Hauptgebäude der Uni, die großen Hallen, durch die sich die Massen der Studenten wälzen. In der großen Halle des Philosophikums winden sich die wißbegierigen Gestalten an den Ständen der Fachschaften und politischen Listen vorbei. Irgendein Witzbold hat an der Wand über dem Stand des RCDS ein Graffiti aufgesprüht, daß einen platzenden Kohl zeigt. Natürlich waren die gut angezogenen Jungpolitiker darüber nicht glücklich und hatten versucht, die Wand mit einem Plakat von Peter Hinze zu überdecken. Sie hatten aber nicht mit dem Hausmeister gerechnet, der etwas von Sicherheitsbedenken faselte und die Christen so lange zusammenschnauzte, bis sie den Sekretär der Partei von der Wand nahmen wie weiland Jesus vom Kreuz. Auch die Fans von Schönhuber und Frey hatten ihren Stand gestern Abend bereits aufgebaut, fanden ihn aber am Morgen trotz ihrer schlagenden Wachmannschaft zu Kleinholz zerbröselt in der Toilette wieder. Marc schreitet gemessenen Schrittes an der Auslagen der diversen Listen vorbei, mehr Tempo ist bei der Masse der Menschen in der Halle nicht drin, und strebt der Fachschaft der Germanisten zu. Er weiß, dort erwarteten ihn freundliche Gestalten, denen das Wiedersehen mit ihm ein Lächeln auf das Gesicht zaubern wird. Er weiß auch, daß ihn dort die Kaffeemaschine erwartet.
II. "Ich weiß nicht, was du dir von diesem Studium erwartest. Wenn du irgend etwas Sinnvolles machen willst, dann gib' der Uni einen Tritt in den Hintern." Brigit zieht an der Zigarette, während sie die junge Frau ihr gegenüber näher ansieht. "Wenn du Lehrerin werden willst, dann kannst du hier ein paar schöne Jahre verbringen, bevor dich die Kinder zerreißen. Aber ich sage dir das auf den Kopf zu, als Magister fährst du in zehn Jahren Taxi." Die Frau wird hier nicht lange bleiben, denkt Brigit, zu oberflächlich und ohne den Willen, sich durch das Studium durchzubeißen. Einige Jahre an der Uni haben sie gelehrt, Menschen einschätzen zu lernen. Die junge Frau ihr gegenüber nimmt eine Zeitschrift mit Tips für Erstsemester mit und verläßt schweigend und 3
desillusioniert den Raum. Brigit sieht Marc hereinkommen, steht vom Schreibtisch auf und zieht das Kostüm glatt. "Hast du mal 'ne Lulle für mich?" Marc führt eine imaginäre Zigarette dem Mund entgegen. "Nur eine? Du kommst deinem Ruf nicht nach." Sie hält ihm die Packung hin. "Außerdem hast du das beste verpaßt." "Ich bin das Beste" sagt der Weltmeister im Schnorren. "Das kann ich gar nicht verpassen." "Doch. Der RFS hat heute morgen randaliert." Marcs Augenbrauen heben sich. Schönhubers Freunde waren, nachdem sie ihren Tisch im Klo wiedergefunden hatten, auf die Stände der linken Listen losgestürmt und wollten die von der Geschichte überholten Altsozialisten zusammenknüppeln. Leider hatten diese damit gerechnet und eine Gruppe von Autonomen angeheuert, die mit Hilfe ihrer Schäferhunde die Situation schnell klären konnten. Bevor die Polizei kam, lagen die Skins am Boden und waren die Autonomen verschwunden. Die Blutspuren am Boden kann man nur deshalb nicht sehen, weil die Menschenmasse den Blick darauf versperrt. "Das fängt gut an." Er zündet sich die Zigarette mit dem Feuerzeug eines anderen Studenten an. "Schon in der ersten Woche eine Schlägerei, das gefällt mir. Die Uni als Hort der Wissenschaft und der Lehre, wie unser Dekan sagt. Dem Mann kocht jetzt bestimmt die Bauchspeicheldrüse." Sein Blick wandert durch den Raum und stellt bewundernd fest, daß auch dieses Jahr wieder eine Menge Studentinnen unter den Erstsemestern sind. Es ist nicht Marcs Art, Komplimente zu machen, aber es kommt genau zweimal im Jahr vor, daß er so etwas wie Charme versprüht, nämlich immer zu Beginn des Semesters. Und jedesmal enden die hoffnungsvollen Anfänge zarter Bande zu weiblichen Geschöpfen im Nirvana des Singledaseins. "Wo is'n der Koffeinspender?" Mit der Zigarette im Mundwinkel spricht er recht undeutlich, sieht aber verdammt nach Macho aus. "Die hat's hinter sich." Brigit deutet mit einem dezenten Lächeln in die Richtung des Waschbeckens, neben dem die traurigen Überreste einer an Verkalkung dahingeschiedenen Kaffeemaschine ihre Gebeine dem Neonlicht entgegenstrecken. "Verdammt", sagt Marc, "das Einzige, was mich am Leben erhält, ist kaputt. Es liegt ein Fluch über diesem Raum." Brigit geht zum Kühlschrank und zaubert eine Flasche Reissdorf hervor. "Hier. Das haben uns die Autonomen übriggelassen." Sie reicht Marc die Flasche. "Echtes Punk-Bier? Das authentische mit dem 'Hass' 'mal 'ne Mark' beim Öffnen"? Er sieht Brigit erwartungsvoll an, schnappt sich das Schlüsselbund eines Studenten und hebelt den Deckel ab. 4
Tatsächlich, es kommt das Zischen mit den Worten "Ey, Alter..." Sie schnappt ihm die Flasche vom Rachen weg und stürzt den goldenen Gerstensaft die Kehle hinunter. Der Weltmeister der Schnorrer bleibt mit erwartungsvoll geöffnetem Mund, aus dem kein Wort dringt, stehen und sieht mit großen Augen zu, wie die wohlerzogene Arzttochter seine Verhaltensweisen übernimmt. Ein großer Schluck, ein exorbitanter Rülpser, und sie gibt ihm die Flasche zurück. "Ich kann's auch!" Ein breites Grinsen fährt übers Brigits Gesicht. "Mein Magen verlangt sein Recht. Wie wär's mit der Kyffhäuser?" "Das sag' ich dir, wenn das Bier drin ist." Er trinkt einen großen Schluck. "Ist es schon so weit mit dieser Uni, daß sie nur noch betrunken zu ertragen ist? Müssen wir jetzt in den Hörsälen beobachten, wie sich die jungen Studenten vor jeder Vorlesung den Flachmann geben? Wohin driftet diese Welt?" Er fuchtelt mit der Flasche vor Brigits Gesicht herum. Ein schwerer Fehler, denn ein älteres Semester schnappt ihm die Flasche aus der Hand und verschwindet in der Menge. Marc zeigt dem Kommilitonen den ausgestreckten Mittelfinger und nickt Brigit mit dem Kopf zu, essen zu gehen. Die Erfahrung der Jahre hat es Marc und Brigit gelehrt, in der ersten Woche einen weiten Bogen um die Zentralmensa zu machen. Studenten aus der ehemaligen DDR fühlen sich hier heimisch, denn an keinem anderen Ort als in der Mensa kann man das Gefühl genießen, in der Schlange zu stehen wie in guten alten Zeiten. Und genau wie damals gibt es undefinierbare Gebilde auf billigem Plastik. Doch damit nicht genug. Natürlich müssen in der ersten Woche die politischen Gruppen, überhaupt alle Organisationen, die sich von den Studenten etwas versprechen, in der Mensa Flugblätter verteilen, so daß arglose Studenten unter einer Lawine von Papier zusammenbrechen. Wer in Ruhe gelassen werden will, braucht starke Nerven. Oder muß sich auf Diät setzen. Auf der Kyffhäuser Straße hat sich die größte Ballung von türkischen, italienischen und griechischen Imbissen angesiedelt, die in Europa zu verzeichnen ist. Wer mittags durch diese Straße geht, mit knurrendem Magen vielleicht und dem festen Vorsatz, nichts zu essen, muß entweder ein Masochist, Pleite oder willensstark sein. Für mensaunwillige Gestalten wie Brigit und Marc jedoch ist diese Straße das wahre Paradies. An der Ecke Heinsbergstraße lassen sie sich frischen Pizzateig backen und extraviel Zatziky auf das Döner kippen, damit ihnen die Erstsemester für den Rest des Tages nicht mehr zu nahe auf die Pelle rücken. "Was macht dein Referat?" Brigit reibt sich das Fett aus dem Mundwinkel. "So wie du aussiehst, hast du deine Matratze länger nicht gesehen." "Ich werde einen längeren Winterschlaf halten. Der Rechner ist abgestürzt." "Gefällt dir das Thema?"
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"Bullshit." Er reibt sich die Finger an einer Serviette sauber. "Voll die Scheiße. Ich finde keine Literatur, ich kriege keine Struktur in die Arbeit, und meine Motivation tendiert gegen Null. Ich sollte den ganzen Driss hinschmeißen." Er wirft die Serviette weg. "Was machen deine Frauen? Gut gebaggert?" "Bring mich nicht zum Kotzen!" "Du bist also wieder solo?" "Ja." Er dreht sich von ihr weg. Es wäre in den Ferien alles so schön gewesen... Arbeiten für das Geld, zwei wundervolle Wochen zu zweit in Südfrankreich. Und dann war da plötzlich ein fremder Typ am Telefon. Damit war ihm klar, warum Jeanne nichts mehr von sich hören ließ. Ein Tritt in den Hintern, einige Flaschen Wein und er war wieder solo. "Es ist immer dasselbe. Bei jeder Frau geht's schief. Ich sollte mich kastrieren lassen." Er geht auf die Straße. "Ich werde nie verstehen, warum ich immer alles falsch mache. Vielleicht bin ich der geborene Looser."
III. Ein Engel hat das Flehen der Menschen in der gewählten Studentenvertretung erhört und eine Kaffeemaschine in die Fachschaft gebracht. Mit Frohlocken nehmen die Menschen, denen der Kaffeentzug zu schaffen macht, das Gerät in Betrieb, das eine in der Nähe wohnende Studentin gespendet hat. Marc beginnt nach dem Essen müde zu werden, Schlafen war für ihn in den letzten Nächten ein Fremdwort, und er genießt das Gefühl des Koffeins, das in die Blutbahn eintritt. Mit der Kanne gehen Brigit und er in den benachbarten Seminarraum und stellen sich an das Kopfende des Raumes. Ein jüngerer unter den Studenten erklärt den lauschenden Gestalten, was sie bei der Vergabe der ersten Seminare gerade falsch gemacht haben. Achim hält einen längeren Monolog, in dem er einen Rundumschlag über den allgemeinen Blödsinn der Welt und den germanistischen Schwachsinn im Besonderen zum besten gibt. In Stil der preußischen Herrscher redet der König zum gemeinen Volke hernieder, gebietet mit einer hochherrschaftlichen Geste Stille, wobei ihm die Rüschen an den weiten Ärmeln seiner Bluse auf den Arm fallen. Marc stellt sich auf den Tisch und verschränkt die Hände vor dem Rumpfende. "Ich stehe aufrecht. Ich habe Träume, eine Illusion des Lebens, das vor mir liegt. Ich will studieren, Spaß haben und später einen Job. Und ich bin mir total sicher, daß ich das Richtige mache." Stille im Raum. Er mustert die Gestalten, die ihn ungläubig anstarren, springt mit einem Satz vom Tisch herunter und geht in die Mitte des Raumes. Um ihn herum entsteht eine Traube von Menschen, die ihn beobachten. "Jetzt bin ich ein paar Jahre älter. Ich habe meine Zwischenprüfung hinter mir. Es hat sich alles nicht so entwickelt, wie ich mir das in den ersten Jahren vorgestellt hatte. Die ganzen Illusionen, die ich hatte," er breitet die Hände in der Luft aus, "sind verflogen wie der Rauch einer Zigarette in einem Herbststurm. Aber ein Ziel liegt noch vor mir. Ich will 6
das Studium zu Ende bringen." Marc geht langsam in Richtung der Tür, dreht sich neben dieser um und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. "Es ist soweit. Ich habe die Prüfungen hinter mir und bin fertig. Ich bin wirklich fertig. Das war nichts mir dem Job als Lehrer." Er geht mit dem Rücken an der Wand in die Knie und sinkt zu Boden. "Alles das, wofür ich zehn Jahre und mehr meines Lebens gearbeitet habe, ist verloren. Alle meine Träume von einem Job, alle Illusionen, die ich von dem geilen Leben als Student hatte, sind zerplatzt wie Seifenblasen." Und nach einer Kunstpause, in der er mehrere Studenten mustert: "Ich könnte jeder von Euch sein. Jeder Einzelne von Euch wird das mitmachen." Er steht auf, nach kurzem Zögern applaudiert ihm die Menge, während er zum Pult zurückgeht. "Macht der immer so ein Theater?" Eine junge Studentin wendet sich an Brigit. "Das ist jedesmal das große Rätselraten bei uns. Wir schließen inzwischen Wetten ab, was er macht, um Euch zu demotivieren." Ein Lächeln fährt über ihr Gesicht. "Und heute hat er den Vogel abgeschossen."
IV. Eine Wolke fruchtigen Parfums wallt Marcs Nase entgegen, als er die Tür seiner WG öffnet. Lisa hat wieder literweise von diesem billigen Zeug über sich gekippt, denkt er. Seine Mitbewohnerin hat vor wenigen Minuten den Flur verlassen und ist um die Ecke in die Bank gegangen, in der sie das Geld für die Miete verdient. Er hängt die Jeansjacke an der Garderobe auf und geht in die Küche, einen Kaffee kochen. Als hätte ihn Bud Spencer mitten auf die Nase getroffen, wankt er zurück in den Flur. Auf der Spüle türmt sich ein Berg Geschirr, ungespült, versteht sich, die Mahlzeiten der letzten Tage lassen sich gerade noch identifizieren. Der Zustand des Schimmels auf den Nahrungsresten erlaubt dem geneigten Betrachter mühelos die zeitliche Einordnung des Geschirrs. Sie hat wieder nicht gespült, beginnt es in seinem Kopf zu arbeiten. Wir werden ein ernsthaftes Wort darüber wechseln müssen. So geht das nicht weiter, denkt er, er ist genauso im Streß wie sie, da kann SIE auch ihren Pflichten nachkommen. Er wird sie heute Abend mit dem Brotmesser in der Hand daran erinnern. Mit spitzen Fingern zieht er seine Schmidteinander-Tasse aus dem Stapel und spült sie sauber. Er setzt Kaffee auf, nimmt den Stadtanzeiger zur Hand und blättert unmotiviert in selbigem herum. Der Kaffee ist fertig, er gießt den Becher voll. Die Katze der WG verlangt nach ihrem Recht, Puschel streicht ihm um die Beine. Er klemmt Tasse und Tier unter den Arm und verschwindet in seinem Zimmer. Mit Puschel auf dem Schoß versucht er die Literatur für das verdammte Referat zu ordnen, aber er kann sich nicht konzentrieren. 7
Es ist nicht das schnurrende Fellbündel auf dem Oberschenkel, es ist der Streß der letzten Tage, die Nachtschichten, der Mangel an Luft, Bewegung und Sonnenlicht, der ihn niederringt. Auch der Kaffee kann ihm nicht helfen, er wird müde. Puschel fliegt fauchend aus der Tür, Marc küßt die Matratze und schläft sofort ein.
V. Ein Geräusch aus dem Flur weckt Marc auf. Nach einer erholsamen Tiefschlafphase schlägt er die Augen auf und schwebt in die Wirklichkeit zurück. Diese Minuten des Liegens lassen ihn die letzten Tage, Wochen, Monate vor Augen schweben. Er gleitet zurück in den Sommer, zurück in die Sonne und die angenehme Stimmung im Volksgarten, als er den Grill aufgebaut hatte, seinen Geburtstag zu feiern. Jeanne hatte ihn pünktlich um Mitternacht abgeknutscht und ihm ihr Geschenk offenbart. Es war eine Love Story der Superlative. Einer Supernova gleich ging sie zu Ende. Er streckt die Beine aus dem Bett, das kein richtiges Bett ist, eine Matratze auf dem Boden, richtet den Körper in die waagrechte und zieht die Jeans über. Lisa steht in der Küche und füllt den Kühlschrank. Wie sie so dastehen, er in Flickenjeans und T-Shirt, barfuß, die schulterlangen ungewaschenen Haare wirr in der Stirn, sie im Kostüm und auf eleganten Pumps, die glatten blonden Haare von einer Spange hinter dem Ohr gehalten, könnten die Gegensätze nicht größer sein. Der nutzlose Slacker neben der Frau auf dem besten Weg zum Yuppie. "Hast du in diesem Jahr schon einmal zum Spüllappen gegriffen?" sagt er mit der Stimme eines frisch dem Grab entstiegenen Zombies. Lisa schreckt zusammen, sie hat Marc nicht hereinkommen sehen. "Was ist los?" Sie dreht sich zu ihm um. "Du vernachlässigst deine Pflichten." Er geht zur Spüle. "Seit Wochen geht das jetzt so, daß du reinkommst, kochst und alles dreckig stehen läßt. "Marc, ich hab' Ende der Woche Zwischenprüfung. Ich muß lernen." "Dann solltest du erst recht Spülen. Das entlastet die Nerven." Er nimmt einen Löffel aus der Spüle. "Du glaubst ja gar nicht, auf was für Ideen da beim Spülen kommst. Glaub' mir, es ist das beste, was du in der Pause machen kannst, wenn du keinen Bock mehr zum Lernen hast. Das Wissen, das du nur so in dich reingefressen hast, löst sich plötzlich von dem Papier und wird in deinem Kopf lebendig. Du wirst sehen, du sprühst nur so vor Eingebungen." "Schwätzer!" Sie geht auf ihr Zimmer. Er befreit eine Tasse aus dem Stapel, spült sie um und setzt einen Kaffee auf. Puschel straft ihn mit Verachtung, während er die Zeitung durchblättert und einen Apfel killt. Auf SWF3 läuft der obligatorische Bericht über miese Studienbedingungen, Steffi Tücking ist froh, daß sie jetzt nicht mit einem Studium anfangen muß. Als sie Stiltskin in den Player legt, "Inside", rennt Marc in sein Zimmer und zieht sich das
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Stück laut 'rein. Lisa wummert gegen die Tür, Marc ignoriert das Geräusch kurzerhand. Unter der Dusche sinnt er darüber nach, wie der Abend verlaufen soll. Die Aktiven unter den Studenten wollen die Erstsemester um sich scharen, um ihnen die Kneipen des Univiertels zu zeigen. Auch eine von diesen Traditionen, die sich in den Jahren nicht geändert haben. Beim letzten Mal hatte er Jeanne dabei kennengelernt, er fragt sich, ob ihm die Frau heute über den Weg laufen wird. Wenn ja, was sollte er dann mit ihr anstellen? Wie wäre es mit einer Stange Dynamit zwischen den Zähnen, während sie gefesselt an einer Mauer ihr Schicksal beklagt? Er würde ihr ein Buch von Courths-Mahler zum Vorlesen geben. Sie müßte laut und deutlich sprechen, was ihr schwer fiele, denn sie hätte ja die Stange Dynamit im Mund. Er würde ihr mit dem Feuerzeug vor der Lunte herumfuchteln, die Panik und Todesangst in ihren Augen genießen. Aber er hat kein Dynamit. Scheißspiel.
VI. Eine Leere klafft in der Kyffhäuser, seitdem das "Zarah's Blues" geschlossen hat. Vor dem "Dschungel" stehen wieder jede Menge ungemütliche Typen, die "Marotte" haben sie schon hinter sich gebracht. Die germanistische Gruppe steuert dem Barbarossaplatz zu, Brigit schiebt sie ins "Schmeller's". Auch eine dieser Kneipen, die sich in der ganzen Zeit, seit Marc und Brigit in Köln ansässig sind, nicht verändert hat. Was ist das Flair alten Holzes und uralter Plakate gegen die Neonherrlichkeit eines Bistros, die Wärme einer verrauchten Kneipe gegen die Nüchternheit eines Raum gewordenen Eiswürfels? Marc macht den Weg entlang der Theke frei zu den Tischen im hinteren Raum der Kneipe. Sie rücken drei Tische zu einer langen Tafel zusammen und lassen sich an dieser nieder. Die Gruppe ist auf etwa zwanzig Trinker angewachsen, der Unterschied zwischen den älteren Semestern und den jungen hat sich verringert. Brigit hat die solide Kleidung gegen Jeans und Body mit Lederjacke getauscht, zieht die Blicke der Typen an der Theke auf sich. Das ist nicht Aachen, wo es zehnmal mehr Männer als Frauen in den Kneipen gibt als hier, wo die ganzen Maschinenbauer und Elektrotechniker jeder Frau geile Blicke nachwerfen. Dies ist Köln, wo die Uni so prägend für das Stadtbild ist wie die Pilsbrauereien für Düsseldorf. Marc hat sich neben eine junge Frau gesetzt, die eine ähnlich zerfetzte Jeans trägt wie er selber. Sein Blick fällt auf ihre Knie, es sind immer die Augen, mit denen es bei ihm anfängt. Jasmin hat einen Sticker auf der Lederjacke, Marc hat ihn sofort erkannt."Du hast dir nicht die Flinte gegeben?" Er nickt der kurzhaarigen Kellnerin mit dem schnellen Mundwerk und den kurzen Haaren zu, um ein Kölsch zu ordern. "Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, als der Auftritt in der Sporthalle gecancelt wurde.""Und als sie den Kurt mit Erde beschaufelt haben, hat seine Tussi ihn per Tonband fertiggemacht. Ätzend." Sie haben eine Gemeinsamkeit entdeckt. Nirvana hatte sie beide in den Bann gezogen, die Nachricht von Kurt Cobains Selbstmord in 9
Depressionen gestürzt. Er war nur an den Fingerabdrücken zu identifizieren, die Schrotflinte hatte ganze Arbeit geleistet und den Schädel quer durch den Raum gespritzt. "Ich hab' mir nicht die Kugel gegeben." Jasmin lächelt Marc an, in diesem Moment scheint es für ihn nur noch diesen Mund zu geben. Es ist immer ein Signal, das ihm den Kick gibt, eine Geste, ein Wink, ein Wunsch. Er scheint nur noch aus Augen zu bestehen, die auf diese Frau gerichtet sind, alles um ihn herum erscheint unwirklich, auf einem anderen Stern, Lichtjahre entfernt. "Mein Freund hält nichts von Grunge, der hat mir da rausgeholfen." Klick. Die Lichtjahre brechen zusammen, die anderen Sterne stürzen auf Marc ein. Der Traum bricht zusammen wie ein Fertighaus im Orkan, es ist vollkommen sinnlos, er hätte sich jegliche Gefühlsregung sparen können. Es ist die Routine in diesen Dingen, die seine Mundwinkel nicht absacken läßt. Was ist schon eine Frau gegen ein gutes Glas Kölsch?
VII. Soundgarden sorgen dafür, daß die Anhänger Whitney Houstons die Tanzfläche im "Ding" verlassen. Rolf ist wie in den Jahren zuvor immer noch in diesem Laden, denkt Marc mit einem Blick auf den langhaarigen Deejay. Marc hat ein paar Wünsche geäußert, Gelegenheit, den Ärger mit dem Referat auf der Tanzfläche zu vergessen. Jasmin ist nach Hause gegangen, nach dem Korb ist Marc die Lust am Baggern vergangen. Brigit und er haben sich ein Weizen geholt und prosten sich zu. "Du warst scharf auf die Kleine?" brüllt sie ihm ins Ohr, während sie unter den Luftkanal am Rande der Tanzfläche stehen, vor der Theke des Bistros."Hat doch alles keinen Sinn." Er trinkt den Schaum ab. "Weißt du noch, wie das hier in unserer Jugend aussah?" Sie weiß es. Wo sich heute die Neonröhren beugen, standen zu der Zeit, als sie mit dem Studium anfingen, schwarz angestrichene Weinfässer vor knallroten Holzbänken. Eine Atmosphäre von Dreck und Schweiß hing jeden Abend in der Luft, alles wirkte improvisiert und hatte den Charme des Handgestrickten. Kein Mensch sitzt heute noch mit Stricknadel in der Vorlesung, eher mit dem Laptop, das ist vorbei. "Das Kölsch ist teurer geworden, und hier hängen nur noch Sportstudenten und BWLer 'rum." Er trinkt einen kräftigen Schluck. "Das ganze Gesocks, mit dem wir nichts zu tun haben. Unsere Zeit ist vorbei, wir haben die Anfänge miterlebt, als das Viertel geboomt hat und du den Wirt noch mit Namen kanntest." Wieder wechselt das Musikprogramm, "Smells Like Teen Spirit". Marc springt auf die Tanzfläche und singt laut mit. Eigentlich ist er dafür ja zu alt, aber... Er schließt die Augen und läßt seinem inneren Blick freien Lauf. Weit in der Ferne sieht er Jeanne stehen, von der er sich verabschiedet. Der abgestürzte Rechner fliegt an ihm vorbei, das Referat verkommt zur Bedeutungslosigkeit. Er öffnet die Augen und 10
findet sich alleine wieder, in einem großen Raum mit hoher Decke, in einer Halle, deren Wände verschwimmen. Sein Blick fällt zu Boden, doch der Boden ist nicht da. Er schwebt über ihm, die Füße in der Luft, getragen von einer Kraft, die er nicht versteht. Plötzlich schaltet jemand das Licht aus. Brigit hält Marcs Kopf auf dem Schoß und klopft ihm leicht auf die Wangen. Er schlägt die Augen auf, fühlt eine Schwärze vor Augen, die langsam Brigits Gesicht frei gibt. Sein Mund will etwas sagen, geht auf und zu, aber es kommen keine Worte heraus. Ihm gelingt ein tiefer Atemzug, die Stimmbänder gehorchen, aber es ist zu laut. Niemand versteht ihn. "Was ist passiert?" Eine Pause in der Musik, Brigit hört ihn, beugt sich zu ihm herunter."Du bist ohnmächtig geworden, zusammengeklappt wie ein nasser Sack." Er richtet sich auf, es gelingt ihm auf die Beine zu kommen, aber er hat Pudding in den Knien. Jemand drückt ihm das Bierglas in die Hand, ein Schluck, und er spürt wie das edle Getränk ihm die Kraft zurückgibt. In der Toilette wäscht er sich das Gesicht; der Mann, der ihn aus dem Spiegel ansieht, ist blaß um die Nase, die Augen haben gepflegte schwarze Ränder. Das unstete Leben der letzten Tage hat ihn unempfindlich für die Bedürfnisse seines Körpers gemacht. Was sind Hunger und Müdigkeit? Diese Gefühle hat er so lange unterdrückt, bis er sie nicht mehr wahrgenommen hat. Jetzt kommt die Rechnung dafür. Er trocknet sich mit Klopapier das Gesicht und geht zurück zur Tanzfläche. Mitternacht ist vorbei, die letzten Bahnen fahren jetzt, das "Ding" wird merklich leerer. Die Stadt Köln setzt den großen Besen an und räumt die Kneipen leer, die Sperrstunde wird gnadenlos kontrolliert, ein privater Wachdienst tut ein Übriges. Als die kleiner gewordene Gruppe von Studenten den Ring entlang geht und an der Herz-Jesu-Kirche vorbei kommt, stehen dort gerade zwei Mannschaftswagen und kümmern sich mit Handschellen und Gummiknüppeln um die Punks und Obdachlosen. Auch hier schlägt der Besen gnadenlos zu. Marc macht eine abfällige Bemerkung und drängt die Erstsemester weiterzugehen, die erste Nacht im Studium braucht nicht im Waidmarkt zu enden. Sie gehen ins "Tag und Nacht", um einen Absacker zu nehmen. Die Handvoll frischer Germanisten läßt sich in eine Ledersitzgruppe fallen und bestellt eine Runde Milchkaffee. Marc hat die frische Luft wieder gestärkt, er fühlt sich, als wäre er nie zusammengebrochen. Sein Blick streift durch das Café, die Einrichtung hat ihm immer schon ebenso gut gefallen wie die Gäste. Mit Grauen erinnert er sich an die letzte Nacht im "Venuskeller", als er am nächsten Morgen aufwachte und Prellungen an Arm und Brust verspürte, weil er in kleinere Schlägerei verwickelt wurde. Da gefällt ihm ein Ende des Ausgehens wie jetzt schon besser. Der Kaffee läßt ihn nüchtern werden, mit dem sackenden Spiegel kommen auch die unangenehmen Erinnerungen wieder. Genau mit dieser Kombination von "Ding" und "T & N" hatte es mit Jeanne angefangen, genau auf dieser Couch, nur daß jetzt Brigit neben ihm 11
sitzt. Er verdrängt die Gedanken an Jeanne, sofort sieht er das Gesicht des neuen Professors vor sich, der ihn wie ein Teufel angrinst und ihm sagt: "Du schaffst es nicht!" Dieses verdammte Referat! Der Kaffee kommt, Marc bestellt sich einen doppelten Whisky, der die Bilder wieder vertreibt. Doppelt sieht er noch nicht, aber es fehlt nicht viel dazu, als sie das Café verlassen. Brigit nimmt Marc in ihrem Auto mit, setzt ihn vor dem Haus in der Maastrichter Straße ab. Er versucht jeden Lärm im Haus zu vermeiden, sieht hinter den Türen die alten Jungfern stehen und ihn begaffen. Er trifft die Treppenstufe, die er nüchtern immer übersteigt, es knarzt, sofort bellt der Dackel in der zweiten Etage los. Ein Fluch entfährt seinem Mund, jetzt braucht er nicht mehr leise zu sein und springt die letzte Treppe hoch. Puschel gähnt herzergreifend, als er sich auf die Matratze legen will, er setzt sie vor der Tür ab, bevor sie merkt, wie ihr geschieht. Er macht es sich gemütlich unter der Bettdecke, denkt noch einmal an Jasmin zurück, will langsam in das Reich des Schlafes hinübertreten. Seit Wochen hat er keinen Alkohol mehr angerührt, das Saufen heute Abend hat seine Nerven beruhigt, seit Tagen verspürt er nachts zum ersten Mal wieder das angenehme bleierne Gefühl der Müdigkeit. Die Augen wollen ihm zufallen, als er das Kratzen und das Maunzen hinter der Tür vernimmt. "Puschel, verpiß dich! Laß es sein." Jetzt ist er wieder wach. Darauf hat sie nur gewartet, jetzt weiß sie, daß er sie hört. Sie maunzt so laut und klagend wie sie kann, legt sich auf die Seite und schabt mit den Krallen an der Unterkante der Tür. "Scheiße. Dieses verdammte Biest", lallt er, springt auf, öffnet die Tür und läßt das grau getigerte Miststück ins Zimmer. Puschel streicht zum Dank mit der Seite und erhobenem Schwanz an seinem nackten Bein entlang, hüpft grazil auf das Kopfkissen und macht sich dort breit. Marc drängt sie beiseite, zieht die Decke über und versinkt in den Tiefen des Traumlandes.
VIII. Der Wecker ist gnadenlos, sein Piepsen auf dem Melatenfriedhof würde die Hälfte der Gräber sprengen, weil die Toten aufrecht in ihnen säßen. In einem alkoholbedingten Anfall von Masochismus hatte Marc den Wecker auch noch auf der vom Bett aus entlegensten Ecke aufgestellt. Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als aus dem Bett zu steigen. Puschel gibt ein mürrisches Brummen von sich, als er die Bettdecke mit ihr von sich wirft und auf den Wecker einschlägt, damit er endlich still ist. Halb neun. Er weiß, wie spät es jetzt ist. Aber wie er genau gestern Abend nach Hause gekommen ist, daran kann er sich jetzt nicht mehr so genau erinnern. Futter und Milch für Puschel stehen in der Küche bereit, die Thermoskanne ist gefüllt, Marc braucht sich um das Frühstück nicht mehr zu kümmern. Er gießt einen Becher voll, schwarz mit Zucker, nie mit Milch, blättert im Stadtanzeiger. Auf der Titelseite des Kölner Lokalteils steht ein Bericht über die Polizeiaktion an der Herz-Jesu12
Kirche. Ein besetztes Haus in der Nähe war nach einer Woche der Androhungen geräumt worden, die Autonomen hatten sich an der Zülpicher versammelt und sind von der Polizei in Haft genommen worden, bevor sie irgendetwas machen konnten. Der Mann im Spiegel hat ähnliche Gesichtszüge wie Marc, und nachdem er sich rasiert und gewaschen hat, glaubt er wirklich, daß er es ist. Zwei Aspirin, und das Dröhnen im Schädel läßt nach. Heute sind die Erstsemester zum Frühstück geladen, Marc packt Kaffee, Butter und Marmelade ein und setzt sich in die Bahn. Mit dem dicken Rucksack bekommt er auf dem Weg von der Haltestelle zum Philosophikum hängende Schultern. Brigit und Achim haben ihre Kaffeemaschinen mitgebracht und quälen sie mit dem kalkhaltigen Wasser, auf dem Tisch am vorderen Ende des Raumes stapeln sich Brötchen und Käse. Mit vollem Mund erklärt Marc einem Anfänger die tiefenpsychologischen Zusammenhänge der Studienordnung. Jasmin wandert in sein Blickfeld, er unterbricht das Gespräch und bietet ihr einen Kaffee an. Ein Freund ist ein Grund, aber kein Hindernis, hatte Brigit ihm letzte Woche noch gesagt. Jetzt fragt sie ihn, ob er den Anfall letzte Nacht verdaut hat. Achim stellt sich auf den Tisch und begrüßt die frühstückenden Studenten. Auf einigen Gesichtern zeigen sich die Spuren der letzten Nacht, nicht nur Marc hat Ringe den Augen, Brigit hat verdächtig viel Make Up aufgelegt, die späten Gäste der Nacht sehen nicht sehr ausgeschlafen aus. So geht es immer, Marcs Gedanken schweifen ab, die erste und die letzte Woche des Semesters sind die exzessiven Zeiträume. Am Anfang stehen die ganzen Feten, das Wiedersehen und Kennenlernen, die Streifzüge durch Kneipen und private Feten. Eine Zeit, in der man Einblicke in das Leben anderer Menschen gewinnt, in denen sich neue Freundschaften anbahnen und alte erneuert werden. Das Vergnügen pur, wer denkt in dieser Zeit schon ans Arbeiten? Ganz anders, wenn es auf das Ende zugeht, wenn die Studenten bis zum Sonnenaufgang am Schreibtisch sitzen und büffeln, bis das Hirn platzt. Dann sieht man die Leute aus der Bahn steigen und mit sinnentleerten Gesichtsausdruck dem Ort der Hinrichtung, auch unter dem Begriff "Klausur" bekannt, zustreben. So war es jedenfalls zu Anfang. Soweit ist es also mit meinem Studium schon gekommen, denkt Marc, bei ihm spielt der Prüfungsstreß zu Beginn des Semesters die Hauptrolle. Er sieht eine Mitstudentin, die im gleichen Seminar sitzt. Sie macht das Thema "Dr. Faust und die Übertragbarkeit auf den Voodoo-Kult". Bei ihr das Gleiche: Ein Scheißthema, sie fühlt sich ausgepumpt, ist unzufrieden und bekommt keinen roten Faden in das Konzept eingewebt. Das Leiden Anderer kann beruhigend wirken. Marc fühlt sich erleichtert, vielleicht sollten sie eine Selbsthilfegruppe referatgeschädigter Studenten gründen. Die Gruppe hätte bestimmt einen enormen Zulauf.
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Die Woche danach I. Brigit traut ihren Augen nicht. Sie schlägt wieder und wieder in der Kartei nach, sucht dieses eine Buch, das zu ihrem Glück fehlt. Die Kartei füllt eine ganze Etage der Unibibliothek, niemand hat den Überblick, wieviel Tausende Bücher hier überhaupt verzeichnet sind. Unter so vielen Büchern muß dieses verdammte eine Exemplar zu finden sein, denkt sie. Ein letztes Mal sieht sie unter dem Namen nach und gibt am Terminal die Nummer in den Rechner ein, der den aktuellen Bestand verzeichnet. Sinnlos. Das Buch ist verschwunden. Es wurde zurückgegeben, ist aber nicht mehr da. Einfach nicht mehr da. "Das muß doch hier sein!" Brigit läuft zur Aufsicht, schildert den Fall, geht mit der Bibliothekarin ans Terminal und ruft zum tausendsten Mal den Titel auf. Zum tausendsten Mal kommt dieselbe Meldung. "Das hat er immer ausgespuckt?" Die Bibliothekarin macht einen recht verdutzten Eindruck, als sie zu Brigit aufsieht. "Jedes Mal. Das ist hier abgegeben worden und verschwunden. Einfach weg." Brigit kämmt sich eine Strähne hinter das Ohr, das Klappern der Ringe an ihrem rechten Arm begleitet sie seit dem Morgen. "Ich brauche noch ein Buch, nur dieses eine Buch, um endlich mein Referat fertigstellen zu können. Und jetzt ist es weg!" Sie verspürt das Bedürfnis nach einem Schub Nikotin. "Ich fürchte, da kann ich Ihnen jetzt nicht helfen. Ich schreib's mir auf und gehe dem Fall nach." Die Bibliothekarin löscht die Eintragung am Rechner. "Es ist nur eigenartig, daß sich die Diebstähle in den letzten Wochen häufen." "Ach? Sind die Langfinger jetzt unter die Studenten gegangen?" Brigit kramt nach der Packung Halfzware und geht zum Ausgang. Ärgerlich rollt sie Tabak ein, legt einen Filter dazu und steckt sich die Zigarette an. Vielleicht sollte sie einen Krümel Canabis dazutun, denkt sie, das würde die Nerven besser beruhigen. Sie tritt vor die Tür, blinzelt und zieht den Kragen ihres Jackett hoch. Mit gnadenloser Härte ist der Winter über Köln hereingebrochen, der Himmel präsentiert sich in suizidförderndem Grau, das sich in Nichts vom Beton der Neubauten abhebt. Ein eiskalter Wind peitscht ihre Wangen, treibt sie zur Eile. Der Wettergott muß gesehen haben, wie sie aus der Tür getreten ist, denn zu allem Überfluß setzt jetzt auch noch ein feiner Nieselregen ein. Sie vermeint ein hinterhältiges Lachen aus Richtung des Himmels zu vernehmen, erklärt sich für verrückt und strebt der Fachschaft zu.
II. Die Augen sind glasig. Diesmal ist es aber nicht der Alkohol, der Marc zu schaffen macht, es sind die Nachtschichten des Wochenendes. Mit Mühe und viel Willenskraft hält er sich am Kopierer fest, fixiert den Einzelblatteinzug und konstatiert befriedigt, daß das Ergebnis seiner wochenlangen geistigen Bemühungen der finalen Abgabe unausweichlich näherrückt. Die Nacht von Sonntag auf Montag hat er 14
eine Tiefschlafphase gehabt, in der in der Nacht von Montag auf heute keine einzige. Der Kopierer meldet mit einem dezenten Piepsen das Ende der Anstrengungen, Marc packt die Originale in seine Tasche zurück und geht mit den Kopien zum Binden. Während die Frau hinter der Theke die Spiralen durch die geschundenen Blätter quält, raucht er eine Zigarette, blickt auf den Zülpicher Wall hinaus und ergötzt sich an den Menschen, die mit hochgeschlagenen Kragen durch den Nieselregen hasten. Die erste Woche des Semesters ist vorbei, nach den Orgien zu ihrem Beginn hat Marc sich an den Schreibtisch gefesselt und die Arbeit termingerecht fertiggestellt. Ein Freund hatte mitgeholfen, dem Rechner wieder Leben einzuhauchen, so daß auch dieses Problem beseitigt war. Wie hat er das eigentlich nur geschafft, fragt er sich, diese übermenschliche Anstrengung hinter sich zu bringen, kaum eine Nacht zu schlafen und jeden Tag aktiv an der Universität tätig zu sein? Im Rückblick erscheint es ihm unwirklich, was er in der letzten Woche alles hinter sich gebracht hat. Er streift die Asche ab, läßt die Arbeit in Gedanken hinter sich und denkt an die Sache mit Jasmin zurück. Für sie waren die ersten Nächte anstrengend gewesen, sie hatte viel zuwenig geschlafen. Sie waren im Unikum, hatten mit dem Deejay geredet und eine Extraportion Grunge mitbekommen. Bei Soundgarden mit "Black Whole Sun" war es dann passiert, der Alkohol enthemmte sie beide, sie tanzten eng miteinander und knutschten sich ab. Zu ihrem Wohnheim hatten sie es nicht weit, öffneten eine Flasche Wein, hörten auserwählten Rock und kamen sich näher. Zum Glück hatte er in der Toilette im Unikum Gummis aus dem Automaten geholt, natürlich ohne zu zahlen, so daß er wenigstens deswegen kein schlechtes Gewissen danach haben mußte. Gestern lief ihm Jasmin vor der Mensa über den Weg. Sie würdigte ihn keines Blickes. Vielleicht sollte er es positiv sehen, denkt er, so hat er wenigstens Zeit genug für das Referat gehabt. Die Frau ist mit dem Binden fertig, Marc zahlt und packt die Kopien regendicht ein. Er schlägt den Kragen seines abgewetzten Ledertrenchcoat aus dem Kaufhaus Kilo hoch und tritt auf die Straße, eine Zigarette im Mundwinkel hängend, tough. Sam Spade sieht dieses sinnlose Institut zu seiner linken, nimmt die Panzerfaust und bläst die Genetik dahin, wo sie hingehört: In die Hölle.
III. Ein dezentes Schnarchen bricht sich an den nackten Betonwänden der Fachschaft, hallt durch den Flur und erweckt bei einem vorbeifliegenden Doktoranden den Eindruck, daß es sich um einen verschlafenen Laden von Pennern handelt. Der Mann rümpft die Nase und geht weiter, den Samsonite-Koffer vorsichtig durch die Glastür balancierend. Es könnte eine Bombe darin sein, hat der unvoreingenommene Betrachter den Eindruck. Kaum hat er die Arbeit im Büro des neuen Professors Schmitz-Elias abgegeben, ist Marc in die Fachschaft gegangen, um dort eine 15
belanglose Konversation zu führen. Er kam ungünstig, denn gerade jetzt ist die Vorstellung des neuen Professors durch den Dekan. Marc hat zwar die Arbeit ausgerechnet für den Mann gemacht, dachte sich aber, daß es ungünstig sei, im Hörsaal einzuschlafen und gleich einen schlechten Ruf beim Lehrenden zu bekommen. Er entschied sich dafür, das Büro offenzuhalten, während die anderen Fachschaftler den Professoren lauschten. Die bequeme, durchgesessene Ledercouch übte eine unglaubliche Faszination auf ihn aus, so daß er gar nicht anders konnte als sich auf sie zu legen. Es kam ja sowieso kein Mensch herein. Das Schnarchen geleitet einen Traum, in dem Marc sich in der Sonne liegen sieht, auf einer einsamen Insel wie weiland Robinson. Er erwacht aus einem tiefen Schlaf, sieht eine Gruppe von Menschen auf sich zukommen, die sich beim Näherkommen als die Frauen aus der Bacardi-Werbung entpuppen, schlank, braun, lächelnd, weiße Zähne. Er wacht auf, zieht den Bauch ein und setzt sich aufrecht. Die Frauen kommen langsam näher, jetzt kann er ihnen ins Gesicht sehen. Es sind drei Frauen, und zwei von ihnen kennt er. Ganz links geht Jeanne, lächelt ihn breit an, unnahbar, die Rache auf den Lippen. In der Mitte, und jetzt erschreckt Marc, da läuft Jasmin, ebenso unerreichbar. Sein Blick fällt auf die Frau ganz links. Dieses Gesicht erkennt er nicht. Er sieht sie näher an, konzentriert den Blick auf ihr Gesicht, er hat sie noch nie gesehen, so sehr er sich auch an dieses Gesicht zu erinnern versucht. Die junge Frau ist plötzlich alleine, kniet sich vor ihm hin, streckt eine Hand aus und berührt ihn an der Schulter, leicht erst, dann rüttelt sie ihn. Ein eigenartiges Geräusch macht sie dabei, sie schüttelt ihn stärker, rüttelt ihn hin und her, das Klimpern wird immer lauter. Eine Stimme aus dem Hintergrund nähert sich seinem Ohr. "Wach' endlich auf, du Penner!" Brigit hat Marc an der Schulter gepackt und schüttelt ihn hin und her, allein das Klappern ihrer Armreife sollte ausreichen, Tote zu erwecken. "Mann, werd' endlich wach! Ich hab' dir was zu sagen!" Marc schüttelt den Arm der unbekannten Frau ab, der ihn mit eisernem Griff hält. In panischer Angst drückt er das Gesicht von sich, das sich unmerklich in die Fratze einer Horrorgestalt verwandelt. Plötzlich hat die junge Frau leere Augen, um den Mund ziehen sich Falten, die Haare werden zu Fransen, das Gesicht sieht aus wie ein Schrumpfkopf. "Nein! Laß mich los!" Marc schlägt wild um sich, der Arm löst sich, er sieht den Körper der Frau, der dem einer Mumie gleicht. Ein ohrenbetäubendes Klimpern hallt ihm in den Ohren, es gelingt ihm, den Klammergriff der abscheulichen Mumie abzuschütteln, er springt auf die Beine und will davonlaufen. Egal wohin, nur weit, weit weg von hier. Doch er kommt nicht weit. Er prallt auf einen Felsen, vielleicht ist es auch ein Baum, er kann es nicht sehen, es ist jedenfalls verdammt hart. "Bravo. Das war eine theaterreife Vorstellung." Brigit klatscht dezent Applaus. "Was ist passiert?" Marc schlägt die Augen auf, ihm ist schwarz vor 16
Augen. Langsam kommt er wieder zu Sinnen und bemerkt, daß er deswegen nichts sieht, weil er mit der Nase direkt auf dem Boden liegt. Er dreht den Kopf ein Stück und sieht ein Paar Pumps neben sich auf dem Boden stehen, deren Anblick er kennt, allerdings nicht aus dieser Perspektive. Sein Blick streicht höher, ein paar attraktive lange Beine stecken in den Pumps, und darüber... Er richtet sich auf. "Ich hatte einen Alptraum." Er setzt sich auf das Sofa, Brigit nimmt neben ihm Platz, er erzählt ihr von dem Traum. "Deine Frauen. Immer wieder deine Frauen." Sie reicht ihm eine Zigarette an. "Du bist selber Schuld, wenn du dir Ärger einhandelst." "Jasmin und Jeanne, das geb' ich ja zu. Aber die dritte Frau hab' ich mein Leben lang noch nicht gesehen." Er zündet eine Zigarette an. "Dabei waren ihre Gesichtszüge ganz deutlich vor meinen Augen." "Vielleicht ist sie die Frau deines Lebens." "Warum wird sie dann plötzlich zur Mumie? Sie hat mir ordentlich Angst eingejagt." "Kann ja sein, daß dir diese Frau über den Weg läuft. Wer kennt die Winkelzüge des Lebens?"
IV. "Meine Damen und Herren", der Dekan holt lange aus in seiner Ansprache, "für eine geraume Zeit hat die Professorenstelle für Altgermanistik leergestanden. Über ein Jahr lang sind die Veranstaltungen ausgefallen, derer Sie so dringend benötigten. Ihr Durst nach Wissen, nach Bildung konnte nicht gestillt werden." Der Mann schlägt mit der Rechten auf das Pult ein wie weiland Chruschtschow vor der Uno. "Ein Ruf nach dem Retter, ein Aufschluchzen verhallte ungehört im Raume. Doch nun ist es soweit, meine Damen und Herren, und lassen Sie mich das hier in aller Öffentlichkeit sagen, denn..." Achim schwingt den rüschenbesetzten Ärmel seiner Bluse dezent vor den Mund und läßt ein Gähnen erklingen, daß peinlicherweise ausgerechnet in eine Kunstpause des Rektors fällt. Stille im Saal. Eine Stimme kichert in Hintergrund "Helmut, Helmut, Helmut...", ein Schnarchen ertönt, ein eiskalter Blick der Verachtung aus den Augen des Dekans der Germanistik trifft Achim, der ihn einfach ignoriert. "Lassen Sie mich also nun", fährt der Rektor nach kurzer Zeit der Irritation fort, "den Kollegen vorstellen, der in Zukunft die Arbeit unseres seligen Kollegen Müller-Donnerbeutel fortsetzen wird. Ich gebe das Wort an meinen Kollegen Schmitz-Elias weiter." Der Rektor tritt ab, kleiner Applaus. Nächste Szene. Der neue Professor tritt auf. Er tritt stämmig auf, eine Planke der Bühne ist locker und gibt ein lautes Knacken von sich, als sie sich unter dem Schuh des Professors durchbiegt. Eine Spinne lugt hervor und sucht das weite, läuft der Sekretärin des Rektors über den Weg, die ein lautes Kreischen von sich gibt. Der Schrei läßt alle Menschen im Saal zusammenfahren und aufwachen, ein schlechtes Omen. "Meine Damen und Herren, ich möchte mich zuerst bei dem Rektor der Universität Köln für..." Bla, bla, bla. Achim hat das Reportagegerät 17
eingeschaltet, der Mann auf der Bühne hat das Mikro gesehen und sich erlaubt, den Vorfall mit dem Gähnen zu ignorieren. Achim sieht sich die Gestalt, die dort redet, an. Der Mann ist Mitte vierzig, erste graue Haare an den Schläfen. Auf den ersten Blick fällt ihm nichts besonderes auf, mit dem er den neuen Professor charakterisieren könnte, keine Ecken, keine Kanten. Eigenartig. Das war ihm bisher immer gelungen. Er konzentriert sich auf den Sprachstil des Mannes, der von der Wortwahl her unmodern wirkt, etwas normales für Achim, er hat diesen Stil in der letzten Zeit auf die Spitze getrieben. Da ist noch etwas anderes in der Sprache des Mannes, etwas abstraktes. Die Stimme hat einen beschwörenden Klang in seinen Ohren. Nicht daß er jetzt glaubt, seine Lider würden schwerer und schwerer, er würde jetzt gleich hypnotisiert, aber im Grundton stellt Achim etwas diabolisches fest. Ja, so muß der Faust gespielt werden, fällt es ihm wie Schuppen aus den Haaren! Der Mann macht ein Seminar über Goethes Faust, aber der ist nicht weit weg, der steht jetzt vorne im Hörsaal und redet. Ein Umtrunk lockert die festliche Laune des Morgens auf. Der Dekan der Phil-Fak hat hektoliterweise Sekt besorgt, offensichtlich stimmt das Gerücht mit der Mehrheitsbeteiligung bei der Lufthansa und der MuMConnection, die Korken knallen und verwässern die trockene Stimmung. Unter den Gesichtern taucht das von Marc auf, er hat das Geräusch von Sekt, der in einen Kelch gegossen wird, im Nebengebäude gehört und stürmt herein. Der Weltmeister im Schnorren reißt der jungen Frau, die eingießt, die ersten beiden Gläser aus der Hand, entrinnt dem Getümmel und reicht Brigit den weniger vollen Kelch. Sie prosten sich zum wer-weiß-wie-vielten Mal in den letzten Tagen zu, trinken an und sehen sich in der Runde um. Von den Erstsemestern der letzten Tage ist kaum jemand erschienen, es sind vor allem die reiferen Semester, der Dunstkreis der Fachschaft, die Angestellten der Germanistik und natürlich die Schleimer und Schnorrer, die sich die Veranstaltung angetan haben. Schmitz-Elias steht im Kreise gleichgestellter und untergebener Lehrkräfte, der Sekt löst Zungen und Emotionen der Beteiligten. Marc will dem Mann jetzt nicht unter die Augen treten, er hat der Sekretärin vorhin bei der Abgabe des Referats Ärger genug gemacht, weil sie unbedingt zu dieser Feierstunde gehen wollte. Es ist besser, darüber Gras wachsen zu lassen. Achim trinkt sich Mut an und drängelt sich in die Richtung des Professors, der Rektor fragt ihn, ob er immer so laut gähnt. "Nur in auserwählten Momenten, verehrter Herr Rektor, um Ihnen zu zeigen, mit welcher Intensität, mit welcher Hingabe wir Ihrer auserlesenen Rede lauschten. Wirklich, lassen Sie mich hier betonen, selten war es mir bisher vergönnt, ein derartiges Meisterwerk rhetorischer Kunst zu hören, wie Sie es dargebracht haben, Herr Rektor." Der Angesprochene zieht die Augenbrauen zweifelnd nach oben, erklärt Achim für verrückt und verläßt mit einem dezenten Nicken die Nähe des Studenten. Achim erspäht eine Möglichkeit, den Professor ansprechen zu können, durchbricht dessen Manndeckung und steigt in 18
eine Gesprächspause ein. "Professor Schmitz-Elias, wären Sie bereit, der Fachschaft Germanistik ein Interview für die demnächst erscheinende Zeitschrift zu geben?" "Ach, Sie sind der junge Mann mit dem Mikro?" "Achim Schmitz. Mit wird die Ehre zuteil, den gleichen Nachnamen wie Sie zu führen." Er reicht dem Professor die Hand hin, drückt energisch zu und stellt fest, daß der Mann von seiner körperlichen Ausstrahlung nicht ganz so dominant wirkt wie vorhin durch die Sprache auf der Bühne. "Da habe ich ja keine Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis." SchmitzElias grinst. "Wann wollen Sie mich aushorchen?" "Da bin ich frei. Nennen Sie mir einen Termin zu einer Befragung." "Morgen, um zehn in meinem Büro?" "Gut, sehr gut. Wir kommen." Achim verabschiedet sich und strebt dem Ausgang zu. An der Tür steht Brigit. "Dienerin, was machet sie hier?" "König der Fachschaftler, Herrscher über alle Klausuren, Oberfürst der Fürsten des Studentenparlamentes, ich erwarte den Diener Marc, welcher seine Blase zu entleeren geruht." Sie deutet einen Knicks an. "Ist sie geneigt, des Königs Einladung anzunehmen und in seiner Gesellschaft ein Mahl des königlichen Suppenschmiedes einzunehmen?" Achim schwenkt den rechten Arm in einer weit ausholenden Bewegung, die seine Rüschen am Ärmel sehr gut zur Geltung kommen läßt. "Ist der König geneigt, die Zeche des Mahles zu übernehmen?" "Der König ist heute freigiebig." "Dann, Eure Majestät", sie deutet einen Diener an, "lasset mich Euer Gast sein." "Schreite sie mit mir, meine Königin." Sie haken Arm in Arm und streben in die Mensa. "He, laßt mich hier nicht darben!" Marc hechelt ihnen hinterher, hat etwas von "Gratis" durch die Tür gehört und hakt den König auf der anderen Seite unter. "Majestät, vergeßt nie Euren treuesten Diener." "Halt er ein, Hofnarr. Ich geruhe nach dem Mahl seine Dienste in Anspruch zu nehmen." "Zu Befehl, Eure Majestät." Auch Marc deutet einen Diener an.Ein merkwürdig gemessen einher schreitendes Trio nähert sich der Mensa.
V. Das erste Wort des Rektors der Kölner Universität am Morgen ist nicht: "Guten Morgen, mein Liebling." Nein. Es gibt eine Sache, die sein Hirn vierundzwanzig Stunden am Tag belastet, und auch nur deshalb vierundzwanzig Stunden, weil der Tag nicht mehr als vierundzwanzig Stunden hat. Das erste Wort, welches dem Rektor am Morgen über die Lippen kommt, ist: "Sparen." Sein erstes Kind wollte er Ratio nennen, doch seine Frau war dagegen. Wenn er ins Büro schreitet, wählt er meist den Hintereingang. Er tut dies, um nicht den bettelnden Professoren zu begegnen, die sich ihm flehend an die Hosenbeine hängen, vor ihm heulend und wehklagend auf die Knie fallen oder ihm schluchzend die Schuhe küssen. Übrigens ist das der Grund, warum 19
er sich jeden Morgen die Schuhe penibel säubert. Aber manchmal hat er kein Glück. Die Fachschaftler der Geologie hatten sich Ende des vergangenen Semester mit Sonnenbrillen und Baseballschlägern an den Hintereingang gestellt, um auf den Unwillen der Lernenden wegen der gekürzten Lehrstellen aufmerksam zu machen. Nur der Zurückhaltung der einzigen beteiligten Frau, die jede Woche im Sportreferat die Karategruppe leitet, war es zu verdanken, daß der Rektor ohne blaue Augen in sein Büro kam. Auf seinem Schreibtisch liegt eine unerfreuliche Mitteilung der Bibliothek. In den letzten Wochen sind gehäuft Lehrmittel verschwunden, ohne daß jemals ein Schuldiger festzustellen war. In jedem Fall war die Angabe erfolgt, daß die Bücher, Zeitschriften, Videos und CDs wieder zurückgegeben worden waren. Immer war es dann der nächste Ausleiher, der das Fehlen des gewünschten Werkes bemerkte. "Es gibt kein System, keinen Zusammenhang." Der Rektor sieht sich die Namen und Themen an. Auf den ersten Blick besteht tatsächlich kein Zusammenhang zwischen den Titeln, nicht vom Inhalt, nicht vom Standort in der Bibliothek, nicht vom Wert der verschwundenen Gegenstände. Ratlos legt er die Mitteilung in die Ablage. Wenn er gewußt hätte, wie nahe er an diesem Vormittag der Lösung des Falles gewesen war, vielleicht hätte er die Schrotflinte aus seiner Jagdausrüstung genommen und den Urheber allen Übels noch an diesem Tag aus dem Leben geblasen. Zumindest aus seinem irdischen Leben.
VI. Der Kaffee nach der Mensa ist seit Beginn der ersten Woche obligatorisch geworden. Marc liest im Express und spürt das Koffein in die Blutbahn eindringen, ein fast so angenehmes Gefühl wie der Sekt am Vormittag. Ein Aufschrei stört seine Betrachtung des Mädchen auf Seite Eins. "Grüß Gott!" "Sind wir denn hier in München?" denkt er. "Was'n los?" Er richtet seine müden Augen auf die Gestalt im Türrahmen. Hab' ich in der letzten Woche eigentlich auch so ausgehen? Er stellt sich die Frage unbewußt und weiß, daß er sie leider mit einem klaren "JA!" beantworten kann. "Ich brauche dringend jemand, der meine Arbeit Korrektur liest." Mick sieht so aus, als ob er nicht jemand zum Lesen, sondern zum Duschen brauchen könnte. Ein dezenter Geruch vergorenen Schweißes umgibt ihn, die Jeans könnte bestimmt auch in der Ecke allein stehen. "Dann frag' doch mal die Jungs und Mädels, die hier um die Ecke vor der Cafeteria stehen und nix zu tun haben. Bei uns wirst du keinen Erfolg haben." "Ihr seid gemein." "Nein. Wir sind Workoholics." Marc richtet sich auf. "Aber bevor du gehst, hast du 'mal 'ne Zigarette?" Marc dreht sich gemütlich einen shitfreien Joint, während Mick draußen um ein Opfer für die Arbeit des Lesens wirbt. Und tatsächlich beschert ihm der Gott der sinnlos Arbeitenden einen Menschen, der Mitleid mit ihm hat und 20
die Arbeit übernimmt. Als Jeanne in die Fachschaft kommt, spannt Marc innerlich den Hahn seiner 45er und legt auf Jeanne an. Sie grüßt kurz, er bleibt stumm, nach kurzer Terminabsprache mit Mick verläßt sie den Raum wieder. Mick wirft Marc einen fragenden Blick zu, der schüttelt langsam den Kopf. Er wartet auf die anderen arbeitswilligen Hilfskräfte. Heute Abend ist die Fete, die Germanisten werden nur so ins Foyer stürmen, saufen und feiern und tanzen bis zum Abwinken. Der Bierverleger kommt in einer Stunde, mit den Brötchen unter dem Arm und den Tonnen von Mett und Käse sind Brigit und Achim unterwegs. Das große Ereignis wirft seine Schatten voraus, für eine Nacht wird das Gebäude des Beton gewordenen Geistes Schauplatz einer wilden Orgie, die wie in den Jahren zuvor allen Beteiligten lange Zeit in Erinnerung bleiben wird. Mick hat den Tabak vergessen. Einem Expressleser gehen die Mundwinkel in die Höhe.
VII. Der Pegel steigt und steigt und steigt. Nein, nicht der Pegel des Rheins, obwohl jetzt Zeit für das alljährliche Jahrhunderthochwasser ist. In ständigem Steigen begriffen ist der Alkoholpegel der lärmenden, tanzenden, saufenden Studentenschaft, die sich im Foyer des Philosophikums austobt. Wie jedes Jahr war auch hier wieder eine strenge Reihenfolge der einzelnen Handlungen auf einem Fest zu verzeichnen gewesen. Ab acht Uhr war Einlaß, gegen zehn begann es voll zu werden, bis Mitternacht standen Grüppchen herum und unterhielten sich. Jetzt ist der neue Tag hereingebrochen, und der Bär ist los, reißt wahllos seine Opfer unter den älteren Jugendlichen und treibt sein Unwesen mit den Menschen, die am Morgen danach nicht mehr wissen werden, was sie letzte Nacht alles getan haben. Brigit und Marc haben Feierabend, sie haben sie erste Schicht des Zapfens hinter sich. Mit den letzten Mettbrötchen haben sie sich in die Fachschaft zurückgezogen, abseits des Lärms, um sich eine Pause zu gönnen, bevor sie sich in das Getümmel stürzen. "Weißt du, woran ich gerade denke?" Brigit spricht mit vollem Mund, die Lippen glänzen in fettigem Widerschein. "Nein. Aber du wirst es mir sicher gleich verraten." Er leert ein Glas Kölsch. "Oder ich werde es aus dir herauskitzeln, ich bin heute sehr, sehr ungeduldig." "Heute Abend haben wir unser Fünfjähriges." Sie hatten gerade die Zwischenprüfungen hinter sich gebracht, das Nachtleben in Köln ausgenutzt, gesoffen und getanzt, um den Erfolg zu feiern. Eine Gruppe von Germanisten hatte sich zur Mensa begeben. Zwei von ihnen waren sich jahrelang gegenseitig suspekt, hatten kaum ein Wort miteinander geredet. Der Kontrast zwischen Marc und Brigit hätte auch nicht größer sein können. So gingen sie denn zum Hauptgebäude herüber und waren mitten auf der Rasenfläche im Grüngürtel, als sie ein hämisches Lachen aus dem Himmel hörten und im nächsten Moment im strömenden Regen standen. Marc hatte blitzschnell seine Lederjacke ausgezogen, Brigit an sich gezogen und die Jacke über sie beide geworfen. Zusammen rannten sie zum Hauptgebäude und stolperten in den Eingang. Marc grinste sie an, ihr Make Up war verlaufen, er wischte ihr die 21
Wimperntusche von der Wange. "Früher hab' ich mich auch geschminkt", sagte er, "die Zeiten sind vorbei." Er hatte ihr Interesse geweckt, das Eis war gebrochen. "Du warst ganz schön hochnäsig. Die einzige Studentin im Hörsaal, die man auf ihren Pumps reinkommen hört. Klack, Klack, Klack, und wir wußten, die Arzttochter hat ihren Auftritt." Sein Glas wird leer. Brigit wirft den Kopf zurück, schleudert ein Lachen durch den Raum und kippt den Rest des Biers herunter. Marc packt sie am Oberarm und stürzt sich mit ihr ins Getümmel.
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Svenjas Reise I. Vom Atlantik her nähert sich ein Tiefausläufer, in der Absicht, Europa in ein Chaos aus Sturm, Regen und Kälte zu stürzen. Ein Wettergott reibt sich gerade die Hände, weil er sich die Bilder in den Nachrichtenmagazinen jetzt schon ausmalt. Überschwemmungen, Menschen, die auf ihren Häusern sitzen, die als Inseln aus dem Wasser ragen. Einfach eine wundervolle Vorstellung. Der Pegel steigt schon wieder. Nein, nicht der Alkoholpegel der Studenten bei irgendeiner Fete, auch nicht der Alkoholpegel der Vorstände der Bayer AG nach der Aufsichtsratsitzung. Diesmal ist es wirklich der Pegel des Rheins. Eine unendliche Folge von Tiefdruckgebieten regnete und regnete Europa ein, was dazu führte, daß die Flüsse stiegen und stiegen und stiegen. Die Stadt Köln hat die mobile Staumauer aus dem Depot geholt und bereitgestellt, falls der Rhein das zweite Jahrhunderthochwasser des Jahres erreichen sollte. Noch ist es nicht soweit. Auf dem Parkplatz einer Raststätte an der A 2 steht eine junge Frau, die Arme vor der Jeansjacke verschränkt, obwohl der Kälteeinbruch noch bevorsteht. Das meiste ihrer Kleidung trägt sie am Körper, der Rucksack ist schlaff gefüllt. Es ist früher Nachmittag, am Morgen ist sie in Hamburg aufgebrochen. Weit gekommen ist sie nicht, bis kurz hinter Bremen, noch vor der Ahlhorner Heide. Sie sieht eine Frau aussteigen und taxiert die Person. Eine Chance. Als die Frau aus der Raststätte kommt, nimmt Svenja den Rucksack und geht zu ihr hin. In der Zwischenzeit ist niemand gekommen, zu dem sie freiwillig ins Auto gestiegen wäre. Kurz vor dem VW paßt sie die Frau ab. "Tschuldigung, ich habe gesehen, daß Sie ein Kölner Kennzeichen haben. Fahren Sie nach Köln?" Svenja stellt sich recht devot an. "Ja." Die Frau ist kurz angebunden. "Können Sie mich mitnehmen?" "Rauchst du?" "Rauchen Sie? Ich assimiliere mich gerne." "Okay, steig ein. Typen nehme ich keine mit." Die Frau, um die vierzig, winkt Svenja heran. "Danke." Ihr scheint es, daß sie eine von diesen Frauen vor sich hat, die Anfang der 80er Jahre in Wackersdorf marschiert sind und jetzt das große Geld verdienen. Von diesen Leuten kennt sie viele, die meisten sind die größten Spießer geworden, ähnlich wie die Generation der 68er. Alles Spießer. Geschichte wiederholt sich eben doch.
II. Brigit wird wach. Ein dezentes Brummen zieht sich durch ihren Schädel, vielleicht hätte sie nicht bis um Mitternacht vor der Kiste sitzen sollen, vielleicht hätte sie aber auch nicht noch auf die Kyffhäuser gehen und ein paar Leute treffen sollen. Sie setzt die Füße aus dem Bett, streckt sich und geht ins Bad. Kann der denn nicht ein einziges Mal die Streifen wegmachen? Sie nimmt die Klobürste und entfernt die Reste der Verdauungsendprodukte ihres Freundes, der schon vor geraumer Zeit gegangen ist, seinem Gelderwerb 23
entgegenhechelnd. Die Spülung rauscht, sie wirft einen Blick in den Spiegel. Eine Frau sieht sie an, deren Augen von der Arbeit vor dem Rechner gerötet sind, die Wangen aschfahl und die Haut bleich. Es ist jedesmal dasselbe, denkt sie, kurz vor Abgabe könnte sie ihre Mutter sein. Die erste Zigarette am Morgen, verbunden mit einem ordentlichen Schuß Koffein, wirkt belebend, treibt ihren Kreislauf hoch und löscht die Entzugserscheinungen des frühen Morgens. Sie blättert im Stadtanzeiger, die aktuellen Hochwassermeldungen, da kommt wieder etwas auf die Stadt zu. Zu Weihnachten letztes Jahr war die Welle übergeschwappt, sie hatte sich mit Marc überlegt, ob man nicht vielleicht die mobile Stützmauer an einer Stelle einfach lösen sollte. Das hätte ja einen Spaß gegeben...
III. "Dreh mir eine." Die Frau, Brigitte heißt sie, hat sie gesagt, reicht Svenja den Tabak herüber. Sie könnte auch Renate oder Martina oder Julia heißen. Für Svenja spielt es keine Rolle. "Kannst dir auch eine drehen." "Danke." Svenja dreht zwei Zigaretten, zündet beide an und reicht Brigitte eine davon. "Ich nehme nie Typen mit. Und auch die Frauen sehe ich mir genau an." Brigitte inhaliert tief, den Blick auf die Straße geheftet. Verdammt, denkt Svenja, hat sie da wieder so eine notorische Lesbe erwischt? Inzwischen sind sie perdu. "Warum nimmst du keine Typen mit?" "Weil ich keine Lust darauf habe, daß mir so'n Arsch das Messer an den Hals hält und mich vergewaltigen will." Brigitte wendet einen kurzen Moment den Blick von der Straße auf Svenja. "Ich bin früher viel getrampt, als ich studiert habe. Da hab' ich so meine Erfahrungen gemacht." "Aha." Also so eine mit Helfersyndrom, denkt Svenja. "Ich hab' für die Strecke von Hamburg bis Bremen den ganzen Morgen gebraucht. Zweimal wollten mich die Typen betatschen. Die werden immer dreister, jetzt fassen die dir nicht mehr ans Knie, sondern gleich zwischen die Beine." Ein unerfreuliches Kapitel. Sie will es nicht weiter vertiefen. "Was machst du in Köln?" Brigitte dreht sich zu Svenja um. "Ich weiß es noch nicht genau." Svenjas Antwort kommt zögernd. "Ich suche jemand." "Wen denn?" "Das weiß ich jetzt noch nicht." Svenja wendet sich ab, signalisiert, daß sie nicht zum Quatschen ins Auto gestiegen ist, sondern um nach Köln zu kommen. Was sollen diese verdammten Fragen. Brigitte dreht sich zu Svenja um, läßt einen kurzen Blick über sie streifen. Die Frau sieht nicht so abgehangen aus wie andere Mädels aus der Autonomen Szene, denkt sie, sie scheint auch älter zu sein als die Mädels von der Domplatte. Nun ja, wenn sie nicht reden will...
24
IV. Der Drucker spuckt Ziiiiiip - Zip – Ziiiiiip
Papier
in
rauhen
Mengen
aus.
Fast hätte Brigit ihre Kaffeetasse über den Drucker gekippt, aus reiner Nervosität. Ziiiiiip - Zip – Ziiiiiip Das Geräusch trägt nicht dazu bei, ihren aufgedrehten Zustand zu ändern. Dies ändert sich, als sie die Ausdrucke durchliest. Die ganze Aufregung, der Streß der letzten Nachtschichten hat sich gelohnt, sie hat es wider Erwarten doch noch geschafft, das Referat fristgerecht fertigzustellen. Ziiiiiip - Zip – Ziiiiiip Die letzte Seite kommt. Was hatte sie gestern Abend geflucht, als dieses verdammte Programm immer den gleichen Fehler machte. Jede Seite zog es einen Zentimeter zu weit ein, ihre ganze Gliederung ging zum Teufel. Ihr Freund Roland meinte, das habe WORD 5.0 so an sich, das macht es bei jedem Nadeldrucker. Schulterzucken. Entscheidend ist doch, was am Ende dabei herauskommt. Sie klopft den Packen Papier auf dem Tisch auf, kann es noch gar nicht fassen. All die Monate... Sie rückt den Stapel der Bücher ganz auf die hinterste Kante. Er könnte höher sein. Jetzt, wo sie das Hirn aus den Höhenflügen der Abstraktion in die Niederungen der real existierenden Welt hinabschweben läßt, kommen ihr wieder die merkwürdigen verschwundenen Bücher in Erinnerung. Mit Büchern fing es an, dann ging es weiter mit Zeitschriften, seit letzter Woche sind es auch Videokassetten. Sie nimmt sich die Liste mit den Verlusten vor, die im Institut ausgelegen hatte. Es steckt kein System dahinter, weder hinter der Art der Bücher noch hinter den Orten, an denen sie verschwunden sind. Die Germanisten waren besonders betroffen. Weg, einfach weg. Die beiden Bücher, die sie benötigte, waren einfach verschwunden. Sie hatte die zwei Studenten herausgefunden, die sie als letzte ausgeliehen hatten, hatte sie gefragt, aber es war eine sinnlose Angelegenheit gewesen. Und es will einfach nicht aufhören, gestern waren drei CDs mit Reden von Rudi Dutschke nicht mehr aufzufinden gewesen. Wo ist der Sinn?
V. Hinter Münster holt sie das Tiefdruckgebiet ein. Der Golf wird durchgeschüttelt, bei Osnabrück merkt Svenja, daß Brigittes Wagen nicht mehr ganz neu ist. Sie bekommt nasse Füße. Außerdem setzt die Rush Hour ein, und das Nahen des Ruhrgebietes sorgt dafür, daß Brigitte sich auf das Fahren konzentrieren muß. Svenja ist das nur recht, es erspart lästige Fragen. Hinter Recklinghausen lenkt sie den Wagen zu einer Raststätte, Svenja ist eingenickt und wacht erst beim Anhalten auf. "Ich geb' dir 'nen Kaffee aus." Brigitte deutet mit dem Kopf auf die Raststätte. Inzwischen hat sie sich an die stille Mitfahrerin gewöhnt, die Abwesenheit jeglicher Konversation stillschweigend akzeptiert. Sie 25
könnte ja jetzt sagen: "Such dir jemand anderen, ich fahre allein nach Köln", aber sie bringt es dann doch nicht über's Herz. In all den Jahren, in denen sie selbst den Daumen in den Wind gestreckt und später Frauen mitgenommen hat, war es noch nie so still im Auto. Innerlich bereut sie, daß das Radio in Berlin geblieben ist und einen neuen Verehrer gefunden hat. Die Scheibe an ihrem Ellbogen ist nagelneu, aber die Glassplitter unter den Sitzen erinnern sie daran, daß der Wagen am Wochenende aufgebrochen wurde. Irgendwie ergreift eine wahnsinnige Lust auf Nina Hagen von ihr Besitz. Am Tisch summt sie leise "Unbeschreiblich Weiblich" vor sich hin, nicht so leise, daß Svenja es nicht hören kann. Sie singt mit. "Simon De Beauvoir? Gott bewahr!" Brigitte wird schlagartig still. "Du kennst Nina Hagen?" "Warum denn nicht?" "Das ist 15 Jahre her. Ich hatte dich ebenso alt geschätzt." "Ich bin 24. Und die Platten von Nina Hagen, die kursieren in gewissen Kreisen." Damit wendet sich Svenja ab, sieht aus dem Fenster, und wieder erstirbt die Konversation. Brigitte wundert sich. Erst hatte sie Svenja deutlich jünger geschätzt, und dann auch noch diese Sache. Es paßt nicht zueinander. Die Frau sieht aus wie das Bilderbuchbeispiel einer Autonomen, aber sie redet wie eine Rechtsanwältin. Eine Zusammenstellung, die ihr noch nie über den Weg gelaufen ist. Unwillkürlich streifen ihre Gedanken zurück in die wilde Zeit an der Universität, als sie sich an jeder Demonstration beteiligt hatte, die "Stoppt Strauß!" - Plakette offen zur Schau gestellt und angefangen hatte, sich die Haare grün zu färben. Ja, lange ist das her. Verdrängt vielleicht, aber nicht vergessen, die Zeit als Punk. Etwas wehmütig denkt sie an die Psychologie damals zurück, als... "Sollen wir nicht fahren?" Svenja reißt Brigitte aus ihren tiefschürfenden Betrachtungen. "Ja, ja, ich komm' gleich zum Auto." In der Toilette sieht sie in den Spiegel. Warum bringt sie dieses Mädchen so durcheinander?
VI. Der Korken knallt gegen die Decke, eine Fontäne sprüht aus dem Hals der Flasche und bedeckt den Schreibtisch mit Sekt. Die Abrechnung des Bierverlegers wird ebenso naß wie das letzte Flugblatt der Deutschen Liga. "Verdammt, kannst du nicht aufpassen?" Marc springt auf. "Hole er einen Lappen, Lakai" sagt Achim mit autoritätsheischender Stimme. "Da!" Marc trifft den König mit dem Wischlappen genau an der Schläfe. "Mach selber!" "Was erlaubt er sich?" Der König ist pikiert. "Gib her, du Schwätzer!" Brigit reißt dem König den Lappen aus der Hand und wischt den Sekt auf. Das Fachschaftsbüro wird noch Wochen später nach Sekt riechen, denkt sie, wringt den Lappen aus und gießt allen ein. Sie hatte im DS Sekt geholt, während der Copy Shop ihr Referat kopierte, dieses endlich abgegeben und jetzt nur noch Lust, irgend etwas sinnloses zu tun. Auch dieses Gefühl ist jedesmal dasselbe: Die innere Lehre nach der Arbeit, das Gefühl, aufgeblasen zu sein und aus einem Stöpsel die Luft zu verlieren, ohne sie stoppen zu können. "Also, auf deine Arbeit!" Marc erhebt seinen Becher, sie prosten sich zu, es klackt natürlich nicht wie bei echten Sektkelchen, aber wer will 26
schon das Geld dafür aufbringen, und überhaupt: Alles, was wertvoll und zerbrechlich ist, hat doch bei diesen Grobmotorikern und Kleptomanen keinen Bestand. "Möge ihr der Gott der Wissenschaften gnädig sein und ihr eine gute Note bescheren." Achim schüttelt den Rüschenbesatz seines Ärmels zurück. "Auf daß sie eine gute Dienerin bleibe." "Halt's Maul und trink!" Marc setzt an und schluckt. Er ist aufgedreht, unzufrieden. Am Vormittag war er beim Dekan und hatte sich mit ihm über diese verdammten Diebstähle unterhalten. Er hatte sich die Haare gerauft, nicht so schön wie zu Beginn des Semesters, er war inzwischen beim Friseur. Es war beiden nicht gelungen, hinter das Geheimnis zu kommen. Die Polizei interessiert der Fall vorerst nicht, weil Diebstähle bisher in keinem Fall nachzuweisen waren. Der König hatte Marc daraufhin zum Royalen Investigator ernannt und ihm den Auftrag gegeben, Licht in die Sache zu bringen. Da er ohnehin in diesem Semester nicht mehr viel zu tun hatte, kam ihm dies günstig zupaß. Als Zeichen seiner Würde übergab ihm der König vor wenigen Minuten ein kleines Holzschwert, das der Investigator schmunzelnd einsteckte. Er sollte sich noch wundern, daß dieses kleine Schwert in nicht allzufernen Tagen einen Menschen nahezu meucheln würde.
VII. "Wo soll ich dich absetzen?" Brigitte ist merklich geschafft, diese langen Fahrten von Hamburg nach Köln sind ein Schlauch. Vielleicht sollte sie sich doch endlich diese verdammte BahnCard holen, um zu ihrem Freund zu fahren. Wäre vielleicht auch billiger, und sie könnte endlich während der Fahrt arbeiten, und überhaupt... Scheißspiel. Da hat wieder einer beim Abbiegen nicht aufgepaßt und seine Kiste unter einen Lkw gelenkt, der nun quer steht. Die Innere Kanalstraße ist wie an jedem Abend blockiert. "Ich steige hier aus. Da vorne ist eine Haltestelle." Svenja zeigt mit dem Arm nach vorne auf die Aachener Straße. "Vielen Dank für's mitnehmen." "Gern geschehen. Mach's gut." Brigitte hebt zum Abschied die Hand. In ein paar Tagen wird sie versuchen, sich an Svenjas Gesicht zu erinnern. Es wird ihr nicht gelingen. Svenja geht zielstrebig, wie von einer inneren Kraft geleitet, auf die richtige Haltestelle Richtung Innenstadt zu, obwohl sie noch nie in Köln war. Im Auto war es schön warm, jetzt watet sie durch den Regen, Herbstregen, kalt bis in die Knochen hinein. Sie wartet auf die Bahn, greift in die Hosentasche, in der sie einen Gegenstand spürt, den ihre Mutter ihr gestern mit auf die Reise gegeben hatte. Mit den Fingern streicht sie darüber, weiß, daß er ihr den richtigen Weg zeigen wird. Sie steigt in die Bahn, mit dem gewohnten Blick nach den Kontrolleuren. Eigentlich sehen die hier anders aus als in Hamburg oder Berlin, aber Kontrolleure sind überall gleich. Man muß schon bestimmte Charaktereigenschaften haben, um diesen Job mit voller Inbrunst ausüben zu können. Der Glaube an die Obrigkeit, an die Ordnung, das muß man verinnerlicht haben. Was wäre ein Schaffner, der sich die Wochenenden in Gorleben oder vor 27
der ICE-Trasse des Köln-Bonner Flughafens vertreibt? Am Neumarkt steigt sie aus, läßt sich von den konsumgeilen Leuten in der Schildergasse, von den ganzen heimeilenden Verkäuferinnen Richtung Dom mitschwemmen. Sie hat zuviel Schwung drauf, verpaßt die Abfahrt in Hohe Straße und kommt erst am Rheinufer zum Stehen. Das ist also dieser Fluß, denkt sie, die Elbe ist aber breiter. Dafür kommt ihr das dreckige schlammbraune Wasser fast bis an die Schuhe gekrochen, das Hochwasser steigt, die mobile Absperrmauer wird gerade montiert. Wenn die Sonne aufgeht, wird der Rhein ein neues Bett haben. Svenja streicht am Ufer entlang, an dem hektisch gearbeitet wird, die Wirte nageln ihre Häuser zu, legen Sandsäcke vor die Eingänge. Sie stolpert über den Kabelsalat, den RTL veranstaltet, um live dabei zu sein, wenn die Suppe überschwappt, Radio Köln steht unten vor dem Museum Wallraff-Richards, die Reporter quatschen die Leute an. Sie hat plötzlich ein Mikro vor der Nase und meint, sie sei das erste Mal in ihrem Leben in Köln, die Elbe sei breiter, schönes Schauspiel und was soll der ganze Scheiß? Eine innere Fügung treibt Svenja auf die Domplatte, ans Hauptportal. Sie blickt am Dom hoch, der Nebel legt sich als feiner Schleier auf die Falten im Gesicht der Kirche. Was für ein häßliches Bauwerk, denkt sie. Meisner hat noch immer nicht räumen lassen, die Klagemauer steht noch. Sie spricht einen der dort stehenden Punks an. Sie ist am Ziel.
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Die erste Begegnung I. "Wir können in der heutigen Zeit nicht mit den Ansichten an die Ausbildung herantreten, die wir in der Zeit Ende der 60er Jahre..." Klick. Achim schaltet den Recorder aus, mit dem er das Interview des neuen Professors aufgenommen hatte. Der Mann hat verdammt viel geredet, aber wenn er sich das so anhört, was der Mann inhaltlich von sich gegeben hat, dann... Der Mann könnte Politiker sein. Die sagen auch mit vielen Worten nichts. Es ist Freitag, Ende der zweiten Woche im Semester. Im Institut ist Ruhe eingetreten, nach den anfänglichen Schlägen über die Stränge verläuft das Leben nun in geordneten Bahnen. Die Fete hatte nur die üblichen Folgen, ein paar Totalausfälle, die sich bis über die Halskrause besoffen hatten, versiffte Toiletten, auf denen einige Leute zum Kotzen nicht den Porzellantrohn fanden. Wie in jedem Jahr hatten die Putzfrauen gut zu tun, um die Folgen der Feier ungeschehen zu machen. Sie taten es gerne, denn wie in jedem Jahr zeigten sich auch diesmal die Germanisten von der freigebigen Seite. Was will uns der Autor damit sagen? Die alte Frage von Generationen von Germanisten stellt sich nun auch Achim, der nun gar nicht mehr nach König aussieht, eher nach typischem Tagelöhner aus der Renaissance. Die letzten Tage waren von Arbeit und persönlichem Streß angefüllt gewesen. Als er morgens von der Fete wiederkam, eröffnete ihm seine Freundin, daß sie schwanger sei. Achim tat das normale eines Mannes, der diese Botschaft aus dem Munde seiner Freundin vernimmt: Er wurde ohnmächtig. Zu seinem Glück ging sie zeitig zum Gynäkologen, der nunmehr feststellte, daß sie zwar unter einer unregelmäßigen Menarche litt, aber keinesfalls guter Hoffnung war. Achim atmete auf, es gelang ihm aber nicht mehr, in die Rolle des Königs zu schlüpfen. Zumindest in dieser Woche. Wer weiß, ob sie in der nächsten Woche noch etwas mit ihm zu schaffen haben wollte? Er füllt die Kaffeetasse nach und setzt sich wieder an den Schreibtisch. Was um alles in der Welt hat Schmitz-Elias eigentlich in dem Interview sinnvolles von sich gegeben? Er sieht auf das Blatt Papier, das vor ihm liegt, es ist verdammt weiß, obwohl er den größten Teil des Interviews bereits abgehört hat. Als er ihm gegenüber saß, hatte er den Eindruck, daß der Mann sinnvolle Äußerungen von sich gegeben hatte. Aber ohne ihn vor sich zu sehen, scheint alles Müll zu sein, was er gesagt hat. Er war in einer Weise von dem Professor fasziniert, die ihm neu war. Es hatte alles so plausibel und einleuchtend geklungen. Aber jetzt? Etwas fehlt, um die Stimmung des Interviews wiederherzustellen. Irgend etwas.
II. Endlich hat es aufgehört zu regnen. Über dem Roncalli-Platz, eingekeilt zwischen Dom, Römisch-Germanischem Museum und DomHotel, rasen die Skater über den Platz. Ein junger Mann in Lycrahose 29
und Fleecesweater stellt sein Mountain Bike vor den Profilen des Aquädukts aus der Eifel ab, greift in den Rucksack und holt den Umhängebeutel mit dem Talkum hervor. Er sieht sich um, kein Bulle in der Nähe, geht zu dem Monolith vor dem Museum und krallt die Finger in den Granit. Eine Minute später ist er auf dem Stein. Robert packt eine Banane aus dem Gürtel und frühstückt, während er sich die vorbeieilenden Gestalten ansieht.
III. "Bist du immer noch nicht fertig?" Marc stürmt in die Fachschaft, geht zielstrebig zur Spüle, füllt einen Becher mit Kaffee und setzt sich mit der Lehne nach vorn vor den Schreibtisch, an dem Achim einer sinnlosen Tätigkeit nachgeht. "Halte er seine Zunge im Zaum, Investigator. Berichte er vielmehr dem König, welche Neuigkeiten er in Erfahrung bringen konnte." "Nichts. Warum bist du nicht mit dem Interview fertig?" "Weil der Schmitz-Elias", der Name geht Achim nicht leicht über die Lippen, "nur heiße Luft von sich gegeben hat. Weißt du, was das Schlimmste dabei ist: Als ich dem Typ gegenüber saß, dachte ich, das ist total geil, was der Mann da labert. Der Teufel muß mich geritten haben, das war Driss." Der König ist weg. Achim ist da. "Ja, mein König, was machen wir denn da? Wir müssen das Ding Montag in die Druckerei geben. Alle Augen warten auf dich." "Das ist das gute Recht des Königs. Was brachte der Investigator in Erfahrung?" Der König ist wieder da. Allein besteht das Problem, daß Marc in seiner Arbeit nicht voran gekommen ist. "Ich hab' mich heute morgen mit der Bibliothekarin unterhalten und bin mit ihr die ganzen Bücher und Videos durchgegangen. Da war zuerst nix." Er rührt den Kaffee um. Schwarz mit Zucker wie immer. "Dann hab' ich zwei Studenten getroffen, die als letzte Bücher hatten. Sie haben sie beide zurückgegeben und auch nichts damit zu tun. Die Bücher sie haben bei verschiedenen Leuten abgegeben, in der Ausleihe haben alle eine blendend weiße Weste. Aber ich hab' etwas festgestellt. Eine Sache, die sich ziemlich blöd anhört." Marc macht eine Kunstpause, der König sieht erwartungsvoll zu. "Alle Bücher, die verschwunden sind, hatten irgendetwas mit den Studentenprotesten der 68 zu tun." "Hä? Was?" Der König fällt aus der Rolle. "Ich weiß nicht, was mit den Videos ist. Aber alle Bücher hatten entweder vom Thema oder von den Autoren her etwas mit den 68ern zu tun. Hier," Marc legt die Liste auf den Tisch, "zum Beispiel 'Die Rolle der APO für die Sexualerziehung in Kreuzberg', oder 'Rudi Dutschke - Held oder Künstler?'. Dann hier, eine Zeitschrift mit Artikeln von Fritz Teufel. Ein Video über Daniel Cohn-Bendit." "Und was geruht der Investigator mit der bahnbrechenden Neuigkeit zu tun?" Der König lehnt sich im Stuhl zurück. "Der Investigator beauftragt den König, sich über die neuen Zusammenhänge Gedanken zu machen. Er selber wird sich jetzt zurückziehen und ebenfalls seine kleinen grauen Zellen aktivieren, um in dem Fall voran zu kommen." Marc stellt die Tasse ab. "Gestattet der 30
König seinem Investigator eine Frage?" "Nur zu." Achim macht eine herrschaftliche Handbewegung. "Frage er." "Wann wird das neue Organ der Fachschaft erscheinen?" "Frage er nicht. Der König bekommt es derzeit nicht auf die Reihe, das Interview mit Schmitz-Elias in eine schriftliche Form zu bringen. Er kann in den Ausführungen des Professors keinen Sinn entdecken, welchen schriftlich aufzuzeichnen Sinn machen würde." "Das heißt, die Herausgabe des Organs der Fachschaft wird sich um einige Tage verzögern?" "Er spricht wahr." Der König stützt die Kopf auf die Arme. "Gestattet der König dem Investigator, einen Artikel bezüglich des aktuellen Standes seiner Ermittlungen zu verfassen?" "Mache er dies." Wieder eine herrschaftliche Geste. Marc steht auf, beugt den Rücken zu einem kleinen Diener und tritt ab. Sam Spade schlägt den Kragen seiner Jeansjacke hoch, als er die feuchte Luft des Herbsttages hinaustritt, über den Albertus-MagnusPlatz schreitet und den Erfrischungsraum des Hauptgebäudes aufsucht.
IV. Weil er keine Ökosau ist, packt Robert die leere Bananenschale in den Gürtel zurück und bereitet den Abstieg vor. Er muß sich beeilen, denn vom Heinzelmännchenbrunnen her nähern sich eiligen Schrittes zwei Polizistinnen, und Robert braucht nicht lange zu raten, WEN sie im Visier haben. Mit einem Sprung kommt er auf dem Boden auf, sprintet zum Bike und drischt in Richtung Dom davon. "Halt! Halten Sie an!" Doch die Polizistin brüllt sich vergeblich die Lunge aus dem Leib. Sie greift zum Sprechfunkgerät, gibt die Beschreibung des Bikers durch, der ihnen gerade entwischt ist. Achim steuert zwischen den Ausstellungsstücken des Römisch-Germanischen Museums vorbei, passiert einen Straßenmusiker und sieht aus dem Augenwinkel, daß zwei Polizisten gerade von einer Gruppe von Straßenkindern daran gehindert werden, ihn zu verfolgen. Er steigt nach hinten aus dem Sattel und stürzt sich den Abhang zum Rheinufer herunter. Einer älteren Frau auf der Treppe bleibt das Herz stehen, als sie den Biker neben sich durchrauschen sieht, sie hält ihre Handtasche zu locker und verliert sie an einen Junkie, der dringend Geld für einen neuen Schuß braucht. Pech für ihn nun wieder, daß sich die beiden Bullen inzwischen befreit haben und ihre Wut nun an ihm auslassen können, nachdem Robert ihnen entwischt ist. An der mobilen Sperrmauer steht ein Punk und holt einen Schraubenschlüssel aus der Tasche, als er sieht, daß die Bullen beschäftigt sind. Schnell und beherzt löst er die Schrauben an einer Seite der Absperrung und an der Stütze. Er will sie mit einem Tritt einknicken, als er zwei Feuerwehrmänner heranlaufen sieht. "Schade." Er packt den Schraubenschlüssel in die Lederjacke und nimmt die 31
Beine unter den Arm. Aus dem Spalt in der Mauer rinnt ein dünner Strahl, die Feuerwehrmänner beschließen in der Eile, lieber das Loch zu flicken als den Punk weiter zu verfolgen. Er läuft durch die engen Gassen der Altstadt zum Heumarkt, sieht sich um, keiner hinter ihm. Puh. Da wird es heute Abend im neuen Haus etwas zu erzählen geben. Sein Blick fällt auf den Express in einem Kasten. "PEGEL SINKT", steht dort in der Schriftgröße für kurzsichtige Brontosaurier. Schade. Morgen wird es nicht mehr gehen, die Altstadt zu überfluten.
V. Marc rülpst einmal kurz und steigt die Treppe vor der Mensa herab, Richtung Zülpicher Straße. Kaum ist er auf dem Boden der Tatsachen, als auch schon das Spießrutenlaufen losgeht. "Hass' ma 'ne Mark?" Ein Punk mit reichlich zerschlissenen Klamotten und grünen Haaren quatscht ihn an. Na warte. "Seh ich so aus, als ob ich Geld hab'?" Marc geht zum Frontalangriff über. "Ich hab' mir gerade das Geld selbst zusammengeschnorrt, um überhaupt 'was zu Essen zu bekommen." "Okay, okay, is' ja gut." Der Punk macht eine abwehrende Handbewegung. "Weißt du überhaupt, was mir die Sparkasse sagt, wenn ich auf die Idee kommen sollte, einen Fuß in die Bank zu setzen? Killen würden die mich! Niemand in Köln hat sein Konto höher überzogen als ich! Ich bin der King!" Er fuchtelt wild mit den Armen vor dem Punk herum. "Is' ja gut. Hier haste 'ne Mark." Der Punk drückt ihn ein Markstück in die Hand und dreht sich auf dem Absatz seiner Stiefel um. Marc bleibt recht verdutzt stehen. Das war das erste Mal, daß der Weltmeister der Schnorrer unabsichtlich etwas bekommen hat. Die Bahn ist gerammelt voll, Marc drängt sich in die Tür und bleibt neben einer Glatze stehen. Innerlich zückt er das Springmesser, um nachzusehen, ob Skins ein Hirn haben oder nicht. Zu allem Überfluß steigen jetzt auch noch Kontrolleure in die Bahn, der Skin sieht eine Uniform und will aus der Bahn springen. Leider steht eine ältere Frau dazwischen, beide Gestalten fallen aus der Bahn heraus und vor einem Polizeiwagen auf die Straße. Der Skin springt auf, dreht sich um und sieht die Sterne, als er den Gummiknüppel eines Bullen über den Schädel bekommt. Marc fährt ein Lächeln über das Gesicht, es sind diese Ereignisse, die den Tag versüßen, viel schöner als Reality TV.
VI. "Wie heißt du?" Svenja wärmt sich die Finger an einem Becher Kaffee. "Nenn mich Merlin." Eigentlich sollte er sich ärgern. Gestern hatten sie es geschafft, in diesem heruntergekommenen Haus die Dusche in Gang zu bringen. Nach einer Woche das erste Mal unter Wasser, das hatte gut getan. Das Blöde an der Sache ist nur, daß beim Haarewaschen der größte Teil der grünen Farbe ausgewaschen wurde. Und die Farbe ist verdammt teuer.
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"Merlin? Wie der Zauberer?" Svenjas Augen gehen auf. "Genau wie der." "Woher hast du diesen Namen?" Wenn es eine Sache gibt, die Merlin sich bewußt verweigert, dann sind es Drogen. In der ganzen Autonomen Szene ist er dafür bekannt, daß er so gut wie nie säuft oder kifft. Es war mit Einsetzen der Pubertät, als er mit Freunden bei einer schwarzen Messe saß und sie zum Spaß versuchten, die Geister Verstorbener zu beschwören. Eigentlich sollte es nur Spaß sein. Sie hatten einen Kasten Bier in den Keller gestellt, einen Holztisch in die Mitte des Raums gestellt und Stühle darum gruppiert. Der Alkohol floß, Sisters Of Mercy tauchten sie in eine ferne Stimmung, sie schlossen die Augen und konzentrierten sich, als Karl-Josef (denn so heißt Merlin eigentlich) plötzlich mit vollkommen fremder Stimme zu reden anfing. Alle anderen wachten aus der Trance auf, nur Merlin war weit, weit weg, schien in die Rolle seines Vaters geschlüpft zu sein. Die anderen hörten, wie er von dem Autounfall redete, der seinen Vater wenige Monate zuvor dahingerafft hatte, wie er drastisch das Schleudern des Wagens und den Überschlag schilderte. Es war nicht seine Stimme, die seinem Munde entströmte, es war die seines Vaters. Er schrie heraus, daß er brenne, dann war Schluß. Merlin brach zusammen. Hinterher konnte er sich an nichts mehr erinnern. "Das ist ja faszinierend." Instinktiv faßt Svenja in die Hosentasche, dieser Gegenstand, der sie hierher geführt hatte, liegt sicher in ihrer Hand. "Weißt du, Merlin, ich hab' sowas früher auch mal gemacht. Meine Mutter..." Klick. Tief in ihr drin fällt die Klappe, sorgt eine Barriere dafür, daß sie nicht weiterredet. "Es ist nur ein Verdacht", sagt diese Stimme tief in ihr, du darfst es jetzt noch nicht preisgeben. Sie umfaßt den Gegenstand in ihrer Tasche fester, zerdrückt ihn fast. "Der richtige Moment wird kommen, wird bald kommen. Aber jetzt ist es noch nicht soweit", sagt die Stimme. "Was ist denn los?" Merlin klingt besorgt. "Ich kann es dir nicht sagen. Ich bin auf der Suche, aber ich kann dir nicht sagen, was ich suche." Sie dreht den Zahn in ihrer Hand. "Du wirst es bald wissen", sagt sie innere Stimme.
VII. Der Tag wird noch lang, denkt Marc. Er sollte das verspätete Mittagstief nutzen und sich einen kurzen Schlaf gönnen, so wie sein Opa das auch immer gemacht hat. Puschel fliegt einmal mehr fluchend aus der Tür, hat diesmal mit ihrer Schnurr- und Kratz-Atacke keinen Erfolg. Marc behält die Ruhe und dämmert in das Zauberreich des Schlafes herüber. Da ist sie wieder, die Frau aus dem Traum. "Wer bist du?" Er spricht sie an, sieht das Gesicht vor sich. Unwillkürlich hat er Angst, daß sie gleich wieder wie im Zeitraffer vor seinen Augen verfault. Aber diesmal braucht er keine Angst zu haben. Sie steht vor ihm, er prägt sich unbewußt das Gesicht ein. Er streckt seine Hand aus, will das Gesicht berühren, aber irgendeine Kraft verhindert, daß er sie erreicht. Sie öffnet den Mund, scheint etwas sagen zu wollen, aber er kann nichts hören. Sein Blick fällt auf ihre Zähne. Ein Schneidezahn fehlt. Wie mit einer Lupe geht er an das Gesicht der jungen Frau heran, gefesselt 33
von dieser Zahnlücke, hinter der... Er kann es nicht sehen, aber hinter dieser Lücke bewegt sich etwas. Plötzlich sieht er einen Film, Menschen stehen in einem Raum und scheinen sich zu unterhalten. Das Gesicht ist verschwunden, die Versammlung hat den Anschein einer Messe. Mit einem gellenden Schrei wacht er auf, sitzt aufrecht im Bett. Das ist sie schon wieder. Was um alles in der Welt ist mit dieser Frau, was mit diesem Traum? Ein Geräusch von klirrendem Geschirr läßt Marc aufschrecken. "Scheiße!" Eine weibliche Stimme aus der Küche. Marc springt in die Jeans, rutscht durch den Flur und bleibt im Türrahmen hängen. "Mein Gott!" Er reißt die Augen auf. "Du fährst morgen zu IKEA und kaufst einen Zentner Geschirr. Die alternative Methode des Geschirrspülens." "Ich konnte nicht anders. Puschel ist mitten auf den Stapel gesprungen, dann ist alles 'runtergefallen." Die bohrenden Blicke zweier Menschen treffen auf eine grau getigerte Katze, die vom Lärm verschreckt in der Ecke sitzt. Die Situation ist ihr offensichtlich peinlich. "Feinmotorik war noch nie deine Stärke! Raus mit dir!" Marc weist Puschel die Tür, sie zieht sich so unauffällig wie möglich zurück. Mit Lisa macht er sich an die Arbeit, das zerbrochene Geschirr zusammenzufegen. Mindestens die Hälfte des gesamten vorhandenen Porzellans ist der mangelnden Feinmotorik des Haustiers der WG zum Opfer gefallen. "Nein. Auch meine Schmidteinander-Tasse!" Marc hält den Henkel mit einem Rest des Haustürschildes in der Hand. "Ich bring' sie um!" Er wirft die sterblichen Überreste der Tasse in den Plastiksack. "Und woraus soll ich jetzt Kaffee trinken? Ich weiß was: Ich bringe Puschel um und trinke aus ihrem Schädel. So haben's die alten Germanen auch gemacht." Er geht in den Flur und greift sich die unvorbereitete Katze. "He, meine Süße. Wie wäre es mit uns beiden? Willst du meine Tasse werden? Es tut nicht weh, ich donnere dich einfach gegen die Wand und lege dich eine Woche in Wasser ein. Das Fleisch läßt sich dann ganz leicht vom den Knochen abziehen. Und dann trink' ich aus dir." Puschel sieht ihn aus wütenden Augen an. Plötzlich fließt Blut aus einer langgezogenen Wunde auf Marcs Wange. "He, verstehst du denn überhaupt keinen Spaß?" Er brüllt sie an, hält sie weiter von sich. Die liebevolle Unterhaltung zwischen Mensch und intelligentem Wesen wird jäh unterbrochen. Die Tür wird aufgerissen. "Was machst du denn da?" Martin sieht Marc entgeistert an, Puschel erzählt ihm in kurzen Worten ihre Version der Geschichte. "Geh in die Küche und sieh dir die Bescherung an. DEINE Katze hat unser aller Geschirr demoliert." Marc drückt Martin die Katze in die Hand. Als sie in die Küche kommen, macht Puschel ein Pokerface, spielt die Unbeteiligte. Martin ist zwar Sozialarbeiter, aber manchmal kann er auch verdammt hart sein. "Ich hab' dir verboten, auf die Spüle zu gehen." Er fuchtelt mit dem Zeigefinger vor Puschels Nase herum. "Du kriegst heute 34
nichts zu Essen. Verstanden?" Puschel stellt sich plötzlich taub und zuckt mit den Schultern. Marc setzt sie auf den Boden, sie stolziert ins Bad der WG. Es ist unglaublich, wie hochnäsig eine Katze gehen kann.
VIII. "Ich hab' mich in Hamburg und Berlin durchgeschnorrt. Das kann ich in Köln auch machen." Svenja probiert das erste Kölsch ihres Lebens. "Warum," fragt Merlin, "bist du nach Köln gekommen?" "Ich sage dir doch: Ich weiß es nicht. Irgend etwas hat mich dazu gezwungen." Sie ertränkt eine Gegenfrage in einem dicken Schluck Gilden. Sie braucht ja auch nicht jedem auf die Nase zu binden, was sich in den letzten Wochen ereignet hat. Dieser Brief ihrer Mutter, die langen Gespräche mit ihr, der Fall zurück in die Kindheit... Nein, die Zeit ist noch nicht reif dafür. Merlin geht nicht weiter darauf ein, läßt Svenja in Ruhe. Er erinnert sich ungern an sein Outing als Medium, hatte sich an der Schule einen zweifelhaften Ruf erworben, der auch letztlich dazu führte, daß er der Schule und Kerpen den Rücken zuwandte. Aus seiner ersten Wohnung schmiß ihn der Vermieter 'raus, und als gerade einmal wieder eine lustige Hausbesetzung am Schlachthof im Gange war, trieb es ihn dorthin, mitzumachen. Seitdem war er in der Szene heimisch. Aber diese Sache mit der schwarzen Magie lies ein einfach nicht los. Es hatte Anlässe gegeben, bei denen er sich bewußt besoffen hatte, um eine Eingebung zu haben. Geklappt hatte es fast immer. Wenn ein Haus geräumt werden sollte, er konnte es einen Monat vorher verkünden. Es waren verschiedene Ereignisse, bei denen es ihn einfach überkam und er die Rolle des Weissagers spielen mußte, ob er wollte oder nicht. Jetzt spürt er etwas heraufdämmern. Er wird wieder als Wahrsager auftreten, und er wird es wollen. Und diese Frau hat etwas damit zu tun.
IX. Wieder eine dieser Nächte, die im Kwartier Lateng enden. Marc und Brigit haben sich wie üblich im Schmeller's getroffen, um die Neuigkeiten bezüglich Institut, Frauen, Männer, Leben auszutauschen. "Investigator, du hast eine Spur?" "Die 68er sind daran schuld. Da bin ich sicher, Brigit." "Warum?" Und er erzählt ihr die ganze Geschichte, die er als Amateurdetektiv in Erfahrung bringen konnte, erzählt ihr von den Titeln und Themen und Autoren, über seine Vermutungen und legt dar, warum es noch einen höheren Zusammenhang geben muß. Die Studentenrevolte vor einem Vierteljahrhundert kann ja nun nicht der einzige Grund sein. Der Investigator geht nach dem normalen Schema vor: Wer könnte ein Motiv haben, diese verdammten Bücher verschwinden zu lassen? Brigit und Marc analysieren, was es damit auf sich haben könnte. Aber, verdammt noch mal, es läßt sich kein rationaler Zusammenhang 35
herstellen. Vielleicht ein irrationaler? Etwas mit Glauben an die Weltrevolution? "Quatsch!", denkt Marc und ertränkt den Funken eines richtigen Ansatzes in einem Glas Gilden. Einige Stangen Kölsch später sinnieren sie über die Zukunft ihres Berufs, der Bundesregierung und was auch immer. Es geht auf ein Uhr zu, Zeit zum Zahlen. Die Kellnerin hält sie ab, sie torkeln aus der Kneipe. Brigit ist heute mit der KVB hier, sie gehen zusammen zum Barbarossaplatz, die Bahn müßte gleich kommen. Vor der Stadtsparkasse am Barbarossaplatz sitzt eine Gruppe Autonomer, die jeden Benutzer des Geldautomaten sofort anquatscht. Zwei von ihnen haben sich zur Haltestelle begeben, um ihr Scherflein zur allgemeinen Stärkung der Wirtschaftskraft beizutragen. Die Bahn ist im Kommen, ein Germanistikstudent packt eine Germanistikstudentin am Arm und rennt mit ihr über die Straße. Gerade als die Bahn einfährt, erreichen sie die letzte Tür, gerettet. Sie steigen ein. Marcs Blick fällt auf die beiden Autonomen, die neben dem Wartehäuschen stehen. Er erkennt den Punk vom Mittag wieder, auch wenn der jetzt kein Grün mehr in den Haaren hat. Die Tür schließt und wird verriegelt. Plötzlich fällt Marcs Blick auf die Frau neben dem Punk. Er erkennt sie sofort. Verzweifelt versucht er die Tür zu öffnen, aber es klappt natürlich nicht. Die Bahn fährt an, er klebt am Fenster und sieht die Frau aus seinem Traum. Er reißt den Mund auf und will schreien, aber seine Stimme versagt, die Überraschung ist einfach zu groß. Sie steckt gerade die Hand in ihre Hosentasche, als suche sie zu etwas Zuflucht. Svenja ist müde, die letzten Tagen waren anstrengend, und bald werden sie in das Haus zurückgehen. Unwillkürlich greift sie in die Hosentasche, spürt den weißen Gegenstand in ihrer Hand. Er lenkt ihre Blicke auf die Bahn, die gerade anfährt. Ein Typ klebt am Fenster, reißt den Mund auf und scheint zu brüllen, aber sie kann nichts hören. Ihre Blicke treffen sich kurz, bevor die Bahn Richtung Innenstadt abbiegt. Sie weiß, sie wird ihn bald wiedersehen.
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Das Ende des Schweigens I. Der Abend hatte angefangen wie immer, eine dieser langen Nächte in den Kneipen. Und dann die Sache mit dieser Frau am Barbarossaplatz. Brigit hatte gerade aus den Augenwinkeln mitbekommen, daß Marc ausgetickt war. Er sprang auf die Bank, hämmerte gegen die Scheibe, schrie irgendetwas wie "Wer bist du?" Nur mit Mühe konnte sie ihn zurückreißen und davon abhalten, durch die Scheibe zu fliegen und auf der Straße zu landen, wo er sicherlich überrollt worden wäre. Die anderen Fahrgäste sprangen auf und liefen in den vorderen Teil der Bahn, hatten den Eindruck, der Verrückte würde sie gleich alle massakrieren. Brigit setzte zum Hechtsprung an und riß Marc zu Boden, bevor er die Notbremse ziehen konnte. Mit einem Schlag war es aus mit ihm, er wurde wieder ganz ruhig. Sie sah die Frau aus den Augenwinkeln, ziemlich heruntergekommen, aber sie wußte, genau Marcs Typ. Er hat kaum etwas geredet, als sie Sitzung der Fachschaft hatten. Achim hatte versucht, den Royalen Investigator zu befragen, aber Marc waren keine neuen Details zu entlocken. Er saß teilnahmslos am Tisch und trug zur Unterhaltung soviel bei wie ein Ziegelstein. Als sie Schluß machten, ging er nicht mit in die Kneipe. Brigit fühlte ein Helfersyndrom in sich aufsteigen und bugsierte Marc in die "Vanille", um Ruhe vor den anderen zu haben. Nach einem Glas Wein erzählte er ihr etwas von einem Traum, in dem immer wieder eine Frau vorkam. Und genau diese Frau meinte er gestern Abend gesehen zu haben! Sie erklärte ihn für verrückt. "Ich bin nicht verrückt." Er berichtet ihr noch einmal von den Träumen, diesmal jedes haarkleine Detail. Auch dieses eine, das mit dem Zahn, der ihr fehlte. Brigit zündet sich eine Zigarette an, nimmt einen tiefen Zug und lehnt sich im Stuhl zurück. Der Weltmeister der Schnorrer nestelt an ihrer Packung Zigaretten herum und zündet sie mit ihrem Feuerzeug an. Sie sehen sich eine halbe Zigarettenlänge einfach nur an. Aber in den Hirnen rumort es. "Weißt du, was ich komisch finde?" Brigit läßt langsam den Rauch aus der Nase ziehen. "Da haben wir diese Diebstähle, du gehst der Sache nach, und gleichzeitig hast du diese Alpträume und siehst diese Frau." "Du meinst," Marc sieht sie zweifelnd an, "es gibt einen höheren Zusammenhang?" "Ich habe da so eine Ahnung. Hast du irgendwann in deinem Leben einmal etwas mit Magie oder Zauberei zu tun gehabt?" Marc denkt lange nach. "Nein. Ich kann mich nicht daran erinnern." Er denkt nach. Eine Ahnung beschleicht ihn. Nicht mehr als eine Ahnung. "Doch." Er lehnt sich zurück. "Als ich dieses Referat geschrieben habe, du weiß doch, für den Schmitz-Elias, da war ein Titel dabei, der Faust unter den Gesichtspunkten Schwarzer Magie analysiert hat. Ich weiß nicht mehr genau, wie das Buch hieß, ist irgendwann Ende der 60er erschienen..." "Vielleicht..." Brigit kramt die Liste der verschwundenen Bücher als ihrer Handtasche. "Goethe und der Teufel?" "Ja, genau!" Er zeigt mit der rechten Hand auf Brigit, die Asche fällt von seiner Zigarette auf den Tisch, er wischt sie mit dem Ärmel weg. "Das Buch ist gestern als 37
vermißt angegeben worden. Vielleicht kannst du dich mit dem letzten Ausleiher unterhalten." Sie sieht auf der Liste nach. "Der letzte heißt...", sie wird kalkweiß, "Der letzte warst du." Eine Zigarette fällt auf den Tisch.
II. Die Schweigerin ist nicht mehr. Merlin hatte sich daran gewöhnt, daß Svenja keine Konversation zu entlocken war, gleichgültig zu welchem Thema. Seitdem dieser komische Typ in der Bahn ausgerastet war, hatte sie sich schlagartig verändert. Er grübelte die Nacht hindurch nach, woher er den Typ kannte, bis ihm einfiel, daß er ihn kürzlich angeschnorrt und ihm selber Geld gegeben hatte. So dreist war selbst er nie gewesen. Aber was wollte der Typ von ihm? Er schien eher etwas von Svenja zu wollen. Warum? Heute hatten sie den ganzen Tag auf der Domplatte verbracht und Touristen angeschnorrt. Svenja hatte eine merkwürdige Art entwickelt, die Leute anzugehen, und sie hatte Erfolg. Merlin spürte bei ihr eine positive Ausstrahlung, sie ging die Menschen fröhlich und mit Selbstbewußtsein an. Das hatte Erfolg. Sie hatte an einem Nachmittag soviel Geld gesammelt wie andere in einer Woche. "Wie machst du das?" Merlin macht ein ratloses Gesicht. "Ich mach's einfach." Sie hat ein diabolisches Lächeln. "Ganz natürlich." Wieder zurück im Haus beschleicht Merlin eine wahnsinnige Sehnsucht nach einer Flasche Bier. Nicht daß er den Alkohol brauchen würde, er spürt tief in sich drin, daß große Ereignisse bevorstehen. Das Medium wird bald wieder gebraucht, sagt ihm eine Stimme immer wieder. Wir sagen dir, wenn wir dich brauchen, Merlin. In der letzten Nacht hatte er sie zum ersten Mal gehört. Svenja und er hatten es sich in einem Zimmer unter dem Dach des leerstehenden Hauses gemütlich gemacht, hatten einen Ofen in Gang gesetzt, die Kälte aus ihren Knochen vertrieben und waren sich näher gekommen. Allerdings auch nicht allzu nahe. Merlin spürte eine Ablehnung bei ihr, als er ihr einen Kuß anbot. Er hatte ein höchst eigenartiges Gefühl für diese Frau, die älter ist als er, das war keine Verliebtheit, das war eher ein schwesterliches Zucken im Hirnlappen. Arm in Arm waren sie eingeschlafen, er wachte mitten in der Nacht auf und sah sie neben sich liegen, ruhig schlafend, betrachtete sie lange Zeit im Widerschein der Straßenlaterne, die durch das dreckige Fenster in den Raum schien. Plötzlich flammte eine Idee in ihm auf. Er stand ganz sachte auf und tastete über die Jeans, die neben ihr lag. Seit er sie kannte, faßte sie immer wieder in die rechte Tasche, und an ihr war eine Veränderung zu beobachten. Ganz vorsichtig greift er in die Tasche, fühlt einen kleinen Gegenstand, will ihn mit den Fingern greifen. In dieser Sekunde reißt ihm jemand den Arm aus der Tasche. "Laß es sein!" Svenja hat Groll in ihren Augen. "Tschuldigung." Er läßt die Jeans fallen, hat nicht gemerkt, wie schnell sie erwacht ist. "Was ist denn da drin?" "Das geht niemanden etwas an." Sie nimmt die Jeans an sich. Er will etwas erwidern, aber sie legt ihn einen Finger auf die Lippen, 38
würgt jede Konversation ab. Ganz langsam nähert sie ihre Lippen an seine, drückt ihm einen ganz leichten Kuß auf, keine Umarmung, dreht sich um und bettet ihren Kopf auf die Jeans.
III. "Ich hab' dir 'was mitgebracht!" Die Tür schlägt zu, Roland umfaßt Brigit von hinten und drückt ihr einen Kuß auf die Wange. "Oh. Womit hab' ich das verdient?" Sie hat eine Rose vor der Nase. "Du warst die letzten Tage so schlecht drauf. Ich dachte, es wäre gut, dich 'mal aufzumuntern." Er knutscht ihren Nacken. "Und was machen wir heute Abend?" "Ich hab' schon 'ne Verabredung." Sie löst sich aus der Umklammerung. "Schon wieder mit Marc? Wann hast du denn mal wieder Zeit für deinen Freund?" "Bist du eifersüchtig?" "Langsam schon." Er legt die Rose auf den Schreibtisch. "Die ganze Zeit treibst du dich mit ihm 'rum." "Wir hängen da in einer Sache drin, die uns beide verdammt beschäftigt." Um Roland zu besänftigen, drückt sie ihm einen dicken Kuß auf die Lippen. Das stellt ihn zufrieden. Die Klingel geht, sie drückt ihn von sich weg und öffnet die Tür. Marc kommt die Treppe heraufgesprungen, schreitet in Brigits Zimmer und begrüßt das liebende Paar. Sie lassen sich auf der Marginalsitzgruppe nieder, er gibt die letzten Informationen zum Stand der verschwundenen Bücher weiter. Roland macht ein langes Gesicht, das Thema hängt ihm zum Hals heraus, weil es dafür sorgt, daß Brigit ihre präehelichen Sexualpflichten aufs Sträflichste vernachlässigt. "Komm doch mit." Marc sieht Roland mit einem dezenten Lächeln an. "Sie ist meine Schwester und nicht meine Geliebte. Das ist der Unterschied zwischen dir und mir." "Ach, ich hab' keine Lust zum Tanzen." Roland macht eine abwehrende Handbewegung. "Außerdem muß ich dringend was für mein Repetitorium machen." "Wer kommt auch auf die blödsinnige Idee", sagt ein geschminkter Mund, "ausgerechnet Jura zu studieren?" Wenn Blicke töten könnten, würde Roland diese Nacht im Waidmarkt wegen Mordes an seiner Freundin verbringen. Roland gibt Brigit einen Kuß auf die Wange und geht mit seiner Tasse in die Küche der Etage. "Ich kann das alles nicht glauben." Marc wirft einen Blick auf die Bachemer Straße. "Es gibt kein Motiv, keine Struktur, keinen Grund, warum irgendjemand aus der Germanistik Interesse daran haben könnte, daß die Lehrmittel verschwinden. Und jetzt wissen wir ja auch, daß die letzten Ausleiher nichts mit den Diebstählen zu tun haben." "Trotzdem. Ich habe eine Ahnung, als ob jemand aus unserem geliebten Institut in den Fall verwickelt ist." "Angenommen, der Royale Investigator geht nun dieser Spur nach und horcht die Germanisten aus. Was erwarten wir von diesem Vorgehen?" "Darüber muß sich der Royale Investigator seine eigenen Gedanken machen." Brigit weist mit der Hand auf Marc, der still im Sessel sitzend seinen Blick auf Brigit heftet, nachdenklich. Sie sitzen eine Zigarettenlänge schweigend einander gegenüber. Du hast vorhin", sagt Marc, "gefragt, ob ich etwas von Schwarzer Magie wüßte. Ich schlage vor, daß wir uns jetzt an einer anderen Bibliothek umsehen und die Inhalte der Bücher auf den Verdacht hin 39
durchgehen. Es muß ja noch andere Exemplare geben." Endlich ein Ansatz, wenn auch ein sehr vager. Sie kommen überein, Samstag nach Düsseldorf zu fahren und das Wochenende über zu lesen, was die Schwarte hält. Frühlingsstimmung liegt in der Luft, als sie aus der Tür des Wohnheims treten. Es geht auf Ende Oktober zu, das Wetter paßt zu seiner Stimmung, er hat den Eindruck, daß der Frühling ihm gilt.
VI. "Was machen wir jetzt?" Merlin reibt sich die Stirn, überlegt sich, ob er sich die Haare neu färben soll. "Gehen wir doch ins Unikum." Die Umstehenden sehen Svenja entgeistert an, sie kennt sich in Köln absolut nicht aus, woher kennt sie das Unikum? "Einfach so." Sie legt dieses merkwürdige Lächeln auf. "Eine Eingebung." Und damit würgt sie jede weitere Diskussion ab. Die Nacht fällt über das besetzte Haus herein, jemand setzt die Heizung in Gang, auch die Dusche funktioniert wieder. Alles deutet auf einen gemütlichen Abend hin, wie geschaffen dafür, daß heute die Polizei anrückt und räumt. Merlin horcht in sich hinein und ist der Meinung, daß sie heute Abend nach Hause kommen können und noch ein Haus vorfinden werden und keine Ruine. Sie machen sich auf den Weg ins Unikum. Stiltskin und die Manic Street Preachers tauchen die Tanzfläche in eine Punk- und Grunge-Stimmung, die Marc und Brigit die Haare wild durch Gegend werfen läßt. Die Belüftung in der alten Mensa glänzte seit jeher durch Abwesenheit, so daß sie ordentlich ins Schwitzen kommen. Als "Motorcycle Emptiness" zu Ende geht, hat Marc ein dringendes Bedürfnis nach einem Bier, nickt Brigit zu, die ihm nachkommt. "Ihr könnt 'rein, ist in Ordnung." Der persische Chef des Abends hinter der Theke fuchtelt mit dem Zeigefinger vor den Autonomen herum. "Aber wenn ich irgendwas von Euch höre, werfe ich euch 'raus. Verstanden?" "Es wird nichts passieren." Svenja hat einen sicheren Ausdruck im Gesicht. "Ich weiß es." Sie holen sich eine Runde Kölsch, nur Merlin trinkt Wasser. Ein Mann und eine Frau, beide recht schweißüberströmt, nähern sich der Theke neben dem Eingang. "Der Punk", denkt Marc. "Der Schnorrer", denkt Merlin. “Sie ist es!" sagt Marc. "Jetzt ist es soweit", denkt Svenja. "Der ist verrückt", denkt Brigit. Wie in Zeitlupe geht Marc auf die Frau zu, die ihm zweimal im Traum erschienen war und wegen der er ein Affentheater in der Bahn aufgeführt hatte. Sie stellt ihr Glas beiseite, geht zurück, aus der Tür, nicht ohne ihm einen Blick zuzuwerfen, der eine Aufforderung enthält. Vor der Tür treffen sich die beiden Menschen, die nicht wußten, daß eine Macht sie ausgesucht hatte, sich zu finden. "Wer bist du?" Marcs Finger streichen ratlos über ihre Stirn, über ihre Nase. "Das wirst du noch erfahren, Investigator." Sie greift in Tasche ihrer Jeans. 40
"Woher kennt sie meinen Titel", fragt Marc sich, faßt unwillkürlich nach dem Holzschwert an seinem Gürtel. Svenja reicht ihm den Gegenstand, den sie die ganze Zeit in ihrer Tasche trug, legt ihn in Marcs Hand. Er sieht auf ihre Hand, dann auf ihr Gesicht, sie hat ein breites Lächeln aufgelegt. Und sie hat ein wunderbares Gebiss, in der Jugend regelmäßig vom Zahnarzt betreut. Kein einziger Zahn fehlt. In Marcs Hand liegt ein Schneidezahn.
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Ein Wochenende mit Folgen I. Svenja sieht recht auffällig in einen Benz hinein, der vor dem MTC auf der Zülpicher Straße abgestellt ist. Sie schüttelt den Kopf, lohnt sich nicht, denkt sie, und schließt zu Marc auf, der ein Stück weiter Richtung Roonstraße gegangen ist. "Woher hast du eigentlich das Geld, um mich zum Essen einzuladen?" fragt sie ihn. "Ich hab' am Anfang der Ferien verdammt viel gearbeitet," meint er, "weil ich mit meiner Freundin in Urlaub fahren wollte. Sie hat sich einen neuen Macker zugelegt und ich hab' mir den Urlaub durch ein Referat versaut." "Und das gibst du jetzt mit vollen Händen aus?" "Ich genieße es heute Abend in vollen Zügen." Das Spiga D'Oro war wie an jedem Freitag Abend recht voll, dafür war das Essen nach Marcs Meinung um so besser. Sie hatten einen Streifzug durch die Kneipen angetreten, waren im "Stiefel" um ein Haar in eine Messerstecherei geraten und hatten allen Schnorrern das Wort im Munde herumgedreht. Für Marc ist es ein teurer Abend, aber die Gesellschaft von Svenja war es ihm wert. Sie hatte in der "Schachtel" bemerkt, daß sie sich revanchieren wolle, eine Andeutung lag in ihren Augen, die er heute Abend noch mißverstehen soll. Das letzte Mal war er mit Jasmin in dieser Straße auf Tour gegangen, und wenn er auch das Ende in ihrem Bett genossen hatte, so war der Katzenjammer hinterher doch beträchtlich gewesen. Jedenfalls hat er seitdem immer Gummis dabei. Je früher der Morgen wird und je höher der Pegel steigt, desto mehr wird aus dem Weltmeister der Schnorrer der Macho. Der Bart ist inzwischen auf die Länge eines typischen Mickey Rourke-Porträts herangewachsen, die Zigarette im Mundwinkel wie James Dean, der Royale Investigator hat heute Urlaub. Ein Geräusch läßt ihm den Kopf herumdrehen. Die Zigarette fällt ihm aus dem Mund. "Schnell weg!" Svenja schubst ihn auf die Roonstraße, eine Beule in ihrer Jacke verbirgt das Radio, daß sie gerade mit traumwandlerischer Sicherheit einem BMW entnommen hat. "He, du Sau!" brüllt ihr der Besitzer des gerade angezahlten 7ers hinterher. "Ja, du Eber?" brüllt sie dem Fahrer mit einem dicken Grinsen über die Schulter zu. Marc und Svenja laufen über die rote Ampel, ein Panzer der S-Klasse tritt derart auf die Bremse, daß der alte Kadett J hinter ihm, Tecchno in Brachiallautstärke, tiefergelegt, monochrom lackiert, Sportauspuff, voll in den Benz donnert. Als das Blechknäuel mitten auf der vierspurigen Straße zum Stehen gekommen ist, entbrennt eine Auseinandersetzung zwischen den Insassen beider Wagen, die mit mehreren eingeschlagenen Zähnen und genähten Wunden Stunden später im Waidmarkt endet. Niemand interessiert sich jetzt noch für Marc und Svenja, die quer durch den Park auf dem Rathenauplatz laufen. Aus Versehen tritt Marc einem Mann auf die Hand, der gerade eine Frau zu Boden drückt, um sie zu vergewaltigen. Svenja tritt dem Mann aus Versehen in die Nieren, der Frau bleiben nur Sekunden, aber sie weiß sie zu nutzen, greift in ihre Handtasche und legt den Vergewaltiger mit einer Ladung Reizgas ihrerseits flach. 42
"Verdammt", sagt Marc vollkommen außer Atem, "warum hast du das Radio geklaut?" "Ich wollte mich revanchieren. Ganz einfach." Sie drückt ihm das Radio in die Hand, er sieht es ratlos, brüllt ein Fäkalwort in die Nacht und wirft das Radio in den Park. "Svenja, mach' das nicht noch einmal!" Sie zuckt mit den Schultern.
II. Martin und Lisa sitzen bei einer gemütlichen Tasse Tee mit Rum am Küchentisch der WG und frönen der Psychoanalyse. Auf dem Programm heute steht der gemeinsame Mitbewohner und seine neueste weibliche Errungenschaft, die er vor gut einer Woche kennengelernt hatte. "Die Frau stinkt." Lisa rümpft die Nase. "Als sie sich vorgestern hier geduscht hat, hab' ich zwei Stunden geschrubbt, bis ich baden gehen konnte." "Nun mach' 'mal halblang. Immerhin hast du deine Pflichten auch ziemlich vernachlässigt." Martin kippt Rum nach. "Das meiste Geschirr ist Baden gegangen, weil du nicht gespült hast. Bevor du also den Balken im Auge des Anderen..." Martin als Methusalem der WG hat es nicht nötig, sich für den Job als Streetworker jeden Tag frisch duschzugelen und zu rasieren. Entsprechend sieht er nach einer langen Nacht auf der Platte aus. "Jetzt hör' 'mal zu. Ich habe jeden Tag mit den Kids auf der Straße zu tun. Und auch wenn Svenja stinkt und abgetragene Klamotten trägt, ist sie anders als die Kiddies. Sie hat von ihrer Persönlichkeit her etwas an sich, was ihr eine Besonderheit gibt. Ich kann es nicht fassen, aber sie könnte von ihrem Gehabe her Rechtsanwältin oder Maklerin sein. Die Frau hat eine Ausstrahlung, die ich noch bei keiner anderen Frau auf der Straße erlebt habe." Und tatsächlich, der Streetworker HAT sich Gedanken über die Frau gemacht, mit der sein Mitbewohner vor wenigen Nächten hereinkam. Lisa hatte die Nase gerümpft, war vor dem Geruch vergorenen Schweißes in Svenjas Kleidung in ihr Zimmer geflohen. Martin wunderte sich am nächsten Morgen über die fremde Frau im Bad. Er hatte sich kurz im Flur mit ihr unterhalten, bevor sie in Marcs Zimmer verschwand. Jeden Tag hat er mit Kids aus der Szene zu tun, aber so ein Gespräch war ihm lange nicht mehr untergekommen. Er hatte seit Mitte der 80er Jahre miterlebt, wie sich die Szene entwickelt hatte. Früher hatten die Autonomen aus der Hausbesetzerszene, die Punks und die Alternativen politische oder ideologische Gründe, auf die Straße zu gehen. Man konnte mit den Leuten reden, sie standen hinter ihrem Leben. Mit der Zeit wurden die überzeugten Punks und Autonome weniger. Die Szene splitterte sich auf und wurde unübersichtlich. Heute sind nicht nur ehemalige Heimkinder und Ausgerissene auf der Platte, vor allem Alkoholiker und Junkies bestimmen heute Martins Arbeitstag, Süchtige, die immer jünger werden. Als er Anfang der 80er frisch von der Universität kam, war Martin wie alle anderen aktiv in der Friedensbewegung, trug seinen selbstgestrickten Wollpullover und Birkenstocks. Der Müsli an sich hatte ein Helfersyndrom, so auch Martin. Irgendwann kam der lange Bart ab, dann die Haare, die Nickelbrille ging bei einer handgreiflichen 43
Auseinandersetzung zu Bruch. Das Leben in der WG ist der einzige Rest seiner früheren Lebensphilosophie, die so sanft entschlafen war wie die Bedrohung durch den russischen Bären.
III. Ein Zug an der Zigarette läßt Brigit etwas entspannen. Seit dem frühen Morgen hängt sie über Büchern und Zeitschriften und versucht, eine Struktur in die Diebstähle zu bringen. Mit Bitten und Betteln hat sie es erreicht, den Videorecorder der Filmgruppe des Wohnheims an der Bachemer Straße ausgeliehen zu bekommen. Jetzt sieht sie das vierte oder fünfte Video an, weiß gar nicht mehr, wieviel sie eigentlich schon gelesen und gesehen hat. Beim Blick in den Spiegel meinte sie vorhin festzustellen, daß ihre Augen bereits ein viereckiges Format angenommen haben. Vielleicht eine Täuschung? Eigentlich müßte sie den Vortrag ihres Referats ausarbeiten, aber dazu ist sie seit Tagen nicht mehr gekommen. Sie ist stinksauer auf Marc, hat ihn gestern am Telefon zusammengeschissen. Er ist fast jeden Tag mit seiner neuen Freundin unterwegs, zeigt ihr das marginale Nachtleben Kölns, wahrscheinlich auch sein eigenes, verbringt die Nächte in besetzten Häusern und hat den Royalen Investigator in Urlaub geschickt. Er sagt, er ermittle auf seine Weise. Jetzt darf sie alleine nach einer Spur suchen. Sie schaltet den Recorder ab und setzt sich an den Schreibtisch, breitet die Zettel mit den Notizen vor sich aus und läßt die Inhalte der letzten Tage noch einmal vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Zwei Fäden scheinen sich durch die verschwundenen Medien zu ziehen: Zum einen wird die Studentenrevolte Ende der 60er behandelt. Die ganzen Theorien über das Ende der Bourgeoisie, die Revolution hat sie in dieser Woche zigmal durchgekaut. Nachts sind ihr in den Träumen Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit und Fritz Teufel erschienen. Sie sah sich in den schlimmsten Alpträumen schon mit nacktem Hintern vor der Mauer stehen wie die Kommune Eins. Was für ein Blödsinn, denkt sie, was haben die damals für einen Müll von freier Liebe und der Bedeutung der Wohngemeinschaft für den revolutionären Umbruch in der Gesellschaft erzählt. Das zweite ist recht merkwürdig. In manchen dieser Medien ist von schwarzer Magie die Rede, von Aberglaube, Fetischen, Talismanen und Wahrsagungen. Aber all dies ergibt keinen Zusammenhang mit dem ersten Thema. Es will ihr einfach nicht in den Kopf. Sie versucht herauszufinden, ob vielleicht einer der Autoren regelmäßig vorkommt. Als sie die vorkommenden Namen vergleicht, ist es ein Name, der als einziger in beiden Themenbereichen vorkommt. Schmitzhausen. Sie zuckt mit den Schultern, mit dem Namen kann sie nichts anfangen.
IV. Ein schönes Bild offenbart sich Svenja und Marc, als sie in die Alteburger Straße zum besetzten Haus kommen. Eine Straßenseite ist abgesperrt, Blaulicht zuckt durch die Straße und bricht sich in den Fenstern. "Scheiße!" 44
Svenja entfährt ein Fäkalwort, sie packt Marc an der Hand und läuft zum Eingang. Sie kommen zu spät. Eine Handvoll Maurer ist bereits dabei, die Tür und Fenster im Erdgeschoß zuzumauern. Marc unterdrückt seine Wut, fragt einen jüngeren Polizisten, wohin die Besetzer gebracht worden seien, bekommt gesagt, daß man sie zum Waidmarkt gefahren habe. Svenja hat eine Ahnung, wo sie die Freunde wiedertreffen könnte. Mitte der Woche hatte Merlin eine Andeutung von sich gegeben, daß möglicherweise bald geräumt wird. Er hatte eine Flasche Bier getrunken und war eingeschlafen, hatte am nächsten Morgen die Botschaft parat. Daraufhin hatte Svenja ihre spärlichen Sachen gepackt und sie zu Marc in die WG gebracht. Dabei kam es zu der Konfrontation mit Lisa, die heute Abend zwei Drittel der Wohngemeinschaft beim Tee zusammensitzen lies. Wenig später sind sie an der Klagemauer. Im spärlichen Licht einer Batterie von Teelichtern sitzen die Autonomen vor dem Hauptportal, haben ein Feuer entzündet und beratschlagen, wie es nun weitergehen soll. Die letzten Tage der Woche hatten einige von ihnen dazu benutzt, leere Häuser ausfindig zu machen, in denen sie sich niederlassen könnten. Sie kommen überein, in der kommenden Nacht ein Haus in Ehrenfeld an der Bahntrasse aufzubrechen. Der Tag wird damit herumgehen, die nötigen Materialien zu organisieren. Merlin hat blaue Hände wie alle außer Svenja und Marc, er ist erkennungsdienstlich behandelt worden. Was hat es denn für einen Sinn, sich zu wehren, sich mit den Bullen zu schlagen, sich für nichts und wieder nichts die Knochen brechen zu lassen? Sie hatten sich eine neue Strategie zurechtgelegt, hatten nicht viel Habe, die sie schnell zusammenpacken konnten, und waren wenige Tage nach einer Räumung wieder in einem neuen Haus. Die Polizisten werden von Einsatz zu Einsatz müder, die Unterstützerszene formiert sich nach Jahren der Lethargie wieder und der RDM fordert die Todesstrafe für Hausbesetzer. In kurzen Sätzen erklären die Autonomen Svenja und Marc die Ereignisse der letzten Stunden. Als die Läden Geschäftsschluß feierten, kamen die Bullen, brachen die Tür auf und ließen den Autonomen eine halbe Stunde, um freiwillig zu räumen. Leider brauchten sie zwei Minuten zu lang. Also rollte das SEK heran und schwappte die Kids nach draußen, ein Wiedersehen mit dem Waidmarkt war in der Pauschalreise ebenso eingeschlossen wie die Einfärbung der Finger. Nur die Behandlung durch das Personal ließ wie immer zu wünschen übrig. Reklamationen bei der Geschäftsleitung blieben auch heute Abend zwecklos. Die letzte Bahn ist weg, Svenja und Marc machen sich zu Fuß auf den Weg zur WG in der Maastrichter Straße. Als sie durch den Flur gehen, schlägt ihnen der Geruch einer geleerten Flasche Rum entgegen. Marc sieht in den Kühlschrank und nimmt eine Flasche Soave mit auf das Zimmer, in dem Svenja gerade die zweite CD von Tori Amos aufgelegt hat. "Du hast mir immer noch nicht von deinen Träumen erzählt." "Na gut." Marc entkorkt die Flasche und gießt zwei Gläser voll. Er trinkt einen Schluck, kauert sich auf den Boden neben Svenja. "Es waren zwei Träume. Im ersten warst du neben meiner Ex und einer anderen 45
Verflossenen zu sehen, im zweiten Traum warst du alleine." Er trinkt einen Schluck. "Ich habe dich genau vor meinen Augen gesehen, genauso wie du jetzt neben mit sitzt. Beim ersten Traum bist du zu einer Mumie geworden. Dein Kopf", er atmet schwer ein und aus, "dein Kopf wurde zu... einem Schrumpfkopf. Beim zweiten Traum bist du zwar nicht verwest, aber dir hat ein Schneidezahn gefehlt." Er zeigt auf den Zahn, den sie bei sich trug und der jetzt auf einem Tisch neben dem Bett liegt. "Ist das hier das Corpus Delicti?" Sie sieht ihn lange an. "Dieser steile Zahn hat mich hierhin geleitet." Mehr sagt sie nicht, denn sie weiß nicht viel mehr über die ganze Sache. Der baldige Tot ihrer Mutter, dieser Brief, den sie in der Hafenstraße bekommen hatte, all dies geht ihr durch den Kopf. Such deinen Vater, hatte sie den Auftrag von ihrer Mutter bekommen, dieser Zahn hatte im Brief gelegen. Der Arzt gibt mir noch ein Jahr, wenn die Metastasen nicht verschwinden, hatte ihre Mutter gesagt. Svenja hatte sich eine Woche nicht aus dem Haus getraut, hatte dann den Zahn eingepackt und war aufgebrochen. Er ist wahrscheinlich jetzt in Köln, hatte ihre Mutter geschrieben, das war das einzige, was sie über den Mann ahnte. Er hatte seinen Namen geändert und war seit ihrer Geburt nicht mehr in Erscheinung getreten. Der Zahn würde sie führen, das wußte sie. Jetzt ist sie in der Stadt ihres Vaters, aber sie tritt auf der Stelle. Sie hat diesen Freizeitdetektiv gefunden, der ihr sympathisch ist und zu dem ihr der Zahn den Weg gewiesen hat. Aber wie soll es jetzt weitergehen? "Woher hast du den Zahn?" Marc gießt nach. "Das kann ich dir jetzt noch nicht erklären." Sie winkt ab. Beide ahnen jetzt noch nicht, daß sich in zwei Wochen eine bahnbrechende Wendung ergeben wird.
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Am Institut geschieht etwas I. Schmitz-Elias läßt die Haustür hinter sich ins Schloß fallen und geht zu seinem schon etwas in die Jahre gekommenen Mercedes. Er legt die Aktentasche auf dem Beifahrersitz ab und startet den Motor. Schnell liegt Rösrath-Forsbach hinter ihm. Das Autobahnkreuz Heumar ist einmal mehr verstopft, der Professor kann Gedanken nachgehen. Seit mehr als einem Monat ist er jetzt an der Kölner Universität beschäftigt, so langsam stellt sich so etwas wie Routine ein. In der ersten Zeit hatte er Schwierigkeiten, sich an den neuen Betrieb zu gewöhnen. Die Universität in München, an der er habilitiert hatte, ist zwar genauso groß, aber es sind die Unterschiede in der Mentalität der Menschen, die ihm ungewohnt erschienen. Inzwischen hat er sich an lockerere und weniger geldbetonte Lebensart in Köln gewöhnt. Die Autobahn ist wieder frei. Er denkt an die Leute, mit denen er zu tun hat. Der Rektor war vor kurzem an den Lehrstuhl herangetreten und hatte die Professoren aufgefordert, bei den Stellen ihrer Assistenten und Doktoranden zu streichen. Eine Idee, die Schmitz-Elias zupaß kam, es gibt Gründe, einige Personen ruhig zu stellen. Heute wird sich etwas entscheiden. In der letzten Woche schon war etwas passiert, was er sich ersehnt hatte. Eine Spur aus seiner Vergangenheit war getilgt worden, eine längerdauernde Aktion hatte ihren positiven Abschluß gefunden. Auf dem Gesicht des Professors erscheint ein Lächeln, das die Grübchen im Gesicht einfallen läßt.
II. Endlich ist die neue Ausgabe des Organs der Fachschaft erschienen. Marc hatte mitgeholfen, die Exemplare der Fachschaftszeitschrift unter die Leute zu bringen, nachdem die Druckerei geschlampt hatte und der Auftrag eine Woche zu spät ausgeführt wurde. Wenigstens das konnte seine Stimmung heben. Svenja hatte er in den letzten Tagen kaum noch gesehen, er hatte den Eindruck, als ob sie ihm etwas verheimlichen wollte. Nicht daß sie ihn verlassen oder abgewiesen hätte, aber sie war sehr oft mit Merlin zusammen. Er ist nicht eifersüchtig, denn er hatte gesehen, daß zwischen Merlin und Svenja eine Spannung war, die mit körperlichen Dingen oder Liebe nichts zu tun hatte. Nein, da war ein höheres Gefühl, etwas das er nicht in Gänze spüren und in Worte fassen konnte. Jetzt liegt er auf dem Bett, das Gesicht der Decke zugewandt, die Augen geschlossen und den Kopfhörer über die Ohren gezogen. Er hört keine Musik, und das was er gerade hört, reißt ihn auch nicht gerade zu Stürmen der Begeisterung hin. In seinen Ohren bricht sich die Stimme von Schmitz-Elias, das Original des Interviews, das Achim mit Mühe und Not in eine schriftliche Form gebracht hat. Der Mann hat eine eigenartige Form der Aussprache, denkt Marc, ruhig und beschwörend. Er hat ihn jetzt mehrfach im Seminar erlebt, und wenn er das Bild des Professors vor seinem geistigen Auge erstehen läßt, 47
dann hat dieser Mann einen beschwörenden Ausdruck im Gesicht, eine Ausstrahlung, die dem Hörer Ehrfurcht einflößt. Wenn er vor den Studenten spricht, dann herrscht Ruhe und Anspannung. Aber wenn sie hinterher aus dem Seminarraum kommen, denken sich manche "Was haben wir uns da heute wieder bieten lassen!" und wissen, daß sie dieser Mann in seinen Bann gezogen hat. Der Royale Investigator versucht, dahinter zu kommen.
III. Brigit raucht eine Zigarette nach der anderen. Nicht mehr lange, und sie wird ihren Vortrag halten müssen. Sie ordnet nervös die Karteikarten und Overheadfolien, die sie in den letzten Tagen vorbereitet hatte. Hoffentlich habe ich es drauf, denkt sie. Wegen dieser Sache mit den verschwundenen Büchern hat sie mehr als eine Woche Zeit verloren, ist kaum mit den Vorbereitungen fertig geworden. Roland hatte fast jeglichen Kontakt zu ihr aufgegeben, weil sie nichts mehr mit ihm unternommen und ihn auf sexuellen Entzug gesetzt hatte. Er griff sie eines Abends und entführte sie in ein Restaurant, holte sie aus dem Trott des Lernens heraus und blies ihren Kopf für einen Abend frei. Der Streß fiel von ihr ab, sie beendete den Entzug und fühlte sich am nächsten Morgen besser, die Pause hatte ihr gut getan. Roland war für sie Kopieren gegangen und hatte die Rolle des Zuhörers gespielt, als sie einen Probevortrag gehalten hatte. Diese Art der Zuneigung, die er ihr gab, hatte ihr geholfen, doch noch alles auf die Reihe zu kriegen. Wenn sie es schafft, so hatte sie sich gesagt, dann soll Roland auch endlich einmal wieder etwas von ihr haben. Beziehungen muß man pflegen. Die Tür des Seminarraums geht auf, eine Sinnflut hungriger Studenten ergießt sich in den Flur und schwappt ins Foyer, mündet in der Mensa. Brigit sammelt ihre Unterlagen, begrüßt kurz die Assistentin, die gerade vorne stand, und breitet sich auf dem Pult aus. Sie prüft den Projektor, säubert das Glas und legt neue Kreide auf. In der Toilette sieht sie in den Spiegel. Auf das Make Up hat sie heute Morgen besonders viel Mühe verwandt, um die Ringe unter den Augen zu verdecken. Sie sieht der Frau gegenüber scharf in die Augen. Du wirst es schaffen. Und die Frau auf der anderen Seite sagt ihr: "Du wirst gewinnen."
IV. Ein Bild kommt Marc vor Augen, er zieht den Kopfhörer von den Ohren und klopft bei Martin an, der heute früher Feierabend gemacht hat. "Was gibt's?" "Du hast doch 'was über schwarze Magie. Kannst du ein paar Bücher leihen?" Martin weist mit der Hand auf sein reichgefülltes Bücherregal. Marc geht die Titel durch, nimmt ein Buch über Voodoo-Kult zur Hand und liest quer, nimmt ein anderes über schwarze Messen und schmökert darin herum. Mit beiden Büchern unter dem Arm geht er auf sein Zimmer. Ein Tee regt die Phantasie an, die Sisters Of Mercy bringen die richtig dunkle Stimmung in das Zimmer. Marc läßt die Jalousien herunter, entzündet eine Zigarette, legt sich auf die Matratze und steigt hinab in 48
Welten, die ihm fremd sind. Wenig später schreckt ihn ein Telefonanruf hoch. Er brüllt etwas in den Hörer, zieht rasend schnell Schuhe und Jacke an und stürzt vor die Tür.
V. Im Sitzungssaal der Berufungskommission der Philosophischen Fakultät herrscht eine gedrückte Stimmung. Der Dekan und der Rektor sitzen sich an den Kopfenden der Tafel gegenüber, zu beiden Seiten von den Professoren der Fakultät flankiert. Aus Düsseldorf kam eine Flutwelle den Rhein flußaufwärts herangerollt und schwappte über der Kölner Universität zusammen, um sie mit Sparmaßnahmen zu überschwemmen. Im Strudel der Ereignisse verlor der Rektor jeglichen Boden unter den Füßen und tauchte in einer Welle des Wahnsinns unter. Als er den Sitzungssaal betrat, spürten die Professoren, daß diesem Mann der dezente Charme des durchgeknallten Akademikers umgab. "Sollen wir das Opferlamm auswürfeln?" Ein Professor der Romanisten zieht die Mundwinkel hoch. "Drei Stellen an jedem unserer Institute sollen sofort gestrichen werden. Wir haben alle unsere Mitarbeiter, auf die wir nicht verzichten können, und wenn wir jetzt darüber debattieren, sitzen wir Weihnachten noch hier. Also, wer gibt die Karten?" Schmitz-Elias schlägt vor, die Namen der Assistenten an jedem Institut auf einen Zettel zu schreiben und diese von einer unabhängigen Person ziehen zu lassen. Die Sekretärin verbindet sich die Augen und zieht drei Namen aus dem Blumentopf. Manchmal werden Entscheidungen in akademischen Kreisen auf recht merkwürdige Art herbeigeführt. Schmitz-Elias zieht ein diabolisches Lächeln über das Gesicht.
VI. Brigit raucht in Gedanken die Zigarette danach. Das Problem ist, daß während der Seminare nicht geraucht werden darf, eine Regelung, die sie auch vollkommen einsieht. Aber muß es denn ausgerechnet jetzt sein? Sie hat den Vortrag gerade beendet, sitzt einsam neben dem Tisch des Vortragenden, drei Dutzend Augenpaare sind auf sie gerichtet, nur eines nicht. Professor Nolle nimmt die Brille von der Nase, zieht quälend langsam ein Taschentuch aus dem Jackett, haucht die Gläser an, putzt sie bedächtig, als spiele er Zeitlupe. Ganz genau prüft er, ob auf den Gläsern nicht vielleicht ein kleines Fitzelchen einer Fluse oder ein winziger Tropfen Schweiß kleben geblieben ist. Und wieder haucht er die Gläser an, poliert sie gründlichst, steckt bedächtig das Taschentuch ins Jackett zurück und rückt die Brille auf die Nase. Ihr Auftritt, Exzellenz. "Was haben Sie zu dem Vortrag von Frau Hammer zu sagen, meine Damen und Herren? Bitteschön," sagt er mit der Stimme des Kaisers, der den Untertanen Zeit zum Huldigen gibt, "ich bitte Sie um Ihre Meinung zu Frau Hammers Vortrag." Eine Studentin, kurze Haare, weiter Pullover und Nickelbrille erhebt ihre dünne Stimme in die Höhen der wissenschaftlichen Analyse. "Also", sagt sie, den Blick zu Boden gerichtet, "ich hab' da so ein komisches Gefühl bei der Betrachtung der 49
Sodomie in der altgermanischen Schriftsprache. Du, Brigit, weißt du, also..." Klick. Brigit schaltet ab. Ausgerechnet DIE alte Schnepfe zerreißt sich das Maul über ihren Vortrag. Warum hat sie nicht vorgesorgt und am Abend ein paar Killer eingeschaltet, um dieses Relikt aus der Hochzeit der Müsli-Bewegung zu eliminieren? Vielleicht hätte sie über Marc einige Autonome organisieren sollen, um diese Frau flachzulegen. Ein Tag, nur ein einziger Tag im Krankenhaus hätte ja ausgereicht, man hätte sie ja gar nicht zu massakrieren brauchen, obwohl das ein sehr reizvoller Gedanke gewesen wäre. "Was sagen Sie dazu, Frau Hammer?" Brigit reißt die Augen auf. "Ah, wie bitte? Entschuldigung, ich war gerade etwas... geistig abwesend." Du Schlange. Ich drück' dir gleich die erste Zigarette im Auge aus. Gnädig faßt der Kaiser die Argumentation des radikal-feministischen Standpunktes zusammen, Gelegenheit für Brigit, eine argumentative Abwehrsalve scharfzumachen. Als sie den Mund öffnet, ist sie voll bei der Sache, so konzentriert wie selten zuvor in ihrem Leben. Sie steht auf, geht zur Tafel, macht eine ausladende Handbewegung zu einem Diagramm hin, das sie im Vortrag an der Tafel entwickelt hat, schlägt mit dem Zeigestock auf den Tisch, redet mit voller Stimme in freier Rede und kämpft wie eine Löwin um ihre Note. Das Training mit Roland gestern Abend, denkt sie im Hinterkopf, hat sich gelohnt. Er hat sich bewußt so ätzend beim Probevortrag verhalten, daß sie jetzt nichts mehr schocken kann. Sie gewinnt.
VII. "Warum gekündigt?", fragt Achim mit weit aufgerissenen Augen, "Warum?" "Das entzieht sich meinem Horizont", sagt ihm der Doktorand gegenüber, "sie haben mir einfach gesagt, daß die Mittel für meine Stelle gestrichen worden sind und ich Ende des Monats gehen darf." "Sonst nichts?" "Das war alles. Germanisten sind sprachfaule Leute." Der König gewinnt seine Fassung wieder, bietet dem Doktoranden gegenüber eine Zigarette an, die dieser dankend ablehnt. Er inhaliert tief, läßt den Atem langsam durch die Nase ausströmen, das Hirn arbeitet fieberhaft. "Willst du auf Wiedereinstellung klagen?" Der Doktorand schüttelt den Kopf. "Das hat keinen Sinn. Bis ich vor dem Arbeitsgericht etwas erreicht hätte, wäre der nächste Winter angebrochen. Ich brauche aber jetzt Geld, um die Dissertation zu Ende zu bringen." Die Tür geht, Marc stolpert herein. "Hass' ma' 'ne Zigarette, Exzellenz?" Der König reicht dem Royalen Investigator Packung und Feuerzeug. Während Marc den ersten Zug macht, erklärt Achim ihm in kurzen Worten den Ernst der Lage. Ratlosigkeit. Die Tür fliegt auf. “HE! Ich hab's geschafft!" Brigit stürmt herein wie ein Orkan mit Lachkrampf. "Was'n los?" Der Lachkrampf läßt nach, als sie von der Kündigung hört. In anderer Stimmung als sie gedacht hatte läßt sie den Korken der mitgebrachten Sektflasche knallen und gießt reihum ein. Der Schaumwein brennt allen in den Kehlen, löst die Zunge und bringt ihnen Ideen, was sie nun machen sollten. 50
Der König setzt sich höchstselbst an die Schreibmaschine und schreibt dem Dekan einen Brief, um das Befremden aller Studenten über die Kündigung eines wichtigen Mitarbeiters des Instituts auszudrücken. Die Kürzungen am Institut haben den Lehrbetrieb ohnehin schon ausgetrocknet, die Lernenden lechzen danach, vom süßen Tau der Wissenschaft kosten zu dürfen. Anstatt dessen sitzen sie vollkommen auf dem Trockenen. Robert kommt vorbei, liest den Brief Korrektur und bringt ihn zum Dekan. "Hat doch alles keinen Zweck", sagt der Doktorand und verläßt den Raum. Die Viererbande der Fachschaft setzt sich mit der zweiten Flasche Sekt auseinander und sprüht vor Ideen, es dem akademischen Oberbau zu zeigen. "Jetzt reicht's!", schreiben sie in großen Lettern auf ein Plakat und hängen dieses mit dem Aufruf zu einer Spontanaktion in den Schaukasten im Flur des Instituts. Ein Flugblatt entsteht, morgen wollen sie sich zu Tausenden vor der Institutsbibliothek sammeln und dem Dekan die Türe einrennen. Sie wissen jetzt noch nicht, daß es dazu morgen nicht mehr kommen wird. In dieser Nacht besäuft sich ein hoffnungsvoller Nachwuchsakademiker. Seine Zukunft steht unter einem schlechten Stern, heute ist er gekündigt worden und steht vor dem materiellen Nirvana. Die Depressionen, von denen er sich seit Monaten verabschiedet zu haben glaubte, stürzen mit Macht auf ihn ein. Er ist der schlechteste, einsamste Mensch der Welt, sagt ihm das Hirn, sein Blick fällt tiefer und tiefer in das Glas, die Flasche Wodka leert sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Der Mann reißt torkelnd eine Gardinenschnur vom Fenster seines Apartments, stellt sich auf einen Stuhl und befestigt die Gardinenschnur an der stabilen Halogenlampe an der Decke. Er prüft glasigen Blickes den Sitz der Schnur, bindet eine Schlinge, legt sie um den Hals, wirft den Stuhl um und beendet ein für alle Male die Depressionen.
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Die erste Eingebung I. Die Beerdigung liegt jetzt eine Woche zurück, Brigit und Achim hatten sich in die Trauergesellschaft gestellt, den Eltern des Verschiedenen die Hände geschüttelt und dem Leichenschmaus gefrönt. Auf dem Melatenfriedhof waren nur wenige Mitarbeiter des Instituts erschienen, aus der Professorenriege nur der ehemalige Doktorvater des Verblichenen, zwei Assistenten, das war es dann auch. Die Fachschaft hatte ihre Abordnung geschickt und den Termin der Beerdigung publik gemacht, so daß einige Dutzend Germanisten dem Toten das letzte Geleit gaben. Eine traurige Veranstaltung, ging es Brigit durch den Kopf. Der Abschied von einem Menschen ist immer ein Stück Leben, das aus einem selber herausgerissen wird. Von allen Vertretern des Mittelbaues war der Tote der einzige, der einen regelmäßigen Kontakt zur Fachschaft gehalten hat. Er war auf den Feten, hatte sich gelegentlich auf ein konspiratives Gespräch mit den Lernenden eingelassen und war stets ansprechbar gewesen, um mit den Jünglingen des Instituts zu reden und ihnen zu zeigen, was sie besser nicht studieren sollen. Es waren keine Tränen der Höflichkeit, die Brigit an seinem Sarg vergoß. Sie trauerte wirklich.
II. Der November zeigt sich von seiner miesesten Seite, ein Schneeschauer geht hernieder und taucht die Zülpicher Straße für wenige Augenblicke in einen undurchdringlichen weißen Nebel. Achim klappt den Kragen seines Trenchcoats hoch, verliert in einer Bö die Zigarette im Mundwinkel und drängt schnellen Schrittes zur Mensa. Irgendein Jurist liegt vor ihm auf dem Boden, ihn hat es auf einer gefrorenen Pfütze erwischt. Einer von den Faschisten, denkt Achim und tritt auf die italienische Designertasche des Jungen. Er wischt sich den Schnee aus den Augen und peilt die Richtung, die Pfade auf dem Rasen sind verschwunden, und es besteht Grund zur Vermutung, daß er heute in einer Schneewehe steckenbleiben und ersticken könnte. Die neue Eiszeit bricht an! Er sieht sich langsam von der Kälte dahingerafft und dem Erstickungstod unter der weißen Masse liegen, sieht seine Seele aus dem Körper aufsteigen und weit, weit über den Kölner Grüngürtel schweben. Das Dach der Mensa bricht unter dem Gewicht der Schneemassen ein, Horden frierender Studenten brechen sich ihren Weg zur Zülpicher Straße, auf der eine Straßenbahn nach der anderen festgefahren steht, unter Strom, die Oberleitung ist heruntergerissen. In den Bahnen zucken die Fahrgäste aberwitzig vor sich hin, logisch, ein paar Tausend Volt am Morgen, das bedeutet eine kurze Freude vor dem letalen Abgang. Achim schwebt weiter, sieht eine Massenkarambolage auf der Universitätsstraße, ein Lkw hat mehrere Kleinwagen zu einer kompakten Masse zusammengeschoben, aus den Trümmern spritzt rhythmisch das Blut, 52
denn einer der Toten trägt einen Herzschrittmacher. Weiter und weiter treibt ihn die Reise ins Totenreich, er passiert den Dom, der gerade einen Turm verloren hat, dem zweiten steht der Einsturz kurz bevor. Durch eine Lücke im Dach erkennt er Kardinal Meissner, der DDRExport, der vor dem Altar sitzt und sein Schicksal mit der Literflasche Messwein begießt. Der Blick von Achims Seele streift über den Rhein, der inzwischen vollständig zugefroren ist und auf dem sich Eisschollen meterhoch aufgehäuft haben. Er fliegt weiter und sieht ins Bergische Land herüber, von Bensberg her ergießt sich der erste Gletscher ins Tal. Dann verstummt sein Ich. Doch es verstummt nicht ganz. Er sieht sich Tausende von Jahren später, die Gletscher sind geschmolzen, unter dem Eis kommt seine mumifizierte Leiche zum Vorschein, ähnlich abgemagert wie Ötzi. Ein Forscherteam befreit seine Überreste vom Eis, als aus tiefer Zeit eine weit entfernte Stimme das Forscherteam erstarren läßt: "Hass' 'ma 'ne Zigarette?" Doch dann kehrt Marc in die Wirklichkeit zurück, weiß, daß er gerettet ist. Vor ihm taucht die Allee vor der Mensa auf, undeutlich zuerst, dann immer klarer durch den fallenden Schnee zu erkennen. Er ist gerettet.
III. In dem Büro von Professor Klotzmann herrscht eine gewisse Anspannung. Der Professor hat Gäste, die er auf die Sitzgruppe gebeten hat, auf der die Studierenden meist die Qualen der Erde bei Prüfungen erleben. Nur ist die Situation diesmal umgekehrt: Brigit und Achim haben Fragen an ihn. Klotzmann bekommt kalte Füße, aber nicht wegen des Schneesturms draußen vor dem Fenster. Gestern hatte Achim über einen Informanten aus der Romanistik von dem eigenartigen Auswahlverfahren Kunde bekommen, mit dem die zu kündigenden Assistenten bestimmt wurden. Heute morgen hatte er Brigit informiert, "Die spinnen ja komplett", hatte sie gesagt, sie waren zur nächsterreichbaren Sprechstunde eines Professors gegangen, hatten sich mit grimmigem Blick in die Schlange der Wartenden eingereiht und Klotzmann mit der Aufforderung überfallen, zu der Meldung Stellung zu nehmen. "Wissen Sie", druckst der Lehrende herum, "ich kann Ihnen nicht einmal genau erklären, was uns dazu bewogen hat, diesem... Diesem Glücksspiel zuzustimmen." Er zündet sich eine Zigarette an, bietet Achim und Marc ebenfalls eine solche an. Brigit nimmt dankend an und benutzt ihr eigenes Feuerzeug, zieht mit zugekniffenen Augen tief den Rauch ein und fixiert den Professor. "Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht Herr Ihrer eigenen Sinne waren?" “Ich kann es Ihnen nicht genau schildern, was da mit mir vorging. Da kam dieser wirklich blödsinnige Vorschlag, und dann war da eine innere Stimme in mir, die mir gesagt hat, ich soll genau das tun." "Eine Stimme?", fragt Achim, "was für eine Stimme?" "Ich sagte Ihnen doch, ich kann es Ihnen nicht genau sagen... Es war, als sprach jemand zu mir, ein Geist, kein Mensch. Auch nicht, daß ich 53
ein Selbstgespräch gehört hätte. Ich wußte ganz genau, daß ich dieser Stimme nicht widersprechen konnte. Ich hatte keinen Willen dazu, ich mußte es einfach tun." "Was ist mit den anderen beteiligten Professoren", fragt Brigit, "haben Sie schon einmal mit ihnen darüber gesprochen?" "Nein." "Gut, Herr Klotzmann." Achim erhebt sich. "Das werden wir jetzt übernehmen. Was wir heute von Ihnen gehört haben, bleibt unter uns. Wir danken Ihnen für Ihre Hilfe." Im Flur wechseln Brigit und Achim kein Wort. Ein düsterer Schatten legt sich über die Gesichter der beiden Jungdynamiker, die gemessenen Schrittes durch die traurigen Flure der Germanistik marschieren, während die Hirne fieberhaft arbeiten und versuchen, einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen der letzten Wochen herzustellen. Brigit schließt das Büro der Fachschaft auf. Der Beginn des Semesters mit seinen zahlreichen Aktivitäten ist vorüber, das Leben hat sich normalisiert, und erst wenn es auf das Ende des Semesters zugeht, wird hier wieder der Hauch prüfungsbedingter Hektik zu spüren sein. Heute haben beide den Raum für sich. Achim holt zwei Becher Kaffee und schiebt Brigit einen solchen hin. "Also", sagt sie nach dem ersten Schluck, "was kommt unter dem Strich heraus?" "Wir haben einen Toten, der depressiv war und einen Suizid begangen hat", rekapituliert Achim. "Als über seine Zukunft entschieden wurde, hat sich mindestens ein Professor beeinflußt gefühlt." "Was folgern wir daraus?" Brigit beugt sich über den Tisch. "Wir müssen uns die anderen Professoren vornehmen. Wenn wir noch andere Fälle auftreiben, bei denen sich die Leute beeinflußt gefühlt haben, haben wir vielleicht den Schlüssel." "Mache sie das." Der König ist wieder zurück. "Wir übereignen ihr noch eine andere Aufgabe: Sehe sie sich um, was der Dahingeschiedene in den letzten Wochen getätigt hat, unter besonderer Berücksichtigung der Doktorarbeit." "Quatschkopp", denkt Brigit. "Das heißt, ich darf schon wieder an den Schreibtisch gehen? Wie wäre es, wenn der König seinen Investigator zur Arbeit antreiben würde?" "Mäße sie ihre Zunge. Wir werden dergleichen tun. Dann erteilen wir dem Royalen Investigator den Auftrag, die Damen und Herren Professoren zu befragen." Er sollte es wie damals bei der Inquisition machen, denkt sie. "Fällt dem König nicht auch auf", fährt sie fort, "daß die Serie der Diebstähle ein Ende gefunden hat? Vielleicht besteht ein Zusammenhang zwischen den verschwundenen Lehrmitteln und dem Toten." Höre sie sich daraufhin um. Und auch der Royale Investigator soll dergleichen tun." Der König stellt die Tasse in die Spüle. "Ist die Dienerin geneigt, das Mittagsmahl des Königs zu teilen?" "Logo." Sie sieht auf die Uhr. "Marc wartet schon."
IV. Warum kommen die alle nicht? Marc steht unter dem AIDS-Plakat neben dem Haupteingang der Mensa, läßt den Schnee schmelzen und 54
benetzt den Boden des Betonblocks mit Wasser. Er sieht zu zweitausendsten Mal auf die Uhr, hat die Schlange vor der Kasse bereits hinter sich gebracht. Plötzlich spürt er etwas auf der Wange, genauer gesagt die Lippen einer Frau. "Na endlich. Ich dachte schon, die Putzfrauen müßten morgen meine verhungerte Leiche wegtragen." "Die Bahn steckte im Schnee fest." "Sag 'mal", geht er Svenja bedächtig an, "hast du Ahnung von schwarzer Magie?" "Nein." antwortet sie kurz angebunden. Ihm kommen berechtigte Zweifel an dieser Antwort. "Marc, hast du heute Abend schon 'was vor?" Er schüttelt den Kopf. "Merlin hat mich gebeten, heute Abend zu ihm zu kommen. Und du sollst auch dabei sein, hat er ausdrücklich betont." "Warum? Was ist passiert?" "Er war verschlossen. Aber ich glaube, er wird heute Abend Medium." Marc sieht Svenja zweifelnd an. Aber klar, Merlin... Der Instinkt des Royalen Investigators flammt auf. Er hat intensive Beziehungen zu allem, was mit vergeistigten Dingen zu tun hat. Seit Wochen kämpft Marc sich durch Bücher, die sich um magische Kräfte drehen, vielleicht ist das der bessere Weg. "Mit Vergnügen", nickt er Svenja zu, "Ich komme auf jeden Fall." Svenja drückt leicht seine Hand.
V. Das Essen war heute ausnehmend gut, denkt Brigit und puhlt sich in den Zähnen herum, derweil sie eine Kopie des Exposés sichtet, die ihr die Hilfskraft des Toten gegeben hat. Auch dieser Mensch war von den verschwundenen Büchern hart getroffen worden und mußte lange Reisen zu fernen Bibliotheken unternehmen, zum Beispiel nach Düsseldorf. Ein Unterthema der Doktorarbeit hat etwas mit Esoterik in der Germanistik zu tun, ausgerechnet eine Verbindung zwischen den beiden Themen, mit denen die verschwundenen Bücher zu tun hatten. Jetzt dieser Tote. Gibt es da einen Zusammenhang? In der Mensa hatten sie sich ausgiebig über das Thema unterhalten, Marc wollte sich heute Abend mit den Leuten aus der Autonomen Szene treffen, um mehr über ebendieses Thema zu erfahren. Brigit dämmert ein Gedanke am Horizont ihres Wissens herauf. Sie läßt die Aussagen der Professoren Revue passieren, mit denen sie nach dem Essen gesprochen hatte. Alle bestätigten, eine innere Stimme gehört und einem sanften Zwang nachgegeben zu haben. Jetzt diese Sache mit der Esoterik. Ihr scheint sich ein roter Faden zu offenbaren, der sich durch die Geschichte zieht, ein Ahnung von Zusammenhang, mehr nicht. Sie kann ihn nicht in Worte fassen. Als der normal arbeitende Mensch an den Feierabend denkt, packt auch Brigit ihre Sachen und schließt das Büro hinter sich ab. Sie kommt nicht weit, auf dem Flur läuft ihr Schmitz-Elias über den Weg. "Professor Schmitz-Elias", fragt Brigit im schmeichelndem Tonfall, "hätten Sie vielleicht fünf Minuten Zeit für mich? Nur fünf Minuten?" "Ich bin untröstlich", sagt der Professor mit einem charmanten Lächeln, "aber ich habe eine dringende Verabredung. Suchen Sie mich doch bitte in den nächsten Tagen während meiner Sprechstunde auf." "Nun gut", meint sie, "dann werde ich später auf Sie zukommen. Guten Tag." 55
Einige Zimmer weiter auf dem Flur beendet ein anderer Professor des Faches seinen Arbeitstag. Den Schneesturm hatte er überlebt, die Fragen des Dekans allerdings zum Tod des Doktoranden hatten ihn mitgenommen, er wußte von der depressiven Veranlagung des Mannes. Auch die Polizei war heute hier gewesen und hatte ihrerseits Frage um Frage gestellt, um Licht in das Dunkel des Selbstmordes zu bringen, an dem der Staatsanwalt dezente Zweifel hegt. Die Geschichte schmeckt ihm nicht. Der Doktorvater eines Verrückten? Er will sich nicht in die Ecke schieben lassen. Er öffnet die oberste Schublade seines Schreibtischs und greift nach den Schlüsseln darin. Doch plötzlich hat er etwas anderes in der Hand. "Igitt, was ist das denn?" Die Frage ist recht einfach zu beantworten. Es ist die Kralle eines toten Huhnes.
VI. Der Schnee in der Innenstadt ist nach der weißen Orgie am Morgen teilweise geschmolzen, auf den Bürgersteigen türmen sich Berge von Eis. Marc und Svenja müssen auf ihrem Weg in die Innenstadt mehrfach auf die Straße ausweichen, um zum besetzten Haus in den Karthäuserwall zu kommen. Ihre Stimmung könnte besser sein, Marc gehen Svenjas Andeutungen bezüglich Merlin nicht aus dem Kopf. Er wolle uns etwas sagen, hatte sie angedeutet, ohne weiter auszuführen, was sie denn heute Abend erwarte. An der Tür donnern sie lange gegen die Tür, bis ein Junge mit hennafarbenem Haar öffnet. Sie steigen die wacklige Holztreppe hoch bis zur Wohnung unter dem Speicher, in der Merlin sein Domizil aufgeschlagen hat. Es sieht hier sehr aufgeräumt aus, denn die Polizei hat eine Räumung angedroht, der neue Polizeipräsident fährt jetzt eine harte Linie und fackelt nicht lange, wenn es darum geht, den Sumpf des Verbrechens und insbesondere der Schandflecke in der Stadt auszutrocknen. Merlin begrüßt sie, Marc und Svenja nehmen auf der Schlafsackunterlage neben dem Kohleofen Platz. "Ich hab' in den letzten Tagen das Gefühl gehabt", beginnt Merlin, "daß uns größere Ereignisse bevorstehen. Da ist irgendwas in der Luft." Er nimmt einen Zug aus einer recht dick gedrehten Zigarette. Der Geruch des Rauches nimmt dem Weltmeister der Schnorrer den Wunsch, Merlin um den Tabak anzugehen. "Also, in der letzten Nacht ist mir im Traum der Name eines Mannes erschienen. Ich habe versucht, mich hinterher daran zu erinnern, wie der Mann hieß, es war irgendwas mit 'Sch...' am Anfang, mehr weiß ich nicht mehr." Merlin zieht am Joint. "Das Einzige, woran ich mich noch erinnern kann, ist, daß ihr beiden etwas damit zu tun habt." "Wir beiden?" Marc ist ratlos. "Kannst du das etwas näher spezifizieren?" "Nein. Deswegen rauche ich ja Shit." Das Fenster steht einen Spalt auf, kalte Winterluft dringt herein und verdünnt den Geruch des Hasch in der Luft, so daß nur eine Person im Raum nach und nach stoned wird. Merlin legt sich auf die Matratze, zieht am Joint, streift den Tabak ab. Seine Bewegungen werden fahriger, er beginnt in das Reich des Rausches hinüberzudämmern. Aus seinem Mund kommen unartikulierte Laute, er dreht den Kopf langsam von einer Seite auf die andere, als wehre er sich gegen jemanden. Plötzlich schreit er auf. 56
"Laß mich in Ruhe!" Noch ist es seine Stimme. Der Royale Investigator und Svenja rücken auf der Matratze zurück, denn Merlin scheint in eine andere Person zu schlüpfen. Er spricht, aber seine Stimmt ist die eines alten Mannes. "Du hast keine Macht über mich. Du wirst mich nie zwingen können, etwas zu tun, was ich nicht will." Svenja legt eine Hand auf Merlins zuckenden rechten Arm, der sich augenblicklich beruhigt. "Wen siehst du?", fragt sie mit beschwörender Stimme. Merlin wendet den Kopf hin und her. "Geh weg." Aber er meint nicht Svenja. "Du bist nur ein Geist. Du hast einen Pakt mit den Mächten des Bösen geschlossen, glaubst du. Alles hast du hinter dir gelassen, um deine Karriere machen zu können. Erst warst du der coole Macker an der Uni, und jetzt glaubst du, daß du mit schwarzem Zauber alle Menschen unter deine Kontrolle bringen kannst. Du hast es auch fast schon geschafft. Aber du hast vergessen, daß es noch eine andere Macht gibt. Sie ist hier in Köln, und sie wird dich finden. Sie muß dich finden, so wie du sie verlassen hast." Klick. Merlins Körper erschlafft, er rollt den Kopf zur Seite und fällt in einen tiefen Schlaf.
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Noch eine Leiche I. Sanftes Licht scheint durch das Dachfenster herein, spiegelt sich in der gesprungenen Scheibe und zaubert schillernde Streifen auf die Wände. Merlin liegt ruhig in seinem Schlafsack, träumt sich in wärmere Gefilden als das eisige Köln. Svenja sitzt auf ihrem Schlafsack, hat die Decke übergeworfen und liest einen Brief, den sie seit einem Monat bei sich trägt. Sie blickt auf Merlin, läßt sich durch den Kopf gehen, was er gestern gesagt hatte, bevor er eingeschlafen war. Es paßt nicht zusammen. Sie hatte gedacht, eine Spur auf der Suche nach diesem Menschen gefunden zu haben, auf dessen Fährte der Brief sie gesetzt hatte. Vielleicht hat es ja doch etwas damit zu tun, denkt sie, diese Sache mit den Mächten, die gegeneinander stehen, sie fühlt es in sich. Aber sicher ist sie nicht. Ohne Merlin zu wecken, steht sie auf, zieht die Jeans über, die Marc ihr geschenkt hatte ("Ich hab' sie in einem Second-Hand Shop geschnorrt") und geht ins Parterre hinunter. Auf dem Herd kocht ein Kessel zischend vor sich hin, drei Gestalten mit abstrusen Haarfarben sitzen um den schiefen Küchentisch herum und trinken Kaffee. "Was habt ihr da gestern gemacht?", fragt die Frau mit den blauen Haaren. "Merlin hat so laut gebrüllt, das ganze Haus hat zugehört." "Na, wir haben's nicht miteinander gemacht." sagt Svenja, gießt einen Becher voll Wasser und schüttet Nescafé dazu. "Merlin hatte eine Eingebung." "Ach, nennt man das jetzt so?" Spitze Bemerkung mit blauen Haaren. "Er hat unzusammenhängende Sachen über gute und böse Magie erzählt." "He, das ist doch dein Metier. Du hast doch Ahnung davon." Sie schüttelt den Kopf. "Aber der Geist ist nicht in mich gefahren." Svenja tritt ans Küchenfenster. Draußen sind gerade zwei Bullenwagen dabei, die Straße zu sperren.
II. Auch im edlen Wohnviertel Marienburg stehen gerade Streifenwagen vor der Tür eines Hauses, die Polizisten drängen Schaulustige zur Seite, um dem Arzt den Weg zur Leiche frei zu machen. Doktor Schrull ist seit Jahren Gerichtsmediziner, hat schon so manche Leiche gesehen und ist recht kaltblütig geworden, was seinen Job angeht. Er hat in all den Jahren Polizisten kotzen sehen, wenn wieder eine Wasserleiche aus dem Rhein gezogen wurde. Aufgeschwemmte Körper, jede einzelne Zelle vollgesogen mit Wasser, einen Stück Teig ähnlicher als einem menschlichen Wesen. Nur einmal in diesem Jahr hatte er nach einem Arbeitstag nicht schlafen können. Er hatte den kleinen Kevin obduziert. "Ist es noch ein Mensch?" fragt er nicht ohne einen zynischen Unterton in der Stimme. "Sie werden Ihr Wunder erleben, Doktor", antwortet ihm Kommissar Krämer. Doktor Schrull kniet sich neben den Menschen auf dem Boden. Der Mann sieht gesund aus, rosige Gesichtsfarbe, das blanke Leben in den Augen, die weit aufgerissen an die Decke starren. Der Arzt wedelt 58
mit der Hand vor den Sehorganen herum. "Aber tot isser?", fragt er den Kommissar. "Herr Doktor Schrull, ich bin kein Arzt, aber ich schildere Ihnen 'mal kurz meine Beobachtungen." Kommissar Krämer stellt sich neben dem Arzt auf, der ihn von unten herauf ansieht. "Da liegt ein Mensch neben seinem Bett auf dem Boden, regungslos und nicht ansprechbar, Atem und Herz stehen still. Was würden Sie sagen, Doktor, lebt der Mann?" "Mit einem dicken Elektroschock vielleicht." Der Arzt schließt die Augen des Toten. "Wer ist er?" "Professor an der Germanistik. Machen Sie Ihren Job, Doktor, ich mache meinen." Schrull greift in seine Tasche, holt ein Paar Latexhandschuhe heraus. Er öffnet die Schlafanzugsjacke des Toten, hört die Brust mit dem Stethoskop ab, mißt die Temperatur und sucht nach Verletzungen. "Wie lange?" fragt der Kommissar. "Seit drei bis vier Stunden isser tot." Der Arzt wendet die Leiche. "Krämer, haben Sie irgendwelche Gegenstände gefunden, die auf einen Mord hindeuten?" "Nicht einmal Selbstmord." Der Kommissar zündet eine Zigarre an, der Rauch wabert schwer durch den Raum. "Kein Messer, kein Hammer, nicht einmal Schlaftabletten." "Komisch. Wenn einer friedlich abnippelt, bleibt er nicht gerade mit offenen Augen neben dem Bett liegen. Und ich finde nichts, was auf Gewalteinwirkung hindeutet." Der Arzt steht auf. "Ich will mir den Mann von innen ansehen. Bringen Sie ihn in die Pathologie."
III. Es geht nicht anders, es muß raus, sagt Svenja sich, greift sich den Briefblock und schreibt einen Brief. Die Worte, die Ereignisse der letzten Wochen, vor allem aber die Fragen fließen nur so aus ihr heraus. Um sich herum spürt sie nichts mehr, hört die Sirenen vor der Tür nicht, sie schreibt und schreibt und schreibt. Unbeeindruckt von dem Lärm unten vor den Haus beendet sie endlich den Brief, steckt ihn in ein Couvert und sucht die Adresse heraus. "Gut. Es ist mir egal", sagt der Beamte der Staatsanwaltschaft, "welche Rechtfertigung sie aus ihrer Hausbesetzung ziehen. Ich weiß nur eins: Ich habe den Räumungsbefehl, und sie verlassen heute Nacht dieses Haus. Ich lasse ihnen jetzt noch eine halbe Stunde zum Räumen, sonst holen wir Sie heraus." Was bleibt ihnen anderes übrig? Die Autonomen beraten kurz, packen ihre Sachen und gehen auf die Straße. Wieder hat der neue Polizeipräsident erbarmungslos zugeschlagen. Die Meute zieht zum Dom, zur Klagemauer, ein paar neue Tafeln aufhängen und beratschlagen, wie es weitergeht. Svenja schnorrt in einer Buchhandlung eine Briefmarke und wirft den Brief ab. Vielleicht wird nächste Woche alles klarer aussehen. Eine Vision schwebt vor ihren Augen. Sie sieht ihre Mutter in einem Krankenhaus irgendwo in Hamburg liegen, auf der Krebsstation. Schläuche kommen aus ihrer Nase, an ihrer Seite stehen elektronische Geräte, die jeden Atemzug registrieren, ein Tropf versorgt sie mit Medikamenten. Die Wangen der
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Frau auf dem Bett ist eingefallen, der Tod ist ihr ins Gesicht geschrieben. Krebs im Endstadium.
IV. In einem Raum im Philosophikum sitzen drei Männer und eine Frau um einen Schreibtisch herum. Ihre Stimmung ist auf dem absoluten Tiefpunkt. Gerade haben sie die Meldung bekommen, daß es schon wieder einen Toten an der Germanistik gibt. "Warum schon wieder einer? Ich pack' es nicht!" sagt Marc, der eine Zigarette in der zitternden Hand hält. "Wir sollten der Polizei alles sagen, was hier in den letzten Monaten passiert ist. Vielleicht hat dann dieser verdammte Spuk endlich ein Ende", sagt Robert. "Es ist ein Spuk." Achim wirkt niedergeschlagen wie alle anderen. "Er hat recht, es ist wirklich ein Spuk." "Bereiten wir dem Spuk ein Ende wie der Wende." sagt Marc und drückt die Zigarette aus. "Jetzt bist du an der Reihe, Investigator." sagt Brigit. "Du darfst herausfinden, warum die beiden sterben mußten." In der Tat ein schwieriger Sachverhalt. Nun ist also ein Forschungszweig an der Germanistik ausgestorben. Die Tatsache, daß es einen Professor und seinen Assistenten in nur einem Tag dahingerafft hat, ist ebenso merkwürdig wie die Umstände des Tods beider Personen. Auf den ersten Blick scheint es bei beiden Fällen kein Fremdverschulden zu geben. Der Investigator hält es für ausgeschlossen, daß beide unabhängig voneinander zu Tode gekommen sind. Es muß eine Verbindung zwischen beiden Fällen geben. Er ist sicher, daß diese Verbindung der Grund für das Morden ist. Und er ist sicher, daß er den Grund an der Germanistik finden wird. Brigit gibt ihm die Liste der Arbeiten, die beide Dahingeschiedenen in den letzten Monaten beschäftigt haben. Marc zieht sich in eine ruhige Ecke des Büros zurück und schaltet die kleinen grauen Zellen ein.
V. Doktor Schrull macht sich ebenfalls seine Gedanken. Jetzt hat er die Leiche des Professors obduziert, konnte aber nichts feststellen. WANN der Tod eingetreten ist, konnte er bestimmen. Aber das WIE ist ein Rätsel. Keine Spur von äußerer Gewaltanwendung, keine Prellungen, keine Wunden, keine Knochenbrüche. Alle Körperhöhlen hatte er untersucht und keine Hinweise gefunden. Nach dem körperlichen Zustand der Leiche müßte diese quicklebendig sein, alle Organe sind in Ordnung und würden ihrer Arbeit bestens nachgehen, wenn sie denn noch etwas zu tun hätten. Es gibt kein Hinweis auf einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall, auf eine Epilepsie. Er ist ratlos. Auf den Zettel am linken großen Zeh der Leiche schreibt er unter der Rubrik Todesursache: Ungeklärt. Sollen die Kollegen ihr Glück versuchen. In seinem Büro wartet bereits ein Polizist, sieht aus dem Fenster auf das neue Parkhaus des Kaufhof. "Nun, Doktor, was haben Sie gesehen?", fragt Kommissar Krämer. "Ein Nirvana. Setzen sie sich." Schrull bietet dem Kommissar ein Glas an, gießt beiden einen Cognac ein. "Seit drei Jahrzehnten bin ich jetzt im Polizeidienst, aber so etwas ist mir noch nicht begegnet." Er nimmt 60
einen großen Schluck, fühlt den teuren Stoff brennend die Kehle herunterrinnen. Sonst trinkt er nie während der Arbeitszeit, aber heute ist eine Ausnahme. Eine von vielen. "Hören Sie, Krämer, so wie der Mann aussieht, müßte er blendend in Ordnung sein." Die Gesichtszüge des Arztes sind in den vergangenen Stunden um Jahre tiefer geworden, haben tiefe Kanäle entlang der Nasolabialfalten eingeschnitten. Krämer gleicht seinen Gesichtsausdruck dem von Schrull an, denn sein Gesicht wird länger und länger, je mehr Details er hört. Der Tote kann eigentlich gar nicht tot sein. "Und was würden sie sagen, Doktor Schrull," sagt Krämer, "warum ist der Professor so lebendig wie ein Fischstäbchen?" "Zauberei." Schrull zuckt mit den Schultern. "Reine Zauberei." Dem Professor wird langsam kalt. Würde er noch leben, so begännen jetzt seine Zähne zu klappern und der Körper zu zittern. Er würde aufstehen und sich bewegen, um die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben. Wahrscheinlich würde er gegen die Türe des Schrankes donnern, bis jemand öffnen würde. Doch er kann es nicht, denn er ist tot. So bleibt er auf der Stahlbahre liegen und nimmt die Temperatur eines gut gekühlten Hähnchenschenkels an.
VI. "Sie haben eine Vermutung? Was für eine Vermutung?" Kommissar Krämer hat dem Royalen Investigator eine Zigarette gegeben, sich in der Zwischenzeit dessen Ansicht zum letalen Abgang des Lehrstuhl angehört. "Sehen Sie", erzählt Marc frei von der Leber weg, "da waren zuerst die Diebstähle. Uns sind haufenweise Bücher und Videos gestohlen worden. Alle diese hatten irgend etwas mit Esoterik zu tun. Die beiden Toten haben sich ebenfalls mit Esoterik beschäftigt." "Sie glauben an einen Zauber?" "Nicht direkt. Aber wenn Sie sich die Todesart des Professors ansehen, geht das in die Richtung. Vielleicht sollten Sie darauf bei den Ermittlungen acht geben." "Wie kommen Sie darauf, daß es einen Zauber geben kann, die zwei Menschen tötet? Mir will das nicht in den Kopf." "Da sperrt sich auch mein Schädel. Aber der Zusammenhang ist da, und ich habe das deutliche Gefühl, daß ich recht habe." In kurzen und prägnanten Sätzen erklärt der Royale Investigator dem Kommissar seine Sicht der Dinge, wobei er wohlweislich verschweigt, von wem er welche Informationen hat. In einem langen Argumentationsbogen schließt er die Lücke zwischen den Diebstählen und den Toten. Die Oberfläche ist da, aber in der Tiefe prangt ein Loch, das zu füllen Marc angetreten ist. Ein Gefühl sagt ihm, daß diesem Fall nicht mit polizeilichen Mitteln beizukommen ist. Der Kommissar verabschiedet sich. Marc ist alleine im Büro der Fachschaft, beugt sich nach vorne und stützt den Kopf in die Hände. Ganz tief in sich fühlt er die Berufung, daß nur er den Fall lösen kann. Nur er und noch eine weitere Person. Aber das weiß er jetzt noch nicht.
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Partnerwechsel I. Eine ungeduldige Schneeflocke hat es nicht geschafft, die zwei Wochen bis Weihnachten noch warten zu können und fällt jetzt schon aus dem Himmel. Die Wolken hängen tief, sie hat keinen langen Weg vor sich, um die Stadt zu erkunden. In den letzten Tagen war es warm in Köln, die Flocke sieht ihre Artgenossen unter sich sterben und in Wasser auflösen, sie beschließt, sich Zeit zu lassen. Genüßlich blickt sie umher, erkennt den Colonius, grüßt eine Bekannte, die der Wind ihr über den Weg treibt, blickt hinab und sieht die weißen Flecken, die sich auf so manchem Strauch gebildet haben. Auf der A 57 werden ihre Schwestern von rücksichtslos dahinrasenden Metallkisten zu Tode gewalzt, ein Schaudern fährt durch ihre Kristallstruktur, als sie dies sieht. Sie wendet ihren Blick auf angenehmere Bereiche der Stadt, nimmt ein Gewitter blauen Lichtes wahr und beschließt spontan, dorthin zu fliegen. Und schon ergreift sie eine Böe, wirbelt sie hoch in die Luft und hinein in die Liebigstraße, auf das blaue Licht hin, das sie anlockt, das ihr Kühle und Leben verspricht. "Hallo, Licht!" sagt sie, geblendet von dem zuckenden Blitz, der sie hypnotisiert wie die schwebende Jungfrau. "Hallo, Schneeflocke!" sagt das Licht, als sie das Glas berührt und ächzend stirbt. Ein Straßenbulle reibt sich eine Schneeflocke von der Brille. "Warum müssen die Arschlöcher von der Stadt uns bei dem Scheißwetter 'rausjagen?", denkt er. Hinter ihm drischt ein Trucker auf das Horn, für einen Moment wird es still in Ehrenfeld. Der Bulle greift sich einen Kollegen und kontrolliert gründlich die Frachtpapiere des Trucks, der 18 Tonnen Rinderhälften nach Mailand bringen soll, um sie dort in Konserven zu verpacken und in Dänemark zu etikettieren und in Griechenland zu verpacken und in Deutschland zu verkaufen. Die Liebigstraße ist dicht, mehrere Streifenwagen sperren die Straße ab, dazwischen stehen mehrere Mannschaftswagen mit maskierten SEK-Bullen. Die Stadt Köln hat zum Halali auf das besetzte Haus geblasen und gleich massiv Polizeiunterstützung angefordert. Merlin hat sich mit dem Einsatzleiter unterhalten und ihm die juristischen Spitzfindigkeiten dargelegt, warum eine Räumung zu diesem Zeitpunkt rechtlich gar nicht zulässig sei. Einige Telefonanrufe haben dazu geführt, daß nicht nur Fotografen von Stadtanzeiger, Rundschau und Express anwesend sind, Mikros von Radio Köln und dem WDR auf die Polizisten gerichtet sind, es sind auch noch Fernsehteams vom WDR, von RTL und VOX anwesend. Die massive Medienpräsenz ("Knüppeln die jetzt schon wieder drauf und lassen die Kids erfrieren?") und das miese Wetter haben dazu geführt, daß der Einsatzleiter seinen Untergebenen erst einmal eine Zeit des Abwartens verordnet hat. Die Zeit ließen einige Menschen nicht ungenutzt verstreichen. Marc war hochgeschreckt, als er Svenja am Telefon hatte. Sie hatten sich einige Tage nicht gesehen, es kriselte in der Beziehung. Aber schlimmer noch war, daß sie erzählte, die Bullen ständen vor der Tür. Er warf den Hörer auf die Gabel und stürmte in Martins Zimmer, der gerade versuchte, seinen SEGAMegadrive ans Laufen zu bringen. "Du hast doch bei der Stadt mit den Besetzern zu tun?" hatte er ihn gefragt, ihn auf sein bejahendes 62
Nicken hin aus der Tür gerissen und zu Brigits Golf geschleppt, der endlich aus der Werkstatt gekommen war. Auf der Inneren Kanalstraße kann man bei dem Schneefall jetzt spazieren gehen, das wußte Marc, deshalb scheuchte er den Golf durch die Moltkestraße und die Bismarckstraße bis zur Venloer, kreuzte zur Subbelrather herüber und schoß in die Liebigstraße herein, wo er einen Bullenwagen beiseite scheuchte und den Golf mitten auf der Straße abstellte, leider nur mit Warnblinker, Blaulicht hat er nicht. Er warf einen kurzen Blick unter den Wagen, der Auspuff ist noch dran. Martin verliert keine Zeit, geht ohne Umschweife zum Einsatzleiter, weist sich als zuständiger Streetworker aus und verwickelt den Bullen in ein Gespräch, um herauszufinden, wer den Einsatz angeordnet hat. Er benutzt die Telekommunikation der Polizei, ruft seinen Dezernenten an und verweist auf die massive Medienpräsenz. Die Drähte bei der Stadt laufen heiß, der Schuldige für den Einsatz wird ausfindig gemacht. Martin redet mit Engelszungen auf den Mann ein, nimmt seine Argumente auseinander und stellt ihm in Aussicht, welch nette Interviews er morgen geben darf, wenn er räumen läßt. Bei dieser Temperatur Obdachlose auf die Straße zu jagen, das wird böses Blut geben, brüllt Martin in den Hörer. Er hat Erfolg, der Einsatz wird abgeblasen. Svenja und Merlin fallen Martin um den Hals, Marc geht eine Kiste Sekt holen, das Unglück ist abgewandt. Bis Weihnachten wird es keinen Ärger mehr geben, meint Martin. In diesem Jahr sind fast alle noch besetzten Häuser geräumt worden. Es waren nicht mehr viele, denn seit Ende der 80er Jahre war die Hausbesetzerszene auseinandergefallen, eine Modeerscheinung hatte ihr Ende gefunden. Punks und Autonome sind nur noch in ausgewählten Reservaten zu sehen, dafür steigt und steigt die Zahl der Kids, die ausgerissen sind oder die von der Armut auf die Straße getrieben werden. Die Stadt war in diesem Jahr rigoros gegen den Schandfleck vorgegangen, hatte entsprechend mit der Reaktion der Öffentlichkeit zu kämpfen. Und dann kurz vor Weihnachten als Akt der Barmherzigkeit ein Dutzend Kids aus einem Haus, daß sie sich in bester deutscher Gesinnung gemütlich zurecht gemacht hatten, auf die eisige Straße zu jagen, das hätte Ärger gegeben... Marc hält sich mit dem Sekt zurück, er hat den Golf draußen stehen, ebenso Merlin, der nicht das Medium spielen will. Svenja ist etwas benebelt, sie ist das Trinken nicht gewohnt. Marc hat sie gerade in den Arm genommen, aber das war nicht das gleiche wie in den letzten Wochen. Das ist es nicht mehr, hatte er gedacht. Jetzt sitzt sie neben Merlin und streicht ihm sanft über den Oberschenkel. Marc atmet tief ein, wendet den Blick von beiden ab. "Verdammt, das war es dann auch schon wieder?" geht es ihm durch den Kopf. Er wird still, denkt nach. Die letzten beiden Wochen hatten sie sich kaum gesehen, sie hatte alle Hände voll zu tun, das Haus auf Vordermann zu bringen, er muß nächste Woche das Referat bei Schmitz-Elias halten und hatte sich mit Brigit um die Toten an der Germanistik gekümmert. Was war das denn überhaupt für eine Beziehung? Kennengelernt hatten sie sich ja auf eine total schräge Art. Sie waren sich näher gekommen, gut, aber das hatte mit Liebe in dem klassischen Sinn, wie Marc es gewohnt war, wie er es mit Jasmin 63
erlebt hatte, wenig zu tun. Svenja ist eine attraktive Frau, auch vollkommen sein Typ, aber es war ihm schon nach kurzer Zeit aufgefallen, daß es wenig mit Erotik und dem Sinn nach körperlicher Nähe zu tun hatte. Sie war eine der ganz wenigen Frauen gewesen, bei denen er nicht zu Anfang das Bedürfnis gehabt hatte, mit ihr Zärtlichkeiten austauschen zu wollen. Das hatte Folgen, sie hatten selten miteinander geschlafen, vielleicht einmal die Woche, für Marc am Anfang einer Beziehung sehr selten. Das hatte ihm schon zu denken gegeben, das hatten auch Martin und Lisa gespürt, aus deren Zimmern öfter eindeutige Geräusche zu hören waren. Eine Ahnung beschleicht ihn, er hört im Hinterkopf ganz leise eine Stimme, daß sie das, was sie von ihm wollte, erledigt hat. Als es auf Mitternacht zugeht, gibt es einen kühlen Abschied. Marc hat wirklich den Eindruck, daß da etwas zu Ende gegangen ist. Er packt Martin in den Golf, fährt ins Belgische Viertel 'runter und läßt den Wagen in der Maastrichter stehen, mit Martins Ausweis hinter der Scheibe, der ihm das Parken in Ausnahmefällen gestattet. Sie stapfen wortlos durch den Schnee, schütteln den braunen Schlamm an der Tür ab und gehen nach oben.
II. Das sich über Stadt eine Wolkendecke zusammenzog, deckte sich mit Brigits Stimmung an diesem Nachmittag. Zwei Wochen sind es noch bis zum Fest der Liebe, aber bei ihr sieht es jetzt vollkommen anders aus. Seit Professor Klotzmann aus dem Leben geschieden war, hatte sie sich zusammen mit Marc in die Arbeit gestürzt. Der Royale Investigator war in den ersten Tagen recht aktiv gewesen und einigen Spuren nachgegangen, hatte sich aber dann auf den sadomasochistischen Ansatz des Gretchen in Goethes Faust konzentrieren müssen, um das Referat noch rechtzeitig abschließen zu können. Also war sie allein tätig gewesen, hatte Bücher gewälzt und sich mit einigen Lehrkräften unterhalten. Marc hatte eine Vermutung ausgesprochen, war aber nicht in der Sache weitergekommen. Brigit hatte sich so sehr in die Arbeit gestürzt, daß sie für ein Privatleben kaum mehr Zeit hatte. Das hatte natürlich Folgen. Roland hatte sich darüber beklagt, daß sie keine Zeit mehr für ihn habe. Es hatte mehrfach fast gekracht, nicht ganz, aber kurz vor dem Ausbruch. Der Konflikt schwelte vor sich hin. Er schwelte bis heute. Anfang der Woche gab es eine Fete an der Wiso-Fakultät, auf der Roland eine Bekannte wiedertraf, mit der er vor wenigen Monaten fast schon einmal eine Nacht verbracht hatte. Zum Ende der Fete gingen sie die paar Schritte zum Wohnheim in der Bachemer herüber, schlossen sich in Rolands Zimmer ein und trieben es miteinander. Das ganze Wohnheim wackelte zwar nicht dabei, aber es war laut genug, daß eine Nachbarin Rolands am nächsten Morgen Brigit darauf ansprach, ob sie beim Vögeln nicht ruhiger sein könne. Sie sei gar nicht bei ihm gewesen, sagte Brigit; die Frau ihr gegenüber lief plötzlich knallrot an und verzog sich peinlich berührt. Brigit wurde kalkweiß, lief zu Roland, donnerte gegen die Tür und traf ihn mit hochrotem Gesicht an. Der Koitus Interruptus schien für ihn inzwischen zu einer Pflichtübung geworden zu sein. Sie riß die Tür auf, sah Jeanne im Bett liegen, nackt, ans Kopfende gekrochen und mit der Decke übergezogen. 64
Roland stammelte vor sich hin, suchte händeringend nach Worten, während seine Erektion nachließ und das Gummi zu Boden fiel. Brigit floh aus dem Zimmer und schloß sich in ihrer Wohnstatt ein. Später klopfte Roland an, ohne Erfolg. Heute Nachmittag hatten sie ein klärendes Gespräch geführt, eine jener Unterhaltungen, bei denen man sich gegenseitig Möbelstücke an den Kopf wirft und weiß, daß es einem hinterher leid tut, aber keine Gelegenheit zum Entschuldigen haben wird, weil man nie mehr ein Wort miteinander reden wird. Den ganzen Tag über schwankte sie zwischen Suizid- und Mordgelüsten. Marc hatte oft genug von dieser Frau erzählt, jetzt hätte sie es am liebsten selbst mit der Stange Dynamit gemacht. Vielleicht hätte sie Jeanne die Stange auch nicht in den Mund gestopft, sondern in eine andere Körperöffnung, damit nie mehr in ihrem Leben ein Mann etwas von ihr haben sollte. Was hätte es für einen Spaß gemacht, wenn sie nach der Detonation in das Zimmer gekommen wäre, dachte sie, die Wände voll von Blut und festgeklebten Fleischbrocken, der Kopf halb in die Decke gebohrt, die Därme entrollt und Spinnweben gleich in der Luft hängend. Das wäre ein schöner Anblick. Später tat es ihr leid, sie ging auf den Flur mit Rolands Zimmer, lauschte an der Tür. Sie bumsen ja schon wieder, dachte sie, fühlte ihre Gefühlsregungen unter die Erdoberfläche sacken und lief weg. Sie lief und lief und lief durch die schneidende Kälte, ziellos, orientierungslos. Die Beine führten sie in die Stadt, durch den Grüngürtel die Bachemer entlang Richtung Innenstadt. Der Schnee machte ihr zu schaffen, mit ihren hochhackigen Schuhen war sie denkbar ungünstig ausgestattet. Sie lief unter der Eisenbahnbrücke her, die Händelstraße entlang, kam auf den Ring. In einem Schaufenster sah sie sich an, jetzt erst fiel ihr auf, daß sie viel zu wenig Klamotten anhatte. Langsam, ganz langsam wurde sie wieder klar im Kopf. "Marc wohnt doch hier um die Ecke", dachte sie, "der wird sich wundern, was seine Ex macht." und ging zu ihm hin.
III. Scheißkälte, denkt Marc, als er die Tür aufschließt. Er schiebt Martin in den Flur und schließt zu, bevor wieder der Vermieter ein Einschreiben schickt, daß sie die Tür nicht... Martin schließt die Tür der WG auf, hängt die Jacke an der Garderobe auf und geht in die Küche, im Kühlschrank muß noch ein Schnaps zum Aufwärmen sein. Er sieht erst den Wodka auf dem Esstisch und dann die beiden Frauen an diesem Sitzen. Lisa hat Brigit in der letzten halben Stunde weibliche Schützenhilfe gegenüber den Männern ("sind doch alles Schweine!") gegeben. Marc hat den Trenchcoat ausgeklopft und stutzt, als er Brigit in der Küche seiner WG sitzen sieht. "Was machst du denn hier?" fragt er erstaunt. "Ich hab' deine Ex gesehen", antwortet sie so cool wie möglich. "Wo denn?" "Im Bett meines Freundes" sagt sie, jede Silbe in die Länge ziehend. Sie sieht ihn lange an, Marc starrt zurück. Klick. In beider Hirne macht es einfach Klick. Martin nimmt die Wodkaflasche und gießt sich schnell ein Glas ein. Er ahnt was jetzt kommen wird. Und richtig, Marc nimmt 65
die Flasche und zwei Gläser, nickt Brigit zu und schiebt sie auf sein Zimmer. Er legt Tori Amos in den Player, die Frau kommt in dieser Stimmung immer gut, und setzt sich aufs Bett. Das Leben geht manchmal die seltsamsten Wege, heute Abend hat es zwei Menschen aus ihren Beziehung herausgekickt und zusammengeführt. Sie erzählen zwei CD-Längen, was sich bei ihnen heute zugetragen hat. Marc sieht unwillkürlich auf die Klamotten, die Brigit unpassend zum Winter draußen angezogen hat, ein kurzer knallroter Stretchmini mit schwarzen Nylons drunter, kein Wunder, wenn ihre Nieren irgendwann den Geist aufgeben. Der Wodka tut seine Wirkung, sie setzen die Gläser ab, fangen an zu knutschen. Seit geschlagenen fünf Jahren kennen sie sich jetzt, aber heute Abend ist es das erste Mal, daß sie sich näherkommen. Es bleibt nicht beim Knutschen, Marc öffnet ihr die Bluse und den BH, saugt an ihren Brustwarzen, sie zieht ihn ebenfalls mit Vergnügen aus. Sie hat ja rasierte Beine, denkt er, ganz anders als Svenja. Wie gut, daß ich noch Gummis habe, denkt er, als sie erst seinen und dann ihren Slip auszieht. Gar nicht so übel bestückt, denkt sie, macht sich den Spaß, ihm den Präser selbst anzuziehen und hilft ihm dann bei der Erforschung ihrer eigenen Anatomie. Es wird nicht das einzige Kondom, das sie in dieser Nacht brauchen.
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Die zweite Eingebung I. Achim legt die Robe des Königs ab, weil er diese Rolle heute nicht zu spielen braucht. Marc schnorrt sich bei Kommissar Krämer eine Zigarette und zündet sie mit Achims Feuerzeug an, nimmt einen tiefen Zug und kneift die Augen zusammen. Zwei Tote hat es am Institut gegeben, kaum ein Mensch hat sich darüber aufgeregt. "Der Krieg um die Nachfolge", sagt Marc, während ihm der Rauch aus den Mund quillt, "ist eröffnet. Die Professoren an der Germanistik bekriegen sich in der Berufungskommission gegenseitig, um ihre Kandidaten für die Nachfolge von Klotzmann durchzudrücken." Er ascht auf den Tisch. "Wenn Sie denen jetzt Fragen stellen, werden Sie keine auswertbaren Antworten bekommen." "Wir haben unsere Ohren offengehalten", setzt Achim hinzu, "und wissen genausowenig wie Sie, warum Klotzmann gestorben ist." "Wissen Sie, Herr Krämer", gibt Marc noch eins drauf, "wir kennen den Professor geraume Zeit. Ich hab' bei ihm vor fünf Jahren angefangen und hatte von allen Professoren mit ihm am meisten zu tun. Er war einer der wenigen, die Kontakt zur Fachschaft gehalten haben. Das war bei seinem Doktoranden das gleiche. Wir haben von dem Mann Informationen aus dem Institut bekommen, die wir von keinem anderen erhalten hätten. Diese Quelle ist jetzt versiegt." "Glauben Sie", fragt der Kommissar, "daß man beiden deshalb die Lampe ausgeblasen hat?" "Eher wegen ihrer Augenfarbe". entgegnet Marc, "Niemand bringt einen Menschen um, weil er Interna ausplaudert, die den Betrieb nicht gefährden. Was sagen die Weißkittel?" "Suizid ohne Fremdeinwirkung", antwortet der Kommissar, "der Mann war depressiv veranlagt. Die Kündigung hat ihn auf den Stuhl gejagt" "Herr Krämer," fährt der Royale Investigator fort, "ich habe mich mit den beteiligten Professoren unterhalten, und alle haben mir übereinstimmend berichtet, daß sie auf eine telepathische Art beeinflußt worden seien, um den Namen dieses Doktoranden auf ihre Zettel zu schreiben. Nur ein einziger hat dies nicht berichtet: Professor Schmitz-Elias." Der Kommissar drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus, sieht Marc mit zugekniffenen Augen an. "Sie schießen sich also auf diesen Professor ein?" "Sehen Sie, Herr Krämer", Marc drückt die Zigarette aus, "zu Anfang des Semesters verschwinden Bücher, Videos, CDs. Es gibt einen roten Faden, der sich durch die Sache zieht, zum einen dreht sich irgendwie alles um die Studentenunruhen Ende der 60er Jahre, außerdem hat es etwas mit Esoterik zu schaffen. Das Verschwinden hört auf, und plötzlich sterben zwei Leute, die sich mit genau diesem Themenbereich beschäftigen. Einer von beiden weist keine Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung auf. Alle Beteiligten bis auf Schmitz-Elias haben das Gefühl, telepathisch beeinflußt worden zu sein." Der Kommissar ist mißtrauisch. "Ich halte den Zusammenhang zwischen den Büchern und den Toten für Bullshit." "Ich glaube daran." Marc sieht entschlossen zurück. "Und ich werde 67
mein bestes tun, Ihnen das zu beweisen." Der Kommissar zuckt mit den Schultern. "Von mir aus spielen Sie weiter Detektiv. Aber kommen Sie mir nicht ins Gehege." "Wir ermitteln in verschiedene Richtungen, ich glaube nicht, daß wir uns da überschneiden. Aber ich halte Sie auf dem laufenden, denn ich habe das Gefühl, daß ICH recht habe." Beide Männer starren sich an, dann steht der Kommissar auf und verläßt den Raum. Achim und Marc bleiben alleine zurück, debattieren das weitere Vorgehen in dem Fall. Der Royale Investigator will sich die Professoren, mit denen er sich in den letzten Wochen unterhalten hatte, ein zweites Mal vorknöpfen. Brigit hatte die Unterlagen durchgearbeitet, die beide Toten hinterlassen hatten und war zu dem Schluß gekommen, daß sie genau den Themenbereich abdecken, der auch für die verschwundenen Lehrmittel gilt: Ein Zusammenhang zwischen der 68ern und schwarzer Magie. Eine verrückte Zusammenstellung, denkt der Royale Investigator, das will ihm einfach nicht in den Kopf gehen, aber es ist schon wieder genau diese Kombination. Achim wird eine Freundin in Berlin besuchen und dabei Nachforschungen anstellen. Sie müssen Licht in das Dunkel um die Herkunft des Professors bringen, denn sie sind sicher: In seiner Vergangenheit liegt der Schlüssel zur Lösung des Falles.
II. Ein Klumpen Molto Fill klatscht gegen die Wand, Svenja nimmt die Kelle und streicht den Zement glatt, füllt das letzte Loch in der Wand. Wenn sie eine Tapete hätten, könnten sie die jetzt ankleistern, aber sie hatte gedacht, das es keinen Sinn hat, wenn sie nach Silvester ohnehin wieder geräumt werden. Sie glättet die Kanten, schafft einen weichen Übergang und sieht sich im Raum um. So halbwegs kann man darin jetzt leben, denkt sie, die Fenster haben sie seit der versuchten Räumung vor drei Tagen abgedichtet, der Wind bleibt jetzt draußen, die Heizung erfüllt endlich ihren Zweck. Sie setzt sich vor den Kohleofen, zündet an der Glut eine Zigarette an und läßt die Gedanken abschweifen. Daß die Räumung nicht erfolgt ist, haben sie Marc zu verdanken, der die nötigen Connections zur Stadt auftreiben konnte. Es muß ihn geschockt haben, denkt sie, als er von der Sache mit Merlin und ihr erfuhr, aber er hat es wahrscheinlich schon geahnt. Irgendwie war es eine andere Basis. Sie hatte Merlin zwar zuerst kennengelernt, aber dieser Zahn, dieser verdammte Talisman hat sie zu Marc geführt. Warum? Sie kann sich immer noch keinen Reim darauf machen. Beide Männer haben kaum etwas miteinander gemein, sie hat Marc gegenüber vollkommen andere Gefühle als Merlin. Er hat die letzten Jahre auch auf der Straße gelebt, das schweißt zusammen, aber verdammt, warum mußte es zuerst Marc sein? Warum dieser Umweg? Es muß etwas mit der Suche nach ihrem Vater zu tun haben, denkt sie, aber das Rätsel ist viel schwerer zu lösen als sie jemals gedacht hatte. Sie greift nach dem Bild in ihrer Tasche, das ihre Mutter an Marc geschickt hatte. Verdammt alt, das Foto, älter als sie, kein Wunder, ihr Vater ist ja auch vor ihrer Geburt verschwunden. Marc muß etwas mit dem Typen zu tun haben, soviel ist ihr inzwischen klar geworden, aber 68
was, bitte, lieber Talisman, der du mich nach Köln geführt hast, was um alles in der Welt ist das? Sollte es sich herausstellen, daß Marc und sie Geschwister sind? Dann hätten sie in den letzten Wochen der Inzucht gefrönt. Sie sind fast gleich alt, nicht das gleiche Sternkreiszeichen, aber Merlin liegt auch nicht weiter weg. Was ist es? Eine Veränderung ist mit ihr seit dem Frühjahr vorgegangen, wie sie sehr deutlich gemerkt hat. Nie in ihrem Leben hat sie an Astrologie, Religionen oder gar an übersinnliche Kräfte gedacht. Esoterik? Schwarze Magie? Bullshit! Was für ein Blödsinn! Doch dann kam dieser Brief von ihrer Mutter, die Kontaktaufnahme und das erste vorsichtige Beschnuppern in der Krebsklinik. Als sie in der Wohnung ihrer Mutter gewohnt hatte, spürte sie, wie ihr all diese Kräfte vertraut wurden. Sie schlug ein Buch über Wahrsagerei auf, eine Sache, die sie nie interessiert hatte. Und plötzlich las sie mit einem Sachverstand, als hätte sie nie etwas anderes gekannt. Erst später fiel ihr das auf, denn die Veränderung selbst kam schleichend. Dann drückte ihre Mutter ihr den Zahn in die Hand, und sie fühlte sich, als könnte sie die Welt damit aus den Angeln hebeln. Ihr Vater sollte etwas damit zu schaffen haben. Dann kam Marc, und... Die Gedanken drehen sich im Kreis. Es ist immer dasselbe. Armer Marc, hatte sie am Abend der nicht vollzogenen Räumung gedacht, jetzt ist die Sache mit uns aus. Sie hatte diesen Blick in seinen Augen gesehen, diese Traurigkeit, wieder eine Frau verloren zu haben. War es denn Liebe? Die klassische Form der Liebe? Nein, hatte sie gedacht, das ein war Zusammenkommen, das eine höhere Bedeutung hatte. Trotzdem, er dachte wohl, wieder eine Frau für's Leben, Männer sind da immer sehr versessen und bindungswillig, das hatte sie in den letzten Jahren erfahren. Es muß ihm an dem Abend weh getan haben, er sah danach aus. Gestern sah er sie an der Mensa wieder, ging auf sie zu, aber nicht mit dem Gesicht eines Mannes, der seiner Ex die Leviten lesen will. Ganz im Gegenteil, er wirkt fröhlich, denn in der gleichen Nacht hatte er mit Brigit innige Bekanntschaft geschlossen, dreimal, bevor sie endlich schlafen gingen, fast so oft wie sie es beide in der ganzen Zeit getrieben hatten. Zwei entspannte Menschen unterhielten sich da, Svenjas schlechtes Gewissen war wie weggeblasen, wenigstens in dieser Hinsicht hat sie keine Schuldgefühle mehr. Die kamen von anderer Seite. Der Brief ihrer Mutter war kurz gewesen, aber der Inhalt dafür um so wichtiger. Sie meinte in sich zu spüren, daß Svenja ihrem Ziel sehr nahe sei, konnte aber nicht sagen, warum und wer und... Viel schlimmer war die Botschaft, daß es mit ihr nicht mehr lange dauern werde. Sie könne kaum noch aufstehen, hatte sie geschrieben, die Ärzte hätten sie längst aufgegeben, wunderten sich über ihre Zähigkeit, die sie noch am Leben hielt. Der Krebs frißt sie von innen auf, es könne jederzeit zu Ende gehen. Aber da ist eine Kraft, die sie noch am Leben erhält, sie DARF jetzt noch nicht sterben, hatte sie geschrieben, bevor das Gleichgewicht nicht wiederhergestellt ist. Was für ein Gleichgewicht, hatte Svenja sich gefragt, aber keine 69
Antwort darauf gefunden. Sie weiß nur, das es etwas mit ihren eigenen Kräften und der Suche zu tun hat. Merlin ist früh aus dem Haus gegangen, hat über die Treberhilfe einen Job bekommen. Er wird gegen Abend zurück sein, hatte er Svenja gesagt, ein Gefühl sagt ihm, das da etwas aus ihm heraus muß. Marc und Brigit sollten heute Abend kommen und eine Flasche Whisky mitbringen, den werde er heute Abend brauchen.
III. Die Schranktür knallt zu, als Brigit sie schwungvoll ins Schloß tritt. Es ist ihr vollkommen egal, ob dieser verdammte Schrank in diesem verdammten Zimmer von diesem verdammten Arschloch in Stücke geht. Sie spielt mit dem Gedanken, bei den Autonomen nachzufragen, wie man eine Bombe baut. Eine Stange Dynamit in den Arsch, das wäre das richtige für Roland, denkt sie. Vor einigen Wochen wollte er sie von hinten bumsen, sie wollte es NICHT, er ging ihr einfach mit dem Schwanz in den Arsch. Es hatte verdammt weh getan, sie hatte ihn angebrüllt, das sein zu lassen, er hatte noch ein paar Mal gestoßen und war dann wieder 'rausgegangen, ohne abgespritzt zu haben. Eine Woche lang hatte sie Schmerzen beim Kacken, er hatte sie behandelt wie ein Stück Fleisch, das nur für ihn da ist, hatte sie gedemütigt, das hatte mehr weh getan als der körperliche Schmerz. Die Stange Dynamit in seinen Arsch, das wäre jetzt das Richtige. Sie packt ihre Sachen unter den Arm und geht aus Rolands Zimmer, nie mehr will sie den Raum betreten. Einen Molli sollte sie nicht reinwerfen, denkt sie pragmatisch, ihr Zimmer liegt ja fast direkt über seinem, das könnte für sie ärgerlich werden. In ihrem Zimmer packt sie die letzten freien Plätze in ihrem Schrank voll, Roland hatte bei weitem nicht so viel Klamotten wie sie, sein Schrank war eine willkommene Ergänzung des Stauvolumens gewesen. Und jetzt? Vielleicht sollte sie den Wagen vollpacken und Marc überfallen, aber sie weiß, daß er auch keine Villa hat. War das eine Nacht gewesen! Da war sie ganz unten, trifft ihren Freund mit einer fremden Frau im Bett an, ausgerechnet die Ex eines langjährigen Bekannten, fährt zu ihm hin, und stellt fest, daß er in genau der gleichen Situation steckt. Sie sollte sich schämen, hätte ihre Mutter gesagt, wenn sie davon gewußt hätte. Von einem Tag auf den anderen läßt sie einfach ihren Freund stehen, nur weil er eine Affäre hatte, den Mann, der sie bis an ihr Lebensende versorgt hätte. Mutter, ich will das nicht, hatte sie ihrer in solchen Dingen sehr konservativen Mutter an den Kopf geworfen, ich will keinen Mann haben, der mir Geld gibt, da muß mehr drin stecken. "Männer dürfen ruhig einmal fremdgehen.", hatte ihre Mutter letztes Jahr gesagt, als sie ihren Vater mit einer neuen Zahnarzthelferin überraschten, "aber was ist, wenn eine Frau das tut?", hatte sie ihre Mutter gefragt. "Das ist etwas anderes", hatte sie geantwortet, "du spinnst", sagte die Tochter. Der Bruch zwischen beiden war perfekt, es brauchte ein langes Weihnachtsfest, um den Graben zuzuschütten. "Sei doch nicht so hart zu Roland", hätte ihre Mutter gesagt, "Ich bumse keinen Mann wegen
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meiner wirtschaftlichen Versorgung!", hätte sie geantwortet. Da gibt es keinen Konsens. Sie wäre auch nicht mehr so schnell zu Roland zurückgekehrt. Eigentlich hatte sie mit Marc nur reden wollen, aber als sie das mit Svenja hörte, hatten beide das Gefühl, sich gegenseitig trösten zu müssen. Marc hatte sich als erstaunlich zärtlicher und ausdauernder Liebhaber erwiesen, sie haben es bis in den frühen morgen miteinander getrieben, dreimal hintereinander, so oft hatte es Brigit in ihrer langjährigen Erfahrung mit Männern noch nie erlebt. Hinterher waren sie beide vollkommen fertig, aber glücklich. Eine von diesen Nächten, an die man sich im Altenheim noch erinnert. Brigit sieht auf die Uhr. Jetzt ist er dran. Sie drückt ihm die Daumen.
IV. Das Gretchen ruft. Gnadenlos. Marc kann sich dem Kreischen des Weibes, von Goethe im Keller an die Mauer gefesselt, in Leder versteckt und mit Peitschen bis zum Orgasmus malträtiert, nicht entziehen. Eine geile Vorstellung! Von wegen geil. Er denkt gerade an den Abschiedskuß heute morgen, der perfekte Abschluß einer Nacht der Ständer. Wenn er das Referat hinter sich hat, ist für beide das Semester erst einmal zu Ende. Sie wollen es heute Abend feiern, mit einer Orgie, nur sie beide alleine. Er schweift kurz in ihre erste gemeinsame Nacht ab, es wird eng in der Hose, die Frau hat aber auch eine erotische Ausstrahlung, denkt er, blickt an sich herunter und läßt den Gedanken einer Seifenblase gleich zerplatzen, eine feuchte Hose könnte gleich peinlich werden. Er sieht sich im Gang um, viel zu viel Leute hier, geht zur Toilette und legt seine Fortpflanzungsorgane zurecht, durch den Ständer ist alles verrutscht. "Mann", sagt er zu dem Typ im Spiegel, "es ist Herbst und kein Frühling! Wenn du so geil auf die Frau bist, dann verschieb' das auf heute Abend!" Marc geht sich mit kaltem Wasser durchs Gesicht, trocknet sich ab, sieht frischer aus als vorher. Er versucht sich auf den Inhalt des Vortrags, den er gleich halten darf, zu konzentrieren. Der sitzt, das ist ihm klar, fachlich hat er keinen Hänger. Das freie Vortragen wird ihm keine Probleme bereiten, er hat lange genug Theater gespielt und viel schlimmere Sachen erlebt, als daß ihm ein Stottern heute noch Angst einjagen könnte. Das ist es alles nicht. Nicht die fachliche Seite. Er macht sich keine Sorgen, er hat keine Angst. Nach dem Gespräch mit dem Kommissar heute morgen hat er sich auf einen Kampf eingestellt. Alle Vorträge, die im Seminar beim Schmitz-Elias gelaufen waren, hatten lahme Diskussionen zur Folge, kein Mensch widersprach dem Professor, auch wenn einige Thesen alles andere als plausibel waren. Themen wie die Unterdrückung der Frau in der Literatur hatten nicht einmal die Hardcore-Feministinnen auf den Plan gerufen, wenn der Professor seine Macho-Standpunkte in den Raum warf. Alle StudentInnen wirkten seltsam paralysiert. Marc stellte das auch an sich selbst fest, bis... Ja, eine eigenartige Parallele, dachte er, bis er Svenja kennenlernte. Er war verliebt, eigentlich total benebelt und abgehoben, 71
aber in diesem Seminar schien er der einzige mit klarem Kopf zu sein. Warum? Es gab keine Antwort auf diese Frage. Heute ist Marcs großer Tag, und den will er nutzen. Es ist ihm vollkommen egal, ob er den Schein für dieses Seminar bekommen wird, die Auseinandersetzung mit Schmitz-Elias ist ihm wichtiger. Er kontrolliert den Sitz seiner Hose, streicht das Jeanshemd glatt, kämmt die Haare mit der Hand zurück und steigt in die Arena.
V. Merlin stemmt die letzten Kisten auf die Rampe. Eine Firma in Ehrenfeld, die regelmäßig obdachlose Kids beschäftigt, eine guten Draht zur Treberhilfe hat und ihr soziales Gewissen damit pflegt, hatte ihn heute Morgen zum Entladen mehrerer Lkws angestellt. Ein willkommener Job, hatte Merlin sich gedacht, die WG in dem besetzten Haus ist mal wieder vollkommen abgebrannt. Die Frauen waren bis auf Svenja zum Bahnhof gefahren, schnorren, kurz vor Weihnachten ein gutes Geschäft. Merlin nimmt das Geld entgegen, spendiert sich eine KVB-Fahrkarte und fährt der untergehenden Sonne entgegen, freut sich auf die Dusche, die endlich funktioniert. An der Subbelrather steigt er kurz hinter der Inneren Kanalstraße aus und klingelt bei einem Bekannten. Er kauft zwei Gramm Shit, sieht sich auf der Straße sehr genau um, ob ihn jemand beobachtet, und geht den Rest der Strecke zu Fuß. Nach kurzer Zeit peitscht ihm Nieselregen um die Ohren, der so schnell nachläßt wie er eingesetzt hat. Es ist 15 Grad über Null, viel zu warm für die Jahreszeit, dunkel, windig, naß, das richtige Wetter für einen Suizid. Doch ihm ist nicht danach zumute, weniger deshalb, weil Svenja in sein Leben getreten ist, als mehr deswegen, weil er die Ahnung hat, heute Abend als Medium eine wichtige Botschaft überbringen zu müssen. In der Nacht war ihm eine Stimme erschienen, keine Gestalt, nur eine Stimme, die ihm gesagt hat: Heute Abend ist es wieder soweit! Als er aufwachte, konnte er sich an nichts mehr erinnern, was in seinen Träumen gewesen war, aber dieses eine Detail wußte er genau. Es steht wieder eine Eingebung bevor.
VI. "Sind Sie nervös, Herr Koster?" fragt Schmitz-Elias. "Nicht in geringsten", antwortet Marc, sieht dem Professor dabei standhaft in die Augen. Ein Moment der Verunsicherung bei SchmitzElias, dann ist das Flackern vorbei, aber Marc hat verstanden, wo die Machtverhältnisse jetzt liegen. Augenblicke später kommt der letzte Student auch noch zur Tür herein, erntet mißbilligende Blicke des Assistenten, verkriecht sich unauffällig in der letzten Reihe. Der Professor erhebt sich, es wird ruhig im Saal, Marc legt eine undurchdringliche Maske auf sein Gesicht. Er weiß, daß der Vortrag harmlos ist. Der Kampf danach wird ihn Nerven kosten. Doch das hat noch Zeit. Schmitz-Elias beendet seine Einführung und weist auf Marc, der erst einmal unbewegt sitzenbleibt, sich dann ganz langsam erhebt. Er geht gemessenen Schrittes zum Overhead-Projektor und schaltet ihn ein. Er ist ruhig, er ist stark, er ist seiner Sache sicher, und er strahlt all dies aus. Jetzt, in 72
diesem Augenblick, kommen ihm die zehn Jahre als Schauspieler zugute. "Der sadomasochistische Ansatz des Gretchen in Goethes Faust", fängt Marc an, während er den Projektor anschaltet, auf dem schon eine Folie liegt, "ist ein bizarres Thema. Es ragt aus dem Gesamtzusammenhang des Seminares heraus wie die Spitze eines Eisberges aus dem Meer." Er sieht den Professor scheinbar beiläufig an, analysiert den Gesichtsausdruck aber augenblicklich. "Ich werde jetzt meine Gliederung vorstellen, werde dann etwa eine Stunde vortragen, danach ist Zeit für Eure Stimmen." Er macht eine Kunstpause. "Und danach, bin ich mir sicher, wird Professor SchmitzElias dazu noch etwas zu sagen haben." Marc sieht den Professor an, JETZT ist er der Stärkere. Der Kampf kommt später, aber die Schlacht ist eröffnet.
VII. Und wenn dieser Amateurschnüffler doch recht hat? Kommissar Krämer stützt den Kopf in die Hände, denkt über diese Spur nach, die ihm Marc heute morgen in der Fachschaft gegeben hatte. Da könnte etwas dran sein, denkt er. Also hatte er sich die Protokolle der Befragungen noch einmal durchgesehen, er weiß nicht mehr, wie oft er das schon getan hatte! Diesmal gab es eine neue Spur, gut, aber hatte er das nicht auch schon verfolgt? Krämer schlägt die Akte mit den Protokollen auf und sieht nach, was die Professoren dazu gesagt haben. Sie haben sich beeinflußt gefühlt, gut, nur Schmitz-Elias nicht. Er sieht sich die Angaben zur Person des Mannes an: Geboren 1948, direkt nach dem Krieg, im Wirtschaftswunder aufgewachsen. Studiert hat er Germanistik, war eigentlich auch nicht anders zu erwarten, erst in Hamburg, seit 1969 dann in Berlin und Marburg. Macht 1982 seinen Doktor, lehrt eine Zeitlang in Athens, Georgia, USA, dann Habilitation 1992, Ruf nach Köln 1994, jetzt erstes Semester. Das ist auch schon alles, was er über den Mann weiß. Keine Angaben über Forschungsfelder, was vielleicht ein Hinweis gewesen wäre. Sein Blick fällt auf die Veröffentlichungen, die Schmitz-Elias gemacht hatte. Er geht sie durch, belanglos, alles uninteressant. Dann plötzlich, eine englischsprachige Publikation über Voodoo-Praktiken im Süden der USA. Krämer reißt die Augen auf. Wann war der Mann an der Uni? Studentenunruhen. Er sieht auf die Uhr, die Registratur hat vielleicht noch auf. Es klingelt endlos lange, bis die Kollegin im Keller des Waidmarktes an den Apparat geht. Krämer bietet seinen ganzen Charme auf, um sie zum Bleiben zu bewegen, lädt sie nachher zum Essen ein. Der Trick wirkt. Er stürzt in den Aufzug, verfolgt ungeduldig den Stand der Anzeige über der Tür, die in Zeitlupe zu laufen scheint. Endlich ist er im Keller, sprintet 'rüber zum Archiv und trifft auf die Kollegin, die bereits in die EDV gegangen ist und eine Schlagwortanalyse gemacht hat. Sie hat alle Titel herausgesucht, die etwas mit den Studentenrevolten und Ansätzen von schwarzer Magie zu tun haben. Krämer vertieft sich in die Zeitungsausschnitte.
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VIII. Marc nimmt einen Schluck Wasser. Er hat, wie früher auf der Bühne, einige Passagen aus dem Faust rezitiert, auseinandergenommen, zerpflückt und analysiert, ist in der Rolle aufgegangen und dann ausgestiegen, um die Distanz zu ihr zu haben. Er hat sein Publikum gefesselt, eingebunden in die Handlung, die Abhandlung über Sadomasochismus im 18. Jahrhundert, ist aus sich heraus gegangen und dann wieder ganz ruhig geworden. Jetzt ist er am Ende, gibt einen Überblick über die verwendete Literatur, nicht ohne darauf hinzuweisen, daß einige der Titel gar nicht mehr an der Kölner Universität verfügbar sind. Dabei sieht er Schmitz-Elias an, fixiert ihn mit der Botschaft "Ich weiß, warum" und läßt ihn zappeln. Tatsächlich fällt Marc auf, daß dieser Professor, der sonst immer alle Anwesenden mit einem diabolischen Blick gefesselt hat, unruhiger ist als je zuvor in diesem Seminar. Marc beendet das Referat, verbeugt sich vor der Allgemeinheit und setzt sich hinter den Tisch des Vortragenden, ganz vorn im Raum. Das gemeine Volk applaudiert, der Assistent nimmt die Hände hoch, sieht auf den Professor und klatscht dann doch nicht mit. "Meine Damen und Herren, wir haben einen dramaturgisch überaus interessanten Vortrag von Herrn Koster gehört." Der Professor gewinnt seine Fassung zurück, zumindest äußerlich. "Haben Sie weitere Fragen oder Anmerkungen?" Eine Stimme erhebt sich, jemand fragt nach der geschichtlichen Entwicklung des Sadomasochismus in der deutschen Literatur, später kommt eine Studentin auf die Frage der Esoterik bei Goethe zu sprechen. Die Frage kommt nicht zufällig, mit zwei Mitstudentinnen hat Marc sich gestern abgesprochen. "Zum Thema Esoterik, schwarze Magie, all das, was wir im Faust erleben", hebt Marc an, "kann ich Euch leider nicht allzuviel erzählen, da dies nicht mein Fachgebiet ist. Ich bin mir allerdings sicher, daß Professor Schmitz-Elias sich hier bedeutend besser auskennt." Er weist auf den Professor. "Nun, meine Damen und Herren", fängt der Professor an und wendet sich dem Publikum zu, "die schwarze Magie ist ein weites Feld. Ich selber..." Schlagartig verstummt der Mann, dreht sich langsam nach vorne um und sieht Marc mit einem unsicheren Ausdruck an, der ihm ein diabolisches Lächeln auf die Lippen treibt. "Aber bitte, Herr Professor", er deutet auf den Mann, "fahren Sie doch fort." Schmitz-Elias spricht nicht gleich weiter, räuspert sich und hebt dann an: "Ich glaube, daß wir dieses Thema später vertiefen sollten. Dazu fehlt uns heute die Zeit." "Feige Sau", denkt Marc, "jetzt hab' ich dich bei den Eiern!" Eine weitere harmlose Frage kommt, die kurz zu beantworten ist. Marc sieht auf die Uhr, die Zeit läuft ab, er blinzelt unauffällig einer Mitstudentin zu. Sie meldet sich, der Professor erteilt ihr das Wort. "Herr Professor Schmitz-Elias", hebt sie vollkommen ruhig an, "eine Sache würde mich interessieren. Es ist jetzt zwei Jahrhunderte her, daß Goethe den 'Faust' schrieb. Denken wir einmal etwas in der deutschen Geschichte zurück, etwa 25 Jahre, in die Zeit der 74
Studentenrevolten. Wie hätte sich jemand, der eine ähnliche akademische Laufbahn wie Doktor Faustus hätte einschlagen wollen, wohl verhalten?" Ruhe. Stille. Niemand im Raum gibt einen Laut von sich. Marc fixiert so unauffällig wie möglich den Professor, der sich beim Wort "Studentenrevolten" blitzartig zu der Studentin umgesehen hat. Langsam dreht sich Schmitz-Elias nach vorne, einen panischen Ausdruck in den Augen, die sonst so einen diabolischen Charakter hatten. Schweiß läuft ihm über das Gesicht, ein Mundwinkel zuckt, Augenblicke der Panik spiegeln sich im Körper des Mannes wider. Ein Gong ertönt, die Zeit ist abgelaufen, schade, Marc hat perfekt getimt. Er steht auf, packt die Folien in eine Mappe und wendet sich zum Gehen. "Was wollten Sie damit sagen", spricht Schmitz-Elias ihn an, "ich hätte Ahnung von schwarzer Magie?" "Das wissen Sie besser als ich, Professor", entgegnet Marc und geht aus dem Raum. Wenige Augenblicke später kehrt er noch einmal in den Raum zurück. Während des Vortrags war er sich dauernd mit den Händen durchs Haar gegangen, neben dem Pult liegen Haare von ihm herum, er sammelt sie auf. Die Sache mit den Voodoo-Puppen, die er letzte Woche gelesen hatte, geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er will diese Nacht überleben.
IX. "Hast du's geschafft?" Brigit drückt Marc einen Kuß auf die Wange. "Ich weiß nicht, ob ich den Schein habe", knutscht er zurück, "aber ich hab' ihn heute bei den Eiern gepackt. Der weiß jetzt, daß wir ihm am Arsch hängen, der war total panisch." Marc erzählt von den beiden Fragen, die Schmitz-Elias an die Grenze des Wahnsinns getrieben hatten. "Svenja hat angerufen", fährt Brigit fort, "wir sollen ins Haus kommen und eine Flasche Whisky mitbringen. Merlin hat wieder 'was auf dem Herzen." Also wieder eine Eingebung, das wissen sie beide. Marc sieht auf die Uhr, kurz vor Ladenschluß, er drückt Brigit einen Kuß auf die Wange und rennt in den Stüssgen am Ring. Vor dem Regal mit dem Sprit denkt er nicht lange nach, nimmt eine Flasche Ballantines und ärgert sich an der Kasse, daß er niemanden anschnorren kann. In der WG packt er Brigit unter den Arm, läuft mit ihr durch den Regen zum Friesenplatz. Kurz danach sind sie am besetzten Haus. Die Tür ist neu vom Schrottplatz, paßt perfekt bis auf eine fingerbreite Fuge an der rechten Seite, läßt sich aber leicht öffnen. Sie steigen nach oben, finden einen Raum in der obersten Etage vor, den man inzwischen bewohnen kann, Svenja hat ganze Arbeit geleistet. Marc und Svenja begrüßen sich mit einem kurzen Kuß, jeglicher Groll zwischen ihnen ist verschwunden. Der Ofen heizt den Raum auf eine gemütliche Temperatur, Merlin kommt gerade aus der Dusche und trocknet sich die Haare. Brigit hat eine Tüte Chips mitgebracht, die die Runde macht, Merlin zerbröckelt das Gras und dreht einen Joint, der es in sich hat. "Puh!" stöhnt Brigit, als sie einen Zug genommen hat, fühlt 75
sich augenblicklich benebelt. Die Flasche macht die Runde, es dauert nicht lange, und Merlin legt sich auf die Matratze. Er schwebt weit, weit weg, in eine andere Person, in eine andere Zeit. Aber diesmal sieht er nur eine Szene, er schlüpft nicht in eine der Personen. "Ich sehe einen Mann und eine Frau, beide in einem dunklen Raum. Sie tragen lange Haare, und die Frau...", er stockt, "die Frau ist schwanger, aber man sieht es noch nicht. Der Raum ist vernebelt, sie haben Räucherstäbchen angezündet. Jetzt sprechen sie beschwörende Formeln, und sie haben... Sie haben einen Talisman vor sich, der aussieht wie eine Puppe, der Kopf einer Puppe, ich kann es nicht genau sehen. Der Mann legt beide Hände auf den Kopf, es wird plötzlich hell in diesem Raum, und ich sehe..." Merlin reißt die Augen auf, richtet sich aufrecht, der Alkohol und der Hasch scheinen weggeblasen zu sein. "Svenja. Das Kind... warst du." Sie sieht Merlin entgeistert an. "Was?" "Das Foto." Merlin macht einen nervösen Eindruck. "Wo ist das Foto, daß deine Mutter geschickt hat?" Svenja kramt das Foto aus dem Rucksack. Merlin wirft nur einen Blick darauf, ist aber sofort sicher: "Der Mann war dein Vater. Und im Bauch der Frau hab' ich dich gesehen. Und dann war da noch... Dieser Kopf war nicht von einer Puppe. Das war so etwas wie ein... Wie ein Schrumpfkopf." Merlin trinkt einen Schluck Whisky. "Ich hab' das Gefühl, daß dieser Mann ganz hier in der Nähe ist." Marc sieht sich das Foto an. Der Typ kommt ihm entfernt bekannt vor. Sollte etwa... Nein, das kann nicht sein. Das wäre zu einfach. Der Gedanke verpufft im Nirvana.
X. Die Sonne geht unter, aber immer noch sitzt Kommissar Krämer im Archiv und liest sich die Zeitschriftenartikel durch. Auf das Drängen der Kollegin, die Feierabend machen will und Hunger hat, packt er die Ausschnitte in einen Ordner und die Kollegin unter den Arm, um sie zu dem Chinesen am Heumarkt zu schleppen. Verdammt, geht es ihm hinterher durch den Kopf, sollte der Junge tatsächlich recht haben? Er hängt sich ans Telefon, erreicht Schmitz-Elias zu Hause und macht mit ihm eine Termin für den nächsten Mittag aus, um ihm ein paar Fragen zu stellen. Krämer leidet unter Haarausfall. Er weiß nicht, daß er sich damit sein eigenes Todesurteil geschrieben hat.
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Zusammenbruch und Beschattung I. Vor der Mensa steht eine Gruppe Autonomer herum, die sich heute betont solide gekleidet haben. Eine Absurdität an sich, aber so gehen sie als Studenten der Psychologie oder Anglistik durch. Merlin und zwei andere Jungs aus der Szene hatten an diesem Morgen keine Lust, sich mit den Bullen oder dem Sicherheitsdienst der KVB zu streiten. Sie haben wichtigeres vor, haben einen Auftrag des Royalen Investigators übernommen. Man sollte das Leben des Schmitz-Elias näher unter die Lupe nehmen, hatte Marc gesagt. Wenn sie den Mann tagsüber beschatten würden, könnten sie vielleicht Hinweise darauf sammeln, ob der Mann etwas mit den Vorfällen der letzten Wochen zu schaffen hat. Es ergab sich aber das Problem, daß sich kein Mensch aus dem Dunstkreis der Fachschaft inkognito an die Fersen des Professors heften kann, ohne erkannt zu werden. Ergo hatte Marc seine Freunde aus der Autonomen Szene um Hilfe gebeten. Sie waren bei der Caritas gewesen, hatten sich neue Kleider besorgt und waren in die Rolle abgehangener Germanisten aus Berlin geschlüpft. Schmitz-Elias kommt an diesem Morgen spät zur Arbeit, läßt seine Sprechstunde glatt ausfallen und vertreibt den vor seinem Büro wartenden Studenten die gute Laune aus den Gesichtern. Nur drei männliche Wesen betrachten sehr interessiert, was der Professor aus seiner Aktentasche herauslugen hat. Unauffällig macht Merlin ein Foto, dann gehen sie in den Flur heraus, ziehen sich einen Kaffee und warten. Der Mittag nähert sich unaufhaltsam, die Mägen des Oberbaus der Germanistik knurren um die Wette. Schmitz-Elias kommandiert seinen Assistenten ab und geht Richtung Mensa. Merlin nickt seinen beiden Mitstreitern zu, die dem Professor folgen. Er selbst geht in den Flur, den die Studenten "Laufbahn der Professoren" nennen, sieht sich mehrfach um und zieht sich einen Latexhandschuh über. Er versucht behutsam, die Tür zum Büro des Professors zu öffnen, geht nicht, die ist verschlossen. Aber für einen Menschen, der seit Jahren auf der Straße lebt und sich dort seinen Lebensunterhalt erwirtschaften muß, ist das kein Hindernis. Merlin zieht eine Metallkarte aus der Tasche und führt sie in den Spalt zwischen Türrahmen und Füllung ein. Die Bewegungen kennt er genau, es gelingt ihm, den Riegel ein, zwei Millimeter zurückzuschieben, doch dann sieht er die Sekretärin des Professors heraneilen. Scheiße. Er steckt schnell die Karte ein und macht sich aus dem Staub, Richtung Feuertreppe, um nur ja niemandem über den Weg zu laufen, der ihn ansprechen könne, was er denn da mache. Wenn er erst einmal aus der Laufbahn der Professoren heraus ist, dann wird er in der Anonymität der Universität versinken. Er hat es von vielen Studenten gehört, er kennt es aus jahrelanger Arbeit vor der Mensa: Ein ganzes Semester lang kann man sich an der Universität aufhalten, seine Lehrveranstaltungen besuchen, ohne auch nur ein einziges Wort mit einem anderen Menschen zu wechseln. Wenn er vor der Mensa steht und ein 77
Rollkommando der Faschos vorbeikommt, dann wissen die auch ganz genau, daß sich kein Mensch einmischen wird, wenn sie den Punks die Schädel sprengen. Die Juppies in BWL kümmert das eh nicht, die Philosophen sind viel zu vergeistigt, um etwas aus der Welt um sich herum mitzubekommen, und die Muttersöhnchen aus der Physik leben sowieso in einer anderen Welt. Die laufen von Montag bis Freitag in derselben Unterwäsche herum, die kommen in ihrer Bude an und packen die Tuperware ihrer Mütter aus, die das Essen vorgekocht und genau auf die Dosen geschrieben haben, an welchem Tag welches Gericht zu Kochen ist. Es hat auch keinen Sinn, diese Kinder anzusprechen, das weiß Merlin, die laufen über die Straße und bekommen nicht mit, daß da ein Lkw kommt. Naja, denkt Merlin, das reduziert die Zahl der überflüssigen Studenten. Er geht auf den Albertus-Magnus-Platz, streckt der Stahlplastik die Zunge heraus und schlägt den Weg Richtung Mensa ein. Im Erdgeschoß trifft er vor dem Eingang zum Wahlessen, Wahl der meisten Professoren, seine beiden Mitstreiter wieder. Schmitz-Elias sitzt seit geraumer Zeit in dem Raum, schneidet an seinem Steak, blutrot, herum und verweigert dem Assistenten jegliche Konversation. Irgendwie sieht der Mann aus, als sei ihm eine Ratte über die Eier gelaufen, denkt Merlin nach einem kurzen Blick auf den Professor. Er stopft das Essen lustlos in sich herein, gar nicht einmal besonders schnell, sieht nicht auf und starrt die ganze Zeit nur seinen Teller an. An der weltabgewandten Miene erkennt der geneigte Betrachter, daß das Hirn des Mannes arbeitet. Aber es ist nicht der typische Gesichtsausdruck eines zerstreuten Professors. Der Mann muß über sehr reale Dinge nachdenken, fällt Merlin auf, Probleme in seinem Leben, nicht in seiner Wissenschaft. Vielleicht hat er gemerkt, daß wir ihn verfolgen, denkt er, aber der Mann sieht nicht auf oder schaut unsicher drein, der hat anderes im Sinn. Merlin nimmt einen Butterkeks aus der Packung, die ihm einer seiner Observationskollegen anreicht. Jetzt etwas richtiges zu Essen, das wäre eine feine Sache, denkt er, wir fressen die billigen Butterkekse aus dem Aldi, und der schiebt sich ein feistes Steak 'rein. Ein Punk stößt ihn an. "Ey Alter, hass' 'ma 'ne Mark?" Merlin packt den Punk an der Schulter, dreht ihn zu sich herum, redet ihm ins Ohr. Verschwinde, Mann, wir haben Ärger, Okay? Der Punk macht eine abwehrende Geste und trollt sich, nicht ohne die Frage gestellt zu haben, was der Streß soll. Merlin tritt einen Schritt zurück und winkt seine Kollegen heran, Schmitz-Elias steht gerade auf. Sie sehen zu, wie der Mann sein Plastiktablett entsorgt und folgen ihm in gebührendem Abstand zurück zur Germanistik.
II. Dem Kommissar geht es gar nicht gut. In den vergangenen gut vierzig Jahren seines Lebens hatte Krämer sich schon mehrfach die Frage stellen müssen, wo er denn die letzte Nacht verbracht hatte. Wie jeder andere stinknormale Bürger hatte er sich morgens im Bett liegend vorgefunden, verkatert und mit der Frage auf den Lippen, wie er denn ins Bett gekommen sei. An eine Fete aus den Jahren an der Polizeischule kann er sich erinnern, als er mittags in einem fremden 78
Bett aufwachte und sich umdrehte, eine nicht ganz fremde Frau neben ihm. Er schrak hoch, eine zukünftige Kollegin, die er auf der Fete getroffen und mit der er Tequila getrunken hatte. Nie in seinem Leben hatte er sich so schnell angezogen, wollte aus dem Zimmer laufen, doch sie wachte frühzeitig auf und brüllte ihn an, bei ihr zu bleiben. Eines der peinlichsten Gespräche, die er jemals geführt hatte, war die Folge gewesen. Es war nicht die einzige Folge. Sie überraschte ihn zwei Monate später mit der erfreulichen Nachricht, daß er Vater würde. Noch Tage später hatte sein Adamsapfel nicht die normale Ruhestellung erreicht. Sollte er sie heiraten? Die wilden 70er gingen gerade zu Ende, die Renaissance der Hochzeit hatte noch nicht eingesetzt. Also war er beinahe über die Nachricht erfreut, daß sie wenige Wochen danach eine Fehlgeburt erlitt und das Kind verlor. Doch selbst der Schrecken dieser Nacht war nicht so schlimm wie das Gefühl an diesem Morgen. Die Frage "Wer bin ich?" hatte Krämer noch einigermaßen sinnvoll beantworten können. Doch schon bei der Frage "WO bin ich?" gibt es deutlich mehr Schwierigkeiten. Krämer wendet den Kopf zur Seite, um zu sehen, wo dieses nervtötende Piepsen herkommt. Das Piepsen ist vielleicht doch nicht so nervtötend, denkt er, als er den eigenen Herzschlag auf einem Bildschirm sieht. Wenn der nicht mehr piepst, dann... Es dämmert ihm, wo er ist. Das muß die Intensivstation im StVinzenz-Krankenhaus sein. Er blickt an sich herunter, soweit ihm das der Schmerz im Nacken erlaubt, fühlt den Schlauch in der Nase und sieht die Elektroden auf der Brust. Krämer läßt sich in das Kissen fallen, Kassenpatient und kein dickes Plümo wie für die Privaten, und versucht sich daran zu erinnern, was ihm eigentlich zugestoßen sein mag. Der Schatten einer Erinnerung zieht vor seinem geistigen Auge vorbei. Das letzte, woran er sich erinnern kann, war, daß er mitten in der Nacht aus dem Schlaf aufgeschreckt ist. Seine Freundin fragte ihn, was der ganze Driss soll, er versuchte zu schreien, aber es kam kein Geräusch aus der Kehle. Ein unbändiger Schmerz in der Herzgegend hatte von ihm Besitz ergriffen, sein Puls raste wie wild, er dachte nur "So muß sich der Klotzmann gefühlt haben", dann wurde ihm schwarz vor Augen. Was also hat er gestern getan, daß ihm die Nacht fast zum Verhängnis wurde? Krämer läßt den Tag Revue passieren, setzt vor seinem inneren Auge die Ereignisse Stunde für Stunde wie ein chronologisches Puzzle zusammen. Der Tag hatte so normal angefangen wie tausende andere auch. Er hatte seiner Freundin einen Kuß zum Abschied gegeben, nachdem sie ihn an der Haltestelle abgesetzt hatte und selbst zu Toyota fuhr. Am Heumarkt war er wie jeden Tag ausgestiegen, hatte den Weg zum Präsidium eingeschlagen und wie jeden Morgen bei der ersten Tasse Kaffee, schwarz ohne Zucker, den Stadtanzeiger gelesen. Weihnachten nähert sich, in der Zeitung stand nichts, was ihn beruflich interessiert hätte. Nach der morgendlichen Zeremonie war er zum Briefing gegangen und hatte den Stand der Ermittlungen zum Besten gegeben. Zusammen mit seinem Assistenten Wepper war er gegen Mittag zu 79
Schmitz-Elias gefahren und hatte den Professor über seine Vergangenheit ausgefragt. Unerwartet bereitwillig hatte der Mann ihm von seiner Zeit Ende der 60er Jahre erzählt, von seinem Aufenthalt in New Orleans und Athens, Georgia. REM, Collective Sound, dachte Wepper, College Radio, eine kleine Stadt mit geiler Musikszene. Auf die Frage hin, was er dort gemacht habe, laberte Schmitz-Elias Krämer und Wepper die Tasche mit fachlichem Geseiber voll, bis beide nicht mehr wußten, was sie eigentlich gefragt hatten. Dann kam die Gretchenfrage: "Herr Professor, einer Ihrer Studenten hat uns zugetragen, daß Sie Ahnung von schwarzer Magie haben. Was wissen Sie darüber?" Schmitz-Elias war zuerst still geworden, hatte den farblichen Ausdruck seiner Gesichtshaut gewechselt wie ein Chamäleon, von rosa über kalkweiß hin zu knallrot. Er hatte rückgefragt, WER Krämer das gesteckt hatte, doch der hatte nur den Kopf geschüttelt. Im Gegenteil, Krämer hatte noch eins draufgesattelt und das Verschwinden der Bücher und Videos erwähnt, in denen Esoterik in ihrer dunkelsten Form behandelt wird. Einige Augenblicke, in denen sein Hirn fieberhaft arbeitete, war Schmitz-Elias still gewesen, während der Kommissar ihm unverwandt in die Augen starrte. "Wissen Sie", erhob der Professor mit unsicherer Stimme, "als ich im Süden der USA war, habe ich mich mit den Riten der Schwarzen auseinandergesetzt und versucht, Parallelen zur Zeit der Großen Germanisten zu finden." "Große Germanisten?" Krämer hakte nach. "Wen meinen Sie mit Großen Germanisten? Adolf und Jupp Goebbels?" "Nein. Ich meine die Stammväter der deutschen Sprachkultur. Schiller und Goethe vor allem." Krämer nahm sich die Liste der Referatthemen vor, die ihm der Royale Investigator gegeben hatte. "Wenn ich meinen Blick über diese Themen schweifen lasse, Herr Professor, sehe ich keinen Zusammenhang mit Voodoo-Priestern. Hier, der 'Faust', das ist deutsche Literatur. Wollten Sie den Versuch wagen, die magischen Konstrukte der heutigen Zeit auf die Literatur vor 200 Jahren zu übertragen?" "Lassen Sie es mich so ausdrücken, Herr Krämer: Ich habe den Versuch gewagt, Auswüchse der heutigen Zeit auf ihre Anlage in alter Literatur zu untersuchen." "Also zum Beispiel: 'Der sadomasochistische Ansatz des Gretchen in Goethes Faust'." Krämer nimmt den Zettel vor die Brust. "Sie wollten also die Ledertypen der heutigen Zeit auf die klassische Szene 'kann ungeleitet nach Hause gehen' übertragen? Was ist der Unterschied zum Suizid von Werther? Warum Faust?" Krämer hatte den Vormittag damit verbracht, Sekundärliteratur zu den alten deutschen Poeten zu wälzen, um Schmitz-Elias fachlich halbwegs fundierte Fragen stellen zu können. Er versuchte, einen Zusammenhang zwischen den Ansätzen der Magie in der Literatur und den eigenen Tätigkeiten herauszufinden. Aber so sehr er auch nachbohrte, Schmitz-Elias gelang es bravourös, sich um den Kern der Sache herumzulavieren wie eine Katze um den zerfetzten Kadaver eines Dackels.
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Und trotzdem konnte Krämer einen Erfolg verbuchen. Als er das Büro des Professors verließ, hatte er den Eindruck, den Mann verunsichert zu haben. In allen Gesprächen vorher hatte Schmitz-Elias diesen Ausdruck in den Augen, der ihm unterschwellig Macht über sein Gegenüber gab. Manchmal war es Krämer erschienen, als redeten die Augen mit ihm, gaben unterbewußt IHM Befehle, bestimmte Fragen nicht zu stellen, bestimmte Gedanken nicht zu denken. Das alles war heute anders gewesen. Schon als er das Büro betrat, hatte er gemerkt, daß der Professor weniger unterschwellige Macht auf ihn ausübte. Nach dem Gespräch schien der Mann noch mehr von seiner Nonchalance verloren zu haben. "Jetzt haben wir ihn an den Eiern, wenn er es war" sagte Krämer zu Wepper. Er hatte aber bei aller kriminalistischer Feinarbeit einen Fehler gemacht. Seit Beginn des Herbstes war Krämer nicht mehr zum Friseur gegangen, die langen Zotten störten ihn schon seit geraumer Zeit. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, sich mit den Fingern durch die Haare zu gehen, um sie zurückzukämmen. So hatte er auch heute einige Haare verloren und sie um den Sessel in Schmitz-Elias' Büro herum drapiert. Plötzlich durchzuckt ihn ein Gedanke. Verdammt, sollte der Mann etwa... Alle Schmerzen sind vergessen. Ein unbändiger Lebenswille, der eigentliche Antrieb des überzeugten Kriminalisten, ergreift von Krämer Besitz. Er versucht aufzustehen, aber das Gewirr der Kabel und Schläuche, die überall an seinem Körper befestigt sind, hält ihn zurück. Seine Beine zittern, als er die Bettdecke zurückschlägt und aufstehen will. Zwei, drei Elektroden zieht er sich schmerzhaft von der behaarten Brust, dann spürt er einen Schmerz am Schwanz. Scheiße. Sie haben ihm einen Katheder gelegt. Er setzt sich auf die Bettkante und drückt auf den Schwesterknopf.
III. Dräuende Wolken hängen über der Stadt, speien gelegentlich einen Schneeschauer aus und lassen den Menschen dazwischen Zeit, einen Auffahrunfall nach dem anderen zu bauen. Die Luft ist eiskalt und gesättigt von Feuchtigkeit, die angenehme Kombination, die einem durch die dickste Daunenjacke dringt und bis in die Knochen geht. Merlin hat seinen beiden Kollegen frei gegeben und ist in die Fachschaft gekommen, um sich aufzuwärmen. Marc und Brigit haben einen starken Kaffee aufgesetzt, einen ordentlichen Schuß Bacardi dazugekippt und nippen an den Bechern. Ein Schluck, und dein Gesicht ist knallrot. Marc war es schon vorher nicht kalt gewesen, jetzt sitzt er im T-Shirt hinter dem Schreibtisch, während vor der offenen Tür dick vermummte Gestalten vorbeihasten. Er hat einen längeren Trip zu Fuß hinter sich, war an der Klagemauer und hat dort mehrere Leute befragt. Einen Kontakt konnte er über einen anwesenden Sozialarbeiter herstellen, er wird sich in den nächsten Tagen mit einem ehemaligen Mitstreiter der 68er in Köln und Berlin treffen. "Ich hab' ihn auf die Platte gebannt." Merlin reicht Marc die Kamera. "Der kommt jetzt auf's Papier." Er spult das Magazin zurück und nimmt die Patrone aus der Kamera. "Hat er euch gesehen?" fragt Brigit, während sie den beiden Männern Zigaretten anreicht. 81
"Ich glaube nicht", entgegnet Merlin, "der kennt unsere Nasen nicht, und wir haben uns wie sein Schatten verhalten." "Aber wir haben die Fotos." Marc nimmt einen tiefen Zug von der Marlboro. "Ich habe zu so'n paar alten 68ern Kontakte geknüpft. Vielleicht können die mit den Porträts unseres geschätzten Professors etwas anfangen." "Wenn nicht, dann werden wir ihn als Poster an die Wand pappen und Darts spielen." Brigit fährt ein leichtes Lächeln um die Mundwinkel, die beiden anderen Gestalten im Raum starren sie ungläubig an. "Ich hab' in meinem Referat eine glatte Note schlechter abgeschnitten, weil mir dieses Scheißbuch fehlte. Wenn der SchmitzElias dafür verantwortlich ist, und vielleicht auch noch für die beiden Toten, dann... Dann sollten wir ihn umlegen." "He", fährt Marc dezent aus der Haut, "die Arzttochter redet wie eine Schlampe?" "Das ist dein Einfluß." Sie nimmt einen tiefen Zug und sieht Marc tief in die Augen, mit einer Mischung aus Zuneigung und Verachtung. Marc sieht kurz an ihr herunter. Sie sieht wirklich anders aus als früher, denkt er. So wie jetzt wäre sie vor Jahren nie herumgelaufen, mit Lederjacke, enger zerfetzter Jeans und Pullover. Dafür war er selten so solide gekleidet wie in den letzten Tagen, was natürlich auch mit seinem Vortrag und der Tätigkeit als Royalem Investigator zusammenhängt. Nun ja, ein Persönlichkeitstausch kann auch ganz nett sein, denkt er. "Du kannst für heute Feierabend machen, Merlin." Marc drückt die Zigarette aus. "Und sag bitte Svenja Bescheid, daß wir morgen um eins in der Mensa essen. Treffpunkt wie immer." "Ich werde den Boten spielen. Und was macht ihr?" "Wir sind jetzt der Schatten des Professors."
IV. Die Schwester ist nicht von der Idee begeistert, daß Kommissar Krämer Besuch haben will. Er hat seinen Assistenten herbeigerufen, Wepper steht vor der Tür der Intensivstation und bittet um Einlaß "Es ist keine Besuchszeit, verdammt", sagt die Schwester, mit einer Kanüle vor den Augen des Kommissars herumfuchtelnd, "Sie können jetzt niemanden empfangen." "Hören Sie, Schwester, ich bin vermutlich Opfer eines Anschlags geworden, und wenn ich meinen Assistent nicht sprechen kann, liegt morgen ein anderer in der Pathologie! Also, ich bitte Sie, lassen Sie mich mit meinem Sklaven reden!" Die Schwester sieht auf den Patienten, versucht ein weiteres Mal loszulegen, um ihm den Gedanken auszutreiben, es ist sinnlos. Wepper streift sich auf ihren Wink hin einen Kittel und Filzpantoffeln über, legt seinen Aktenkoffer im Eingangsbereich ab und tritt in Krämers Zimmer ein. "Setzen Sie sich." Krämer winkt seinen Assistenten heran. "Ich bin keine Gefahr mehr für die Schwestern." Er präsentiert Wepper den Katheder, der kurz aufstößt. "Wollen Sie, daß ich das Bett vollkotze, Kommissar?" "Wenn hier einer 'was auskotzt, bin ich das. Was ich Ihnen jetzt sage, wird Ihnen bescheuert vorkommen, aber ich will, daß Sie Ihren Grips damit anstrengen." Krämer holt weit aus und gibt seinem Assistenten 82
einen umfassenden Überblick über die Welt der schwarzen Magie, schweift ab in den eigenen Zusammenbruch und kommt der Realität wieder nahe, als er auf die verschwundenen Bücher und die Vermutungen des Royalen Investigators zu sprechen kommt. "Sie meinen", fragt Wepper dezent ungläubig, "dieser Student ist auf der richtigen Spur?" "Ja." Krämer zündet sich heimlich eine Zigarette an. "Ich habe den Eindruck, dieser Professor steckt tiefer in der Sache drin, als wir jemals gedacht hätten. Aber wir haben ein Problem: Wir können ihm eher nachweisen, daß er Cäsar umgebracht hat als daß er etwas mit den Toten zu schaffen hat." Er nimmt mit zitternden Händen einen tiefen Zug aus der Zigarette. "Und mit mir." Die Schwester kommt ins Zimmer, Krämer versenkt die Gauloises in einem Kaffeebecher, sie riecht sie trotzdem und scheißt den Kommissar zusammen. Wepper durchbricht den Wortschwall und verläßt die gastliche Station.
V. Die Sonne ist längst untergegangen, erste Nebelschwaden wabern durch die Straßen und sorgen dafür, daß sich Menschen unsichtbar machen können, die ein ähnliches Interesse daran haben, nicht gesehen zu werden wie der Papst beim Ayatholla. Schmitz-Elias ist geknickt. Es hat nicht geklappt. Jahrelang ist es her, daß er in den Südstaaten war und sich von einem Voodoo-Priester in der Kunst des Tötens auf saubere Art hat unterweisen lassen. Angefangen hatte er mit Tieren, hatte sich hochgearbeitet und die Macht soweit an sich gezogen, daß er vor kaum einem Monat den ersten Mord seines Lebens begehen konnte. Er ist am Ziel, hatte er gedacht, der Zenit seiner beruflichen Karriere und seiner Macht. Nichts konnte ihn jetzt noch aufhalten Diesen Schnüffler wollte er ganz einfach außer Gefecht setzen. Er wußte, wie er es machen konnte, denn der Mann hatte genug Haare auf dem Sessel verstreut. Alles andere war Routine. Doch dann kam ihm etwas dazwischen. Er konnte sich nicht mehr richtig konzentrieren, um die Macht zu nutzen. Der Geist war willig, aber die Hände drangen nicht mehr in die Puppe ein. Dafür erschien ihm ein Bild im Kopf, zwei Frauen riefen ihm etwas zu. Mit der älteren Frau konnte er etwas verbinden, auch wenn das unendlich lange her war. Die jüngere Frau kannte er nicht, aber er war ihr in den letzten Wochen einmal begegnet. Sie war es, nicht die ältere, die ihm zurief: "Du wirst es nicht schaffen." Er nahm die Nadel aus der Puppe und wurde schwach, er brach zusammen und rappelte sich hoch, warf die Lehmpuppe an die Wand und wußte, daß er diesen Mord nicht würde begehen können. Das war gestern. Der Tag heute war eine einzige Sammlung geistiger Schlaglöcher, in die er hineingetappt war. Schmitz-Elias hatte mit kaum einem Menschen ein Wort geredet, war durch die Universität geschlurft, hatte seinen Assistenten und seine Sekretärin zur Sau gemacht und sich in das Büro zurückgezogen, so lange er konnte. Die Sonne hat nun ihren Platz am Firmament verlassen und dem Mond Raum geschaffen, auf daß er über die Menschheit leuchte. Schmitz-Elias geht zum Fenster und starrt den fahl scheinenden Himmelskörper an. Warum bin ich nicht mehr fähig dazu, fragt er sich. Der Mond bleibt still, er zieht seine 83
Bahn und läßt die Frage unbeantwortet. Der Professor packt seine Tasche voll, verstaut sorgfältig einen Gegenstand im Schreibtisch und verläßt das Büro. Brigit bekommt kalte Füße, obwohl sie sich dick eingepackt hat. Die Kälte kriecht durch die Daunenjacke, sie läuft zwischen zwei Gebäudeeingängen hin und her, um sich warm zu machen. Zwecklos. Es will einfach nicht klappen. Sie sieht sich schon in der Grünanlage liegen, erfroren wie der Penner gestern am Aachener Weiher, nachdem ihm die Skins die Eier eingeschlagen hatten. Sie wäre so kalt wie der Junkie im Stadtwald, der die Spritze noch im Arm hatte, im ganzen aber so steif war, daß die Bullen ihn nicht mehr in den Zinnsarg bekamen. Der Arm hing aus dem Sarg heraus, ein geiles Foto auf der ersten Seite des "Express". In der Stadtrevue ging die Wette um, ob es in Köln in diesem Jahr mehr oder weniger als 100 Drogentote geben wird, gegenüber dem letzten Jahr hatte sich die Quote schon verdoppelt. Sie werden dich für eine Nutte halten, wenn sie dich finden, denkt sie. Endlich winkt Marc sie heran, er steht an der Ecke des Philosophikums und läßt seinen Blick dauernd zwischen dem einzigen noch offenen Ausgang des Gebäudes und dem Benz des Professors hin und her schweifen. Die Schwingtür geht auf, eine Putzfrau entkommt der Wissenschaft, wieder nichts. Bleibt der die ganze Nacht in seinem Büro? Marc flucht leise, nicht zu laut, nur nicht die Deckung verlieren. Er verspürt den unbändigen Drang nach einer Zigarette, zieht den Reißverschluß der Lederjacke auf, daß die Kälte nur so hereinströmt und seinem Körper sagt: "Geh zurück in deine warme, heimelige Bude, vergnüge dich mit der Frau da drüben." Er durchsucht die Innentasche der Jacke, natürlich hat der Weltmeister der Schnorrer keine Zigaretten bei sich. Brigit müßte doch welche haben, denkt er, als die Tür wieder geht. Marc vertreibt den Gedanken ans Nikotin und sieht zur Tür. Der Atem stockt ihm. Es ist der Professor. Er reißt die Hand nach oben, Brigit sieht ihn nicht sofort im dichter werdenden Nebel. Sie begreift, schlingt die Arme enger um den Oberkörper und läuft über die Straße, verschwindet nahezu geräuschlos auf dem Fahrersitz des Golf Diesel. Sie fingert den Schlüssel mit klammen Fingern aus der Daunenjacke und glüht vor. Marc drückt sich in den Busch vor dem Hintereingang des Betonblocks und sieht zu, wie sich Schmitz-Elias auf dem Parkplatz seinem Wagen nähert. Endlich haben wir ihn, denkt er. Der Professor startet den Motor, fast gleichzeitig hört Marc das Nageln eines Golf Diesel. Schmitz-Elias setzt aus der Parklücke heraus und fährt zur Straße vor, ohne Marc zu sehen, der atemlos neben der Ausfahrt steht. Der Benz biegt in die Gyrhof-Straße ein, nach links in die Robert-Koch-Straße bis zur Zülpicher. Kaum daß der Wagen an der Kreuzung ist, setzt Brigit aus der Parklücke heraus, Marc sprintet über die Straße und springt auf den Beifahrersitz. Der Golf muß sich anstrengen, Schmitz-Elias fährt trotz des saumäßigen Wetters schnell, der Diesel hustet in den letzten Zügen seines Zylinderkopfes. Sie bleiben hinter dem Professor, lassen sich zurückfallen, um nur ja keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie wissen, wo er wohnt und welche 84
Strecke er fahren wird, aber wird er das auch heute Nacht tun? Am Barbarossaplatz biegt der Benz links ab, auf die Bäche, über die Severinsbrücke. Als sie auf der Autobahn sind, wissen Brigit und Marc, daß der Mann zu seiner Wohnung fährt, sie können sich zurückfallen lassen. Tatsächlich queren sie das Autobahnkreuz Heumar und dreschen über die A3 Richtung Rösrath. Wo wohnt der durchschnittliche Professor der Kölner Universität? Er tut es Peter Ortloff gleich und zieht nach Rösrath-Forsbach. Auch Schmitz-Elias hatte dies getan, doch es gibt einige Äußerlichkeiten, die ihn von anderen Professoren unterscheiden. Er wohnt in einem Mietshaus, der normale Professor an und für sich verdient genug, um sich die eigene Villa leisten zu können. Aber vielleicht noch auffälliger: Schmitz-Elias hat zwar gelegentlich weibliche Bekanntschaften, aber weder Eheweib noch Kinder. Jedenfalls nicht hier. Also gibt ihm niemand einen Kuß, als er aus dem Wagen steigt und die Wohnung im Erdgeschoß aufschließt. Brigit bringt den Wagen zwei Häuser vorher zum Stehen. Marc nimmt die Spiegelreflex mit dem Zoomobjektiv und schließt die Autotür leise hinter sich. Als er mit Augen und Ohren das Haus scannt, hört er ein leichtes Rauschen, das Geräusch einer Wasserspülung. Augenblicke später geht in dem Zimmer das Licht an, das direkt in den Garten hinausgeht. Er ist von Kopf bis Fuß schwarz gestylt, unsichtbar für jemanden, der einen Einbrecher im Garten sucht. Schmitz-Elias macht sich gar nicht die Mühe, die Rolladen herunterzulassen, er glaubt, daß ihm keiner zusehen kann. Marc stellt das Tele scharf und bannt den Professor auf den Film, als er einen Schrank öffnet und einen Altar bereitstellt. Das darf nicht wahr sein, denkt Marc. Er nimmt die Kamera von der Nase und pirscht sich durch das Gebüsch an den Zaun heran, der das Haus vom gemeinen Volk trennt. Er sieht, wie Schmitz-Elias Räucherstäbchen entzündet, einen undefinierbaren Gegenstand aus einer Truhe nimmt und ihn sanft auf dem Hausaltar ablegt. Das wird interessant, denkt Marc, als er die Kamera vor die Nase nimmt. Die Fotos sollte er an RTL oder SAT1 verkaufen.
VI. Platzen Katzen? Diese Frage stellt sich Marc nicht zum ersten Male, diesmal aber will er die endgültige Antwort auf die Frage wissen. Vielleicht war es ein Fehler, der Hauskatze der WG Hundefutter anstatt Katzenfutter zu geben. Sie hatte zwar nicht zu bellen begonnen, aber nichtsdestotrotz einige für Hunde typische Verhaltensweise an den Tag gelegt, hatte versucht, Brekkies wie Knochen in der Erde der Palme im Flur zu verbuddeln und den Flur dabei mit einer Schicht sehr gut auf dem Teppichboden haftender Krume bedeckt. Lisa hatte versucht, ihr 'Männchen machen' beizubringen, und so wie Puschel seit Tagen seibert, könnte sie der Dackel irgendeiner Rentnerin sein. Heute ist für Marc das Maß voll. Puschel hatte sich längere Zeit in seinem Zimmer aufgehalten und Duftmarken gesetzt. Das war nicht das Schlimmste. Viel ärger war die Tatsache, daß sie von hinten in die Schublade seines Schreibtischs geschlichen war und dort Hund-undMaus mit allem gespielt hatte, was ihr vor die Krallen kam. Am meisten 85
hatten es ihr die Kondome angetan. Marc merkte erst sehr viel später, daß Puschel mit den Latexstrümpfen gespielt hatte. Brigit und er hatten die Kälte mit einer heißen Nummer aus den Körpern getrieben. Als er sich aus Brigit zurückzog, sah er, daß der Präser geplatzt war. Selten in seinem Leben hatte er eine Erektion schneller in sich zusammensacken sehen. "Scheiße!" hatte er gerufen, Brigit auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeholt und war ins Badezimmer gerannt, hatte Lisa zur Seite gestoßen, nackt wie er war, das Kondom mit Wasser gefüllt, und... das Sperma floß tatsächlich heraus. Er rannte ins Zimmer zurück, riß die Schublade auf und sah die Kratzspuren und die Haare überall verteilt. Brigit ist ebenso konsterniert wie er. Hatte sie am Morgen den Ovulationshemmer genommen? Sie läuft ins Bad, sieht in ihrem Fach nach, ein Glück. Der Blick in den Menstruationskalender deutet darauf hin, daß sie in den nächsten neun Monaten keinen dicken Bauch bekommen wird. Hat er AIDS? Oder sie? Vielleicht im Moment kein Risiko... In der Küche sieht sie Marc aufgeregt hantieren. Er hat Puschel im Schlaf überrascht, auf den Arm genommen und in die Mikrowelle gestopft. Jetzt sitzt sie in besten Rampenlicht, sieht vor der Tür einen Menschen, der die Hand am Schalter hat. Brigit setzt sich daneben. "Willst du es wirklich tun? Denk an die Folgen!" "Die einzige Folge", entgegnet Marc, "wäre die, daß ich gleich den Herd saubermachen müßte." Er wendet sich der Katze zu. "Das machst du nicht noch einmal. Gute Nacht, Puschel, ich wünsche dir einen schnellen Tod." Er betätigt kurz den Schalter. Lisa kommt hysterisch schreiend hereingerannt, stößt Marc von der Mikrowelle weg, stellt den Herd ab und reißt die Tür auf. "Bist du vollkommen abgedreht?" brüllt sie Marc an, nimmt dabei Puschel auf den Arm. "Wenn dir das gleiche passiert wäre, würdest du's auch machen." Er zeigt ihr das geplatzte Kondom. Genau in diesem Augenblick zeigt sich Brigits gutbürgerliche Erziehung, sie donnert Marc eine klatschende Ohrfeige auf die Backe und reißt ihm das schlaffe Stück Latex aus der Hand, um es zu entsorgen. Wenn du das nochmal machst, denkt sie, werde ich zur Loretta von Köln und schneide IHN dir ab. Auf dem Anrufbeantworter ist eine Nachricht für Marc aufgelaufen. Wepper hat ihm die Mitteilung zu geben, daß der Kommissar den Royalen Investigator morgen Nachmittag sprechen will.
Der Einbruch I. "Sie luden mich zum Verhör?" Marc stellt sich vor dem Intensivbett des Kommissars auf. "Holen Sie sich einen Stuhl und setzen Sie sich, Koster." Der Kommissar weist Marc einen Platz zu. "Nennen Sie mich den Investigator, Krämer." Marc wendet sich zur Tür, denn in diesem Raum gibt es keinen Stuhl. Er dreht sich noch einmal zum Bett um, betont langsam. "ICH hatte recht." Er geht zum Schwesternzimmer, schnorrt einen Stuhl und kommt 86
zurück in Krämers Raum. Der Kommissar hat sich derweilen aufgerichtet und den Katheder zurechtgelegt. Verdammtes Ding, denkt er, ich kann aufstehen, was soll dieses Ding am Schwanz? "Sie wollen Weihnachten im heiligen St.-Vinzenz verbringen?" fragt Marc, während er sich setzt. "In zwei Tagen klingen die Glocken." "Meine Freundin bringt mir einen Baum, wir werden mit den Schwestern singen." Der Kommissar grinst Marc an, er tut es ihm gleich. "Haben Sie eine Zigarette?" Der Weltmeister der Schnorrer hat zwar eine Packung in der Jacke, aber er war gerade im Schwesternzimmer. "Die Oberschwester würde uns umbringen." "Also wieder ein gesunder Tag." Krämer beugt sich zur Kommode vor und holt aus der obersten Schublade eine Papiermappe. "Ich hab' hier 'was aufgeschrieben. Eigentlich ist das für Wepper, aber ich glaube, das ist besser für Sie." Er reicht Marc die Mappe. Interessiert öffnet Marc die Mappe und sieht sich die Blätter an. Er überfliegt die Protokolle der Verhöre, die Krämer und Wepper mit den Angestellten der Germanistik geführt hatten. Assistenten und Professoren hatten bereitwillig Auskunft gegeben, aber sie waren nicht zum Kern der Sache vorgedrungen. Jedenfalls nicht zu dem Kern, der sich Kommissar und Investigator eröffnet hat. "Keine schwarze Magie." Marc reicht Krämer die Mappe zurück. "Ich hab' ein paar hübsche Fotos für Sie." Marc greift in den Ledertrench und zückt einen Packen Fotos. "Nichts aus dem Playboy, aber das wird Sie anmachen." Krämer nimmt die Mappe mit den Fotos. "Wann?" "Gestern Abend, vor dem Haus von Schmitz-Elias." Krämer sieht die Fotos durch. Der Professor tritt vor die Tür, schließt auf, tritt ein, alles wie Millionen andere auch. Aber dann hatte Marc das Objektiv auf das Wohnzimmer gerichtet und etwas fotographiert, was Krämer die Stimme verschlägt. Der Kommissar vertieft seine Nase in das Fotopapier, richtet den Blick langsam auf und will Marc die Fotos zurückgeben. Der winkt ab. "Eine schwarze Messe?" fragt der Kommissar. Der Royale Investigator gibt keine Antwort. Er nickt einfach nur zustimmend. "Sie sind kein Bulle, Investigator." Krämer nimmt Marcs Hand zum Abschied. "Er hat nirgends Spuren hinterlassen, wir haben keine Handhabe gegen ihn. Versuchen Sie Ihren Weg, aber seien Sie vorsichtig. Bitte." “Vertrauen Sie mir, Kommissar." Marc schüttelt die Hand. "Ich weiß, was ich tue." Der Investigator verläßt das Krankenzimmer.
II. "Hi." Robert schließt die Tür der Fachschaft hinter sich ab, nimmt einen Stuhl von der Wand und setzt sich an den Schreibtisch, an dem sich König, Royaler Investigator und Brigit versammelt haben. "Was werden uns die nächsten Tage bringen?" fragt der König. "Wir werden einen Bruch machen." Marc wendet sich Robert zu. "Du 87
darfst heute Abend klettern." "Und so", Brigit holt die Originalabzüge der Fotos aus ihrem Rucksack, "hat sich Schmitz-Elias gestern Abend vergnügt." Robert und der König sehen sich die Fotos an, werden sprachlos und weiß. Der König dreht eine Zigarette, der Royale Investigator nimmt den Tabak und tut desselben. "Der Mann ist pervers." Ein ungewöhnliches Wort aus dem Munde des Königs. "Nein." Der Royale Investigator geht dazwischen. "Unser allseits geliebter Professor ist ein Voodoo-Priester." In kurzen Sätzen erklärt der Investigator, was er sich in den letzten Wochen über die abgedrehtesten Formen der schwarzen Magie angelesen hat. Was er gestern Abend gesehen hat, paßt in das Bild wie der vorletzte Stein in ein Puzzle. Aber der letzte Stein fehlt noch.
III. Weihnachten im Krankenhaus, das ist nicht nur eine Sache für den Kommissar. Svenjas Mutter ist gerade aus der Narkose aufgewacht. Sie ist operiert worden, sie weiß gar nicht mehr, zum wievielten Male jetzt schon, ihr Körper bildet Metastasen wie ein Weltmeister. Die Ärzte haben sie innerlich schon aufgegeben, aber sie sind von der Willenskraft dieser Frau beeindruckt. Sonst hätte der Chefarzt erst gar nicht operiert. In all den Jahren hat er keinen Menschen erlebt, der so gegen den Tod gekämpft hat wie diese Frau. Sie hat sich auf den Endspurt eingestellt. Vor einer knappen Woche kam ein Brief von Svenja, in dem sie den neuen Professor an der Germanistik beschrieben hat, weniger von der Optik als mehr vom Charakter her. Ihre Mutter war sich recht sicher, daß es sich bei besagter Person tatsächlich um den Vater ihrer Tochter handelt. Sie weiß, daß er seinen Namen geändert hat, gerade deswegen hatte sie ja die Schwierigkeiten, ihn ausfindig zu machen. Aber nicht, daß sie regungslos in ihrem Bett verharrt wäre. Nachdem Svenja ihr von dem Verdacht berichtet und den Namen des Professors genannt hatte, war sie an einen Kollegen aus der Sozialstation herangetreten und hatte ihn vom Krankenbett aus gebeten, in Berlin im Germanistischen Institut der Universität Nachforschungen anzustellen, was Schmitz-Elias dort gemacht habe, und vor allem: Er sollte versuchen, ein aktuelleres Foto von ihm aufzutreiben als das vom Ende der 60er Jahre. Tatsächlich hatte der Kollege Bilder vom damaligen Doktor der Germanistik auftreiben können. Sie hatte die Bilder, zwischen denen zwei Jahrzehnte liegen, verglichen und war zu dem Schluß gekommen, daß er es sein müsse. Die letzte Gewißheit aber, das war ihr klar, könnte erst ihre Tochter selbst bringen. Bis dahin muß sie kämpfen und am Leben bleiben.
IV. Die Mensa, deren Inneres aus Beton und Plastik der 70er Jahre besteht, kann so herrlich warm sein, wenn man aus der vorweihnachtlichen Kälte kommt. Svenja schüttelt einige verirrte Schneeflocken von ihrer speckigen Lederjacke und sieht sich im 88
Erdgeschoß um. Ein Typ in Ledertrench reckt die Hand hoch und winkt sie heran. Marc greift in die Innentasche des Trench und holt den ungeöffneten Briefumschlag heraus, den Svenjas Mutter geschickt hatte. An seine Adresse natürlich, denn wer weiß, ob Svenjas Wohnsitz nicht zwischendurch geräumt wird? Svenja begrüßt die Personen und nimmt den Brief entgegen. "Ich bin kurz zum Klo" sagt sie und strebt der Tür mit der verschlissenen Plastikfrau entgegen. Sie geht in eine Kabine, setzt sich auf den Klodeckel und reißt vorsichtig den Umschlag auf. Die wenigen Zeilen, die ihre Mutter geschrieben hat, überfliegt sie nur kurz. Die Schrift ist kaum leserlich, kein Wunder bei einem Menschen, der Schmerzen nur noch unter Drogen ertragen kann. Wichtiger erscheint Svenja das Foto. Sie sieht es lange an, vergleicht die Gesichtszüge, die Nase, die Augen mit dem Foto des Studenten, der ihr Vater ist. Ein Jahrzehnt liegt zwischen beiden Fotos, aber es scheint ihr, daß es sich um denselben Mann handelt. Sie betätigt die Spülung und geht zurück zu den Menschen, die auf sie warten. Marc und Brigit haben sich bereits in die Schlange eingereiht, heute ist der letzte Tag des Jahres an der Universität, in der Mensa gibt es das einzige Festessen des Jahres zum gewohnten Preis. Svenja stößt hinzu und betreibt mit den beiden Konversation. Marc wirft einen Blick schräg an ihr vorbei und unterbricht seine Redefluß. "He", er stößt Svenja an, "das ist unser Schmitz-Elias." Svenja dreht ruckartig den Kopf zur Seite, Marc muß ihr nicht zeigen, wer das ist. Es ist der Mann von den Fotos. Von BEIDEN Fotos.
V. Der letzte Arbeitstag an der Kölner Universität geht zu Ende. Professor Schmitz-Elias packt seine Siebensachen in die Aktentasche, löscht das Licht und schließt die Tür hinter sich ab. Ein Scheißtag. Eine Scheißwoche. Murphy's Law hat erbarmungslos zugeschlagen, alles was schiefgehen konnte, ist auch schief gegangen. Dieser verdammte Kommissar ist noch am Leben, warum um alles in der Welt hat der Zauber nicht funktioniert? Zu allem Überfluß kam dieser König aus der Fachschaft mit einem Mitstreiter auch noch heute Nachmittag ins Büro, um ihm fröhliche Weihnachten zu wünschen. Er hatte ihn in ein Gespräch verwickelt, am Ende des Jahres ist die Zeit Bilanz zu ziehen, hatte dabei das Schicksal des Professors und des Kommissars beiläufig eingeflochten. Natürlich ganz unauffällig, versteht sich. Bevor er sich darüber klar wurde, hatte Schmitz-Elias mehr gesagt als er wollte. Es war genau die gleiche Situation wie eine Woche zuvor mit diesem anderen Fachschaftler. Er hatte kurz nach dem Namen gesucht, Marc Koster. Ja, es war das gleiche mit diesen beiden Männer aus der Fachschaft. Früher wäre ihm das nie passiert, dachte Schmitz-Elias. Dann auch noch diese Sache mit den schwindenden Kräften, das muß einen Zusammenhang haben. Das Schellen des Telefons rettete ihn aus der Sackgasse, in die er sich hereinmanövriert hatte. Der König und Robert verabschiedeten sich, aber Schmitz-Elias war verunsichert. Vielleicht wissen sie mehr als sie sollten, dachte er. In Gedanken geht 89
er den üblichen Weg zu seinem Wagen, er ist derart mit sich selbst beschäftigt, daß er die Gestalt im Busch neben dem Eingang gar nicht bemerkt. Das klassische Bild des zerstreuten Professors, aber ganz paßt es hier nicht, denn es ist nicht die Wissenschaft, die das Hirn des Lehrenden okkupiert. Er steigt in den Benz und fährt den gewohnten Weg nach Rösrath-Forsbach. Aber er kommt nicht weit. Bevor er ins Weyertal abbiegen will, läuft ihm eine junge Frau vor den Wagen und stoppt ihn mit erhobener Hand. Er will auf die Hupe steigen oder das Fenster herunterlassen, um die Frau anzubrüllen. Aber da ist etwas in ihrem Gesicht, was ihn innehalten läßt. Die Augen dieser Frau hat er schon einmal gesehen, das Gesicht und die Art sich zu bewegen kommen ihm bekannt vor, aber nicht von dieser Frau. Als hätte sie genug gesehen, geht die Frau beiseite und verschwindet hinter den parkenden Autos. Schmitz-Elias will ihr nachfahren, aber sie ist unsichtbar. Svenja hat genug gesehen. Sie weiß jetzt, das er genau der Mann ist, den sie gesucht hat.
VI. "Svenja war so komisch beim Essen." Marc knüpft den Trench zu. "Sie hat kaum 'was gesagt. Dabei redet sie manchmal wie ein Wasserfall." "Vielleicht hat das ja etwas mit dem Professor zu tun", wirft Brigit ein. "Nachdem du ihn ihr gezeigt hast, hat sie kein Wort geredet." "Hm..." Marc preßt den Mund nachdenklich zu, bevor er weiterspricht. "Weiß nicht. Vielleicht hätte ich das Briefgeheimnis brechen sollen." Robert entnimmt dem Golf Diesel seine Kletterausrüstung und schnauzt den Royalen Investigator an. "He, Schnorrer, paß besser auf, ob uns jemand sieht." Er streckt den Arm aus, ein Liebespaar geht über den Albertus-Magnus-Platz, offensichtlich ein ungefährliches Objekt fleischlicher Begierde. Marc prüft den Sitz des Holzschwertes an seinem Gürtel. Wie sinnlos, denkt er. Wepper konnte beim zuständigen Richter keinen Durchsuchungsbefehl erwirken, also müssen die Leute für's Grobe an die Arbeit. Der Professor ist gefahren, freie Bahn für Robert. Nebelschwaden wabern über den spärlich erleuchteten Albertus-Magnus-Platz, die Stadt muß sparen, vor allem beim Licht, zudem ist Robert schwarz gekleidet. Der Dunst verhüllt sein Treiben, aber die Kälte zieht ihm auch die Energie aus dem Körper wie ein gieriger Vampir. Er kann zum Klettern keine Handschuhe anziehen, also muß er sich beeilen. Der Investigator gibt sein Placet. Robert steigt in die Fassade ein, erklimmt einen Pfeiler und erreicht den Vorsprung der ersten Fassade. Er verankert die Stiefel in dem rauhen Beton, zieht sich an den Fingerspitzen hoch, verkeilt die Beine zwischen dem Pfeiler und einem Fensterrahmen und übersteigt den Vorsprung der zweiten Etage. An der Brüstung hangelt er sich bis zum Büro des Professors entlang, wirft einen Blick auf die Straße und sieht Marc, der ihm den aufrechten Daumen zeigt, alles in bester Ordnung. Robert trägt einen Piepser bei sich, Marc kann ihn warnen, falls die Bullen oder der Professor plötzlich ankämen. Robert hockt sich vor ein Fenster, greift in den Rucksack und holt einen umgebogenen Schraubenzieher heraus. Er schiebt ihn zwischen Fensterrahmen und Zarge, drückt leicht nach 90
unten, hört ein leises Klacken. Geschafft, denkt er, drückt leicht gegen den Rahmen, das Fenster geht auf Kippstellung. Er packt den Schraubenzieher in den Rucksack zurück und greift um den Fensterrahmen, dreht den Griff und drückt das Fenster auf, vorsichtig, denn es hängt nur noch an einer Angel. Mit erhobenem Daumen gibt er Marc das Zeichen, das er jetzt reingeht. Vielleicht sollte ich mir damit das BAFÖG aufbessern, denkt Robert, als er einen Fuß zwischen zwei kleine Regale setzt und das Zimmer betritt. Er war heute schon mit dem König hier, aber da waren sie durch die Tür gekommen. Natürlich war das in der Absicht geschehen, den Raum auszukundschaften. Jetzt weiß Robert, wie er am besten ins Büro hereinkommt, ohne Spuren zu hinterlassen. Er zieht Latexhandschuhe über, läßt die Jalousien herunter und macht sich an die Arbeit. Als breche er jeden Tag in fremde Büros ein, durchsucht Robert die Regale, leuchtet sie mit einer Taschenlampe aus. Nichts auffälliges. Mit einem Dietrich öffnet er einen kleinen Schrank, findet ein paar interessante Akten, unter anderem über sich selber, aber das ist es auch nicht, wonach sie suchen. Verdammt, wenn der Mann einen Fetisch hat, wo kann er den verstecken? Robert setzt sich auf den Schreibtischstuhl, knipst die Taschenlampe aus und läßt seinen Gedanken schweifen. Wenn er in der Lage des Professors wäre, würde er... Er nimmt den Dietrich zur Hand, gibt der Lampe wieder Licht und versucht sich am Schreibtischschloß. Das Ding ist widerspenstig, flucht er, aber mit Zähigkeit und Geschicklichkeit öffnet er das Schloß, ohne es zu beschädigen. In der obersten Schublade liegen die üblichen Büromaterialien, Kugelschreiber, Bleistifte, Radiergummis, Heftstreifen, Büroklammern. Vielleicht hat eine Büroklammer magische Kräfte, denkt er, zieht die mittlere Schublade auf, auch nichts von Belang. Die unterste Schublade, üblicherweise für Akten reserviert, klemmt beim Herausziehen. Er setzt beide Hände an, verkeilt die Unterarme an der mittleren Schublade, um die Kraft besser unter Kontrolle zu haben, und setzt stärker an. Mit einem leichten Knacken fährt die rollengelagerte Lade auf. Robert schreckt zurück, als er die Lampe auf den runden Gegenstand richtet, der im Dunkel der Schublade erscheint. Es ist ein Schrumpfkopf. Robert schreckt auf, schließt die Augen und schluckt. Das darf doch nicht... Er richtet die Lampe wieder auf den Gegenstand. Verdammt, ja, es ist ein menschlicher Schädel, das Skelett entfernt, die Haut einbalsamiert und die Augen konserviert. Ganz vorsichtig faßt er den Kopf mit beiden Händen an den Haaren und nimmt ihn hoch. Tote Augen sehen ihn an. Ein normaler Schrumpfkopf hat einen Mund, bei dem die Lippen mit einem Lederband zugenäht sind. Nicht aber dieser. Das Gebiß ist recht gut zu erkennen, bis auf eine Sache: Es fehlt ein Schneidezahn. Behutsam setzt Robert den Kopf auf dem Schreibtisch ab. Er nimmt den Fotoapparat aus dem Rucksack und knipst einen halben Film mit dem Kopf und seinem Fundort voll. Dann setzt er ihn in die Schublade zurück und verschließt den Tisch, als ob nicht gewesen wäre. 91
Robert atmet tief durch. Sie hatten gerätselt, was sie im Büro des Schmitz-Elias finden würden. Einen Fuchsschwanz, vielleicht, aber der Professor fährt keinen Manta. So ein Schrumpfkopf, das hätte niemand erwartet. Er packt seine Gerätschaften wieder ein, sieht nach, ob er etwas vergessen hat, zieht die Rolladen hoch und klettert auf die Fensterbank. Von draußen schließt er das Fenster, das Büro liegt unberührt da, er ist nie drinnen gewesen. Um abzusteigen zieht Robert die Handschuhe aus, kriecht zu seiner Aufstiegsroute zurück und hangelt sich herunter. Der Abstieg ist meist schwieriger als der Aufstieg, so auch jetzt. Er muß sich einige Male orientieren, um die richtige Route zu finden, von der ersten Etage läßt er sich einfach herunterhängen und springt auf den Boden. Marc und Brigit kommen auf ihn zugelaufen, um zu hören, was er gefunden hat.
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Die Verbindung I. Es ist höchste Zeit, die letzten Einkäufe für das Weihnachtsfest zu tätigen. Ein Reportageteam des WDR steht in der Hohen Straße vor Stollwerck, um die Leute zu befragen, die auf den absolut letzten Drücker noch für ihre Gattin oder meine-Frau-darf-davon-nichtswissen-Freundin Geschenke besorgen. Wie jedes Jahr haben sich die Falten in den Gesichtern der Verkäuferinnen von Advent zu Advent tiefer in den Canyon der Weihnachtsfeste eingegraben. Das Fest der Liebe kündigt sich an, so sehen auch die Mienen der passierenden Einkäufer aus: hektisch, in Eile, getrieben von dem Konsumrausch und der Erwartungshaltung der Kinder, Frauen, Männer, Eltern... Manch einer reagiert auf die Frage der Reporterin des Kölner Fensters gar nicht mehr, vielleicht aus Absicht, vielleicht aber auch, weil die Einkaufenden weit weg von der Realität zu stehen scheinen. Marc fällt allein dadurch in der Menge auf, daß er schlendert und nicht rast. Die Reporterin quatscht ihn von der Seite an, ob er seine Einkäufe bereits erledigt habe. Nein, hat er nicht, gibt Marc zurück, aber dieses Weihnachten ist auch anders als alle vorherigen. Die Frau fragt nach, Marc verbirgt sich hinter einem dezenten Lächeln und deutet an, sie werde ihn morgen in den Nachrichten sehen. Ohne auf weitere Hintergründe einzugehen, gibt der Royale Investigator dem gemeinen Volke einen Wink zum Abschied und geht weiter Richtung Dom. Vor der Klagemauer trifft Marc einen Mann aus dem Unterstützerkreis der Mauer. Anfang der Woche hatte er sich mit dem Kreis in Verbindung gesetzt, weil er dachte, über diesen Draht am besten an die ergrauten aufrechten Verfechter der Studentenrevolten heranzukommen. Die Spürnase des Royalen Investigators hatte nicht getrogen, tatsächlich war es ihm gelungen, in Kerpen-Türnich einen ehemaligen Mitstreiter der Kommunarden in Berlin aufzutreiben. Marc geht auf einen Mann zu und quatscht ihn an. Der Angesprochene ist Mitte vierzig, leicht ergraute Schläfen, dezent solide unauffällige Kleidung. Gilbert ist, wie so viele andere auch, den langen Weg durch die Institutionen gegangen und dabei nicht ganz auf der Strecke geblieben. Er schlägt sich mit einer Boutique durch, die Frau hilft mit, eine langweilige Form der beruflich sanktionierten Monogamie. Ein Windzug bläst die Papptafeln an der Klagemauer durcheinander, die beiden Männer gehen zum McDonald, etwas für die Magenschmerzen essen. Für Marc ist es in diesem Jahrzehnt der zweite Hamburger. Den ersten hatte er an einem Sonntag morgen um fünf auf der Reeperbahn gegessen, nachdem er mit einem Freund im 'Grünspan' abgetanzt hatte und bevor sie auf den Fischmarkt gingen. Erstaunlicherweise hatte dieser Hamburger keine Schmerzen in der Magengegend zur Folge gehabt. Aber vielleicht hatte das auch an dem guten Beck's Bier gelegen... Heute ist wieder einer dieser Tage, an denen die Kids ein diebisches Interesse daran haben, Personen beim Verzehr eines Hamburgers zuzusehen, die dies selten tun. Marc rutscht eine Tomatenscheibe zwischen den wabbeligen Brötchenhälften durch und 93
benetzt den Ledertrenchcoat mit roter Farbe, vermischt mit dem grünweißen Dressing der Sorte 'Null Geschmack'. Er wischt den Klumpatsch dezent mit der Serviette ab, während zwei auf Pubertät geschminkte Mädels aus Zollstock auf ihn zeigen und kichern. Sie sitzen seit mindestens einer Stunde hier und geilen sich an den Typen auf, die in diesem Laden essen gehen. Wo trifft sich die Jugend von heute? Nicht in der Disco, nicht in der Tanzschule oder wie in Sarajewo im Bunker direkt zwischen die Augen, nein, es muß eine Fast-Food-Kette sein, um den Typ für's Leben zu finden. "Sie kennen diese Nase?" fragt Marc, während er die Serviette zusammenfaltet. Er legt Gilbert die Fotos von Schmitz-Elias vor, die er vorgestern gemacht hatte. "Auch den Mund und die Augen." Gilbert nimmt einen Schluck aus seinem Becher Cola mit zerstoßenem Eis. "Mit so einem Typ war ich Ende der 60er Jahre in Berlin." "Und Sie haben sicher dem Springer die Fenster eingeworfen, freie Liebe praktiziert und die Revolution gepredigt?" "Das Klischee stimmt so. Ich war nicht sehr aktiv, die Bullen haben mir einmal den Arm gebrochen, das hat mir gereicht." Gilbert legt die leere Schachtel des Hamburger Royal TS weg. "Aber der hier, der hat immer die großen Reden geschwungen, bis er auch ausgestiegen ist." Wie... ausgestiegen?" "Er hat irgendwas mit einer Sekte angefangen, hat mit toten Hühnern und solchen Dingen 'rumgemacht. Ich hab' mich um mein Studium gekümmert, der Mann ist total abgedriftet und hat seine Freundin sitzen lassen. Die Frau war gerade schwanger." "Ganz schönes Arschloch." "Ein richtiges Arschloch." "Was ist aus der Frau geworden?" "Sie hat eine Tochter bekommen und ist nach Hamburg gegangen. Dann ist der Kontakt zusammengebrochen." "Und der Mann?" "Das letzte Mal habe ich von ihm gehört, als er in den Süden der USA ging, da war er aber schon länger weg von der Uni." "Mitten im Vietnamkrieg?" "Er hat sich mit dem Klassenfeind solidarisiert, ja. Seitdem herrscht Grabesstille. Was wissen Sie über ihn?" "Er hat Karriere gemacht. Der Mann ist jetzt Professor am Germanistischen Institut der Universität zu Köln. Übrigens hat er auch einen Namen, Schmitz-Elias." "Dann hat er seinen Namen geändert. Er hieß Ende der 60er Jahre Schmitzhausen." Marc fällt der Hamburger Royal TS aus der Hand. Ohne ein Wort zu sagen springt er auf, reißt die Telefonkarte aus der Geldbörse und drängt ein Mädel ab, das gerade telefonieren will. Er wählt die Nummer des Wohnheims der ESG. Ein verschlafener Jurastudent meldet sich, Frechheit so früh anzurufen, es ist ja erst Mittag, der Typ braucht lange, bis er Brigit gefunden hat. Marc ist hektisch am Telefon, keine langen Liebesschwüre zur Begrüßung, er kommt ohne Umschweife zur Sache. “Wie heißt der Typ, der bei den 60ern und den Verrückten dauernd auftaucht?" "Ich seh' mal nach." Brigit legt den Hörer beiseite. Ungeduldig wartet Marc ab, trommelt mit den Fingern auf dem Apparat 94
herum, wartet eine Ewigkeit darauf, daß sich die Frau wieder meldet. Endlich hebt sie ab. "Schmitzhausen." "Bist du sicher, Brigit? Vollkommen sicher?" "Absolut." "Ruf bitte den König an, wir treffen uns in einer Stunde bei mir. Es ist dringend." “Was ist denn los?" "Ich habe die Verbindung." Er legt auf, ohne dumme Fragen seiner Freundin abzuwarten. Nachdenklich geht er zum Tisch zurück, setzt sich Gilbert gegenüber und versinkt in Schweigen. Marc deutet kurz an, was sich seit Beginn des Semesters alles in der Germanistik ereignet hat. Sie bringen ihre Tabletts weg, Marc springt in die Bahn herunter und macht sich auf den Weg zur Uni.
II. An einem Freitag Nachmittag sollte man es nicht unbedingt erwarten, Beamte bei der Arbeit zu finden, wobei sich die Frage stellt, ob Beamte jemals wirklich ARBEITEN. Vor allem einen Tag vor Weihnachten ist dies noch unwahrscheinlicher als an allen anderen Tagen des Jahres. Entgegen aller Regeln, die das Leben in den letzten Millionen Jahren aufgestellt hat, sitzt der Beamte Wepper in seinem Büro am Schreibtisch des Kommissar Krämer und erledigt die letzten Arbeiten an dem Fall des toten Professors Klotzmann. Eine Spur gibt es nicht, er ist auf Vermutungen angewiesen, selbst die Frage, ob es überhaupt Mord war, ist unklar. Einer von den Fällen, bei denen man am liebsten kotzen möchte. Wenn das Jahr 1995 begonnen hat, wird Krämer wiederkommen, soll der sich doch mit dem Driss herumschlagen. Wepper schlägt die Mappe mit den Notizen zu und steht auf. Plötzlich geht das Telefon. Wer kann das jetzt noch sein? Natürlich, der Royale Investigator. Wepper setzt sich hin, hört zu, wie der Kollege Amateur seine Ermittlungsergebnisse zum besten gibt. Die Spur mit den Büchern hat Krämer nicht weiter verfolgt, aber jetzt ergibt sich dadurch eine Wende. Der Hauch einer Chance zeichnet sich am Horizont der kriminalistischen Phantasie ab. Bisher gab es keine Verbindung in diesen Fällen, die man hätte nachweisen können. Der Investigator hat sie hergestellt. Marc bekommt die Privatnummer von Wepper. Vielleicht werden sie zu Weihnachten einem Professor eine ganz besondere Bescherung bereiten.
III. Merlin ist geschockt. In der letzten Nacht hatten sie eine dicke Fete im besetzten Haus in der Liebigstraße ausgerichtet, denn die Stadt hat mit ihnen einen Mietvertrag abgeschlossen. Ein Sieg über Bürokraten und Bourgeoisie, der auch ein Verdienst von Marcs Mitbewohner Martin ist. Der Streetworker hatte sich mit den Kollegen der Stadt auseinandergesetzt und den Vertrag mit beiden Seiten ausgehandelt. Zur Feier des Sieges hatten sie eine Spende der Caritas dazu benutzt, Bier einzukaufen und sich den Becher gegeben. Merlin war besonders aufgefallen, daß er saufen konnte, ohne in die Höhen der Esoterik abzudriften. Er drehte sich einen dicken Joint und kiffte was das Zeug hielt, es kam aber kein Bild und keine Stimme über ihn. Er mußte Kotzen, denn er ist das Trinken und Kiffen ja nicht gewohnt, nur... Mit 95
dem Dasein als Medium scheint es aus zu sein. Svenja hockt sich auf den Speicher. Sie will allein sein, selbst Merlin bleibt vor der Tür. Vor sich hat sie den Brief ihrer Mutter, das Foto ihres Vaters und des Professors, den sie gestern Abend im Auto gesehen hatte. Kein Zweifel, der Mann IST derselbe! Aber wie soll sie beweisen oder ihn auch nur danach fragen, daß sie seine Tochter ist? Marc hatte eine Menge über ihn erzählt, Schmitz-Elias hatte sich als überaus arrogant herausgestellt, persönliche Äußerungen waren aus dem Munde des Mannes nicht zu erwarten. Svenja selber würde keinen Zugang zu ihm finden, wenn nicht... Sie schlägt sich vor den Kopf. Wie konnte sie nur so blöd sein? Aus der Tasche ihres Jacke holt sie den Zahn heraus, den ihre Mutter ihr als Talisman mit auf die Reise gegeben hatte. Er wird dich zu deinem Vater führen, hatte sie gesagt. In die Nähe des Mannes war sie ja auch gekommen, nur ihn direkt zur Rede zu stellen, das erschien ihr unmöglich. Sie läßt in ihrem Kopf Revue passieren, was sich in den letzten Wochen abgespielt hatte. Alles schien nicht zueinander zu passen, bis Robert gestern in das Büro einbrach und den Schrumpfkopf fand. Svenja sieht sich das ekelerregende Foto an, das Robert gemacht hatte, sieht sich den Zahn an. DAS ist es! Das hat sie gemeint! In ihrem letzten Brief hat Svenjas Mutter auch den Namen ihres ehemaligen Freundes genannt, der sie schwanger sitzen ließ. Schmitzhausen hieß er.
IV. "Hast du bei Beate Uhse bestellt?" fragt Brigit, als Marc den Briefkasten der WG ausräumt. "Das ist nicht Teresa Orlowsky. Das ist auch nicht Dolly Buster." Er hält ihr die Kassetten unter die Nase. "Viel geiler. Das ist Schmitzhausen." Einen Tag vor Weihnachten haben Brigit und Marc also die erste Bescherung. Puschel beobachtet interessiert, wie Marc Martins Videorecorder entstöpselt, den Fernseher anliftet und das mediale Zentrum in sein Zimmer verlagert. Sie läuft dem Kabel hinterher, wirft sich auf den Stecker und hackt ihre Krallen in das Plastik. Ein Fußtritt von Marc schleudert das Raubtier an die Wand, sie wirft einen tödlichen Blick auf Marc und trollt sich Richtung Futternapf. Seit dem Aufenthalt in der Mikrowelle hat sich ein Kleinkrieg zwischen dem intelligentesten Wesen der Evolution und dem Dosenöffner entwickelt, der sich an den kleinsten Alltäglichkeiten entzündet. Vielleicht sollte sich nicht so hart zu ihr sein, denkt Marc, öffnet in der Küche eine Dose Wiskas "Extra teuer" und leistet bei der Herrscherin der WG Abbitte. Langweilig, denkt Brigit. Da redet ein Mann, vielleicht Mitte zwanzig, lange Haare, gammelige Klamotten, vor einer Masse von Studenten und predigt die Weltrevolution, das kosmische Bewußtsein. Die Repression der arbeitenden Massen durch das Establishment ist nur eine Folge der sexuellen Unterdrückung. Revolution für die sexuelle Freiheit! Wessen Freiheit, fragt sie sich, da reden Männer von der freien Liebe. Das war VOR Alice Schwarzer, die Frau als das willige Wesen, von Feminismus war diese Zeit noch weit entfernt. Sie denkt an diese Hardcore-Feministinnen, die ihr seit Jahren die Arbeit im AStA schwer machen. Vielleicht war damals doch alles einfacher... 96
Marc kommt mit der Kaffeekanne ins Zimmer. Sie rechnen kurz nach: Es ist früher Nachmittag, 12 Stunden Film auf Video, wenn sie nonstop sehen, wird es lange nach Mitternacht... Brigit nimmt den Becher in die linke und die Fernbedienung des Recorders in die Rechte. Schwupp, die Akteure gestikulieren wie wild, rennen über den Bildschirm, die Geschichte läuft im Zeitraffer ab, denn sie hat auf schnellen Vorlauf geschaltet. Die Bibel in zwei Stunden, das soll es sein. Die Sonne geht unter, zwei Kassetten haben sie durchgesehen, aber keine Spur des geliebten Professors gefunden. Beim Griechen um die Ecke schieben sie sich eine ordentliche Portion Gyros 'rein, ärgern sich über die kleinen Pommes, die Ernte in diesem Jahr brachte nur Schrumpfkartoffeln. "Er hat uns noch nicht von der Mattscheibe gegrüßt" sagt Brigit, der ein Kartoffelstäbchen unter der Gabel zerspringt. "Nein." Marc kaut auf einem krossen Stück Fleisch herum. "Hier und da sein Gesicht, aber nicht in vorderster Reihe." "Und warum hat er diese Videos dann verschwinden lassen?" "War er es?" Die Frage bleibt im Raume stehen. Sie beenden ihre Mahlzeit, stoßen mit dem Knoblauch auf und gehen zurück an die Arbeit. Wieder das gleiche Gesülze, denkt Marc und öffnet zwei Flaschen Reissdorf. Sie trinken einen deftigen Schluck und spucken dann fast den Fernseher voll, nicht weil das Bier schlecht ist, sondern weil der junge Schmitz-Elias, Verzeihung, Schmitzhausen eine Rede schmettert. Brigit schaltet den schnellen Vorlauf ab, spult zurück, sie sehen sich die Szene in normaler Geschwindigkeit an. In einem Hörsaal haben sich etwa hundert junge Leute versammelt. Sie sehen anders aus als die Studenten, die Brigit und Marc bisher gesehen hatten. Der indische Einfluß des großen Gurus ist unübersehbar, viele wallende Kleider bei den Frauen, lange Haare und Stirnbänder bei den männlichen Wesen, magische Anhänger um die Hälse. Aha, denkt Marc, das ist also der spirituelle Zweig der 68er. Ein Mann löst sich aus der Menge und tritt an das Rednerpult, Marc greift sich ein Foto, das muß er sein. Schmitzhausen legt los, die Ansätze seines heutigen Stiles sind für den geübten Hörer deutlich erkennbar, nur fehlt die ans diabolische grenzende Ausstrahlung. Marc schlackert mit den Ohren, als er auf den Inhalt der Rede des Vortragenden achtet. Der Mann erzählt vom kosmischen Bewußtsein, von der Magie, die aus der freien Liebe entströmt, von dunklen und weißen Einflüssen auf den Lebensweg. Die Revolution müsse auch die nicht durch blanke Wissenschaft erfahrbaren Bestandteile der menschlichen Existenz betreffen, müsse den Menschen in seiner Gänze ansprechen. Die geistige Erneuerung der Revolution müsse einhergehen mit der Verwirklichung der kosmischen Magie, die auf das Volk ausstrahle und die Massen mobilisiere, um den Einsturz herbeizuführen. Ist ja nett, was der Mann da sagt, denkt Marc. Heute ist er CDUMitglied, kein Wunder, daß er den Driss hat verschwinden lassen. Der Name Schmitzhausen wird eingeblendet, ein Interview, Marc und Brigit nicken sich zu, er ist es. Draußen schlägt die Uhr Mitternacht. 97
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Der Höhepunkt I. Eine Nacht hat Marc über den Fall geschlafen, hat die Bilder und Vermutungen im Traum und nach dem Aufwachen zu einem Ganzen zusammengefügt. Vieles macht Sinn, aber nicht alles. Ein Stück fehlt in dem Puzzle, daß der Royale Investigator aufgebaut hat. Er nimmt den Dietrich in die Hand, wie gut, daß er Robert den Trick beigebracht hat, eine Tür zu öffnen, ohne Spuren zu hinterlassen. Sonst hätten sie den Schrumpfkopf nicht gefunden. Brigit kommt aus dem Bad, rubbelt die Haare mit dem Handtuch ab. Sie geht in die Küche, bringt der Kaffeemaschine das Laufen bei und geht in Marcs Zimmer, um ihn von der Matratze zu werfen. Zu spät, er hat sich bereits erhoben, das Kondom der letzten Nacht diskret entsorgt und Puschel die morgendlichen Streicheleinheiten gegeben. Brigit gibt ihm einen langen Kuß, fröhliche Weihnachten, sie setzt sich neben Marc und Puschel auf die Matratze. Marc setzt die Katze sanft neben sich ab und wendet sich seiner Freundin zu. "Ich brauche deine Stimme." Er schiebt Brigit in den Flur, nimmt den Hörer und wählt eine Nummer in Rösrath-Forsbach. Wider erwarten meldet sich Schmitz-Elias am anderen Ende der Leitung. Sie wartet keine Frage ab, was der Anruf um diese Zeit soll, sondern legt ein Tuch über die Sprechmuschel. "Schmitz-Elias, Sie blieben jetzt ganz ruhig. Finden Sie sich um 18:00 Uhr in Ihrem Büro ein. Haben Sie verstanden?" Was soll das?" kommt es zurück. "Was wollen Sie?" "Heute Abend, 18:00 Uhr, in Ihrem Büro." Klick. Marc legt den Finger auf die Gabel. Er drückt Brigit sanft beiseite und wählt eine andere Nummer. Kaum hat es zweimal geklingelt, da hebt am anderen Ende der Leitung schon jemand ab. "Guten Morgen, Frau Wepper, ich bin untröstlich, Sie so früh aus dem Bett zu holen, aber ich muß Ihrem Gatten etwas sehr wichtiges mitteilen. Sagen Sie ihm bitte, der Royale Investigator sei am Telefon." Brigit hört auf der anderen Seite des Flurs, daß die Nachfrage etwas laut über den Hörer kommt. "Der Royale Investigator. Ihr Mann wird sofort wissen, wer ich bin." Marc sieht zu Brigit herüber, hört ein leises Murmeln im Hintergrund, eine Zeitung wird beiseite geworfen, Wepper stürzt an den Hörer. “Guten Morgen, Kollege" sagt Marc, der die Rolle des Investigators nun vollkommen verinnerlicht hat. "Wie geht's Krämer?" "Der macht die Schwestern schon wieder an, der kommt von der Intensiv 'runter." "Dann grüßen Sie ihn von mir. Ich hab' Neuigkeiten für Sie." Kurz und hemmungslos erklärt der Investigator dem professionellen Bullen den Stand seiner Ermittlungen. Schließlich verabreden sie, daß Wepper und vielleicht auch einige Kollegen mit den berühmten schwarzen Gesichtsmasken heute Abend in seiner Nähe sein werden, falls der Professors austicken sollte.
II. Schmitz-Elias will die Tür seines Büros aufschließen, aber als er an die Klinke kommt, merkt er, daß ihm bereits jemand zuvorgekommen ist. Marc hat den Schreibtisch und die Sitzgruppe in ein gemütliches Licht 99
getaucht. Die Reflexion des Lichts auf der Schreibtischunterlage zaubert einen hohlen Schatten auf seine Wangen, die Augen liegen tief in ihren Höhlen. "Guten Abend, Professor...", Marc macht eine lange Kunstpause, "Professor Schmitzhausen." "Wie sind Sie in mein Büro gekommen?" fragt der Professor nicht ganz ungerührt und nähert sich dem Schreibtisch. "Das sollte Sie nicht interessieren, Herr Professor", entgegnet Marc, "wir haben heute Wichtigeres auf dem Programm." Er winkt den Professor heran, damit er sich auf den harten Stuhl vor den Schreibtisch setze. Der perfekte Rollentausch. "Herr Professor, als Sie nach Köln kamen, um Ihrer Habilitation Genüge zu tun, verschwanden auf unerklärliche Weise Lehrmittel aus dem Fundus der Universität zu Köln. Darf ich?" Er zieht eine Zigarette aus einer selbst mitgebrachten Packung und benutzt ein Feuerzeug, das er sich von Brigit geliehen hat. Ungewöhnlich für den Weltmeister der Schnorrer, aber wer weiß, was ihm der Professor ins Kraut gemischt hätte. Schmitz-Elias bleibt still, macht eine zustimmende Geste. "Unterhalten wir uns doch einmal über die Bücher und die CDs und die Videos." Er zieht die Liste aus der Innentasche des Trench. "Sehen Sie hier, Professor, wir haben uns die Mühe gemacht und die Themen aufgelistet. Zwei Themen ziehen sich durch wie die Grenze durch Deutschland: Die 68er und Voodoo-Zauber." "Was habe ich Ihrer Ansicht nach damit zu tun, Koster?" "Ich frage: Warum sind Sie der Einladung gefolgt?" Der Investigator sieht den Professor eindringlich an, der gibt aber keine Antwort. Gemütlich streift Marc die Zigarette im Aschenbecher ab. "Es gibt einen Namen, einen einzigen Namen, der bei beiden Themen vorkommt. Wir mußten lange danach suchen." Marc drückt die Zigarette im Ascher aus, steht auf und geht um den Schreibtisch herum. "Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, Herr Professor." "Ich habe nicht viel Zeit, kommen Sie bitte zur Sache." "Wir haben Zeit, Herr Professor, viel Zeit. Mehr als sie denken." Marc atmet tief durch. "Da war Ende der 60er Jahre ein junger Student der Germanistik, hochmotiviert für sein Fach, angetan aber auch von den Unruhen der damaligen Zeit, von der Chance, etwas verändern zu können und dabei in der ersten Reihe zu stehen. Er mischte sich unter die Massen, und mindestens einmal hielt er einen Vortrag über die Bedeutung des kosmischen Bewußtseins für die Weltrevolution." Schmitz-Elias umklammert die Rückenlehne seines Stuhls und atmet tief durch. Marc sieht es scheinbar beiläufig, registriert die unbewußten Äußerungen des Professors aber sehr genau. "Dieser Mann ließ an der Universität zu Köln alle Bücher verschwinden, die auf sein früheres Leben hindeuten. Und sehen Sie mal, Herr Professor, ich habe hier ein hübsches Foto von dem Mann, wie er vor einem Vierteljahrhundert aussah." Marc holt ein Foto aus der Tasche, das er gestern vom Bildschirm abfotografiert hatte. "Das Foto ist von einer Rede eines Studenten der Germanistik Ende 1968. Wo waren Sie um diese Zeit?" Der Professor antwortet nicht, sondern holt nur ganz langsam eine Pistole aus der Jackentasche. Marcs Puls rast los, aber er ist Schauspieler genug, um äußerlich vollkommen cool zu bleiben. "Bei dem Mord an Professor Klotzmann hat es keine Spuren gegeben. Sie wollen doch jetzt keinen Ärger haben, 100
Schmitzhausen?" "Reißen Sie sich ein Haar aus und geben Sie es "Nein. Kein Voodoo-Zauber heute." Marc bleibt ruhig stehen.
mir."
III. Es ist Weihnachten, der schönste Abend des Jahres mit der Gans im Backofen und dem romantischen Abend zu zweit. Jedenfalls hatte Frau Wepper sich das so vorgestellt. Als ihr Mann am Nachmittag das Haus verließ, hätte sie ihm am liebsten ins Gesicht gebrüllt, daß er gar nicht wiederzukommen brauchte. Nun, so weit war es nicht gekommen, aber innerlich kocht sie stärker als die Gans im Backofen. Dafür hat ihr Gatte die innerliche Befriedigung, den ersten Einsatz seines Lebens selbständig leiten zu dürfen. Mit einem Dutzend SEKKollegen hat er sich in einer unauffälligen Seitenstraße direkt neben dem Philosophikum postiert und hört mit, was der Royale Investigator mit dem Professor redet. Offensichtlich hat der Professor eine Pistole, aber die Situation spitzt sich noch nicht zu. Jetzt den Flur zu besetzen, wäre möglicherweise der Auslöser für eine Eskalation. Das sollte man besser jetzt nicht wagen. Der erste Einsatz in Eigenverantwortung braucht nicht mit Blutvergießen zu enden. Die Luft im Passat der Einsatzleitung ist stickig, der Fahrer muß die Nebelschwaden mit der Hand beiseite wedeln, um überhaupt die Frontscheibe sehen zu können. Auf dem Rücksitz raucht eine Frau eine Zigarette nach der anderen. Brigit hört das Gespräch mit. Sie wollte nicht mit in die Höhle des Löwen, aber dabeisein, wenn sie ihn enttarnen. Außerdem braucht Wepper ihre Hilfe, denn sie kennt Schmitz-was-auch-immer besser als er. Die Rollen sind klar verteilt: Brigit ist das Hirn, Marc der Dickkopf unter den Ermittelnden. Wepper bittet Brigit, weniger zu rauchen, ein sinnloses Unterfangen. Wie er sich der Frau hinter sich zuwendet, sieht er nicht, daß eine junge Frau durch das Gebüsch huscht und dem Hintereingang des Philosophikums zustrebt.
IV. "Sie glauben, Sie haben gewonnen, Koster?" fragt der Professor, der die Pistole auf den Schreibtisch gelegt hat. "Es sieht anders aus.” "Nein, Schmitzhausen. Sie haben ein paar Fehler begangen." Marcs Puls hat sich inzwischen wieder normalisiert, trotz des Laufs, der auf ihn gerichtet ist. Er setzt sich auf den Bürostuhl hinter den Tisch. "Ich darf doch an ihren Schreibtisch gehen?" Marc setzt den Dietrich an, wie Robert es getan hatte, zieht die unterste Schublade auf und schaudert leicht, als er den Schrumpfkopf sieht. Er holt den Kopf behutsam aus der Schublade, sieht ihn drehend an und setzt ihn auf den Schreibtisch. "Haben Sie ihn gekannt?" fragt Marc und zündet eine neue Zigarette an. "Es ist ein Souvenir und mehr... Aber davon haben Sie keine Ahnung." “Da wäre ich mir nicht ganz so sicher, Schmitzhausen. Dieser Kopf ist das Zentrum Ihrer Macht, er konzentriert alle Ihre Kräfte, die Sie im Laufe der Jahre erworben haben. Würde ich ihn zerstören, so verlören sie einen Teil ihrer Macht." Er zieht an der Zigarette. "Aber deswegen bin ich nicht hier, Schmitzhausen." "Sondern?" "Mord. Ganz einfach Mord." 101
Ein diabolisches Grinsen fährt über das Gesicht des Professors. "Sie haben nicht den Hauch einer Spur, Koster. Sie können mir nichts nachweisen." "Ich vielleicht nicht. Aber Sie haben die Polizei auf Ihren Fersen. Und die wissen inzwischen auch, woran Sie sind." "Das wird nicht lange währen. Die Polizei hat ebensowenig eine Spur wie Sie." "Unterschätzen Sie mich nicht, Schmitzhausen." Marc greift in die Innentasche seines Trench. "Sie haben zum Beispiel nicht gemerkt, daß ich Sie vorgestern in eindeutiger Pose auf Platte gebannt habe." Der Professor sieht die Fotos, die Marc neben dem Schrumpfkopf ablegt. Mit jedem Foto sinken seine Mundwinkel weiter herab, graben sich die Falten um den Mund tiefer ins Gesicht. Marc sieht befriedigt die Veränderungen im Gesicht des Professors und fingert eine Zigarette aus der Packung. Zwischen beiden Männern entsteht über endlose Sekunden eine Stille. Die sprichwörtliche Stecknadel könnte fallen, man würde sie hören. Das einzige Geräusch, daß durch den Raum erschallt, ist das Tapsen leichter Schritte im Flur. Das kann kein Bulle sein, denkt Marc, nur einen Wimpernschlag bevor die Tür aufgedrückt wird. Die Zigarette fällt ihm aus der Hand. Es ist Svenja. "Was machst du denn hier?" Marc fährt aus dem Sessel hoch und geht auf sie zu. Schmitzhausen nimmt die Pistole in die Hand. "Du wirst dich gleich über mich wundern." Sie drückt Marc langsam Richtung Schreibtisch. "Und er auch", sagt sie, auf Schmitzhausen deutend. Im Wagen vor der Tür reißt Wepper die Augen auf. Wer, verdammt noch eins, ist diese Frau? Er gibt dem Leiter des SEK-Kommandos einen Wink, daß sich die Männer fertigmachen. Aber leise, sagt er über Funk, leise, keiner in dem Zimmer darf hören, daß wir kommen. Der Professor will auf die junge Frau anlegen, läßt aber dann die Waffe sinken. Er erkennt die Frau wieder, die ihn gestern Abend am Weyertal angehalten hatte. Dieses Gesicht kommt ihm bekannt vor, obwohl er sie bis gestern noch nie gesehen hat. Svenja setzt sich auf den Schreibtisch, sie macht auf die beiden Männer einen erstaunlich selbstsicheren Eindruck. "Ich habe hier ein Foto," hebt sie an, "daß mir meine Mutter mitgegeben hat. Ein Foto von meinem Vater, der sie '69 hat sitzen lassen." Sie präsentiert das Foto, legt es neben Marcs Videofoto. "Wahrscheinlich erfährt mein Vater jetzt erst, DASS er eine Tochter hat." Die beiden Fotos zeigen denselben Mann. Svenja ist sich ihrer Sache jetzt absolut sicher. Dem Professor und dem Royalen Investigator gehen die Adamsäpfel in die Höhe. "Verdammt, SIE ist seine..." knallt es Marc durch den Schädel. Svenja greift in die Tasche ihrer Jeans und holt einen Gegenstand heraus. "Meine Mutter hat mir diesen Talisman hier mitgegeben, damit er mich zu meinem Vater führt." Sie nimmt den Zahn und setzt ihn in die Zahnlücke des Schrumpfkopfes. Er paßt genau hinein. "Sie selber kann meinen Vater nicht mehr suchen, denn sie liegt im Sterben. Krebs im Endstadium." Svenja steht auf, geht ans Fenster und sieht hinaus auf den Albertus-Magnus-Platz, auf dem sich der 102
Schneefall ankündigt. "Sie hat mir von dem Studenten erzählt, mit dem sie damals befreundet war. Und sie hat mir auch von einer schwarzen Messe erzählt, die sie mit ihrem Freund veranstaltet hat. Danach ist er verschwunden, in die USA und sonstwohin. Daß er Vater geworden ist, hat er gar nicht mehr mitbekommen. Ich bin ohne ihn aufgewachsen." Sie wirft einen kurzen Blick auf den Professor. "Und eines hat sie mir gesagt: Wenn sie stirbt, dann werden die Mächte der schwarzen Magie endgültig von ihm Besitz ergreifen. ICH bin die einzige, die das verhindern kann." Svenja geht zurück in den Raum. Schmitzhausen steht auf und geht ebenfalls zum Fenster, zieht den Vorhang zu. "Es stimmt, wir haben damals die Messe abgehalten. Als ich am nächsten Morgen aufgewacht bin, wußte ich, daß etwas mit mir passiert war, ich hatte das Gefühl, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben. Es war nicht wirklich so, aber das gleiche Gefühl. Und es war die gleiche Machtfülle." Er reibt sich mit dem Lauf der Pistole am Kopf. "Ich bin in die USA gefahren und habe gelernt, wie man Menschen über weite Entfernung tötet, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich habe gelernt, wie man Menschen über Telepathie beeinflußt. All das hat mir geholfen, meine Karriere voranzutreiben." "Bis Sie den Bogen überspannt haben." Marc zündet sich eine neue Zigarette an, wobei ihm die Finger zittern. "Erst die Bücher, die Videos, dann die Toten, alles in deutlichem Zusammenhang mit Ihnen, Schmitzhausen. Das zeugt nicht von überragender Intelligenz." Er nimmt einen tiefen Lungenzug. "Sie sollten die kleinen grauen Zellen anderer Menschen nicht unterschätzen." "Vielleicht war ich zu voreilig. Aber Sie, Koster, werden MICH nicht mehr verraten." Der Professor legt die Pistole auf Marc an. "Nichts und Niemand wird mich daran hindern, meinen Weg zu gehen." "Doch." Svenja stellt sich vor Marc. "Niemand hat mir gesagt, was ich tun soll, aber jetzt weiß ich, warum meine Mutter mich nach Köln geschickt hat." "Gehen Sie da weg. Sie machen sich unglücklich." "Vater, Du wirst nicht schießen." Svenja greift Marc an das Gesäß, denn dort hat er das kleine Holzschwert stecken, daß ihm der König gegeben hatte. Was will sie mit dem mickrigen Ding, denkt er. Sie nimmt es vor die Augen, fixiert es, während der Mann gegenüber zögert, einen Schuß abzugeben. Marc reißt die Augen auf, denn das mickrige Ding scheint plötzlich zu leuchten, hell zu leuchten. Nicht nur das, der Lichtschein wird auch immer länger, bis er länger als Svenjas Arm ist. Ganz langsam nimmt sie das Schwert und geht auf den Professor zu. Vor den Fenstern ertönt ein Donnergrollen, Schnee fällt aus allen Wolken, der Boden des Büros zittert wie bei einem Erdbeben. Der ganze Raum ist in ein gleißendes Licht getaucht, heller als die Sonne im Juli. Svenja geht bis auf eine Armlänge an den Professor heran, das gleißende Schwert vor sich haltend. Der Professor stolpert zurück, mit einem panischen Ausdruck in den Augen. "Nein, nicht das..." stammelt er vor sich hin, auf der Stirn bilden sich Schweißperlen. Marc nimmt die Hand vor die Augen, es ist viel zu hell im Raum, um etwas erkennen zu können. Svenja holt nicht lange zum Schlag aus, sondern donnert Schmitzhausen die Klinge aus Licht 103
gegen den Hals, trennt den Kopf von seinem Körper. "Nein!" brüllt Marc, doch es ist zu spät. Der Lichtschein geht durch den Hals des Professors wie ein heißes Messer durch Butter, hinterläßt eine weißglühende Spur, eine Detonation in Licht folgt dem Schwertstreich, die Augen können die Helligkeit nicht mehr fassen. Marc sieht die Knochen der Finger seiner Hand wie bei dem Blitz einer H-Bombe. Vater und Tochter verschmelzen zu einer sonnengleichen Lichtgestalt, die durch die Vorhänge hinaus auf den Albertus-MagnusPlatz strahlt. Im Restaurant des Colonius sitzt ein älteres Ehepaar, die beiden wenden ihre Köpfe der Inneren Kanalstraße, dem Widerschein zu, der die ganze Universität zu erhellen scheint. Von einem Augenblick auf den anderen verlöscht die gleißende Helligkeit. Schmitzhausen fällt in sich zusammen wie ein nasser Sack, jeglicher Kraft beraubt, doch der Kopf ist noch auf dem Rumpf. Er schlägt ohnmächtig auf dem Boden auf. Ein mickriges Holzschwert fällt zu Boden. Svenja atmet tief aus, als sie sieht, daß das Werk beendet ist. Dann tut sie es ihrem Vater gleich und fällt in Ohnmacht. Marc atmet tief durch und fällt nicht in Ohnmacht, geht zu den beiden Bewußtlosen hin. Er nimmt die Pistole des Professors, entsichert sie und legt sie auf dem Schreibtisch ab, ohne die Fingerabdrücke zu verwischen. Vorsichtig nimmt er Svenjas Arm und fühlt den Puls. Sie lebt noch. Auch der Professor atmet noch. Er geht zum Schreibtisch, will nach dem Funkgerät an seinem Revers greifen, durch das die Bullen unten vor dem Eingang mithören konnten, was Sache ist. Doch er braucht keine Hilfe mehr zu rufen. Die Tür fliegt mit einem lauten Krachen auf, ein maskierter Bulle wirft sich mit vorgehaltener MP auf den Boden, zwei weitere stürmen über ihn hinweg. Marc hebt lethargisch die Hand. "Ist alles in Ordnung", ruft er den Bullen zu. Sie merken recht schnell, was Sache ist, sichern die Waffen. Wepper betritt den Raum und geht auf den Professor zu. Brigit kommt herein, wirft Marc einen Blick zu, sieht Svenja auf dem Boden liegen und stürzt zu ihr hin. Sie kniet neben ihr nieder, nimmt ihren Kopf sanft auf den Schoß und streicht ihr über die Wange. Svenja schlägt benommen die Augen auf, Brigit flüstert ihr sanft ins Ohr. Es ist vorbei, wir sind in Sicherheit. Marc tritt neben den Assistenten. "Lassen Sie dem Professor Armreifen anlegen und rufen Sie den Krankenwagen, Wepper. Wir sind am Ende." Er geht zu Svenja und Brigit hin, nimmt eine Hand von Svenja in die seine und sieht Brigit in die Augen. Verdammt, es ist vorbei, denken sie. Auf einer Krebsstation im Hamburg ringt eine Frau mit dem Leben. Gerade in dem Moment, als ihre Tochter ihren Vater in Köln nahezu enthauptet, richtet sie sich auf. "Es ist zu Ende." Sie sackt zurück in das Kissen und atmet ein letztes Mal aus. Aus dem Meßgerät für ihre Körperfunktionen ertönt ein lauter Piepton. Eine Schwester kommt herbeigelaufen und schaltet das Gerät ab. Sie drückt der Toten die Augen zu.
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Epilog I. Merlin nimmt ihre Hand, als sie sich in die Gruppe der Trauernden einreiht. Marc kann nicht an sich halten und gähnt unverhohlen, Brigit stößt ihm sanft in Rippen. Außer den vier schwarz gekleideten jungen Menschen sind ein Pfarrer, einige Sargträger und eine Abordnung der Kollegen der Verstorbenen anwesend. Nicht viele Menschen, aber genau die, mit denen die Tote in den letzten Jahren Kontakt hatte. Vielleicht deswegen ein ehrlicher Abschied. Svenja unterhält sich mit dem ehemaligen Kollegen, der mitgeholfen hatte, sie zu finden. Ein kurzes Gespräch, dann stößt sie zu den anderen dreien. Sie gehen einen Aschenweg entlang, eine Allee, die den Himmel durch ihre zusammengehenden Baumkronen vergessen macht. Die Kälte geht an die Substanz, Brigit läßt sich von Marc die Finger wärmen, während sie zum Auto gehen, ohne daß sie ein Wort miteinander reden. Es ist jetzt nicht die Zeit, Reden zu schwingen oder belangloses Gelaber von sich zu geben, weil einem nichts einfällt. Sie hat unglaublich hart gekämpft, hatte der Arzt Svenja als nächster noch lebender Verwandter erzählt, als müßte sie unbedingt noch ein Ziel in ihrem Leben erreichen. Svenja wußte, welches Ziel, aber das behielt sie für sich. Der Körper war schon soweit von innen zerfressen, daß sie eigentlich gar nicht mehr hätte leben dürfen. Allein die Schmerzmittel, die sie geschluckt hat, wären für jeden anderen Menschen der sichere Weg in die Pathologie gewesen. Und dann das merkwürdigste: Genau zu Weihnachten sei sie gestorben, ganz plötzlich und... mit einem Lächeln auf den Lippen! Es fügt sich genau ins Bild, hatte Svenja gedacht, sie kennt die Hintergründe, für die Ärzte sollte es besser nur ein außergewöhnlicher pathologischer Fall bleiben. Von der schwarzen Messe brauchen sie nichts zu erfahren. Die verfrorene Gruppe kommt am Golf Diesel an, Brigit sperrt die Fahrertür auf, das Schloß auf der Beifahrerseite ist endgültig hinüber. Svenja und Merlin quetschen sich auf die Rückbank und mummeln sich ein, Marc reibt Brigits rechte Hand, damit soweit Gefühl in die Finger zurückkehrt, daß sie den Schlüssel in die richtige Öffnung bekommt. Gestern waren sie aus Köln angereist, hatten in der Zeit zwischen den Jahren eine freie Autobahn vorgefunden und den Diesel gnadenlos getreten. Das hatte Folgen. Die Heizung gab hinter Bremen ihren Geist auf, der Pannendienst machte einen Voranschlag, der den Zeitwert überstieg, und natürlich hat um diese Zeit des Jahres keine Werkstatt auf. Fahren wir also ohne Heizung, hatten sie sich gesagt. Gestern ging das auch problemlos, aber in der Nacht wurde es deutlich kälter... In einem kalten Auto durch das winterliche Hamburg zu fahren, bringt einem die Stadt auf eine ehrliche Art näher, als wenn die Kiste angenehm warm ist. Sie kommen am Bahnhof vorbei, sehen die Junkies mit der Nadel im Arm und dem Polizeiknüppel im Nacken herumstehen, denen ist genauso kalt wie uns, denken sie. Endlich kommen sie in der Straße an, in der Svenjas Mutter ihre Wohnung 105
hatte, natürlich wieder kein Parkplatz frei. Brigit macht sich allein auf die Suche. Die drei anderen gehen in die Wohnung hoch, schmeißen die Heizung an. Merlin setzt einen Tee auf, Svenja räumt den Kühlschrank leer, Zeit für einen Leichenschmaus, das sind sie ihrer Mutter schuldig.
II. Dafür, daß er vor einer Woche fast die Reise in die ewigen Jagdgründe angetreten hatte, hat sich Kommissar Krämer erstaunlich schnell erholt. Zu Weihnachten hatte man ihn von der Intensivstation verlegt, und bevor das Jahr zu Ende geht, liegt er schon zu Hause im Bett. Da er zu den von ihrem Job überzeugten Bullen gehört, hält es ihn natürlich nicht auf dem Krankenlager. Er ruft Wepper an, hört dessen Frau ebenso wie seine Freundin Galle spucken und trifft sich mit ihm im Waidmarkt. Tatsächlich hatte der Royale Investigator recht. Nach dem Zusammenbruch des Professors hatten Wepper, Brigit und der Investigator bis in den frühen Morgen zusammen gesessen und die Informationen geordnet, die sie auf ihre verschiedenen Arten des Nachforschens zusammengebracht hatten. Svenja war später dazugestoßen, trotz ihrer Ohnmacht war sie recht schnell wieder auf den Beinen. Marc und sie hatten den Lebenslauf des Professors erforscht und konnten ihn unter Beteiligung des vollprofessionellen Bullen ordnen. Endlich stellte sich ein Bild heraus, WARUM der Mann dazu getrieben war, Menschen in den Tod zu treiben. Kein einfaches Psychogramm: Ein Vierteljahrhundert hatte sich der Mann in den Wahn hineingetrieben, Karriere machen zu müssen, um den Kräften zu dienen, die er genau für den Fortgang seines berufliches Daseins benutzt hatte. Ein Teufelskreis. Svenjas Mutter hätte Recht behalten, wenn sie nicht dazwischengefunkt hätte, der Mann hätte wahrscheinlich in zehn Jahren die Dudenredaktion ebenso unter sich gehabt, wie er Marcel Reich-Ranitzky als Literaturpapst abgelöst hätte. Viel kann der Professor jetzt nicht mehr anstellen. Der Mann sitzt in der geschlossenen Forensik und wird Tag und Nacht beobachtet. Es scheint, daß von ihm nun keine Gefahr mehr ausgeht, denn er ist vollkommen lethargisch, leer, die Energie, die ihn jahrelang getrieben hatte, ist verpufft wie eine Atombombe, von der nach der Detonation auch nicht mehr zu finden ist. Den lieben langen Tag hängt der vormals energische Professor auf der Station herum, ist ansprechbar, aber er folgt der Konversation kaum. Aber er hatte verdammtes Glück, daß Svenja kein richtiges Schwert hatte. Über seinen Hals zieht sich ein Streifen einer Brandspur. Es wäre ein sauberer Schnitt geworden, sagte der untersuchende Arzt, sie hätte den Kopf glatt vom Rumpf getrennt. Vielleicht hätte man auch einen Schrumpfkopf aus ihm machen können, hatte der Mann im Kittel gewitzelt. Schmitzhausen war mental zu abwesend, als daß er darüber noch hätte Lachen können. Krämer läßt sich einen Überblick über den Stand der Ermittlungen geben. Er hat in seiner Laufbahn bei der Mordkommission zwar schon eine Menge Leichen gesehen, aber das Foto des Schrumpfkopfs läßt ihn immer wieder erschaudern. "Das war sein Talisman?" Krämer hält Wepper das Foto vor. "Der Fetisch, mit dem er seine magischen Kräfte 106
zusammengehalten hat." Krämer schüttelt den Kopf. "Zwei Menschen mußten sterben, weil ein Mann unbedingt der größte Germanist aller Zeiten werden wollte." "Dahin führt germanistischer Größenwahn. Das hatten wir ja schon oft in diesem unseren Lande." Krämer sieht Wepper schräg an.
III. In den letzten Wochen hatte Merlin sich mehrfach die Flasche gegeben, am Joint gezogen, aber... Er bekam keine Eingebungen mehr. Mit einem Paukenschlag war für ihn ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen, der in seiner Pubertät begonnen hatte. Endlich war es ihm aufgetan, wenigstens ansatzweise ein halbwegs normales Leben führen zu können. Der Bruch mit der Kölner Szene kam ebenso über Nacht wie die Abwesenheit seiner übersinnlichen Kräfte. Was er in den letzten erlebt hatte, ist nicht unbedingt wert, fortgesetzt zu werden. Der Umzug nach Hamburg ist der Kick, ein neues Leben anzufangen. Endlich in einer richtigen Wohnung, nicht mehr mit der dumpfen Angst im Nacken, von den Bullen geräumt oder von Skins beim Schnorren zusammenschlagen zu werden. Aber was nun? Svenja stellt sich die gleiche Frage. Die Eigentumswohnung ist nach dem Tod ihrer Mutter an sie gefallen, schuldenfrei, ein seltenes Ereignis. Jetzt teilt sie die Räumlichkeiten mit Merlin. Solange sie in Berlin Platte gemacht hatte, war etwas in ihr gewesen, ein unbestimmtes Gefühl von Besessenheit. Welche Besessenheit und welche Kräfte ihr innewohnten, erfuhr sie erst, als sie ihrem Vater beinahe den Kopf abschlug. Das war das Ende, nicht für die beiden beteiligten Menschen, sondern für ihre Kräfte. Der Grund, weshalb SIE kein normales Leben führen konnte, ist erledigt. Bei IHM sieht es ähnlich aus. Was fängt ein Mensch so Anfang 20 mit seinem Leben an? Merlin wälzt eine Broschüre des Hamburger Sozialdezernenten für Aussteiger aus der Drogenszene. Vielleicht sollten sie erstmal die Schule zu Ende bringen...
IV. "Von dieser Fahrt werde ich noch erzählen, wenn ich in Rente bin!" Marc steigt mit steifen Gliedern vom Fahrersitz des Golf herunter. "Ich weiß gar nicht, womit ich dauernd auf das Gaspedal getreten bin. Füße sind das nicht mehr, das sind Eisblöcke." "Beklag' dich nicht, Junge." Brigit macht eine abwiegelnde Geste. "Sei froh, daß du nicht laufen mußtest. Oder schieben. Stell' dir vor, ich hätte dich mit der Peitsche angetrieben, damit du die Kiste nach Köln zurückschiebst." "Du bist pervers." "Ist das allein meine Sache?" Sie sieht an sich herunter, hatte in Hamburg eine neue Hose gekauft, ein wild gemustertes enganliegendes Stück Stoff. "Alles dein Einfluß." "Schön. Das mache ich gerne, andere Leute beeinflussen. Vielleicht sollte ich auch lernen, wie man Voodoo-Priester lernt." "Halt's Maul und trag' deine Tasche." Brigit donnert Marc die Reisetasche vor die Brust, daß ihm die Luft mit einem Pfeifen aus den Lungen fährt. Die WG ist leer, Lisa ist zu ihrem 107
Freund gefahren, Martin auf Skiurlaub. Die lange Abwesenheit eines Dosenöffners hat dazu geführt, daß Puschel sich freut, einen Menschen wiederzusehen. Sie streift Marc um die Beine, er versucht, sich zu seinem Zimmer durchzukämpfen, aber es gelingt ihm nicht. Der wahre Herrscher der WG bugsiert ihn zum Küchenschrank. Betont langsam öffnet Marc die Dose billigsten Katzenfutters von Aldi, greift sich die Futternäpfe und gießt Milch ein. Mit einem Kopfnicken bittet er Puschel auf die Spüle. Brigit tritt neben ihn. "He, habt ihr den Krieg beendet?" "Wir haben Frieden geschlossen." Er richtet sich auf, sieht Brigit ins Gesicht und sieht in ihren Augen den Widerschein eines Schrumpfkopfs, dem ein Zahn fehlt. Für Sekunden kommt ihm die Erinnerung an den Fetisch und seine Macht wieder hoch. Er schüttelt den Kopf. "Es ist vorbei."
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