Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 725 Der Erleuchtete
Der programmierte Untergang von Peter Griese Der Todesplan ...
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Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 725 Der Erleuchtete
Der programmierte Untergang von Peter Griese Der Todesplan des Erleuchteten Auf Terra schreibt man die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide eine plötzliche Ortsversetzung erlebt. Atlans neue Umgebung, das ist die Galaxis Manam-Turu. Und das Fahrzeug, das dem Arkoniden die Möglichkeit bietet, die Spur des Erleuchteten, seines alten Gegners, wieder aufzunehmen, ist die STERNSCHNUPPE. Das Schiff sorgt für manche Überraschung – ebenso wie der junge Daila Chipol, der neue Gefährte des Arkoniden. In den sieben Monaten, die inzwischen verstrichen sind, haben die beiden schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums für Leid und Unfrieden verantwortlich waren. Während dieser Zeit hat Atlan schmerzliche Niederlagen hinnehmen müssen, aber er hat auch einige Erfolge für sich verbuchen können. So sind zum Beispiel die Weichen für eine Zusammenarbeit der verbannten Daila mit den Bewohnern ihrer Ursprungswelt gestellt worden – was sich positiv auf den Freiheitskampf der Daila gegen die Mächte des Neuen Konzils auswirken dürfte. Gegenwärtig ist Atlan mit seinen Gefährten, zu denen inzwischen auch Colemayn, der Weltraumtramp, und Mrothyr, der Rebell von Zyrph, gehören, zum Latos-Tener-System unterwegs. Der Arkonide ahnt nicht, daß dort ein heimtückischer Plan des Erleuchteten realisiert werden soll: DER PROGRAMMIERTE UNTERGANG …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide folgt einer fixen Idee. Das Pre-Lo - Der »Vortester« EVOLOS verfolgt einen tödlichen Plan. Tatar Taar - Ein Müller von Tener. Nemissa Pauh - Eine Partial-Telekinetin. Colemayn - Der Sternentramp hat einige Überraschungen parat.
Prolog Organisierte Macht besteht, bis sie wahrer Menschlichkeit begegnet. Aber wo findet man wahre Menschlichkeit? Arien Richardson zu Flora Almuth an dem Tag, als die Facette von Mesanthor einen Friedensvertrag mit Yog-Man-Jog schloß und dabei ihre Bedenken gegenüber dem Celester anmeldete, der Atlan in Alkordoom vertrat.
1. Er hatte sich wieder zurückgezogen. Die STERNSCHNUPPE, die ja in ihrer eigenen Art und Weise fühlte und lebte, akzeptierte das widerspruchslos. Ich nicht! Der Alte, der sich Colemayn nannte, mochte noch so viele Geheimnisse mit sich herumschleppen, für mich zählten andere Fakten. Mrothyrs Zustand, Chipols Aggressionen gegenüber seinen psionisch begabten Brüdern und Schwestern, die Suche nach dem Erleuchteten. Dieser Unbekannte hatte sich wie eine fixe Idee in meinem Kopf festgesetzt, und loslösen konnte ich mich nicht davon. Auch nicht jetzt, wo ich unabhängig,von der scheinbar sanften Erpressung der Kosmokraten war. Der Extrasinn behauptete wieder einmal, daß ich
mich auf ein undurchschaubares Vabanque-Spiel eingelassen hatte, aber das störte mich wenig. Colemayns Abwesenheit störte mich mehr. Der Sternentramp hatte sich in eine Ecke der STERNSCHNUPPE zurückgezogen. Seine komischen Kristallbrocken hatten ihm auch nicht mehr helfen können. Zumindest hatte er das gesagt. Chipol schlief in einem Sessel des Zentralraums der STERNSCHNUPPE, und Mrothyr war wieder einmal in tiefe Besinnungslosigkeit verfallen. Und mein Zustand? Ich war weit davon entfernt, mich zu beklagen. Bei wem hätte ich auch meine inneren Nöte auslassen können? Bei keinem, der in meiner Nähe war. Da waren nur der junge Chipol, voller Ablehnung gegenüber den Daila-Mutanten, Colemayn, mehr tot als lebendig, und Mrothyr, noch mehr tot als lebendig. Prüfe dein Inneres! forderte mein zweites Ich, der Extrasinn. »Halt's Maul!« reagierte ich. Der Logiksektor schwieg. Dadurch wurde mir erst richtig bewußt, wie einsam ich war. Wie vernarrt ich einer Idee nachrannte, wie sehr ich den Erleuchteten von Alkordoom, den man dort das Juwel genannt hatte, stellen wollte. Was, bei allen Geistern diesseits und jenseits der Materiequellen, verbarg sich hinter diesem Unnahbaren, der mit EVOLO eine Gefahr erzeugte, die selbst die Kosmokraten erzittern ließ? Eigentlich, so gab ich mir gegenüber freimütig zu, hatte mich das Jagdfieber erst richtig gepackt, als die Möglichkeit verschwunden war, freiwillig diese Mission abbrechen zu können. Heute erst sah ich, wie sehr mich diese »Hintertür« doch gehemmt hatte. Ich mußte frei sein in allem, was nur möglich war, vor allem in meinen Entscheidungen. Mit dem Ausweg hatten die Kosmokraten mir nicht nur meinen Spielraum gegeben. Sie hatten in mir auch einen ganz neuen Willen geweckt. Vielleicht beruht alles auf einem ganz und gar ausgekochten Plan, den die Mächte jenseits der Materiequellen ausgeheckt haben, meldete sich der
Logiksektor. Erst haben sie deine Situation als Orakel von Krandhor ausgenutzt und dir die Möglichkeit gegeben, diesem tristen Dasein ohne Bewegung zu entfliehen. Dabei ließen sie gleichzeitig in einem scheinbaren Entgegenkommen die Möglichkeit für dich offen, die übertragene Aufgabe nach eigenem Willen jederzeit beenden zu können. Sie lockten dich hinaus. Und du hast angebissen. »Vielleicht«, gab ich zu. Und als du Feuer gefangen hattest, als sich die Situation durch die Flucht des Erleuchteten zuspitzte, nahmen sie dir die Fluchtmöglichkeit. Sie kennen dich, alter Unsterblicher! Sie haben dich 186 Jahre lang in ihrer unmittelbaren Umgebung gehabt. Sie müssen jedes einzelne Atom deines Körpers abgespeichert haben. Sie verfügen über jedes Gran deiner Emotionen, sie können berechnen, wie du handeln wirst. »Du denkst wie du«, entgegnete ich hart. »Die Kosmokraten denken, handeln und planen ganz anders. Da ich nicht weiß, wie, weißt du es auch nicht. Ich weiß aber, daß sie nicht so denken wie du.« Du weigerst dich zu erkennen, daß du noch immer in irgendeiner Weise von ihnen abhängig bist? »Ich bin es nicht.« Mein Trotz war erwacht. »Sie sind abhängig von mir, denn wenn ich die Jagd auf den Erleuchteten beende, sind die Kosmokraten die Dummen.« Da hast du nicht ganz unrecht, lenkte der Extrasinn ein. Ich durchschaute dieses simple Manöver sofort. »Du willst mich nicht weiter reizen«, stellte ich fest. »Du merkst, daß meine Verfassung nicht gerade berauschend ist. So ist es, nicht wahr?« Daß ich keine Antwort bekam, besagte mehr als tausend Worte. Ich konnte auch gut auf jeden Kommentar verzichten, denn für mich allein räumte ich ein, daß es Zeiten gegeben hatte, in denen die Gefahr größer, meine Verfassung jedoch wesentlich besser gewesen war. Zugegeben, ich hatte ein paar leichte Depressionen. Der Mißerfolg
auf Kraupper hatte mir zu denken gegeben. Irgendwie trat ich auf der Stelle. Oder war ich zu ungeduldig? Oder war der Erleuchtete einfach zu fremd, zu verborgen, zu unheimlich, zu unnahbar? Oder war es die Ungewißheit, die sich hinter einem Namen, hinter Latos-Tener, und ein paar dazugehörigen Koordinaten verbarg? Würde ich dort wieder einen Reinfall erleben? Zog der Erleuchtete gar bereits hier in Manam-Tur die Fäden und spann sein Netz um meine Existenz? Wo bei allen Höllen des Universums, befand ich mich überhaupt? Was war das für eine Galaxis, in der ich einen Verrückten suchte, der den Kosmokraten am Zeug flicken wollte? Du denkst reichlich ungehobelt! warf mir der Extrasinn vor. »Schnauze!« antwortete ich, und mein zweites Ich schwieg tatsächlich. Manchmal wünschte ich mir, es abschalten zu können. Ich hatte eine vage Spur, die Spur nach Latos-Tener. Aber ich hatte keine Ahnung, was mich dort wirklich erwartete. Dem Erleuchteten durfte ich nicht zuviel Zeit geben. Je länger er ungestörten Manam-Turu seine Macht aufbauen konnte, desto größer und stabiler würde diese sein. Ich fühlte mich gehetzt. Aber, so tröstete ich mich sogleich, das war auch nur ein Ausdruck meiner augenblicklichen Situation, meiner Schlappe auf Kraupper, meiner inaktiven Begleiter. Es wäre besser, meldete sich der Logiksektor fast vorsichtig wieder, wenn du eine Pause einlegen würdest. Zumindest solltest du warten, bis Mrothyr wieder gesund ist. Als Kranker stellt er Ballast für dich dar. Das hast du bereits einmal mit aller Deutlichkeit erlebt. Aber scheinbar bist du im Augenblick für nichts aufnahmefähig. Diesmal war ich es, der auch in Gedanken auf jede Antwort verzichtete. Du benimmst dich wie ein störrischer Junge, bohrte der Extrasinn hartnäckig weiter. Ich hätte ihn erwürgen können, aber leider besaß er keinen Hals. Er hockte als Zweitbewußtsein irgendwo in meinem
Kopf, körperlos, gefühlslos, schlaflos, herzlos. Du willst dir etwas beweisen. Du bist in die Sturheit des alten Arkonidenreichs zurückgefallen! Wenn ich lachen könnte, so würde ich dich jetzt auslachen, verknöcherter Arkonidenfürst. Eine Niederlage, und schon verlierst du die Übersicht, setzt das Leben deiner kranken Begleiter erneut aufs Spiel und rennst einer fixen Idee dieses Latos-Tener her, hinter der sich nur eine neue Falle verbergen kann. Was willst du dir beweisen? Daß du noch der Alte bist? Antworte! Ich dachte nicht im Traum daran. Mit gemächlichen Schritten und ganz oberflächlichen Gedanken begab ich mich an die Steuerkonsole des Piloten. Von hier konnte ich alle wichtigen Informationen abrufen, ohne die PseudoIntelligenz der STERNSCHNUPPE bemühen zu müssen. Innerhalb von Sekunden lagen alle Informationen des Funk- und Ortungssystems, der Strömungsmeßfühler, des Hyperraumanalysators und des Strukturdetektors vor. Ich studierte die Daten der letzten Aufzeichnungen und registrierte nebenbei, daß sich der Extrasinn nun wohl endgültig in Schweigen gehüllt hatte. Zunächst entdeckte ich nichts Auffälliges. Erst beim zweiten Durchsehen des Ortungsbands stieß ich auf ein winziges Echo, das mir zunächst entgangen sein mußte. Und das auch die automatische Zentralüberwachung der STERNSCHNUPPE nicht bemerkt hatte. Ich ordnete die Aufzeichnung dem zeitlichen Verlauf zu, als ich mir ziemlich sicher war, daß es sich bei dem kleinen und leicht verschwommenen Echo um ein künstliches Objekt handeln mußte. Es mußte kurz nach dem Verlassen von Kraupper gewesen sein. Ich rekonstruierte mit Hilfe der Ortungsdaten die Flugbahn des unbekannten Objekts. Erst hatte es sich rasch Kraupper genähert, dann aber Kurs auf die STERNSCHNUPPE genommen. Es gab keinen Zweifel, daß wir geortet worden waren, während uns das im Trubel der Ereignisse entgangen sein mußte. Im Trubel der Flucht nach einer Schlappe! korrigierte mich der
Logiksektor mit unnachgiebiger Boshaftigkeit. Mit unnachgiebiger Logik, Trotzkopf! Dann war das Objekt aber in eine andere Richtung abgeschwenkt und sehr bald aus dem Bereich der Nahortung gelangt. Da die Fernortung nicht aktiviert gewesen war, konnte ich den weiteren Kurs nicht feststellen. »Bedeutungslos«', kommentierte ich halblaut diese Erkenntnisse. Meinst du, bemerkte der Extrasinn mit künstlicher Ironie. »Was willst du?« fragte ich reichlich grimmig zurück. Dich erheitern. Damit du aus deiner Misere kommst! »Pah!« entgegnete ich mit der gleichen Ironie. »Sorge dich um deinen verkorksten seelischen Zustand!« Witzbold! Ich habe keine Seele. Ich bin nur logisches Gehirn. Ein Segen, daß es so ist! Er hatte mich übertölpelt, denn wir redeten in unseren Gedanken wieder miteinander, obwohl ich ihm sein Schandmaul mehrmals verboten hatte. »Du bist ein größerer Zwang als die Kosmokraten!« versuchte ich mein zweites Ich in die Enge zu treiben. Womit du der Wahrheit sehr nahe kommst. Die Kosmokraten sind weit weg. Ich bin aber da. Und ich will dir helfen. Ich will dich aus deinem emotionalen Dilemma reißen. Du weißt, daß das Schiff sinkt. (Das ist eine Geschichte, Atlan! Hör zu!) Also, das Schiff sinkt. »Es wäre wirklich besser, wenn du deine dämlichen Gedanken für dich behalten würdest!« schrie ich innerlich heraus und legte dabei alle Intensität meiner Gedanken in diese Worte. Das Schiff sinkt, fuhr der Logiksektor unbeirrt fort. Chipol eilt zum Rettungsboot. Colemayn rafft sich auf und brüllt dir zu: Heh … »Colemayn kann nicht brüllen«, unterbrach ich den Extrasinn hart. Und laut! Zuhören konnte ja keiner. Chipol schlief. Mrothyr war ohne Besinnung, und Colemayn hatte sich irgendwo verkrochen, um aus seinem Kristall heilende Einflüsse herauszuholen. Er brüllt dir zu, setzte der Extrasinn seine mich reichlich ärgernden
Worte fort, daß die Frauen zuerst an Bord des Rettungsboots gehen sollen. Und du antwortest: ›Ja, glaubst denn, alter Sternentramp, dazu ist jetzt noch Zeit?‹ »Ich gebe dir ein paar andere Antworten.« Ich überprüfte noch einmal die Ortungsdaten und den Kurs des fremden Objekts. Vielleicht war das ein Handelsschiff gewesen, das mehr aus Neugier, eventuell um neue Geschäfte abzuschließen (oder aus sonstwelchen Gründen) uns kurz gefolgt war. »Ich vermute, daß du versucht hast, eine humorvolle Bemerkung zu konstruieren. Es ist dir mißlungen. Logik kann keinen Humor produzieren, nur Herz. Und dein ganzes Verhalten zeigt nur, daß du auf geistigen Abwegen bist. Und noch etwas, du Quälgeist, wenn du annimmst, daß ich in auch nur einer Sekunde die Fürsorge für meine Freunde vergesse, dann bezeichne ich dich als den letzten Dreck, den die …« »Du bist aufgeregt.« Colemayn stand neben mir. Er war plötzlich da, und ich hatte sein Kommen nicht bemerkt. »Evolution hervorgebracht hat«, hörte ich mich sagen. Und dann: »Wie geht es Mrothyr?« Der Sternentramp zog aus irgendeinem Winkel seiner Pelzkleidung ein kleines Stück von brauner Farbe und biß herzhaft hinein. Es mußte sich um Kautabak oder ein ähnliches Zeug handeln, das er sich von irgendwo besorgt hatte. Er kaute genüßlich vor sich hin, und von seinen merkwürdigen Schwächeanfällen war nichts zu merken. »Ich habe ihn versorgt«, sagte Colemayn in einem Tonfall; als würde Gucky lässig über jemand sprechen, den er mit seinen PsiFähigkeiten in die Schranken gewiesen hatte. Und doch klang es hier anders, menschlicher. Du spinnst hochgradig, mischte sich der Extrasinn ein. Keine Antwort von meiner Seite, denn ich wußte, wer überdreht war. Colemayns Augen strahlten eine unbändige Mischung von Gefühlen aus. Da war ein tiefes Vertrauen. Eine ehrliche Zuneigung.
Eine Bereitschaft, mir zu helfen. Eine Art von Vertrauen, die in mir Freude weckte. Nicht ein Millimeter an Ungeduld, Ungläubigkeit, an Zweifeln, an Fragen. Aber da war noch etwas aus dem Blinken seiner Augen zu erkennen. Ich wußte nicht, was es war. Es schien mir eine Mischung aus List, Erfahrung des Alters, Weisheit des Abgeklärten und … Erwartung zu sein. Ich fühlte mich berührt. Tief in mir rumorte es, als würde ein Kübel Felsbrocken über meinem Empfinden geleert. »Ich habe ihn versorgt«, wiederholte der alte Mann, den selbst eine Krankheit quälte. »Er wird überleben.« »Danke«, antwortete ich. »Du fühlst dich nicht wohl«, stellte der Sternentramp fest. Ich wich seinem bohrenden Blick aus. »Was bedrückt dich, Atlan? Hat dich dein Extrasinn geärgert?« Ich hatte fast das Gefühl, daß er meine Gedanken lesen konnte, und entgegnete: »So kann man es ausdrücken. Er versucht mir eine unsinnige Geschichte einzureden.« »Welche Geschichte?« Colemayns ruhiger Ton strahlte eine schier unendliche Geduld aus. Ich erzählte ihm von dem jüngsten Zwiegespräch mit meinem zweiten Bewußtsein. »Ich habe das dunkle Gefühl«, fügte ich am Schluß hinzu, »daß ich mich auf meinen Logiksektor nicht mehr ganz verlassen kann. Die Frauen sollen zuerst in das Rettungsboot gehen! Welch ein Unsinn. Es sind keine Frauen an Bord der STERNSCHNUPPE.« »Natürlich nicht.« Der Alte hockte sich mir gegenüber in einen Sessel. »Du mußt davon ausgehen, daß der Extrasinn bildlich gesprochen hat.« »Das ist nicht seine Art«, wehrte ich ab. »Er besteht aus einem stets logisch und streng denkenden Bewußtsein.« »Dein wenig zufriedenstellender Zustand hat auf ihn abgefärbt«, vermutete Colemayn.
»Dein Befinden ist auch nicht gerade berauschend«, gab ich zurück. Der Sternentramp zuckte nur mit den Schultern. »Wer oder was bist du überhaupt?« Endlich hatte ich einmal die Gelegenheit, in Ruhe mit Colemayn zu sprechen. Mir brannten eine ganze Reihe von Fragen auf den Lippen, die diesen geheimnisvoll wirkenden alten Mann betrafen. »Was bin ich?« Er wippte leicht mit dem Oberkörper. »Keine sehr erschöpfende Antwort.« Ich ließ ihn meinen Unwillen spüren. »Wie kamst du nach Manam-Turu? Wir sind uns erstmals in Alkordoom begegnet, erinnerst du dich?« »Ich erinnere mich sehr gut an unsere erste Begegnung.« Er lächelte schelmisch. »Ich habe schon viele Plätze des Universums besucht. Oder besser gesagt: besuchen dürfen. Ich weiß nicht, wie und warum ich nach Manam-Turu kam. Es ist wohl ein unerklärliches Schicksal, das mich immer wieder an andere Orte verschlägt. Oft begegne ich dabei den gleichen Personen. Manchmal bin ich viele Jahre allein, hundert deiner Jahre oder mehr. Ich habe längst aufgehört, darüber nachzudenken.« »Wie alt bist du, Colemayn?« »Ich weiß auch das nicht, Atlan.« Seine Antwort klang ehrlich. »Ich habe auch schon vor langer Zeit beschlossen, über solche unwichtige Fragen nicht zu grübeln.« »Du weißt, woher ich komme?« fragte ich. »Du hast es einmal erwähnt, meine ich mich zu erinnern. Du nennst deine Heimatgalaxis Milchstraße, nicht wahr?« Ich war mir sicher, nie darüber gesprochen zu haben. »Du kennst die Milchstraße?« wollte ich lauernd wissen. »Wahrscheinlich, mein Freund. Aber spielt das eine Rolle? Ich habe viele Orte besucht, das sagte ich bereits. Warum gibst du dich damit nicht zufrieden?« »Ich gebe mich mit nichts zufrieden, das ich nicht voll und ganz durchschauen kann. Du weichst meinen Fragen aus, Colemayn. Was
hast du zu verbergen?« Er lachte herzlich. »Ich habe nichts zu verbergen, Atlan. An viele Dinge kann ich mich nicht erinnern. Dann fallen mir manchmal Sachen ein, von denen ich nicht weiß, ob ich sie erlebt habe oder ob sie mir eingegeben worden sind. Es hat keinen Sinn, über Unerklärliches nachzugrübeln. Deshalb verzichte ich auch darauf.« »Du bist ein seltsamer Kauz, Colemayn.« Ich gab meine Fragerei auf. »Dabei hatte ich gerade von dir ein paar wesentliche Aufschlüsse erwartet. Es ist vieles verworren und unklar. Ich weiß nicht einmal, wo ich bin.« »In Manam-Turu«, antwortete er mit einer Selbstverständlichkeit, die mich erschaudern ließ. »In der Milchstraße nennt man diese irreguläre Galaxis auch NGC-4449.«
2. Manam-Turu stellte unter den Galaxien des Universums wenig mehr als ein Staubkorn dar. Abermilliarden von Sterneninseln füllten den endlosen Kosmos, der dennoch in sich begrenzt war. Aber menschliches Vorstellungsvermögen reichte nicht aus, um sich etwas vorzustellen, was unendlich und doch begrenzt war. So war aber das All, und so würde es immer sein, bis es vielleicht in einer unendlich fernen Zukunft vergehen würde, um danach unter anderen Gesetzmäßigkeiten neu zu entstehen. Der scheinbare Widerspruch würde noch Äonen die Gemüter aller Völker beschäftigen. Nur wenigen Genies war es vorbehalten, diese scheinbare Unmöglichkeit zu verstehen. Sie ernteten ungläubige Blicke und hörten zweifelnde Fragen, wenn von einer begrenzten Unendlichkeit die Rede war. Oder wenn jemand behauptete, der Mittelpunkt des Kosmos sei überall … So unfaßbar war diese Schöpfung, in der alles Leben existierte. So
unfaßbar würde sie ewig bleiben. Aber selbst die Dinge, die wegen ihrer geringeren Dimensionen im Vergleich zur endlosen Begrenztheit des Universums noch überschaubar sein mußten, setzten dem intelligenten Leben unüberwindbare Schranken, wenn es darum ging, die Zusammenhänge oder Entfernungen zu verstehen. Der natürliche Verstand aller Lebewesen war zum Scheitern verurteilt, wenn es nur darum ging, die Größe einer einzigen Galaxis zu erfassen. So wenig, wie ein Mensch in der Lage war, einen Unterschied zwischen 300.000 und 600.000 Kilometern wirklich zu verstehen, obwohl dies in kosmischen Maßstäben um die geradezu lächerliche Differenz zwischen einer und zwei Lichtsekunden ging, so wenig war jede natürliche Intelligenz fähig, in größeren Maßstäben zu empfinden. Und eine Galaxis besaß im Durchschnitt eine Größe von einigen Hunderttausend Lichtjahren. Eine Galaxis allein für sich besaß damit bereits eine Ausdehnung, die für einen denkenden Geist nicht überschaubar war. Und schon gar nicht zu verstehen. Dennoch stellte jede Sterneninsel nur ein Staubkorn dar, wenn ihre Abmessungen mit denen der begrenzten Unendlichkeit des Kosmos verglichen wurden. Manam-Turu besaß nach terranischen Maßstäben einen Durchmesser von rund 400.000 Lichtjahren. Manam-Turu war damit wesentlich größer als die Milchstraße, aber diese Größe war kaum einem ihrer Bewohner bewußt, weil sie jedes Vorstellungsvermögen sprengte. Die Galaxis, in der neben den Daila noch unzählige andere Völker lebten, war ein kosmisches Staubkorn und doch so gewaltig, daß sich darin Dinge und Wesen verbergen konnten, die man vielleicht erst in Jahrmillionen oder überhaupt nie entdecken würde. Eines der Objekte, die allen Grund hatten sich zu verstecken, war der Erleuchtete. Niemand außer diesem Wesen selbst kannte den augenblicklichen Aufenthaltsort des Mächtigen, der aus Alkordoom
geflohen war, um hier in Manam-Turu sein Werk, EVOLO, zu vollenden. Und niemand seiner freiwilligen oder unfreiwilligen Helfer, niemand seiner Gegner und niemand der hier ansässigen Völker konnte ahnen, wie weit EVOLO bereits gediehen war. Schlimmer noch! Mehr als vielleicht ein paar Dutzend Lebewesen in Manam-Turu wußten gar nichts von dieser Gefahr, die unsichtbar in ihrer Nähe wuchs. Andere Geschehnisse beschäftigten die Völker jedoch hautnah. Die geheimnisvollen Hyptons, die an einigen Orten aufgetaucht waren und die mit dem Neuen Konzil undurchsichtige Machtpläne verfolgten, waren aktueller in den Gedanken der Verantwortlichen als ein Gerücht über den Erleuchteten, das sie vielleicht irgendwann und irgendwo aufgeschnappt hatten. Die Ligriden, offensichtlich Helfer der Hyptons, und die von ihnen ausgehenden Aktionen waren für die Daila bedeutsamer als die unfaßbare Gefahr, von der sie gehört hatten. Doch der Erleuchtete existierte! Er handelte! Seine Aktivitäten blieben noch unbemerkt. Nur die, gegen die sie unmittelbar gerichtet waren, würden etwas davon zu spüren bekommen. Aber selbst dann würden sie nicht wissen können, woher die Gefahr kam. Der Erleuchtete hatte dafür Sorge getragen, daß keine Spur zu ihm führte. Sein Versteck war nahezu perfekt. Die Fäden, die er von hier aus zu seinen Marionetten zog, waren unsichtbar. Die Zeit war reif, um ein entscheidendes Experiment zu wagen, das nicht nur einen Bruchteil der Tauglichkeit EVOLOS testen sollte. Es sollte auch zugleich eine wesentliche Gefahr, die der Realisierung des Zieles EVOLO drohte, für immer beseitigen. Eigentlich waren es zwei Gefahren, die den Erleuchteten gedanklich beschäftigten. Aber eine der beiden zeigte sich derzeit nicht. So war es dem ehemaligen Juwel von Alkordoom nur recht, daß er diese Gefahr aus seinen Überlegungen verbannen konnte. Er
würde wachsam bleiben, wenn auch sie den Weg nach Manam-Turu finden würde. Einmal hatte sie ihm einen so heftigen Schock verpaßt, daß er Hals über Kopf die Flucht ergriffen hatte. Vielleicht war das ein Fehler gewesen, aber der ließ sich nun nicht mehr rückgängig machen. Manchmal wähnte er sie schon in seiner Nähe, aber das hatte sich bis jetzt immer als Trugschluß entpuppt. Die andere Gefahr war jedoch greifbar. Sie war da, und sie trug einen Namen. Atlan! Er war ihm aus Alkordoom gefolgt. Der Arkonide hatte bereits deutliche Zeichen seines Handelns in Manam-Turu hinterlassen. Es war nicht einfach gewesen, diesem Gegner konkret auf die Spur zu kommen, denn zu oft und zu schnell hatte er seinen Aufenthaltsort in den unermeßlichen Weiten dieser Galaxis gewechselt. Aber er hatte seine Falle sorgfältig aufgebaut und die richtigen Helfer auf die Fersen seines Feindes gesetzt, die Traykons. Er verfügte in dieser Phase des Neuaufbaus nach der Flucht aus Alkordoom noch nicht über viele Hilfskräfte. Er mußte sie behutsam einsetzen. Daß er im vorliegenden Fall richtig gehandelt hatte, bewies die Nachricht, die er von Traykon-1 empfangen hatte. Die Roboter hatten nicht nur Atlan entdeckt. Sie hatten sogar sein nächstes Ziel vorherbestimmen können, das Latos-Tener-System. Der Erleuchtete räumte ein, daß die Mission der Traykons kein voller Erfolg gewesen war, obwohl das Hauptziel, die Entdeckung einer konkreten Spur des Widersachers Atlan, erreicht worden war. Vier Traykons waren bei diesem Einsatz umgekommen, obwohl nicht einmal Atlan mit ihnen in Berührung gekommen war. Er mußte das Umfeld des Arkoniden sorgfältig beachten, damit dort keine Dinge geschahen, die seine Pläne gefährdeten. Doch das war sekundär. Jetzt galt es erst einmal, den entscheidenden Schlag gegen Atlan zu führen. Der Arkonide war geschwächt, das hatte Traykon-1 festgestellt. Und seine Begleiter stellten auch keine ernsthaften
Gegner mehr dar. Viel wichtiger war jedoch, daß EVOLO in der Vorphase der Entstehung getestet werden mußte. Beide Schritte ließen sich gut miteinander vereinbaren. Der Erleuchtete sonderte einen kleinen Teil seines Körpers ab und stellte sicher, daß dieses Lo nicht lebte. Noch nicht lebte, besser gesagt. Er setzte diesen toten Brocken biologischer Materie in Marsch zu einem Ort, wo er erwachen durfte, ohne daß dadurch ein Rückschluß auf den Platz seiner Herkunft und damit auf das Versteck des ehemaligen Juwels von Alkordoom möglich war. Das Pre-Lo würde entstehen und seinen Weg gehen. Es würde den Arkoniden vernichten und den Beweis erbringen, daß einige der Fähigkeiten EVOLOS bereits jetzt vollkommen funktionierten. Der Erleuchtete war's zufrieden. Er konnte nun warten. Warten, auf die Erfolgsmeldung.
* »In der Milchstraße nennt man diese Galaxis NGC-4449?« schrie ich Colemayn an. Dabei tränten mir die Augen so sehr vor Erregung, daß ich den alten Sternentramp nur noch verschwommen sehen konnte. »Du willst mich wohl zum Narren halten! Was weißt du von der Milchstraße? Was weißt du von NGC-4449?« »Nun reg dich doch nicht so auf, Atlan.« Seine Hand berührte meinen rechten Arm, aber ich schüttelte sie heftig ab. »Ich sagte dir doch schon, daß ich Dinge weiß, aber nicht sagen kann, ob ich sie erlebt habe oder ob sie mir jemand eingeflüstert hat.« »Das kannst du deiner Großmutter erzählen!« schnauzte ich ihn an. »Ich habe für solche Märchen kein Verständnis. Leg deine Karten endlich offen auf den Tisch!« Er stöhnte verlegen, und ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. »Ich kann dir nichts anderes sagen«, erklärte Colemayn. »Es mag
für dich unbefriedigend sein, aber für mich ist es das nicht. Ich fühle mich nicht wohl. Laß mich jetzt in Ruhe, bitte!« Er zog seine Pelzjacke enger um die Schultern und schlurfte in eine Ecke des Leitstands, wo er sich zwischen zwei Aggregaten auf den Boden hockte. Sein Kopf verschwand zwischen den Händen. Kurz blitzte dort auch der seltsame Kristall auf, an den er sich in den Phasen seines Unwohlseins zu klammern pflegte. Ich wandte mich wieder den Steuersystemen zu. Mein Blick fiel auf den Hauptpanoramaschirm der STERNSCHNUPPE. Die endlose Weite von Manam-Turu schien mir plötzlich noch weiter zu sein. Die schwachen Farben der fernen Gaswolken leuchteten scheinbar noch verwaschener und weniger hell. Die ganze Einsamkeit meines Daseins wurde mir schlagartig bewußt. Ich erkannte auch, woher diese Empfindungen kamen. Colemayns Erwähnung der Milchstraße! Die Milchstraße, das war Terra und Arkon … sie war meine Vergangenheit und meine Heimat, der Ort meiner Freunde … Ich fand rasch wieder zu mir. Was Colemayn gesagt hatte, war erstaunlich. Er mußte nicht nur die Milchstraße kennen. Er kannte die terranischen Bezeichnungen für andere Galaxien. Dieser Umstand war so merkwürdig. Er verlangte nach einer logischen Erklärung, aber die konnte oder wollte mir der Sternentramp nicht liefern. Ich ließ meine Blicke auf der immer wieder faszinierenden Leere des Alls ruhen und dachte nach. NGC-4449! Mein fotografisches Gedächtnis lieferte mir alle Fakten, die ich je über diese Galaxis gehört hatte. Viel war es nicht, denn selbst zu den Zeiten, in denen Perry Rhodan weit über die heimatliche Milchstraße hinaus vorgedrungen war, waren die Terraner nie mit NGC-4449 in Berührung gekommen. Einen Eigennamen besaß diese Sterneninsel bei den Terranern nicht. Ich konnte mich zumindest an keinen erinnern. Bedeutung hatte diese Galaxis auch nur in ganz wenigen Punkten besessen, die
in erster Linie die Astronomen interessierten. Und sie war viel zu weit von der Milchstraße entfernt, um schon vor der Entdeckung der Teleskope eine Bedeutung besessen haben zu können. Die Entfernung betrug mehr als 26 Millionen Lichtjahre. Daher sprach vieles dafür, daß Manam-Turu nicht zu einem der Sternencluster gehörte, um die das Ringen zwischen ES und SethApophis stattfand. Die Kosmokraten hatten mich also in eine ganz andere Szene versetzt, die nicht einmal etwas mit meiner Funktion als Orakel von Krandhor zu tun hatte. Für die Astronomen war NGC-4449 zumindest ungewöhnlich. Für den Beobachter von der Erde präsentierte sich diese Galaxis zunächst als ein Nebelfleck am östlichen Rand des Sternbilds Canes Venatici. Nicht einmal die Helligkeit dieses Spots, die ausgesprochen mittelmäßig war, verriet etwas über die wahre Struktur diese Galaxis. Die wurde erst beim Anblick durch leistungsstarke Teleskope erkennbar. Da wurden die Abermilliarden von Sternen deutlich, wenn die Auflösung groß genug war. Bevor man das erreicht hatte, war die blaue Farbe von NGC-4449 erkennbar gewesen, die jedoch nicht von den Sternen selbst herrührte. 3ie ließen sich durch gewaltige Gebiete erklären, die von ionisiertem Wasserstoff angefüllt waren. Aus der Nähe, also von einem Gebiet innerhalb von Manam-Turu, fiel diese Färbung kaum auf. Um sie zu sehen, mußte man schon weit außerhalb seine Beobachtungsinstrumente aufgebaut haben. Wirklich auffällig an NGC-4449 war etwas anderes. Fast jede Galaxis wies eine charakteristische Form auf. Diese konnte vom kugelförmigen bis zum elliptischen System reichen, den sogenannten E-Typen, nach deren größter Auffächerung die Balkenspiralsysteme oder SB-Galaxien und die Spiralsysteme oder S-Systeme, zu denen die Milchstraße oder die Andromeda-Galaxis gehörten, folgten. NGC-4449 paßte in keines dieser Standardmuster von Galaxien.
Zwar existierte im Kern eine wesentlich größere Sternendichte, aber insgesamt ließ diese Galaxis jede regelmäßige Form vermissen. Die Astronomen Terras hatten sie daher als irreguläre Galaxis bezeichnet. Manam-Turu war NGC-4449. Ich zweifelte nicht an Colemayns Worten, zumal auch keine der bisher beobachteten physikalischen Daten von Manam-Turu dieser Behauptung widersprachen. Ich kramte weiter in den Erinnerungen meines fotografischen Gedächtnisses. Manam-Turu mußte folglich einen größten Durchmesser von etwa 400.000 Lichtjahren besitzen. Diese Galaxis war somit viel größer als die Milchstraße. Wenn ich daran dachte, daß sich hier irgendwo in einem Sektor, für dessen Durchquerung das Licht schon fast eine halbe Million Jahre brauchte, ein unbekanntes Wesen verbarg, so wurde mir mit aller Deutlichkeit bewußt, daß ich vor einer unlösbaren Aufgabe stand. Wie sollte ich hier den Erleuchteten finden und ihn an der Vollendung EVOLOS hindern? Wie sollte das in dieser endlosen Weite gelingen? Im Vergleich dazu war es einfach, die berühmte Stecknadel im Heuhaufen zu entdecken. Du hast eine Chance, behauptete der Extrasinn. Du kannst ihn an den Spuren erkennen, die er durch seine Aktivitäten hinterläßt. »Das ist richtig«, gab ich zu. »Aber ich darf dabei nicht vergessen, daß auch er mich an den Spuren ausfindig machen kann, die ich hinterlasse.«
* Das Pre-Lo erwachte. Es erkannte sich, und es wußte, was es zu tun hatte.
Es besaß ein Bild des Gegners, das zwar unvollständig war, aber in jedem Fall ausreichen würde, um diesen zu identifizieren. Es erforschte den Plan, der in ihm lebte. Es gab dem Plan einen Namen: Der programmierte Untergang! Das Pre-Lo selbst war das Programm. Das Pre-Lo selbst war auch das ausführende Organ. Es fühlte sich als ALLES. Mehr brauchte es nicht. Die Helfer waren bereits vor Ort, Traykon-1 und Traykon-6. Und das Schiff. Es dachte nicht über seine Herkunft nach, denn ein Teil seines eigenen Programms verhinderte, daß es solche Fragen stellen konnte oder wollte. Es kannte seinen Namen: Pre-Lo. Es wußte auch, was dies bedeutete. Es war der Vorläufer, der Vorkämpfer, der Vortester. Es war das Pre-Lo mußte von irgendwelchen fiktiven Wesen stammen, die man einmal nach seinem Vorbild entwickeln würde. (In diesem Punkt versagte das Wissen des eigenen Programms. Fragen danach wurden stereotyp mit »unbedeutend« beantwortet). Das Pre-Lo übte seine erste Fähigkeit. Es nahm eine klare Gestalt an, die Gestalt von Traykon-1. Es gab sich einen Namen: Pre-Lo Traykon. Mit diesem Namen und dieser Gestalt wollte es seinen Helfern gegenübertreten. Bevor es das tat, prüfte es den eigenen Körper. Dieser bestand aus mutierter biologischer Zellsubstanz. Ein Teil des Organismus war zweifelsfrei Materie, die früher zum Leib des Schöpfers gehört hatte. Der andere Teil war nichtkörperlich. In ihm steckte die eigentliche Kraft mit ihren beiden Komponenten. Da war einmal die Fähigkeit, jeden bekannten Körper nachzubilden. Diese Wandlungsfähigkeit hatte es bereits erprobt, als es zu Pre-Lo Traykon geworden war. Die andere Fähigkeit nannte das Programm Unital-Psi-Sinn. Das Pre-Lo besaß nur eine verschwommene Vorstellung von dem, was sich hinter diesem Begriff verbarg. Es forschte in seinen biologischen Speichern und machte dabei eine Reihe von bedeutsamen
Entdeckungen. Der Unital-Psi-Sinn war die eigentliche Funktion, die getestet werden sollte. Er war der Vorläufer dessen, was der Schöpfer einmal erzeugen wollte, was in der Fertigstellung begriffen war. Es fand sogar den Namen für dieses Produkt: EVOLO. Viel konnte es damit nicht anfangen, aber nun war ihm klar, warum es sich selbst Pre-Lo nannte. Noch etwas wurde deutlich. EVOLO würde viele und andere Fähigkeiten besitzen. Der Unital-Psi-Sinn war nur eine Eigenschaft, die der Schöpfer entwickelt hatte und die in ihm und durch ihn getestet werden sollte. Der Test war aber nur der zweite Punkt des programmierten Untergangs. Der erste war die Vernichtung eines Wesens namens Atlan. Das Pre-Lo straffte seinen metallisch gewordenen Körper und verließ die dunkle Höhle, in der es erwacht war. Es trat ins Freie. Seine Beine berührten den Boden eines rauhen und vegetationslosen Planeten. Unweit stand das Schiff. Davor warteten Traykon-1 und Traykon-6 auf seine Anweisungen. Traykon-1 übermittelte alle Daten, die zur Durchführung des programmierten Untergangs von ihm ermittelt worden waren. Diese Daten paßten haargenau in den Plan und den Auftrag. Für das Pre-Lo war dieser Atlan jetzt schon so gut wie tot.
3. Tatar Taar betrachtete zufrieden sein Werk. Die neue Mühle war fast fertig. Den Rest würde er auch noch schaffen, auch wenn sein Weib Noma mit ihren ewigen Nörgeleien das Gegenteil behauptete. Der hochgewachsene Tener schritt gemächlich einmal um den Holzbau. Seine Augen suchten das Gebälk nach irgendwelchen
Verschiebungen ab, die ihm noch entgangen sein mochten. Aber er fand nichts Bedenkliches. Jeder Balken ruhte so auf dem nächsten, wie er es geplant hatte. Die Zeichnung auf dem Ledertuch hing schlaff in seiner Linken zu Boden. Tatar Taar brauchte keinen vergleichenden Blick mehr darauf zu werfen. Er kannte jeden Strich auswendig. Fast ein Tenerjahr hatte er gebraucht, um die neue Mühle zu errichten. Nun war es bald geschafft. Nur noch der große Mahlstein mußte an seinen Platz gebracht werden. Eine Lücke hatte er wohlweislich dafür reserviert, und die Rampe darunter war auch fertiggestellt. Die alte Mühle war einfach zu klein gewesen, um alle Aufträge aus der Stadt erfüllen zu können. Lator, die Stadt, lag einen halben Tagesritt entfernt. Dort war es unmöglich, das Getreide zu mahlen, weil der breite Fluß kaum ein Gefälle aufwies, das man für eine Mühle hätte ausnutzen können. Die Latorer hatten ihn schon seit langem gedrängt, seine Mühle zu erweitern. Sie hatten ihm beim Bau des neuen Mahlwerks sogar jegliche Hilfe und Unterstützung angeboten, damit die Arbeit rasch zu einem Ende käme. Tatar Taar hatte das abgelehnt. Er war nun einmal ein Eigenbrötler, und was er anpackte, machte er allein. Nur so besaß er die Sicherheit, daß alles richtig aufgebaut war und auch funktionierte. Sein Vater war Müller gewesen, und sein Großvater und dessen Vater auch. Der Beruf gehörte seit vielen Generationen fest zur Familie der Taars. Und sein Sohn, der seit zwei Tenerjahren bei einem anderen Müller unten im Süden seine Lehre machte, würde eines Tages diese Mühle übernehmen. So lief alles seinen geregelten Gang. Noma kam aus dem Wohnhaus. Sie war klein und dick, ein krasser Gegensatz zu Tatar. Aber das machte diesem wenig aus. Er konnte nicht erwarten, daß ihm eine schöne Tenerin in diese Einsamkeit folgte, um den Rest ihres Lebens mit einem eigenbrötlerischen Müller zu verbringen, der nichts anderes im Kopf
hatte als seine Mühle. »Zeit zum Mittagessen«, rief Noma. Ihre Schuppen glänzten im Unterschied zu denen Tatars schon bläulich. Das war ein sicheres Zeichen, daß die Tenerin etliche Jahre mehr auf dem Buckel hatte als ihr Mann. Tatar störte auch das nicht. Sie hatte ihm einen Sohn geboren, und damit war die Tradition gewahrt worden. Und die Mühle würde einen neuen Müller haben, wenn er eines Tages abzudanken hätte. Tatar tat, als hätte er nichts gehört. Seine Blicke gingen an dem Holzbau in die Höhe und wieder nach unten. Dann ruhten sie auf der Rampe, über die der Mühlstein an seinen Platz gebracht werden sollte. »Du scheinst nicht viel zu tun zu haben«, nörgelte Noma. »Stehst da herum, als würdest du darauf warten, daß der Stein allein die Rampe hinaufrollt. Durch deine Engstirnigkeit haben wir schon viele Aufträge aus der Stadt ablehnen müssen. Die neue Mühle könnte längst fertig sein. Aber du mußt ja immer alles allein machen, egal, wie lange es dauert.« »Scher dich an deine Kopftöpfe!« grollte der Mann. »Und halte dich aus den Dingen heraus, von denen du sowieso nichts verstehst.« »Hochnäsiger Idiot!« Ihre Schuppen raschelten rauh, ein sicheres Zeichen für ihren Ärger. »Wenn du jetzt nicht kommst, schütte ich das Mahl in den Fluß.« »Das würde er dir übelnehmen.« Tatar blieb ungerührt. Er blickte seine Frau nicht einmal an. »Und ich würde es dir auch übelnehmen. Du würdest schneller im Fluß landen, als du gucken kannst.« »Ich im Fluß landen?« schrie Noma empört auf. »Das würde der Fluß dir übelnehmen.« »Du bist dumm«, stellte der Tener fest. »Strohdumm! Also richte dich danach. Der Fluß ernährt uns. Vergiß das nie. Ohne ihn gäbe es keine Mühle. Und ohne Mühle wärst du nicht hier. Du würdest
irgendwo mit den ewigen Wanderern durch die Berge ziehen müssen und von rohen Wurzeln und Beeren leben. Hier hast du jedoch alles, was du brauchst!« »Hah!« Sie wischte ihre feuchten Hände an dem lockeren Fellumhang ab, der nur wenige Teile ihres Schuppenleibs bedeckte. »Was weißt du davon, was ich brauche!« »Ich weiß es nicht. Ich bestimme es. Das ist der Unterschied.« »Großkotziger Eigenbrötler!« schimpfte die Tenerin. »Warum bin ich dir nur in diese Wildnis gefolgt?« »Das frage ich mich auch manchmal. Ich hätte eigentlich ein weniger zänkisches Weib verdient gehabt. Und jetzt sei still. Wir gehen zu Tisch. Am Nachmittag werde ich den Stein an seinen Platz bringen. Vielleicht hältst du dann endlich dein Schandmaul.« Noma schlurfte wortlos ins Wohnhaus. Und Tatar Taar folgte ihr.
* Nemissa Pauh bewunderte immer wieder die einfachen Gemüter der Beschuppten. Aus dem nichtigsten Anlaß heraus brachten sie es fertig, ein richtiges Fest zu organisieren und nach allen Regeln der Geselligkeit zu feiern. Diesmal war es eine Danksagung an den Daila Kopfertin, der einen Jungen vor einem wild gewordenen Ochsen gerettet hatte. Der Bürgermeister von Lator, sein Name war Prympf und sein Titel Majur-Lator, hielt eine flammende Rede auf das Wohl Kopfertins, während auf dem Marktplatz schon die Feuer entzündet wurden und sich die Bratspieße drehten. Von den Schanktischen her, die alle im Freien aufgestellt worden waren, schallte lautes Gejohle herüber zur Festtribüne, auf der der geschuppte Tener seine Stimme erschallen ließ. Eins mußte man den Tenern lassen, sagte sich das Daila-Mädchen. Sie waren durch und durch gastfreundlich. Von ihrem Vater kannte
sie die Geschichte ihres kleinen Volkes. Nemissa war schon auf Tener geboren worden. Aklard und die anderen Welten ihres Volkes kannte sie nur aus den Erzählungen der Alten. Ihr Vater war noch sehr jung gewesen, als er zusammen mit knapp 200 anderen Daila auf Tener abgesetzt worden war. Die Heimat wollte diese Daila nicht mehr, weil sie über besondere Fähigkeiten verfügten, die dort als unnatürlich und unwillkommen galten. Nemissa verstand diese Reaktion bis heute nicht, denn sie liebte ihre Heimat über alles, obwohl sie sie nie gesehen hatte. Und die wenigen Bilder, die die noch lebenden Alten besaßen, vermittelten eigentlich gar keinen rechten Eindruck von der Welt ihrer Vorfahren. »Es muß mit unseren Psi-Fähigkeiten zusammenhängen«, hatte ihr Vater zu Lebzeiten einmal sinnend zu ihr gesagt, »daß wir, obwohl wir ausgestoßen und Verbannt wurden, die Heimat mehr lieben, als die, die dort geblieben sind.« Für Nemissa war das eine unbefriedigende Erklärung gewesen, aber sie hatte geschwiegen. Und heute dachte sie nicht anders darüber als damals. Es gab keine plausible Erklärung für die Sehnsucht, die selbst die Tenergeborenen in sich trugen. Die schuppigen Tener waren die Ureinwohner dieser Welt. Die Alten hatten bald festgestellt, daß sie auf einem Planeten abgesetzt worden waren, der nach dailanischen Maßstäben dem frühen Mittelalter entsprach. Die Tener kannten gerade die Grundzüge der Metallverarbeitung. Sie konnten Nägel und Spanten schmieden, die sie beim Bau ihrer Holzhäuser verwendeten. Daneben wurden auch Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens aus groben Metallgemengen hergestellt, jedoch keine Waffen. So rauh, wie die Beschuppten einerseits wirkten, so friedlich waren in Wirklichkeit ihre Seelen. Sie kannten außer handfesten Raufereien um ein Weib oder den besten Platz im Gasthaus keine kämpferischen
Auseinandersetzungen. Die alten Daila hatten damals schnell erkannt, daß dies einerseits sehr angenehm war, andererseits aber eine schnelle Entwicklung technischer Belange verhinderte. Und als sie erfahren hatten, daß sich in Lator, das immerhin zu den größten Ansiedlungen Teners gehörte, an diesem Zustand schon seit über zweihundert Jahren nur wenig geändert hatte und daß die Tener kaum Ambitionen zeigten, ihren Status quo zu verändern, hatten sie sich angepaßt. Die Daila behielten ihre technischen Kenntnisse weitgehend für sich. Ja, mehr noch. Sie nutzen sie nicht einmal für sich aus. Statt dessen hatten sie sich dem tenischen Leben weitgehend angepaßt. Für die Einheimischen galten sie als die Schuppenlosen. Das war weder abwertend gemeint, noch galt dies als etwas Besonderes. Die simplen Gemüter der Tener hatten sich schnell damit abgefunden, daß es auch Lebewesen außerhalb ihrer Welt gab, die ihnen weitgehend ähnlich waren, aber eben keine Schuppen besaßen. Außer Nemissa lebten rund 50 weitere Daila in Lator. Die ganze Kolonie der Verbannten, die auf ein gutes Dutzend Städte und Dörfer verstreut war, zählte heute etwa 300 Seelen. Prympf, der Majur-Lator, hatte inzwischen Kopfertin auf die Tribüne bringen lassen. Nemissa sah es dem Daila an, daß diesem die Prozedur reichlich unangenehm war. Aber Kopfertin lächelte nach allen Seiten und erntete stürmischen Beifall. Der Dorfschreier, ein uralter und unsagbar fetter Tener, dessen Schuppen schon so tiefblau waren, daß er eigentlich gar nicht mehr leben konnte, krümmte seinen Leib in die Höhe. Ihm gelang das binnen weniger Atemzüge, was dem Majur-Lator nicht geglückt war. Er brachte nach dem ersten gellenden Schrei zur Ankündigung seiner Rede alle Tener auf dem Marktplatz zum Schweigen. Selbst die Wirte stellten das Zapfen an den bauchigen Fässern ein. »Latorer!« erschallte die dunkle und doch alles durchdringende Stimme des Dorfschreiers. »So hört die Geschichte vom braven
Mann zu meiner Seite. Sein Name ist Kopfertin, und er gehört zu den Schuppenlosen, die von den Sternen kamen, um unsere Freunde zu werden. Dieser Kopfertin«, er hieb dem Daila auf die Schultern; der lächelte noch gequälter, »hat es gewagt, sich einem rasenden Ochsen in den Weg zu stellen, der drauf und dran war, den jungen Lirz zu zertrampeln. Sein eiserner Griff und der zwingende Blick seiner Augen verjagten die Bestie und verwandelten sie in ein lammfrommes Tierchen. Ihm gebührt unser Dank. Wir drücken den Dank in der Weise aus, daß Kopfertin das erste Stück Fleisch aus seinem Opfer schneiden darf.« Das hörte sich schauerlicher an, als es war. Der Ochse war geschlachtet worden, und jetzt drehte sich sein dampfender Leib über einem knisternden Holzfeuer direkt vor der Tribüne. Das Volk johlte auf, als Prympf, der Majur-Lator, dem Daila ein unterarmlanges Messer reichte. Kopfertin nahm es in seine Rechte und sprang mit einem Satz von dem Podium. Die Männer an den Kurbeln hielten ein, damit der Daila ein Stück Braten aus der Brust des Ochsen schneiden konnte. Die Kruste war hart, und Kopfertin hatte alle Mühe, sie zu durchdringen. Nemissa spürte den lautlosen Hilferuf. Sie hoffte, daß sie keinen toten Moment hatte. Sie wurde nicht enttäuscht. Die Kraft war da. Unbemerkt von allen umstehenden Tenern konzentrierte sie sich auf die Schneide des Messers und auf Kopfertins Arm. Das Metall drang durch die harte Kruste, als wäre diese aus dem Talg der Lichter vor den Häusern. Wieder brandete Beifall auf. Kopfertin hielt das Stück Braten in die Höhe. Aber seine Augen suchten Nemissa. Das Mädchen stand irgendwo in der Menge, so daß der Daila diesen Versuch einer wortlosen Danksagung auf einen späteren Zeitpunkt verschieben mußte. Schon die Alten waren mit ihren Psi-Fähigkeiten sehr behutsam umgegangen. Sie wollten Freunde werden, keine Kultfiguren oder gar gottähnliche Wesen, die scheinbar Wunder vollbringen konnten. Sie hatten stets nur sehr vorsichtig von ihren Gaben Gebrauch
gemacht. Und die tenergeborenen Daila hielten es nicht anders. Natürlich war im Lauf der Jahre den Geschuppten nicht verborgen geblieben, daß ihre neuen Freunde von den Sternen Dinge konnten, die sie für unmöglich gehalten hatten. Die anfängliche Scheu und Bewunderung war schnell gewichen, als die Daila erklärt hatten, daß dies nichts Besonderes sei und daß sie auch nicht ständig in der Lage wären, diese Naturkräfte zu nutzen. So war es in der Tat auch, denn die meisten Verbannten waren allenfalls als latente Mutanten zu bezeichnen. Sie übten sich auch nicht in ihren Fähigkeiten. Nur wenn wirklich Not am Mann war, oder wenn es in aller Verborgenheit geschehen konnte, setzten sie ihre Psi-Kräfte ein. Nemissa hatte ihre eigenen Probleme. Sie war zwar stets in der Lage, Hilferufe anderer Daila zu spüren, die in ihrer Nähe waren, aber wörtlich verstehen konnte sie nichts. Das Verstehen der anderen war eher ein überstarkes Empfinden. Und ihre telekinetische Kraft war so schwankend, daß sie sich selbst nicht darauf verlassen konnte. Manchmal war die Kraft so stark, daß sie Bäume hätte entwurzeln können, dann wiederum hatte sie über Tage hinweg einen toten Moment. Dann klappte nichts, so sehr sie sich auch konzentrierte. Vielen ihrer Schwestern und Brüder erging es nicht anders. Und bei einigen der auf Tener Geborenen blieben die Psi-Fähigkeiten ganz aus. Die Daila empfanden darüber kein Bedauern, denn sie wußten von den Alten, daß diese Nachkommen die besten Chancen besaßen, ohne Probleme in die Urheimat zurückzukehren, wenn … Ja, wenn! Man war abgeschnitten von der Außenwelt. Es gab keine Raumschiffe. Es gab nichts. Nur die frühmittelalterliche Welt der Tener, deren wilde Feste, die warmen Nächte, die Gastfreundschaft und den Gedankenaustausch in den eigenen Reihen, der die Sehnsucht nach der Urheimat nur noch mehr förderte. Das Fest nahm seinen gewohnten Gang. Die Tener scharten sich in Gruppen vor den Schanktresen, an denen die Musikanten mit ihren
Ledertrommeln, Blechtrompeten und Holzflöten aufspielten. Die mächtigen Leiber der gebratenen Ochsen wurden schnell schmaler. Eine Besuchergruppe aus Latung, dem nächsten Dorf, gebärdete sich so wild, als der ihnen zugedachte Braten unter dem Ansturm der gierigen Hände und blitzenden Messer zusammenbrach und in die Glut fiel, daß im Nu die größte Keilerei im Gang war. Keiner stieß sich daran, und auch Nemissa, die an solche Ereignisse seit ihrer Kindheit gewöhnt war, beachtete das Gerangel kaum. Irgendwann traf sie in dem Gedränge der beschuppten Leiber auch Kopfertin und drei weitere Daila. Sie sah ihren Freunden an, daß diese auch dem Gerstensaft der Tener zugesprochen hatten. »Danke, Mädchen!« Kopfertin schwenkte einen Holzkrug. Er vergaß auch jetzt nicht, sich blei der Partialtelekinetin zu bedanken. »Das geht schon in Ordnung.« Nemissa winkte lächelnd ab. »Es hat ja keiner etwas gemerkt.« »Doch!« lachte Kopfertin. »Ich!« Nemissa hatte keine Lust, sich länger zu unterhalten. Sie mußte am nächsten Tag frisch sein, denn der Majur-Lator hatte sie gebeten, bei einem Neubau behilflich zu sein. Der Dachfirst eines Erweiterungsbaus der Dorfschule sollte gesetzt werden. Bei solchen Gelegenheiten waren die seltsamen Naturkräfte der Schuppenlosen den Tenern stets willkommen. »Ich gehe zu Bett«, erklärte das Daila-Mädchen. Die drei Männer winkten ihr verständnisvoll zu. Aber als Nemissa ein paar Schritte durch die Menge gegangen war, stand plötzlich Kopfertin wieder neben ihr und hielt sie an ihrem Fellumhang fest. »Warte, Nemissa!« gluckste der Mann. »Um ein Haar hätte ich es ja vergessen.« »Was?« fragte Nemissa wenig erbaut. »Drüben am ›Blechkrug‹ wartet eine Tenerin auf dich. Sie hat ein offizielles Hilfsgesuch, äh, Hilfeersuchen oder wie das der Majur
nennt. Du sollst sofort mit ihr und Memmer zur … Ich weiß auch nicht mehr wohin. Aber irgendwohin sollst du reiten. Die Ochsen sind schon gesattelt.« »Du bist angesäuselt, mein Freund«, stellte das Mädchen fest. »Bin ich. Ich geb's ja zu. Aber ich rede keinen Unsinn. Ihr Mann ist verunglückt. Er liegt unter dem Stein. Der Majur hat dich von morgen freigestellt. Du weißt schon, die neue Schule. Du und Memmer, ihr sollt der Dicken helfen.« Nemissa plagten noch immer Zweifel, denn sie wußte aus eigener Erfahrung nur zu gut, daß ihre Freunde auch zu manch üblen Scherzen aufgelegt sein konnten. Vielleicht wollten sie sie auch nur davon abhalten, das Fest schon jetzt zu verlassen. Da schob sich Prympf, der Majur-Lator, an ihre Seite. »Ein Unglück«, jammerte der Bürgermeister. »Es hat unseren besten Müller erwischt, Tatar Taar. Er liegt unter seinem Mühlstein. Und er ist bös verletzt. Memmer hat seine Hilfe schon zugesagt, aber ohne deine Hilfe bekommen wir Tatar nie aus der tödlichen Falle.« Das klang schauerlicher, als es mit Bestimmtheit war. Nemissa wußte, daß die Tener gern zu maßlosen Übertreibungen neigten, wenn es galt, die Hilfe der Daila zu gewinnen. Und Prymph kannte fast alle Fähigkeiten seiner Freunde von den Sternen. Immerhin war das Mädchen nun davon überzeugt, daß ein wirklicher Notfall vorlag und daß man ihre Hilfe benötigte. »Ich komme mit«, erklärte sie bereitwillig. »Aber ich kann für nichts garantieren. Ihr kennt meine toten Momente.« »Ich weiß.« Der Majur-Lator berührte sie kurz und freundschaftlich an den Schultern. »Aber versuchen solltest du es. Du siehst, daß meine Bürger aus dem Häuschen sind. Hier kann ich kein Hilfskommando zusammentrommeln. Sie würden mich auslachen.« Nemissa hatte eine bissige Bemerkung auf den Lippen, aber sie unterdrückte sie, weil sie den Tener nicht beleidigen wollte.
Sie ging mit Prympf zum »Blechkrug« wo Memmer schon wartete. Neben dem alten Daila hüpfte eine dickliche Tenerin nervös von einem Bein auf das andere. »Das ist Noma Taar«, stellte der Bürgermeister die jämmerlich dreinblickende Frau vor. »Ihr Mann ist der Müller Tatar Taar, der tödlich Verletzte unter der Urgewalt des Mahlsteins.« Das Daila-Mädchen warf Memmer einen fragenden Blick zu. Der alte Mann nickte und deutete auf den gesattelten Ochsen. Nemissa schwang sich in den Sattel. »Wenigstens entkomme ich so diesem sinnlosen Gelage«, murmelte sie. »Was hast du gesagt, Schuppenlose?« wollte die nervöse Tenerin wissen. »Ich wollte wissen, wie weit der Weg ist«, antwortete die Daila. »Wenn wir endlich aufhören, überflüssiges Zeug zu quatschen«, nörgelte Noma Taar, »können wir vor Morgengrauen bei der Mühle sein. Ich hoffe nur, daß mein lieber Mann dann noch lebt.« Sie übernahm die Spitze, und die beiden Ochsen, die die Daila trugen, trabten träge hinterher.
4. Die STERNSCHNUPPE gab eine Reihe von Warnsignalen ab. Sofort war ich hellwach. Ohne mein Eingreifen in die Steuersysteme fiel das Schiff aus dem Zwischenraum zurück in die normale Umgebung. »Was ist los?« fragte ich nervös. »Ich weiß es noch nicht«, gab die STERNSCHNUPPE schroff zurück. Mir war klar, daß das Diskusschiff, dessen Herkunft mir immer noch ein Rätsel war und wohl auch noch lange bleiben würde, keine Seele besaß. Es war eine rein robotische Einrichtung.
Und doch hatte diese Kunststimme irgendwie verärgert und verunsichert geklungen. »Eine Störung?« fragte ich behutsam. »Keine Störung«, lautete die knappe Antwort. Chipol kam aus seiner Wohnkabine. Er rieb sich die Augen. In einer Hand hielt er ein dickes Wurstbrot, das er sich aus dem Küchenautomaten geholt hatte. »Ärger?« schmatzte er ungeniert. Ich zuckte mit den Schultern und deutete auf die Einrichtungen der Kommandozentrale. »Hat sie wieder Mucken?« Der junge Daila trat gegen die Konsole des Peilanzeigers. »Laß das!« schimpfte die STERNSCHNUPPE. Mein strafender Blick traf den Jungen. »Sie soll sich ordentlich benehmen«, maulte Chipol. »Man kann doch wohl den Grund erfahren, wenn man durch einen Alarm aus dem Bett geworfen wird.« Ich beugte mich über die Anzeigen des Kommandostands. Aber dort entdeckte ich auch nichts Auffälliges. »Widersprüchliche Angaben aus den technischen Sektionen«, erklärte das Schiff. Die Antriebssysteme und alle technischen Einrichtungen, soweit sie aus Gründen der praktischen Benutzung nicht in der Kommandozentrale oder außen auf dem Diskus untergebracht waren, befanden sich in dem sechs Meter dicken Diskusring, der die ganze Zentraleinheit umlief. Es existierten zwar mehrere Zugänge in diese Zone, aber diese waren ausnahmslos verriegelt. Und sie ließen sich nicht öffnen. Die STERNSCHNUPPE hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß ich dort nichts verloren hatte. Wenn dort eine Störung aufgetreten sein sollte, würde ich auch kaum etwas ausrichten können, denn mir war die fremdartige Technik der unbekannten Erbauer dieses Schiffes noch weitgehend ein Rätsel. »Dann sollte dort jemand einmal nachsehen«, sagte ich. »Ich stelle
mich gern zur Verfügung.« Das Schiff ging darauf erwartungsgemäß gar nicht ein. Aber es lieferte endlich eine Erklärung. »Es ist während des Überlichtflugs zu einem unerklärlichen Energieabfall gekommen. Die beiden Hauptspeicher sind praktisch leer. Die Anzeigen wiesen jedoch einen Bestand von 73 Prozent aus. Erst als ich alle Systeme einer Prüfung unterzog, wurden die tatsächlichen Werte angegeben. Das erklärt aber nicht den Verlust an Energievorräten.« Colemayn schlurfte aus seiner Ecke hervor. Auch er wirkte noch so verschlafen wie Chipol. »Ich habe das schon einmal erlebt«, behauptete er. »Was?« wollte die STERNSCHNUPPE wissen. »Daß ein Raumschiff beim Flug durch die Labilzone plötzlich fast die gesamten Energievorräte verlor.« Der Sternentramp faßte sich an die Stirn. »Ich weiß nicht mehr, wo das war, aber das spielt wohl auch keine Rolle.« »Ich wäre dir dankbar«, sagte das Schiff, »wenn du mir mehr darüber berichten könntest.« »Dankbar?« Colemayn lachte. »Du schenkst mir vier Wände. Mehr brauche ich nicht. Also, wenn ich mich recht erinnere, dann war das zu der Zeit, als ich mit … mit, nein, der Name fällt mir nicht mehr ein. Aber er war ein kluges Bürschlein, ein Forscher oder etwas .Ähnliches. Seine Sternenschaukel fiel auch aus dem Zwischenraum. Eine Erklärung fand man zunächst nicht. Aber später meinte er, sein Großvater hätte ihm von diesen Phänomen einmal berichtet. Er nannte sie singulare Stellen, ein kosmisch-physikalisches Rätsel. Angeblich soll es sich dabei um labile Orte handeln, über die man in eine andere Zeitebene oder eine andere Dimension gelangen kann.« »Solche Erscheinungen sind mir unbekannt«, wehrte die STERNSCHNUPPE ab. »Die Erklärung ist unzureichend.« »Sie ist auch nicht ganz vollständig und richtig«, gab der alte Sternentramp zu. »Mir fällt jetzt noch etwas dazu ein. Die
singulären Stellen sind nicht die Orte, über die man in andere Dimensionen gelangt. Sie sind nur Echos oder Spiegelungen solcher Vorgänge. Nebeneffekte, die erkennen lassen, daß irgendwann in unserer zeitlichen und räumlichen Nähe ein solcher Übergangsprozeß stattgefunden hat. Die singulare Stelle zieht die Energien in die andere Dimension und verhindert so, daß das ganze Schiff mitgerissen wird. So war die Erklärung, die ich damals hörte.« Das Schiff ging nicht darauf ein. Es sagte: »Es spielt nun keine Rolle mehr, wie der Energieverlust zu erklären ist. Wichtig ist nur, daß ich eine Tankpause einlegen muß. Ich melde mich wieder, wenn die Vorräte ergänzt sind.« Ein Signalton zeigte an, daß die Kommunikation damit unterbrochen war. Viel wußte ich über die Art und Weise, wie die STERNSCHNUPPE ihre Energien bezog, nicht. Sie zapfte Niveaus im Hyperraum an, wandelte die gewonnenen Energien um und speicherte sie. Normalerweise tat sie dies, ohne mir davon Mitteilung zu machen. Sie nutzte dazu jede Phase der Ruhe aus, insbesondere Unterlichtflüge abseits von bewohnten Welten. Nur gelegentlich hatte sie bislang nach einer regelrechten Tankpause verlangt. »Sie hätte uns wenigstens sagen können«, maulte Chipol, »wie lange das dauert.« Ich drückte die Sensortaste, um mich bei der STERNSCHNUPPE zu melden, aber das Symbol BESCHÄFTIGT leuchtete auf. »Nichts zu machen, Junge.« Ich sah mich nach Colemayn um. Das Schott zu der kleinen Medostation war halb offen. Also sah der Alte nach Mrothyr. Die Anzeigen am Kommandopult standen auf NULL. Wir machten im Augenblick überhaupt keine Fahrt. Ich warf einen Blick auf den Panoramaschirm. Der Anblick der unendlichen Weite und der fernen Sterne wirkte nicht beruhigend auf mich. Ich wartete
förmlich darauf, daß der Extrasinn sich mit neuen Vorhaltungen meldete, aber er schwieg. Ich rannte einer Idee hinterher. Das gab ich zu. Ich wollte noch weitere Daila aus dem Kreis der Verbannten finden, um sie nach Aklard zu führen und so das Potential gegen das Neue Konzil der Hyptons zu stärken. Eigentlich sah ich nur geringe Chancen, mich selbst um diesen sich anbahnenden Konflikt zu kümmern, denn die Aufgabe, den geheimnisvollen Erleuchteten zu stellen, lastete mich schon aus. Also mußten die Daila-Mutanten her! Latos-Tener bot eine solche Chance. Das war aus den Informationen, die die STERNSCHNUPPE aufgefangen hatte, zu entnehmen gewesen. Und ich war etwas müde. Auch das gab ich zu. Fast schien es mir, als hätte der seit einer kleinen Ewigkeit bewährte Zellschwingungsaktivator Probleme, die Nachwehen von Kraupper zu bewältigen. Colemayn kam zurück. Er lächelte zufrieden. »Es geht ihm besser«, berichtete er. »Mir auch. Ich hoffe, daß diese positive Phase anhält. Mrothyr kommt durch. Mit Hilfe des Medoschranks in der Station scheine ich jetzt endlich die richtige Mixtur für den Zyrpher gefunden zu haben. Der Robotschrank meint, Mrothyr würde in zehn bis vierzehn Tagen wieder auf den Beinen sein.« Das war in der Tat eine gute Nachricht. Ich beschloß, Colemayns gute Stimmung sofort auszunutzen, um mehr von dem seltsamen Zeitgenossen zu erfahren. »Da werden sich auch die Kosmokraten freuen«, sagte ich ganz bewußt und blickte dabei dem Sternentramp in die Augen. Ich bemerkte ein leichtes Zucken seiner Lider. »Du kennst sie doch, nicht wahr?« »Ich habe dir schon einmal gesagt, Atlan«, entgegnete er amüsiert, »daß ich sie weniger kenne als du. Du warst einmal jenseits der Materiequellen. Ich nicht.«
»Warum heftest du dich auf meine Spuren, Colemayn?« Der Alte lachte erfrischend. »Ich sehe das ganz anders. Du trittst in meine Fußstapfen. Das ist eine verflixt relative Angelegenheit, mein Freund.« »Du bist mir aus Alkordoom nach Manam-Turu gefolgt!« hielt ich ihm vor. »Mitnichten. Ich weiß es zwar nicht ganz genau, aber ich mache jede Wette mit dir, daß ich vor dir hier war.« Ich biß mir auf die Unterlippe. So leicht war diesem Fuchs nicht beizukommen. Ich mußte es anders versuchen. »Du weißt aber, daß es die Kosmokraten gibt!« Da konnte er mir nicht ausweichen. »Kosmokraten«, erklärte er fast etwas abfällig. »Ein Name. Mehr ist das für mich nicht. Es gibt viele Namen für die Kräftekonstellationen des Universums. Wir leben in einem durch und durch polarisierten All. Jede Kraft besitzt eine Gegenkraft. Die simpelste Paarung ist die, hinter der du manchmal der Weisheit letzten Schluß siehst, die Paarung von Gut und Böse. Und die eineiigen Zwillinge Kosmokraten und Chaotarchen, oder wie du letztere nennen willst, sind in deinen Augen wohl auch nichts anderes. Vielleicht hast du dir, bedingt durch dein langes Leben, ein etwas schiefes Weltbild aufgebaut. Ich will beileibe nicht das hochjubeln, was du mit negativ, böse oder zerstörend bezeichnest. Aber alles in diesem Kosmos funktioniert nach den Gesetzen, die ihre Schöpfer gemacht haben. Für einen Diktator ist die Gewaltherrschaft das Positive. Für die Mächte, die sich den Kosmokraten in den Weg stellen, ist es das Chaos. Ich habe einmal einen klugen Spruch gehört. Er lautete: Nur ein Genie beherrscht sein Chaos. Da steckt viel Weisheit drin, aber keine Wertung. Hast du das verstanden?« Er tat so, als ob er ein Lehrmeister wäre, aber ich ließ ihn gewähren. Eigentlich war ich ganz zufrieden darüber, daß er überhaupt etwas sagte.
»Die Kosmokraten«, hakte ich ein. »Ich weiß nichts über sie. Mir fehlen in meiner Erinnerung ein paar Jährchen.« »Die Kosmokraten!« Das klang wie ein Vorwurf. »Ich sage es dir einmal ganz offen, Atlan. Laß mich mit diesen Unnahbaren in Ruhe! Ich weiß nicht, welches Spiel sie spielen. Aber eins weiß ich. Sie spielen sich auf. Betrachte die Suche nach dem Erleuchteten als deine Aufgabe. Du hast zwar durch diese Mächte aus dem Jenseits von der Gefahr erfahren, die der Erleuchtete mit EVOLO erzeugen will. Aber niemand kann dich zwingen, dieser Spur zu folgen. Nur du selbst kannst dir das befehlen. Eigentlich müßtest du das wissen.« Er wirkte fast ein wenig aufgeregt. So kannte ich den Sternentramp nicht. Er zog einen Priem aus einer Tasche und biß hinein. »Ich weiß nicht«, fuhr er kauend fort, »ob das, was deine Kosmokraten wollen, das ist, was dem Fortschritt der kosmischen Evolution wirklich dient. Zugegeben, es hat den Anschein. Wer sich aber so versteckt, wie diese Clique, der hat auch etwas zu verbergen. Sie sind so relativ wie jegliches Recht oder Unrecht.« »Interessante Ausführungen«, gab ich ehrlich zu. »Ich werde sie in meiner Erinnerung bewahren.« »Sehr vernünftig, Atlan. Du brauchst jetzt die Kosmokraten nicht, auch wenn sie dein Leben stark beeinflußt haben. Laß sie aus dem ganzen Geschehen heraus! Geh den Weg, den du selbst willst! Und jetzt muß ich mich um unseren Freund von Zyrph kümmern. Mrothyr bekommt seine dritte Injektion.« Er zeigte mir sehr deutlich, daß die Unterhaltung damit beendet war. Ich lehnte mich im Pilotensessel zurück und dachte nach. Es war eine Menge Wahrheit an dem, was Colemayn gesagt hatte. Und er strahlte etwas aus, was einfach überzeugte. Bezeichnend war auch, daß sich der Extrasinn selbst jetzt mit keinem Wort meldete. »Spielst du mit mir Mühle?« bat mich Chipol. »Du hast jetzt doch nichts zu tun, und ich möchte ein paar neue Tricks ausprobieren.«
»Mach ich, Junge.« Ich lächelte ihm zu. Colemayn würde für mich ein Rätsel bleiben, aber das Gespräch hatte mich doch irgendwie ermutigt. Einen Grund, nicht nach Latos-Tener zu fliegen, sah ich aber auch jetzt noch nicht. Schließlich entsprach das meinem eigenen Willen. Und nach dem sollte ich mich ja richten. »Erst braucht mein Magen etwas, Chipol«, sagte ich. »Wer weiß, wie lange unsere Schnuppe braucht, um aufzutanken.« »Ich hole dir etwas.« Chipol eilte zur Robotküche. »Ich stelle dir ein Mahl zusammen, das dich aus dem Sessel reißt.« Meine Augen suchten ganz unbewußt wieder die endlose Weite von Manam-Turu und die winzigen leuchtenden Punkte darin, während Chipol in der Küche hantierte.
* Das Robotschiff schwenkte in eirren Orbit um den Planeten Tener ein, als die ersten Ortungsergebnisse von Traykon-1 an das Pre-Lo vermittelt wurden. Es gab keine hyperenergetischen Energien auf dieser Welt. Und die normalenergetischen Echos waren so schwach, daß sie auf den Bildschirmen des Traykon-Schiffes kaum zu erkennen waren. Der knapp 20 Meter durchmessende Diskus mit den beiden Leitwerkstummeln und den weit nach vorn ragenden Spürsensoren senkte sich behutsam in die Tiefe. Traykon-1, der an der Steuerung stand, ließ keine Vorsichtsmaßnahme aus. Er hielt sich mit dem Schiff im Schatten des Planeten. Traykon-6 wertete unterdessen alle weiteren Informationen aus, die über die Sensoren hereingespielt wurden. Das Pre-Lo stand in seiner angenommenen robotischen Gestalt mit dem überdimensionierten Schädel in der Mitte der Pilotenkanzel und verfolgte jede Maßnahme seiner beiden Helfer genau. Einen Grund zum Eingreifen sah Pre-Lo Traykon oder Traykon-0 nicht. Seine
Vasallen arbeiteten zuverlässig und präzis, auch wenn es deren nur noch zwei gab. Im ursprünglichen Programm waren sechs Roboter erwähnt worden. Die vier, die verlorengegangen waren, konnte Pre-Lo Traykon verschmerzen. Das Vorprodukt des Erleuchteten fühlte sich so sicher und überlegen, daß es sogar auf die beiden noch existierenden Traykons hätte verzichten können, ohne Zweifel am Erfolg des programmierten Untergangs entstehen zu lassen. »Eine Welt ohne Technik«, berichtete Traykon-6 laut. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß dein Gegner sich um einen derart unwichtigen Flecken von Manam-Turu kümmert.« »Natürlich kannst du das nicht«, antwortete das Pre-Lo. »Du bist ja auch nur eine dumme Maschine. Die notwendigen Weichen wurden längst gestellt. Dieser Atlan wird kommen. Und außerdem besteht der tödliche Plan nicht nur in der Vernichtung dieses Lebewesens.« »Worin denn noch?« wollte Traykon-6 wissen. »Das geht dich nichts an!« erklärte Traykon-0 scharf. »Kümmere dich um die zugewiesenen Aufgaben!« Der Roboter schwieg. Seine stämmigen Arme ruhten auf den Konsolen der Ortungsanzeigen, und die Enden dieser künstlichen Arme spielten geschickt mit den Bedienungselementen. »Knapp eine Million Bewohner«, berichtete er. »Bauern, Händler und Jäger. Nomaden und Pflanzer. Nichts Auffälliges. Ein paar Mentalechos fallen allerdings aus dem Rahmen. Es scheint so, als ob ein paar Fremde auf Tener weilen. Ist dein Feind etwa schon dort?« Das Pre-Lo antwortete nicht. Statt dessen wies es Traykon-1 an, nach einem geeigneten Landeplatz auf der Nachtseite Ausschau zu halten. Das Robotschiff glitt jetzt schneller in die Tiefe. Es drang in die Atmosphäre des Planeten ein, wie das schrille Singen verriet, das durch die Wände gedämpft nach innen drang. »Ich habe ein paar kleine Städte ausgemacht«, berichtete Traykon6 weiter. »Aber es gibt nicht einmal normalen Funkverkehr.«
»Eins«, befahl das Pre-Lo, »meide die Städte. Suche einen Ort, an dem sich nur wenige Bewohner dieser Welt aufhalten!« Traykon-1 bestätigte die Anweisung. »Da ist eine kleine Ansiedlung.« Traykon-6 projizierte einen Leuchtpunkt auf die Darstellung der Planetenoberfläche. »Vier Häuser, alles Bauten aus Holz.« »Ist ein Wald oder ein anderes geeignetes Versteck in der Nähe?« wollte Pre-Lo Traykon wissen. »Eine kaum zugängliche Schlucht mit vielen Nischen und Höhlen«, entgegnete Traykon-1, der jetzt die besseren Beobachtungsmöglichkeiten in direkter Sicht mit seinen Infrarotsensoren besaß. »Dort landen wir!« Das Pre-Lo stellte sich neben die beiden Roboter und verfolgte die letzte Flugetappe. Dann berührten schwertartige Ausleger den Boden von Tener. »Gehen wir sofort?« fragte Traykon-1. »Ihr geht gar nicht«, teilte das Pre-Lo mit. »Ihr bleibt hier. Diese Angelegenheit erledige ich allein.«
5. »Die Geister sind unterwegs!« schrie Noma Taar und trieb ihren Ochsen mit der Peitsche zu noch größerer Eile an. »Sicher haben sie die Seele meines armen Mannes schon zu sich geholt.« »Es gibt keine Geister«, erklärte ihr der alte Memmer, der für seine bisweilen sagenhaften Heilerfolge bei kranken Tenern bekannt war. Er gehörte zu den sogenannten Alten, also jenen Daila, die seinerzeit auf Tener ausgesetzt worden waren. Seine latenten Psi-Fähigkeiten bestanden vor allem darin, anderen Lebewesen ein übergroßes Selbstvertrauen einflößen zu können. Und das war ja bekanntlich die wichtigste Voraussetzung für einen Heilungserfolg. »Habt ihr nicht den riesigen Schatten gesehen«, klagte die Tenerin,
»der über die Wälder in Richtung der Berge jagte? Ich sage euch, daß es Geister gibt. Das waren sie. Alles war umsonst, denn nun hat mein Tatar sein Leben ausgehaucht.« »Ich habe keinen Schatten bemerkt«, entgegnete Nemissa kühl. Ihr ging das ewige Gezeter der Alten allmählich auf die Nerven. Außerdem kämpfte sie mit zunehmender Müdigkeit, denn es war schon lange nach Mitternacht, und ihr Körper verlangte nach der verdienten Ruhe. »Es war auch gar kein Schatten da!« bekräftigte Memmer. »Und wenn du meinst, daß dein Mann nicht mehr lebt, können wir ja umkehren und dir ein Beerdigungskommando schicken.« »Das könnt ihr mir nicht antun.« Noma Taars Wehklagen wurden noch lauter. »Und außerdem ist es besser, wenn wir vorsichtshalber nachsehen.« »Wie weit ist es denn noch?« fragte Nemissa. »Die Mühle liegt hinter dem nächsten Hügel«, beeilte sich die dicke Tenerin zu sagen. »Wir sind gleich da. Ich koche euch auch einen heißen Tee, meine Freunde. Ja?« Als Nemissa und Memmer zustimmten, beruhigte sie sich wieder. Sofort gewann sie aber wieder Oberwasser. »Und den Schatten«, erklärte sie mit dem Brustton der Überzeugung, »habe ich doch gesehen.« Die beiden Daila verzichteten auf eine Antwort. Die drei zu Reittieren umfunktionierten Ochsen schleppten sich träge den letzten Hügel vor der Taar-Mühle hoch. Am fernen Horizont tauchten die ersten hellen Wolken auf. Die Nacht begann dem Tag zu weichen, und schon bald würde die Sonne Latos ihre wärmenden Strahlen auf die Landschaft werfen. Die Gebäude der Mühle tauchten vor ihnen auf, ein kleines Wohnhaus, die alte Mühle und die wesentlich größere neue Mühle. Noma Taar lenkte ihren Ochsen auf den freien Platz vor dem Wohnhaus. Dort sprang sie mit erstaunlicher Behendigkeit aus dem Sattel.
»Kommt, meine Freunde!« rief sie. »Tatar liegt dort drüben bei der neuen Mühle. Er wollte den Mahlstein mit einem Flaschenzug über die Rampe ins Innere ziehen, aber die Stricke waren zu schwach. Und jetzt liegt er unter dem Stein.« Die beiden Daila saßen ebenfalls ab und folgten der Tenerin. Tatar Taar war von den Beinen bis zum Oberkörper mit dem Mahlstein bedeckt. Er schlug die Augen auf, als er die Stimmen hörte. »Wo hast du dich herumgetrieben, Alte?« fauchte er sein Weib an. »Du solltest doch Hilfe holen. Ich liege hier die ganze Nacht eingeklemmt, und du feierst wilde Feste.« »Halt's Maul!« fuhr die Tenerin ihren Mann an. »Ich habe Hilfe geholt. Wenn du nicht so stur gewesen wärst und hättest dir von Anfang an helfen lassen, wäre das alles nicht passiert. Hier sind zwei Schuppenlose aus Lator. Sie werden dich schon befreien.« »Schuppenlose?« Es war mehr ein wütender Schrei als eine Frage. Der Müller drehte mühsam seinen Kopf zur Seite, bis seine Augen Nemissa und Memmer erfaßten. »Das sind Ausgeburten der Hölle. Ein junges Weib und ein Greis. Wie sollen die mir helfen können!« »Warte es doch ab, du ewiger Meckerer«, entgegnete Noma. »Wenn du dich auch einmal für etwas anderes als für deine dämliche Mehlmahlerei interessiert hättest, dann wüßtest du, daß die Schuppenlosen gute Freunde der Latorer sind und über Kräfte verfügen, die dir nicht einmal in deinen schlimmsten Alpträumen einfallen.« »Du bist übergeschnappt«, giftete Tatar Taar. »Wenn ich je aus dem Stein heraus komme, werfe ich dich in den Fluß!« »Vielleicht könntet ihr diese sinnlose Streiterei einmal beenden«, verlangte Memmer. »Wir sind schließlich nicht durch die ganze Nacht geritten, um euer Gezeter zu hören.« »Streiterei? Gezeter?« staunte Noma Taar. »Das war die Begrüßung. Macht euch nur frisch ans Werk. Holt das Schandmaul da raus! Los!«
Die Daila blickten sich nur stumm an. Sie hatten schon Begegnungen mit allen möglichen Tenern gehabt, aber hier schien es sich um zwei besonders ausgefallene Typen zu handeln. »Ich heiße Nemissa Pauh«, stellte sich das Mädchen dennoch höflich vor. »Und das ist Memmer, unser Doktor. Er wird dich schon wieder zusammenflicken, wenn ich dich von dem Mahlstein befreit habe.« »Du willst mich von dem Stein befreien?« Tatar Taar lachte trotz seiner mißlichen Lage. »Ich habe schon bessere Witze gehört, Schuppenlose.« »Er weiß nichts von euch«, erklärte Noma. »Er ist so dumm, wie die Nacht finster ist. Er ist überhaupt ein abscheulicher Kerl. In seinem Kopf ist nicht einmal Mehl.« Tatar Taar hatte sofort eine passende Antwort parat, aber Nemissa hörte nicht mehr zu. Sie konzentrierte sich auf das mächtige Rad des Mahlsteins und spürte, wie die Kraft allmählich in ihr wuchs. »Nur zu, Mädchen!« flüsterte ihr Memmer aufmunternd zu, aber auch diese Worte vernahm die Daila nicht. Als sie sicher war, daß die Kraft sie erfüllte, lenkte sie sie mit ihren Psi-Sinnen auf den Stein. Das Mühlrad erhob sich im Schein der aufgehenden Sonne Latos in die Höhe. Tatar lag mit aufgerissenem Mund da. Das vermeintliche Wunder verschlug ihm regelrecht die Sprache. Der Stein schwenkte zur Seite und glitt die Rampe hinauf, ohne das Gebälk zu berühren. Nemissas starrer Blick wich nicht einen Sekundenbruchteil von dem mächtigen Stück Fels. Behutsam legte sie den Stein in der Öffnung der Mühle ab. Memmer eilte zu dem Müller, der sich noch immer nicht bewegte. Er untersuchte ihn rasch. »Mehrere Abschürfungen und ein paar schwere Prellungen«, teilte er den beiden Frauen mit. »Aber nichts Ernstes. Ich muß ein paar Verbände anlegen. Dann schaffe ich ihn ins Haus. Wollte nicht jemand einen Tee für uns kochen?«
Noma atmete erleichtert auf. »Unkraut vergeht nicht«, erklärte sie selbstbewußt. »Natürlich war mir klar, daß der Stein ihn nicht zertrümmert hat. Um diesen Dickschädel ernsthaft zu beschädigen, müssen schon andere Brocken kommen. Und jetzt koche ich den Tee.« Sie winkte Nemissa, die die Tenerin ins Wohnhaus begleitete. Memmer öffnete seinen Ledersack und holte das Verbandzeug hervor.
* Wir mußten fast 24 Stunden warten, bis sich die STERNSCHNUPPE endlich wieder meldete. Alle meine Versuche, während dieser Phase der Ruhe das Schiff anzusprechen, scheiterten. Als es dann endlich soweit war, atmete ich auf. Chipol, der wohl die fünfhundertste Runde Mühle mit mir spielte, starrte mit offenem Mund in den Raum. »Wir sind startbereit«, erklärte die STERNSCHNUPPE. »Sind die. alten Zielkoordinaten noch gültig?« Ich erhob mich aus dem Sessel. »Vielleicht erklärst du mir erst einmal, was vorgefallen ist«, verlangte ich nachdrücklich. »Ich finde es reichlich ungebührlich, uns hier so lange herumsitzen zu lassen, ohne daß wir eine Information bekommen.« »Ihr wart nie ohne meinen Schutz«, behauptete das Schiff. »Aber ich war sehr beschäftigt.« »Soll das heißen, daß du 24 Stunden benötigst«, fragte Chipol, »um deine Tanks aufzufüllen? Ich hätte das in ein paar Minuten geschafft. Oder vielleicht in einer Stunde.« »Diese Zeit hätte mir normalerweise auch genügt«, gab die STERNSCHNUPPE zu. »Es trat aber eine unerklärliche Extraktion auf.«
»Eine was?« gähnte der Junge. »Ein Entzug, eine Ausdünnung«, erklärte ich ihm. Dann wandte ich mich an das Schiff. »Du hättest besser einen Standortwechsel vornehmen sollen, wenn es an dieser Stelle nicht funktionierte, Energien aus einem Hyperraumniveau zu holen.« »So schlau bin ich auch, Atlan. Aber wie soll man Fahrt machen, wenn man keine Energievorräte besitzt?« »Keine Energievorräte?« Jetzt war das Staunen auf meiner Seite. »Du hast doch die Reservetanks.« »Sie waren ebenfalls fast leer. Und die Anzeigen waren falsch. Ich konnte das Risiko, die letzten Vorräte zu verbrauchen, nicht eingehen. Es hätte euer Leben kosten können.« Mir wurde mit einem Schlag klar, daß unsere Lage viel gefährlicher gewesen war, als ich angenommen hatte. Selbst der wachsame Logiksektor hatte nicht bemerkt, was wirklich geschehen war. Sogar Colemayn schüttelte nur verwirrt den Kopf, als er diese Erklärungen der STERNSCHNUPPE vernahm. »Aber du hast es geschafft?« fragte ich vorsichtshalber noch einmal nach. »So ist es«, bestätigte die Robotik des Diskusschiffs. »Aber ich mußte auf jedes Quant Energie verzichten, denn bisweilen standen meine Versuche auf des Messers Schneide. Nach achtzehn Stunden war es mir gelungen, einen Reservetank halb zu füllen. Damit wagte ich einen kürzen Flug, der unbemerkt blieb, denn ich verzichtete auch auf jede Anzeige im Kommandostand. Außerdem wollte ich euch nicht beunruhigen. Das werdet ihr sicher verstehen.« »Ich verstehe immer Kaulquappe«, meinte Chipol in Anlehnung an eine dailanische Redensart. »Die Theorie«, fuhr die STERNSCHNUPPE fort, »die Colemayn geäußert hat, scheint sich bestätigt zu haben. Ich habe ein paar kleine Körper ausgestoßen, die absolut energielos waren. Sie verschwanden sofort aus der optischen Beobachtung. Allerdings
konnte ich feststellen, daß der Soxhlet-Effekt, so habe ich diese Erscheinung getauft, hier besonders stark wirksam wurde, weil wir am Rand einer H-Plus-Zone flogen. Solche Konzentrationen aus ironisierten Wasserstoff sind in Manam-Turu außergewöhnlich häufig.« Diese Aussage bestätigte die Worte Colemayns, der behauptet hatte, NGC-4449 und Manam-Turu seien identisch. »Wie kommst du gerade auf Soxhlet?« Der Name erinnerte mich an etwas. »Das war doch ein terranischer Chemiker des 20. Jahrhunderts.« »Stimmt«, bestätigte das Schiff, »ich habe den Namen von dir. Du hast ihn einmal erwähnt und dabei gesagt, daß dieser Mann eine Maschine erfand, die der Extraktion fester Stoffe diente. Würdest du aber jetzt meine Frage beantworten? Gelten die alten Zielkoordinaten nach wie vor? Willst du noch nach Latos-Tener?« Ich antwortete erst einmal nichts, und das aus einem guten Grund. Es gab nur zwei Möglichkeiten, was den Namen Soxhlet betraf, an den ich mich genau erinnerte, obwohl ich ihn vor über tausend Jahren zum letzten Mal gehört oder gelesen hatte. Entweder versagte mein Gedächtnis. Oder die STERNSCHNUPPE tischte mir eine Lüge auf. Ich wußte nämlich eines ganz genau: In Gegenwart der Schiffsrobotik hatte ich nie von der SoxhletExtraktion gesprochen! Und der so seltsam klingende Name war mir nur von Terra her bekannt. Konnte das Schiff meine Gedanken auffassen? Das war eigentlich nicht vorstellbar. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob ich nicht an Soxhlet und seine Extraktion gedacht hatte, als ich hörte, daß dem Schiff die Energien entzogen worden waren. »Es kann sein«, meinte Colemayn, »daß ich diesen Namen erwähnt habe. Aber ich erinnere mich nicht daran. Jedenfalls ist mir Soxhlet nicht gänzlich unbekannt.« »Ihr seid alle übergeschnappt«, seufzte ich und gab es auf, über diese Rätsel nachzugrübeln. »Kurs Latos-Tener! Wir haben schon
genug Zeit verloren.« Die STERNSCHNUPPE antwortete nichts, aber die Signale am Pilotenstand flammten auf, und die fernen Lichtpunkte der Sterne strebten behutsam auseinander. Das war ein sicheres Zeichen, daß das Schiff voll beschleunigte. Wenige Minuten später verschwand das Bild des Panoramaschirms, als wir in den Zwischenraum wechselten. »Spielen wir zu Ende?« fragte Chipol. »Natürlich nicht«, fügte er hinzu. »Du stehst wieder unter Strom.« Mich beschäftigte ein Gedanke. Er begann dort, wo Colemayn sich über die Theorie des Energieentzugs als Nebeneffekt eines bestimmten Vorgangs geäußert hatte. Und er endete bei den Aussagen der STERNSCHNUPPE, die die Worte des Sternentramps praktisch bestätigt hatte. Sollte es wirklich möglich sein, daß jemand in Manam-Turu in eine andere zeitliche oder räumliche Dimension wechselte? Von dem mir bislang bekannten Völkern war keines dazu in der Lage, auch nicht die Hyptons oder ihre unterjochten Handlanger. Der Erleuchtete, dem traute ich so etwas zu, aber er hatte seine technischen Bastionen zweifellos im Nukleus vom Alkordoom zurücklassen müssen. Also mußte es jemand anders gewesen sein. Aber wer? Wer war denn, bei allen Teufeln der Dimensionen, dazu fähig, durch Zeiten und Räume zu springen? Nicht einmal die Kosmokraten, die ich nach Colemayns Worten aus meinem Bewußtsein verbannt hatte, waren dazu ohne weiteres in der Lage. Und woher, fluchte ich innerlich weiter, wußte ich das?
* Nemissa Pauh war mit ihren 19 Jahren so jung, daß sie – gemessen
an der durchschnittlichen Generationenfolge – ohne weiteres eine Enkelin von Noma Taar hätte sein können. Biologisch war das natürlich undenkbar, denn die Partial-Telekinetin war eine Daila und die Müllersfrau eine Tenerin. Nemissa hatte längst erkannt, daß sich unter der beschuppten und rauhen Schale Nomas ein weiches Herz verbarg. Ohne harte Töne schien aber bei der Tenerin nichts zu funktionieren. Im Augenblick schürte sie mit hektischen Bewegungen das niedergebrannte Feuer im Kamin des Hauptraums an. Die rückwärtige Wand und die klobige Holztür, die etwas schief in den Angeln hing, verrieten, daß das ganze Wohnhaus nur aus zwei Räumen bestand. Hinter der Tür mußte der Schlafraum sein, und das hier war Küche, Wohn- und Aufenthaltsraum in einem. Das schäbige Toilettenhäuschen hatte Nemissa schon bei der Ankunft etwas abseits des Wohnhauses zwischen diesem und der alten Mühle entdeckt. »Steh nicht nutzlos da herum«, schimpfte Noma laut. »Hol den Wasserkessel! Er steht dort drüben auf dem schiefen Sims.« Sie deutete mit einem Daumen über die Schulter. Die Daila erkannte den Blechtopf. Es wäre ihr ein leichtes gewesen, den Behälter per Teleportation zu ihr hinschweben zu lassen, denn es war noch genügend Kraft in ihr, und von einem toten Moment war nichts zu spüren. Aber über diese Möglichkeit dachte sie keine Sekunde nach. Mit schnellen Schritten bewegte sie sich über die kreuz und quer liegenden Felle zu dem Sims und nahm den Topf in die Hand. »Wasser!« bellte die Müllersfrau kurz, denn sie war eifrig damit beschäftigt, mit kräftigem Blasen das Feuer anzufachen. In einer Ecke des Raumes floß unablässig ein dünnes Rinnsal aus der Wand. Das Wasser kam über eine Ableitung aus dem Fluß, die wohl Tatar oder sein Vater angelegt hatte. Es floß in ein Loch im Boden, von wo aus es wieder in den Fluß gelangte. Nemissa hielt die Öffnung des Topfes unter den dünnen Strahl.
Während sich das Gefäß langsam füllte, blickte sie sich um. Die vier Fenster bestanden aus mattem Glas. Zwei davon waren zur Seite gekippt. Durch sie strömten die frühen Strahlen der Morgensonne herein. In einer Ecke stand eine klobige Holzbank und davor ein kleiner Tisch. Darauf lagen wild durcheinander mehrere beschriftete Lederfetzen. Sie vermutete, daß dies Tatar Taars Aufzeichnungen über seine Aufträge waren. Oder seine Konstruktionspläne für die neue Mühle. Gegenüber dieser Ecke reihten sich vier Hocker um einen flachen Tisch. Auf diesem standen noch zwei Blechschalen und zwei hölzerne Näpfe. Daneben lagen übereinander Messer und Löffel. Sie konnte diese Unordnung verstehen, denn die Müllersfrau war sicher Hals über Kopf aufgebrochen, als ihr Mann den Unfall erlitten hatte. Der Kessel war gefüllt. Nemissa brachte ihn zu Noma, die ihn wortlos in die Hand nahm und auf dem Rost über dem Feuer absetzte. »Du Schuppenlose mit deinen Kräften«, sagte sie dann, während sie die Utensilien vom Eßtisch räumte, »warum benutzt du diese Fähigkeiten nicht, um den Topf fliegen zu lassen? Du gehst hin und holst ihn! Du machst dir das Leben selbst schwer.« »Vielleicht, Noma«, antwortete die Daila nachdenklich. »Diese Gaben haben auch Nachteile.« »Das kann ich mir nicht vorstellen. Wenn ich das könnte, hätte ich den sturen Idioten selbst unter dem Mahlstein hervorgezaubert.« »Es ist kein Zauber, Noma.« »Von mir aus, Schuppenlose.« »Ich heiße Nemissa. Nemissa Pauh.« »Weiß ich.« Sie rieb sich ihre Hände am Fellumhang ab und starrte leicht nach oben in die Augen der Daila. »Was soll daran von Nachteil sein, wenn man Dinge bewegen kann, ohne sie anzufassen? Und wenn es sich dann noch um Brocken handelt, die der
Eigenbrötler nicht einmal mit einem Flaschenzug in die Höhe bringt?« »Weißt du, Noma«, antwortete die Partial-Telekinetin etwas traurig, »es ist so, daß meine Vorfahren, von denen heute noch einige auf Tener leben, eben wegen dieser scheinbar so schönen Fähigkeiten unsere Heimatwelt verlassen mußten. Wir sind Ausgestoßene, Verbannte. Man liebt uns nicht, weil ein kleiner Teil von uns anders ist.« »Dein Heimatvolk scheint mir das Mehl nicht richtig sortiert zu haben«, ereiferte sich die Müllersfrau. »Einen solchen Schwachsinn habe ich noch nicht einmal von den lahmen Ochsen da draußen gehört. Und das will was heißen. Wenn ich etwas zu sagen hätte, dann würde ich den Schuppenlosen ein paar Schuppen verpassen, damit sie in ihrer Blindheit ersticken. Wo bleibt eigentlich der Tatterich mit dem anderen Tatterich?« Nemissa verstand, daß sie damit Memmer und ihren Mann meinte. Sie wollte gerade zu einer beruhigenden Antwort anheben, als ein peinigender Schmerz sie durchzuckte. Gefahr! Jemand war in Gefahr! Es konnte nur Memmer sein. Sie konzentrierte die verbliebenen Kräfte und rannte zur Tür hinaus, ohne sich um Noma zu kümmern. »Heh!« schrie die Tenerin. »Hat dich etwas gebissen? Ich komme mit, schuppenlose Zauberin!« Es waren ihre letzten Worte.
6. Nemissa Pauh stutzte. Zwischen den beiden Mühlen kamen ihr drei Personen entgegen. Zwei davon kannte sie, Memmer und den Müller Tatar Taar. Der Verletzte stützte sich humpelnd auf den Daila. Auf seiner anderen Seite hatte er den Arm um einen Tener gelegt, den sie noch nie
gesehen hatte. Es handelte sich um einen älteren Bewohner dieses Planeten, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Taar aufwies. Aber ganz sicher war sich die Partial-Teleporterin darin nicht, denn manchmal hatte sie das Gefühl, daß ein Tener aussah wie der andere. Nur in der Farbe der Schuppen unterschieden sich diese Wesen gelegentlich. Was die Daila aber am meisten verblüffte, war die Tatsache, daß der stechende Schmerz in ihrem Kopf, der Gefahr für einen ihrer Artgenossen signalisierte, plötzlich verschwunden war. Sie blickte sich um, während sie auf die drei männlichen Gestalten zuschritt. Niemand anders war weit und breit zu sehen. Und ihre Empfindung für die Gefahr anderer Verbannter reichte nur so weit, wie sie jeweils sehen konnte. Der Hilferuf mußte also von Memmer stammen, aber der machte einen ganz normalen Eindruck. Sie wollte gerade eine Frage stellen, als Noma, die ihre Höhe erreicht hatte, mit einem leisen Schrei zusammenbrach. Nun war Nemissas Verwirrung komplett. Tatar Taar reagierte überhaupt nicht. Auch seine beiden Helfer taten so, als ob sie den Zusammenbruch der Müllersfrau gar nicht bemerkt hätten. Die Daila brauchte nur einen kurzen Blick nach unten zu werfen, um festzustellen, daß Noma Taar tot war. Ihre Schuppen glühten hellblau auf und lösten sich in Fragmenten vom Körper. Nemissa wußte, wie Tener starben. Und auch Tatar Taar mußte das wissen, denn er war schließlich ein Geschöpf dieser Welt. Er rührte sich immer noch nicht. »Was hat das zu bedeuten?« stammelte das Daila-Mädchen. Nervös fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn. »Sie war unbrauchbar für meine Pläne«, erklärte Memmer zu Nemissas Erstaunen. »So ist es«, ergänzte der verletzte Müller. »Mit Tatar Taar kann ich noch etwas anfangen, aber die Alte ist zu geschwätzig. Sie könnte selbst unter dem Einfluß des Unital-Psi-Sinns aus der Rolle fallen.
Und Versager kann ich mir nicht leisten.« »Aber du bist doch Tatar Taar!« Die Daila verstand die Welt nicht mehr. »Ich war vielleicht einmal Tatar Taar.« Der Müller lachte. »Jetzt bin ich ein Teil von mir.« »Ihr seid verrückt geworden«, stellte das Mädchen entsetzt fest. »Absolut nicht.« Erstmals meldete sich der Unbekannte zu Wort. »Du wirst es gleich wissen.« Nemissa Pauh entdeckte in dieser Sekunde eine weitere PsiEigenschaft, die sie wahrscheinlich nur deswegen nicht kannte, weil sie noch niemals in ihrem Leben in einer solchen Situation gewesen war. Sie spürte etwas in ihrem Kopf, was entfernt an den stechenden Schmerz erinnerte, den sie empfand, wenn andere Daila in Gefahr waren. Diesmal war es weniger ein peinigendes Stechen. Es glich eher dem Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu fallen. Nemissa erkannte blitzartig, was das bedeutete. Sie selbst schwebte in tödlicher Gefahr! Instinktiv aktivierte sie alle Kräfte ihres Übersinns, obwohl sie gar nicht wußte, wogegen sie ihre telekinetischen Fähigkeiten richten sollte. Aber das war ihr gleichgültig. Sie baute einen Wall um sich herum, der alles abwehren sollte, was sich ihr näherte. Sie erwartete, daß jemand eine tödliche Waffe auf sie richten würde, aber genau das geschah nicht. Sie erkannte das winzige Ding, das sich aus dem Körper des unbekannten Teners löste, auch nicht mit ihren Augen. Erst als das kleine Stück aus schwarzer Materie unmittelbar vor ihr auftauchte, bemerkte sie es an der Kurve, die es beschrieb. Es wurde mehr unbewußt als gewollt von der Kraft erfaßt und in eine andere Richtung gelenkt. Dann verstand sie. Der fremde Tener schoß mit Teilen seiner Körpersubstanz auf sie! »Das wird dir wenig nützen«, lachte der Unbekannte selbstsicher.
Ein wahrer Hagel von kleinen Objekten verließ seinen Leib, während Memmer und Tatar Taar zufrieden nickten, als seien sie die Urheber dieses Angriffs. Nemissa schleuderte den winzigen Geschossen ihre telekinetische Kraft entgegen und verjagte die Teile in alle Richtungen. Doch ihr Gegner gab nicht auf. Eine zweite Welle folgte, und diese war so dicht, daß sie in ihrer Gesamtheit als dunkle Wolke zu erkennen war. Die Daila erkannte, daß sie mit einer bloßen Abwehr keine Chance mehr gegenüber diesem Angriff hatte. In ihrer Not gebar sie eine neue Idee, über die sie wohl nachgedacht, aber nie realisiert hatte. Sie wandte die telekinetische Kraft auf ihren eigenen Körper an. Ganz bewußt ging sie dieses Risiko ein, denn sie wußte nicht, welche Auswirkungen oder Nebenerscheinungen das haben würde. Sie riß sich selbst in die Höhe. Die Überraschung war so groß, daß sie für Sekunden den Überblick verlor, denn die Bilder vor ihren Augen überschlugen sich mit rasender Geschwindigkeit. Die Kraft wirkte auf sie selbst viel stärker als auf fremde Gegenstände! Nemissa raste weiter nach oben, schwang sich über das Wohnhaus des Müllers hinweg, um dieses zwischen sich und den Angreifer zu bringen, und sank dann langsam in die Tiefe. Als eins der offenen Fenster vor ihren Augen auftauchte, folgte sie einem Gefühl und lenkte ihren Körper durch die Öffnung. Dann berührten ihre Füße wieder festen Boden.. Sie atmete schwer, denn jetzt spürte sie, wie sehr diese Aktion das Reservoir der Kraft erschöpft hatte. Sie rannte zum Wasserspender und hielt ihre Hand darunter. Dann benetzte sie ihre Stirn mit dem kühlen Naß. Ihre nächste Frage war, ob ihr unheimlicher Gegner bemerkt hatte, daß sie in das Haus eingedrungen war. Eine Antwort fand sie nicht, wohl aber ein Versteck. Sie schob sich durch die Tür zum Schlafraum und stellte sich so in die dunkle Kammer, daß sie von draußen kaum zu bemerken war, doch den Eingang im Auge
behalten konnte. Ihr Atem ging noch immer schwer, und so war sie froh, eine kleine Verschnaufpause zu haben. Was mochte geschehen sein? Wer war der fremde Tener, in dem sie den Drahtzieher des Geschehens vermutete? Memmer und Tatar Taar hatte dieser schon in seiner Gewalt. Beide sprachen, als seien sie Ungeheuer. Sie nutzte die Pause, um neue Kraft zu sammeln, aber so recht wollte ihr das nicht gelingen. Nahte am Ende gar ein toter Moment? Oder hatte sie sich zu sehr verausgabt, als sie die winzigen Körpergeschosse abgewehrt hatte? Nur langsam beruhigte sich ihr aufgewühltes Bewußtsein. Die Eingangstür wurde heftig aufgestoßen. Nemissa erkannte den fremden Tener. Seine Augen suchten den Raum ab. Als er für einen Moment zur Seite blickte, erfaßte die Partial-Telekinetin den Topf mit dem kochenden Teewasser über der Feuerstelle und schleuderte ihn mit aller telekinetischen Gewalt in das Gesicht ihres Gegners. Der nahm dies gar nicht zur Kenntnis! Memmer und Tatar Taar, der noch humpelte, tauchten im Eingang auf. Sie hatten mitbekommen, was geschehen war. Lautes Gelächter erklang aus ihren Mündern, und das in totaler Übereinstimmung. Sie sind eins! dachte Nemissa entsetzt. Der Fremde steuerte zielsicher den Durchgang zum Schlafraum an. Die Daila schleuderte ihm alles entgegen, was sie sah, die Tische, Stühle und die Felle, die den Boden bedeckten. Der Tener schüttelte die Gegenstände wie lästige Insekten von seinem Körper und setzte dabei unbeirrt einen Fuß vor den anderen. Schließlich faßte Nemissa nach dem letzten Rest der Kraft. Sie griff damit nach dem Unheimlichen. Sie wollte ihn aus dem Haus befördern, aber das funktionierte nicht. Der Angreifer verwandelte seine Gestalt. Er wurde zu einem stählernen Ungeheuer mit einem gewaltigen Schädel von kreisrunder Form. Der Kopf schien nur aus einem einzigen pechschwarzen Auge zu bestehen.
Ein Roboter aus den Erzählungen der Alten! dachte die Daila mit wachsendem Entsetzen. Im gleichen Moment hüllte sich die Gestalt in einen rosafarbenen Energieschirm. Nemissa spürte, wie ihre Kraft von diesem Hindernis auf sie selbst reflektiert wurde. Sie erlahmte. Etwas riß sie nach vorn, ihre eigene Kraft? Ein stechender Schmerz in ihrem Oberschenkel. Hatte sie etwas übersehen? Hatte sie eins der Geschosse getroffen? Das war doch alles Unsinn, sagte sie sich. Sie sah das Bild eines weißhaarigen Mannes vor ihrem geistigen Auge. Er war groß und muskulös. Das war der Feind. Ihn mußte sie stellen. Sie hörte auch den Namen dieses abscheulichen Zerstörers. Er lautete Atlan. Der Schmerz in ihrem Bein ließ schnell nach. Der Roboter nahm seine ursprüngliche Form wieder an, die eines Teners, den er nach dem Vorbild des ehemaligen Tatar Taar nachgebildet hatte. »Endlich!« sagte der Teil von ihnen, der einmal Memmer gewesen war. »Ich hatte schon gedacht, daß ich dich töten müßte. Der Stamm hat das auch gedacht, aber ich habe erkannt, wie wertvoll du für mich bist.« »Schweig! Und sei dein eigen Ich!« herrschte der Unbekannte, der nun in Nemissa lebte, den ehemaligen Memmer an. »Kümmere dich darum, daß der Teil Tatar Taar schnell gesund wird. Drei Ochsen sind draußen. Einer steht auf der Weide hinter der alten Mühle. Wir sind vier, und wir brauchen vier Ochsen, um in Lator unauffällig zu erscheinen.« Memmer zuckte zusammen. Nemissa empfand Genugtuung darüber, denn sie hatte das Gefühl, daß sie ihm diesen Tadel erteilt hatte. Sie wußte nun auch, wer sie war. Sie war das Pre-Lo, Pre-Lo Traykon und Traykon-Null. Oder besser gesagt, sie war ein Teil des Stammes Pre-Lo. Sie fühlte sich gut. Und sie beseelte nur ein Wunsch. Dieses weißhaarige Scheusal namens Atlan mußte vernichtet werden. »Wir gehen!« befahl der Stamm.
Die vier Gestalten verließen das Wohnhaus der Taar-Mühle. Keine von ihnen warf der auf dem blanken Boden liegenden toten Gestalt Noma Taars auch nur einen Blick zu. Der sanfte Wind des Morgens wehte die letzten hellblauen Schuppen vom leblosen Leib der Tenerin. Und keiner der vier schenkte den hoch oben kreisenden Aasfressern auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Der Tatar-Taar-Teil des Pre-Los holte den vierten Ochsen von der Weide und schwang sich auf dessen Rücken. Der Memmer-Teil winkte aufmunternd in Richtung der Stadt Lator, und der Nemissa-Teil begann, neue Kräfte zu sammeln. Er würde sie brauchen, für sich, für das Pre-Lo, wenn es galt, den Weißhaarigen telekinetisch zu zermalmen. Das Pre-Lo selbst, in der Gestalt eines mittelalten Teners, ließ sich zurückhängen. Es hatte kein Interesse daran, gemeinsam mit den Teilen die Stadt zu erreichen. Lator war groß. Atlan würde sich diesen Ort als Ziel wählen, darin war es sich sicher. Und wenn nicht, so würden die Brieftauben aus den anderen Städten mitteilen, wo es dem Testobjekt begegnen könnte, das der Herr nicht mehr ertragen konnte. Im Plan des programmierten Untergangs meldete sich sanft eine andere tödliche Aussage. Das Pre-Lo erfuhr aus sich heraus, daß Atlan nur ein erster Schritt war – von der Erprobung seiner Fähigkeiten, insbesondere der des Unital-Psi-Sinns einmal abgesehen –, hinter dieser Mission verbarg sich eine zweite. Der Herr besaß einen Feind, den er fürchtete. Atlan fürchtete er nicht. Das Weißhaar aus der Fremde störte nur den Plan der Realisierung des … (hier brach das Programm ab. Es erschien nur das Symbol für »unbedeutend«). Das Pre-Lo ließ seine Teile vorausreiten, denn diese Teile waren es selbst. Sie würden nichts tun können, was es selbst nicht auch gewollt hätte. Die Körpergeschosse, die das Unital-Potential, seine eigene
geistige Substanz, in die Leiber der Teile gepflanzt hatte, funktionierten perfekt. Das waren die Zeichen, die der Herr erproben wollte. Und es waren die Zeichen, die dem Pre-Lo das Selbstverständnis gaben. Die drei Teile drehten sich nicht einmal um, als das Pre-Lo einen anderen Weg nahm. Und als es außer Sichtweite war, wechselte es seine Gestalt in die des Programmbilds E8 A9. Die organische Masse blieb organisch. Aber ihr Aussehen hatte nichts mehr mit der Gestalt eines Traykon-Roboters oder der eines Teners gemeinsam. Der Körper einer achtbeinigen Gazelle setzte sich in Bewegung. Er entwickelte innerhalb von wenigen Sekunden eine Geschwindigkeit, die die laue Luft des Vormittags erhitzte. Das Pre-Lo war mit dem Gang der Dinge zufrieden. Und wenn es zufrieden war, dann waren es auch seine Teile. »Du kannst natürlich machen, was du willst!« Colemayn war aufgebracht. Ich blieb gelassen, denn ich hatte das Ziel vor Augen, das Latos-Tener-System. Es war ein ganz normales Sonnensystem von Manam-Turu, wie die hereingespielten Bilder zeigten. Die Robotik der STERNSCHNUPPE ging davon aus, daß Latos der Name der weißen Normalsonne war und Tener der des einzigen bewohnten Planeten. Diesen hatte ich leicht ausmachen können. Es handelte sich zwar um den innersten Planeten, aber er bewegte sich in der Ökozone, in der allein die Art von Leben entstehen konnte, die meiner Daseinsform entsprach und auch der der Daila. Und daß hier Daila waren, war ja klar. Colemayns Kritik bekam ich zu hören, als der Sternentramp die Auswertung aller ortbaren Daten gemeinsam mit mir durchgeführt hatte. »Eine ganz und gar harmlose Welt«, sagte der Alte. »Ja«, antwortete ich. Dabei blieb ich ganz gezielt so knapp, wie nur irgendwie möglich. Er konterte nicht weniger kurz. »Zu normal! Zu harmlos!«
»Laß die Katze aus dem Sack!« fauchte ich ihn unwirsch an. »Ich bin kein kleines Kind, dem man Aufgaben stellen muß.« »Manchmal«, er lächelte so begeisternd und erfrischend, daß ich meinen aufkeimenden Zorn sofort in die letzte Ecke meines Gedächtnisses verbannte, »kommst du mir vor wie ein Kind. Hast du nie gute und gütige Lehrer gehabt? Man könnte es fast meinen. Und die Katze kann ich nicht aus dem Sack lassen. Ich habe zwar einen Rucksack, aber darin befindet sich keine Katze.« Ich stöhnte innerlich. Er will dich vor einem unvorbereiteten und überhasteten Besuch dieser Welt warnen, half mir der Extrasinn. Es ist nicht logisch, daß die STERNSCHNUPPE die Daten einer so mittelalterlichen Welt aufgeschnappt hat. »Du willst mich also warnen«, sagte ich Colemayn. »Nicht nur das, Atlan. Ich möchte dich auch bitten, etwas Bestimmtes mitzunehmen.« »Etwas Bestimmtes!« äffte ich ihn nach, denn schon war meine Geduld wieder verschwunden. »Hölle, Bomben und Granaten! Was denn?« »Mich«, antwortete er. »Einen kranken und alten Weltenopa?« »Einen Bummler durch die Galaxien, einen priemkauenden und total verschrobenen alten Geist«, korrigierte er mich gelassen. »Und außerdem eine volle Kampfausrüstung.« »Warum sagst du nicht gleich, daß ich den Boden dieses Planeten überhaupt nicht betreten sollte?« »Weil ich weiß, daß du diesen Vorschlag sowieso nicht befolgen würdest. Du besitzt deinen eigenen Willen. Das merkt selbst ein Weltenopa.« »Entschuldige dieses dumme Wort«, lenkte ich ein. »Ich gebe zu, ich bin nicht in meiner besten Form. Aber noch bin ich nicht von allen guten Geistern verlassen. Ich nehme deinen Vorschlag an. Wir beide besuchen diesen Planeten. Mrothyr ist auf dem Weg der
Besserung. Die STERNSCHNUPPE setzt uns ab. Chipol bekommt die verantwortungsvolle Aufgabe zu wachen und für den Zyrpher zu sorgen.« Der junge Daila verzog sein Gesicht, aber aus seinen Augen sprach das Einverständnis. »Und wer spielt mit mir Mühle, während ihr da unten herumstöbert?« fragte er. »Ich«, sagte die STERNSCHNUPPE. »Wenn das so ist«, meinte der Junge jovial, »dann macht, daß ihr von Bord kommt.« Die STERNSCHNUPPE beschleunigte in die Tiefe. Colemayn zwinkerte mir zu. Es schien ihm besser zu gehen.
7. Prympf, seines Zeichens Majur-Lator, also so etwas wie Bürgermeister der größten Ansiedlung von ganz Tener, stand am späten Mittag fast allein auf dem Marktplatz seiner Gemeinde. Fast allein, das bedeutete, daß vor dem nach draußen verlagerten Bierstand des »Blechkrugs« immer noch ein paar Unentwegte dabei waren, ihre restlichen Kupfermünzen gegen den Gerstensaft einzutauschen. Prympf liebte die Ordnung. Auch die Sauberkeit. Aber auf seinem Marktplatz sah es aus, als wären alle Nachbardörfer zu einem Überfall auf Lator unterwegs gewesen. Prympf wußte, daß seine eigenen Bürger diese Schweinerei erzeugt hatten. Und die letzten dieser Ferkel hingen noch jetzt schwankend am Bierstand des »Blechkrugs«. Prympf hatte 37 Tener als Aufräumungskommando angeworben. Alle 37 hatten sich freiwillig gemeldet. Aber keiner war da! Kam es also wieder einmal auf ihn allein zu, den Dreck zu
beseitigen? Wahrscheinlich ja. Omurt, der bei weitem Älteste der freiwilligen Aufräumer, torkelte auf den Majur-Lator zu. Der Tener hatte Mühe, ein Bein vor das andere zu setzen. Er klammerte sich an den Majur-Lator, als er diesen erreicht hatte. »Du bist betrunken.« Prympf drängte Omurt zur Seite. »Ich kann dich nicht gebrauchen.« »Aber ich will aufräumen helfen«, lallte der alte Tener. »Außerdem höre ich das Getrappel von Ochsen. Da kommen uns sicher noch ein paar helfen.« Der Majur-Lator schenkte Omurt keine Aufmerksamkeit mehr, denn nun vernahm auch er das dumpfe Stampfen von nahenden Reitern. Er ging den Geräuschen entgegen, während Omurt lallend und schimpfend über die Pflastersteine des Marktplatzes in Richtung des »Blechkrugs« schlurfte. Aus einer Seitengasse tauchten die Ankömmlinge auf. Prympf wunderte sich nicht darüber, die beiden Schuppenlosen Nemissa und Memmer zu erkennen. Erstaunen ergriff ihn jedoch, als er sah, daß der dritte Reiter der Müller Tatar Taar war. Der Eigenbrötler war stadtbekannt, obwohl ihn hier in Lator noch nie jemand gesehen hatte. Über ihn wurden fast so viele Geschichten erzählt wie über den »Einsamen in den Bergen«. Beide hatten auch eins gemeinsam. Sie waren verschrobene Typen, die ihren eigenen Weg gingen und die Städte und Dörfer der Tener mieden wie die Pest. Da Tatars Frau von Zeit zu Zeit in die Stadt kam, hielt sie diese Gespräche auch wach. Und viele Städter besuchten den kauzigen Müller, um entweder ein Geschäft abzuwickeln oder aber um ihre Neugier zu stillen. Sie wollten den Eigenbrötler einfach einmal sehen und schimpfen hören. In diesem Punkt unterschieden sich Taar und der »Einsame in den Bergen«. Von dem Müller wußte jeder, daß es ihn wirklich gab. Und die, die das nicht glauben wollten, konnten sich mit einem Tagesausflug zur Mühle selbst davon überzeugen, daß sie sich irrten.
Ob es den »Einsamen in den Bergen« tatsächlich gab, konnte jedoch niemand sagen. Die einen behaupteten, er sei eine Erfindung, die anderen erklärten ihn zur Realität. Und die einen meinten, die geheimnisvolle Figur sei ein Tener, wohingegen wieder andere annahmen, es handle sich um einen Schuppenlosen. Tatar Taar in der Stadt! Das war schon eine kleine Sensation. Es mußte einen besonderen Grund dafür geben, sagte sich Prympf. Er winkte den dreien zu, die darauf ihre Ochsen anhielten und abstiegen. »Was führt dich zu uns, Müller?« fragte der Majur-Lator jovial und ein wenig amüsiert. Er dachte schon daran, welche Geschichten heute abend in den Kneipen über ihn erzählt werden würden, wenn sich die Bürger von der gestrigen Feier erholt hatten. »Das geht dich einen feuchten Staub an!« donnerte Tatar Taar los. »Immerhin bin ich hier der Bürgermeister«, gab Prympf zurück. »Ich habe ein Recht zu wissen, wer in Lator ein und aus geht.« »Kümmere dich um deinen eigenen Dreck!« fauchte der Müller und sah in eine andere Richtung. »Laß ihn bitte in Ruhe«, mischte sich Nemissa schnell ein. »Er hat ein paar Verletzungen erlitten, die ihm noch zu schaffen machen. Memmer und ich haben ihn mitgenommen, damit er sich in unserer Krankenstation restlos auskurieren kann. Die Mühle ist vorerst geschlossen. Der Dorfschreier soll das allen mitteilen, damit keiner umsonst zur Mühle reitet oder fährt. Und damit Noma ihre Ruhe hat.« »Ja, natürlich!« Tatar klatschte in die Hände. »Damit sie ihre Ruhe hat.« »So ist es«, bekräftigte auch Memmer. »Ich muß weiter, Prympf. Wir sehen uns später.« Dem Majur-Lator blieb nichts anderes übrig, als die drei ziehen zu lassen. Etwas komisch kam ihm die Sache schon vor. Insbesondere fiel ihm auf, daß der Heiler der Schuppenlosen ihn mit seinem Namen angeredet hatte, denn das war nicht üblich. Es stellte zwar
keinen Verstoß gegen die Regeln von Lator dar, aber es war etwas ungebührlich. Nachdenklich blickte Prympf den dreien hinterher. Keiner von ihnen drehte sich auch nur einmal grüßend um. »Vielleicht sind sie müde«, murmelte der Bürgermeister. »Das kann man ja verstehen. Sie waren fast die ganze Nacht und einen halben Tag unterwegs.« Die Verunreinigung des Marktplatzes kam ihm wieder in den Sinn. Er mußte ein Putzkommando auf die Beine stellen, damit seine Stadt wieder im gewohnten Glanz erstrahlte. Die Zeit verging rasch, aber am späten Nachmittag hatte Prympf es geschafft. Die ersten Bürger, die er erwischte und die einigermaßen nüchtern aus den müden Augen blickten, wurden von ihm rigoros zum Reinigungsteam eingeteilt. Es gab die üblichen Maulereien, aber der Majur-La-tor setzte sich schließlich durch. Als der Marktplatz und die angrenzenden Gassen wieder einigermaßen manierlich aussahen, gönnte sich Prympf eine Pause. Er ging hinüber zum »Blechkrug«, wo der am Vortag ins Freie verlagerte Bierstand auch längst abgebaut worden war. Müde betrat er die Gaststätte, in der zu dieser Stunde nur wenige Bürger weilten. Prympf kannte sie alle. Nur in einer Ecke hockte ein angetrunkener alter Mann, der ihm unbekannt war. Hansu, der Blechkrugwirt, stellte ihm unaufgefordert einen Becher mit Bier hin. »Den hast du dir redlich verdient«, lobte er den Bürgermeister. »Was täten wir bloß, wenn wir dich nicht hätten. Ich glaube, Lator würde im Dreck ersticken.« »Wenn ihr mich nicht hättet, hättet ihr einen anderen Dummkopf, der sich als Majur-Lator aufreibt.« Prympf nahm einen langen Schluck und deutete dann mit dem Daumen über die Schulter auf den Fremden, der mit seinen zufallenden Augen kämpfte. »Wer ist denn das?« Hansu setzte eine fragende Miene auf. »Wohl einer aus Latkat
oder Latmius, der das Ende der gestrigen Feier verschlafen hat.« »Name?« fragte Prympf leise. »Keine Ahnung«, antwortete Hansu. »Er hat sich nicht vorgestellt.« Der Fremde rutschte von der Holzbank und schlug hart auf den Boden. Keiner der Anwesenden hielt es jedoch für erforderlich, ihm wieder auf die Beine zu helfen. Prympf spürte einen kurzen und stechenden Schmerz im Nacken. Er glaubte, daß ihn Irgendein Insekt gestochen hatte. Automatisch wischte seine Hand über den Hals. Ohne sonderliche Verwunderung sah er eine ganz kleine Blutspur. Er hatte den lächerlichen Zwischenfall noch nicht ganz vergessen, als in ihm ein neues Bewußtsein erwachte. Jetzt weißt du, wer ich bin. Und wer du bist. Hier ist das Bild des Feindes, auf den du achten mußt. Aber denke daran, daß ich aliein es sein werde, der ihn tötet. Ich bin der Stamm, und du bist ein Teil von mir. Empfinde so, als wärst du ich. Aber denke stets daran, du bist nur ein Teil. Von diesem Moment an verstand Prympf wieder die beiden Schuppenlosen Memmer und Nemissa. Und auch Tatar Taar. Und Hansu. Und alle anderen Gäste des »Blechkrugs«. »Es gibt etwas zu tun.« Er klatschte tatendurstig in die Hände, während sich der scheinbare Fremde, dessen Teil er nun war, wieder vom Boden erhob. »Packen wir es an. Wo steckt dieses Weißhaar?« Nemissa Pauh hatte unwahrscheinliches Glück. Während sie durch die kleine Ansiedlung der Schuppenlosen am Ostrand von Lator bummelte, entdeckte sie den Gesuchten. Sie hatte einen kurzen und tiefen Schlaf hinter sich und fühlte sich wieder pudelwohl. Die Krall war da, und sie brauchte daher nichts und niemand zu fürchten. Schon gar nicht dieses Weißhaar. Er kam ihr auf dem schmalen Kiesweg entgegen und winkte ihr auch noch fröhlich zu! Er mußte sehr dumm sein, daß er ihr so leichtfertig in die Arme lief. Wahrscheinlich kannte er die Kraft ihrer
telekinetischen Fähigkeiten nicht. Anders war dieser Leichtsinn gar nicht zu erklären. Der Stamm würde mit ihr sehr zufrieden sein. Sie blieb stehen und ließ ihn näher kommen. »Na, Nemissa«, rief das Weißhaar zufrieden. »Hast du alles gut überstanden? Habt ihr dem Müller aus der Patsche helfen können? Nochmals vielen Dank für deine Hilfe gestern abend beim Anschneiden des Festochsen. Ohne dich hätte ich reichlich dumm ausgesehen.« Wovon sprach dieser Narr? Der Teil sah den Feind näher an. Er erkannte die List, die dieser anwenden wollte. Er hatte sich die Haare mit einem Trick etwas dunkler gefärbt und auch gekürzt. Aber das genügte nicht, um die wahre Identität zu verbergen. »Du hast zwei Möglichkeiten«, erklang es unpersönlich und kalt aus Nemissa Pauhs Mund. »Entweder du folgst mir freiwillig, oder ich bringe dich mit Gewalt zu ihm.« »Zu wem, meine geschätzte Freundin?« lachte Kopfertin, der alles für einen Scherz hielt. »Hast du an den Blumen des Humors genascht?« »Ich mache keine Scherze!« Ihre Augen funkelten so wild wie die des Ochsen, den Kopfertin noch wenige Tage zuvor beruhigt hatte; als er dem kleinen Tenerjungen das Leben rettete. Gleichzeitig sammelte sie ein gewisses Potential der Kraft in sich an und ließ dies auf das vermeintliche Weißhaar wirken. Kopfertin griff sich an die Brust und sank aufstöhnend zu Boden. »Bist du wahnsinnig geworden, Nemissa?« preßte er zwischen seinen blutleeren Lippen hervor. »Nenne mich nicht mit diesem falschen Namen!« fauchte die Daila den Mann an. »Ich bin ein Teil.« Sie stoppte den Fluß der Kraft wieder. Kopfertin kam auf die Beine. Er war noch immer bleich. Als Nemissa vor ihm stand und ihn mit ihrer telekinetischen Kraft packte und mitzerrte, erkannte er das tierische Funkeln in ihren Augen. Seine letzten Zweifel
schwanden. Irgend etwas Unfaßbares mußte mit dem Mädchen geschehen sein. Der Daila grübelte darüber nicht weiter nach, denn ihm fehlte jeglicher Ansatzpunkt. Er vermutete eine Vergiftung oder etwas Ähnliches. Jedenfalls war er in Gefahr, von Nemissa verletzt oder gar getötet zu werden. Er reagierte schnell und konsequent unter Ausnutzung dessen, was ihm die Natur an Psi-Fähigkeiten mitgegeben hatte. »Sieh mich an, Teil!« rief er der jungen Frau zu. Nemissas Kopf zuckte herum. Ihre Blicke trafen sich für Sekunden, die Kopfertin genügten. Seine Kraft strömte auf sie über und ergriff von ihr Besitz. Der Daila vermochte so die wildeste Bestie zumindest für einige Minuten in ein lammfrommes und anhängliches Tierchen zu verwandeln. Er hatte diese Fähigkeit zwar noch nie bei anderen Daila ausprobiert, aber einige Tener, die auf den Festen in Lator manchmal gar zu übermütig geworden waren, konnten ein Lied davon singen. Die Gesichtszüge der Daila glätteten sich. Ihre telekinetische Kraft erlahmte. »Ich glaube«, sagte der Mann, »ich bringe erst einmal eine gewisse Strecke zwischen dich und mich. Memmer muß mir helfen, dich zu heilen. Bis später, Schwester.« Er rannte den Weg zurück, den er gekommen war, in Richtung der Daila-Siedlung. Da ihm unterwegs niemand begegnete, der er von seinem Erlebnis mit Nemissa etwas erzählen konnte, suchte er direkt die Unterkunft Memmers auf. Die Tür stand offen. Kopfertin trat ein. Noch bevor er nach dem Alten rufen konnte, traf ihn ein Schlag auf den Kopf, der ihm fast die Besinnung raubte. Er torkelte zur Seite und drehte sich dabei gleichzeitig um. Vor ihm stand Memmer mit einem Brett in der Hand und starrte ihn aus hohlen Augen an. »Bist du auch übergeschnappt, Alter?« fauchte Kopfertin.
Dann entdeckte er eine andere Gestalt, die reglos auf dem Boden lag. Da das Gesicht abgewandt war, konnte Kopfertin nur feststellen, daß dies ein Daila war. Er sprang nach vorn und entriß Memmer das Brett. Der Alte konnte sich nicht wehren. »Wer ist das?« schrie Kopfertin. »Das Weißhaar«, stammelte der Heiler. »Aber jetzt denke ich, du bist das Weißhaar. Ihr müßt beide mitkommen. Der Stamm wird entscheiden, wer von euch der Richtige ist.« Der Besinnungslose kam wieder auf die Beine. Es handelte sich um den leicht telepathisch begabten Nedud, der Kopfertin gut bekannt war. »Memmer ist übergeschnappt«, lallte Nedud noch benommen. »Ich glaube, er wollte mich umbringen.« »Das besorgt der Stamm«, antwortete der Alte wie geistesabwesend. »Wir werden die Sache klären«, entschied Kopfertin. »Nedud, komm! Wir schnappen uns diesen Übergeschnappten und bringen ihn zu den Alten.« Bevor die beiden jungen Männer etwas unternehmen konnten, stürmte Memmer zur Tür hinaus. Draußen schwang er sich auf seinen Ochsen und trieb diesen zur höchsten Eile an. Die noch benommenen Daila konnten ihm so schnell gar nicht folgen. »Dann gehen wir ohne ihn zu den Alten«, meinte Kopfertin. »Sie wissen bestimmt Rat. Nemissa hat mich angefallen. Sie hätte mich um ein Haar umgebracht.« Sie verließen hastig das Haus Memmers. Hansu führte den Befehl des Stammes widerspruchslos aus. Er verschloß den Eingang zum »Blechkrug« und hing ein Schild draußen vor die Tür: VORÜBERGEHEND GESCHLOSSEN! Das Pre-Lo in der Gestalt des Teners erkannte, daß es einen Fehler begangen hatte. Die Beschreibung Atlans, die ja in rein gedanklicher Form über die Körperpfeile durchgeführt worden war, war zu
ungenau. Acht seiner Teile hatten völlig falsche Wesen angegriffen und mit mehr oder weniger Erfolg versucht, diese zu ihm zu bringen. Das Angriffsgefühl seiner Teile war hingegen zu stark gewesen. Noch war genügend Zeit, um das zu korrigieren. Insofern waren die gemachten Erfahrungen sehr nützlich. Atlan war noch nicht eingetroffen, denn eine Meldung von den Traykons lag nicht vor. Sie würden die Annäherung eines jeden Raumschiffs feststellen können und ihn sofort alarmieren. Das Pre-Lo sandte an seine Teile, deren Zahl mittlerweile auf 38 angewachsen war, neue Körperpfeile aus, die verbesserte Informationen besaßen. Gleichzeitig beorderte es die unbrauchbar gewordenen Pfeile in seinen Rumpf zurück. Der tödliche Plan des programmierten Untergangs war flexibel. Das Pre-Lo konnte ihn den Gegebenheiten jederzeit anpassen und alle Erfahrungen auswerten. Es wartete geduldig, bis alle Teile durch die Hintertür in sein neues Hauptquartier gekommen und dort verändert worden waren. Dann schickte es sie wieder aus. Diesmal würde es keine Fehlgriffe mehr geben, die für unnötige Unruhen sorgten, denn die eigentliche Aktivierung der Jagd auf das Weißhaar stand noch aus. Hansu mußte seine Gaststätte wieder öffnen. Das Pre-Lo sank in der Gestalt des alten und angetrunkenen Teners wieder in seiner Ecke zusammen. Er wartete auf weitere Besucher des »Blechkrugs«, um diese unauffällig zu seinen Teilen zu machen. Es hatte Zeit, denn der Herr hatte ihm keine Frist gesetzt. Als die Mitternacht näher rückte, hatte es seine Teile auf die Zahl gebracht, die der tödliche Plan vorsah. Es waren zweihundert Tener und knapp fünfzig Schuppenlose. Die Masse der Beschuppten schickte das Pre-Lo noch am gleichen Tag in die Nachbarstädte und -dörfer. Es rechnete zwar damit, daß sein Gegner Lator aufsuchen würde, denn diese größte Stadt war ein augenfälliger Mittelpunkt
auf Tener. Andererseits wollte es kein Risiko eingehen. Seine Teile waren nun im ganzen kritischen Bereich unterwegs. Sie verfügten über ein exaktes Bild des Gesuchten. Allmählich empfand das Pre-Lo so etwas wie Genugtuung und Zufriedenheit über seine Aktionen. Es würde noch mehr Freude an der Jagd selbst haben. Hansu schloß seine Gaststätte, ohne den Alten in der Ecke zu beachten. Das Pre-Lo brauchte keine Ruhe. An ihm war alles nur Maske und Gewalt. Es blieb unbeweglich sitzen, bis in den frühen Morgenstunden, als die Stadt noch in tiefster Ruhe lag, ein Teil seiner technischen Bestandteile des im Innern nachgebildeten Traykon-Körpers ansprachen. Die Nachricht, die Traykon-6 auf den Weg gebracht hatte, war knapp und klar. Atlans Diskusraumschiff schwenkte in einen Orbit um Tener ein. Die Jagd konnte beginnen. Die Jagd, an deren Ende der programmierte Untergang des Feindes stand. Das Pre-Lo schickte weitere Körperpfeile aus, um die letzten Sperren in seinen Teilen zu beseitigen. Dann verwandelte es seine Gestalt und verschwand unbemerkt aus dem »Blechkrug«.
8. Der Älteste unter den Alten, also I unter jenen Daila, die nicht auf Tener geboren waren, hieß Nemir. Er war der Großvater Nemissa Pauhs. Gemeinsam mit fünf weiteren Alten bildete er eine Art Rat. Hier wurden Fragen diskutiert und per Abstimmung entschieden, die das Leben aller Verbannten betrafen oder das Zusammenleben mit den Tencern. Bei der Versammlung, die spät in der Nacht stattfand, fehlte eins der Ratsmitglieder. Kar war, so hieß es, von anderen Daila am
Nachmittag in die Stadt verschleppt worden. Außer diesem Alten fehlten rund weitere 50 Daila, über deren Aufenthaltsort nichts bekannt war. Und dann waren da noch sieben Verbannte, die mit knapper Not einer gewaltsamen Entführung entgangen waren, darunter auch Kopfertin und Nedud. Sie diskutierten die Lage, aber sie fanden zu keinem Ergebnis, bis sich eine alte Frau zu Wort meldete. »Die anderen Alten wissen es noch aus der Vergangenheit«, begann Tai-Lart holprig. »Ich war einmal dafür berühmt, jede größere Ansammlung von Metall meilenweit orten zu können. Hier auf Tener war diese Gabe ziemlich sinnlos. Ich habe sie nie benutzt und immer gedacht, daß die längst verschwunden ist. Nun spüre ich aber seit gestern eine Ansammlung von Metall, die beachtlich ist. Sie liegt etwa in Richtung der Taar-Mühle und ist so groß wie das neue Schulgebäude, auf dem der Dachstuhl noch immer fehlt. Es könnte sich um ein kleines Raumschiff handeln.« »Das heißt«, Nemir sprang auf, »wir haben außertenischen Besuch!« »Nicht nur das«, pfiff Tai-Lart durch ihre Zahnlücken. »Seit einigen Minuten spüre ich ein zweites Echo. Es ist noch weit weg und hoch oben, aber es kommt immer näher.« Was das bedeutete, brauchte nun nicht mehr erklärt zu werden. Unruhe kam auf. Die alte Sehnsucht nach der Heimat brach in den Herzen der Daila wieder durch. »Das ist eine ganz außergewöhnliche Situation.« Nemir führte wieder das Wort. »Ihr wißt, daß ich in Extremsituationen ein alleiniges Entscheidungsrecht besitze. Davon mache ich nun Gebrauch, denn wir haben eine Chance, Tener zu verlassen. Wir müssen schnell und bedacht handeln. Und wir können vielleicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Seid ihr mit meiner alleinigen Entscheidung einverstanden?« Die Daila stimmten sofort zu. »Hier sind meine Anweisungen. Alle Gefährdeten, also jene, die
entführt werden sollten, verlassen sofort die Siedlung. Ihr geht zum ›Einsamen in den Bergen‹. Von dort beobachtet ihr das weitere Geschehen und greift ein, wenn …« »Moment mal«, rief Kopfertin dazwischen. »Der .Einsame' ist doch nur ein Gerücht.« »Es gibt ihn wirklich«, erklärte Nemir. »Er heißt Nemos, und er ist mein Bruder. Ich stehe oft mit ihm in telepathischer Verbindung. Die Alten unter uns wissen das, aber wir haben dieses Geheimnis gehütet, um uns für den Tag der Rückkehr zu wappnen. Der Tag ist nun nah, aber wir verstehen nicht, was in Lator geschieht. Daher ist Vorsicht geboten. Und Nemos braucht Helfer. Wir klären hier die Fronten. Ihr macht es unter Nemos' Führung im geheimen. Nutzt eure Fähigkeiten, denn andere Hilsmittel stehen euch nicht zur Verfügung. Tai-Lart wird euch führen. Sie kennt den Weg.« Neun Daila brachen wenig später in der Nacht auf. Die anderen begaben sich zur Ruhe. Mit dem Sonnenaufgang wurden sie durch lautes Geschrei aus den Betten gerissen. Verschlafen torkelten die Daila ins Freie oder an die Fenster. Auf dem Platz vor dem Haupthaus der Alten standen der MajurLator und der Dorfschreier. Aus dem Mund des alten, fetten Teners erklang das schauerliche Geheul, das eine wichtige Information ankündigte. Schließlich waren praktisch alle Daila zur Stelle. Der Dorfschreier hob beide Arme in die Höhe, um so die Ankündigung zu unterstreichen. Aber aus seinem Mund kam kein einziges Wort. Und die winzigen, fast unsichtbaren schwarzen Pfeile, die seinen Körper verließen, bemerkte niemand. Sie rasten durch die Luft und trafen einen Daila nach dem anderen. Es gab nur eine kurze Unruhe, dann waren sie alle Teile des Pre-Los. »Wir wollen meinen Feind gebührend empfangen«, erklang es nun aus dem Mund des Dorfschreiers, in dem die Teile nun ihren
Stamm erkannten. »Ich brauche eure Fähigkeiten, damit es eine schöne Jagd auf ihn gibt, bevor ich ihn selbst töte. Und nun hört zu! Dies ist der tödliche Plan …«
* Colemayn konnte meinen Unwillen aus dem Gesicht ablesen. Ich trug eine mittelschwere Kampfmontur aus den Beständen der STERNSCHNUPPE, die mir mehr hinderlich als nützlich erschien. Was sollte ich damit auch bei diesen mittelalterlich lebenden Tenern erreichen? Aber der Sternentramp hatte darauf bestanden und es mit seinen Überredungskünsten erreicht, daß ich schließlich eingewilligt hatte. Auch Colemayn hatte sich einen Kampfanzug vom Schiff geben lassen. Ich beobachtete ihn, wie er das fremde Modell geschickt und schnell anlegte. Wie ich, ließ auch er den Helm noch aufgeklappt. Wir machten uns gerade mit den Bedienungsinstrumenten vertraut, als sich die STERNSCHNUPPE meldete: »Ortung! Metallischer Körper von der Form eines kleinen Raumschiffs. Das Objekt liegt getarnt in einer Höhle. Energieausstrahlung minimal, aber feststellbar. Also kein Wrack oder etwas Ähnliches.« Ich blickte auf den Orterschirm, aber dort war nur ein relativ nichtssagender weißer Fleck zu erkennen. »Kannst du das feiner auflösen?« fragte ich das Schiff. »Ich habe eine Minisonde ausgeschleust, die exakte Bilder liefern kann, wenn sie nicht entdeckt und abgeschossen wird.« »Abgeschossen?« staunte ich laut. »Wer hätte denn hier einen Grund oder die Möglichkeit, das zu tun?« »Du willst noch immer nicht einsehen«, warf mir Colemayn vor, »daß dies kein Spaziergang ist, sondern eine ganz undurchsichtige Angelegenheit. Schließlich versteckt sich dort unten ein Raumschiff.
Und das paßt nicht in das bisherige Bild.« »Ich sehe nur einen verwaschenen Fleck auf dem Orter, der auch von einer Erzlagerstätte herrühren könnte.« Etwas sträubte sich in mir, Colemayn blindlings zu glauben. »Warte bitte!« sagte das Schiff. »Die Sonde ist gleich am Ziel.« Kurz darauf erschienen klare Bilder. Ich wurde schnell leise, als ich die exakten Formen des Raumschiffs erkannte. Der Typ war mir unbekannt, aber von der Größe her paßte dieses Schiff auf das schwache Echo, das ich nach dem Verlassen von Kraupper festgestellt hatte. Vielleicht gab es da einen Zusammenhang. Die Sonde drang durch ein offenes Schott in das Innere des Schiffes ein. Ihre Aufnahmevorrichtung erfaßte die mächtige Gestalt eines Roboters, der ebenfalls zu einem mir unbekannten Typ gehörte. Ein dicker Schädel ruhte auf einem eher zierlichen Rumpf. »STERNSCHNUPPE!« Ich erkannte blitzartig, daß ich genug gesehen hatte, und daß die Sonde unsere Gegenwart nur verraten konnte. »Hol das Ding sofort da heraus!« »Wie du willst«, lautete die Antwort der Robotik. »Ich nehme aber an, daß ich ohnehin geortet worden bin.« Die Bilder erloschen, aber ich hatte nun die Möglichkeit, alle Aufzeichnungen noch einmal in Ruhe anzusehen. Colemayn tat dies auch, aber wir kamen zu keinen neuen Erkenntnissen. »Wir landen in der Nähe der großen Stadt«, entschied ich. »Zwei oder drei dickköpfige Roboter irgendwelcher neugierigen Völker schrecken mich nicht ab.« Der Sternentramp seufzte, aber er sagte nichts. Auch der Extrasinn schwieg. Über der Stadt, die ich ausgewählt hatte, stand die Vormittagssonne Latos. Ich wollte jetzt endlich wissen, was es mit dem Latos-TenerSystem auf sich hatte.
* Die Landschaft strahlte Frieden und Schönheit aus. Wir landeten in etwa 1000 Metern vom Stadtrand entfernt auf einem ungenutzten Acker, der vonUnkräutern und Blumen aller Art übersät war. Unweit des Landeplatzes verlief eine holprige Straße, deren Belag aus grobem Kies bestand. Diese Eindrücke verstärkten das erste Bild, das ich von diesem Planeten gewonnen hatte. Der Äther war auch hier absolut still. Die Anzeigen aller Empfänger und Engergieorter standen auf Null. »Wir können die Helme offen lassen«, sagte ich, während die STERNSCHNUPPE eine Analyse der Atmosphäre durchführte. Auch diese bestätigte die bisherigen Werte der Fernbeobachtung und -auswertung. Die Zusammensetzung der Luft war so normal, wie sie nur sein konnte. »Ich möchte meinen Helm lieber schließen«, erklärte Colemayn. »Du weißt, daß ich diesem Frieden nicht traue.« Ich mußte mir eine gehässige Antwort verkneifen. Daher winkte ich nur müde ab. »Wir gehen!« Ich steuerte den Antigravschacht an, der uns nach unten zum Schleusenraum bringen sollte. Colemayn schloß sich mir an, und Chipol versetzte mir einen freundschaftlichen Knuff. »Haltet mich auf dem laufenden«, meinte er, »damit ich rechtzeitig eingreifen kann, wenn ihr in der Patsche sitzt.« Ich lächelte wortlos zurück. Colemayn und ich verließen das Schiff. Wir waren uns sicher, daß man von der Stadt aus die Ankunft beobachtet hatte. Wenn dort nur Eingeborene lebten, würden diese sicher eine gewisse Zeit brauchen, um ihre Scheu vor uns zu überwinden. Ich ging jedoch auch davon aus, daß es hier verbannte Daila gab. Und denen war ein Raumschiff ja nichts Fremdes. Zumindest mußten die Nachfahren der hier gestrandeten Mutanten wissen, was es mit einem Ding auf sich hatte, wie es die STERNSCHNUPPE war.
»Es nähert sich ein größerer Pulk«, meldete die STERNSCHNUPPE, die die besseren Beobachtungsmöglichkeiten hatte. »Ich erkenne schuppige Zweibeiner und Daila.« Das entsprach meinen Erwartungen. »Wir gehen ihnen entgegen.« Ich winkte Colemayn zu. »Und wir verbergen unsere Waffen.« Die Anzüge, die uns das Schiff zur Verfügung gestellt hatte, erlaubten dies. So machten wir einen ganz friedlichen Eindruck. »Hast du deinen Schutzschirm in Bereitschaftsfunktion?« fragte der Sternentramp. »Nein«, entgegnete ich, obwohl das nicht stimmte. »Ich habe ihn ausgebaut und an Bord gelassen.« »Denk an die beiden Roboter, die die Sonde beobachtet hat«, mahnte Colemayn. »Sie sind weit weg.« Wir erreichten die Straße. Nun sah auch ich die Gestalten, die sich teils auf ochsenähnlichen Tieren, teils zu Fuß näherten. Es mochten etwa 60 oder 70 Personen sein. Die Vergrößerungsoptik meines Raumanzugs gab deutlich wieder, daß etwa ein Drittel davon Daila waren. Waffen oder waffenähnliche Gegenstände entdeckte ich zu meiner Genugtuung nicht. Als der Pulk heran war, hielten die vorderen Reiter an. Ein sehr alter und weißhaariger Daila schwang sich von seinem Ochsen und ein Eingeborener, der in glänzendes Leder gekleidet war, ebenfalls. Die beiden kamen in würdigen Schritten auf uns zu. Sie blieben wenige Meter vor uns stehen und verneigten sich leicht. »Mein Name ist Nemir«, sagte der Weißhaarige in gut verständlichem Dailanisch. »Ich bin der Älteste des Gastvolks auf Tener. Und das ist Prympf, der Bürgermeister der Stadt Lator, die ihr dort seht. Er spricht eine Variante unserer Sprache, aber wir hoffen, daß ihr uns versteht.« Der Tener begrüßte uns ebenfalls. Colemayn und ich hatten keine Probleme, ihn zu verstehen. Wir konnten auf Translatoren verzichten.
Ich nannte unsere Namen und stellte uns zunächst als »Besucher von den Sternen« vor, denn ich wollte vorsichtig sein und nicht mit der Tür ins Haus fallen. »Willkommen!« Prympf klatschte in seine schuppigen Hände. »Ich lade euch im Namen aller Bürger nach Lator ein. Bleibt bei uns, so lange ihr wollt, und seid unsere Gäste.« Der Daila war nachdenklicher. »Von den Sternen?« fragte er lauernd. »Von welchen Sternen? Auch wir Daila kamen von den Sternen. Ihr seid uns ähnlich, aber ihr gehört nicht zu meinem Volk.« »Ich weiß das«, antwortete ich behutsam. »Du weißt das? Ich kann deine Gedanken nicht lesen, Atlan. Und die deines Begleiters auch nicht.« »Das ist auch nicht erforderlich, Nemir. Wir bieten dir aber ein offenes Gespräch an. Ich glaube, wir haben interessante Nachrichten für euch, denn wir kennen Welten wie Aklard, Cairon oder …« »Es wird alles sehr erleichtern«, unterbrach mich Nemir, »wenn du Aklard, die Heimat meiner Brüder und Schwestern kennst. Wir sollten in aller Ruhe darüber sprechen. Deshalb schlage auch ich vor, ihr begleitet uns in die Stadt. Prympf, unser Majur-Lator, hat ein Fest vorbereiten lassen. Die anderen Daila und auch die vielen Tener wollen euch sehen und hören.« Ich wollte gerade zustimmen, denn schon führte man aus dem Pulk der Versammelten zwei gesattelte Ochsen herbei. Da meldete sich der Logiksektor mit ungewöhnlicher Schärfe. Vorsicht! Ich habe die erste Auswertung beendet. Hier stimmt etwas nicht. Nemir und Prympf gehen automatisch davon aus, daß du die zentrale Figur bist. Der Daila hat Colemayn als deinen Begleiter bezeichnet. Vom Alter und vom Aussehen her müßte er jedoch davon ausgehen, daß er der Führer unter euch beiden ist. Weiter hat er gesagt, wenn du ›Aklard kennst‹. Hier hat er Colemayn gar nicht mehr berücksichtigt. Ich muß daraus schließen, daß man dich hier bereits kennt und erwartet hat.
Du siehst Gespenster, gab ich in meinen Gedanken zurück. Ich habe uns vorgestellt. Daraus haben der Daila und der Tener geschlossen, daß ich derjenige bin, der hier das Wort führt. Falsch! konterte der Extrasinn. Der maßgebliche Mann auf der anderen Seite ist fraglos der Bürgermeister. Die Daila spielen eine Gastrolle. Dennoch durfte Nemir vor Prympf sprechen: Ein Usus, wie du ihn annimmst, existiert hier nicht. »Was meint dein zweites Ich?« fragte Colemayn auf Alkordisch, was hier bestimmt niemand verstand. Der alte Sternentramp halle mein kurzes Zögern wieder einmal ganz richtig ge deutet. »Das Übliche«, entgegnete ich in dem gleichen Idiom, wechselte dann aber wieder in die Sprache zurück, die die Tener und die Daila verstanden. »Wir bedanken uns für die Einladung, und wir kommen gern mit.« War da ein mißtrauisches Flackern in den Augen Nemirs gewesen? Ich hatte das Gefühl, daß sich seine Gesichtszüge erst wieder glätteten, als er hörte, daß wir nichts gegen einen Besuch in der Stadt einzuwenden hatten. Ich hab's, meldete sich erneut der Logiksektor. Sie wollen euch von der STERNSCHNUPPE weglocken. Du sollst deine Rückendeckung aufgeben. Ich verzichtete auf eine Antwort, da mir die Sache zu lächerlich war. Und über die beiden großköpfigen Roboter, die die STERNSCHNUPPE beobachtet hatte, wußten diese Leute hier wahrscheinlich gar nicht Bescheid. Sie wirkten harmlos und freundlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich mich da täuschte. Colemayn und ich schwangen uns auf die Ochsen. Auch hier erwiesen sich unsere Raumanzüge nicht gerade als hilfreich, und innerlich verfluchte ich den übervorsichtigen alten Sternentramp. In gemächlichem Tempo ging es in Richtung Stadt. Von dort kamen uns immer weitere Gruppen von Tenern entgegen.
Allmählich erkannte ich, daß die Daila hier nur eine Minderheit waren. Das entsprach zwar meinen Erwartungen, aber es war keine Erklärung für den zahlenmäßig großen Anteil an Verbannten im Begrüßungskommando. Auf dem Marktplatz wehten bunte Fähnchen von fast allen Häusern. Ein unbeschreibliches Gedränge herrschte vor, so daß ich fast den Überblick verlor. »Alles in Ordnung?« fragte Chipol über die Funkstation der STERNSCHNUPPE an. Ich konnte den Jungen beruhigen. Seine Abneigung gegen Daila-Mutanten hätte eine Mitnahme sowieso unmöglich gemacht. Prympf zeigte uns stolz sein Rathaus, vor dem eine Tribüne aufgebaut worden war. Darauf stand ein alter und fetter Tener, den der Majur-Lator als Dorfschreier vorstellte. Was das bedeutete, bekamen wir bald zu hören. Als wir abgestiegen waren, hob der Tener zu einem mächtigen Geschrei an, das immerhin bewirkte, daß im weiten Rund des Platzes Ruhe einkehrte. Dann folgte ein Gemisch aus Begrüßungsrede und Eloge, aus dem ich nicht so recht schlau wurde. Es waren allgemeine Floskeln. »Das sieht mir alles reichlich vorbereitet aus«, flüsterte mir Colemayn zu, der auch seinen Helm zurückgeklappt hatte. Ein Signal kündigte einen erneuten Anruf der STERNSCHNUPPE an. Ich wartete auf Chipols Worte oder die des Schiffes, aber nichts folgte. Der Sternentramp, der mit seinen Geräten natürlich auf der gleichen Frequenz arbeitete, hatte den Vorfall ebenfalls bemerkt. Er sah mich fragend an und schloß dann mit einem Ruck seinen Helm. »Mir gefällt das nicht«, erklärte er über das Funksystem. »Die spielen hier mit falschen Karten. Ich werde …« Seine Stimme ging in einem heftigen Knacksen unter. Ich war feinen Blick auf die Kontrollanzeigen meiner Geräte. Die Signale der Funkanlagen waren erloschen. Dann fiel mir die Stille auf, die mich plötzlich umgab. Ich sah mich
um. Hunderte von Augenpaaren ruhten auf Colemayn und mir. Die Blicke wirkten lauernd und gierig. Die in der Nähe stehenden Tener und Daila wichen zurück. Der Dorfschreier stieß ein heiseres Lachen aus und klatschte in die Hände. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Ich spürte tastende Gedankenströme, die sich in mein Gehirn bohrten und an der Mauer der Mentalstabilisierung abprallten. Jede Verständigung mit Colemayn war unmöglich, es sei denn, er würde seinen Helm wieder öffnen. Und daran dachte der Alte bestimmt nicht. Ich kam mir vor wie ein Normaler unter tausend Wahnsinnigen, die ein Opfer gesucht und gefunden hatten. Die freie Fläche um uns herum wurde immer größer. Die gierigen Blicke kamen aus einer größeren Entfernung, aber sie waren weiterhin zu spüren. Colemayn faßte mich am Arm und deutete in die Höhe. Was ich sah, gab mir den Rest. Schwankend raste die STERNSCHNUPPE über die Stadt hinweg gen Himmel. Sekunden später durchbrach sie die dünne Wolkendecke und war verschwunden.
9. Die STERNSCHNUPPE machte einen so plötzlichen Satz, daß die Antigrav-Ausgleichssysteme versagten und Chipol von den Beinen gerissen wurde. »Bist du übergeschnappt?« brüllte der Daila-Junge. »Du schleuderst ja Mrothyr aus dem Bett!« »Ich bin das nicht gewesen«, antwortete das Schiff. »Der Angriff kam von draußen.« Den etwa fünfhundert Neugierigen, die sich draußen rund um das Diskusschiff versammelt hatten, hatte weder der Daila, noch die
Robotik besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Und doch mußte diese Attacke von dort kommen. »Alarmiere Atlan!« verlangte Chipol. »Nicht möglich. Der Funkkontakt ist abgerissen. Ich messe psionische Felder an. Die Daila-Mutanten greifen uns an!« Atlans Junger Freund besaß zwar eine fast unnatürliche Abneigung gegenüber den psi-begabten Artgenossen, aber das überstieg sein Vorstellungsvermögen. »Sie wühlen in meinen Basisprogrammen«, klagte das Schiff. »Sie versuchen … sie wollen mich …« Wieder machte das Schiff einen unkontrollierten Satz. Plötzlich spürte Chipol ein Rumoren in seinem Kopf. Die STERNSCHNUPPE gab nur noch wirre Laute von sich. Der verwundete Mrothyr kroch auf allen vieren in die Zentrale. »Psi-Angriff!« röchtelte er. »Wo sind wir? Nur weg von hier!« »Chipol! Atlan!« rief das Schiff. »Ich kann nicht mehr handeln. Es spukt in mir. Ich brauche einen Befehl. Krrr …« Chipol raffte sich wieder auf. Er versuchte, die fremden Geister aus seinem Kopf zu drängen. So recht gelang das nicht. Aber er konnte sich an Atlans Platz an der Konsole hochziehen. Dort war der blaue Sensorknopf, den der Arkonide in der Regel benutzte, wenn er zur Robotik der STERNSCHNUPPE sprechen wollte. Seine kleine Faust hieb auf das Feld. »STERNSCHNUPPE!« brüllte er und bemühte sich dabei, seiner Stimme einen dunkleren Klang zu geben. »Hier spricht Atlan. Ich bin wieder an Bord. Wir müssen sofort von hier verschwinden. Reiß dich zusammen! Hau ab! Los!« Eine neue Erschütterung peitschte durch das Schiff. Und die Luft wurde plötzlich unerträglich heiß. Mrothyr wälzte sich stöhnend auf dem Boden, aber Chipol konnte ihm nicht helfen. »Ver … stan … den … At … lan«, erklang es verzerrt aus den unsichtbaren Lautsprechern des Schiffes. »Ak … ti … vie … re … Not … pro …«
Der Daila wurde erneut von den Beinen gerissen, als die STERNSCHNUPPE fast aus dem Stand auf höchste Beschleunigung wechselte. In den Ringsektoren heulten die Aggregate, die man sonst selbst bei härtester Beanspruchung kaum hörte, schrill auf. Der Zyrpher rollte schreiend durch die Zentrale, bis er mit dem Hinterkopf gegen einen Geräteschrank stieß und verkrümmt liegenblieb. Auch jetzt zerrten die psionischen Kräfte noch an dem Schiff. Und in der Robotik herrschte Unordnung in höchstem Maß, denn die Lichtanzeigen flackerten wild, und ungewöhnliche Töne rasten durch das Diskusschiff. Chipol wurde durch eine zufällige Ruckbewegung in einen Kontursessel geschleudert, wo er sich einklemmen konnte. So war er vor weiteren unkontrollierten Bewegungen des Schiffes etwas geschützt. Mrothyr erging es in diesem Punkt viel schlechter. Der Junge konnte an den sich bewegenden Bildern auf den Schirmen erkennen, daß die STERNSCHNUPPE allmählich an Höhe gewann. Auch der unheimliche Druck in seinem Kopf wurde schwächer. »Schieß zurück!« brüllte er. »Nein, Atlan«, antwortete das Schiff. »Es sind,Mutanten, aber sie sind wehrlos.« Der Flug stablisierte sich. Chipol wagte sich wieder aus dem Sessel. Seine erste Sorge galt dem kranken Zyrpher. »Ich helfe dir«, teilte ihm das Schiff mit. »Er muß wieder in die Medo-Station.« Robotische Arme glitten aus einer Seitenwand und beförderten Mrothyr zurück durch das Schott zur Medo-Station auf seine Liege. »Wir sind außer Gefahr«, teilte die STERNSCHNUPPE mit. »Die Psi-Kräfte waren fürchterlich, aber sie reichen nicht sehr weit. Ich gehe in einen sicheren Orbit. In Ordnung, At … Du bist ja gar nicht Atlan!« Eine Pause.
»Warum hast du das getan, Chipol?« Das Schiff war zornig. »Wenn ich es nicht getan hätte, hättest du in deiner Verwirrung ganz durchgedreht, Schnuppe.« Wieder eine Pause. »Es stimmt. Aber Atlan ist noch auf Tener.« »Wir beobachten aus sicherer Entfernung, was dort geschieht«, sagte der Junge entschieden. »Wir wissen ja nicht, was Atlan und Colemayn widerfahren ist, aber ich nehme an, es ergeht ihnen kaum besser als uns. Und wenn wir eingreifen können, werden wir es tun. Bist du damit einverstanden, Schnuppe?« »Es bleibt uns wohl gar nichts anders übrig«, gab das Schiff etwas kleinlaut zu. »Gut.« Chipol schwang sich wieder in Atlans Sessel. »Mühle gespielt wird später, wenn wir die Jungs da unten herausgehauen haben. Jetzt wirfst du erst einmal deine Sensoren an.« Die STERNSCHNUPPE befolgte widerspruchslos das, was der Daila verlangte. »Schicke zwei oder drei von diesen Beobachtungsdingern aus«, bat Chipol. »Auch das wird gemacht. Aber erst einmal muß ich meine Basisdaten restaurieren, denn ich arbeite noch mit dem Reservesatz. Die Mutanten haben ganz erheblichen Schaden angerichtet. Faß dich also in Geduld. Und kümmere dich um Mrothyr. Der Medo-Schrank wird dir helfen. Er ist bereits wieder voll funktionsfähig.« »Auch das wird gemacht, Sternchen.« Chipol sprang aus dem Sessel. Seine Gedanken waren bei Atlan und Colemayn. Und bei Mrothyr.
* Mein Problem, nicht mit Colemayn sprechen zu können, erledigte sich auf unerwartete Art und Weise. Der Sichtschirm beschlug ganz
plötzlich so sehr, daß ich nichts mehr sah. Die Klimaanlage des Anzugs arbeitete auf Hochtouren, aber sie konnte nichts gegen die schlagartig absinkenden Temperaturen erreichen. Außerdem wurde mir buchstäblich so kalt um die Ohren, daß ich gar keine andere Wahl hatte, als den Helm wieder zu öffnen, den ich gerade geschlossen hatte. Allerdings klemmte der Verschluß. Und da ich nichts mehr sah, stolperte ich über etwas und fiel hin. Immerhin öffnete sich durch den Aufprall der klemmende Verschluß. Ich konnte wieder frische und warme Luft atmen. Während ich aufstand, registrierte ich zwei Dinge. Erstens war da nichts auf dem Boden, über das ich hätte stolpern können. Also gehörte dieser scheinbar kleine Zwischenfall auch zu den anwachsenden Attacken gegen mich. Daß die Daila-Mutanten hinter diesen Angriffen steckten, war mir längst klar. Hingegen hatte ich nicht die geringste Vermutung, warum sie so handelten. Die zweite Feststellung bestand darin, daß es Colemayn nicht anders ergangen war als mir. Auch er hatte seinen Helm geöffnet und taumelte mehr als er stand. Während ich ein paar Flüche ausstieß, blieb er jedoch gelassen. Der Kreis der Teuer und Daila besaß inzwischen einen Durchmesser von gut zwanzig Metern. Hinter den vor uns Stehenden drängten sich unzählige weitere Geestalten. Wir waren praktisch eingeschlossen. Mich befielen klaustrophobische Anfälle. Ich fühlte mich nicht nur umzingelt. Ich war absolut umschlossen. Psionische Gaukeleien! Der Extrasinn reagierte noch gelassen und selbständig. Sein Hinweis machte mich von den Zwangsvorstellungen nur bedingt frei. Es blieb ein Gefühl, das der drohenden Niederlage. Der Gegner war da. Er war sichtbar. Er bestand in vielleicht hundert Daila-Mutanten, die sich irgendwo zwischen den Teneri aufhielten.
Die Daila können nicht dein Feind sein, behauptete Extrasinn lakonisch. Da muss etwas anderes dahinter stecken. Der Gegner war da. Aber er besaß keine sichtbaren Waffen. Schweigende und gierige Blicke, unverständlich und verwirrend. Und Psi-Kräfte. Das waren seine Waffen. Ich hatte Angst. Als Colemayns Blick den meinen kreuzte, zog ich meine Impulsstrahler aus den versteckten Taschen. »Was willst du damit erreichen?« fragte der Sternentramp. Sein Gesicht war grün angelaufen, und das war ein sicheres Zeichen dafür, daß er vor der nächsten Krise stand. Ich schalt mich einen Idioten, weil ich ihn mitgenommen hatte. Doch jetzt war es zu spät für diese Reue. Meine Waffen zuckten hoch. »Hört zu, ihr Narren!« durchbrach ich die grauenerregende Stille. »Wir sind in Frieden gekommen. Und ihr benehmt euch wie die Wilden. Wir wollten den Daila helfen, zu ihren Heimatwelten zurückzukehren. Diese Galaxis braucht jeden von euch! Nehmt doch Vernunft an! Laßt uns reden. Ihr werdet sehen, daß wir nicht eure Feinde sind.« Das Schweigen blieb. Nur der Dorfschreier auf der Tribüne brach in kreischendes Gelächter aus. »Die Jagd! Die Jagd!« schrillte seine sich überschlagende Stimme über die versammelten Massen und Colemayn und mich hinweg. »Sie wird dem Stamm Spaß machen. Und sein Herr wird es ihm danken. Und mir wird man danken, denn ich Teil habe ihm meinen Körper geliehen.« Ich hörte diese Worte, aber ich verstand sie nicht. Reiß dich zusammen! mahnte der Extrasinn. Ich zögerte. Ein knirschendes Geräusch lenkte meine Aufmerksamkeit auf ein anderes Problem. Als ich nach unten blickte, denn von dort kamen die Laute, sah ich, wie die Hosenbeine meines Raumanzugs ohne erkennbare Einwirkung zerrissen. Unwillkürlich wich ich ein paar Schritte zurück, aber der
unheimliche Prozeß setzte sich fort. Einzelne Fetzen des kaum zerstörbaren Materials fielen zu Boden. Ich schaltete die Schutzschirme ein. Endlich, sagte ich mir, bin ich wieder zur Besinnung gekommen. Das einzige, was geschah, war der Fall des Aggregats auf den gepflasterten Marktplatz von Lator. Der Dorfschreier brach in neues Gelächter aus, aber alle anderen Anwesenden starrten nur stumm mit gierigen Blikcken auf mich. Meine Augen suchten Colemayn. Der Sternentramp lag etwas abseits auf dem Boden und rührte sich nicht. Er besaß aber noch einen kompletten Anzug, wohingegen der Auflösungsprozeß bei meinem ungehindert fortschritt. Das hohntriefende Gelächter des tenischen Dorfschreiers brachte in mir das Blut zum Wallen. Ich verlor total die Übersicht. Grenzenlose Wut erfüllte mich, als ich die Kobistrahler auf den fetten Tener richtete und abdrücken wollte. Die eine Waffe wurde mir telekinetisch aus der Hand gerissen, bevor der Energiestrahl sie verlassen konnte. Sie beschrieb einen Bogen in der Luft und richtete sich auf mich. Ich erstarrte, aber dann neigte sich die Abstrahlmündung nach unten, und der Dorfschreier rief: »Dem Stamm, dem Stamm! Ihm allein ist es vorbehalten, am Ende der großen Jagd, wenn der von ihm programmierte Untergang des Weißhaars seine Erfüllung findet, den tödlichen Plan zu vollstrecken.« Die andere Waffe mußte ich fallen lassen. Der Handschuhteil meines Anzugs hatte sich längst zerlegt, und der Kombistrahler selbst fühlte sich glühend heiß an. Ich wußte zunächst nicht, ob das eine Illusion war, die meine Mentalsperre überwunden hatte, oder Realität. Als ich aber das glühende und schmelzende Ding in meiner Hand sah, schleuderte ich die Waffe von mir. Wieder griffen die Telekineten der Verbannten zu. Der strahlende Brocken, der jeden Augenblick detonieren mußte, stoppte seinen Flug. Er wechselte die Richtung und kam auf mich zu.
Die Stiefel an meinen Füßen klatschten auf das Pflaster. Ich stand in der Unterwäsche da! Ich rannte unkontrolliert in wilder Panik los. Mein Kopf stieß gegen eine Wand, und als ich mich umsah, herrschte ringsum absolute Dunkelheit. Psionische Gaukelei, meldete der Logiksektor. Das Gelächter des Dorfschreiers, das noch immer meine Ohren, Nerven und mein Gehirn peinigte, bestätigten dies. »Pre-Lo«, schrie der fette Tener. »Du kannst kommen! Wir haben ihn! Er gehört dir!« Ich spürte eine Metallhand in meinem Nacken. Früher hatte ich mir oft ausgemalt, was ich empfinden würde, wenn einmal das Ende da war. Jetzt war es da. Und ich dachte nichts. Der Tod war Leere. Nichts als Leere. Vergessen war alle Liebe und jeder Erfolg. Und jede Niederlage. Es gab nur eine Niederlage. Die, die das Ende bedeutete. Sie durchbrachen meine Immunität gegen mentale Beeinflussungen. Sie hämmerten Gedanken in meinen Kopf, als wollten sie meinen Tod zu einem Geschäft für sich machen. »Extrasinn!« röchelte ich. »Hilf!« Keine Antwort. Die Metallhand riß mich in der Dunkelheit hoch. Ich war zu keiner Gegenwehr mehr fähig, denn mein Gehirn versagte. Zu fremdartig waren die Attacken gewesen. Zu brutal, obwohl keine Waffen daran teilgenommen halten. Zu hart, denn meine Mentalstabilisierung war durchlöchert worden. In mir lobte nur noch eins. Der Wunsch, daß alles ein Ende finden würde. Ein schnelles Ende.
10.
Ich kam wieder zu mir, und es war hell. Unter mir raschelte Stroh. Ich sah erst an mir herab und hoffte dabei, daß die aufbrandenden Erinnerungen sich nur als böser Traum entpuppen würden. Aber dieser Wunsch erfüllte sich nicht. Meine ganze Bekleidung bestand aus der knielangen Unterhose und einem ärmellosen Unterhemd. Ich sah mich um. Neben mir hockten Colemayn und zwei Daila, deren Alicen sanft funkelten. Der Sternentramp besaß seinen Raumund Kampfanzug auch nicht mehr, aber er trug seine dünne Lederbekleidung. »Kopfertin und Bung«, erklärte er mir und deutete auf die beiden Daila. »Besänftiger und Teleporter, so könnte man wohl sagen, haben uns aus dem Schlamassel geholt.« »Danke«, murmelte ich. »Was geht hier eigentlich vor?« »Wir wissen es nicht genau«, antwortete der Daila, den Colemayn Kopfertin genannt hatte. »Wir lebten in Frieden mit den Tenern. Dann geschah vor zwei Tagen etwas, was darauf schließen läßt, daß etwas Fremdes nach Tener kam. Erst kam ein Raumschiff, dann das, mit dem ihr gekommen seid. Es muß etwas in dem ersten Schiff gewesen sein, das Jagd auf ein ›Weißhaar‹ macht. Damit bist du gemeint, Atlan. Dieses Etwas unterjochte fast alle Daila und Tener von Lator. Ein kleiner Rest von uns blieb unter der Führung eines alten und weisen Daila namens Nemos bei Vernunft. Bung und ich haben beobachtet. Wir haben euch vom Marktplatz in diese Scheune geschafft.« »Danke«, murmelte ich noch einmal. »Ehrlich gesagt, ich verstehe nichts.« Außer daß es die Falle war, vor der du zur Genüge gewarnt worden warst, sagte der Extrasinn. »Wir sind noch in Lator«, erinnerte Bung uns. »Die anderen haben viel mehr von uns auf ihrer Seite. Sie werden uns finden. Wir müssen weg.« »Was ist das Pre-Lo?« fragte ich rein gefühlsmäßig.
»Kaula hat diesen Namen gesperrt«, antwortete Kopfertin. »Wir können damit auch nichts anfangen. Und Nemos, der Alte, den wir den ›Einsamen in den Bergen‹ nennen – er ist ein ausgezeichneter Telepath –, hat festgestellt, daß das Pre-Lo von einem Wesen kommt, das sich …« Der Daila faßte sich an die Brust und sank zu Boden. Sein .Gesicht lief blau an. Ich sprang auf und legte mein Ohr an seine Brust. Idiot! schrie der Extrasinn. Da ist irgendwo jemand! Kopfertin war tot. Telekinetisch erstickt oder erwürgt. Oder jemand hatte sein Herz angehalten. Und der Extrasinn hatte recht. Da mußte jemand sein! Der Teleporter Bung stöhnte auf, und im gleichen Moment sah ich ein verzerrtes Gesicht zwischen zwei Strohballen. Ein Daila! Es kostete mich in dieser Sekunde keine Überwindung, gegen einen Angehörigen eines Volkes anzugehen,' das ich eigentlich liebengelernt hatte. Ich stürmte los. Mich beflügelte die Erkenntnis, daß ich der Vernichtung auf dem Marktplatz noch einmal entgangen war. Gegen diesen Mörder mußte etwas getan werden, auch wenn er aus einem fremden Zwang heraus gehandelt hatte. Mein Glück war, daß der Daila sich so sehr auf Bung konzentrierte, daß ich schnell genug in seine Nähe kam, bevor er mich registrieren konnte. Ich setzte ihm meine Faust ins Gesicht. Mehr war nicht erforderlich. Schwer atmend sah ich mich um. Bung torkelte auf mich zu. »Das Pre-Lo potenziert ihre Kräfte«, stammelte der noch benommene Daila. »Es stimuliert sie zu Höchstleistungen. Mich heizt nur eine Idee an. Ich will die Heimat sehen.« Er packte mich und zog mich zu Colemayn, dem sein Gesundheitszustand wieder zu schaffen machte. »Kommt!« sagte Bung. »Ich will es wenigstens versuchen, bevor
weitere Helfer des Unheimlichen kommen.« »Was hast du vor?« fragte ich. »Teleportieren. Zum ›Einsamen in den Bergen‹. Ich hoffe, ich schaffe es.« Er stellte Körperkontakt zu Colemayn und mir her, als im offenen Eingang der Scheune zwei Daila und drei Tener auftauchten. Du liebst das Pre-Lo! hämmerte ein Gedanke in meinem Kopf. Du hilfst dem Pre-Lo! folgte ein zweiter. »Spring endlich!« stöhnte Colemayn. Der alte Mann war leichenblaß. »Ich kann nicht«, jammerte Bung. »Der Lähmer!« Zweifellos meinte er damit einen der beiden Daila im Eingang. An den konzentrierten Blicken dieser Männer erkannte ich, daß sie ihre Psi-Kräfte einsetzten. Über uns knisterte das Gebälk der Scheune. Ich vermutete, daß der zweite Daila ein Telekinet war. Ein kurzer Balken stürzte herab. Ich konnte mich gerade noch von Bung lösen und das Holz abfangen. Mit aller Kraft schleuderte ich es nach den beiden Mutanten. Ich traf, und die Männer torkelten zurück. Aber die drei Tener rannten mit Mistgabeln auf uns zu. »Jetzt!« schrie Colemayn. »Du kannst springen.« Bung bekam meine Hand zu fassen. Und er teleportierte in dem Augenblick, als die Mistgabeln der Tener auf uns einstechen wollten.
* Wir materialisierten irgendwo in großer Höhe über der Oberfläche des Planeten. Bung mußte völlig unkontrolliert gesprungen sein. »Festhalten«, rief ich meinen beiden Begleitern zu, während wir mit zunehmender Geschwindigkeit in die Tiefe stürzten. »Bung! Du mußt es noch einmal versuchen«, drängte ich den
Verbannten. »Oder wir zerschmettern auf dem Boden.« »Keine Kraft!« klagte der Daila. Colemayn konnte sich trotz unseres Sturzes in die Tiefe und seines miserablen Zustands so drehen, daß er Bung ins Gesicht sah. »Du hast die Kraft!« schrie er ihm zu. Der Boden kam mit beängstigender Geschwindigkeit näher. Ich wagte es nicht mehr, nach unten zu blicken. Dann spürte ich neuerlich den psionischen Sog. Bung war teleportiert. Diesmal landeten wir sicher auf weichem Waldboden. Der Daila und Colemayn sanken aufstöhnend auf die Knie. Ich sah mich um. Die Gegend war mir unbekannt, aber es stand fest, daß die Stadt Lator nicht in der Nähe war. Ich erblickte überhaupt keine künstliche Bebauung. Wir waren in der Wildnis. Zwangsläufig mußte ich meinen erschöpften Begleitern noch einen Augenblick der Ruhe gönnen. Während ich weiter meine Blicke schweifen ließ, spülte ich die Kälte, die nach mir faßte. Ich besaß praktisch keine Kleidung mehr. Und wir mußten irgendwo hoch oben in den Bergen sein, denn in der Ferne erkannte ich ein . weites und viel tiefer liegendes Tal. Außerdem war es liier sehr kühl. Endlich raffte sich der Daila wieder auf. »Ich habe es nicht ganz geschafft«, stöhnte er und hielt sich den Kopf. »Der ›Einsame‹ lebt dort hinter dem Hügel. Wir müssen den restlichen Weg zu Fuß gehen, denn ich bin völlig ausgelaugt.« Die knochigen Finger des Sternentramps umklammerten den Kristall, als sich Colemayn langsam aufrichtete. »Gehen wir«, röchelte er. »Nemos wird unsere Gegenwart spüren«, vermutete der Daila. »Tai-Lart ist noch bei ihm. Vielleicht schickt er sie uns entgegen. Die anderen sind alle im Einsatz.« Wir quälten uns mühsam die Anhöhe hoch, bis ich eine kleine Blockhütte entdeckte, vor der ein offenes Feuer brannte. Auf der freien Fläche vor dem Haus standen mehrere kleine Zelte. Zwischen diesen kam uns eine alte Daila entgegen.
»Tai-Lart«, brachte Bung noch über die Lippen. Dann brach er zusammen. Ich fing seinen Körper auf und warf ihn mir über die Schultern. Mit der noch freien Hand zerrte ich Colemayn hinter mir her, bis die Frau kam und mir half. Vor dem Blockhaus legte ich die beiden erschöpften Gestalten ab. Ein alter, weißhaariger Daila trat aus der Tür. Er hob beide Hände zum Gruß. »Ich bin Nemos«, sagte er. »Und du bist Atlan, auf den sich die Jagd konzentriert. Tai-Lart wird dir ein paar Kleidungsstücke holen. Unterdessen können wir sprechen.« Ich deutete auf Bung und Colemayn. »Sie werden sich erholen«, behauptete Nemos. Er setzte sich auf einen Baumstumpf und betrachtete mich nachdenklich. »Warum bist du zu uns gekommen?« »Es geschehen viele Dinge in Manam-Turu«, antwortete ich, während ich die Lederkleidung überstreifte, die mir die Frau reichte. »Das Volk der Daila steht an der Wende, denn andere Völker wollen es unterjochen. Die Daila brauchen Hilfe. Sie erhoffen sie von den verbannten Mutanten, also von euch.« »Nichts wäre uns lieber«, entgegnete der Alte, »als eine baldige Rückkehr zu unseren Brüdern und Schwestern. Aber für uns haben sich die Dinge in den letzten Tagen nicht so entwickelt, daß ich daran glauben könnte. Du mußt einen mächtigen Feind haben, Atlan. Denn sein Bote war vor dir hier. Er hat gewußt, daß du kommen wirst. Und er will dich im Auftrag seines Herrn vernichten. Du bist nirgends sicher auf Tener, denn die von uns, die dem Unheimlichen folgen, werden dich immer aufspüren. Auch hier.« »Das mag sein, Nemos«, gab ich zu. »Aber so wehrlos, wie ich im Augenblick scheine, bin ich nicht. Wenn ich wieder Verbindung zu meinem Raumschiff bekomme, sieht die Sache schon ganz anders aus.« »Da habe ich meine Zweifel, denn ich empfange auch jetzt noch
die Gedanken meines Bruders Nemir. Er wurde auch ein Opfer deines Feindes. Und er ist davon überzeugt, daß du nicht siegen kannst.« »Und was weißt du über meinen Gegner?« »Der, der hier auf Tener ist, nennt sich Pre-Lo. Es handelt sich um ein biologisches Wesen, das in der Lage ist, seine Substanz in alle denkbaren Formen zu verwandeln. Und es kann winzige Teile seines Körpers aussenden, die andere Lebewesen erreichen und zu einem geistigen Teil des Pre-Los machen. Das Pre-Lo selbst ist aber nur ausführendes Organ. Hinter ihm steht der eigentlich Mächtige, dessen Namen wir aber nicht kennen.« »Der Erleuchtete«, erklärte ich dumpf. »Nur er kann es sein.« Nemos antwortete nichts. »Wenn das hier überstanden ist«, fuhr ich daher fort, »werde ich dafür sorgen, daß ihr wieder auf die Planeten eurer Väter zurückkehren könnt.« »Ich wünsche mir«, sagte der alte Daila, »daß es so kommt. Aber ich weiß, daß dir das nicht gelingen wird.« Er stand auf und ging zurück in das Blockhaus.
* Wir saßen an dem Feuer und wärmten uns. Ich fror nach meinem unfreiwilligen Ausflug in der Unterwäsche bis auf die Knochen. Auch Colemayn, dessen Befinden nach wie vor besorgniserregend war, tat die Wärme gut. Die alte Daila hatte uns zu essen und zu trinken gebracht. Bung erholte sich langsam wieder. Ich würde den Teleporter brauchen, wenn die Schergen des Pre-Los hier tatsächlich auftauchen sollten. Ich dachte über meine Lage nach und kam zu dem Schluß, daß diese ausgesprochen mies war. Seit meiner Ankunft auf Tener hatte sich eine Schlappe an die andere gereiht. Es war an der Zeit, den
Spieß umzudrehen und diesem Pre-Lo Einhalt zu gebieten. Ein tapferer Entschluß, spottete der Extrasinn, wenn man bedenkt, wie reichhaltig dein Waffenarsenal und wie clever deine Helfer sind. Mit Schaudern dachte ich an die Ereignisse auf dem Marktplatz von Lator zurück. Es hatte alles so freundlich und harmlos ausgesehen, und doch war ich blindlings in eine Falle getappt. Wenn die Daila es gewollt hätten, behauptete der Logiksektor, hätten sie dich tausendfach töten können. Das war zweifellos ein bißchen übertrieben, aber ich kam nicht umhin, meinem Zweitbewußtsein grundsätzlich zuzustimmen. Sie hatten regelrecht Katz und Maus mit mir gespielt. Auch der Sinn dieses grausamen Spiels war deutlich geworden. Ich sollte mürbe gemacht werden für den Entscheidungskampf mit dem Pre-Lo. Ich hatte den Kontakt zur STERNSCHNUPPE, meine Ausrüstung, und alle Waffen verloren. Nun stand ich mit bloßen Händen da und war auf die Gunst von ein paar unbeeinflußt gebliebenen Verbannten angewiesen. Latos-Tener, ein Wort, das mich magisch angezogen hatte, bedeutete nun etwas ganz anderes. Es war die Niederlage die es nun in einen Sieg zu Verwandeln galt. »Ich mache einen Spaziergang.« Colemayn erhob sich. »Gibt es hier frisches. Quellwasser in der Nähe?« Tai-Lart wies ihm den Weg. Nun war ich mit den beiden Daila allein, aber es wollte kein Gespräch in Gang kommen. Und der alte Nemos ließ sich nicht blicken. Ich stocherte gedankenverloren eine ganze Weile im Feuer herum und hoffte dabei, daß die STERNSCHNUPPE mich hier entdeckte und herausholte. Daß die Daila dem Schiff mit ihren psionischen Kräften übel mitgespielt hatten, war klar geworden. Vielleicht wagte es sich gar nicht mehr in Nähe der Planetenoberfläche. Als ich neben mir einen Schatten bemerkte, blickte ich auf. Es war Nemos. Er hielt einen knochigen Stab in der Hand und deutete den Abhang hinab.
»Sie kommen!« sagtete er dumpf. Ich sprang auf. Etwa dreißig Daila kamen gemächlichen Schrittes auf das Blockhaus des »Einsamen in den Bergen« zu, den dies alles nicht zu berühren schien. Wahrscheinlich hatte er sich schon mit dieser furchtbaren Entwicklung der Dinge abgefunden und resignierte. Oder er wartet auf deinen Tod, meinte der Extrasinn, denn damit bestünde für ihn wieder Hoffnung, daß seine Schwestern und Brüder vom Zwang des Pre-Los befreit werden. Das hätte dann seinen Auftrag erledigt. Mit erneutem Schaudern erkannte ich die Richtigkeit dieser Vermutung. Ich war den Daila im Weg! Ich war die Wurzel allen Übels! Ich hatte ihnen die Hoffnung auf eine Heimkehr gebracht, aber diese hatte sich als trügerisch erwiesen. Mehr noch, ohne mein Erscheinen könnten Tener und Daila jetzt noch in Frieden miteinander leben. »Bitte bringe mich hier weg«, bat ich Bung. Der Teleporter schüttelte nur mit dem Kopf. »Der Herr will das nicht«, erklärte er dann. »Welcher Herr?« »Der Stamm«, antwortete er dumpf. »Das Pre-Lo.« Dein Feind naht mit diesen Daila, folgerte der Extrasinn schnell. Er hat sich Bung schon gefügig gemacht. Und sicher auch Nemos und TaiLart. Mich befiel wieder Panik. Ich war allein. Alle waren nun in der Gewalt dieses Unheimlichen. Wahrscheinlich auch schon Colemayn. Hinter irgendeiner der Gestalten, die in einem Halbkreis auf mich zukamen, steckte dieses Pre-Lo. Aber hinter welcher? Und was konnte ich gegen diesen gnadenlosen Gegner noch ausrichten? Nichts! teilte mir der Extrasinn mit. Ich sah die offene Tür der Blockhütte. Vielleicht gab es dort einen Hinterausgang. Ich mußte irgend etwas zwischen mich und die Verfolger bringen. Ohne lange zu überlegen, rannte ich los. Nemos' leises Lachen
verriet mir, daß ich auch auf den Alten nicht mehr zählen konnte. Ich schlug die Tür des Blockhauses zu, entdeckte einen dicken Riegel und schob ihn zu. Dann blickte ich mich um. Es existierte tatsächlich eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Durch den nur schwach erhellten einzigen Raum der Hütte schritt ich darauf zu. Um ein Haar wäre ich über eine auf dem Boden liegende Gestalt gestolpert. Ich drehte den Leblosen um und erlitt einen neuen Schock. Es war Nemos, der »Einsame in den Bergen«. In seiner Brust klaffte ein häßliches Loch. Irrtum von mir, bedauerte der Extrasinn. Das Pre-Lo verbirgt sich in der Gestalt des alten Nemos. Ich rannte auf die Hintertür zu und riß sie auf. Zwei mächtige Gestalten standen dort nebeneinander und breiteten ihre Arme aus, die Roboter, die die Sonde der STERNSCHNUPPE vor unserer Landung beobachtet hatte. Ihre dicken Köpfe glühten auf, und dann hüllten sich ihre Körper in leuchtende Energieschirme, die den geplanten Fluchtweg vollständig versperrten. Der Logiksektor schwieg. Ihm fiel nichts mehr ein. Mir auch nicht. Der Schweiß brach mir aus, als ich in meinem Rücken ein Geräusch hörte. Mit einem Ruck drehte ich mich um. Mit einem donnernden Schlag fiel die vordere Tür in den Raum. Das Pre-Lo in der Gestalt des alten Daila trat herein. Es streifte dabei den Türrahmen, der wie Papier unter dem Aufprall seines Körpers zerfetzte. »Dies ist das Ende deines Weges, Atlan!« Ich wich zurück. Die Panik in mir erlaubte es mir nicht einmal mehr, noch an ein Wunder zu glauben. Ein Knistern erfüllte plötzlich das Innere der Hütte. Das Pre-Lo stutzte kurz und schrie: »Stirb, Atlan!« Ein blitzender Schatten verließ seinen Körper, während aus dem
Knistern heraus sich ein schwach leuchtender Schlauch bildete. Ich war wie von Sinnen und verstand gar nicht, was geschah. Ein kurzes Schwert blitzte vor meinen Augen auf. Etwas versetzte mir einen Stoß, der mich nach vorn taumeln ließ, direkt in den leuchtenden Schlauch. Dann folgte eine gewaltige Explosion. Ich sah die Holztrümmer der Hütte in alle Richtungen fliegen. In dem Chaos standen unbewegt das Pre-Lo und seine beiden Roboter. Eine glühend heiße Welle schlug über mir zusammen, und ich verlor das Bewußtsein.
Epilog Ich hatte das Gefühl, nach einer unendlich langen Zeit wieder zur Besinnung zu kommen. Das erste, das ich sah, war das Gesicht Mrothyrs. »Geht es dir besser?« fragte der Zyrpher. Ich lag in der Medo-Station der STERNSCHNUPPE. Im offenen Schott stand Colemayn. Langsam richtete ich mich auf und tastete meinen Körper ab. Es war alles heil. Der Zellaktivator pulsierte nicht übermäßig stark. Ich überlegte eine Weile, was geschehen war, aber ich kam zu keinem eindeutigen Ergebnis. Der Angriff des Pre-Los, der schimmernde Schlauch, das Schwert, die Explosion. Das waren die letzten Sinneseindrücke. An Colemayn vorbei schob ich mich in Leitstand. Chipol sah mich fragend an, und ich bemerkte erst jetzt, daß ich noch immer die Lederkleidung trug, die mir Tai-Lart gegeben hatte. Zumindest war das ein sicheres Zeichen dafür, daß ich nicht träumte. Die Sonne Latos schimmerte nur noch als kleiner Fleck auf dem Hauptbildschirm. »Ich bin erst einmal auf sichere Distanz gegangen«, erklärte die
Robotik der STERNSCHNUPPE. »Gut«, antwortete ich nur. »Was ist geschehen?« »Ich weiß es nicht«, antwortete das Schiff. »Frag Colemayn!« Ich schritt auf den alten Sternentramp zu. Er machte wieder einen etwas besseren Eindruck, aber er schien sehr müde zu sein. »Was hast du nun vor, Atlan?« wollte er wissen. Ich lachte ironisch auf. »Das kann ich dir genau sagen, Alter. Ich habe die Nase voll. Ich bin nicht der Hanswurst der Kosmokraten! Ich bin auch nicht der, der für die Daila die Kastanien aus dem Feuer holt oder die Hyptons in die ewigen Jagdgründe schickt. Sollen andere ihre Köpfe hinhalten. Ich nicht mehr! Das ist mein letztes Wort.« Colemayn sah mich durchdringend an, als erwarte er noch mehr. »Ich nehme an«, fuhr ich nicht gerade freundlich fort, »daß du mich aus dem Schlamassel gerettet hast. Ich danke dir dafür, Alter. Du hättest mich auch sterben lassen können. Es würde nichts an den Tatsachen ändern. Die Kosmokraten sollen ihren Mist allein machen.« »Das Pre-Lo wird annehmen, daß du tot bist«, meinte Colemayn. »Das ist doch ein gewisser Erfolg für dich.« »Es ist mir völlig egal, was dieses Pre-Lo annimmt«, unterstrich ich meinen endgültigen Entschluß. »Hast du dich einmal gefragt, Atlan, ob dein jetziger Entschluß dem Willen derer entspricht, die dich zu dem gemacht haben, was du bist?« Die Worte des Sternentramps strahlten eine gefährliche Geduld aus. »Wer hat mich gemacht?« fragte ich zurück. »Nicht die Kosmokraten.« Colemayns Stimme wurde eine Nuance härter. »Denen bist du erst später begegnet. Die, die dich erzogen und geformt haben, die dich ausbildeten, die dir mit der ARK SUMMIA den Extrasinn gaben, sie haben dich zu dem gemacht, was du bist. Und einer aus diesem Kreis, der sicher nicht der
Unwichtigste war, will, daß du deinen Weg konsequent fortsetzt. Du bist nicht der Atlan geworden, damit du eines Tages die Flinte ins Korn wirfst.« »Du redest sehr merkwürdig, Colemayn.« »Manchmal«, sagte der alte Tramp, »gelingt es mir mühelos, meine wahre Gestalt anzunehmen.« Seine Umrisse verschwammen. Ein kleiner, fast fetter Mann formte sich daraus, der ein blitzendes Kurzschwert in der rechten Hand hielt. Ein haarloser Schädel, ein schwarzer Kräuselbart … »Fartuloon!« Es war mein alter Lehrmeister! Mir brachen die Tränen aus, und meine Lippen gehorchten nicht mehr dem Gehirn, das im Augenblick nur Wortfragmente produzierte. Dann stand er wieder als Colemayn vor mir, aber ich brachte immer noch keinen Satz heraus.
ENDE
Nach der Enthüllung von Colemayns wahrer Identität werden sich für Atlan zweifellos neue Motivationen und Vorgehensweisen ergeben. Doch später mehr darüber! Im Atlan-Roman der nächsten Woche blenden wir um zu Anima, GomanLargo und Neidhadl-Off, den drei merkwürdigen Reisenden durch Raum und Zeit. Auf sie wartet ein Zeit-Transfer … ZEIT-TRANSFER – so lautet auch der Titel des von H. G. Ewers verfaßten Atlan-Bandes 726.