John Grey
Der Renegat Ronco Band Nr. 190/19
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen...
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John Grey
Der Renegat Ronco Band Nr. 190/19
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Findet bei einer Postkutschengesellschaft einen Job, den er für langweilig hält, bis ihm plötzlich ein Messer gegen die Kehle gedrückt wird. Morton Kilhany – Setzt sich für die Farbigen ein und muß schließlich selbst um sein Leben kämpfen. Gus Drago – Major bei der Missouri-Miliz, bis er einen Dreh findet, schnell reich zu werden. Cargo Flatt – Kümmert sich um Ronco und wird fast enttäuscht.
Der Renegat 28. Juni 1879 Wir kampieren seit einer Stunde in einer Bodenfalte im Schatten einiger Juniperen. Die Sonne steht tief im Westen über Colorados Bergen. Die Schatten sind schon lang. Ich habe meinen Weg nach Del Norte unterbrechen müssen. Wildcat ist mir gestohlen worden, und solange ich ihn nicht zurück habe, werde ich meinen Weg nicht fortsetzen. Wer weiß, was ein gutes Pferd für einen Mann, zudem für einen Mann wie mich, bedeutet, wird mich verstehen. Es hat Momente gegeben, in denen ich ohne Wildcat verloren gewesen wäre. Die Menschen in den Städten und aus dem Osten begreifen das nicht. Für einen Mann im Westen aber ist ein zuverlässiges Pferd der beste Partner, den er haben kann. Ich weiß, ich werde Wildcat wiederfinden, und wenn ich bis ans Ende der Welt laufen müßte. Die kurze Rast will ich nutzen, trotz meiner Sorgen um ihn, um mein Tagebuch weiterzuschreiben. Das wird mich etwas ablenken und innerlich ruhiger werden lassen. Einfach war mein Leben nie, aber verglichen mit meiner heutigen Lage erscheint mir meine harte und freudlose Jugend beinahe wie ein Märchen. Als ich im Spätsommer des Jahres 1859 St. Joseph, Missouri, erreichte, war ich sicher, daß mir eine ruhige Zeit bevorstünde. Ich, der Junge ohne Heimat, hatte wieder eine Zukunft. Ich wollte bei der »Russell, Majors und Waddell Postkutschengesellschaft« arbeiten, wollte Geld verdienen und nichts mehr von Kampf, Tod und Blut wissen. Ich wollte ein normales Leben führen, wollte vergessen, daß ich aus der Wildnis gekommen war. Es war ein verdammt frommer Wunsch, und ich hielt ihn damals für realistisch. Ich war eben noch sehr naiv. Damals wußte ich noch nicht, daß keiner aus seiner Haut heraus kann, daß man seine Vergangenheit nie los wird. Man kann sie nicht abstreifen wie ein schmutziges Hemd. Die große Stadt am Missouri, das hektische Getriebe in den
Straßen, das pulsierende Leben überall gaben mir Hoffnung und ließen mich vieles vergessen, was hinter mir lag. Aber was bedeutete das schon? Für mich war es damals viel, dabei sind erste, flüchtige Eindrücke so wenig, sie bedeuten gar nichts. Ich hatte noch viel zu lernen.
1. Der Mann ritt nicht weit von mir vorbei. Er tauchte aus einem Waldgebiet südlich von St. Joseph auf, ritt dicht am Flußufer entlang und lenkte seinen starkknochigen Morgan-Hengst auf das Hafengebiet der Stadt zu. An einem langen Zügel führte er ein Maultier hinter sich her. Ich lag unter einem dichten Ufergesträuch und lauschte dem leisen Rascheln des Morgenwindes in den Zweigen und dem Plätschern der Wellen des breiten Stromes. Die Sonne war im Osten über dem Fluß aufgegangen und hatte mich geweckt. Jetzt döste ich noch ein wenig vor mich hin. Das Hufgeräusch in meiner Nähe erweckte meine Neugier. Ich wälzte mich schwerfällig herum und stieß dabei gegen Shita. Er lag wie tot da, hatte alle viere von sich gestreckt und gähnte jetzt unwillig, als ich ihn aufschreckte. Der Mann, der unweit von meinem Schlafplatz vorbeiritt, sah mich nicht. Er schaute nach vorn und summte leise ein Lied vor sich hin, das ich nicht kannte. Er war ein großer, schwerer Mann. Er hatte seine kräftige Gestalt in ein grob gefertigtes Wildlederhemd gehüllt, das sich straff über seinen breiten Schultern spannte. Sein Schädel war so eckig wie ein schlecht behauener Felsbrocken. Ein wild wuchernder Bart bedeckte Kinn und Wangen. Aschgraues Haar quoll in dichten Strähnen unter einer Biberpelzmütze hervor. Seine Haut war von der Sonne verbrannt, die Augen waren schmal und von vielen Fältchen umgeben, wie man es häufig bei Männern sieht, die viel bei Wind und Wetter im Freien unterwegs sind. In einem breiten Fransengürtel steckten ein schwerer, sechsschüssiger Dragoon-Colt und ein breites Green-River-Messer mit zehn Zoll langer Klinge. Am Sattel des Morgan-Hengstes hing
ein Scabbard mit einer doppelläufigen Hawkens-Rifle. Ich schaute ihm nach, bis er den Feldweg, der am Flußufer entlangführte, verließ und in eine Hafengasse einbog. Dann richtete ich mich auf und streckte mich gähnend. Auch Shita erhob sich. Erwartungsvoll blickte er mich aus seinen großen, runden und ausdrucksstarken Augen an. Sacht bewegte er den Schwanz hin und her. »Wir werden uns ein bißchen umschauen«, sagte ich zu ihm. »Und dann wollen wir mal sehen, daß wir irgendwo was Eßbares auftreiben.« Er schien mich verstanden zu haben. Ich drehte mich um und sprang die Uferböschung hinunter. Das Wasser war flach. Ich watete hinein, bis mir die Wellen um die Knie strichen. Dann bückte ich mich, schöpfte Wasser mit den hohlen Händen und trank. Ich wusch mein Gesicht und stieg die Böschung wieder hinauf, gerade als ein Schaufelraddampfer vorbeischwamm. Das mächtige Rad am Heck des Schiffes drehte sich nur mit halber Kraft, es bewegte sich träge und wühlte rauschend und brodelnd die Fluten des Missouri auf. Dicke Rauchwolken stiegen aus den zwei hohen Schloten über dem Steuerhaus. Ab und zu schrillte die Dampfpfeife. Es war ein Frachtdampfer. Passagiere konnte ich nicht entdecken. Dafür stapelten sich meterhoch sauber gebündelte Tabakballen auf Deck. Ich schaute dem Schiff eine Weile nach, dann bewegte ich mich zur Stadt hinüber. Shita sprang ausgelassen neben mir her und bellte die Vögel an, die aus dem Schilf und dem dichten Gesträuch am Ufer aufflatterten. Je mehr ich mich dem Hafen näherte, um so intensiver wurde der Geruch von Teer, Schweiß, Whisky, Tabak, Juchten und Unrat. Die Häuser, an denen ich vorüberging, waren klein, windschief und düster. In einigen Hofeingängen sah ich betrunkene Männer liegen. Ein Wagen, hoch mit Tabakballen beladen, überholte Shita und mich. Schwankend rollte er über das ausgefahrene Kopfsteinpflaster, und dann sah ich auch schon den Hafen vor mir. Der Hafen von St. Joseph bestand aus fünf hölzernen Anlegern, an denen an diesem Morgen drei Schaufelraddampfer vertäut waren. Seitlich der Anleger standen Wagen mit Tabak und Baumwolle.
Ein bulliger Aufseher trieb halbnackte schwarze Sklaven an, die schweren Baumwoll- und Tabakballen von den Wagen zu laden und über schwankende Planken in die schier unersättlichen Bäuche der Schiffe zu schaffen. Fasziniert blieb ich stehen und nahm das bunte Treiben in mich auf. Es herrschte eine hektische Geschäftigkeit. Die letzten Frühnebelschwaden, die wie die Fetzen eines Leichentuches über dem Fluß gehangen hatten, lösten sich auf, je höher die Sonne im Osten stieg. Die Luft erwärmte sich rasch. Weitere Wagen rollten durch schmale Gassen heran, beladen mit Fässern und großen Frachtkisten. Kutschen tauchten auf. Sie brachten die ersten Passagiere zu einem der Schaufelraddampfer. Über eine breite Gangway betraten sie das Schiff, gefolgt von schwitzenden Negersklaven, die das Gepäck schleppten. Ich schlenderte weiter. Zwischen dem farbigen Leben, das überall herrschte und so neu für mich war, entdeckte ich nun auch den unglaublichen Schmutz, den Unrat, der im ganzen Hafengebiet herumlag. Zerbrochene und leere Schnapsflaschen, Essensreste, die teilweise schon in Fäulnis übergegangen waren. Hier und da sah ich auch ein paar große Flußratten zwischen dem Abfall hin und her huschen. Unmittelbar vor mir knallte eine Peitsche. Einer der schwarzen Schauerleute stieß einen Schrei aus, stolperte und stürzte mit einer schweren Frachtkiste auf den muskulösen Schultern auf das ausgetretene Pflaster vor dem Anleger. Die Kiste rutschte ihm von den Schultern, polterte über die Holzplanken des Anlegers und kippte über die Kante ins schlammige Wasser des Hafenbeckens. Sie versank sofort. Erschrocken richtete sich der Neger auf. Sein Gesicht war vor Angst verzerrt. Ich sah, daß er am ganzen Körper zitterte. Dabei war er mindestens einen Kopf größer als der weiße Aufseher. An seinen Oberarmen wölbten sich die Muskeln und Sehnen wie Schiffstaue. Ich blieb unwillkürlich stehen und wartete ab, was geschehen würde. »Du schwarzes Stück Dreck!« schrie der Aufseher. Er wirbelte herum und ließ seine Peitsche über die Köpfe der
anderen Schauerleute knallen. »Wollt ihr wohl arbeiten, ihr faulen Schweine. Wer hat was von Pause gesagt? Vorwärts, oder ich schlag euch die Haut von den Knochen!« Dann wandte er sich wieder dem anderen zu. Mit langsamen, wiegenden Schritten bewegte er sich zu ihm hinüber. »Warum hast du die Kiste ins Wasser geworfen?« Er hielt die Peitsche locker in der Rechten. »Du hast wohl Spaß daran, eine Kiste mit Nägeln in den Fluß zu werfen, wie? Nägel sind teuer, und dein Master hat viel Geld. Der kann ruhig bezahlen, denkst du, wie?« »Sie – Sie haben mich geschlagen …« Die Stimme des Negers klang schwach. Er zuckte bei jeder Bewegung des Aufsehers zusammen und hatte den Kopf etwas eingezogen. »Weil du wie eine lahme Ente gelaufen bist«, sagte der Aufseher. »Weil du immer die leichtesten Kisten genommen hast. Deswegen habe ich dir eins aufs Fell gebrannt. Nicht, damit du die Kiste ins Wasser schmeißt, du schwarzer Hohlkopf.« »Die Kiste war schwer, Massa, und ich …« Der Aufseher schlug blitzschnell zu. Der Neger hatte keine Gelegenheit, sich zu ducken. Der lederne Peitschenriemen traf ihn quer über den Schädel. Aufheulend ging er zu Boden. »Hol die Kiste aus dem Wasser!« schrie der Aufseher. Sein knochiges Gesicht war rot angelaufen, in seinen Augen glitzerte es. »Spring hinterher und hol die Kiste raus, sonst schlag ich dich tot, du schwarze Ratte!« Er schlug zu, einmal, zweimal, immer wieder. Der Neger wälzte sich vor Schmerzen über das Kopfsteinpflaster und versuchte vergeblich, den Schlägen zu entgehen. Er blutete bereits. In einigem Abstand hatten sich Neugierige eingefunden. Ich selbst stand wie gelähmt da und konnte kaum glauben, was ich sah. Ich erinnerte mich an mein Abenteuer mit den Freistaatlern und den Sklavereibefürwortern, die sich gegenseitig umbrachten und angeblich jeder für eine bessere Welt kämpften. Aber mit der Sklaverei selbst war ich noch nie konfrontiert worden. Es war für mich unbegreiflich, daß sich ein Mensch dermaßen mißhandeln ließ, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, sich zu wehren. Sekundenlang dachte ich daran, meinen Revolver zu
ziehen, den ich unter meinem Hemd im Hosengurt stecken hatte. Aber ich ließ es, denn als ich mich umschaute, sah ich an den Gesichtern der Zuschauer, auf wessen Seite die Sympathien waren. Der Neger schrie nicht mehr. Er wimmerte nur noch, hatte die Beine an den Leib gezogen und schützte den Kopf mit den Armen. Der Aufseher schlug noch immer mit der Peitsche auf ihn ein und versetzte dem Mann am Boden ab und zu Fußtritte, die ihn weiter zum Wasser beförderten. Plötzlich war der große Mann in Wildleder da. Ich sah ihn erst, als er neben dem Aufseher aus dem Sattel stieg und mit geschmeidigen Schritten auf ihn zuging. »Glaubst du, vom Schlagen wird es besser?« sagte er. Seine Stimme war tief, fest und ruhig. Er überragte den Aufseher um einen halben Kopf. Er drohte nicht, und seine Haltung drückte keinerlei Angriffswillen aus. Er stand nur einfach da, mit locker herabhängenden Armen, und schaute den Aufseher an. Es war derselbe Mann, der dicht an meinem Schlafplatz vorübergeritten war. * Der Aufseher ließ die Peitsche sinken und wandte sich um. Einen Moment lang musterten sich die Männer schweigend. »Kilhany«, sagte der Aufseher. »Das hätte ich mir denken können.« »Wird ein Fehler dadurch wieder gut, daß du den Mann totprügelst?« sagte der Mann in Wildleder, ohne auf die Bemerkung des anderen einzugehen. »Ich werde mich hüten, den Kerl totzuprügeln«, sagte der Aufseher. »Er ist eine Menge Geld wert. An einer Tracht Prügel stirbt der nicht. Und er hat sie verdient. Aber es weiß ja jeder, daß du ein verdammter Niggerfreund bist, Kilhany. Wenn es nach dir ginge, müßten wir diese schwarzen Halunken mit ›Sir‹ anreden. Verschwinde lieber, Kilhany. Wir mögen dich hier nicht. Eines Tages hängen wir dich auf. Niggerfreunde werden früher oder später alle aufgehängt.«
»Hör auf, den Mann zu prügeln«, sagte Kilhany ruhig. Dann drehte er sich um und ging zu seinem Pferd. »Hol du doch die Kiste aus dem Wasser, die dieser Idiot reingeworfen hat!« schrie der Aufseher in erneut aufflammendem Zorn. Der Mann in Wildleder kümmerte sich nicht darum. Da holte der Aufseher mit der Peitsche aus und schlug zu. Der dünne Lederriemen klatschte Kilhany auf die linke Schulter. Er zuckte zusammen, gab keinen Schmerzlaut von sich und drehte sich um. Sein Gesicht hatte sich kaum verzogen, und doch wirkten seine Züge auf einmal so hart wie Granit. Der mißhandelte Neger hatte sich erhoben, froh, nicht mehr geschlagen zu werden, und beeilte sich, verkrümmt vor Schmerzen, wieder an seine Arbeit zu gehen. Der Aufseher achtete nicht mehr auf ihn. Er lachte Kilhany ins Gesicht. »Jetzt siehst du selbst, daß man daran nicht stirbt. Niggerfreunde wie dich sollte man aus der Stadt peitschen.« »Mich schlägt niemand«, sagte der Mann in Wildleder. Er ging auf den Aufseher zu. Der lachte wieder, und aus der Menge ringsum schrie jemand: »Schneid dem Niggerfreund die Haut in Streifen!« Der Aufseher schwang jäh die Peitsche hoch. Aber der Mann in Wildleder bewegte sich noch schneller. Er duckte sich, riß den rechten Arm hoch und fing den Peitschenhieb mit dem Unterarm ab. Im nächsten Moment stand er unmittelbar vor dem Aufseher und schlug ihm die linke Faust mitten auf den lachenden Mund. Der Mann taumelte zurück. Die Wucht des Schlages warf seinen Kopf nach hinten. Kilhany hämmerte ihm die Rechte gegen den Hals. Gurgelnd und nach Atem ringend sackte der Aufseher in die Knie. Die Peitsche entfiel seiner Faust, Wimmernd tastete er mit beiden Händen zu seinem Hals. Der Mann in Wildleder bückte sich, packte ihn am Kragen seines schmutzigen Hemdes und zerrte ihn auf die Beine. Mit der offenen Rechten schlug er auf den Aufseher ein, dem bereits ein dünner Blutfaden aus dem linken Mundwinkel rann. Er sagte kein Wort dabei, und sein Gesicht blieb unbewegt. Mit der gleichförmigen
Kraft einer Maschine schlug er den Aufseher zusammen. Mit gezielten Fausthieben trieb er ihn zum Wasser hin. Der Aufseher stürzte rückwärts über eine Kiste, ruderte mit den Armen und plumpste wie ein Sack ins Wasser. Er schrie, reckte beide Arme hoch und griff ins Nichts. Dann versank er. Kilhany drehte sich um und ging zu seinem Pferd zurück, als sei nichts geschehen. Ein paar Männer lösten sich aus der Menge und näherten sich drohend. Kilhany beachtete sie nicht. Er wollte sich in den Sattel schwingen, als sie ihn erreichten und angriffen. Er bewegte sich so leichtfüßig wie eine Tänzerin, als er herumfuhr und die Männer abwehrte. Sie waren zu dritt, und Kilhany brach dem ersten mit einem Hieb das Nasenbein. Der Mann schrie wie am Spieß und preßte beide Hände vor das Gesicht, während er stürzte. Aus seiner Nase quoll ein Strahl dunkelrotes Blut und netzte das Kopfsteinpflaster. Den zweiten Mann empfing Kilhany mit einem Tritt in den Leib, der den Kerl hochschleuderte und wie ein Geschoß gegen den dritten prallen ließ. Sie gingen beide zu Boden. In diesem Moment griffen zwei andere Kilhany an. Sie hatten sich während des Kampfes von hinten genähert, und dann sah ich einen weiteren Mann, und der hielt einen kurzläufigen Taschenrevolver in der Faust. Bis jetzt hatte ich wie gebannt dem Kampf zugeschaut. Ich hatte selten einen Mann besser kämpfen sehen. Bei den Apachen, bei denen ich erzogen worden war, zählte es etwas, ein guter Kämpfer zu sein. Als ich die Waffe sah, handelte ich instinktiv, ohne lange nachzudenken. Ich kannte den Mann in Wildleder nicht. Außer dem Namen, den ich während des Gesprächs zwischen ihm und dem Sklavenaufseher gehört hatte, wußte ich nichts von ihm. Trotzdem war er einer der wenigen Männer, die mir in der Welt des weißen Mannes bisher begegnet waren, die mich wirklich beeindruckten. Ich fühlte mich ihm auf unerklärliche Weise verbunden und empfand die Verpflichtung, ihm zu helfen, als ihm ein Mann heimtückisch in den Rücken fallen wollte. Der schwere Navy-Revolver mit dem Stempel »El-Moro-Prison-
Guard« im Griff lag plötzlich in meiner Faust. Mein Daumen wischte über den Hammer. Das belfernde Krachen des Schusses übertönte das Geschrei der Kämpfenden und der herumstehenden Gaffer. Das Geschoß prallte mit häßlichen Laut unmittelbar neben dem linken Stiefelabsatz des Kerls, der sich mit dem Revolver angeschlichen hatte, auf das Pflaster. Es jaulte als Querschläger davon, riß dabei das linke Hosenbein des Mannes auf und hinterließ eine tiefe blutige Schramme in seiner Wade. Der Mann stieß einen gellenden Schrei aus und vollführte einen wilden Satz. Danach wurde es fast augenblicklich still, und ich hörte meine Stimme über die Reede hallen: »Die Waffe weg! Beim nächsten Mal halte ich ein Stück höher!« Ich spürte beinahe körperlich, daß sich alle Augen auf mich richteten, und fühlte mich auf einmal gar nicht mehr wohl in meiner Haut. Aber jetzt konnte ich nicht mehr zurück. Shita knurrte neben mir, und ich war froh, daß er da war. Aber wenn es ernst geworden wäre, hätte er auch nicht viel ausrichten können. Als ich den Kopf ein wenig wandte und meine Blicke rasch über den Hafen gleiten ließ, sah ich, daß auch Kilhany seinen Revolver gezogen hatte. In diesem Moment ließ der hinterhältige Angreifer seine Waffe fallen und zog sich humpelnd zurück. Auch die anderen Kerle, die Kilhany zu Boden geschlagen hatte, rappelten sich hoch und stahlen sich schweigend davon. Die Spannung löste sich. Ich schob mit eckiger Bewegung meinen Colt unter das Hemd zurück. Einen Moment trafen sich Kilhanys und meine Blicke. Schweigend musterten wir uns. Stumm nickte er mir zu. Dann schwang er sich in den Sattel und trieb sein Pferd an. Mit dem Maultier am langen Zügel ritt er davon. Die Menge zerstreute sich rasch und wich ihm aus. Auch ich setzte mich in Bewegung und verließ mit Shita das Hafengebiet. Hinter uns stieg gerade triefend vor Nässe, mit verschwollenem, blutigen Gesicht der Sklavenaufseher aus dem Wasser. Als Shita und ich eine schmale Gasse hinaufgingen, um zur Stadtmitte zu gelangen, schrillte hinter uns die Dampfpfeife eines der Schiffe und
signalisierte die baldige Abfahrt.
2. Das Office der »Russel, Majors und Waddell Postkutschengesellschaft« befand sich im »Patee House« am Westrand der Stadt. Als ich mich endlich bis hierher durchgefragt hatte, war es Mittag geworden. Inzwischen hatte ich in einem Speiselokal ein paar belegte Brote für mich und Shita gekauft. Jetzt war ich am Ziel und staunte nicht schlecht. Das »Patee House« war das größte Gebäude, das ich bis dahin jemals gesehen hatte. Es war aus großen Steinquadern erbaut, drei Stockwerke hoch, und hatte an der Längsseite in einer Reihe fünfzehn Fenster nebeneinander und fast genauso viele Türen. In dem Gebäude waren auch ein General-Store, eine Bank und das Office einer Eisenbahngesellschaft untergebracht, aber die »Russel, Majors und Waddell Company« nahm bei weitem den meisten Platz ein. Hinter dem »Patee House« befanden sich die Ställe und Remisen für Kutschen und Pferde. Beeindruckt von der gewaltigen Größe des Hauses schlenderte ich mit Shita im Schatten eines marmornen Bogenganges entlang und entschied mich schließlich für eine der vielen Türen. Ich trat in eine geräumige Halle mit zahllosen Schaltern und vielen Officetüren. Kurzentschlossen steuerte ich den mir am nächsten gelegenen Schalter an und wartete, bis der griesgrämig aussehende Clerk, der dahinter saß, seinen Kopf hob und mich fragend anschaute. »Ich möchte zu Mr. Flatt«, sagte ich. »Cargo Flatt.« Der Clerk glotzte mich an, als hätte ich von ihm verlangt, sich auf der Stelle zu erschießen. Er beugte sich ein Stück vor, so daß er mit dem Gesicht beinahe gegen das Gitter stieß, das sich oberhalb der Schaltertheke befand und ihn und mich voneinander trennte. Er musterte mich sorgfältig von oben bis unten, warf auch Shita einen Blick zu und sagte dann: »Hunde sind hier nicht erwünscht.« »Warum sind Sie dann noch hier«, entfuhr es mir unwillkürlich. Wütend wandte ich mich ab und ging zum nächsten Schalter,
während der Clerk hinter mir empört nach Luft schnappte. »Ich möchte zu Mr. Cargo Flatt«, sagte ich zu dem Angestellten hinter dem zweiten Schalter. »Ich werde erwartet«, fügte ich hinzu. Der Mann warf mir nur einen kurzen Blick zu und sagte: »Du mußt um den Block herum zu den Ställen. Dort kann dir jeder sagen, wo Flatt sich gerade aufhält.« Ich nickte und ging. Als ich wieder auf der Straße stand, fühlte ich mich wohler. Ich war es gewöhnt, freies Land um mich herum zu haben, Weite und Einsamkeit. Die große Stadt mit ihren vielen Menschen, den hohen Häusern, den engen Gassen, durch die man die Savanne im Westen nicht mehr sehen konnte, begann mich etwas zu bedrücken. Ich umrundete das riesige Gebäude und betrat den Wagenhof. Vier Concord-Kutschen mit hochgeklappter Deichsel standen hier nebeneinander, ein fünfter Wagen wurde gerade fahrbereit gemacht. Durch offene Remisentüren entdeckte ich weitere Kutschen. Gespannpferde wurden gebracht, Fracht wurde aufgeladen. Fünf oder sechs Kutscher standen herum, redeten, lachten, rauchten. Neben dem Wagen, vor den jetzt gerade vier Pferde gespannt wurden, stand ein finster aussehender Begleitmann mit zwei Revolvern an den Hüften und einer abgesägten Schrotflinte in den Fäusten. Auf ihn ging ich zu und fragte ihn nach Cargo Flatt. Wortlos wies er mit seiner Schrotflinte auf eine Freitreppe, die zu einer breiten Tür seitlich einer Verladerampe hinaufführte. Zusammen mit Shita begab ich mich dorthin und betrat durch die Tür das Gebäude ein zweites Mal. Vor mir erstreckte sich ein langer, dunkler Gang. Aus einem Zimmer hörte ich Männerstimmen. Ich bewegte mich den Gang hinunter und gelangte an eine offene Tür. Als ich einen Blick in das Office dahinter warf, sah ich Cargo Flatt an einem breiten, abgewetzten Schreibtisch stehen. Ohne zu zögern, trat ich ein. Flatt redete mit einem massigen, stiernackigen Mann, der ein Stück abseits vom Schreibtisch auf einem Stuhl saß. Er war in einen hellblauen Uniformrock gekleidet und hatte einen breitrandigen Hut mit bunter Kokarde auf den Knien liegen.
Als ich in der Tür auftauchte, wandte Cargo Flatt den Kopf. Einen Moment starrte er mich abwesend an, dann überzog ein freudiges Grinsen seine Züge. Mit ausgestreckter Hand trat er auf mich zu und schüttelte mir die Rechte. Sekunden später sprang Shita aufgeregt jaulend an ihm hoch. Flatt sah besser aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Als ich am Arkansas-River mit ihm gegen die Kutschenräuber gekämpft hatte, war er mehr tot als lebendig gewesen, zum Skelett abgemagert und gezeichnet von schweren Verletzungen und Blutverlust. Sein Gesicht war immer noch scharfgeschnitten, und vielleicht hatte er ein paar Falten mehr, aber es war nicht mehr mager. Seine Gestalt wirkte drahtig und kräftig. »Ich habe nicht mehr mit dir gerechnet«, sagte er. Er legte mir die Rechte auf die Schulter und wandte sich dem Mann in Uniform zu, der schweigend sitzengeblieben war. »Das ist Ronco«, sagte er. »Der Teufelsbraten, der mir das Leben gerettet hat, als ich mich auf Bogarts-Station am Arkansas mit den Halunken herumgeschlagen habe, die uns reihenweise Kutschen ausgeraubt und Fahrgäste umgebracht hatten. Er hat damals dafür gesorgt, daß die ganze Sache geklärt wurde. Ein Prachtjunge, Major, und verdammt eigenwillig. Damals sagte ich ihm, er solle mit mir nach St. Joseph kommen und für uns arbeiten. Da wollte er nicht, obwohl er nicht einen blutigen Cent in der Tasche hatte. Und jetzt, als ich schon dabei war, ihn zu vergessen, steht er auf einmal in meinem Office. Was sagen Sie dazu? Setz dich, Ronco.« Ich ging zu einem Stuhl neben einem mit Aktenordnern gefüllten Regal und setzte mich. Der Major in der hellblauen Uniform, die mich ein wenig irritierte, da mir die Farbe ungewohnt war, so daß ich eine Weile rätselte, ob die US-Armee neue Uniformen erhalten habe, musterte mich aus schmalen Augen und sagte dann: »Eigenwillig, sagen Sie, Flatt? Damit haben Sie sicher recht. Ich habe Ihren Prachtjungen bereits kennengelernt. Am Hafen. Ich denke, Sie werden ihm noch einiges beibringen müssen, sonst hat er in St. Joseph keine Zukunft.« »Was meinen Sie damit?« Flatt warf mir einen raschen Seitenblick zu.
Ich schaute ihn ruhig an und sagte kein Wort. Ich war sicher, daß er mir aus meiner Handlungsweise keinen Vorwurf machen würde. Er war ein guter Mann. Ich hatte ihn als zähen, harten und unerschrockenen Kämpfer kennengelernt. Er war Sicherheitsagent der Postkutschencompany, und zwar einer der Spitzenleute, der nur in besonders schwierigen Fällen selbst in den Sattel stieg und dann nicht eher aufgab, bis die Arbeit getan war. »Es hat am Hafen Ärger gegeben«, sagte der stiernackige Major. »Ärger mit Kilhany. Er hat sich mit ein paar Männern herumgeprügelt, und Ihr Prachtjunge, Flatt, hat ihm geholfen und beinahe einen erschossen.« »Stimmt das?« Flatt sah mich an. »Nicht ganz«, sagte ich. »Wenn ich den Mann hätte erschießen wollen, dann hätte ich ihn erschossen, dann hätte ich ihn nicht nur ›beinahe‹ erschossen. Und ich frage mich immer noch, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich ihn erschossen hätte, denn er hat sich von hinten mit einem Revolver an diesen Mann herangeschlichen, den alle Kilhany nennen.« »Wer sich mit allen Leuten anlegt, muß früher oder später die Rechnung bezahlen«, sagte der Major. »Du bist ganz schön abgebrüht, mein Junge.« »Ich bin nicht Ihr Junge«, sagte ich. »Und der Mann hat nichts weiter getan, als zu verhindern, daß ein Neger totgepeitscht wurde. Er hat die Schlägerei nicht angefangen. Aber er hat verdammt gut gekämpft, und wenn ein solcher Mann hinterrücks abgeknallt werden soll, dann können Sie ja zuschauen, ich nicht.« Der Major öffnete den Mund, schien etwas sagen zu wollen, konnte aber nur mit dem Kopf schütteln und klappte den Mund wieder zu. »Er sagt, was er denkt.« Cargo Flatt grinste etwas säuerlich. »Und ich denke, daß er recht hat. Auch Sie können nicht im Ernst wollen, daß man Kilhany in den Rücken schießt, Major.« Der Major sagte gar nichts, und Cargo Flatt wandte sich an mich. »Morton Kilhany war Scout bei der Missouri-Miliz und dem Major unterstellt. Man hat eines Tages herausgekriegt, daß er entlaufene Sklaven nach Iowa schmuggelt, wo es keine Sklaverei
gibt. Er ist aus der Miliz entlassen und vor Gericht gestellt worden. Dann hat er ein Jahr im Gefängnis gesessen. Viele Leute hier hätten ihn lieber totgeschlagen.« »Was vermutlich besser gewesen wäre«, sagte der Major, der wie ich nun wußte, nicht zur regulären Armee gehörte. Daher die seltsame Farbe der Uniform. Ich hätte gern noch etwas gesagt, denn ich hatte meine eigene Meinung dazu. Wer versklavten Menschen half, in die Freiheit zu gelangen, war meiner Ansicht nach kein Verbrecher. Aber das behielt ich für mich, denn ich hatte schon genug gesagt und erinnerte mich an meinen Vorsatz, in Zukunft ruhig, ohne Aufregungen, zu leben und allem Ärger aus dem Wege zu gehen. Daran wollte ich mich halten. Der Major erhob sich. Er strich seinen Uniformrock glatt und setzte sich den Hut mit der bunten Kokarde auf. »Ich muß noch weiter«, sagte er zu Cargo Flatt. »Es ist ja alles besprochen. Sie können auf meine Unterstützung hoffen, wenn Sie Hilfe brauchen. Wenn Sie größere Geldtransporte auf den Weg schicken, lassen Sie es mich wissen. Dann stelle ich Ihnen Begleitschutz zur Verfügung.« Er ging hinaus, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und schloß die Tür. Ich war mit Cargo Flatt allein. Er lehnte sich hinter seinem Schreibtisch zurück und blickte mich mit gespieltem Entsetzen an. »Du hast dich prächtig eingeführt.« Er schnaufte. »Den Major wirst du bestimmt nicht zum Freund haben.« »Darauf bin ich auch nicht scharf«, sagte ich. »Er ist ein wichtiger Mann. Die Zeiten sind unsicher, und ich brauche seine Leute als Schutztruppe für große Geldtransporte. Unsere eigenen Begleitmänner reichen nicht aus.« Flatt drehte sich eine Zigarette, zündete sie aber nicht an, sondern ließ sie nur zwischen seinen schmalen Lippen hin und her rollen. »Es wimmelt nur so von Guerillas aus den Sklavenstaaten und den sklavenfreien Staaten, die hier eine Art Privatkrieg führen. Vielleicht wird es sogar irgendwann einen richtigen Krieg geben. Dann gnade uns Gott.« »Ich habe schon in Kansas davon gehört«, sagte ich. »Dann weißt du ja Bescheid. Diese Leute versuchen, sich in
großen Mengen Geld zu beschaffen, um ihre Raubzüge zu finanzieren, Waffen zu kaufen und neue Männer anzuwerben. Mit zwei oder drei Begleitleuten ist ein Geldtransport heute nicht mehr zu sichern. Ich muß froh sein, wenn ich Milizmänner von Major Drago kriege.« »Trotzdem kann er mir den Buckel runterrutschen«, sagte ich. Flatt lachte. »Was hast du in der Zwischenzeit getrieben? Du hast mich lange warten lassen.« »Dieses und jenes«, sagte ich. »Das sind lange Geschichten. Ich bin einfach herumgezogen, bis ich fast kein Geld mehr hatte. Und der Weg nach St. Joseph ist lang gewesen.« »Gut«, sagte er. »Reden wir nicht länger darüber. Du bist da, das ist die Hauptsache. Du kriegst ein Zimmer bei den Kutschern über den Ställen und kannst erst einmal hier im Wagenhof arbeiten. Dann sehen wir weiter.« Ich nickte. »Halt dich aus Streitereien raus«, sagte Flatt. »Du weißt in diesen Zeiten nie, wen du unterstützt. Du kannst schneller im Gefängnis landen, als dir lieb ist. Hier ist vieles anders als westlich vom Missouri. St. Joseph ist eine der größten Städte des Landes. Es gibt einen Marshal und einen Haufen Deputies, die nicht lange fackeln, wenn irgendwo in der Stadt etwas passiert.« »Ich will keinen Ärger«, sagte ich. »Ich will meine Ruhe haben.« »Du kannst damit rechnen, daß du bei Posttransporten als zusätzlicher Begleitmann eingesetzt wirst«, sagte Flatt. »Du kannst schießen, und du kannst kämpfen. Da spielt das Alter keine Rolle, da zählt nur, ob du zuverlässig bist. Und das kann ich bezeugen. Glaub also nicht, daß du ein sehr ruhiges Leben haben wirst. Zehn Meilen westlich von St. Joseph ist das Leben so, wie du es vermutlich gewöhnt bist. Nur hier in der Stadt wirst du dich anpassen müssen.« »In Ordnung«, sagte ich. »Wir zahlen dir fünfzehn Dollar im Monat. Wenn du Transporte begleitest, gibt es Zulagen.« Ich stand auf. Cargo Flatt drückte mir noch einmal die Hand. »Ich bin froh, daß du da bist. Wir haben zuviel Gesindel hier. Höchstens auf die Hälfte der Leute kann man sich verlassen. Du
magst noch sehr jung sein, aber ich kenne dich und weiß, was du wert bist. Ich wollte, wir hätten mehr solche Burschen wie dich.« Er führte Shita und mich hinaus und quer über den Hof. Gerade fuhr draußen eine Postkutsche ab. Der grimmige Begleitmann, der mir den Weg zu Cargo Flatt gewiesen hatte, hatte sich in einen langen Staubmantel gehüllt und hockte neben dem Kutscher auf dem Bock. Die Schrotflinte hatte er quer über den Knien liegen. Die Kutsche rollte vom Hof. Flatt und ich erreichten ein großes Stallgebäude, traten hinein und gingen eine schmale Stiege hinauf. Über den Stallungen waren Kammern für die Kutscher und Pferdeknechte eingerichtet. Als wir eine der Kammern betraten, wälzte sich auf einem der beiden Betten ein vierschrötiger Mann mit struppigem Vollbart herum und blinzelte uns entgegen. Er trug nur eine speckige Hose und löchrige Socken. Sein breiter, muskulöser Oberkörper war nackt und stark behaart. »Das ist Charles McClister«, sagte Cargo Flatt. »Einer unserer besten Kutscher. Freunde nennen ihn Charly. Charly, das ist Ronco.« Der Kutscher richtete den Obenkörper auf und musterte mich von oben bis unten. »Ist das der Junge, von dem Sie erzählt haben, Cargo?« »Das ist er. Er soll bei dir wohnen.« Flatt wies auf das zweite Bett. »Das ist dein Bett«, sagte er. Charly McClister schwang die Beine vom Bett und streckte mir die riesige, schwielenbedeckte Hand hin. »Du kannst Charly sagen, Junge«, sagte er. »Cargo hat wochenlang nur von dir gesprochen, als er aus Kansas zurückkehrte. Ist das der Wunderhund?« Er warf einen Blick auf Shita, der ihn neugierig beschnüffelte. »Ein Wunderhund ist er nicht«, sagte ich. »Aber er ist mein Freund.« »Ein Mann braucht seine Freunde«, sagte McClister. »Ich denke, wir werden uns vertragen, Ronco.« Der Mann sah aus wie ein Strauchdieb, aber ich hatte sofort Vertrauen zu ihm. Ich sah mich in der kleinen Kammer mit der schrägen Decke um, in der außer den beiden Betten, einer Waschkommode, einem schmalen Schrank, einem Tisch und zwei
Stühlen nichts weiter stand, und ich fühlte mich bereits irgendwie heimisch. Ich schüttelte die Pranke von Charly McClister und wußte, daß ich endlich wieder ein Zuhause gefunden hatte.
3. Die Männer eilten hintereinander durch die dunklen Gassen am Hafen. Vor einer Stunde war die Sonne untergegangen. Wie eine schützende Decke lag der Schleier der Nacht über der Stadt und dem großen Fluß. Von Westen strich ein schwacher Wind heran. Die Männer trugen knöchellange Staubmäntel, deren Kragen sie hochgeschlagen hatten. Die breiten Krempen ihrer Hüte beschatteten die oberen Hälften ihrer Gesichter. Ab und zu tauchten Betrunkene vor ihnen auf. Dann blieben sie stehen, preßten sich in den Schatten der Häuser und warteten, bis die Gassen wieder leer waren. Sie waren zu dritt. Als sie den Hafen erreichten, trat der Mond gerade hinter einer dunklen Wolke hervor. Der kleine Bootssteg seitlich der großen Schiffsanleger wurde in milchiges Licht getaucht. Einer der Männer fluchte leise. Zögernd blieben sie stehen und beobachteten das leere Rund des gepflasterten Hafenvorplatzes. Als alles still blieb, eilten sie auf den Bootssteg zu, neben dem einige kleine Ruderkähne im Wasser schaukelten. Plötzlich war ein vierter Mann da. Er tauchte von den Lagerschuppen her auf, trug eine hellblaue Uniform, einen breitrandigen Hut und hochschäftige Stiefel und hielt einen SharpsKarabiner in den Fäusten. Breitbeinig stand er auf einmal auf dem Bootssteg und rief die drei Männer an. »Was macht ihr da? Ihr wollt wohl ein Boot stehlen, wie? Hebt die Hände hoch und kommt zurück!« Die Stimme hallte weit über den Fluß in der Stille der Nacht. Die drei Männer erstarrten, dann drehten sie sich langsam um, hoben die Hände und leisteten der Aufforderung Folge. Der Milizsoldat, der zur Bewachung der Lagerschuppen abgestellt worden war, trat einen Schritt zurück und erwartete die dunklen
Gestalten, deren Stiefel hart auf die ausgetretenen Planken des Bootssteges pochten. Als sie den Steg verließen, verschwand der Mond wieder hinter einer Wolkenwand. Es wurde fast schlagartig stockfinster. Einer der drei Männer sprang mit einem jähen Satz vor. Sein langer Staubmantel klaffte auf. Darunter war ein Gürtel mit zwei Revolvern zu erkennen. Er schlug das Gewehr des Milizsoldaten zur Seite und hämmerte ihm die Rechte in den Leib. Der Uniformierte krümmte sich zusammen. Sein Gesicht verzerrte sich vor Angst und Schmerz. Als ihm ein zweiter Mann ein Messer in den Hals rammte, quollen seine Augen fast aus den Höhlen. Er stieß einen gurgelnden Laut aus. Blut quoll aus der Wunde und aus seinem Mund. Das Gewehr klirrte auf das Pflaster. Mit beiden Händen tastete er zu seinem Hals hoch. Ganz langsam sackte er in die Knie. Ein zweites Mal stieß der Mann mit dem Messer zu. Der Milizsoldat stürzte nach vorn aufs Gesicht. Der Stich hatte sein Herz durchbohrt. Sekundenlang umstanden die drei Männer den Toten, dann bückten sie sich, schleiften ihn zur Kante der Hafenmauer und warfen ihn ins Wasser. Mit dumpfem Klatschen versank der Körper des Milizsoldaten im Missouri. Nach kurzer Zeit tauchte er wieder auf und wurde von der Strömung des großen Flusses abgetrieben. Die Dunkelheit verschluckte ihn. Die drei Männer eilten bereits über den Bootssteg und sprangen in einen der Kähne. Sie lösten die Vertäuung, tauchten die Riemen ins Wasser und stießen ab. Schnell glitten sie auf den dunklen Strom hinaus. Fast geräuschlos tauchten sie die Riemen ein, sie bewegten sie sparsam, aber kräftig und geschickt. Der Kahn näherte sich einem Schaufelraddampfer, der an der letzten der großen Anlegerbrücken lag. Im schwachen Schein einer Laterne war am Bug des Schiffes ein Wachtposten zu erkennen. Wenig später stoppten die Männer den Kahn unmittelbar vor dem Schaufelrad am Heck ab. Einer von ihnen richtete sich auf. Der Kahn schwankte heftig, und für einen Moment sah es so aus, als würde der Mann das Gleichgewicht verlieren. Dann fing er sich, beugte sich vor und schwang sich auf das stählerne Gerüst des Schaufelrades
hinüber. Geschmeidig kletterte er hoch und stieg an Bord. Hinter einem der Decksaufbauten erschien ein weiterer Mann. Er beugte sich kurz über die Reling und winkte den zurückgebliebenen Männern im Boot zu. Die tauchten daraufhin die Riemen wieder ins Wasser und glitten auf dem Strom davon. An Bord des Dampfers nahm der Mann im langen Staubmantel den breitrandigen Hut ab und knöpfte den Mantel auf. Er war ein Neger. Der Mann, der ihn erwartet hatte, lotste ihn wortlos zu den Luken in die Laderäume, ohne daß sie von dem Posten auf dem Vorderdeck bemerkt wurden. Der Neger verschwand im Bauch des Schiffes, nachdem er dem anderen Hut und Mantel übergeben hatte. Der Mann warf beides über Bord und verschwand in Richtung des Mannschaftslogis. * Ich hatte schlecht geschlafen. Die Matratzen meines Bettes waren durchgelegen, und das Ende einer Stahlfeder hatte sich durch den Bezug gebohrt und mir ständig in den linken Oberschenkel gestochen. Ich hatte Schmerzen im Kreuz und fühlte mich mies, als ich den grauen Morgen über der Stadt sah. Charly McClister war nicht mehr da. Er war bereits gegen Mitternacht aufgestanden und hatte die von Albany herunterkommende Kutsche übernehmen müssen. Er war jetzt bereits auf dem Weg nach Topeka, wo er wieder abgelöst werden würde. In zwei Tagen würde er mit der planmäßigen Gegenkutsche zurückkehren und dann wieder einen Tag Ruhe haben. Ich öffnete das Fenster unserer Kammer, um den abgestandenen Rauch von McClisters Zigaretten hinauszulassen. Kühl strich der Morgenwind herein. Ich fröstelte, während ich mich wusch. Als ich dann mit Shita hinunterging, durchbrach die Sonne gerade den Frühnebel. Auf dem Wagenhof hinter dem »Patee House« herrschte bereits hektisches Getriebe. Drei Kutschen wurden gleichzeitig abfahrbereit gemacht. Ich begab mich in einen Küchenanbau hinter den Ställen und nahm mein Frühstück mit den Kutschern der drei Wagen ein, die
St. Joseph in einer Stunde verlassen sollten. Shita erhielt einen großen Knochen und eine Schüssel mit Wasser und schien sehr zufrieden zu sein. Der Maisfladen, den ich zu den gebratenen Eiern mit Speck aß, war zäh und schmeckte nach Holz, aber ich wurde satt, spülte mit zwei großen Bechern Kaffee nach und meldete mich beim Vormann des Wagenhofes. Er ließ mich eine der wartenden Concord-Kutschen abfertigen. Ich schirrte ein Vierergespann an, schmierte die Achsen, überprüfte die Felgen und die Vorräte an Trockenfleisch, hartem Brot und Wasser, die für Notfälle unter den Sitzbänken mitgeführt wurden, staubte den Wagen aus und lenkte die Kutsche dann selbst um das »Patee House« herum zur Wagenstation, wo bereits einige Fahrgäste warteten. Als ich in den Hof zurückkehrte, sagte mir einer der Kutscher, ich solle mich bei Cargo Flatt melden. Ich betrat das Haus und suchte sein Office auf. Die Begleitleute der Kutschen, die St. Joseph gleich verlassen sollten, saßen dicht gedrängt in seinem Office und erhielten die letzten Instruktionen für ihre Fahrten. Es waren durchweg rauhe Kerle, denen man im Dunkeln vermutlich besser aus dem Weg ging. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet und ihnen war anzusehen, daß sie ihre Waffen nicht nur zum Spaß trugen. Als ich eintrat, erhoben sich die Männer gerade und gingen hinaus. Sie bewegten sich geschmeidig und leichtfüßig, obwohl manche von ihnen gewiß an die zwei Zentner wogen. Ein Mann blieb zurück. Er hatte ein Päckchen mit Durham-Tabak auf dem Schoß liegen und drehte sich mit bedächtigen Bewegungen eine Zigarette. Er strahlte Ruhe und Gelassenheit aus, wirkte aber nicht schwerfällig, sondern erinnerte eher an eine entspannte Stahlfeder. Seine ganze Erscheinung verriet daß unter der beinahe schläfrig wirkenden Oberfläche geballte Energie verborgen war. Ich kannte solche Männer, und ich schätzte ihn sofort richtig ein. Er ähnelte irgendwie Cargo Flatt, der mir nun zunickte und mir einen Stuhl zuwies. Ich setzte mich, und Cargo Flatt zeigte auf den schweigsamen Mann neben mir.
»Das ist Nashville Tucker.« Der Mann schaute kurz auf, verstaute dann sorgfältig sein Tabaksäckchen in der Hosentasche, schob sich die Zigarette zwischen die Lippen und nickte mir zu. Seine Augen waren schmal und hatten keine Farbe. Die wasserhelle Pupille war ein wenig gefleckt wie ein Tigerfell. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Der Mann kümmerte sich nicht um meine neugierigen Blicke. Er riß ein Zündholz an seiner Stiefelsohle an und hielt es an die Zigarette. Er inhalierte den Rauch tief ein. »Ihr werdet zusammen einen Geldtransport durchführen«, sagte Cargo Flatt. »Nashville Tucker redet nicht viel, aber ich bin sicher, daß ihr gut zusammenpaßt.« Cargo Flatt erhob sich und marschierte durch sein Office. Am Fenster blieb er stehen. Über die Schulter sagte er: »In einer halben Stunde fährt eine Kutsche in Richtung Kansas City ab. Die Kutsche wird von zehn Milizleuten begleitet werden. Jeder wird denken, daß sich das Geld in der Kutsche befindet.« Flatt ging zu seinem Schreibtisch zurück und zog aus einer Schublade eine abgewetzte, unauffällige Ledermappe. Er öffnete sie und ließ uns einen Blick hineinwerfen. Sie enthielt sauber gebündelte Papiere. »Das sind Bankanweisungen für fünfzigtausend Dollar«, sagte Cargo Flatt. »Ausgestellt von der ›St. Joseph Imperial Bank‹. Ausgestellt und unterschrieben. Wer diese Papierbündel in die Hand kriegt, kann sie bei jeder Bank in Münzgeld oder Gold umtauschen. Empfänger ist die ›Missouri Steam Ship Company‹ in Kansas City. Lohngelder. Der Transport ist vor zwei Monaten überfallen worden und vor einem Monat wieder. Wenn der Transport diesmal schiefgeht, kriegen wir keine Versicherungsgesellschaft mehr dazu, für den Verlust einzustehen. Dann verlieren wir den Auftrag, und das können wir uns nicht leisten. Das Geld muß durchkommen.« »Werden wir reiten?« fragte ich. »In einer Viertelstunde geht ein Schiff nach Kansas City. Es legt nur einmal in Atchison an, um Holz zu laden. Selbst wenn unser Plan jetzt noch bekannt wird, ist es für jeden, der an das Geld heran will, zu spät, um etwas zu unternehmen. Aber der Plan bleibt geheim. Wer auf das Geld scharf ist, wird die Postkutsche verfolgen und sich mit
den Milizleuten herumschlagen. Ihr beide bringt das Geld nach Kansas City. Der Plan ist so totsicher, daß ich Nashville Tucker allein schicken könnte, aber wenn du dabei bist, wird alles noch unauffälliger. Kein Mensch wird bei einem halben Kind einen solchen Haufen Geld vermuten.« Ich nickte. »Kann Shita mit?« »Der muß mit. Um so harmloser sieht alles aus.« Flatt grinste. »Du kriegst zehn Dollar Prämie für den Transport, genau wie Nashville. Hier sind eure Tickets, und jetzt verschwindet, damit ihr das Schiff nicht verpaßt.« Er schob die Mappe mit dem Geld über den Tisch und legte zwei bunte Fahrkarten daneben. Nashville Tucker erhob sich. Wortlos klemmte er sich die Ledermappe unter den Arm und steckte sein Ticket in die Brusttasche seines karierten Hemdes. Er schaute mich von der Seite an. Seine Lippen waren dünn wie eine Messerklinge. »Gehn wir«, sagte er. »Du kannst mich Nashville nennen. Hast du einen Revolver?« Ich griff unter mein Hemd und zog den schweren Navy-Colt aus dem Hosengurt. Tucker nickte zufrieden. »Steck ihn ruhig wieder weg. Ich seh auch so, daß du damit umgehen kannst.« Er ging an mir vorbei zur Tür, ohne Cargo Flatt anzusehen. Der schien nichts anderes gewöhnt zu sein und ließ sich wieder an seinem Schreibtisch nieder. »Viel Glück«, sagte er zu mir. »Danke.« Ich folgte Tucker. Shita sprang neben mir her und schien unternehmungslustig zu sein, so als wisse auch er, daß uns eine Abwechslung bevorstand. Wir überquerten den Hof, auf dem die Kutsche bereitgestellt wurde, von der Cargo Flatt gesprochen hatte. Mehrere berittene Milizsoldaten waren inzwischen eingetroffen. Niemand achtete auf Tucker und mich, als wir den Hof verließen, das »Patee House« umrundeten und in eine Seitengasse einbogen. Tucker kannte sich in St. Joseph besser aus als ich. Er wählte unbelebte, schmale Straßen, in denen uns nur wenige Menschen begegneten. Trotzdem war es kein Umweg. Wir erreichten den Hafen
schneller, als ich gedacht hatte. Während der ganzen Zeit sprachen wir kaum ein Wort miteinander. Nur einmal schaute Tucker mich von der Seite an. Er sagte: »Cargo hat erzählt, daß du mal bei den Indianern gelebt hast.« »Bei den Apachen«, sagte ich. »Keine leichte Sache.« »Es hat mir ganz gut gefallen«, sagte ich. »Ich habe viel dabei gelernt.« Tucker schnaufte nur. Dann sagte er: »Ich glaube, Cargo hat gewußt, warum er uns zusammengesteckt hat.« Er sagte nicht, warum er dieser Meinung war. Er sagte von jetzt an überhaupt nichts mehr. Aber es beruhigte mich schon kolossal, daß er mit mir einverstanden war und mich offenbar akzeptierte. Ich war froh, von der langweiligen Stallarbeit wegzukommen. Außerdem war ich noch nie auf einem Schaufelraddampfer gefahren. Etwas Abwechslung konnte nicht schaden, und ich wurde auch noch zusätzlich bezahlt. Auf den Kais wimmelte es von Menschen. Am Rande des bunten Treibens hatten einige Straßenhändler ihre Stände errichtet und priesen billigen Schmuck, Hüte und auch geröstete Kastanien an. Umlagert wurde ein Quacksalber, der wortreich und mit viel Erfolg den Leuten eine Wundermedizin andrehte. Als die Dampfpfeife des großen Schaufelraddampfers, der an der letzten Anlegebrücke lag, laut schrillte und damit das Signal für die Fahrgäste gab, an Bord zu kommen, packte der Wunderdoktor seine Habseligkeiten blitzschnell zusammen und beeilte sich, das Schiff zu erreichen. Offenbar lag ihm eine Menge daran, St. Joseph zu verlassen, bevor seine Medizin zu wirken begann. Auch Tucker und ich begaben uns direkt zu dem Schiff. Es war der einzige Dampfer, der zur Zeit abfahrbereit im Hafen lag. Er hieß »Mary Jane« und hatte zwei hohe Schornsteine und am Heck ein riesiges Schaufelrad. Auf dem Vorderdeck scharten sich bereits viele Menschen, als wir eine breite Gangway hinaufschritten und unsere Tickets einem mißtrauischen Mann in blauroter Uniform vorzeigten. Als die Dampfpfeife wieder schrillte, schaute ich hoch. Neben
dem Steuerhaus sah ich den Kapitän stehen. Es war ein kleiner, drahtiger Mann, der ebenfalls eine blaurote Uniform und eine goldbestickte Schildmütze trug. Er hatte einen roten Bart. In seinem rechten Mundwinkel steckte eine Maiskolbenpfeife. Shita irrte aufgeregt zwischen den vielen Menschen herum, als wir zum Heck des Schiffes schlenderten. Sichernd blickten wir uns um, aber es schien uns niemand zu beobachten oder zu folgen. Wir waren ein Teil der lärmenden, nervösen, sich drängenden und schiebenden Menschenmenge. Shita jaulte vor mir und knurrte dann einen kleinen, dicken Mann an, der ihm einen Tritt versetzt hatte. Mir stieg die Galle hoch, und ich ging auf den Kerl zu, der einen einfachen Leinenanzug und einen breitrandigen Hut trug. »Warum treten Sie meinen Hund?« sagte ich. Ich war größer als der Mann und verspürte Lust, ihn über die Reling zu stürzen. »Was hat er Ihnen getan.« Bevor ich weiterreden konnte, legte sich eine Hand schwer auf meine Schulter. Nashville stand hinter mir, und ich schwieg und folgte ihm, während der Dicke mir noch etwas nachrief. Nashville hatte recht. Ich mußte an unseren Auftrag denken. Als wir uns auf einer Bank dicht an der Reling am Heck des Dampfers niederließen, strich ich Shita über den Kopf. Er schaute mich an und schien zu verstehen, daß ich nicht mehr für ihn hatte tun können. Es kümmerte sich auch niemand mehr um uns. Wir hatten von unserem Platz aus einen großen Teil des Schiffes gut im Blick. Nashville Tucker saß da, als ob er schliefe, aber mir war klar, daß er die Gesichter der Passagiere, die in unserer Nähe waren, genau studierte und ihm nichts entging, was für uns wichtig war. Wieder ertönte die Dampfpfeife, und dann holten schwarze Decksleute in zerfetzten, verblichenen Hemden die Gangway ein. Die Trossen wurden gelöst. Ein leises Brummen ertönte aus dem Leib des Schiffes, und ein stampfendes Vibrieren durchlief den Rumpf, als die Maschine angeworfen wurde. Aus den beiden Schornsteinen stiegen dicke Dampfwolken auf, die der Westwind sofort erfaßte und auf den Strom hinunterdrückte.
Die meisten Passagiere standen jetzt an der Reling und winkten zum Kai hinunter. Langsam bewegte sich das Schiff vom Anleger weg und richtete seine Bugspitze auf die Mitte des Stromes. Dann begann sich das Schaufelrad zu drehen. Das Gestänge des mächtigen Rades knarrte. Klatschend tauchten die Schaufeln ins Wasser ein, wühlten den Strom auf, ließen schäumende Gischt aufspritzen. Das Schiff gewann rasch an Fahrt, glitt auf den breiten Strom hinaus, schwenkte in die Fahrrinne ein und ließ St. Joseph hinter sich. Das Schaufelrad drehte sich in gleichförmigem Tempo und trieb das Schiff stetig südwärts. Ich lehnte mich auf unserer Bank zurück und schloß die Augen, während am Horizont die Sonne höher und höher stieg und St. Joseph langsam hinter uns verschwand.
4. Der große Mann in Wildleder stand im Schatten hoher Juniperen und beobachtete das ausgedehnte Baumwollfeld, auf dem in langer Reihe an die dreißig schwarze Sklaven, Männer, Frauen und auch Kinder, nebeneinander arbeiteten. Er stand seit fast einer Stunde auf seinem Platz. Inzwischen war die Sonne weit nach Westen gesunken. Die Schatten waren länger und länger geworden. Noch immer trug der Wind die monotonen, nasalen Gesänge der Sklaven zu ihm herüber. Sie gingen gebückt zwischen den Baumwollpflanzen und schleiften einen festen Sack zwischen ihren Beinen her. Sie richteten sich nur auf, wenn der Sack gefüllt war und sie ihn zu den am Feldrand bereitstehenden Wagen tragen mußten. Mit schnellen, geübten Bewegungen zupften sie die weichen, flockenartigen Baumwollbällchen von den Pflanzen und ließen sie in den Säcken verschwinden. So taten sie es Stunde um Stunde, und wenn die Sonne unterging, sollte das Feld abgeerntet sein. Zwei Aufseher, mit Peitschen und Schrotflinten bewaffnet, bewegten sich gelangweilt zwischen ihnen hin und her. Der Mann stand reglos wie ein lauerndes Wild, das nach einer Beute Ausschau hält. Je dichter die Dämmerung wurde, um so mehr wurde er ein Teil der Wildnis, die ihn umgab.
Als einer der Aufseher auf dem Feld einen schrillen Pfiff ausstieß, bewegte er sich wieder. Er glitt tiefer in den Wald zurück und huschte durch das dichte Unterholz, bis er einen schmalen Trampelpfad erreichte, der quer durch den Wald zu einer breiten Wagenstraße führte. Hier hockte sich der Mann unter einen Mesquitebusch und wartete, bis das Singen der Sklaven näher und näher kam. Er hielt jetzt seinen Revolver in der Faust, und als er am Beginn des Pfades Schatten auftauchen sah, duckte er sich noch etwas tiefer. Die Sklaven trotteten in langer Reihe. Ein Aufseher ging voraus. Es war fast völlig dunkel auf dem Pfad zwischen dem Unterholz. Die Sonne stand als rote Kugel über den Hügeln weit im Westen und hatte keine Kraft mehr. Die Dämmerung hatte den letzten Rest von Tageslicht verdrängt. Der Aufseher ging an dem versteckten Mann vorbei, ohne ihn zu sehen. Ihm folgten die Sklaven. Sie trugen einfache, verwaschene Kattunhemden und feste Leinenhosen. Ihre Schultern waren gebeugt, und ihre Schritte waren müde und schwerfällig. Sie hatten graue, faltige Gesichter, denen die tägliche Fronarbeit anzusehen war. Dennoch sangen sie. Der Mann in Wildleder hatte ihre Gesänge schon so oft gehört, daß er nicht mehr darauf achtete. Er kannte sie von Kindesbeinen an, die schwermütigen, eintönigen Lieder der Sklaven, deren Texte einfach waren, viel Aberglauben enthielten, von Gott, seinen Wundern und harter Arbeit erzählten und halfen, das Leben zu ertragen. Die Reihe der Sklaven zog an ihm vorbei, und die letzten gerieten in Sicht. Hinter ihnen ging, in einem Abstand von fast drei Yards, der zweite Aufseher. Er war ein untersetzter Mann mit unglaublich breiten Schultern und einem kugelrunden Kopf, der auf einem sehr kurzen, dicken Hals saß. Er trug einen breitrandigen Strohhut auf dem Kopf und hatte eine kalte Zigarette zwischen den wulstigen Lippen hängen. Die Peitsche baumelte zusammengerollt an seinem Gürtel. Seine Schrotflinte trug er locker in der Rechten. Der Mann in Wildleder wartete, bis auch dieser Aufseher ihn passiert hatte. Dann richtete er sich lautlos auf und stand mit wenigen
Schritten hinter dem Aufseher. Seine Rechte mit dem Revolver flog hoch. Der dumpfe Laut, der entstand, als der Lauf auf den Hinterkopf prallte, ging im Rascheln des Windes in den Wipfeln der Bäume unter. Ohne ein Geräusch sackte der Aufseher in die Knie. Der Mann in Wildleder fing ihn auf, ließ ihn lautlos zu Boden gleiten, sprang über ihn hinweg und stieß den zuletzt gehenden Neger an. Der Mann fuhr herum. Er war groß, hatte breite Schultern und wirkte kräftig und beweglich. Einen Sekundenbruchteil starrte er den Mann hinter sich erschrocken an. Dann stieß er die Frau und den schlaksigen Jungen, die vor ihm gingen, an, und gleich darauf verschwanden alle drei hinter dem großen Mann in Wildleder im Unterholz und wurden vom Wald und von der sich mehr und mehr verdichtenden Dunkelheit verschluckt. * »Ich bin Kilhany.« Der Mann in Wildleder drehte sich um, als er mit den Sklaven eine kleine Lichtung erreicht hatte, wo er sein Pferd und zwei Maultiere zurückgelassen hatte. Die Frau fiel auf die Knie nieder. Tränen rannen über ihre ebenholzfarbenen Wangen. Bevor Kilhany es verhindern konnte, griff sie mit ihren schwieligen, verarbeiteten Händen nach dem Saum seines Wildlederrocks und küßte ihn. Er reagierte fast unwirsch. »Laß das.« Schnell löste er sich und wandte sich zu den Pferden um. »Du bist der Bruder von Josuah Kent?« sagte er über die Schulter zu dem großen Neger. »Ich bin Noah Kent«, sagte der Neger. Er zitterte am ganzen Körper, genau wie die Frau und der Junge, auf die er jetzt zeigte. »Und das sind Sarah, seine Frau, und Ebony, sein Sohn. Wir haben die Nachricht, daß Josuah uns rausholen will, vor zwei Wochen erhalten. Seitdem warten wir.« »Es ging nicht eher.« Kilhany warf ihm die Zügel der Maultiere zu. »Josuah ist selbst erst seit ein paar Tagen wieder in Missouri. Vorher konnte ich nichts unternehmen.« Kilhany schwang sich in den Sattel. Im selben Moment ertönte
vom Waldrand her lautes Geschrei. Die Flucht war bemerkt worden. Kilhany beugte sich vor und trieb sein Pferd an. Während er durch das Unterholz ritt, stiegen hinter ihm der große Neger, die Frau und der Junge auf die beiden Maultiere und folgten ihm. Der Junge weinte, und die Frau stieß kurze, abgehackte Laute der Angst aus. Sie war kaum in der Lage, die Zügel des Maultiers zu halten. Hinter ihnen hallten jetzt die wütenden Rufe der Aufseher durch den Wald. Man hörte sie durch das Unterholz brechen. Sie feuerten ihre Schrotflinten ab, und die wild herumfliegenden Schrote wirbelten den Flüchtenden um die Ohren, ohne ihnen ernsthaft gefährlich zu werden. Kilhany jagte tief auf den Pferdehals geduckt dahin. Ab und zu drehte er sich um und trieb die Neger zur Eile an. Der Wald lichtete sich plötzlich vor ihnen. Es war Nacht geworden, und der Mond stand wie eine silberne Scheibe am Himmel. Ein schmaler Seitenarm des Missouri glitzerte im milchigen Schimmer des Mondes. Kilhany galoppierte auf eine Furt zu, die in der Dunkelheit kaum zu erkennen war. Das Wasser spritzte auf, als das Pferd hineinstürmte, beinahe ausglitt, sich aber fing und hindurchsprengte. Als Kilhany am anderen Ufer hinaufritt, lenkte gerade die Frau mit ihrem Sohn ihr Maultier ins Wasser, ihnen folgte der große Neger. Das Maultier der Frau glitt aus. Sie konnte es nicht halten, und es stürzte auf die Seite in den Fluß, ging unter und kämpfte sich schrill schnaubend vor Angst hoch, während Sarah und Ebony Kent schreiend im Wasser paddelten. Kilhany fluchte. Er riß die Zügel seines Pferdes zurück, warf sich aus dem Sattel und eilte zu Fuß ins Wasser zurück. Inzwischen war auch Noah Kent abgestiegen und zerrte die Frau und den Jungen hoch. Kilhany hetzte hinter dem flüchtenden Maultier her, das nach kaum fünfzig Yards in eine dichte Buschgruppe lief und nicht mehr herauskonnte. Wieder krachte irgendwo im Dunkel des Waldes ein Schuß. Es knackte im Unterholz. Noch immer waren die Aufseher unterwegs, um die entlaufenen Sklaven wieder einzufangen, und sie waren nah. Kilhany führte das Maultier zurück und ließ es wortlos neben der
Frau stehen. Als er wieder in den Sattel steigen wollte, tauchte auf der anderen Seite des Flusses am Rand der Lichtung ein Mann auf. Er durchbrach das Unterholz und stürmte ziellos hin und her, bis er die schattenhaften Gestalten am anderen Ufer bemerkte. Sarah Kent hatte gerade mit ihrem Sohn das Maultier wieder bestiegen, und Noah wollte sich in den Sattel schwingen, als der Mann jenseits des Flußarms zu schreien begann und sein Gewehr an die Schulter hob. Kilhany war bereits im Dickicht untergetaucht. Jetzt drehte er sich um, und fast im selben Moment krachte ein Schuß. Kilhany sah den Mündungsblitz der Schrotflinte wie eine glutrote Feuerblume aufzucken. Die Detonation fing sich im Unterholz. Noah Kent schwankte plötzlich im Sattel. Er stieß einen gepreßt klingenden Schrei aus und sackte nach vorn auf den Hals des Maultiers. Das Tier taumelte auch. Es schien ebenfalls getroffen worden zu sein. Es schnaubte grell, dann bäumte es sich auf und warf den großen Neger ab. Ein zweiter Schuß krachte. Die Schrotladung fuhr wie ein Hagelsturm durch das Geäst der Bäume und Büsche. Da feuerte auch Kilhany. Er war aus dem Sattel gesprungen und hinter einem Baum in Deckung gegangen. Sarah Kent und ihr Sohn hockten wie angewachsen auf dem Rücken ihres Maultieres und schienen sich nicht mehr rühren zu können. Kilhany schoß mit seinem Revolver. Er feuerte ohne zu zielen, nur um den Mann am anderen Ufer zu vertreiben. Aber er traf. Der Mann brüllte laut. Trotz der Dunkelheit war zu sehen, daß er beide Arme hochwarf, die Schrotflinte fallen ließ und dann nach vorn aufs Gesicht stürzte. Da kniete Kilhany schon neben dem großen Neger. Noah Kent bleckte sein kräftiges Gebiß. Er richtete sich schwerfällig auf und stöhnte nur ein wenig, als er eine hastige Bewegung machte. »Nicht schlimm«, preßte er hervor. »Nur ein paar Kratzer.« Auf seiner Stirn perlte der Schweiß.
Kilhany warf schweigend einen Blick auf seinen Rücken. Ein paar Schrote hatten den Mann ins rechte Schulterblatt getroffen. Auch der Nacken war blutverschmiert, aber die Wunden schienen nicht schwer zu sein. Auch das Maultier war nicht schwer verletzt. Es blutete ein wenig aus der linken Flanke, schien aber bereits keine Schmerzen mehr zu haben. »Steigt auf, zum Teufel.« Kilhany eilte zu seinem Pferd zurück. »Wir müssen sie abhängen! Los! Los!« Er versetzte im Vorbeigehen dem Maultier, auf dem Sarah Kent und ihr Sohn saßen, einen kräftigen Schlag auf die Hinterhand. Das Tier sprang mit einem Satz los, so daß die Frau und der Junge fast wieder hinunterstürzten, und stürmte dann ins dichte Unterholz. Kilhany folgte ihnen sofort. Als letzter ritt der große Neger ins Dickicht. Er saß etwas gekrümmt auf dem Rücken seines Tiers, aber er biß die Zähne zusammen und gab keinen Laut vor sich. Sie waren gerade verschwunden, als der zweite Aufseher auf der anderen Seite des Flußarmes aus dem Wald auftauchte. Er rief ein paarmal nach dem zweiten Mann, dann erst fand er ihn. Er kniete neben dem Toten nieder. Kilhanys Kugel hatte den Mann hoch in die Brust getroffen. Die Augen hatte er noch im Tode weit aufgerissen. Das Mondlicht spiegelte sich in den gläsernstarren Pupillen. Der Aufseher richtete sich erschrocken auf. Einen Moment stand er hilflos, mit herabhängenden Armen, neben dem Toten. Sein grobschlächtiges, breitflächiges Gesicht, dessen harte Züge im Mondlicht verschwommen und weich wirkten, wich sekundenlang einem kindlichen Ausdruck. Dann verzerrte es sich. Er wirbelte herum und feuerte seine Schrotflinte blindlings über den Fluß ab. »Ihr Schweine!« schrie er. »Ihr dreckigen Hunde! Wir kriegen euch. Wir reißen euch in Stücke!« Seine Schreie verhallten in der Nacht. Ihm antwortete nur das Rascheln des Windes in den Zweigen und das leise Plätschern der Wellen am bemoosten Ufer. Wie wahnsinnig rannte er plötzlich los. Er stürmte in den schmalen Flußarm, versank bis zum Bauch, stemmte sich gegen die Strömung, kämpfte mit dem schlammigen Untergrund, auf dem er
immer wieder ausglitt, und als er gerade das andere Ufer erreicht hatte, verlor er doch noch das Gleichgewicht und stürzte der Länge nach ins Wasser. Prustend tauchte er wieder auf. Er hatte die Schrotflinte beim Sturz verloren. Rasend vor Wut warf er sich wieder ins Wasser und wühlte mit den Händen den schlammigen Grund auf. Er fand die Waffe nicht wieder und taumelte durchnäßt und verdreckt an Land. »Wo seid ihr?« brüllte er in die Finsternis. »Kommt raus, wir finden euch doch, und dann gnade euch Gott!« Es blieb alles still. Der Mann lief in den Wald. Er tappte kreuz und quer durch das Unterholz, stürzte immer wieder, zerriß sich die Kleidung an Dornengestrüpp und spitzen Zweigen und blieb schließlich völlig erschöpft liegen, während Tränen der Wut aus seinen kleinen Schweinsaugen rannen. * Morton Kilhany hatte die Schreie des Aufsehers noch lange gehört. Dann war es still geworden. Sarah, die Negersklavin, hatte aufgehört zu weinen. Kilhany hatte wieder die Spitze übernommen und führte die Frau, den Jungen und den Mann mit traumwandlerischer Sicherheit in der fast absoluten Dunkelheit durch den dichtesten und verwachsensten Urwald. Sie folgten ihm übermüdet und erschöpft, abgestumpft und ihrem Schicksal gegenüber beinahe schon gleichgültig. Sie ritten bis zum frühen Morgen. Wie nasse Watte hing der Frühnebel zwischen den Bäumen des Waldes, als Kilhany sein Pferd zügelte. Er selbst schien über unbegrenzte Energien zu verfügen. Ihm war keine Spur von Müdigkeit anzumerken. Vor ihnen begann ein ausgedehntes Sumpfgebiet. Die Luft, die ihnen entgegenwaberte, war abgestanden, muffig und roch nach verfaulten Pflanzen, nach Moder und fauligem Wasser. »Ihr müßt dichter aufschließen.« Kilhanys Stimme klang eindringlich. Noah Kent hob langsam den Kopf und stöhnte. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen. Die Wangenknochen standen stark hervor. Der Schmerz hatte ihn gezeichnet. In seinen
Augen glänzte es fiebrig. Sarah und Ebony Kent reagierten überhaupt nicht. »Ihr müßt euch genau an mich halten. Wenn ihr nicht aufpaßt, sitzt ihr im Sumpf, und das Maultier ist zum Teufel, und wenn ihr Pech habt, ihr auch.« Sie schwiegen. Kilhany drehte sich wieder um und trieb sein Pferd erneut an. Das Tier kannte sich aus. Es bewegte sich vorsichtig, setzte die Hufe beinahe tastend auf den matschigen, durchweichten Boden, der immer wieder mit schmatzenden Lauten nachgab, in den das Tier häufig bis zu den Fesseln einsank. Ab und zu schaute sich Kilhany um. Die drei Menschen hinter ihm hockten apathisch im Sattel, aber sie hielten sich an seine Anweisungen, hatten dicht aufgeschlossen und ritten direkt in seiner Spur. Zäh lag die Nebeldecke über dem Sumpf, obwohl die Sonne bereits aufgegangen war. Nur zögernd lösten sich die grauen Schwaden auf, und dann erwärmte sich die Luft rasch, wurde stickig, und der Geruch nach Fäulnis und Moder verstärkte sich noch. Auch die Tiere zeigten jetzt erste Erschöpfungserscheinungen. Sie bewegten sich immer schwerfälliger, ließen die Köpfe tief hängen und trotteten wie im Schlaf dahin. Zwei Stunden, nachdem sie den Sumpf erreicht hatten und hineingeritten waren, tauchte eine dichtbewachsene Insel vor ihnen auf, verborgen zwischen hundertjährigen Mooreichen, einigen Redwoodtannen und hohen Sträuchern befand sich hier eine kleine Hütte mit einem Stallanbau. Morton Kilhany lenkte sein Pferd darauf zu und glitt schwerfällig aus dem Sattel. Er ließ sein Pferd mit hängenden Zügeln stehen, ging an dem Maultier mit der Frau und dem Jungen vorbei und half dem großen Neger beim Absteigen. Noah Kent stürzte ihm fast in die Arme. Eine dünne Schweißschicht bedeckte sein Gesicht, und es war fast ein Wunder, daß er noch bei Bewußtsein war. Kilhany schleppte ihn zu seiner Hütte. Als er die Tür erreichte, wurde der Neger wirklich bewußtlos, und Kilhany mußte ihn hineintragen. Er bettete ihn auf sein eigenes Lager, eine einfache, aus rohen Stämmen gezimmerte und mit Tierfellen ausgelegte
Schlafstätte. Dann kehrte er nach draußen zurück. Sarah Kent und ihr Sohn saßen noch immer im Sattel. Sie schienen zu schlafen. Als Kilhany sie ansprach, hoben sie die Köpfe. Steifbeinig stiegen sie ab. Die Frau taumelte und lehnte sich gegen das Maultier. Kilhany stützte sie und führte auch sie in die Hütte. Der Junge stolperte müde hinterher. Als Kilhany wieder hinaustrat, hatte sich der Nebel über dem Sumpfland endgültig aufgelöst. Die Sonne stand hoch. Kilhany nahm die Biberpelzmütze ab und führte die Tiere in den Stall. Er sattelte sie ab, rieb sie flüchtig trocken und schüttete Hafer und Heu in ihre Raufen. Er kehrte in die Hütte zurück und fühlte nun auch Müdigkeit in seinen Gliedern. Die Frau stand an der primitiven Feuerstelle. Der Junge saß auf einem Stuhl und war eingeschlafen, der Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Morton Kilhany ging zum Lager des großen Negers und zog ihm das einfache Kattunhemd aus. Er wälzte den Mann auf den Bauch und schaute sich die Wunden im Rücken an. Sie hatten bereits angefangen zu eitern. Kilhany wartete, bis das Wasser über dem Feuer kochte. Er befahl der Frau, zunächst Kaffee aufzubrühen, trank selbst einen verbeulten Becher mit wenigen Schlucken aus und wusch mit dem Rest des Wassers den Rücken des Negers ab. Noah Kent erwachte, als Kilhany ihm die Schrotkugeln aus dem Fleisch holte. Sie saßen nicht tief, aber es war eine schmerzhafte Prozedur. Der Neger verlor noch einmal das Bewußtsein. Als Kilhany fertig war, legte er dem Mann einen festen Verband an. Dann erst ließ er sich am Tisch nieder und trank einen zweiten Becher Kaffee. »Unter dem Bett sind Decken«, sagte er zu der Frau. »Bereiten Sie für sich und den Jungen auf dem Boden ein Lager, und legen Sie mir auch eine Decke hin.« Die Frau nickte ergeben. Sie tat, was er gesagt hatte, und bettete den Jungen, der dabei gar nicht aufwachte, auf die Decken. Dann ließ sie sich selbst nieder.
Morton Kilhany blieb noch eine Weile am Tisch sitzen und starrte nachdenklich vor sich hin. Er betrieb dieses Geschäft schon zu lange, fand er. Es kostete Kraft, Nerven und Energien. Er wußte nicht mehr, wie vielen Sklaven er zur Flucht verholfen und sie nordwärts in einen sklavenfreien Staat geschleust hatte. Er hatte ihre Namen und Gesichter längst vergessen. Anfangs hatte er es aus Mitleid und aus der festen Überzeugung getan, daß die Sklaverei von Übel und es ein widernatürlicher Zustand war, daß Menschen von anderen Menschen wie Tiere behandelt wurden. Damals war er noch Scout der Staats-Miliz gewesen. Als seine Vorgesetzten ihn ertappt hatten, war er mit Schimpf und Schande ausgestoßen, vor Gericht gestellt und eingesperrt worden. Seitdem lebte er davon, schwarzen Menschen zur Flucht zu verhelfen. Er war auf das Geld angewiesen, das ihm die AntiSklaverei-Organisationen in Iowa zahlten, damit er regelmäßig eine gewisse Zahl von Sklaven aus Missouri hinausschmuggelte. Meist geschah das aufgrund von Namenslisten, die von bereits befreiten Sklaven angefertigt wurden. Diese lieferten dann auch gleich genaue Angaben über den Aufenthalt ihrer unterjochten Brüder. Häufig wollten sie auch Verwandte in die Freiheit nachholen und zahlten selbst einen Teil des Fluchtunternehmens. So war es diesmal. Der Sklave Josuah Kent war bereits vor zwei Jahren geflüchtet, allein, ohne Hilfe. Er hatte es geschafft, hatte dann gearbeitet und gespart und sich schließlich vor einem Vierteljahr an die Anti-Sklaverei-Bewegung in Iowa gewandt, mit der auch Morton Kilhany in Verbindung stand. Kilhany hatte Nachricht erhalten, hatte die Plantage entdeckt, auf der die Frau und der Sohn und auch der Bruder von Josuah Kent arbeiteten und alles für die Flucht vorbereitet. Gleichzeitig war Josuah Kent nach Missouri gebracht worden. Er hatte darauf bestanden, seine Verwandten selbst herauszuholen. Morton Kilhany fluchte, als er daran dachte. Er mochte solche Extratouren nicht. Sie erschwerten meistens alles. Die Befreiungsaktionen waren gutdurchdachte Unternehmen, bei denen
nur selten Pannen passierten und traten Schwierigkeiten auf, dann nur, wenn etwas Unvorhersehbares die gut ausgeklügelte Organisation durcheinanderbrachte. So etwas Unvorhersehbares war für Morton Kilhany Josuah Kent. Kilhany kannte ihn nicht, aber er wußte, daß der Mann noch nie an einem Fluchtunternehmen teilgenommen hatte. Er war ein unkalkulierbares Risiko. Kilhany fluchte noch einmal und trank den Rest des Kaffees. Noch heute abend sollte er Josuah Kent an einer Flußenge am Missouriufer erwarten. Er war völlig ausgepumpt und wußte, daß er noch etwas schlafen mußte. Sorgen, daß er entdeckt werden könnte, hatte er nicht. Niemand kannte das heimtückische Sumpfland so gut wie er. Niemand traute sich sehr tief hinein. Er lebte seit drei Jahren hier. In der ganzen Zeit war häufig versucht worden, seine Hütte zu finden. Geschafft hatte es noch keiner. Er hatte einen Mann getötet. Auch das war nicht zum erstenmal geschehen. Kilhany hatte deswegen keine Gewissensbisse. Aber er liebte solche Zwischenfälle nicht. Ein toter Aufseher veranlaßte die Behörden und die bezahlten Sklavenjäger zu erhöhter Aktivität. In einem Fluchtunternehmen, das wie am Schnürchen klappen sollte, waren kein Kämpfe, keine Schießereien und kein Toten vorgesehen. Solche Zwischenfälle erschwerten alles nur. Kilhany fühlte sich nicht wohl, als er sich neben der Frau und dem Jungen, die bereits schliefen, auf dem Fußboden ausstreckte. Der Tod des Aufsehers war ein böses Omen. Kilhany beschloß, bald mit diesen riskanten Geschäften aufzuhören und Missouri für immer zu verlassen. Hier war er ein Gezeichneter. Er war nur hiergeblieben, um den Pfeffersäcken, die ihn einmal ins Gefängnis gesperrt hatten, zu zeigen, daß sie ihn nicht einschüchtern konnten. Aber er spürte, daß er nicht mehr stark genug war, die Ächtung weiter durchzuhalten. Er mußte einen neuen Anfang finden. Dieses eine Mal noch, dachte Kilhany, als er die Augen schloß. Und, wenn es gut geht, was der Teufel wissen mag, dann vielleicht noch einmal, und vielleicht noch ein weiteres Mal. Aber dann ist Schluß. Dann verschwinde ich mit dem Geld nach Norden.
Er rollte sich auf die Seite und dachte, daß seine Nerven schon mal besser gewesen seien und er darauf achten müsse, rechtzeitig aufzuhören, bevor er womöglich Fehler beging. Er hörte den großen Neger auf seinem Lager schnarchen und dachte einen Moment noch daran, daß die Verwundung des Mannes auch erschwerend für das Unternehmen war. Dann schlief er erschöpft ein.
5. »Wir wachen abwechselnd wie letzte Nacht«, sagte Nashville Tucker. Ich wischte mir den Mund ab und warf den Rest von den dick mit Schinken und Speck belegten Broten, die ich in der Küche der »Mary Jane« gekauft hatte, Shita hin. »Morgen früh sind wir in Kansas City«, sagte Nashville Tucker. »Dann ist es ausgestanden.« Das waren die ersten Worte, die er seit dem vergangenen Abend mit mir sprach. Da hatte er ungefähr das gleiche gesagt, nachdem er sich von unserer Abfahrt an in tiefes Schweigen gehüllt hatte. Danach hatte er wieder geschwiegen, die ganze Nacht und den ganzen Tag, bis jetzt. Jetzt ging es wieder auf den Abend zu. Während der ganzen vergangenen Stunden war nichts passiert, das uns irgendwie hätte beunruhigen können. Cargo Flatts Plan schien aufzugehen. Kein Mensch vermutete, daß wir in der abgewetzten Ledermappe ein Vermögen mit uns herumschleppten. Es war ein ziemlich langweiliger Auftrag, den Cargo Flatt mir zugeschanzt hatte. Am nächsten Morgen würden wir das Geld abliefern und dann wieder zwei Tage mit dem Dampfer zurückfahren. Zwei langweilige Tage mit Nashville Tucker. Der Dampfer, der mir anfangs so interessant und aufregend erschienen war, bot mir auch keine Abwechslung mehr. Ich hatte ihn mit Shita von vorn bis hinten und von oben bis unten durchforscht, war sicher, jede Schraube der »Mary Jane« zu kennen, und hatte auch jedes Interesse an der Fahrt verloren. Ich nickte Nashville Tucker zu. »Ich nehm die erste Wache«, sagte ich. »Gegen Mitternacht wecke
ich dich.« Er grunzte nur und streckte sich ohne ein weiteres Wort auf der Bank aus, auf der wir tagsüber saßen. Die Mappe mit dem Geld benutzte er dabei als Kopfkissen. Ich schlenderte mit Shita bis zur Reling dicht beim Schaufelrad. Die aufspritzende Gischt nezte manchmal mein Gesicht. Gedankenverloren starrte ich in das Wasser, das seitlich der kräftig eintauchenden Schaufeln des riesigen Rades immer wieder neue Strudel bildete. Weit im Westen stand die Sonne tief über den Hügeln. Dort war meine Heimat, dort war ich aufgewachsen, dort hatte ich viele Jahre gelebt. Große Sehnsucht erfaßte mich nach diesem Land, als ich daran dachte und die große, bunte, aber auch, wie es mir schien, unmenschliche Stadt St. Joseph vor mir sah, die von nun an meine Heimat sein sollte. Dämmerung sank über den mächtigen Strom. Vom Bug des Schiffes hörte ich einen der Decksjungen in regelmäßigen Abständen die Fadentiefe des Stromes zum Steuerhaus hinaufrufen. Die Positionslaternen brannten bereits. Auf dem geräumigen Vorderdeck hatten sich viele der Passagiere niedergelassen und in ihre Decken gerollt. Hier und da hockten noch ein paar Männer herum, sprachen, rauchten, spielten Karten und ließen Flaschen kreisen. Als ich mich zu Nashville Tucker umdrehte, schlief er schon. Aber ich wußte, im Augenblick der Gefahr würde er von einer Sekunde zur anderen hellwach sein. Er besaß, beinahe wie ich, den Instinkt eines Tieres, und ich hätte ihn gern gefragt, wie er aufgewachsen und zu dem geworden war, der er war. Aber seine Schweigsamkeit umgab ihn wie ein Panzer, an dem der Versuch, mehr über ihn zu erfahren, abprallte. Die Sonne verglühte. Rostrote Flammengarben standen noch eine Weile am westlichen Tiefpunkt des Horizonts, dort, wo sie versunken war. Aber die Finsternis verdichtete sich rasch. Die Nacht kam, und rechts und links des Missouri tauchte ein ausgedehntes Waldgebiet auf. Ab und zu zog die »Mary Jane« an schmalen Seitenarmen des breiten Stroms vorbei. Einmal sah ich am Ufer eine Hütte. Hinter den Fenstern brannte Licht, davor saßen Menschen auf
einer Bank. Die blechernen Klänge eines Banjos waren leise zu hören. Ich wandte mich von der Reling ab, strich Shita über den Kopf und schlenderte an den Decksaufbauten vorbei. Nur wenige Passagiere waren noch wach. Die meisten hatten sich zum Schlafen ausgestreckt. Vom Bug her hörte ich die Stimme des Decksjungen: »Drei Faden! Drei Faden!« Ich sah ihn im schwachen Schein einer Positionslaterne stehen, mit der Fadenrolle in den Händen. Oben im Steuerhaus sah ich den einsamen Schatten des Mannes hinter dem Ruder. Mir schien, daß der Dampfer jetzt langsamer fuhr, und ich hatte auch den Eindruck, daß die Ufer etwas näher an das Schiff heranrückten. Vermutlich wurde die Fahrrinne schmaler, und der Steuermann mußte vorsichtiger manövrieren. Hier und da tauchten kleine Strauchinseln im Strom auf. Kühl strich der Nachtwind über das Deck. Ich schaute mich sorgfältig um, kehrte zum Heck zurück, ließ mich in der Nähe von Nashville Tucker auf dem Deck nieder und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Reling. Shita streckte sich neben mir aus und legte den Kopf zwischen die Vorderpfoten. Der Himmel war wolkenlos und klar. Ich schaute nach dem Stand des Mondes und wußte, daß ich noch mehr als drei Stunden zu wachen hatte, bis ich Nashville Tucker wecken konnte. Ich spürte, daß ich schläfrig wurde. Meine Glieder wurden schwer. Ich bemühte mich krampfhaft, wach zu bleiben, aber irgendwann übermannte mich der Schlaf, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. * Das Schiff rollte und schlingerte. Nicht viel, aber doch so, daß es nach der stetigen, regelmäßigen Bewegung während der vorausgegangenen Fahrt auffiel. Ich erwachte. Das vertraute Brummen und Stampfen des Motors war verstummt, das Schaufelrad stand still. Ich lag seitlich auf den Decksplanken und hatte so fest geschlafen,
daß ich noch benommen war, als ich den Oberkörper jetzt aufrichtete. Verschwommen sah ich aus einer Ladeluke, fast zwanzig Yards entfernt von mir, eine dunkle Gestalt auftauchen, die schnell davonhuschte, Ich schenkte dem keine weitere Beachtung. Mir fiel nur auf, daß Shita nicht mehr da war. Männer mit Laternen liefen herum, und vom Ufer her hallten Stimmen. Ich erhob mich und ging zu der Bank, auf der Nashville Tucker lag. Er war wach, rührte sich aber nicht. Seine Augen waren geöffnet. Er schaute mich an. »Was ist los?« fragte ich. »Du solltest wachen«, sagte er, und es klang wie ein Tadel. Ich erwiderte nichts, sondern wandte mich ab und lief zum Vorderdeck. Andere Passagiere waren ebenfalls erwacht und standen abwartend herum. Am Ufer stand eine Reitergruppe. Gerade wurde ein Beiboot weggefiert. Vier der Reiter ließen ihre Pferde zurück und wurden zur »Mary Jane« gepullt. Sie stiegen über Jakobsleitern an Bord. Im Licht der Laternen erkannte ich einen. Es war Major Drago von der Missouri-State-Miliz aus St. Joseph. Er trug seinen breitrandigen Hut und eine hellblaue Uniformbluse. Vor dem Kapitän der »Mary Jane« salutierte er flüchtig. »Es tut mir leid, daß wir Ihre Fahrt unterbrechen mußten, Captain«, sagte Drago. »Aber wir haben Grund zu der Annahme, daß sich ein Mörder bei Ihnen an Bord befindet. Der Mann ist sicherlich illegal an Bord, vielleicht ist es sogar ein Schwarzer. Es handelt sich vermutlich um ein Mitglied der Banden, die entlaufene Sklaven nach Iowa bringen.« »Wie kommen Sie darauf, daß der Mann gerade auf meinem Schiff ist, Major?« »Kurz nachdem Sie St. Joseph verlassen haben, wurde die Leiche eines meiner Männer angeschwemmt, Captain. Der Mann hatte in der Nacht zuvor an dem Anleger, an dem Sie vertäut waren, Wache. Gestohlen wurde nichts. Es bleibt also nur die Vermutung, daß illegal jemand an Bord der ›Mary Jane‹ gebracht werden sollte. Ein anderes Schiff befand sich zu der Zeit nicht im Hafen.« »Bitte, Sir.« Der Captain trat zur Seite. »Meine Leute stehen Ihnen
zur Verfügung. Durchsuchen Sie das Schiff.« »Danke.« Major Drago salutierte wieder. »Lassen Sie Ihre Leute nach Möglichkeit mit recht vielen Lampen an allen Teilen des Schiffs Aufstellung nehmen.« Drago ging am Kapitän vorbei. Ich zog mich rasch zurück. Der Major sollte mich nicht sehen. Ich wußte selbst nicht, warum ich dem Mann auswich, aber er hatte mir, als ich ihn in Cargo Flatts Office gesehen hatte, auf Anhieb nicht gefallen. Ich mochte einfach nichts mit ihm zu tun haben. Außerdem brannte in mir die Frage, was aus Shita geworden war. Während auf dem Vorderdeck einige Matrosen mit Laternen ausschwärmten, suchte ich nach Shita. Nashville Tucker hatte ich in diesem Moment vergessen. Ein paar Matrosen eilten an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Dann sah ich Shita hinter einigen Kajütaufbauten auftauchen. Er sah mich, bellte, und drehte sich wieder um. Im Nu war er wieder verschwunden. Ich wurde ärgerlich und lief ihm nach. Als ich die Aufbauten umrundete, blieb ich verwirrt stehen. Es war hier dunkler als auf dem vorderen Teil des Decks. »Shita!« rief ich. »Wo bist du, zum Teufel?« Da fühlte ich mich plötzlich von einer harten, kräftigen Faust gepackt, zurückgerissen und zu Boden gedrückt. Bevor ich reagieren konnte, preßte sich der kalte Stahl eines beidseitig geschliffenen Messers an meine Kehle. Und plötzlich war Shita wieder da. Aus den Augenwinkeln sah ich ihn knurrend heranschießen. Er hatte die Zähne gefletscht und wollte sich auf den Mann stürzen, der mich gepackt hielt. Da verstärkte sich der Druck des Messers an meiner Kehle. »Zurück, Shita«, flüsterte ich instinktiv, und er blieb stehen. Aber seine Haltung war gespannt, seine großen Augen funkelten rötlich. Der Druck der Faust, die mich an der linken Schulter gepackt hielt, wurde schwächer. Aber das Messer an meinem Hals wurde nicht weggezogen. Eine dunkle Stimme sagte leise hinter mir: »Dreh dich um.« Ich drehte mich um, sorgfältig darauf achtend, mir nicht die Kehle an dem Messer aufzuschneiden. Die linke Faust des Mannes
umkrallte meinen Hemdkragen. Die Messerklinge rückte seitlich an meinen Hals und blieb neben der rechten Schlagader liegen. Ich hob den Kopf und schaute in das grobknochige, aber nicht unsympathische Gesicht eines großen Mannes. Er hatte eine flache Nase und etwas aufgeworfene Lippen. In seinen Augen sah ich, daß er Angst hatte. Der Mann war ein Neger.
6. »Rühr dich nicht.« Die Stimme des Negers zitterte. »Dein Hund soll still sein.« »Solange mir nichts passiert, ist er still.« »Du hast mich gesucht. Ich – ich habe noch etwas Geld, wenn du mich nicht den Soldaten verrätst … Ich – will dich nicht umbringen. Du bist noch so jung, und …« Er redete wirr, und ich verstand ihn erst nicht, denn er schluchzte fast, so groß war seine Furcht. »Du – gehörst zu den Soldaten …« »Quatsch«, sagte ich. Ich saß stocksteif vor ihm, denn solange er das Messer an meinem Hals hatte und halb wahnsinnig vor Angst war, war ihm alles zuzutrauen. »Ich habe mit der Miliz nichts zu tun. Ich – ich weiß nicht mal, um was es geht.« »Sie suchen mich.« Als in der Nähe Matrosen vorbeigingen und für kurze Zeit ein Lichtschein bis in das Versteck des Negers drang, zuckte er zusammen, verstärkte den Druck seiner Faust wieder und bebte am ganzen Körper, »Ich glaub dir nicht. Ich glaub, ich muß dich doch umbringen …« »Ich hab Ihnen doch gar nichts getan.« Ich bemühte mich, möglichst ruhig zu wirken und schaute dem Mann direkt in die Augen. »Ich gehöre nicht zur Miliz, und ich verrate auch niemanden.« Der Neger antwortete nicht. Er lauschte wieder angespannt zum Vorderdeck. Shita knurrte ihn an, und ich spürte beinahe körperlich, daß er immer nervöser wurde. »Hören Sie«, sagte ich. »Lassen Sie mich los. Ich verrate Sie nicht. Ich will nichts von Ihnen. Ich habe nichts gegen Sie, und den
Anführer der Miliz kann ich auch nicht leiden. Ich …« »Still!« Sein Gesicht verzerrte sich. Seine Stimme erstickte fast. Er riß das Messer plötzlich zum Stoß hoch. Shita setzte zum Sprung an, und im selben Moment krachte am Heck des Schiffs ein Schuß. Der Neger erstarrte. Auch ich erschrak im ersten Moment, denn mir fiel unwillkürlich Nashville Tucker ein. Dann nutzte ich meine Chance. Ich riß mich los und sprang auf. »Bleib hier!« Der Neger warf sich nach vorn und versuchte, mich wieder zu packen. Shita sprang gegen ihn, und der Neger stürzte auf den Rücken. Dann hatte ich die Kajüten hinter mir gelassen und stürmte durch die Dunkelheit zum Heck. Dort ballten sich mindestens zwanzig Leute zusammen, als ich es erreichte. Sie hatten sich an der Stelle gesammelt, an der die Bank stand, auf der Nashville Tucker geschlafen hatte. Meine Kehle wurde eng. Ich blieb stehen und beobachtete die Männer, unter denen sich auch Major Drago befand. »Das muß er gewesen sein«, hörte ich den Major sagen. »Er tauchte plötzlich auf und wollte über Bord springen. Ich habe ihn getroffen, da bin ich ganz sicher. Er ist wie ein Sack ins Wasser gefallen.« Ich verstand gar nichts mehr und zog mich hinter eine hohe Kiste zurück, in der sich zusammengerollte, dicke Taue befanden. Die Miliz war doch zweifellos hinter dem Neger her, der mich um ein Haar umgebracht hatte. Aber der befand sich hinter den Kajüten. Drago ging in diesem Moment an mir vorbei zum Vorderdeck zurück. Die Matrosen mit den Laternen, seine Leute und der Kapitän der »Mary Jane« folgten ihm. Ich hörte bewundernde Bemerkungen über die Treffsicherheit des Majors, die er geschmeichelt hinzunehmen schien. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen und beobachtete verwirrt, wie Major Drago sich verabschiedete und wieder an Land gesetzt wurde. Er sprach lautstark davon, daß er mit seinen Leuten die Leiche suchen werde. Die »Mary Jane« könne ihre Fahrt ungehindert fortsetzen. Als ich mich umwandte, sah ich nahe der Decksaufbauten einen Schatten über die Reling gleiten. Es klatschte, als ein menschlicher Körper im Wasser aufprallte. Vermutlich war der Neger über Bord
gesprungen, der Neger, den Major Drago angeblich erschossen hatte. Ich richtete mich auf, als Shita plötzlich vor mir stand und mich zufrieden mit weitgeöffnetem Maul anzulachen schien. Er wedelte mit dem Schwanz. Einen Moment stand ich unschlüssig herum. Dann wurde es stiller auf dem Schiff. Im Rumpf des Dampfers begannen die Maschinen wieder zu arbeiten. Das Schaufelrad drehte sich wieder. Langsam setzte sich das Schiff in Bewegung. Ich ging zum Heck, erreichte die Bank, auf der Nashville Tucker geschlafen hatte, auf der wir bei Tage zusammen gesessen hatten. Nashville Tucker und die Mappe mit dem Geld waren verschwunden. Dafür war eine Menge Blut da. Es bedeckte die Planken hinter der Bank und bildete eine Spur bis zur Reling. Fassungslos blieb ich stehen, stierte sinnloserweise in das dunkle, vom Schaufelrad aufgewühlte Wasser, tappte dann wie in Trance zur Bank zurück und ließ mich nieder. Verzweiflung und wilde Wut packten mich. Ein langweiliger Auftrag, hatte ich noch vor ein paar Stunden bei mir gedacht. Eine stinklangweilige Sache. Und jetzt war das Geld weg. Und Nashville Tucker … Es gab keinen Zweifel. Tucker war erschossen worden. Es war nur ein Schuß in den letzten zehn Minuten gefallen. Major Drago hatte ihn abgefeuert. Drago mußte Tucker getötet haben. Drago hatte auch die Mappe mit dem Geld genommen. Es war ein ungeheuerlicher Gedanke, aber eine andere Möglichkeit gab es nicht. Tucker hatte Drago gekannt, er hatte von ihm keine Gefahr erwartet. Ein Mann wie Tucker hätte sich sonst gewehrt. So aber mußte er arglos seinem Mörder entgegengeblickt haben. Major Drago war auch der einzige gewesen, der wußte, wie der Geldtransport vonstatten gehen sollte. Außer ihm hatte Cargo Flatt niemanden eingeweiht. Drago hatte das Geld an sich genommen und die Leiche Tuckers über Bord geworfen. Seine Behauptung, einen Mörder und Sklavenschmuggler erschossen zu haben, hatte jeder geglaubt. Wer hätte auch daran zweifeln sollen? Niemand kannte die einzelnen Passagiere auf einem so großen Schiff. Niemand wußte, wer Nashville Tucker gewesen war, und noch vermißte ihn ja außer mir niemand. Aber wer war schon ich? Ein
hergelaufener Junge, ohne jegliche Legitimation. Ich konnte viel behaupten. Glauben würde mir niemand. Eins war mir unklar: warum hatte Drago keinerlei Mühe darauf verwandt, mich zu suchen, um auch mich als Zeugen auszuschalten? Aber vielleicht, so dachte ich, hatte er nicht genau gewußt, wer das Geld transportieren sollte. Vielleicht hatte er angenommen, daß Nashville Tucker allein nach Kansas City fahren würde. Ich hatte ohnehin den Eindruck gehabt, als Cargo Flatt mich hatte rufen lassen, daß er mich in letzter Minute noch zusätzlich für diese Reise eingeteilt hatte, um mir eine Prämie zuzuschanzen. So mußte es gewesen sein. Major Drago hatte keine Ahnung gehabt, daß ich als zweite Person den Transport begleitet hatte. Die Behauptung, an Bord der »Mary Jane« einen Mörder zu suchen, war ein bloßer Vorwand gewesen, um an Bord kommen und hier das Geld rauben zu können. Die wirkliche Anwesenheit eines Negers, der eine Heidenangst vor der Miliz gehabt hatte, war vermutlich ein reiner Zufall gewesen, denn Drago hatte ganz offensichtlich von ihm nichts gewußt, sonst wäre er nicht mit der Behauptung von Bord gegangen, er habe den gesuchten Mann erschossen. Im Grunde war der Plan Dragos perfekt. Er war ein angesehener, einflußreicher Mann. Niemand würde ihn verdächtigen, einen Raubmord begangen zu haben. Das Verschwinden Tuckers würde eher so gedeutet werden, daß sich der Revolvermann mit dem Geld abgesetzt hätte. Die Schießerei an Bord des Schiffes zwischen Major Drago und einem gesuchten Mörder spielte dabei keine Rolle. Niemand hatte gesehen, wie Drago seinen Mann erschossen hatte, also konnte auch niemand sagen, um was für einen Mann es sich bei dem Opfer gehandelt hatte. Und inmitten eines ausgedehnten Urwaldes, beiderseits des Missouri, konnten Wochen vergehen, bis die angeschwemmte Leiche Tuckers gefunden wurde. Dann aber würde sie kaum noch zu identifizieren sein. Wie gesagt, der Plan war gut durchdacht. Er hatte nur den Fehler, daß ich auch noch da war und wußte, daß Major Drago keinen Mörder und Sklavenschmuggler, sondern einen Geldboten ermordet hatte. Wieviel Gewicht mein Wort in St. Joseph haben würde, wußte
ich nicht. Im Moment hatte ich keine Chance, meine Geschichte an den Mann zu bringen. Denn hier auf dem Schiff kannte mich niemand. Das war in St. Joseph anders. Aber auch dort war Major Drago ein mächtiger, großer Mann. Die Frage nach dem Gewicht meiner Aussage war in diesem Augenblick auch nicht interessant. Wichtig für mich war, daß ich zusammen mit Tucker die Verantwortung für das Geld gehabt hatte. Es war gestohlen worden, und ich fühlte mich verpflichtet, diese Scharte wieder auszuwetzen. Ich dachte gar nicht daran, mit leeren Händen nach Kansas City zu fahren. Cargo Flatt hatte viel Vertrauen in mich gesetzt, ich wollte es nicht enttäuschen. Kurzentschlossen richtete ich mich auf und blickte Shita an. »Man hat uns überrumpelt«, sagte ich. »Kein Mensch hätte damit rechnen können, daß ausgerechnet dieser aufgeblasene Major ein Mörder und Dieb ist. Aber wir holen das Geld zurück, zum Teufel, jawohl, das werden wir.« Ich ging zur Reling. Das Schiff fuhr langsam und hatte die Stelle, an der Drago und seine Leute wieder an Land gegangen waren, noch nicht weit hinter sich zurückgelassen. Ich stieg über die Reling, blickte Shita noch einmal auffordernd an, und ließ mich in die Finsternis fallen. Das Wasser war kühler, als ich gedacht hatte. Ich tauchte kurz unter, kam wieder hoch, schnappte nach Luft und bewegte mich mit kräftigen Schwimmstößen zum Ufer hin. Hinter mir hörte ich Shita klagend bellen und jaulen. Dann stieß er sich ab und sprang hinter mir her. Als ich bereits den Ufergrund unter meinen Füßen spürte, paddelte er heran. Hinter einer Flußkrümmung verschwand die »Mary Jane« aus meinen Blicken. Ich fror etwas, als ich an Land stieg, aber es blieb mir keine Zeit, meine Kleider auszuziehen und erst zu trocknen. Shita hatte es einfacher. Er schüttelte sich nur, als er das Wasser verließ. Dann sprang er neben mir her, als ich am Ufer des Missouri nordwärts eilte. *
Ich hörte Stimmen vor mir und duckte mich sofort. Mit der Rechten griff ich Shita ins Fell und hielt ihn fest. Ich spürte, wie sich seine Rückenmuskeln spannten, aber er blieb neben mir stehen und gab keinen Laut von sich. »Miliz war auf dem Schiff«, hörte ich einen Mann flüstern. Es war der Neger. Ich hatte keinen Zweifel. Die angstbebende Stimme erkannte ich sofort wieder. »Sie haben mich gesucht. Ich bin ganz sicher. Und sie haben geschossen.« »Sklavenjäger treiben sich seit gestern mittag in der Gegend herum«, antwortete ein zweiter Mann. Auch diese Stimme kam mir bekannt vor, aber ich konnte mich beim besten Willen nicht entsinnen, wo ich sie schon einmal gehört hatte. »Sie haben Hunde«, sagte die fremde Stimme wieder. »Was ist mit Sarah und dem Jungen? Was mit Noah?« fragte der Neger. »Sind in meiner Hütte«, antwortete der andere. »Alles in Ordnung. Noah hat ein paar Schrotkugeln abgekriegt. Aber die Hunde bereiten mir Sorgen. Ich hätte deine Leute lieber allein rausgebracht.« »Ich hab sie zwei Jahre nicht gesehen, Master Kilhany«, sagte der Neger, und jetzt wußte ich, mit wem er sprach und wann ich die Stimme schon einmal gehört hatte. Es war der große Mann in Wildleder, der Renegat, wie sie ihn in St. Joseph nannten. »Zwei Jahre sind eine lange Zeit«, sagte der Neger. »Nicht so lang wie lebenslange Sklaverei«, erwiderte Kilhany. »Aber jetzt brauchen wir nicht weiter darüber zu reden. Ich hoffe nur, daß nichts schiefgeht. Ich bringe euch raus. Und jetzt komm mit.« Ich hörte Schritte im Unterholz. Trockene Zweige zerbrachen knackend und knirschend unter harten Stiefelsohlen. Ich duckte mich noch tiefer. Aber die Schritte entfernten sich von mir. Sklavenschmuggel. Ich hatte in St. Joseph einiges darüber gehört. Morton Kilhany hatte sogar im Gefängnis gesessen, weil er Sklaven befreit und aus Missouri hinausgebracht hatte. Offenbar betrieb er dieses Geschäft immer noch. Soweit ich verstanden hatte, war der Neger, der mich auf dem Schiff beinahe umgebracht hatte, gekommen, um Angehörige in die Freiheit zu holen.
Aber was ging mich das an? Ich hatte meine eigenen Probleme, und ich hoffte für ihn, daß er es schaffen würde, denn ich wußte, was Freiheit bedeutet und wünschte deshalb keinem Menschen Unfreiheit. Ich mußte versuchen, das gestohlene Geld wieder zu beschaffen, das war meine Aufgabe, darauf mußte ich mich konzentrieren. Es galt, die Spur der Milizmänner aufzunehmen. Dabei waren meine Chancen gar nicht einmal so schlecht, obwohl die Soldaten beritten waren. Hier im dichten Urwald am Missouri gelangten sie mit ihren Pferden nicht viel schneller voran als ich zu Fuß. Wenn ich es schaffte, sie hier einzuholen, war ich gar nicht so übel dran. Ich setzte mich wieder in Bewegung und schritt am Ufer entlang, um im Mondlicht die Stelle zu suchen, an der Drago und seine Milizmänner mit ihren Pferden gestanden hatten. Es dauerte sicherlich eine halbe Stunde, dann fand ich den Platz. Hier war der weiche Ufergrund zertrampelt und zerstampft, Gräser und Schilf waren geknickt, und ein tief hängender Ast eines Weidenbaumes war abgebrochen. Auch die Schleifspur des Bootes, das den Major geholt und wieder an Land gebracht hatte, war noch zu sehen. Von hier aus hatten sich die Reiter – es waren sechs gewesen, mit dem Major – ostwärts gewandt. Sie waren in gerader Linie durch den Wald geritten und hatten fast eine Schneise ins Unterholz gebrochen. Nach mehreren hundert Yards stieß ich auf einen schmalen, fast völlig verwachsenen Wildpfad, den auch die Reiter genommen hatten. Ich folgte weiter ihrer Fährte, und ich wunderte mich, daß ich kein bißchen mehr müde war. Es mußte jetzt fast Mitternacht sein. Den Mond konnte ich nicht mehr sehen. Das Blätterdach über mir war zu dicht. Nur ab und zu schimmerte ein Stück Himmel durch, bläulichschwarz, und hier und da ein Stern. Einmal blieb ich auf einer Lichtung stehen, als ich wahre Kulturen von Wilderdbeeren fand. Ich war hungrig und durstig und fiel wie ein reißendes Tier über die Beeren her. Shita schaute mir verständnislos dabei zu. Ich warf ihm ein paar Beeren hin, er schnupperte nur kurz daran und wandte sich verächtlich ab. Der Blick, den er mir zuwarf, sagte alles. Er hielt
mich offenbar für nicht ganz richtig im Kopf, daß ich mit nach Moos und Erde riechenden Beeren meinen Hunger stillte. Trotzdem fühlte ich mich besser, als ich gegessen hatte und meinen Weg fortsetzte. Der Wildpfad verlor sich mehr und mehr im dichtesten Unterholz. Schließlich waren die Reiter von ihm abgewichen und hatten sich ihren eigenen Weg gesucht. Ich hatte es leichter als sie, denn ich brauchte weniger Raum als die Pferde, und sie hatten den Weg für mich im Grunde schon gebahnt. Ich konnte also hoffen, genauso schnell, wenn nicht sogar schneller als sie voranzukommen. Seit ich unterwegs war, beschäftigte mich die Frage, ob Major Drago irgendwann versuchen würde, sich von seinen Leuten abzusetzen, oder ob er nach St. Joseph zurückkehren würde, als sei nichts geschehen. Wenn ich auf dem Schiff seinen Plan richtig durchschaut hatte, konnte er zurückkehren. Allerdings würde man ihm dann irgendwann auf die Spur kommen, wenn er erst einmal die Bankanweisungen gegen Münzgeld oder Gold eingetauscht hatte. Vermutlich würde Drago seine weiße Weste dazu nutzen, um sich einen möglichst großen Vorsprung zu verschaffen. Er hatte ja Tucker beseitigt, wovon niemand – außer mir – zur Zeit etwas wußte. Und Tuckers Verschwinden würde erst am nächsten Morgen, wenn die »Mary Jane« in Kansas City anlegte und Tucker mit dem Geld nicht im Office der »Missouri Steam Ship Company« erschien, auffallen. Auch dann würde noch niemand Major Drago verdächtigen. Bis bekannt wurde, daß er vielleicht in irgendeinem kleinen Nest die Anweisungen der »St. Joseph Imperial Bank« umgetauscht hatte, würden sicherlich einige Tage vergehen. Major Drago hatte also Zeit, in aller Seelenruhe unterzutauchen. Ich war sicher, daß er so handeln würde. Mit fünfzigtausend Dollar konnte ein Mann eine Menge anfangen. Das Salär eines Majors der Staats-Miliz war sicher nicht sehr hoch. Fünfzigtausend Dollar waren für einen Mann wie Drago sicherlich ein unermeßlich großes Vermögen. Vermutlich hatte er seinen Coup schon lange vorbereitet. Er hatte ja die besten Möglichkeiten dazu gehabt. Er erlebte ständig mit, daß Geldtransporte überfallen und ausgeplündert wurden. Er konnte aus den Fehlern der anderen lernen, und das hatte er getan. Er konnte
sich seines Erfolges sicher sein, denn er ahnte nicht, daß ich hinter ihm her war, daß ich alles wußte und er längst nicht soviel Zeit hatte, wie es gewesen wäre, wenn Tucker allein gewesen wäre. Seine Leute wußten von nichts. Major Drago würde sich nicht sorgen, und darin lag vielleicht auch ein Teil meiner Chance. Er würde sich sicher fühlen, zu sicher. Ab und zu blieb ich stehen, bückte mich und tastete mit den Fingerkuppen die Hufeindrücke im weichen Waldboden ab. Meiner Schätzung nach hatten die Milizleute etwa eine halbe Stunde Vorsprung. Der Pferdekot, den ich immer wieder auf meinem Weg fand, war meist noch warm. Ich war Drago dicht auf den Fersen, und ich schwor mir die Fährte nicht kalt werden zu lassen.
7. Am Himmel zogen dunkle Wolken auf und verdeckten Mond und Sterne. Ich konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen, spürte Shita dicht neben mir an meinem linken Bein und tappte unsicher voran. Immer wieder stieß ich gegen Bäume oder tiefhängende Äste. Hin und wieder bückte ich mich und tastete mit den Händen den Boden ab, um zu prüfen, ob ich noch immer auf dem richtigen Weg war. Mir fiel zwar auf, daß der Boden immer feuchter wurde, so daß ich ab und zu ausrutschte und manchmal sogar bis zu den Knöcheln im Matsch versank, aber ich dachte nicht weiter drüber nach. Ich hatte mich darauf konzentriert, die Fährte der Milizmänner nicht zu verlieren, und das war in der Dunkelheit schon eine ganze Menge, so daß ich mich wenig darum kümmerte, durch was für ein Gebiet ich mich bewegte. Schließlich begann es zu regnen. Nicht besonders stark, aber dafür stetig und ausdauernd. Nach kurzer Zeit war ich naß bis auf die Haut. Meine Hoffnungen sanken. Der Regen würde die Fährte der Reiter verwischen. Heftiger Zorn erfaßte mich. Warum hatte dieser gottverdammte Major Drago, den ich vom ersten Moment an nicht hatte leiden können, dieser Mörder und Dieb, warum hatte er so ein unverschämtes Glück?
Trotzdem dachte ich nicht daran, aufzugeben. Jetzt gerade nicht. Ich würde schön dastehen, wenn ich jetzt nach St. Joseph zurückkehren würde. Nicht nur, daß ich in den entscheidenden Minuten nicht bei Nashville Tucker gewesen war und ihm nicht hatte helfen können, die Verfolgung des Mörders war mir auch nicht gelungen. Ich hatte die Spur verloren. Eine Blamage nach der anderen. Cargo Flatt würde mich zum Teufel jagen. Ich bückte mich wieder, ließ meine Hände über den Boden gleiten – und fühlte nichts. Der Boden war verschlammt und morastig, stärker durchgeweicht, als er es als Folge des Regens bereits hätte sein können. Aber das fiel mir in diesem Moment nicht auf. Die Tatsache, daß ich die Fährte der Reiter nicht mehr fand, war ein Schock für mich, der mich alles andere vergessen ließ. Ich drehte um, lief geduckt ein Stück zurück und suchte verzweifelt nach den Hufabdrücken im weichen Boden. Shita war immer dicht neben mir. Er jaulte aufgeregt, so als wolle er mich warnen, ich aber hörte nicht auf ihn, und als ich eine neue Richtung einschlug, gab der Boden unvermittelt unter mir nach, und ich versackte auf der Stelle bis zu den Knien im zähen Morast. Fluchend versuchte ich, mich zu befreien. Aber der Schlamm umschloß meine Beine wie ein gierig saugendes Maul. Ich bewegte mich heftig, ohne mich jedoch wirklich rühren zu können. Tausend Fäuste schienen nach mir zu greifen, mich festzuhalten und mich immer tiefer zu ziehen. Erst merkte ich es nicht, zu sehr hatte ich meine Bemühungen darauf konzentriert, wieder freizukommen. Dann aber wurde es mir jäh bewußt. Je angestrengter ich mich bewegte, um so tiefer sank ich. Der Morast gab mich um keinen Fingerbreit frei. Er verschluckte mich langsam, wie ein gefräßiges Ungeheuer. Sofort erstarrten all meine Bewegungen. Ich spürte kalte Verzweiflung in mir aufsteigen. Bis auf das monotone Rauschen des Regens war es um mich herum still. Dann fing Shita plötzlich klagend an zu jaulen. Die Dunkelheit war so dicht, daß ich ihn nur als Schatten sehen konnte, kaum zwei Yards entfernt und doch unerreichbar für mich. Aufgeregt rannte der Hund hin und her. Ich spürte den Regen nicht mehr, auch nicht die Nässe meiner
Kleidung auf der Haut. Ich dachte nur noch an den Tod. Jetzt endlich ging mir auf, in was für einem Gebiet ich mich seit geraumer Zeit bewegte. Ich befand mich in einem Sumpf, noch dazu in finsterster Nacht und im Regen, ohne die Möglichkeit, mich zu orientieren, allein und hilflos. Ich mußte ruhig bleiben und durfte nicht die Nerven verlieren. Das hämmerte ich mir selbst immer wieder ein, während ich Mühe hatte, das ständig wachsende Entsetzen in mir zu unterdrücken, denn ich spürte, wie ich langsam, aber stetig immer weiter sank. Ich fror auf einmal. Um meine Brust schien sich ein eherner Ring zu legen, der sich mehr und mehr zusammenzog und mir den Atem raubte. Vergeblich versuchte ich, meine verkrampften Muskeln wieder zu entspannen. Mein Herz pochte wie rasend und schien meinen Brustkorb sprengen zu wollen. Der Druck um meine Beine wurde immer stärker. Ich hatte das Gefühl, daß Tonnengewichte meine Füße, Unterschenkel und Knie zerquetschten. Zäh, matschig, klebrig und feucht kroch der Tod an mir hoch. Unwillkürlich begann ich zu schwanken und bemühte mich verzweifelt, das Gleichgewicht halten zu können. Allein der Gedanke, mit dem Oberkörper auch noch in den Sumpf zu stürzen, ließ Schwindel in mir aufsteigen. Wenn ich stürzte, war ich verloren, dann deckte mich nach wenigen Minuten der zähe Morast endgültig. Mühsam konnte ich mich halten, und nach einiger Zeit, als ich bereits bis zu den Oberschenkeln im Sumpf steckte, spürte ich, daß ich wieder die Gewalt über mich gewann und ruhiger wurde. Ich atmete tief durch, mein Verstand begann wieder klarer zu arbeiten. Ich hatte das erste Entsetzen, den ersten Schock überwunden. Noch immer aber übertönte Shitas klagendes Jaulen und Bellen das Rauschen des Regens und dröhnte mir wie ein Verhängnis in den Ohren. »Ruhig!« rief ich ihm zu. »Bleib ganz ruhig. Ich schaffe es schon irgendwie.« Ich versuchte, klar zu denken. Dort, wo Shita sich befand, war festes Land. Diesen Punkt durfte ich nicht aus den Augen verlieren. Dazu mußte Shita still sitzen, denn in der Dunkelheit fiel es mir schwer, seinen hektischen, aufgeregten Bewegungen zu folgen. Die Finsternis, die mich umgab, war beinahe
total. Langsam durchfloß auch Kälte meinen Körper. Ich mußte etwas tun. »Bleib sitzen!« rief ich Shita beschwörend zu. »Bleib ganz ruhig sitzen, so daß ich dich sehen kann.« Er schien mich zu verstehen, denn er verharrte, stand erst eine Weile unschlüssig herum und ließ sich dann nieder, leise wimmernd, wie ein kleines Kind. Ich sprach auf ihn ein, versuchte, ihn meine eigene Nervosität nicht spüren zu lassen. Er blieb sitzen. Ich beugte mich vorsichtig nach vorn, um zu versuchen, mit den Händen festen Boden oder sogar den niedrigen Weidenbusch, der sich unweit von Shita befand, zu erreichen. Obwohl ich mich bemühte, keine hastige Bewegung zu vollführen, ließ ich meine Hände ganz unwillkürlich nach vorn schnellen, als ich feststellte, daß höchstens ein Zoll fehlte, um einen starken Ast des Weidenbusches packen zu können. Ich verlor prompt das Gleichgewicht, ruderte verzweifelt mit den Armen, konnte mich nicht wieder fangen und fiel mit dem Oberkörper nach vorn. Tief tauchte ich mit den Armen in den Sumpf ein, wieder erfaßte mich wilde Verzweiflung, und ich bäumte mich mit aller Kraft auf. Ich kam wieder hoch, aber ich registrierte, daß ich abermals ein Stück tiefer in den Morast gesackt war. Diesmal wurde ich mit der aufkeimenden Panik besser fertig. Dann versuchte ich es noch einmal. Noch immer fiel der Regen, aber ich nahm ihn kaum wahr. Ich beugte mich wieder vor, und diesmal fehlte etwas mehr als ein Zoll, um den Ast zu kriegen. Ich spannte alle Muskeln, versuchte, den Oberkörper zu dehnen, machte mich so lang, wie es nur eben möglich war, berührte erst mit den Fingerspitzen den Ast, erfaßte ihn dann völlig und umklammerte ihn schließlich. Mit aller Kraft, die ich noch aufzubringen in der Lage war, hielt ich den Ast fest. Ich dachte, meine Sehnen würden reißen, meine Arme aus den Schultergelenken springen. Aber ich hielt fest und zog mit letzter Energie an dem Ast. Ich spürte, daß meine Hände an dem feuchten Holz abrutschten. Meine Finger schlossen sich wie Eisenklammern um den Ast. Ich zog und zerrte und wurde geradezu von einem Glücksgefühl übermannt, als ich spürte, daß ich aus dem
Sumpf rutschte. Stück um Stück kämpfte ich mich aus dem Sumpf. Meine Muskeln schmerzten. Mehr als einmal war ich soweit, einfach loszulassen. Shita hatte begriffen, was ich vorhatte. Er sprang aufgeregt auf dem schmalen festen Untergrund hin und her, auf dem er sich befand, der sich aber kaum von dem Morast unterschied, in dem ich noch immer steckte. Bis zu den Knien war ich nun bereits frei. Meinen rechten Schuh hatte ich inzwischen verloren, auch der linke löste sich. Aber das war mir egal. Ich konnte gut barfuß laufen. Besser, meine Schuhe blieben im Sumpf zurück als ich. Jetzt lag ich flach auf dem Morast, hielt den Ast fest gepackt und steckte nur noch bis knapp über die Knöchel in tückischen Schlamm. Mit einer letzten Kraftanstrengung zog ich noch einmal an dem Ast. Und da brach er. Es gab ein scharfes Knacken, ich hielt den Ast in den Fäusten und sackte ein Stück zurück. Verzweifelt warf ich mich nach vorn, stützte mich mit beiden Fäusten in den Morast und versank sofort mit dem ganzen Oberkörper. Shitas schrilles Winseln gellte mir in den Ohren, und ich verlor beinahe die Besinnung. * Der Mann ritt durch den Regen. Shita sah ihn zuerst und bellte wie verrückt. Die Dunkelheit umgab den Reiter wie ein Mantel, die Regenschleier ließen seine Konturen verschwimmen. Er glitt wie eine Erscheinung aus dem Schattenreich heran. Shita sprang ihm entgegen, wich ihm aus und kehrte zu mir zurück. Ich nahm den Mann kaum wahr. Ich kämpfte um mein Leben. Immer tiefer versank mein Oberkörper im Sumpf. Der intensive Gestank von Moder und Fäulnis stieg dicht vor meinem Gesicht auf und betäubte mich fast. Schwerfällig hob ich den Kopf, wühlte vergeblich mit beiden Armen im zähen Schlamm, um freizukommen, und sah, daß der
Reiter vom Pferd stieg. Er trug einen knielangen Umhang und eine Fellmütze auf dem Kopf. Shita umsprang ihn, immer noch wild kläffend. Er kannte sich aus. Er bewegte sich kein bißchen unsicher. Mit festen Schritten näherte er sich. Ich konnte nicht viel mehr sehen als seine hohe Gestalt und sein bärtiges, von Falten zerrissenes Gesicht. Er bückte sich, wehrte Shita mit dem rechten Arm ab und beobachtete mich sorgfältig. Meine Kräfte ließen nach. Schwindel durchfluteten meinen Körper. Vor meinen Augen tanzten grellfarbene Punkte. Ich sah das Gesicht des Mannes nur verschwommen. Er beugte sich immer tiefer, machte aber keine Anstalten, mir zu helfen. Obwohl ich kaum noch bei klarem Verstand war, ballte sich Zorn in mir zusammen. Warum, zum Teufel, holte der Kerl mich nicht raus? Was hatte ich ihm getan? War es etwa Major Drago? Ich sah Dragos Gesicht plötzlich vor mir. Es war zu einem gräßlichen, höhnischen Lachen verzerrt, und ich glaube, ich schrie auf. Ich wußte es nicht mehr. Ich hatte mich beim Kampf mit dem Sumpf völlig verausgabt und keine Kontrolle mehr über mich. In einem letzten Aufzucken rasender, sinnloser, hilfloser Wut versuchte ich, mich aufzubäumen, mich der tödlichen Umklammerung durch den Morast zu entziehen. Warum half der Mann mir nicht? Das war das letzte, was ich dachte. Dann spürte ich harte Fäuste an meiner Schulter und verlor das Bewußtsein. Als ich die Augen wieder öffnete, regnete es mir ins Gesicht. Ich lag auf dem Rücken, und plötzlich drängte sich von der Seite ein pelziges Monster heran und fuhr mir mit einem nassen Lappen über die Wangen. Nach und nach nur schwand meine Benommenheit. Die Schleier vor meinen Augen wichen. Das pelzige Wesen über mir war Shita, und er leckte mir freudig über das Gesicht. Ich wandte den Kopf rasch zur Seite und tastete mit beiden Händen über den Boden. Aber der Boden gab nicht nach. Ich lag nicht mehr im Sumpf. Ich war gerettet. Schwerfällig richtete ich den Oberkörper auf. Der Regen fiel nach wie vor fadendicht. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper und war
sicher, meine Beine nicht mehr bewegen zu können. Übelkeit preßte mir den Magen zusammen, aber sie ließ bereits nach. Dann sah ich den Mann. Er stand nur etwa zwei Yards entfernt von mir auf dem schmalen Pfad im Sumpf. Hinter ihm stand sein Pferd mit hängendem Kopf. Der Mann betrachtete mich wortlos. Ich versuchte, aufzustehen, und es ging, obwohl ich zuerst etwas weiche Knie hatte. »Wer sind Sie?« fragte ich. Und noch während ich sprach, erkannte ich ihn. Es war Kilhany, der Renegat. Sein knielanger Umhang klaffte auf. Er trug seinen Wildlederanzug darunter. Zorn stieg in mir auf. »Sie hätten mir ruhig früher helfen können!« schrie ich ihn an. »Wenn ich dich nicht erkannt hätte, hätte ich dir überhaupt nicht geholfen«, erwiderte Morton Kilhany. »Warum haben Sie mich dann rausgezogen?« »Weil ich dir noch was schuldig war.« Er drehte sich um und trat neben sein Pferd. »Komm!« rief er über die Schulter. »Wohin?« »Mit mir.« »Das geht nicht«, sagte ich. »Ich bin hinter einem Mann her. Zeigen Sie mir einen Weg aus dem Sumpf.« »Wie heißt der Mann?« In der Stimme Kilhanys war plötzlich etwas Lauerndes. Ich zögerte. Dann sagte ich: »Drago, Major Drago von der Missouri-Miliz.« Kilhany schien überrascht zu sein. Ich hatte den Eindruck, er wolle noch mehr fragen, aber er tat es nicht. »Du begleitest mich«, sagte er. »Ich habe dich aus dem Sumpf gezogen, mehr kannst du nicht erwarten.« »Ich erwarte nur, daß Sie mir aus dem Sumpfgebiet raushelfen«, sagte ich wütend. »Ich kann kein Risiko eingehen«, sagte er. »Du bist zu nahe bei meiner Hütte. So nahe, wie es noch keiner geschafft hat. Woher soll
ich wissen, ob du nicht hinter mir herschnüffelst? Du kommst mit.« Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Ich dachte an das gestohlene Geld und an Nashville Tucker, den Major Drago ermordet hatte. Ich wollte nichts weiter, als hinter Drago her, auch wenn die Aussicht, ihn jetzt noch zu stellen, nachdem ich soviel Zeit verloren hatte, nur sehr gering war. »Warum sollte ich hinter Ihnen herschnüffeln?« sagte ich. »Ich hab Sie nur einmal gesehen, ich habe andere Sorgen.« »Vielleicht.« Kilhany wandte sich mir wieder zu. Er hielt seine Hawkins-Rifle in den Fäusten, und die Laufmündungen zeigten auf meinen Kopf. »Vielleicht aber auch nicht«, sagte er. »Ich habe viele Feinde. Wenn du vernünftig bist, lasse ich dich wieder laufen, sowie ich meine Arbeit getan habe.« »Was für eine Arbeit?« Ich wußte, was er vorhatte, aber ich hielt es für besser, darüber zu schweigen und mich dumm zu stellen. »Das wirst du sehen. Und jetzt komm.« Er winkte mit dem Gewehr. Ich hatte keine Chance. Natürlich hätte ich versuchen können, meinen Revolver zu ziehen. Aber Kilhany war wie ich ein Mann der Wildnis. Er trug seine Waffen nicht zum Spaß, und ich hatte ihn in St. Joseph kämpfen sehen. Aber selbst wenn es mir gelang, ihn zu überwinden, saß ich noch immer im Sumpf fest. Ich nickte ergeben. Er zielte weiter mit seinem Gewehr auf mich und winkte mich heran. Shita knurrte neben mir, schien aber auch zu spüren, daß der große Mann in Wildleder nicht unbedingt unser Feind war. Ich ging auf ihn zu, und er befahl mir, in den Sattel zu steigen. Als ich gerade auf dem Rücken seines Pferdes saß, fiel irgendwo östlich von uns in der Regennacht ein Schuß, dann noch einer. Morton Kilhany stand sekundenlang wie angewurzelt. Dann sprang er hinter mir auf den Pferderücken und zog sein Tier herum. Als er mit mir davonritt und sein Pferd mit traumwandlerischer Sicherheit und atemberaubendem Tempo auf dem schmalen Pfad zwischen den tückischen Morastlöchern hindurch durch den Sumpf lenkte, sprang Shita aufgeregt kläffend hinter uns her. Vor uns fielen noch einmal zwei Schüsse. Dann wurde es still.
8. Der Regen ließ genauso unvermittelt nach, wie er begonnen hatte. Wir waren kaum zehn Minuten geritten, als nur noch wenige Tropfen fielen. Dann sah ich Kilhanys Hütte vor mir. Ich war sicher, daß ich den Platz unter normalen Umständen nie gefunden hätte. Aber in der Dunkelheit und im Regen war ich rein zufällig auf einen der schmalen Sumpfpfade geraten, die zu der Hütte führten. Vor der Hütte stand ein Mann mit einem Gewehr in den Fäusten. Als wir näher heran waren, sah ich, daß es sich um einen Neger handelte. Es war der Mann, der mir auf der »Mary Jane« sein Messer an die Kehle gehalten hatte. Er erkannte mich sofort wieder, als ich aus dem Sattel stieg. »Das ist der Junge vom Schiff!« schrie er und zeigte mit dem Gewehr auf mich. »Der war hinter mir her, als die Miliz an Bord gekommen war.« »Blödsinn«, sagte ich, aber in den Augen des großen Negers flackerte es drohend. Shita drängte sich neben mich und hatte die Zähne gefletscht. Ich schaute mich nach einem Fluchtweg um, aber es war aussichtslos. Ich war Kilhany auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ein Stück entfernt von der Hütte entdeckte ich in einer großen Pfütze einen dunklen, menschlichen Körper. Morton Kilhany hatte ihn bereits gesehen. Er ging auf die reglose Gestalt zu, bückte sich kurz und warf dann einen Blick auf den Neger. Aus der Hütte trat eine farbige Frau. Sie schwankte, und aus ihren Augen rannen Tränen. »Was war los?« fragte Kilhany. »Die Maultiere sind weg«, sagte der Neger. Seine Stimme zitterte. »Sie tauchten ganz plötzlich auf, Master Kilhany. Wir waren so erschrocken. Einen habe ich erwischt, aber dann …« »Wer?« Kilhany schrie fast. »Miliz«, sagte der Neger. »Dieselben Männer, die auch auf dem Schiff waren. Sie waren zu Fuß. Sie sagten, daß sie draußen im Sumpf ihre Pferde verloren hätten. Dann sahen sie, daß wir keine
Weißen sind und fingen an zu schießen.« »Ist jemand von euch verletzt?« »Nein.« Der Neger schüttelte den Kopf. Er warf wieder einen mißtrauischen Blick auf mich. »Was ist mit dem Jungen, Master Kilhany?« »Ich hab ihn aus dem Sumpf gezogen«, sagte Kilhany. »Er ist in Ordnung, denke ich. Und wenn nicht … Solange er bei uns ist, kann er uns nicht schaden.« Er ging an mir vorbei zum Stallanbau seiner Behausung. Als er wieder heraustrat, sah ich die Besorgnis in seinen Augen. Ich war aber fast sicher, daß ihn weniger der Verlust der Maultiere schmerzte als die Tatsache, daß Milizsoldaten seine Hütte gefunden hatten. »Wir brechen noch in dieser Nacht auf«, erklärte er. »Ich habe keine Ahnung, warum die Miliz davongeritten ist, ohne zu versuchen, euch mitzunehmen, aber die Soldaten kennen jetzt meine Hütte. Sie werden entweder zurückkehren oder uns die Sklavenjäger mit ihren Hunden auf den Hals hetzen. Wie viele Milizleute waren es?« »Fünf«, sagte der Neger. »Jetzt nur noch vier.« Er deutete auf den toten Mann. Ich dachte bei mir, daß Major Drago somit bereits vorher einen Mann verloren haben mußte, denn die Spuren, denen ich gefolgt war, hatten von sechs Reitern gestammt. Vermutlich war ein Mann im Sumpf umgekommen, als Drago seine Pferde verloren hatte. Er hatte ein unverschämtes Glück gehabt, daß er es dennoch bis zu Kilhanys Hütte geschafft hatte. Jeder Schritt in diesem Sumpfland war, wenn man sich nicht auskannte, lebensgefährlich. Trotzdem war es Drago offenbar gelungen, einen der wenigen Pfade zu finden. Es beruhigte mich, daß sein Vorsprung nicht groß war, und vielleicht konnte ich mich doch noch von Kilhany absetzen und die Verfolgung wieder aufnehmen. Noch hatte ich ja die Fährte von Major Drago nicht völlig verloren. Kilhanys Stimme riß mich aus meinen Gedanken: »Du wirst mir jetzt sagen, weshalb du Drago verfolgst, Junge.« »Ich war mit einem anderen Mann auf dem Schiff«, sagte ich. »Wir hatten einen Haufen Geld bei uns, Lohngelder für die
›Missouri-Steam Ship Company‹ in Kansas City. Major Drago hat meinen Partner erschossen und sich das Geld unter den Nagel gerissen.« Was ich sagte, schien Kilhany nicht sonderlich zu überraschen. Er schien Major Drago nichts Gutes zuzutrauen. »Tut mir leid«, sagte er. »Drago wird dir wohl durch die Lappen gehen. Du wirst uns begleiten. Es geht nicht anders.« »Es interessiert mich einen feuchten Dreck, was Sie vorhaben«, sagte ich wild. »Ich muß das Geld wiederbeschaffen. Lassen Sie mich jetzt laufen, damit ich Drago weiter verfolgen kann.« »Lassen Sie ihn nicht laufen, Master Kilhany!« rief der Neger. Kilhany winkte ab. »Ich lasse ihn nicht laufen.« Er blickte mich an. »Das Risiko ist zu groß. Das hier ist Josuah Kent.«. Er zeigte auf den Neger, und dann auf die Frau an der Hüttentür. »Das ist seine Frau. In der Hütte befinden sich sein Sohn und sein Bruder. Ich werde diese armen Kerle aus Missouri rausbringen, nach Iowa. Dort gibt es keine Sklaverei. Du wirst uns begleiten, dir bleibt gar nichts anderes übrig. Sowie wir in Sicherheit sind, kannst du gehen, wohin du willst.« Ich wollte noch etwas sagen, aber ich schwieg, denn ich begriff, daß es sinnlos war, weiterzureden. »Paß auf ihn auf«, sagte Kilhany. Josuah Kent erwiderte: »Ich paß auf ihn auf, Master Kilhany, er wird uns nicht davonlaufen.« Er zielte mit dem Gewehr auf mich, während Kilhany an der Frau vorbei in die Hütte trat. Ich blieb eine Weile stehen, dann hockte ich mich auf den nassen Boden. Erschöpfung erfüllte meinen Körper, ich fühlte Müdigkeit in mir aufsteigen. Es fiel mir schwer, wach zu bleiben. Ich fror und hatte Hunger und Durst. Kilhany kehrte schließlich aus der Hütte zurück. Er trug mehrere Bündel bei sich, die er aus Decken gefertigt hatte und die, wie ich sehen konnte, Lebensmittel enthielten. Hinter ihm verließen ein großer, breitschultriger Neger auf eine grob geschnitzte Krücke gestützt und ein magerer, hochaufgeschossener Junge von etwa zwölf Jahren die Hütte. Sie musterten mich neugierig. Dann nahmen Josuah Kent, seine Frau und
sein Sohn jeweils eins der Bündel auf. Auch ich mußte eins tragen. Der verletzte Noah durfte Kilhanys Pferd besteigen. Kilhany sprach wenig. Seine Anweisungen waren kurz und präzise und duldeten keinen Widerspruch. Ich lehnte mich nicht mehr dagegen auf. Es war zwecklos. Uns dicht hinter Kilhany haltend verließen wir die Insel im Sumpf. Einmal drehte sich der große, bärtige Mann um und warf einen Blick zurück. Ich ging direkt hinter ihm und sah in seinen Augen, daß er Abschied von seiner Hütte nahm. Er würde nicht mehr zurückkehren. Als Versteck war sie nicht mehr sicher genug. Mit großen Schritten bewegte sich Kilhany vor uns her. Schon bald befanden wir uns mitten im Sumpfland, wo ein falscher Schritt den Tod bedeuten konnte. Ich war zu erschöpft, um lange darüber nachzudenken, in was ich da hineingeraten war. Mit mechanischer Gleichförmigkeit setzte ich einen Fuß vor den anderen und hoffte nur, daß ich bald eine Gelegenheit erhalten würde, auszuruhen. Aber der Weg schien niemals enden zu wollen, und die Nacht schien keinen Morgen zu haben. Stunde um Stunde schleppten wir uns dahin, ohne daß ein Ende des Sumpfgebiets und des dichten Buschlands abzusehen war oder daß es heller wurde. Unser Weg schien direkt in die Hölle zu führen. * Major Gus Drago zügelte das Maultier, das er aus dem Stall Morton Kilhanys gestohlen hatte und drehte sich zu den drei Männern um, die ihm noch verblieben waren. Auch sie saßen auf gestohlenen Maultieren und waren im gleichen jämmerlichen Zustand wie Drago. Seine schmucke, hellblaue Uniform war verdreckt, durchnäßt und zerfetzt. Nachdem sie den Missouri verlassen hatten, hatten sie sich im Regen verirrt, waren im Sumpfland vom Weg abgekommen und hatten sich mit knapper Not aus dem tückischen, tödlichen Morast retten können. Die Pferde waren dabei verlorengegangen. Einen der
Männer hatte der Sumpf verschlungen. Es erschien Gus Drago auch jetzt noch wie ein Wunder, daß sie nach ihrem Unglück wieder einen festen Pfad gefunden und auf ihm bis zu der Hütte Morton Kilhanys hatten vordringen können – zu der Hütte, nach der seit Jahren vergeblich gesucht worden war. Immer wieder war versucht worden, Kilhanys Versteck im Sumpfland zu finden und den verhaßten Renegaten zu beseitigen. Es war nie gelungen. Jetzt hatte er, Drago, es geschafft, und er hätte mit einigem Stolz heimkehren können. Aber jetzt nutzte ihm diese Entdeckung nichts mehr. Es war zu spät für ihn, dafür Ruhm zu ernten, denn er würde nicht nach St. Joseph zurückkehren, und so würde niemand etwas von seinem Glück erfahren. Aber das wußten die drei Männer noch nicht, die die gleiche Uniform trugen wie er und die müde, zerschlagen, ausgebrannt und am Ende ihrer Kraft auf ihren Maultieren hockten. Sie ahnten nichts von der abgegriffenen Ledermappe, die Gus Drago unter seiner zerrissenen Uniformbluse trug. Sie waren der festen Überzeugung, daß er an Bord der »Mary Jane« einen flüchtenden Mörder erschossen hatte, daß sie überhaupt nur aus diesem Grund das Schiff verfolgt, angehalten und durchsucht hatten. Danach hatten sie noch eine Weile nach der Leiche gesucht, sie aber nicht gefunden. Es war ihnen nicht aufgefallen, daß der Major sehr nervös zum Aufbruch gedrängt und an einem Auffinden der Leiche gar kein Interesse gehabt hatte. Sie waren froh gewesen, den Heimweg antreten zu können und waren ihm gefolgt. Dann waren sie in den Sumpf geraten und waren jetzt froh, überhaupt noch am Leben zu sein. Drago hatte nicht versäumt, ihnen nachhaltig vorzukauen, daß das allein sein Verdienst sei. Sie ahnten nicht, daß sie nur Statisten in einem geschickt inszenierten Spiel gewesen waren, das sich Major Drago ausgedacht hatte, um die fünfzigtausend Dollar Lohngelder der »Missouri Steam-Ship-Company« an sich zu bringen. Es war ein voller Erfolg geworden. Drago hatte lange auf so eine Gelegenheit gewartet. Der an sich gute Plan Cargo Flatts, die Lohngelder unauffällig und nicht schwer
bewacht transportieren zu lassen, hatte alles erleichtert. Gus Drago hatte das Geld. Der, wie er meinte, einzige Zeuge, war tot. Das, und sein persönliches Ansehen, verschafften ihm nach seinen Berechnungen etwa eine Woche Zeit, um unterzutauchen und seine Spuren zu verwischen. Er war nicht unglücklich darüber, daß er bereits zwei seiner Leute verloren hatte. Auch das erleichterte ihm vieles. Denn sie befanden sich nun am Rande des Sumpflandes. Und das war der Moment für Gus Drago, darüber nachzudenken, wie er die restlichen drei Milizsoldaten auch noch loswerden konnte. Sie hatten ihre Rolle ausgespielt. Er brauchte sie nicht mehr. Major Gus Drago kannte die Männer seit Jahren. Dennoch bedeuteten sie ihm nichts. Sie waren loyal unter seinem Kommando geritten, jetzt mußten sie verschwinden. Der Weg nordwärts aus dem Sumpf hinaus war beschwerlich gewesen. Immer wieder waren die Maultiere vom schmalen Pfad abgekommen, immer wieder hatten die Reiter absteigen und den Weg mit den Händen abtasten müssen, um nicht im Morast zu versinken. Jetzt hatten sie es geschafft, und damit begann der zweite Teil des Plans von Gus Drago, die eigentliche Flucht. Östlich des Brushlandes dämmerte bereits der neue Tag herauf. Nebelschwaden stiegen aus den Niederungen und breiteten sich über dem Buschgebiet wie ein riesiger, schmutziger Baldachin aus. Major Gus Drago hatte seine Entscheidung bereits getroffen. Fünfzigtausend Dollar waren sehr viel Geld, man konnte eine Menge dafür tun. Drago tastete zum Griff des Navy-Colts, den er in einer Revolvertasche links am Gürtel trug. Er hoffte, daß die Waffe nicht naß geworden war und funktionieren würde. »Können wir jetzt nicht rasten, Major?« fragte in diesem Moment ein hagerer, schnauzbärtiger Sergeant, dem die Uniformbluse nur noch in Fetzen am Oberkörper herunterhing. »Kilhany verfolgt uns bestimmt nicht mit seinen Niggern. Er muß jetzt zu Fuß gehen, und bis er sich neue Pferde beschafft hat, können wir den nächsten Sheriff benachrichtigen, daß er ihn und die Schwarzen festnimmt. Das sind bestimmt entlaufene Sklaven. Diesmal wird Kilhany auf frischer Tat ertappt werden. Aber Zeit zum Rasten haben wir doch
noch. Wir sind völlig fertig, Major.« Drago nickte nur. Er blieb im Sattel sitzen, während seine drei Leute von den Maultieren stiegen. Sie bewegten sich schleppend, kriegten die Füße kaum hoch und wandten Drago den Rücken zu, als sie die Maultiere zu ein paar uralten, mächtigen Redwoodeichen führten, an deren Fuß der Boden halbwegs trocken aussah. Das war der Moment, den Major Drago nutzte, um seinen Revolver zu ziehen. Er spannte lautlos den Hammer und drückte ohne zu zögern ab. Er dachte an das viele Geld in der Ledermappe unter seinem Hemd, als er schoß. Er dachte nur an das Geld, nicht an den Mann, den er zuerst tötete. Es war der schnauzbärtige Sergeant. Die Kugel traf ihn eine Handbreit unterhalb des linken Schulterblattes in den Rücken und stieß ihn nach vorn, so daß er mit dem Schädel gegen eine der Redwoodeichen stürzte, während sich auf seinem Rücken sehr schnell ein großer, dunkler Fleck ausbreitete. Drago beobachtete das Sterben des Mannes, den er seit ungefähr zehn Jahren kannte, mit kalter Gleichgültigkeit und mit einer Spur von Neugier, ob die eine Kugel reichte oder er noch einmal würde schießen müssen. Das war nicht der Fall. Als der Sergeant im Todeskampf die Hände in den weichen Boden krallte, schwenkte Gus Drago den Lauf seines Revolvers herum und feuerte auf den zweiten Mann, der genau wie der dritte wie angewurzelt stehengeblieben war und sich nun umdrehen wollte. Das Geschoß traf ihn in der Drehung seitlich in den Schädel, riß ihm das linke Ohr weg und tötete ihn auf der Stelle. Der dritte Mann schaffte es, sich Major Drago zuzuwenden. Aus weitaufgerissenen Augen starrte er den massigen, stiernackigen Mann auf dem Maultier an. »Tut mir leid«, sagte der Major, und der Milizsoldat begriff gar nichts mehr. »Die Umstände verlangen es so.« Dann drückte er noch einmal ab. Der Milizmann schrie auf und warf sich zur Seite. Es war eine verzweifelte Reflexbewegung, die ihn nicht mehr retten konnte. Die Kugel traf ihn in die rechte Seite und zerfetzte seine Niere. Laut brüllend ging er zu Boden und blieb in verkrümmter Haltung
auf den Knien liegen. Gus Drago hob mitleidlos den Revolver noch einmal und erschoß den Mann. Dann waren die Schüsse verhallt, und aus der Mündung des Colts kräuselte sich eine dünne, stinkende Pulverdampffahne. Die Luft war kühl und klamm, die Morgennebel sanken von den Gipfeln der Bäume bis auf den Boden und verdichteten sich mehr und mehr. Drago stieg aus dem Sattel. Er schleppte die Leichen in den Sumpf zurück, sank dabei selbst noch einmal bis zu den Knien im Morast ein, konnte wenig später aber dabei zusehen, wie der Sumpf seine Opfer für immer verschlang. Sie versanken schnell. Drago ging und holte die Maultiere der Männer. Er trieb die vor Angst schnaubenden und wiehernden Tiere in den Sumpf, wo sie rasch vom Weg gerieten und versanken. Verzweifelt kämpften sie um ihr Leben und sackten nur noch schneller in den Sumpf. Als gerade noch die Köpfe aus dem Morast ragten, tötete Drago auch die Tiere. Jetzt war er allein, und für einen Moment erfaßte ihn eine gewisse Beklommenheit. Dann zog er die abgewetzte Ledermappe unter seiner Uniformbluse hervor. Sekundenlang stand er nur da und starrte in Gedanken versunken auf die Mappe. Schließlich öffnete er sie und warf einen Blick auf die sauber gebündelten Scheine. Auch er war müde und erschöpft. Er war nicht mehr jung. In zwei Monaten wurde er zweiundfünfzig. Fast schon zu spät für einen Mann, noch einmal neu anzufangen. Der Anblick der Papierbündel schien ihm neue Kraft zu verleihen. Er wußte, er hatte noch einiges vor sich und durfte keine Zeit verlieren. Er verschloß die Mappe wieder, schob sie unter seine Uniformbluse zurück und bestieg das Maultier. Ohne noch einmal zurückzuschauen, trieb er es nach Norden durch das MissouriBrushland. Er hoffte, gegen Mittag ein kleines Nest zu erreichen, wo er die Anweisungen in Gold umtauschen konnte. So wie er aussah, würde man ihm die Geschichte, daß er im Missouri-Sumpf nach Banditen gejagt hatte, abnehmen. Kein Mensch würde auf die Idee verfallen, ihn zu fragen, warum er die »sichergestellten« Anweisungen erst umtauschen wollte, statt sie
einfach so, wie sie waren, nach St. Joseph zu bringen. Und wenn doch jemand danach fragen sollte, war er sicher, daß ihm irgendeine Ausrede einfallen würde. Während er ritt, lud er die abgeschossenen Kammern seines Revolvers wieder auf. Die drei toten Männer hatte er bereits vergessen. Er dachte an seine Zukunft, eine große Zukunft unter anderem Namen. Eine Zukunft mit fünfzigtausend Dollar, die ausreichten, ihn irgendwo, wo ihn niemand kannte, zu einem mächtigen, beherrschenden Geschäftsmann zu machen. Eine Zukunft, die ihn die harten, schweren und im Grunde auch jämmerlichen Jahre bei der Staats-Miliz vergessen lassen würde. Davon hatte Gus Drago schon immer geträumt. Er war sicher, gerade noch den richtigen Zeitpunkt für einen Absprung aus seinem gleichförmigen, tristen Leben erwischt zu haben. Er war im Laufe der Zeit abgestumpft und hatte viele Skrupel verloren. Er dachte nur noch an sich. Jeden, der sich ihm in den Weg stellen würde, der ihn daran hindern wollte, sich seinen Lebenstraum zu erfüllen, würde er vernichten. Aber er war sicher, unbehelligt zu bleiben. Denn wenn sich der Tag neigte, würde es keinen Milizoffizier namens Gus Drago mehr geben. Er fühlte sich wohl, als er daran dachte.
9. »Ich bin immer ein armes Schwein gewesen«, sagte Josuah Kent. Wir rasteten am Rande des Sumpflandes. Mein rechter Fuß schmerzte. Ich ging barfuß, denn meine Schuhe waren im Sumpf geblieben. Ich war mit dem bloßen Fuß auf einen morschen Ast getreten. Der Ast war unter meinem Fuß zerbrochen, aber er war noch hart genug gewesen, mich an der Ferse zu verletzen. Josuah Kent hockte mir gegenüber im nassen Gras. Er wirkte müde und abgespannt. Seine einfache Leinenkleidung war schmutzig und naß. Seine Wangen wirkten eingefallen, unter seinen Augen lagen tiefe Ringe. »Mein Vater war Sklave«, sagte er. »Mein Großvater war Sklave, ich wurde als Sklave geboren.« Er sagte es in seinem einfachen
Englisch, das ich manchmal nur schwer verstand, im singenden, gedehnten Tonfall der Südstaatler. Wir waren hintereinander gegangen, nachdem wir Kilhanys Hütte verlassen hatten, und hatten einige Worte gewechselt. Er hatte sein Mißtrauen mir gegenüber aufgegeben und glaubte mir endlich, daß ich nichts mit der Miliz oder mit irgendeiner anderen Behörde zu tun und gar kein Interesse daran hatte, ihm zu schaden. »Meine Mutter ist verkauft worden, als ich fünf Jahre alt war«, sagte er. »Ich weiß noch, daß ich damals geschrien und geweint habe, und meine Mutter hat geschrien und geweint. Aber der Master hat sie mitgenommen und verkauft, und ich erhielt nichts mehr zu essen, bis ich aufhörte, zu weinen. Zwei Jahre später starb mein Vater. Er trat in einen rostigen Nagel und kriegte eine Blutvergiftung. Danach wurde ich auf eine Tabakfarm nach Virginia verkauft.« Josuah Kent wandte den Kopf, als er hörte, daß sein Bruder stöhnte. Noah Kent lag flach ausgestreckt im Gras und wurde von Sarah und Morton Kilhany versorgt. Kilhany wechselte den Verband des großen Negers und strich eine Kräutersalbe auf die Wunden, die die dicken Bleischrote gerissen hatten. »Warum habt ihr euch nicht gewehrt?« fragte ich. »Ich hab nie gelernt, mich zu wehren«, sagte er. »Wir wurden geschlagen, und wer dann immer noch nicht gehorchte, wurde getötet. Ein Sklave war teuer, aber wenn er Unruhe stiftete und die anderen aufwiegelte, war es billiger, ihn umzubringen, als zuzusehen, wie die anderen Sklaven vielleicht auch aufrührerisch wurden. Außerdem wurden wir nicht immer schlecht behandelt. Wir mußten sehr schwer arbeiten, aber solange wir den Mund hielten und gehorchten, konnten wir in Frieden leben.« »Du bist trotzdem davongelaufen.« »Weil ich wieder verkauft werden sollte«, sagte er. »In Virginia bin ich nicht lange geblieben. Die Tabakpflanzung war nicht groß, ein Unwetter vernichtete die ganze Ernte. Da wurde ich wieder verkauft, auf die Baumwollplantage hier in Missouri. Sarah war schon hier. Wir erhielten vom Master die Erlaubnis, zu heiraten, und dann wurde Ebony geboren.«
»Ihr mußtet um Erlaubnis fragen, ob ihr heiraten dürft?« Josuah nickte. »Und von da an haben wir nicht schlecht gelebt. Wir hatten eine kleine Hütte für uns allein. Sarah hat damals noch in der Küche des Masters gearbeitet. Vor zwei Jahren plötzlich sagte der Master zu mir, daß er mich und drei andere verkaufen würde. Wir sollten uns waschen und fertigmachen. Ich wollte nicht, denn da waren ja noch Sarah und Ebony. Da wurde ich geschlagen. Sie haben mich mit Gewalt aus der Hütte geholt. Sarah wurde zusammen mit Ebony auf die Felder geschickt, und mich haben sie auf einen Wagen geladen und mit den drei anderen nach Independence gebracht. Dort bin ich davongelaufen.« Seine Gedanken schweiften für einem Moment ab. Er schwieg und blickte an mir vorbei ins Leere. »Ich wußte nichts von der Freiheit«, sagte er unvermittelt, nachdem er fast eine Minute geschwiegen hatte. »Als ich in Iowa war, habe ich mich in der ersten Zeit vor jedem weißen Mann verbeugt. Ich habe zum erstenmal Geld verdient. Dann habe ich von der Anti-Slavery-Society gehört, die hilft, Sklaven zu befreien und in sklavereifreie Staaten zu bringen. Die haben mir geholfen und den Fluchtplan für Sarah, Ebony und Noah ausgearbeitet.« »Manchmal«, sagte er, »war das Leben in der Sklaverei leichter. Man braucht nicht zu denken. Es wird einem alles abgenommen. Aber man ist kein Mensch.« Er richtete sich auf und ging zu seinem Bruder hinüber. Sarah hatte sich auch erhoben. Josuah umarmte und küßte sie. Er ging mit ihr an den Eichen vorbei und verschwand aus unserem Blickfeld – bis Morton Kilhany rief, daß es weitergehe. Er half Noah Kent auf die Beine. Der große Neger schwankte. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Er ließ sich von Kilhany zu dessen Pferd führen und stieg in den Sattel. Josuah und Sarah kehrten zurück. Sie sahen glücklich aus. Josuah strich im Vorübergehen Ebony über den Kopf. Der Junge saß apathisch im Gras. Er schien gar nicht richtig zu begreifen, was eigentlich vor sich ging. Auch er hatte nie Freiheit erlebt. Auch für ihn würde vieles noch schwer werden. Aber er war jung, er hatte sein ganzes Leben noch vor sich und alle Chancen, die Zeit der Sklaverei
zu vergessen. Ich lud mir mein Bündel auf die Schulter, und auch Josuah, Sarah und Ebony nahmen ihre Bündel auf. Shita sprang neben mir her. Kilhany nahm sein Pferd am Zügel und führte es voraus. Wir schlossen uns an. Der Sumpf lag hinter uns, aber das Waldgebiet, in dem wir uns bewegten, schien undurchdringlich und war so verwachsen, daß ich mich immer wieder wunderte, mit welcher Sicherheit Morton Kilhany die schmalen, häufig von dichtem Buschwerk verborgenen Wildpfade fand. Ich hatte mich mit der Tatsache abgefunden, daß ich Major Drago nicht mehr verfolgen konnte und das gestohlene Geld verloren war. Selbst wenn es mir gelingen sollte, nach Verlassen des Brushlandes mich von Kilhany abzusetzen, war es aussichtslos, die Spur Dragos wieder aufzunehmen. Das Land war groß, und ich war ein Fremder hier. In diesem Moment war ich Kilhany fast schon wieder dankbar, daß er mich gezwungen hatte, ihn und die befreiten Sklaven zu begleiten. Jeder Tag, den ich mit ihm unterwegs war, zögerte meine Rückkehr nach St. Joseph und das Zusammentreffen mit Cargo Flatt hinaus, dem ich von meinem Versagen berichten mußte. Bis ich Gelegenheit hatte, heimzukehren, war Cargo Flatt sicherlich weitgehend über die Ereignisse informiert, und sein Zorn würde verraucht sein. Vermutlich würde ich gnädig davonkommen. Trotzdem stand für mich fest, daß ich meine wenigen Sachen würde packen müssen. Ich wunderte mich selbst darüber, daß mich diese Aussicht nicht sonderlich schreckte. Vermutlich hatte ich mich schon so sehr an ein unstetes, unruhiges Leben gewöhnt, daß ich es als normal auffaßte und als schicksalsgegeben hinnahm. Ich verschwendete auch nicht viel Zeit darauf, an Major Drago, das gestohlene Geld und den toten Nashville Tucker zu denken. Der schmale Trampelpfad, den wir uns entlangbewegten, erforderte meine ganze Aufmerksamkeit, denn ich hatte keine Lust, meine nackten Füße zu verletzen. Der Riß in meiner rechten Ferse schmerzte schon genug. Es war keine schlimme Verletzung, aber ich befürchtete, daß Schmutz in die Wunde geriet. Das konnte eine böse Entzündung zur
Folge haben. Andererseits hielt der Schmerz, der mich jedesmal, wenn ich mit dem rechten Fuß auftrat, durchzuckte, mich wach. Ich war ganz sicher, daß ich sonst im Stehen eingeschlafen wäre. Die Müdigkeit wurde immer stärker in mir, die Erschöpfung ließ meine Glieder schwerer und schwerer werden. Aber Morton Kilhany hielt nicht an. Auch wenn die Neger sehr mitgenommen aussahen, konnte ich nicht erwarten, daß sie nach einer Rast verlangen würden. Ihnen saß die Furcht vor der erneuten Gefangennahme und Versklavung im Nacken. Sie würden vermutlich noch weiterlaufen, wenn sie schon halbtot waren. Also mußte auch ich durchhalten. Ich konnte nicht erwarten, daß sie Rücksicht auf mich nahmen, auch wenn ich nicht freiwillig an dem Unternehmen teilnahm. Es ging um ihre Zukunft, um ihr Leben. Wenn ich sie behinderte, machte ich mich zu ihrem Feind, und das würde mich in eine noch viel unangenehmere Situation bringen. So hielt ich den Mund, hungerte weiter, ertrug meine Erschöpfung und fragte mich bald, wie ich es schaffte, trotz meiner großen Müdigkeit immer wieder meine schmerzenden Füße zu heben und weiterzulaufen. Stunde um Stunde, Meile um Meile. Irgendwie, kaum noch Herr meiner selbst, stolperte ich dahin. Meine bei den Apachen erworbene Zähigkeit und beinahe unmenschliche Ausdauer halfen mir wieder einmal. Die Sonne stieg höher und höher und brannte gnadenlos auf das Buschland hernieder, in dem sich die Hitze bald staute wie in einem Ofenrohr. Das Atmen wurde zur Qual, der Schweiß brach uns aus allen Poren. Die Hitze raubte uns die letzte Energie. Es war gegen Mittag, als wir, am Ende unserer Kraft, auf eine Lichtung am Missouri-Ufer wankten. Auch Kilhany war fertig. Sein Gesicht war grau, seine Augen lagen in tiefen Höhlen, seine Schritte waren längst nicht mehr sicher. Der mächtige Strom, der an dieser Stelle gewiß hundertfünfzig Yards breit war, schleppte sich vorüber, matt im Sonnenlicht glänzend, ein gewaltiges, silbernes Band. Wir erreichten das Wasser und ließen uns einfach fallen, um zu trinken und uns den Schweiß vom Gesicht zu waschen.
Danach scheuchte uns Kilhany in den Wald zurück, wo wir uns endlich niederlassen durften. Kilhany blieb am Rand der Lichtung stehen und beobachtete den Strom. Wir anderen streckten uns schweigend im Moos aus. Kaum lag ich, da fielen mir die Augen zu. Ich hatte wohl am längsten von allen nicht geschlafen, und so sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte nicht verhindern, daß ich einnickte und die Anspannung aus meinem geschundenen Körper wich. * »Steh auf!« schrie jemand in mein Ohr. Ich fuhr mit dem Oberkörper hoch, noch bevor ich richtig wach war. In meinem Schädel drehte sich alles, und mir war so übel vor Erschöpfung und Hunger, daß ich hätte kotzen können. In meinen Ohren rauschte und dröhnte es. Ich wollte aufstehen, aber mir war schwindlig, daß ich vornüberkippte und mit dem Gesicht voran ins Moos fiel. Dann erst hörte ich leise Hufgeräusche, und irgendwo bellten große Hunde. Ganz in meiner Nähe knurrte Shita aufgeregt, und da wurde ich wach. Ich richtete mich auf die Knie auf. Gerade half Morton Kilhany Noah Kent dabei, das Pferd zu besteigen. Josuah stand breitbeinig am Waldrand und hielt sein Gewehr in den Fäusten. Sarah hatte Ebony an sich gepreßt. Ihr Gesicht war vor Angst verzerrt. Josuah wirbelte herum. Auch in seinen Augen flackerte Furcht. »Sie reiten am Fluß entlang«, stieß er hervor. »Sind die Hunde frei?« fragte Kilhany. Auch er konnte seine Erregung kaum verbergen. »Noch nicht«, sagte Josuah. »Los, weg!« Kilhany nahm sein Pferd am Zügel und zerrte es hinter sich her durch das Dickicht. Josuah stieß seine Frau und seinen Sohn unsanft hinter Kilhany her. Dann folgte er, am Schluß liefen Shita und ich. Als ich im Unterholz verschwand und mich noch einmal umschaute, sah ich auf der Lichtung vier Reiter auftauchen und ihre Pferde zügeln. Jeder führte an einer langen Leine einen riesigen
Hund mit sich. Sklavenjäger. Ich hatte noch nie welche gesehen, trotzdem wußte ich sofort, um was für Männer es sich handelte. Ihnen war anzusehen, daß es ihre Arbeit war, menschliches Wild aufzuspüren, zu hetzen und zu stellen. Es waren rohe, ungeschlacht wirkende Männer in abgewetzter, schmutziger Kleidung, unrasiert und mit brutalen Gesichtern. Außer zusammengerollten Peitschen trugen sie große Revolver am Gürtel. In den Scabbards an ihren Sätteln steckten abgesägte Schrotflinten. Die Hunde hielten die Köpfe tief gesenkt und hatten die Nasen dicht am Boden. Sie schnüffelten aufgeregt auf der Lichtung herum, und die Männer entdeckten unsere Spuren am Flußufer. Mehr sah ich nicht. Ich stolperte, konnte mich gerade noch fangen, bevor ich stürzte, wandte mich um und folgte hastig den anderen. Meine Erschöpfung spürte ich kaum noch. Die Nähe der tödlichen Gefahr mobilisierte meine letzten Energien. Ich war erfahren genug, um die Bedrohung, die von den vier Menschenjägern ausging, erfassen zu können. Mir war klar, daß sie versuchen würden, die vier Neger lebend zu stellen. Denn soviel hatte ich schon begriffen, auch wenn es mir bei meiner Erziehung schwerfiel: Sklaven waren keine Menschen in den Augen ihrer Herren, sondern eine Art Ware, die einen gewissen Wert darstellte, den man nach Möglichkeit zu erhalten suchte und nur im äußersten Fall vernichtete. Das galt aber nicht für Kilhany und mich. Wir waren Weiße, an uns konnten sich die Kerle ungehindert austoben. Dabei würden sie gewiß nicht fragen, in wieweit ich in die ganze Sache verwickelt war. Es würde sie nicht interessieren, daß ich mich nur gezwungenermaßen an dem Befreiungsunternehmen beteiligte. Kilhany und ich schwebten daher in größerer Gefahr als Josuah Kent und seine Familie. Als ich hinter mir hörte, daß die Jäger durch das Unterholz brachen und die riesigen Hunde, die ihre Beute witterten, gierig und wild jaulten, beschleunigte ich unwillkürlich meine Schritte. Meine müden, schmerzenden, bleischweren Füße bewegten sich schneller,
als ich es für möglich gehalten hätte. Ich lief um mein Leben und stieß fast vor mir gegen Josuah Kent, der wiederum von seiner Frau und seinem Sohn aufgehalten wurde, die nicht so schnell vorankamen. Das Knacken und Brechen im Dickicht hinter uns wurde immer lauter. Wir hatten kaum noch eine Chance. Da öffnete sich vor uns das Brushland. Der Missouri tauchte vor unseren Blicken auf. Er machte eine Biegung, und oberhalb der Flußkrümmung standen die Ruinen einer alten Fährstation. Kilhany strebte dem verfallenen Gemäuer zu. Kniehohes Gras bedeckte das Land am Fuß des Hügels. Wir stolperten den Hang hinauf. Auch der Hof der ehemaligen Station war von Gras und Dornensträuchern überwuchert. Wilder Wein rankte sich an der Vorderfront des einstigen Stationsgebäudes empor. Eine eigenartige Ausbuchtung befand sich unmittelbar an der Westseite der Station im Boden. Mir wurde klar, daß der Missouri offenbar einmal hier entlanggeflossen war. Dann mußte er bei einer Überschwemmung sich ein neues Bett, etwas weiter westlich, gesucht haben. Dadurch war er an dieser Stelle so flach geworden, daß eine neue Furt entstanden war und sich ein Fährbetrieb nicht mehr lohnte. Das mußte schon viele Jahre her sein, denn das ehemalige Flußbett war mittlerweile auch mit Gras und Büschen bewachsen. Wir liefen über den Hof der Station, die einmal aus fünf Holz- und Adobegebäuden bestanden hatte, von denen größtenteils nur noch die Mauern standen. Lediglich vom Hauptgebäude war das Dach noch teilweise erhalten. Als wir von Kilhany in das alte Stationshaus gedrängt wurden, brachen die Sklävenjäger gerade aus dem Dickicht. Ihre Hunde gebärdeten sich wie verrückt. Sie rissen die Reiter fast aus den Sätteln. Und die Männer spornten ihre Pferde an und jagten hinter uns den Hügel herauf. Kilhany betrat das Stationsgebäude als letzter. Er stützte den verletzten Noah Kent. Ein Schuß krachte, und Kilhany versetzte Noah einen heftigen Stoß, der den großen Neger weit in den
ehemaligen Warteraum des Hauses schleuderte. Brüllend stürzte er auf die morschen, teilweise zerbrochenen Dielen, und krümmte sich vor Schmerzen zusammen. Kilhany selbst warf sich zur Seite, fast gleichzeitig prasselte eine Schrotladung gegen den alten Türrahmen, die das spröde Holz in tausend Stücke riß. Ein paar Schrote wirbelten durch den Raum und blieben mit häßlichen Lauten in den Adobewänden stecken. Sarah ließ sich zu Boden fallen und riß Ebony mit sich. Sie weinte jetzt laut und stieß klagende Schreie aus. Noah und Kilhany stürmten zu den Fenstern des Raumes. Ich zog meinen Navy-Colt unter dem Hemd hervor und folgte ihnen. Dicker Staub lag auf dem Boden und den wenigen, wurmstichigen Möbeln, die noch herumstanden. Die lange Theke war umgestürzt. Spinnweben hingen von der Decke und den Wänden. Auf dem Hof waren die Reiter im Schutz der ehemaligen Magazingebäude und Ställe abgestiegen. Ihre Hunde bellten laut und drohend. Ich warf nur einen kurzen Blick aus dem Fenster. Unsere Lage war verfahren und schlecht. Die vier Kerle konnten uns in dem Stationsgebäude festnageln, während sie selbst Verstärkung holten. Sie konnten uns aber auch einfach nur aushungern. Wie man es auch wendete und drehte, auf den ersten Blick hatten die Sklavenjäger alle Trümpfe in der Hand. Sarah Kent fing jetzt unter Tränen an, laut und schluchzend zu beten. Sie hatte sich auf die Knie aufgerichtet. Ihr Oberkörper schwankte wie ein Halm im Wind hin und her. Sie hatte die schwieligen Hände gefaltet und der Decke zugereckt. Ihre kreischende, überschnappende Stimme füllte den Raum aus. Morton Kilhany schrie sie an. Aber sie hörte ihn nicht, und Josuah ging zu ihr hinüber und schlug ihr ins Gesicht. Da fiel sie mit dem Oberkörper nach vorn, bettete ihr Gesicht in die gefalteten Hände und wimmerte leise weiter. Ebony lag neben ihr am Boden und weinte ebenfalls. Er weinte stumm, sein Gesicht war wie versteinert. Die Tränen rannen über seine ebenholzschwarzen Wangen, seine Lippen zitterten, seine Arme und Beine zuckten ab und zu unkontrolliert. Es sah fast so aus,
als habe er den Verstand verloren. Ich wandte mich vom Fenster ab und eilte durch den Raum zu der Treppe im Hintergrund, die ins obere Stockwerk führte. Sie sah nicht sehr vertrauenerweckend aus, aber darüber konnte ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Es ging schließlich um unseren Hals. Ohne lange zu überlegen, stürmte ich die Treppe hinauf, immer zwei oder drei Stufen auf einmal nehmend. Als ich die Hälfte geschafft hatte, gab das Holz plötzlich berstend unter mir nach. Mir blieb fast das Herz stehen. Ausgerechnet mit meinem verletzten, nackten rechten Fuß brach ich durch eine Stufe. Ich fühlte einen scharfen Schmerz, als die spitzen Kanten der Bruchstelle mir die Haut über dem Fußknöchel und der Wade aufrissen. Dann hatte ich mich gefangen und mich der Länge nach auf die Treppe geworfen, um nicht tiefer zu stürzen. Shita folgte mir jetzt wild jaulend mit großen Sätzen, während draußen geradezu ein Feuerwerk losbrach. Wahre Hagelschauer von Geschossen prasselten gegen die alte, spröde Außenwand des Stationsgebäudes, durchschlugen sie teilweise und rissen große Stücke aus dem verwitterten Mauerwerk. Sarah Kent fing wieder an, hysterisch zu schreien und zu beten. Josuah und Kilhany hockten am Boden, mit dem Rücken zur Wand, während die Kugeln wie zornige Hornissen durch die leeren Fensterhöhlen hereinjaulten. Ich zog mein rechtes Bein aus dem Loch in der Treppe. Dünne Blutfäden rannen mir am Unterschenkel hinunter, in meinem Fuß steckten zwei Holzsplitter. Ich zog sie vorsichtig heraus, biß die Zähne zusammen und erhob mich. Vorsichtig lief ich die Treppe ganz hinauf. Shita folgte mir auf dem Fuße und leckte das Blut von meinem Bein. Ich eilte über die knisternden, knackenden, ausgetretenen Dielen des Obergeschosses, immer in der Befürchtung, auch sie könnten brechen, und hockte mich neben einem der Fenster nieder. Von hier aus hatte ich einen Überblick über den ganzen Hof und sah drei der vier Sklavenjäger in ihren Deckungen. Gerade in diesem Moment verstummten draußen die Schüsse.
10. »Kommt raus!« schrie eine rauhe Stimme vom Hof. »Werft die Waffen durch die Fenster und kommt mit erhobenen Händen raus, sonst zünden wir den alten Kasten an und lassen euch braten wie gut durchgeklopfte Steaks.« Unter mir blieb alles still. Die rauhe Stimme auf dem Hof ertönte wieder: »Wir wissen, daß du drin bist, Kilhany. Diesmal kommst du nicht ungeschoren davon. Du hast einen Mann erschossen, dafür wirst du hängen. Diesmal sitzt du fest. Du hast keine Chance, Kilhany. Es ist aus mit dir. Sei vernünftig. Wir machen es gnädig, wenn du freiwillig aufgibst.« »Geht zur Hölle!« Das war Morton Kilhanys Stimme. Der Mann auf dem Hof lachte. Er lachte auch noch, als ich auf ihn zielte. Er wußte nicht, daß ein Revolver auf ihn gerichtet war. Auch die anderen Sklavenjäger in ihren Deckungen lachten, und ich zog den Abzug durch. Ein fußlanger Mündungsblitz zuckte aus dem Lauf des NavyColts. Die Waffe vibrierte in meiner Faust. Das Krachen der Schußdetonation rollte über den Hof. Stinkend kräuselte sich eine Pulverdampffahne aus der Mündung des Revolvers. Der Sprecher der Sklavenjäger wurde von der Kugel in den Leib getroffen. Sein Lachen brach ab, als der Aufschlag des Geschosses ihn einmal um die Achse wirbelte. Er verlor das Gleichgewicht, torkelte aus seiner Deckung heraus und blieb sekundenlang zusammengekrümmt stehen. Ein unartikuliertes Schmerzgebrüll rang sich aus seiner Kehle. Dann fiel unter mir ein Schuß, und der Sklavenjäger wurde nach hinten gestoßen, fiel auf den Rücken und streckte Arme und Beine von sich. Von seinem Kopf war nicht mehr viel vorhanden. Eine großkalibrige Gewehrkugel hatte ihn gut getroffen. Ich hörte die Stimme Josuahs: »Ich habe ihn erwischt, Master Kilhany. Ich habe ihn getroffen. Wir kriegen auch die anderen!« Was er noch sagte, ging im Donnern der Schüsse unter, die die übrigen Sklavenjäger jetzt auf das Haus abfeuerten. Sie schossen auch zum Obergeschoß hinauf. Aber da sie nicht
gesehen hatten, aus welchem Fenster der Schuß gefallen war, der ihren Kumpan getroffen hatte, brauchte ich mich nicht zu sorgen. Während der Kugelhagel gegen die Außenwand krachte, hockte ich am Boden und untersuchte mein rechtes Bein auf weitere Holzsplitter. Ich hatte Glück gehabt. Die Verletzungen erwiesen sich durchweg als kleine Kratzer, die schon nicht mehr bluteten. Nur meine Ferse sah übel aus. Sie wurde von einem klaffenden Riß gezeichnet, der mir sicherlich noch zusetzen würde, wenn ich weiterhin unbeschuht laufen mußte. Draußen verstummte das Gewehrfeuer plötzlich, und dann hörte ich Noah Kent von unten schreien: »Das Haus brennt! Es brennt, mein Gott, diese Schweine!« Ich fuhr hoch und humpelte quer durch den Raum, in dem ich mich befand, über einen schmalen Flur, in die gegenüberliegende Kammer, zur Rückseite des Hauses. Die Kammer war mit Gerumpel angefüllt, so daß ich nur mühsam zum Fenster gelangen konnte. Als ich den Kopf hinausstreckte, krachte ein Schuß, und ich spürte den sengenden Luftzug einer Kugel an meiner linken Wange. Ich zog den Kopf ein und sah unter mir den vierten Sklavenjäger in eine Deckung hasten, dessen Versteck ich von Anfang an nicht hatte entdecken können. Das Haus brannte. Der Mann hatte eine Fackel unter die knochentrockenen und morschen Stützbalken gelegt. Sie hatten sofort Feuer gefangen. Gierig fraßen sich die Flammen durch das spröde Holz. Der leichte Wind, der von Westen über den Fluß strich, schürte das Feuer noch. Rasend schnell breiteten sich die Flammen aus, fraßen sich an dem alten Haus in die Höhe, hatten bereits die Fensterrahmen des Erdgeschosses erreicht und sprangen auf einen Schuppenanbau über. Mir blieb keine Zeit mehr. Ich verließ die Kammer und hetzte mit Shita zur Treppe zurück. Ein Teil des unteren Stockwerks brannte bereits. Die Flammen hatten die Fußbodendielen erfaßt und drangen immer weiter vor. Josuah Kent riß gerade seine Frau und seinen Sohn hoch und schleppte sie zu einem Seitenfenster, das die Flammen noch nicht erfaßt hatten. Vorn konnten sie nicht hinaus, denn da warteten die
Sklavenjäger und beschossen die Tür und die Frontfenster. Sarah Kent schrie abgehackt, schrill und klagend wie ein waidwund geschossenes Tier. Sie hielt Ebony fest an sich gepreßt. Auch der Junge wimmerte. Morton Kilhany hatte sich Noah auf die Schultern geladen. Er rief Josuah etwas zu, was aber im Prasseln der Flammen und Krachen der Schüsse unterging. Dann stürmte er mit dem Verletzten in die Flammenwand. Ich zögerte nicht länger und sprang mit großen Sätzen die Treppe hinunter. Der Schmerz, der von meinem rechten Fuß aufstieg, trieb mir Tränen in die Augen. Auf der letzten Stufe brach ich noch einmal durch das Holz, aber ich ließ mich geistesgegenwärtig nach vorn fallen und vermied es so, hängenzubleiben und mich noch schwerer zu verletzen. Kilhany und Noah konnte ich nicht mehr sehen. Glühend heiß waberte die Flammenlohe aus dem hinteren Teil des Hauses heran. Während Shita mir die Treppe herunter nachsprang, eilte ich zu dem Fenster, durch das Josuah Kent gerade seine Frau stieß. Ebony befand sich bereits draußen. Die Luft wurde immer knapper. Die Rauchentwicklung nahm rasch zu. Ich hustete, meine Augen tränten. Hinter Josuah Kent schwang ich mich auf das Fensterbrett und ließ mich hinausfallen. Shita sauste derweil zur Tür auf den Hof hinaus. Kugeln flogen uns um die Ohren. Ich blieb flach im Staub liegen, während Josuah seine Frau und seinen Sohn auf einen flachen Schuppen zujagte, von dem nur noch zwei Wände standen. Sarah Kent stolperte in die Ruine des Schuppens. Ebony aber lief daran vorbei. Er bewegte sich wie in Trance. Josuah schrie auf. »Zurück!« brüllte er. »Wirf dich hin, bleib flach liegen oder komm zurück!« Der Junge hörte nicht. Er schien blind und taub zu sein. Er war offenbar völlig durchgedreht, und ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich hatte ein anderes Leben hinter mir als er. Ich war an Kampf und Tod gewöhnt. Für den Jungen war das alles, was in den letzten Tagen auf ihn eingestürmt war, zuviel. Wahrscheinlich hatte er einfach die Nerven verloren.
Josuah schrie sich fast die Kehle aus dem Leib. Dicht neben ihm schlugen Geschosse in den Boden. Er warf sich notgedrungen in Deckung und hielt seine Frau fest, die hinter dem Jungen herlaufen wollte. Ein riesiger Schatten jagte unvermittelt über den Hof der alten Station. Einer der Sklavenjäger hatte seinen Hund losgelassen. Das Tier war fast so groß wie ein Kalb. Es folgte zielstrebig dem Negerjungen, der den Hügel hinunter auf den Fluß zulief. Sekundenlang wurde es still, nur das Prasseln der Flammen war zu hören. Ich dachte, mir würde das Herz stehenbleiben. Der Hund vollführte riesige Sätze. Er holte das Kind ein. Ein mächtiger Stoß mit den Vorderpfoten schleuderte den schmächtigen Junge zu Boden. Der Junge rollte herum, sah den Hund und brüllte verzweifelt auf. Da war plötzlich Shita da. Ich wußte gar nicht, wo er auf einmal hergekommen war. Er war gerade halb so groß wie der gewaltige Bluthund, aber er griff ihn ohne zu zögern an. Wilde Angst packte mich. Shita hatte keine Chance. Der Hund würde ihn in Stücke reißen, Shita, meinen Freund. Ich wollte ihn nicht verlieren. Ungeachtet der Gefahr sprang ich auf und stürzte geduckt und im Zickzack laufend über den Hof. Der Bluthund war inzwischen herumgefahren und stürzte sich auf Shita, der wild kläffend zurückwich. Als der große Hund auf ihn losging, drehte er sich geschickt um und sprang ihn von der Seite an. Er biß den riesigen Hund in den Hals, wurde aber, als der sich herumwarf, durch die Luft geschleudert. Er überschlug sich und rollte jaulend über den Boden. Mit zwei Sätzen war der große Hund über ihm und riß sein Maul auf. Ich war noch etwa zehn oder zwölf Schritte entfernt und feuerte von der Hüfte aus. Ich war wie von Sinnen und sah Shita bereits zerfetzt und blutend im Staub liegen. Wieder und wieder riß ich den Hammer des Navy-Colts zurück, bis er klickend auf eine leere Kammer schlug. Der riesige Bluthund zuckte unter den Kugeleinschlägen zusammen und schwankte. Blut rann ihm aus dem weitgeöffneten Maul, bedeckte sein kurzes Fell. Shita sprang auf und warf sich
bellend gegen den Bluthund, der nur schwach nach ihm schnappen konnte und dann auf die Seite stürzte. Shita wich, offenbar selbst überrascht über seinen »Erfolg«, knurrend zurück, während der mächtige Hund alle viere von sich streckte und verendete. Fast im selben Moment begannen von den ehemaligen Magazingebäuden her, hinter denen die Sklavenjäger in Deckung lagen, Schüsse zu krachen. Ich stand wie eine Zielscheibe auf dem Präsentierteller, und es war geradezu ein Wunder, daß ich nicht getroffen wurde. Mit einigen wenigen Sätzen hetzte ich auf die Schuppenruine zu, in der sich auch Josuah und Sarah Kent befanden. Hinter dem brennenden Stationshaus bemerkte ich nun auch Morton Kilhany und Noah. Als ich in den Schuppen sprang, sah ich Josuahs Gesicht dicht vor mir. Es verzerrte sich auf einmal, und von seinen Lippen löste sich ein geradezu unmenschlicher Schrei. Atemlos drehte ich mich um und sah, wie Ebony stürzte. Eine der Kugeln, die für mich bestimmt waren, hatte ihn getroffen. Das Geschoß wirbelte Ebony von den Beinen. Seine Arme flogen unkontrolliert hoch. Dann fiel er auf den Rücken und starb, ohne einen Laut von sich zu geben. Keine fünf Schritte von der Schuppenruine entfernt blieb die Leiche des mageren Negerjungen liegen. * Ich dachte, Sarah Kent würde nun endgültig den Verstand verlieren. Sie schrie, wie ich noch nie einen Menschen schreien gehört hatte. Josuah mußte sie packen und sich auf sie werfen, um sie daran zu hindern, daß sie zu der Leiche des Jungen hinauslief. Dabei war ihm anzusehen, daß er selbst fast durchdrehte. Auch ich starrte entsetzt auf den Hof hinaus, während krachend und berstend hinter uns Teile des brennenden Hauptgebäudes in sich zusammenstürzten. Eine unerträgliche Hitzelohe waberte über den Hof. Glühende Asche wirbelte wie ein feiner, rötlicher Nebel auf. Danach wurde es still. Sogar das durchdringende Wimmern Sarah
Kents verstummte. Das Feuer fraß das alte Stationsgebäude. Es ließ nicht einen Balken stehen, verschonte nicht einen Dachsparren, nicht eine Bodendiele. Als das Feuer endlich in sich zusammensank und der beißende Gestank von Ruß, verkohltem Holz und erkaltender Asche über dem Hügel lag, sank bereits Dämmerung auf das Land. Stunden waren verstrichen, in denen die Sklavenjäger sich nicht mehr gerührt hatten. Ab und zu hörten wir ihre Hunde bellen. Ich lud in Ruhe meinen Navy-Colt nach. Der größte Teil der Vorräte, die Morton Kilhany für uns zusammengepackt hatte, war verbrannt. Josuah und Sarah Kent hatten ohnehin weder gegessen noch getrunken. Ich hatte meinen Hunger mit trockenem, hartem Brot gestillt und Wasser aus einer Feldflasche dazu getrunken. Shita, der sich nach einer Weile bei mir eingefunden hatte und ausgiebig für seinen Einsatz loben ließ, mußte sich mit der gleichen kargen Kost zufriedengeben. Mit Morton Kilhany verständigte ich mich nur mittels Zeichen. Er befand sich noch immer mit Noah Kent hinter der verkohlten Ruine. Als es jetzt dunkel wurde, winkte er mir zu. In der rechten Faust hielt er seinen Revolver. Ich verstand. Zögernd schaute ich Josuah und Sarah an. Aber sie schienen mit offenen Augen zu schlafen. Sarah lag in Josuahs Armen und bewegte lautlos die Lippen, formte Worte und Sätze, die niemand verstehen konnte. Josuah hielt sie fest umklammert und stierte ins Leere. Ich erhob mich und verließ die Schuppenruine in südlicher Richtung, so daß ich vom Hof aus nicht gesehen werden konnte. Ich bewegte mich den Hügel hinunter und schlug dann einen Bogen. Shita blieb zurück. Er schien der Meinung zu sein, seinen Teil an diesem Unternehmen schon geleistet zu haben, und damit hatte er nicht mal unrecht. Ich bewegte mich vorsichtig und geduckt durch das hohe Gras am Fuß des Hügels, um in den Rücken der Sklavenjäger zu gelangen. Als ich den halben Hügel umrundet hatte, begann oben Morton Kilhany zu schießen. Auch er hatte seine Deckung verlassen, denn die Mündungsblitze zuckten am äußersten Ostrand des Hofes auf. Er feuerte drei oder vier Schüsse ab, dann wurde das Feuer erwidert.
Ich verharrte nur kurz, lauschte zum Hof hinauf und bewegte mich dann wieder. Nach wenigen Minuten hatte ich den Hügel umrundet und stieg den Hang wieder hinauf. Die alten Magazingebäude, die den Sklavenjägern als Deckung dienten, wurden sichtbar. Die Dunkelheit war in der Zwischenzeit immer weiter fortgeschritten. Im Westen verglühte die Sonne über dem großen Strom. Ich bewegte mich lautlos und pirschte mich an die Sklavenjäger heran wie an ein jagdbares Wild. Die Hunde machten mir einen Strich durch die Rechnung. Ich kam mit dem Wind, der schon am Spätnachmittag gedreht hatte und nun meine Witterung den Hügel hinauftrug. Ich war keine zehn Yards mehr von den alten Magazinhütten entfernt, als die Hunde zu bellen begannen. Ich ließ mich sofort ins Gras sinken und verharrte reglos, aber die Hunde verstummten nicht, und plötzlich tauchten zwei von ihnen über mir auf. Sie waren freigelassen worden und glitten wie Ungeheuer durch die Dunkelheit heran. Sie hatten mich längst gewittert, mir blieb keine Wahl. Knurrend sprangen sie durch das Gras, ich sah die weißen Reißzähne blinken, sah ihre Augen rötlich wie Rubine glitzern. Sie hetzten auf mich zu. Ich schoß und traf den ersten zwischen die glänzenden Augen. Er brach wie vom Blitz getroffen zusammen, und an ihm vorbei sprang schattengleich der zweite Hund. Ich schoß, traf aber nicht. Der Hund jagte mit mächtigen Sätzen auf mich zu. Als ich mich aus dem Gras aufrichtete, sah ich über mir einen Mann auftauchen. Mir blieb keine Zeit, darauf zu achten. Ich schoß noch einmal, und der Hund wurde getroffen, als er nur noch wenige Schritte von mir entfernt war. Er überschlug sich beim Einschlag der Kugel, landete fast unmittelbar vor meinen Füßen und streckte die Pfoten von sich. Im selben Moment krachten über mir Schüsse. Ich ließ mich fallen, rollte blitzschnell durch das Gras, richtete mich halb auf und feuerte auf die Gestalt über mir. Ein erstickter Schrei ertönte. Ich sah den Mann schwanken, dann verschwand er. Ohne zu zögern, stürmte ich den Hügel hinauf. Da brach über mir
die Hölle los. Mündungsblitze zuckten über den Hof. Eine ganze Serie von Schüssen fiel in schneller Folge. Als ich die alten Magazingebäude erreichte, hatten die Sklavenjäger ihre Deckungen verlassen und stürmten über den Hof. Sie hatten auch den vierten Hund freigelassen. Er jagte mit gewaltigen Sätzen auf Morton Kilhany zu, der wie eine Rächergestalt auf dem Stationshof stand, breitbeinig, riesengroß und stark. Er hatte sich offenbar verschossen, denn er empfing den mächtigen Hund mit den bloßen Händen. Ich konnte nichts für ihn tun. Es ging alles viel zu schnell. Der Hund sprang ihn an, und Morton Kilhany fing ihm mit den Fäusten ab. Er stand wie ein Fels, schlug auf das gewaltige Tier ein, das aber nur um so wütender reagierte und ihn abermals ansprang und schließlich doch noch von den Beinen warf. Verbissen miteinander ringend wälzten sich Mann und Hund durch den Staub. Ein zweiter Mann tauchte hinter Kilhany auf. Erst dachte ich, es sei Josuah, aber es war Noah. Trotz seiner Verletzung stand er da und empfing die Sklavenjäger. Sie waren zu dritt, aber einer war erheblich verletzt – ich hatte gut getroffen. Ihn erwischte Noah als ersten. Er sprang ihm entgegen und rammte ihm das Gewehr in den Leib, so daß der Mann brüllend zu Boden ging. Noah schwang die Waffe herum und schlug mit dem Kolben zu. Ich schaute seitwärts, sah, daß einer der beiden anderen auf den großen Neger zielte, und schoß. Ich traf den Mann, tötete ihn aber nicht. Das erledigte Noah selbst. Er kämpfte wie der Teufel und erwischte auch den letzten Sklavenjäger, der vom Hof flüchten wollte. Danach wurde es still. Ich hastete zu Morton Kilhany hinüber. Als ich ihn erreichte, erhob sich der Renegat vom Boden. Der Mond trat hinter einer dunklen Wolke hervor, und das milchige Licht fiel direkt in Kilhanys Gesicht. Es war schweißbedeckt und von tiefen Falten zerfurcht. Er blutete aus einer breiten Schramme seitlich am Schädel, und auch seine Hände bluteten. Der große Hund blieb zu seinen Füßen liegen. Er hatte das mächtige Tier mit bloßen Händen erwürgt, bevor es ihm hatte die Kehle durchbeißen können.
11. Wir schliefen dicht aneinandergedrängt in der Stallruine der alten Station. Es blieben uns nur wenige Stunden. Wir waren so erschöpft, daß wir keine Wache aufstellten. Jetzt hätte ich Gelegenheit gehabt, Kilhany und die Neger zu verlassen. Niemand hätte etwas gemerkt oder mich zurückgehalten. Ich dachte auch daran, bevor ich einschlief, aber ich setzte den Gedanken nicht in die Tat um. Ich wäre ein Lump gewesen, wenn ich die anderen alleingelassen hätte. Zwar war ich gezwungenermaßen dabei, aber ich hatte die Gegner Kilhanys jetzt kennengelernt, ich hatte an seiner Seite gekämpft. So etwas verbindet. Ich wollte, daß die Familie Josuah Kents nach Iowa durchkam. Sie hatte es verdient. Ich wollte ihr dabei helfen. Bevor ich einschlief, dachte ich daran, daß ich mir bei meiner Ankunft in St. Joseph vorgenommen hatte, ein ruhiges, friedliches Leben zu führen. Was war ich doch für ein Idiot gewesen. Ich mußte unwillkürlich grinsen, während ich die Augen schloß. Lange vor Sonnenaufgang erhoben wir uns wieder. Zusammen mit Kilhany ging ich zum Fluß hinunter. Shita lief neben uns her. Wir füllten die Feldflaschen auf und wuschen uns. Als wir zurück zur alten Station gingen, sagte Kilhany plötzlich: »Ich hätte dich nicht in die Sache reinziehen dürfen.« »Das ist jetzt egal«, sagte ich. »Es war unnötig«, sagte er. »Aber das ahnte ich nicht, als ich dich aus dem Sumpf holte. Ich konnte nicht damit rechnen, daß wir ein so verdammtes Pech haben würden. Wenn ich dich laufengelassen hätte, wäre das für uns kein Risiko gewesen. Du kannst gehen, wenn du willst.« »Ich bleibe«, sagte ich. Er reagierte nicht darauf, so als hätte er gar nichts anderes erwartet. »Das war mein letzter Job«, sagte er. Es war, als spräche er zu sich selbst. »Ich kann nicht mehr zurückkehren, nach allem, was passiert ist. Eigentlich bin ich froh, daß es vorbei ist. Man wird älter.« »Hat es früher nie Schwierigkeiten gegeben?«
»Nicht solche«, sagte er. »Jedes Fluchtunternehmen ist gut organisiert. Alles wird vorher durchgespielt. Natürlich hat es immer mal wieder Pannen gegeben, aber es ist nie passiert, daß uns die Reittiere geklaut wurden und wir zu Fuß starten mußten. Sklavenjäger waren immer hinter uns her, aber sie sind uns nie ernsthaft gefährlich geworden. Ein solcher Kampf hat früher nie stattgefunden.« Er schüttelte den Kopf. »Außerdem ist meine Hütte im Sumpf gefunden worden. Das war Zufall, sicher, aber es ist nun einmal geschehen. Wenn ich zurückkehrte, müßte ich ganz von neuem beginnen, dann müßte ich noch einmal alles aufbauen, ein gutes Versteck, neue Fluchtwege. Dazu braucht man Jahre. Ich habe nicht mehr die Nerven dazu. Und man wird mich noch mehr jagen als vorher, wenn erst die Leichen gefunden werden.« Ich schwieg zu seinen Worten. Ich hatte das Gefühl, daß er nicht einmal sehr traurig über diese Entwicklung war. Als wir auf den Hügel zurückkehrten, hatte Josuah mit den bloßen Händen eine Mulde in den Boden gekratzt. Er hatte Ebony in eine Decke gerollt und hineingelegt, jetzt schichtete er Erde und Steine über dem Leichnam auf. Sarah kniete die ganze Zeit über am Kopfende des Grabes und betete. Noah hatte sich neben ihr niedergelassen. Er hatte noch Schmerzen, aber es ging ihm schon besser. Kilhany hatte noch in der Nacht seinen Verband erneuert. Auf dem Hof lagen die toten Sklavenjäger und ihre Hunde, und hier und da tauchten Krähen über dem Fluß auf, die neugierig zum Hügel herüberschwebten und abdrehten, sowie sie uns gewahrten. Im Osten schimmerte bereits das Frühlicht durch den aufsteigenden Morgennebel. Wir bestiegen die Pferde der Sklavenjäger und ritten nordwärts. Vorher hatte Kilhany die Wunde an meinem rechten Fuß mit seiner Kräutersalbe bestrichen. Es juckte etwas, aber es schien zu helfen. Kilhany hatte wieder die Führung übernommen. Hinter ihm ritten Josuah und Sarah auf einem Pferd. Seit dem Tod von Ebony hatten sie keine Wort gesprochen. Aber sie hatten nicht aufgegeben, sie führten Kilhanys Anweisungen wiederspruchslos aus. Hinter ihnen ritt Noah, der sich ab und zu immer noch vor Schmerzen im Sattel
krümmte. Am Schluß folgte ich. Shita lief neben mir her. Kilhany kannte das Land wie seine Westentasche. Nachdem wir zwei Stunden nordöstlich geritten waren, erreichten wir einen langgestreckten Waldgürtel, der uns aufnahm. So gelangten wir zügig und ungehindert voran, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Wir ritten den ganzen Tag, ohne einmal anzuhalten. Kilhany duldete keine Pausen mehr, und das war richtig. Wir konnten nicht wissen, wann die Leichen der Sklavenjäger gefunden wurden. In jedem Fall würde vermutlich sofort die Verfolgung aufgenommen werden. Wir brauchten einen großen Vorsprung, um jeder Gefahr vorzubeugen. Als sich der Abend über das Land neigte, zügelte Kilhany sein Pferd und hieß uns, abzusteigen. Er sagte, daß wir St. Joseph bereits passiert hätten. Wir stillten unseren Hunger mit dem, was die Sklavenjäger in ihren Satteltaschen mit sich geführt hatten. Dann streckten wir uns im Moos aus. Wieder blieben uns nur wenige Stunden. Kurz nach Mitternacht erhoben wir uns wieder, bestiegen die Pferde und setzten den Weg nach Norden fort. Josuah und Sarah hatten sich etwas beruhigt. Sie wirkten gelöster als am Vortag. Aber Verbitterung und Schmerz hatten sich tief in ihre Gesichter gegraben. Diesmal ritten wir bis zum Abend und hielten auch dann noch nicht an. Nur einmal, als wir einen Fluß erreichten, durften wir absteigen, uns erfrischen und die Pferde tränken. Dann ging es weiter. Die Dämmerung sank auf uns nieder, und wir ritten Meile um Meile. Noah hatte wieder Schwierigkeiten mit seinen Verletzungen, aber er biß die Zähne zusammen und hielt durch. Irgendwann, ein paar Stunden nach Einbruch der Nacht, sagte Kilhany plötzlich: »Wir sind in Iowa.« Er deutete auf einige Grenzmarkierungen, Steinpyramiden mit einfachen Holzschildern. Noah hob den Kopf, faltete die Hände und flüsterte ein paar Worte, die ich nicht verstehen konnte. Josuah und Sarah reagierten gar nicht. Vermutlich hatten sie sich ihren ersten Schritt in die Freiheit anders vorgestellt – mit ihrem Sohn, der nicht länger hatte in
Versklavung leben sollen. Nach noch einmal einer Stunde tauchten vor uns schemenhaft die Häuser einer kleinen Stadt auf. Kilhany ritt etwas langsamer. »Das ist Lamoni«, sagte er nur. Dann schlug er einen Bogen und ritt mit uns von Westen auf die Stadt zu. * Wir standen im Hinterhof eines großen Backsteingebäudes. Kilhany hatte in einem bestimmten Rhythmus gegen die Tür geklopft, dreimal kurz, zweimal lang und wieder dreimal kurz. Dann geschah gar nichts. Wir warteten. Es vergingen einige Minuten, bis sich die Tür unvermittelt einen Spalt öffnete. Kilhany nannte seinen Namen, und aus der Tür trat ein halbnackter Mann. Er sprach kein Wort, sondern winkte nur stumm mit der Rechten. Wir traten ein. Der Mann führte uns durch einen finsteren Gang in einen kleinen Lagerraum, dessen Fenster sorgfältig verhangen waren. Hohe Fässer und Frachtkisten stapelten sich hier. Der Mann zündete eine Petroleumlaterne an. »Wir haben dich letzte Nacht schon erwartet«, sagte er. »Es ist etwas dazwischengekommen«, sagte Kilhany. »Ich muß dir sagen …« »Wer ist der Junge mit dem Hund?« unterbrach ihn der andere scharf. »Der ist in Ordnung«, sagte Kilhany. »Ich mußte ihn mitnehmen, und er hat uns verdammt gut geholfen.« Dann erzählte er die ganze Geschichte. Der Mann lauschte schweigend. Als Kilhany geendet hatte, wandte er sich den Negern zu. »Hört zu«, sagte er. »Der Tod eures Jungen tut mir leid, aber das darf uns jetzt nicht aufhalten. Wenn ihr glaubt, ihr seid frei, dann irrt ihr euch. So dicht an der Grenze treiben sich noch immer Sklavenjäger herum, die Schwarze fangen und verschleppen. Hier könnt ihr nicht bleiben, das ist nur eine Durchgangsstation. Leute wie ich und meine Freunde arbeiten unter großem Druck. Wenn
herauskäme, daß wir zur ›Anti-Slavery-Society‹ gehören, die ehemalige Sklaven nach Norden schleust, würde man uns das Dach über dem Kopf anzünden. Für den Rest der Nacht bleibt ihr hier und ruht euch aus. Vor Sonnenaufgang verlassen drei meiner Wagen mit Frachtgut die Stadt in Richtung Norden. Ihr seid dabei.« Er klopfte auf eins der großen Mehlfässer. »In diesen Fässern«, sagte er. »Sie haben einen Einsatz. Unten seid ihr, oben ist Mehl drin. Damit werdet ihr ins Landesinnere geschafft, dann hilft man euch weiter.« Noah nickte stumm. Josuah und Sarah reagierten gar nicht. Schweigend folgten sie dem Mann schließlich in einen Verschlag am hinteren Ende des Lagerraums. Hier lagen zusammengerollte Decken, mit denen sie sich ein Lager bereiten konnten. Der Mann kehrte zu Kilhany und mir zurück und musterte mich noch immer mißtrauisch. »Und du sagst, er sei in Ordnung?« »Unbedingt.« »Also gut.« Er zuckte mit den Schultern. »Du mußt es wissen. Er hat dir geholfen. Aber Geld kriegt er nicht.« »Auf Ihr Geld kann ich verzichten«, sagte ich. Der Mann warf mir einen seltsamen Blick zu, zog dann einen Lederbeutel aus der Tasche und zählte Kilhany zehn goldene Double-Eagle in die Hand. »Schade, daß du nicht mehr zurückkannst«, sagte er. »Ich bin ganz froh«, sagte Kilhany. »In den letzten Jahren wurde es ohnehin zuviel, und die Miliz und die Sklavenjäger waren mir immer verdammt hart auf den Fersen. Manchmal habe ich gedacht, ich dürfte mich in keine Stadt mehr trauen.« »Bist du versorgt? Weißt du schon, was du anfangen wirst?« »Ich komme zurecht.« Kilhany steckte das Geld ein. »Ich hab im Sumpf nicht viel ausgeben können und einiges zurückgelegt. Das wird fürs erste reichen.« »Du kriegst Hilfe, wenn du welche brauchst«, sagte der Mann. »Du kennst unsere Kontaktleute. Wenn du dich an sie wendest, bringen sie dich irgendwo in der Organisation unter, wo man dich nicht kennt.«
»Danke«, sagte Kilhany. »Almosen will ich nicht. Und diese Arbeit ist nichts mehr für mich.« »Wie du willst.« »Kann der Junge auch hier schlafen?« Der Mann nickte zögernd. Kilhany winkte mir, ihm zu folgen. Wir gingen durch das dunkle Gebäude und stiegen eine Treppe hinauf. Kilhany kannte sich aus, er war ja nicht zum erstenmal hier. Er führte mich in eine kleine Kammer, in der drei Bettstellen standen. Hier legten wir uns nieder. Shita streckte sich vor der Tür auf dem Boden aus. Ich schlief sofort ein, denn die Nacht war nicht mehr lang. * Am frühen Vormittag verließ ich an der Seite Kilhanys das große Backsteingebäude. Jetzt erst sah ich das Schild über dem Eingang. Das Haus beherbergte ein großes Speditionsunternehmen. Josuah, Sarah und Noah waren zu dieser Zeit bereits weiter nach Norden unterwegs. Den Mann, der uns in der Nacht eingelassen hatte, hatten wir nicht wiedergesehen. Wir schlenderten über die Straße des kleinen Nestes zu einem billigen Speiselokal, wo wir unser Frühstück einnahmen, das Kilhany bezahlte. Wir sprachen wenig. Mir war nicht danach, viel zu reden, denn jetzt, mit etwas Abstand, wirkten die Dinge, die hinter mir lagen, stark auf mich ein, und ich mußte sie erst verarbeiten. Kilhany ging es wohl genauso, obwohl er nicht zum erstenmal solche Unternehmen durchgeführt hatte. Aber es war das letztemal gewesen, und vermutlich war es das, das ihm Koof zerbrechen bereitete. Auf der Main Street von Lamoni herrschte hektisches Getriebe, als wir das Speiselokal verließen. Plötzlich bellte Shita, und ich schaute mich nach ihm um. Da sah ich einen stiernackigen, bulligen Mann vor dem Schaufenster eines Stores stehen. Er trug einen Gehrock aus feinstem grauen Tuch, nach der letzten englischen Mode geschnitten. Auf dem Kopf hatte er einen halbhohen Zylinder, der gewiß hundert Dollar gekostet hatte. In der Rechten schwenkte er ein elegantes, zierliches Stöckchen mit beschnitztem Elfenbeinknauf. Mir blieb fast die Spucke weg.
Es war Major Gus Drago, der Mann, der einen Geldboten erschossen und ausgeplündert hatte, der auf einem gestohlenen Maultier aus den Missouri-Sümpfen geflüchtet war und sich dabei vermutlich irgendwie seiner Leute entledigt hatte. Er sah aus wie ein reicher Geschäftsmann und benahm sich, als sei er in eine neue Haut geschlüpft. Ich stieß Kilhany an und zerrte ihn in einen Hofeingang. Von hier aus beobachteten wir Drago, der gelangweilt die Stepwalks hinunterschlenderte. Er hatte uns nicht bemerkt. Kilhanys Züge verhärteten sich. Ich wollte etwas sagen, aber da sprach er schon. »Wir holen ihn uns, Ronco«, sagte er. »Nur keine Angst. Ich hab dich daran gehindert, ihn zu verfolgen, das mache ich wieder gut. Ich habe auch noch eine Rechnung mit diesem Schwein. Er hat stets den Ehrenmann gespielt und mich ins Gefängnis gebracht. Er hat über andere gerichtet, dabei war er immer schon ein verschlagenes Stück Dreck, das sich auf Kosten anderer gemästet hat. Mir hat er das Leben kaputtgeschlagen, mich hat er dazu gezwungen, in den Sümpfen zu hausen. Und verfolgt hat er mich, wo er nur konnte, dieser gemeine Hund. Und er selbst denkt, daß er mit seinen krummen Touren durchkommt. Aber das werde ich ihm versalzen.« Ich blickte Kilhany nach diesem Ausbruch beinahe fassungslos an. Soviel hatte er nicht geredet, seit wir uns zum erstenmal gesehen hatten. Das schien ihm auch selbst klar zu werden, und es schien ihm peinlich zu sein, daß er sich so vergessen hatte. Etwas rauher als sonst sagte er: »Komm.« Wir traten auf die Straße zurück. Ich rief nach Shita, damit sie uns nicht verriet. Etwa hundert Yards vor uns bog Drago gerade in eine Seitengasse ein. Wir beeilten uns, ihm zu folgen. Als wir die Gasse erreichten, sahen wir ihn in einem Mietstall verschwinden. Wir zögerten nicht, hinter ihm herzugehen. Die Gasse war nicht belebt. Niemand achtete auf uns, als wir uns rechts und links vom Eingang des Mietstalles postierten. Aus dem Innern hörten wir die Stimme Dragos. Befehlsgewohnt und energisch sprach er mit einem Stallmann und verhandelte über den Kauf einer eleganten Kutsche, mit der er noch an diesem Tag die Stadt verlassen
wollte. Wir brauchten nicht lange zu warten. Mein Herz schlug heftig. Ich dachte in diesen wenigen Minuten an Nashville Tucker, dessen Tod nun doch nicht ungesühnt bleiben würde, und an Cargo Flatt, dem ich nicht als völliger Versager unter die Augen treten würde. Da tauchte der Schatten Dragos auf, und dann war er selbst plötzlich da. Er blinzelte in die Sonne und schnitt ein sehr zufriedenes Gesicht. Als er eine Taschenuhr mit schwerer Goldkette aus seiner Weste zog, traten wir an ihn heran. Morton Kilhany hielt seinen Dragoon-Revolver in der Faust und preßte Drago die Mündung hart ins Kreuz. »Ganz ruhig«, sagte er leise. »Benimm dich ganz normal, mein Lieber. Du kennst mich, ich puste dir sonst ein Loch in den Bauch, daß du für den Rest deines Lebens von Milchsuppe leben mußt.« Drago erstarrte. Die Uhr fiel ihm aus der Hand und baumelte an der goldenen Kette hin und her. Langsam, ganz langsam, so als hinge sein Kopf an Fäden, wandte er sich um. »Tut mir leid, Sir«, sagte er, seine Stimme klang schrill. Ich kenne Sie nicht. Mein Name ist Tuller, William Tuller.« »Klar, Drago«, sagte Kilhany. »Vorwärts.« Drago setzte sich in Bewegung und ging vor uns her. Ich dachte manchmal, daß er schreien würde, aber er schien sich das zu überlegen und Kilhany wirklich gut zu kennen. Auch ich hatte den Eindruck, daß der Renegat nicht zögern würde, abzudrücken. Wir führten den Major hinter einen Frachtschuppen und drängten ihn gegen die Bretterwand des Gebäudes. »Pech für dich«, sagte Kilhany. »Du hast immer Glück gehabt, Drago, zu oft. Diesmal nicht.« »Ich weiß nicht, was Sie wollen«, sagte Drago. »Dafür wissen wir das um so besser«, sagte Kilhany. »Geben Sie das Geld raus«, sagte ich. »Oder wenigstens das, was noch davon übrig ist.« »Wie sprichst du denn mit mir, du Rotzlöffel!« fuhr mich Drago an. Sein Gesicht wurde puterrot. Seine Unsicherheit schwand. Da griff ich unter mein Hemd und zog den Navy-Colt hervor. Drago wurde wieder blaß. Ich spannte den Hahn und sagte: »Sie
haben Nashville Tucker keine Chance gegeben. Ich frage mich, ob ich Ihnen eine geben soll. Ich denke, Cargo Flatt hat Ihnen von mir erzählt, und Sie wissen, daß ich nicht nur Sprüche klopfe.« »Gib dem Jungen das Geld«, sagte Kilhany. »Oder ich prügle dir deine erbärmliche Seele aus dem Leib. Wir sind hier in Iowa, Drago, hier hast du niemanden, den du auf mich hetzen kannst.« »Wer seid ihr denn schon?« keuchte Drago. »Ich bin William Tuller, und wer seid ihr? Könnt ihr beweisen, daß ich Geld gestohlen habe? Das könnt ihr nicht. Ihr seht aus wie Tramps, und ein Wink von mir genügt, um euch einzusperren.« Da schlug Kilhany zu. Seine Rechte erwischte Drago am linken Kinnwinkel. Der Major ächzte und sackte an der Bretterwand hinunter. Kilhany beugte sich über ihn und tastete ihn ab. Ohne viel Federlesens riß er ihm Weste und Hemd auf und förderte triumphierend eine Geldkatze zutage. Sie war prall gefüllt. Drago begann zu brüllen. Kilhany versetzte ihm einen Fußtritt und übergab mir den Gürtel. »Das wird es sein, was du suchst«, sagte er. Ich nahm den Gürtel an mich und staunte über das Gewicht. Soviel wogen also fünfzigtausend Dollar. Für Gus Drago waren sie eine angenehme Last gewesen. Ich hängte mir den Gürtel über die Schulter und wandte mich ab. Für mich war die Sache erledigt. Ich wollte mir nicht an diesem fetten Miststück die Hände beschmutzen, und wenn ich ihn zum Marshal bringen würde, gäbe es lange Verwicklungen. Ich hatte kein großes Vertrauen zu den Behörden der weißen Männer. Womöglich hätte ich mich in einer Zelle wiedergefunden, während Drago mit dem Geld doch noch davongezogen wäre. Da bellte Shita plötzlich grell und wütend. Ich fuhr herum und sah, daß Drago sich erhoben hatte. Er hielt einen kleinen, vernickelten Taschenrevolver in der Faust und zielte auf mich. Ich ließ mich fallen, als er schoß. Die Kugel traf den Geldgürtel auf meiner Schulter. Der Schlag war so hart, daß ich dachte, meine Schulter sei gebrochen. Ich wurde nach vorn gestoßen und stürzte der Länge nach in den Staub. Seitlich von mir krachte dumpf und belfernd der
schwere Dragon-Colt Kilhanys. Ich erhob mich und konnte meinen linken Arm kaum bewegen. Der Geldgürtel hatte ein Loch, durch das ich die Goldmünzen sehen konnte, die darin steckten. Eine hatte eine tiefe Beule. Sie hatte mich vor einer schweren Verwundung bewahrt oder mir sogar das Leben gerettet. Gus Drago lag auf den Rücken. Seine zerrissene Hemdbrust war blutüberströmt. In seinen weitaufgerissenen Augen spiegelte sich der Himmel. Gus Drago war tot. Morton Kilhany schob seinen Revolver in die Halfter zurück. Sein bärtiges, faltenzerfurchtes Gesicht drückte Zufriedenheit aus. Ich verstand das nicht, denn auch ich hatte oft getötet, hatte töten müssen, um selbst zu überleben, aber ich hatte mich danach immer ziemlich übel gefühlt. Denn der Tod eines Menschen, auch eines Verbrechers, ist eine schlimme Sache. Ich bin auch heute noch der Meinung, daß niemand das Recht hat, einen anderen Menschen zu töten, es sei denn, er muß sich verteidigen. Manche denken anders drüber. Kilhany gehörte zu denen, die eine andere Meinung dazu hatten. Ich hatte nicht das Recht, ihn dafür zu verurteilen. »Weg hier!« rief er mir zu, als von der Straße Stimmen zu hören waren. Ich folgte ihm, denn mich hielt hier nichts mehr. Ich hatte, was ich wollte. Wir eilten durch mehrere düstere Hinterhöfe, und als wir schließlich wieder auf der Main Street standen, achtete niemand auf uns. Eine Stunde später bereits verließen Shita und ich die Stadt. Morton Kilhany hatte mir sein Pferd geschenkt, und ich hatte mir wieder ein Paar Schuhe gekauft. Ich hatte Morton Kilhany gefragt, was er nun anfangen wollte. Er hatte nur mit den Schultern gezuckt. Ich hoffte, daß es ihm gutgehen würde, denn er war ein guter Mann. Aber die Jahre als Geächteter, als ein Mann, den in Missouri jeder verächtlich als Renegat bezeichnet hatte, hatten ihn geprägt. Es würde nicht einfach für ihn
sein, neu Fuß zu fassen.
12. Im Hafen von St. Joseph herrschte das bunte, hektische Leben, das ich schon kannte. Die Kais waren voller Menschen, als die »River Queen« anlegte, mit der ich zurückkehrte. Ich war zur nächsten Dampferstation in Iowa geritten, hatte das Pferd Kilhanys verkauft und für das Geld ein Ticket nach St. Joseph gelöst. Als jetzt die Gangway ausgelegt wurde, waren Shita und ich die ersten, die an Land gingen. Wir drängten uns durch die wartende Menge und liefen in eins der schmalen Hafengäßchen. Hier waren wir der Menschenansammlung entronnen und gingen nebeneinander her zum Stadtrand. Ich trug den Geldgürtel noch immer über der Schulter und hatte während der zwei Tage, die die Schiffsreise gedauert hatte, kaum ein Auge zugetan. Meistens hatte ich mit dem Revolver auf dem Schoß dagesessen und gewacht, denn durch das Loch, das mir Drago in den Gürtel geschossen hatte, hatte jeder sehen können, was ich mit mir führte. So sehr mir die großen Städte zuwider gewesen waren, so froh war ich jetzt, wieder in St. Joseph zu sein. Ich hatte das Gefühl, heimzukehren, und dachte an die kleine Kammer über den Ställen, die ich mit einem bärbeißigen Kutscher bewohnte. Seit Lamoni hatte ich nicht mehr richtig gegessen, und auch Shita sah etwas magerer aus. Ich freute mich auf ein großes Steak und dachte, das Shita nach allem, was hinter uns lag, einen ordentlichen Knochen verdient hatte. Dann stand ich endlich vor dem »Patee House«. Der Anblick des gewaltigen Gebäudes erdrückte mich fast wie beim erstenmal. Ich blieb eine Weile davor stehen, schlenderte dann langsam durch die Bogengänge vor den vielen Glastüren und umrundete schließlich das Gebäude. Im Wagenhof wurden zwei Kutschen abfahrbereit gemacht. Es kam mir so vor, als sei ich Jahre fortgewesen. Als ich über den Hof schlenderte, rief mich jemand an. Ich wandte den Kopf und sah den
untersetzten, stämmigen Charly McClister, meinen Kammergenossen. Sein Bart schien sich stärker zu sträuben, als ich es in Erinnerung hatte. »Hey!« rief er. »Wir haben gedacht, du seist über den Jordan gegangen.« »Der Missouri reicht mir!« rief ich zurück, und er verschluckte sich fast vor Lachen. Shita bellte und wedelte mit dem Schwanz. Wir betraten das Haus und gingen den Gang hinter, in dem Cargo Flatts Office lag. Ein wenig klopfte mir jetzt das Herz. Ich fragte mich, ob er mir wohl Vorwürfe machen würde, Grund dazu hatte er, oder vielleicht nicht? Immerhin brachte ich das Geld zurück, und die Gesellschaft würde den monatlichen Transport der Lohngelder dadurch sicher behalten können. Andererseits war Nashville Tucker tot … Ich hatte keine Gelegenheit, weiterzudenken, denn ich stand vor der Tür von Cargo Flatts Office, und diese Tür ging plötzlich auf, und vor mir stand, mit einem Aktenordner unter dem Arm, Cargo Flatt. Seine Augen weiteten sich, und er schnitt ein so dummes Gesicht, daß ich mich fragte, ob ich die richtige Tür erwischt hätte, denn das hatte ich ihm gar nicht zugetraut. »Du?« sagte er. Das war das einzige Wort. Er schüttelte den Kopf, ging rückwärts in sein Office zurück und hielt mir und Shita die Tür auf. Stumm schloß er sie wieder, deutete auf einen Stuhl und ging hinter seinen Schreibtisch. Ich nahm den Geldgürtel von der Schulter und warf ihn auf Flatts Schreibtisch. Es klirrte. Flatt griff zögernd nach dem Gürtel, öffnete ihn und ließ ein paar Goldmünzen herausrollen. »Das ist doch nicht …« »Doch«, sagte ich. »Das ist das geklaute Geld.« Er grinste mich an und sah so aus, als würde er mich gleich in die Arme nehmen und an seiner Brust zerquetschen. »Hier war der Teufel los, als ihr in Kansas City nicht eingetroffen wart«, sagte er. »Gestern erst haben wir erfahren, daß die Anweisungen in Carmack gegen Münzen umgetauscht worden sind –
von Major Drago. Übrigens war auch die Kutsche, die ich als Tarnung losgeschickt hatte, überfallen worden. Die Kerle haben sich blutige Köpfe geholt. Aber wir waren hier überzeugt, ihr beiden, Tucker und du, würdet nicht mehr zurückkehren.« »Tucker bestimmt nicht«, sagte ich. »Er ist tot. Drago hat ihn erschossen und so getan, als habe er einen gesuchten Mörder abgeknallt. Er hat sich dafür feiern lassen.« »Wo warst du, als es passierte?« »Nicht weit weg«, sagte ich. »Ich steckte in ziemlichen Schwierigkeiten. Es war nämlich wirklich ein Mann an Bord, der nicht auf das Schiff gehörte, ein ehemaliger Sklave, der seine Familie herausholen wollte. Er glaubte, die Miliz sei hinter ihm her, dabei wußte Drago gar nichts von ihm. Jedenfalls hat der Mann mich festgehalten, weil ich sein Versteck entdeckt hatte, und mir mit einem Messer am Hals herumgefuchtelt. Als ich mich endlich befreien konnte, war es schon passiert. Was sollte ich gegen einen Major der Miliz tun? Ich habe mich nur gewundert, daß er nicht nach mir gesucht hat, um mich auch noch zu erledigen.« »Das konnte er nicht«, sagte Cargo Flatt. »Er wußte nichts von dir. Ich hatte ihm nur gesagt, daß Nashville Tucker das Geld transportieren würde. Dich mitzuschicken, ist mir erst später eingefallen.« »Ich hab's mir gedacht«, sagte ich. »Ich bin dann mit Shita von Bord gesprungen und habe Drago verfolgt.« »Du bist ein Teufelskerl«, sagte Flatt. Ich winkte ab. Es war mir gar nicht angenehm, gelobt zu werden. Irgendwie hatte ich immer noch das Gefühl, nicht ganz unschuldig daran zu sein, daß der Überfall überhaupt hatte geschehen können. »Wie hast du ihn gekriegt?« fragte Flatt. Ich lehnte mich zurück und erzählte ihm die ganze Geschichte. Vom Sumpf, von Kilhany, von den befreiten Sklaven, vom Kampf mit den Sklavenjägern und von dem Ritt nach Iowa. Flatts Augen wurden immer größer, und immer häufiger schüttelte er den Kopf. Als ich geendet hatte, sagte er lange Zeit nichts. Dann meinte er: »Wir haben Kilhany wohl alle falsch eingeschätzt.«
»Bestimmt«, sagte ich. »Ich darf meine Meinung dazu nicht äußern«, sagte Cargo Flatt. »Ich bin Vertreter der Company und gerate in Teufels Küche, wenn ich sage, was ich denke. Aber ich sage dir, daß das, was du getan hast, in Ordnung ist, und daß es mir leid tut, Kilhany nie richtig kennengelernt zu haben.« Er grinste wieder, und ich grinste verstehend zurück. Dann beugte er sich vor und leerte den Geldgürtel. Ich half ihm dabei, die Goldstücke zu kleinen Türmchen übereinanderzulegen. Dann zählten wir. Cargo Flatt zählte ein zweites und dann auch noch ein drittes Mal. Ich hatte mich wieder auf meinen Stuhl gesetzt und versuchte, möglichst unbeteiligt auszusehen. »Es fehlen fast dreitausend Dollar«, sagte er schließlich. »Tatsächlich?« Ich musterte intensiv einen dunklen Punkt auf den Bodendielen. »Drago hatte einiges ausgegeben.« »Aber doch nicht nur«, sagte Flatt. »Dreitausend Dollar, das ist eine Summe, von der ein Mann zwei Jahre und länger leben kann.« »Nun«, sagte ich. »Immerhin hätte ich ohne Kilhany überhaupt nichts mehr von dem Geld zurückgebracht.« Cargo Flatt verstand. »Wieviel?« fragte er. »Zweitausendfünfhundert.« »Du gehst mit dem Geld der Company verdammt großzügig um.« Ich erwiderte nichts. Er packte das Geld zusammen und grinste wieder. »Hau ab. Laß dir ein Steak geben, und dann leg dich ins Bett. Du siehst aus, als hättest du seit hundert Jahren nicht mehr geschlafen.« »So fühle ich mich auch.« Ich stand auf. Er drückte mir die Hand, und in seinem Blick lag das größte Lob, das ich mir vorstellen konnte. Ich ging mit Shita hinaus. Jetzt, nachdem alles vorüber war, merkte ich erst, wie müde und erschöpft ich war. Lustlos schlang ich in der Küche ein Steak hinunter, und ich hatte den Eindruck, das Shita genauso lustlos an seinem Kalbsknochen nagte, den der Koch ihm gegeben hatte. Als ich dann in der kleinen, winkligen Dachkammer in mein Bett
kroch, war es mir gleichgültig, daß es schlecht gefedert und zerlegen war. Ich ließ den rechten Arm herunterhängen, und Shita kroch heran und leckte meine Hand. Ich war glücklich, denn ich hatte das Gefühl, heimgekehrt zu sein. Ich war sicher, daß ich diesmal wirklich einen festen Platz gefunden hatte und mein Aufenthalt hier nicht nur eine Episode war. Es war ein gutes Gefühl, das mich ruhig schlafen ließ.
ENDE
Vorschau Ronco lief den Männern geradewegs in die Arme, als er den Mietstall verließ. Der Marshal war an seinem Metallstern leicht zu erkennen. Er wurde von zwei Weidereitern begleitet, die sich vermutlich während der Feuersbrunst in einem der Saloons aufgehalten hatten. Mit einigem Abstand folgte ein vierter Mann – füllig, untersetzt, der Kleidung nach einer der Honoratioren der Stadt. Ohne Ankündigung zog der Marshal seinen Revolver, richtete die Laufmündung auf Roncos Brust und versperrte ihm breitbeinig den Weg. »Sie sind festgenommen, Fremder«, sagte der Marshal scharf, »die Anklage lautet auf Pferdediebstahl, und Sie tun gut daran, keinen Widerstand zu leisten. Ich denke, Sie wissen, wie man mit Ihresgleichen im Zweifelsfalle umspringt.« Die Jagd auf Ronco, den Geächteten, geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 191 dieser großen deutschen WesternSerie:
Der rote General