Nr. 428
Der Saboteur Atlan im Kampf gegen die Maschinerie des Todes von Horst Hoffmann
Nachdem Atlantis-Pthor, der Di...
10 downloads
391 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 428
Der Saboteur Atlan im Kampf gegen die Maschinerie des Todes von Horst Hoffmann
Nachdem Atlantis-Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, in der Peripherie der Schwarzen Galaxis zum Stillstand gekommen ist, hat Atlan die Flucht nach vorn ergriffen. Nicht gewillt, untätig auf die Dinge zu warten, die nun zwangsläufig auf Pthor zu kommen werden, fliegt er zusammen mit Thalia, der Odinstochter, die Randbezirke der Schwarzen Galaxis an und erreicht das sogenannte Marantroner-Revier, das von Chirmor Flog, einem Neffen des Dunklen Oheims, beherrscht wird. Dort, von Planet zu Planet eilend und die Geheimnisse der Schwarzen Galaxis ausspähend, haben Atlan und seine Gefährtin schon so manche tödliche Gefahr ge meinsam bestanden – bis der Planet Dykoor zu Thalias Grab wurde. Doch auch nach Thalias Tod geht für den Arkoniden die kosmische Odyssee wei ter. Nach kurzem Aufenthalt auf Säggallo, der Residenz Chirmor Flogs, und einem Zwischenspiel auf dem Planeten Ghyx erreicht Atlan an Bord eines Schiffes einer un heimlichen Transportflotte den sogenannten Stern der Läuterung. Dort stößt der Arkonide auf ein grauenvolles Geheimnis der Schwarzen Galaxis. Was er entdeckt, läßt ihn den Kampf gegen die Maschinerie des Todes führen – und er wird DER SABOTEUR …
Der Saboteur
3
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Arkonide verliert seinen Extrasinn.
Leenia - Das Wesen von den Höheren Welten stiftet Unfrieden auf einem friedlichen Planeten.
Vaskäner - Kommandant von Ärterfahl.
Gusärleng - Ein unsterblicher Scuddamore.
Kirso Bal Taur - Ein junger Gralle.
1. Atlan hatte den Versuch, einige der über all im Transporter aufeinandergestapelten Schläfer zum Leben zu erwecken, längst aufgegeben. Von ihnen konnte er nichts er fahren, ebenso wenig wie von den Robotern – nichts über den »Koordinator der Ewig keit«, nichts über den Sinn der Impfaktion auf Ghyx, nichts über das Ziel der sternför migen Schiffe, aus denen mittlerweile eine ganze Flotte wurde. Der Arkonide beobach tete durch eine Luke, wie immer neue Ver bände aus den Tiefen des Weltalls auftauch ten und sich dem ursprünglich nur aus den sechzehn Schiffen bestehenden Transport anschlossen, die auf Ghyx gelandet waren, um Tolfex' Opfer aufzunehmen. Es war an zunehmen, daß sie von anderen Welten ka men, auf denen ebenfalls Koordinatoren auf getreten waren. Dann mußten sich an Bord ebenfalls schlafende Angehörige von ande ren Zivilisationen der Schwarzen Galaxis befinden. Atlan versuchte sich auszumalen, was ihn und die Scheintoten am Ziel erwar tete, das, wie er vermuten mußte, der ge heimnisvolle »Stern der Läuterung« war. Nach einer Weile gab er es auf. Nur eines wußte er mit Sicherheit: Die versprochene Unsterblichkeit war es bestimmt nicht. So vergingen Stunden, und die Ungewiß heit wurde immer quälender. Atlan konnte nichts tun. Die Robotbesatzung war nicht ansprechbar oder gab Auskünfte, mit denen der Arkonide nichts anfangen konnte. Die Maschinen schienen auf irgend etwas zu warten. Der immer noch an »Atlans« Trans porter angedockte Raumgleiter, mit dem At lan und Artin die Flucht von Säggallo ge glückt war, gab ein gewisses Gefühl der Si
cherheit, aber wohin sollte Atlan sich damit wenden? Irgend etwas wird geschehen! riß der Ex trasinn den Arkoniden plötzlich jäh aus sei nen Gedanken. Irgend etwas greift nach uns! Es ist da, Atlan! Die letzten Worte kamen mit solch einer Heftigkeit, daß Atlan aufsprang und herum fuhr. Sie schienen sich ins Unerträgliche zu verstärken. Der Arkonide preßte beide Hän de fest gegen die Schläfen, als er das Gefühl hatte, der Schädel müsse ihm zerspringen. Immer noch war der Extrasinn zu hören. Er schrie. Atlan taumelte und sah schwarze Flecke vor den Augen. »Hör auf!« brüllte er. »Du bringst mich um!« Doch es wurde nur noch schlimmer. Ir gend etwas tobte in seinem Bewußtsein. Es war, als flösse siedendes Öl durch seine Ge hirnwindungen. Atlan stürzte. Er schrie, oh ne sich dessen bewußt zu sein. Jetzt sah er wie durch Schleier, wie die Scheintoten sich überall um ihn herum zu regen begannen. Einer nach dem anderen standen sie auf und fielen übereinander her. Sie gebärdeten sich wie Wahnsinnige. Einer griff Atlan an, und der Arkonide war nicht imstande, sich zu wehren. Er wälzte sich auf den Bauch, beide Hände schützend in den Nacken gelegt. Von allen Seiten kamen die Ghyxaner. Ein Ge danke schob sich durch das Chaos in seinem Bewußtsein und begann sein Denken zu be herrschen. Das Beiboot! Auf allen vieren kroch er auf dem kalten harten Boden herum. Er schüttelte die Ghyxaner, die über ihn fielen, unbewußt ab. Jeder kämpfte gegen jeden. Die Schleuse! Irgendwo mußte es einen Weg aus diesem Hexenkessel geben. Atlan mußte noch eini ge Dutzend Schläge einstecken, bevor er sie
4
Horst Hoffmann
endlich fand. Er mußte sich aufrichten, um das Innenschott zu öffnen. Jede Bewegung kostete Kraft und verursachte neue Schmer zen. Endlich fuhr das Schott zur Seite. Atlan machte einen Satz in die Schleusenkammer hinein und ließ sich fallen. Wieder wurde ihm schwarz vor Augen. Er hatte jedes Ge fühl für die Zeit verloren. Plötzlich wich der Druck aus seinem Kopf. Die Wände und die Decke der Schleu senkammer schienen sich um Atlan zu dre hen. Dieser Spuk verging so schnell, wie er gekommen war. Plötzlich war nur noch Stil le. Im Transporter wurde nach wie vor ge kämpft. Ghyxaner fielen übereinander her und attackierten Roboter. Im Moment hatten sie das Interesse an Atlan verloren. Atlan sah aufgerissene Münder, aus denen etwas geschrien wurde, aber er hörte nichts. Er war nicht plötzlich taub geworden, aber die un heimliche Stille, jene Leere, die ihn zu ver schlingen schien, schien auch die Laute der Tobenden zu schlucken. Endlich besann sich der Arkonide. Er hat te wieder Kraft in den Gliedern und warf sich gegen das Außenschott. Er berührte den Öffnungsmechanismus und fiel regelrecht mit dem nach außen aufschwingenden Schott in den freien Weltraum. Das Goldene Vlies schützte ihn gegen das Vakuum und die Kälte, bis er den Gleiter erreicht hatte.
* Atlan atmete schwer. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, als er den Transporter, aus dem er geflohen war, hinter sich kleiner werden und einen anderen scheinbar auf ihn zukommen sah. Er versuchte, sich über das klar zu werden, was plötzlich über ihn und das Schiff hereingebrochen war. Das Unbe kannte hatte zugeschlagen, noch bevor die ersten Scheintoten sich zu bewegen begon nen hatten. Atlan rief nach dem Extrasinn, doch dieser schien keine Erklärung parat zu haben. Er meldete sich nicht. Der Arkonide steuerte das Beiboot weiter
auf das nächste Sechseckschiff zu. Er mußte wissen, was geschehen war und immer noch geschah. Vielleicht bildete der Transporter, von dem er jetzt kam, eine Aus nahme, und an Bord der anderen war alles noch friedlich. Atlan glaubte nicht daran. Er dockte das Beiboot an dem Schiff, das er jetzt erreicht hatte, an und stieg aus. Als er durch die Schleuse des Transpor ters gegangen war, hatte er die Gewißheit, die er brauchte. Nun wußte er, daß es in al len Schiffen gleich aussah. Die Scheintoten waren erwacht und übereinander hergefal len. Sie, die bedauernswerten Opfer einer Manipulation, deren Zweck noch im Dunkel lag, zerfleischten sich selbst. Hier handelte es sich um Angehörige eines Volkes von Echsenabkömmlingen. Atlan schlug einige der zwei Meter großen Wesen zurück und rettete sich schnell wieder in die Schleusen kammer. Was, bei Arkon, hatte dies alles zu bedeu ten? Die Warnung des Extrasinns: Irgend et was greift nach uns! Warum meldete der Extrasinn sich nicht wieder? Warum sagte er seinem Träger jetzt, da er ihn brauchte, nicht, was er zu tun hatte? Atlan fühlte sich hilflos, fast im Stich ge lassen. Atlan bestieg wieder den Gleiter und flog zum Schiff mit den Ghyxanern zurück. Jetzt, da er nicht mehr so wehrlos war wie vorhin, sollte es ihm gelingen, eines der Krötenwesen von den Kämpfenden zu tren nen und zum Reden zu bringen. Atlan er tappte sich beim Andocken dabei, wie er be stimmte Schaltungen mehrmals korrigieren mußte. Es war, als ob er gewisse Dinge zum erstenmal und ohne Kontrolle über seine Handlungen tat. Als er den Transporter mit den Ghyxanern wieder betrat, erwartete ihn der nächste Schock. Die eben noch Rasen den lagen wieder auf dem Boden, teilweise ineinander verschlungen in unnatürlichen Stellungen, als hätten sie sich gegenseitig die Knochen gebrochen. Die Stille wurde noch unheimlicher. Atlan trat vorsichtig auf eines der häßli
Der Saboteur chen Wesen zu und untersuchte es. Als er seine schreckliche Entdeckung machte, zuckte er nicht einmal mehr zusammen. Es war ein Punkt erreicht, an dem das Grauen nicht mehr zu steigern war. Die Ghyxaner waren endgültig tot. Der Arkonide fand eine freie Stelle und ließ sich mutlos auf den Boden sinken. Die Roboter standen fast noch an den gleichen Plätzen wie zuvor. Kalte Augen waren auf den Arkoniden gerichtet. In einem Anflug von Wut versetzte er dem am nächsten ste henden einen so heftigen Fußtritt, daß die Maschine gegen eine zweite geschleudert wurde und mit ihr zu Boden ging. »Sagt endlich etwas!« brüllte Atlan. »Sagt mir, was das zu bedeuten hat! Wer sind die Mörder?« Keine Reaktion, weder auf den Angriff noch auf die hinausgeschrienen Worte. Wieder betrachtete Atlan die Toten. Ir gend etwas hatte ihnen den letzten Rest Le ben einfach entzogen, die Seelen vom Kör per getrennt, wie jemand eine Flamme aus blies. Sie waren leere Hüllen. Leer! »Nein«, flüsterte Atlan kaum hörbar, als ihn die Erkenntnis bei dem Gedanken daran mit ungestümer Gewalt traf. »Nein, nur das nicht! Es kann nicht sein!« Atlan rief nach seinem Extrasinn. Aus Angst wurde Panik, als er auch diesmal kei ne Antwort erhielt. Irgend etwas greift nach uns! hatte der Extrasinn verzweifelt gewarnt. Die Leere im Kopf, die Schmerzen, der unerträgliche Druck! »Melde dich!« schrie Atlan. »Mein Gott, melde dich doch endlich! Sprich zu mir, wenn es dich noch gibt!« Die Stille war Antwort genug. Atlans Augen verloren jeden Glanz. War ein Leben ohne den Extrasinn für ihn überhaupt vorstellbar? Der Arkonide saß, stumm vor sich hin starrend, auf dem Boden des Transporter raums, allein mit sich und der Erkenntnis, daß das, was den Geist aus den Körpern der
5 Geimpften gesogen hatte, auch einen Teil seines eigenen Ichs mit fortgerissen hatte. Atlans Extrasinn war verschwunden.
2. Es war, als hätte jemand einen Bruder verloren, ein Mensch einen anderen, dem er blind hatte vertrauen können. Daß er jemals ohne seinen Extrasinn sein würde, war etwas, das für Atlan bisher sch lichtweg unvorstellbar gewesen war. Jetzt, wo er das Unfaßliche zu akzeptieren hatte, brauchte er zuerst einmal Ruhe, um wieder einigermaßen zu sich zu kommen. Der Ar konide befand sich wieder an Bord des Raumgleiters zwischen den schweigend da hinziehenden Sechseckschiffen. Er wollte allein sein. Daß er dennoch einen der Robo ter mitgenommen hatte, hatte seinen Grund mehr im Gefühlsmäßigen als in der Hoff nung, die Maschine könne ihm etwas nutzen oder ihm Arbeit abnehmen, damit er sich voll auf seine Probleme konzentrieren konn te. Es sah allerdings nicht so aus, als solle der Arkonide die Ruhe finden, die er sich wünschte. Genau in Flugrichtung des Ver bands stand eine große gelbe Sonne, die all mählich größer wurde. »Ist dies der Stern der Läuterung?« fragte Atlan den Roboter. »Ja«, bestätigte die Maschine. »Diese Sonne ist unser Ziel.« Atlan sah die Maschine überrascht an. Er hatte keine Antwort erwartet. Der Roboter unterschied sich äußerlich nicht von den an deren. Es handelte sich um ein Vielzweck-Mo dell mit der Grundform eines Quaders, aus dem Greifarme, Antennen, kleine, sich stän dig bewegende Plättchen und andere Extre mitäten herausragten. Atlan stellte weitere Fragen, doch diesmal schwieg der Roboter. Es fiel dem Arkoniden schwer, die Frage zu formulieren. Oft verlor er mitten in einem Gedankengang den Faden. Dann wieder starrte er auf den Bildschirm, der die gelbe Sonne zeigte, und verspürte den dringenden
6 Wunsch, irgend etwas zu tun, um nicht gänzlich unvorbereitet jenen gegenüberzu treten, die auf diesem ominösen »Stern der Läuterung« das Sagen hatten. Er war wie ge lähmt. Das, was ihn sonst vorantrieb, fehlte. In solchen Augenblicken war Atlan nahe daran, zu resignieren. Er empfand die Hilflo sigkeit tief und wünschte sich, alles, was ihn belastete, was sich als unübersehbarer Berg von Problemen vor ihm auftürmte, einfach vergessen zu können. Diesen Momenten folgten jene des Aufbegehrens gegen das grausame Schicksal, des Zornes auf jene Mächte, denen er seinen Zustand zu verdan ken hatte. Zwischen diesen beiden Gemüts zuständen lagen die schrecklichen Sekun den, in denen Atlan an sich selbst zweifelte und sich fragte, ob er wirklich noch er selbst war. Atlan kämpfte dagegen an. Er mußte ler nen, ohne den Extrasinn zu leben – zumin dest vorerst. Der Extrasinn konnte nicht ein fach nicht mehr existieren. Wer immer den Geimpften ihren Geist entzogen hatte, ver folgte mit solchen Maßnahmen einen be stimmten Zweck. Es war also möglich, daß der Extrasinn irgendwo weiterhin existierte, und der Gedanke daran, gab dem Arkoniden etwas Auftrieb. Als die Flotte nahe genug an ihrem Ziel war, konnte Atlan feststellen, daß der »Stern der Läuterung« nur einen Planeten besaß, der dafür allerdings ein ziemlich großer Brocken vom fast dreifachen Durchmesser der Erde war. Als die schwarzen Schiffe verlangsamten und Anstalten machten, in eine Kreisbahn um den Planeten zu gehen, steuerte Atlan den Raumgleiter aus dem Verband heraus, ohne aufgehalten zu werden. Der Roboter machte keine Anstalten, Atlan dahingehend zu beeinflussen, daß er zurückkehrte. Erst als der Arkonide den Gleiter weiter auf den Planeten zusteuerte, begann er eine Reihe von Daten herunterzurasseln und sagte schließlich: »Die Soll-Werte der Produktion sind nicht nur erreicht, sondern zu 24 Prozent übertrof-
Horst Hoffmann fen worden.« Atlan fragte sich verwundert, was diese Auskunft zu bedeuten hatte. Nur Sekunden später beantwortete ein Blick auf den Bild schirm diese Frage, als Atlan eine zweite Entdeckung machte. Eine ganze Flotte von Organschiffen stand hinter dem Planeten im Raum. Es sah so aus, als warteten sie auf irgend etwas. At lan nahm einige Schaltungen vor, bis eines der noch Tausende von Kilometern entfern ten Schiffe groß auf dem Schirm zu sehen war. In der transparenten Bugkuppel befand sich keine Galionsfigur. Nachdem Atlan zwei weitere Organschif fe optisch herangeholt hatte, hatte er Gewiß heit. Das Fehlen von Galionsfiguren und die Oberflächenstruktur der Organmasse um das Gerüst der Raumer herum bestätigten seine Annahme. Artins Auskunft, daß die schwar zen Transporter etwas mit der Herstellung von Organschiffen zu tun hätten, rundete das Bild ab. Dort unten also wurden die von den Hilfs völkern Chirmor Flogs benutzten Schiffe produziert – zumindest ein Teil der riesigen Organschiff-Flotten. Bedeutete die unaufgefordert gegebene Auskunft des Roboters, daß dieser in Atlan jemanden sah, der er nicht wahr? Ein Kon trolleur, der auf Ghyx an Bord seines Trans porters gekommen war, um die Produktion der Schiffe zu überprüfen? Der Arkonide beschloß, weitere Auskünf te der Maschine abzuwarten, bevor er sich durch unvorsichtige Fragen verraten konnte. Er konzentrierte sich wieder auf das Gesche hen im Weltraum. Inzwischen hatten die Sechseck-Schiffe ihre Kreisbahn wie erwar tet eingeschlagen. Auch sie machten nun den Eindruck, als warteten sie auf etwas, und es dauerte nicht lange, bis Atlan erfuhr, was dies war. Der Planet war von dichten Wolkenfeldern umgeben, so daß seine Ober fläche nur teilweise zu erkennen war. Atlan sah durch die Lücken in den Wolken ausge dehnte Komplexe, ohne Zweifel gigantische industrielle Anlagen, und große Wasserflä
Der Saboteur chen. Es mußte dort unten ziemlich warm sein. Jetzt stieg ein Pulk von Organschiffen durch die Wolken in den Weltraum auf. Gleichzeitig kam Bewegung in die schwar zen Transporter. Ein Teil von ihnen senkte sich auf den Planeten herab. Es waren genau so viele, wie Organschiffe die Welt verlie ßen. – Organschiffe ohne Galionsfiguren und mit einer Hülle, die keine Spuren von Abnützung zeigte. Ein grauenvoller Verdacht stieg in Atlan auf. Die schreckliche Vision, die er für Au genblicke hatte, trieb ihn wieder in den Be reich der Depression. War es für einen Men schen auf die Dauer ertragbar, angesichts des Grauens, das diese Galaxis bereithielt, zu leben, ohne daran zu zerbrechen? Atlan hielt den Gleiter in ausreichend großer Entfernung von sowohl den sich sam melnden Organschiffen als auch den schwarzen Transportern. Noch gab es keine Anzeichen dafür, daß irgend jemand auf dem Planeten ihn als Störenfried empfand. Sein Raumgleiter mußte geortet worden sein, aber niemand funkte ihn an oder zeigte sich. Es verging etwa eine halbe Stunde, bis sich wieder Sechseckschiffe aus dem Ver band lösten und landeten, während gleich zeitig ein neuer Pulk von Organschiffen auf stieg und sich den im Weltraum wartenden anschloß. Atlan beobachtete weiter. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, der Blick starr auf den Bildschirm gerichtet. Innerhalb von zwei Stunden waren vier mal Transporter mit ihrer Leichenfracht ge landet und neue Organschiffe zu den War tenden gestoßen. Nun gab es für Atlan keinen Zweifel mehr daran, was auf dem Planeten vorging. Es übertraf seine schlimmsten Spekulationen über das, was mit den Geimpften geschehen würde, bei weitem. Dort unten, auf einem hoch namenlosen Planeten der Schwarzen Galaxis, wurden Organschiffe hergestellt. Dort unten wurden sie mit ihrer organischen Komponente ver
7 sehen. Dort unten wurden von ihren Welten entführte intelligente Wesen zu dem umge wandelt, was diese organische Hülle bildete. Atlan hatte das Gefühl, sich erbrechen zu müssen. Welches Monstrum verbarg sich hinter der Bezeichnung »Dunkler Oheim«? fragte er sich immer wieder. Er hatte gese hen, welche Veränderung mit Chirmor Flog unter dem Einfluß des Zellaktivators vor sich gegangen war. Es war zu früh, um end gültige Schlüsse zu ziehen, aber es hatte den Anschein, als ob zumindest dieser Neffe nicht an sich durch und durch böse war. Das Böse wurde ihm also aufgedrückt wie ein Stempel. Atlan biß die Zähne zusammen. Ein neuer Glanz trat in seine Augen und verriet wilde Entschlossenheit und maßlosen Zorn. Plötz lich war alles andere als diese Welt unter ihm vergessen. Nur eines beherrschte in die sen Momenten sein Denken. Er würde alles tun, was in seiner Macht stand, um diese Maschinerie des Grauens zu zerstören – und wenn es das letzte war, das er in seinem lan gen Leben in Angriff nahm. Dabei war er sich darüber im klaren, daß er diesmal allein in den Kampf ging, daß je de Unachtsamkeit und jeder Leichtsinn, vor dem ihn bisher der Extrasinn gewarnt und bewahrt hatte, ihm das Genick brechen konnte. Allein deshalb erschien ihm sein Vorha ben fast undurchführbar, zumal er nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wie es auf dem Werftplaneten aussah. Auf einem von vielleicht vielen Planeten dieser Art, die es innerhalb der Schwarzen Galaxis gab – vielleicht einen in jedem Re vier. »Wer verwaltet die Produktion?« fragte der Arkonide seinen wortkargen Begleiter. »Wer kontrolliert sie jetzt?« fügte er schnell hinzu. »Es hat seit dem letzten Besuch eines Kontrolleurs keine Auswechslung gegeben«, sagte der Roboter. »Vaskäner erfüllt seine Aufgabe zur Zufriedenheit.« »Du wirst mich zu ihm führen«, sagte er,
8
Horst Hoffmann
wobei er daran denken mußte, daß mögli cherweise gerade jetzt ein wirklicher Kon trolleur hierher unterwegs sein könnte. Schon verfluchte er seine Dreistigkeit, als der Roboter mit der Antwort zögerte. Dann sagte die Maschine: »Es ist nicht möglich, Herr.«
3. Jeder Versuch, den Raum zu beschreiben oder begreifen zu wollen, in dem die Wesen heiten existierten, die von jenen, die um ihre Existenz wußten, »die Körperlosen« genannt wurden, wäre von vorneherein zum Schei tern verurteilt. Die Sinne eines Menschen reichen nicht aus, um ihn und seine Bewoh ner zu erfassen. Stellen wir uns ihn deshalb unter extremer Vereinfachung als einen unendlichen Ozean aus samtig purpurner Flüssigkeit vor, die ständig in Bewegung ist und sich hier ver dichtet und an anderen Stellen so dünn wird, daß man schon fast von Vakuuminseln spre chen könnte. Wo die Konzentration am stärksten ist, ballt sich die Energie (denn nichts anderes ist unsere purpurne Flüssig keit) Tausender von Wesenheiten zusam men, die einst entweder in unserem »normalen« Universum existierten und sich dahingehend entwickelten, daß sie am End punkt ihrer Evolution die höheren Dasein sebenen erreichen konnten, oder die sofort nach ihrer Geburt in diese Räume katapul tiert wurden, weil sie unfähig waren, in un serem Universum zu existieren. Stellen wir sie uns als golden schimmernde Blasen in diesem Ozean vor. Für die meisten Wesen, die in den »Höheren Welten« ihre Heimat gefunden hatten, galt, daß sie sowohl dort als auch im normalen Universum existieren konnten, bis das Böse von jenem Teil des Normaluniver sums Besitz ergriff, in dem sie sich allein manifestieren konnten – in der Schwarzen Galaxis und ihrer näheren Umgebung. Dies war lange her, und seitdem hatte es für die Körperlosen keine Möglichkeit mehr gege-
ben, länger als Minuten, und eingebettet in eine schützende Sphäre, in der Aura des Bö sen zu existieren. Doch sie wollten nicht für immer abge schnitten sein. Das Ergebnis all ihrer Bemü hungen, einen der Ihren in die Aura der Schwarzen Galaxis schicken zu können, oh ne daß dieses Mitglied ihrer Gemeinschaft darin zugrunde ging, hieß Leenia. Viele Jahrhunderte lang hatte Leenia ein Schattendasein geführt, bis Pthor, auf dem sie von den Körperlosen plaziert worden war, zur Schwarzen Galaxis zurückkehrte. Auf diesem Dimensionsfahrstuhl, so hatte der Plan es vorgesehen, sollte sie die Schwarze Galaxis erreichen und in ihr wir ken können, doch es war anders gekommen. Leenia hatte sich mit einem artverwand ten Wesen – Wommser – verbunden und bil dete fortan eine untrennbare Einheit mit ihm. Und diese Vereinigung hatte bewirkt, daß Leenia Fähigkeiten erhalten hatte, an die selbst ihre »Konstrukteure« nie zu denken gewagt hatten. Leenias zweiter Einsatz stand nun unmit telbar bevor. Lange Zeit hatte sie nach ihrer Rettungsaktion für Atlan und Thalia nicht daran zu denken gewagt, daß sie wieder die Erlaubnis erhielt, den Bereich der Höheren Welten zu verlassen, um einem Sterblichen zu helfen, der ausgerechnet zu dem Zeit punkt aufgetaucht war, in dem die Körperlo sen damit beginnen wollten, die Verhältnisse innerhalb der Schwarzen Galaxis wieder in ihrem Sinn zu beeinflussen. Dabei hatte er jetzt schon mehr erreicht als alle anderen, die sich gegen die Herrschaft des Bösen auf gelehnt hatten. Die anfängliche Skepsis der Bewohner der Höheren Welten war fast ganz verschwunden. Atlan wirkte in ihrem Sinn, und obwohl er nur ein Sterblicher war, waren die Körperlosen nun entschlossen, ihm stärker als bisher zu helfen. Deshalb hatten sie verhindert, daß jener Teil von Atlans Bewußtsein, der zusammen mit den Bewußtseinsteilen der geimpften Planetenvölker an Bord der Schwarzen Transporter geraubt worden war, nicht dort
Der Saboteur hin gelangte, wo die anderen Bewußtseine gesammelt und gespeichert wurden. Für Atlan selbst hatten sie nichts tun kön nen. Ihm den geraubten Teil seines Bewußt seins zurückzugeben, sollte Leenias Aufga be sein. Nur sie war dazu in der Lage. Leenia war eine der vielen hundert Blasen im Zentrum einer ungewöhnlich starken Verdichtung des purpurnen Ozean aus reiner Energie. Sie gewann an Größe und Hellig keit, je mehr Energie ihre Artverwandten in sie überfließen ließen, bis sie aufgeladen ge nug war, um ins untergeordnete Kontinuum überzuwechseln. Bist du bereit? strömte die Frage von allen Seiten zugleich auf sie ein. Leenia signalisierte Zustimmung. Sie führte sich noch einmal zu Bewußtsein, was sie über die Entführung der Bewußtseine durch die Schergen des Dunklen Oheims wußte. Nachdem die Opfer durch die an ihnen vor genommene Impfung dahingehend präpa riert worden waren, daß man ihnen ihre Be wußtseine aus dem schon so gut wie leblo sen Körper entziehen konnte, wurden diese Bewußtseine in ihre positiven und negativen Komponenten aufgespalten. Die positiven Bewußtseinsteile wurden nach ihrem Abzug in einer bestimmten Blase, zu der die Kör perlosen bisher noch keinen Zugang gefun den hatten, gesammelt und gespeichert. Über den Zweck, den diese für den Dunklen Oheim zu erfüllen hatte, war nichts bekannt. Man wußte nur, daß sie sich in einem über geordneten Kontinuum befand und mit dem Dunklen Oheim verbunden sein mußte. Die negativen Bewußtseinsteile wurden ebenfalls gesammelt. Die Theorie der Kör perlosen über sie war dahingehend, daß es irgendwo eine Zentrale gab, in der alles Ne gative und Böse gespeichert und über ein ausgeklügeltes Verteilernetz wieder in der Schwarzen Galaxis abgegeben wurde. Auf diese Weise entstand die dunkle und be drückende Aura, die dieser Sterneninsel ih ren Namen gab. Es war das Fernziel der Körperlosen, eines Tages diese Sammelstel le zu finden und sie ebenso wie das Vertei lernetz zu zerschlagen.
9
Dazu brauchen wir Atlan, dachte Leenia, an die Wesenheiten um sie herum gewandt. Ja, kam die Antwort. Wir werden ihm bei seinem Kampf gegen den Dunklen Oheim und dessen Neffen helfen und versuchen, ihn in unserem Sinn zu lenken. Nur ein Sterbli cher ist in der Lage, die Motive Sterblicher zu begreifen und ihnen entgegenzutreten. Verhaltener Spott schwang in Leenias Ge danken mit, als sie entgegnete: Noch vor kurzem dachtet ihr anders über ihn. Wir geben zu, daß wir ihn unterschätzten, obwohl wir nie an seiner positiven Gesin nung zweifelten, Leenia. Und du weißt, wa rum wir uns dagegen sträubten und immer noch dagegen sind, daß du zu lange in der Aura des Bösen verweilst. Ja, dachte Leenia. Sie wußte, daß sie zu kostbar war, um leichtfertig in Gefahr ge bracht zu werden, und noch stellte jeder Ein satz ein unkalkulierbares Risiko dar. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß sie bisher keinen Schaden bei ihren »Ausflügen« genommen hatte. Sie war kostbar und anders. Leenia stellte die Frage diesmal offen. Sie wollte wissen, wer sie war, ob sie sich aus sich selbst her aus zu dem entwickelt hatte, was sie nun darstellte. Wie immer erhielt sie keine Ant wort darauf, obwohl sie ihre Frage fordernder als je zuvor stellte. Du mußt jetzt gehen, sagten sie und ver schlossen sich. Allerdings entging Leenia ei nige ablehnende Schwingungen nicht, die gegen Wommser gerichtet waren. Wommser wurde, das wußte Leenia, für ihr respektlo ses Auftreten den anderen gegenüber verant wortlich gemacht. Leenia nahm den geraubten Bewußtseins teil Atlans in sich auf und konzentrierte sich. Die anderen wichen zurück, als sich die Energien um sie herum ballten. Ein Wirbel entstand im endlosen purpurnen Ozean, und dann war Leenia von einem Augenblick zum anderen verschwunden.
4.
10 Auch als Atlan den Raumgleiter am Rand eines der zahlreichen Werftkomplexe lande te, hatte man ihn weder über Funk angerufen oder ihm ein Empfangskommando entge gengeschickt. Dies war um so verwunderli cher, als der Arkonide mittlerweile festge stellt hatte, daß es auch auf dieser Welt des Grauens Scuddamoren gab, die sich die Ar beit und die Überwachung der Produktion offensichtlich mit Robotern teilten. Entweder gehörte es hier zur alltäglichen Routine, daß Angehörige von Hilfsvölkern kamen und gingen, oder die Scuddamoren waren so beschäftigt, daß sie ihn gar nicht zur Kenntnis nahmen. Vielleicht hatten sie auch wirklich Angst vor Kontrolleuren, oder es galt schlichtweg als Ding der Unmöglich keit, daß Unautorisierte zum Werftplaneten gelangten und auf ihm landeten. Sein Vorha ben, als Kontrolleur aufzutreten, mußte At lan jedoch schnell wieder aufgeben. Es war anzunehmen, daß die hier arbeitenden Scud damoren einen Steckbrief von ihm hatten. Atlan mußte sich vor ihnen verborgen hal ten, solange es ging. Aber wie? Der Anzug der Vernichtung vermochte zwar vieles, aber er konnte seinen Träger nicht unsichtbar ma chen. Atlan blickte den Roboter neben sich an. Wieweit konnte er sich auf die Maschine verlassen? Wurde jedes Wort, das er zu ihr sagte, automatisch an andere Stellen weiter gegeben, oder stellte sie eine isolierte Ein heit dar? Atlan mußte das Risiko eingehen, daß an dere »mithörten«. Je länger er darüber nach dachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihm allerdings, daß sein Begleiter »harmlos« war. Hätten seine Artgenossen oder die Scuddamoren von ihm schon etwas erfahren, so müßten sie längst erschienen sein. Daß er Atlan nicht zu diesem Vaskäner führen konnte, der wohl der Kommandant der hier stationierten Scuddamoren war, zeigte, daß er für die Scuddamoren gar nicht existierte. Er war unwichtig. Dem Roboter gegenüber wollte er seine Rolle weiterspielen. Wieder ertappte er sich dabei, daß er still in sich hineinlauschte, um
Horst Hoffmann eine Bestätigung oder einen Widerspruch zu hören. Bevor er den Roboter instruierte, schaltete er noch einmal einige Photographien, die er vom Weltraum aus und unter der Wolken schicht gemacht hatte, auf den Bildschirm. Atlan sah noch einmal die gewaltigen An lagen, die fast die Hälfte der Landmassen des Planeten bedeckten, der zu zwei Dritteln aus Meeren bestand. Infrarotbilder zeigten, daß die Anlagen bis tief unter die Oberflä che dieser Welt reichten. Atlan hatte sich zur Landung einen Platz ausgesucht, an dem die Ballung der Anlagen am stärksten zu sein schien. »Du weißt, warum ich hier bin«, sagte er nun zu seinem Begleiter. »Und du müßtest ebenfalls wissen, daß ich für die hier statio nierten Scuddamoren unerwartet komme.« »Kontrolleure kündigen ihre Besuche sel ten vorher an«, antwortete der Roboter. »Allerdings ist noch nicht viel Zeit seit dem letzten Besuch eines Kontrolleurs vergan gen.« Atlan nickte grimmig. Seine Befürchtung, von einem echten Kontrolleur überrascht zu werden, schien unbegründet zu sein. »Das hat seinen Grund«, fuhr er fort, je des Wort reiflich überlegend. »Ich habe vor, mich überall dort umzusehen, wo man mich nicht erwartet. Du wirst dafür sorgen, daß ich nicht gestört werde.« Als der Roboter schwieg, fügte Atlan hinzu: »Um mir meine Arbeit zu erleichtern, wirst du mir genaue Pläne der hiesigen Anlagen beschaffen, dazu Skizzen des Produktionsablaufs von der Landung der Transporter bis zur Fertigstel lung der neuen Organschiffe. Dadurch spare ich Zeit. Außerdem wird es deine Aufgabe sein, den Scuddamoren glaubhaft zu ma chen, daß ich ihre Arbeit von hier aus kon trolliere. Ist dies soweit klar?« »Ja, Herr«, kam es vom Roboter. Atlan at mete auf. »Kannst du direkt mit den Robotern in den Werften in Verbindung treten – mit al len?« »Ja, Herr.«
Der Saboteur »Dann teile ihnen mit, daß sie mich zu ignorieren haben. Du weißt, daß die Befehle eines Kontrolleurs Vorrang vor allen ande ren haben?« Einen Moment lang hatte der Arkonide das Gefühl sich auf Glatteis zu begeben. Er fieberte jedesmal der knappen Antwort des Roboters entgegen. Es waren bange Sekun den, in denen er sich fragte, was ein plötzli ches »Nein, Herr« auslösen würde. Doch wieder bejahte die Maschine. »Sie sind instruiert, Herr.« »Gut. Dann besorge mir jetzt die Pläne.« Atlan erschrak, als der Roboter sich um drehte und auf die Schleuse des Raumglei ters zu ging. Dann fragte er sich, was er ei gentlich anderes erwartet habe? Um ihm das Gewünschte zu beschaffen, mußte der Robo ter den Gleiter verlassen und sich an die Computer, die wahrscheinlich einen Groß teil der Produktion der Organschiffe lenkten, anschließen. Der Arkonide unterdrückte den Wunsch, seinen Begleiter zurückzurufen. Unsicherer denn je beobachtete er über den Bildschirm, wie der Roboter über das freie Gelände bis zu den nächsten großen Kuppeln schwebte und in einer von ihnen verschwand. Er hielt den Atem an, als kurz darauf sieben Scudda moren erschienen. Doch sie kamen nicht auf ihn zu, sondern bestiegen eine breite Platt form, die sich sofort erhob und auf das Lan defeld hinausschwebte. Jetzt konnte Atlan sehen, wie sich mindestens zwanzig schwar ze Transporter aus der dichten Wolkendecke schälten und zur Landung ansetzten. Die Scuddamoren kamen nun von überallher. Das Landefeld – Atlan schätzte seine Größe auf etwa drei mal drei Kilometer – war nach einer Seite hin frei und ansonsten von den riesigen Kuppeln und schlanken, durch me terdicke Röhren miteinander verbundenen Türmen umrahmt. Hinter diesen Bauwerken befand sich die eigentliche Anlage, die sich nach allen Richtungen viele Kilometer ins Land hinein erstreckte. Wie weit sie in die Tiefe des Planeten hineinreichte, war kaum abzuschätzen, doch da Atlan aus der Luft
11 nur gelandete Sechseckschiffe, aber keine Organschiffe gesehen hatte, mußten sich die eigentlichen Produktionsanlagen unter der Oberfläche befinden. Während nun überall hektische Betriebsamkeit herrschte, nahm immer noch niemand von seinem Gleiter Notiz. Zu den Scuddamoren gesellten sich Roboter der verschiedensten Typen. Sie ka men direkt aus dem Boden. Überall bildeten sich Öffnungen. Mehrere große Transport scheiben erschienen vor den Sechseckschif fen und warteten, bis sich deren Schleusen öffneten. Atlan mußte mitansehen, wie die Toten entladen und auf die Transportscheiben ver frachtet wurden, die sofort wieder im Boden des Landefelds verschwanden, sobald sie voll beladen waren. Atlan mußte sich zusammenreißen und den unbändigen Drang unterdrücken, jetzt schon den Gleiter zu verlassen, loszurennen und sich blind vor Zorn und Abscheu auf die Roboter und Scuddamoren zu stürzen. Hilflos mußte er dem grausamen Treiben zusehen, bis alle Schiffe entladen und die Roboter und Scuddamoren mit ihren Schei ben verschwunden waren. Wieder breitete sich Stille aus. Was nun geschah, fand unter der Planetenoberfläche statt. Atlan durfte nicht daran denken, um nicht den Verstand zu verlieren. Er wünschte sich eine Streitmacht, einige zu allem entschlossene Kämpfer, mit denen er losschlagen konnte. Doch er war allein – allein gegen eine ganze Welt. Endlich kehrte der Roboter zurück. Wie der im Gleiter, reichte er dem Arkoniden ei nige Folien mit Skizzen und Texten darauf, die sich aus einem Schlitz in seinem Körper schoben. Atlan studierte sie sorgfältig und nahm al les, was ihm wichtig erschien, in sich auf. Er wußte nun in etwa, wo er anzusetzen hatte. Als er den Raumgleiter verließ, war Atlan für die robotischen Helfer der Scuddamoren identisch mit dem nach Ärterfahl gekomme nen Kontrolleur. Den Namen des Werftpla neten hatte Atlan ebenfalls den Skizzen ent
12
Horst Hoffmann
nehmen können. Der Arkonide gelangte in die Kuppel, die der Roboter betreten hatte, ohne aufgehalten zu werden. Die Oberfläche des Planeten, zu mindest in der Umgebung des Landefelds, wirkte jetzt wie ausgestorben.
* Atlan wußte in etwa, wie und wo sich die Produktion der Organschiffe unter der Ober fläche vollzog. Dort wurde der organische Stoff für die Hüllen der Raumer zum größ ten Teil in riesigen Kesselanlagen gezüchtet. Die Leiber der Toten bildeten nur einen win zigen Teil der fertigen Organmasse. Die Konstruktion des anorganischen Gerüsts der Schiffe unterschied sich nicht sehr von der »normaler« Raumschiffe. Fast alle über der Oberfläche gelegenen Anlagen dienten der Kontrolle und Koordi nation, dem Verkehr mit anderen Welten und als Wohn und Aufenthaltsräume der Scuddamoren. Es war so gut wie unmöglich, hier etwas auszurichten. Lange bevor es At lan gelingen konnte, die Computer umzupro grammieren oder von hier aus auf andere Weise in den Produktionsprozeß einzugrei fen, würde man ihn entdeckt und als Sabo teur entlarvt haben. Er mußte nach unten gelangen, wo ein di rekter Eingriff möglich war. Atlan verwarf zahlreiche Überlegungen, bevor er beschloß, sich Zugang zu den Kesseln zu suchen, in denen die Organmasse herangezüchtet wur de. Dort eine Manipulation vorzunehmen er schien ihm am erfolgversprechendsten. Das Problem, das sich zunächst stellte, war, wie er unbemerkt unter die Oberfläche gelangen konnte. Atlan befand sich in einem mit fremdartigen Instrumenten ausgefüllten Raum, von dem aus er durch eine Luke das Landefeld überblicken konnte. Als sich er neut schwarze Transporter darauf herab senkten und die Roboter und Scuddamoren aus den Öffnungen im Boden kamen, war er bereit. Er wartete mit klopfendem Herzen, bis die Entladungstrupps bei den gelandeten
Schiffen waren. Dann verließ er die Kuppel und rannte auf die nächste Bodenöffnung zu. Es war ein Schacht, dessen Ende nicht zu er kennen war. Es gab weder Leitern noch Treppen oder Anzeichen dafür, daß die Ro boter mit einem Lift an die Oberfläche ge bracht worden waren. Atlan sah sich um und fand eine große Schraube. Er hob sie auf und ließ sie in die Tiefe fallen. Wie er gehofft hatte, wurde sie von einem Antigravfeld aufgefangen und sank langsam nach unten. Atlan vertraute sich dem Feld an. Es wur de dunkel um ihn herum, und bald sah er nur noch einen hellen Punkt über sich. Dann wurde unter ihm ein rötliches Leuchten wahrnehmbar, dessen Intensität sich bald schnell steigerte, bis Atlan festen Boden un ter sich sah. Er landete sanft mitten in einer flachen, ausgedehnten Halle – und neben ei nem Robotertrupp. Die etwa anderthalb Meter großen Ma schinen, Eier mit allerlei Tentakeln und An tennen, blieben nur kurz stehen, als sie ihn bemerkten. Atlan spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß. Instinktiv machte er einige Schritte zurück und nahm eine abwehrende Haltung ein. Er rechnete mit einem Angriff oder zumindest einem Anruf, doch die Ro boter setzten sich wieder in Bewegung, ohne ihn weiter zu beachten. Sie schoben etwas auf einer Art Lore vor sich her. Es sah aus wie ein Sack, der sich zu bewegen schien. Der Trupp erreichte die gegenüberliegen de Wand, verschwand in einer Nische und sank langsam nach unten. Atlan sah sich um. Die Halle war leer – bis auf ein halbes Dut zend eben jener Säcke, wie sich einer in der Lore befunden hatte. Jetzt erst fielen dem Arkoniden die in den Boden eingelassenen schmalen Schienen auf. Er ging ihnen nach bis zum Ende der Halle, wo sie wenige Me ter neben den Säcken in einer zweiten Ni sche endeten. Atlan beugte sich vor, um nach unten zu sehen, und schrak zurück. Ein zweiter Robotertrupp kam auf einer Liftplattform herauf. Die Lore, um die sie herumstanden, war leer. Sie wurde auf die
Der Saboteur Schienen gesetzt. Atlan stand fest gegen die Wand gedrückt und beobachtete, wie die Maschinen einen der Säcke packten und ihn vorsichtig in die Lore legten. Und diesmal sah er es ganz genau: Der aus schwarzem, plastikähnlichem Material bestehende Sack bewegte sich. Atlan wartete, bis die Roboter mit ihrer Fracht die Halle durchquert hatten und in der gegenüberliegenden Nische verschwun den waren, dann ging er vorsichtig auf die Säcke zu und streckte langsam eine Hand nach einem aus. Das Material war völlig glatt und ließ sich mühelos eindrücken. Im nächsten Augenblick stieß der Arkoni de einen Schrei aus und riß den Finger zu rück, als der Sack sich blitzschnell vorwölb te und sich um seine Hand schließen wollte. Was immer sich in ihm befand – es reagierte auf die Berührung. Es lebte. Atlan hörte den Aufzug wieder kommen und zog sich schnell zur Wand zurück. Der nächste Sack wurde aufgeladen und fort transportiert. Atlan rief sich die Skizzen, die er von sei nem Roboter erhalten hatte, in den Kopf zu rück. Wenn er sich im Antigravschacht nicht gedreht hatte, lag die Nische, in die die Säcke geschafft wurden, in der gleichen Richtung, in der sich auch die Behälter mit der organischen Zuchtmasse befanden. Be fand sich dann in den Säcken einer der Grundstoffe für diese Substanz? War es Protoplasma ohne eigenes Be wußtsein, das nur instinktiv auf Bewegun gen reagieren konnte, oder handelte es sich bereits um eine Form bewußten Lebens? Atlan mußte zu den Kesseln gelangen, um die Antwort zu erhalten. Er überlegte, ob er sich nicht einfach der nächsten Roboterko lonne anschließen sollte. Als wieder ein Trupp erschien, ohne Notiz von ihm zu neh men, wagte er es, wobei er wieder darauf wartete, daß sich etwas in ihm meldete und ihn warnte oder anspornte. Nichts. Atlan wartete, bis die Roboter einen Sack aufgela den hatten, und schloß sich ihnen an. Sie zeigten keine Reaktion. Sie erreichten die
13 Nische. Atlan zwängte sich neben den Ro botern hinein, bevor die Liftplattform sich in die Tiefe senken konnte. Er verspürte ein Ziehen im Magen, als es schnell abwärts ging. Die Plattform kam zum Stillstand. Atlan befand sich mit den Robotern und ihrer Fracht in einer kleinen Kammer. Lautlos fuhr eine Wand zur Seite, und nun blickte der Arkonide in einen riesigen Komplex. Die Halle war mehrfach unterteilt. Ihr En de war nicht zu erkennen. Die Decke befand sich schätzungsweise zwanzig Meter über Atlans Kopf. Überall in den Wänden waren Nischen, zu denen Schienenstränge führten. Einige Loren standen leer davor oder direkt vor den Kesseln. Es waren eher riesige Bottiche aus kupfer farben schimmerndem Metall Atlan schätzte ihren Durchmesser auf zehn und die Höhe auf fünfzehn Meter. Oben verjüngten sie sich wie Glocken. Mehrere durchsichtige Röhren führten von großen Würfeln aus überall in sie hinein, andere, erheblich dicker und nicht transparent, verschwanden in der Decke. Atlan zählte vier Kessel, aber es war mög lich, daß es weitere in anderen Hallen gab. Vor jedem der Würfel befand sich ein schräg in ihn hineinführender Trichter, und in einen dieser Trichter entleerten die Robo ter die Säcke. Atlan sah angeekelt, wie eine dunkelbrau ne Masse zuckend aus den Säcken glitt und in den Trichter rutschte. Er war bei der Ni sche stehengeblieben. Jetzt mußte er zur Sei te weichen, als der nächste Trupp mit neuem Plasma erschien. Weitere Roboter befanden sich weiter hinten in der Halle. Von Scudda moren war nichts zu sehen. Plötzlich heulte eine Sirene auf. Atlan schrak zusammen. Sie haben mich entdeckt! war sein erster Gedanke. Er sah sich um, suchte nach einem Fluchtweg, aber nichts geschah, außer daß die Roboter den Trichter in den Würfel hinein klappten. Aus einer anderen Nische tauchten neue Maschinen auf, die ebenfalls etwas in Loren
14 vor sich her schoben. Diesmal handelte es sich um Behälter, die Atlan an große Gasfla schen erinnerten. Sie machten vor einem an deren Würfel halt und kippten die Behälter in dessen Trichter. Atlan sah zur Decke auf und war sicher, daß die dort verschwindenden Röhren über ihr weiterliefen und die in den Kesseln pro duzierte Substanz weiterleiteten, bis sie nach mehreren Verarbeitungsprozessen ihr Ziel erreichte: die eigentlichen Werften, wo die unfertigen Organschiffe auf ihre Hülle war teten. Hier mußte er ansetzen. Solange weitere Grundstoffe in die Kessel gegeben wurden, konnte der Prozeß, der in ihnen ablief, nicht beendet sein. Vermutlich dauerte es sogar noch Stunden oder Tage, bis die »gezüchtete« Organsubstanz sie verlassen würde. Atlan besaß keine Waffen. Mit einem lei stungsfähigen Strahler hätte er die gesamte Anlage vielleicht so zusammenschmelzen können, daß sie nie mehr zu gebrauchen war. Was auch immer in den Kesseln zusam mengebraut wurde – es entstand nach einem genauen Rezept. Mit zusammengebissenen Zähnen beschloß Atlan, diesen Kuchen ge hörig zu verderben. Dies konnte nur ein er ster Schritt sein. Atlans Ziel war es, die ge samte Werft ein für allemal unbrauchbar zu machen. Vielleicht bot sich ihm die Chance dazu in dem Chaos, das es erst einmal zu entfes seln galt. So machte sich der Arkonide auf die Su che nach etwas, das er in einen der Trichter geben konnte. Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Die Robo ter, die die Säcke hierhertransportiert hatten, machten sich auf den Rückweg. Ihre Aufga be war nun offensichtlich erfüllt. Atlan schloß sich dem zweiten Trupp an. Diesmal wurden sie, wie er vermutet hatte, vom Aufzug nach oben getragen. Doch er brachte sie nicht in die Halle, in der sie die Säcke aufgeladen hatten, sondern in eine an-
Horst Hoffmann dere, kleinere. Und diesmal sah Atlan Scud damoren. Der Arkonide reagierte instinktiv. Er sah eine Reihe von Kisten gleich links neben sich. Zwischen ihnen und der Wand war ein kleiner freier Raum, in den er gerade hineinpaßte. Er ließ sich hinter die Kisten fallen und hoffte inbrünstig, daß die Roboter ihn nicht verrieten, denn noch hatten die Scuddamoren ihn nicht bemerkt. Sie waren zu dritt und über eine hüfthohe Säule ge beugt, auf der eine Kugel saß. Anscheinend handelte es sich um ein Kommunikationsge rät, denn sie sprachen irgend etwas vor sich hin, das Atlan nicht verstand. Die Kugel leuchtete rhythmisch immer dann, wenn sie schwiegen. Durch einen Spalt zwischen zwei Kisten verfolgte Atlan, wie die Roboter nun von ih nen instruiert wurden. Ein Trupp kam genau auf die Stelle zu, an der Atlan steckte, und nahm eine der Kisten. Atlan rückte weiter nach links. Als er dann sah, was weiter geschah, mußte er einen Triumphschrei unterdrücken. Die Maschinen öffneten die Kisten. Ein brauner, mit grünen Adern durchzogener Klumpen klatschte zu Boden. Ein Roboter holte einen der bekannten schwarzen Säcke herbei. Erst jetzt sah Atlan, daß mehrere lee re Säcke in einer Ecke des Raumes aufein andergestapelt waren. Das war also die braune Schlacke im Ur zustand. Die Roboter machten sich daran, die grünen Adern säuberlich aus ihr heraus zuschneiden, wobei die Masse um so hefti ger zu pulsieren begann, je mehr Adern ent fernt wurden. Die Sorgfältigkeit, mit der die Maschinen zu Werke gingen, deutete darauf hin, daß die Adern unter keinen Umständen mit in die Säcke und später in die Kessel ge langen durften. Als die Scuddamoren die Halle verließen, nachdem sie die Arbeit der Roboter eine Zeitlang überwacht hatten, wußte Atlan, was er zu tun hatte.
*
Der Saboteur Atlan wartete. Immer wieder zwang er sich zur Geduld und rückte weiter nach links, wenn von rechts Kisten genommen wurden. Schon fragte er sich, wie er sich herausreden wollte, falls die Roboter alle Kisten öffnen würden, als wieder ein Heul ton erklang und sie ihre Arbeit einfach ste henließen, um die Halle zu verlassen. »Na endlich!« knurrte Atlan. Er kam jetzt hinter den Kisten hervor. Etwa zwei Dutzend Säcke waren mit der braunen Masse gefüllt worden. Die grünen Adern lagen wie glitschige Würmer auf ei nem Haufen. Sie stanken furchtbar. Atlan vermutete, daß als nächstes ein Trupp auf tauchen würde, um den »Abfall« abzuholen – jene Substanz, die nicht in die Kessel ge langen durfte. Atlan wollte nicht darauf warten. Er nahm einen der leeren Säcke, hielt ihn mit einer Hand auf und griff mit der anderen in die grüne Masse hinein. Die glitschigen Adern rutschten ihm durch die Finger. Nur mit äu ßerster Selbstüberwindung schaffte der Ar konide es, wieder nach ihnen zu greifen. Der Ekel drohte ihn zu überwältigen. Doch schließlich war der Sack voll. Atlan versteckte sich wieder hinter den Kisten und wartete, bis wieder Roboter ka men. Sie holten nicht den »Abfall«, sondern die vollen Säcke. Wohin sie sie brachten, war leicht zu erraten. Atlan schloß sich dem zweiten Trupp an. Er trug den Sack mit den grünen Adern, die zu einem zähen Brei ge worden waren. Wenn die Roboter dies wahrnahmen, rea gierten sie nicht darauf. Atlan erreichte die Halle, in die er von der Oberfläche aus gelangt war, dann auf dem gleichen Weg wie schon zuvor die riesige Anlage mit den Kesseln. Wieder mußte er warten, bis eine Gruppe von Robotern gerade verschwunden und der nächste Trupp noch nicht erschienen war. Diejenigen weiter hinten an den anderen Kesseln interessierten ihn im Augenblick nicht. Er lief mit dem Sack auf den nächsten aus einem Würfel ragenden Trichter zu und
15 schüttete etwa ein Viertel der grünen Masse hinein. Dann hastete er zum nächsten Kessel und verfuhr dort genauso. Eine Sirene heulte auf, und diesmal bedeutete sie nicht, daß ein Arbeitsprozeß beendet war oder begonnen werden mußte. Atlan wußte, daß ihm viel leicht nur noch Sekunden blieben. Er sorgte dafür, daß auch der dritte Kessel mit dem grünen Brei versorgt wurde. Als er Kessel Nummer vier erreichte, waren die Scudda moren da. »Packt ihn!« schrie einer von ihnen. Atlan ließ den Sack fallen und sah sich gehetzt um, als die Schattenhaften von allen Seiten anrückten und ihre Waffen auf ihn richteten. »Nicht schießen!« hallte eine dunkle Stimme durch die Anlage. Sie kam nicht von einem der Scuddamoren. »Wir brauchen ihn lebend!« »Niemals!« schrie Atlan. Er sah die Lore, rannte darauf zu und stieß die beiden Roboter, die sie schoben, zur Seite. Dann brachte er das Gefährt in Schwung und warf sich hinein. Neben ihm explodierte etwas. Grelle Blitze blendeten ihn. Er hörte die Schreie der Scuddamoren und weitere Detonationen. Irgend etwas fuhr pfeifend an seinem Ohr vorbei. Die Lore rollte weiter. Es gab einen Ruck. Atlan wur de aus dem Wagen geschleudert und blieb benommen liegen. Seine Ohren waren taub, und immer noch konnte er nichts sehen. Doch irgend etwas geschah mit ihm. Er kannte dieses Gefühl im Magen. Er mußte eine der Nischen erreicht haben, und der Aufzug raste mit ihm irgendwohin – ob nach oben oder unten, vermochte der Arkonide nicht zu sagen.
5. Bordinfeel war einer jener Planeten inner halb der Schwarzen Galaxis, dessen Bewoh ner noch relativ frei leben konnten. Natür lich waren auch sie der Aura dieser Sternen insel ausgesetzt, doch sie hatten gelernt, da mit zu leben. Es gab keine Stützpunkte raumfahrender Rassen auf Bordinfeel. Die
16 Welt der Grallen war für die Hilfsvölker der Neffen uninteressant. Bordinfeel war eine Sauerstoffwelt am Rand des Marantroner-Reviers, auf den er sten Blick ein unberührtes Paradies. Nur wer genauer hinsah, bemerkte die schnurgeraden Kanäle, die die Savannen und Buschwälder durchzogen, die an verschiedenen Stellen zu Zisternen erweitert waren. In diesen Zisternen hockten die Erbauer der Wasserwege, wenn sie ihr Tagwerk vollendet hatten oder nachdachten. Die Gral len waren Philosophen und Denker. Sie sa hen einem ovalen Kürbis mit sechs Ärmchen nicht unähnlich, dazu kamen zwei kräftige, mit Schwimmflossen versehene Beine. Der Kopf war eine Verdickung am oberen Teil des Körpers, mit zwei kleinen Augen, einer Mund und einer Atemöffnung. Das Lebens ziel eines jeden Grallen war es, einen per fekten Kanal zu bauen, in dem diese Wesen sich selbst verwirklicht sahen. Sie trieben diese Kanäle nicht einfach in die Land schaft, sondern bauten sie nach ganz be stimmten Gesichtspunkten. An der Art und Weise, wie ein Kanal angelegt war, konnten alle anderen die geistige Reife des Konstruk teurs erkennen. Ein Gralle baute mehrere Jahre an seinem Bannistero, wie dieses Volk seine Kanäle nannte. Als Namenloser be gann er sein Werk, und als geachtetes, reifes Mitglied der lockeren Gemeinschaft beende te er es. Jede Zisterne dokumentierte ein Stück des Reifeprozesses, den ein Gralle beim Bau seines Bannisteros durchmachte. Für die Grallen gab es nichts Schlimmeres als die Zerstörung ihrer Arbeit durch Natur gewalten oder die wild lebenden Tiere. Sie hatten gelernt, die Kanäle gegen alle nur denkbaren schädlichen Umwelteinflüsse ab zusichern. Dennoch kam es immer wieder zu Katastrophen. Ein solches Unglück war Kirso Bal Taur widerfahren, ausgerechnet ihm, dem noch jungen Grallen, der schon jetzt, nachdem er gerade die zweite Zisterne hatte errichten können, die Hochachtung der Älteren genie ßen durfte. Grallen kamen oft von weither,
Horst Hoffmann um die Perfektion zu bewundern, mit der Taur zu Werke ging. Nun stand er vor den Ruinen seiner Ar beit. »Das ist nicht das Werk eines Tieres«, sagte Minko Bal Poohl. Die Laute wurden von einer auf und abschwellenden Blase zwischen dem oberen Armpaar produziert. Ein Mensch hätte sich an das Quaken von Laubfröschen erinnert gefühlt und niemals für möglich gehalten, welche Feinheiten die Sprache der Grallen besaß. Der alte Gralle war eigens von seiner siebten Zisterne zum Ort der Verwüstung geeilt, um mit eigenen Augen zu sehen, wel ches Unglück über Taur gekommen war. Minko Bal Poohl trug, frei übersetzt, den Ti tel »Meister der Geradlinigkeit«. Außer ihm gab es zur Zeit nur zwei Grallen auf Bordin feel, von denen man wußte, daß sie sieben Zisternen besaßen. Alle anderen, die jetzt gekommen waren, um Taur zu trösten und neuen Mut zuzusprechen, begegneten ihm mit großem Respekt. »Nein«, sagte Taur. »Es war kein Tier und auch nicht das Wirken eines bösen Na turgeists. Irgend jemand hat den Bannistero mutwillig zerstört.« Damit sprach er einen schwerwiegenden Verdacht aus. Es gab unter den Grallen kei nen größeren Frevel, als die Arbeit eines an deren zu sabotieren. Wer solches tat, wurde aus der Gemeinschaft ausgestoßen und ge brandmarkt, so daß er nirgendwo auf ganz Bordinfeel je wieder Aufnahme in die Ge meinschaft der Kanalbauer finden würde. Die Herbeigeeilten schwiegen betroffen. Einige gingen unruhig auf und ab. Die Fort bewegung und der Aufenthalt auf festem Land waren unangenehm für sie. Wenn ein Gralle den anderen besuchte, kam er norma lerweise auf dem Wasserweg. Alle fertigen Bannisteros waren an einer einzigen, gut ab gesicherten Stelle durch einen kleinen Kanal mit den anderen verbunden. »Bist du dir über die Konsequenzen dei ner Worte im klaren?« fragte Keena Dol Muun besorgt. Sie sollte den Bannistero mit
Der Saboteur Taur teilen, wenn er fertiggestellt war und Taur die Mannesreife erreicht hatte. Noch lebte sie im Bannistero ihrer Eltern. »Du willst die Beschuldigung ausspre chen?« kam es wieder von Minko Bal Poohl. Taur erschauerte. Lange starrte er unsi cher auf die Verwüstung – ein mehrere Kör perlängen messendes Stück der Kanalwand kurz vor der zweiten Zisterne. Das Erdreich war schwarz, als hätte ein furchtbarer Brand gewütet, aber Lehm fing nicht von alleine Feuer und die Gräser ringsherum waren un versehrt. Kein Feuer hätte die armdicke Lehm schicht des Kanalrandes durchdringen kön nen. Es sah fast so aus, als hätte sich die schwarze Glut hindurchgefressen. Das aus dem Bannistero entwichene Wasser füllte ei ne ebenfalls einfach in den Boden gebrannte Mulde, in der zehn Grallen Platz gefunden hätten. Die Beschuldigung … Wer sie aussprach, bezichtigte ein Mit glied der Gemeinschaft der Sabotage. Die Grallen würden ihre Arbeit an ihren Banni steros einstellen und nicht eher ruhen, bis entweder der Schuldige gefunden oder die Frist von zehn Monden ergebnislos verstri chen war. In letzterem Fall würde derjenige, der die Beschuldigung ausgesprochen hatte, selbst verstoßen werden. So verlangten es die uralten Gesetze. Die Grallen waren ein friedliches Volk, aber unerbittlich jedem ge genüber, der ihre Harmonie zu stören wagte. »Nein«, sagte Taur leise. »Ich werde eine neue Wand bauen und dabei die Augen of fenhalten. Ich habe keine Feinde unter euch.« Dies war eine verbreitete Formulierung, mit der ein Gralle seinem Stolz Ausdruck gab, anerkanntes und geliebtes Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Taur wußte sehr wohl, daß es Neider gab, die ihm seinen stei len Aufstieg nicht recht gönnten. »Dann ist es gut«, sagte Minko Bal Poohl. Der Würdenträger wandte sich an die ande ren: »Laßt uns in unsere Zisternen zurück kehren. Taur ist gefestigt genug, um sich
17 von diesem Schlag des Schicksals zu erho len. Der Geist sei mit dir, Kirso Bal Taur!« »Der Geist sei mir dir!« erwiderte der Junge Gralle den Gruß. »Mit euch allen!« Er blieb allein zurück. Traurig sah er Kee na Dol Muun nach, als sie mit den Älteren davonging. Wie sehr sehnte er sich nach dem Tag, an dem er die vierte Zisterne er richten und damit die Würde erlangen konn te, sie zur Gefährtin zu nehmen und einen Nachkommen zu zeugen. Die Katastrophe hatte ihn um viele Mon de zurückgeworfen. Taur ließ sich ins Wasser fallen und schwamm in den durch das Unglück entstan denen Teich. Noch einmal untersuchte er die Wände. Der Lehm war nicht nur schwarz, sondern so glatt, als ob er geschliffen wor den wäre – glatter als die Wände von Poohls Zisternen. Kein Gralle konnte dieses Wunder in ei ner einzigen Nacht vollbracht haben, und erst recht kein Tier. Kein Blitz war in der vergangenen Nacht vom Himmel geschleu dert worden. Die einzige Erklärung, die Taur finden konnte, war, daß tatsächlich ein ihm nicht wohl gesinnter Naturgeist verantwort lich war. Aber warum? Taur hatte sich streng an die Gesetze gehalten und jeden Körperbreit seines Bannisteros der Allmacht der Natur geweiht. Taur machte sich an die Arbeit. Mühsam schaffte er neuen Lehm heran und holte Zweige, um daraus ein fei nes Netz zu machen, das das Fundament der neuen Kanalwand bildete und dem Lehm den nötigen Halt gab. Dann mußte er die Mulde leeren und mit Erdreich füllen, denn neben einem Bannistero durfte kein Wasser stehen. So verging der Tag. Am Abend zog sich der junge Gralle in seine Zisterne zurück, doch nicht, um im Schlaf neue Kraft für den nächsten Tag zu sammeln. Taur legte sich auf die Lauer, und als der Mond am höchsten stand, sah er das fremde Wesen mit den leuchtenden Augen.
18
Horst Hoffmann
6. Es gab einen heftigen Ruck, und Atlan wußte, daß die rasende Fahrt im Aufzug zu Ende war. Der Druck auf den Ohren hatte nachgelas sen. Immer noch war es dunkel um ihn her um. Atlan wurde sich bewußt, daß er immer noch auf dem Bauch lag. Einen Moment lang wußte er nicht, wie er sich zu verhalten hatte, ob er sich aufrichten oder liegen blei ben sollte. Er fühlte erneut die furchtbare Hilflosigkeit, die schreckliche Leere in sich. Dazu kamen die Zweifel. Hätte er mit dem Extrasinn ebenso gehandelt? Hätte er nicht eher gründlichere Vorbereitungen getroffen, bevor er zuschlug? »Melde dich doch!« schrie er. »Du mußt noch existieren, irgendwo!« Sofort schalt er sich einen Narren. Mußte er die Scuddamoren unbedingt auf sich auf merksam machen, bevor sie ihn von sich aus fanden? Die Nische, in der er angekommen war, öffnete sich. Grelles Licht drang herein. Wieder wurde Atlan geblendet, doch seine Befürchtung, bei den Explosionen in der Kesselhalle erblindet zu sein, bewahrheitete sich nicht. Nach wenigen Sekunden konnte er sehen. Erst jetzt nahm er das Heulen der Sirenen bewußt wahr. Er blickte in einen nur mäßig erleuchteten Raum, in dem allerlei Geräte, alte Kisten, kaputte Werkzeuge und defekte Roboter herumlagen oder in einer Ecke auf einen bis an die Decke reichenden Schuttberg gesta pelt waren. Zwischen dem Schrott befand sich eine Art Schaufellader und darin ein Roboter. Ansonsten war niemand im Raum. Hier gab es keine Nischen – außer der, in der Atlan sich noch befand –, sondern Atlan genau gegenüber einen breiten Korridor mit zwei markierten Fahrbahnen. Der Roboter im Sitz des Laders drehte den Kopf. Atlan sah in zwei rote Linsen und wußte, daß in diesem Augenblick der näch ste Scuddamorentrupp hierher gerufen wur-
de. Er sprang auf, rannte auf das Fahrzeug zu und stieß den Roboter aus dem Sitz. Dann sprang er selbst hinein. Wieder fühlte er sich wie gelähmt, als er die Kippschalter mit den Lämpchen darüber auf dem recht eckigen Kontrollbrett vor sich sah. Er hatte keine Sekunde zu verlieren und probierte sie der Reihe nach durch. Die mächtige Schau fel fuhr in die Höhe und schlug hart gegen die Decke, dann, als Atlan den betreffenden Schalter schnell wieder in die Ausgangsstel lung brachte, fiel sie auf den Boden zurück und knallte dort ebenso hart auf. Der Arko nide wäre fast aus dem Sitz geschleudert worden. Die nächsten Schalter. Lichter gin gen an und aus, ein Signal ertönte, und end lich setzte sich der Lader mit einem Ruck in Bewegung – allerdings in die falsche Rich tung. Atlan fand die Bremse gerade schnell genug, um nicht in die hinter ihm liegende Wand zu fahren. Schon hörte er Schreie und Schritte aus dem Korridor. Der Lichtkegel eines Scheinwerfers war auf einer Wand vor einer Biegung zu sehen. Atlan kippte den Schalter diesmal nicht nach oben, sondern nach unten. Sofort fuhr das Fahrzeug los. Es wurde durch eine Art Fahrradlenker gesteuert, mit dem Atlan nun keine Schwierigkeiten mehr hatte. Bremsen und Beschleunigen erfolgte durch Druck auf zwei Knöpfe. Als die Scuddamoren in kleinen, schalen förmigen Wagen mit sechs Rädern erschie nen, hatte der Arkonide den Schaufellader gewendet und beschleunigte voll. Sein Fahr zeug ruckte an und schoß auf den Korridor hinaus. Die Scuddamoren schrien auf und wollten zur Seite ausweichen, doch Atlan fuhr genau in der Mitte des Korridors. Eini ge der völlig überraschten Schattenhaften konnten rechtzeitig abspringen. Die anderen wurden mit ihren Wagen einfach zermalmt. Atlan beschleunigte weiter. Mit gesenkter Schaufel raste der Lader durch den Korridor, passierte weitere Hallen und fuhr immer ge radeaus, wenn Fahrbahnen abzweigten und in links und rechts gelegene Teile des sub planetaren Komplexes führten. Die Sirenen
Der Saboteur heulten ununterbrochen. Atlan hatte nur ei nes im Kopf: weg von hier! Er floh blind, als ob er sich nicht in einer Gigantanlage be fand, wo der Gegner überall war. In den Hallen standen Scuddamoren mit feuerberei ten Waffen, die offensichtlich nur darauf warteten, daß der Befehl, den Eindringling unter allen Umständen lebend zu fangen, aufgehoben wurde. Immer wieder dröhnte die seelenlose Stimme durch die Korridore: »Gib auf! Du kannst nicht entkommen!« Atlan raste weiter. Alles, was ihm im Weg stand, ob es nun leere Container waren oder Fahrzeuge, mit denen die Scuddamoren die Bahn zu blockieren versuchten, wurde von der Schaufel erfaßt und zur Seite ge schleudert. Der Wortlaut der ununterbrochen gegebe nen Aufforderung zur Kapitulation änderte sich: »Gib auf!« hallte es in Atlans Ohren. »Du wirst die Möglichkeit erhalten, dich vor ei nem Gericht des Neffen Chirmor Flog für deine Taten zu rechtfertigen!« »Ha!« brüllte Atlan. »Ich gebe auf, wenn von der Werft nichts mehr übrig ist!« Andere Sirenen mischten sich in das ohrenbetäubende Geheul und die Stimme. At lan drehte sich um und sah, daß er verfolgt wurde. Die schwerbewaffneten Scuddamo ren verfügten ohne Zweifel über schnellere Fahrzeuge als er und würden ihn bald einge holt haben. Atlan nahm eine Abzweigung. Er gelang te auf einen schmaleren Korridor. Das Licht war hier noch spärlicher. Ohne die starken Scheinwerfer des Schaufelladers hätte er kaum sehen können, wohin er fuhr. »Gib auf!« hörte er wieder. »Wir geben dir noch zehn Sekunden. Wenn du dich dann nicht ergeben hast, ergeht der Schießbe fehl!« Atlan lachte grimmig. Er hatte sich in einen wahren Rausch hineingesteigert. Er fuhr weiter, und erst die Schüsse der Verfol ger brachten ihn zur Besinnung. Sie waren knapp an ihm vorbei gezielt. Vermutlich
19
versuchten sie doch noch, ihn lebend in die Hände zu bekommen. Doch Atlan wußte, daß diesen Warnschüssen besser gezielte folgen würden, wenn er jetzt nicht aufgab. Fieberhaft überlegte er, wo er sich befand. Mit Sicherheit tiefer in der Anlage als zuvor, also unter den Kesselhallen. Alles deutete darauf hin, daß hier der oben angefallene Abfall gelagert und irgendwo vernichtet wurde. Vielleicht fuhr er geradewegs auf einen Konverter zu. Atlan sah, wie sich vor ihm eine Öffnung in der Korridorwand bildete, und handelte. Er bremste so hart ab, daß er mit dem Ober körper gegen die Kontrollen flog, und sprang aus dem Sitz, als er auf gleicher Hö he mit dem aus der Wand dringenden Licht war. Sein ganzes Denken war jetzt davon beherrscht, den Scuddamoren für den Mo ment zu entkommen. Vielleicht sprang er geradewegs in eine ihrer Fallen, als er nun hart auf dem Boden aufkam und sich abrol len ließ. Schüsse, die direkt neben ihm in die Wand fuhren, blendeten ihn. Kräftige Hände packten seine Arme und zogen ihn aus dem Korridor. Gleich darauf hörte der Arkonide, wie eine schwere Tür zuschlug. Sein unbe kannter Helfer zerrte ihn noch ein Stück mit sich fort, bis Atlan auf die Beine kam und aus eigener Kraft mitlaufen konnte. Immer noch konnte er nichts sehen. Hin ter ihm war das Röhren von schweren Ener giewaffen zu hören, deren Strahlen sich zi schend in Stahlwände fraßen. Weitere Türen wurden von seinem Helfer aufgerissen und geschlossen, bis Atlan wieder das Gefühl hatte, in einem Aufzug nach oben oder nach unten getragen zu werden. Nur Sekunden später erhielt er von dem Unbekannten einen Stoß in den Rücken und taumelte in einen erleuchteten kleinen Raum mit einem flachen Tisch und einem Stuhl darin. Außerdem sah er mehrere unfertig wirkende technische Geräte und ein Ding, das wie die Mischung zwischen einem alt modischen Fernsehgerät und einer mobilen Kleinstfunkstation aussah. Eine Tür schlug
20
Horst Hoffmann
krachend zu. Atlan drehte sich um und stieß einen Schrei aus. »Es scheint, daß mein Warten sich doch gelohnt hat«, sagte das Wesen, das breitbei nig vor ihm stand. Es war ohne Zweifel ein Scuddamore, obwohl er rein äußerlich nicht sehr viel mit jenen gemeinsam hatte, die At lan bisher zu Gesicht bekommen hatte. Der Fremde hielt eine Strahlwaffe auf die Brust des Arkoniden gerichtet.
* Vaskäner starrte auf den Bildschirm, bis die Rauchwolken sich verzogen hatten. Sie waren alles, was von dem Raumgleiter üb riggeblieben waren, mit dem der Fremde auf Ärterfahl gelandet war. Der Kommandant der Scuddamoren auf dem Werftplaneten schaltete ab und drehte sich langsam um. Zwischen zwei seiner Of fiziere stand der Roboter, der mit dem Ge jagten gekommen und gewaltsam aus dem Gleiter geholt worden war. »Du siehst, daß dein Freund uns nicht ent wischen kann«, sagte Vaskäner. »Selbst wenn er jemals wieder den Weg zur Ober fläche fände, säße er fest.« »Es handelt sich nicht um einen Freund«, erklärte der Roboter zum wiederholten Mal. »Er kam auf Ghyx an Bord unseres Schiffes und starb nicht wie die anderen Organi schen. Ich mußte annehmen, daß es sich um einen vom Neffen geschickten Kontrolleur handelte.« Der Kommandant wandte sich an die bei den Scuddamoren neben der Maschine. »Er weiß nicht mehr, als er bereits gesagt hat und ist nutzlos für uns. Bringt ihn fort. Löscht seinen Datenspeicher und program miert ihn neu.« Vaskäner blieb mit drei Beratern in seiner Zentrale zurück. Sie befand sich in einer der Kuppeln am Rand des Landefelds, das nun von schwarzen Sechseckschiffen übersät war. Sie waren alle gelandet. Im Weltraum stand eine neue Flotte von Organschiffen, die noch mit Galionsfiguren bestückt wer-
den mußten. Aber es war fraglich, wann und ob überhaupt ihnen weitere folgen würden. Fast die Hälfte der schwarzen Transporter war noch nicht entladen. Es hatte keinen Sinn, die Toten von Bord zu bringen, solan ge nicht feststand, ob der Schaden an den subplanetaren Anlagen überhaupt noch be hoben werden konnte, ohne daß Spezialisten von anderen Welten kommen mußten. Der Fremde hatte ganze Arbeit geleistet. Vaskäner fluchte lauthals. Nein, es handelte sich um keinen Frem den mehr. Vaskäner hatte wie jeder verant wortliche Scuddamore eine genaue Be schreibung des Mannes, der Chirmor Flog schon mehr Schaden zugefügt hatte als je ein Rebell vor ihm, und von dem es hieß, daß er sogar schon bis nach Säggallo vorge drungen war und dem Neffen persönlich ge genübergestanden hatte. Daß er von dort entkommen war, machte ihn nicht nur Vas käner unheimlich. Nun befand er sich in der Unterwelt von Ärterfahl, und Vaskäner war entschlossen, sich die Chance, die sich ihm hier und jetzt bot, nicht entgehen zu lassen. Welche Be lohnung mochte demjenigen winken, der At lan fing oder, falls das nicht möglich war, zur Strecke brachte? Vaskäner fluchte wieder. Er mußte reali stisch bleiben. Seine Belohnung konnte so aussehen, daß ihm die Strafe für sein Versa gen erspart blieb. Allein deshalb mußte er Atlan festsetzen oder dem Neffen als Leiche präsentieren. Die Fertigstellungsprozesse der Organ schiffe waren lahmgelegt. Der Stoff, den At lan in die Kessel gegeben hatte, hatte zu ei ner unvorstellbar schnellen katastrophalen Wucherung der Organmasse in den Behäl tern und schließlich zu deren Explosion ge führt, als der Druck nicht mehr aufgefangen werden konnte. Allein dafür hatte dieser so plötzlich aufgetauchte Mann den vielfachen Tod verdient. Vaskäner betrachtete die Pro duktion der Organschiffe für das Marantro ner-Revier als seine Lebensaufgabe. Atlan mußte bald gestellt werden, damit
Der Saboteur
21
in absehbarer Zeit wieder neue Organschiffe in den Weltraum starten konnten, und zwar unter Vaskäners Kontrolle. Um so wütender wurde der Scuddamore, als er die Meldung erhielt, daß Atlan unauffindbar war – wie vom Boden verschlungen. »Sucht weiter!« brüllte er unbeherrscht in die Mikrophone. »Durchkämmt jeden Win kel der Anlage. Ich lasse die Produktion auch in den Hallen mit den Schiffsrohbauten stoppen. Alle Roboter haben sich ab sofort nur der Aufgabe zu widmen, den Eindring ling zu fangen oder zu töten. Sie sind sofort umzuprogrammieren!« Vaskäner wartete die Bestätigungen aus den verschiedenen Teilen des Gigantkom plexes nicht ab. Er schaltete die Computer ein. Jeder Korridor, jeder Aufzugschacht, je de Halle wurde durchsucht und mit Infrarot strahlen durchleuchtet. Das Ergebnis war ne gativ. Vaskäner zerbrach sich den Kopf dar über, welches Versteck es geben könnte, von dem er nichts wußte, und das auch den Computern unbekannt war. Wo auch immer er sich befand, dachte der Scuddamore, er kann nicht für immer dort bleiben, wenn er nicht verhungern oder verdursten will. Vas käner brauchte also nur zu warten. Noch ein mal würden sich die Scuddamoren nicht überrumpeln lassen. Angesichts der neuen Situation verzichtete Vaskäner darauf, Atlan doch noch lebend zu fangen zu versuchen. Er gab den Befehl, ohne Anruf zu schießen, sobald Atlan gesichtet wurde. Der Kommandant von Ärterfahl wußte nichts von Atlans Zellaktivator und der Be deutung, die ein lebender Atlan für Chirmor Flog hatte.
* Atlan machte einen Schritt zurück, den Blick nicht von der Waffe in der scheinbar zerfließenden Hand des Scuddamoren neh mend. Dieser deutete mit dem Strahler auf den Stuhl. »Setz dich!«
Atlan hatte keine andere Wahl, als zu ge horchen. Neue Fragen schossen ihm durch den Sinn. Wer war dieser Unheimliche? Wieso alarmierte er nicht sofort die anderen Scuddamoren? »Du hast gar nichts erreicht«, sagte der Fremde zu Atlans Überraschung. »Überhaupt nichts! Die Anlagen werden für Wochen, vielleicht für Monate keine organi sche Substanz für die Raumschiffe mehr produzieren können, aber dann werden sie wiederaufgebaut und wieder funktionsfähig sein. Du brauchst nicht stolz zu sein!« Atlan glaubte, nicht recht zu hören. Steck te nur Spott hinter diesen Worten, oder war es Enttäuschung? »Wer … wer bist du?« fragte der Arkoni de. Der Scuddamore lachte! »Zuerst du, mein Freund. Ich habe dich beobachtet, als du um die Roboter herum schlichst und in der Kesselanlage herum spioniertest. Du kanntest dich also hier nicht aus, und für jemanden, der hier fremd ist, hast du deine Sache nicht einmal schlecht gemacht, nur …« Der Scuddamore machte drei Schritte auf Atlan zu und brüllte ihn, nun unmittelbar vor ihm stehend, an: »Du bist ein großer Stümper, mein Freund! Du konntest dich im Gegensatz zu mir frei bewegen, wenn ich auch nicht ver stehe, warum. Du hättest sie vernichten kön nen! Alle! Ein für allemal!« Atlan mußte sich dazu zwingen, ruhig sit zen zu bleiben. Wenn dieser Scuddamore nicht auf der Seite seiner Artgenossen stand, wenn es sich um einen Rebellen handelte, konnte er ihn als potentiellen Verbündeten betrachten. Oder hatte er einen Wahnsinni gen vor sich? War es nur die Wirkung des Schildes, oder zitterte er wirklich? Etwa vor grenzenlosem Haß auf seine Artgenossen, der ihn dazu gebracht hatte, Atlan zu retten? »Ich weiß, was du getan hast«, fuhr der Scuddamore fort, »aber sonst nichts. Ich will wissen, wer du bist, woher du kommst, wa rum du das Heebor in die Kessel gabst. Al
22 les!« Die Fragen bewiesen, daß Atlans Gegen über tatsächlich nicht zu den Scuddamoren gehörte, die hier für den Neffen arbeiteten. Sonst müßte auch er über ihn Bescheid wis sen. Erst jetzt fiel ihm auf, daß die Sirenen hier nicht zu hören waren. Überhaupt war es totenstill. Atlan nannte seinen Namen und berichte te in knappen Zügen, wie er in die Schwarze Galaxis gelangt war und was er im Kampf gegen Chirmor Flog erlebt hatte. Der Scud damore stellte immer wieder Detailfragen. Atlan antwortete geduldig. Auf diese Weise gewann er Zeit. Vielleicht ergab sich eine Möglichkeit, den Unbekannten zu überrum peln. Vielleicht hatte er tatsächlich einen Verbündeten gefunden, wenngleich er sich von der Art, wie der Scuddamore sich gab, eher abgestoßen fühlte. War dieser Fremde überhaupt ein Scudda more? Der Gedanke ließ Atlan stocken. So fort drängte der Unheimliche ihn, fortzufah ren. Als Atlan berichtet hatte, wie er von Ghyx aus an Bord eines schwarzen Transporters nach Ärterfahl gekommen war, legte der an dere seine Waffe auf den Tisch. Atlan hätte schnell nach ihr greifen können, aber er hü tete sich vor solchem Leichtsinn. Wenn sein Gegenüber ihn so auf die Probe stellte, hatte er mit ziemlicher Sicherheit einen oder meh rere weitere Trümpfe im Ärmel. »Du hättest die Chance gehabt!« dröhnte die dumpfe Stimme jetzt wieder, und erneut folgte ein irres Lachen. »Die große Chance, diesen ganzen Planeten zu vernichten! Kennst du überhaupt die Furcht der Scudda moren vor einem Kontrolleur des Neffen? Alles hätte dir offengestanden!« Er sprach von »den Scuddamoren«, sagte nicht: »uns«. Atlan fragte scharf: »Wer bist du?« »Du weißt es nicht? Natürlich! Niemand weiß, daß ich noch lebe. So ist es gut. Sie sollen denken, daß ich tot bin. Sie …« Der Unheimliche schrie noch lauter: »Wenn sie mich jetzt finden, ist es allein deine Schuld!
Horst Hoffmann Sie werden immer weiter suchen und sich daran erinnern, daß es auf Ärterfahl schon Anlagen gab, bevor sie ihre Werften bauten, und daß ich immer dafür war, diese Anlagen …« »Was?« fragte Atlan schnell, als der ande re schwieg. »Mein Name ist Gusärleng«, bekam er zur Antwort. »Gusärleng, den sie den Wahn sinnigen nannten, den sie vergessen haben, weil die Erinnerung unangenehm ist. Die Er innerung an einen großen Scuddamoren, an ein … Genie!« Das verkannte Genie, dachte Atlan ent täuscht. Schon hatte er geglaubt, jemanden gefunden zu haben, der mit ihm gegen die auf Ärterfahl begangenen Verbrechen kämp fen würde, und nun hatte er nichts als einen Wahnsinnigen vor sich. »Du siehst nicht aus wie die anderen Scuddamoren«, sagte Atlan dennoch, um Genaueres über Gusärleng zu erfahren. Auch ein Wahnsinniger konnte ihm von Nutzen sein, wenn es ihm gelang, ihn und seine Emotionen in den Griff zu bekommen. »Du hast recht«, antwortete der Unheimli che. Gusärleng begann, vor Atlan auf und ab zu wandern, die Arme auf dem Rücken. Dann blieb er stehen und sah den Arkoniden wieder an. »Ärterfahl sah nicht immer so aus wie jetzt. Es waren Scuddamoren unter mei ner Führung, die mit dem Auftrag hierher kamen, Werftanlagen für Organschiffe zu bauen. Du kennst nur das, was du gesehen hast. Das ist gar nichts! Der ganze Planet bildet eine Einheit, was die Produktion der Schiffe angeht. Du hättest an anderer Stelle zuschlagen müssen, dort wo die Grundstoffe für die Organmasse gewonnen werden. Aber du wolltest wissen, wer ich war und wie ich zu dem wurde, was ich bin.« Die letzten Worte waren geschrien. Doch sofort hatte der Scuddamore sich wieder un ter Kontrolle. Er ging zu dem Gerät mit dem Bildschirm und aktivierte es. Aus einem Lautsprecher kam das Sirenengeräusch, während auf dem Schirm gleich mehrere Sektoren der subplanetaren Anlage zu sehen
Der Saboteur waren. Überall wimmelte es von Scuddamo ren und Robotern. Atlan erschrak. »Sie finden uns nicht«, sagte Gusärleng. »Noch nicht. Wie ich schon sagte, hatte ich die Leitung der Arbeiten auf diesem Plane ten, dem wahrscheinlich einzigen im Maran troner-Revier, der die Voraussetzungen für den Bau von Organschiffen an Ort und Stel le bietet. Natürlich könnten die Grundstoffe für die Organmasse auch zu anderen Welten gebracht werden, aber das wäre kostspieliger und riskanter. Wir bauten einen Großteil der auch heute noch vorhandenen Anlagen hier und auf dem Nachbarkontinent. Dabei stie ßen wir auf die tief unter der Oberfläche ge legenen Städte einer Zivilisation, von deren Existenz wir bis dahin nichts ahnten. Ich be trat mit einigen mir treu ergebenen Scudda moren eine der Städte und erkannte schnell die Möglichkeiten, die sich uns eröffneten. Ich gab den Befehl, sie nicht, wie es ange ordnet war, zu zerstören, um Raum für unse re Werftanlagen zu bekommen, sondern sie uns zunutze zu machen.« Wieder das un heimliche Lachen. »Diese verbohrten Nar ren meuterten und entzogen mir das Kom mando. Der Befehl, Jasgölg als neuen Kom mandanten einzusetzen, kam direkt von Säg gallo. Es kam zum Kampf. Meine wenigen Anhänger wurden ermordet, und auch mich hielt man für tot, als man meinen Gürtel mit dem Schattenschild-Projektor fand.« Gusärleng lachte dröhnend. »Diese Narren! Ich lebte! Bevor ich mei nen eigenen Schattenschild ablegte, nahm ich die Gürtel von zwei gefallenen Anhän gern und sorgte dafür, daß diese beiden Toten nie entdeckt wurden. Ja, Atlan, ich trage die beiden Gürtel seither, und die beiden Schilde haben mich unsterblich gemacht.« Atlan glaubte nicht daran, ließ sich jedoch nichts anmerken. »Wie lange ist das her?« wollte er wissen. »Ich habe längst aufgehört, die Jahre zu zählen. Mein Zeitmaß sind die Kommandan ten nach Jasgölg. Vaskäner ist der fünfund zwanzigste.« Wenn Gusärleng die Wahrheit sagte, lebte
23 er tatsächlich schon sehr lange. Atlan wußte nicht mehr, was er glauben sollte. Die bei den Schattenschild-Projektoren erklärten Gusärlengs Aussehen – eine dunkle Wolke mit der annähernden Form eines normalen Scuddamoren. Atlan wußte ja, daß er hinter den Schilden ganz anders aussah. »Diese eingeborene Zivilisation«, sagte der Arkonide langsam. »Was hat es mit ih ren Städten auf sich? Existieren sie noch?« »Darauf komme ich später zu sprechen. Vorerst hat dich zu interessieren, wie die Rohstoffe für die Organmasse gewonnen werden, zum Beispiel die braune Masse, die du gesehen hast. Auf dem Nachbarkontinent gibt es Pflanzen mit geringer Intelligenz. Ur sprünglich waren sie Fleischfresser und er nährten sich von kleinen Insekten. Im Lauf der Zeit machten sie eine Entwicklung durch, die sie völlig ungefährlich für ihre bisherigen Opfer machten. Ich war derjeni ge, der sie untersuchte und feststellte, daß es mit der Entwicklung von einer Art Moral zusammenhing. Die Gargat-Pflanzen sahen sich als Bestandteil einer planetenumspan nenden Einheit der Natur. Für uns waren sie interessant, weil sie als Fleischfresser bei der Verdauung ihrer Opfer eine Substanz produzierten, die wir brauchten – eben jene braune Masse, die in unseren Anlagen zu dem Plasma umgewandelt wird, das du kennst. Wir mußten sie wieder dazu bringen, dieses Plasma zu produzieren und installier ten zu diesem Zweck eine Anlage auf dem Nachbarkontinent, von der aus riesige Felder der Gargat-Pflanzen einer ständigen Be strahlung ausgesetzt werden, die ihre Ent wicklung rückgängig machte und dies solan ge tut, bis jemand sie abschaltet oder zer stört. Dort hättest du ansetzen sollen, du ver dammter Narr! Alle übrigen Grundstoffe werden aus dem Meer gewonnen. Aber sie nützen den Scuddamoren gar nichts, wenn sie nicht das Plasma haben. Wenn die Gar gat-Pflanzen keine Abfallprodukte mehr produzieren, wird es keine neuen Organ schiffe mehr geben, weil eine Produktion der Organmasse ohne das Plasma nicht mög
24 lich ist. Ärterfahl wird nutzlos für den Nef fen sein, und er wird alle bestrafen, die für die Katastrophe verantwortlich sind.« Gu särleng kicherte. »Von denen er glaubt, daß sie es sind.« »Warum willst du das?« fragte Atlan. »Weil Chirmor Flog erkennen soll, wie unfähig jene sind, die mich verstießen und ermorden wollten! Weil sie für das, was sie taten, bestraft werden müssen!« Also doch nur blinder Haß und die Gier nach Rache. Der Arkonide hatte gemischte Gefühle. Einerseits sah er die große Chance, durch den Wahnsinnigen doch noch zum Ziel kommen zu können. Andererseits je doch widerte der Scuddamore ihn an, der nicht davor zurückschreckte, vielleicht Tau sende seiner Artgenossen in den Tod zu schicken, damit er seine Rache hatte. Atlan sah wieder die Ghyxaner vor sich, wie sie leblos vor ihm lagen, wie Vieh auf einandergestapelt. Das gab den Ausschlag. »Du hast mich nicht hierher geholt, um mir das zu sagen, Gusärleng. Du erwartest doch etwas von mir?« »Ich sollte dich einfach niederschießen!« brüllte der Scuddamore. »Viele Generatio nen lang war ich für die Scuddamoren tot, doch jetzt wird man so gründlich nach dir suchen, daß man auch meine Verstecke fin det. Ich wollte noch warten, bis ich sie stra fen konnte. Jetzt muß ich schnell handeln, und du wirst mir dabei helfen. Du fliegst mit mir zum Nachbarkontinent.« »Das ist unmöglich«, protestierte Atlan zum Schein. »Niemand kann unbemerkt an die Oberfläche gelangen.« Gusärleng sah den Arkoniden lange an. »Wie einfältig du doch bist! Ich beginne an deinen Schilderungen zu zweifeln. Aber du wirst bald beweisen können, wozu du fä hig bist. Vielleicht bist du in Wahrheit ein Spion der Scuddamoren, die die Jagd auf dich nur zum Schein veranstalteten, um mich aus der Reserve zu locken. Dann stir bst du vor mir.« Atlan schwieg. Gusärlengs Gedanken wa ren voller Widersprüche. Die lange Zeit der
Horst Hoffmann Einsamkeit hatte den Geist des Scuddamo ren verwirrt. »Wir warten, bis es über uns etwas ruhi ger geworden ist«, verkündete Gusärleng, »falls sie den Zugang hierher nicht finden und wir sofort fliehen müssen.« »Wohin?« »Du wirst es früh genug sehen«, sagte der Unheimliche ablehnend.
7. Der Zellaktivator sorgte dafür, daß Atlan ohne Schlaf auskam. Er hätte in Gegenwart des alten Scuddamoren keine ruhige Minute gehabt. Atlan fragte sich, woher Gusärleng seine »Unsterblichkeit« wirklich hatte. Hing sie damit zusammen, daß er sich gegen die Be fehle von Säggallo aufzulehnen in der Lage gewesen war? Atlan dachte an Artin und sei ne Auflehnung gegen die von Chirmor Flog gegebenen Befehle, aber das war etwas völ lig anderes gewesen. Artin und seine Gruppe hatten geglaubt, daß die überraschenden und für sie unverständlichen Anordnungen durch die Manipulation der roten Scuddamoren zu stande gekommen waren. Gegen sie hatten sie revoltiert. Es gab irgend etwas, von dem Gusärleng nicht sprechen wollte. Atlan sah ein, daß es keinen Sinn hatte, weitere Fragen zu stellen. Und er wußte, daß er Gusärleng keinen Mo ment aus den Augen lassen durfte. Er mußte mit ihm gemeinsame Sache machen, solange es darum ging, die Organschiffproduktion zu stoppen, wenn auch nur für einige Monate oder Jahre. Atlan ahnte, daß Gusärleng vor hatte, die Anlage auf dem Nachbarkontinent zu zerstören, durch die die Pflanzen manipu liert wurden. Aber auch eine solche Anlage konnte neu errichtet werden. Was nach dem Sabotageakt kam, falls er überhaupt gelang, war eine andere Sache. Vielleicht fand er auf dem Nachbarkontinent eine Möglichkeit zu Flucht von Ärterfahl. Atlan hatte die Stunden nicht zu zählen versucht, die vergingen, bis Gusärleng sagte:
Der Saboteur »Es ist soweit. Komm jetzt!« Der Scuddamore ließ den Arkoniden an sich vorbeigehen, nachdem er auf die einzi ge Tür des Raumes gezeigt hatte. Atlan öff nete sie und betrat den dahinterliegenden Gang. Erst jetzt sah er, daß es sich um kei nen Korridor wie die handelte, die er bisher gesehen hatte. Dieser Gang war alt. Links gab es nach wenigen Metern eine Abzwei gung. Atlan sah Treppen, die nach oben führten, vermutlich zu dem Aufzug, der ihn und Gusärleng hier herunter gebracht hatte. Atlan fragte sich, ob dieser Aufzug tatsäch lich von den Scuddamoren »vergessen« sein konnte. »Weiter!« drängte Gusärleng. »Geradeaus!« Der Unheimliche blieb hinter Atlan, als dieser nun schneller ging. Nach etwa hun dert Metern begann der Gang in einem Win kel von etwa vierzig Grad abzufallen. Die Wände waren in den Fels geschlagen. Zenti metertiefer Staub bedeckte den Boden. Nach einer halben Stunde ununterbroche nen Marschierens blieb Gusärleng stehen. Der Gang war zu Ende. Atlan wurde aufge fordert, zur Seite zu treten. Gusärleng untersuchte die Wände, bis er eine mit weißer Farbe markierte Stelle fand. Sein Lachen schallte im Gang. Der Scuddamore richtete seinen Strahler auf die Markierung und begann zu schießen. Es kam zu keiner Hitzeentwicklung. Die Wand wurde einfach desintegriert, bis ein Loch entstanden war, das groß genug war, um Atlan und Gusärleng hindurchkriechen zu lassen. Wieder mußte Atlan als erster ge hen. Er kam in einer kleinen dunklen Halle heraus. Gusärleng brachte eine Kugel zum Vorschein, die sofort zu leuchten begann und ein so helles Licht verstrahlte, daß der Arkonide seine Umgebung jetzt erkennen konnte. Er fühlte sich in einen modernen Rohrbahntunnel hineinversetzt. Wenige Me ter vor ihm stand auf einer Schiene ein rake tenförmiges Fahrzeug, das nach oben hin of fen war und drei Sitze besaß. »Dieser Tunnel gehörte zum Verkehrssy
25 stem der Planetarier«, erklärte Gusärleng. »Die Stadt, zu der dieser Tunnel gehörte, ist wie alle anderen von den Scuddamoren zer stört worden, aber die Tunnel sind meist noch erhalten. Jasgölg maß ihnen keine Be deutung zu und ließ sie versiegeln. Danach gerieten sie in Vergessenheit. Steig ein – vor mir!« Wortlos kletterte Atlan in den vordersten Sitz. Der Gedanke daran, daß es sich bei den Ureinwohnern Ärterfahls offensichtlich um humanoide Intelligenzen mit einer großen Zivilisation gehandelt hatte, verstärkte sein Unbehagen noch. Er wollte etwas tun, selbst die Initiative ergreifen, aber Gusärleng allein kannte die Wege in die trügerische Freiheit. Atlan fühlte sich herumgestoßen und noch hilfloser als ohnehin schon. Seine Stimmun gen wechselten erneut zwischen Depression und der wilden Entschlossenheit, sein Werk auf dieser Welt zu Ende zu führen und den Extrasinn wiederzufinden. Gusärleng kletterte in den mittleren Sitz und betätigte einige Schaltungen. Das Fahr zeug setzte sich die Schiene entlang in Be wegung. »Man wird uns orten!« warnte der Arko nide. »Niemand wird das können«, kam es von Gusärleng. »Diese Bahnen haben chemi schen Antrieb. Ich habe früh genug dafür ge sorgt, daß mir dieser Fluchtweg offenbleiben würde.« Die Rakete wurde immer schneller. Es ging durch stockdunkle Tunnel. Kein Hin dernis blockierte den Weg. Endlich wurde die rasende Fahrt langsa mer. Das Fahrzeug hielt an. Gusärlengs Ku gel erhellte wieder einen Hohlraum. Atlan sah mehrere Schienenstränge und einige Ra ketenbahnen, die nur darauf zu warten schie nen, daß jemand sie bestieg. Gusärleng stieg aus. Atlan folgte ihm. Der Scuddamore war einen Augenblick lang un aufmerksam. Sollte Atlan ihm jetzt die Waf fe entreißen? Ihn damit zwingen, seine Ge heimnisse preis zu geben und ihn zu führen? Als der Scuddamore sich wieder zu ihm
26 umgedreht hatte, war die Chance vertan. At lan hatte das Gefühl, gar nichts mehr wert zu sein, blind und ohne Verstand. »Fehlt dir etwas?« fragte Gusärleng. »Schon gut«, knurrte der Arkonide und biß die Zähne so fest aufeinander, daß die Kiefer schmerzten. »Dann geh vor. Dort die Treppe hinauf!« Atlan sah die Stufen, die in einer der Wände zu verschwinden schienen. Gusär leng blieb hinter ihm stehen und machte sich an der Wand zu schaffen. Gleich darauf er folgte eine Detonation, und Licht fiel auf die Stufen. Atlan kletterte auf das Drängen des Scud damoren weiter und gelangte ins Freie. Er sah bewaldete Hügel, die einen kleinen Tal kessel umschlossen. Wenige Meter neben ihm stand auf drei Teleskopbeinen ein schwerer Gleiter. Über die Maschine war ein Tarnnetz mit Blättern und Ästen darin ge spannt, so daß sie aus der Luft nicht zu er kennen war. »Du siehst, daß ich an alles gedacht ha be«, sagte Gusärleng triumphierend. »Vaskäner mag sich für noch so klug halten, er …« Das Geräusch aus der Luft schnitt dem Unheimlichen das Wort ab. Atlan sah auf und erblickte die drei schnell größer werdenden dunklen Punkte am Himmel. »Sie können uns nur durch Zufall gefun den haben!« schrie Gusärleng. »Steig ein, schnell!« Diesmal rannte er zuerst los, riß eine Luke in der Unterseite des Gleiters auf und zwängte sich hinein. Atlan war kaum neben ihm in der Pilotenkanzel, als die Aggregate auch schon aufheulten und der Gleiter zu zittern begann. Gusärleng schaltete eine Rei he von Bildschirmen ein. Auf einem waren die Scuddamoren-Gleiter zu erkennen, die jetzt ihren Kurs, der sie weit am Versteck vorbei geführt hätte, änderten. Das Netz wurde abgesprengt. Gusärleng war ein dunk ler Schatten neben Atlan. Es sah aus, als ob schwarze Rauchwolken durch die Luft auf die Kontrollen zuflossen. Der Gleiter stieg
Horst Hoffmann senkrecht in die Luft, verharrte einen Au genblick und schoß wie von einem mächti gen Katapult abgefeuert in westlicher Rich tung davon – genau zwischen den Jägern hindurch. Zwei Maschinen der Scuddamo ren vergingen im Feuer der Bordkanonen. Die dritte mußte wenden. Als sie ihr Manö ver beendet hatte, war der Gleiter außer Reichweite ihrer Geschütze. »Kommt nur!« schrie Gusärleng wie be sessen. »Schicke alles, was du hast, Vaskä ner! Ich bin bereit!« Atlan verfluchte sich dafür, daß er nicht gehandelt hatte, als der Wahnsinnige ihm die Chance dazu geboten hatte. Nun war er ihm ausgeliefert – auf Gedeih und Verderb, Statist in Gusärlengs Privatkrieg gegen seine Artgenossen.
* Vaskäner stand wie erstarrt vor dem Bild schirm. Eben noch hatte er triumphiert, als er die Meldung erhielt, daß ein Suchtrupp Atlans Spur gefunden und den Vaskäner nicht bekannten Raum noch unter den unter sten Stockwerken des Werftkomplexes ent deckt hatte. Die Scuddamoren hatten auf sei nen Befehl hin sofort die Verfolgung aufge nommen und eine weitere Entdeckung ge macht: das Rohrbahnsystem, über das auch die Computer keine Auskunft geben konn ten. Nur in den Aufzeichnungen des ersten scuddamorischen Kommandanten auf Ärter fahl, Jasgölg, war von den Städten einer ein geborenen Rasse die Rede. Normalerweise wäre niemand auf den Gedanken gekom men, Jasgölgs private Aufzeichnungen ein zusehen. Dies galt, wie auch bei den Notizen aller anderen bisherigen Kommandanten, als Tabu. Die Umstände hatten Vaskäner dazu ge zwungen, und er hatte keinen Augenblick gezögert, die Verfolgung auch auf den Luftraum auszudehnen, nachdem er den un gefähren Verlauf des Bahnsystems, in das Atlan sich geflüchtet hatte, kannte. Es war reiner Zufall gewesen, daß die drei Patrouil
Der Saboteur
27
lengleiter gerade in der Nähe des getarnten Ausgangs gewesen waren, als die beiden Flüchtigen auftauchten. Die beiden Flüchtigen! Atlans Begleiter war ein Scuddamore. Die Suchtrupps hatten von einer mit techni schem Gerät eingerichteten Kammer berich tet, und nun, wo Vaskäner Einblick in Jas gölgs Aufzeichnungen genommen hatte, ahnte er, wer der Scuddamore war. Also war Gusärleng doch kein Hirnge spinst, und jene, die immer wieder davon re deten, daß ein unsterblicher Scuddamore ir gendwo auf Ärterfahl lebte und eines Tages schreckliche Rache nehmen würde, waren keine Phantasten. Zwei Patrouillengleiter waren vernichtet worden. Der dritte hatte keine Chance, die Fluchtmaschine einzuholen. Sie war viel zu schnell und von einer Bauart, wie die Scud damoren sie lange nicht mehr kannten. Den noch war dieser veraltete Typ den modernen Gleitern an Schnelligkeit und Wendigkeit überlegen. Nur ein Genie wie Gusärleng konnte ihn so umgebaut haben, daß auch die zwanzig Gleiter, die Vaskäner ihm hinter hergeschickt hatte, ihn nicht einholen wür den. Vaskäner gab weiteren Gleitern den Start befehl. Ganze Staffeln stiegen bei der Küste auf. Gusärleng und Atlan flogen auf schnur geradem Kurs nach Westen. Über ihr Ziel konnte es nach Atlans Sabotageakt keinen Zweifel geben. Vaskäner versetzte die Basen auf dem Nachbarkontinent in Alarmbereitschaft. Wenn die Wahnsinnigen ihr Ziel erreichten und die Anlage zerstörten, war der Schaden für Ärterfahl kaum noch zu reparieren. Die Folgen für die gesamte Raumfahrt im Ma rantroner-Revier mußten verheerend sein. Vaskäner zog alle Register seiner Macht. Eine planetenumspannende Jagd begann. Aus dem Netz, das sich um die Flüchtigen zusammenzog, durfte es kein Entkommen geben.
8.
Kirso Bal Taur hatte nie zuvor ein solches Wesen gesehen. Es war nicht rund wie die Grallen, sondern unglaublich dünn und hoch. Es besaß nur zwei Arme und hatte kei ne Schwimmhäute an den Beinen. Es war für den jungen Grallen unverständlich, daß es sich auf diesen beiden dünnen Beinen halten konnte. Es hatte Haare wie die wilden Tiere des Waldes, allerdings nur auf dem Kopf, der aus dem eigentlichen Körper her ausgewachsen zu sein schien. Doch das, was Taurs ganze Aufmerksamkeit auf sich zog, waren die strahlenden Augen. Taur drückte sich fest auf den Boden der Zisterne, so daß er das Wesen gerade noch sehen konnte, ohne selbst entdeckt zu wer den. Er wartete darauf, daß etwas geschah. Das Wesen stand am Rand seines Banniste ros und blickte auf das Wasser, als wäre es unschlüssig, was es zu tun habe. Taur bekam Angst. Er spürte, wie seine Körpertemperatur rapide absank. Was er wartete er? Daß diese strahlenden Augen je nes Feuer versprühten, das seinen Kanal ver wüstet hatte? Er wurde enttäuscht. Plötzlich drehte das Wesen sich um und verschwand ebenso schnell wieder, wie es gekommen war. Taur wagte sich an die Oberfläche und schwamm in den Bannistero hinaus bis zu der Stelle, an der das Wesen gestanden hat te. Nichts war zu sehen – keine Spuren, kei ne Beschädigung. In dieser Nacht fand der junge Gralle kei nen Schlaf. Früh am Morgen verließ er seine zweite Zisterne, um Minko Bal Poohl über seine Beobachtung zu informieren. Mühsam schleppte er seinen Körper über das grasbe wachsene Land. Er hatte noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er zwei anderen Grallen begegnete, die aufgeregt auf den nächsten Bannistero, den von Jerga Bal Munk, zurobbten. »Es ist gut, daß du da bist, Taur!« rief Josco Bal Mengo. »Komm mit uns. Heute dürfen alle Bannisteros benutzt werden. Minko Bal Poohl erwartet uns schon bei sei ner sechsten Zisterne. Wir sollten dich ho
28 len.« »Alle Bannisteros sind offen?« fragte Taur verwundert. Es kam nur in ganz weni gen Ausnahmefällen vor, daß auf Geheiß des Würdenträgers jeder Gralle seinen Kanal allen anderen zur Benutzung zur Verfügung stellte. »Was ist geschehen?« Er hatte einen Verdacht, sagte aber noch nichts. Seine Gedanken waren bei dem We sen mit den strahlenden Augen. »Minko Bal Poohls sechste Zisterne wur de furchtbar verwüstet. Ein schwarzer Gra ben zieht sich bis zu Fayns Bannistero, so daß die beiden Wasser sich vereint haben. Ein furchtbarer Fluch lastet auf uns, Taur!« Ein schwarzer Graben! Jetzt hatte der jun ge Gralle keine Zweifel mehr. Deshalb also hatte das Wesen seinen Bannistero nicht weiter beschädigt. Es hatte sich ein anderes Ziel gesucht. Aber warum brachte es soviel Unglück über die Grallen? Wo kam es her? War es am Ende ein zu Fleisch gewordener Naturgeist? Taur ließ sich nach den beiden anderen Grallen in den nächsten Bannistero gleiten. Sie schwammen bis zum Ende des Kanals und mußten noch eine kleine Strecke auf dem Land zurücklegen, bis sie den Ort der Verwüstung erreichten. Schon von weitem hörten sie die aufgeregten Stimmen der zu sammengekommenen Grallen. Minko Bal Poohls sechste Zisterne war bereits ein Heiligtum und wurde nur noch von der siebten übertroffen. Kaum jemand näherte sich diesen Orten ohne triftigen Grund, und zur siebten Zisterne gelangten nur jene, die dort vom Würdenträger ihre Mannesweihe oder die Frauentaufe erhiel ten. Minko Bal Poohl stand schweigend bei seinen beiden Gefährtinnen und seinen vier Kindern. Nur ihm, dem Würdenträger, war es gestattet, mehr als einen Nachkommen zu zeugen. Auf diese Weise sorgten die Grallen dafür, daß es niemals zu viele von ihnen gab und nicht der gesamte Planet eines Tages durch die vielen Kanäle völlig zerstört sein würde. Es war Teil ihrer Philosophie, daß
Horst Hoffmann ein jeder danach eiferte, so viele Zisternen wie möglich zu bauen, jede in einem genau vorgeschriebenem Abstand zur vorherigen. Je mehr Zisternen ein Gralle sein eigen nen nen durfte, desto länger war sein Bannistero, desto weiser seine Planung und desto höher sein Status. Nun wirkte der Würdenträger wie ein Gralle, der alles, was er in seinem langen Leben aufgebaut hatte, mit einem Schlag verloren hatte. Taur zweifelte keinen Augen blick daran, daß Minko Bal Poohl sich noch an diesem Tag daran geben würde, seinen Bannistero zu reparieren und die sechste Zi sterne neu zu bauen. Aber es war fraglich, ob er noch die Kraft dazu hatte, dieses Werk zu vollenden. Die Stimmen verstummten, als die Grallen Taur in ihrer Mitte sahen. Minko Bal Poohl blickte auf. Er trug die Farben der Trauer. Die Schwimmhäute und die Kiemen schimmerten in tiefem Blau. »Nun werde ich es sein, der die Beschuldi gung auszusprechen hat«, sagte der Würden träger an Taur gewandt. Taur wußte um die Qualen dieses alten Grallen, der alle anderen Grallen in diesem Teil der Welt als seine Kinder betrachtete und sie liebte. Die Be schuldigung auszusprechen hieß, einen von ihnen der böswilligen Zerstörung des Banni steros zu bezichtigen. »Warte noch«, bat Taur. Dann berichtete er von seinem nächtlichen Erlebnis. »Du bist sicher, daß du dich nicht ge täuscht hast?« fragte Poohl. »Du weißt um die trügerischen Bilder, die in Nächten mit hellem Mond entstehen können.« »Es war ein Wesen aus Fleisch und Blut«, beharrte der junge Gralle. »Du darfst die Be schuldigung nicht aussprechen – nicht gegen einen von uns. Zweimal besuchte dieses Wesen mich. Beim ersten Mal verwüstete es meinen Bannistero. Vielleicht kommt es ein drittes Mal. Wir sollten uns darauf vorberei ten und ihm eine Falle stellen.« »Du bist sehr edel, diesen Vorschlag zu machen«, sagte der Würdenträger traurig. »Denn du weißt, daß dies die völlige Zerstö rung deines Bannisteros und deiner Zister
Der Saboteur nen zur Folge haben kann.« »Es ist ein Opfer, das gebracht werden muß, soll unsere Arbeit nicht umsonst gewe sen sein.« »Und wenn es sich um einen bösen Natur geist handelt?« fragte jemand. »Dann wird er um die Falle wissen und sie meiden. Wir müssen das Wesen mit den Waffen stellen, die wir gegen die wilden Tiere der Wälder benutzen.« Die Grallen schwiegen. Es war lange her, daß die Waffen und Netze zum letztenmal aus den Zisternen geholt worden waren. Die Grallen benutzten sie nur, um sich zu vertei digen, und auch dann nur mit Widerwillen. Der Würdenträger hatte jetzt die Entschei dung zu treffen. »Du hast wohl recht, Taur«, sagte er nach langem Nachdenken. »Es darf keine weite ren Katastrophen mehr geben. Wir leben in Frieden mit dem. Auf und Ab des Lebens, und so soll es bleiben. Bist du bereit, die Ar beiten zu leiten und die Jäger in deinem Bannistero zu beherbergen?« »Ich bin es mit Freuden«, antwortete Taur. »Dann ist es gut. Ich übertrage dir die Leitung und die Verantwortung. Ich selbst bin zu alt und darf meine zerstörte Zisterne nicht verlassen. So wollen es die Gesetze.« »Der Geist sei mit dir, Minko Bal Poohl!« rief Taur aus. Alle anderen Grallen stimmten in den Ruf ein. »Der Geist sei mit euch«, sagte auch der Würdenträger. Als die Grallen sich abwand ten, um ihre Waffen und die Netze aus ihren Zisternen zu holen, rief Minko Bal Poohl Taur noch einmal. »Ja?« »Wenn ihr dieses Wesen mit den strahlen den Augen gefangen habt, bringt ihr es zu mir«, bat Poohl. »Und danach wirst du zu erst deinen Bannistero ausbessern. Bist du gewillt, anschließend zu mir zu kommen und mir bei der Arbeit zu helfen?« Kirso Bal Taur erstarrte. Die Sprechblase begann heftig zu vibrieren. Taur wußte, was die Worte des Würdenträgers bedeuteten.
29 Ein Würdenträger bat nur denjenigen um Hilfe, in dem er seinen Nachfolger sah. Und er hatte ihn angesprochen – Kirso Bal Taur, der erst zwei Zisternen sein eigen nennen durfte. Taur hatte Mühe, die Gefühle unter Kontrolle zu halten, die sich seiner be mächtigt hatten. Voller Ehrfurcht und noch etwas unsicher sagte er: »Ich bin bereit, Meister der Geradlinig keit. Aber ich habe diese Gunst nicht ver dient.« »Darüber habe ich zu entscheiden, Kirso. Und nun geh.«
* Es war schon spät am Tag, als die ersten Grallen mit ihren Harpunen und den Netzen erschienen. Wie Taur hatte ihre Haut die Farbe der Jäger angenommen. Sie waren be reit zum Kampf. Taur hieß sie alle willkommen und zeigte ihnen die Stelle, an der das Wesen mit den leuchtenden Augen gestanden hatte. Sie ver teilten sich im Bannistero und warteten auf den Einbruch der Dunkelheit. Von seiner zweiten Zisterne aus beobachtete Taur die Ufer. Der Mond stieg am Himmel auf und spen dete sein fahles Licht. Die Nacht war klar. Lange Zeit geschah nichts, so daß Taur bereits die Hoffnung aufgab, das fremde Wesen könne in dieser Nacht wieder bei sei nem Bannistero auftauchen. Doch dann stand es plötzlich da. Taur hat te es nicht kommen sehen. Es war, als ob es aus dem Nichts heraus entstanden war. Also doch ein Geist? durchfuhr es den jungen Grallen. Er zögerte und sah, wie die anderen Grallen im Kanal unruhig wurden. Sie hatten sich bis auf den Grund sinken las sen, um nicht gesehen zu werden. Taur wurde sich der ungeheuren Verant wortung bewußt, die auf ihm lastete, und er innerte sich an seine eigenen Worte: Ein wirklicher Naturgeist würde in keine Falle laufen.
30
Horst Hoffmann
Taur riß sich zusammen und gab den Be fehl, die Netze abzuschießen.
9. Gusärleng mußte Jahre an dem Gleiter ge arbeitet haben. Ein perfekteres Fluchtfahr zeug konnte Atlan sich kaum vorstellen, als er nun sah, wie die von Gusärleng gezünde ten ferngelenkten Raketen ihr Ziel fanden und die Maschinen, die einen wahren Sper riegel vor den Flüchtlingen gebildet hatten, eine nach der anderen zur Explosion brach ten. Immer weitere Scuddamoren-Gleiter stie gen auf. Sie kamen aus allen Richtungen. Gusärleng steuerte und schoß gleichzeitig. Er kannte kein Erbarmen. Die Gleiter, an de nen er vorbei war, blieben hoffnungslos zu rück. Diejenige, die nahe genug heranka men, ohne vernichtet zu werden, trafen mit ihren Energiegeschützen nicht. Gusärleng mochte wahnsinnig und mordlüstern sein, aber Atlan hatte kaum einmal einen besseren Piloten erlebt. Atlan stockte bei den wahn witzigen Ausweichmanövern der Atem. Mittlerweile war der Gleiter über dem Meer. Ein Funkempfänger sprach an. Gusär leng lachte dröhnend, als er Vaskäners Stim me hörte. Der Kommandant bot Verhand lungen an. »Du Narr!« brüllte Gusärleng. »Glaubst du im Ernst, mich täuschen zu können? Spar dir deine Worte, sie lenken mich nicht ab. Ich habe deine Schiffe längst geortet, Elen der!« Atlan fuhr herum. Er starrte Gusärleng einen Moment lang ungläubig an, dann sah er die Reflexe auf dem Orterschirm. »Die Organschiffe werden gleich über uns sein und das Feuer eröffnen«, sagte der Un heimliche. »Das Meer wird kochen, aber uns erwischen sie nicht! Dort!« Atlan sah durch die transparente Decke und entdeckte die beiden dunklen Punkte, die schnell größer wurden. Im nächsten Au genblick wurde er fast aus dem Sitz geris sen. Der Gleiter jagte im Sturzflug der Mee-
resoberfläche entgegen, nachdem Gusärleng eine weitere Staffel von Scuddamoren-Maschi nen abgeschossen hatte. Im ersten Moment glaubte Atlan, daß der Gleiter abstürzte. Aber er hatte keinen Treffer erhalten, und Gusärleng saß so sicher wie zuvor hinter den Kontrollen. »Wir werden tauchen und den Nachbar kontinent unter Wasser erreichen«, erklärte der Scuddamore. Tatsächlich durchstieß das Fahrzeug we nige Sekunden später die Wasseroberfläche. Der Winkel, in dem es in die Tiefe jagte, verringerte sich nur wenig. Alles hatte Atlan erwartet, aber kein Amphibienfahrzeug. »Man wird Unterseeboote auf uns het zen«, sagte er. »Es gibt keine auf ganz Ärterfahl! In einer bestimmten Tiefe sind wir völlig sicher, auch vor Ortungen. Ich kenne die unterseei schen Zugänge zum Rohrbahnsystem auf dem Nachbarkontinent. Da! Sie schießen!« Weit über dem Gleiter fuhren die Energie strahlen der Organschiffe in das Meer. Das Wasser brodelte. Die Außentemperatur stieg bedrohlich an, aber Gusärleng zeigte keine Spur von Unsicherheit. Im Gegenteil wurde er immer draufgänge rischer. Er beschleunigte. Atlan wußte jetzt, daß er die Gelegenheit gehabt hatte, vor der Vernichtung der subplanetaren Städte der Ureinwohner Ärterfahls deren Technik zu mindest teilweise zu studieren und sich Ge räte zu beschaffen. Wie hoch mochte diese ausgelöschte Kultur wirklich entwickelt ge wesen sein? fragte Atlan sich immer wieder. War sie wirklich nicht in der Lage gewesen, den Invasoren Widerstand zu leisten? »Sie waren degeneriert«, sagte Gusärleng auf eine entsprechende Frage. »Ihre Rasse war schon im Aussterben begriffen. Nur noch wenige lebten, als wir Ärterfahl damals in Besitz nahmen. Was hätten wir aus ihrer Technik machen können! Aber für Jasgölg war sie uninteressant, nur weil sie von der unseren grundverschieden war! Dieser Glei ter soll allen beweisen, wer damals recht hatte!«
Der Saboteur Nach etwa einer halben Stunde stellten die Organschiffe ihren sinnlosen Beschuß ein und gaben damit die Bestätigung für Gu särlengs Behauptung, daß der Gleiter bald nicht mehr zu orten sei. Der Druck, der nun auf ihm lastete, war ungeheuerlich, und doch hielt das Material ihm stand. Es war völlig dunkel. Gusärleng steuerte entweder nach Gefühl oder nach den für Atlan nichtssagen den Anzeigen auf den Schirmen. Die Tauchfahrt ging weiter. Atlan zählte die Stunden nicht. Er versuchte, sich voll und ganz darauf zu konzentrieren, wie er von Ärterfahl fortkommen konnte, falls der Sabotageakt gelingen sollte. Es waren Ge danken, die er sich schon vorher gemacht hatte, und wieder führten sie zu keinem greifbaren Ergebnis. Eine Möglichkeit sah der Arkonide – eine einzige, die Erfolg versprach, aber dazu müßte er zurück zu den Werftanlagen gelan gen, und der Ausgang des Abenteuers, in das er sich stürzen müßte, war ungewiß. Endlich sagte Gusärleng: »Wir nähern uns der Küste. Mach dich zum Aussteigen bereit.« Atlan sah ihn überrascht an. Er sah nichts außer dem Schwarz der Tiefsee um den Gleiter herum. Wo sollte er aussteigen? Gusärleng schaltete die Außenscheinwer fer des Fahrzeugs ein, und jetzt konnte der Arkonide eine gewaltige Wand erkennen, die vor dem Gleiter aufragte. In ihr befand sich eine einzige Öffnung, und Gusärleng steuerte genau darauf zu. Die Maschine glitt in einen Stollen, der in einen gewaltigen Hohlraum mündete. Atlan entdeckte eine Schleuse. »Sie werden glauben, daß wir tot sind«, sagte Gusärleng. »Wir werden ihnen den Glauben lassen, bis wir zuschlagen, Atlan. Du hast dich lange genug ausruhen können. Wenn wir am Ziel sind, wird es Arbeit für dich geben.« »Darum hast du mich mitgenommen? Weil du allein es nicht schaffst, die Anlage zu zerstören?« »So ist es«, bestätigte der Scuddamore
31 kühl. Atlan nickte. Zumindest wußte er jetzt, was er zu tun hatte, nachdem sie ihr Zerstö rungswerk vollendet hatten. Allerdings war ihm klar: Gusärleng mach te sich ebenfalls Gedanken, und er mußte seinerseits versuchen, sich in Atlans Lage hineinzuversetzen. Es würde ein Spiel um Leben und Tod werden.
* Hinter der Schleuse lag ein Tunnel, der sich in nichts von dem unterschied, durch den Atlan und Gusärleng den Scuddamoren entkommen waren. Wieder standen mehrere Raketenbahneinheiten bereit. Diesmal aller dings brauchte Gusärleng einige Zeit, um ei ne davon in Betrieb zu setzen. Das Antriebs gemisch hatte er im Gleiter gehabt, der jetzt nicht mehr benötigt wurde und in der unter seeischen Höhle zurückgelassen worden war. Die dünne Luft im Tunnel war kaum atembar. Gusärleng hatte einen Schutzanzug aus dem Gleiter geholt und ihn Atlan ange boten. Der Arkonide hatte dankend abge lehnt. Ihm genügte das Goldene Vlies. Sollte der Scuddamore sich auch einmal den Kopf zerbrechen. Gusärleng begriff offenbar nicht, wie sein Begleiter ohne Schutzanzug hier unten leben konnte, aber er stellte keine Fragen. Nur manchmal bedachte der ehema lige Kommandant der Scuddamoren den goldenen Anzug verstohlen. Atlan kletterte wieder vor dem Scudda moren in das raketenförmige Fahrzeug. Gu särleng hatte die Waffe längst weggesteckt. Er brauchte keine Furcht zu haben. Hier kannte nur er sich aus. Ohne ihn war Atlan verloren. Die Bahneinheit setzte sich in Bewegung. In rasender Fahrt ging es durch stockdunkle Tunnel, große Hallen mit weiteren Fahrzeu gen und über Brücken hinweg, unter denen nichts als gähnende Tiefe war. Allmählich stiegen die Schienen an. Als Atlan endlich
32 merkte, daß die Fahrt sich verlangsamte, wa ren wiederum Stunden vergangen. In einer Art Bahnhof war Endstation. Gu särleng und Atlan stiegen aus. Die Leucht kugel des Scuddamoren erhellte den Weg, bis sich wieder eine Wandöffnung bildete, hinter der Treppenstufen zu erkennen waren. Atlan ließ sich führen. Dann waren sie an der Oberfläche. Der Zugang zum Tunnelsystem war gut getarnt – die Natur selbst hatte dafür gesorgt. Es war Nacht, doch hell genug, um Atlan seine Um gebung erkennen zu lassen. Was er sah, verschlug ihm den Atem. Die Helligkeit kam nicht vom Himmel. Es waren Tausende von wunderschönen Blu men, die sie spendeten. Sie erinnerten Atlan an Lilien und reichten ihm bis zur Brust. Als er noch fassungslos dastand und das Wunder bestaunte, sagte Gusärleng: »Das sind sie, die Gargat-Pflanzen.« Er lachte finster. »Spürst du nichts?« Atlan schüttelte den Kopf. Er konnte den Blick nicht von den halb geöffneten, violett schimmernden Blütenkelchen nehmen, die wie ein Weizenfeld im leichten Wind auf und ab wogten. »Sieh dich vor!« warnte der Scuddamore. »Zwar haben die Pflanzen durch die ständi ge Bestrahlung von der Anlage aus an Wir kung verloren, doch können sie leicht beein flußbare Wesen immer noch betören. Als ich ihnen zum erstenmal begegnete, hatte ich Glück, daß ich Roboter bei mir hatte, die mich aus ihrem Bann rissen. Sobald du merkst, daß du dich leicht und sorglos fühlst, mußt du dagegen ankämpfen. Es kommt von den Pflanzen.« Leicht und sorglos? Atlan mußte zugeben, daß der Anblick der Pflanzen etwas Beruhi gendes hatte, aber war dies schon eine Be einflussung? Was hatte Gusärleng gesagt? Er hatte sich im Bann der Blumen befunden und konnte nur durch Roboter gerettet werden? »Wie war es?« fragte der Arkonide vor sichtig. »Damals, meine ich. Hattest du das Gefühl, daß sie dir einen fremden Willen
Horst Hoffmann aufzwingen wollten?« »Unsinn! Jeder, der in ihre Nähe geriet, fühlte sich wie ein König. Sie berauschten uns. Wer einmal in diesen Rausch geriet, war verloren. Die ersten Scuddamoren, die unter meiner Führung hierherkamen, waren unvorbereitet. Zwar hatten wir einige Pflan zen, auf die ein Erkundungskommando zu fällig gestoßen war, in unseren Labors stu diert, aber nur wenn sie zu mehreren zusam menstehen, können sie ihren Einfluß aus üben. Diejenigen, die ihrem Locken erlagen, starben einen furchtbaren Tod. Ihre Zellen begannen zu wuchern. Nun sind die Pflan zen relativ harmlos, wie ich schon sagte. Aber paß trotzdem auf!« »Dann bist du der einzige, der in ihren Einfluß geriet und gerettet werden konnte?« »Ja«, sagte Gusärleng kurz angebunden. »Und nun komm!« Atlan folgte ihm schweigend, als der Scuddamore sich einen Weg durch die Blü tenpracht bahnte. Atlan sah, wie die Blumen niedergewalzt und umgetreten wurden. Ei nem plötzlichen Impuls folgend, versuchte er, Gusärleng zurückzuhalten. »Was ist?« fragte der Scuddamore. »Es geht schon los! Wenn sie dir leid zu tun be ginnen, mußt du dich vorsehen. Versuche sie zu hassen!« Der Unheimliche marschierte weiter. Wo hin, das interessierte Atlan im Moment kaum. Er dachte an etwas anderes. Zellwucherung! Wenn Gusärleng sich tat sächlich im Bann der Pflanzen befunden hat te, bis die Roboter ihn aus deren Einflußbe reich befreiten, mußte auch er etwas abbe kommen haben. Wenn die Pflanzen auf die Prozesse, die in den Körperzellen der Scud damoren abliefen, Einfluß nehmen konnten, mußte auch er diesem Einfluß ausgesetzt ge wesen sein, wenn auch nur für kurze Zeit. Gerade lang genug, um den Alterungspro zeß der Körperzellen aufzuhalten? War dies das Geheimnis von Gusärlengs relativer Un sterblichkeit? Hatten die Pflanzen darüber hinaus noch etwas anderes bewirkt? War es ihrem Einfluß zuzuschreiben, daß er anders
Der Saboteur zu denken begonnen hatte als seine Artge nossen, und daß er am Ende von ihnen ge jagt worden war? Atlan folgte Gusärleng und vermied es, so gut es ging, weitere Blu men umzutreten. Er spürte, daß etwas ver suchte, in sein Bewußtsein zu dringen. Dar auf vertrauend, daß er mentalstabilisiert war, öffnete er sich den Blumen ein wenig. Er empfand keine Euphorie – im Gegen teil. Atlan spürte Trauer und Leid. Das Leid einer ganzen Welt, die gnadenlos versklavt wurde. Er sah Dunkelheit und Schatten, wo leuchtende Farben hätten sein sollen, fühlte Schmerz, wo Glück sein könnte. Mitleid. Ja, genau das war es, was der Ar konide jetzt empfand. Vielleicht würde er nie erfahren, welches Drama sich hier voll zogen hatte. Aber eines spürte er ganz ge nau, und er war sicher, daß es ihm nicht vor gegaukelt wurde: Diese Pflanzen waren nicht böse. Wenn sie am Tod der Scuddamo ren schuld waren, dann nur deshalb, weil sie sich mit den ihnen gegebenen Mitteln ge wehrt hatten. »Du mußt sie hassen!« sagte Gusärleng wieder. »So hassen, wie ich es tue!« Atlan antwortete nicht. Immer weiter ging es durch die Wunderwelt aus wogendem violetten Licht, und kein Ende des Feldes war in Sicht. Als der Morgen zu dämmern begann, blieb Gusärleng stehen. Er deutete gerade aus, und Atlan sah einige schlanke Türme, die weit in den Himmel ragten. An ihren Spitzen saßen riesige Parabolspiegel. »Wir … wir sind schon da?« fragte der Arkonide überrascht. »Das ist die Station, die die Pflanzen bestrahlt?« Atlan hielt es für unmöglich, daß es in der Nähe dieser für die Scuddamoren so wichti gen Anlage keine Wachen gab. Es mußte doch von ihnen wimmeln – gerade jetzt, wo Vaskäner wußte, daß er und Gusärleng gen Westen geflohen waren, wo es nur ein Ziel für einen Saboteur geben konnte. Vaskäner konnte nicht so leichtsinnig sein, darauf zu vertrauen, daß die Flüchtlinge im Ozean ums Leben gekommen waren.
33 »Das ist die Station«, bestätigte Gusärleng jedoch. »Du hast es dir schwerer vorgestellt, hierher zu gelangen? Auf dem Land und dem Luftweg wären wir auch nicht hierher gekommen. Kein Insekt könnte das. Die ge samte Anlage, also auch die Pflanzen, deren Ausscheidungen in regelmäßigen Abständen gesammelt werden, liegt unter einem riesi gen Energieschirm. Nur haben jene, die sich für schlauer als Gusärleng hielten, verges sen, ihn tief genug in die Erde zu projizie ren. Wir befinden uns unter ihm. Ich garan tiere dir, daß es im Luftraum von Patrouil lengleitern jetzt wimmelt, aber hier, unter der Glocke, fühlen die Scuddamoren sich si cher. Natürlich ist die eigentliche Station streng bewacht, und wir werden die Besat zung auszuschalten haben. Dazu brauche ich dich, Atlan. Du wirst zu den Scuddamoren gehen.« »Was soll ich tun?« »Du hast dich nicht verhört. Du wirst sie ablenken und sagen, daß du aufgibst. Erzäh le ihnen, daß du zusammen mit mir bis hier her vordringen konntest und ich starb, als ich zu lange zwischen den Pflanzen war. Sie werden Vaskäner benachrichtigen, und die ser wiederum wird in den alten Unterlagen, die er bestimmt längst ausgegraben hat, eine Eintragung über den Zwischenfall finden, von dem ich dir berichtete. Er wird deiner Geschichte also Glauben schenken, vor al lem, wenn du ihm meinen Schattenschild-Projek tor zeigst.« Gusärleng schnallte sich einen der beiden Gürtel mit den in den Schnallen unterge brachten Projektoren ab und reichte ihn At lan. Dieser begriff. »Hier«, sagte der Scuddamore und reichte Atlan zusätzlich ein winziges Funkgerät. »Damit wirst du die Station anfunken und erklären, daß du kommst, um dich zu erge ben, nachdem du eingesehen hast, daß du ohne mich deinen geplanten Sabotageakt nicht ausführen kannst. Sage den Scuddamo ren, daß sie nicht schießen sollen und daß du wichtige Informationen für Vaskäner hättest. Sie werden dich holen und alle Aufmerk
34
Horst Hoffmann
samkeit auf dich richten. Dann kann ich in aller Ruhe an die Arbeit gehen.« Und dich in aller Ruhe aus dem Staub machen, bevor der Tanz beginnt, fügte Atlan in Gedanken hinzu. Es war klar, welche Rol le er von Anfang an in Gusärlengs Plänen gespielt hatte. Er sollte das Kanonenfutter sein, während der Besessene die Anlage zer störte – und spurlos verschwand. Atlan nick te. Er mußte zum Schein darauf eingehen. Sein Ziel war es ebenso wie das des Scudda moren, daß die Produktion von Organschif fen auf Ärterfahl unmöglich gemacht wurde. Er würde das tun, was Gusärleng ihm gesagt hatte, bis die Sabotage erfolgt war. Dann aber war die Zeit des Wartens und der Gän gelei vorüber. Atlan wollte dem Wahnsinni gen die Suppe gehörig versalzen. Zwar wa ren die Scuddamoren seine Gegner, aber er durfte nicht zulassen, daß Gusärleng in sei nem blinden Haß zu den Werftanlagen zu rückkehrte und vielleicht Tausende von ih nen umbrachte. So nahm Atlan das Funkgerät und den Gürtel an sich und ging langsam auf die Tür me zu. Es war mittlerweile hell. Gusärleng beschwor den Arkoniden, seine Geschichte eindringlich und glaubhaft zu erzählen und die Scuddamoren zu beschäftigen, bis die Alarmanlagen zu schrillen begannen. Dann verschwand er zwischen den Blüten der Gar gat-Pflanzen. Atlan fragte sich, wie diese auf das Ende der Bestrahlung reagieren würden, und ob Gusärleng diese Reaktion in seine Überle gungen miteinbezogen hatte. Dann sprach er in das scuddamorische Funkgerät.
* Atlan brauchte nicht lange zu warten. Als Gusärleng davon gesprochen hatte, daß die Station unter dem Energieschirm »streng be wacht« sei, war das eine glatte Untertrei bung. Eine halbe Scuddamoren-Armee rück te an, um Atlan zu holen. Sie kamen mit Gleitern und fliegenden Plattformen, auf
dem jeweils zwei von ihnen hinter einem Energiegeschütz standen. Atlan wurde an Bord eines der Gleiter ge bracht, wobei ihm auffiel, daß die Scudda moren im Gegensatz zu Gusärleng streng darauf achteten, daß sie so wenige Blumen wie möglich umtraten. Bevor die Scuddamoren kamen, hatte der Arkonide im übrigen beobachten können, wie die Blumen einige Insekten fingen. Ihre Blütenkelche schlossen sich über den Tieren und erdrückten ihre Opfer. Atlan hatte ver geblich nach der Schlacke gesucht, die den Grundstoff für die braune Plasmamasse lie ferte. Offensichtlich waren die hier gelege nen Felder gerade »abgeerntet« worden. Im Frachtraum des Gleiters wurde Atlan zur Station geschafft. Fünf Scuddamoren hielten ihn mit schweren Energiewaffen in Schach. Niemand sprach mit ihm. Atlan war sicher, daß der Leiter der Anlage sich das Verhör selbst vorbehalten hatte. Vielleicht war sogar Vaskäner gekommen, um den Mann zu sehen, der ihm solchen Schaden zugefügt hatte. Der Gleiter kreiste über den Türmen mit den riesigen Projektoren. Die Station be stand aus einem einzigen, ringförmigen me tallenen Wulst von etwa zehn Meter Dicke. Er umschloß eine kreisförmige Fläche von gut zwei Kilometern Durchmesser. Hier wuchsen die Türme in den Himmel. Rund um die Station lag eine freie Zone von eini gen hundert Metern, hinter der die Blumen felder begannen. Kurz vor der Landung im Innenhof konnte Atlan in der Ferne einige plump wirkende kastenförmige Maschinen erkennen, die über den Pflanzen schwebten und aus denen mehrere dicke Schläuche her abhingen. Wenige Minuten später stand er dem Lei ter der Anlage gegenüber. Es handelte sich um einen Scuddamoren namens Ballung. Außer ihm befanden sich an die zwanzig Bewaffnete in dem Raum, in dem er Atlan erwartet hatte. Atlan trug immer noch den Gürtel und das Funkgerät bei sich. Beides reichte er Bal
Der Saboteur lung. »Setz dich«, sagte der Scuddamore, nach dem er den Schattenschild-Projektor kurz begutachtet und weitergegeben hatte. »Vaskäner ist auf dem Weg hierher. Bis er eintrifft, werde ich mich mit dir zu unterhal ten haben. Du behauptest also, daß Gusär leng tot ist?« »Ich habe den Beweis mitgebracht«, ent gegnete Atlan. »Wir werden den Gürtel prüfen. Wo hast du Gusärleng zurückgelassen, und wie seid ihr unter die Energieglocke gelangt?« Ich muß Zeit gewinnen! dachte Atlan. Da bei war ihm klar, daß ausweichende Ant worten, vor allem, was den angeblich toten Gusärleng anbetraf, das Mißtrauen der Scud damoren verstärken würden und sie veran lassen konnten, eben jene großangelegte Suchaktion nach dem Besessenen zu starten, die gerade vermieden werden sollte. Atlan mußte selbstbewußt auftreten. Die Scuddamoren mußten annehmen, daß er Gu särleng nur als Werkzeug benutzt hätte. »Über Gusärleng rede ich nur mit Vaskä ner selbst«, sagte der Arkonide daher, darauf hoffend, daß der Kommandant von Ärterfahl nicht auftauchte, bevor Gusärleng sein Werk vollendet hatte. »Dagegen könnt ihr gern hö ren, wie ich euch Narren überlistete. Es war ein Kinderspiel, nachdem ich Gusärleng so weit hatte, daß er mir half.« Atlan berichtete. Er begann bei der Flucht aus Gusärlengs Versteck und ließ nichts aus, bis er auf das Rohrbahnsystem unter den Blumenfeldern zu sprechen kam. Er machte einige vage Angaben und sagte, daß Gusär leng den Gleiter, mit dem sie gekommen waren, vernichtet habe, bevor er es verhin dern konnte. Bevor die Scuddamoren seine Angaben überprüft hatten, würde wertvolle Zeit vergehen. Und Atlan bezweifelte, daß sie die vollgetankte Bahneinheit überhaupt würden benutzen können, falls sie sie bei der Verfolgung der deutlichen Spuren fanden. Ballung stellte immer neue Fragen. Atlan beantwortete sie geduldig, soweit sie nicht Gusärleng betrafen. Ballung erwies sich als
35 außerordentlich wißbegierig. So wollte er wissen, woher Atlan kam, welchem Volk er angehörte rund wie er es fertiggebracht hat te, den Scuddamoren bisher zu entkommen. So verging weitere kostbare Zeit, bis Vas käner eintraf. Doch es sollte nicht mehr zur Begegnung mit ihm kommen. Die Alarmsirenen heulten auf. Ballung fluchte und hastete zu den Kommunikations geräten des Raumes, über die eben noch die Ankunft des Kommandanten gemeldet wor den war. Nun war das »Gesicht« eines ande ren Scuddamoren auf einem Bildschirm zu sehen. »Der Energieschirm!« hörte der Arkoni de. »Er bricht zusammen. Die Generatoren sind total überlastet. Irgend jemand hat sie manipuliert. Die Energieabgabe nähert sich dem kritischen Punkt!« Ballung drehte sich um und warf Atlan einen vernichtenden Blick zu. »Die Projektoren werden explodieren!« rief eine andere Stimme. Der Scuddamore auf dem zweiten Schirm wollte etwas hinzu fügen, als dröhnendes Gelächter den Raum erfüllte. Atlan kannte es nur zu gut. »Ja, ihr Narren!« hallte Gusärlengs Stim me in seinen Ohren. »Ihr glaubtet, ich sei tot! Ihr dachtet, ihr hättet mich besiegt – mich, Gusärleng! Das ist erst der Anfang. Ich werde furchtbare Rache nehmen! Ihr seid verloren, alle! Vaskäner, ich weiß, daß du mich hörst! Auf diesen Augenblick habe ich gewartet, seitdem Jasgölg mir das Kom mando abnahm. Denke an ihn, wenn du stir bst!« Atlan zögerte nicht länger. Als alle Scud damoren zur Decke starrten, woher die un heimliche Stimme zu kommen schien, entriß er dem ihm am nächsten stehenden die Waf fe und stürmte aus dem Raum. Der dahinter liegende Korridor war leer. Atlan erreichte das Freie, ohne daß sich ihm jemand in den Weg gestellt hatte. Als die Scuddamoren sich besannen, war es zu spät für sie. Eine erste Explosion ließ die Station erzittern, als die Verfolger hinter ihm erschienen. Atlan sah, wie einer der großen Parabolspiegel
36 nach dem anderen zerbarst. Trümmerstücke schossen durch die Luft und bohrten sich in den Boden. Staub wurde aufgewirbelt. Für wenige Augenblicke sah Atlan nichts um sich herum. Hinter ihm wurde geschossen. Atlan rannte weiter, ohne genau zu wissen, in welche Richtung. Nur weg von der Stati on und den Scuddamoren. Am Himmel blitzte es. Als die Luft sich wieder klärte, hatte der Arkonide die Pflanzen erreicht und warf sich zu Boden. Er kroch weiter, nur von dem einen Gedanken besessen, Gusärleng zuvor zukommen. Er hatte keinen Zweifel daran, daß der Besessene die Station schon verlas sen hatte, als seine Worte das Chaos einläu teten. Und er konnte nur ein Ziel haben: zu erst den wartenden Gleiter zu erreichen. Es gab weitere Explosionen. Nachdem Atlan glaubte, weit genug von der Station entfernt zu sein, richtete er sich vorsichtig auf und blickte über die Blütenkelche. Immer noch war Staub in der Luft. Mehrere Gleiter wa ren in großer Höhe am Himmel zu erkennen. Keiner der Türme stand mehr. Die Station brannte. Gusärleng hatte ganze Arbeit gelei stet. Atlan konnte keinen rechten Triumph empfinden. Sein Ziel war erreicht. Ärterfahl spielte für lange Zeit keine bedeutende Rolle mehr im Marantroner-Revier. Die Gargat-Pflanzen waren frei und wür den sich beim nächstenmal besser gegen ei ne neue Manipulation zu wehren wissen. At lan spürte es. Es war wie eine Woge, die ihn mit sich fort riß. Die Impulse drangen von allen Seiten auf ihn ein. Atlan zwang sich zur Konzentration. Es fiel schwer, denn die Impulse waren voller Glück. Er mußte sie ignorieren und hinter Gusärleng her, bevor der Wahnsinnige den Gleiter erreichen und die Werftanlagen in Schutt und Asche legen konnte. Es hatte genug Tote gegeben, und nur bei den Werftanlagen konnte Atlan die Möglichkeit zur Flucht von Ärterfahl finden. Man verfolgte ihn nicht. Aber wo war der Zugang zum Rohrbahnsystem? Atlan hatte keine Orientierung. Allein würde er ihn nicht wiederfinden, zumindest nicht recht-
Horst Hoffmann zeitig genug. Ein phantastischer Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Er konzentrierte sich ganz auf die Stelle, an der er zusammen mit Gusärleng das sub planetarische System verlassen hatte, und den Wunsch, dorthin zurückzukehren. Und die Pflanzen halfen ihm. Atlan wußte plötzlich, wohin er sich zu wenden hatte. Er ließ sich führen. Sobald er einen Schritt in die falsche Richtung machte, wurde er korrigiert. Er rannte nun, um Gu särlengs Vorsprung aufzuholen. Die Pflan zen bestätigten seine Annahme, daß dieser vor ihm war. Sie waren keine Telepathen, die Worte oder Gedankenbilder in seinem Bewußtsein entstehen lassen konnten. Sie leiteten ihn durch Gefühle. Atlan brauchte nur an etwas zu denken, eine Frage in Ge danken zu formulieren, und schon empfing er positive oder negative Impulse. Über allem lag ein Gefühl unbändiger Freude. Die Schatten waren verschwunden. Farben traten an ihre Stelle. Zwischen den Impulsen lag Dankbarkeit. Die Pflanzen wußten, daß Atlan nicht zu jenen gehörte, die sie versklavt hatten, und sahen in ihm ei ne Art Erlöser, obwohl eigentlich Gusärleng die Türme vernichtet hatte. Der Gedanke an den Scuddamoren reichte schon, um sofort wieder negative Impulse zu spüren. Die Pflanzen haßten ihn. Als Atlan vor dem unter den großen Blät tern und violetten Blütenkelchen versteckten Zugang zum Rohrbahnsystem stand, wußte er, daß Gusärleng bereits unten war – und noch etwas. Gusärleng war verletzt und nahe daran, endgültig den Verstand zu verlieren. Atlan opferte wertvolle Sekunden und blieb einige Augenblicke lang stehen. Er betrachtete die violette Blütenpracht. Insekten flogen zwi schen ihnen umher und wurden nicht gefan gen. Es war, als atmete Atlan frische Luft, als träte er aus einem dunklen Verlies in das Licht der Sonne. Noch einmal spürte er die ganze Dankbarkeit der Pflanzen. Er hätte am
Der Saboteur
37
liebsten noch Stunden zwischen ihnen ver bracht, um mehr über sie zu erfahren und an ihrem Glück teilzuhaben. Aber gerade sie waren es, die ihn drängten. Wie sehr mußten sie Gusärleng hassen! Aber war es nicht ganz natürlich, daß sie in ihm ihren Erzfeind sahen? Mit Gusärlengs Auftauchen vor langer Zeit hatte ihr Un glück begonnen, und sie hatten nichts ver gessen. Er strahlte das Böse aus, und sie lit ten. Wieder hatte Atlan die schwache Visi on, daß der Besessene schwer verletzt auf dem Weg zum Gleiter war. Sie kam von den Gargat-Pflanzen, und diesmal gewann Atlan eine etwas konkretere Vorstellung. Gusärleng hatte sich nicht nur bei seinem Sabotageakt verletzt – schlimmer war das, was die Pflanzen ihm zugefügt hatten. »Ich danke euch«, murmelte der Arkoni de. Dann riß er sich los und lief die Treppen stufen unterhalb des getarnten Zugangs hin unter. Als er die Halle mit den RaketenbahnEinheiten erreichte, war jene, mit der er und Gusärleng gekommen waren, verschwun den. Atlan sah Blut auf dem Boden, daneben eine Stelle, an der der Staub aufgewirbelt worden war. Gusärleng mußte gestürzt sein. Weiter! drängte es ihn. Atlan lauschte wieder in sich hinein, überrascht darüber, daß die Impulse der Pflanzen bis hierher reichten. Er »erfuhr«, daß die Scuddamoren mit vielen Gleitern gelandet waren und zur Verfolgung ansetzten, aber von den Pflanzen daran gehindert wurden. Die Vorstellung, daß wieder Dutzende von Scuddamoren einen qualvollen Tod erleiden mußten, löste Widerwillen aus, der aber sofort von der Botschaft der Blumen überlagert wurde. Als Atlan sich wieder in Bewegung setz te, wußte er, daß der Besessene sich irgendwo im Tunnel befand – hilflos und dem To de nahe. Er hatte den Gleiter nicht erreicht. Atlan rannte in den Tunnel hinein, in den die leere Schiene führte.
*
Er fand den Sterbenden schon nach knapp einer Stunde. In der absoluten Dunkelheit hatte Atlan mehrmals pausieren und immer öfter das Tempo drosseln müssen, um nicht zu stolpern und sich den Hals zu brechen. Nun sah er ein Licht voraus. Gusärlengs leuchtende Kugel lag neben dem Fahrzeug, in dessen vorderem Sitz der Scuddamore zu sammengekauert hockte. Gusärlengs Strah ler befand sich neben ihm auf dem Sitz. »Ich wußte, daß du kommen würdest«, sagte der Verwundete mit kaum hörbarer Stimme. Atlan blieb mißtrauisch und nahm die Waffe an sich, bevor er sich über ihn beugte. Die Kontrollen und der Boden wa ren voller Blut. »Du brauchst keine Angst mehr zu ha ben«, flüsterte Gusärleng. »Jetzt nicht mehr. Die Pflanzen haben es geschafft. Ich … ich kann wieder denken, Atlan …« Der Arkonide hatte plötzlich Mitleid mit dem Scuddamoren. Was sollte das heißen, er konnte wieder »denken«? »Stelle jetzt keine Fragen, Atlan«, preßte Gusärleng hervor, als hätte er Atlans Gedan ken gelesen. »In wenigen Minuten ist alles vorbei. Ich weiß es. Meine Verletzungen sind zu schwer, und selbst wenn du mir hel fen könntest, würde ich es nicht wollen, jetzt nicht mehr. Es ist durchgebrochen, all das, was ich so lange vergessen konnte.« Atlan schwieg und ließ den anderen re den. Er spürte, daß Gusärleng sich eine furchtbare Last von der Seele reden wollte, bevor er starb, und so erfuhr er, daß Gusär leng schon beim erstenmal, als er in den Bann der Pflanzen geriet, durch ihren Ein fluß von der ihm wie allen Scuddamoren ge gebenen Konditionierung befreit worden war, wenn auch nur für kurze Zeit. Nach seiner »Rettung« durch die Roboter hatte sein Unterbewußtsein die furchtbare Erkenntnis dessen, was es bedeutete, ein Scuddamore zu sein, verdrängt. Gusärleng war dennoch für den Rest seines Lebens ge prägt gewesen. Obwohl er vergessen hatte, was er in Wirklichkeit war, begann er alle Scuddamoren zu hassen. Seine Besessenheit,
38 entgegen den Befehlen des Neffen zu han deln, war nur eine Folgeerscheinung dessen. Alle anderen Scuddamoren, die in den Bann der Pflanzen geraten waren, hatten ihr Wis sen um ihre Identität niemandem weiterge ben können. Nur bei Gusärleng war die Zell wucherung zum Stillstand gekommen. Ge nau genommen, hatte sie gar nicht erst rich tig eingesetzt. Seine Zellen hatten sich, wie Atlan bereits vermutet hatte, verändert. Er hörte auf zu altern. Nach seinem vorge täuschten Tod widmete er sich ungestört dem Studium der Kultur der eingeborenen Zivilisation, die für seine Artgenossen nicht existierte. Der Rest war Atlan bekannt. »Du mußt deinen Weg zu Ende gehen«, flüsterte Gusärleng. »Nimm den Gleiter und suche eine Möglichkeit, von Ärterfahl zu entkommen.« Die Worte kamen langsamer. Gusärleng hatte bei jedem einzelnen Mühe. »Du mußt weiterkämpfen. Ich …« »Du kannst mir dabei helfen!« appellierte der Arkonide an den Lebenswillen des Scud damoren. »Nun, da du die Wahrheit kennst …« »Ich … ich kann nicht … mit ihr leben. Du mußt …« Gusärlengs Körper sank leblos in sich zu sammen. Lange stand Atlan erschüttert ne ben ihm und versuchte seiner Gedanken Herr zu werden. »Sie haben dich gehaßt und dich ge straft«, murmelte er dann. »Und doch haben sie dir dein Leben zurückgegeben.« Atlan fluchte lauthals. Er kam sich vor wie ein Prediger, der ein paar fromme Sprü che am Grab eines Toten von sich gab. Und doch mußte er mit seinen Gefühlen kämp fen. Eben noch war Gusärleng für ihn ein Monstrum gewesen, und nun sah Atlan auf ein Wesen, das wohl mehr gelitten hatte, als er sich vorstellen konnte. Gusärleng war nicht das wahnsinnige Genie gewesen, das er anfangs in ihm gesehen hatte, und nicht der kaltblütige, vor Haß verblendete Mas senmörder. Bange fragte Atlan sich, was geschehen
Horst Hoffmann würde, wenn alle Scuddamoren erführen, wer und was sie waren. Der Arkonide zwängte sich auf den Sitz hinter Gusärleng und betrachtete die Kontrollen. Die Raketen bahn konnte von jedem der drei Plätze aus gesteuert werden. Atlan hatte gesehen, wie Gusärleng an den Knöpfen und Hebeln han tiert hatte. Er hielt den Atem an und ver suchte sein Glück, nachdem er die Leucht kugel geholt hatte. Die Bahn setzte sich in Bewegung. Atlan beschleunigte und ließ sich müde im Sitz zurückfallen. Er konnte nichts tun, bis er die Endstation vor der Schleuse erreicht hatte, hinter der der Gleiter wartete. Die Stunden zogen sich in die Län ge. Atlan fragte sich, was die Scuddamoren inzwischen unternahmen. Sie wußten, daß er entkommen war, und mußten annehmen, daß er auf die gleiche Art fliehen wollte, auf die er gekommen war. Die unterseeische Höhle mit dem Gleiter war viel zu tief gele gen, als daß ihr von den Maschinen und Or ganschiffen der Scuddamoren Gefahr droh te. Aber irgendwann mußte Atlan auftau chen. Endlich erreichte er die Endstation. Er stieg aus und sah Gusärleng ein letztes Mal an. Er konnte nichts mehr für ihn tun. Atlan fand schnell den Mechanismus, der die Schleuse öffnete. Der Gleiter lag unver sehrt im ruhigen Wasser. Jetzt zahlte es sich aus, daß Atlan jeden Handgriff des Scudda moren beobachtet und sich gemerkt hatte. Nach wenigen Minuten saß er in der Piloten kanzel und startete das Fahrzeug. Er war vorsichtig, weil er keine Ahnung hatte, wel che Überraschungen noch in ihm steckten, und was eine falsche Schaltung alles auslö sen konnte. Der Gleiter tauchte und gelangte durch den Stollen in den Ozean. Atlan mußte mehr oder weniger blind steuern. Sein Ziel lag ir gendwo im Westen – das war alles, was er wußte. Atlan brachte die Maschine auf volle Be schleunigung und ließ sie nur leicht aufstei gen. Solange wie möglich wollte er im Schutz der Tiefsee bleiben. Er hatte keinen
Der Saboteur
39
Zeitanzeiger und somit keine Vergleichs werte, die ihm sagten, wann etwa er bei glei cher Geschwindigkeit wie auf dem Herweg den Nachbarkontinent erreichen würde. So mußte er sich voll und ganz auf sein Gefühl verlassen. Sobald er auftauchte, würde eine gnaden lose Jagd beginnen. Atlan hoffte inbrünstig, daß er dann einen nur halb so guten Piloten abgeben würde wie Gusärleng.
* Vaskäner befand sich an Bord der MILJI EN, des Organschiffs, mit dem er gekom men war, um Atlan zu übernehmen und bei den GargatPflanzen nach dem Rechten zu sehen. Nun wartete er darauf, daß der Mann, der für die Katastrophe verantwortlich war, aus dem Ozean auftauchte. Für ihn war klar, daß Atlan noch lebte und von Ärterfahl zu flie hen versuchen würde, nachdem er die Arbeit von Generationen zunichte gemacht und die Anlagen zur Kontrolle der Pflanzen vernich tet hatte. An Gusärleng verschwendete der Kommandant der Scuddamoren keinen Ge danken mehr. Man hatte seine Blutspuren gefunden und von ihnen auf die Schwere seiner Verletzungen schließen können. Gu särleng mußte tot sein. Vaskäner wußte, was auf ihn zukam. Bald würden die Schiffe des Neffen über Ärter fahl erscheinen, um ihn und alle, die für die Organschiffproduktion verantwortlich wa ren, zur Bestrafung abzuholen. Doch bevor sie kamen, wollte Vaskäner abrechnen. Atlan war nun noch wichtiger für ihn geworden. Seine Rache war gleichzeitig die einzige Chance, die er vielleicht noch hatte. Wenn er Chirmor Flog den Saboteur präsentierte, war vielleicht nicht alles für ihn verloren. Die MILJIEN stand etwa fünftausend Me ter über dem Ozean. Unter ihr befanden sich fast alle Gleiter, die Vaskäner zur Verfü gung hatte. Wie ein Netz lagen sie über dem Meer, so verteilt, daß, eines von ihnen die
Maschine des Saboteurs orten mußte, wenn diese aus dem Wasser schoß. Vier weitere Organschiffe warteten neben der MILJIEN. Vaskäner wünschte sich, daß die im Welt raum stehenden neuen Einheiten bereits über Galionsfiguren verfügt hätten, so daß er auch sie einsetzen könnte. Alle Gleiter hat ten Schießbefehl. So wartete der Scuddamo re. Er war für niemanden zu sprechen. Die Station im Zentrum der Pflanzenfelder war total vernichtet. Die Besatzung war entwe der bei den Explosionen umgekommen oder in den Bann der Pflanzen geraten und durch sie gestorben. Nur weil Vaskäner und die Besatzung der MILJIEN noch nicht in der Anlage gewesen waren, hatten sie überlebt und fliehen können. Bei den Werftanlagen taten seine Offiziere das, was noch zu tun war. Ein letzter Pulk neuer Organschiffe, für deren Fertigstellung die noch vorhandene fertige Organmasse gerade noch gereicht hatte, würde in wenigen Stunden in den Raum starten. Danach gab es für die Scud damoren auf Ärterfahl nur noch das Warten. Die Stunden vergingen, und Vaskäner be gann bereits daran zu zweifeln, daß Atlan noch lebte, als er die Nachricht, auf die er so sehnlich wartete, endlich erhielt. Zwei nahe an der Westküste des Haupt kontinents patrouillierende Gleiter orteten die aus dem Meer schießende Maschine gleichzeitig. Sie zögerten keine Sekunde und schossen. Atlans Gleiter wurde getroffen und raste steuerlos auf das Festland zu. Un gläubig starrte Vaskäner auf die Bilder, die ihm übermittelt wurden. Er hatte einen Luftkampf erwartet, damit gerechnet, daß Atlan sich verbissen wehren und zurückschießen würde. Nichts derglei chen geschah. Als der Gleiter sich über dem Festland be fand, erhielt er den letzten und vernichten den Treffer. Brennend stürzte die Maschine ab und bohrte einen tiefen Krater, als sie aufschlug. Vaskäner fühlte sich zwischen Triumph und Zweifel hin und her gerissen. Atlan hat te ganze Verbände von Scuddamoren-Schif
40
Horst Hoffmann
fen im Marantroner-Revier zum Narren ge halten. Immer wieder war er seinen Jägern entkommen. Sah so das Ende dieses gefährlichen Re bellen aus? Aber die Bilder ließen keinen Zweifel zu. Atlans Gleiter lag als Wrack im Absturzkra ter. Niemand konnte den Abschuß überlebt haben. Dennoch wollte Vaskäner ganz sicherge hen. Er ließ die MILJIEN Fahrt aufnehmen.
10. Leenia hockte auf einer Kuppe eines klei nen Hügels und sah auf die Kanäle hinab, die den ganzen Planeten überzogen. Sie fühlte sich erschöpft und enttäuscht. Immer noch war es ihr nicht gelungen, Atlan durch ihre parapsychologischen Konzentrations übungen herbeizulocken. Manchmal glaubte sie, daß sie einfach zu schwach dazu war, daß diese Methode, die ihr, wie sie es emp fand, von der Gemeinschaft der Körperlosen aufgezwungen worden war, uneffizient war und es besser wäre, Atlan zu suchen. Doch dann sagte sie sich wieder, daß sie von vor neherein nicht hatte damit rechnen dürfen, in wenigen Tagen Erfolg zu haben. Vielleicht empfing Atlan ihre Impulse und war einfach nicht in der Lage zu kommen. Vielleicht steckte er in einer Klemme und brauchte Hilfe. Vielleicht hatte er ganz einfach kein Schiff und somit keine Möglichkeit, zu ihr zu gelangen. Leenia begann, neue Energien aufzubau en, um mit dem nächsten Versuch beginnen zu können. Es wurde von Mal zu Mal schwerer. Irgend etwas in ihr sträubte sich dagegen, und sie wußte genau, was es war. Wommser hatte sie verändert. Vor der Vereinigung mit dem artverwandten Wesen hätte sie unter keinen Umständen an den Entscheidungen der Gemeinschaft zu zwei feln gewagt und schon gar nicht offen gegen sie aufbegehrt. Nun geschah es immer häufi ger, daß sie den Drang verspürte, auf eigene Faust zu handeln, sobald sie sich in der Exi
stenzebene der Körperlichen befand. Du hast keinen Grund, dir Vorwürfe zu machen, kam es von Wommser. Wir haben als Einheit unter den Körperlichen gelebt und gelernt, sie und ihre Logik zu begreifen. Die Mitglieder der Gemeinschaft sind dazu nicht in der Lage. Es ist zu lange her, daß sie sich unter Körperlichen bewegten. Leenia gab keine Antwort. Es war nicht nur Wommser, der sie zunehmend verunsi cherte. Der in ihrem Bewußtsein verankerte Extrasinn wurde immer mehr zu einem stö renden Faktor und einer Belastung. Manch mal hatte sie das Gefühl, er wolle von ihr Besitz ergreifen. Oft wußte sie nicht, ob es Wommser oder der Extrasinn war, der sie dazu drängte, diesen Planeten zu verlassen und auf die Suche nach Atlan zu gehen. Die Gemeinschaft hatte dafür gesorgt, daß ihr das nicht möglich war. Theoretisch hatte sie die Möglichkeit, zu entmaterialisieren und jeden gewünschten Ort im Marantroner-Re vier zu erreichen. Doch sie trug den roten Anzug, über den sie von der Gemeinschaft kontrolliert wurde. Außerdem war sie nicht darüber informiert worden, wo Atlan sich zu dem Zeitpunkt, als sie nach Bordinfeel ge schickt wurde, befand. Das offensichtliche Mißtrauen der Kör perlosen verstärkte ihren Trotz. Sie war dazu verurteilt, hier zu warten, bis sie einen Er folg erzielte oder wieder abberufen wurde. Doch das war nicht das, was sie am tief sten bekümmerte. Vieles deutete darauf hin, daß sie dann, wenn sie sich dem Ansturm der vom Extra sinn kommenden Impulse zu erwehren hatte, zeitweise die Kontrolle über sich verlor und stundenlang wie von Sinnen umherirrte, oh ne zu wissen, was sie tat. So hatte sie während ihrer nächtlichen Wanderungen Stellen an den Kanälen der Planetarier, die sich Grallen nannten, gefun den, die durch Hitzeeinwirkung verwüstet worden waren, wie kein natürliches Feuer sie produzieren konnte, wohl aber sie selbst. So wie diese Stellen hatte die Erde ausge sehen, die Leenia auf Pthor bei den dort zu
Der Saboteur bestehenden Kämpfen verbrannt hatte. Leenia hatte versucht, sich zu erinnern, die ganze Zeit, die sie auf Bordinfeel ver bracht hatte, vor ihrem geistigen Auge Re vue passieren zu lassen. Und tatsächlich mußte sie feststellen, daß ihr mehrere Stun den einfach fehlten. Auch Wommser konnte keine Antwort liefern. Sein und Leenias Bewußtsein bilde ten eine Einheit. Wenn Leenias Geist ausge schaltet war, war auch Wommser »tot«. Ihr Verdacht wurde dadurch fast zur Ge wißheit, daß die ansonsten völlig friedferti gen Grallen, von denen Leenia sich bisher bewußt ferngehalten hatte, in der letzten Nacht versucht hatten, sie mit auf sie abge schossenen Netzen einzufangen. Leenia hat te sich wieder auf einer ihrer rastlosen Wan derungen befunden, um nach neuen Spuren zu suchen, die auf ihre unbewußten Aktivi täten hinweisen konnten. Nur dadurch, daß sie die Netze verbrennen konnte, bevor sie sich zu eng um sie legten, konnte sie ent kommen. Um zu entmaterialisieren, hätte sie erst ihre Energien aufbauen müssen, was Zeit gekostet und vor allem die Aufmerk samkeit der Gemeinschaft auf sie gelenkt hätte. Der Gedanke daran, daß sie die mühevoll angelegten Kanäle und Zisternen der Grallen zerstören könnte, ließ sie jedoch nicht zur Ruhe kommen. So hatte sie viel Mühe, sich erneut auf Atlan zu konzentrieren. Als sie wieder aus ihrer Versenkung erwachte, war es Abend. Der Extrasinn drängte heftiger denn je. Leenia hatte das Gefühl, daß er jetzt mit al ler Gewalt auszubrechen versuchte. Es war ein fast unerträglicher Druck in ihrem Be wußtsein. Leenia spürte Aggressionen in sich aufsteigen, von denen sie wußte, daß sie nicht von ihr kamen. Sie kämpfte dagegen an, bis sie unterlag wie an allen anderen Abenden zuvor. Als sie sich auf den Weg machte, war sie nicht sie selbst. Ihre Bewegungen waren die einer Marionette. Und diesmal war sie wehr los, als sie in die Falle der Grallen ging.
41
* Der erste Schrecken war überwunden. Taur wußte, daß er nicht nur seinen Banni stero, sondern sein Leben riskierte, als er darauf wartete, daß das fremde Wesen mit den glühenden Augen wiederkam – sein Le ben und das der anderen Grallen, die zusam men mit ihm auf der Lauer lagen. Keiner von ihnen versuchte, seine Angst zu verber gen. Wenn die furchtbaren Strahlen aus den glühenden Augen diesmal nicht die Netze, sondern die Grallen trafen, gab es keine Ret tung. Und doch mußte auch dieses Opfer ge bracht werden, wenn die Grallen wieder in Frieden leben und ihre Arbeit an den Banni steros fortsetzen wollten, ohne befürchten zu müssen, diese am nächsten Tag verwüstet vorzufinden. Wieder hielten sie die Harpu nen mit den Netzen schußbereit, diesmal je doch nicht, um das fremde Wesen damit zu fangen. Es würde sich ebenso wie in der letzten Nacht wehren – und in die vorberei tete Falle gehen. Die Mulde neben Taurs Bannistero war sorgfältig mit Zweigen und Gras überdeckt worden. Den ganzen Tag über hatten alle Grallen im Mannesalter Taur dabei gehol fen, sie so weit zu vertiefen, daß das Wesen keinen Boden fand, wenn es hineinstürzte, und darin ertrinken mußte. Als der Mond am höchsten stand, erschi en es, und nun strahlten seine Augen noch heller als in den Nächten zuvor. Taur ließ sich sofort tiefer ins Wasser des Bannisteros sinken, bis nur noch die Augen daraus her vorragten. Und was er mitansehen mußte, ließ ihn alle Vorsätze vergessen. Das Wesen ging nicht wie sonst langsam auf den Bannistero zu, sondern bewegte sich hektisch und zuckend, als ob es gegen einen unsichtbaren Gegner zu kämpfen hatte. Es erreichte den Rand des Bannisteros mehrere doppelte Körperlängen von den wartenden und vor Angst bebenden Grallen und blieb abrupt stehen. Seine Augen blitzten auf, und die furchtbaren Strahlen schossen in die ge
42 genüberliegende Wand des Kanals. Eine neue Mulde entstand hinter dem in unglaub licher Schnelle verbrannten Lehm und füllte sich mit dem dampfenden Wasser aus Taurs Bannistero. Das Wasser im Kanal sank, so daß die Oberkörper der darin liegenden Grallen sichtbar wurden. Das Wesen schien sie nicht zu bemerken. Wieder schickte es seine Strahlen in den Bo den und richtete Verwüstungen an, die schlimmer waren als alles, was Taur bisher gesehen hatte. Dann stieß es einen furchtba ren Laut aus und bäumte sich wie unter Schmerzen auf. Die Strahlen fuhren in den Himmel, dann in einen in der Nähe stehen den Baum, den sie in Brand steckten. Noch einmal schrie das Wesen. Dann war es plötzlich vollkommen ruhig. Nur das Knacken des brennenden Holzes war zu hö ren. Taurs Körpertemperatur war fast bis zu jenem Punkt abgesunken, an dem er erstarrte und in einen Zustand des Scheintods verfiel. Er mußte sich dazu zwingen, bei Bewußt sein und handlungsfähig zu bleiben. Das Wesen mußte unschädlich gemacht werden, jetzt und hier! In diesem Augenblick wollte Kirso Bal Taur sich opfern. Er richtete sich völlig auf, so daß die Hälfte seines ovalen Körpers aus dem Was ser ragte, und forderte die anderen Grallen auf, seinem Beispiel zu folgen und das We sen heranzulocken. Dabei schlug er mit den freien Ärmchen auf das Wasser, daß es eine Körperlänge hoch in die Luft spritzte. Die Grallen sahen ihn voller Angst und Zweifel an. Dann endlich taten zwei von ihnen es ihm gleich. Der Kopf des Wesens fuhr herum. Taur begann vor Angst zu zittern, als er die glü henden Augen genau auf sich gerichtet sah. Doch sie verschossen keine Strahlen mehr. Das Wesen kam unsicher auf die Grallen zu, sich nahe am Rand des Banniste ros haltend. Weiter! dachte Taur. Komm weiter heran, bis zur Mulde! Komm doch! Noch wenige Körperlängen. Die Grallen
Horst Hoffmann hatten sich nun alle aufgerichtet, mit Aus nahme von dreien, die scheintot auf dem Wasser schwammen. Sie hielten die Harpu nen mit den Netzen bereit. Als das Wesen kurz vor der Mulde ste henblieb, schossen sie. Die Netze flogen durch die Luft, aber so, daß sie im Rücken des Wesens herunterfallen mußten. Und das Wesen reagierte so, wie die Grallen es sich erhofft hatten. Es fuhr herum und zerstrahlte die herab fallenden Netze. Dabei ging es Schritt für Schritt zurück und brach endlich ein. Ein gellender Schrei war das letzte, was Taur von ihm hörte. Das Wasser der Mulde spritzte in die Höhe, als der schwere Körper darin versank. Sofort wurden neue Netze ab geschossen, die an den Enden beschwert wa ren und sich über die Mulde legten. Taur kletterte aus dem Bannistero und sah, wie die Hände des Wesens nach den Maschen griffen und versuchten, sie auseinanderzu reißen. Es konnte ihm nicht gelingen. Luft blasen stiegen auf. Das Gesicht des Wesens war noch einmal zu sehen. Die Augen hatten zu leuchten aufgehört. Dann versank es end gültig. Es dauerte Sekunden, bis die Grallen begriffen, daß sie das geschafft hatten, wor an wohl keiner von ihnen ernsthaft geglaubt hatte. Und sie lebten noch! Ihre Freude war grenzenlos. Nur kurz fühlte Taur sich un wohl bei dem Gedanken, getötet zu haben. Sie hatten es tun müssen, um sich und ihre Bannisteros zu schützen. Das fremde Wesen hatte grundlos angegriffen, nicht die Gral len. Mit Taur an der Spitze machten sie sich auf den Weg zu Minko Bal Poohl, um ihm die freudige Nachricht zu überbringen. Das tote Wesen in der Mulde war schon so gut wie vergessen. Morgen würden einige Gral len es aus der Mulde bergen und zum Wür denträger bringen. Vielleicht wollte dieser sich auch selbst zur Stätte des Triumphs be geben.
*
Der Saboteur Als Leenia die Absicht der Grallen er kannt hatte, war es zu spät gewesen. Hilflos war sie in ihre Falle gegangen – in einem Stadium, in dem sie gerade dabei war, wie der zu sich selbst zu finden. Der Schock und der Sturz ins kalte Was ser brachten sie vollends zur Besinnung. Leenia versuchte, schwimmend zu entkom men, aber die Netze verhinderten, daß sie ih ren Kopf an die Oberfläche bringen konnte. Leenia war ein Wesen aus reiner Energie, solange sie in den Höheren Welten weilte. Aber sobald sie die Existenzebene der Kör perlichen betrat und ihren Körper annahm, war sie ebenso wie die Körperlichen darauf angewiesen, zu essen, zu trinken und zu at men. Und falls es ihr nicht schnell gelang, aus dem Wasser zu entkommen, würde sie ertrinken. Der Extrasinn und das, was er angerichtet hatte, war vergessen. Leenia, das unsterbli che Wesen aus einer anderen Dimension, kämpfte ums nackte Leben. Als sie erkannte, daß sie nicht durch die Netze gelangen konnte, ließ sie sich absinken und begann sich zu konzentrieren. Alles hing davon ab, daß sie die für eine Entmaterialisation nöti gen Energien aufbauen konnte, bevor sie das Bewußtsein verlor. Schon fühlte sie das Zie hen in der Brust, und es fiel ihr schwer, die aufkommende Panik zu unterdrücken und sich zu konzentrieren. Silberne Punkte tanz ten vor ihren geschlossenen Augen. Die Zeit reichte nicht, erkannte Leenia be stürzt. Sie konnte auch ihre einzige und ver nichtende Waffe nicht einsetzen. Wenn sie versuchte, die Netze zu zerstrahlen, würde sie selbst in den von ihr entfesselten Gewal ten umkommen. Sie hatte das Gefühl, als würde ihre Brust auseinandergerissen. Plötzlicher Schwindel drohte ihr die Sinne zu rauben. Die Panik brach durch, und Leenia konzentrierte sich auf einen verzweifelten Hilferuf. Stolz und Trotz waren vergessen. Die abziehenden Grallen sahen nicht, wie es über der Mulde rötlich zu glühen begann. Leenias Anzug sog die aus der anderen Da
43 seinsebene überfließenden Energien in sich auf und gab sie an seine Trägerin weiter. Halb bewußtlos registrierte Leenia die neuen Kräfte und bündelte sie in ihrem Bewußt sein, bis das notwendige energetische Ni veau erreicht war. Leenia entmaterialisierte aus der Dasein sebene der Körperlichen. Aber sie ließ etwas zurück. Der Extrasinn Atlans, der die ganze Zeit über versucht hatte, aus Leenias Bewußtsein zu entkommen, das er wie die Mauern eines Gefängnisses empfand, nutzte den Augen blick der Instabilität und entwich.
11. Atlan wartete die Nacht ab, bevor er die kleine Bucht verließ, an der er an Land ge kommen war. Es waren keine Scuddamoren-Glei ter am Himmel zu sehen. Links von ihm war bewaldetes Gelände, und zur Rechten be fand sich in etwa zweihundert Meter Entfer nung das leicht silbern schimmernde Rohr, das am Ende der Bucht aus dem Wasser kam und geradlinig auf die Werftanlagen zu führ te. Es war die Entdeckung der unterseei schen Förderanlage gewesen, die Atlan ver anlaßt hatte, den Gleiter zu verlassen und den Scuddamoren etwas vorzugaukeln. Er konnte nur hoffen, daß sie das Wrack nicht untersuchten, bevor er das Werftgelände und die noch auf Ärterfahl befindlichen neuen Organschiffe erreicht hatte. Sie waren seine einzige Hoffnung. Dabei wußte er nicht ein mal genau, ob es sie noch auf dem Planeten gab. Er ging davon aus, daß die vor seinem Sabotageakt produzierte fertige Organmasse ausgereicht hatte, um noch einige Schiffe fertigzustellen, und hoffte, daß Vaskäner sie noch nicht in den Weltraum geschickt hatte. War dies jedoch der Fall, dann saß Atlan ein für allemal auf Ärterfahl fest und war über kurz oder lang gezwungen, sich den Scudda moren zu ergeben. Doch noch war es nicht soweit. Atlan glaubte, in der allgemeinen Verwirrung eine gute Chance zu haben, unbemerkt in die Nä
44 he der neuen Organschiffe zu gelangen. Wo diese zu finden sein mußten, hatte er auf den von seinem Roboter gleich nach der Lan dung beschafften Folien gesehen. Atlan erreichte das Rohr. Es hatte einen Durchmesser von etwa drei Metern und lief in einer Höhe von fünf Metern über in regel mäßigen Abständen aufgestellte Stützpfeiler. Sollten Scuddamoren-Gleiter auftauchen, bot sich hier die bestmögliche Deckung. Atlan marschierte unter dem Rohr entlang nach Osten. Er schätzte, daß er zwei Tage lang unterwegs sein würde, bevor er die Werftanlage erreichte. Seine Gedanken schweiften zurück. Er sah wieder die Blumen vor sich, dann Gu särleng, die Kontrollen des Gleiters, als er in ihm über den Meeresgrund jagte, und schließlich die Förderanlage. Sie befand sich wenige Kilometer vor der Küste des Hauptkontinents. Atlans Plan war es zunächst gewesen, so nahe wie möglich am Festland aus dem Wasser zu schießen und eine Notlandung zu versuchen, ehe die Scuddamoren ihn abschießen konnten. Dann hatte er die bessere Idee gehabt. Die Anlage filterte bestimmte organische Stoffe aus dem Meeresboden, eine der vie len »Zutaten« für die Organmasse zum Ver kleiden der Organschiffe. Der gewonnene Stoff wurde auf ein Förderband geladen, das in dem Rohr verschwand. Atlan war ihm bis zur Küste gefolgt, und hatte so die Bucht erreicht. Er marschierte die ganze Nacht hindurch und machte auch keine Pause, als der Tag anbrach. Atlan trug Gusärlengs Waffe. Sie gab ihm ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Zwar konnte er damit kaum etwas gegen an greifende Gleiter ausrichten, aber im direk ten Kampf mußte sie den Strahlern der Scuddamoren überlegen sein. Immer noch gab es kein Anzeichen dafür, daß man die Jagd auf ihn wieder eröffnet hatte. Atlan hütete sich jedoch vor allzu großem Optimismus. Vaskäner durfte nicht unterschätzt werden. Früher oder später mußte er Atlans Trick durchschauen.
Horst Hoffmann
Atlan dachte an den Extrasinn, und er empfand einen irrationalen Stolz darauf, daß er es auch ohne ihn bis hierher geschafft hat te. Er empfand die Hilflosigkeit nicht mehr so stark wie in den Stunden nach dem Ver lust. Begann er sich bereits daran zu gewöh nen, in Zukunft ohne den Extrasinn auskom men zu müssen? Nein, dachte der Arkonide. Ich bin augen blicklich berauscht von meinem Erfolg. Das wird sich ändern. Der Tag verging ohne Zwischenfall, und als die Dunkelheit hereingebrochen war, wa ren am Horizont bereits die fernen Lichter der Werftanlagen zu erkennen. Und etwas anderes. Sie kamen, Dutzende von hellen Punkten am Himmel. Vaskäner hatte also herausge funden, daß Atlan nicht mehr im Gleiter ge wesen war. Die Scuddamoren konnten sich nun ausrechnen, wo etwa er an Land gegan gen war. Die Lichtpunkte wurden schnell größer, und leicht gefächerte Lichtbahnen durchschnitten die Luft. Die Suchscheinwer fer der Gleiter machten die Nacht zum Tag, und sie konzentrierten sich auf das Trans portrohr und seine Umgebung. Nachdem der erste Schrecken überwun den war, rannte der Arkonide auf den näch sten Pfeiler zu. Noch waren die ersten Glei ter mehr als einen Kilometer entfernt, und sie flogen langsam. Atlan atmete tief durch und begann, den Träger hinaufzuklettern. Seine Hände rutschten am glatten Material ab. Endlich fand er die Sprossen, die zum Rohr hinauf führten. Als die Gleiter heran waren, war er oben und preßte seinen Kör per halb gegen das Rohr, halb gegen den Pfeiler. Der Boden unter ihm wurde in helles Licht getaucht. Die Gräser warfen unheimli che, wandernde Schatten. Der erste Gleiter zog vorbei. Ihm folgten weitere, tiefer flie gende. Das Licht wanderte am Pfeiler em por, immer näher an Atlans Füße kommend. Der Arkonide hielt sich an der obersten Sprosse dicht unter dem Rohr fest und zog die Beine so weit wie möglich an. Atemlos sah er, wie das Licht weiter auf
Der Saboteur ihn zu wanderte. Noch wenige Zentimeter bis zu seinen Füßen … Schlagartig wurde der Pfeiler wieder dun kel. Der tieffliegende Gleiter war vorbei. At lan sah fünf Maschinen weiter auf die Küste zuschweben. Er atmete auf. Im Augenblick hatte er Ruhe, aber sie würden zurückkom men, wenn sie bis zum Ozean geflogen wa ren, ohne etwas zu finden. Atlan konnte seinen Weg nicht wie bisher fortsetzen, darauf hoffend, immer dann gera de in der Nähe eines Trägerelements zu sein, wenn die nächste Staffel auftauchte. Das Rohr! Es war hohl. Das Förderband befand sich in der unteren Hälfte. Die auf ihm transpor tierte Substanz war ziemlich flach darauf ge schichtet, so daß Platz für einen Menschen bleiben mußte, wenn es ihm gelang, ins Rohr zu gelangen. Der Gedanke war phantastisch und nicht gerade sehr realistisch, mußte Atlan sich eingestehen. Dennoch wollte er es auf einen Versuch ankommen lassen. Was hatte er zu verlieren? Die Pfeiler teilten sich am oberen Ende und bildeten einen Ring um das Rohr, dick genug, um daran hochklettern zu können. Atlan überzeugte sich davon, daß keine Scuddamoren im Anflug waren, und riskier te es. In bestimmten Abständen mußte es Zugänge zum Förderband geben, für den Fall, daß Reparatur und Wartungsarbeiten durchgeführt werden mußten. Welche Stel len boten sich eher an als diejenigen, die über die Pfeiler schnell zu erreichen waren? Umsonst hatten die Scuddamoren keine Sprossen installiert. Nach wenigen Minuten befand Atlan sich auf dem Rohr. Es war schwer, in der Dun kelheit Unebenheiten zu erkennen. So mußte der Arkonide sich ganz auf seinen Tastsinn verlassen. Er kroch über die glatte Oberflä che, bis seine Hände gegen etwas stießen. Es gab ein schnappendes Geräusch, und Atlan fuhr instinktiv zurück – gerade recht zeitig, um nicht von der plötzlich aufsprin genden Klappe am Kopf getroffen zu wer
45 den. Vor ihm lag eine runde Öffnung von ei nem Meter Durchmesser, aus der schwaches Licht drang. Atlan sah das Förderband mit der Substanz aus dem Meeresboden unter sich hinwegziehen, dann die Leuchtstäbe am unteren Rand der Öffnung. Atlan zerschlug sie mit dem Kolben seiner Waffe, um die Scuddamoren nicht unnötig auf sich auf merksam zu machen. Dann ließ er sich auf das Band fallen, die Hand am Griff auf der Unterseite der Klappe, den er im Licht gese hen und sich gemerkt hatte. Er zog sie über sich zu und ließ sich vom Förderband fort tragen. Es stank fürchterlich. Atlan wurde fast übel. Wieder war es völlig dunkel um ihn herum. Aber dafür war er vorerst vor einer Entdeckung sicher, falls es den Scuddamo ren nicht einfiel, das Band zu stoppen und das Rohr zu untersuchen. Atlan erkannte, daß er eine furchtbare Dummheit begangen hatte. Wenn es ihm nicht gelang, rechtzeitig wieder ins Freie zu gelangen, landete er dort, wo die organische Substanz verarbeitet wurde. Und das konnten Öfen, Kessel voller giftiger Chemikalien oder weitere Filter und Zerkleinerer sein.
* Vaskäner tobte. Fieberhaft wartete er auf die Nachrichten von den Patrouillengleitern, und immer wieder mußte er das gleiche hö ren: »Atlan ist nicht aufzufinden. Er ist ver schwunden, wie vom Boden verschluckt.« Aber er mußte leben! Hier, irgendwo in der Nähe der Anlagen. Nur sie konnten sein Ziel sein. Er hatte Vaskäner nicht täuschen können. Die Untersuchung des Wracks hatte das be stätigt, was für ihn schon fast zur Sicherheit geworden war. Vaskäner wunderte sich nicht mehr darüber, wie ein einzelner Mann auf so vielen Welten des Marantroner-Re viers immer wieder seinen Verfolgern ent kommen konnte. Aber diesmal sollte es ihm
46
Horst Hoffmann
nicht gelingen! Vaskäner ließ Köder auslegen. Überall auf dem Gelände der Werftanlagen standen bald Gleiter bereit, an Stellen, an denen je der Eindringling sie finden mußte. Sämtliche mit Galionsfiguren versehene Organschiffe wurden von ihrer Besatzung geräumt. Nur wenige Kämpfer blieben an Bord, um Atlan gebührend zu empfangen, sobald er sich ei nes der Schiffe zu bemächtigen versuchte. Vaskäners Jagd! Der Scuddamore dachte nicht mehr an Chirmor Flog und an seine Aufgaben auf Ärterfahl. All sein Streben war darauf gerichtet, den Saboteur zu fan gen. Dabei machte er zwei Fehler. Er erwartete von Atlan, das zu tun, was auch er an seiner Stelle getan hätte, nämlich den direkten Weg zu wählen. Und er vergaß die Organschiffe, die noch hatten fertiggestellt werden können und dar auf warteten, in die Umlaufbahn um Ärter fahl gebracht zu werden.
* Atlan verbrachte qualvolle Stunden der Ungewißheit auf dem Band, bis er ein dumpfes, allmählich lauter werdendes Stampfen hörte. Es kam aus der Richtung, in die er getragen wurde. Kein Zweifel – er be fand sich bereits in der Anlage, und das Stampfen kam von dorther, wo die Substanz aus dem Meeresboden abgeladen wurde. Der Arkonide wußte, daß er jetzt aus dem Rohr heraus mußte. Er richtete sich vorsich tig auf, bis seine tastenden Hände über die Innenwand des Rohres glitten. Als er einen Widerstand fühlte, packte er zu. Es war eine Stange, an der er sich hoch ziehen konnte, bis er seinen Körper zwi schen sie und die Rohrwand gezwängt hatte. Und noch einmal kam ihm das Glück zu Hil fe. Ohne es zu merken, mußte er einen Kon takt berührt und einen Mechanismus ausge löst haben. Wieder schwang eine Klappe nach außen auf, und Atlan sah fremdartige
Geräte, Leuchte und Röhren über sich. Er kletterte ins Freie. Das Rohr lief nicht mehr auf Pfeilern, sondern ragte nur mit der obe ren Hälfte aus dem Boden einer Halle, deren Ende aus leuchtenden energetischen Feldern bestand, in die das Rohr mündete. Atlan stieß zischend die Luft aus, als er sah, wie nahe er dem Tod gewesen war. Erst jetzt sah er sich genauer um. Es gab weder Scuddamoren noch Roboter in der Halle. Hier lief alles vollautomatisch. Atlan hatte keine Ahnung, wo er sich genau be fand. Um sich zu orientieren, mußte er wei ter nach oben gelangen. Nach kurzer Suche fand er eine der be kannten Nischen und wartete ab, bis ein Aufzug erschien. Zwei Roboter betraten die Halle. Atlan stand dicht an die Wand ge drängt und zerstrahlte die Maschinen, bevor sie ihn entdecken und Alarm schlagen konn ten. Dann sprang er in den Aufzug, der sich schon wieder nach oben in Bewegung setzte. Atlan ließ sich tragen, bis der Lift zum Stillstand kam. Als sich eine Wand vor ihm zur Seite schob, sah er ins Freie. Unter ihm lag das riesige Landefeld mit den schwarzen Transportern. Atlan befand sich in einem der schlanken Türme zwischen den Kuppeln. Ein großer Teil der Wände be stand aus Glas. Atlan war allein. Er mußte lächeln, als er überall die unbe wachten Gleiter herumstehen sah. Atlan war sicher, daß Hunderte von Scuddamoren in den Kuppeln darauf warteten, daß er sich dort unten zeigte und auf eines der Fahrzeu ge zuschlich. Er würde sie enttäuschen. Jetzt, wo sich ihm Orientierungspunkte boten, hatte Atlan die Skizzen auf den Foli en wieder in allen Details im Kopf. Er wuß te, wohin er sich zu wenden hatte. Als der Aufzug sich wieder nach unten in Bewegung setzte, sprang Atlan hinein.
* Vaskäner verlor immer mehr die Kontrol le über sich. Der Zorn über seinen Mißerfolg
Der Saboteur machte ihn rasend. Irgendwo in der Nähe steckte Atlan! Und wenn er überhaupt nicht fliehen wollte? Wenn er vielmehr die Ab sicht hatte, weitere Zerstörungen anzurich ten? Wenn er Vaskäner bewußt auf eine falsche Fährte gelockt hatte? Dieser Gedan ke erschien dem Scuddamoren immer ein leuchtender. Ein anderer Kampf begann für ihn. Er mußte nicht nur dafür sorgen, daß Atlan gefangen oder getötet wurde, er mußte vielmehr ebenso darauf bedacht sein, zu ver hindern, daß der Saboteur weitere Triumphe feiern konnte. Alles, was ihm als Ziel dienen konnte, mußte sofort entweder völlig abgeschirmt oder besser noch von Ärterfahl weggebracht werden. Vaskäner brüllte Befehle in seine Mikro phone. Einer dieser Befehle lautete: Alle noch in den Werften stehenden Neukon struktionen müssen sofort in den Weltraum gebracht werden! Vaskäner überwachte den Start der Or ganschiffe, bis das letzte in den Wolken ver schwunden war. Als er vom zurückkehren den Begleitschiff die Nachricht erhielt, daß der Pulk sich im Orbit befand, war ihm woh ler. Die Suche ging weiter. Jedes Gebäude, je de Halle und jeder Korridor wurden durch kämmt, wobei Vaskäner besonderen Wert darauf legte, daß man die unteren Stockwer ke der unter der Oberfläche liegenden Anla gen auf versteckte Zugänge zu eventuellen weiteren Verstecken absuchte. Vaskäner ließ einige Anlagen, die längst nicht mehr in Betrieb waren, sprengen. Er ließ Giftgas in jene Komplexe pumpen, in denen nur Roboter arbeiteten. Er tat alles, was ihm in den Sinn kam, um den unfaßba ren Gegner zu erledigen. Doch der Erfolg blieb aus, ebenso wie die erwarteten Hiobsbotschaften von neuen Sa botageakten. So vergingen zwei Tage voller Hektik für Vaskäner. Als auch am Morgen des dritten Tages nichts geschehen war, begann der Scuddamore daran zu zweifeln, daß Atlan
47 sich noch in den Werftanlagen befand. Er mußte sich eingestehen, daß er ge scheitert war, daß er alle Logik vergessen und sich nur von seinen Gefühlen hatte lei ten lassen. Vaskäner befragte die Computer. Er füt terte alles in sie ein, was über Atlan bekannt war, und beauftragte sie, unter allen denkba ren Fluchtmöglichkeiten und unter Zugrun delegung von Atlans bisherigem Verhalten jene zu ermitteln, die den höchsten Wahr scheinlichkeitsgehalt dafür aufwiesen, daß Atlan sie ergriffen hatte. Als er das Ergebnis vorliegen hatte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
* Das Organschiff hatte die ungefähre Form eines Pfeifenkopfs. Der Kopf selbst war oval, sechzig mal dreißig Meter groß, und ging in das zylinderförmige Bugteil über. Dieser wiederum war achtzig Meter lang und hatte einen Durchmesser von zwanzig Meter. Das Schiff besaß zwei Schleusen, ei ne auf der Heckseite des »Kopfes«, die an dere im zylindrischen Teil. Seine Hersteller hatten ihm auch schon einen Namen gege ben. Das Organschiff, in dem Atlan auf die Scuddamoren wartete, hieß DARIEN. Ebenso wie bei den anderen Einheiten des im Orbit um Ärterfahl treibenden Pulks war die transparente Halbkugel am Bug noch leer. Atlan hatte es im letzten Augenblick ge schafft, unbemerkt an Bord eines der schon startbereit gemachten Schiffe zu gelangen und mit ihm in den Weltraum zu entkom men. Doch nun sah es so aus, als hätte er sich die Hoffnung, mit der DARIEN aus die sem System in den interstallaren Raum flie hen zu können, nachdem es mit einer Gali onsfigur ausgerüstet worden war, umsonst gemacht. Organschiffe waren von Ärterfahl gestar tet und begannen, jedes einzelne Schiff des Pulks zu durchsuchen. Vaskäner hatte also
48
Horst Hoffmann
zumindest den Verdacht, daß Atlan sich an Bord eines der Schiffe befand. Bald würden bewaffnete Scuddamoren auch an den Schleusen der DARIEN sein. Atlan hatte nicht einmal mehr Gusärlengs Waffe, um sich zu verteidigen. Er hatte den Strahler auf dem Weg zu den startbereiten Schiffen verloren. Durch ein Bullauge sah er die Suchtrupps immer näher kommen, und diesmal, so wuß te er, gab es kein Entrinnen mehr. Hätte er anders gehandelt, wenn er noch im Besitz des Extrasinns gewesen wäre? Atlan schüt telte stumm den Kopf. Chirmor Flog konnte Ärterfahl vorerst abschreiben. Die Ziele, die Atlan sich gesetzt hatte, waren erreicht. Was nun kam, darauf hatte er keinen Einfluß mehr. Sollte er auf ein neues Wunder hof fen? Die Zeit der Wunder, der glücklichen Zufälle war vorbei. Atlan preßte die Zähne aufeinander. Niemand würde auf ihn Rück sicht nehmen – so oder so. Er würde seine Haut so teuer wie möglich verkaufen. Mit geballten Fäusten sah er, wie die Suchtrupps die Nachbarschiffe erreichten und betraten.
12. Leenia fühlte sich wegen des Verlusts des Extrasinns nicht schuldig. Sie war nicht be reit, als Angeklagte vor den Mitgliedern der Gemeinschaft zu stehen. Im Gegenteil. Sie war es, die Vorwürfe zu machen hatte. Sie beklagte sich heftig darüber, daß man sie blind in die Daseinsebene der Körperlichen geschickt hatte, daß die Gemeinschaft ihr Atlans Aufenthaltsort verschwiegen und nicht stabilisierend eingegriffen hatte, als der Extrasinn den Kampf gegen sie aufge nommen hatte. Leenia stellte Forderungen. Sie wollte die Bewegungsfreiheit erhalten, die ihr fehlte. Sie wollte eine neue Chance, um den Extra sinn erneut an sich zu binden, allerdings auf eine für sie ungefährlichere Art und Weise, und ihn Atlan zurückgeben zu können. Lange herrschte Schweigen in den Höhe-
ren Welten. Dann verkündete die Gemeinschaft ihren Beschluß. Leenia sollte eine zweite Chance erhalten, denn Atlan mußte den Extrasinn zurückbe kommen, wenn er im Sinn der Körperlosen agieren sollte. Leenia erfuhr, daß der Extrasinn sich noch auf Bordinfeel befand. In dem Augen blick, in dem er aus ihr entwichen war, hatte er sich mit einem neuen Bewußtsein verbun den – mit dem eines Grallen. Ich soll also nach Bordinfeel zurückkeh ren? fragte Leenia. Ja, kam die Antwort von allen Seiten zu gleich. Doch nicht allein. Du darfst nicht noch einmal das Risiko eingehen, vom Ex trasinn übernommen zu werden. Du wirst nicht noch einmal zu seiner Trägerin wer den, sondern dir einen neutralen Bewußt seinsträger beschaffen, bevor du nach Bordinfeel zurückkehrst. Da wirst einen Molg finden müssen. Leenia erschrak heftig. Einen Molg! Ja, Leenia. Dieser Molg wird Atlans Ex trasinn aufnehmen und so lange in sich be herbergen, bis eine Rückführung möglich ist. Leenia schwieg. Sie kapselte sich ab und machte damit von dem Recht Gebrauch, sich für kurze Zeit völlig von den anderen Mit gliedern der Gemeinschaft zu isolieren. Sie hatte von ihnen gehört, den unheimli chen Gebilden, die aus den Wracks verun glückter Organschiffe hervorgingen. Und sie wußte, in welche Gefahr sie sich zu begeben hatte, wenn sie einen Molg finden wollte. Und dies wurde ihr ausgerechnet von den Mitgliedern der Gemeinschaft zugemutet, die sich sonst so sehr dagegen sträubte, sie viel geringeren Gefahren auszusetzen. Was steckte dahinter? Galt diese Maßnahme nicht wirklich ihr und ihrem Ziel, sondern einem anderen? Wommser? Ja, kam es von diesem. Sie sehen immer mehr einen Fremdkörper in mir, der allein dafür verantwortlich ist, daß du nicht so ge
Der Saboteur
49
worden bist, wie sie dich haben wollten. Ihr Ziel ist es, uns zu trennen. Niemals! erwiderte Leenia heftig. Dann, ruhiger, fragte sie: Wie wollten sie mich haben, Wommser? Was weißt du? Wie bin ich entstanden? Ich weiß nicht mehr als du, Partnerin. Wir sind ein Bewußtsein.
Ja, dachte Leenia. Und sie beschloß, die Herausforderung anzunehmen. Sie hatte gar keine andere Wahl, denn ohne die Gemeinschaft war sie nichts.
ENDE
Weiter geht es in Atlan Band 428 von König von Atlantis mit:
Expedition der Magier
von Marianne Sydow