Buch Wer zu den vielen Lesern gehört, die ihr Herz an R. A. MacAvoys ersten Roman »Stelldichein beim schwarzen Drachen«...
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Buch Wer zu den vielen Lesern gehört, die ihr Herz an R. A. MacAvoys ersten Roman »Stelldichein beim schwarzen Drachen« verloren haben, darf sich auf ein mindestens ebenso phantastisches Abenteuer mit Mayland Long und Martha Macnamara freuen. Und wer noch nicht das Vergnügen hatte, die beiden kennenzulernen, sollte sich auf etwas ganz Außergewöhnliches einstellen. Aber Vorsicht: In der Welt des Schwarzen Drachen ist nichts so, wie es scheint … Pressestimmen zu »Stelldichein beim schwarzen Drachen«: »Ein Juwel der gegenwärtigen Fantasy« CHICAGO SUN TIMES »Ein wunderbares Buch, mit schön gezeichneten Charakteren und einer erstaunlich vielschichtigen, verblüffenden Handlung: Ich wünschte, ich hätte es geschrieben.« ELIZABETH A. LYNN Von R.A. MacAvoy ist außerdem im Goldmann Verlag lieferbar: Stelldichein beim Schwarzen Drachen (8543) Die Parabel vom Lautenspieler: Damiano (23866) Saara (23867) Raphael (23868)
R. A. MACAVOY
Der schwarze Drache lädt zum Lunch Roman Deutsche Erstveröffentlichung
GOLDMANN VERLAG
Aus dem Amerikanischen übertragen von Mechthild Sandberg-Ciletti Titel der Originalausgabe: Twisting the Rope Originalverlag: Bantam Books, New York
Made in Germany • 6/87 • 1. Auflage © der Originalausgabe 1986 by R. A. MacAvoy © der deutschsprachigen Ausgabe 1987 by Goldmann Verlag, München Scan by Brrazo 09/2005 Umschlagentwurf: Design Team München Umschlagillustration: Boris Sokolow, Hamburg Satz: Fotosatz Glücker, Würzburg Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 8555 Lektorat: C. Göhler/Michael Görden Redaktion: Ilse Fath Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-08555-1
FÜR DORCAS
Alle Kapitelüberschriften in diesem Buch sind entweder Titel traditioneller Tanzstücke oder Zitate aus traditionellen Liedern. Die Überschriften der Kapitel 5 und ó sind aus dem Lied »There was a Lady« entnommen, wie es von Triona NíDhomhnaill gesungen wird; »Da Mihi Manum« kenne ich aus dem THE PENNY WHISTLE BOOK von Robin Williamson. »An Caoineadh na d'Tri Muire« hörte ich von Jim Duran; die meisten anderen Titel entnahm ich dem Buch IRISH DANCE TUNES FOR ALL HARPS: 50 GIGS, REELS, HORNPIPES, AIRS von Sylvia Woods. Ich habe keine Ahnung, wer »The Foggy, Foggy Dew« für mich zuerst sang. »The Bear Went Over the Mountain« lernte ich von meiner Mutter.
… Form ist nichts anderes als Leere: Leere ist nichts anderes als Form. Und das, was Form ist, ist Leere, das, was Leere ist, ist Form … … Alle Dahrmas werden durch Leere gekennzeichnet: Sie tauchen nicht auf und verschwinden nicht, sie sind weder befleckt noch rein, nehmen weder zu noch ab. Darum gibt es in der Leere keine Form, keine Gefühle, Wahrnehmungen, Impulse, kein Bewußtsein; keine Augen, keine Ohren, keine Nase, keine Zunge, keinen Körper, keinen Verstand; keine Farbe, keinen Klang, keinen Geruch, keinen Geschmack, keine Berührung, keinen Gegenstand des Verstandes; keinen Bereich der Augen und … keinen Bereich des Verstandesbewußtseins; kein Nichtwissen und auch keine Auflösung durch es. Kein hohes Alter und keinen Tod und auch keine Auflösung durch sie. Kein Leiden, kein Erschaffen, kein Anhalten, keinen Weg, keine Wahrnehmung und auch kein Erreichen, weil da nichts ist, was zu erreichen ist … Verschwunden, verschwunden, alles darüberhinaus ist verschwunden. Oh, was für ein Erwachen. Höchstes Heil! Aus der MAHA PRAJNA PARAMITA HRIDAYA SUTRA, nach der Lesart des San Franzisko Zen – Center Übersetzt von Ilse Fatb
Unterwegs nach Kalifornien Der Hieb ließ das Hotelzimmer erzittern, und sechs der sieben darin anwesenden Leute erstarrten mitten in der Bewegung. Theodore Poznan hielt in der linken Hand einen Pinsel mit Nagellack, während der Zeigefinger seiner Rechten starr zur Decke wies. Sein Haar, das in strohfarbene bis mittelbraune Abschnitte gebleicht war, glitt ihm über die Schulter nach vorn und hing nun vor dem Gesicht. Er trug einen nach vorn abstehenden Bart. Sein Blick war leicht vorwurfsvoll. Elen Evans' Gesicht war von feingezeichneter Schönheit; ihr kurzes Haar war über den Ohren und im Nacken stufig geschnitten. Sie hob einen sechzig Zentimeter langen eisernen Stimmschlüssel mit Holzgriff, mit dem sie ihre dreifach bespannte Harfe bearbeitet hatte. Ihr Gesichtsausdruck war ironisch. Martha Macnamara, genau dreißig Jahre älter als Elen, erstarrte mit einem Pappbecher in der Hand. Sie sah verwirrt und leicht affenartig aus mit ihren runden Augen und dem halbgeöffneten Mund. Sie dachte: »Ach, du liebe Güte«, und überlegte, ob es einen Streit geben würde. Aber sie freute sich auch ein wenig (trotz ihres Schreckens), daß Pádraig auf diese Weise auf den Tisch geschlagen hatte: fest, laut und genau in dem Augenblick, als er den Wunsch dazu verspürt hatte. In der Ecke neben dem Plastiktisch saß ein zierlicher Mann mittleren Alters mit dunkler Haut und chinesischen Augen. Der Schein der Korblampe ließ sein schwarzes 9
Haar aufglänzen. Er hieß Long und hielt ein dreijähriges Mädchen auf dem Schoß. Das Kind starrte Pádraig ó Súilleabháin mit weit aufgerissenen blauen Augen an. Pádraig selbst war die sechste Person, die bei dieser, seiner eigenen, gewalttätigen Handlung erstarrt war. Er war ein junger Mann, der noch jünger aussah, und ein Hauch von Purpur breitete sich nun von den Ohren über sein Gesicht und die beiden Halsseiten aus. Seine Faust, rissig und sehr sauber, löste sich langsam von der Tischplatte, um sich wieder zu ballen. Es war das kleine Mädchen, das das Schweigen brach. »Warum hat Poe-rik auf den Tisch geschlagen? Wollte er…« Die auffallend langen Finger des dunkelhäutigen Mannes wölbten sich über ihren Mund. Er beugte sich vor, flüsterte ihr etwas ins Ohr und schaukelte sie dann gezwungen zweimal hin und her. Die siebte Person in dem Raum – die einzige, die von Pádraigs Ausbruch nicht schockiert gewesen war – zog das Etikett von dessen auf links getragenem Pullover zu sich hoch und studierte mit gespieltem Interesse die Aufschrift. Dann hob er den Blick, weil Pádraig den Kopf verrenkte, um ihn finster anzustarren. »Es besteht keinerlei Notwendigkeit, die Beherrschung zu verlieren, mein Junge«, sagte George St. Ives. »Ich war nur neugierig, warum ein traditionsbeflissener Musiker – was immer man heutzutage unter Tradition versteht und was als … Nun, kurz, haben wir nicht schon genug Plastik in der Welt, als daß man das Zeugs noch vor allen Menschen tragen müßte?« 10
Pádraig öffnete den Mund, doch er zögerte kurz, ehe er eine Antwort gab – eine Pause der Unsicherheit. »Ich dachte … ich dachte, ich käme bei den Leuten besser an, wenn ich mich nett anziehe. Sonst sehe ich immer aus, als hätte ich gerade irgendwo ein Loch gegraben.« George St. Ives hatte graue, von Fältchen umgebene Augen, und seine Stirn furchte sich, als er den straff gespannten Stoff vor seine Augen zog. »›Hundert Prozent Acryl. Maschinenwaschbar bei 30°.‹ Rotes Plastik mit fünfzackigen Sternen, aus einer Art Metallfaden gewirkt. Das wäre nicht passend zum Löchergraben, oder? Aber auch nicht für irgend eine andere männliche Tätigkeit.« Seine Stimme klang knirschend, aber ansonsten ausdruckslos. Sein großflächiges Gesicht wirkte ein wenig gelblich. »Ich kann ihn waschen.« Pádraig zerrte dem älteren Mann den Pullover aus der Hand und wollte aufstehen. »Wenn es báinin wäre, wie könnte ich das, ewig in diesen Hotels?« Sein Stuhl kippte um. Sein Pullover war von dem Gezerre am Nacken ausgebeult. Der Junge sah albern aus und wußte es. Teilnahmslos beobachtete St. Ives Pádraigs Verwirrung und lächelte. »Hat dir den ein Mädchen gekauft, Sully?« Pádraig, der sich eine Bettlänge entfernt hatte, drehte sich wieder um. Der Pullover war nun über den Schultern verrutscht, und er zog ihn zurecht: »Meine Mutter hat ihn mir gekauft. Sie meinte, er würde in meinem Beutel nicht knittern.« Dann rieb er sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Ach, ist das blöd! So über meinen Pullover zu quatschen. Du suchst doch nur eine Möglichkeit, mich herunterzumachen. Zum Teufel damit!« 11
»Genau!« sagte Ted Poznan, der auf einem der Betten saß. Er schüttelte das Nagellackfläschchen und begann, eine zweite Schicht aufzutragen. Die Nägel seiner Rechten waren lang, dick und gelblich vom jahrelangen Lackieren. »Die Verstand ist ihr eigener Herr.« Elen, die unter ihm saß, machte eine müde Geste mit gespreizten Fingern. »Warum sagst du ›die‹ Verstand, Ted. Ist der Verstand denn weiblich?« Teddy schenkte ihr einen seiner sehr häufigen ernsten Blicke. »Warum sollte ich nicht ›die‹ anstelle von ›der‹ sagen? Früher habe ich immer ›dei‹ für beides gesagt, aber niemand hat mich verstanden. Ich bemühe mich immer, sexistische Ausdrücke zu vermeiden.« »Oh, wie dir das gelingt, Teddy, wie wunderbar dir das immer gelingt!« Während sie zu Ted Poznan sprach, wandte sie ihren Blick doch nicht von Pádraig, und ihre Finger glitten abwesend über die Wirbel der hohen Harfe. »Es gibt niemanden, der sich politisch korrekter ausdrückte. Nicht in ganz Kalifornien.« Long erhob sich und ließ Marty Frisch-Macnamara von seinem Schoß gleiten wie eine Katze. Dann zog er ein Taschentuch aus der Hosentasche und schneuzte sich die Nase, die wund aussah. Auch seine bernsteinbraunen Augen waren gerötet, und er atmete mit geöffnetem Mund. Er litt an einer fürchterlichen Erkältung. »Acht Wochen«, bemerkte Martha Macnamara mit großer Überzeugung. »Es sind heute acht Wochen her, seit einer von uns sein Zuhause gesehen hat. Denkt bitte jeder daran und seid nachsichtig.« 12
Es schien nun, als vergehe der unangenehme Augenblick und löse sich in allgemeiner Erschöpfung auf, doch George St. Ives blieb unversöhnlich. Er blickte Martha, die die Gruppe leitete, finster an und dann in eine andere Richtung. Seine knochigen, nervösen Finger klopften einen Takt auf der Hüfte. »Ich glaube, es ist nichts dagegen zu sagen, wenn jemand Einwände gegen die Dinge erhebt, die unsere … Richtung hier stören. Immerhin haben wir eine Menge Opfer gebracht. Es ist bitter, von den Kritikern ignoriert zu werden. Daß die Säle voll sind und wir trotzdem nichts davon haben …« »Das ist keine Originalmelodie, George«, warf Elen ein. »In den vergangenen acht Wochen haben wir alle Variationen dieses Themas durchgespielt.« Martha mischte sich ein: »George denkt also, ich hätte einen Fehler begangen, weil ich es nicht bei den wirklich großen Konzertsälen versucht habe. Vielleicht hat er recht. Aber das war eine Entscheidung, die ich vor vielen Monaten treffen mußte. Und vielleicht darf ich hinzufügen, daß es besser ist, einen kleinen Saal ausverkauft zu haben, als wie kleine Kröten in einem großen leeren Tümpel zu sitzen. Diese Tournee wird genau das erbringen, was ich vorausgesagt habe.« »Auch wenn wir das fehlende Bargeld von gestern abend nicht wiederfinden?« fragte Teddy. Long räusperte seine verschleimte Kehle. »Dafür bin ich verantwortlich.«
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Martha drohte ihm mit dem Zeigefinger: »Du wirst es nicht aus deiner eigenen Tasche ersetzen! Das ist einfach Glück und Pech der Straße.« »Und ich bin der Tournee-Manager.« »Und ich bin der große Mufti persönlich, und ich sage dir …« St. Ives schaltete sich mit erhobener Stimme ein: »Genug! Ich habe nicht über Geld geredet. Wenn ich an Geld dächte, würde ich mich mit einer ganz anderen Arbeit befassen. Ich will, daß meine Musik gehört wird. In diesem Jahr. Heute abend. Das Leben ist unsicher, und alle alten Künste liegen in den letzten Zügen. Und wir sitzen hier, ein paar wenige, die wissen, was verloren gegangen ist. Ich hatte gehofft… vielleicht hätten wir …« Jetzt wandten fast alle den Blick von St. Ives ab. Einige seufzten. Marty tapste umher. Aber falls George diesen Mangel an Aufmerksamkeit gespürt hatte, so ließ er ihn nur um so entschiedener weiterreden. »Die Musik, die wir machen, ist nach traditionellen keltischen Standards nicht einmal korrekt. Wie könnte sie es auch sein, wo Pozzy eine spanische Gitarre spielt und Sully eine deutsche Querflöte aus dem neunzehnten Jahrhundert. Vom Akkordeon ganz zu schweigen: Ein fabrikgefertigtes Monstrum viktorianischer Herkunft, das man weder stimmen noch reparieren kann …« St. Ives hielt inne und dachte bekümmert über die Schwächen eines Akkordeons nach. »Aber hört mal! Wir brauchen das moderne Publikum nicht mit bizarren Kostümen einzufangen.« 14
Martha kratzte sich mit beiden Händen den Kopf, bis ihr graues Haar auf und ab wippte. Sie wirkte sehr betroffen. »George, wenn wir deiner Einschätzung folgten, was traditionell ist, ständest du allein mit deiner Flöte oben auf der Bühne.« Darüber schien er nachzudenken. »Nein, ich bin zu dem Zugeständnis bereit, daß die Harfe ein traditionelles keltisches Instrument ist.« »Danke, George, aber ich fürchte, ich habe nicht die Kraft, deine Wertschätzung auszuhalten«, erwiderte Elen gelangweilt. Sie lehnte das fragliche Instrument schützend gegen ihre Schulter und fuhr fort, es zu stimmen. »Beruhigen Sie sich, Miß Evans. Ich meinte die Harfe und nicht die Harfenistin. Ihr Spiel verrät nicht mehr Traditionen als, sagen wir, Ravels.« Er rieb sich mit seiner knochigen Hand die Augen und zuckte wegen irgendeines inneren Schmerzes zusammen. Elen Evans sah sich mit einem unnatürlich unschuldigen Blick um. »Na! Ich glaube, ich wurde gerade beleidigt!« Ihr Blick traf auf den Pádraigs. Vielleicht war ihr Blick bloß träge, und Pádraig las lediglich seinen eigenen Schmerz darin. Aber ó Súilleabháin, der unglücklich und stumm in seinem verzogenen Pullover dagestanden hatte, verfärbte sich nun von rot zu blaß und sprang mit geballten Fäusten auf den Flötisten zu. Er berührte ihn jedoch nicht, weil sich der geplagte Mr. Long dazwischenschob. Dieser Herr war auf der Suche nach frischen Papiertaschentüchern irgendwie zwischen die beiden getreten. Pádraigs Arm wurde sanft 15
von einer dunklen Hand umfaßt, die der Junge nicht abschütteln konnte. »Bi curamach, a Phadraig«, sagte Long sehr leise und wandte sich ab. Die Taschentücher lagen auf dem Tisch neben St. Ives. Long streifte den stämmigen Flötisten zufällig, als er um ihn herumgriff, und St. Ives taumelte. St. Ives hieb, nun zum ersten Mal mit den Anzeichen von Wut, zurück, doch mit dem einzigen Erfolg, daß er rückwärts auf der Matratze landete, die unter seinem Gewicht federte. »Mach einen Spaziergang, um dich abzuregen, George«, sagte Martha leise, doch alle im Zimmer wandten sich überrascht zu ihr um, selbst George. Er schürzte die Lippen, die in seinem lockigen, bisonähnlichen Bart verborgen waren. Unter den vielen Schichten seiner Pullover plusterte er sich auf. Er erhob sich, schien aber den leisen Vorschlag zurückzuweisen, der in Wirklichkeit ein Befehl gewesen war. Long stand neben ihm, und ihre Schultern berührten sich fast. Wieder schneuzte er sich diskret. »Schöner Nachmittag für einen Gang durch Santa Cruz, St. Ives«, sagte er mit vornehmer Begeisterung. »Blauer Himmel, eine Brise vom Meer. Das ist eine gute Art, schwindende Inspiration wieder aufzufrischen. Oder vielleicht, um über den Niedergang der alten Künste nachzudenken. Falls man nicht ein Mittagsschläfchen vorzieht.« »Ich persönlich …« Er warf das Taschentuch in den Papierkorb neben dem Bett. »… werde ein Schläfchen 16
halten.« Und blickte bedeutsam zwischen dem Bett und St. Ives hin und her. Der Flötist verließ, zur Überraschung fast aller Anwesenden, den Raum ohne ein weiteres Wort. Sie hörten seine Schritte über den Gang hallen und durch die Hintertür des Hotels verklingen, denn St. Ives wohnte nicht mit den anderen zusammen. Elen betrachtete Long mit übertriebenem Respekt. »Der Muskelprotz unserer großen Lady?« Er zwinkerte sie mit geröteten Augen an. »Nun, immerhin ist das mein Zimmer, Elen. Er konnte ja hier wohl kaum ein Sit-in anfangen.« Ihr Blick wurde noch ungläubiger. »Nein, das hätte er nicht gewagt. So unhöflich würde George nie sein. Ich glaube, er denkt, Sie haben einen Revolver bei sich.« Bei dem Hinweis, daß dieses schönste Zimmer des Mittelklassehotels von Long bewohnt wurde, erhoben sich alle Musiker. Aber Mr. Long war von der Gasse zwischen den Betten zurück zum Frühstückstisch gegangen, wo er sich gnädig lächelnd setzte und keine weiteren Anzeichen von Schläfrigkeit verriet. »Ich nicht, Daddo«, sagte Marty und rückte von ihm ab. »Ich will gar nicht schlafen. Will lieber Spazierengehen.« Niemand gab ihr eine Antwort. Als klar wurde, daß die unangenehme Szene vorbei war, spürte man Erleichterung im Raum. »Ravel«, meinte Elen Evans nachdenklich, während sie auf der linken Saitenreihe Oktaven anschlug. »Mir gefällt Debussy aber besser.« Sie zupfte einen lauten,
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rollenden, unharmonischen Akkord über die gesamte Harfe, von oben bis unten. Teddy antwortete eher den unglücklichen Saiten, als auf Elens leidenschaftlose Worte. »Laß dich davon nicht aus der Ruhe bringen, Elen. Ich glaube, George fühlt sich nicht sehr wohl. Irgendwie ist er innerlich aus dem Gleichgewicht. Wird von innen her verfolgt, weißt du. Er muß sich irgendwie neu einstellen.« Ihr Gesicht erinnerte nun an das Stan Laurels, so leer starrte sie ihn an. »Du meinst geistig, Teddy? Oder ist es chiropraktischer Natur?« »Eins von beiden oder beides. Oder es ist ein Ernährungsproblem. Ich denke an seine Aminosäuren …« »Ich glaube eher an eine Regression über die Geburt hinaus.« »Du hast ein wunderbares Talent, jemanden zu akzeptieren, Ted«, sagte Martha lobend. »Ich gebe zu, er geht mir ungeheuer auf die Nerven, wenn er damit anfängt. Dabei greift er nicht einmal mein Ego an wie bei dir.« »George kann Teddy eigentlich nichts anhaben.« Elen lächelte wie eine Madonna, zupfte eine Oktave und zuckte bei dem Ton zusammen. Dann stieß sie sehr leise einen groben Fluch aus und drehte wieder den großen Stimmschlüssel. »Nicht so wie Pat.« Ted blies auf seine häßlichen Nägel. »Er ist nicht gerade scharf auf meine Gitarre. Jedesmal, wenn ich eine Akkordfolge spiele, merke ich, wie er zusammenzuckt. Aber das ist sein Problem und nicht meines.«
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»Es geht ihm aber wirklich an die Nieren, weißt du. Alles, was er tut, muß perfekt sein. Und von der Sorte gibt es nur wenige.« Pádraig ó Súilleabháin blickte Ted besorgt an. »Glaubst du … war es falsch von mir, wütend zu werden? Vielleicht begreife ich nicht genug …« »Wütend werden hilft nie, das steht fest, Pádraig «, antwortete Ted, legte dem Iren eine Hand auf die Schulter und schüttelte ihn mit warmer Brüderlichkeit. »Aber ich verstehe deine Reaktion sehr gut. Es fällt einem wirklich schwer, die Beherrschung zu behalten, wenn das Gegenüber sie verliert. Es ist aber wichtig, daß die Kanäle zwischen dir und diesem Jungen offen bleiben.« Pádraig riß die Augen auf. »Was …« Martha, die vor dem Spiegel ihr Haar gekämmt hatte, hielt lange genug damit inne, um über seinen Gesichtsausdruck zu lachen. »Das ist kalifornisch, Pádraig.« »Milde Worte«, fügte Long helfend hinzu. »Ich glaube, er meint, du solltest dich weiterhin um eine Unterhaltung mit St. Ives bemühen – oder besser, ihm die Worte aus dem Mund ziehen.« »Und dabei würde ich gern behilflich sein«, meinte Elen mit einem boshaften unterdrückten Lachen. Ted nickte nach rechts und links. »Okay, okay, ihr habt meine volle Zustimmung, euch über mich lustig machen zu dürfen. Jederzeit. Sonst fange ich noch an, mich selbst ernst zu nehmen.« Er schlug sich mit dem Handballen in den Nacken und gähnte zufrieden. »Das ist alles ein Kreislauf, meine 19
Freunde und Nachbarn. Alles kommt immer wieder an der gleichen Stelle an.« Er stand auf und betrachtete seine häßlichen Gitarrenspielernägel, streckte seinen schlanken Körper nach links und rechts und verließ den Raum. »Oh, du Wellenlänge des Entzückens! Süße Heimat Kalifornien!« rief er ihnen noch aus der Tür entgegen und war verschwunden. »Das macht er absichtlich«, murmelte Martha. »Er redet perfektes Englisch, wenn er will. Ich glaube, es ist wichtig für ihn, eine starke ethnische Identität zu haben.« Elen Evans lachte auf. »Ich habe ihn gefragt, warum er, zum Teufel, traditionelle keltische Musik spielen will, wo er im Herzen doch ganz und gar auf New Age steht, und wißt ihr, was er antwortete? Tänze und Flöterei halten ihn auf dem Boden. Mich reißen sie immer glatt vom Hocker!« Martha seufzte. »Aber Teddy spielt seine Parts sehr gut. Er hat ein Gehör für den traditionellen Klang und macht keinen Firlefanz. Läßt sich offensichtlich nicht so hinreißen wie … andere.« Sie brummte und trommelte mit den Fingern auf den Knien. »Was ihn auf dem Boden hält, macht mich, glaube ich, fertig.« Long antwortete ziemlich heiser: »Das ist nicht die Musik, Martha, sondern es sind die Musiker. Neben der Verantwortung in deiner Position solltest du dir auch Privilegien gönnen. Verbiete doch George einfach, dich damit zu belästigen.« »Verbieten!« Martha stieß ein einsilbiges Lachen aus, das halb erstickt klang. »Mein Lieber, George vom 20
›Belästigen‹ abzuhalten, würde bedeuten, ihn an der Existenz zu hindern!« »Das stimmt«, meinte Elen. »Das grundsätzliche Wesen von St. Ives…« »Es liegt in seinem Interesse, euch alle davon zu überzeugen, aber er ist ebenso wie jeder andere in der Lage, damit zurechtzukommen …« »Setz doch sein Gehalt herab«, schlug Pádraig mit einem Anflug von Boshaftigkeit vor. Martha lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und legte den Rock ordentlich um ihre Beine. »Ich verbiete euch allen, mich weiterhin damit zu belästigen«, sagte sie. »Ahh«, sagte Elen, und alle verfielen in Stillschweigen. Die Wände des Hotelzimmers waren weiß, das vom Licht des Himmels, des Meeres und des Straßenpflasters noch heller wirkte. Bevölkert mit diesen zusammengesackten Gestalten und ihren müden Gesichtern hätte es das Wartezimmer eines Arztes sein können. Marty FrischMacnamara sprang zum Fenster und zog die Jalousie beiseite, um auf den Strand und den Pier von Santa Cruz zu schauen. Die anderen, denen man die Debatte abgeschnitten hatte, verfügten nicht über ihre Energie. Sie blickten einander an. »Es tut mir leid«, sagte Pádraig zu Elen gewandt. »Weil ich fast jemanden in deiner Gegenwart geschlagen habe. Ich bin sonst nicht so gewalttätig.« Ihr kleines, dunkles Gesicht wurde vor Erstaunen rund. »Gewalttätig? Du, Pat? Daß das Unglück dich behüte!«
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Pádraig ruckte unruhig hin und her, weil er nicht sicher war, was sie gesagt hatte. Seine Jeans stand in der Taille etwas ab, weil Pádraig ó Súilleabháin auf dieser Tournee abgenommen hatte. Martha, die sich gegen das Kopfende des anderen Bettes lehnte, schlug beide Hände auf die Knie. »Acht Wochen«, wiederholte sie. »Diese Tournee dauert jetzt acht Wochen und hat uns durch neunzehn amerikanische Staaten sowie in die Hauptstadt geführt. Ich glaube, seit langem ist niemand mehr dafür verantwortlich, was er oder sie gesagt oder getan hat. Von mir einmal abgesehen, weil ich euch alle dazu gebracht habe.« Mayland Long wandte sich zu ihr. Seine schlanke Gestalt hatte die Eigenart, daß sie nicht nur Kopf und Hals zu drehen schien, sondern den gesamten Oberkörper. Sonnenstrahlen brachen sich auf seinem Rohseidenanzug und ließen seine hellen Augen fast gelb erscheinen, doch die Dunkelheit von Gesicht und Händen konnte kein Licht aufhellen. »Bereust du es, Martha?« Die Frage klang staunend, und Long verschränkte seine Hände (seine Finger reichten über das jeweils andere Handgelenk hinaus), während er auf ihre Antwort wartete. Martha runzelte mit in die Ferne gerichtetem Blick die Stirn. Einen Augenblick später schnaubte sie höchst undamenhaft. »Bedauern? Nein. Kein bißchen. Ich wußte, daß es solche Augenblicke geben … daß die Fetzen fliegen würden bei einer Gruppe von Musikern, die so fähig und verschieden sind wie wir. Die Leute arbeiten nicht anständig, wenn ihnen nicht bestimmte Dinge am Herzen 22
liegen – manchmal die albernsten Sachen –und kein anderer Musiker hat so untraditionelle Gedanken wie der traditionelle. Was zählt, ist doch nur die Musik, die wir machen.« Sie erhob sich vom Bett. Ihr Wickelrock mit den winzigen, aufgedruckten Segelbooten war nicht mehr glatt. An einer Kopfseite lag das Haar, gerade neu gekämmt und gewellt, flach an, wo es das Bett berührt hatte. Aber ihre blauen Augen fingen das Licht vom Fenster auf wie zwei Himmelskreise, und jeder im Zimmer hörte zu, sogar Marty, ihre Enkelin. »Und ich habe erreicht, was ich wollte. Wir haben unser kleines Wunder bewirkt. In Chicago hat man Feuer gefangen, und gestern abend in San Francisco …« Sie kratzte sich den Kopf, und ein leises Lächeln ließ ihren Mund weicher erscheinen. »… da haben wir fast… unsere eigenen Grenzen überschritten.« Elen Evans beantwortete ihr Lächeln. Sie merkte, wie ihre Schultern herabsanken, und wußte, wie angespannt sie bis jetzt gewesen war. Sie sah Long an und fragte sich, ob dieser die ungeheure Bedeutung dessen erkannte, was Martha gerade gesagt hatte. Bedeutsam für Menschen wie sie selbst und Elen, sogar für St. Ives, die einfach ihre Musik spielen mußten, ob die Leute sie nun hören wollten oder nicht… Long aber war anders. Er war kein Musiker. Und gewiß hatte er keine keltischen Wurzeln, um sein Interesse an deren Geschichte anzufachen. Bei Long wußte man nie, woran man war, denn sein Gesicht verriet nichts. Das war ein Vorteil bei einem Manager, vermutete sie. Vielleicht 23
war so etwas leichter für einen Chinesen oder Indonesier oder … Was war er eigentlich? Was war er, abgesehen von verrückt nach Martha? Elen Evans lehnte ihr Gesicht gegen die Säule ihrer Dreifachharfe, um ein schadenfrohes Lächeln zu verbergen. »Manche von uns finden ihre Grenzen leicht!« Das war wieder Pádraig, und seine Worte klangen bitter. Ehe Elen hinter ihrer Harfe ihm antworten konnte, war er aufgestanden und hatte den Raum verlassen. Sie folgte ihm und griff im Vorbeigehen nach einem großen Netz, in das sie den Stimmschlüssel fallen ließ. Das Netz schwang aus und schlug hart gegen die Kommode. Es klang nach zersplitterndem Holz. Ruhig und gelassen verfluchte sie das Ding, während sie die Tür hinter sich schloß. »Ach, du liebe Güte«, stöhnte Martha, die sich schlaff in einen Korbstuhl fallen ließ. Long sah sie an. »Das war noch nicht das Ende«, sagte sie. »Ich meine St. Ives.« »Mir hat das keinen Spaß gemacht«, verkündete Marty und sprang wieder auf Mayland Longs Schoß. »Das wollte ich dir auf jeden Fall sagen, Daddo.« Martha stieß ein recht brüchiges Lachen aus und warf die Packung mit den Papiertaschentüchern quer durch das Zimmer. Der Ozean wirkte geteilt: Bis hundert Meter jenseits des Piers von Santa Cruz trug er eine warme Jadetönung, während er hinter der scharfgezogenen Linie dort kalt und kompromißlos blau schien. Die Flut rollte in langen, sanften Wellen herein, auf denen sich kein Weiß zeigte. 24
Mayland Long und Martha Macnamara saßen nebeneinander auf einer Bank am Ende des Piers. Eine leichte Brise, die einmal nach Blumen und einmal nach Fisch roch, umgab sie. Marty beugte sich über eine eingezäunte Öffnung im Boden des Piers, aus der man das Bellen von Seehunden hörte. Sie trug gelbe Hosen, ein weißes T-Shirt und eine Sonnenbrille aus Plastik, die von weißgelben Gänseblümchen gerahmt war. Long hatte seinen Zeigefinger in ihren Gürtel gehakt, damit sie nicht hinabfiel. Die dunkle Hand glänzte von Schuppen, weil er dem kleinen Mädchen beim Füttern der Seehunde geholfen hatte. Niemand, auch nicht die Kleine, hatte in den letzten fünf Minuten etwas gesprochen. Marthas Aufmerksamkeit trieb mit der Flut vom leeren Horizont im Westen zum bunten Riesenrad auf dem Kai bis zum spitzen Leuchtturm. Sie dachte an Mendocino, wo sie in den letzten vier Jahren gelebt hatte, und fragte sich, wie man an einem Ort, der dem Zuhause so ähnlich war, so starkes Heimweh bekommen konnte. Und warum begab sie sich wieder auf Tournee, wo sie doch das Geld nicht brauchte und zudem alt genug war, um zu wissen, wo sie sein wollte? Erwartungsvoll wandte sie sich an Long, als habe sie diese Frage laut gestellt. Aber er war ihren Gedanken nicht gefolgt. Er hatte seinen dunklen Kopf nach vorne fallen gelassen, die Augen geschlossen. Seine Nase war offensichtlich stark verschnupft, und die Haut spannte über den Gesichtsknochen: Darunter lag sehr wenig Fleisch. Martha biß auf ihre Unterlippe, denn plötzlich bemerkte sie das Grau an seinen Schläfen. Hatte sie gewußt, daß 25
auch er grau werden würde? Liebe Güte, sie waren jeden Tag zusammen, und sie hatte es nicht bemerkt. Nein, gewiß hatte sie es gemerkt, auf irgendeine Weise. Heute war sie nur einfach zu müde. Die Dinge standen nicht im richtigen Licht. Und wenn Mayland nun wirklich älter aussah? Nun, auf sie traf das auch zu. Sie hatte ihn nicht gezwungen, ihr von einer Stadt in die andere und von einem Land ins nächste zu folgen. Das war seine Idee gewesen. Und sie hatte ihn nicht zu dem gemacht… was er war. Was für ein häufig trauriges Wesen er nur war. Seine Augen öffneten sich und blickten sie direkt an. Der Virus betonte die Mongolenfalten in den äußeren Winkeln, und er wirkte noch chinesischer. »Ich habe keine Ahnung, warum die Menschen manchmal das tun, was sie tun. Keinerlei Ahnung.« Sie war verdutzt. Hatte sie doch laut geredet? »Meinst du dich selbst – warum du hier bist – oder warum ich Mendocino überhaupt verlassen wollte?« Die Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, und er lachte. »Keines von beiden. Ich spreche über die Auseinandersetzung im Hotel. Man müßte doch meinen, ich würde die menschliche Natur inzwischen begreifen, wenn man bedenkt, wie lange ich sie schon studiere.« Martha runzelte in Gedanken die Stirn. So wirkte sie recht trotzig, trotz ihrer blauen Augen und der rosigen Haut. »Du verstehst nicht, warum Pádraig so wütend wurde?«
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»Jedes Wesen reagiert auf einen Angriff, indem es sich verteidigt, wenn es nicht fliehen kann. Nein, ich staune mehr darüber, warum St. Ives überhaupt angreift, und warum er sich so oft Pádraig als Opfer aussucht. Der Junge stellt doch keine Bedrohung dar.« Als Martha aufstand, fing sich der Wind in ihrem Rock. Sie legte eine Hand aufs Knie, um ihn festzuhalten, während sie neben Marty trat. Unten im Schatten ruhten die glatten Körper der Seehunde mit ihren kleinen Hundegesichtern auf den Verstrebungen des Piers oder trieben mit nach oben gerichtetem Blick auf dem schwarzen, wirbelnden Wasser. »Keine Fischchen mehr«, rief sie ihnen zu, und als Marty einen robbenartigen Laut des Protests von sich gab, fügte sie hinzu: »Kein Geld mehr, um Fischchen zu kaufen.« »Pádraig ist doch keine Konkurrenz für George. Er ist einfach seine natürliche Beute. Du kannst deutlich sehen, wie George mit den Gefühlen des armen Jungen spielt, auf der ganzen Skala, von Wut über Entmutigung bis zum Selbsthaß. Pádraig ist erst zwanzig, während George fast so alt ist wie ich.« »Ganz unverkennbar ein Museumsstück.« »Nun – seine Kunst ist alt. Aber Pádraig ist auf allen Gebieten auf einmal mit Neuem konfrontiert: der Geographie, den Menschen, dieser verrückten Lebensweise.« Martha zuckte die Achseln. »Und ich habe seiner Mutter versprochen, gut auf ihn aufzupassen.« Long schneuzte sich. »Sei nicht albern, Martha. Du kannst doch keine Herzlungenmaschine für den Jungen 27
darstellen. Immerhin ist er gesund. Das ist ein großes Glück und ein guter Grund, um neidisch zu sein.« Er trat jetzt neben sie und blickte auf die Seehunde hinab. Einer von ihnen hob den Kopf und bellte, und dann waren sie alle im aufgewirbelten, glitzernden Wasser verschwunden. Marty stieß einen Schrei der Enttäuschung aus. Martha stieß Long kameradschaftlich in die Seite. »Pádraigs Vater hat ein Fischerboot vor Dunquin, mein Lieber, und Pádraig selbst ist einer der besten Segler auf Iv Ráth. Dinghirennen. Er hat mich auch einmal in einem naomhog mit vollen Segeln mit hinausgenommen – ich dachte, ich würde sterben. Aber es klappt nicht, wenn er mit seinem Vater arbeitet.« »Verstehen sie sich nicht?« Long legte eine Hand um Marthas Schulter und die andere auf Martys Flachskopf. Das kleine Mädchen schüttelte sie ab. »Seosebh kann die Dinge nicht gut erklären. Und er gerät leicht in Wut. Er nennt den Jungen einen asal und – schwups! –wird er auch wirklich zum Esel. Mit langen Ohren und allem, was dazugehört. Macht dumme Fehler mit dem Netz, wendet, wenn er raffen soll oder was auch immer. Es hat keinen Sinn. Hier verläuft es nach dem gleichen Muster. Ich habe ihn zu Hause oder in der Óstán Dun an Óir gesehen, wie er seine Materie völlig beherrscht und sein Akkordeon wie eine sechshändige Shiva spielt. Die Touristen hatten ja keine Ahnung, was sie zu ihrem Guinness serviert bekamen! Aber …« »Und hier tut er das nicht?« 28
Martha lehnte sich gegen den weißen Lattenzaun. »Mmh? Nun, er ist in Ordnung. Aber er hat Angst und ist unglücklich und spielt wie ein Junge, der ängstlich und unglücklich ist. Er hört sich zu und weiß, daß es nicht gut ist. Der Kreis hat sich geschlossen. Was sagte Teddy noch?« »Alles ist ein Kreislauf…« »… ›und alles kommt wieder an der gleichen Stelle an.‹« Sie legte ihm die Finger auf den Mund. »Wie konnte ich das nur vergessen.« Mayland Long seufzte. Wieder schneuzte er die Nase und vergaß das Problem mit Pádraig ó Súilleabháin . Er lehnte sich anmutig über das Geländer und hielt nach Seehunden Ausschau. Am Strand sah man Taucher in ihren Anzügen, die wie Enten watschelten und Marty FrischMacnamara entzückten. Als sie unter dem Pier hergingen, bewarf sie sie mit Popcorn. In der nächsten Stunde bestand die einzige Sorge der kleinen Gruppe in dem Wind, der unter Martha Macnamaras Rock fuhr. * »Judy mag den alten George nicht«, verkündete Marty, auf dem Rückweg zum Hotel. Ihre Großmutter seufzte. »Warum sollte Judy anders sein als die große Mehrheit der Menschheit?«
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Long blickte auf das kleine Mädchen herab, das er trug. »Wer ist… Martha Rachel Frisch-Macnamara, wo ist deine Sonnenbrille?« Die Kleine schlug sich mit beiden Händen auf die Augen und schnitt eine übertriebene Grimasse des Staunens. »Ich habe keine Ahnung, Daddo, nicht die kleinste Ahnung.« Martha nahm sie und setzte sie auf den Boden. »Manchmal klingt sie so sehr wie Elizabeth, daß es mir kalt den Rücken herabläuft!« Sie bemerkte, wie Long aufmerksam den Weg entlang blickte, den sie gekommen waren, und sagte: »Gib dir keine Mühe. Wir sind den Pier entlang gegangen, über den Strand und über eine verkehrsreiche Straße. Vermutlich liegt sie unten …« Aber er hatte sich bereits umgewandt und überquerte die Straße, bewegte sich geschmeidig und mit komischer Würde zwischen den Autos hin und her. Martha beobachtete ihn, wie er sich durch die Menschen am Strand schob und dabei jegliche Berührung vermied, jedoch den Blick aufs andere Ende des Piers geheftet hatte. Konnte er den Boden in so weiter Ferne überblicken? Konnte man das überhaupt? Martha schüttelte den Kopf. Man wußte nie, was er alles konnte. Hier war er, so gut, gebildet und reich, der treue Babysitter einer Dreijährigen. Er, der gerade anfing, Keyboardstunden zu nehmen, ein Millionär als Manager einer Gruppe, die in einem klapprigen Lieferwagen herumzog. Das klang alles so großartig, daß sie laut auflachte.
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Marty blickte sie vorwurfsvoll an. Wie die meisten Leute konnte sie keine insgeheimen Scherze leiden. »Judy hat viel Angst. Sie ist nicht so wie ich.« Marty war seit vier Tagen bei der Gruppe, lange genug für Martha, um etwas über das offene Wesen ihrer Enkelin zu erfahren. »Ist Judy ein Zimmermädchen oder eine Kellnerin?« Marty schnaubte und hörte sich an wie ihre Großmutter. »Ní héa.« Martha übersetzte in Gedanken diese Verneinung. »Oh, Pádraig hat dir also Irisch beigebracht. Das ist aber schön.« Marty zog wieder eine Grimasse, diesmal über das Ausmaß der Dummheit von Erwachsenen. »Nicht Pádraig, Martha. Daddo war es. Aber es war chinesisch.« Martha glaubte dies nicht, wollte sich aber über den Punkt nicht weiter streiten. »Hat er dir auch gesagt, du sollst ihn Daddo nennen? Hat er dir verraten, was es bedeutet?« Das kleine Mädchen nickte angestrengt. »Es bedeutet ›Großvater‹.« Da preßte Martha die Lippen aufeinander und starrte hinter Long her, den sie nun nicht mehr sehen konnte. »Oh, ihr betet die Quelle aller irdischen Energien an?« Martha zuckte zusammen. Ted stand hinter ihnen. Der Wind fegte durch seine Haarsträhnen. Er lächelte, und die Haut um seine Augenwinkel legte sich in Fältchen, obwohl sein Gesicht so jung war. Er trug nichts außer Shorts und Plastiksandalen. Eigentlich wirkte er wie ein junger 31
Sonnengott. Seine nackte Haut hatte die Farbe von frischem Kirschbaumholz. Kalifornier, meinte sie bei sich. »Nein, eigentlich wehren Marty und ich Seine Majestät mit Paraaminobenzoesäure ab. Wir bekommen so leicht Sonnenbrand.« »Bei mir pellt sich die Nase«, meinte Marty bekräftigend. Ted nickte und setzte sich aufs Pflaster neben Marty, wodurch er Vorübergehende zwang, auf die Straße zu treten. Martha wollte gerade etwas darüber sagen, als sie bemerkte, daß niemand der beeinträchtigten Passanten auch nur im geringsten etwas dagegen zu haben schien. Kalifornien »Das ist aber dumm. Weißt du, das bessert sich aber mit der Zeit. Reib dich nur jedesmal, wenn du ausgehst, mit dem Zeugs ein, dann kommt die Sonne langsam an dich heran, und du wirst braun, ohne zu verbrennen.« »Braun werden heißt casadh«, sagte das Mädchen. »In Irisch.« Martha unterdrückte den Wunsch, Marty zu widersprechen und zu sagen, daß das Wort chinesisch sei. Teds dunkle, unschuldige Augen blickten jetzt noch unschuldiger. »Ja? So heißt Braunwerden?« »Nein, wenn einfach etwas wechselt. Und wenn man eine Melodie verändert, fr'insanse.« Martha fiel auf, daß Teddy sich Mühe gab, mit Marty zu diskutieren. Sie verlangte viel Aufmerksamkeit von Erwachsenen. Wenn er auch nur ein kleines bißchen 32
herablassend reagiert hätte … Wenn er sich von ihr hätte Dinge verraten lassen, die er bereits wußte. Aber das würde er nie tun. Ted Poznan war einer von Martys Lieblingen. Martha fühlte sich ermutigt, ihr bißchen Bildung zu Martys kleinem Weisheitsschatz hinzuzufügen. »Das ist unsere Erkennungsmelodie, Marty. ›Casadh an t'Sugain‹, das Knüpfen des Seils. Wir spielen es jeden Abend zweimal, einmal langsam und einmal schnell.« »Ich weiß.« Martha fragte sich, ob Martys Antwort so überheblich klang, weil sie sich nicht zu ihr aufs Pflaster gesetzt hatte wie Teddy. »Ich habe mit George geredet.« Ted blickte zu Martha hoch. »Ich glaube, wir können unseren Freund wieder hinbiegen.« Martha hätte George St. Ives niemals ihren Freund genannt, so sehr sie seine Musik auch schätzte. Doch sie hätte sich auch nicht getraut, über sein ›Hinbiegen‹ zu sprechen. Sie schwieg. »Ich glaube, er ist innerlich blockiert, und vor Schmerz schlägt er dann um sich. Das würde jeder so machen. Wenn er sich erst einmal öffnet, können die großen, guten Dinge in ihn eindringen, wie die Sonne.« Ted sprach mit echter Begeisterung. Martha drängte sich unvermittelt die Frage auf, ob er sehr intelligent sei. Er war ein vollendeter Gitarrist, aber sie wußte nur zu gut, daß Musikalität mit Intelligenz nichts zu tun hatte. Sie versuchte, sich George St. Ives' stämmigen und gewöhnlich ungewaschenen Körper nackt im Sonnenschein vorzu33
stellen. Ihr inneres Auge, zu diesem Bild gezwungen, versuchte, es wieder loszuwerden. »Hast du ihm das gesagt?« »Klar habe ich das. Weißt du was, wir haben richtig miteinander kommuniziert.« Martha zwinkerte. Sie bückte sich und wollte sich neben ihn auf den Gehsteig setzen, als ihr ihr widerspenstiger Rock wieder einfiel. »Und er hat dich nicht verflucht oder dir geraten, dich um deine eigenen Angelegenheiten zu kümmern?« Ted strahlte sie an. Ihm schienen ihre unterschiedlichen Positionen nichts auszumachen. »Nein, Roshi. George …« »Nenn mich nicht so.« Marthas Stimme klang ziemlich scharf. »In Ordnung, Martha. Nein. George versucht so etwas bei mir nicht. Sollte er es versuchen, merke ich es vermutlich nicht. Durchlauf, verstehst du? Durchlauf. Und ich glaube wirklich, daß ich ihm helfen kann.« Martha starrte aufs Meer hinaus, das von dieser Stelle wie blankes Aluminium aussah. »In den fünf Tagen, in denen wir noch gemeinsam auf Tournee sind?« »Klar. Die Aufklärung vollzieht sich immer spontan, verstehst du.« Martha unterdrückte eine wütende Entgegnung. Es gelang ihr, mit relativer Ruhe zu sagen: »Warum? Warum gibst du dich mit ihm ab? Du hast ihn doch erst letzten Monat kennengelernt.«
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Ted wandte sein Gesicht der Sonne zu und schloß die Augen. Auf seiner Stirn landete eine Fliege. Er ignorierte sie. »George St. Ives ist ein großer Musiker und eine alte Seele. Ein Schatzkästlein der wahren Tradition. Ich möchte tun, was ich kann.« Welche ›wahre‹ Tradition, wollte Martha wissen. Sie hatte gedacht, St. Ives hätte von Konzerten und verschiedenen Aufzeichnungen gelernt, genau wie sie und wie die meisten zeitgenössischen ›Traditionsmusiker‹. Sie konnte übrigens ohne nachzudenken sechs Stücke nennen, deren Quellen in ihrer eigenen ausgedehnten Plattenbibliothek lagen. Und sie hatte in Ottawa seine Tante kennengelernt und war in der Lage, den Mann von dem Bild, was er vermittelte, zu trennen. Doch sie beschloß, diese Frage für sich zu behalten. Immerhin war George wirklich ein guter Flötenspieler, und ihre eigenen Vorbehalte rührten vielleicht eher aus der Tatsache, daß George sich gern in ihre Solos hineinkämpfte. »Da kommt der Drache«, sagte Ted. Martha zuckte zusammen, wirbelte herum und erblickte Long, der wie ein Stierkämpfer durch den Verkehr auf sie zukam. »Warum nennst du ihn so?« fragte sie mit gepreßter Stimme. Ted schaukelte vor Vergnügen hin und her. »Das bedeutet doch sein Name – Long – im Chinesischen. Ist das nicht großartig? Findest du nicht, daß er zu ihm paßt? Wenn er sich ein neues Arrangement oder ein Instrument 35
ansieht, das er noch nicht kennt, dann glühen seine Augen vor Leidenschaft, es zu besitzen.« »Leidenschaft?« wiederholte Martha schwach. »Klar, echte Leidenschaft. Das Alter spielt dabei überhaupt keine Rolle, Martha.« Dann stieß Long zu ihnen, die verlorene Sonnenbrille in der Hand. Er begrüßte Ted, der der Gruppe noch einen Schwall schläfriger Zuneigung zukommen ließ und darauf verschwand. »Einer der Bügel ist ein wenig verbogen, aber das kann man reparieren.« Martha nahm die Sonnenbrille, ohne sie anzusehen. »Weißt du, was Ted mir gerade gesagt hat, Mayland? Das Alter spielt keine Rolle.« Long warf einen wütenden Blick auf den Rücken des jungen Mannes. »Unverschämter Bursche! Natürlich spielt es eine Rolle!« »Ach, komm, reg dich nicht auf«, beschwichtigte ihn Martha. »Wie kann er das wissen? Er ist erst in den zwanzigern. Kaum älter als Pádraig. Aber hat er nicht ein anziehendes Lächeln, mein Lieber?« Im gleichen Tonfall fügte sie hinzu: »Ich frage mich, ob er etwas im Schilde führt.«
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Knüpft das Hochzeitsseil »Ich habe ein Gefühl, als müßte ich zwanzig Jahre Übung nachholen, die ich einfach nicht habe.« Pádraig legte seine Flöte auf die Kommode. Die alte Rosenholzflöte hatte nur eine Klappe und ein abgenutztes silbernes Mundstück. Das Paolo-Santori-Knopfakkordeon, das daneben lag, war hingegen brandneu und hellrot. »Ja, wenn es nicht geht«, erwiderte Elen Evans, sich neben ihn setzend, »dann renn auch nicht mit dem Kopf gegen die Wand.« Sie starrte mit leerem Blick in eine Ecke der Garderobe. »Außerdem brauchst du das gar nicht, Pat.« Pádraig ö Súilleabháin hatte ein Kindergesicht. Trotzig schürzte er die schmalen Lippen. »Gestern abend habe ich die Übergangspassage, die Martha für mich geschrieben hatte, nicht geschafft, und überhaupt. Niemand sonst bekommt seine Musik vorgeschrieben. Ihr anderen macht das alles allein.« Elen konnte ein unterdrücktes Lachen nicht vermeiden. »Du hast es nur ein wenig anders hinbekommen, Schätzchen, das ist alles. Aber einmal im Ernst, wie könnte irgend jemand anderes Musik für diesen Dinosaurier von einem Instrument, das ich spiele, arrangieren? Martha hat dir die Passage geschrieben, weil du sie darum gebeten hattest; das war zwar sehr nett von ihr, aber auch nicht besser als die Sachen, die du sonst von dir gibst, und
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vermutlich viel schwerer zu spielen. Immerhin ist das gar nicht ihr Instrument. Außerdem glaub' mir, Pat, niemand außer uns hätte sich gestern abend auch nur träumen lassen, daß da etwas fehlte, und wir wissen es auch nur, weil du den Teil so oft geübt hast. Meiner Meinung nach zu oft.« »George hat es aber gemerkt, und das zählt.« Als Elen St. Ives' Namen hörte, blieb sie einen Moment stumm. Dann legte sie einen Knöchel auf das Knie des anderen Beines und spielte mit einem Volant an ihrem Rock. »Kümmere dich doch nicht um St. Ives. Er ist für alle nur unangenehm. Ich will dir einmal etwas verraten: Er ist gar nicht derjenige, den Martha für diese Tournee haben wollte. Ich selbst hätte es mir noch einmal überlegt, wenn ich gewußt hätte, daß er auch bei der Gruppe ist.« Pádraig, nun nicht mehr so finster, blickte auf. »Du sagst, er ist gar nicht derjenige, den Martha wollte? Gab es noch jemand anderen?« Da Pádraig ö Súilleabháin bei allen Fragen die Stimme am Ende senkte, brauchte Elen einen Sekundenbruchteil, um den Satz überhaupt als Frage zu erkennen. »Folsom«, antwortete sie dann. »Sean Folsom. Wir hatten einen Monat vor Beginn der Tournee alles geregelt, und peng! Er bricht sich das Rückgrat. Ist vom Dach gefallen. St. Ives war der einzige, den sie als Ersatz bekommen konnte.« Ein Lächeln überflog Pádraigs Gesicht, wie ein Sonnenstrahl einen grauen Tag. Er schlug sie auf den Oberarm, aber ein wenig zu fest. »Sie hat ihn da erst gefragt? Mich hatte sie sechs Monate vorher gebeten. Sie 38
hat mich zuerst gefragt!« Aber sogleich wurde er wieder ernst. »Und du sagtest, du hättest es dir überlegt? Aber mitgemacht hast du dann doch.« Sie zuckte die Achseln. »Ich wollte Martha Macnamara nicht im Stich lassen, aus keinem auch nur denkbaren Grund. Das hätte ich niemals getan; sie ist einfach zu anständig. Außerdem wäre das beruflich einem Todesurteil gleichgekommen, oder? Alle wissen, daß sie gut ist und immer alle Versprechen einhält, dem Publikum und den Mitspielern gegenüber. Daher habe ich nur tief geseufzt und ›La!‹ gesagt. Und jetzt bin ich hier.« »Da bin ich aber froh«, meinte Pádraig und wandte den Blick ab. »Doch ich glaube, es ist nicht Martha, die alles zusammenhält, sondern ihr Freund.« Elen lächelte verschmitzt, und diese Ermutigung reichte aus, daß Pádraig fortfuhr: »Und sie sind nicht einmal verheiratet, oder?« Elen Evans richtete sich auf der harten Bank kerzengerade auf. »Ganz gewiß habe ich danach nie gefragt. ›Sie strahlen dieses Image nicht aus‹, wie Ted es ausdrücken würde, und ich habe immer gedacht, das ginge mich nichts an …« Pádraig warf ihr einen Blick zu, der fast schadenfroh und schelmisch wirkte. »Aber das ist doch komisch. Sie sind doch keine jungen Dinger mehr, um damit Probleme zu haben. Warum machen Sie das nur?« Elen öffnete den Mund, doch einige Sekunden lang drang kein Laut über ihre Lippen. Pádraig lachte laut auf 39
über ihren Gesichtsausdruck. Endlich schlug sie mit beiden Händen auf ihre Knie und sagte: »Mein liebes Kind, wie lange bist du schon von zu Hause fort?« Das Kindergesicht wurde wieder leer, und der Junge wandte sich halb ab. »Nicht lange genug, um mit Macnamaras Band zu spielen. Martha hat gewußt, daß ich ebenfalls versagen würde.« Elen schlug sich wieder aufs Knie, aber viel fester. »Du Idiot! Wenn du so weiterredest, Sullivan, dann strenge ich mich an und hau dir eine!« Pádraig hatte einen Ärmel seines grellbunten Pullovers hochgeschoben und kratzte an einem roten Fleck auf seinem Unterarm. »Mach schon. Ich bin ja doch eine Null.« Und Elen folgte der Aufforderung mit absoluter Spontaneität und schlug ihm mit der rechten Faust gegen die Brust. Pádraig fiel nach hinten und landete rücklings auf dem Betonboden. Elen sprang auf, fluchte und leckte sich die Handfläche, in die sich ihre langen Harfenistinnennägel eingedrückt hatten. Dann erst bemerkte sie, wie Pádraig sie vom Boden her anstarrte. »Pat! Was habe ich getan? Ich habe dich verletzt!« Sie kniete nieder und legte ihre schmerzende Hand unter seinen Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Ich bin vor Überraschung umgefallen«, antwortete er und zog seine Beine unter der Bank hervor. Dann grinste und errötete er gleichzeitig. »Das war ein schlechter Schlag. Keine Kraft dahinter.«
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»Ich bin nicht in Übung. Meine Aggressionen lasse ich sonst auf subtilere Weise aus.« Elen stand auf und fegte mit der Hand über den lavendelfarbenen Baumwollrock. Einen Moment lang war sie beunruhigt, ob bei dem Sturz eines der Instrumente beschädigt worden war, die man für den Nachmittag in dem Raum aufbewahrte. Dann schob sie ihre kurzen Locken zurück und seufzte. »Machen wir einen Spaziergang.« Die Landaman-Halle diente sowohl als Theater als auch als Konzertsaal, und wie bei vielen Theatern öffnete sich die Bühne nach hinten direkt auf eine Rampe, die gewöhnlich mit Stahlrollläden geschlossen war. Sie gingen nach Osten und waren in der Gasse zwischen der Halle und dem gegenüberliegenden Supermarkt kaum zu erkennen. Als Martha und die anderen auf dem Rückweg vom Strand zum Hotel an dem Gebäude vorbeikamen, blickte Long zufällig hoch und sah ein dunkles Viereck, wo sich normalerweise die Stahltüren befanden. »Komisch«, sagte er und ging, Marty auf dem Arm, ein paar Schritte darauf zu. Martha war ein Stück vorausgegangen, und sein plötzliches Abbiegen überraschte sie. Sie folgte ihm in den kühlen Schatten der Gasse. Es fühlte sich nach der vielen Sonne auf der Haut angenehm an. Die rechte Tür stand offen, und sie konnte die Bühnendecke erkennen. Sonst sah sie nichts, weil sie nicht groß war und die Rampe hoch. »Wissen die denn nicht, daß wir unsere Geräte dort aufbewahren? Oder ist Santa Cruz so ehrenwert und aufrecht …?« 41
Long schnalzte ungläubig mit der Zunge. Er setzte Marty ab, umklammerte den Rampenrand und schwang sich hinauf. Man hörte das entmutigende Zischen und Reißen von Seide. Er ließ sich wieder fallen und starrte auf den rostigen Nagel, an dem sich sein Jackett verfangen hatte. »Oh, verdammt«, sagte er sehr vornehm und suchte in seiner Tasche nach etwas. »Das kann man stopfen«, meinte Martha, aber Long war zu beschäftigt, um ihr Aufmerksamkeit zu schenken. Er zog ein schweinsledernes Etui, etwa halb so groß wie eine Zigarettenschachtel, aus der Tasche. Darin steckten eine sehr hübsche Nagelschere und eine Edelstahlpinzette, die er nun herausnahm und mit den Spitzen seiner sehr langen Finger hielt. Mit chirurgischer Sorgfalt bohrte er sie in das Gewirr aus herabhängenden Fäden und verschlissenem Stoff und zog daran. Fasziniert beobachteten Marty und ihre Großmutter, wie ein Faden nach dem anderen zurück in das Gewebe gezogen wurde. Longs Gesicht war vor Konzentration angespannt. Endlich seufzte er tief und ließ das Schweinslederetui wieder zuklicken. »Es wird nie wieder wie vorher sein«, sagte er und warf einen reumütigen Blick auf die Rampe. »Jetzt werde ich auf altbekannte Weise die Tür benutzen.« Martha war der gleichen Meinung, weil sie nicht allein an den Schmutz dachte, sondern auch an die Möglichkeit, daß Diebe die Tür geöffnet haben konnten. Wenn man Diebe auf frischer Tat ertappte, dann wohl 42
besser nicht mit dem Kopf zuerst und an eine Rampe geklammert. Außerdem hing ein breiter Giebel aus Stein oder Beton in gefährlichem Winkel über dem Rand. Als ein Theaterrequisit bestand er vermutlich aus Pappmache. Um die Mitte war ein Kabel gespannt, das ihn an Ort und Stelle hielt, aber dennoch … ∗ Es ärgerte Mr. Long, daß man ihm nicht den Schlüssel zur Halle gegeben hatte. Die meisten Hausverwaltungen auf ihrer Tournee waren vertrauensvoller gewesen. Vielleicht auch realistischer. Es war reine Glückssache, daß im Vorraum jemand staubsaugte, und es war reine Hartnäckigkeit, daß Long unausgesetzt an die Glastür hämmerte, bis der Bursche ihn trotz des Lärms seiner Maschine hörte. Es war ein farbloser Mann in einer farblosen Hausmeisteruniform. Zum aus der Haut fahren! Der Bursche wollte einfach nicht zugeben, daß die Rampentür offenstand. Außer ihm und den Musikern sei den ganzen Tag niemand im Theater gewesen, und die großen Stahltüren würden, außer bei Lieferungen, niemals geöffnet. Er gab Long allerdings den Schlüssel für die Tür von der Bühne zum Hinterraum. Teppich und Bestuhlung der Landaman-Halle waren aus blauem Plüsch, der einen Hauch von Muffigkeit und kühle Zurückhaltung ausstrahlte. Die Holztäfelung an den Bühnenseiten und um den Orchestergraben war grau. Die Wände waren weiß, aber in dem schwachen Licht wirkten 43
sie ebenfalls grau, und Mr. Long zweifelte einen Moment lang, ob Macnamaras Band in einer solchen Grabkammer wohl Wärme ausstrahlen konnte. Insbesondere, weil innerhalb der Gruppe nicht viel Wärme herrschte. Aber das konnte man vorab nie wissen, überlegte er, als er durch die Tür trat, die zur Treppe links von der Bühne führte. Wenn sie auf der Bühne standen, vermittelten sie immer den Eindruck, ein Herz und eine Seele zu sein, und selbst die abgedroschenen kleinen Sätzchen und Scherzchen zwischen den einzelnen Nummern schienen das Gefühl auszustrahlen, sie seien eine große Familie. Vor sechs Wochen hatte es den Anschein gehabt, daß Pádraig ó Súilleabháins grobe Possen und seine Unbeholfenheit gegenüber Elen Evans einen dauerhaften Frieden verhindern würden – aber auch das hatte sich auf der Bühne nicht gezeigt. Vor acht Wochen hatte St. Ives seine Tage damit zugebracht, den sonderbaren Teddy Poznan mit unverhohlenem und stetigem Haß anzustarren. Aber das war, ehe sich Pádraigs keltische Eigenarten abgeschliffen hatten. Auch Elen und Teddy hatten sich zuweilen beim Stimmen etwas lautlos zugezischt. Aber wer hätte gedacht, daß sich die schärfste Feindschaft der Tournee (und Martha hatte gemeint, zumindest eine sei unvermeidlich) zwischen St. Ives und Pádraig herausschälen würde? Long überquerte die gewachste weiße Holzbühne und trat geschickt um Taurollen und um die schwarzen Kabel ihrer eigenen Geräte. Vielleicht, überlegte er, drückte man es exakter so aus: St. Ives gegen jedermann. Er gähnte. Hustete. 44
Die Wand zwischen Bühne und Hinterraum bestand aus einzelnen Platten, die in Kufen in Boden und Decke eingelassen waren. Die gesamte Fläche war mit Vorhangschlössern gesichert, aber in einem Teil befand sich eine normalgroße Tür mit einem Sicherheitsschloß. Unter dieser Tür stak eine schwarze Kabelschlaufe heraus, und Long fragte sich, ob sie zu einem ihrer Geräte gehörte. Wenn das zutraf, waren vielleicht wirklich Diebe am Werk gewesen. Er warf einen Blick über die Schulter zu den großen Kästen auf der Bühne, die Tuner, Verstärker, die komplexe Ausrüstung, die es Elens Dreifachharfe ermöglichte, trotz der Musik der Bläser gehört zu werden. Alles schien unversehrt. Long drehte den Schlüssel im Schloß und berührte den Knauf – – der ihm aus der Hand flog. Long drehte sich blitzschnell geradeaus und sah, wie die gesamte Holztür vor ihm in den von Tageslicht erhellten hinteren Bühnenraum flog, als habe sie Flügel bekommen. Es war ein Anblick, wie er sich einem Menschen deutlich einprägt: Ein aufrechtes Rechteck mit abgerissenen Messingangeln an einer Seite und einem Messingknopf auf der anderen, das sich scharf vor dem größeren Rechteck der offenen Tür abzeichnete; am rechten Rand des Rechtecks eine Kiste mit Flöten und Dudelsäcken, die aussah wie ein Hummerfangkorb, aus dem die Krustentiere überquellen, dahinter die weiße Mauer des Supermarktes. Surrealistisch, Dada. Ein perfekter Magritte. Und dann wurde Long selbst hochgeschleudert und gegen die Tür geworfen. Er landete auf der Seite, und nur sein herumgewirbelter rechter Arm rettete ihn beim 45
Aufschlagen vor einer Kopfverletzung. Die gleiche unerklärliche Kraft, die die Tür fortgerissen hatte, fegte ihn nun über den schmutzigen Boden des hinteren Bühnenraums, an der Kiste vorbei auf die Rampe zu. Er hörte einen Aufprall, der nicht nach zersplitterndem Holz klang, und wie Marty aufschrie. Dann erkannte er, daß ihn das schwarze Kabel umfing, das unter der Tür hervorgeschaut hatte. Long rollte sich zusammen und riß die Schlaufe von seinem Fuß, aber als er sich löste, flog er über die Betonrampe in den freien Raum. Er erkannte den Rampenrand unter sich und griff instinktiv zu. Seine spindelfingrigen Hände waren so groß und kräftig, daß er sich festklammern konnte. So traf Mr. Long mit den Füßen zuerst auf dem Boden auf und schlug mit Bauch und Flanke nur leicht an die Rampenseite. Martha stand zwei Schritte von ihm entfernt und umklammerte Marty. Marthas Mund war weit aufgerissen, so daß man ihre schönen Zähne erkennen konnte. Martys Gesichtsausdruck wirkte wie eine Miniaturausgabe ihrer Großmutter. »Daddo!« rief sie und hüpfte auf der Stelle. »Wie toll! Mach das noch einmal!« »Wage es ja nicht!« sagte Martha. »Was immer da geschehen ist, Mayland, einmal reicht.« Sie blickte von ihm zur Tür, die auseinandergebrochen war, und zu dem zu Staub zerfallenen Giebel, der zuerst über den Rand gesaust war. Long ließ jetzt den Rampenrand los. Seine Hände waren aufgeschürft, die linke ein wenig blutig, über dem linken
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Wangenknochen spürte er einen Schmerz. Seine Kleidung war sehr staubig. Dann spähte er nach links und rechts. »Immerhin«, sagte er mit zittriger Stimme, »immerhin habe ich dieses Mal auf den Nagel aufgepaßt.« Mr. Long trat einen Schritt von der Rampe fort. Zu seinen Füßen lag die Tür, die unbeschädigt geblieben war. Er ergriff sie am Türknauf (etwas zögernd) und hob sie hoch, um die andere Seite zu betrachten. Dort hing ein weiteres schwarzes Kabel, verschlauft… nein, an die andere Seite des Knaufs gebunden. Einen Fußbreit von diesem Knoten entfernt befand sich ein weiterer Knoten, der keine weitere Funktion zu haben schien, als eine fünfzehn Fuß lange Schlaufe zu binden. Das andere Ende der Schlaufe lag in einem Haufen Scherben, Kies und Steinstaub. »Das war eine kleine Säule«, erklärte Martha, »die hier über den Rand fiel. Darum war diese schwarze Schnur gebunden.« Martha verhinderte mit beiden Händen, daß Marty Untersuchungen auf eigene Faust anstellte. Long trat zurück und betrachtete das Chaos. »In der Tür sind keine Bolzen«, sagte er und schüttelte verwundert den Kopf. »Bei allen Auspizien! Das war eine Falle!« »Sie hätte jemanden umbringen können«, sagte Martha. »Ganz sicherlich hätte jemand dabei umkommen können«, meinte Long und rieb sein Gesicht. Auf der Rampe ertönte nun ein lautes, profanes Geschimpfe, und sie drehten sich um und erblickten den Hausmeister des Theaters, dessen blasses Gesicht vor Wut 47
verzerrt war. »Was, zum Teufel, geht hier vor?« brüllte er und wies mit großartiger Geste über die Trümmer. Aber niemand wußte darauf eine Antwort. * »Es würde nützen, wenn der Hausmeister sich erinnern könnte, wer von uns heute morgen hier ein- und ausgegangen ist«, sagte Martha, die mit besorgter Miene auf dem Klodeckel saß. Mr. Long lag in der Badewanne und pflegte seinen geschundenen Körper. Mit leerem Blick starrte er auf den Duschkopf. Gelegentlich stieß er leise Laute des Unbehagens aus. »Von uns, Martha? Verrät die Tat Spuren eines der Mitglieder von Macnamara's Band? Dieser Bursche wirkt nicht gerade wie ein aufmerksamer Wachhund. Jede verirrte Seele könnte …« »Eine Falle für völlig Unbekannte aufstellen? Das ist vermutlich möglich. Aber …«, Martha verschlang beide Hände auf den Knien, »… niemand ist so verrückt wie ein verrückter Musiker.« Longs Blick glitt von Martha zum Duschvorhang, dann hinab zu seinen Zehen, die sehr dunkel aus dem Wasser herausstaken. »Nicht für einen völlig Unbekannten. Es gab Grund zur Annahme, daß jemand Besonderes diese Tür benutzte.« »Wie?« 48
Long schloß die Augen und rief sich das Tableau mit der fliegenden Tür wieder ins Bewußtsein. »In einer Ecke des Hinterraums stand St. Ives' Kiste mit den Instrumenten. Das habe ich bei meiner Durchreise bemerkt.« »Auweh«, meinte Martha im Hinblick auf Longs kurzen Flug und dann mit veränderter Stimme: »Auweh!«, als sie den Zusammenhang begriff. »Und trotzdem meinst du, es sei keiner aus der Gruppe gewesen?« Long regte sich und verursachte kleine Wellen, die seine aufgeschürften Wangenknochen überspülten. »Ich meine eher, daß wir nichts wissen können. Es sei denn, jemand verrät es uns. Oder wir rufen die Polizei.« Martha verzog das Gesicht. »Jesus! Meinst du, das sollten wir tun?« Long hingegen schloß die Augen. »Ich habe daran gedacht. Wenn ich es nicht gewesen wäre, der die Tür berührte … sondern George, er wäre vermutlich getötet worden. Wäre es Marty gewesen …« Long runzelte die Stirn und stieß mit dem linken Fuß den Heißwasserhahn auf. »Aber ich neige zu der Annahme, daß das Verfangen des Fußes eigentlich nicht zu dem geplanten Scherz gehörte. Vielleicht lag der Gag einfach darin, eine Person – nennen wir sie George – zum Narren zu machen, wenn ein Teil seiner normalen Umwelt sich plötzlich sehr ungewöhnlich verhielt. Die Tür ließ jedoch unten einen breiten Spalt frei –vielleicht hat einmal ein Teppich dort gelegen – und die Einrichtung erwies sich als etwa zehn Fuß zu lang. Deshalb lagen Schlaufe und Knoten unter der Tür.« 49
Martha blickte ihn zweifelnd an. »Also keine Polizei?« Long schüttelte den Kopf und senkte ihn gelassen unter Wasser. * Pádraig schien große Schwierigkeiten zu haben, die Sache zu begreifen. »Mayland einen Streich gespielt? Nein, der ist doch der letzte, den ich hereinlegen würde. Nun, Ellie, die kann man gut auf den Arm nehmen.« Er boxte die Harfenistin in die Rippen. Sie sah nicht gerade erfreut aus. Martha versuchte erneut zu erklären, daß der Scherz eigentlich nicht Long gegolten hatte, sondern George, daß die Sache aber schlecht durchdacht und gefährlich gewesen sei. Bei dieser Erklärung fiel ihr auf, daß sie annahm, Pádraig sei der Urheber, und das war nicht fair. Ihre Worte verebbten. Pádraig wirkte allerdings nicht beleidigt. Er lehnte mit den Händen in den Taschen an der Südtür des Theaters und nickte, während sie sprach. »Schrecklich! Hat sich der alte Mann verletzt? Eine Schande, wenn es eigentlich George galt.« »Es wäre auch schlimm gewesen, wenn es George getroffen hätte«, erwiderte Martha, die die Beherrschung verlor. Pádraig trat überrascht einen Schritt zurück. »Hau mich nicht, Tante Martha! Ich war es nicht.« Seine Worte klangen schlicht, und er blickte ihr in die Augen, doch Martha war immer noch nicht überzeugt, daß 50
er es nicht gewesen war. Er stand so offensichtlich in Verdacht. Sie warf einen kurzen Blick zu Elen, die im Schatten gestanden und so getan hatte, als habe sie nicht zugehört. »Und sie war es auch nicht«, fügte Pádraig hinzu. »Ich lasse die Maus fast den ganzen Tag nicht aus den Augen. Ich versuche, sie dazu zu bringen, daß sie die Geduld mit mir verliert, aber das scheint mir nicht zu gelingen.« Elen brach in ein Lachen aus, das robuster klang, als es zu ihrer Gestalt und ihrem Gesicht paßte. »Das stimmt. Er ist eine Plage. Diese Todesfalle kann also nicht von Pat aufgestellt worden sein, es sei denn, wir haben es zusammen verbrochen. Oder ich war es.« »Und habt ihr es zusammen gemacht?« fragte Martha hilflos. Und in perfektem Unisono antworteten sie: »Nein, wir waren es nicht.« * »Ein gutes Beispiel für das, was ich immer schon gesagt habe«, antwortete Ted, als er an der Reihe war, gefragt zu werden. »Knoten in den Gedanken und Gefühlen. Knoten, die den Strom des Lebens durch unseren Körper und Geist hindern. Wir stolpern und stürzen und verletzen uns zuweilen, und manchmal werden wir zerstört, nur wegen…« Martha reichte es. »Gottverdammt, Teddy! Das war keine Sache, die Mayland hätte vermeiden können, indem er sich einen Einlauf machte. Er ist in eine häßliche Falle 51
geraten, die jemand vermutlich für George aufgestellt hat. Bist du dafür verantwortlich?« Sanft und traurig schüttelte Ted seinen bunten Kopf. »Niemals, Martha, George stellt sich selbst genug Fallen.« * Die Hintertür des Theaters bestand aus Stahl und öffnete sich zögernd auf einen gepflasterten Parkplatz. Elen und Pádraig schlichen sich, als Martha gegangen war, aus dieser Tür hinaus und traten, ohne sich anzusehen, auf den Platz. »Nett von dir, mir ein Alibi zu geben«, sagte Elen mit leicht unsicherer Stimme. Pádraig sah sie mit vor der Sonne zusammengekniffenen Augen an. »Du brauchst dich nicht zu bedanken«, sagte er und ließ dem Satz ein unhöfliches Schnauben folgen. Unsicher wandte er den Kopf ab, bis sein Blick auf etwas stieß. »Sieh dir das an!« Ohne Elen Evans zu berühren, führte er sie zu dem Drahtzaun, der den Theaterhof vom Nachbarn trennte. »Das leere Feld dort?« »Raigras«, korrigierte er sie. »Zumindest ist es überwiegend Raigras. Und alles umsonst. Man könnte mindestens drei Schafe oder eine Kuh dort halten.« Elen sah ihn belustigt an. »Vielleicht war bis jetzt niemand so klug, um darauf zu kommen.«
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»Jetzt ist es ohnehin zu spät. Das Gras ist zu hoch und zu trocken, um irgend jemandem zu nützen, es sei denn als Stroh. Ah! Warte! Elen, ich habe eine Idee. Wir können ein Seil daraus knüpfen, ein súgán, wie in dem Lied, das wir spielen.« »Seilknüpfen? Was für eine Art Einladung ist das eigentlich? Ich habe gehört…« Doch er war in seiner Begeisterung bereits über den zwei Meter hohen Zaun geklettert. »Wir brauchen zunächst einmal ein großes Messer, damit ich das Gras dicht über dem Boden abschneiden kann. Und dann einen Stock, um es zu drehen …« * Elen nahm den Besenstiel in beide Hände und drehte ihn zum ersten Mal. »Ich hatte keine Ahnung, daß man so etwas noch macht.« Pádraig ó Súilleabháin schlug mit einem Stück Ziegel fest auf sein Ende des Seils ein und fügte neues Gras hinzu, wie ein Spinner neue Wolle an den Faden anfügt, während Elen zurückging. Seine Bewegungen waren unbeholfen vor Begeisterung. »Das wird noch immer so gemacht. Man flicht daraus Halfter für Pferde, Kühe und Schafe. Es kostet nichts, und es spielt keine Rolle, wie rasch die Tiere sie auffressen. Man benutzte diese Seile auch dazu, um Strohschindeln auf dem Dach zu befestigen, doch jetzt nimmt man dazu überwiegend gekauftes Tau. 53
Aber die Besucher, die Touristen, die mögen strohgedeckte Häuser. Mit einem strohgedeckten Haus kann man ein gutes Geschäft machen.« »Ich werd's mir merken.« Die kalifornische Spätfrühlingssonne brannte auf Elens Kopf herab. Sie hielt ihr Tauende stramm, wie angewiesen, und drehte es. Das Schlagen und Drehen sog aus dem langen Gras Säfte, die sehr frisch rochen. Pádraigs kurzes Haar war staubig und voller Grashalme, und er sah glücklich aus wie ein junger Stier. Sie hatte sich inzwischen fünfzehn Meter von ihm entfernt und mußte bereits wieder zurücktreten, weil er neues Material anfügte. »Folgt jetzt der Teil, wo du mir die Tür vor der Nase zuschlägst? Zumindest kommt das in einigen Versionen des Liedes vor.« Sein vor Anstrengung gerötetes Gesicht blickte auf. »Das würde ich natürlich tun. Aber wir sind ja auf einem Parkplatz und haben keine Tür, daher bist du in Sicherheit.« Er lächelte sie einen Moment länger an, als der Scherz es verdiente. Und Elen antwortete: »Wer ist in Sicherheit, du kleiner Scheißer?« Aber sie flüsterte es nur, und Pádraig stand jetzt zwanzig Meter von ihr entfernt. * Die Wände der Theatergarderobe waren in unglücklichem Grün gestrichen, das Longs Gesichtsfarbe leblos wirken ließ, als er allein an dem Tisch saß und auf seinem Keyboard spielte. Er nahm vor dem Instrument eine 54
sonderbare Haltung ein. Die Länge seiner Finger zwang seine Hände, sich wie die Krallen eines Vogels über den Tasten zu krümmen. Diese anatomische Besonderheit war jedoch nicht ausschließlich von Nachteil. Er konnte fast jeden Ton auf dem kleinen Instrument anschlagen, ohne seine Handgelenke zu bewegen, und mit untergeschlagenem Daumen fast ein Sechstel der Tastatur greifen. Ausnahmsweise hielt Long seinen geschmeidigen Rücken kerzengerade. Man hatte ihm eingeschärft, sich gerade zu halten. Seine Noten waren gegen das Akkordeon gelehnt. Es war spät am Nachmittag, als George St. Ives ihn dort fand. Trotz der nachmittäglichen Hitze trug St. Ives seinen verrufenen Wollpullover und Kordhosen. Mit schweren Schritten durchmaß er die Breite des Raums und blieb schwer atmend hinter Long stehen. »Meine Güte! Das schon wieder. Ich dachte, das hätten wir abgelegt, seit Sully beschlossen hat, es sei zu schwer für ihn.« »Es ist aber kaum das gleiche Arrangement, das Pádraig geübt hat. Es ist – wie Sie vielleicht sagen würden – einsilbige Musik, passend für Anfänger wie mich.« Long spielte beim Sprechen weiter, langsam, gleichmäßig, fest in den Bässen. Nur eine Spur zu mechanisch. Den A-Teil spielte er zweimal, den B-Teil ebenfalls. Und wieder von vorn. St. Ives' Präsenz war raumgreifend und einschüchternd. Sie schwebte über Long, der dennoch im gleichen festen Takt weiterspielte.
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Kehlig stieß St. Ives hervor: »Die Simplizität ist nicht das Problem.« Er trat näher. Der B-Teil endete und begann aufs neue. »Sie haben einen furchtbaren Music-Box-Rhythmus.« Long hörte, wie er mit seinen dicksohligen Arbeitsschuhen zum Schrank ging, wo er seine verschiedenen Dudelsäcke aufbewahrte. Einen Moment lang herrschte Stille in jener Ecke, und dann hörte man das Quietschen eines Mundstücks. Schließlich verkündete ein blökendes Ventil, daß St. Ives sein Knierohr spielen würde. Long hörte auf zu spielen, um zuzuhören, wie es die Höflichkeit zu verlangen schien. Abgesehen davon konnte er sich selbst nicht mehr hören. George St. Ives spielte ›Kid on the Mountain‹ und er spielte es sehr gut. Die Melodie klang sehr lebendig und hatte einen festen, freien Rhythmus. Seine Version war viel schneller als Longs und hochgradig phrasiert. Als er geendet hatte, machte ihm der ältere Mann aufrichtige Komplimente dazu und wandte sich wieder seinen langsamen, metronomischen Übungen zu. St. Ives stieß ein brüllendes Lachen aus. »Gottverdammt! Nichts kann diesen reichen Mann erschüttern!« Longs Lächeln ließ ein wenig von seinen Zähnen aufblitzen. »Ich finde, Sie haben ganz recht, St. Ives. Man gewöhnt sich daran, zu kommandieren.« St. Ives lehnte sich gegen den Tisch neben Long und sagte im Plauderton: »Aber Sie werden nie ein richtiger Musiker.«
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Der Flötist stand zwischen den Noten und der einzigen nackten Glühbirne in der Mitte des Zimmers, doch Mayland Long konnte die Melodie schon lange auswendig und blickte nur aus Gewohnheit aufs Papier. »Ist es nicht ein Glück, daß ich diesen Status niemals anstrebte?« »Und was soll das hier dann? Jeden Tag eine Stunde lang dieses da-di-da?« »Das ist meine Übungsstunde.« Ihre Blicke trafen sich, und Long fiel auf, daß St. Ives schielte und seine Stirn gefurcht war, als habe er Kopfschmerzen. »Wohl wegen ihr, eh? Daher befassen Sie sich damit?« Longs Lachen klang milde, fast desinteressiert. St. Ives wechselte noch ein paarmal den Standort und verließ schließlich den Raum. Seufzend und gähnend hörte Long auf zu spielen. Er stellte das Gerät ab und putzte sich die Nase. Er war froh, daß der andere verschwunden war, denn er war es recht überdrüssig geworden, ›Kid on the Mountain‹ zu spielen, aber er wäre lieber gestorben, als St. Ives auf den Gedanken zu bringen, sein Einfluß hätte ihn davon abgebracht. Er überlegte gerade, ob er die Stunde beenden wollte, an der noch fünf Minuten fehlten, oder sich der nächsten Melodie im Buch zuwenden sollte, als Ted Poznan, nackt, abgesehen von Jogging-Shorts, hereinschritt. Er ließ sich auf das Sofa fallen und faltete die Hände über seinem sonnenverbrannten, konkaven Bauch. Ausdruckslos starrte er zur Decke. »He, Drache«, sagte er dann, ohne sich die
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Mühe zu machen, den Kopf Long zuzuwenden. »Dieser Ort hat echt schlechtes feng shui.« Long nahm das Keyboard und packte es ordentlich in den flachen Tragekoffer. »Sie meinen, weil die Tür nach Norden führt?« Ted riß die Augen auf. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich dachte an die Sea Street – drei Fahrbahnen und so schnurgerade wie ein Pfeil, und sie führt direkt auf dieses kleine, hilflose Gebäude.« Jetzt kam Martha herein, die geduscht hatte und ein Baumwollkleid trug, das praktikabler geschnitten war als der Wickelrock. Sie hörte gerade noch den letzten Satz. »Was führt auf das Gebäude zu?« »Die Straße draußen, Martha«, erklärte Long. »Die Vorzeichen stehen sehr schlecht, weißt du, wenn eine lange Straße oder auch ein Fluß direkt auf ein Gebäude oder ein Grab zuführen.« »Grab?« wiederholte sie. Ted rief, ohne sich auf seinem Sofa zu bewegen: »Unbeherrschbare Lebenskraft, die sich zerstörerisch auf ein Gebäude oder Grab richtet. Gezwungenes, unnatürliches chi, das uns bombardiert wie kosmische Strahlung.« Martha warf Mayland Long einen Blick gespielter Entrüstung zu, und er antwortete mit einem Grinsen. »Der Haupteingang geht nach Norden, und dieser Aspekt ist so schlecht wie er nur sein kann.«
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George St. Ives war hinter sie getreten und füllte den Türrahmen aus. Stumm hörte er dem Gespräch zu und trat dann ein. Ted Poznans Augen zuckten. Long blickte höflich auf, und Martha drehte sich um, doch St. Ives sagte nichts, sondern ging zwischen ihnen hindurch zu seinen Instrumenten, die Hand an die Stirn gelegt. Ted hob einen Arm und murmelte eine Frage. Der Flötist jedoch zog lediglich eine Grimasse und schüttelte den Kopf. Martha brach das angespannte Schweigen. »Denkt daran, Jungs, daß wir nicht nur heute abend, sondern auch morgen hier spielen. Versucht, es gelassen zu nehmen, wie unnatürlich das chi auch immer sein mag.« Von draußen, aus der Richtung des leeren Parkplatzes, hörte man Gelächter. Alle blickten auf, sogar St. Ives. »Das sind Elen und Pádraig «, erklärte Long. »Sie sind schon fast den ganzen Nachmittag da draußen.« »Spielen sie auf dem Parkplatz?« erkundigte sich Martha. Ted machte mit seinen beiden nackten Armen eine umfassende Geste. »Warum nicht? Auch Parkplätze sind Teil der Wirklichkeit.« »Ich glaube, sie machen irgend etwas.« St. Ives ließ sich auf der gepolsterten Lehne des Sofas nieder, nicht weit von Ted Poznans Kopf. »Was machen sie denn? Schmetterlinge ansehen?« Er zeigte seine Zähne. »Das brauchen wir gerade noch, daß sie für den Jungen einen kleinen Tanz aufführt, denn dann ist er für uns noch schlimmer als nutzlos.« 59
Ted Poznans ungezielter Blick wurde schärfer. Er blickte zu St. Ives hoch und schien eine Frage zu überlegen. Marthas runde blaue Augen wurden hell vor Wut. »Da unsere Tournee nur noch weitere fünf Tage dauert, George, würde ich mir weder um Elen noch um Pádraig große Gedanken machen.« Long sprach aus, was alle dachten: »Sie könnte ihm kaum übler mitspielen als Sie, St. Ives.« St. Ives hatte sich das Gesicht gerieben. Jetzt senkte er beide Hände, und seine geröteten Augen wirkten viel älter als die Longs. »Das regeln wir später, reicher Mann, nach der Musik.« Aber Long schien nicht zugehört zu haben. Er erhob sich von der Bank, fegte seine leichte Leinenhose ab und trat zur Hintertür. Er kam gerade rechtzeitig, um sie für Elen zu öffnen, die überrascht wirkte, alle versammelt vorzufinden. Sie lächelte strahlend. Auch Pádraig ó Súilleabháin lächelte, doch es gefror und schwand, als er merkte, daß er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Elen nahm ihm etwas vom Arm. Es war trocken und flachsfarben und fiel in losen Schlaufen zu Boden. »Schaut! Über zwanzig Meter handgedrehtes Tau!« Einen Moment lang herrschte freudige Verwirrung, als Ted, Martha und Long vortraten, um es zu bestaunen. Long, der von dem Handwerk etwas zu verstehen schien, war interessiert und des Lobes voll. Er schlug vor, beim nächsten Mal Reisstengel zu benutzen, die man enger drehen konnte. Niemand machte einen Scherz über
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Brautwerbung, und St. Ives gab nichts Schlimmeres von sich als ein Lachen. * Martha saß wieder auf dem Klodeckel, denn das war ihr einzig ungestörter Ort, weil Marty sonst überall dabei war. Sie dachte an die Geschichte von Mayland und der Tür. Sie hatte das Gefühl, daß sie sich damit beschäftigen mußte, da niemand sonst es zu wollen schien, nicht einmal Mayland selbst. Als man George vorsichtig gefragt hatte, mußte er zugeben, seine Instrumente hinter der Bühne aufbewahrt zu haben. Er war beim Ausladen als erster hineingegangen und hatte nicht gewußt, wo die Garderobe war. Inzwischen hatte er sie nach unten geschafft. Die innere Tür war an dem Morgen nicht versperrt gewesen. Die Stahlrolläden seien allerdings verschlossen gewesen. Martha hatte gemerkt, daß sie St. Ives auch in noch so vielen Worten nicht mitteilen konnte, daß ihm vermutlich jemand eine Falle gestellt hatte, die vielleicht als harmloser Scherz geplant war. Vielleicht stimmte es auch- nicht. Es war so leicht, ihn in Rage zu bringen. Sie war sich nicht sicher. Fast wünschte sie sich, die Polizei gerufen zu haben, als es passierte. Jetzt war alles von verschiedenen Personen berührt und die Szene aufgeräumt worden. Gerade in diesem Augenblick wurde die Tür (unter Vorwürfen der Verwaltung) neu installiert, 61
und das schwarze Kabel hing wieder zusammengerollt an der Wand. Immerhin hatte noch niemand angemerkt, daß sie für den Betongiebel zahlen müßten. * An diesem Abend aß die Gruppe gemeinsam zu Abend, wie sie es in den ersten beiden Wochen der Tournee immer getan hatten, als sie noch einiges zu bereden hatten. Elen Evans war trotz ihres Namens, Gesichts und der Dreifachharfe eine Amerikanerin: geboren und aufgewachsen in Georgia, lebte sie seit einigen Jahren in Kalifornien. Eine ihrer alten Freundinnen hatte sie heute besucht und eine riesige Schüssel mit gemischtem Salat mitgebracht. Mayland Long hatte sie neben zwei Riesenbehälter mit einem indischen Reisgericht gestellt. Sorgfältig legte Ted Poznan Tomaten, Rosenkohl und Spargel abseits von Fleisch und Käse. Ted hielt eine schleimfreie Diät ein. Pádraig ó Súilleabháin folgte ihm, blickte mißtrauisch auf das Gemüse und aß nur Fleisch. Elen, bei der sich Fröhlichkeit mit fünfminütigem finsterem Schweigen abwechselte, aß fast nichts. George St. Ives langte auch nicht sonderlich zu, obwohl er sich eine große Portion von dem Reisgericht genommen hatte. Er saß in der Ecke bei seinen Flöten, Ted ebenso nahe wie allen anderen, und leerte wie gewöhnlich eine Flasche Miller-Bier zum Essen. 62
Marty Frisch-Macnamara mochte gern Jakobsmuscheln und aß sowohl diejenigen auf Longs Teller wie auch ihre eigenen. Eine weitere Lieblingsspeise Martys war Spargel, den sie in die Mayonnaise tunkte. Dann ging sie zu Pádraig, der auf dem Boden saß (nicht zu dicht bei Elen Evans) und blieb direkt vor ihm stehen, um ihn zu beäugen, wobei sie an einem holzigen Spargelstück wie an einem Dauerlutscher saugte. Pádraig blickte von seinem Schinken-Butterbrot auf. »Magst du das Zeugs, Máirtín?« Das Mädchen fand die Frage wohl so albern, daß es sich keine Mühe gab, sie zu beantworten. Sie stand einfach da, saugte und starrte ihn an. Pádraig schnitt ein Gesicht. »Das ist eklig! Puh! Leg es weg, sonst wird dein Gesicht grün!« Er stieß einen Finger gegen ihren runden Bauch. »Geh damit fort, sonst haue ich dich!« Marty spürte, wie leer diese Drohung war, und regte sich nicht. »Marty weiß, was gut ist.« Ted Poznan hatte Luzernestengel im Haar. Seine Augen wirkten immer noch schläfrig, auch als er das Kind anstrahlte. »Komm, meine Dame, nimm ein paar von diesen wunderbar sonnengereiften Stückchen.« Marty trat unsicher, aber erwartungsvoll zu ihm. »Wir bringen ihr kaum bessere Manieren bei als einem Hund«, sagte Martha in den Raum. »Das wird Elizabeth nicht gefallen.«
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Sie wischte sich den Mund an einer Papierserviette ab. »So, zur Tagesordnung.« Alle schwiegen erwartungsvoll. »Alles genau wie gestern abend, es sei denn, jemand hat eine plötzliche Eingebung.« Pádraig ó Súilleabháin erstarrte und blickte auf Marthas Füße. Als niemand das Wort ergriff, sagte er: »Möchtest du, daß wir etwas verändern, Martha?« »Nein.« Ihre Stimme klang tonlos und erschöpft. »Ich glaube, ich bin zu müde, um etwas Neues aufzunehmen.« »Nun, das war es also. Die Tagung wird verschoben«, sagte Elen, die sich herausfordernd umblickte, als fürchte sie, jemand könne wirklich etwas anderes vorschlagen. * Um viertel vor acht, als Martha noch einmal frische Luft schnappen ging, herrschte immer noch genügend Tageslicht. Santa Cruz war zwar eine Stadt aus Beton und Asphalt, doch von den schwarzgrünen Bergen im Norden senkte sich Abendschwere, die nach Nadelhölzern duftete. Die Menschenschlange vor dem Eingang hätte sie freuen müssen, hätte sie auch vor nur wenigen Wochen noch gefreut, doch sie war müde, und Kalifornien mit seiner New-Age-Gesellschaft und seiner Leidenschaft für alte Musik hatte sie verwöhnt. Allen möglichen Göttern sei Dank für Mayland und sein gänzlich unerwartetes Verständnis für Marty. Was hätte sie ohne ihn mit dem Kind angefangen? Allerdings hätte sie 64
ohne ihn nicht zugestimmt, die Enkelin für eine Woche mitzunehmen, ohne Rücksicht darauf, welche Kindergärten geschlossen waren oder welche neuen Häuser gebaut wurden. Elizabeth hatte sich immer darüber beklagt, daß das Mitreisen mit der Mutter ihre Kindheit verdorben hätte. Nun, Marty schien es nichts auszumachen. Sie war ebenso ausgeglichen wie ihr Vater, Fred. Fred, der Kalifornier. An der Straßenecke, wo man Schnittblumen in Eimern für die Nacht hereinschleppte, betrachtete Martha die unruhigen Bewegungen der wartenden Menschen, die immer mehr wurden. Komisch, daß die Leute, die ihre Musik mochten, sich so anders kleideten als sie selbst. Ägyptische Hemden und russische Baumwollröcke, zusammengebundene Hosen und Halsketten aus Knochen. Vielleicht waren es sogar menschliche Knochen, die einen an die Sterblichkeit erinnern sollten? Zumindest an die Sterblichkeit eines anderen. Diese Leute wirkten sehr lebendig. Martha lehnte die folkloristischen Kleider eigentlich nicht ab, nur konnte sie sich nicht vorstellen, soviel anthropologische Symbolik mit sich herumzuschleppen. Für die meisten war die Echtheit auch sehr wichtig. Nun, heute abend würden sie enttäuscht sein, denn Martha hatte vier Musiker bei sich und ganz und gar keine historischen Anthropologen. Abgesehen von Ted vielleicht, der weniger genau war als er es gut meinte, und George, der auf Authentizität äußersten Wert legte, wenn es ihm in den Kram paßte. Es war schon schlimm mit diesem feng oder wie es hieß. Die Sea-Street erweckte wirklich den Anschein, als wolle 65
sie die Landaman-Halle aufspießen, und der schmale Trog mit Margeriten vor dem Haupteingang verstärkte nur das Gefühl von Gefahr. Ob man wohl oft zerbeulte Autos in der Eingangshalle fand? So etwas würde in der Tat unglückverheißende Planung bedeuten. Von der anderen Straßenseite her näherte sich George St. Ives, eine braune Tasche mit Flaschen schlenkernd. Er war nicht allein. Die junge Frau neben ihm hatte helles, krauses Haar und sah leicht entrückt aus. George wirkt auf Frauen wie ein Magnet, dachte Martha und fragte sich, warum. Sie jedenfalls wurde von ihm nicht angezogen. Mit schweren Schritten ging er auf den Haupteingang zu, und dort dauerte es eine Weile, bis er den Türsteher überzeugt hatte, ihn einzulassen. Er wiegte sich beim Gehen, als habe er gerade ein Schiff verlassen. Martha versuchte, sich an etwas in seiner Vergangenheit zu erinnern, daß diese Eigenheit erklären würde. Er wurde immer ›Flötist von Cap Breton‹ genannt, was immer das bedeutete. Es hatte wohl nichts mit seinem Stil zu tun, denn der war flexibel und beruhte auf ebenso vielen Quellen wie Marthas eigener. Vielleicht bezog es sich auf seine schmutzigen Wollpullover. Er hatte zwei sehr gute Soloalben herausgebracht und war schon immer auf Tournee. Pádraig ó Súilleabháin ging nicht so, noch sah er auf irgendwie bekannte Weise wie ein Fischer aus, abgesehen von seinen Händen, die, wie sie bemerkt hatte, viele kleine Narben von Haken trugen. 66
Martha sah eine Bewegung in der Schlange und hörte, wie das Geplauder leiser wurde. Hühner im Schatten eines Habichts, dachte sie. George mußte wohl seinen Namen genannt haben. Ja, das war es, denn nun drängte sich die Menge plötzlich dichter heran. Er stand vor der offenen Tür, als habe der Mann an diesem Abend nichts Besseres zu tun, als sie für ihn aufzuhalten, während er mit der blonden Frau sprach. Sie stand auf den Zehenspitzen und machte zahlreiche Handbewegungen. Sie war aufgeregt. Martha lächelte für sich. Sie selbst mochte vor der Halle auf und ab paradieren, ohne die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Selbst, wenn man sie mit Megaphonen ankündigte (und so etwas Komisches war ihr ein paarmal zugestoßen), sahen die Leute an ihr vorbei, auf der Suche nach der Berühmtheit. So verhielt sich die Öffentlichkeit zu einer Frau von fast fünfundfünfzig. Und das war ihr auch recht. Wenn man ihr jetzt einen sie verehrenden jungen Mann vorstellte, würde sie sich darauf beschränken, ihn nach seiner Schule zu fragen und welche Bücher er gern las. Doch warte! George trat beiseite und ließ die junge Frau vor sich eintreten, was Martha eine Chance gab, ihr Gesicht genauer zu betrachten. Es war Elens Freundin Sandy, die gestern abend den ganzen Weg von San Francisco nach Santa Cruz gekommen war, um sie zu begrüßen, die heute morgen auf Marty aufgepaßt hatte, als sie auspackten, und die den wunderbaren Salat gemacht hatte. Einen Moment lang fühlte sich Martha töricht, und, was schlimmer war, eifersüchtig. Dann stellte sie fest, daß sie gähnte. 67
Es war Zeit, anzufangen. Das würde sie sicher aufwecken. Denn an dem Abend, an dem nicht einmal die Vorstellung ihr die Augen öffnete, war es sicher an der Zeit, Schluß zu machen.
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Das Spiel beginnt Elen blickte von einem schmutzigen Zettel auf, der am Resonanzkasten ihrer Harfe klebte. Pádraig hockte links auf der Bühne auf einem Schemel und mied das Licht. Neben ihm stand Ted, dessen gebleichtes Haar im hellen Scheinwerferlicht unirdisch wirkte. Elen war sich George St. Ives auf der anderen Seite bewußt, doch sie blickte nicht zu ihm. Ganz hinten stand Martha Macnamara in einem schlichten, bedruckten Kleid, das vor dem dunklen Hintergrund glänzte. Elen machte sich keine Illusionen über ihre Position in der Mitte. Der Grund war nicht, daß sie für die Gruppe besonders wichtig war, sondern weil die Dreifachharfe so schön aussah. Sie hoffte, das Licht hätte das Instrument nicht bereits verstimmt. Martha bat Pádraig um ein ›A‹. Das Akkordeon stieß ein knappes Quietschen aus. Mehr war nicht nötig. Sie blickte von einem Gesicht zum anderen, als wolle sie fragen, ob alle mit dem Ton einverstanden seien. Ted zupfte eine Saite so leicht, daß sie es nicht hören konnte. Elen ließ ihre Harfe in Frieden, denn sie hatte sich in den letzten zwanzig Minuten mit nichts anderem beschäftigt. George St. Ives blickte lediglich gelangweilt. Sie setzte die Fiedel unters Kinn und wandte sich, wie um Erlaubnis heischend, ans Publikum. Der Saal war voll, und er wirkte auf sie, als würde sich ein einziges, großes 69
Tier regen. Sie hob den Bogen und ermahnte sich, wie jeden Abend seit fast dreißig Jahren, daß sie keine verdammte Violine spielte, sondern fiedelte. ›Casadh an t'Súgháin‹ war das Titellied der Gruppe und der Tournee. Es war Marthas Idee gewesen, der Gruppe diesen Namen zu geben. Man konnte diese Melodie in vielen verschiedenen Tempi und Stimmungen wiedergeben. Als in den ersten Probewochen Elen Evans einmal einen Scherz über Macnamara's Band gemacht hatte, war dieser Name klebengeblieben. Eine Gruppe, die nur kurze Zeit miteinander spielte, brauchte keinen aufwendigeren Namen. Martha selbst begann die Melodie sehr langsam und im Connemara seannós, und ihre Phrasierungen waren so vielfältig und kompliziert, daß die Melodie sich in ihrer eigenen Komplexität zu verlieren schien. Sie brummte beim Spiel leise den Takt vor sich hin, was man aber über das Mikrophon nicht hören konnte, denn sie fürchtete, in die Musik hineingezogen zu werden und den Drive zu verlieren. Sie versank nicht – sie tat es niemals –, aber sie vergaß auch nie zu zählen. Das Licht schien auf ihre geschlossenen Augen. Sie verpaßte einen Teil und ersetzte ihn durch einen anderen, wobei sie lächelte, um die Komik allen mitzuteilen, die es vielleicht gemerkt hatten. Dann setzte Elen ein, ein wenig zu hoch auf dem mittleren E, aber sonst sehr gut. Sehr stimmig für eine Harfe. Vier Takte später fiel Pádraig ein, dann Ted auf der Gitarre, fast unmerklich, abgesehen davon, daß er der Musik Stabilität und Sicherheit verlieh. Martha spürte einen Hauch Zärtlichkeit für Ted, der bekannt dafür war, 70
niemals eine Probe zu versäumen oder einen Wutanfall zu bekommen. Seine Gitarre spielte die Rolle der ›Brautjungfer‹ für alle anderen, aber ihm schien das nie etwas auszumachen. Vermutlich beschäftigten ihn seine verschiedenen esoterischen Studien derart, daß für seine Arbeit kein Stück Ego übrigblieb. Martha spürte allen gegenüber ein warmes Gefühl. Sie merkte, daß sie Elen anlächelte, die auf ähnliche Weise antwortete. Es ging einmal reihum, wobei die Flöten über allem das hohe, durchdringende D hielten, und dann lösten sich die Blasinstrumente und verdoppelten das Tempo. Martha, die bei diesem Teil nicht mitspielte, setzte sich sehr züchtig auf ihren Schemel, die Beine an den Knöcheln übereinandergeschlagen. Die Fiedel lag auf ihrem Schoß. »Also, das klappt ja wieder«, sagte sie, für niemanden hörbar. * Long saß im Hotel und las Marty aus dem ›Grünen Elfenbuch‹ vor. Sie liebte dieses Buch sehr und hatte mit einem Silberstift den Umschlag bemalt. Der literarische Geschmack ihres ›Daddos‹ war jedoch anders als ihrer. Ihm gefielen die moralischen französischen Geschichten wie ›Pnnz Vivian und Prinzessin Placide‹, während sie wiederum die Grimmschen Märchen vorzog. Daher langweilte sie sich ein wenig, obgleich sie ihren Lieblingsschlafanzug mit den Hasenfüßen trug. 71
Mayland Long lehnte zwar mit der perfekten großväterlichen Haltung in dem Stahlrohrsessel des Hotelzimmers, teilte aber ihre Stimmung. Er hätte gern der Vorstellung beigewohnt, obwohl es die gleiche war wie am gestrigen Abend und denjenigen des letzten Monats fast glich. Ihn ermüdeten solche Dinge nicht sehr rasch. Außerdem war die Gruppe dieser Tage nur bei den Vorstellungen angenehm zueinander. Vielleicht waren Prinz Vivian und seine Gesellschaft auch ein bißchen verstaubt, weil die Elfen sich schließlich immer wieder einmischten und die Leute in ihre eigenen Fallen stolpern ließen. Allmählich wurde man das leid. Er verlor die Stelle aus den Augen und warf einen Blick auf Marty, die sich in das große, harte Hotelbett gekuschelt hatte, um zu sehen, ob sie überhaupt noch zuhörte. Ihre Blicke trafen sich in völligem Einverständnis. »Warum lassen sie uns nicht mitkommen, Daddo? Das hier macht doch keinen Spaß.« Long seufzte. »Du warst doch gestern abend dabei, Marty, und daher warst du heute nachmittag so müde und quengelig.« »Ich war müde, weil ich heute morgen mit Sandy Spazierengehen mußte, und quengelig, weil ich hierbleiben muß!« Sie schlenkerte mit den gelben Füßen, bis die Hasenohren nur so flogen. »Aber ich wäre nicht quengelig, wenn ich bei der Musik und bei Martha wäre.« Diese Gefühle entsprachen denen Longs so sehr, daß er sie nicht kritisieren konnte. Er sagte bloß: »Du meinst ›Großmutter‹, nicht wahr?« 72
»Elizabeth meinte, ich sollte sie ›Martha‹ nennen, damit sie sich nicht so alt fühlt.« »Es ist doch nicht schlimm, alt zu sein«, antwortete Long mit einiger Schärfe. Er stand auf, verblätterte das ›Grüne Elfenbuch‹ und suchte nach einer weiteren Packung mit Papiertaschentüchern. »Solange man gesund bleibt.« Auf der Badezimmerablage stand Marthas kleiner Reisewecker, dorthin verbannt, weil er so laut tickte. Long warf einen Blick darauf: Acht Uhr fünfundzwanzig. Inzwischen hatten sie wohl die Eröffnungsmelodien hinter sich und waren mitten in dem Teil, der mit ›Fanny Póer‹ begann. Wenn nicht sogar schon weiter bei dem bretonischen Flötensolo. Er blickte sein Spiegelbild mit trübseliger Zufriedenheit an: rote Nase, tränende Augen und schmerzhaft in der Mitte aufgesprungene Lippen. Er dachte an St. Ives, der immer ein wenig so aussah, und fragte sich, ob der Bursche vielleicht deshalb so unangenehm war. Hinter ihm ertönte ein Geräusch, hoch, dünn, anhaltend. Vielleicht war es eine Alarmanlage in einem Auto. Das würde reichen, um das quengelige Kind ebenfalls zum Jammern zu bringen. Zugleich spürte er einen kalten Luftzug, der ihn daran erinnerte, daß das Schlafzimmerfenster noch offen stand. Long ging, um es zu schließen. Er trat in dicke, klebrige Dunkelheit, überrascht hielt er sich am Türrahmen fest. Die große tönerne Tischlampe neben dem Bett gab kein helleres Licht von sich als eine Notbeleuchtung. Dort lag die rundliche Gestalt von Marty, 73
wie er sie verlassen hatte, aber sie war zusammengerollt und hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen. Es herrschte Kälte, bittere Kälte, und ein schlechter Geruch. Das Jammern wurde lauter, begleitet von einem undefinierbaren Grollen und Geklapper. Es schien von Marty auszugehen. Long zischte scharf, ohne sich dessen bewußt zu sein. Dann stürzte er durch den Raum auf das Kind zu. Der Schlafanzug war feucht, die Haut kalt. Sie fühlte sich steif an. Atmete sie überhaupt noch? Er warf sie auf den Rücken und zerrte die winzigen, kurzfingrigen Hände vom Gesicht. Dann zuckte er zurück, denn es war nicht Martys Gesicht, das er im Rahmen ihres flusigen hellen Haars erblickte. Es war gröber, wulstiger, mit einem schlaffen Mund, einer hohen Stirn und starren runden Augen. Das Gesicht eines Trolls. »Marty!« Er umfaßte mit seinen langen Händen ihre Schultern und schüttelte sie. »Marty! Was ist los?« »Was denn?« fragte sie ärgerlich. Das Jammern und die Kälte verschwanden, und eine süße Sommerbrise wehte die Vorhänge gegen das Fenster. »Was ist denn los, Daddo?« Long gab keine Antwort. * Was für ein Publikum! Martha fand es ungewöhnlich, als sie merkte, daß sie den Leuten in dem Bemühen, mit der 74
Harfe Takt und Tonlage zu halten, den Rücken zugedreht hatte. Nur selten fühlte sie sich bei einem Konzert so sicher. Bei bestimmten unruhigen Vorstellungen im Mittelwesten hatte sie kaum gewagt, den Blick abzuwenden. Aber diese jungen Leute mit ihren bunten Kleidern saßen da wie artige Kinder in der Kirche. Allerdings klatschten sie vollauf begeistert. Was für Manieren! Doch dann kam ihr der Gedanke, daß sie vermutlich alle einer ausgeprägten politischen Überzeugung anhingen oder einen Doktorgrad in Geschichte hatten, und daß die Gruppe morgen in der Zeitung als bourgeoise Revisionisten heruntergemacht würde, doch das schob Martha entschlossen von sich. Morgen war ein neuer Tag. Es gab einen Moment, in dem sie Zeit hatte, sich mit einem Leinentaschentuch, das sie extra für diesen Zweck bereit hielt, den Schweiß vom Gesicht zu wischen. (Wenigstens brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, daß Mayland es ihr stibitzen könnte; krank oder nicht, er fand Taschentücher barbarisch.) Ihre Konzentration wurde von kleinen harmlosen Gedanken durchschwirrt wie von Insekten. Wie hell die Scheinwerfer waren – wie die Nachmittagssonne auf dem Pier. Sie hoffte, ihr Kleid würde keine Schwitzflecken aufweisen. Georges Mundstück klang unsauber. Ha, er hatte es gemerkt und setzte ein paar Takte aus. Da war er wieder. Besser. Hatte jemand versucht, dem guten alten George etwas anzutun? Etwa einer der anderen Fäden in diesem wunderbaren Muster? Martha konnte diese Möglichkeit in 75
diesem Augenblick nicht einmal weiterdenken. Vielleicht, um seiner verfluchten Unfreundlichkeit eins auszuwischen – ja, das war möglich. Natürlich nur metaphorisch gesprochen. Oder war es George selbst, der die komplizierte Falle aufgestellt hatte? Aber warum? Um Aufmerksamkeit zu erlangen? Um Pádraig in Schwierigkeiten zu bringen? Martha schob die Gedanken von sich. Als nächstes folgte in dem Programm, auf das sie sich geeinigt hatten, ›Kid on the Mountain‹ Sie warf Pádraig einen bewußt neutralen Blick zu, merkte, daß er sie ansah und wandte sich wieder ab. George, der bei diesem Stück den Anfang machte, füllte die Bälge seines Dudelsacks. Aber er hatte nicht das Knierohr in den Armen, sondern sein polnisches Instrument aus Ziegenleder. Bei dem anderen war das Mundstück wohl sehr schlecht, daß er wechselte. Wenn er nicht aufpaßte, würden sie alle feucht. Martha hörte schon beim ersten dröhnenden Ton, daß etwas nicht stimmte, aber es dauerte gut zwei Takte, bis ihre Ohren ihr verrieten, was es war. Das polnische Instrument war im Vergleich zu den anderen Instrumenten, die sie benutzten, einen Halbton höher gestimmt, vor allem zum Akkordeon, das man nicht stimmen konnte. Das war ein großes Problem, denn Pádraig sollte als nächster einsetzen, mit einem Solo, das er erst gestern verpatzt hatte. Sicher würde George es selbst merken … Sie warf Pádraig einen Blick zu und formte mit den Lippen das Wort: ›Nicht!‹, während sie die Fiedel ansetzte. Aber der junge Mann blickte gerade nicht in ihre Richtung. 76
Sein Gesicht wirkte besorgt und überrascht, und er machte sich bereit… Verdammt! Martha biß sich auf die Lippe. Sie hätte an Pádraigs Stelle einfallen und den Halbton mit den Fingern ausgleichen können. Wenn sie ganze Töne vermieden hätte, bis die Flöten ihren Part beendeten, hätte sie anschließend zur Tonlage der anderen modulieren können. Doch jetzt war es zu spät. Da kam das Akkordeon, im Takt und perfekt, doch es klang stumpf und falsch, als spiele es, und nicht die Pfeife, in der falschen Tonlage. Pádraigs Gesicht war feucht. Dann zupfte die Gitarre eine Reihe ungeprobter und sehr vernehmlicher Hauptakkorde, die mit dem Akkordeon stimmig waren. Martha warf Ted einen dankbaren Blick zu. Wenn sie jetzt falsch klangen, würde wenigstens dem Jungen nichts passieren. Die Harfe fügte ein paar sehr schwere Baßquinten hinzu, und jetzt war es die Dudelsackpfeife, die über dem Rest der Musik schrill und blechern klang. Martha drehte sich nun zum ersten Mal um und warf George St. Ives einen staunenden und vorwurfsvollen Blick zu. Doch sein struppiger Kopf war mit geschlossenen Augen über das Instrument gebeugt. Martha fragte sich, ob es vielleicht keine Ausfälligkeit gegenüber Pádraig bedeutete, sondern nur, daß der Mann betrunken war. Aber selbst wenn das Publikum ausschließlich aus marxistischen Traditionalisten bestanden hätte, wie Martha befürchtet hatte, es war musikalisch nicht besonders anspruchsvoll, denn man tanzte in den Gängen und hatte unten vor der Bühne einen Kreis gebildet. 77
Der Dudelsack setzte vor der verabredeten Stelle aus. Hatte George es endlich gemerkt? Elen und Ted blickten Martha fragend an. »Ach, zum Teufel«, sagte sie laut vernehmlich, und die Gruppe spielte fünfzehn Minuten lang teuflisch gut und begeistert weiter. * Irgendwie dauerte das Konzert eine Stunde länger als gewöhnlich. Martha schwebte vor Begeisterung und Müdigkeit. Ihre Finger zitterten. Sie legte die Geige in den Kasten und sah sich nach Pádraig um, der bestimmt verschwinden würde, wenn man ihn nicht schnappte. Er stand am Fuß der Treppe und war bereits abgefangen worden. »Was bist du? Ein Tscheche? Hörst dich so tschechisch an, wie mein Schwager. Der spielt auch Akkordeon.« Es war eine mütterlich aussehende Frau mittleren Alters in einer Samtdjellabah mit sehr weiten Ärmeln. Pádraig grinste: »Ich stamme aus Minnesota. Entschuldigen Sie mich.« Er drängte sich weiter und benutzte sein Instrument als Rammbock. Martha versuchte, ihm zu folgen und landete direkt vor der mütterlich aussehenden Frau, von der sie als eine der Musikerinnen erkannt wurde. »Er ist kein Tscheche? Irgendwas Ähnliches?« Martha schüttelte den Kopf. »Nein, nicht im entferntesten. Tut mir leid.« 78
»Oh! Und Sie sind keine Irin?« Die Frau konnte die Enttäuschung in ihrer Stimme kaum verhehlen. »Nein, keiner von uns«, sagte Martha und versuchte, sich vorbeizudrängen, ehe Pádraig verschwand. Als sie den freien Gang erreichte, hörte sie, wie die selbe Stimme fragte: »… aber wer war Macnamara? Den habe ich gar nicht gesehen.« * Elen Evans schob sich an Ted vorbei auf die Bühnentreppe, wobei sie ihn fast umwarf. Er sah ihr auf dem Gang in die Garderobe mit einem nur leichten Anflug von Ärger in seinen spanielbraunen Augen nach, denn Ted war anderen Menschen gegenüber unendlich geduldig. Er brauchte fast eine Viertelstunde, um sich einen Weg durch die Leute zu bahnen, die mit ihm reden wollten, denn Ted schnitt nie jemandem das Wort ab. Er freute sich, wenn er mit Menschen sprechen konnte, und Fremde interessierten ihn mehr als enge Freunde. Er konnte von allen Mitgliedern der Gruppe am besten die Herkunft der einzelnen Stücke erklären, denn Ted war höflich, und solche Dinge lagen ihm am Herzen. Als er die Doppeltür hinter sich geschlossen hatte und den Gang zur Garderobe hinabging, lag ein breites, ungezwungenes Lächeln auf seinem Gesicht, und in seiner Tasche steckten drei neue Telefonnummern. Er blieb vor der Garderobentür stehen, um den schweren Gitarrenkasten von der rechten in die
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linke Hand zu wechseln, und hielt dann, mit der Hand auf dem Türknauf, inne. Es war Georges Stimme, und sie sagte: »Du weißt, Elen, wenn ich die Pest bekäme, würdest du vermutlich denken, ich hätte das absichtlich gemacht, damit du dich ansteckst.« Die Antwort von Elens Stimme klang zu schrill und schnell, um verstanden zu werden. Ted stand unentschlossen da, eine Hand auf dem Türknauf, während seine Gitarre ihm schmerzhaft die linke Schulter nach unten zog. »Danke für den Ausdruck des Vertrauens, meine Liebe. Aber manchmal sind meine Fehler einfach Fehler. Verstehst du? Wie Menschen sie nun einmal machen. Ich hatte den polnischen …« Der unfreiwillige Lauscher verstand nichts von Elens Antwort, abgesehen davon, daß sogar ein Hund die Stimmlage der Pfeife erkannt hätte. Darauf erwiderte St. Ives: »Nun, da befinde ich mich in der glücklichen Lage, dir widersprechen zu können, weil ich so sauer bin wie ein Hund, und das solltest du wissen. Erklär mich ja nicht zu deinem persönlichen kleinen Teufel, Elen. Ich tue nichts, was der Gruppe schaden könnte.« Ihre einsilbige Antwort klang überdeutlich durch die Tür. »Nein, du Hexe! Es bedeutet mir etwas. Wenn du auch nur eine Minute lang mit klarem Kopf darüber nachdenken würdest … es war nicht gerade einfach für mich, alles stehen und liegen zu lassen, um mich dieser Gruppe 80
anzuschließen. Ich wollte ein einziges Mal mit der alten Geigerin spielen. Ich bin vielleicht nicht perfekt, aber ich … ich halte meine Versprechen ein.« Von der Halle her näherten sich Schritte. Ted mußte die Tür öffnen, sonst würde er erwischt. Er öffnete sie. Elen wandte sich ihm mit aufgerissenen Augen zu. Er erwartete, Wut in ihrem Gesicht zu finden, aber sie wirkte beunruhigt und ängstlich. St. Ives hielt den büffelschweren Kopf über seine Instrumente gebeugt. Ted legte die Gitarre auf den Tisch, zog eine übertriebene Grimasse des Schmerzes und spreizte die Finger. »Meine Freunde und Nachbarn. Ich brauche einen anderen Koffer für mein Baby. Der hier bedeutet für jeden den Overkill, außer man schmeißt ihn aus einem Flugzeug.« Elen zwinkerte, als habe sie Teds Worte nicht verstanden, und wischte sich unter dem Pony die Stirn. Ihr zielloser Blick wanderte über ihn hinweg, als sich die Tür erneut öffnete, um Mayland Long einzulassen, der die Dreifachharfe unter dem Arm trug. Er trug ein Sportjackett, ein weißes Hemd und Flanellhosen, seinen gewöhnlichen Freizeitlook. »Hat irgend jemand Donald Stoughie gesehen?« fragte er. Elen starrte ihn an, und St. Ives schüttelte den Kopf. »Weiß überhaupt nicht, wer, zum Teufel, das ist.« »Das ist der Agent hier. Er sollte nach der Show mit unserem Geld hier sein. Bei der Kasse weiß man nicht, wohin er ging. Ich mache mir Sorgen.«
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Drei Leute blinzelten ihn an und wirkten hilflos. Seufzend stellte Long das Instrument in eine Ecke und ging wieder hinaus. Elen folgte ihm. Sie holte ihn draußen auf dem Gang ein, wo er sich gegen eine schmutzige Wand lehnte und ins Leere starrte. Er hatte die Hände in den Jackentaschen geballt, eine Haltung, die, wie Elen gemerkt hatte, für ihren Manager charakteristisch war. Sie fand das schade, denn lange Finger stellten gewiß keinen Makel dar. »Sind Sie wirklich über Stoughie in Sorge, oder hat sie ihnen erzählt, was da oben passiert ist?« Er blickte auf, und seine Augen wirkten in dem dunklen Gesicht fast farblos. »Sie hat mir nichts erzählt, nur, daß sie das Zimmer brauchte, um … mit ó Súilleabháin zu reden. Ich kam nur her, um den Agenten zu treffen.« »Oh, ich dachte, Sie sähen wütend aus über … etwas anderes.« Elen fühlte sich ein wenig albern. Long, der ebenso groß war wie sie, blickte sie an und lächelte. »Nein, Sie sind es, die wütend aussieht. Ich sah… ich weiß nicht, wie ich aussah, aber gewiß war ich nicht wütend. Worüber werde ich denn wütend sein, wenn ich es erfahre?« Elen zuckte die Achseln und warf den Kopf in den Nacken. »Ach, Scheiße. Ich weiß es nicht. Gar nichts, vermutlich. Vielleicht wird sie es ihnen sagen. Ich muß Pat finden.« »Sie ist wohl die Küchenkatze«, antwortete Long lächelnd. »Pádraig finden Sie bei Martha Macnamara.« Er
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sah Elen nach, die die Halle durch den Vordereingang verließ. Long benutzte die Hintertür. Trotz seiner Kritik fand er es angenehm, wenn die Leute Martha mit einem kursiven Pronomen bezeichneten. Doch sein Lächeln verschwand rasch, und Long blieb noch ein paar Minuten an die Wand gelehnt, während die Erscheinung in dem Hotelzimmer in seiner Erinnerung immer mehr verblaßte. Dann kamen Ted Poznan und George St. Ives zusammen vorbei. »Ich kann helfen«, hörte er Ted sagen. »Ich kann wirklich helfen.« Long begrüßte sie nicht, und sie blieben auch nicht stehen. Er hörte, wie jemand Licht ausknipste. Er würde wirklich diesen Agenten finden müssen. Vorsichtig putzte er seine wunde Nase und ging allein fort.
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Nebeltau Die Verbindungstür zwischen den Zimmern im Hotel stand offen, und alles lag still im ersten Tageslicht. In einem Zimmer schlief Marty Frisch-Macnamara in der Mitte eines Bettes, das viel zu groß für sie war, so daß es ihr nicht einmal gelungen war, die Decken zu knittern, während ihre Großmutter mit gekreuzten Beinen in der Ecke auf dem Boden saß, den Po auf einem Stapel brettharter Hotelkissen, die Knie auf dem Teppich. Long schlief in dem anderen Zimmer. Er hatte mit beiden etwas gemeinsam, weil er so flach ausgestreckt lag wie Marty und so hellwach war wie Martha. Ein dunkler Arm lag über der Decke und glänzte vor Schweiß, während der Rest seines Körpers unter vielen Schichten von Decken verborgen war. Gelegentlich zitterte er heftig, und zuweilen schloß er die geröteten Augen. Der Grippevirus hatte seinen Höhepunkt erreicht, und er litt. Martha hörte ihn niesen. Er nieste wieder und wieder, was sich zu einem derartigen Anfall steigerte, daß man kaum noch sagen konnte, wann ein Nieser aufhörte und der nächste begann. Alles endete in einem großen Schniefen. Das ganze hörte sich an wie das Dröhnen des großen Gongs beim Zendo, so daß Martha sich verbeugte, sich von einer Seite auf die andere wiegte und gähnend aufstand. Sie fand ihn aufrecht im Bett sitzen, nackt bis zur Hüfte und schweißglänzend, was ihn von den weißen Laken stark 84
abhob. Zerknüllte Papiertaschentücher umgaben ihn wie einen Gott ein Blumengeschenk »War eine schlimme Nacht, mein Schatz, nicht wahr?« Er sah sie entschuldigend an. »Ich habe dich wach gehalten, oder?« Martha schüttelte den Kopf so heftig, daß ihr Haar in alle Richtungen flog. Sie setzte sich auf die Bettkante, um das Opfer einzusammeln. »Eigentlich hält mich nie etwas vom Schlafen ab. Nichts in der Welt. Vermutlich bin ich von Natur aus sehr selbstsüchtig. Aber wie geht es dir heute morgen? Ist es besser?« Er rieb sich mit den Fingerspitzen die geschwollenen Augen. »Martha, ich kann mir nur eine einzige Möglichkeit vorstellen, wodurch es mir besser ginge, und das ist, meine Haut abzustreifen und sie hinter mir zu lassen.« Sie zuckte leicht zusammen und ließ die Sammlung von Papiertaschentüchern in die große braune Einkaufstüte neben dem Bett fallen, die bereits mehr als halbvoll war. »Warn mich aber vorher, wenn du das tust.« »Ich glaube nicht, daß ich es versuche«, gab er zurück, und weil seine Stimme so warm und tief klang, enthielten diese wenigen Worte ein ungeheures Pathos. Er lehnte sich wieder zurück, schloß die Augen und zog die Decke hoch. Martha glitt vom Bett und trat zum Fenster, das sich erst nach einem heftigen Rucken öffnete. Eine morgendliche Meeresbrise drang ins Zimmer und ließ sie merken, wie muffig es dort gerochen hatte. »Warum bleibst du nicht einfach im Bett, Mayland, und läßt mich alles regeln, was heute erledigt werden muß?« Sie wehrte möglichen 85
Protesten, indem sie hinzufügte: »Ich habe das lange Zeit immer alles selbst gemacht.« Er seufzte tief. »Ich stehe mittendrin, Martha. Wie kann ich dir alles erklären? Stoughie muß gefunden werden, dann die Zimmerbestätigung für Los Angeles und …« Da fiel Martha etwas ein, und sie schnitt ihm das Wort ab: »Hast du eigentlich herausgefunden, warum er zuwenig brachte? Die fünfhundert?« Vom Bett her erfolgte nur Schweigen. Sie drehte sich um und sah, daß Long zur Decke starrte. »Ich glaube, ja«, antwortete er schließlich. »Was war es denn? Hast du dich verzählt?« Schnell verbesserte sie sich: »Nein, nein, natürlich hast du dich nicht verzählt. Was war es also?« Um den Deckenrand erschienen zwei dunkle Hände, bogen sich und trommelten einen Takt. »Ich … ich rede nicht gern über Dinge, solange ich mir nicht selbst sicher bin, Martha. Es kann mehr schaden als nützen, verstehst du?« »Oh.« Und sie überging gelassen die Angelegenheit und trat zum Schrank, um nachzusehen, ob sich die Falten in ihrem Lieblingskleid ausgehängt hatten. »Mist. Ich muß es bügeln. Aber wir konnten von der Landaman-Halle auch nichts Gutes erwarten, wenn wir in ihr spielten, nicht wahr? Wegen des Nordeingangs oder der Straße oder was auch immer.« Marthas Oberkörper war wieder zwischen Longs Anzügen und ihren Kleidern verschwunden, und von 86
hinten sah sie nicht gerade vornehm aus. Doch Long gefiel es, trotz seiner Krankheit. Errötet und siegesbewußt tauchte sie wieder auf, schwenkte in der einen Hand ein Dampfbügeleisen und in der anderen das Kleid. »Ich weiß vermutlich nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen soll, wenn diese Tournee vorbei ist. Es sei denn, Elizabeth verpflichtet mich, ihr beim Mauerverputzen zu helfen. Ich hasse es, Mauern zu verputzen.« Long erwiderte ohne die Augen zu öffnen: »Du könntest es doch einmal damit versuchen, mich zu heiraten. Damit hättest du schon einen Nachmittag herum.« Martha krähte wie ein Hahn. »Ha! Wenn du einen Nachmittag glücklich sein willst, heirate. Wenn du aber dein Leben lang glücklich sein willst, schlachte Schweine. Oder so ähnlich – mein Gedächtnis für Sprichwörter ist noch schlechter als für Liedertexte.« Immer noch amüsiert darüber schoß sie ins Nebenzimmer, um nach Marty zu schauen. »Sie schläft noch immer tief und fest? Kein Wunder! Vermutlich, weil sie die ganze Nacht immer wieder aufgewacht ist und von Judy gebrabbelt hat.« »Du sagtest eben, daß dich nichts aus deinem Schlaf reißen könnte«, bemerkte Long sarkastisch. »Nichts, außer Babys. Ich kann nichts dafür, daß ich einmal Mutter war, dazu noch eine herumreisende.« Martha füllte das Dampfbügeleisen unter dem Badezimmerhahn und rief: »Sonst machst du deine Heiratsanträge immer mit mehr Schwung, Mayland.« 87
»Gewöhnlich weist du mich auch heftiger zurück.« Dann fragte er mit verändertem Tonfall: »Wer ist diese Judy, über die Marty im Schlaf brabbelt?« Marthas Kopf tauchte im Türrahmen auf. »Ich weiß es nicht. Irgendeine Freundin vermutlich. Vielleicht war es der Babysitter von gestern. Warum?« Long spielte auf der Decke seine Tonleitern, ohne seine Hände oder Martha anzublicken. »Der Name des Babysitters war Sandy, erinnere dich. Judy … hat Angst vor George St. Ives wurde mir erzählt.« Martha kam aus dem Badezimmer, und das Dampfbügeleisen stieß Wölkchen aus wie eine Zigarette. »Hast du eigentlich von dem Problem gehört, das wir gestern mit George hatten?« »Ich erkannte mit einem Blick auf Elens Gesicht, daß es Probleme gegeben hatte. Ich hätte mir denken können, daß es mit George zu tun hatte, aber gehört habe ich nichts Bestimmtes.« »Was war also, Schätzchen? War Marty quengelig? War sie sehr schwierig?« Long stieß einen leisen, ungewöhnlichen Laut aus, als würde ein Kessel pfeifen. »Nein, mit Marty war alles in Ordnung. Es war… Ich rede eigentlich nicht gern über Dinge, über die ich mir nicht wirklich sicher bin.« Martha riß beide Augen weit auf. »Du meinst also, daß Marty die fünfhundert Dollar genommen hat?« Long lachte, begann aber natürlich sofort darauf wieder zu husten. 88
* Ted beobachtete einen hellen Streifen über dem Meer, fast an der Grenze seiner Sichtweite. Vermutlich war es Nebel, der vom Westen her in die Monterrey-Bucht drang. Er war froh, früh aufgestanden zu sein, denn die Sonne war für seinen Tagesablauf sehr wichtig. Er zog sein Hemd aus, obwohl es erst halbzehn war und am Strand immer noch morgenkühl, und legte es sorgfältig auf die plattgedrückte Tasche, die seinen Saft und den schwarzen Kaffee seines Begleiters enthalten hatte. Nachdem er sich energisch gestreckt hatte (und seine Bewegungen mußten bei den Temperaturen energisch sein), begann er sein Prana Yoga. George St. Ives beobachtete diese Demonstration mit halbgeschlossenen, rötlichen Lidern. Er trug unter seiner Jeansweste zwei Wollpullover und hatte die Arme verschränkt. »Wenn du dir die Nase schneuzt, mach das doch bitte in den Sand und nicht auf mich.« Ted lächelte glückselig. »Du weißt genau, was ich tue, George. Es gibt nichts Besseres als Seeluft, um dein Rückgrat in Schwung zu bringen. Was sind wir denn anders als lange, schlangengleiche, biegsame und sehr empfindliche …?« »Ich sehe mich lieber als eine schleimige Röhre mit einem Mund an einem und dem Arschloch am anderen Ende.« St. Ives lehnte sich an die Betonmauer und schloß die Augen. Mit seiner flachen Nase und dem dichten 89
Haarschopf ähnelte er einem Bison, das einem schlimmen Windsturm standhält. Ted Poznan rieb sich die Arme und rückte ein paar Zoll von dem Stützpfeiler ab in die Sonne. »Hey, auch das kann ich resonanzmäßig verarbeiten. Essen und scheißen, essen und scheißen … ist nur ein Rhythmus wie jeder andere. Wie die Jahreszeiten, und auf seine Weise heilig.« St. Ives stöhnte, Poznan rückte dichter zu ihm. »Aber du solltest dich dadurch nicht eingeengt fühlen. Du kannst ebenso eine magische Schlange wie ein Arschloch sein, wenn das dein Karma ist.« Ein schriller, dünner Schrei, nicht ängstlich, sondern wütend, veranlaßte beide Männer aufzublicken und aufs offene Wasser zu starren. Entlang der Linie zwischen trockenem und feuchtem Sand spazierte eine warm verpackte Familie. Ein großer Hund, dem etwas aus dem Maul hing, galoppierte unbeholfen von seinem Herrn fort und aufs Land zu. Er sah die beiden Männer am Fuß der niedrigen Kaimauer und wurde durch Neugier oder den Geruch ihres Frühstücks von seinem Weg abgelenkt. Es war ein Mischling mit Doggenblut. Sein Gesicht mit den schlaffen Lidern und den faltigen Backen sah dem St. Ives' sehr ähnlich. Die beiden Wesen starrten einander eindringlich an. Der Hund kaute auf dem Kinderpullover, den er im Maul hielt. »Gib ihn her, Bursche«, sagte Ted. »Komm schon, Junge. Das Baby braucht seinen Pullover. Sei ein guter Bursche. Gib ihn her.«
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Der Hund lächelte Ted an und schlenkerte den Pullover scherzhaft hin und her. Ted streckte die Hand danach aus, konnte ihn aber nicht packen. Der Hund führte einen kleinen, schwerfälligen Tanz auf. »Gib's her!« St. Ives sprach diese Worte nicht laut, aber mit einem drohenden Unterton. Der Hund ließ den Pullover fallen, und St. Ives ließ ihn im Sand liegen, bis der Besitzer davon herantrollte. Der Junge, etwa sechs Jahre alt, sah St. Ives unsicher an, der ihm einen Blick schenkte, nicht unähnlich dem, den er auf den Hund gerichtet hatte. Wortlos nahm der Junge seinen Pullover und rannte fort. »Hast du mir die Drogen besorgt?« Als St. Ives diese Frage stellte, fegte ein sehr kalter Windstoß über den Strand und blies ihnen Sand ins Gesicht. Ted zog sich rasch sein Hemd über. »Ich habe etwas Besseres als Drogen, George. Etwas viel Besseres.« »Verdammt!« St. Ives schlug mit der Faust in den Sand. »Ich will keine verfluchten ›Trips‹ von dir. Weder den dämlichen Feldenkreis noch irgendeine andere Sojasoßenreligion. Du weißt, was ich brauche!« Ted antwortete sehr nüchtern: »Ja, du brauchst ein besseres Körpergefühl.« »Ich will ein einziges Mal keine Schmerzen haben!« Ted schwieg fünf Sekunden lang und lauschte dem Dröhnen des Meeres. Dann holte er tief Luft und begann: »Du bist unterernährt, übergewichtig und ein Alkoholiker, George. Du mißhandelst seit zwanzig Jahren diese arme … arme schleimige Röhre deines Körpers.«
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»Fünfunddreißig!« verbesserte ihn George St. Ives leicht giftig. »Was hast du also zu bieten? Sojabohnensprossen?« Ted schüttelte den Kopf, und der Wind hob eine seiner gebleichten Strähnen. Seine Haut hatte von der Sonne einen Farbton zwischen beige und pfirsich angenommen. Jede Bewegung und jeder Zug an ihm, muskulös und entspannt, tat St. Ives weh. Der Gitarrist zog aus seiner Hosentasche eine Plastiktüte mit einer Kapsel. »Drogen«, bemerkte St. Ives erleichtert. Er nahm die Kapsel und befühlte sie, als sei die grüngelbe Farbe der Hülle an sich schon wertvoll. »Das ist keine Droge, sondern etwas anderes. MDM.« St. Ives kniff die Augen zusammen. »Ich brauche keine Halluzinationen, Teddy. D.T's sind schon schlimm genug.« »Es handelt sich nicht um Halluzinationen. So funktioniert Adam nicht. Es ist… ein wenig wie die Sonne selbst. An den Stellen in dir, wo sich die Dinge versperrt haben oder verfault sind, öffnet es dich.« »Wie ein Abführmittel?« Ted sah ihn leicht vorwurfsvoll an. »Warum nicht? Wie ein Abführmittel. Aber ohne Bauchkrämpfe. Es fördert die Heilung. George, glaub mir, ich habe es auch genommen, und manchmal war ich so daneben und unzufrieden mit mir, und dann .., man fühlt sich so gut, du kannst es mir glauben!« St. Ives spielte weiter nachdenklich mit der kleinen Plastiktüte, bis Ted ihn bat, sie fortzustecken. Da hob sich der schwere Kopf, und die geröteten Augen blickten fordernd. »Was ist es, Teddy? Klasse eins?« 92
Ted Poznans Körper versteifte sich einen Sekundenbruchteil vor Wut. »Bis zum letzten Jahr war es ebenso legal wie Aspirin. Aber faschistische Narkos haben es in dieselbe Klasse eingestuft wie Heroin. Es gab keine Entschuldigung, keine Erklärung. Keine öffentliche Anhörung. Und das haben sie nur gemacht, damit sie groß absahnen konnten. Sie haben die Leute und die Orte beobachtet, wo damit geheilt wurde, und dann zugeschlagen. Sie haben gewettet, daß mindestens einer von dreien weiter versuchen würde, es zu nehmen. Das war leichtes Spiel!« »Klasse eins«, wiederholte St. Ives und ließ den Rest der Worte an sich vorübergleiten. Die Kapsel wanderte in seine Tasche. »Bei dem Risiko ist es die Sache wohl wert.« Er stand auf, fegte den Sand von seinen Kleidern, ließ etwas in Teds Schoß fallen und schlurfte über den Sand davon. Ted starrte auf die Rolle aus Geldscheinen. »Hey! He! George, ich will das nicht! Hey!« Er rannte drei Schritte hinter St. Ives her, doch dann schoß er, ein wahrer Kaliformer, zurück, um ihren Unrat einzusammeln. »Hey, so leicht ist das nicht, George. Ich muß dir dazu noch einiges sagen. Du darfst bestimmte Dinge dabei nicht zu dir nehmen…« Der Wind wehte stärker und ließ die Gischt aufspritzen. Als Ted George St. Ives endlich einholte, legte sich der Nebel auf den Strand. ٭
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Mayland Long saß auf der Bank an der Bushaltestelle vor Mr. Stoughies Büro, wohin ihn sein unbeugsamer Wille gebracht hatte. Unbeugsam, aber vielleicht nachteilig, überlegte er, während er die umherschlendernden Menschen unter den blühenden Bäumen der Pacific Mall betrachtete. Für den Kranken sahen sie alle sehr sonderbar aus. Aber vielleicht waren sie wirklich alle komisch. Zum Beispiel dieser Mann mit dem schlecht sitzenden Anzug und dem Mohikanerschnitt. Wäre er nicht so dick gewesen, er hätte leicht bedrohlich gewirkt. Long betrachtete aus den Augenwinkeln eine ältere Frau mit einem grellbunt bedruckten Kleid und versuchte, zu entscheiden, ob sie verrückt war oder einfach geschmacklos. Er fühlte sich nun wirklich krank, und jede warme Brise ließ sein Fieber steigen, und jeder kalte Luftzug ließ ihn vor Kälte zittern. Seine aufgeschürfte Wange und die Rippenprellung schmerzten. Und das Atmen kostete erhebliche Mühe, weil beide Nasenlöcher verstopft waren. Martha hatte recht gehabt. Natürlich. Aber er hatte nicht die Absicht, Martha diese Aufgabe zu überlassen. Solche Dinge erledigte er am besten selbst. * Don Stoughie, der Buchungsagent für die Landaman-Halle, war ein Mann von vierzig Jahren und gewöhnlich gepflegtem Äußeren. Sein dünner werdendes Haar war in einem Stil geschnitten, der weder Old noch New Age verriet, und die mexikanischen Hochzeitshemden, die er 94
über seinen engen Jeans trug, wurden in einer Wäscherei gewaschen und gebügelt. Er war ein typischer Geschäftsmann aus Santa Cruz. Stoughie schenkte dem gebeugten dunklen Mann an der Bushaltestelle keinerlei Aufmerksamkeit, denn er hatte es schon lange aufgegeben, die Leute auf der Straße zu beobachten. Er steckte den Schlüssel ins Türschloß und öffnete. Halbwegs auf der Treppe hörte er hinter sich ein Geräusch, drehte sich um und sah den alten Mann hinter sich herkommen. Einen Moment lang verlor er die Nerven. »Was wollen Sie?« fragte er. Long stieg drei weitere Stufen hinter ihm her und blieb unter dem Treppenhausfenster stehen. Stoughie, der seine offensichtliche Harmlosigkeit erkannte, entspannte sich ein wenig. Aber nur ein wenig, denn der Kontrast zwischen Longs Gesicht und seiner Hautfarbe beruhigte ihn nicht gerade. Doch der Rohseidenanzug tat seinen Dienst. »Tut mir leid, an dunklen Orten werde ich leicht nervös.« »Wie unglücklich. Es gibt so viele dunkle Orte.« Stoughie war im Bilde, als er die Stimme hörte. »Long, nicht wahr? Wir haben letzte Woche miteinander telefoniert. Macnamaras Manager?« »Manager bei dieser Tournee«, verbesserte ihn Long. »Niemand managt die Fiedlerin, außer sie selbst.« Er ging weiter die Treppe hinauf und zwang auf diese Weise Stoughie, der keine andere Wahl hatte, nach oben. Das Büro war klein und staubertrunken. An der Wand hingen ein Poster vom Big Basin Redwoods Naturschutzpark unter schlechtem Glas und eine Karte von Santa 95
Cruz. Long ließ sich ungebeten in einen der Korbstühle an der Wand fallen, unmittelbar neben einem niedrigen Tisch, auf dem ein breites, flaches Buch lag. Man konnte beim Licht durch das einzige Fenster den Titel nicht erkennen. Long merkte jedoch, daß ein Fingerstrich durch die Staubschicht alles deutlicher erkennbar machte. Grundstücksinvestitionen Monterrey-Bucht. Eine MonterreyKiefer vor dem Sonnenuntergang und natürlich dem Ozean. »Komisch«, sagte Stoughie, der sich hinter seinem Schreibtisch niederließ. »Ich hatte aufgrund Ihrer Stimme geschlossen, Sie seien viel größer.« Longs geschwollene Augen blickten ausdruckslos, als er antwortete. »Ich habe eine Erkältung, Mr. Stoughie. Dabei bin ich beträchtlich zusammengeschrumpft.« Stoughie brummte mitfühlend. »Das nehme ich Ihnen gern ab. Jedesmal, wenn ich Grippe habe, werde ich zehn Zentimeter kleiner und nehme zehn Pfund ab.« Stoughie schlug sich nachsichtig gegen die Seite, als habe er nichts dagegen, am morgigen Tag Grippe zu bekommen. »Man sagte mir, es sei keine eigentliche Grippe, sondern nur ein Erkältungsvirus.« Longs Stimme klang einen Hauch bekümmert. »Ich werde mein Bestes tun, um eine Ansteckung Ihrerseits zu vermeiden. Doch da es Ihnen nicht gelang, wie verabredet gestern abend im Theater zu erscheinen …« Stoughie schob das Kinn vor. »Hatten Sie das wirklich erwartet?« »Verzeihung?« 96
»Nach der Schweinerei, die ihr Leutchen aus meinem Theater gemacht habt?« Stoughie hatte arktisch-blaue Augen, doch ihre Wirkung wurde durch ein Zucken seines linken Mundwinkels beeinträchtigt. »Ich habe noch keine Schätzung des Schadens bekommen, aber wenn ich sie in den Händen halte …« In Longs Ohren summte es. Einen Moment lang zweifelte er, ob er den Mann richtig verstanden hatte. Der Virus war für so vieles verantwortlich. »Wenn Sie die Tür meinen, die mir aus der Hand flog …« »Eine Sicherheitstür, die man auf tausend Dollar veranschlagt, und das ist nur …« Long richtete sich auf wie eine Kobra, die gerade zustoßen will. »Das war nichts weiter als eine ganz normale, hohle Innentür, wie ich zufällig ganz genau weiß, Mister Stoughie. Darüberhinaus gibt es keinerlei Hinweis darauf, daß dieser bizarre Trick oder diese Falle mit einem Mitglied von Macnamara's Band in Zusammenhang steht. Weiterhin …« Stoughie gab ihm einen ironischen Blick von der Seite. »Geschenkt. Jeder weiß doch über euch Jungs Bescheid. Musiker unterwegs. Das ist doch nicht das erste Mal.« Longs Wut drohte sich in Staunen aufzulösen. Das Summen in seinen Ohren wurde lauter. »Ich muß Ihnen versichern, daß es das erste Mal ist, daß wir irgendeiner Ungebührlichkeit bezichtigt werden. Die Gruppe existiert erst seit wenigen Monaten, und überhaupt handelt es sich um eine Folk-Band und nicht um die ›Who‹. Doch sollten 97
Anschuldigungen fallen, so meine ich, daß ich, der in Ihrem Theater zum Stolpern gebracht wurde und verletzt wurde …« »Ich vertrete es lediglich«, antwortete Stoughie unerwarteterweise. »In Ihrem Theater verletzt wurde, während ich versuchte, für die Sicherheit unserer Ausrüstung zu sorgen, und zwar von einer dritten Partei.« Long verhedderte sich zwischen den Satzzeichen seiner eigenen Rede. Sein Blick wurde durch eine kleine Bewegung vor dem Fenster von dem Agenten abgelenkt. Es war ein Kolibri. Ein hübscher kleiner Kolibri, der seinen Schnabel in eine Geißblattblüte versenkte, die auf der Fensterbank wuchs. War das das Summen in seinen Ohren gewesen? Long verspürte eine verzweifelte, einsame Sympathie für diesen Kolibri. Nur mit äußerster Anstrengung konnte er seine Aufmerksamkeit wieder auf Stoughie richten. Der andere Mann richtete sich auf und riß die blauen Augen weit auf. »Mach ja keinen Quatsch, Bursche«, sagte er wie in einem schlechten Film. »Du könntest die Hitze nicht aushalten.« Long starrte ihn nachdenklich an. »Oh, mit der Hitze hatte ich noch nie Probleme, Mr. Stoughie. Es ist diese Erkältung, die mir so zu schaffen macht.« Der Agent preßte beide Füße kämpferisch gegen die Rückwand seines Schreibtischs. Mr. Long sah, wie sich die Holzverkleidung nach außen wölbte, und fragte sich, was wohl als nächstes geschehen würde. »Sie drohen wohl mit 98
einem Prozeß, wie? Wissen, Sie, das haben bei mir schon ein paar Musiker versucht. Sie können die ja fragen, wohin sie das gebracht hat.« Long seufzte, schneuzte sich und sah zu, wie sich die Wölbung in Übereinstimmung mit den Wellen von Stoughies Wut bewegte. »Wir haben mit Schwester Sue Frye geredet, ehe wir letzten Winter die Pläne aufstellten. Sie riet uns energisch, keine Geschäfte mit einem Mann abzuschließen, der so zuverlässig hinterhältig ist.« »Wie kann sie es wagen …« Die Wölbung glänzte im Neonlicht auf. »Wir hingegen – nun, ich – habe ein besseres Blatt in der Hand als Schwester Sue. Ich habe einen ausgezeichneten Rechtsanwalt von gutem Ruf, Mr. Stoughie, wie auch das Geld, ihn unendlich lange zu ernähren.« Long hörte ein Knacken und sah, wie eine dunkle Linie in dem walnußfarben gebeizten Sperrholz des Schreibtisches auftauchte. Stoughie hatte es auch gehört und zog seine Füße zurück. Er richtete sich auf. »Hören Sie mir einmal zu, Long. Die Landaman-Halle gehört einer Aktiengesellschaft. Wollen Sie wirklich vor Gericht gegen eine Aktiengesellschaft kämpfen?« Long lachte leise. »Gegen eine Aktiengesellschaft? Aber gewiß doch. Vermutlich könnte ich Ihre AG kaufen. Und ganz sicher könnte ich Ihr Theater kaufen. Doch das will ich nicht – das feng shui ist zu schlecht.« »Das was?«
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Long ignorierte diese Frage. Er betrachtete wieder den Kolibri. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Mr. Stoughie. Wenn Sie sich wirklich mit mir in der Arena des Rechts anlegen wollen, warum zahlen Sie nicht wenigstens der Band ihr kleines Honorar aus? Das würde doch, bei Klage und Gegenklage, Ihre Seite erheblich in Vorteil setzen.« Der kleine Nektartrinker hatte eine so bezaubernde Form und Tönung, daß Long beim Reden lächelte. Stoughie war ein Abbild von Ungläubigkeit. »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, Bruder. Ich weiß doch, was für Mäuse ein Mann macht, der Harfen herumschleppt.« »Sie waren also doch gestern abend bei dem Konzert?« Longs Lächeln wurde starr. »Ein Mann schleppt umsonst Harfen herum, wenn dieser Mann ich bin.« Sehr gelassen stand Mr. Long nun auf, und sehr gelassen begann er, seine Taschen zu leeren. »Hier ist meine Taschenuhr, Mr. Stoughie. Sie besteht nicht aus Messing. Das Uhrwerk stammt von Patek Philippe, aber das sagt ihnen wohl nichts, oder? Das hier ist ein Maniküretui, das ich in Belgien aufgetrieben habe. Ich kann es Ihnen nur empfehlen, weil es Ihre Taschen nicht unansehnlich ausbeult. Das flache Etui, ebenfalls aus Gold, ist nicht für Zigaretten, sondern für Kreditkarten. Erlauben Sie mir, Ihnen meine Sammlung zu zeigen. Die von der Fluggesellschaft sind nicht so eindrucksvoll wie die Bankkarten, nicht wahr? Sie wirken ein wenig billig.« Stoughies Blick wanderte mit einem Ausdruck zwischen Beleidigung und Faszination von einem goldenen Gegenstand zum nächsten. Dann leerte Long die Innentasche 100
seines Jacketts. Ein flaches, braunes, ledergebundenes Scheckbuch flog auf den Schreibtisch, gefolgt von einem weiteren aus grünem Plastik. Long hielt das grüne geöffnet unter Stoughies Nase. »Hier sehen Sie mehr oder minder die Finanzen von Macnamara's Band. Nicht so schlecht wie einige andere. Eigentlich sehr solide, doch vielleicht nicht ganz ausreichend, sich auf einen längeren Rechtsstreit einzulassen.« Er ließ das Buch auf den Tisch fallen und hielt das andere hoch. »Das hingegen ist der Stand meiner persönlichen Konten, die ich für meine Reisekosten in Anspruch nehme.« Stoughie betrachtete die kleinen, ordentlichen Ziffern, und dann blickte er noch einmal hin. Sein Blick trübte sich, vielleicht unfreiwillig. »All dies könnten natürlich Fälschungen sein«, fuhr Long fort und sammelte seine Besitztümer wieder ein. »Von jemandem präsentiert, der eine Finanzkraft demonstrieren will, über die er nicht verfügt. Doch wenn das Ziel dann besteht, Sie davon zu überzeugen, daß ich auf dem Schlachtfeld des Rechts einen würdigen Gegner darstelle … Oh, hier ist noch ein kleines Spielzeug, das Sie vielleicht interessiert.« Er zog aus einer Tasche, die an einer unauffälligen Stelle ins Innenfutter eingelassen war, ein kleines grünes Viereck hervor, das er auf den Tisch schleuderte. Es war ein Stapel zusammengefalteter Dollarscheine, von einem schlichten Clip wie die Seiten in einem Buch säuberlich zusammengehalten. Der Clip glitzerte, abgesehen von dem angelaufenen Bild eines chinesischen 101
Drachens, der sich über die gesamte Länge schlängelte und spiralte. Die Augen des Drachen leuchteten hell. »Ich glaube, es ist nur Bronze«, sagte Long bescheiden. »Aber ich finde die Arbeit nett.« Stoughie riß seinen Blick von dem Nennwert der Geldscheine noch rechtzeitig los, um den Clip zu bemerken. Als Long das Päckchen wieder in die Tasche steckte, seufzte er tief. »Mrs. Macnamara, die eine sehr geschäftstüchtige Frau ist, gestattet keine Transfers vom braunen Konto auf das grüne. Sie wird jedoch eine gewisse Abschlagsumme von Ihnen akzeptieren. Daher ist es notwendig, daß Sie einen bestimmten, überfälligen Scheck ausstellen, um das Konto auszugleichen.« Don Stoughie merkte, daß er sein eigenes Scheckbuch aus imitiertem Jeansstoff mit einem aufgedruckten Elch hervorzog. Nicht ganz er selbst, stellte er unter Longs wachsamen Augen einen Scheck aus. »Ah, Mr. Stoughie, ich weiß, es ist nur eine Kleinigkeit, aber Sie haben sich im Monat geirrt. Zweifelsohne bringt Sie die gegenwärtige Hitze dazu, es für Juli zu halten, wo wir doch Juni schreiben.« Stoughies Gesicht verlor nun seinen gebannten Ausdruck. Er schloß das Scheckbuch geräuschvoll und lächelte. »Nein, eigentlich nicht. Ich zahle immer erst nach dreißig Tagen. Fragen Sie herum, und betrachten Sie sich als Glückspilz, daß Sie es überhaupt bekommen, nach all diesem Mumpitz.«
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Und jetzt gab es in Mayland Longs Kosmos weder einen Kolibri, noch eine Kiefer, sondern nur noch die Gestalt Don Stoughies auf der anderen Seite des Schreibtisches. Aber seine Stimme klang immer noch sachlich. »Ich brauche da nur unsere schriftliche Vereinbarung zu befragen, in der von Zahlung am gestrigen Abend die Rede ist.« Stoughie, dem ein zierlicher Asiate mit einem aufgeweichten Taschentuch in der Hand gegenüberstand, ging das Temperament durch. »Ich bin es jetzt leid, Long, Sie und Ihre … Demonstration«, sagte er, betonte das Wort aber auf der zweiten Silbe. »Und noch mehr leid bin ich diese unverantwortlichen Musikgruppen, denen es erlaubt wird, meine Hallen zu zerstören, und das können Sie dem Macnamara-Vogel bestellen.« Bei diesen Worten des Agenten wurde Mr. Longs Gesicht zunächst blaß, dann wieder dunkel. Seine Pupillen leuchteten auf wie die Kehle des Kolibris, und in seinen Ohren dröhnte das gleiche unirdische Summen. Stoughie, dem dies entging, fuhr fort: »Verstehen Sie, bis Sie mir wegen dem Scheck oder dem Unfall Schwierigkeiten machen können, wird mehr als ein Monat vergangen sein. Und dann, das verspreche ich Ihnen, mache ich der Band das Leben so schwer, daß das kleine grüne Scheckbuch über und über rot wird. Sie warten jetzt einen läppischen Monat, wie alle anderen auch – und Sie kriegen Ihr Geld. Wenn für Sie nicht einmal ein Job dranhängt, was regen Sie sich eigentlich so auf?« Longs Reglosigkeit ermutigte den anderen, fortzufahren: »Gestehen Sie sich eben einfach ein, daß es dieses Mal 103
nicht nach Ihrer Nase geht, und …« Seine Worte brachen unmittelbar ab, weil er sich in die Luft hob und am Nacken halb über den Schreibtisch gezogen wurde. Dicht vor seinem Gesicht glänzten Longs Augen, hellgolden und völlig leer. Longs Kehle entfuhr ein Laut, der einem Windheulen glich. Stoughie fühlte, wie ihm ein Stift in die Hand gedrückt wurde. »Ändern Sie das Datum. Ändern Sie es, sonst sind Sie tot… Und jetzt unterschreiben. Und jetzt möchte ich, daß Sie sich für Ihre Sprache hinsichtlich Mrs. Macnamara entschuldigen.« Stoughie stieß ein Krächzen hervor und wurde gezwungen, es lauter zu wiederholen. Als alles zu Longs Zufriedenheit geschehen war, ließ er den Agenten wieder auf seinen Stuhl fallen. »Meine Nase blutet«, sagte Stoughie. »Mein ganzes Hemd ist voll Blut! Bei Gott, dafür schicke ich Sie ins Gefängnis.« »Ach ja?« Longs Gesicht zeigte keinen anderen Ausdruck als bisher, seit er das Büro betreten hatte. »Das wird aber sehr interessant werden, Mr. Stoughie. Doch nicht sehr einträglich sein, fürchte ich.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um. »Warum gestehen Sie sich nicht einfach ein, daß es ein einziges Mal nicht nach Ihrer Nase geht?« Er verließ das Büro und schloß die Tür hinter sich. Und dann rannte Long los, leichtfüßig und lautlos und wie immer Haken schlagend, was auf der dichtgedrängten Mall sehr praktisch war. Er sprang die Treppe der Bank of 104
America hinauf, wo keine Menschenschlange stand, und ließ sehr gelassen den Scheck auf Martha Macnamaras Konto gutschreiben. Es gab keine Schwierigkeiten. Dann begann er zu husten. Er lehnte sich an die Mauer des Postgebäudes und hustete. * Er hatte sich nicht unter Kontrolle gehabt. Er hätte den Mann umbringen können, was Martha und ihm endlose Schwierigkeiten bereitet hätte, und das alles nur wegen einer lächerlichen Summe, die für ihn bedeutungslos war. Ein Aufwallen von Wut in seinem Inneren versuchte ihm zu erklären, daß es nicht um das Geld gegangen war, doch er bekämpfte sie. Es war nicht um das Geld gegangen, sondern um Ärger über einen kleinen Geschäftsmann, der es für gerissen hielt, andere Leute zu beleidigen und ihnen Schwierigkeiten zu bereiten. Seine Reaktion auf ein solches Verhalten war weit übertrieben. Und gestern abend? Diese Episode mit Marty. Konnte er seinen Sinnen über das Geschehene trauen? Kein Wunder, daß die Menschen so sehr zögerten, den Dingen zu glauben. Sie verbrachten ihr Leben damit, von einer Verwirrung in die nächste zu taumeln und starben in der Regel mit keiner größeren Wahrheitserkenntnis als der, die sie bei ihrer Geburt schon hatten. Arme Marty: Was würde das Leben diesem kleinen Geist bringen, da sie nun einmal in dieser Gestalt geboren worden war? Armer Mayland Long, arme Martha. 105
Nein, Martha war nicht bemitleidenswert, nicht einmal – Long überlegte scharf-, wenn sie einen Schuh anhatte und den anderen nicht. Nicht einmal mit einer Gesichtsmaske. Er lehnte sich gegen die Mauer und dachte an Martha, bis er sich stark genug fühlte, zurück zum Hotel zu gehen. * Elen folgte Pádraig über den Strand und fragte sich, warum sie das in kaltem Wind und Nebel tat. Ihr Umhang peitschte ihr ins Gesicht. Sie verstand ein paar Worte nicht. »… es besteht aus Leder, und er hat es auf der Brendan selbst angefertigt, als sie über den Atlantik tanzte. Er hat eine Menge von ihnen gemacht, glaube ich, aber dieses eine schenkte er mir. Ich mag es sehr.« »Wer war das?« schrie sie gegen den Wind. »Thor Heyerdahl?« Pádraig warf ihr einen sehr enttäuschten Blick zu. »Trondur Patursson. Auf dem Lederboot Brendan, das von Kerry aus …« »Ja, ich habe zugehört. Ich habe mich nur im Namen geirrt«, sagte sie mit schuldbewußter Stimme. »Die Brendan selbst steht als Ausstellungsstück in einer Glasvitrine. Das finde ich schade, verstehst du? Sie ist nur einmal auf See gewesen.« Elen nickte heftig. »Oh, ja, wirklich schade.« Der nasse Sandstreifen war hier sehr breit. Wellenzungen schwappten, nachdem sich ihr Kamm 106
gebrochen hatte, noch viele Meter weiter. Das lag daran, daß Ebbe herrschte und der Wind kräftig blies, hatte Pádraig ihr erklärt, oder war es umgekehrt? Bei Flut (oder Ebbe) wäre alles weniger interessant gewesen. Für Pádraig zumindest. Es bedurfte nur eines kleinen Stücks linksgedrehter Muschel, um ihn aufzuheitern. Ebenso wenig bedurfte es, um ihn zu entmutigen. Elen dachte an den gestrigen Nachmittag, als sie das Seil geknüpft hatten, was in einer raschen Umarmung und einem Kuß geendet hatte. Sie selbst hatte die Situation herbeigeführt, weil sie zu dicht bei ihm stand und absichtlich in eine andere Richtung blickte, als sie das Tau zu sich her aufrollte. Doch die Heftigkeit des Jungen hatte sie überrascht, und dann war er, angesichts ihrer Überraschung, schnell wieder zurückgewichen. Das Ende war nicht weniger peinlich gewesen als der Anfang. Und dann dieser schreckliche Augenblick beim Konzert für ihn, als er erkannte, daß er hilflos draußen stand. Elen spürte instinktiv reine Wut auf George St. Ives. Schade, daß der kleine Scherz mit der Tür den Falschen getroffen hatte. Und jetzt war der schöne Morgen so kalt geworden, daß Elen fast die Ohren abfroren, und dieser Pádraig plapperte unermüdlich über die Brendan und Rennen von vierundvierzig-Meter-Beibooten. Als sei während der gesamten Tournee nichts Wichtiges geschehen. Elen wünschte sich an einen anderen Ort. »Hast du nicht zugehört?« Elen blickte schuldbewußt auf und gab es zu. Pádraigs Haar war von der feuchten Luft 107
glatt geworden, und winzige Tröpfchen perlten daran herab. Er war recht zierlich und hatte ein Kindergesicht, und sie fragte sich (weil sie nichts mehr sicher beurteilen konnte), ob er überhaupt gut aussah, oder ob ihre Reaktion auf ihn lediglich das Ergebnis einer achtwöchigen Nähe war. »Ich hatte dich gefragt, wie viele Brüder und Schwestern du hast.« »Ja?« Seine Augen hatten die gleiche Farbe wie das Wasser dort draußen, das sich mit den Wolken vermischte. Eine sehr schläfrige Farbe. Elen gähnte. »Ich habe überhaupt keine.« »Keine Brüder und Schwestern?« Er starrte sie ungläubig an, bis Elen ihn anlachte. »Ich bin die einzige, Schätzchen. Das ist doch gar nicht so ungewöhnlich.« »Nein? Nicht selten? Das muß aber schlimm für dich gewesen sein.« Pádraig hielt einen nassen Stein in der Hand. Er wartete den richtigen Augenblick ab und schnellte ihn dann über eine auslaufende Welle. Der Kiesel hüpfte viermal hoch, ehe er versank. »Hier, mach du mal.« Er reichte ihr einen Stein. Ohne hinzusehen warf sie ihn ins Wasser, wo er verschwand. »Die meisten Leute, die ich kenne, kämpfen ununterbrochen gegen ihre Geschw … ihre Brüder und Schwestern. Warum war das schade für mich?« Er zuckte übertrieben die Achseln. »Man braucht doch als Kind jemanden zum Verprügeln.«
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Elen lächelte grimmig und schob die Hände unter ihren Umhang. »Man kann aber auch verprügelt werden, Pat. Und ich hatte meine Eltern, um diese Bedürfnisse zu erfüllen.« Sie ging zu einem Stück Treibholz, das die Hochwasserlinie markierte. Der Nebel war so dicht, daß man den Pier in zwanzig Metern Entfernung nicht sehen konnte. Jetzt folgte ihr Pádraig »Du magst deine Eltern nicht? Ich wette, du bist von zu Hause fortgerannt.« Starr vor Schrecken sah sie ihn an. »Wer hat dir das erzählt?« Pádraig wich zurück und stolperte über seine eigenen Füße. Er ließ die Muschel fallen, die er gerade aufgehoben hatte. »Sei nicht wütend, Elen. Niemand hat es mir erzählt. Ich wollte dich nur aushorchen.« Sie wandte sich von ihm ab und lief aufs Meer zu, das ihr bereits die Schuhe durchweichte. Auch das bot keinen Trost. »Die Leute lassen sich nicht gern auf den Arm nehmen, Liebster. Zumindest ich nicht. Aber ich bin wirklich fortgerannt. Ich bin mit sechzehn fortgelaufen. Dann habe ich mich durch vier Jahre Musikschule durchgebracht. Ich kann wirklich Ravel spielen, weißt du. Ich bin seit meinem ersten Studienjahr nicht mehr in Atlanta gewesen.« Ó Súilleabháin ging nun neben ihr her und betrachtete sie mit einer Art ehrfürchtiger Neugier. »Bei mir zu Hause passiert das nicht oft, daß ein Mädchen fortrennt, um auf die Universität zu gehen. Das ist sehr selten. Du mußt dich von Anfang an gut gekannt haben.«
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Ihr Lachen klang dünn. »Nein, das Glück hatte ich nicht. Wenn ich diese Jahre noch einmal…« Dann lachte sie wieder, aber natürlicher. »Ich würde immer noch nicht nach Hause zurückgehen. So geht es mir viel besser. Selbst nach acht Wochen Zigeunern.« »Ja, sicher«, meinte Pádraig und schlug ihr leicht auf die Schulter. »Ich bin ja schließlich dabei.« Er lachte kurz. Sie seufzte. »Was ist denn mit Kindern, Elen?« fragte Pádraig dann ohne eine Spur Spott in der Stimme. »Will eine Frau denn keine Kinder haben?« Sie starrte ihn mit vor Staunen offenem Mund an, doch es löste sich bald in ein amüsiertes Lachen auf. »Mach dir keine Sorgen, Pat. Vom Küssen bekommt man noch keine Kinder.« Dann rannte sie in den dichten Nebel und wirbelte den nassen Sand hinter sich hoch. Pádraig lief hinter ihr her, doch der Nebel war so dicht, daß er die Stelle verpaßte, wo sie landeinwärts abgebogen war. Er blieb stehen und rief: »Elen! Elen! Hör auf mit dem Blödsinn. Der Nebel ist gefährlich. Elen!« »Hier«, antwortete sie und stand plötzlich dicht neben ihm. Sie legte eine Hand auf seine Lippen. »Sei still. Hör mal!« Er gehorchte. Man hörte, wie das Meer ans Ufer dröhnte und die Kieselsteine aufeinander scheuerten. Vögel schrien. »Da weint jemand«, flüsterte Elen. Pádraig öffnete den Mund, um ihr zu sagen, daß es wohl ein Vogel war, doch er hielt inne. Sie gingen zusammen weiter bis zum Rand des Wassers. 110
Weder am Strand noch auf dem Wasser war ein Horizont zu sehen. Sie hielten sich aneinander fest, und Elens Ohren schmerzten vor Kälte. Sie zitterte. Pádraig legte ohne nachzudenken einen Arm um sie. »Für Nebel ist es sehr dunkel«, flüsterte sie. »Vielleicht zieht ein Wetter auf.« »Nein, das glaube ich nicht. Sei mal bitte still.« Das Weinen klang nun näher, und die Kälte schnitt in Elens Gesicht. Sie konnte Pádraig neben sich kaum erkennen. Er stieß den Atem wie Dampfwolken aus, und seine nebelfarbenen Augen bewegten sich unruhig. »Wo bist du?« schrie er zu den Wellen. Elen blieb das Herz fast stehen, als eine Stimme ihm antwortete, eine leise, dünne und sehr unglückliche Stimme. »Hier bin ich.« Sie kniete sich auf den nassen Sand, und Pádraig hockte sich neben sie. »Gott und Maria, Marty! Wie kommst du hierher?« Marty trug ihre gelbe Hose und weder ein Hemd noch Schuhe. Ihr Gesicht war tränenbefleckt, doch als Pádraig sie hochhob, fühlte sie sich warm an. »Ich habe Judy gesucht«, sagte sie, und mehr konnten sie auf dem ganzen Rückweg nicht aus ihr herausbekommen. Während sie sich dem Pier näherten, löste eine warme Brise den Nebel in Fetzen auf. Das Hotel erreichten sie bereits wieder bei Sonnenschein.
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»Wenn er krank ist, wünsch' ich ihm gute Besserung« Martha hatte die Hände voller Pferdehaare. Von der Hitze waren ihre Finger klebrig, und die langen Schwanzhaare taten nicht, was sie von ihnen wollte. Sie befreite eine Hand und ließ dabei fast den Bogen fallen, den sie neu bespannte. Als sie sich hinter ihm herbückte, um ihn zu schnappen, schlug er ihr gegen das Kinn. Tränen sprangen ihr in die Augen, teils von dem Schlag, teils aus Selbstmitleid. Da traten Pádraig und Elen ein. Pádraig trug Marty auf dem Arm. Martha, die unter dem Fenster mit dem Rücken zur Tür saß, warf einen Blick über die Schulter, ehe sie sich wieder der mühsamen Arbeit zuwandte. Einen Moment später blickte sie noch einmal zurück, neugieriger. »Geht ihr mit Marty spazieren?« »Wir bringen sie nach Hause«, antwortete Pádraig ó Süilleabhäin, und Elen fügte hinzu: »Wir haben sie am Strand in der Nähe des Piers gefunden.« Langsam erhob sich Martha. Sie ließ den unfertigen Bogen auf die Fensterbank fallen. Wie ein Vogel neigte sie den Kopf zuerst auf die eine, dann auf die andere Seite. »Nein, das muß ein Irrtum sein. Sie war doch nebenan mit ihren Stiften, zumindest in der letzten halben …« Dann holte sie tief Luft und schüttelte sich. 112
»Am Strand, sagt ihr. Allein? In dem Aufzug?« Pádraig blickte verlegen auf den Teppich hinab, als sei er es, der kritisiert würde. Marty hingegen schlängelte sich aus seinen Armen und versuchte, mit einem zweifelnden Blick auf ihre Großmutter, außer Sichtweite nach nebenan zu gelangen, in das Zimmer mit den glatten Bettdecken und den Stiften. Martha fing sie, nicht unfreundlich, in der Tür ab. »Marty, Schätzchen, warst du am Strand? Ganz allein?« Martys Flachshaar fing das Licht vom Fenster ebenso auf, wie Marthas graue Locken. Sie zuckte genauso mit den kleinen Schultern, wie es Elizabeth, ihre Mutter, getan hätte. »Der Weg geht aber über eine breite Straße, Marty, mit viel Verkehr! Hat dich jemand hinübergebracht?« Marthas Stimme zitterte, und die Tränen von vor fünf Minuten kehrten nun zurück. Sie blinzelte. Marty wandte den Blick von der weinenden Großmutter ab und schwieg. »Warum hast du das getan, Marty? Wir wollten doch zum Strand gehen, wenn dein Da … wenn Mayland zurückkommt.« Dieser Vorschlag zerschlug Martys Unbehagen und Verwirrung. Sie heiterte auf. »Ja, ich will zum Strand.« Martha seufzte und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Dann ließ sie sich mitten in der Tür schwerfällig im Schneidersitz nieder und schürzte den Rock. »Du warst doch gerade am Strand, Baby, und das war überhaupt nicht gut.«
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Martys kleines Gesicht zog sich zusammen, und sie suchte zunächst von Elen und dann von Pádraig Unterstützung, doch die beiden schwiegen und warteten nur respektvoll darauf, daß Martha das tat, was Großeltern in solchen Fällen zu tun pflegen. »Ich war nicht am Strand. Es war gar nicht wie Strand.« »Nebel«, unterstützte sie Elen. »Das meint sie. Sie suchte mitten im Nebel nach ihrer Judy. Ein paar Minuten lang war es draußen richtig diesig.« Martha Macnamara riß die Augen auf und blickte aus dem Fenster zum blauen Himmel. Elen lachte auf. »Es herrschte wirklich Nebel.« »Ganz bestimmt«, fügte Pádraig hinzu, ein wenig in der Rolle des Beschützers. Dann trat er einen nervösen Schritt vor, der ihn zwischen Martha und Elen brachte. »Wir würden doch nicht lügen.« Martha mühte sich mit versteinertem Gesicht auf die Beine und trat auf ihn zu. Pádraigs Schultern sackten sichtlich herab, und er starrte wieder auf den Teppich. Marthas Umarmung war ebenso herzlich wie unerwartet, und sie küßte ihn zweimal, einmal auf die Nase, als er seinen Kopf aufrichtete, und einmal auf die linke Wange. Dann umarmte sie Elen auf die gleiche Weise, damit diese sich nicht ausgeschlossen fühlte. »Ich danke euch, daß ihr sie mir zurückgebracht habt!« Aus ihren delftblauen Augen rollten nun Freudentränen. »Wie konnte ich mich nur so in meine Arbeit vertieft haben, daß sie fortschleichen konnte…« Sie setzte sich auf eine Bettkante. 114
»Reg dich nicht auf«, erwiderte Elen und ließ sich auf dem Bett gegenüber nieder. »Ich glaube, sie hat sich nicht einmal erkältet.« »Ich bin nicht erkältet«, bestätigte Marty aus der Tür. »Und schmutzig bin ich auch nicht«, fügte sie hoffnungsvoll hinzu. »Vielleicht können wir jetzt zum Strand gehen?« Elen und Pádraig verabschiedeten sich von den beiden recht fröhlich, doch Martha blieb auf der Bettkante sitzen und starrte Marty besorgt an. »Wer ist Judy?« fragte sie. »Judy ist irgendwie meine Freundin«, antwortete Marty, doch sie zog dabei eine Grimasse. Martha überlegte scharf, was eine Dreijährige wohl schon verstand und was nicht. »Judy … ist aber nicht hier, oder?« Marty ließ sich im Türeingang fallen und nahm die gleiche Position ein wie vor fünf Minuten ihre Großmutter. »Natürlich nicht. Hier sind nur du und ich. Das ist alles.« »Ist Judy zu Hause?« Martys Miene, voll gelangweilter Geduld, zuckte zusammen, weil Martha wohl endlich eine vernünftige Frage gestellt hatte. »Nein, nicht mehr zu Hause. Daher mußte ich sie suchen.« Und jetzt verbrachte Martha einige Momente damit, zu überlegen, was eine Vierundfünfzigjährige wohl begriff und was nicht. »Sag mal, Marty, ist Judy echt? So echt wie du und ich?«
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Martys kleines Gesicht zog sich zusammen, bis es dem ihrer besorgten Großmutter ähnelte. »Ich glaube nicht. Nicht wie du und ich.« * Als Mayland Long eintrat, fand er Martha mit gespreizten Beinen auf dem Bett sitzend. Sie wedelte über ihrem Kopf mit einem langen Stock herum, an dessen Ende Pferdeschwanzhaare herabhingen. Sie blickte sehr nachdenklich. Er hatte zwar nicht die beste Laune, doch er bemühte sich leutselig zu sein. »Oh, Madame, lassen Sie mich das tun«, sagte er und nahm ihr den verhedderten Violinbogen aus der Hand. »Ein Mandarin gibt sich nicht mit Nichtigkeiten ab. Das würde einen Gesichtsverlust bedeuten.« Abwesend blickte sie auf, und was sie in seinem vertrauten Gesicht entdeckte, riß sie aus ihren eigenen Gedanken. »Was ist mit dem Agenten, Liebling?« Long setzte sich neben sie. Umständlich präsentierte er ihr den Scheckeinreichungsbeleg. Sie betrachtete ihn aufmerksam und scherzte dann. »He! Das ist ja sogar die richtige Summe. Und auch noch pünktlich! Hussa! Du hast ein Wunder vollbracht!« Longs Reaktion verriet jedoch keinerlei Befriedigung, und ihre Begeisterung ebbte ab. »Oder… ist das vielleicht
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dein eigenes Geld, Mayland? Du versuchst doch nicht etwa, die Summe aus deiner eigenen Tasche zu …« »Nein«, antwortete er mit einer Spur von Härte und erlitt einen Hustenkrampf. »Ich habe ihn fast dafür umgebracht.« Sie blickte ihn eindringlich an. »Das wäre aber schlimm gewesen.« Long lachte so bellend, daß er fast wieder zu husten begann. »Das hätte mir schöne Scherereien eingebracht. Und dir auch. Das Schlimmste aber ist, daß es … fast zufällig geschehen wäre.« »Das wäre das Schlimmste gewesen?« fragte sie leise. Er blickte sie an, und endlich lächelte er. Berührte ihr Knie. »Ich meine, daß ich den Burschen ohne nachzudenken angegriffen habe. Ganz plötzlich, in einem Wutanfall.« Marthas Antwortlächeln fiel ironisch aus. »Nun, ich rate dir doch seit fünf Jahren, spontan zu sein.« Sein Grinsen wurde nicht breiter, sondern verschwand. »Bei dieser Krankheit habe ich keinerlei Selbstbeherrschung, Martha. Ich habe Angst, was ich aus reinem Ärger alles anstellen kann. Und ich bin mir ziemlich sicher, daß Donald Stoughie mich verhaften läßt.« Martha seufzte und biß sich auf die Lippe. Long hustete wieder. »Diese Erkältung«, sagte er. »Acht Wochen«, meinte sie. Und sie saßen zusammen auf dem Hotelbett, und er schwenkte den zerbrochenen Violinbogen über ihren beiden Köpfen.
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Es war George St. Ives' Fluch, wie der eines jeden Bläsers, daß er einen Großteil der Zeit, die er mit Üben zubringen sollte, damit verschwendete, einen Ort zu suchen, an dem er üben konnte, ohne daß man die Polizei rief. Heute wenigstens stand ihm das leere Theater zur Verfügung. St. Ives saß auf einem Rohrgeflechtschemel im grünen Zimmer, Teddy Poznan saß auf dem Tisch daneben. Ted wechselte die Saiten auf einer hellen Gitarre mit Perlmutteinlagen aus. Er lächelte auf seine schläfrige Weise und warf St. Ives gelegentlich einen freundlichen, besitzergreifenden Blick zu. St. Ives litt auch unter dem zweiten großen Fluch aller Bläser, daß er aus seinem Kästchen mit Mundstücken kein einziges richtig benutzen konnte. Die Zungen lagen auf einem Handtuch vor ihm, während sein geliebter Dudelsack unansehnlich auf seiner Lederschürze lag wie ein zahmer Hummer. »Hey.« Ted beugte sich zu ihm. »Ich glaube, Martha hatte heute morgen die gleichen Probleme mit ihrem Fiedelbogen. Vielleicht fließen die Energien heute nicht richtig für solche Feinheiten.« »Zu trocken«, antwortete St. Ives und steckte vorsichtig die Holzzunge in ihren Rahmen. »Klar. Sagte ich doch.« Ted sah dieser feinfühligen Operation genau zu. Er beugte sich vor und zog die Gitarre mit sich, so daß die neuen Saiten wie Fühler vibrierten.
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George steckte das Mundstück hinein und zog es wieder heraus. Sehr ernsthaft sagte er: »Ich weiß nicht, ob es eng genug ist.« Ted strahlte. »Ach, klar, Bruder.« Er schlug dem Bläser auf die Schulter, genau wie Pádraig ó Súilleabháin, doch nicht mit annähernd so viel Kraft. St. Ives blickte auf, und sein gewöhnlich so grimmiges Gesicht wirkte nun gütig, fast schüchtern. »Vielleicht hast du recht«, sagte er und ließ sein Instrument zurück auf den Schoß fallen. Seine Stimme klang vor Freude belegt. »Hey!« sagte Ted wieder und wiederholte den zärtlichen Schlag. »He, toll, nicht wahr? Ich meine, sag mal ehrlich… es fühlt sich doch gut an, oder?« St. Ives legte die Hand an den Bart und dachte nach. Er wiegte sich auf seinem Schemel leise vor und zurück. »Besser als seit langem, Pozz. Das kann ich dir versichern.« Die braunen Augen in seinem Bisongesicht huschten unruhig durch den Raum, bis sie auf Teds jungen, gebräunten Zügen zu ruhen kamen. »Weißt du, daß du verdammt hübsch bist, Pozz.« Der Gitarrist wieherte laut auf und schnitt eine Grimasse. »Du liebe Güte. Danke!« »Nee, bist du wirklich. Verdammt. Bist du ein Homo?« »Schwul, meinst du.« Ted verbesserte ihn fast automatisch. »Nein. Eigentlich nicht. Eigentlich weiß ich es nicht recht.« Er zog die Brauen zusammen und beugte sich über sein dickbauchiges Instrument. »Genauer gesagt, glaube ich, müßte ich sagen, daß mein Erfahrungsbereich bislang …« 119
»Du bist schon ein komischer Vogel, das mußt du zugeben.« Ted blickte zärtlich auf St. Ives herab und seufzte. »Yeah, das muß ich zugeben.« Sein Blick wurde schärfer. »Warum hast du mich das gefragt, George? Bist du … hilft dir das Zeugs, zu dir selbst zu finden?« St. Ives stieß laut den Atem durch seinen Bart aus. »Mein Gott, nein.« Dann richtete er sich auf und zog spontan seinen grauen isländischen Pullover über den Kopf. Darunter trug er ein löchriges Strickhemd von gleicher Farbe. Ted sah ihm dabei zu. »Hey«, sagte er noch einmal. »Du hast deinen Pullover ausgezogen.« »Es ist heiß.« »Klar. Es ist heiß, und du hast deinen Pullover ausgezogen, um dich besser zu fühlen. Das ist ein gutes Zeichen.« Eine Weile herrschte Schweigen im Zimmer, das George mit einem Seufzer brach. »Es ist noch nicht perfekt«, sagte er und griff unter den löchrigen Pullover. »Irgendwie ist es sogar schlimmer.« »Was ist schlimmer, Junge?« Ted beugte sich gefährlich weit nach vorn, und sein Blick folgte St. Ives' Händen. Als er das kleine Plastikröhrchen sah, riß er beunruhigt die Augen auf wie eine Eule. »Hey, George, das ist aber keine gute Idee. Mach dir doch nicht die ganze Erfahrung kaputt mit…«
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»Denk ja nicht, ich tu das aus Spaß, Pozz. Ich brauche die Pillen.« George schüttelte sich zwei rote Kügelchen in die Hand und schluckte sie ohne Wasser. »Warum? Was ist das?« Ted Poznan kletterte von seinem Tisch und schlug dabei einen Protestlaut aus seiner schönen Gitarre. »Schmerztabletten. Ich brauche sie.« St. Ives' Stimme klang sehr milde. Ted hingegen war verwirrt. »Du meinst, Betäubungsmittel? Bist du süchtig?« Sehr sanft und mit nur einem Anflug seiner üblichen Ironie verbesserte ihn St. Ives: »Ich meine, ich habe Schmerzen.« »Wo?« »Überall. In allen Gelenken. Arthritis. Alte … Verletzungen. Schlechte Zähne.« Ehe er das Röhrchen wieder fortsteckte, blickte er hinein. »Übrigens, Teddy, ich habe nicht mehr viele davon. Nur noch sehr wenige. Du mußt mir ein paar neue besorgen.« Entschieden schüttelte Ted Poznan seinen bunten Schopf. »Tut mir leid, George, aber ich meine, es ist besser, wenn du zu einem Arzt gehst. Vielleicht zu einem Homöopathen oder einem Ayuervedischen Arzt. Narkos gehören nicht zu meinem Bereich.« George zog den Kopf aus seinen Bisonschultern. Es schien ihn Mühe zu kosten. Sein Blick traf auf den Teds. »Nein, Pozz? Ich dachte, Narkos gehören noch dazu. Vielleicht war das einmal der Fall?« 121
Ted wich mit verdutzter, leicht nervöser Miene zurück. »Niemals! Niemals!« St. Ives' Lächeln blieb ungerührt. »Vielleicht habe ich da Unrecht, Pozz, aber ich weiß, daß du die Verbindungen hast, die mir helfen können.« »Nicht so, wie du denkst.« Poznan lachte entschuldigend auf. Er begann, die Enden der neuen Gitarrensaiten abzuknipsen, die klirrend auf den Betonboden fielen. »Das wäre auch keine echte Hilfe.« »Es ist aber genau das, was ich brauche«, erklärte St. Ives mit sanfter Stimme. »Um weiterspielen zu können. Musik ist doch das einzige, das mir noch geblieben ist. Und ich bin sicher, du wirst mir helfen, wenn du darüber nachgedacht hast.« Sein Blick wurde träumerisch und unerbittlich. »Ich weiß über Cotati Bescheid.« Ted ließ die Zange auf den Resonanzboden seiner Gitarre fallen, wo sie im hellen Holz eine Kerbe hinterließ. Er stand da und starrte darauf. * Martha weigerte sich zwar, von Mayland Long während der Tournee irgendwelches Geld anzunehmen, doch das änderte nichts an der Tatsache, daß er ein reicher Mann war und normalerweise nicht auf dem gleichen Standard lebte, wie umherziehende Musiker. Er aß gern in Restaurants, in guten versteht sich, und er lud sie gern dazu
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ein. Er behauptete, gern in Restaurants zu speisen sei ein chinesisches Charakteristikum. Das Mittagessen in der ›Himmlischen Gans‹ hatte definitiv den Tag für beide gerettet. Sie hatten den gestrigen ›Unfall‹ und den heutigen Zank so ausgiebig besprochen, daß beides unwichtig geworden war. Sie hatten einander gratuliert, eine anstrengende Tournee bislang überlebt zu haben. Und als Long, Martha und Marty Elen Evans auf der Pacific Mall trafen, als diese, von Sandy begleitet, die eine Latzhose trug, gerade aus einer Sandwichbar trat, spürte Martha ein leises Schuldgefühl. Sie fragte sich, ob ihr Knoblauchatem sie wohl verraten würde. Marty versteckte sich unauffällig hinter Mr. Longs Beinen, als sie die Frau erblickte, die sie am gestrigen Morgen auf alle möglichen Besorgungen mitgeschleppt hatte. Elen trug ein lavendelfarbenes Gazekleid. »Küßchen, Küßchen«, sagte sie, als sie in Stöckelschuhen und mit übertriebenem Hüftschwung auf sie zukam. Bei jedem Schritt schlug ihr das allgegenwärtige handgeknüpfte Netz gegen die Hüfte, aus dem der Holzgriff des Stimmschlüssels herausragte wie der Kopf eines kleinen Tieres. Zu Marthas Erleichterung küßte sie aber niemanden, sondern drehte sich um, um ihnen eine grellrote Haarsträhne auf dem Hinterkopf zu präsentieren. »Ich bin heute ganz femme fatale, Sandy hingegen hat sich, wegen des kosmischen Gleichgewichts, ganz burschikos gekleidet.« »Ich muß heute noch einen Sickergraben ziehen«, sagte die andere Frau verteidigend. Ihre Stimme klang leicht 123
männlich, und sie hatte sehr abfallende Schultern, von denen die Latzhosenträger abzurutschen drohten. Martha betrachtete den burgunderfarbenen Streifen. »Sehr … schick. Ist das richtig eingefärbt?« »Oh, ja.« Elen stieß ein kehliges Lachen aus. »Ich mußte dabei die ganze Zeit an George denken. Er ist bestimmt furchtbar beeindruckt.« Niemand gab einen Kommentar ab. Sandy, der Babysitter, verabschiedete sich vor dem Postgebäude von ihnen, um ihren Graben zu ziehen. Sie wirkte deswegen leicht bedrückt. »Sie ist sehr nett, nicht wahr?« fragte Martha, als sie weitergingen. »Oh, ja, das ist sie. Meine treueste Freundin«, antwortete Elen. Sie ging nun nicht mehr so übertrieben wie auf der Mall. »Warum ist sie gestern abend nach dem Konzert nicht noch geblieben? Ich hatte vergessen, ihr für den Salat zu danken.« Elen zwinkerte Martha an. »Sandy war bei dem Great American Thursday. Sie wollte uns doch nicht zwei Abende hintereinander hören.« Martha kam in den Sinn, daß Elen vielleicht nicht über George und Sandy Bescheid wußte. Und es war gewiß nicht Marthas Aufgabe, es ihr zu sagen. Sie hielt also den Mund.
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Als sie durch die Hintertür das Theater betraten, hörten sie die Musik und blieben in der kühlen Dämmerung stehen. »Was ist das denn?« fragte Martha. »Wer übt da?« Elen neigte den Kopf. »Klar. George und Teddy, aber ich weiß nicht, was sie spielen.« Martha schürzte die Lippen und blieb reglos. »Ich glaube, daß es Teddy ist«, sagte sie dann. »Aber der andere ist nicht George St. Ives.« »Vielleicht spielt Teddy ein Band ab.« Elen schlurfte durch die abgenutzte Halle auf die Treppe zu. Long folgte ihr. Er trug Marty auf seinen Armen wie eine prallvolle Einkaufstasche. Ihre rundlichen Beine trommelten gedankenlos gegen seinen perfekten Seidenanzug. Martha kam als letzte, die Stirn tief gefurcht vor Konzentration und den Kopf schüttelnd. »Das ist kein Band«, sagte sie zu der Treppe vor sich. Sie öffneten die Tür zur Garderobe und blieben, von den Musikern unbemerkt, in einer Reihe stehen. Lange lauschten sie so. »Es ist irgendwie falsch«, seufzte Martha schließlich unglücklich. Long, der sich in allen Geschmacksfragen nach ihr richtete, blickte sie fragend an. »Weil es nicht traditionell ist?« »Nein, nicht deswegen. Die Hälfte unseres Repertoires ist nicht traditionell, Schatz. Aber das ist… einfach nicht richtig.«
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Elen zischte ihr ins Ohr: »Teddy ist okay. Er ist einfach Teddy. Er begleitet. Es ist George. Ich kann es kaum glauben. Er ist… er ist…« Martha holte geräuschvoll Atem. »Genau! Deshalb hört es sich so unfertig an. Sie begleiten beide. Sie haben keinen Leader. Weder einen Anfang noch ein Ende.« »Vielleicht ist es eine nützliche Übung. Eine Frage der Disziplin.« Elen lachte leise und trat hinaus. »Aber wahrscheinlicher ist, daß sie einfach stoned sind.« Als Marty einen ihrer Favoriten auf dem Tisch sitzen sah, verlangte sie von ihrem Daddo, sie abzusetzen, was er auch befolgte. Das kleine Mädchen schlug einen großen, offensichtlichen Bogen um St. Ives, hüpfte auf Ted Poznan zu und begann trotz der Musik laut zu ihm zu sprechen. Long folgte ihr, um sie zurückzuholen. Ted zeigte Marty seine perfekten Zähne. Elen stand immer noch hinter Martha im Flur, als könne sie sich weder dazu durchringen, effektiver zu gehen, noch den Raum zu betreten. »Ted sieht eigentlich richtig gut aus, nicht wahr?« sagte sie in leicht überraschtem Ton zu Martha. Martha stimmte zwar ohne zu zögern zu, aber Elen fuhr fort, als habe sie widersprochen: »Doch, das tut er. Er spielt gut, er ist gutmütig und verantwortungsbewußt, und die Kinder mögen ihn. Er stößt niemals etwas um oder hat verquere Launen, von denen er heruntergebracht werden muß wie unser liebes Problemkind.« »Nein, bestimmt nicht.« 126
»Und sein Gesicht und sein Körper sind viel anziehender als Pádraig s.« Martha mußte nicken. »Warum dann … mußte ich …?« Martha gab nicht vor, sie nicht zu verstehen. »Ich glaube, das liegt an dieser schleimfreien Diät, Elen. Ich frage mich, ob es nicht die sexuellen Pheromone oder so ähnlich unterdrückt.« Dann wurden Martha und Elen mit Freudenschreien begrüßt und mußten eintreten. Man drängte sie, ihre Instrumente zu holen. Und irgendwie saßen sie plötzlich bei einer etwas merkwürdigen Session in einem heißen Raum – so merkwürdig, daß Elen zwanzig Minuten später aussteigen mußte. Angeblich, weil ihre Harfe plötzlich völlig verstimmt war, doch in Wahrheit, weil sie nicht herausfinden konnte, welchen Effekt George und Teddy erzielen wollten, noch, was sie selbst dazu beitragen sollte. Außerdem bezweifelte sie, daß ihre Harfe überhaupt gehört wurde. Martha blieb länger dabei und versuchte, mit der Fiedel die Leitung zu übernehmen, was jedoch nicht gelang. Sie beließ die beiden Männer bei ihrem Spiel und verstaute ihr Instrument. Elen hing noch im Türrahmen und blickte sie fragend an. »Man kann sie in den Griff bekommen, aber nicht in den richtigen«, lautete Marthas lakonischer Kommentar. Ohne eine nur annähernd abschließende Tonfolge ließ George St. Ives sein Instrument fallen. Er brummte und zog sein löchriges Strickhemd aus, unter dem er ein 127
ausgebleichtes schwarzes T-Shirt trug. Martha begriff nicht, warum er dafür Applaus von Teddy Poznan bekam. »Musik direkt aus dem Chakra des Herzens«, verkündete Ted und breitete beide Arme aus. Elen, die sich aus dem Kühlschrank in der Ecke einen Sprudel geholt hatte, senkte die Dose und flüsterte: »Genau das ist das Problem. Ich hätte mit den Chakras anstatt mit meinen Ohren hören müssen.« Diese Worte wurden zwar sehr leise ausgesprochen, doch St. Ives schien sie gehört zu haben. Er lehnte sich zurück, bis sein Hals fast den hohen Tisch berührte, und lachte aus vollem Herzen. »Mensch! Du sagst es, Elen! Was für eine Katzenmusik! Musik aus was immer für einem Herzen! Mensch!« Dann richtete er sich wieder auf, kratzte sich den Brustkorb und blickte sie an. Seine kleinen dunklen Augen wirkten außerordentlich fröhlich. »Elen«, bemerkte er. »Elen Evans. Wer hätte gedacht, daß du so groß werden könntest.« Elen blieb reglos. »So groß nun auch wieder nicht, George. Nur eins siebzig.« St. Ives' Kopf schwenkte nach rechts und links, wohl einfach aus Lust an der Bewegung. »Du weißt, was ich meine, liebe Dame. Warum willst du es verschweigen? Wem könnte es noch wehtun?« Elen saß starr da, die beschlagene Sprudeldose fest in der weißen Hand. Sie öffnete den Mund, doch kein Laut drang heraus. Ted, der immer noch auf dem hohen Tisch saß, spähte besorgt auf den kahl werdenden Kopf seines 128
Schützlings. Martha stand halb auf, wußte aber nicht, ob sie bei Elen bleiben wollte oder ob die beste Hilfe darin bestand, zu gehen, ehe unwillkommene Enthüllungen folgten. »Warum die Tatsache verschweigen, daß wir beide einmal etwas miteinander hatten. Es ist lange her, bis du wußtest…« »… bis ich irgend etwas wußte«, beendete Elen den Satz für ihn, und um ihr Unglück vollständig zu machen, tauchte in diesem Moment Pádraig ó Súilleabháin in der Tür auf und blickte von einem zum anderen. »Ehe ich überhaupt irgend etwas wußte. Ich dachte, daß du nach all den Wochen jetzt so höflich sein würdest, deinen Mund zu …« Er zuckte übertrieben die Achseln. »Was soll's? Wir alle haben klein angefangen. Ich als arroganter Punker und du als Groupie.« Elen stieß mit gelassener Stimme ein schockierendes Wort aus. Ted sprach lauter als sie: »Du wolltest doch Elen bestimmt nicht beleidigen, George. Ich bin sicher, wenn du dir das besser überlegt hättest…« St. Ives, immer noch sanft lächelnd, schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nicht Groupie genannt, Pozz. Ich behaupte das Gegenteil, nämlich, daß sie jetzt kein Groupie mehr ist. Das ist ein großer Unterschied.« »Warum bitte …« Jetzt mischte sich Martha Macnamara ein, und zwar mit bitterer Stimme. »… warum bitte wird eine Frau mit Interesse an Musik immer automatisch zum 129
… ?« Sie rang um Beherrschung und atmete tief ein. »Ich erinnere mich nicht gern an die vielen Male, bei denen ich im Verlauf meiner buntscheckigen Karriere gefragt wurde, mit wem aus der Gruppe ich verheiratet sei oder mit wem ich schliefe, daß man mir erlaubte, mitzureisen. Erlaubte!« Ihre Stimme brach. »Manchmal waren das Gruppen, die ich selbst zusammengestellt hatte. Ich habe sie gemanagt.« Sie atmete mit einem Schauder aus. »Und jetzt bin ich sehr froh, weit über fünfzig zu sein.« Ted Poznan ergriff die Gelegenheit, die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken, und konnte sein Lachen nicht unterdrücken: »Das hilft aber auch nichts, Martha. ›Weit über fünfzig‹ klingt, als gingest du schon an Krücken. Du hast aber von allen hier Anwesenden das anstrengendste Privatleben.« Elen unterbrach ihn: »Wo wir hier gerade Beichten ablegen, George, erzähl doch bitte genauer. Wir hatten eine sehr kurze Affaire, und zwar vor acht Jahren. Eigentlich war es gar keine richtige Beziehung.« St. Ives blickte sie unter seinen buschigen Brauen her an. »Vielleicht für dich.« »Wohl eher für dich!« explodierte sie. »Und deshalb hast du mich die ganze Zeit gehaßt«, sagte er tonlos. »Ich weiß es, du Ärmste.« Elen kickte die leere Dose über den schmutzigen Boden. Pádraig fing sie auf und blickte sie an. Sein Blick war voller Bedeutung, aber sie verstand sie nicht. Außerdem war sie zu aufgeregt, um es auch nur zu versuchen. »Ich
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bin nicht die ganzen Jahre enttäuscht herumgelaufen, George. Laß die Sache doch ruhen!« »Ich kann aber nicht«, lautete seine Antwort. »Das ist eine von den Geschichten, die mir keinen Frieden lassen. Ich bin achtundfünfzig, und was meinen Körper und meinen Geist betrifft, habe ich kein gutes Gefühl. Es muß alles geklärt, alles aufgeräumt werden. Du kennst mich eigentlich nicht gut, Elen. Ich weiß nicht, ob mich überhaupt jemand kennt, ich selbst wohl am wenigsten. Schon als Teenager habe ich beschlossen, niemanden, weder Freunde noch Familie noch irgendeine persönliche Bindung zwischen mich und meine Musik treten zu lassen.« »Was für ein bequemes Opfer«, bemerkte Martha, an niemand Spezielles gerichtet. George überhörte die Bemerkung. »Noch würde ich mich vor Geld, Popularität oder anderen Dingen beugen. Ich weiß, es ist für euch Mäd … Frauen schwer zu begreifen, aber mein Kneifen vor der Verantwortung wurde durch Jahre der Entsagung mehr als wettgemacht!« Elen blinzelte. »Ich versuche, daran zu denken, was du dir selbst vorenthalten hast, George.« »Eine Heimat!« Es war, als habe er sich besonders darauf vorbereitet, dieses Wort herauszubrüllen, und war ebenso überrascht wie alle anderen, daß es wie ein Seufzer klang. »Ein Zuhause, eine Familie, Sicherheit…« »Das findet man doch gar nicht auf dieser Erde«, murmelte Long vor sich hin. 131
»… alles, was der normale Mensch hat und nicht zu schätzen weiß.« Martha wollte George gerne fragen, was er mit einem normalen Menschen meinte. Vielleicht einen, der sein Sexualleben nicht auf spontane Bewegungen beschränkte? Sie wollte ihm sagen, daß es viele Menschen in der Welt gab, die ein sehr stabiles Leben führten und trotzdem nie einen Kamin, Pantoffeln und einen treuen Schäferhund besaßen. Aber sie mischte sich besser nicht in diese Auseinandersetzung. George fuhr fort: »Vielleicht hatte ich recht, vielleicht unrecht, aber ich habe immer versucht, das deutlich zu machen. Ich habe niemals einen Menschen verletzen wollen, Elen. Und noch eins muß ich dir sagen, nämlich, was ich tun werde: Ich werde jetzt alle Verantwortung übernehmen. Genau das, und dann werde ich mir vom Leben nehmen, was ich brauche. Daher habe ich diese alte, schwärende Geschichte von uns beiden hervorgeholt. Sie ist ein Teil unserer … Geschichte, die wir versucht haben zu verdrängen. Und das ist wie Selbstmord, Frau. Man könnte ebensogut sterben.« Teddy Poznan, der immer noch über ihm auf dem Tisch saß, nickte zu St. Ives' Worten wie ein glücklicher Buddha. Elen stand mit verschränkten Armen da, steif wie ein Stock. »Ich gehöre aber nicht dazu, George. Ich falle nicht unter deine Verantwortung. Und zu deiner Geschichte gehöre ich schon gar nicht, und ganz bestimmt geht dich mein Leben einen Dreck an!«
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George St. Ives dachte lange über ihre Worte nach und gab ihr dann recht: »Du nicht, Elen, nein, du nicht. Vielleicht sollte ich …« Aber sie war bereits gegangen, hatte sich brüsk an Pádraig ó Súilleabháin vorbeigeschoben. Der junge Mann wollte ihr folgen, hielt aber unsicher inne. St. Ives selbst rief den Jungen zurück. »Pádraig . Komm rein. Wir haben dich eben vermißt.« Pádraig sah ihn an, als habe man ihn gerade auf beide Wangen geschlagen. »Laß Elen in Ruhe, George«, sagte er kämpferisch. St. Ives lächelte freundlich. »Ich werd' ihr nicht nachrennen. Ich weiß, daß ihr beiden euch nahesteht und würde mich nicht einmischen.« Als der andere aber nicht sichtlich besänftigt wirkte, fügte er hinzu: »Ich werde nicht mehr darüber reden, es sei denn, sie beginnt ein Gespräch. Okay?« Pádraig blickte verlegen zur Seite. »Wer sagt, daß wir etwas miteinander haben? Ich habe niemals …« Marthas Lachen wurde von einem Huster überdeckt. George St. Ives lächelte ebenfalls, und zwar mit dem schönsten Humor, den sie je bei ihm gesehen hatte. »Sowas kann man doch nicht verbergen, Junge. Dir steht das doch auf der Stirn geschrieben. Das ist doch nichts Schlimmes.« Dann grub St. Ives beide Hände in seinen Schopf, um ihn durchzukämmen. Sein Haar war so verfilzt, daß er die Finger machtlos wieder herausziehen mußte. »Mann, Sully, freu dich doch, daß du niemanden betrügen kannst. Denn das Talent dazu ist sehr schlimm, sehr schlimm. 133
Ich habe dich zurückgerufen, weil ich mich bei dir entschuldigen wollte. Ich habe dir diese Tournee vermasselt, und dafür gibt es eigentlich keine Entschuldigung.« Er wiegte sich nach vorn und rieb sich mit beiden Handballen die entzündeten Augengruben. »Verstehst du, ich hatte so viel von dieser Tournee erwartet. Weiß nicht, warum, ich dachte, die fiedelnde Lady, Pozz und ich könnten wirklich was auf die Beine stellen. Vielleicht ein Album herausbringen. Und was du spielst, gehörte einfach nicht dazu. Jedenfalls nicht in meiner Vorstellung.« »Du vergißt Elen«, warf Martha leise ein. St. Ives wedelte eine vermeintliche Fliege fort. »Klar. Die auch. Es war nicht fair, aber mein Traum… ich möchte mich dafür entschuldigen. Zum Teufel, Pádraig, du hast bestimmt deine eigenen Probleme und Geheimnisse, die dich innerlich auffressen. Genau wie ich. Die Nationalität läßt einen nie los. Aber es war wirklich zuviel, daß dich obendrein noch jemand dauernd zum Frühstück verspeist.« Martha hatte den beunruhigenden Verdacht, daß George St. Ives nun zu jammern anfing. Vielleicht teilte Pádraig dieses Gefühl, denn er verließ den Raum ohne ein weiteres Wort. Ted löste unter vielen Zuckungen und leisen Schmerzenslauten seine Beine aus dem Schneidersitz. »Das war großartig, George. Hast dich richtig eingebracht. Ich weiß aber nicht, ob Pádraig wirklich Geheimnisse in sich trägt, die ihn auffressen. Er ist doch erst zwanzig …«
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Jetzt stellte Martha die Frage, die ihr seit Betreten des Raumes auf der Zunge gelegen hatte: »George, bist du betrunken?« Sein heulendes Lachen hallte durch das Zimmer. »Oh, nein, Martha. Ich bin überhaupt nicht betrunken. Ich bin nur lachtrunken von einer kleinen Pille aus dem Kabinett des großen Dealers Pozz.« Ted Poznan blickte verlegen zu Boden, besonders nachdem Martha ihn angesehen hatte. »Nenn mich nicht so! Es ist keine Droge, Roshi, nur eine absolut natürliche Substanz, die der Körper selbst produziert, und sie hat direkte Wirkung auf das Herzchakra …« »Du meinst wie Bienenpollen? Hefe? Aminosäuren?« Ihre Kinderstirn war gefurcht. Er schluckte schwer. »Ja, genau so.« »Und wie lange dauert es?« wiederholte sie. Er seufzte. »So an die acht Stunden.« »Wird er also bei der Vorstellung heute abend … lachtrunken sein?« »Das hoffe ich aber sehr«, meinte St. Ives und streckte sich von einer Seite auf die andere. »Ich freue mich schon darauf.« »Vermutlich nicht sehr«, antwortete Ted. Martha starrte konzentriert auf ihren Zehennagel, der aus der offenen Sandale herausschaute. »Und du, Teddy? Hast du dir auch diese natürliche Substanz eingeworfen?«
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»O nein«, hauchte er. »Ich bin immer so. Der komische Teddy. Ich werde schon auf ihn aufpassen, Martha.« Sie lächelte ihn nur halbherzig an. * Am Spätnachmittag wurde es drückend heiß. Martha vertrug dieses Klima nicht so gut, obwohl es trocken war und eine Brise vom Meer wehte. Sie blieb im Hotel, während Long mit Marty zum Strand ging. Aber das Hotelzimmer war nicht sehr anregend, und sie fand nichts anderes zu tun, als herumzugehen und Pferdehaare aufzusammeln, die sich überall verbreitet hatten. »Musik vom Chakra des Herzens«, sagte sie laut und starrte das breite Bett unverdient feindselig an. Wollten sie heute abend vielleicht Herzchakra-Musik vor einem vollen Haus spielen, das keltische Musik erwartete? Sie hätte das nicht von Teddy gedacht. Aber noch weniger von St. Ives. Vielleicht spielte sich bei ihm ab, was man die männlichen Wechseljahre nannte? Sie hob ihr schwarzes mit Kapok gefülltes Kissen auf, schmiß es in die Raummitte und setzte sich darauf. Dann hielt sie ihre zweite Zen-Sitzung dieses Tages ab, schön und wütend und eine halbe Stunde lang. Die Sonne wanderte am Zimmer vorbei, und mit ihr schwand auch ihr Ärger. Martha überlegte, daß von all den Vorkommnissen des Tages die Sache mit Marty wohl am wichtigsten sei, 136
obzwar sie durch Kindereien von Erwachsenen verdrängt worden war. Wären Pádraig und Elen nicht gewesen, hätte dem Kind leicht etwas zustoßen können. Vielleicht hatte Elizabeth recht gehabt, daß es einem Kind schadet, wenn es mit einer Gruppe nicht sehr erwachsener Erwachsener lebt. Sie hatte immer wieder angedeutet, daß ihre Probleme im späteren Leben aus dieser Zeit rührten (was es allerdings umso sonderbarer machte, daß sie Martha gebeten hatte, ihre eigene Tochter fünf Tage lang mitzunehmen). Vielleicht vertraute sie auf Long, Martys selbsterwählten Daddo, daß er ein Auge auf sie hielt. Wahrscheinlich aber war, daß sie sich so daran gewöhnt hatte, Großmutter als Babysitter zu benutzen, daß sie nicht weiter darüber nachgedacht hatte. Nun, diese Situation würde morgen zu Ende sein, denn sie fuhren nach Los Angeles und dem letzten Konzert dieser Tournee. Elizabeth würde um neun Uhr im Hotel sein, und dann konnten sie in Ruhe über Martys Alleingang und Judy und alles weitere reden. Elizabeth mußte jetzt schon unterwegs nach Santa Cruz sein, falls sie die Nacht in San Francisco verbrachte, was sie gern tat. Martha spürte einen leisen Zweifel. Ihre Tochter war sehr zuverlässig, doch sie mochte sich nicht vorstellen, was geschah, falls Liz nicht kam und es später und später wurde, und sie immer noch fünfhundert Meilen Fahrt in einem alten Lieferwagen bei dieser Hitze vor sich hatten. Dann fiel ihr der Name von Elizabeths engster Freundin in San Francisco ein. Elizabeths Kreis war nicht sehr groß, doch die Freundschaften, die sie pflegte, waren auf Beton 137
gebaut. Falls Elizabeth heute nacht nicht bei Shirley schlief, dann wußte Martha, wo sie sie antreffen würde. Es dauerte zehn Minuten, die Nummer bei der Auskunft herauszubekommen, ihre Telefonkarte einzustecken und durchzukommen. Elizabeth war schon dort. Martha erzählte, daß es Marty gutginge, und dann sprachen sie über das Haus, das Elizabeth und Fred in Mendocino bauten. Man hatte gerade die Isolierarbeiten beendet, und Elizabeth fragte ihre Mutter, ob sie wisse, ob man von den davon herumschwebenden Teilchen wohl eine Staublunge bekäme. Martha gab ihre Unwissenheit auf diesem Gebiet zu und überhörte geschickt die Frage, ob sie wohl rechtzeitig wieder in Mendocino sein würde, um bei den Arbeiten mit Rigips helfen zu können. Dann fragte Martha beiläufig, wer Judy sei. »Ich … weiß es nicht, Mutter. Irgendein Kind aus der Spielgruppe? Im Montessori-Kindergarten sind vierzig Kinder, und zwanzig in der Tagesstätte, die gerade zugemacht hat.« »Das muß aber jemand besonderes sein. Sie redet viel über Judy. Judy ist unglücklich. Marty hat sie heute gesucht. Ganz allein.« Und sie erzählte der Tochter von dem Vorfall, wobei sie sich auch selbst etwas dafür verantwortlich hielt. Elizabeth nahm die Sache gut auf, konnte aber auch nicht weiterhelfen. »Kann Judy nicht irgend jemand dort sein? Eine Freundin von einem aus der Gruppe oder ein Zimmermädchen?« fragte sie. Martha verneinte es und fügte hinzu, daß das Kind während der
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kurzen Zeit mit der Band weder Radio gehört noch ferngesehen hatte. Elizabeth stieß ein sonderbar befriedigtes Brummen aus. »Dann muß sie unsichtbar sein.« »Ah … wer?« »Ich habe schon darauf gewartet, Mutter. Früher oder später würde sich jedes Kind von Martys Kaliber einen unsichtbaren Spielkameraden zulegen. Bei ihrer gegenwärtigen Einsamkeit …« Martha hatte in dem Entschluß angerufen, sich ihrer Tochter gegenüber entschuldigend und unterwürfig zu verhalten, wohl wissend, daß sie in Fragen der Kindererziehung nicht immer einer Meinung waren. Doch jetzt konnte sie sich nicht länger zurückhalten. »Einsamkeit? Meine Liebe, das Kind hat in den letzten fünf Tagen nicht einmal allein gepinkelt!« Und ich auch nicht, fügte sie stumm hinzu. »Das ist etwas anderes. Ich kann mich gut erinnern, an Musiker, die abwechselnd high oder down waren. Erwachsene sind für ein Kind nicht die richtige Gesellschaft. Es schadet ihr nicht etwa«, fügte sie rasch hinzu, weil sie sich vielleicht daran erinnerte, daß sie selbst diesen Urlaub für Marty vorgeschlagen hatte. »Ich bin mir aber sicher, daß der damit zusammenhängende Streß diese Judy hervorgezaubert hat.« Dann fragte sie mit veränderter Stimme: »Mutter, habt ihr eigentlich immer noch diesen unmöglichen Typen dabei? Den Dudelsackspieler? Ich könnte mir vorstellen, daß der allein ausreicht, Marty Angst einzujagen.« 139
Marthas Hand um den Hörer verkrampfte sich. »George St. Ives ist bei uns, klar. Wir bekämen auch die größten Schwierigkeiten, wenn er uns im Stich ließe. Die Gruppe wurde ja um einen Bläser als Mittelpunkt gebildet, der etwas davon versteht, und er ist der beste, den wir finden konnten. Seine Manieren und Ideen sind vielleicht nicht ganz auf der Höhe, aber er läuft schon lange damit herum. Genau wie ich«, fügte sie hinzu, erwähnte aber nicht, daß ihre eigenen Überzeugungen wohl zwar genauso alt, aber mit denen von St. Ives überhaupt nicht identisch waren. »Aber wenn er Marty Angst einjagen oder sie auf irgendeine Weise einschüchtern wollte, dann soll er es ruhig einmal versuchen. Sie ist unerschrocken, unbeeindruckbar und absolut frei.« »Das hat sie von dir«, erwiderte Elizabeth. »Manchmal überspringt das eine Generation. Vielleicht auch von Fred. Habe ich dir erzählt, wie er beim Gerüstbau auf dem Mauerwerk herumsprang? Er meint, er habe eine natürliche Begabung zum Zimmermann, aber ich glaube, er kann sich nur einfach nicht vorstellen, sich zu verletzen. Wie ein Kind. Aber ich auf meinem Fahrrad …« Man hörte, wie im Nebenzimmer, wo Marty normalerweise schlief, eine Tür geöffnet und geschlossen wurde. Dem Geräusch folgte ein energisches Trommeln kleiner Füße gegen das Bettgestell, als Marty abgesetzt wurde. Dann hörte Martha eine Männerstimme, aber nicht die Longs. Sie stand auf, um nachzusehen, doch als sie Marty ›Daddo‹ antworten hörte, hielt sie inne. Long sprach mit seinem tiefen Oxfordakzent, was bedeutete, er war nicht glücklich. »Du wirst das 140
niemandem erzählen, ganz einfach, weil du es mir versprochen hast, ob du damit einverstanden bist oder nicht. Das ist eine Ehrensache, und ich verlasse mich auf dich.« Hatte die Stimme einen bedrohlichen Unterton? Martha dachte an Stoughie und an Longs Sorgen wegen der Polizei. Sie dachte auch an das schwarze Kabel, das Mayland fast ins Krankenhaus gebracht hatte. »Einen Moment«, sagte sie und unterbrach eine Geschichte über gebrochene Speichen, einen Nachbarjungen und ein Eisengeländer. Als sie die Verbindungstür öffnete, hörte sie, wie die Tür zum Flur geöffnet und geschlossen wurde. Marty saß auf dem Bett und zog einen Schnürsenkel aus ihrem Tennisschuh. Long stand allein und makellos neben der Tür. Seine dunkle Haut glänzte im Kontrast zum groben Stoff seines Jacketts. Sein Blick wirkte nachdenklich und wütend und nicht gerade einladend. »Hallo«, sagte Martha und kehrte zum Telefon zurück.
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» Und wenn er gestorben ist, werd' ich ihm ewige Ruhe wünschen« Es war furchteinflößend, wie Martha den Kopf von einer Seite auf die andere wiegte, doch ihr Schweigen wirkte noch bedrohlicher. Die erschienenen Musiker sahen einander an. »Es tut mir so leid, wie nur irgendwie möglich«, sagte Teddy Poznan, nicht zum ersten Mal. »Ich bin aber wirklich davon überzeugt, daß es nichts mit dem MDM zu tun hat.« Marthas besorgte blaue Augen richteten sich scharf auf ihn. »MDM? Adam? Aber du hast doch behauptet, es sei eine natürliche Substanz gewesen, wie Bienenpollen? Adam ist eine illegale Droge.« Teddy konnte nur zusammenzucken. »Das ist aber nicht recht so, Martha. Und es ist bestimmt eine natürliche Substanz im Gegensatz zu all dem anderen Zeugs, das sich George tagtäglich einwirft.« Martha Macnamara wandte sich von ihm ab und sah sich in dem kleinen Kreis nach Unterstützung um. Elen zog eine Braue hoch und senkte den Blick dann auf ihre lackierten Fingernägel. Longs Augen schauten leer und mitleidslos. Pádraig ó Süilleabhäin blickte auf die Wanduhr, die sieben Uhr vierzig anzeigte. Ted fuhr fort: »Tatsache aber ist, daß das Zeugs keine so lange Wirkung hat. Ganz bestimmt ist es nicht der Grund, warum er jetzt nicht auftaucht.« 142
Marthas Wut verflog und wurde von Neugier abgelöst. »Vielleicht ist er irgendwo eingeschlafen? Vielleicht am Strand?« »Vielleicht hat er sich ins Meer gestürzt«, vermutete Elen Evans mit hartem Blick. Teddy bäumte sich auf wie ein Pferd und rollte mit den Augen. »Quatsch! Doch nicht bei Adam!« Sie zuckte die Achseln. »Dann hat ihn vielleicht jemand mit außerordentlich gutem Geschmack hineingeworfen.« »Noch zwanzig Minuten«, sagte Pádraig . Martha stöhnte und schlug auf den Tisch. »Genug. Wir müssen jetzt überlegen, was wir machen, wenn er nicht aufkreuzt.« Alle um den Tisch Versammelten nickten, doch abgesehen von einer erwartungsvollen Haltung trug niemand in den nächsten zwei Minuten etwas bei. Schließlich seufzte Martha und sagte: »Es ist eine Schande, daß keiner von uns singen kann. Es ist so einfach, ein Lied zu begleiten oder respektvoll dazusitzen, während jemand jodelt. Es dauert auch schön lange.« Pádraig, der neben Elen saß, stieß diese mit dem Finger an. »Elen, kannst du das nicht? Du siehst aus wie ein Mädchen, das singen kann.« »Ich singe wie ein Frosch.« Die dunkelhaarige Frau drehte eine Locke um einen rosigen Fingernagel. »Nun, dann vielleicht Sie, Mayland. Ich wette, Sie singen wie eine Orgel mit Ihrer tiefen Stimme.« Der Tonfall des jungen Mannes klang neckend, aber er wagte es nicht, Long in die Rippen zu stoßen. Anstelle einer 143
Antwort starrte ihn Mayland Long mit Augen an, die so hell waren wie bei einem Papagei, und schneuzte sich. »Laß es, Pádraig «, sagte Martha erschöpft. »Keiner von uns hat auch nur genügend Stimme, um ein Taxi herbeizurufen.« Aber Pádraig hatte eine seiner drolligen Launen und gab nicht nach. Er alberte herum, platzte unverhofft mit Lachen heraus und machte auf seiner Messingpfeife ein ordinäres Geräusch. »Meine Schwester Órla kann singen«, sagte er. »Seannós.« Martha zuckte eine Braue hoch. »Ja, wirklich? Ich habe sie nie gehört.« »Sie hört sich so an«, sagte Pádraig . Er kniff die Augen zusammen und schnitt ein Gesicht, das mit großer Konzentration auf die Hände in seinem Schoß starrte. Die Laute, die er dabei von sich gab, waren völlig überraschend und hatten nichts mit seiner üblichen Stimme zu tun. Elen und Teddy, die ihn niemals Irisch sprechen, geschweige denn singen gehört hatten, zuckten deutlich zusammen. Das Lied klang hoch und kehlig und schwang sich mit unendlichen Verzierungen ohne Pause auf und ab. Es wirkte sehr förmlich, entrückt, völlig gezügelt und so sehr wie eine Liturgie wie keine andere westliche Musik. Vor allem klang es unaussprechlich traurig. Pádraig beschloß es mit einem lauten, ordinären Lachen und boxte Teddy an die Schulter. »Das war ›Caoineadh na d'Trí Muire‹, ›Die Klage der Drei Marien‹. Und danach wischen sich alle alten Leute die
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Augen und sagen: ›Ewiges Leben, Órla!‹ Sie ist bei den Alten sehr beliebt, meine Schwester.« Martha schüttelte wieder den Kopf, aber in einem sehr anderen Rhythmus. »Das habe ich nie gewußt. Wie viele Lieder kannst du, Pádraig?« Der junge Mann sah sie mit rollenden Augen an. »Nein, nein, ich singe nicht. Ich habe nur meine Schwester imitiert, das war alles.« Martha holte tief Luft. »Wie viele Lieder deiner Schwester kannst du … imitieren?« Pádraig zuckte zusammen, schnaubte und wandte den Kopf ab. »Vielleicht drei, aber… ach, nein, Martha, ich würde mich da oben wie ein Esel fühlen …« »Hört sich phantastisch an, Pádraig «, sagte Teddy und schlug ihm auf die Schulter. »Du kannst dieses Talent doch nicht mißachten.« Der junge Mann entzog sich Teddys Ernsthaftigkeit und suchte Elen Evans' Blick. Sie erkannte eine Spur echter Angst in seinem Gesicht. Dann nahm die Harfenistin Teddys Platz neben Pádraig ein. Ihre Hand auf seiner Schulter schüttelte er nicht ab. »Weißt du, mein Lieber, im ganzen Publikum sitzt kein Mensch, der dich kennt oder den du jemals wiedersehen wirst. Vermutlich hat niemand eine Ahnung, wie ein solcher Gesang eigentlich klingen sollte, ganz zu schweigen davon, daß jemand beurteilen könnte, ob du es richtig machst.« Darüber lachte Pádraig und wirkte ein wenig mutiger.
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»Darauf würde ich aber nicht wetten«, meinte Martha, sprach es aber nicht aus. »Aber… aber ich singe immer nur auf meinem Boot, wo es keine Rolle spielt, wenn ich den Text vergesse. Wenn ich nun …« Elen hob die mageren Schultern. »Dann erfindest du einfach etwas. Lautmalerei. Sing doch einfach vulgäre Flüche. Mach's der guten alten Elen zuliebe, ja?« »Und für Martha.« Pádraig sah unsicher von einem zum anderen. Dann warf er einen panischen Blick zur Uhr. Mit der Resignation eines Sterbenden bat er: »Holt mir einen Whiskey.« * Martha betrachtete das rötliche Abendlicht, das durch die schmutzigen Scheiben fiel, und lauschte auf ihren Herzschlag. Noch zehn Minuten. Sie hatte das sonderbare Gefühl, in einen schwarzen Tunnel geschleudert zu werden, in dem sie unbekannten Kräften ausgeliefert war. Das war kein Lampenfieber. Martha kannte Lampenfieber in all seinen Erscheinungsweisen. Es hatte auch nichts damit zu tun, daß George sie versetzt hatte. Dieser fürchterliche Scherz hing allerdings damit zusammen, ebenso die Sache mit Judy. Schlechtes feng shui. Schlechte Kommunikation. Schlechte Tournee. 146
Nein, eigentlich war es eine sehr gute Tournee gewesen, und eine, an die sie sich in späteren Jahren noch gern erinnern würde. Sie waren alle gute Musiker. Sie zwang sich, das laut auszusprechen: »Gute Musiker, allesamt!« Dabei fiel ihr etwas ein. »Hat Pádraig jetzt nicht all deine Probleme gelöst, Martha? Du siehst so … besorgt aus.« Als Martha sich von dem schmutzigen Kellerfenster zu Long wandte, wirkte ihr Gesicht immer noch besorgt, doch nicht mehr so abwesend. »Fast, mein Herz, aber… ich wäre dir dankbar, wenn du mir nach unzähligen Gefallen noch einen einzigen tun würdest…« Long spürte eine leise, unangebrachte Enttäuschung. Seit Martys Ankunft hatte er jeden Abend in einem Hotelzimmer zugebracht, doch heute hatte Elens Freundin Sandy angeboten, ihn zu vertreten, damit er dem Konzert beiwohnen könnte. Er saß so gern in der ersten Reihe und sah Martha zu. Doch seine Miene verriet nichts von seinen Gedanken. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Madame. Soll das bedeuten, daß ich das ganze Konzert verpasse?« Marthas Augen verschwanden in einem Kranz von Lachfältchen. »O nein, du wirst alles sehr gut hören.« Long wurde schläfrig unter den heißen Scheinwerfern und mußte sich wiederholt in Erinnerung rufen, daß er sich nicht vor dem Mikrofon die Nase putzen durfte. Er war nicht nervös, als er da vor dem kleinen und nicht sehr traditionellen elektrischen Klavier saß und auf die Einsätze für seine Begleitung wartete. Jedenfalls machte ihn das Publikum nicht nervös. Trotz der Dunkelheit im 147
Saal konnten seine scharfen Augen die einzelnen Gesichter erkennen, aber sie berührten ihn ebensowenig wie eine Schar Vögel oder eine Kaninchenfamilie. Er hätte lieber seine Noten mitgebracht, doch Martha hatte es ihm strikt verboten. Doch das war auch nicht wichtig. Auf einem ganz anderen Blatt stand jedoch, daß er vielleicht seine Lehrerin enttäuschen könnte. Aber die achtete nicht auf ihn. Und Pádraigs Gesang brauchte sie eigentlich auch nicht, dachte Long, wie gut er auch klang. Und St. Ives' durchdringendes Gepfeife hatte sie niemals nötig gehabt. Sie konnte ganz allein mit einer ein Pfund schweren Fiedel dieses Publikum die ganze Nacht hindurch in ihrem Bann halten. Er beobachtete Martha mit verhaltenem Stolz, als sie ihre kleine Verbeugung vor dem Publikum machte. Er lauschte ihrer sehr kurzen, sehr entspannten und nicht sonderlich witzigen Einführung. Er wartete. Martha eröffnete das Konzert mit einem wilden, die Sinne verwirrenden Vorspiel, für den Fall, daß irgend jemand wagen sollte, sich über das Fehlen eines Musikers zu beklagen. Pádraig nickte, als brächte er selbst diese Töne hervor. Er gab sich heute als ungezogener Junge und grinste wie ein Narr. Strömte aus allen Poren Selbstvertrauen aus, fand Long. Vielleicht war es für ihn wichtig gewesen, zu etwas gezwungen zu werden, für das er nicht die volle Verantwortung trug, wie das Singen, um sich zum ersten Mal auf dieser Tournee wohl zu fühlen. Vielleicht dachte 148
er aber auch, es sei alles zu albern, um nervös zu werden. Sein Akkordeon stimmte nun in perfektem Unisono zu Martha ein, und, Wunder über Wunder, es klang hinreißend. Dann folgte Elen ebenso stimmig auf ihrer zickigen Harfe. Und natürlich setzte auch Mr. Long perfekt (kein Selbstlob, bitte) mit seinen einfachen Läufen und Trillern ein. Pádraig sang: ›An Bunnán Buí‹, doch zuvor gab er eine kurze Erklärung ab, daß es ein Gedicht über den bitteren Tod des Verdurstens sei und daher eine Ermahnung, niemals mit dem Trinken aufzuhören, was immer der Arzt einem auch riet. Er verhedderte sich ein wenig und machte nicht ganz deutlich, ob nun Raftery, der Dichter, gestorben war oder der Vogel, aber er machte seine Sache sehr nett. Und das Lied kam an. Alles klappte. Wunder über Wunder, Pádraig ó Súilleabháin schien es zu genießen, öffentlich aufzutreten. Elen strahlte, als sei der Junge ihre eigene Schöpfung, und Martha machte Scherze auf der Violine. Teddy, immer noch nervös und entschuldigend, stellte das perfekte Abbild eines sich selbst verleugnenden Begleitmusikers dar. Long selbst spürte eine Welle von Kameradschaftlichkeit gegenüber den Musikern, die ihn überraschte. Doch seiner Art gemäß drängte er es zurück und spielte während einer Serie von Rundtänzen mit mechanischer Strenge. Aber dann nahm es wieder überhand und hielt ihn im Griff. Er tauschte sehr freundliche Blicke mit Elen Evans aus. 149
Ohne George St. Ives, dachte er, machte alles richtigen Spaß. ›Kid on the Mountain‹ gelang ihnen wunderbar. Nach den ersten fünfundvierzig Minuten stürzten sie strahlend und schweißnaß hinter die Bühne. Martha wirkte regelrecht beschwipst. Sie schlug Elen und Pádraig auf den Rücken, kitzelte sie mit dem Violinbogen und zwinkerte Long ganz unvornehm und übertrieben zu. Elen wischte sich das Gesicht mit einem groben Papierhandtuch ab. »Liebe Güte, Martha. Das ist das tollste, schönste Konzert. Ich fühle mich wie ein Kind, wenn es endlich aus der Schule kommt.« »Es ist wirklich wunderbar«, bestätigte sie. »Zwar nicht besonders gut organisiert, aber es läuft sehr gut. Wenn wir nur nicht zu viele Ethnologen im Publikum haben …« Elen hielt das Papierhandtuch immer noch in der Hand und atmete heftig, als ihr Blick auf einen säuberlichen Stapel Flöten auf dem Tisch fiel. »Schade, daß wir uns so gut fühlen, nur weil jemand nicht dabei ist, nicht wahr?« Teddy, der sich vielleicht von der allgemeinen guten Laune ausgeschlossen fühlen mochte, schlich durch das Zimmer. »Ich kann nicht sicher sagen, daß er nicht hier gewesen ist, Leute, aber wenn ja, dann hat er sicher keine Spuren hinterlassen.« Martha merkte, daß alle Blicke auf dem Gitarristen ruhten, und nutzte die Gelegenheit, um Long zu umarmen und zu küssen. Sie flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr, woraufhin er in Lachen ausbrach.
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»Nein, wirklich sehr gut«, flüsterte sie noch einmal. »Ich kann die da draußen doch nicht unendlich lange raten lassen.« Dann fuhr sie lauter fort: »Die Not bringt manchmal die schönsten Dinge hervor. Was nichts gegen Georges Musik besagt. Es hätte ja auch eine echte Notlage sein können.« Niemand gab eine Antwort. * In der ersten Reihe saß ein Herr mit einem Schnurrbart, so groß wie ein Fahrradlenker, und gelichtetem Haar. Long war der Meinung, daß er Martha Macnamara zu interessiert und ohne den angemessenen Respekt anstarrte. Wofür hielt er sie wohl? Für ein Plakat an einer Wand? Hätte Longs zierlicher Körper eine Halskrause wie ein Hahn getragen, sie hätte sich nun gesträubt. Doch die Beschäftigung mit diesem Herrn hielt ihn nicht davon ab, seine Einsätze zu beachten, und nach der ersten Serie des zweiten Teils machte Martha ihre Drohung wahr und stellte ihn dem Publikum vor. Sie erklärte, er sei im letzten Augenblick für einen erkrankten Musiker eingesprungen. Dann fügte sie hinzu, er sei kein Ire, und dafür erntete sie übertrieben herzhaftes Gelächter. Long stand überaus würdig auf und verbeugte sich in chinesischer Manier.
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Pádraig beugte sich zu Martha und schnappte sich das Mikrofon. »Keiner von uns ist Ire. Wir stammen alle aus Minnesota.« Danach folgten nur noch wieherndes Gelächter, Albereien und jede Menge sehr fröhliche Musik. Das Konzert dauerte bis elf Uhr. Teddy bekam die Chance für zwei Soli, die zwar kaum traditionell keltisch waren, aber genau das, was Santa Cruz gern hören wollte. Pádraig sang: ›Is Fada Mo Chosa gan Bróga‹, ›Caoineadh na d'Tri Muire‹ und sogar ›Casadh an t'Súgáin‹, wobei er nicht mehr den gesamten Text wußte. Er erzählte dem Publikum vom Seilknüpfen und was es bei der Brautwerbung für eine Bedeutung hatte. Zum Schluß erteilte er den Leuten den Rat, falls sie Geld an Touristen verdienen wollten, ihre Hotels und Pensionen mit Stroh zu decken. * Gegen Ende wurden sie immer ausgelassener, und Long vergab sogar dem Mann mit dem Fahrradlenkerschnurrbart, der nach der Show mit Martha sprechen wollte. »Meine Güte, was für ein Abend!« Elen winkte der sich leerenden Halle mit gespielt müden Handgelenken zu. »Übung! Vorbereitung und Präzision, meine eisernen Prinzipien. La! Dahin!«
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Endlich war Pádraig einmal zu müde, um entweder zu grübeln oder zu toben. Er sah Martha scheu von der Seite an, weil er wußte, er hatte ihr gefallen. Martha hingegen schwankte vor Erschöpfung, und Long trat neben sie und nahm ihr die Violine ab. Teddy, der zehn Minuten vor ihnen von der Bühne gestürmt war, kehrte aus der Garderobe zurück. »Er ist immer noch nicht da. Und ans Telefon geht er auch nicht. Ich muß ihn suchen, Martha.« Martha holte tief Luft und schüttelte den Kopf, um einen klaren Gedanken fassen zu können. »Ach ja, George. Nun, da hast du wohl recht«, sagte sie. * Die weißen Korbstühle im Hoteleingang wirkten im Mondschein wie Spinnennetze, die Blätter der unzähligen Topfpflanzen wie die fetten Bäuche ihrer Bewohnerinnen. Martha ging mit abgewandtem Kopf hindurch. »Wenn er nur nicht ein solcher… wäre, und getrennt, aber gleichwertig wohnen wollte …!« Long lächelte dünnlippig. »Vermutlich wäre es ihm peinlich, seine Freundinnen in diese Art Familiensituation einzubringen, die sich unter uns entwickelt hat, Martha. Und die jungen Leute hätten nicht solchen Spaß gehabt, wenn er nebenan geschlafen hätte.« Es war, als hätte sie ihn nicht gehört. »Das schlimmste aber ist, daß wir nicht die Polizei rufen können, um ihn 153
suchen zu lassen. Der Mann ist irgendwo draußen und …« An dieser Stelle senkte sie die Stimme in einer Art verzweifelter Wut. »… wirft sich illegale Drogen ein, möchte ich wetten. Er würde uns nicht sehr dankbar sein.« »Vielleicht können wir irgendeine Organisation hinzuziehen, anstatt die Polizei«, schlug Long vor. »Gibt es denn für solche Krisen keine Telefonberatung? Irgendwie, meine ich, habe ich etwas Derartiges gelesen.« Nach dem dunklen Vorraum wirkte die Empfangshalle des Hotels zu grell. Martha kniff vor dem hellen Licht die Augen zusammen und ging rasch auf ihr Zimmer zu. Sie suchte in ihrer kleinen Handtasche nach dem Schlüssel für die rechte Tür, doch Long öffnete schon die andere, ehe sie ihn gefunden hatte. Er folgte ihr in den Raum. »Kalt«, murmelte sie. »Komisch, wie groß der Temperaturunterschied bei klarem Nachthimmel ist. Heute nachmittag …« Das Bild, das sich ihnen bot, stoppte aufgrund seiner stillen Sonderlichkeit ihren Redefluß. Zwei Gestalten saßen in entgegengesetzten Ecken des Zimmers, in dem es, abgesehen vom Neonlicht aus der Badezimmertür, dunkel war. Sie saßen in gleicher Haltung, die Arme um sich geschlungen, die Hände auf den Schultern. Beide waren reglos und hatten die Zähne zusammengebissen. Diejenige, die dicht an der Tür saß, war Elens Freundin Sandy, die Babysitter- und Grabenzieherin. Die andere war Marty, die wie eine Königin auf dem Bett hockte. Ihr Gesicht war tränenverschmiert.
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Der Babysitter zuckte zusammen und bemerkte sie erst jetzt. Sie mühte sich aus ihrem Sessel. »Gott sei Dank, daß Sie zurück sind! Ich bin froh!« Sie stand jetzt dicht vor Martha, hielt die Arme aber immer noch um den Brustkorb geschlungen. Martha, deren Blick vogelartig zwischen Sandy und dem Kind auf dem Bett hin und her wechselte, war neugierig und ein wenig wütend. »Es ist zu kalt hier«, sagte sie. »Haben Sie denn immer noch die Klimaanlage eingeschaltet?« Sandy blickte auf ihre bläulichen Arme. Sie begann zu zittern und mit den Zähnen zu klappern, als bemerke sie die Kälte erst jetzt. »Gott, Gott, nein. Es ist nur … hier … ich wußte nicht, daß Kinder eine so sonderbare Energie haben können.« Martha starrte die Frau ausdruckslos an, die jung und mager war und trotz des ägyptischen Gazekleides und des Zigeunerschmucks leicht altjüngferlich wirkte. Long hingegen stieß einen Laut aus, der zwischen einem Summen und einem wütenden Zischen lag. Er schob sich an den beiden Frauen vorbei und schlug auf den Lichtschalter. Martys Gesicht wirkte konzentriert und sehr erwachsen. Auf die unerwartete Helligkeit reagierte sie, indem sie die Augen fest zusammenkniff. Sie biß die Zähne fester zusammen und sah aus, als habe sie Schmerzen. »Ist sie… ist sie innerhalb der Kurve?« fragte Sandy. »Ich meine, ist sie normal?« Dann zuckte sie entschuldigend die Achseln. »Vermutlich kenne ich mich mit 155
Kindern nicht so gut aus. Wahrscheinlich hätte ich ablehnen müssen, auf sie aufzupassen. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Ich muß jetzt gehen. Ich ruf Sie morgen an.« Die junge Frau war verschwunden, noch ehe Martha eine höfliche Erwiderung eingefallen war. Long setzte sich auf die Bettkante und legte seine übergroße Hand auf Martys Wange. Martha trat zu ihnen. »Was ist denn nur los, mein Lämmchen? Habt ihr euch gestritten?« Von Ferne hörte man eine Sirene, und das Licht wurde dunkler. Martha hob den Kopf, und das Geräusch kam näher: dünn, metallisch, durchdringend. Zuerst hielt sie es für einen Dudelsack, einen Moment später für den Schrei eines Seevogels. Kälte stieg aus dem Bett hoch und schlug ihr entgegen. »Martha, sieh mal!« flüsterte Long entsetzt. Er hielt Martys Kopf zwischen den Händen, und es war nicht mehr ihr Gesicht, sondern das eines Idioten: schlaff, mit herabhängenden Mundwinkeln und einer runden, vorgewölbten Stirn. »Marty!« Keine Reaktion. Martha berührte das schreckliche Gesicht, und es fühlte sich trotz ihrer kalten Finger feucht und kalt an. »Was ist das, Martha?« Longs Augen waren in der Dunkelheit narzissengelb und groß. Er hatte die Lippen vor Furcht oder Staunen hochgezogen und schien nur aus Augen und Zähnen zu bestehen. »Was bedeutet das?«
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Marthas Gesichtszüge, ähnlich denen der Enkelin, spiegelten nun den Ausdruck des Kindes wider, so entsetzt war sie. Im nächsten Augenblick überkam sie glühendheiße Wut. Sie schlug das Mädchen mit beiden Händen. »Nein!« schrie sie. »Hör sofort auf damit!« Marty kniff wieder die Augen zu, als das Licht in dem darauffolgenden plötzlichen Schweigen wieder anging. Sie holte tief Luft. »Ihr seid ja wieder da«, sagte sie und kuschelte sich tiefer unter die Decke. * »Wie konnte ich dir das erzählen, Martha? Daß ich ein Geräusch hörte, das Licht ausging und deine Enkelin einen Moment lang wie eine andere Person aussah?« »Doch, das hättest du mir sagen müssen.« Martha griff nach ihrem Nachthemd und legte es wieder hin. Schon zu lange mußte sie für zu viele Leute die Starke spielen, und jetzt befand sie sich nicht in der Stimmung, auf den einzigen Mann, dem sie vertraute, vernünftig zu reagieren. »Dann hätte ich aber wie ein sehr ängstliches Wesen gewirkt, fürchte ich«, lachte Long. »Aber Martha… du weißt doch, daß ich manchmal nicht den rechten Blick für die Wirklichkeit habe.« »Ich weiß, daß du diese Meinung von dir hast.« Er seufzte, und dieser Seufzer löste einen Hustenanfall aus. »Was … was war es denn? Eine Heimsuchung? Besessenheit?« 157
»Oder eine Allergie. Oder eine nervöse Reaktion auf eine schadhafte Stromleitung. Ich weiß es nicht, mein Lieber. Aber ich will, daß es aufhört.« Er versuchte wieder zu seufzen, und dieses Mal gelang es ihm. »Das muß es wohl. Morgen fahren wir ja weiter und lassen die schadhafte Stromleitung hinter uns. Und Marty ebenfalls.« »Sie wird, möge es Gott gefallen, bald zu Hause sein!« Martha runzelte wieder die Stirn, als ihr das Problem einfiel, das damit eng zusammenhing. »Wo wir gerade von den Dingen sprechen, die hinter uns liegen, wir müssen noch einen vermißten Musiker finden. Darf ich dich noch um einen einzigen Gefallen bitten, Mayland? Kannst du bei Marty bleiben, während ich ihn suche?« Im Zimmer war es inzwischen wärmer geworden, und Long hatte sein Jackett abgelegt. Jetzt wiegte er sich unglücklich und protestierend in seinem Sessel hin und her. »Martha, ich stehe immer zu deinen Diensten, wie du gewiß weißt, aber ich bin es ein wenig leid, zu Hause zu bleiben und auf das Baby aufzupassen.« »Oh.« Martha blickte ihn leicht überrascht an, denn es geschah so selten, daß er sich ihren Wünschen widersetzte. Betreten lächelte sie. »Genau! Ich habe dich ausgenutzt! Gut, daß du es mir sagst.« Leicht verlegen wandte er den Kopf, und Martha fand in genau diesem Augenblick seine Gestalt und seine Züge sehr schön. »Nein, das stimmt nicht. Ich meine nur, daß es in diesem Fall einfach besser wäre, wenn ich mich auf die Suche machte.« 158
Einen Moment lang wirkte sie erleichtert. »Was wirst du denn tun, wenn du ihn findest, Schatz? Wenn er noch voll auf einem Trip ist oder krank …?« »Ich habe keine Ahnung, Martha. Was hattest du denn vor?« Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Also kannst du es genausogut übernehmen.« »Komm gut heim«, rief sie der sich schließenden Tür nach. * Martha zog sich gerade ihr Nachthemd an, als Marty im Nebenzimmer auf die Toilette ging. Es gab einen Kindersitz auf dem Deckel, und da Marty recht selbständig war, bestand für die Großmutter kein Grund, ihre Tätigkeit zu unterbrechen. Martha ordnete vor dem Spiegel ihr zerzaustes Haar und wünschte sich dabei zum zwanzigsten Mal, daß sie es nicht kurzgeschnitten hätte. Dann hörte sie die Spülung und das Schließen zweier Türen. Noch fünf Sekunden lang spielte sie mit den ungleichmäßigen Löckchen auf ihrer Stirn, doch dann riß sie die Augen auf und schoß hinaus auf den Flur. »Marty! Wo willst du denn hin?« Martys nackte kleine Gestalt verschwand um die Ecke in die leere Hotelhalle. Ein paar Schritte später schnappte Martha sie und brachte ihren flannellgewandeten Körper so
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rasch wie möglich wieder hinter ihre Zimmertür. Dort warf sie die Enkelin aufs Bett. Ein angestrengtes, besorgtes kleines Gesichtchen starrte sie an. »Wohin wolltest du gehen, Martha FrischMacnamara, mitten in der Nacht?« fragte Martha. Zögernd ertönte die Antwort: »Judy suchen. Judy hat sich verirrt und weint.« Martha holte tief Luft. »Wer ist Judy, Marty?« Angesichts solcher Erwachsenenhartnäckigkeit runzelte Marty die Stirn. »Judy ist natürlich ein Kind.« »Und sie weint? Weint sie jetzt? Hörst du in diesem Augenblick jemanden weinen?« Marty schloß die Augen, als lausche sie. Auch Martha lauschte, denn sie war, im Gegensatz zu Elizabeth, nicht so überzeugt, daß diese hilfsbedürftige Freundin des Kindes erfunden sei. Nachdem sie dreißig Sekunden lang die verschiedenen Geräusche aus dem Badezimmer sowie ferne Stimmen in einem anderen Teil des Motels zugeordnet hatte, war sie immer noch nicht sicher, ob man nicht irgendwo ein Kind weinen hörte. Sie blickte Marty fragend an, doch das Mädchen war eingeschlafen und schlaff wie Seetang. Martha stand auf, ging ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. *
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Es war etwa vier Uhr, als Long zurückkehrte. Er fand Martha in einem Sessel zusammengerollt vor, ebenso tief schlafend wie ihre Enkelin. Ihre grauen Locken waren alle auf eine Seite gefallen, und ihr Hals war so gegen die Sessellehne gestaucht, daß sie leise schnarchte. Long überlegte, ob er sie aufheben und aufs Bett legen sollte, wie er es mit Marty getan hätte, doch diese lèse majesté erwies sich als zu schwer für ihn, und er weckte sie lieber auf. »Martha? Ich habe soviel Pech gehabt, wie ein feng shui nur bieten kann. Es scheint, daß man unseren umherirrenden Bläser nirgends finden kann.« Martha starrte ihn mit der Eindringlichkeit von jemandem an, den man gerade geweckt hat. Das Licht von der Schreibtischlampe beleuchtete ihn von hinten, und er sah unwirklich schlank aus. »Oh … wieviel Uhr …? Vielleicht haben Elen oder Teddy…?« »Vielleicht.« Long trat zum Nachttisch, nahm ein frisches Papiertaschentuch und putzte sich die Nase. »Vermutlich sind sie ebenfalls unterwegs, denn sie sind ebenso unauffindbar. Pádraig habe ich sonderbarerweise gefunden.« Er zog sein Jackett und die Schuhe aus und setzte sich auf eines der Betten. Dann nahm er einen bestrumpften Fuß zwischen die Hände und massierte ihn. Martha zwang ihr Gehirn zum Denken. »Warum sonderbarerweise? Sein Zimmer liegt doch nur zwei Türen weiter.« Long krümmte sein Rückgrat zu einem Halbkreis durch und reckte sich in einer Art automatischer Yogaübung nach
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rechts und links. »Sicher, meine Liebe. Aber da habe ich ihn nicht gefunden, sondern am Pier. In der Riva-Bar.« Martha richtete sich auf. »Hat er getrunken? Unser Pádraig? Das ist das zweite Mal heute abend. Eigentlich darf ich das nicht dulden, denn ich habe es seiner Mutter versprochen.« »Verstrickt in eine Konversation nach Fische Art, während er soff wie ein Fisch.« Sie schnaubte. »Was für ein Satz. Hast du den vorher geübt?« Seine gelben Augen schienen einen Moment aufzuleuchten. »Ja … du weißt, ich bin nicht sehr originell. Daher hätschele ich alles, was mir so einfällt. Kannst du erraten, was der junge ó Súilleabháin trinkt, wenn er ausgeht?« Martha stand mit eingeschlafenen Füßen auf. »Michelob?« Long starrte sie mit einer Mischung aus Enttäuschung und Staunen an. »Genau! Woher weißt du das?« »Das ist das billigste Getränk in der Riva-Bar«, antwortete sie und humpelte ins Badezimmer. Dann erschien ihr Kopf noch einmal im Türrahmen. »Du meinst, er war nicht mit Elen zusammen?« »Nicht, als ich ihn sah«, erwiderte er. »Ich dachte, sie hätten etwas miteinander«, meinte sie und blickte besorgt. »Auch gut. Das wäre auch ein komisches Paar, die beiden.« Sie schloß die Tür wieder.
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Long legte sich aufs Bett und dachte über Marthas letzte Worte nach, bis er lachen mußte. »Ich kenne ein komischeres«, rief er der Badezimmertür zu. * Wäre das Land hinter dem Pier von Santa Cruz eben gewesen, hätte die Sonne bereits über dem Horizont gestanden. Doch jenseits von Santa Cruz lagen kleine Hügel, die sich schwarz vor dem Osthimmel abhoben, und die Zirkusfarben der Morgenröte glänzten nur auf den kleinen Wellen draußen in der Bucht. Die Fischerboote waren heimgekommen, und die kühle Luft roch streng. Ein paar Männer mit blutbespritzten Schürzen betätigten sich hinter den Theken der offenen Fischstände. Das Polizeiauto fuhr sehr langsam, wie ein sonnenbadender Fisch, die Kaimauer entlang. Die Fischhändler winkten dem adretten jungen Mann am Steuer mit leicht übertriebener Freundlichkeit zu. Er zwang sich zu einem Lächeln und winkte zurück. Niemand war unterwegs, abgesehen von denen, deren Beruf es nötig machte. Die Nachtschicht hatte die drei parkenden Autos am Kai bereits mit Strafzetteln versehen (eins schon zum zweiten Mal), und es gab nichts zu tun. Hauptwachtmeister Scherer parkte seinen Wagen am Ende des Kais und stieg aus. Wie rosa und korallenfarben und himmelblau das Wasser draußen aussah. Wie indianischer Schmuck, überlegte er. Er dachte an eine Wüste. Und wie schwarz 163
und flach es dort bei den Wellenbrechern war. Die verhedderten Linien der Nylonnetze, die die Tagfischer zurückgelassen hatten, wirkten wie Spinnweben. Es war verdammt kalt, um im Baumwollhemd unterwegs zu sein. Scherer hätte gern einen Kaffee getrunken. Wenn er bei den Ständen gefragt hätte, hätte man ihm sicher schnellstens einen serviert. Aber das tat er nicht gern, denn es machte ihn verlegen. Hauptwachtmeister Scherer war erst seit ein paar Monaten bei der Truppe und sich seiner Uniform immer noch sehr bewußt. Aber wenn er jetzt einen Kaffee bekäme, könnte er besser beobachten, wie sich die Sonnenfarben von Westen nach Osten über das Wasser ausbreiteten. Langsam schritt er über den grauen Gehsteig, wie ein Mann mit wichtigen Gedanken im Kopf. Er war so groß, daß auch seine schlechte Haltung ihn nicht klein wirken ließ. Er trat zwischen ausgeblichenen Holztischen hindurch und an den mit Geländern abgesicherten Löchern vorbei, an denen die Leute die Seehunde fütterten. Aber jetzt war keine Robbe zu sehen. Dann fand er etwas, das ihn ein wenig interessierte: Ein Seil, das um einen der Geländerpfosten gebunden war. Ein Krabbennetz. Das durfte eigentlich nicht sein, und schon gar nicht die Nacht über. Aber es war nicht Aufgabe der Polizei von Santa Cruz, die Fischereiregeln zu überwachen, doch Scherer war ein junger Offizier, und Krabbenfischen machte Spaß. Man wußte nie, was man alles fing. Er beugte sich vor, um das Netz heraufzuziehen. Es war ein komisches, mürbes Seil, das irgendwo festhing. Er konnte es immer nur ein paar Fuß weit herausziehen. Aber es hing nicht an den Pfählen fest, denn 164
mit den einzelnen Wellen gab es immer wieder ein Stück nach. Scherer hielt das Seil mit einer Hand fest, bückte sich und zog die Taschenlampe aus dem Gürtel. Am Ende des Seils trieb etwas sehr Merkwürdiges in der Flut. Es war weder ein Balken noch ein großer Hundsfisch, die sich gelegentlich unter den Pier verirrten. Ein toter Seehund. Ein Seehund hatte sich in dem Krabbennetz verfangen und war ertrunken. Scherer war zwar Polizist, doch er spürte jetzt die Wut des Umweltschützers in sich, daß ein Meeressäugetier durch Menschenhand umgekommen war. Er richtete die Taschenlampe auf die Stelle, wo sich das Seil verfangen hatte. Er mußte zweimal hinsehen, Seil und Taschenlampe fahren lassend, fiel er auf den Rücken. Hauptwachtmeister Scherer stieß einen schrillen Schrei aus, daß die Fischhändler herangerannt kamen. »Es ist schrecklich! Schrecklich!« sagte er, und seine tiefe Stimme zitterte. »Mein Gott! Ganz blau ist er!« Zögernd warfen sie alle einen Blick in das Loch. ٭
Es war neun Uhr und höchste Zeit, aufzubrechen, doch noch keiner hatte begonnen, den Wagen zu beladen. Weder George St. Ives noch Elizabeth Macnamara waren aufgetaucht. Die kalifornische Sonne hatte erst vor fünf Minuten die Fenster erreicht und kroch nun zu dem Bett, in dem Elen Evans sich schlafen gelegt hatte. Doch die 165
dunkelhaarige Frau achtete nicht darauf. Sie lag da, als warte sie auf ihre Begräbnisblumen, die starren Augen an die Decke gerichtet. Pádraig ó Súilleabháin hing in einem Sessel, denn sitzen konnte man es kaum nennen. Die Beine hatte er mit der Biegsamkeit eines Jugendlichen von sich gestreckt, und seine Arme baumelten auf den Boden. Seine Augen waren sehr rot, als hätte er geweint. Oder als hätte er einen Kater. Ihm gegenüber an dem winzigen runden Tischchen saß Mayland Long, einen Becher in der Hand, in dem noch das Teesieb hing. Falls das überhaupt möglich war, machte ihm seine Erkältung heute noch mehr zu schaffen als gestern, doch er saß kerzengerade, weil er auf seinen Rücken achtete. Marty Frisch-Macnamara saß vor ihnen auf dem grünen Teppich und bemalte das Hotelmobiliar mit ihren Stiften. Lila war eindeutig ihre Lieblingsfarbe. Die Sonne beschien nun ihre Finger, und sie bemerkte es. Sie legte den lila Stift in die Sonne und starrte ihn an. »Sicher können wir noch einen ganzen Tag lang so weitermachen«, schlug Long vor. Er fragte sich, ob Pádraig und Elen sich wohl gestritten hatten. Aber solange sie schwiegen, würde er es nie erfahren. Und das war für ein Wesen mit seiner Neugier einfach unerträglich. Elen wandte ihm ihr wütendes Gesicht zu. »Was meinen Sie mit ›wir‹, weißer Mann. Sie sind es ja nicht, der da auf der Bühne…« Ein Lächeln hellte Longs Gesicht auf. »Weißer Mann? Das paßt nicht einmal als Beleidigung.« Elen bereute schneller, als er fortfahren konnte. »Ach Gott! Es tut mir 166
leid, Mayland. Es stimmt ja nicht. Sie haben auf dieser Tournee ebensoviel Mist erlebt wie wir, und Sie haben nicht einmal das Geld nötig. Ich weiß wirklich nicht, warum Sie nicht schon vor drei Wochen nach Hause gefahren sind.« Über Pádraigs Gesicht huschte der Anflug eines spöttischen Lächelns und verschwand wieder. »Ich weiß, warum er das nicht tat. Seine Freundin wollte ihn nicht fortlassen.« Longs Finger schlangen sich noch fester um den Becher, was verriet, daß er solchen Bemerkungen gegenüber nicht gänzlich unempfindlich war, doch ehe er den Mund öffnen konnte, klopfte es, und Teddy Poznans Stimme sagte etwas, was aber von Martys Schrei: »Teddy! Teddy soll reinkommen!« übertönt wurde. Long stand auf und starrte mit eindringlichen gelben Augen vor sich hin. Er wirkte, als wolle er Marty ihre Bitte abschlagen, doch nach einem Moment rief er: »Die Tür ist offen. Kommen Sie herein.« Als Ted mit einem Polizisten das Zimmer betrat, schien Long als einziger nicht überrascht. »Ich vermute, Mr. Stoughie hat sie hergeschickt?« Long, der immer noch seinen Becher umklammerte, trat auf die beiden zu. Der Wachtmeister, ein sehr adretter junger Mann mit hellen Haaren, sah nur flüchtig auf den Mann mit der negroiden Hautfarbe und den mongoloiden Zügen, der höchst modisch im Tropenstil gekleidet war und ihn mit gelben Augen anstarrte.
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»Ich habe sie hergebracht«, murmelte Teddy und fuhr sich mit seiner rechten Hand, der mit den häßlichen Fingernägeln, durch den Bart. Und dann trat der Mann mit dem Fahrradlenkerschnurrbart ein, als gehöre ihm das Hotel. Es war derjenige, dessen Aufmerksamkeit gegenüber Martha Macnamara Long gestern abend so außerordentlich beschäftigt hatte. »George ist tot«, sagte Teddy und sah Long an. »Er ist tot: Er starb gestern abend, als wir ihn suchten.« Es herrschte dröhnendes Schweigen. Nach fünf Sekunden ergriff der Mann mit dem Riesenschnauzer das Wort. »Wir wissen nicht genau, wann es passierte, Mr. Poznan.« Er hatte eine sehr sanfte Stimme. Elen hatte sich beim Eintreten des Polizisten im Bett aufgerichtet. Jetzt sagte sie: »Nein.« Pádraig schwieg und regte sich nicht, doch beide Augenpaare, das braune und das blaue, zeigten die gleiche schockierte Leere. »Tut mir leid«, fuhr der Fremde fort. »Ich bin Detektiv Sergeant Anderson. Es gibt keine sanfte Art, jemandem so etwas beizubringen.« Dann wartete er einen respektvollen Moment ab und beobachtete sie. Er fand, sie verhielten sich typisch für Leute, die gerade vom Tod eines nahestehenden Menschen erfahren hatten, den man aber nicht allzusehr schätzte. Das Mädchen (denn Sergeant Anderson war fünfundfünfzig, und für ihn war Elen Evans ein Mädchen) starrte zur Wand und schauderte. Der Junge, an dessen Akzent er sich erinnerte, begann nun, den Kopf zu schütteln. 168
Aber dieser schwarze oder orientalische Mann vor ihm… er hatte im Hintergrund der Bühne gesessen und Klavier gespielt… er veränderte sich nicht. Gestern abend hatte er schon verschlossen gewirkt, und jetzt war es nicht anders, außer, daß er Anderson mit sonderbarer Eindringlichkeit anstarrte. Es war, als ob er aus den Reaktionen des Polizisten etwas zu erfahren suchte, anstatt umgekehrt. »Wie ist er gestorben?« fragte Long sehr gefaßt. »Sie haben ihn gefunden …« begann Teddy, doch eine harte Hand auf seiner Schulter brachte ihn zum Schweigen. Der Gitarrist riß die Augen auf, und der blonde Teil seines Haars fiel ihm vors Gesicht. »Ich will es nur einmal berichten müssen, wenn alle zusammen sind«, sagte Anderson entschuldigend. »Und ich meine, ein Mitglied der Gruppe fehlt noch.« Long lächelte grimmig. »Das wissen Sie nur zu gut. Es ist das Oberhaupt der Gruppe. Mrs. Macnamara macht gerade ihre Zen-Übungen.« Andersons Haar war stark gelichtet, und die kahle Stelle oben war dunkler gebräunt als sein Gesicht. Seine grauen Augen umgaben sich mit Fältchen. »Ach ja? Wie interessant. Sie ist wohl überhaupt sehr ungewöhnlich, ja?« Long gab keine Antwort. »Ich möchte sie trotzdem gern sehen«, fuhr Anderson fort. »Es ist wirklich sehr wichtig.« Da öffnete sich die Verbindungstür, und alle fuhren zusammen. Martha Macnamara wirkte in dem blauen Kleid, das zu ihren Augen paßte und ihrer frischen Gesichtsfarbe gut 169
stand, sehr kühl. Im Licht vom Fenster wirkte ihr graues Haar silbrig. »Zen ist keine Trance«, sagte sie ruhig. »Ich kann dabei sowohl sehen als auch hören. Bitte setzen Sie sich, Sergeant, und sagen Sie mir, wie George gestorben ist.« Anderson ließ sich wirklich nieder, und zwar in dem Sessel, in dem Long gesessen hatte. Martha setzte sich auf das Bett ihm gegenüber, und Elen rückte dicht neben sie. Pádraig hatte sich nicht aus seiner halbliegenden Haltung gerührt, doch jetzt rutschte er ganz auf eine Sesselseite. Long blieb neben Teddy stehen (der nervös an den Nägeln seiner linken Hand kaute), sowie neben dem uniformierten Polizisten, der ebenfalls ein wenig nervös wirkte. »Wir wissen gegenwärtig weder etwas Genaues über den Zeitpunkt des Todes, noch etwas über die Ursache«, begann Anderson, von einem zum anderen blickend. Ted Poznan stieß einen heiseren Laut aus, der wie ein Lachen klang, aber keines war. »Ich kann nur sagen, daß Wachtmeister Scherer ihn heute morgen um sechs Uhr am Pier fand. Es sieht so aus …« Anderson betonte diese Worte. »… daß er …« »Ertrank?« Elen platzte mit dem Wort heraus, das sich fast allen auf die Zunge gedrängt hatte. »… sich erhängt hat.« Elen holte scharf Luft. Alle starrten den Mann an. »Er hing in einer der Öffnungen auf dem Pier, an denen die Leute die Seehunde füttern.« Pádraig ó Súilleabháin stieß einen dumpfen Laut aus. Jetzt war Martha an der Reihe, den Kopf zu schütteln. 170
»Ach, wie furchtbar! Wie furchtbar!« flüsterte sie in ihre gewölbten Handflächen. »Wo wir die Seehunde …« »Es handelte sich um ein sehr ungewöhnliches Seil«, fuhr Anderson fort, vielleicht noch verhaltener als zuvor. »Es wirkte eigentlich nicht so, als könnte es seinem Gewicht standhalten. Ich habe ein Stück davon abgeschnitten, doch es ist sofort auseinandergefallen. Sehen Sie?« Er bot ihnen ein Stück gedrehtes Raigras mit einer Schlaufe an einem Ende dar, das allen sehr vertraut war. »Súgán«, bemerkte Pádraig ó Súilleabháin . »Ein Heuseil. Dieses ist aus Gras.« »Genau das dachte ich auch«, nickte der Polizist. »Wie Sie es gestern abend beim Konzert beschrieben haben? ›Das Knüpfen des Seils ?‹ «
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Ein letztes Glas Es war Martha, die das Schweigen brach: »Ja, genau. Und es ist natürlich unser Seil. Sie müssen es gesehen haben, wie es gestern abend beim Konzert über dem Mikrofon hing.« Andersons Kopf war schon sehr kahl, daher wirkte seine Stirn sehr hoch, und seine Augenbrauen betonten diesen Zug. »Sie erinnern sich also an mich? Ich fühle mich geschmeichelt, Mrs. Macnamara. Aber an das Seil kann ich mich nicht erinnern. Es hingen so viele Drähte und Kabel da …« »Es war auch nicht da, Martha«, warf Pádraig ein. »Es war vorgestern abend, als wir es aufhingen. Gestern abend war es … ich weiß es nicht. Vermutlich im Kellerraum.« Dann wandte er sich finster an den Detektiv. »Es ist nicht unser Seil. Es ist meins. Ich habe es hinter der Halle aus Raigras geknüpft. Das war vorgestern. Aber ich habe es nicht geflochten, um George St. Ives aufzuhängen. Sie haben ganz recht: dafür wäre es nicht stark genug.« Als Anderson seine Augen aufriß, reichte seine Stirn bis zur Kopfmitte. »Ich hatte auch nicht gemeint, daß sie es zu diesem Zweck angefertigt haben, Mr. Su-ill… Sull…« »Patrick Sullivan, auf englisch.« Die anderen Musiker reagierten: »Aber das ist nicht dein richtiger Name«, meinte Teddy. »Martha sagte uns, wir sollten vorsichtig sein …» 172
Pádraig machte mit beiden Händen eine wegwerfende Bewegung. »Das war die Idee meiner Mutter. Sie verteidigt immer die gälische Kultur.« Er sah den Sergeanten wieder an. »Wir sprechen zu Hause Irisch.« »… manchmal«, fügte er dann mit einem bedauernden Auflachen hinzu. Anderson blickte überrascht. »Verzeihen Sie. Aber, Mr. Sue-lo-win, Sie dürfen mir nicht vorgreifen, sonst bedauern Sie es noch. Es ist noch zu früh, um über Mord zu reden. Lassen Sie mich die Fragen in der richtigen Reihenfolge stellen. Zunächst einmal das Seil. Sehen Sie, der Knoten ist etwas ungewöhnlich. Er sieht aus, als sei er von jemandem geknüpft worden, der etwas von der Sache versteht.« »Das ist ein einfacher Lerchenknopf«, erwiderte Pádraig bereitwillig. »Ein Knoten, den man beim Anbinden an einen Pfosten verwendet.« »Ist das ein Seemannsknoten?« fragte der Detektiv. »Alle Knoten sind Seemannsknoten«, erwiderte Pádraig. Anderson nickte. »Darf ich das so verstehen, daß Sie ein Seemann sind?« Es folgte ein unbehagliches Schweigen, als Pádraig den Detektiv anstarrte. »Das können Sie aber annehmen.« Anderson schien dieses Eingeständnis, diese Prahlerei so zu nehmen, wie sie gemeint war. »War denn Mr. St. Ives ebenfalls ein Seemann?« Pádraig rutschte auf seinem Sessel hin und her. Ein Knie stieß locker gegen die Lehne. »Er stammte vom Cap 173
Breton. Das weiß jeder. Aber ich meine, zum Seemann gehört mehr als nur der Geburtsort.« Wieder nickte der Detektiv. »Heißt das ›Lerche‹ wie der Vogel? Ich meine, bei dem Knoten.« Er kritzelte etwas mit einem Kugelschreiber in sein kleines Notizbuch. »So. Und jetzt zur Routine.« Man hörte ein Gemurmel und Geraschel, als Andersons Zuhörer sich bei dieser Eröffnung je nach Temperament entweder entspannten oder aufrichteten. Nur Long blieb reglos. »Der Anfang ist sehr langweilig. Ich muß alle Anwesenden bitten, sich zu identifizieren.« Martha versteifte sich einen Moment und vermied es, Mayland Long anzusehen. Elen gähnte, und Pádraig zog seinen billigen Pappkoffer unter dem Tisch hervor. Martha zerrte ihre Handtasche unter dem Bett hervor. »Führerschein und eine Kreditkarte?« fragte sie gepreßt. »Die Kreditkarte brauche ich nicht.« Der Inspektor überflog den Führerschein und reichte ihn dann seinem Kollegen. »Ich sehe, daß ich ein Jahr älter bin als Sie, Mrs. Macnamara. Ich hätte gedacht, es seien zehn oder fünfzehn.« Martha gab keine Antwort. Long stand hinter ihr und hielt in seiner Spinnenhand einen Führerschein und einen blauen amerikanischen Paß, den Martha noch nie gesehen hatte. Anderson ergriff ihn. »In Hongkong geboren«, murmelte er.
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»Ja, vor langer Zeit. Ich lebe schon eine Weile in diesem Land.« Anderson schaute auf. Er sah wie ein typischer Akademiker aus, mit seinen kühlen Augen und der hohen Stirn. »Ich hätte gedacht, wenn man Ihnen so zuhört, daß Sie viele Jahre in England zugebracht hätten.« »Hongkong ist eine britische Kolonie«, antwortete Long gleichmütig. Hauptwachtmeister Scherer nahm den Paß von seinem Vorgesetzten entgegen. Elen Evans lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Sie warf dem Detektiv ihre Brieftasche zu, und sie traf seinen Arm. Ohne Murren suchte er, bis er den Führerschein in seiner Zellophanhülle fand. »Sie müssen ihn bis Ende des Monats verlängern lassen, Miß Evans. Das nur als Erinnerung.« Elen stöhnte auf und hielt die Augen geschlossen. »Mr. ó Súilleabháin ?« Dieses Mal bekam Anderson die Vokale ziemlich richtig hin. »Einen Moment«, antwortete der junge Mann, der in seinem Koffer zwischen der Unterwäsche herumwühlte. Sein Paß war in wesentlich ausgefransterer Verfassung als Longs, und zu Marthas großem Erstaunen ebenfalls amerikanisch. Sie kratzte sich an der Nase und blickte Anderson an. Er untersuchte den Ausweis. »Auch Sie hätte ich für jünger gehalten.« »Ich bin kein Kind mehr«, erklang die mürrische Antwort. 175
»Das habe ich nicht gemeint. Ihre Mutter ist also in den Staaten geboren? Dann haben Sie die doppelte Staatsbürgerschaft, nicht wahr?« Pádraig nickte und ließ die Hände zwischen den auswärts gestellten Knien baumeln. Martha, die Pádraigs Mutter kannte, kratzte sich heftiger die Nase. Anderson schien gegenüber der unhöflichen Art des jungen Mannes unempfindlich zu sein. »Nun, wie schön für Sie. Ich habe immer Menschen beneidet, die zwei Kulturen angehören. Ich glaube, das stellt eine Quelle der Kraft dar.« Pádraigs unglücklicher Blick fiel auf Teddy, der sich an seinem Platz vor dem Schreibtisch nicht geregt hatte. »Ich habe meine Papiere bereits gezeigt«, sagte der Gitarrist ungefragt. »Auf der Wache.« »Tut mir leid, aber wir werden diese Ausweise eine Weile behalten müssen. Ich weiß, es ist für Sie unangenehm, aber in Santa Cruz ist das Leben ohne Auto recht gut möglich, außerdem sähen wir es gern, daß niemand heute die Stadt verläßt. Vorerst nur heute.« Martha, Pádraig und Elen tauschten Blicke des geteilten Leids aus. Elen schien fast zu schlafen. »Okay.« Der Detektiv lehnte sich in seinem Sessel zurück, auf dem zuvor Long gesessen hatte. »Jetzt möchte ich wissen, wann Sie George St. Ives zum letzten Mal gesehen haben.« Anderson sprach den Namen mit perfekt französischem Akzent aus, was auf Marthas Gesicht ein feines Lächeln hervorzauberte. »Die … Québecois in seiner Familie liegen wohl schon ein paar Generationen 176
weit zurück«, flüsterte sie Anderson zu. »Ich habe niemals gehört, daß jemand ihn anders als Saint Aiives nannte.« »Und da habe ich mir solche Mühe gegeben«, seufzte Anderson. »Elen und ich sahen ihn zuletzt etwa um zwei Uhr im Proberaum – nun – eigentlich ist es die Garderobe. Er und Teddy probierten gerade einen New-Age-Sound aus. Zwei Uhr nachmittags, meine ich.« »Das gleiche gilt für mich«, sagte Elen. »Ich war bei Martha.« Anderson hatte einen Spiralblock, auf dem er mit goldenem Kugelschreiber etwas notierte. »Ich auch«, fügte Pádraig hinzu. »Ich war zur gleichen Zeit da. Und später habe ich ihn nicht mehr gesehen.« Long fühlte Andersons Blick auf sich, wartete aber, bis er gefragt wurde. »Bei mir war es etwas später, Sergeant. Zuletzt sah ich ihn, wie er etwa um drei Uhr zehn gestern nachmittag hier im Hotel auf den Ausgang zuschritt.« »Etwa drei Uhr zehn«, murmelte Anderson mit grauen, nachdenklichen Augen. »Das ist aber eine genaue Schätzung.« Long lächelte mit geschlossenen Lippen. »In der Halle hängt eine Uhr.« »Aber die meisten Menschen würden nicht daran denken, darauf zu blicken oder sich die Zeit zu merken.« »Die meisten Menschen«, antwortete Long trocken, »sind auch nicht so zeichenorientiert wie ich. Das ist mein Handikap.« 177
Teddy wartete nicht, bis er gefragt wurde. »Ich habe ihn zuletzt gesehen. Etwa um fünf oder halb sechs. Draußen bei den Blumenkästen. Ich versuchte, ihn auf eine Suppe in die ›Rechte Lebensweise‹ zu schleppen, weil er nicht wohl aussah. Aber er wollte nicht.« »Er sah nicht wohl aus?« Andersons Stimme drückte lediglich höfliches Interesse aus. Teddy setzte sich auf das Matratzenende neben Martha. Das Bett federte. »Nun, klar… ich machte mir Sorgen um ihn. Er wirkte ein bißchen heruntergekommen.« Dazu sagte niemand etwas, aber Elen sah Martha an, und Martha blickte daraufhin auf den Teppich. »Wo ist St. Ives' Zimmer?« fragte Anderson Martha. Bei der Antwort, daß sie es nicht wisse, wand sie sich etwas. »Er hat nie mit den anderen zusammen gewohnt«, fügte sie hinzu. Er starrte sie offensichtlich ungläubig an, während alle anderen sich Blicke zuwarfen. Dann fragte er: »Und wohin sind wir gestern abend nach dem Konzert alle gegangen?« Die Atmosphäre im Zimmer wurde gespannt. »Nach draußen und haben George gesucht«, antwortete Elen. »Jeder einzelne von uns.« »Abgesehen von mir«, ergriff Martha das Wort. »Ich bin hiergeblieben.« Die Miene des Sergeanten wirkte neutral, fast gelangweilt. »Waren Sie in Gruppen unterwegs?« Longs Räuspern entwickelte sich zu einer Reihe von Hustenstößen. »Nein, Sergeant. Es war dumm von uns…« 178
Anderson biß auf das Ende seines Metallschreibers und blickte nicht auf. »Das ist Pech für mich. Niemand hat ihn gefunden?« »Ich jedenfalls nicht.« Pádraig schüttelte den Kopf. »Ich habe auch nicht sehr angestrengt gesucht. Ich ging ein Bier trinken.« Aufgeheitert von dieser Information blickte Anderson auf. »Wo war das?« »In einer Bar am Pier. Weiß, grün und blau.« »Die Riva-Bar, Sergeant«, erklärte Long. Anderson nickte und notierte es. Dann räusperte er sich. »Also, St. Ives sah nicht wohl aus, meinte Mr. Poznan. Hat das außer ihm noch jemand bemerkt?« »O ja«, antwortete Martha. »Er sah nie sehr gesund aus. Er trank zuviel und … nun, er achtete nicht auf sich.« »Ich glaube, er hatte Probleme mit der Leber«, meinte Long. »Seine Haut war so gelblich.« Martha stieß ein heiseres Lachen aus. »Machst du Witze, mein Lieber?« »Natürlich nicht«, erwiderte Long verdutzt. »Alkohol zerstört einen Menschen«, sagte Pádraig und rieb sich mit seinen narbigen Knöcheln die geröteten Augen. Anderson brummte unverbindlich und schrieb weiter. »Und Sie, Miß Evans? Fanden Sie auch, daß St. Ives krank aussah?« Elen legte zwei Finger an den Mund und schwieg ein paar Sekunden in dieser Haltung. »Eigentlich war es eher 179
sein Verhalten. Er war gereizt und deprimiert. Er war ein Bär.« Sie neigte den Kopf und blickte den Detektiv an. »Es ist kein Geheimnis, daß wir nicht mit ihm zurecht kamen. Keiner von uns, außer vielleicht Teddy.« »Deprimiert.« Anderson wiederholte das Wort mit Nachdruck. »Stimmen Sie alle überein, daß Mr. St. Ives in den letzten paar Tagen nicht der alte und deprimiert war?« Martha nickte. Long sagte: »Genau.« Teddy schüttelte den Kopf, aber mitleidig, nicht verneinend, und Elen blieb reglos. Allein Pádraig hatte etwas zu sagen: »Ich weiß nicht, warum Sie das sagen. Ich persönlich meine, daß es ihn freute, wenn er andere Leute ärgern konnte. Ist er nicht gerade gestern lächelnd herumgerannt?« »George war gestern betrunken«, flüsterte Martha. »Ich mag George nicht! Er ist böse!« Jetzt krabbelte Marty unter dem Bett hervor. Ihr lila Wachsstift war staubig und von der Sonne verbogen. Anderson zog seine Brauen bis an den äußersten Punkt hoch und ließ den Schnurrbart seitlich abstehen. »Hier ist ein Kind im Raum? Gütiger Gott! Das habe ich nicht gewußt. Es tut mir leid«, sagte er ernsthaft zu Martha. »Ich wäre nicht so deutlich geworden, wenn ich gewußt hätte, daß ein Kind dabei ist.« Marty starrte ihn an, und Martha stieß ein erschöpftes Schnauben aus. »Marty? Da braucht es mehr als ein Polizeiverhör, um ihr Furcht einzujagen.« »Ich mag George nicht!« wiederholte Marty hartnäckig, wohl wissend, daß sie das eigentlich nicht offen 180
aussprechen durfte. »Er ist nicht nett. Zu niemandem. Er hat Pádraig zum Weinen gebracht!« »Das stimmt nicht!« erwiderte Pádraig ó Súilleabháin hitzig. »Was sagst du denn da?« Marty starrte ihren Freund enttäuscht an. »Nun, dann hat er Elen zum Weinen gebracht.« »Wieder falsch, kleine Spionin«, sagte Elen Evans langgezogen. Sie beugte sich vor und zog Marty aufs Bett neben sich. »Vielleicht war es Martha Frisch-Macnamara, die geweint hat?« Andersons Blick wanderte von dem Kind zu Martha. »Ist das Ihre Tochter?« »Natürlich meine Enkelin«, antwortete Martha, doch sie wirkte nicht beleidigt. »Sie ist in der letzten Woche mit uns gereist. George St. Ives hatte es nicht sehr mit Kindern.« Der uniformierte Polizist zupfte genau in dem Augenblick an seinen Bügelfalten, als sich Detektiv Anderson erhob. Das interessierte Martha, und sie wollte gerade fragen, auf welches Stichwort dies geschah, als sich ihr die schreckliche Neuigkeit, die die beiden gebracht hatten, wieder schwer ins Bewußtsein drängte. Sie schwieg. Anderson blickte sich um und sah jedem wie beiläufig in die Augen. Dann ließ er sich in einer zentralen Position wieder nieder. »Es tut mir leid, daß der arme Mann tot ist«, sagte er. »Und ich bin froh, daß er nicht der Sohn oder Gatte von einem hier war. Ich meine, daß es für Sie alle nicht das Ende der Welt bedeutet.
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Doch sein Tod geschah unter schrecklichen Umständen, und daher beschäftige ich mich damit. Ich fürchte, ich muß jetzt ein wenig unangenehmer werden. Es ist meine persönliche Meinung, daß niemand jemals wirklich allein gelassen werden sollte. Das macht meinen Job nämlich so schwer. Stellen Sie sich nur vor, wieviel einfacher alles wäre, wenn Sie in Gruppen gesucht hätten. Jetzt brauche ich von jedem von Ihnen eine Aussage, wohin Sie gingen und was Sie taten, und dabei werden Sie sehr verwirrt werden und ich auch. Außerdem wird sich niemand von den Leuten, die Sie dabei getroffen haben, an Sie erinnern, wenn meine Kollegen das nachprüfen. Das müssen sie natürlich tun. Alles wird sehr anstrengend und sehr bedrückend. Fangen wir an.« Die Aufnahme der Aussagen dauerte fünfunddreißig Minuten und erschöpfte tatsächlich alle. Pádraig war am schlimmsten dran, denn er hatte keine Ahnung, zu welcher Zeit er in die Bar gegangen war, noch, wann er sie wieder verlassen hatte. Danach war er unbestimmte Zeit durch die Straßen gelaufen und hatte sich weder eine Richtung gemerkt, noch eine Menschenseele getroffen. Er hatte sich verlaufen. Elen hatte mehr Ordnungssinn. Sie war über den Pier gelaufen und hatte ein paar Bars besucht, darunter aber nicht die Riva-Bar. Sie hatte sich den Lieferwagen geliehen (denn sie hatte den Ersatzschlüssel bei sich) und war am Meer entlang gefahren. Irgendwo an der Küste hatte sie eine Weile Probleme mit dem Motor. Um halb fünf war sie zurückgekehrt und daher sehr müde. Sie konnte keine Alibis für ihre Geschichte aufweisen. 182
Long wußte genau, wo er wann gewesen war. Er hatte auf den Wellenbrechern zu suchen begonnen und mit der Verkäuferin geredet, die gerade den letzten Souvenirladen schloß. Er hatte ihr St. Ives beschrieben. Gegen eins war er auf dem Pier auf und ab spaziert und hatte Pádraig im Riva getroffen. Pádraig starrte Long verdutzt an. »Ja, genau! Sie waren da! Ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet. War ich betrunken?« Long blickte ihn nachsichtig an und gab keine Antwort. Als er am Meer keine Spur von St. Ives gefunden hatte, habe er sich nach Norden gewandt und sich die Nachtbars auf der Mall vorgenommen. Er könne Detektiv Anderson eine Liste von Kneipen geben, wo man sich vielleicht an ihn erinnerte. Er sei bis zu den Bars an der Ocean Street gelangt, als er aufgab. Um vier sei er heimgekommen. Anderson sah ebenso müde aus wie die anderen. Er räusperte sich. »Danke, Leutchen. Hört sich für alle Beteiligten nach einer elenden Nacht an. Außer vielleicht für Mr. Súilleabháin .« »Für den war der Morgen elend«, sagte Pádraig. Anderson lächelte. »Wir haben noch keinen Obduktionsbefund bekommen. Zuerst möchten wir die Angehörigen kontaktieren. Wenn wir den Befund haben, ist es sehr wahrscheinlich, daß wir mit Ihnen noch einmal reden müssen. Ich wiederhole mich zwar nicht gern, aber…« »Wir müssen bleiben«, unterbrach ihn Elen.
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Martha dachte an die Telefonanrufe und die Erklärungen, die nun vor ihr lagen. Ihr war übel, und sie wußte, das würde nur schlimmer werden. Anderson öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, das diese letzten drei unangenehmen Worte etwas milderte, doch er holte nur tief Luft, ehe er hinzufügte: »Ich hoffe, es ist nur für kurze Zeit.« Als die Polizisten auf die Tür zugingen, stand Martha auf und fragte spontan: »Darf ich ihn sehen, Sergeant Anderson? Darf ich George sehen?« Anderson blickte sie überrascht an. Long ebenfalls. »Ich glaube, dazu besteht keine Veranlassung, Martha«, sagte er. »Doch, für mich.« Anderson nickte langsam. »Gewiß, Madam. Eine zweite Identifikation würde uns helfen. Wann ist es Ihnen recht?« »Jetzt.« Martha antwortete mit solcher Festigkeit, daß der Sergeant etwas die Augen zusammenkniff. Sie begleitete ihn aus dem Hotel. Teddy, Pádraig und Elen blieben in dem Raum zurück, stehend, sitzend oder aufs Bett gestreckt. Alle zusammen, allein. Long blieb mit dem Kind auf dem Arm sitzen. * Langsam ging Anderson neben Martha her. Von den Bäumen über ihnen hingen Zweige voller flusiger roter Blüten schwer herab. Irgendwo auf der Mall spielte eine 184
Jazzband mit vielen Bläsern. Martha warf immer wieder kurze Blicke über die Schulter zurück. Auf der langen Laurel Street entschuldigte sich Anderson zweimal, daß er ohne Auto gekommen war. »Ich finde einfach, daß ich mich in der Stadtmitte schneller ohne es bewegen kann«, sagte er. »Ich könnte aber eines rufen …« Martha winkte ab. »Hinter dem Hotel steht unser Lieferwagen, wenn ich hätte Auto fahren wollen. Das ginge vermutlich sogar, weil Sie ja meinen Führerschein haben. Es wäre aber in Santa Cruz wirklich albern. Noch bin ich nicht im Altersheim.« Wieder blickte sie über die Schulter auf den uniformierten Polizisten, der ihnen mit zwei Schritten Abstand folgte. Anderson murmelte, an ein Altersheim hätte er noch nie gedacht, doch Martha unterbrach ihn, indem sie stocksteif auf der Straße stehenblieb. »Muß er wirklich hinter uns hergehen? Nur weil Sie einen höheren Rang einnehmen? Oder soll er verhindern, daß ich fortrenne?« Bei Hauptwachtmeister Scherer, der so unvermutet zum Stillstand gebracht wurde, zeigte sich das Augenweiß. Wie bei einem erschrockenen Pferd. Detektiv Anderson preßte die Lippen aufeinander, um die Miene nicht zu verziehen. »Ich weiß es wirklich nicht, Madam. Warum gehen Sie hinter uns her, Dan?« Scherer zuckte die Achseln. »Der Gehsteig ist so schmal.« Martha dachte darüber nach. »Oh«, sagte sie schließlich und ging weiter. 185
»War er es, der die Leiche gefunden hat?« fragte Martha. »Ja, etwa um sechs Uhr heute morgen«, antwortete Anderson und machte eine Handbewegung über die Schulter. Martha blickte sich wieder um und verzog bestürzt das Gesicht. »Das muß schrecklich für Sie gewesen sein!« Scherer richtete sich zu seiner vollen Körpergröße auf und wollte es gerade abstreiten, doch statt dessen meinte er unfreiwillig: »Ja, es war ziemlich schlimm.« Martha richtete ihre chinablauen Augen auf Anderson. »Erwarten Sie wirklich, daß er nach einem solchen Schock den ganzen Tag seine Arbeit tut? Ich meine, man sollte ihm erlauben, nach Hause zu gehen.« »Ich will aber nicht nach Hause gehen!« Aufgebracht suchte Scherer den Blick seines Vorgesetzten. »Dan Scherer ist ein harter Bursche«, meinte der Detektiv trocken. Detektiv Anderson hätte Martha Macnamara für eine leicht verrückte Person erklären können, denn sie kam mit den sonderbarsten Sachen heraus. Sie war so unkonzentriert (oder funktionierte nach einer anderen Logik). Wenn sie nicht gestern Fiedel gespielt hätte … Wenn sie nicht in dem Hotelzimmer das einsame Wort ‹Jetzt‹ mit so sonderbarer Kraft ausgesprochen hätte, so daß es klang, als explodiere in der Ferne etwas … Wären diese Dinge nicht gewesen, ihre Unkonventionalität hätte Anderson vielleicht abgeschreckt.
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Gewiß hätte er eine Möglichkeit gefunden, diese Leichenbeschau schneller hinter sich zu bringen. Aber sie war nun einmal wie sie war, und so ging er zufrieden neben ihr her und ließ sie das Tempo bestimmen. Anderson dachte beim Spazieren gern nach, und er hatte eine Menge zu bedenken. Als jüngerer Mann hatte er oft vor seinen eigenen Reaktionen gegenüber den Leuten Angst gehabt, die an den zu untersuchenden Fällen beteiligt waren. Er hatte immer eine gewisse, sichere Distanz gewahrt. Aber jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß eine gottähnliche Objektivität, wenn überhaupt möglich, allzusehr anstrengte. Besonders, wenn er sich gar nicht sicher war, ob überhaupt ein Verbrechen begangen worden war. Während er neben Martha weiterging, konnte er nur schwer glauben, daß ein Verbrechen geschehen war. Musiker waren keine sehr stabilen Menschen, das wußte er wohl, und der Tote hatte unter einer Depression gelitten. Er war sich allerdings nicht sicher, ob es nicht vielleicht doch ein Mord gewesen war. Er dachte an Theodore Poznans Verhalten auf der Polizeiwache: selbstgerecht, gequält und mehr als nur ein wenig feindselig. Doch er war allein gekommen. Das deutete entweder auf Unschuld oder Gerissenheit hin. »Mein eigenes Seil«, hatte Sullivan kämpferisch behauptet. Er hatte nicht einmal versucht, sich den Anschein zu geben, es täte ihm leid. Ganz bereitwillig gab er zu, daß er das Opfer (den Verstorbenen, verbesserte sich Anderson in Gedanken) nicht gemocht hatte. Anderson hatte den Verdacht, daß der Junge noch mehr erzählt hätte, 187
wäre er nicht von klügeren Köpfen umgeben gewesen. Nun, dafür war noch genug Zeit, sollten die Umstände es erfordern. Er dachte daran, wie Elen Evans ihm ihre Brieftasche zugeworfen hatte. Das hatte ihm ganz und gar nicht gefallen. Martha hingegen gefiel ihm: Ihr Gesicht, ihre Ausstrahlung und wie sie sich kleidete. Auch mit dem Chinesen konnte er gut auskommen – Long – falls der Bursche jemals lockerer würde. Er fragte sich, was dieser Mann wohl gegen ihn hatte, daß er von ihm so eindeutig als Feind behandelt wurde. Wenn er natürlich das grausame, dünne Seil um St. Ives' Hals gelegt hatte, reichte das als Grund, etwas gegen die Polizei zu haben. »Vermutlich haben Sie außer dieser Sache noch ein Dutzend andere Dinge zu tun«, meinte Martha entschuldigend. Anderson stöhnte und fügte dann hinzu, weil das allein vielleicht zu brüsk klang: »Da sind ein Dutzend andere Fälle, wie Handtaschenraub etwa. Zwei Autodiebstähle heute. Aber keine Sachen, die die Detektivabteilung sonderlich interessieren. Ein vermißtes Kind.« »Ach ja?« Marthas Augen wurden groß und rund, darauf schmal. »Meinen Sie, es wurde … man …?« »Belästigt? Nein, das glauben wir nicht. Es war ein zurückgebliebenes Kind, das aus einem Heim verschwand.« Als er ihren Gesichtsausdruck sah, beeilte ersieh, hinzuzufügen: »Wir vermuten, es geht um die
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Vormundschaft. Es waren kürzlich mehrere Besucher bei ihm und … nun, ich würde mir keine Sorgen machen.« Zumindest nicht darüber, fügte er stumm hinzu. Jetzt bogen sie auf die Mall ein, auf der Seidenfädenbäume ein Spitzenmuster auf den Ziegelweg warfen. Der Winterjasmin stand in voller Blüte, und es duftete überall danach. Hier klang die Jazzband sehr laut. »Sie mögen Kinder?« brüllte Anderson gegen die Musik an. »Ich habe drei.« Und zwei Ex-Frauen, fügte er wieder im stillen hinzu. »Einige mag ich«, antwortete Martha und fuhr nach ein paar Sekunden fort. »Ich glaube, ich muß Ihnen noch etwas Wichtiges mitteilen. Es könnte zumindest wichtig sein, Sergeant. Es geschah vorgestern.« Anderson rückte dichter zu ihr und gab einen aufmunternden Laut von sich. Sie erzählte ihm von dem Streich mit dem Kabel und der Tür. Sie sprach präzise und versuchte, weder zu übertreiben, noch die Bedeutung herabzuspielen. Sie vergaß auch nicht, die Tatsache zu erwähnen, daß St. Ives' Flöten in dem Hinterraum gelegen hatten. Als sie zum Schluß Longs Verletzungen beschrieben hatte, sagte Anderson: »Ach. Ja. Ein alter Scherz bei studentischen Verbindungen. Es hilft, wenn das Opfer betrunken ist.« »Ich bin aber froh, daß er es nicht war.« »Elender Scherz«, murmelte Dan Scherer hinter ihnen. »Ich wäre sicher total sauer.« Martha ersparte ihm einen dankbaren Blick. 189
»Also, diese Doppelschlaufe unter der Tür gehörte nicht dazu«, gab der Detektiv zu. »Auch nicht in den besten Verbindungshäusern. Sie sagen, sie war ein Stück weit entfernt von der Mitte des Kabels abgebunden?« »Ja, aber eher zum Türende hin.« Scharlachrote Flusen fielen von den Bäumen auf Marthas Gesicht wie ein leichter blutiger Regen. »Wir haben uns gefragt, ob das nur ein Versehen des Scherzboldes war.« Der Detektiv zuckte die Achseln und pustete Blütenteilchen aus seinem Schnurrbart. »Das kann man nur hoffen. Aber niemand hat sich dazu bekannt?« Martha seufzte und schüttelte ihre grauen Locken. »Nein, bisher nicht. Heute morgen habe ich nicht daran gedacht. Vielleicht bricht der Schock von Georges Tod alle ein wenig auf. Es könnte natürlich auch von einem Fremden angelegt worden sein …« Anderson ging ein paar Schritte schweigend weiter und fragte dann: »Sind das so Spaße, die sich Musiker auf einer Tournee einfallen lassen? Man liest ja manches …« »Ja, leider«, gab Martha zu. »Ja.« Sie identifizierte das Seil und blickte dann auf das häßliche Gesicht des Toten. »Ja, er ist es«, sagte sie. Sie legte das Laken wieder über ihn und wandte sich ab. »Ich kenne ihn schon jahrelang. Was für ein elendes Ende für ein hartes Leben.« Da fiel Martha der Augenblick vor zwei Tagen wieder ein, als die Tür sich geöffnet hatte und Elen und Pádraig fröhlich von ihrem Experiment hereingesprungen waren und das helle Sonnenlicht mit sich brachten. Sie berührte 190
den durchweichten, brüchigen Grasknoten, den der Sergeant ihr zeigte. »Und für ein gutes Seil«, fügte sie hinzu. Dann heftete sie ihre blauen Augen, die in dem traurigen Gesicht seltsam ruhig wirkten, auf Anderson. Sie berührte leicht seine Hand. »Ich werde herausfinden, wie das geschehen ist«, sagte sie zu dem Detektiv, und es klang wie eine Entschuldigung. Er mußte lächeln. »Ich werde mich darauf verlassen, Madam.« * Elen Evans schaltete die Klimaanlage an. »Also«, sagte sie und setzte sich wieder aufs Bett. Long folgte ihren Bewegungen mit leerem Gesicht und starren Augen, so daß Elen lachen mußte. »Mein lieber Mr. Long, für einen Mann Ihres Alters und Ihrer ruhigen Lebensweise sind Sie aber sehr geschmeidig.« Ihre Stimme trug einen eindeutigen Georgia-Akzent. »Seine was?« Pádraig richtete sich in seinem Sessel auf. »Davon habe ich kein Wort verstanden.« Long starrte weiterhin ausdruckslos vor sich hin. »Ach, Elen, ich bekomme schon genug Bewegung. Gestern abend war es zum Beispiel eine Menge.« Nur das Brummen des Ventilators unterbrach das Schweigen. Schließlich ging Long wieder zu seinem alten Platz am runden Tischchen. Und dann klopfte es laut an 191
der Tür, und herein platzte schwitzend und schwer atmend Elizabeth Macnamara. Elizabeth war eine junge Frau von ungewöhnlicher Körpergröße und Schönheit. Sie kleidete sich konservativ und mit gutem Geschmack. Heute trug sie ein lindgrünes Wickelkleid, das französisch wirkte. Das honigfarbene Haar umgab ihr Gesicht in sanften Wellen. Pádraig erhob sich spontan, wenngleich nicht aus Höflichkeit, sondern aus Überraschung. Teddy Poznan lächelte. »Guten Morgen, Elizabeth«, begrüßte Mayland Long sie. »Mommy!« schrie Marty und hüpfte auf dem Bett auf und ab. Elen Evans schwieg, den Blick fest auf Pádraig geheftet. »Verdammt! Ihr wartet sicher alle auf mich. Ich wußte es!« Elizabeth schnappte sich ihre Tochter und schwenkte sie in die Luft. »Hallo, meine Süße! Wie geht's dir? Mammi hat dich so vermißt!« Marty mußte etwa zehn Sekunden weitergeschwenkt werden, ehe sie sagte: »Das ist genug. Danke«, und sich friedlich wieder aufs Bett setzte. Elizabeth blickte auf. »Es war ein Kühlungsschlauch, und wenn ihr auf mich sauer seid, dann stellt euch einmal vor, wie sich jeder andere auf dem Highway 17 fühlt. So ein Mist. Anderthalb Stunden habe ich mich nicht getraut, aus dem Auto zu steigen. Ich hätte die Dinger schon vor Monaten austauschen sollen; warum nur sind Computeringenieure immer so nutzlos, wenn es um Autos geht?« 192
Niemand gab ihr eine Antwort, aber sie hatten auch keine Gelegenheit dazu bekommen. Elizabeth holte noch einen Atemzug gekühlte Luft und sah sich nun etwas ruhiger um. »Wo ist meine Mutter?« Long trat vor. »Deine Mutter ist auf der Polizeiwache, Elizabeth.« Die Frau hatte mit vorgeschobener Hüfte und zurückgeneigtem Kopf Long über die Schulter hinweg angesehen, und in dieser Haltung erstarrte sie nun. Mit ihrer Eleganz und Größe ähnelte sie einer Schaufensterpuppe in einem teuren Geschäft. »Auf der Polizeiwache?« »George St. Ives ist tot«, sagte Long. Elizabeth holte tief Luft und legte eine Hand auf den hellen Kopf ihrer Tochter. »Sie glaubte, gehen zu müssen.« »Er … hat Selbstmord begangen«, erläuterte Teddy. »Es ist sehr traurig.« Elizabeth mochte Ted Poznan nicht sehr. Sie mochte eigentlich nicht viele Menschen. Aber sie sah nicht aus Verachtung völlig durch ihn hindurch. »Wurde … er am Pier gefunden? Heute morgen um sechs Uhr?« Ted riß die Augen auf. »Woher wissen Sie das?« fragte Pádraig . Long erriet es: »Wurde dein Wagen von der Polizei abgeschleppt?«
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»Von der Highway-Polizei. Aber es ging die ganze Zeit durch den Funk.« Elizabeth drückte Marty nervös an sich. »Ich wußte natürlich nicht, wer es war. Die Polizei wußte es auch noch nicht.« »Klar. Er hatte keine Papiere dabei. Ich habe ihn identifiziert«, berichtete Teddy. Es klang jämmerlich. Elizabeth erhob ihre sturmgrauen Augen zu Long. »Was wirst du denn nun unternehmen?« Elen, die immer noch zusammengerollt auf dem Bett lag, lachte auf. »Was soll er denn …?« »Was ich unternehme? Martha ist jetzt dort«, begann er. »Genau das meine ich.« Elizabeth schob das Kinn vor. »Warum muß sie das denn machen?« »Weil sie der Boß ist.« Elens Stimme klang nicht sonderlich herzlich. »Sie weiß, was zu tun ist«, meinte Long. »Gottverdammt!« fluchte Elizabeth sie an und setzte sich finster mit Marty auf eine Bettkante. * Die Schnapsflaschen hinter der Theke der Riva-Bar glühten unter einem phantastischen Lichtspiel auf. Sonnenstrahlen wurden vom Meer reflektiert und drangen durch die gekippten Fenster in den Raum. Das Licht tanzte auch auf dem runden Gesicht von Pádraig ó Súilleabháin und legte Ringe um seine blauen Augen. Detektiv Anderson hatte seine Schätzung von Pádraigs Alter an 194
diesem Nachmittag revidiert, denn der Junge blickte scheel, was ihn um Jahre älter wirken ließ. Mayland Long saß neben ihm an der Bar, die gelblichen Augen, vielleicht aufgrund der Farbähnlichkeit, auf sein Glas geheftet, das halbgefüllt war mit Glenlivet Whiskey. Auch Pádraig hatte einen doppelten Scotch vor sich, weil es auf Longs Rechnung ging. Elen Evans, an Pádraigs anderer Seite, hatte das Kinn auf den Handballen gestützt und trank Kaffee. Doch er schien bei ihr keine Wirkung zu haben. »Habe ich das schon mal gezeigt?« Pádraig griff mit seiner narbigen Hand unter sein Hemd und zog ein schlaffes Lederkreuz hervor. »Ja«, antwortete Long höflich. »Ja«, antwortete Elen Evans. Pádraig ließ den Anhänger wieder unter sein Hemd gleiten. Es herrschte gespanntes Schweigen. »Vielleicht hätten wir woandershin gehen sollen«, flüsterte Long. »Wenn wir heute auf dem Pier herumspazieren, sieht das nach Gefühlsroheit aus.« Pádraig zog den Kopf aus dem Sonnenstrahl. »Ich kenne aber keine anderen Kneipen in dieser Stadt. Jedenfalls nicht am Meer.« Elen gähnte, so daß ihr Gesicht zwergenhaft wirkte. Danach konnte sie sich kaum noch aufrecht halten. »Verzeihung«, sagte sie. »Diese Totenwache wird mir zuviel.« Sie nahm ihre Handtasche und ging nach hinten durch das Restaurant. 195
Long rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Sein Anzug raschelte wie trockene Mottenflügel. Er stieß ein leises Lachen aus. »Mann, drei Macnamaras füllen einen Raum ganz schön aus. Man könnte meinen, sie wären alle viel größere Frauen.« Pádraig nickte heftig. »Frauen. Das war ein wichtiges Wort in Ihrem Satz. Ich habe nämlich fünf Schwestern, und alle wundern sich, warum ich gern mit kleinen Booten rausfahre.« Er nahm einen langen Zug aus dem vor ihm stehenden Glas und zog eine Grimasse. »Riecht wie Ofenrauch. Whiskey kann einen Menschen umbringen«, meinte er. »Das sagen Sie häufig.« »Meine Mutter wiederholt es oft. Sie hat uns alle antialkoholisch aufgezogen.« »Und warum trinken Sie dann?« fragte Long, einfach aus Neugier. Pádraig gab keine Antwort. Long schluckte seinen Scotch ohne eine Grimasse zu ziehen. »Vieles kann einen Menschen umbringen. Fear UíSúilleabháin . Krankheit zum Beispiel. Oder ein Seil.« Pádraig jammerte auf. »Ich will die Wahrheit wissen«, sagte Long. Er putzte sich die Nase mit einer Cocktailserviette und schlug mit seiner großen Hand auf die Theke. Der Barkeeper warf ihnen einen kurzen Blick zu und schnitt dann weiter Zitronen in Scheibchen. »Ich bin alt und müde, und meine Nase tut sehr weh! Ich will jetzt die Wahrheit wissen!« 196
»Ich habe ihn nicht umgebracht«, erwiderte Pádraig mit unheimlicher Stimme. »Und ich glaube auch nicht, daß es Ihrer Erkältung hilft, wenn Sie erfahren, wer es war.« Long stöhnte. »Was verstehen Sie denn davon?« Pádraig trank das Glas aus, das Long für ihn bestellt hatte, und bestätigte, daß er nichts verstand. »Sie sind zu jung«, sagte Long. Wieder stimmte Pádraig zu. Long bemerkte, daß sein Glas leer war und hob den Kopf. Innerhalb von fünf Sekunden hatte der Barkeeper sein und Pádraigs Glas nachgeschenkt. »Sie werden aber bevorzugt behandelt«, meinte der junge Mann. Long nickte nachdenklich. »Weil ich nicht mehr jung bin.« Er hielt inne und sog den Duft des Scotches ein. »Und ich weiß ein Geheimnis, das mir einen gewissen … Vorteil gegenüber anderen verschafft, mich durchzusetzen.« »Ach! Und was ist das?« Long zeigte ihm seine Zähne. »Wenn ich es Ihnen verraten würde, wäre es kein Geheimnis mehr.« Pádraig dachte einen Moment nach und bestätigte dann die Wahrheit dieser Bemerkung. »Ich habe auch ein Geheimnis«, fuhr er fort. »Aber ich bin bereit, es Ihnen zu verraten, mein Freund, weil ich Ihnen vertraue. Jeder würde Ihnen vertrauen! Es ist, daß mein Vater in Wirklichkeit nicht mein Vater ist.« »Das ist aber nicht so ungewöhnlich«, meinte Long mitfühlend. 197
»Óchón! Aber meine Mutter ist auch nicht meine Mutter, und das ist schon nicht mehr so normal, glaube ich.« Long verschränkte seine Hände und dachte darüber nach. Pádraig sprach weiter: »Hat Martha wohl ein Geheimnis?« Nun verfinsterte sich Longs Gesicht zu einem Stirnrunzeln. »Ja, ein großes Geheimnis, das sie weitergeben würde, wenn sie es könnte. Es ist das Geheimnis des Zen. Aber sonst…« »Ich meinte, eine Macht über andere Menschen, Mayland«, sagte Pádraig . Er kicherte durch die Nase. »Deshalb folgen Sie ihr überall hin.« Er schlug Long auf die Schulter und rieb sich dann seine brennende Hand, denn sie war härter, als er erwartet hatte. Long stöhnte und legte eine Hand vors Gesicht. Diese Hand erstreckte sich mühelos von einem Ohr zum anderen. »Sie sind frivol, Pádraig . Im Hinblick auf Martha sollten Sie nicht frivol sein.« Er nahm einen ordentlichen Schluck Scotch und ließ den Blick aus dem Fenster wandern, wo die Monterrey-Bucht an den Strand läppte und Möwen in einer Reihe auf dem Betonkai standen. »Sie ist die Verkörperung der Wahrheit.« »Sie ist eine sehr nette Frau«, stimmte Pádraig zu. Er betrachtete den Möwen betrachtenden Long. »Sagen Sie mir, a chara. Haben Sie George gestern abend unter dem Pier aufgehängt? Gott habe Gnade mit seiner Seele.«
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Long riß die Augen übertrieben weit auf. »Ich? Warum in aller Welt hätte ich ihn töten wollen?« Pádraig lachte. »Weil er ein Schwein war. Er hat sich über Sie lustig gemacht, wie über uns alle.« »Aber nicht über Martha«, erwiderte Long friedfertig. »Und ich bin hinsichtlich meiner musikalischen Fähigkeiten, oder besser, hinsichtlich deren Mangels, nicht empfindlich.« Pádraig steckte seine Nase ins Glas. »Lassen wir das besser«, murmelte er den schmelzenden Eiswürfeln zu. »Fähigkeit… oder deren Mangel.« Er hob das Gesicht wieder und holte tief Atem. Er schien überrascht über die Qualität der Luft. »Es hat keinen Sinn, sich über einen Mann zu beklagen, der tot ist. Er kann uns nichts mehr tun.« Long sah nun ehrlich überrascht aus. »Das konnte er doch nie.« Pádraig ó Súilleabháins recht schmale Lippen verspannten sich. »Meinen Sie? Vielleicht konnte er Ihnen nichts anhaben. Aber vergessen Sie das. Er ist tot, und jetzt mache ich mir über Máirtin, die kleine Marty, Sorgen.« Long reagierte auf diesen schnellen Themawechsel mit einem Augenzwinkern. Er beugte sich vor. »Um Marty? Warum? Was wissen Sie denn … darüber?« Pádraig hob den Kopf von seinem Glas und blickte aufs kalte Meer vor dem Fenster. Er rieb sich die Hände. »Als sie gestern am Wasser war und es so dunkel wurde … nicht alle sonderbaren alten Dinge sind verschwunden.« »Wie H. P. Lovecraft immer so gern behauptete.« 199
Pádraig schüttelte ablehnend seinen glänzenden, dunklen Kopf. »Ich meine das Meer. Ich bin noch jung, aber ich kenne das Meer, und das erschien mir gestern um sie her nicht gut. Es fühlte sich ehrlich gesagt schlimmer an als Georges Zunge. Wir müssen etwas tun, um Marty zu helfen.« Jetzt war Long an der Reihe, überrascht auszusehen. »Was können wir denn tun? Schlagen Sie etwas Übernatürliches vor? Oder…?« »Wenn Sie schon englisch mit mir sprechen, dann bitte nur kurze Wörter. Ich meine, wir sollten einen Rosenkranz für sie beten. Und für George sollten wir auch einen aufsagen.« Er warf Long verstohlen einen halb scherzhaften Blick zu. »Ich wette, einen Rosenkranz beten können Sie nicht.« Der dunkelhäutige Mann bog den Rücken durch. »Das möchte ich aber wetten!« antwortete er hitzig. »Den traurigen, den freudigen oder den …?« »Alle drei. Einen für Máirtin, einen für George und einen für alle anderen.« Pádraig sah sich nach dem dämmrigen Raum hinter ihnen um. »Wo ist Elen? Eigentlich brauchen wir Frauen für einen Rosenkranz.« Long drehte seinen Körper von der Hüfte an herum und warf ebenfalls einen Blick um die Ecke auf den Speisesaal mit den weißgedeckten Tischen. Dabei entfuhr ihm unfreiwillig ein leises Zischen. »Vielleicht ist sie durch die Hintertür gegangen?«
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Pádraig seufzte enttäuscht. »Schade. Ein Rosenkranz würde dem Mädchen guttun. Sie gefällt mir. Mir gefällt, wie sie redet.« Long nickte nachdenklich. »Sehr dekorativ, sowohl visuell, als auch audio … auditi… anzuhören. Ich glaube, sie hat viele ihrer Gesten von homosexuellen Männern gelernt.« Pádraig ó Súilleabháin sah Long eindringlich an. Er öffnete den Mund, um den anderen zu bitten, das gerade Gesagte zu wiederholen, schloß ihn dann aber wieder. Schließlich schüttelte er weise den Kopf und sagte: »Ich glaube, sie war nie besonders glücklich, Mayland. Das ist schade.« Pádraig zog die weißen Plastikperlen mit dem Silberkreuz aus seiner Jeanstasche und erklärte Long langsam und nachdrücklich die fünf traurigen, die fünf freudigen und die fünf ruhmreichen Mysterien in Irisch. Die Zeit verging, und die Riva-Bar füllte sich, doch ihr Thekenende blieb, abgesehen von ihnen selbst, leer. Dann sah Long aus dem Augenwinkel hellblau, und Martha saß neben ihm. Vor ihr stand ein Glas, das halb so groß war wie seins und Pádraigs. »Bist du schon lange hier?« fragte er. »Er kostet 3 Dollar.« Sie deutete auf den Scotch vor sich. »Ich habe ihn auf deine Rechnung bestellt.« Long rieb sich die Augen und nieste. »Das ist das mindeste, was ich tun kann, wo ich dich so lange vernachlässigt habe.«
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»Wir waren voller religiöser Gefühle. Wie die Heilige Theresa«, fügte Pádraig hinzu. »Wir waren nicht einmal fähig, dich zu sehen.« Martha lächelte freundlich. »Da muß ich mich fragen, welche Fähigkeit die Heilige Theresa besaß. Und ob Glenlivet wirklich ihr Lieblingsgetränk war.«
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Henkersreigen Als sich die Bartür hinter ihnen schloß, brannte die Sonne auf sie nieder. »Als käme man aus der Kirche«, sagte Martha. »Keine Ahnung. Ich war nur selten in einer Kirche. Ich meine, in einer von euren Kirchen.« Long spähte durch die Tür mit den vielen Scheiben hinter ihnen, wo Pádraig immer noch saß und nun gezwungen war, Michelob zu trinken. »Ich glaube nicht, daß er wirklich den Wunsch verspürt, sich zu besaufen, sondern es ist eher die Unfertig … fähigkeit, die Hitze auszuhalten.« »Der arme Junge«, antwortete Martha automatisch und warf einen scharfen Blick auf ihren Begleiter. »Kannst du überhaupt noch reden … ich meine vernünftig, Mayland?« »Kaum noch«, antwortete er mit Schwierigkeiten. »Im Vergleich zu dir, Martha, bin ich ein wandelndes Bündel von Fehleinschätzungen.« Sie schnaubte. »Aber das ist auch deine einzige Fehleinschätzung. Ich habe dich gefragt, wie betrunken du bist.« Long richtete sich kerzengerade auf und blickte zum Himmel. »Nur mäßig. Vermutlich wirst du mich jetzt fragen, ob ich George St. Ives getötet habe.«
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Ihr Gesicht nahm einen stupiden Ausdruck an, und sie blieb mitten auf dem belebten Bürgersteig stehen und starrte ihn an. »Nein! Das wäre mir nie … Hast du ihn umgebracht?« flüsterte sie. Sie erinnerte sich an die unheimliche Unterhaltung, die sie gestern belauscht hatte, und biß sich auf die Lippe. »Ich glaube nicht«, antwortete er gelassen. »Aber bei diesem Virus bin ich mir nicht so sicher. Ich kann nur sagen, daß ich mich nicht erinnere, ihn getötet zu haben.« »Das reicht.« Ihre Stimme versagte. »Und du hast es vermutlich auch nicht getan?« Longs normalerweise ausgezeichnete Augen hatten nun Schwierigkeiten, scharf zu sehen. Er bewegte den Kopf vor und zurück, um den richtigen Abstand zu finden. Dadurch wirkte er recht seltsam. Martha rieb sich die Augen und wandte den Blick ab. »Laß das. Ich bekomme davon weiche Knie. Nein. Auch ich habe George nicht umgebracht, es sei denn, im Schlaf.« Longs Zähne glänzten in der Sommersonne. »Gut. Dann können wir ja wieder gelassen sein.« »Gelassen? Meine Güte!« Martha ging den Gehsteig entlang in Richtung Strand. »Ich mochte ihn eigentlich gern, weißt du. Wenn wir zusammen spielten, fand ich ihn trotz allem nett.« »Und der Polizist gefällt dir auch, ja?« fragte Long mit angestrengter Gleichgültigkeit. »Trotz allem.« Sie schlug sich gegen die Stirn und ruinierte energisch ihre Frisur. »Und warum, zum Teufel, sollte er mir nicht…? 204
He, Bursche!« Sie blieb stehen. »Wo hast du diesen Paß eigentlich her?« »Spielt das eine Rolle?« Er wirkte nun völlig nüchtern und blickte auf ihre zerzauste Frisur herab. »Sie werden ihn überprüfen.« »Ist auch recht. Der Paß ist gültig.« Sein Lächeln war zu breit, um freundlich zu wirken. »Du wurdest in Hongkong geboren? Vor dreiundsechzig Jahren?« »Nein, natürlich nicht.« Martha seufzte aufgebracht, während eine Möwe dicht über ihren Kopf hinweg flog. »Ich hoffe nur, daß du weißt, was du tust. Dann brauche ich mir nur noch um Pádraig Sorgen zu machen.« »Ach!« Long sah der Möwe nach, dann wanderte sein Blick aufs Meer. In den letzten fünf Jahren war er gegenüber Wasser viel gelassener geworden. »Das ist dir also auch aufgefallen? Ein junger Mann, dessen Mutter nicht seine Mutter ist. Du bist aber scharfsinnig, Martha. Ich hatte keine Ahnung, bis er mir gerade das Rätsel erklärte.« »Keine Ahnung? Scheiße! Ich kenne Peig Uí Súilleabháin! Und sie ist kein Yankee! Der Junge ist mit einem falschen Paß unterwegs.« Die letzten Worte knurrte sie nur wütend, während sie sich ihren Weg durch die Urlauber von Santa Cruz in ihren bunten Hemden bahnte. Long folgte ihr, ohne irgend jemanden zu berühren.
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Der kleine Mann mit dem Bart und dem doppelköpfigen Kristallanhänger wirkte unruhig, doch das war nicht überraschend, denn Elizabeth Macnamara machte manchen nervös. Sie hieß ihn, eher durch einen Befehl als eine Aufforderung, sich auf einen Stuhl unter die Lampe setzen, und ihre inquisitorische Haltung verband sich mit dem Gefühl, daß sie sich eigentlich nicht mit den Angelegenheiten Teddy Poznans zu befassen brauchte. »Er hat also gestern spät angerufen und Sie gebeten, heute um neun hier zu sein?« »Ich habe mich aber verspätet«, murmelte der Mann. »Verspätet! Hah! Erzählen Sie mir was von Verspäten!« antwortete sie wütend, erklärte aber nicht, warum diese schlichte Bemerkung sie so erregte. »Warum hat er bis gestern gewartet? Er hatte doch während des Wochenendes reichlich Zeit, alte Freunde in Santa Cruz zu kontaktieren? Und ohne diese Geschichte wären sie schon lange abgereist.« Der Besucher, der aus Cotati kam und einen langen Weg gefahren war, schüttelte den Kopf. »Wenn ich Teddy richtig kenne, dann ging es um eine spirituelle Sache oder seine Diät. Ich berate ihn in diesen Dingen.« Sie grinste auf höchst undamenhafte Weise. Er legte verteidigend beide Hände um den Gürtel mit der Inschrift ›Rettet die Menschheit und atmete tief. »Wenn wir ihn finden, wissen wir vielleicht beide Bescheid«, schlug er vor. »Hat er nicht gesagt, wohin er ging?«
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»Mir?« Elizabeth richtete sich zu königlicher Höhe auf. »Wohl kaum. Ich könnte mir nur denken, daß er wieder auf der Polizeiwache ist.« »… zeiwache?« wiederholte der Mann und stand auf, wobei der Stuhl über den Boden scharrte. »Mensch! Teddy? Was hat er denn auf dem Kerbholz?« »Es geht um Mord«, antwortete sie fast bösartig. »Er hat eine Leiche gefunden und meiner Mutter zugeschoben.« »Zugeschoben? Ihrer …?« Elizabeth ergriff den Telefonhörer, als wolle sie ihn strangulieren. »Ich versuch's auf der Wache. Wie heißen Sie?« Sie bekam keine Antwort, und als sie sich umdrehte, war das Zimmer leer. Die Straße war von weißem Staub überzogen, der auch die Windschutzscheibe des Dodge so dicht bedeckte, daß man kaum noch hindurchsehen konnte. Das unbequeme alte Gefährt holperte durch trockene Bachläufe und zahlreiche Schlaglöcher, und wenn sie das Gaspedal durchtrat, um aus den Furchen zu gelangen, roch es ominös nach durchgeriebenen Keilriemen. Der Lieferwagen hatte die Gruppe samt Instrumenten, Gepäck und Geräten von Massachusetts nach Santa Cruz gebracht und war nur ein einziges Mal ausgefallen. Elen bezweifelte, ob er jemals wieder eine solche Reise schaffen würde. Die Rotholzbäume entlang der einspurigen Straße waren bis zu einer Höhe von drei Metern eingestaubt. Elen parkte den Wagen an einer Stelle, wo die Regenfälle des vorigen Winters die letzten Reste der Straße fortgespült hatten, und 207
ging die letzten Meter zur Hütte zu Fuß. Dabei bohrte sie sich den Staub aus der Nase. Die Fenster waren ebenfalls staubverschmiert, aber sie konnte Sandys Kopf dahinter erkennen. Als sie näher kam, hörte sie ein Geräusch. Sandy öffnete die Tür, und Elen trat in die Dunkelheit und fand einen Stuhl. »Es riecht nicht gut hier«, flüsterte sie. »Tut mir leid«, antwortete Sandy. Ihre grünen Haremshosen waren fleckig. »Ich bin für so etwas nicht sehr gut geeignet, das habe ich dir vorher gesagt.« Elen zuckte die Achseln und beugte sich vor. »Ich hatte kein Recht, so zu sprechen. Ich bin sehr müde.« Die Arme der Freundin halfen ihr auf die Beine, und sie sah nach, ob alles in Ordnung war. »Wie viele Menschen würden das für mich tun?« Die magere Frau verschlang die Hände. »Es tut mir einfach so leid …« Sandy wartete im Wohnraum der Hütte auf Elen. Vor dem raumhohen Fenster lärmten ein paar Häher. Sie saß da mit fest gefalteten Händen, und als Elen zurückkam, sagte sie: »Es ist furchtbar, nicht wahr?« Elen Evans würgte, hielt den Atem an, nickte und begann zu weinen. Detektiv Anderson las den vorläufigen Befund beim Fenster. Er trug beim Lesen eine bifokale Brille und fand die richtige Entfernung, indem er die Nase krauste. »Keine großen Überraschungen bislang«, sagte er zu Wachtmeister Scherer, der seinen langen Körper auf einen Plastikstuhl 208
gefaltet hatte. »Gebrochener Hals. Das war wohl eine Gnade.« Scherer wachte aus seinem Dämmerzustand auf. »Gebrochener Hals? Das war für das Seil aber eine ganz schöne Belastung.« »Ich weiß. Häßliche Sache, nicht wahr? Vielleicht…« der Detektiv sprach leise und überlegt. »… hatte er eine schwache Wirbelsäule. Oder er hat sich kopfüber hinabgestürzt, und der Winkel war günstiger …« Scherer zog eine Grimasse und wandte sich von seinem Vorgesetzten ab. Wann immer er die Augen schloß, hatte er diese Geschichte vor Augen. Sicher würde er nicht schlafen können. Jeder hatte einmal eine Depression. Scherer selbst wurde trübsinnig, wenn er zu oft an seinen Job dachte oder an die Scheidung. Es wäre so einfach, eines Abends nach zu vielen Seagrams fortzugehen, voller Wut auf Kates Familie oder seine eigene. Einen Kopfsprung zu machen, einen richtigen Kopfsprung wie im Schwimmbad, und seine Reflexe zu übertölpeln … und zu spät wieder zu Sinnen zu kommen. In der Luft nämlich. Dan Scherer schauderte es derart, daß der Stuhl wackelte. Anderson betrachtete ihn nachdenklich und dachte, ob diese Macnamara vielleicht doch recht gehabt hatte. Vielleicht hätte man dem Jungen nach diesem Fund mehr Zeit geben müssen. Er gehörte nicht einmal zur Kripo. Aber er hatte ihn gefragt, und daher war es in Ordnung. Wie hätte er die freie Zeit verbringen können? Vielleicht in 209
seinem Apartment in Capitola? Scherer lebte allein, wie er sich erinnern konnte. Eine dieser ganz normalen Scheidungen. Sollte er ruhig in seiner Gesellschaft weiterschaudern. »Weiterhin«, fuhr der Detektiv fort. »Ein Schädelriß am Hinterkopf. Damit können wir wohl nicht viel anfangen. Es ist genau an der Stelle, wo er wohl gegen den Pfosten geschlagen ist. Ein paar Einstiche. Nicht viel. Keine Heroinabhängigkeit, würde ich meinen. Gelbsucht. Hat das nicht schon dieser Chinese gemeint? Gelbsucht. Hey, Scherer, wußten Sie, daß Orientalen so sonnengebräunt sein können? Ich hatte immer gedacht, sie würden einfach gelber.« »Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, antwortete Scherer im Tonfall des abgebrühten Bullen, den er nur sehr schlecht nachmachen konnte. »Großflächige Prellung am linken Arm. Abgebrochener, nur unzureichend verheilter Zahn. Die arme Sau. Fünf fehlende Zähne. Die arme Sau, was für eine Elendsliste! Haben wir etwas über seine Verwandten in Kanada herausbekommen?« Hauptwachtmeister Scherer murmelte etwas. Er konnte das nicht wissen, weil er den ganzen Morgen mit dem Detektiv verbracht hatte. Das mußte Anderson doch merken, aber er hatte gefragt. Er wandte sich zur Haussprechanlage und wiederholte die Frage, auf die er eine verneinende Antwort erhielt. »Schande, eine Leiche zu haben, um die sich niemand kümmert.« 210
Scherer murmelte noch leiser vor sich hin und rollte die Augen von Anderson fort. »Einmal abgesehen von Macnamara, die für uns herausfinden will, was wirklich geschehen ist. Vielleicht schafft sie das mit Hilfe eines buddhistischen Rituals oder ähnlichem Zeugs? Aber so ist es einfacher für uns, eh? Kein: ›Tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen …‹ und Blicke wie Spiegeleier und Weinen und Gejammere, und wir gehen dann heim und fühlen uns dreckig. Warum wir den Burschen noch nicht gefaßt haben und so weiter.« Scherer nickte ausdruckslos und gehorsam, während sein Vorgesetzter weiterredete. »Glauben Sie, es war Mord?« Ohne Vorwarnung präsentierte er Scherer diese Frage, und der junge Polizist scheute wie ein Pferd. »Mord? Nein, ich meine, er hat es selbst getan«, antwortete Scherer. »Ist doch offensichtlich.« Für mich aber nicht, Sonnyboy, dachte Anderson und warf einen kurzsichtigen Blick auf Scherers grübelndes Gesicht. »Es würde mich beides nicht überraschen«, sagte der Sergeant laut. Nur fünf Minuten später kam Pratt, der wachhabende Beamte, mit Donald Stoughie herein. »Da ist was komisch«, sagte er zu Anderson, »denn irgendwie könnte das mit diesem Erhängten zu tun haben.« Er sprach leise und nur für die Ohren des Sergeanten bestimmt, und winkte dann den zögernden Kläger hinzu.
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»Erzählen Sie ihm, was Sie mir erzählt haben, Mr. Stoughie.« »Noch einmal? Die ganze Geschichte?« Stoughie zog ein Gesicht, und einen Moment schien es, als wollte er sich umdrehen und die Wache verlassen. Pratts Blick zuckte von Anderson zu Stoughie. »Klar. Wenn der Mann versucht hat, Sie umzubringen, kann man das ruhig zweimal erzählen, oder?« Andersons Miene wurde gewohnheitsmäßig ausdruckslos. »Wer hat versucht, Sie umzubringen, Mr….« »Stuffy. S-t-o-u-g-h-i-e«, erwiderte der Mann. »Ein Mann mit Namen Maxwell Long. Chinese.« Anderson starrte ihn noch leerer als zuvor an. Er wies Stoughie einen Stuhl an. »Wann?« fragte er. »Und wie?« »Gestern morgen in meinem Büro. Er behauptete, ich schulde ihm Geld, und versuchte, mich zu erwürgen. Ich bin ihm gerade eben noch … lebendig entkommen.« Andersons Blick blieb reglos, und Stoughie, der den Kopf wandte, merkte, daß Wachtmeister Scherer ihn ebenfalls anblickte. Der Polizist sah mit seinem ausgeprägten Kinn, dem Backenbart und dem langen, schmächtigen Körper wie ein Cowboy aus, und er betrachtete Stoughie wie ein minderwertiges Pferd. Stoughie fand beide nicht sonderlich hilfreich. »War das Mayland Long?« fragte Anderson. Stoughie regte sich. »Ja, genau. Sie kennen den Fall bereits? Sie haben zugehört, als ich es zuerst erzählte?« 212
»Nein, Mr. Stoughie, ich kenne nur den Namen.« Stoughie entspannte sich so gut es auf dem Plastikstuhl möglich war, denn er hatte es noch nie als gutes Zeichen empfunden, wenn die Polizei den Namen von jemandem wußte. Es sei denn, dieser Jemand stand mit der Polizei in Verbindung. Bei diesem Gedanken richtete er sich wieder kerzengerade auf. Er erklärte nun in allen Einzelheiten, wie Long mit der Forderung nach Geld für nicht geleistete Dienste in sein Büro gestürmt sei, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß die Gruppe Verwüstungen angerichtet habe. Wie sich der Chinese geweigert habe, Vernunft anzunehmen, und statt dessen den Agenten am Hals gegriffen, ja, genau, am Hals, und ihn durch das Zimmer geschleudert habe, wobei er den Raum beschädigt und die Person des Donald Stoughie verletzt habe. Aber das könne man ja von jemandem, der Theater verwüste, nicht anders erwarten. Anderson hörte zu, und seine Ausdruckslosigkeit veränderte sich zu besorgtem Staunen. Er zupfte an seinen Bügelfalten, erhob sich und trat um den großen Schreibtisch herum. Dann hockte er sich neben Stoughie auf den Boden und legte einen Finger an dessen Hals. Der Mann brach mitten im Satz ab. »Halt, lassen Sie mich mal sehen.« Anderson sprach tröstend wie eine Krankenschwester, doch Mr. Stoughie zuckte unter der Berührung zusammen. »Sieht man das nicht deutlich?« fragte Stoughie bitter.
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»Ich glaube, ich kann rote Stellen erkennen«, antwortete Anderson. »Vermutlich war es gestern viel schlimmer. Warum haben Sie so lange mit Ihrer Anzeige gewartet?« »Ich hatte Angst«, erwiderte Stoughie und ballte die Hände im Schoß. »Er sagte, sollte ich es wagen, zur Polizei zu gehen …« »Ja, reden Sie weiter. Wenn Sie zur Polizei gehen sollten, dann…?« Stoughie biß die Zähne aufeinander und entspannte sich wieder. »Würde er zurückkommen?« Da wehte ein plötzlicher Windstoß die Vorhänge beiseite und füllte den Raum mit salziger Meerluft. Anderson und Scherer folgten der Bewegung mit den Augen, und Scherer sog gierig die frische Luft ein. Anderson seufzte. »Long ist… etwa eins siebzig? Und Sie sind vielleicht zehn Zentimeter größer und vierzig Pfund …« »Was hat das denn damit zu tun? Ist es denn recht, wenn man Leute angreift, die größer sind? Ich bin keine Gewalt gewöhnt.« Stoughie schlang seine Arme wie einen Schutzwall um sich, und seine schwimmbadblauen Augen blickten zur Seite. »Ich habe mich bloß gefragt, wie er es geschafft hat, Sie über den Schreibtisch zu ziehen, Mr. Stoughie. Das ist für einen zierlichen Mann recht schwierig.« Das Gesicht des Agenten verschloß sich noch mehr. »Ich glaube, es war Karate.« »Karate?« 214
Als Stoughie ausatmete, blähte sich sein Baumwollhemd auf. »Irgend so etwas. Irgend eine Kampfkunst.« »Vielleicht Tái Chi«, schlug Pratt vor, der hinter Stoughie stand und lässig die Morgenberichte las. »Wenn man Longs Alter in Betracht zieht…« Wütend erhob sich Stoughie. »Das reicht mir! Das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen, wenn ich schon zusammengeschlagen wurde!« Anderson hielt ihn mit einem Arm auf. »Nein, Mr. Stoughie. Es tut mir leid. Wir nehmen Ihre Anzeige sehr wohl ernst. Sehr ernst sogar. Doch ehe wir sie verfolgen, möchte ich sichergehen, daß wir die ganze Wahrheit gehört haben. Es ist vielleicht wichtiger, als Sie denken.« Stoughie wandte sich halb besänftigt und halb erschrocken um. »Was ist denn wichtiger, als daß jemand versucht hat, mich umzubringen?« »Daß es jemandem auch gelingt«, antwortete der Detektiv. Stoughie setzte sich. * »Ich weiß es nicht. Irgendeiner seiner Hippiefreunde«, teilte Elizabeth gleichgültig ihrer Mutter mit. Martha lachte kurz auf und versank dankbar in einem Sessel unter der Klimaanlage. »Du ahnst gar nicht, wie komisch das von jemandem deines Alters klingt. Ich glaube, du sagst das nur, um mich zu schockieren. Was ist denn im Jahre 1986 eigentlich ein Hippie?« 215
Elizabeth säuberte gerade eine unerwarteterweise schmutzig gewordene Kinderhose, und ihre Stimme war wegen des Wasserrauschens kaum vernehmbar. »Das ist ein Typ mit Stirnband und Halsketten, der zuviel Bauch zeigt. Mit Tätowierungen. Nimmt Drogen.« »Was für Drogen?« fragte Martha wie beiläufig, doch ihre entspannte Haltung war nur noch Pose. Elizabeth richtete sich wieder auf, die Haare im Gesicht. Sie rümpfte die Nase. Dann trocknete sie die abschließend gewaschenen Hände an einem Hotelhandtuch. »Ich weiß es nicht. Ich bin kein wandelndes Rezeptbuch.« »Du meinst wohl eine wandelnde Ärzteliste«, gab Martha leise zurück. »Ich bin im Hinblick auf Drogen keine Autorität. Aber ich kenne den Typus, meine Güte, nach Stanford und dem Silikontal! Der Typ nannte sich Berater oder so ähnlich, und das bedeutet gewöhnlich …« »Teddy hält eine schleimfreie Diät ein«, sagte Martha, als würde das irgend etwas beweisen. »Nun …«, Elizabeth tupfte sich mit dem feuchten Handtuch das Gesicht ab. »Was spielt das für eine Rolle? Er suchte Poznan, und der Typ war nicht hier.« Martha wandte sich von der Tochter ab, weil Long gerade aus dem Nebenzimmer heraustrat. Beide Frauen sahen ihn an. »Sie weint immer noch«, sagte er, »aber ich glaube, sie schläft bald ein.« »Gott!« Elizabeth rief mit erhobenen Armen den Himmel an. »Tut mir leid, daß ich dir das angetan habe. 216
Und euch«, fügte sie mit einem schuldbewußten Blick auf ihre Mutter hinzu. »Wenn ich mich nur genau erinnert hätte, wie es auf einer Tournee zugeht…« Martha schwieg. »Ein Mord ist, glaube ich, nicht der normale Höhepunkt einer Tournee«, meinte Long sanftmütig. »Zumindest nicht bei traditioneller keltischer Musik.« Elizabeth warf ihm einen schrägen Blick zu, aber sie hütete sich, dem vornehmen Verehrer ihrer Mutter zu widersprechen. »Ist sie immer noch auf diesem JudyTrip?« »Ja. ›Judy hat sich verirrt.‹« Elizabeth preßte die Lippen aufeinander und setzte sich auf eine Bettkante. »Ich weiß nicht. Es gibt einfach niemanden mit diesem Namen in ihrer Bekanntschaft. Ich … habe eine Freundin in San Rafael, die über Regressionen arbeitet. Vielleicht…« »Hippie!« rief Martha freundlich. Elizabeth brauste leicht auf, beherrschte sich aber wieder. »Wo ist Pádraig?« warf Martha dann in den Raum. Long und Elizabeth sahen sich erwartungsvoll an. Long ging hinaus und blieb vielleicht eine Minute lang fort. »Er ist in sein Zimmer gegangen«, antwortete er, als er leise zurückkam. »Ist sonst noch jemand hier?« Long schüttelte den Kopf, Martha sah sehr traurig aus. »Meine Lieben«, sagte sie. »Wir müssen jetzt nachdenken, 217
denn alles ist sehr verwirrend. Wir müssen herausfinden, wie George gestorben ist.« Elizabeth rollte mit den Augen und setzte eine Miene auf, als wolle sie lieber alles andere machen. Long setzte sich wortlos mit gekreuzten Beinen auf den Teppich, dicht neben Marthas Füße. »Entweder hat George gestern abend Selbstmord begangen, was schrecklich wäre, oder ein Fremder hat ihn umgebracht, was schlimmer wäre, oder einer unserer Freunde hat es getan, und das wäre …« »Nicht unmöglich«, schloß Elizabeth und preßte die Lippen aufeinander. Martha und Long starrten sie überrascht an. Seine Augen waren von kaltem Gelb. »Es stimmt doch!« Vor diesem kombinierten Blick wich Elizabeth einen Schritt zurück. Ihr schönes Gesicht wirkte steinern. »Mutter, du vertraust doch den seltsamsten Leuten.« »Die mir manchmal helfen, wenn ich Hilfe brauche«, antwortete Martha sehr wütend. Long wandte den Blick ab. Elizabeth fegte sich das Haar zum wiederholten Mal aus dem Gesicht. Auf einen Laut von nebenan hin hoben alle die Köpfe. Doch Marty schlief wieder ein, und Elizabeth pumpte die Lungen voll, um weiter zu streiten. »Ja, aber nur sehr selten, und gewöhnlich zehren sie deine sämtlichen Ersparnisse auf und laufen davon. Diese ganz speziellen Sonderlinge …« »Die besten Musiker für diesen Stil, die ich auftreiben konnte!«
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»Hah! Und einer von ihnen ist ein Mörder, nicht wahr? Oder eine Mörderin.« Elizabeth hatte den Mund fest zusammengepreßt und blickte wiederholt zwischen der Tür, hinter der Marty schlief, und ihrer Mutter hin und her, und zwar mit dem gleichen Vorwurf und der gleichen Sorge. »Du hast einfach Glück gehabt, daß man nicht dich mit einem handgeknüpften Seil um den Hals gefunden hat.« »Niemand würde Martha etwas zuleide tun«, sagte Long leise, und sein Gesicht wirkte kantig wie oxydierte Bronze. Martha, die ihre Wut kaum noch zügeln konnte, stellte sich jetzt vor die Tochter und starrte in das Gesicht zwanzig Zentimeter über ihr. »Und wer ist der Kandidat für die Rolle des Mörders?« »Teddy«, lautete die Antwort, und wie auf ein Stichwort hin betrat Teddy Poznan den Raum. »Ich habe beim Empfang gehört, daß mich jemand gesucht hat…« begann er, doch dann erkannte er die Spannung in den Gesichtern und brach ab. Dann klingelte das Telefon, und Martha ging hin. Ehe sie den Hörer abnahm, blieb sie ein paar Sekunden mit halbgeschlossenen Augen und schwer atmend stehen. »Hallo?« Es klopfte noch einmal an die Tür, und sehr verlegen trat Detektiv Anderson ein. Er sah Long an. *
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Am Telefon war Sandy, Martys Babysitter von gestern abend. Sie teilte mit zitternder, kaum verständlicher Stimme mit, daß sich Elen Evans in ihrem Haus befände und zu müde sei, zum Hotel zurückzukehren. Sie schlafe bereits. Martha hörte nur halb hin und unterbrach sie schließlich. »Sag ihr doch bitte, wenn sie wach wird, daß man Mayland wegen Mordes verhaftet hat. Das wird sie interessieren.« Anstelle einer Antwort hörte man nur ein deutliches Keuchen. Dann merkte Martha, daß die Leitung tot war, und hing den Hörer auf. »Nein, er ist nicht verhaftet«, sagte Anderson gerade. »Aber wir würden uns gern mit Ihnen auf der Wache unterhalten. Allerdings nicht über den Tod von Mr. St. Ives.« »Nicht über den Mord?« fragte Martha. Long stand geduldig neben ihr. »Nein …« Andersons Antwort klang gedehnt und so, als meine er eher ein ›jein‹ als eine wirkliche Verneinung. »Es geht um die Klage von einem gewissen Donald Stoughie.« »Ach das!« Martha blieb der Mund offen stehen, und selbst Long stieß ein kurzes Lachen aus, dem eine Reihe von Husten-Stößen folgte. »Wieder einmal muß ich erfahren, daß man für alles seinen Preis zahlt. Zumindest, wenn man es am wenigsten erwartet.« Er zog ein Taschentuch hervor und hielt es vor den Mund, denn der heftige Husten ließ nicht nach. Seine Erkältung flaute allmählich ab, und der lockere Husten war entsetzlich anzuhören. 220
Anderson blickte auf seinen glänzenden dunklen Kopf herab und fragte sich, ob Long wohl seine Haare färbte. Dem Paß zufolge war er gut fünf Jahre älter als Anderson, und was dem Detektiv auf dem Kopf verblieben war, wies mehr Salz als Pfeffer auf. Immerhin, überlegte er, war seine Gesundheit besser als Longs, der die knochigen Finger, halb verborgen von dem Tuch, vor den Mund hielt. Diese Hände, sie sahen aus wie tote Spinnen, und durch Longs dünnes Jackett hindurch erkannte Anderson die einzelnen Wirbel. Sein Mitgefühl mit dem unattraktiven Mr. Stoughie erreichte ein neues Tief, und er fragte sich, ob Long wohl an Tuberkulose litt. »Selbstverständlich, Sergeant. Ich erwarte seit gestern morgen, spätestens aber heute eine Reaktion von Mr. Stoughie, habe es aber wegen dieser traurigen Angelegenheit völlig vergessen.« Er schlug sich methodisch auf die Taschen, sah auf seine goldene Armbanduhr (es war ein Uhr vierzig) und sagte: »Ich bin bereit.« »Warte. Ich suche noch meine Handtasche!« Martha schnippte mit den Fingern und bückte sich unter das Bett. Long warf ihr einen warnenden Blick zu. »Ich glaube nicht, daß der Herr auch dich gebeten hat, Martha«, sagte er. »Noch nicht«, meinte Anderson, und sein Tonfall legte nahe, daß man die Angelegenheit vielleicht ohne jegliche Probleme lösen könnte, falls niemand Probleme schaffte. Sein Tonfall legte das nahe, versprach aber gar nichts. »Ja, weil er nicht weiß, daß die Sache auch mit mir zu tun hat. Sehr sogar, weil du ja schließlich meine Band 221
managst und Stoughie vorhatte, uns reinzulegen. Und außerdem … nun … darüber reden wir draußen.« Long blieb wie angewurzelt stehen. Anderson starrte auf die Wand neben ihm. »Du brauchst dich wirklich nicht darum zu kümmern, Martha.« Sie schnaubte. »Sag das ja nicht! Eine Klage wegen Körperverletzung, wo gerade eine Leiche gefunden wurde, ist kein Honiglecken.« Long putzte sich schon wieder die Nase. »Völlig unangebracht«, murmelte er und blickte Anderson erwartungsvoll an, der jedoch lediglich die Achseln zuckte. »Ich kann sie ja nicht an den Bettpfosten binden«, meinte der Detektiv und folgte den beiden aus dem Raum. Auf dem Gang trafen sie Pádraig ó Súilleabháin , der aussah, als litt er an einem ausgewachsenen Kater. »Habt ihr Aspirin?« fragte er Martha, und dann erblickte er Anderson und bemerkte, daß die Gruppe irgendwohin unterwegs war. »Was gibt es?« »Wir gehen noch einmal auf die Wache«, antwortete Long und versuchte, gelangweilt zu klingen. »Mar sinn é? Wirklich?« Der Junge trat neben sie, stolperte aber über den dicken Plüsch des Teppichs. Er verstellte ihnen den Weg zur Empfangshalle. »Wer geht, und warum sagt mir niemand etwas?« Anderson faßte ihn beim Arm, um ihn zu stützen, und spürte die unerwartet festen Muskeln kämpferisch härter werden. Einen Moment wünschte er sich, Scherer mitgebracht zu haben. »Es geht nicht um George«, sagte Long. »Es geht um diese Tournee.« 222
Pádraig zwinkerte und schnitt ein Gesicht. »So betrunken bin ich nicht. Zumindest jetzt nicht mehr. Was hat denn die Polizei mit unserer Tournee zu tun?« Martha schob sich an Pádraig vorbei und machte den Weg für die anderen frei. »Dieser fürchterliche Agent hat gegen Mayland Klage eingereicht. Das ist alles.« »Mar sinn é?« fragte Pádraig noch einmal. Unter seinem Nylonhemd schwollen die Schultermuskeln an, und er stopfte die Hände in die Hosentaschen. »Dieser gaimbin Mann? Ich komme mit, Mayland.« Pádraig ließ sich nicht davon abbringen. Anderson und Long, beide in Sport Jacketts, stiegen schweigend in das neutrale Auto. Martha setzte sich neben Long. Aber ó Súilleabháin mußte zu Fuß gehen. »Seien Sie vorsichtig«, sagte Anderson, als sie ungestört in seinem Zimmer saßen. »Ich habe Sie um keine Zugeständnisse gebeten, und wenn Sie sie jetzt hier verbreiten, muß ich Ihnen erst einmal Ihre Rechte vorhalten.« »Ich habe lediglich zugegeben, die Beherrschung verloren zu haben«, sagte Long abwägend. Er saß so passend in die Biegung des Plastikstuhls gefügt, als sei seine Wirbelsäule für solche Kurven gebaut. Ein Arm hing über die Stuhllehne, und er wirkte entspannter als bislang in der Gegenwart des Detektivs. Anderson vermutete, der Bursche sei froh, mit ihm allein zu sein. »Das bedeutet nicht immer eine Gesetzesübertretung. Vermutlich aber sparen wir viel Zeit, wenn Sie mir meine Rechte vorhalten, damit die Wahrheit ans Licht kommen kann.« 223
Anderson lächelte. Er schloß die Augen, zitierte den Inhalt von Miranda v. Arizona sehr deutlich und schloß mit der herkömmlichen gerichtlichen Verfügung. Long nickte in Anerkennung des Rituals. »Und das mußten Sie nicht ablesen?« »Nein, schon seit Jahren nicht mehr.« Er berührte einen Knopf der Sprechanlage auf seinem Schreibtisch. »Jederzeit zu Ihrer Verfügung, Mr. Long.« Long legte den rechten Fuß auf sein linkes Knie und zog ihn bis an die Hüfte hoch. Der linke Fuß blieb auf dem Boden. Er richtete sich auf und legte die verschränkten Hände in den Schoß. In dieser Kreuzung aus europäischer und asiatischer Haltung begann er: »Im Februar dieses Jahres schloß ich mit Mr. Donald Stoughie einen Vertrag für die Gruppe Macnamara's Band. Sie sollte in einer Halle auftreten, die er in Santa Cruz managt, der Landaman-Halle. Mrs. Macnamara warnte mich, daß Stoughie in der Musikszene einen schlechten Ruf genieße, weil er entweder spät oder überhaupt nicht zahle. Daher bestand ich auf einer schriftlichen Abmachung, daß nach dem ersten der beiden Konzerte gezahlt würde. Wäre es uns nicht um den Ort und die gute Akustik der Landaman-Halle gegangen, wir hätten den Mann gemieden. Wie sich herausstellte, war die Akustik gut, der Ort allerdings unglücklich.« »Da stimme ich Ihnen zu«, meinte Anderson ernst. »Am letzten Freitag gab die Gruppe das erste der beiden Konzerte, und er tauchte nicht mit dem Geld auf.« Long verfiel einen Moment lang in Schweigen. »Wissen Sie, 224
wenn ich nicht die Abmachung für eine Pauschalsumme getroffen hätte, wäre es für die Gruppe vorteilhafter gewesen, denn das Konzert war besser besucht als Martha erwartet hatte.« »Gute Musik«, murmelte Anderson, und Long warf ihm einen scharfen Blick zu. »Genau. Sie waren ja da. Am folgenden Morgen ging ich zu Mr. Stoughies Büro, und es wurde deutlich, daß er nicht geneigt war, zu diesem Zeitpunkt, falls überhaupt, zu zahlen. Er behauptete, daß einer unserer Gruppe sein Eigentum beschädigt habe, doch er hatte dafür weder einen Beweis noch einen bestimmten Schuldigen im Auge.« »Ich habe von diesem Scherz gehört«, sagte Anderson. »Mrs. Macnamara hat mir heute morgen davon erzählt.« Long zeigte grinsend die Zähne. »Nun, es war nicht der richtige Zeitpunkt, mit mir solche Scherze zu treiben, denn ich fühlte mich nicht wohl. Dieser Virus … Und dann machte er einige Bemerkungen über Mrs. Macnamara, die ich nur als beleidigend empfinden konnte.« Andersons Gesicht hellte sich einen Moment lang auf. Abwesend kaute er an einem Bleistift und lächelte fast. »Da verlor ich die Beherrschung. Ich legte Hand an ihn.« Wieder schwieg Long grübelnd, die Hände im Schoß zu einem Kreis geformt. Anderson zog angesichts dieser ungewöhnlichen Galantheit die Brauen hoch. »Hand? Einzahl?« Long blickte belustigt auf. »Ja, eine Hand. Ich legte sie dem Mann um den Hals.«
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Anderson brummte, ohne weiter überrascht zu sein. »Und dann haben Sie ihn aus dem Stuhl gezogen? Am Hals?« Es folgte ein zehnsekündiges Schweigen. »Ich … vielleicht ja. Einen Moment war ich sehr wütend. Ich erinnere mich nur verschwommen.« »Erinnern Sie sich, daß sie ihn am Hals durch den Raum geschleudert haben?« Longs Jackett raschelte wie welke Blätter. »Das vermag ich kaum! Und wenn ich es getan hätte, wäre er jetzt sicher tot, mit einem gebrochenen Hals!« »Wie St. Ives«, fügte der Detektiv hinzu. Long schob sich so weit auf dem Stuhl nach hinten, bis sein Rücken sich der Lehne anpaßte. Hals und Kopf verlängerten die schlangengleiche Kurve, und er versuchte, sich höher zu recken als Anderson, der größer war. »Aber Donald Stoughie hat keinen gebrochenen Hals, weil ich ihn nicht durch den Raum geschleudert habe. Noch habe ich George St. Ives an Pádraigs súgán aufgehängt.« Anderson nickte Long mit größter Sympathie zu. »Aber Sie müssen zugeben, daß diese Sache zu einem schlechten Zeitpunkt bekannt wird. Es ist schwer zu glauben, daß zwei Gewaltakte, in so dichtem zeitlichem Abstand …« »… nichts miteinander zu tun haben. Ja, das gebe ich gern zu.« »Stehen Sie denn im Zusammenhang?« Long wirkte einen Moment beleidigt. Seine schmale Brust hob sich. »Selbstverständlich. Alle Handlungen stehen miteinander in Verbindung. Einige im menschlichen 226
Bereich des Dharma, andere in jenseitigen Bereichen. Ich bin mir durchaus bewußt, wie sich diese besondere Serie von Ereignissen dem Auge des Betrachters darstellen muß, und ich stimme ebenfalls zu, daß die Reaktion eines vernünftigen Beamten darin bestehen muß, mich zu verhaften.« Anderson blickte aus dem Fenster und kratzte seine silbrigen Stoppeln. Ein vernünftiger Beamter. Wer, zum Teufel, wollte schon ein vernünftiger Beamter sein? Er dachte an das fleischige Gesicht und die Schwimmbadaugen von Mr. Stoughie und fühlte sich sehr unvernünftig. »Sagen Sie, Mr. Long, haben Sie jemals Karate praktiziert?« Longs Staunen auf diese Frage hin löste sich in Lachen auf, dann in dröhnenden Husten. »Karate? Nein, nie! Vielleicht meinen Sie, jede Person von asiatischem …« »Oder vielleicht eine andere Kampfkunst?« bohrte der Sergeant weiter. »Vielleicht t'ai chi?« »Mit so etwas habe ich mich niemals beschäftigt. Es war niemals notwendig. Jedoch befasse ich mich mit ZenMeditationen. Martha unterrichtet mich.« Anderson nickte, als habe Long lediglich einer Meinung von ihm, Anderson, zugestimmt. »Es tut mir leid, Mr. Long, aber wie Sie schon sagten, ich werde Sie hier behalten müssen.« »Unter Mordanklage?« »Unter der Anklage, Mr. Donald Stoughie beleidigt und tätlich angegriffen zu haben.« Longs resigniertes Nicken wirkte förmlich. 227
Menschenrechte Teddy Poznan warf sich unglücklich in den Sessel, den gewöhnlich Long für sich beanspruchte. »Ach, liebe Freunde und Nachbarn!« Er starrte auf die Hände in seinem Schoß, als bildeten diese den Schlüssel zu seiner Bestürzung. »Das ist eine Sache, die auf jemanden zurückfällt. Alles kreist und kommt wieder an der gleichen Stelle an, versteht ihr. Und wenn jemand einer so uralten Seele wie Mayland etwas tut, dann knirscht es im Gehäuse. Aber ich weiß immer noch nicht, was Wolfies Besuch damit zu tun hat, daß man den Drachen verhaftete.« »Nennen Sie ihn nicht so!« Elizabeth fuhr Teddy wütend an und wandte sich ab. Sie ging durch die Verbindungstür ins Zimmer ihrer Tochter. Teddys ochsenartige blaue Augen umgaben sich mit Fältchen. »Ich habe heute morgen eine Nachricht für ihn hinterlassen, es zu vergessen. Den Besuch hier, meine ich. Daß wir … abreisten, noch ehe er hier ankommen würde.« »Und das wußten Sie nicht, als Sie ihn baten, herzukommen?« fragte Elizabeth durch die offene Tür. Teddy zuckte zusammen. »Er … sollte doch gestern kommen, nicht heute. Er verwechselt das manchmal.« »Was für ein wunderbarer spiritueller Führer er sein muß!« rief Elizabeth noch und schloß dann die Verbindungstür. 228
* Martha saß in dem nett eingerichteten Warteraum der Polizeiwache von Santa Cruz, lauschte der Dixielandmusik vom Cooper House und wippte mit den Füßen. Sie hatte schon als Dreijährige die kurzen Beine über den Teppich geschwenkt, und das gleiche tat sie jetzt im Alter von vierundfünfzig. Besonders wenn sie nervös war. Ob Pádraig wohl in diesem Augenblick die halbe Meile zwischen dem Bright Sands Hotel und der Wache rennend hinter sich brachte, oder mußte sie wieder alles allein ausfechten? Was für eine Situation! Mayland hatte alles Recht der Welt gehabt, diesen miesen Wurm Don Stoughie zu verhauen, der seit zwanzig Jahren ihre Freunde um den Lohn prellte, und George St. Ives war durchaus berechtigt (wenn auch in völliger Selbsttäuschung), sich zu entschließen, nie wieder die Sonne aufgehen zu sehen. Und wenn diese beiden Dinge zusammentrafen … was für eine Situation! Sie konnte Sergeant Anderson nicht einmal einen Vorwurf machen, obzwar ihre Begeisterung für ihn merklich abgekühlt war. Wenn von einem der Verdächtigen bei einem mysteriösen Todesfall plötzlich bekannt wird, daß er am vorangegangenen Tag eine leichte Gewalttat begangen hat, dann war es nur natürlich, eine Verbindung herzustellen. Allerdings hätte ein wirklich guter Detektiv erkannt, daß die Person, die sich über einen 229
Stoughie aufregte, genau das Gegenteil von dem Typ war, der … Nein, das stimmte nicht, denn Martha wußte nur zu gut, daß ihr liebster und engster Freund genau der Typ war, der einen Menschen kaltblütig umbringen konnte, falls er den Tod dieses Typen für eine gute Idee hielt. Und zwar trotz aller Scherze über seine Zahmheit, wenn es um Martha ging. Long war überhaupt nicht zahm. (Am Cooper House spielte aber wirklich ein guter Trompeter. Hör sich das einer an!) Die einzige Möglichkeit, den Verdacht von Long abzulenken, war, den Killer zu fangen, natürlich nur, falls es überhaupt einen gegeben hatte. Sonst mußte man einen Abschiedsbrief oder etwas ähnliches auftreiben. Das hatte sie Sergeant Anderson versprochen. Ein paar Ideen hatte sie bereits, doch nichts, was ihr in diesem Moment helfen konnte. In diesem Augenblick kam Hauptwachtmeister Scherer vorbei, sah Martha und erkannte sie. Sie merkte, wie er unfreiwillig einen Schritt von ihr zurücktrat, und sie vermutete, daß er sich plötzlich erinnerte, daß ihr Freund verhaftet sei und sie ihn vielleicht bedrängen und Hilfe von ihm erbeten könnte, die ein Polizist ihr unmöglich geben konnte. Martha lächelte, nickte und starrte leer vor sich hin. Ihre Gleichgültigkeit rührte den hochgewachsenen Polizisten an. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?« fragte er sie unvermutet.
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Ihre blauen Augen blickten kühl, aber nicht ablehnend. »Mir fällt nur ein, daß man irgendwie beweisen müßte, daß George Selbstmord begangen hat. Und wenn er das nicht getan hat, dann muß ich denjenigen finden, der ihn umbrachte. Mayland war es nicht.« Scherer schwieg, aber Martha tat so, als habe er geantwortet. »Ich sage das nicht, weil er ein Typ wäre, der niemandem etwas zuleide tun könnte, sondern, weil er nicht lügen kann. Niemals. Und er hat zu mir gesagt, er habe George nicht umgebracht.« Wachtmeister Scherers Schultern zogen sich langsam hoch. »Aber wegen Mordes wurde er nicht verhaftet, Madam.« Er hatte eine komische, cowboyhafte Art, ›Madam‹ zu sagen, die Martha auffiel. Es paßte zu seinem schlaksigen Aussehen und der sonderbaren Bräune seines Gesichts, die noch tiefer war als die des Detektivs. Sie fragte sich, ob er sich bewußt so gab. »Nein, Sir, aber um Mord geht es hier«, antwortete sie sehr ruhig. »Wenn George sich nicht selbst umgebracht hat, muß es jemand anderer getan haben.« Scherer rutschte auf seinem Stuhl hin und her und blickte ziellos auf die Neonröhren. »Sie, Mrs. Macnamara, glauben, er beging Selbstmord.« Martha richtete sich, so gut das in dem Plastikstuhl ging, auf. »Das habe ich nicht gesagt, Wachtmeister. Ich finde es unwahrscheinlich. Aber ich behaupte auch nicht, alle Gehirnwindungen von George St. Ives begriffen zu haben.« Sie betrachtete den hochgewachsenen Polizisten aufmerksam und bemerkte, daß alle Untenansichten (und 231
nur so konnte sie sein Gesicht sehen) blaß waren, die oberen Flächen aber ziegelbraun. Nur seine Stirn ging nahtlos von hell in dunkel über. »Wo haben Sie nur diese auffallende Bräune her, Wachtmeister? Ein Polizeiauto ist doch sicher nicht der geeignete Ort, nur einen einzigen Strahl abzukriegen.« Scherer sah sie augenzwinkernd an, zugleich aber verlegen und erfreut über diese Bemerkung. Er fingerte an seiner Gürtelschnalle. »Nein, Madam, die muß ich beim Ausdauerrennen bekommen haben.« Martha wußte nicht genau, was ein Ausdauerrennen war, ob es für Pferde oder für Autos veranstaltet wurde. Oder für Füße. Und sie antwortete weiterbohrend: »Das muß aber einen großen Teil ihrer Freizeit in Anspruch nehmen.« Er nickte, und sein verschlossenes Gesicht hellte sich sichtlich auf. »Ja, da haben Sie recht. Ich kann nicht einmal regelmäßig trainieren, und das ist für die Pferde ganz schön schwierig …« Pferde, merkte sich Martha. »Manchmal reite ich schon bei Tagesanbruch, und am nächsten Tag überhaupt nicht, und am nächsten Tag ist es entweder in der größten Mittagshitze oder bei Mondschein.« »Das hört sich aber schön an«, meinte Martha aufrichtig. »Ich weiß allerdings nur wenig über Pferde Bescheid.« Scherer warf ihr einen überraschten Blick zu, der mit Mißtrauen gepaart war, denn nur selten gab jemand zu, daß er sich mit Pferden nicht auskannte, auch wenn sich das anschließend als beklagenswert wahr herausstellte. Er rief 232
sich in Erinnerung, daß diese Frau von der Ostküste stammte und daher vielleicht anders reagierte. »Es ist anstrengend, aber vermutlich würde ich es nicht tun, wenn es mir nicht gefiele.« * Pádraig schnaubte wie ein Pferd, als er im Schatten der Polizeiwache ankam. Sein Kindergesicht glänzte, und das Hemd klebte ihm am Rücken. Er fragte sich, wie die Menschen es in diesem gnadenlosen Klima aushalten konnten. Es herrschten fast dreißig Grad. Als er hinter der Glastür stehenblieb, damit seine Augen sich an das künstliche Licht gewöhnten, fiel ihm sein Auftrag wieder ein, und er wurde blaß. Er ging zum Schalter, in der Hoffnung, seine Schüchternheit würde ihn nicht gänzlich verlegen machen, und fragte nach Martha. Da saß sie auf einem rosa Plastikstuhl im Warteraum, sah ganz rosig und zerbrechlich aus, und ein schrecklich großer Polizist beugte sich über sie. Pádraig, selbst nicht der größte, spürte, wie ein heißer Knoten beschützender Wut in ihm aufstieg. »›Engländer‹ würden vielleicht meinen, daß ich zu groß für sie bin«, sagte der Garda gerade. »Aber wenn sie noch größer wäre, müßte sie sich noch mehr anstrengen, vorwärtszukommen. Ich gehe es leicht an und halte sie zurück, wenn sie sich in einem Spurt verausgaben würde. Sie arbeitet wirklich schwer, das Mädchen.«
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Pádraig ó Súilleabháin blieb wie angewurzelt stehen, und seine wunderbare Wut löste sich in Verwirrung auf. Was beichtete der Mann Martha gerade? Was bei den sieben Heiligen hatte die Meinung der Engländer mit Kalifornien zu tun? Zwei geballte Fäuste lösten sich. Seine narbigen Handflächen waren feuchtkalt. »Diese Engländer tun ihren Mordsviechern viel Schlimmeres an und peitschen sie über die Hindernisse. Glauben Sie mir, es gibt viel mehr alte Ausdauerrennpferde als Jagd- oder Springgäule.« Martha nickte freundlich, blickte auf und sah Pádraig . »Hallo! Du erinnerst dich doch an Wachtmeister Scherer, nicht wahr, Pádraig . Wir sprachen gerade über Pferde.« Langsam nickte der junge Ire. »Das hatte ich mir gedacht. Es ging entweder um Pferde oder um Ihre Frau.« Scherer amüsierte sich darüber, doch dann fiel ihm seine Frau wieder ein, und er wurde ernst. »Ich muß mit dir sprechen, Martha«, sagte Pádraig nervös. Martha blickte ihn direkt an. Der Polizist entschuldigte sich mit einem Wort und einer Geste und löste sich von dem kleinen Stuhl. Pádraig nahm seinen Platz ein, und so, wie er beim Sitzen die Hosen hochzupfte, hatte er wohl etwas Anstrengendes vor sich. »Was für Beweise haben Sie eigentlich gegen ihn?« flüsterte er Martha zu, die sich zu ihm beugen mußte, um ihn zu verstehen. Als sie antwortete, sah sie noch rosiger und zerbrechlicher aus. »Er gibt natürlich zu, dort gewesen zu sein. Es
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ist alles eine Frage, ob das, was er tat, vor dem Gesetz vertretbar ist oder ein Verbrechen.« Pádraig versteifte sich. Er wurde grauweiß und murmelte etwas vor sich hin, entweder ein Gebet oder ganz etwas anderes. »Vertretbar? Wie kann das denn vertretbar sein?« Er schüttelte den Kopf, daß sein seidiges schwarzes Haar in die Luft flog. »Ich glaube kein Wort davon. Ich glaube auch nicht, daß er dort war. Ich werde es ihnen sagen …« Martha bemerkte den Irrtum. »Wir sprechen nicht über Georges Tod, Pádraig . Das ist ja ein schrecklicher Irrtum. Mayland wurde nur wegen Körperverletzung verhaftet.« Das Kindergesicht blieb leer, doch die Farbe kehrte in die Wangen zurück. »Cén fáth?« »Weil er Don Stoughie geschlagen oder geschüttelt hat oder was auch immer. Am Samstag morgen.« Jetzt sackte Pádraig auf seinem Stuhl zusammen, bis sein feuchter Rücken geräuschvoll an der Plastiklehne entlangrutschte. »Wirklich?« Martha nickte. »Stoughie versuchte uns wie erwartet reinzulegen, und da es Mayland nicht besonders gutging, hat er die Beherrschung verloren.« Pádraig schlug sich mit rauher Hand auf das Knie, doch Martha wußte nicht, ob aus Ärger über Long oder aus Mitleid mit ihm. »Dafür suchen sie sich aber einen schlechten Zeitpunkt aus, wo doch George gerade erst gestorben ist.« Marthas Rücken berührte die Stuhllehne nicht. Ihre Füße begannen wieder zu schwingen, als sie erwiderte: »Sie 235
meinen, es war ein schlechter Zeitpunkt, an dem er die Beherrschung verlor.« »Es ist überhaupt eine schlechte Zeit!« Pádraigs Stimme klang hitzig und eine Spur zu laut. Der wachhabende Polizist an seinem Schreibtisch wurde aufmerksam, ebenso wie eine Frau in einem Musselinkleid, die an einem Textcomputer arbeitete. Pádraig bemerkte es nicht, denn er saß so zusammengesackt auf seinem Stuhl, daß man von vorn nur seinen glänzenden schwarzen Kopf sehen konnte. Wieder schlug er mit der Hand auf seinen Schenkel und seufzte so tief, daß sich sein Brustkorb hob. »Dir geht es bestimmt besser, wenn du dich richtig hinsetzt«, meinte Martha zögernd. Halb mürrisch, halb nachgiebig gehorchte er. »Was passiert denn, wenn er wegen dieser Schlägerei verurteilt wird?« Martha zuckte die Achseln. »Hoffentlich nur eine Geldstrafe. Er wirkt doch so harmlos. Kein Richter nimmt diese Klage wirklich ernst.« Pádraig stieß einen rauhen, ungläubig klingenden Laut aus. In den nächsten paar Minuten saßen die beiden nebeneinander und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Dann blickte Martha wieder zu ihm hinüber. »Pádraig? Was wolltest du ihnen denn sagen, wenn sie ihn wirklich wegen Mordes angeklagt hätten? Daß er nicht dort gewesen sei…?« Pádraig richtete sich wieder auf und schnitt ein Gesicht. »Nein. Ich war nur verwirrt. Ich hätte ihnen gesagt, daß dieser Mann niemanden töten kann. Das weiß ich genau!« 236
Martha schwieg so verlegen wie immer, wenn ihr jemand etwas sagte, das sie mit Gewißheit als Lüge erkannte. * Die Gefängniszelle blickte auf eine vierspurige Straße hinaus, auf deren gegenüberliegender Seite das Parkhochhaus stand. Der Blick war nicht malerisch. Und die Zelle war auch nicht so freundlich, wie es die Wache versprochen hatte. Sie war sauber, hatte frisch gestrichene Wände, und es gab eine Toilette, aber es war weder ein Ort der Ruhe, noch einer, der den Geist erfreut. Am schlimmsten aber war Longs Meinung nach, daß er nicht allein darin war. Er mußte die Zelle mit einem sehr unangenehm aussehenden Bürschchen teilen, dessen Wangen mit schwärzlichen Stoppeln übersät waren, der kein Wort auf Longs Begrüßung gesagt hatte und in der Stunde, die sie nun schon dieses Domizil gezwungen waren zu teilen, kein einziges Mal aufgeblickt hatte. Aber das war auch recht. Es war unwahrscheinlich, daß ein Gespräch mit dem Jungen sehr unterhaltsam ausfiele. Da kein Blickkontakt zwischen ihnen bestand, fühlte sich Long ermutigt, den Burschen eingehend zu betrachten. Er saß auf dem Rand einer Pritsche (Bessere Matratze als in dem Hotel. Hart.), hatte ein Bein hochgezogen, wiegte fast unmerklich den Kopf in langsamem Rhythmus hin und her und starrte den Jungen an, solange er mochte. 237
Vermutlich war er irgendwo fortgerannt. Wahrscheinlich eher aus einer Anstalt als aus einer Familie. Denn diese besondere passive Verdrießlichkeit entstand selten in einem Zuhause. Es war kein Straßenrowdy oder Mitglied einer Bande; dafür fehlte es ihm an Grobheit und Aufdringlichkeit. Long hielt ihn auch nicht für einen Drogendealer, denn wer würde einem so schmutzigen Menschen irgend etwas abkaufen, was für den eigenen Körper bestimmt war? Vielleicht war er einfach ein kleiner Dieb. Es bestand sogar die Möglichkeit (aber keine hohe Wahrscheinlichkeit, überlegte Long sorgfältig), daß er eine ehrliche Haut war, die man ungerechterweise wegen etwas angeklagt hatte. Jemand, der auf unfaire Weise verleitet wurde, Gewalt gegen jemanden anzuwenden, der eine Menge Gewalt verdiente. Long betrachtete nun die Augen und Nasenflügel des Jungen und stellte fest, daß er nicht an einer Erkältung litt, und diese wunderbare Entschuldigung für ihn wohl nicht galt, doch es gab ja verschiedene Arten der Folter in dieser Welt. Longs Gedanken wandten sich wieder der eigenen Person zu. Er dachte an sein Gespräch mit Stoughie und bereute nun echt. Er hätte den Burschen umbringen und seine Leiche verschwinden lassen sollen. Er hätte sie aus dem Fenster werfen oder in einem Koffer verstecken sollen, besser noch in zwei Koffern. Und dann hinein ins Meer, als Fischköder. Würden die örtlichen Fischer wohl undefinierbare Klumpen rohen Fleisches akzeptieren? Wäre doch gut für 238
den Kabeljau. Und sicher würden die Möwen die Eingeweide auffressen. Aber Martha würde das überhaupt nicht gefallen. Sie betrachtete eine ähnliche Handlung von vor fünf Jahren als philosophischen Irrtum der schlimmsten Art, wenngleich als sehr wirksamen. Und wer wußte schon, ob Don Stoughie nicht vielleicht eine alte Mutter hatte, deren einzige Stütze er war. Long hegte wie alle Chinesen großen Respekt vor der Familie. Doch immerhin hatte er vor dem Schreibtisch des Agenten diese Entscheidung getroffen und sie halb ausgeführt. Jetzt würde er die Konsequenzen tragen müssen. Was kreist, kommt immer wieder an der gleichen Stelle an. Wer hatte das gesagt? Dogen? Teddy, der Freak? Verdammt, manchmal war das Spiel es nicht wert. Alles lag nur daran, daß er kein Mensch war, das wußte Long. Er begriff das menschliche Leben wie auch die Musik nicht einfach intuitiv und mußte noch viel üben. Jedoch war für ihn das menschliche Leben noch viel unbegreiflicher und daher wichtiger für ihn als die Musik. Mit einem Gefühl, vermischt aus Angst, Freude und Entsetzen, fühlte er sich unvermittelt als das, was er war: ein alternder Mann in einem Anzug, der auf einer harten Matratze unter einer elektrischen Birne saß und darauf wartete, daß andere über seine Zukunft entschieden. Ein Mann, der unter einer schrecklichen Erkältung litt. Aber er wollte so viel mehr wissen, daß er zu zittern begann. Seit er mit Martha zusammenlebte, hatte er soviel dazugelernt. Er hatte zumindest die Fußtapfen des Ochsen 239
der Erkenntnis gesehen. Manchmal in den vergangenen vier Jahren, wenn er mit ihr redete oder allein durch Mendocino spazierte, verneinte er Visionen von diesem Tier zu haben. Martha war allerdings in keiner Weise ochsengleich … Aber er fand sein Verständnis von der Welt brüchig und leicht durch Verwirrung und körperliche Schmerzen auslöschbar. Er wollte mehr wissen. Im Moment wollte er nur ein Aspirin. Er zog ein Papiertaschentuch heraus. Wieder blickte er auf den unansehnlichen Jungen, der in diesem Augenblick mit ungesunder Faszination auf Longs Bauch starrte. Long zuckte zusammen, doch der Junge merkte es nicht, denn sein Blick war unpersönlich, fast leer, und auf eine Stelle zwei Fuß unterhalb von Longs Kopf gerichtet. Er wirkte hungrig. Long spürte den Ekel, den viele Menschen vor Schlangen empfinden. Jetzt blickte er zur Zellentür, die halb aus Drahtglas bestand, wie im Gymnasium. Aus dem Augenwinkel sah er, daß der Reptilblick weiter starrte. Enervierend. Er zwang sich, konstruktiv zu denken. Hier würde sich nichts tun, bis Mr. Alexander, sein Rechtsanwalt aus Palo Alto, ankam. Dann würde man ihn gegen eine Kaution freilassen, es sei denn, Don Stoughie konnte alle überzeugen, daß Long weiterhin eine Gefahr für ihn darstellte. Aber das war wenig wahrscheinlich. Mit einem Anflug von Selbstmitleid hustete Long in sein Taschentuch. Aber der Gedanke an Mitleid erinnerte ihn wieder an St. Ives' Tod, denn Long, der zwar keinen Grund gehabt hatte, 240
den Mann zu mögen, bedauerte, daß er auf solche Weise umgekommen war. So häßlich. Er hegte nur wenig Zweifel, daß es sich um einen Mord gehandelt hatte. Er hatte den Musiker kaum gekannt, war aber der Meinung, St. Ives sei zwar mehr als nur ein wenig grausam und unaufrichtig in seinen Methoden gewesen, doch kein Wesen, das wilde Stimmungsschwankungen kannte. Und eine allgemein mürrische Haltung führt nicht zum Selbstmord, meinte Long. St. Ives hatte an jenem Tag Drogen genommen, und Drogen beeinflußten sicherlich die Stimmung, aber Long hatte noch niemals von Selbstmord als Nebenwirkung von MDM gehört. Dabei war er mit allen Nachrichten auf dem laufenden und las regelmäßig die ›New York Times‹. Angst, Scham, Verzweiflung oder unkontrollierbare Schmerzen konnten zur Selbstzerstörung führen. Aber St. Ives schien von keinem dieser Faktoren heimgesucht worden zu sein. Er wurde allerdings von einem Bedürfnis getrieben, und zwar dem, Leute zu beleidigen, und während der achtwöchigen Tournee hatte er allen fünfen guten Grund gegeben, ihn tot zu wünschen. Pádraig war offensichtlich verdächtig, getrieben wie ein Elefant mit einem Ankh-Mann auf der Schulter. Beim Gedanken an den kleinen, rundgesichtigen Pádraig (der kaum eine Nase hatte) als einen Elefanten mußte Long leise lächeln. Aber abstehende Ohren hatte er. Hätte St. Ives versucht, Long so fertigzumachen, er hätte die erste Woche nicht überlebt. Allerdings hätte er es bei ihm wohl nach dem ersten Versuch nicht weiter probiert… 241
Elen war eine fast ebenso sichere Kandidatin, weil sie einen schon lange schwelenden Haß auf ihn in sich trug. Aber auch Elen hätte ihn wohl schon früher getötet, ehe er die Geschichte enthüllte, die sie so geschmacklos fand. Leidenschaftslos dachte der adrette Mr. Long über St. Ives' mögliche Anziehungskraft auf Frauen nach. Als junger Mann mußte er besser ausgesehen haben. Teddy Poznan lag weiter hinten im Rennen. Wenn er St. Ives wegen der vielen Beleidigungen ihm gegenüber umgebracht hatte, dann verfügte er über ein wundersames Talent, seinen Ärger zu verbergen. Was hatte der Bläser denn als Geschütz gegen Teddy ins Feld geführt? Er mochte natürlich seine Gitarre nicht. Verachtung für die Gegenkultur. Sonst noch was? Ted Poznan hatte ihm die illegale Droge besorgt. Eine Droge, die St. Ives zumindest eine Weile glücklich gemacht hatte. Verursachte sie nach dem Abklingen der Wirkung vielleicht eine ähnlich starke gegensätzliche Reaktion? St. Ives hatte unter dem Einfluß von Adam gesagt, er wolle keine Geheimnisse mehr haben. Der Bläser kannte eine ganze Reihe unangenehmer Geheimnisse. Long dachte an eines, das er und George geteilt hatten, und brummte laut, jetzt noch sicherer als jemals, daß der Mann nicht von eigener Hand gestorben war. Er selbst war sich nur begrenzt sicher, nicht der Mörder zu sein (was an der Erkältung lag, dem Mangel an Einfühlungsvermögen und so weiter). Doch er hegte nicht den geringsten Zweifel daran, daß Martha völlig unschul242
dig war. Was sie war und was sie sagte, war immer klar und deutlich, schlicht und perfekt. Sie hatte die Nacht, in der George starb, bei Marty zugebracht. Die arme Marty, die so sonderbare Dinge anstellte. Longs Miene wurde bekümmert, denn er hatte eine uralte Schwäche für Kinder, besonders für kleine Mädchen. Ja, Martha hatte ein Alibi, aber die anderen drei… Es hatte zwar nichts Diskriminierendes an sich, wenn die Musiker nach einem Konzert ausgingen (einen saufen, wie Pádraig es nannte). Sie waren jung, nicht wie Martha und er. Aber es stellte ein Problem dar. Mayland hatte keine Schwierigkeiten, sich jeden einzelnen seiner Freunde in der Rolle des kaltblütigen Mörders vorzustellen. Er würde deshalb nicht schlechter von ihnen denken. Vielleicht konnte er ihnen mit seinem Geist und seinem Geld sogar helfen, aber nicht, solange er unwissend blieb. Und nicht, solange er im Gefängnis saß. Martha war im Moment als einzige in der Lage, etwas herauszufinden, und sie hatte sein uneingeschränktes Vertrauen. Zufrieden dachte Long an Marthas Fähigkeiten, etwas herauszufinden (innere und äußere Dinge), während er ziellos auf die Glastür starrte und die Hände im Schoß verschränkt hielt. Mit ein wenig Zeit würde sie den Mörder schon finden. Aber halt. Mörder waren per definitionem Leute, die andere Leute umbrachten. Und er hatte allen Grund, sich daran zu erinnern, daß Martha ein zerbrechlicher Schatz war, und sie war allein da draußen, einmal abgesehen von ihrer Tochter. 243
Und Pádraig . Und Elen. Und dem Freak Teddy. Long sprang auf die Tür zu, hämmerte dagegen und rief lauthals nach seinem Rechtsanwalt. Es sah nicht so aus, als würde der Sonntag ebenso warm werden wie der Sonnabend, und Martha, die auf der Bank an der Bushaltestelle saß, wurde es kühl. Vielleicht hatte sie auch einfach unangenehme Gedanken, denn sie hielt die Hände geballt im Schoß und zitterte zuweilen. Wenn das geschah, raschelte das kanariengelbe Papier in ihrer Hand, und ihr Wickelrock (das einzige Kleidungsstück, das noch sauber war) lief Gefahr, sich zu öffnen. Viele Geschäfte waren zwar geschlossen, doch bei diesem schönen Sommerwetter spielte sich auf der Mall noch genügend ab, so daß alles sehr lebendig wirkte. Die Jazzband machte eine Pause, aber im Eingang von Leasks' Warenhaus sang ein Cowboy und begleitete sich auf einer Sperrholzgitarre. Martha blickte auf und merkte, daß ein großer blauweißer Bus vor ihr hielt. Sie hatte zwar gewußt, daß sie an einer Haltestelle saß, aber nicht mit einem wirklichen Bus gerechnet. Daher starrte sie den Fahrer derart leer an, daß er fast geneigt schien, den Bus mit Hilfe der hydraulischen Aufhängung vor der alten Dame in die Knie gehen zu lassen. Sie winkte ihn weiter, und der Bus seufzte und fuhr fort. Der Fahrradträger an seinem Heck wackelte wie eine Turnüre. Martha war nicht sicher, ob ihr Vorhaben fruchtbar sein würde, noch, ob die Frucht, falls es klappte, eßbar wäre. Sie saß seit einer halben Stunde auf der Holzbank, und es 244
war Nachmittag. Irgend etwas mußte passieren, weil George tot war und Mayland im Gefängnis saß, aber sie wußte nicht, was sie im Hinblick auf George anfangen sollte, und David Alexander versuchte wahrscheinlich gerade, ihren Freund aus dem Gefängnis freizubekommen. Teddy hatte nichts zu sagen gehabt, außer: »Was sich im Kreis bewegt, kommt wieder an der gleichen Stelle an«, und das hatte niemanden weitergebracht. Bitte, Gott, laß ihn nichts tun, was Elizabeth aufregt. Es reichte eigentlich schon, daß er so war wie er war. (Wenn Elizabeth doch nur weniger Familiensinn hätte und mit ihrer Tochter nach Hause führe!) Pádraig saß allein in seinem Zimmer. Theoretisch schlief er. Er hatte sie angelogen. Von Elen kein Wort. Sie hörte viele Schritte hinter sich, und dann blieb jemand stehen. Martha wandte den Kopf, aber anstatt des Mannes, auf den sie wartete, sah sie eine schlanke, schwarze junge Frau, die einen Gymnastikanzug und eine Trommel mit Wespentaille in der Hand hielt. Martha stand trotzdem auf. »Die Tür«, sagte sie zu der Frau. »Sie ist versperrt, und niemand hat geöffnet.« »Vermutlich konnte man Sie nicht hören, meine Liebe«, antwortete die Tänzerin freundlich. »Wen suchen Sie denn?« »Don Stoughie.« Martha lächelte wie eine Rosenknospe, was die andere erwiderte.
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»Den?« Auf das vereinzelte Wort folgte ein Schnauben. »Also, ich laß Sie rein, aber Sie dürfen ihn nicht angreifen.« Martha zog lediglich die Brauen hoch, worauf die Frau fortfuhr: »Aber Sie sind dazu vermutlich zu jung. Sieht so aus, als wären nur wirklich alte Leute darauf aus.« Die schmutzige Tür öffnete sich, und Martha hörte aus dem dunklen Treppenhaus eine Jazzgitarre. Eine Platte, bemerkte sie, aber das Fußstampfen auf den Boden dazu hörte sich life an. Martha sagte mit ihrer süßesten Altfrauenstimme: »Ich garantiere für nichts.« Dann folgte sie der Tänzerin übertrieben steif schlurfend die Treppe hinauf und wandte sich nach links, als die andere rechts abbog. Als die junge Frau das Studio betrat, brach die Jazzgitarre ab. An Stoughies Tür hing ein schwarzweißes Plastikschild mit seinem Namen. Licht schien durch die Ritzen. Sie klopfte. »Wer is' da?« Die drei Worte klangen fast wie ein einziges. Martha murmelte eine Antwort. Stille. Stuhlrücken. Wieder fragte er, dieses Mal direkt hinter der Tür, und Marthas Gemurmel klang noch bewußter unverständlich sowie ein wenig ungeduldig. Er öffnete die Tür einen Spalt, und sie setzte einen Fuß dazwischen, weil sie sich vorher wohlweislich überlegt hatte, ihre schweren Holzsandalen anzuziehen. Als die Tür gegen die Holzsohle schlug, dröhnte es. »O nein, tun Sie das nicht. Ich will nur mit Ihnen reden!« 246
»Aber ich will nicht mit Ihnen reden! Das werde ich allerhöchstem im Gerichtssaal tun!« Er warf die Tür heftig gegen den Rahmen, doch sie bog sich um Marthas Holzschuh, sprang zurück und schlug Stoughie gegen die Finger. Martha deutete die nun folgenden Laute als Fluchen, Herumhüpfen und Saugen an Knöcheln. »Ich bezweifle, ob Sie die Sache wirklich vor Gericht bringen wollen«, sagte sie wohlüberlegt ohne den Fuß zu bewegen. »Denken Sie doch an Ihren Ruf und daran, daß man Sie daraufhin wegen anderer Dinge verklagen wird. Das wird doch Ihr Geschäft ruinieren!« »Andere Klagen?« »Ja, wegen übler Nachrede. Und versuchtem Betrug. Das wird Ihre Versicherung nicht abdecken. Mr. Alexander meint, wir könnten eine richtig große Sache daraus machen.« Das stimmte nicht ganz. Mr. Alexander war viel zurückhaltender gewesen. Er hatte schon ein paar Ideen für die Verteidigung, aber Martha, ohne eine Ahnung von Gesetzen, zog ihre eigene Version vor. Das graue Tageslicht, das durch den Spalt schien, bewegte sich, als Stoughie darauf zutrat. Dann schrie Martha auf, weil jemand ihren Rist heftig attackiert hatte, und sie zog den Fuß zurück. Stoughie lachte auf höchst unangenehme Weise und stieß mit der Eisenspitze eines Schirms durch den Spalt, als wolle er ein wildes Tier necken, ehe er die Tür ins Schloß schlug. »Schwein«, flüsterte Martha und fügte lauter hinzu: »Das bringt Sie an den Rand des Ruins, Stoughie. Ich habe 247
hier eine Liste von Musikern, die alle bereit sind, auszusagen, daß Sie sie entweder viel zu spät, zu wenig oder überhaupt nicht bezahlt haben. Hören Sie sich das an!« Stoughie stieß etwas sehr Unhöfliches aus, doch Martha ignorierte es. »Ich habe in den letzten Stunden mit Hector Galleux, Mairtin Dunning und seinem Bruder Lou geredet, mit Robin Petrie und Dan Carnahan, Sister Frye, Chris Caswell, Earl Le-Beau und dem Manager der Riverside Synco-pates. Und keiner von ihnen wird uns seine Hilfe versagen. Wie viele von denen, glauben Sie, haben gesagt, sie hätten schon gern vor Jahren Ihre Asche verstreut? Don, Sie haben weder Beweise noch eine Geschäftsbasis, auf der Sie etwas aufbauen könnten. Mayland hingegen hat keine nennenswerten Feinde und Unmengen von Zeit und Geld, mit denen er sich seine konstitutionellen Rechte bestätigen lassen kann.« Das Wort konstitutionell klang aus Marthas Mund sehr komisch. Ihre Worte wirkten auf Stoughie, wenn auch nicht so, wie sie es gehofft hatte. »Soll er verfaulen!« brüllte der Mann und trat gegen die Tür, daß sie bebte. »Er soll im Gefängnis verfaulen!!!!« Martha summte es in den Ohren. Ein Luftzug wehte über den Gang, als habe sich irgendwo eine Tür geöffnet, aber es war nicht diese Tür. Überwältigt holte sie tief Luft und sagte: »Oh, das bezweifle ich aber, Don. Vermutlich ist er in diesem Augenblick schon wieder auf freiem Fuß.« Und wandte sich, die Namensliste in der Hand zerknüllend, zum Gehen. 248
Die Tür zum Tanzstudio am Ende des Ganges stand offen, und acht staunende Augen starrten sie an. Die Frau mit der Trommel sah zuoberst hervor. Sie lächelte Martha ermutigend zu. »Hey, ich könnte oben an der Treppe eine Angelschnur anbringen und so lange ›Feuer!‹ schreien, bis er rausrennt…« »Danke. Da müßte ich mich erst um mein Alibi kümmern«, antwortete Martha und humpelte in den hellen Tag.
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Man schaut nach Lämmern aus Der Sergeant fluchte lauthals vor sich hin, beginnend mit gottverdammt' und endend mit ›Gauner‹; der mittlere Teil klang weniger deutlich und etwas phantasievoller. Wachtmeister Scherer blickte leicht beunruhigt von seiner Schreibmaschine auf. »Dieser Long! Jede neue Nachricht macht den Fall für ihn schlimmer.« Scherer runzelte die Stirn. »Und warum regen Sie sich so darüber auf?« Sergeant Anderson ließ sich schwer auf seinen Sessel fallen. »Weiß nicht. Tu ich aber. Hier! Sehen Sie sich das an! Vor fünf Jahren: Raub und eine Leiche. Und zwar mit gebrochenem Hals. Wurde von der Küstenwache im Wasser gefunden, was eine weitere wunderbare Verbindung mit dieser Sache bildet.« Er schleuderte Scherer den Computerbericht hin. Dieser las, während sein Vorgesetzter im Hintergrund beredt schwieg. »Ich weiß nicht, Sir. Bei dieser Sache kommt er doch glänzend weg. Wurde fast umgebracht, zusammen mit der alten Dame … sie ist nett… und …« »Dann nennen Sie sie nicht ›alte Dame‹!« schnappte Anderson.
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Scherer hob unschuldig seine rötlichen Brauen. »Jedenfalls, nur weil er zufällig dabei ist, wenn ein Gauner einen anderen umbringt…« Anderson stieß einen Laut aus wie ein Kessel, der gerade zu sieden beginnt. »Zufällig dabei. Verliert nur zufällig die Beherrschung und erwürgt fast jemanden. Ist zufällig wieder da, wenn ein weiterer Herr sich entschließt, sein Leben mit einem Seil zu beenden. Bitten Sie mich wirklich, anzunehmen, daß Mayland Long ein Talent hat, diese besondere Art von Gewalt anzuziehen? Wie der Honig die Bienen? So zieht unser Mr. Long gebrochene Hälse an?« Scherer ließ sich von diesem Redeschwall nur wenig beeindrucken. Er zuckte die Achseln. »So ist das eben manchmal. Meiner Mutter ist in drei Jahren fünfmal das Auto von einem Abschleppauto angefahren worden. Jedesmal, als sie es auf der Straße geparkt hatte. Ich frage mich, was bei dem Fall aus der Tochter geworden ist.« Anderson schnaubte, denn sein Interesse reichte nicht so weit. »Fordern Sie doch die Unterlagen an.« * Anderson fragte Long nach der Sache. »Meine Erinnerung ist nicht vollständig«, antwortete der sehr gelassene Herr, der mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem gepolsterten und orthopädisch 251
vernünftigen Sessel in dem gemütlichen Zimmer saß, in das man ihn zum Verhör gebracht hatte. »Ich hatte eine Menge Blut verloren.« Anderson nickte mürrisch. Er zog den einzigen harten Stuhl in dem ausgepolsterten Zimmer heran und ließ sich darauf nieder. »Mrs. Macnamaras Geschichte lautet, daß sie zu sich kam und diesen Threve tot neben sich fand, Sie in sehr schlechter Verfassung waren, und daß Rasmussen mit einem … Schraubenschlüssel oder ähnlichem auf Sie zukam.« »Mayland, ich rate dir, nicht zu antworten.« »Es war ein Gewehr«, antwortete Long, als habe er seinen Anwalt nicht gehört. »Du brauchst überhaupt keine dieser Fragen zu beantworten«, riet Alexander. Er wandte sich eisig zu Anderson und fuhr fort: »Ich hoffe, daß Sie zumindest bereit sind, diese Fragen mit dem Grund in Zusammenhang zu bringen, aus dem mein Klient verhaftet wurde?« Der Rechtsanwalt lehnte am Fenster, die Krawatte auf halbmast, und blickte kühl zwischen Anderson und Long hin und her. »Worauf Sie sich verlassen können!« erwiderte Anderson hitzig. »Mach dir keine Sorgen, David«, sagte Long zu seinem Anwalt. »Der Sergeant hat einfach ein natürliches Interesse an Zufällen.«
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Alexander blieb ungerührt. »Zufälle zählen zu deinen Rechten, Mayland, und dieser Mann ist nicht einfach ein Bekannter von dir, so daß deine Höflichkeit…« »Ich kümmere mich um meine Rechte, wenn ich mich bedroht fühle, David, und meinen Bekanntenkreis bestimme ich selbst.« Alexander schob das Kinn vor und seufzte. Er heftete einen Blick auf den Detektiv, dem eines Hundes ähnlich, der nur durch den Befehl eines zu vertrauensvollen Herrn zurückgehalten wird. Long fuhr fort. »Je schneller wir dies beenden, umso rascher werde ich mich um Martha kümmern können, und nur das interessiert mich im Augenblick.« »Berühmte letzte Worte, mein Freund!« David Alexander zog seine Strickkrawatte aus dem Hemdkragen und knüllte sie zu einem Ball zusammen. Dann setzte er sich, seinem Klienten gegenüber, auf die Kante eines weichen Sessels. Long übertönte die Stimme seines Anwalts »Es war ein Gewehr. Er richtete es auf mich, aber er schoß nicht. Ich sah ihn an.« Anderson machte seinen Augenbrauentrick. »Verzeihung?« »Ich sah ihn an. Es ist viel schwerer, einem Menschen etwas zuleide zu tun, wenn er einem direkt in die Augen blickt. Diese Erfahrung hat mich davon überzeugt.« »Aber der Mann hatte gerade seinen Partner umgebracht, oder?«
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Long seufzte gelassen. »Das kann ich nicht beantworten. Mir war sehr schwindlig. Aber es kann sehr gut sein, daß sein Partner ihn nicht angeblickt hat.« Anderson starrte ihn an. »Und dann ließ er sich von Ihnen niederschlagen und fesseln?« »Offensichtlich.« Da zauberte ein Gedanke ein flüchtiges Lächeln auf Andersons Gesicht. »Aber er hat Sie dabei nicht angeblickt?« »Ich leide nicht unter dieser Hemmung«, antwortete Long schlicht und ohne Stolz. »Und die Polizei in San Francisco hat das alles geglaubt?« Long nickte. »Nach einigem Nachdenken, ja.« »Sie müssen einen guten Anwalt gehabt haben.« »Danke«, sagte Alexander trocken. »Können wir jetzt gehen?« »Noch eine Frage.« Er blickte Long scharf in die Augen, als probiere er aus, ob der Asiate gegenüber einem solchen Einfluß ungerührt blieb. »Gibt es Ihres Wissens nach irgendeine Verbindung zwischen den drei Vorfällen? Dem einen vor fünf Jahren, Ihrer… Interaktion mit Stoughie und dem Tod von George St. Ives?« Long beugte sich vor, und als er antwortete, wirkte er eher interessiert als verteidigend. »Mir fällt dazu nichts ein, Sergeant Anderson. Aber fragen Sie Martha.«
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Anderson blinzelte. »Wollen Sie … sagen, daß sie irgendwie da verwickelt…?« »Das will ich keineswegs sagen, aber ich möchte Ihnen etwas verraten: Daß Martha Macnamara sehen kann, was wirklich geschieht. Sie wird eine Verbindung erkennen, wenn es eine gibt. Und sie wird es Ihnen sagen. Sie brauchen mich nicht so anzusehen, Sergeant, als würde ich sie Ihnen vorwerfen, ein Opfer meiner Interessen. Es gibt nichts, was Sie oder die Polizei ihr antun könnten. Es sei denn, im Irrtum zu verharren, natürlich.« Anderson gab das Zeichen, die Tür zu öffnen, und die drei gingen hinaus, zuerst der Sergeant, dann der Anwalt, zuletzt Long. Er wandte sich um und blickte noch einmal den Gang hinab in Richtung der Zelle, in der er eingesperrt gewesen war. Dann trat er neben Anderson. »Sagen Sie, Sergeant, was war das für ein Junge bei mir in der Zelle?« Andersons grübelnder Gesichtsausdruck verschwand. Er lachte leise und rieb mit der Hand über seinen Mund, als wolle er ein unpassendes Grinsen fortwischen. »Oh, Jerry? Jerry Carver. Das ist ein alter Freund von uns.« Long ging drei Schritte weiter und bohrte: »Er … hat mich heute nachmittag auf die sonderbarste Weise angestarrt.« Kann schon sein, dachte Anderson. Würde doch jeder. Doch dann fiel ihm eine Erklärung ein, und wieder lachte er, diesmal vernehmlich
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»Es lag vermutlich an Ihrem Anzug. Jerrys Spitzname ist nämlich ›Seidenschwanz‹. Nicht wegen der Hühner, er hat einfach eine Schwäche für Seide. Er klaut sie. Normalerweise nur Unterwäsche, aber vermutlich würde ihm ein Rohseidenjackett auch gefallen. Manchmal zieht er seine gesammelte Beute auf einmal an, Schichten von Seidenhöschen und Büstenhaltern und Strümpfen mit altmodischen Nähten, und geht auf der Mall spazieren. Manchmal verbrennt er auch einen Stapel. Das ist um diese Jahreszeit bei der Trockenheit in den Bergen sehr gefährlich. Unser Jerry wandert von einer Anstalt in die nächste. Harmlos, bislang jedenfalls, aber absolut unbelehrbar.« Long wandte sich zu Anderson. Auf seinem sehr dunklen Gesicht baute sich eine Wut auf, die weder seine Verhaftung noch das lange Verhör hatten hervorrufen können. »Und Sie haben es gewagt, mich mit so einem …« Alexander, sein Anwalt, kniff ihn heftig in den Ellbogen. Durch das Seidensakko hindurch. * Martha fühlte sich nicht sehr erfolgreich, als sie die sechs Blocks zurück zum Hotel ging. Sie hatte nicht vorgehabt, Stoughie zu unvernünftiger Wut zu reizen. Sie hatte nicht vorgehabt, ihre Liste so drohend klingen zu lassen. Sie hätte niemals damit gerechnet, daß er (geschah ihr ganz recht) so auf ihren nackten Fuß einstechen würde. Jetzt humpelte und hinkte sie über das Kopfsteinpflaster der 256
Mall und wünschte sich, wer immer sich den Lieferwagen ausgeliehen hatte, hätte das nicht getan. Da, wieder die Jazzband. Sie ging daran vorbei. Wenn sie doch jetzt da spielen könnte, mit den Leuten im Publikum, die einem einen tropischen Drink mit Rum ausgeben, mit der Baßgitarre und dieser Trompete. Wie sorglos die Musiker wirkten, verglichen mit dem Oberhaupt und Begründer einer auseinandergebrochenen traditonell-keltischen Gruppe, bei der ein Mitglied tot war, der Manager im Gefängnis saß und ein weiteres Mitglied vielleicht einen Mord begangen hatte. Auf halbem Weg die nächste Straße entlang schirmten Gebäude die Musik ab und veränderten ihre Gedanken. Einen Moment lang vergaß Martha alle Probleme und selbst die Schmerzen in ihrem immer dunkler werdenden Fuß. Die Sonne schien nämlich durch die blühenden Eukalyptusbäume und zauberte ein besänftigendes und friedliches Muster auf den Gehsteig, der von Ameisen übersät war. Martha holte tief Luft. Drei Töne der undeutlichen Musik hinter ihr blieben in ihrem Gedächtnis hängen, verbanden sich mit etwas Vertrautem, und Martha schloß die Augen und hörte wieder Pádraig ó Súilleabháin im Proberaum der Halle die ›Klage der Drei Manen‹ singen. Das war erst gestern abend gewesen. Martha hatte diese Melodie schon vor vielen Jahren auf der Geige gespielt, ehe ihr jemand den Text vorsang und ihr die schreckliche Bedeutung der irischen Worte übersetzte: 257
Wer ist dieser gute Mann dort am Baum des Leidens? Oh, Schmerz, oh, mein Schmerz. Mutter, erkennst du deinen Sohn nicht? Oh, Schmerz, oh, mein Schmerz! So, wie großer Kummer kleineren vertreibt, so besänftigte das alte Lied ihren ruhelosen Geist, als sie mit vor der Sonne geschlossenen Augen daran dachte. George war tot. Sein mürrischer Eifer, sein Schmerz und seine Musik waren verschwunden. Stille. Und es gab weder eine Mutter, eine Freundin oder eine Tante, die um ihn trauerte. Vielleicht Sandy, die am Freitag abend mit ihm zusammen war. Aber Sandy hatte Elen heute morgen gesehen, hatte angerufen und schien wenig betroffen. Zumindest nicht darüber. Es blieb nur Martha, das Oberhaupt der Gruppe. Eine Minute lang blieb Martha Macnamara auf dem Gehsteig still stehen, begünstigte dabei ihren linken Fuß und gedachte des Hinscheidens von George St. Ives. Die Band am Cooper House klang wie ferne Kriegspfeifen um die Ecken der Stuckgebäude. Martha kam zwar humpelnd zum Hotel zurück, aber mit friedlichem Gesicht. * Sie traf nur einen Moment später ein als Long, der sich vor dem gleichen Cooper House Jazzkonzert von seinem frustrierten Anwalt verabschiedet hatte. Martha hörte Elizabeth durch die Tür toben. »Ich ging in die Halle, weil dieser… Heini einen Anruf bekam. Wieder auf unserem Apparat. Und dann geht er einfach nicht dran, und ich stehe da wie ein Idiot…« 258
Sie sprach zu Long, aber der ›Heini‹ war Teddy Poznan. Er blickte flehend zwischen Martha und Long hin und her. »Ich habe gerade meditiert.« Das war gerade das richtige Stichwort für Elizabeth. »Meditiert? Hah! Was für eine Droge nennt man denn jetzt Meditation? Sie wissen nicht einmal, was das Wort bedeutet!« Long versuchte, sie zu besänftigen. »Es hat unendlich viele Bedeutungen, Elizabeth. Und es spielt keine Rolle, was Theodore gerade tat. Wie lange war Marty allein?« Martha zuckte zusammen. »Marty?« Sie schob sich wild humpelnd an allen vorbei auf die Verbindungstür zu. Elizabeth heulte vor Wut und Kummer auf. »Ja, ja, sie ist verschwunden! Unbemerkt aus der Tür geschlichen! Ich bin schon alle Straßen abgegangen. Dieser süße Pádraig sucht sie schon seit einer halben Stunde vergeblich. Sie ist fort!« Martha konnte in ihrem Schock an nichts anderes denken, als daß Pádraig ö Súilleabháin bei den Frauen großen Anklang fand. Selbst bei Elizabeth, die so wenige Menschen mochte. Martha blickte in das Zimmer, in dem das Kind seinen Mittagsschlaf gehalten hatte (viel zu brav), und fand die Wahrheit bestätigt. Sie ließ den Kopf unsanft gegen den Türrahmen fallen. »Der gleiche Alptraum«, flüsterte sie. Long sprach, von Husten unterbrochen: »Wir müssen ruhig bleiben. Ich werde zunächst zum Strand gehen. Wartet hier auf mich.«
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Martha wollte gerade sagen, daß sie mitkäme, aber sie hielt inne. Sie wußte, daß sie sich nicht so bewegen konnte wie er, wenn es durch Menschenmengen oder dichten Verkehr ging. Nicht einmal mit zwei gesunden Beinen. Sie verspürte einen Moment blinder Eifersucht auf diesen sehnigen, athletischen Körper, doch dann lachte sie fast, denn er ging hustend wie ein Sterbender den Gang hinab. »Zum Strand?« Elizabeth fiel wieder ein, was ihre Mutter ihr über Martys frühere Eskapade erzählt hatte. »Lieber Gott! Der Verkehr! Jetzt, mitten am Tage!« Dann ließ sie sich, den Telefonhörer in der Hand, nieder, starrte aber lediglich die grüne Wand an und hielt den Hörer auf dem Schoß. Martha setzte sich und zog vorsichtig ihren Schuh aus. Oh, Schmerz! Oh, mein Schmerz. »Was ist denn mit deinem Fuß passiert?« fragte Teddy und kam zu ihr. Sie hielt die Augen geschlossen. »Oh, ich habe etwas getan, was ich nicht hätte tun sollen. Habe nicht richtig nachgedacht.« Er hockte sich auf die Bettkante und nahm den Fuß in beide Hände. Er war kantig, und die Nägel hatten noch nie Lack gesehen. Und oft geschnitten wurden sie auch nicht. »Ich kann dafür sorgen, daß die Schwellung zurückgeht. Vielleicht auch dafür , daß er sich nicht verfärbt.« »Wie denn?« Martha gab sich Mühe, höflich und interessiert zu wirken. »Mit Akupressur.« 260
Martha bedeutete ihm durch Nicken, daß er es versuchen solle. Teddy war rasch wieder auf den Beinen und ging schwungvoll zur Tür. »Ich hole meine Räucherstäbchen«, sagte er und war verschwunden. Martha öffnete ihre Augen und blickte an die Decke. Ohne sich zu bewegen sagte sie zu ihrer Tochter: »Ich meine, du solltest dich bei ihm entschuldigen. Seit deiner Ankunft bist du sehr grob zu ihm, und Teddy hat niemandem etwas getan.« »Es sei denn, er hat George St. Ives umgebracht.« Elizabeth ließ den Hörer baumeln und fuhr unvermittelt zusammen, während sie ihre perfekte Stirn runzelte. »Okay, okay, Mutter. Ich werde mich bei ihm entschuldigen. Es ist nur einfach ein furchtbarer Tag heute.« Der Summton des Telefons brummte Akkorde in Marthas Kopf, doch als sie sich mit der Bitte umwandte, ihn aufzulegen, wählte Elizabeth gerade. »Die Polizei?« Nach wenigen Sekunden war die Verbindung hergestellt, und offensichtlich hatte Martha richtig gesehen. Elizabeth verhielt sich sehr vernünftig am Telefon, schilderte den Fall und gab die notwendigen Informationen in sachlicher Form, ohne größere Gefühle zu zeigen. Nun, warum auch nicht? Sie war eine kluge, guterzogene, gebildete Frau. Stark. Ein Beamter würde sofort vorbeikommen. »Auf der Wache werden sie uns sicher gut kennen«, murmelte Martha.
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Elizabeth unterdrückte ein Schluchzen. »Sie können uns so gut kennenlernen, wie sie wollen, wenn sie sie nur finden.« Martha setzte sich neben sie auf die kleine Bank vor dem Schreibtisch. »Weißt du noch, Elizabeth, als du fortgerannt bist? Wir lebten am Riverside Drive, und ein Polizist nahm dich mit, aber du hast keinen einzigen Ton gesagt.« Elizabeths perfekte Lippen preßten sich fest aufeinander, weil ihr der Vergleich nicht gefiel. »Ich war nicht fortgerannt. Der Bulle war ein übereifriges Schwein.« Martha nickte. »Wenn wir Marty fragen, wird sie mit Sicherheit ebenfalls behaupten, sie sei nicht fortgerannt. Kinder haben immer einen guten Grund.« Aber Elizabeth schüttelte den Kopf, langsam und so, als trüge sie eine schwere Last. »Irgend etwas … hat sie heute verletzt. Vielleicht denkt sie, ich habe sie im Stich gelassen, und daher …« »Ich finde, du denkst großen Mist«, unterbrach sie Martha, während Teddy mit seinen Räucherstäbchen hereinkam. * Die Strandpromenade war heute nicht so voll, wohl wegen des kühleren Wetters; auch sprenkelten nicht so viele Leiber den weißen Strand. Eine steife Brise wehte
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landeinwärts, und die blaue Fläche sah aufgewühlt aus. Long kniff vor dem Wind die Augen zusammen. Am Rand des Wassers lag etwas Dunkles, formlos und naß glänzend. An einem Ende sah man etwas Lockiges, wie Haar. Long rannte über den Sand darauf zu und ruinierte seine Lackschuhe, doch der Fund erwies sich nur als ein Bündel blasigen Seetangs. Ansonsten war das sich bewegende helle Band, wo das Meer aufs Land traf, leer. Der Buckel dort auf dem Sand stellte sich als Mann heraus, und der etwas weiter entfernte, der vielversprechender ausgesehen hatte, als gelber Hund. Verdammt! Wurden seine Augen schwächer? Das Rennen hatte Schleim in Longs Bronchien gelöst, und er mußte immer wieder husten. Er lief zur Promenade zurück. Seine Schuhe waren voller Sand. Jetzt stand er vor einem der Souvenirläden, vor dem Marty mit ihrer Großmutter gewartet hatte, als er die Sonnenbrille mit den Blümchen suchte. Der Laden, der als letzter abends schloß. Die junge Verkäuferin starrte ziellos über die Straße auf den endlosen weiten Ozean. Sie hatte kein kleines Mädchen gesehen, aber die entrückte Langeweile auf ihrem Gesicht erwies ihre Worte als wertlos. Er ging weiter die Promenade entlang. Auf der kleinen Achterbahn kreischte jemand, ein unnötiger Laut, dachte Long. Die Menschen sollten rücksichtsvoller sein. Er verschloß die Ohren gegenüber allen eine Katastrophe ankündigenden Lauten und ging weiter.
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Auch an dem Würstchenstand hatte niemand etwas gesehen. Die Worte des Kartenverkäufers beim Karussell wurden vom Wind verschluckt, und er mußte den Kopf schütteln, um sich verständlich zu machen. Der Mann am Riesenrad meinte, man könne von ihm nicht erwarten, sich an sowas zu erinnern. Long ging den gleichen Weg wieder zurück. Das Haar wehte ihm ins Gesicht, und das ärgerte ihn mehr als die meisten anderen Menschen. Er blickte nach Westen, aufs Meer, über den Strand und zur hohen Kaimauer. Es war ein ominöser Ort für einen Kindsverlust. Aber Marty hatte nie Interesse gezeigt, vom Strand hinauf auf den Kai zu gehen. Von unten sah die Mauer auch sehr abweisend und hoch aus. Man konnte auch nur ein Stück weiter bei der Font Street hinaufgelangen, und daran konnte sich ein kleines Mädchen bestimmt nicht erinnern. Long blickte die ganze kompromißlose Länge des Piers entlang und glaubte immer weniger, daß sie dorthin gegangen war. Doch dann erspähte er am anderen Ende eine Menschenansammlung, genau da, wo man St. Ives gefunden hatte. Long ging hustend und voller Angst den Kai entlang. Aber es war nur ein Fischverkäufer mit zurückgekämmtem Haar und einer von Fischblut rosafarbenen Schürze, der Passanten erklärte, wie man die Leiche gefunden hatte. Long fragte – nicht diesen Fischverkäufer, sondern einen anderen – ob er ein kleines blondes Mädchen im Sonnenkleid ohne Begleitung gesehen habe. 264
Der Mann hob das vierschrötige Gesicht und starrte Long an. Er schien fragen zu wollen, was dieser geschniegelte und sehr dunkelhäutige Asiate wohl mit einem solchen Kind zu tun habe, aber dann schüttelte er nur den Kopf und wickelte weiter Lachssteaks in Zeitungspapier. Seine Hände waren nicht blutig, aber voller Druckerschwärze. Als Long zurückkehrte, befanden sich vier Leute in dem Hotelzimmer, denn Pádraig war zurückgekommen und hing in seinem gewohnten Sessel beim Tisch. Ein Geruch von Weihrauch hing in der Luft. Alle sahen Long in schmerzlicher Erwartung an, doch er blickte nur zu Martha. »Ich glaube nicht, daß sie in die Richtung gegangen ist.« »Sie ist auch nicht in Hotelnähe«, meinte Pádraig . »Ich habe überall nachgesehen. Auch in den Mülleimern.« Long ging in das Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Wenn er doch nur seine Lungen ebenfalls waschen könnte, denn sie fühlten sich schmutzig und vernachlässigt an. Dann überkam ihn der heiße Wunsch nach einer Tasse Tee, doch er ignorierte ihn. Dazu war keine Zeit. »Hast du die Polizei angerufen?« fragte er, als er wieder ins Zimmer trat. Die Farben dort, all das Plastik in Weiß, Grün und Lila schlugen ihm entgegen, als hätte er es nie zuvor gesehen. »Natürlich«, antwortete Elizabeth, die immer noch am Schreibtisch beim Telefon saß.
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»Sergeant Anderson war nicht da«, murmelte Martha. »Wegen dieses anderen verschwundenen Kindes … von gestern abend. Sie schickten wieder Wachtmeister Scherer.« »Was für ein anderes Kind?« Martha schüttelte den Kopf, um Hoffnung oder neuen Sorgen entgegenzuwirken. »Das ist ein anderer Fall. Ich glaube, es geht um eine Vormundschaft. Es war ein Heimkind, das von den Eltern entführt wurde, die es ursprünglich freigegeben hatten, es aber nun zurück wollen. Vielleicht habe ich es aber auch falsch verstanden. Er hat mir darüber erzählt. Und über die Handtaschendiebstähle.« Long sah sie eindringlich und stumm an, als würden sich ihre bruchstückhaften Gedanken mitteilen, wenn er nur ein wenig Geduld übte. »Es war dieser Bohnenstangencowboy mit der dicken Gürtelschnalle«, fügte Elizabeth mit einer Stimme hinzu, die bar jeden Gefühls war. »Er meinte, alle würden sie jetzt suchen.« Long war müde, und der Sand in den Schuhen war unangenehm. Er zog einen nach dem anderen aus und entleerte sie in den Papierkorb. »Ich bin sicher, sie finden sie«, sagte er und meinte dann: »Ich gehe auch wieder los.« »Wohin?« fragte Elizabeth. »Ich weiß es nicht. Vielleicht auf die Mall. Vielleicht renne ich auch nur nutzlos im Kreis herum. Aber ich muß mich bewegen.«
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Martha hob ihren Fuß, der nun sowohl von der Farbe als auch von der Form her einer Wurst glich. Dabei fluchte sie derart, wie Elizabeth es bei ihrer Mutter niemals für möglich gehalten hätte. Elizabeth ballte ihre Hände in den Taschen zu Fäusten. »Mir… mir geht es genauso, aber ich habe Angst, mich vom Telefon zu rühren.« »Nein, du solltest hierbleiben«, sagte Long. Es war nun so spät am Nachmittag, daß der Mauerschatten das Fenster verdunkelte. Elizabeths Gesicht wies ebenfalls tiefe Schatten auf. »Wenn die Polizei sie findet, wird sie sicher müde und aufgeregt sein, und dann ist es wichtig, daß du in der Nähe bist.« Sie biß sich auf die Hand und wandte den Kopf ab. »Ich komme mit«, verkündete Pádraig fast kämpferisch. Long öffnete den Mund, um zu sagen, daß er lieber allein sei, aber der junge Ire baute sich vor ihm auf, die Hände in den Taschen, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, zu allem bereit. War das der Junge, der den Tag mit einem Schock begonnen hatte, sich daraufhin betrank, einschlief, mit einem Kater wieder erwachte, und zur Polizeiwache von Santa Cruz gerannt war, um ihn zu retten? Himmel, der Bursche war ja wirklich Gold wert. Long befand, er wäre ein Narr, solche Hilfe abzulehnen. Vielleicht konnte Pádraig ihn später nach Hause tragen. Teddy Poznan hatte seit Longs Rückkehr noch kein Wort gesagt. Jetzt löste er sich aus seiner Yogaposition auf dem Teppich. Aus seiner Hemdtasche fiel ein 267
Räucherstäbchen und zerbrach. »Ich hatte gerade eine Idee«, sagte er. »Ich gehe mal los und versuch's.« »Was denn?« Elizabeths Frage klang unwirsch. Martha seufzte. »Vermutlich nichts, das Marty irgendwie schaden könnte, Elizabeth.« »Ich werde an verschiedene Türen klopfen.« Teddy ließ seine Schultern kreisen und holte abwechselnd durch ein Nasenloch tief Luft. »Ich gehe in der Nachbarschaft von Tür zu Tür und frage alle Leute, ob sie ein hübsches kleines blondes Mädchen gesehen haben. Vermutlich werde ich verhaftet, aber vielleicht finde ich Marty, wie sie gerade fröhlich irgendwo vor einem Fernseher sitzt.« »Und sich das Hirn verstopft«, murmelte Elizabeth, doch nicht sehr nachdrücklich. »Auch wenn sie sie nicht gesehen haben«, fügte Martha hinzu, »hast du so eine wunderbare Gelegenheit, jedermann von den Vorteilen der Akupressur zu erzählen. Oder von der schleimfreien Diät. Oder sogar etwas über Darmreinigung!« Teds Miene spiegelte ungeheure Resignation wider, als er den anderen beiden folgte. * Der Wind vom Meer hatte den Himmel mit grauen Wolken überzogen, und Long hielt beide Hände in den Jackettaschen. Pádraig schien die plötzliche Abkühlung 268
nicht zu bemerken, auch dann nicht, als ihm das Haar um das Gesicht wehte. »Hast du die Frau an der Bushaltestelle gefragt?« fragte Long, als sie unentschlossen auf der Straße vor dem Hotel stehenblieben. Pádraig zog seinen runden Kopf zwischen seine beträchtlichen Schultern. »Ich habe mit niemandem geredet«, sagte er in einem plötzlichen Anfall von Schüchternheit. Es war eine korpulente Frau, in Polyesterorchideen gekleidet, und sie hatte kein Kind gesehen. Long blickte nach links, nach rechts. Auf der einen Seite lag die Chestnut Street, glänzend und belebt, auf der rechten Seite das Südende der Mall. Wie konnte ein Kind den verlockenden roten Eukalyptusbäumen widerstehen, oder den schönen Gehsteigen mit Ziegelmuster? Long wandte sich nach rechts, und Pádraig folgte ihm. An der Ecke schlug ihnen Wind ms Gesicht, der nun Regen herbeiholte. »Es fängt an zu nieseln«, meinte Long ungläubig. Pádraig ó Súilleabháin stieß einen triumphierenden Laut aus. »Endlich ist die Trockenheit vorbei!« Long konnte ihn nur anstarren. Sie waren zwar etwa gleich groß, aber es gelang ihm, sich über den Jungen zu beugen. »Welche Trockenheit?« Pádraig trat einen Schritt zurück und stieß gegen den Cowboygitarristen auf der Mall, der gerade auf einen Ladeneingang zuschoß. Der Musiker schützte sein Instru269
ment mit einer ausgefransten Jacke vor dem Regen. Von seinem herabhängenden Schnurrbart perlten Tröpfchen. Long machte sich den Vorfall zunutze, und zu seiner Zufriedenheit bestätigte der Gitarrist, vor etwa einer Stunde ein kleines Mädchen mit blonden Haaren gesehen zu haben. Ganz allein. Besonders sei ihm die Sonnenbrille mit den Gänseblümchen aufgefallen, weil sie dadurch ein bißchen wie Lolita ausgesehen habe. Long gefiel diese Anspielung nicht. Pádraig verstand sie nicht. Im Regen gingen sie weiter über die Mall. Die Pacific Mall wirkte im Regen ganz anders, viel weniger tropisch. Die Straßenziegel glänzten viel konservativer und städtischer, und die roten Flusen von den Blüten häuften sich in den Rinnsteinen. »Sehen Sie nur«, meinte Pádraig und zeigte unhöflich mit einem Finger auf eine Gruppe Fußgänger, die sich im Eingang zu einem Juweliergeschäft zusammendrängte. »Als würden sie schmelzen.« »Vielleicht tun sie das«, antwortete Long ohne hinzusehen. »Regen im Juni ist eine Verirrung. Und zwar eine ekelhafte.« »Hah!« Pádraig hüpfte wieder neben Long. »In dieser Hitze gibt es doch nichts Besseres, als eine Gesichtsdusche.« Das Wasser auf Pádraigs Gesicht schien in der Tat seine Farbe und Laune so zu heben, daß er Long wieder wie der ungeschliffene Junge vorkam, der vor acht Wochen (waren es nur acht Wochen?) mit ihnen in Massachusetts die Tournee begonnen hatte.
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»Meine Mutter hatte eine Kuh, die war wie Marty … rannte immer fort. Jeden Tag war sie verschwunden, und wissen Sie, wohin sie ging?« »Ist das relevant?« erwiderte Long und wischte sich mit beiden Händen das Gesicht ab. Pádraig öffnete angesichts des unvertrauten Wortes den Mund, nahm es aber hin. »Sie ging immer nach Ballyferriter und blieb vor dem Gasthaus dort stehen. Genau an dieser Stelle ließ sie ihre grünen Fladen fallen, direkt vor dem Fenster. Der Wirt wurde jedesmal wild.« Long schwieg. Jetzt goß es nur so. »Es ging ihr nicht um eine besondere Leckerei dort, denn niemand gab ihr etwas. Ehe wir selbst ein Telefon hatten, mußte man bei unseren Nachbarn anrufen, und die schickten einen Burschen mit der Nachricht rüber, daß sie wieder vor der Kneipe stände. Dann mußte ich sie wieder zurückholen. Ich und der Hund.« Plötzlich erfüllte Kaffeeduft die Luft, der die Nase reizte. Mayland Long war kein Kaffeetrinker, aber gegen diesen einladenden Duft nicht immun, den er mit süßen Kuchen und anderen Sachen, die er gern mochte, in Verbindung brachte. Er blickte durch wassergetränkte Wimpern umher und fand den Laden, aus dem der Duft strömte. Er hatte einen besonders weiträumigen Eingang, unter dem drei Leute in indischen Klamotten und eine Zimbelspielerin Schutz suchten. Long blieb vor ihnen stehen und stellte seine Frage. Diesmal vergaß er bei der Beschreibung die Sonnenbrille nicht. 271
»Ich habe sie gesehen«, antwortete die Frau mit der Zimbel. »Ich würde sie nie vergessen. Das kleine Ding stand die ganze Zeit mäuschenstill vor mir, und als ich fertig war, sagte sie so deutlich wir nur was: ›Planxty Irwin‹.« »Und war es auch Planxty Irwin, das Sie gespielt haben?« fragte Pádraig grinsend. »Nein, es war ›Arkansas Traveler‹. Aber trotzdem …« Ihr graublauer Blick wurde schärfer, »'tschuldigung. Sind Sie nicht Pat Sullivan?« Pádraig gab es gelassen zu. Er fragte sich, wie viele aus dem gesichtslosen Publikum von gestern abend wohl selbst Musiker waren. (Und wie viele es gemerkt hatten, daß er beim seannós improvisiert hatte.) Er las im Blick des Mädchens eine Idee und riet, daß sie wohl vorschlagen würde, sein Instrument zu holen, oder irgendwohin zu gehen. Das konnte er natürlich nicht. Außerdem fand er die Idee langweilig. Aber er war immer so ungeschickt, wenn er etwas ablehnte. Pádraig seufzte. »Das habe ich mir gedacht«, meinte die Zimbelspielerin und jonglierte mit ihren Klöppeln. »Ich habe dich mal segeln gesehen, in der Bretagne. »War das nicht die Tiger Cat? Ich habe da ein kleines Boot«, fuhr sie beiläufig fort. »Vierzehn Fuß. Nichts für Wettbewerbe, aber …« Long mußte ihn weiterziehen. Jemand hatte gesehen, wie Marty weiter in Richtung Osten geschlendert war. Ein weiterer war nicht sicher, ob sie nicht die Mall zurückgegangen sei. Die Zimbelspielerin 272
selbst hatte sie nicht weiter beobachtet. Schließlich landeten Long und Pádraig am Ende der Straße und blieben unsicher stehen. Auf der einen Straßenseite befand sich eine Bäckerei, auf der anderen ein Cafe. Im Norden ragte hinter einer öden, belebten Kreuzung der Uhrturm von Santa Cruz auf, aus roten Ziegeln und mit einem Bogengang unten. In diesem Bogen sprudelte ein Springbrunnen hoch, vor dem Regen durch die Uhr geschützt. »Bestimmt!« sagte Pádraig. »Jedes páiste würde das tun. Ich glaube, ich auch.« Ungeachtet der hupenden Autos ging er voran. Long folgte mit besorgter Miene bei dem Gedanken, daß Marty sich vielleicht ebenfalls diesem geistlosen Metallstrom ausgesetzt hatte. Es war ein sehr hübscher kleiner Springbrunnen, da mußte er Pádraig beipflichten. Ein Kind konnte so etwas nicht ansehen, ohne darauf zuzugehen. Long war wütend, daß die Erbauer ihn hierhin gesetzt hatten; ein Köder aus hellem Wasser und blauen Kacheln mitten in einer mörderischen Falle. Pádraig, der sich immer noch als páiste fühlte, hatte sich auf dem Rand niedergelassen und wartete, was ihn als nächstes anziehen würde. Doch der nächste Schritt war nicht so eindeutig. »Zurückgegangen ist sie nicht, sonst hätten wir sie gefunden«, sagte Long und lehnte sich gegen die Ziegel. »Und rechts und links gibt es nur noch Verkehr. Ich wage vorzuschlagen, daß sie geradeaus weiterging.« Überrascht
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blickte er auf, denn es hatte unvermittelt aufgehört zu regnen. Auf der anderen Straßenseite stand eine Telefonzelle. »Wir sollten anrufen«, meinte Long und tastete in seiner Tasche nach Kleingeld. Doch er fand nur sein elegantes dünnes Scheckbuch und den Geldclip mit einem dicken Bündel Zwanzigern. Am Grund der pieksauberen Tasche fanden sich drei Pennies. »Ich habe Zehncentstücke«, sagte Pádraig und zog eine klirrende Handvoll Münzen hervor. »Meine Mutter hat immer gesagt, ich solle in der Fremde nur Silber in der Tasche haben.« Long nahm zwei Dimes. »Da hatte deine Mutter recht«, gab er zu und fügte mit neuem Gefühl für die Frau, die er nicht kannte, hinzu: »Was hat sie denn mit der Kuh gemacht?« »Sie hat sie verkauft und dafür eine gebrauchte Waschmaschine erstanden«, antwortete Pádraig, während Long den Hörer abhob. Einen Moment lang war der Gedanke, Marty sei wohlbehalten wieder zu Hause, so stark, daß Long nicht wählen konnte. Er hatte nicht gewußt, wie sehr er das Kind inzwischen liebte. Fast machte es ihn handlungsunfähig. Aber sein Gesicht verriet nichts davon, und er schneuzte sich diskret, während seine andere Hand die inzwischen wohlvertraute Nummer drückte. Es war nur ein kurzes Gespräch. »Nichts«, sagte Long zu Pádraig, dem man es nicht zu sagen brauchte. 274
Von da an war es ein Rätselspiel, aber Mr. Long war ein guter Rater. Auf den Straßen nördlich der Mall gab es weniger fliegende Händler und Musiker, und Passanten, die dort Staubsauger reparieren ließen oder ein Tütchen Mandeln kauften, erinnerten sich nicht an ein kleines Mädchen, das vor anderthalb Stunden allein hier vorbeigekommen war. Aber der Regen hatte auf dem Gehsteig Pfützen hinterlassen, und aus einer lösten sich Fußabdrücke von der richtigen Größe. Vielleicht hatte Marty sie hinterlassen, und wenn das stimmte, dann war sie ihnen nicht weit voraus. Long fand sie bedeutsam, und die beiden gingen weiter in nördlicher Richtung. Es regnete und hörte wieder auf, denn der Wind brachte anderes Wetter aus Südwesten heran. Pádraigs dichtes schwarzes Haar, so glatt wie das eines Indianers, so glatt wie Longs chinesisches Haar, fing Diamanttröpfchen auf. Auch seine Wimpern waren derart betaut, doch es schien ihm nichts auszumachen. Long fühlte sich zugleich heiß und kalt, als sie von der River Street zu dem breiten Band der Highway I gelangten. Hier war der Verkehr dicht und schnell. Es war schwierig, zwischen den Autos noch die Fahrbahn zu erkennen. Long öffnete den Mund, um zu sagen: »Nein, hier kann sie nicht entlanggegangen sein«, sprach es aber nicht aus. Pádraig verstand es auch so. »Schrecklich hier. Aber da drüben ist eine Ampel, oder?«
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Ja, dort war eine Ampel und ein Fußgängerüberweg. War eine Dreijährige wohl kräftig genug, um auf den Knopf zu drücken, und vernünftig genug, sich überhaupt die Mühe zu machen? Automatisch schüttelte Long den Kopf. »Entweder war sie hier oder nicht«, schrie ihm Pádraig ins Ohr, denn der Verkehrslärm war ungeheuer. »Und wenn sie nicht hier rübergegangen ist, dann wird sie auf dieser Seite weitergelaufen sein.« »Das ist fast noch schlimmer«, erwiderte Long und blickte so finster, als sei alles irgendwie ó Súilleabháins Schuld. »Ich weiß«, antwortete Pádraig, während er tief Luft holte. Dann rümpfte er wegen der stinkenden Abgase die Nase und trat auf die Straße. »Wir können es ja mal probieren.« Long zerrte ihn zurück, während er auf den widerspenstigen Stahlknopf der Fußgängerampel drückte. »Wir als Erwachsene können doch gefahrlos handeln.« »Aber man muß hier so lange warten!« Pádraig wartete mit finsterer Miene, Longs Hand lag schwer auf seiner Schulter. Beide Männer warfen, als sie den Highway überquerten, verstohlene Blicke auf den Asphalt. Doch auf der feuchten Straße war kein Blut zu sehen. Auf der anderen Seite fanden sie einen weiteren Grund für gedämpften Optimismus, denn die kleinen nassen Fußtapfen führten weiter in die Pfützen hinein und wieder heraus. 276
»Vielleicht ist es gar nicht Marty«, murmelte Long, »aber wir folgen denselben Fußabdrücken.« Pádraig sprang in die Luft und ballte die Fäuste über dem Kopf. Dabei stieß er einen Laut aus, der ein Jagdhorn gut imitierte. Doch Mr. Long, der bei dieser Entdeckung aufgelebt war, schien keineswegs begeistert. »Meine Enkelin ist weder ein Fuchs noch ein Hase, ó Súilleabháin .« Aber Pádraig schoß bereits voraus. Jugend. Es ging Mr. Long nicht sehr gut, und dieser unerwartete Regen machte ihm zusätzlich zu schaffen. Irgendwie erinnerte ihn dieses Gefühl, krank zu sein, und der unerwartete kalifornische Regen an etwas. Beim Weitergehen atmete er mühsam durch und versuchte, sich genau zu erinnern. Da hatte er es: Er lag krank, blutend und kalt unter den Bäumen eines Gartens, während sich zwei gewöhnliche Typen daran machten, Martha Macnamara umzubringen. Eine der schlimmsten Phasen seines ausgedehnten Lebens. Aber auch eine der besten, wenn man darauf zurückblickte. Eine Kopfgrippe war gewiß nichts dagegen. Und man konnte sie sicher aushalten, wenn man Marty nur gesund fand. Seine Enkelin, nannte Long sie, und man mag bezweifeln, ob er sich in diesem Augenblick daran erinnerte, daß sie nicht miteinander verwandt waren. Sie war klein, perfekt und voller Vertrauen in ihn. Long war ihr chinesischer Daddo, bereit, alles zu vernichten, was sich anschickte, ihr etwas zuleide zu tun. Doch er fand für seinen Zorn keinen Angriffspunkt, denn Marty war ganz allein fortgelaufen. In diesem Stück 277
gab es keinen Schurken. Vielleicht konnte er seine Wut auf ›Judy‹ richten, den imaginären Spielkameraden, den sie nicht vergessen konnte, aber das würde ihm nicht viel helfen. Jetzt kamen sie an einer Gerbereianlage vorbei, und der saure, trockene Geruch von Leder drang ihnen in die Lungen. Doch dann spürte Long, wie etwas viel Stärkeres auf ihn eindrang, es war eine Kälte, die böse wirkte und viel machtvoller als die Hitze der Wut. Er keuchte, stolperte und stieß gegen Pádraig . Der junge Mann stand mit offenem Mund da, die Augen verwirrt zusammengekniffen. »Nebel?« fragte er. »Nein, das ist kein Nebel. Aber es ist wie gestern am Strand. Genauso schlimm.« Long hörte ihn, ohne zu begreifen. »Hören Sie«, flüsterte er, und die beiden standen stumm auf dem Gehsteig im Regen, während der Verkehr vorbeizischte. Nach nur fünf Sekunden verschwand die Kälte. »Haben Sie etwas gehört, a chara?« fragte Long. »Pfeifen vielleicht? Oder Möwen?« Pádraig schüttelte den Kopf. »Immerhin«, meinte Long. »Immerhin.« Er schritt mit einem harten Gesicht weiter. »Und ich habe gesagt, hier gäbe es keine Schurken.« Martha blickte aus dem Hotelfenster auf den Parkplatz mit dem umzäunten trockenen Wiesenstück dahinter. Jenseits davon sah man eine Häuserreihe mit Garten. Auf einem winzigen Rasenstück stand ein kleines Dreirad aus 278
rosa Plastik; auf der Betonstufe daneben saß ein kleiner Junge mit einem orangenen Eis am Stiel. Martha spürte eine solche Welle von Neid, daß ihr die Knie zitterten. Nicht etwa, daß sie gern dieser kleine Junge mit seiner gefrorenen Süßigkeit gewesen wäre (sie haßte künstlichen Orangengeschmack), noch wollte sie das rosa Dreirad sein. Sie wollte nur sorglos sein. Ochon, agus mochón ó! Das trockene Gras auf der kleinen Wiese glitzerte von unzähligen Regentröpfchen. Das Gras war so welk, daß der Regen es nicht mehr erfrischen konnte, noch wurde es vom Meerwind gezaust. Was für ein unbeholfenes Spielchen die beiden jungen Leute mit dem Gras getrieben hatten, das alte Spiel der Brautwerbung. Eigentlich war es das beste Spiel der Welt, aber – sie dachte an Elen und Pádraig – manchmal auch ein Irrtum. Und was für eine seltsame Mordwaffe das Seil gewesen war. Mord ist immer ein Irrtum. Wie durch Gedanken herbeigezaubert betrat Elen Evans das Zimmer. Sie war vor Erschöpfung außer sich, und ihr Haar hing in unordentlichen Strähnen herab. Doch sie wahrte wie immer völlig die Haltung. »Wo sind die anderen?« fragte sie. Unter dem dunklen Haar, unter der gebräunten Haut, wirkte sie blaß. Die Wände legten einen grünlichen Hauch über ihr Gesicht. Elizabeth hob den Kopf vom Schreibtisch, der eine Glasplatte hatte, wo sie immer noch neben dem Telefon hockte. Auf ihrer Wange zeichneten sich ihre Knöchel ab. Angestrengt betrachtete sie Elen, befand, sie sei unwichtig 279
und legte den Kopf wieder zurück. Martha sah Elen nicht ins Gesicht, sondern auf ihre Hände und was sie darin hielt. »Du hast meinen Wagen zurückgebracht?« Elen blinzelte sie an und blickte dann selbst auf den Schlüssel. »Ja. Oh, es tut mir leid … ich habe ihn mir ausgeliehen.« »Du hattest aber nicht gefragt.« Marthas Worte klangen zwar nicht vorwurfsvoll, doch Elen zuckte zusammen. »Es tut mir leid, Martha. Besonders, nachdem ich hörte, daß man Mayland wegen dieser verdammten Geschichte mit George verhaftet hat. Ich wollte eigentlich nicht so lange … »Ach, ist schon in Ordnung.« Martha fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und trat zu Elen, die noch im Türrahmen stand. »Das hatte ich deiner Freundin am Telefon gesagt. Zu dem Zeitpunkt dachte ich das auch. Aber er wurde nicht aus dem Grund verhaftet. Man nahm ihn wegen der Prügelei mit Don Stoughie fest.« Elen blieb der Mund offen stehen; ihre Schultern sanken herab, und sie schwankte. Doch sie war ein so beherrschter Typ, daß diese Gesten lediglich bewußt und theatralisch wirkten. »Ach, du liebe Güte! Wer hat wen …? »Körperverletzung«, antwortete Martha. »Es heißt, daß er einen recht milden Griff anwandte, um Stoughie dazu zu bringen, unser Geld herauszurücken.« Elen warf ihre Handtasche aufs Bett und sich hinterher. »Ehrlich? Wie frivol! Was für ein wunderbarer Zufall!« Sie starrte mit leerem Blick an die kahle Decke, und nach sechzig Sekunden fügte sie mit völlig verändertem 280
Tonfall hinzu: »Es gibt also keinen Anhaltspunkt dafür, daß George nicht Selbstmord begangen hat, oder?« Martha setzte sich neben sie. Ihr Haar stand auf einer Seite wie ein Flügel ab, was sie leicht eulenartig aussehen ließ. »Nicht, daß ich wüßte. Aber ich halte es nicht für Selbstmord. Du vielleicht?« Elen starrte vor sich hin. »Außerdem haben wir momentan ein anderes Problem. Marty ist wieder verschwunden.« Elen richtete sich so schnell auf, daß das Bett wackelte. »Oh, nein! Der Strand!« Als Elizabeth sprach, klang ihre Stimme belegt und tränenerstickt. »Da haben wir es schon versucht. Mayland und die Polizei. Dort ist sie nicht.« »Dieses Mal ist sie wohl laut Mayland in Richtung Norden gegangen. Er hat Fußspuren gefunden. Einige Leute haben sie gesehen. Ich wünschte, er würde wieder anrufen.« Elen preßte den Kopf zwischen die Hände. »Langsam. Das ist zuviel auf einmal. Ich bin gerade erst aufgewacht. Diese süße Närrin Sandy dachte, ich brauchte vor allem Schlaf, und als ich aufwachte, bin ich sofort hergesaust, weil ich dachte, unser Manager säße unter Mordverdacht bereits ein …« Martha holte tief Luft, um sich unter Kontrolle zu bringen. Von ihrem Platz aus konnte sie den kleinen Garten in der Ferne sehen, aber nicht den kleinen Jungen. Auch das Dreirad war fort. Egal.
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»Er wurde gegen Kaution freigelassen. Jetzt ist er mit Pádraig unterwegs auf der Suche nach Marty oder jemandem, der sie vielleicht gesehen hat.« »Pádraig könnte sie gut finden«, unterbrach sie Elen. »Er fühlt sich zu Kindern sehr hingezogen. Gleich und gleich gesellt sich gern.« Martha dachte darüber nach, und ein leichtes Lächeln überflog ihre Lippen. »Mayland fühlt sich zu Marty hingezogen. Gleich und ungleich.« »Sie ist wieder auf der Suche nach Judy«, sagte Elizabeth mit gebrochener Stimme. »Wenn ich nur wüßte, woher sie das hat! Als ich sie fragte, hat sie nur geweint.« Das Gesicht der jungen Frau war weiß und rot gefleckt, und die Knochen standen heraus. Elen Evans starrte sie stumm an, als habe sie Angst vor ihr, und in der Tat sah Elizabeth gefährlich aus mit ihrer Größe, ihrer Leidenschaft und ihrem Walkürengesicht. Martha blickte wieder auf die Autoschlüssel. »Ich werde ihnen folgen«, bemerkte sie. »Gib mir die Schlüssel und alle Zehncentstücke, die du hast.« Fast heftig wandte sie sich an ihre Tochter. »Ich finde, du solltest mitkommen, Liz. Hier brichst du sonst in Kürze zusammen.« Elizabeth machte eine schwache Geste, sich zu erheben, fiel aber wieder zurück auf ihren Hocker. »Das Telefon. Ich muß doch …« »Das kann ich übernehmen.« Elen glitt vom Bett, und ihre Augen waren ebenso feucht wie die Elizabeths. »Das ist das mindeste, was ich für euch tun kann, wo ich schon die ganze Zeit das einzige Fahrzeug beansprucht habe.« Sie 282
übernahm Elizabeths Platz. »Ich werde mich nicht vom Fleck rühren, bis ihr zurück seid. Und zwar mit Marty.« * Teddy trat ohne anzuklopfen ein, denn die Tür stand einen Spalt offen. Elen saß in dem bequemen Sessel, weil sie das Telefon auf den Frühstückstisch gestellt hatte. Ihre Augen waren geschwollen. »Durch und durch naß«, murmelte er. »Und nichts gefunden. Zumindest nichts Materielles.« Dann fiel ihm ein, daß Elen zuvor ja nicht dabei gewesen war. »Sie haben es dir gesagt? Mit Marty?« Sie nickte und gähnte. »Ja. Und daß man Mayland nicht wegen Mordes verhaftet hat.« »Falls es Mord war«, entgegnete er. Elen machte eine wegwerfende Geste, ein Überbleibsel ihrer ansonsten so kühlen Haltung. »La! Aber Martha glaubt an Mord. Und wer ist der Hauptverdächtige, frage ich dich? Er taucht genau an dem Tag tot auf, an dem er die Scheinwerfer auf unsere höchst peinliche gemeinsame Vergangenheit richtet…« Es herrschte Schweigen, untermalt nur vom Verkehr, einem Vogelzwitschern und Schritten auf dem Gang. Teddy brach es. »He, Elen, hast du heute morgen einen Freund von mir hier gesehen? Ein kleiner Typ mit Stirnband?« 283
Elen sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, weil sie den Übergang nicht begriff. »Nein.« Die Antwort war eindeutig, befriedigte aber Ted Poznan nicht. Er wand sich in seinem nassen Hemd und starrte sein Gesicht in dem Spiegel über dem Schreibtisch an. Die Schritte wurden lauter, und dann klopfte es. Da Ted die Tür nicht völlig geschlossen hatte, öffnete sie sich durch das Klopfen und gab Sergeant Anderson frei. »Hallo«, sagte er. »Wo ist Mrs. Macnamara?« »Sucht Marty«, antwortete Elen und stand auf. »Davon wissen Sie doch, oder?« Anderson betrat den Raum und nickte Teddy zu. Hinter ihm auf dem Gang stand ein uniformierter Polizist. »Ich hörte es über den Funk, aber ich war unterwegs und suchte – schon seltsam – nach einem weiteren verschwundenen Kind.« Elen seufzte, rieb sich die Augen und sah sich nach einem Stuhl um. »Scheint in der Luft zu liegen. Auf allen Einkaufstüten prangen Bilder von verschwundenen Kindern … Schrecklich. Setzen Sie sich, Inspektor.« »Sergeant«, verbesserte er sie freundlich. »Es tut mir leid, aber ich muß Sie um ein vertrauliches Gespräch bitten.« Elens Gesicht erstarrte und wurde blaß. Teddy erhob sich, wirkte aber unsicher, ob Elen sein Gehen vielleicht als Feigheit auslegte. »Geh, Ted«, flüsterte sie.
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»Aber ich wollte mich mit Mr. Poznan unterhalten«, sagte Sergeant Anderson entschuldigend. Teddys braune Augen waren sehr weit aufgerissen.
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Ein Bär kam über den Berg Die beiden Männer standen am tropfnassen Waldrand. »Scheiße, was für ein komischer Wald«, sagte Pádraig ehrfürchtig und trat zurück auf den Gehsteig. Long trat zwischen die Dornbüsche am Rand der Straße, die sich sogleich an seine helle Hose krallten. Er rief über die Schulter hinweg: »Zudem hat er einen seltsamen Ruf. Es ist ein Nationalpark. Mir wäre es lieber, wenn Marty nicht hineingegangen wäre, aber die Rehe hier ziehen Kinder an.« »Ich möchte gern ein Reh sehen, ein wildes Reh.« Pádraig trat einen weiteren Schritt zurück und setzte dann mit einem Sprung über die Dornenhecke. Er landete auf allen Vieren auf feuchten Tannennadeln, und bespritzte seinen Gefährten damit. Grinsend entschuldigte er sich. Es war sehr dämmrig, nicht nur wegen der windzerzausten, sich auflösenden Wolken, sondern wegen der Bäume. Die kerzengeraden, gleichmäßigen Stämme der Mammutbäume schienen einen blaugrünen, ausgefransten Baldachin zu tragen. Alle Geräusche wurden gedämpft. Es gab kein Dickicht. Ein paar Meter weiter war alles staubtrocken. Hinter und vor ihnen verlief ein heller Staubschleier auf dem Waldboden. »Das ist vor kurzem aufgewühlt worden …«, sagte Long. »Vielleicht nur von einem Reh.« Er richtete sich wieder auf und blickte hoch. »Oder von 286
Hunden.« Stille umgab sie wie ein Vorhang, und Long fuhr flüsternd fort: »Diese Bäume sind älter als die Menschen, älter als alle behaarten Wesen. Schon als junges Bäumchen fühlt sich ein Mammutbaum alt an. Sie schließen keine Kompromisse und kümmern sich weder um uns noch um unsere Probleme, ó Pádraig .« »Dann sind Sie genau wie diese Bäume, Mayland«, antwortete Pádraig, der dicht hinter ihm herging und sich nach allen Seiten umblickte. »Erst heute morgen, als wir in der Bar saßen, habe ich mich gefragt, ob Sie überhaupt ein Mensch sind, mit Ihrem Gerede über Ihr Alter und Ihre Macht. Vielleicht haben Sie die Seele eines Mammutbaums.« Long blieb stehen und schnaubte. »Bei den sieben Weisen. Ich kann mich an diese Unterhaltung erinnern! Und wenn das irgend etwas zu bedeuten hatte, dann habe ich die Seele eines Trunkenboldes. Und ich … ach, man sollte unter einem Mammutbaum nicht mit seinem Alter prahlen. Das wäre höchst unheilvoll. Aber dieser Park hat seinen sonderbaren Ruf nicht von den Mammutbäumen. Er hat eine menschliche Besonderheit.« Sein Atem klang schwer und belegt, und als er sich räusperte, zuckte er zusammen. »Das Gebiet hier ist zu dunkel, zu hügelig und zu groß, um regelmäßig kontrolliert zu werden. Und es liegt sehr nahe einer angenehmen Stadt wie Santa Cruz. Der Wald zieht jene an, die weder in Städten noch in völliger Wildnis leben können. Ich habe oft in den Zeitungen San Franciscos darüber gelesen: Hier leben Kriminelle und Verrückte. Der arme Wald beherbergt eine große Anzahl 287
Irrer.« Longs Schritte wirbelten kleine beige Wölkchen auf. Es klang, als gingen sie über Schaumgummi. »Natürlich kann man auf höchst nette Weise verrückt sein – einige der besten Menschen werden für verrückt erklärt – aber hier sind auch schon Menschen umgekommen.« Pádraig ging nun so dicht neben Long her, daß sie bei jedem Schritt mit den Schultern zusammenstießen. »Óch, ich glaube, Sie haben auch Ihren Anteil an der allgemeinen Verrücktheit dieses Landes.« Dabei trat er in eine von Zweigen verdeckte Grube und fiel mit einem lauten Aufschrei hin. Long griff ihm unter die Arme und zog ihn hoch. »Warum Sie mich für einen Teil dieses Landes halten, weiß ich nicht. Sie hingegen sind Staatsbürger von Geburt an, oder? Wegen Ihrer Mutter?« Pádraig blickte hündisch verschlagen. »Ah, das hat Sie nicht getäuscht, oder?« »Nein, a Pádraig ! Sind Ihre Papiere gefälscht?« Pádraig hüpfte wie ein albernes Kind über den weichen Boden. »Es sind schlechte Papiere für einen echten Pádraig ó Süilleabhäin, aber der bin ich nicht. Es ist ein Vetter mit gleichem Namen. Er ist Anstreicher und braucht seinen Paß nicht, und daher bin ich seit meinem ersten Rennen er. Habe ich Sie wirklich täuschen können? Und Martha auch? Sie muß es doch gemerkt haben, denn sie kennt meine Ma. Leider habe ich den Fehler begangen, es George zu erzählen.«
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Long blieb in einer Staubwolke stehen. »St. Ives wußte es? Ich bin überrascht, daß er den Mund gehalten hat, da er nun wirklich nicht Ihr Freund war.« »Das kann man wohl sagen! Er hatte die Idee, daß ich nach der ersten Woche nach Hause fahren sollte, und falls ich danach noch immer bei der Gruppe bliebe, würde er mich der Einwanderungsbehörde melden. Aber offensichtlich hat er es wieder vergessen oder hatte Angst, wie Martha wohl reagieren würde, da ich nichts mehr davon gehört habe.« Pádraig, das lange Haar über den Augen, stand neben Long und grinste wenig reumütig. Irgendwie schien er auf dem gleichen Weg mehr Schmutz anzuziehen als Long, davon einen Großteil im Gesicht. Das Hemd war ihm aus der Hose gerutscht. Sein ungehobeltes, unfeines Aussehen ließ Long nachdenken. »Eine Frage, ó Pádraig . Sind Sie ebenso alt wie Ihr Vetter?« Das Grinsen wurde breiter. »Das wäre aber zuviel vom Zufall verlangt. Ich bin drei Jahre älter. Konnte man das nicht erraten?« »Nein, gewiß nicht«, antwortete Long sehr ernst. »Und ich glaube, daß dieser Trick Ihnen nichts Gutes bringt. Die Polizei ist nicht dumm, und wenn sie herausbekommt, daß Sie mit falschem Paß reisen – es wäre so leicht gewesen, Ihnen für die Tournee ein Visum zu beschaffen –, dann werden sie sich verpflichtet sehen, weiter zu bohren. Sie haben sich in eine Situation gebracht, in der Sie guten
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Grund hatten, George umzubringen. Zu allem Überfluß haben Sie das Seil angefertigt, das sein Leben beendete.« Long, der perfekte Sprachkundler, verfiel im Gespräch mit Pádraig häufig vom Englischen ins Irische. Die Geschichte des Jungen regte ihn so sehr auf, daß er ihn nun in Irisch zurechtwies. Doch ehe Long fertig war, hörte Pádraig schon nicht mehr zu, denn am Grund eines Tals vor ihnen glänzte Metall auf, höchst ungewöhnlich in diesem Wald. Der junge Mann stürzte sich mit wieder aufflammender Begeisterung den schlüpfrigen Hang hinab. Mr. Long folgte ihm gelassener, denn der Staub hatte wieder einen Hustenanfall ausgelöst. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mayland«, rief Pádraig beim Hinunterrutschen. »Ich brauche den Paß im Herbst, wenn ich in Boston Segelkurse abhalte. Warum sollte er denn Mißtrauen erregen? Niemand weiß es außer Ihnen, und Sie werden stillschweigen.« »Verlaß dich nicht allzusehr darauf, mein Junge«, sagte Long, aber nur zu sich. Er schritt vorsichtig hinter Pádraig her und fragte sich, warum der Bursche, der sich vor St. Ives (wie auch vor seinem Vater, wenn man Martha glaubte) so geduckt hatte, von Long nur sehr schwer beeinflußt werden konnte. Vielleicht schwand seine persönliche Autorität? Warum nicht, wo ihn sein Körper schon so im Stich ließ. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, wo sich die Sache mit Don Stoughie nicht zu einer bloßen Zankerei entwickelt hätte.
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Doch als Long Pádraig ó Súilleabháin zusah, wie er hüpfte und sprang und den Hang vor ihm hinabtanzte, voller Entschlußkraft und unbewußtem Selbstvertrauen, wußte er, es lag nicht an seiner eigenen Senilität. Der Junge erinnerte ihn einfach zu sehr an Marty, als daß er zu ihm hätte strenger sein können. »Was haben wir denn da?« Pádraig trat die Tannennadeln beiseite und bedeckte sich dabei selbst mit dem duftenden Kompost. »Es ist Eisen. Eine Eisenbahnschiene, hier, mitten in der Wildnis.« Long bückte sich und suchte weniger herzhaft im Dreck. So dicht vor der Nase stieg ihm der Duft der Mammutnadeln zu Kopf. »Genau, es ist eine alte Schmalspurbahn. In bemerkenswert gutem Zustand. Fast kein Rost auf den Gleisen.« »Nun, was brauchen wir mehr in dieser Wüste?« meinte Pádraig und fügte hinzu: »Ich glaube, daß sie hier herabkam. Sehen Sie, hier ist es alles auf die Seite getreten. Sie ist den Hang zwischen den beiden Hügeln herabgekommen, vermutlich mitten auf den Schienen.« Pádraig begann auf einem Gleis zu balancieren. »Im Winter ist das hier keine Wüste«, sagte Long und folgte ihm erneut. »Ich bin nicht sicher, ob die Spuren nicht von Rehen oder Hunden stammen.« Pádraig zuckte die Achseln und drehte sich nicht einmal um. »Ich bin sicher, wir sind ihr dicht auf den Fersen, Mayland, und manchmal weiß ich einfach bestimmte Dinge, kann sie aber nicht erklären. Ist das bei Ihnen nicht genauso?« 291
Long lachte leise und trat, damit sie sich besser unterhalten konnten, auf das andere Gleis. Er balancierte nicht so gut wie Pádraig und wippte auch nicht so. »Keineswegs, mein Freund! Ich weiß nur, was man mir sagt oder was mir Augen und Ohren verraten. Ich lehne es ab, mich durch das Okkulte verwirren zu lassen. Das führt einen nicht zur Wahrheit.« »Jetzt hören Sie sich wie ein Priester an.« Pádraig verlangsamte seinen Schritt, denn er hatte Long um eine Kurve zu einer sehr furchterregenden Szenerie geführt. Links von ihnen erhob sich etwas, was ein Damm aus Unterholz in einem Flüßchen hätte sein können. Doch die Zweige waren massive Baumstämme, die majestätisch und spitz an die fünfzehn Meter hoch in alle möglichen Richtungen ragten. Ein Rund aus Erde und Wurzeln von der Größe eines kleinen Asteroiden spreizte sich gen Himmel. Pádraig war sich kaum bewußt, was er tat, als er vom Gleis hinuntersprang und fünf Schritte auf den überhängenden Hang zuging, der sich auf der rechten Seite befand. »Mein Gott! Welche Hand hat das angerichtet? Es verdunkelt den Himmel!« Long trat neben ihn und deutete mit dem Finger: »Wenn Sie dorthin schauen, sehen Sie ein Flußbett, doch es ist jetzt ausgetrocknet.« »Das kleine Ding?« »Ich sagte doch, im Winter regnet es hier manchmal. Aber komisch, daß dieser Erdrutsch unseren Weg nicht völlig blockiert. Sieht aus, als hätte jemand aufgeräumt. Aber warum sollte sich jemand solche Mühe machen?« 292
Pádraig stand immer noch ehrfürchtig vor der erdigen Wand und schüttelte den Kopf angesichts der umgestürzten Ungeheuer. »Gehen wir weiter, wenn Sie immer noch glauben, auf der richtigen Spur zu sein. Ich möchte nicht, daß das Kind hier von der Dunkelheit überfallen wird.« Als wäre es eine Antwort auf Longs unglücklichen Gedanken, durchdrang die Luft unvermittelt ein einsamer Heulton. Er klang im Schweigen des Waldes überlaut. Er wurde lauter. Man hörte ein bedrohliches Grollen. »Diesmal höre ich es genau«, bemerkte Pádraig . »Es klingt wie ein Dudelsack, und zwar ein schottischer. Und es ist auch keine Schallplatte, denn …« Long hatte in die dunstige Ferne geblickt, erstarrt angesichts eines vermeintlich übernatürlichen Monsters. Jetzt umklammerte seine Spinnenhand Pádraigs Arm. »Spring! Pádraig, spring!« Mit diesen Worten warf sich Long selbst in das Gewirr aus herabgefallenen Asten und riß seinen erstaunten Gefährten mit sich. Es war ein schwerer, schmerzhafter Sturz. Fünf Sekunden später sauste der Zug vorbei. Die Miniaturlokomotive stieß kleine Rauchwölkchen aus. Aus den drei Waggons starrten die staunenden Gesichter der Touristen, die die Größe des herausgerissenen Wurzelballens erkannten. Long und ó Súilleabháin lagen zu weit unten im Geröll des Flußbettes, um gesehen zu werden oder zu bemerken, wie niedlich der kleine alte Zug war, der sie fast überfahren hatte.
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Pádraig lag flach auf dem Rücken. Ein knorriger Ast ragte hinter seiner Schulter auf wie ein zweiter Kopf. Sein Hemd klaffte weit über dem Körper auf, der auf der dunklen Erde hell glänzte. Sein Gürtel hatte sich in einem Ast verfangen und die Hose halb über einem ebenso weißen Hinterteil herabgezogen. Er zog sich zuerst wieder an, dann untersuchte er sich nach Verletzungen. Stöhnend mühte er sich wieder auf die Beine. »Ich bin wirklich der Esel mit den größten Ohren in ganz Kerry und Kalifornien. Schottischer Dudelsack!« Long saß bereits wieder aufrecht und mit gekreuzten Beinen auf einem flachen Holzsplitter vor dem Wurzelballen. Er staubte seine Jackettärmel ab, und es bewies sich die wunderbare Qualität der Seide: sein Aussehen hatte nur wenig gelitten. »Ich habe mich irreführen lassen, Pádraig . Obwohl die Gleise in so gutem Zustand waren.« Er seufzte und reckte sich (wie Martha ihm geraten hätte). Der Kreis aus Erde und himmelragenden Baumwurzeln hinter ihm bildete eine Art Heiligenschein um Long, wie man sie um die Statuen des tanzenden Shiva findet. Aber Mr. Long war nicht nach Tanzen zumute. Langsam erhob er sich und hustete vorsichtig. »Wenn ich nur gewußt hätte, daß es eine Bahnverbindung nach Santa Cruz gibt«, murmelte er. »Vielleicht gibt es sogar einen Anschluß nach Amtrack?« Er kletterte auf allen Vieren zurück zu den Gleisen. Pádraig folgte ihm geräuschvoller und mit mehr Mühe. 294
»Hat sich Ihr Gefühl im Hinblick auf Marty durch die Aufregung abgeschwächt, oder wollen wir weiter?« »Im Moment fühle ich nichts außer Verlegenheit«, antwortete Pádraig und trat gegen ein paar welke Blätter. »Was ist das?« fragte Long. »Werfen Sie keinen Dreck darauf. Lassen Sie mich sehen.« Er beugte sich über etwas Weißes zwischen den Gleisen. »Das ist Ihre Sonnenbrille.« Pádraig bückte sich, um sie zu berühren. »Sie ist kaputt.« Longs Finger, fast so schwarz wie die Walderde, umklammerten eine Brillenhälfte. Seine Augen, die suchend an den Gleisen entlang fuhren, blickten hell und kalt. Dann wurde sein Blick weicher. »Ich glaube, ein Tier hat darauf getreten«, sagte er. »Woher wollen Sie das denn wissen?« Pádraigs blaue Augen, ebenso überraschend blau wie die einer siamesischen Katze im Dunkeln, waren vor Staunen weit aufgerissen. »Vom größten Esel in Kalifornien.« Long bückte sich und schlug gegen Pádraigs Schienbein, bis dieser den Fuß hob wie ein Pferd. Long untersuchte seinen Schuh. In der Sohle der billigen, alten Tennisschuhe steckten Plastikteilchen, die einst winzige Gänseblümchen gewesen waren. »Ich war es also«, sagte Pádraig . »Bitte, Gott, möge ihr nichts weiter zugestoßen sein!« Sie gingen schneller, im Vertrauen darauf, daß der kleine Zug nicht allzu häufig verkehrte. Der Weg wurde mühsamer, weil er dicht mit Bruchholz übersät war. Die wenigen Flecken, an denen Sonnenlicht bis auf die Erde 295
drang, waren dicht mit Dorngebüsch bewachsen, überall wuchsen die hellen, fettigen Ranken des Lacksumachs. Long kannte die Pflanze, hatte sich aber noch keinen Ausschlag davon zugezogen. Pádraig drängte sich trotz seiner Warnung durch das Buschwerk. Die Schwierigkeit des Weges bedeutete aber auch, daß sie keine Entscheidung treffen mußten. Sie waren gezwungen, auf den Gleisen weiterzugehen, was ohne Zweifel für Marty auch gegolten hatte. Es war inzwischen viel dunkler geworden, und als die Eisenbahngeleise vom Grund des Tals auf einem Gerüst aus dicken Mammutbäumen den anderen Hang emporkletterten, erschraken die beiden staubigen Männer ein wenig vor dem mühseligen Weg, der vor ihnen lag. »Wie weit kann eine Dreijährige an einem Tag laufen?« fragte Long, als spräche er die ganze Welt an. »Sie schaffen alles«, antwortete Pádraig . »Sie merken erst, wenn ihnen die Füße abfallen, daß sie müde sind. Meine Schwester Sióbhán ging immer morgens mit ihren Puppen …« »Friede Ihrer Schwester«, flüsterte Long. »Was ist das?« Pádraig blieb stehen und lauschte, erwartete entweder Dudelsackpfeifen oder eine Dampflok, doch was er hörte, brachte Leben in sein erschöpftes Gesicht. »Gesang, Mayland. Da singt ein Kind!« Es klang so dünn und zittrig wie eine Vogelstimme, war aber ohne Zweifel menschlich. Eine kleine Stimme durchdrang die tiefe Stille dieses Waldes.
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Langsam und erleichtert schloß Long die glasigen Augen. »Das ist Marty, a Pádraig . Habe ich ihr das Lied nicht selbst beigebracht?« Er begann zu rennen. Die Gleise stiegen steil an. Pádraig stürmte mit schweren Füßen, aber viel Energie hinauf; Long hustete gelegentlich. »Was ist das, Mayland?« fragte Pádraig . »Ist das ein chinesisches Lied?« Long lachte still für sich auf. »Nein. Es heißt: ›The Bear went over the Mountain‹.« Sie gelangten auf der Hügelkuppe an und erwarteten Marty dort, so nahe hatte der Gesang geklungen. Doch sie sahen nur das, was der Bär in dem Lied auch gesehen hatte. Die Gleise bogen nach rechts ab, und der Kamm zog sich nach links, aber direkt vor ihnen, zwischen den absolut senkrechten Mammutstämmen, war mitten im Wald ein khakifarbener Streifen mit einem dunklen Fleck daneben. Eine Straße. Ein Haus. Gerade, als sie das erkannt hatten, hörte das Singen auf. * »Mr. Poznan.« Sergeant Anderson sank in den einzigen Sessel in Teddys viel kleinerem Zimmer. Teddy selbst blieb vor ihm stehen, nahm die Hände auf den Rücken und lehnte sich gegen einen Heizkörper. Als er seinen Namen hörte, richtete er sich so gerade auf, als hinge er an Fäden.
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»Mann! Selbst auf der Bank wird man heute nicht mehr mit ›Mister‹ angeredet. Ich bin Teddy.« Seine Stimme klang zwar beinahe zu herzlich, aber dennoch unsicher. Anderson zog ein Gesicht, als zöge er seine Nase nach unten und die Brauen nach oben. »Ich hingegen muß mich dieser Anrede immer noch bedienen. Vermutlich liegt der Unterschied darin, daß ich nicht so viel Geld wie die Bank besitze.« Er warf einen gleichgültigen Blick hinter Teddy und vergewisserte sich, daß sein Untergebener das Zimmer ebenfalls betreten hatte. Dann zog er einen großen braunen Umschlag aus der Tasche. »Sie haben dem Beamten auf der Wache, als Sie zuerst Meldung erstatteten, nicht verraten, daß Sie sich zur Zeit auf Bewährung befinden.« »Das stimmt nicht«, antwortete Teddy. »Meine Bewährung endete kurz vor der Tournee. Daher konnte ich mitreisen.« Anderson starrte Teddy scharf an, dessen Gesicht sich zu einem halb besänftigenden Lächeln verzog. Dann zog er eine randlose Bifokalbrille aus der Tasche und setzte sie auf die Nase. Er las. Dreißig Sekunden lang sagte niemand ein Wort, nur der Beamte im Türrahmen räusperte sich. Teddy vermied es, ihn anzublicken. »Meine aufrichtige Entschuldigung«, murmelte Anderson. »Das ist mir entgangen. Die drei Jahre endeten am achten April.« Er seufzte und rieb sich die Nase. »Es heißt, diese kleinen Fehler werden verschwinden, wenn wir erst einmal das gesamte Aktensystem staatenweit oder bundesweit oder wie auch immer computerisiert haben. Ich meine allerdings, die Fehler werden immer schlimmer.« Die Brille wanderte zurück ins Etui. 298
»Spielt keine Rolle. Allerdings darf sich das Gericht nicht darauf beziehen, daß sie wegen Drogenhandels eine Vorstrafe haben.« »Die ungerecht war«, sagte Teddy. Seine Hand stieß sich von dem Tisch ab, den er als Stütze benutzt hatte. Seine dunklen Augen glänzten unter dem sonnengebleichten Haar wie Knöpfe. »Falls es Sie interessiert, ich wurde fälschlich verurteilt.« Anderson blickte auf. Er war offensichtlich interessiert, doch er sagte: »Das bin ich nicht, Mr. Poznan. Denn wir untersuchen einen Mord des Jahres 1986 und keine Drogensache …« Teddy errötete und ging vor dem Detektiv in die Hocke. »Vor einem Moment wollten Sie mir noch sagen, daß meine Vorstrafe wichtig sei im Zusammenhang mit dem Mord an George. Und im nächsten Atemzug behaupten Sie, die Tatsache, daß diese Verurteilung völlig falsch war, sei es nicht.« Er zupfte an seinem ordentlichen Bart, der viel dunkler war als sein Haupthaar. »Tatsache ist, daß ich in einem Haus lebte, in dem ein anderer Typ anbaute und dealte. Die Bundesbullen flogen mit einem Hubschrauber ein, und außerdem war es ein Wahljahr. Das war alles. Und obwohl die Wurzeln dieser miesen Erfahrung vermutlich weiter zurück in diesem oder einem vergangenen Leben liegen, ich habe gegenüber der kalifornischen Polizei sehr bittere Gefühle zurückbehalten. Jeder, der mich kennt, weiß, daß ich nicht mit Drogen handele.«
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In der Sicherheit, daß der stämmige Beamte in vernünftigem Abstand zu Teddy stand, lehnte sich Anderson zurück und schloß die Augen. »Gut, Mr. Poznan. Ich nehme das hin, doch ich muß Sie daran erinnern, daß es keine kalifornische Polizei‹ im allgemeinen gibt. Ich vertrete Santa Cruz und nicht Cotati und habe auf das FBI ebenso wenig Einfluß wie Sie. Im Vertrauen gesagt, Sie machen mir angst. Wir wollen hier nur ein paar Fragen durchgehen, die in keiner Weise mit Ihrer unglücklichen Vergangenheit zu tun haben. Zunächst mal, hat St. Ives Drogen genommen?« Teddy brummte und setzte sich auf seine Fersen. »Ständig, glaube ich. Bei Alkohol bin ich mir sicher. Pillen auch, aber ich weiß nicht, ob sie legal waren oder nicht. Spielt ja auch keine Rolle.« »Spielt keine Rolle, Teddy … Mr. Poznan?« »Spielt überhaupt keine Rolle. Das waren Scheißdinger. Er nahm sie mittags und war dann den ganzen Nachmittag benommen und zugleich schläfrig und mürrisch. Am Spätnachmittag wurde er ein bißchen munterer und brachte sich bis zum Konzert mit Alkohol durch. Und morgens war ihm immer schlecht.« Ted strich sich mit beiden Händen über den Kopf und zog das Gummiband aus den elektrisch knisternden Haaren. Sein langes, glattes und sehr sauberes Haar fiel ihm in all seinen Schattierungen über die Schultern. Sergeant Anderson arbeitete zwar schon seit über zwanzig Jahren in Santa Cruz, doch es verunsicherte ihn immer
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noch, weil Ted Poznan für ihn plötzlich aussah wie eine Frau. »Das war mir aufgefallen. Ich wußte von unserem ersten Zusammentreffen in Mendocino an, daß mit George etwas faul war. Ich weiß nicht, ob sonst noch jemand etwas gemerkt hat, außer vielleicht Martha.« Anderson holte tief Luft und verspürte Verlangen nach einer Zigarette. Er hatte ein Päckchen in der Jackentasche und rauchte etwa fünf am Tag, außer in Zeiten der Schwäche. Er griff in die Tasche, doch dann hielt er inne. »Sie sagen, Sie nehmen keine Drogen, Mr. Poznan? Nicht einmal Aspirin?« »Nichts Chemisches. Und Marihuana rauche ich auch nicht«, fügte er hinzu und bemerkte vorwurfsvoll, wie sich der Gesichtsausdruck des Detektivs mehrfach veränderte. »Tabak?« Jetzt blickte Teddy richtig wütend. »Das wäre die Versklavung des Körpers durch reines Gift!« Andersons Hand fuhr leer wieder aus der Tasche. »Also. St. Ives hatte immer einen schlechten Start morgens, nahm Kodein und Morphin, um seine Schmerzen zu betäuben, wurde müde und mies, putschte sich durch Alkohol auf, damit er arbeiten konnte, und schlief dann mit einer Dosis Phenobarb ein. Richtig?« Teddy schüttelte leicht den Kopf. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er das alles nahm …« »Wir aber«, sagte Anderson. »Wir haben sein Zimmer durchsucht. Es gab von diesem und jenem etwas, aber überwiegend Morphin und Kodein.« 301
Teddys Gesicht war hinter dem dichten Haar fast unsichtbar für den Sergeanten, doch seine Haltung drückte Niedergeschlagenheit aus, fast Kummer. »Er verriet mir am Tag… am Tag, ehe er starb, daß er fast ständig Schmerzen habe.« Anderson nickte wenig überrascht. »So ist das mit Drogen«, sagte Teddy, ohne den Kopf zu heben. »Es ist ein Teufelskreis. Wenn die Gesundheit dahin ist, muß man sie weiternehmen, damit man nicht merkt, wie schlecht es einem geht. Wenn ihr doch nur lernen würdet…« »Was…?« »Daß man nur durch Aufklärung und nicht durch Gesetze die Leute davon abhält, sich dauernd zu schaden. Es liegt alles an der Unwissenheit.« Andersons Blick wanderte von Teddy zu seinem Begleiter, und sein Gesicht drückte nun eine überzeugende Mischung aus belustigtem und erschöpftem Unglauben aus. Aber heute nachmittag hatte er nicht den empfindsamen Scherer mitgebracht, und dieser Kollege blickte ihn starr, fast kuhartig an. Anderson seufzte. Dann fragte er sehr ruhig: »Was war mit dem kleinen Plastikbeutel, den wir unter seinen Sachen gefunden haben? Der, auf dem Ihre Fingerabdrücke waren?« Jetzt hob Teddy den Kopf und fegte sich mit der Linken das Haar aus dem Gesicht. Anderson fand, er sähe aus wie ein richtiger Indianer, nackt bis zur Hüfte und gleichmäßig gebräunt. Nur, daß man richtige Indianer gewöhnlich nicht 302
mit Bart darstellte. »War das die mit den Bienenpollen? Oder mit Kelp? Ich habe ihm viele Sachen gegeben.« »Aber keine Drogen?« »Nein, keine Drogen«, antwortete Teddy nach einer Pause. Anderson sah sich gezwungen, zuzugeben, daß der Plastikbeutel leer gewesen war. Er starrte abwesend über Teddys Kopf hinweg und kaute an seiner Unterlippe. Endlich sprach er: »Hatte St. Ives irgendwelche besonderen Probleme? War er krank… oder war etwas anderes?« Jetzt richtete sich Teddy kerzengerade auf und strich sich mit den gespreizten Fingern seiner häßlichen Hand durch die Haare. »Was meinen Sie?« fragte er mit brüchiger Stimme. »Wollen Sie einen Namen für einen völlig ruinierten Körper? Macht ein Name das besser?« Anderson dachte nach. »Ja, irgendwie. Es könnte seinen Tod einleuchtend machen. Manche Leute begehen Selbstmord, wenn sie unheilbar an Krebs leiden. Oder an AIDS.« Jetzt sackte Teddy in sich zusammen und schwankte vor. Er starrte den Detektiv an. »AIDS!« »Er hatte … wie ich hörte … zahlreiche sexuelle Kontakte. Er war nicht gesund. Warum nicht AIDS? Das mußten wir doch überprüfen.« Anderson zuckte die Achseln. Noch ehe der Schock dieser Vermutung abebbte, ließ Anderson eine weitere Frage folgen. »Mr. Poznan, können Sie mir verraten, woher Sie einen Mann namens Richard Wolf kennen? Warum wollte er Sie heute morgen 303
besuchen, und warum ging er nach Cotati zurück, ohne Sie gesehen zu haben?« Ted Poznan stieß einen leisen Laut aus, der sein Selbstmitleid ausdrückte, und wedelte mit den Händen durch die Luft.
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Da Mihi Manum Pádraig glitt mit dem linken Fuß auf dem Waldboden aus und klammerte sich haltsuchend an Long. Das Sonnenlicht wurde dreimal hintereinander rasch gedämpft und strahlte wieder auf, weil Wolken vom Meer aus nach Norden zogen. Jedesmal wurde Pádraigs Gesicht rosig, und Long schien gänzlich zu verschwinden. Nur seine Augen waren dann noch zu sehen. »Sie ist da unten«, sagte der junge Mann. »Ich hätte sie mit einem Stein treffen können. Ich weiß es.« Nach dieser leicht übernatürlichen Aussage schüttelte Long den Kopf, aber nicht verneinend. Long fühlte sich bedrückt. Im nächsten Augenblick zitterte der schlanke Mann am ganzen Körper, ohne zu wissen, warum. Er setzte einen elegant beschuhten Fuß vor den anderen und begann, halb gleitend, halb gehend den Hang hinabzusteigen. Seine knochigen Hände umgriffen dabei die Äste, als hätten ihre Finger ein Glied zuviel. Pádraig kam schneller voran und stützte sich immer wieder an den Stämmen ab, um sich aufzuhalten. Zweimal stieß er hart gegen Long, der ihn murmeln hörte: «… sei bei uns im Kampfe, sei unser Schutz gegen das Böse und die Schlangen des Teufels …« Er merkte, wie Long ihn ansah. »Das ist ein starker Schutz, mein Freund. Sie sollten ebenfalls beten.« Der Ältere lächelte nicht, weder spöttisch noch zustimmend. Er atmete stoßweise und zog die Lippen hoch. Er 305
spürte, wie sein Herz klopfte, doch nicht, weil er den Abstieg zu mühsam fand. »Ich habe heute bereits einen betrunkenen Rosenkranz mit Ihnen gebetet. Das reicht.« Sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos, die Augen glänzten gelblich. Im nächsten Augenblick wurde die Sonne verdeckt, doch Longs fahle Augen schimmerten weiter. Er wandte den Kopf auf dem dünnen Hals von Pádraig zu dem Haus am Fuß des Hügels und wieder zurück. Pádraig taumelte ein paar Schritte von ihm fort. »Seien Sie vorsichtig, Mayland! Ich glaube, ich muß meinen Schutzpatron anrufen, denn Sie sehen genauso grausam aus wie eine Schlange.« Pádraig lächelte verlegen, wurde aber mit keinem Lächeln belohnt. »Mayland, was ist los? Sie sind so sonderbar!« Long rieb sich mit den Händen übers Gesicht, als würde er von kleinen Insekten belästigt. Mit nüchterner Stimme antwortete er. »Ich weiß nicht, was los ist. Ich bin kein Medium und kann diese … Atmosphäre nicht erklären. Sie haben doch auch dieses unerklärliche Gefühl, ó Súilleabháin . Spüren Sie es nicht?« Pádraig rollte mit den Augen. »Ich habe jetzt lediglich Angst. Und ich glaube, vor Ihnen, mein Freund. Ich habe den Verdacht, Sie werden mich im nächsten Moment beißen. Vielleicht sind Sie zu lange gelaufen, mit Ihrer Erkältung.« Pádraig ging rückwärts den Berg hinab, ohne den Blick von Long zu wenden, stolperte und fiel. Long seufzte heiser. Es klang fast wie ein Knurren. 306
Er trat neben Pádraig und zog ihn am Hemdkragen hoch. Die Luft wurde von einem maschinenartigen Summen erfüllt, doch vielleicht existierte es nur in seinem Kopf. »Wie Sie wollen, Pádraig ó Súilleabháin . Haben Sie Angst oder seien Sie mutig wie ein Stier. Doch Sie haben behauptet, Dinge zu wissen, die mir nicht zugänglich sind. Jetzt warte ich darauf, daß Sie sich nicht länger wie ein Narr benehmen und meine Enkelin finden!« Seine Stimme verriet keine Spur von Gefühl, bis zu dem Wort ›Enkelin‹, das zischend vor Wut ausgesprochen wurde. Pádraig lehnte sich an einen Baum, und auf seinem Gesicht breitete sich furchtsame Entschlossenheit aus. Er sorgte dafür, daß der Stamm zwischen ihm und Long stand. * Dann stand er vor einem ungestrichenen Giebelholzhaus mit einer großen Veranda. Die Vorderwand aus Glas reichte bis in den spitzen Giebel. Dieses Glas spiegelte den Himmel und die schwarze Wand der Bäume, denn drinnen herrschte Dunkelheit. Der Platz davor aus festgestampfter Erde wirkte verwaist, abgesehen von einer Vogeltränke aus Beton am anderen Ende. Unter der Veranda wuchsen Dornranken. Ein dunkler Streifen Erde zog sich über die kahle Fläche; man sah eine Spitzhacke, Kies und eine weiße Plastikröhre. Die staubige Straße wand sich nach Westen, vom Regen des letzten Winters an verschiedenen Stellen unterbrochen. Es war totenstill. 307
Pádraig schüttelte den Kopf. »Wir sind bei einem leeren Haus gelandet.« Er trat einen Schritt auf die Lichtung von Long weg. »Aber wenn ich ein Kind wäre und von diesem Berg käme und ein solches Haus fände, ich wüßte, was ich täte. Ich müßte einfach in dieses Vogelbad hineinsehen …« Er deutete mit dem Finger darauf. Man hörte ein Klappern und Quietschen. Jemand hatte ein Fenster geöffnet. Pádraig sprang in die Luft und landete keuchend wieder auf dem Boden. Long stand immer noch starr und wütend am Waldrand. Nur sein Kopf bewegte sich in unheimlichen, kleinen Kreisbewegungen. Er starrte auf das leer wirkende Haus und den staubigen Boden ringsum. »Pádraig !« rief er laut, als endlich die Zorneslähmung brach. »Dieses Loch da! Ist das nicht ein Sickergraben?« Vorsichtig trat Long aus seiner Deckung. Der junge Mann mußte lachen, weil er an sein furchtsames Zusammenzucken dachte. »Ich weiß es nicht, Mayland. Gibt keinen Laut von sich.« Pádraig war nicht mit Martha auf der Mall gewesen, als jemand über einen Sickergraben gesprochen hatte. Er konnte nicht die Verbindung herstellen. Vielleicht hatte es ohnehin keine Bedeutung. Long blieb unentschlossen stehen und beobachtete die staubig-schwarzen Fenster. »Ich sehe mir mal den Trog da an«, wiederholte Pádraig . Er ging immer schneller werdend über den kahlen Hof. »Hatte ich nicht recht, Mayland? Sehen Sie sich das Kind an, das auf den Steinen sitzt, als sei nichts …« Beim
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Anblick von Martys Hemd und ihrem zerzausten Blondhaar trabte er los. Aber Marty lächelte ihn nicht an, und irgend etwas in ihrem Gesicht ließ ihn langsamer gehen. »Máirtín, mein kleines Schätzchen, da mußt du dir aber eine schöne Geschichte ausdenken, wenn du das deiner Mutter …« Man hörte einen Knall, der Pádraig hochriß und niederschmetterte. Sein Hemd war übersät von kleinen dunklen Löchern, die rot aufblühten. Zwanzig Schritt von ihm entfernt stand Marty Frisch-Macnamara mit herabhängenden Armen und starrte ihn ausdruckslos an. Einen Moment später schnappte sie ihr Daddo, rollte mit ihr ein paarmal herum, bis beide von herabfallenden Stämmen und Dorngebüsch verborgen waren. Long kauerte über einem Gesicht, das er schon zweimal zuvor gesehen hatte: ein Gesicht mit Augen wie gekochten Eiern und einem schlaffen, tröpfelnden Mund. Es war nicht Marty. Er zischte vor Zorn, ließ sie liegen und ging zu Pádraig zurück. Doch Pádraig war schon wieder auf den Beinen und taumelte auf sie zu. Er bewegte die Lippen, und als Long näher kam, hörte er, wie er betete: »Wirf du, o Prinz der Himmlischen Heerscharen, den Satan samt seinen bösen Geistern, die sich auf Erden umhertreiben, in die Hölle …« Seine blauen, aufgerissenen Augen zwinkerten. Sanft bettete ihn Long neben einen Stamm. »Hier gibt's keine Prinzen, mein Junge«, flüsterte er, während er vorsichtig zurück zum Haus spähte, ob sich dort etwas bewegte. Long riß Pádraig das Hemd vom Rücken und sah, 309
daß die helle Haut mit flachen Löchern übersät war, in denen etwas eingebettet lag. Er berührte eines, und Pádraig heulte auf wie ein Hund. »Salz«, sagte Long laut. »Steinsalz in einem Gewehr. Das ist ebenso gut wie schlimm. Zumindest wird es sich auflösen.« Er schleppte Pádraig zu Marty. »Behalt sie hier im Auge, wenn das geht. Wie schlimm sie auch … es ihr auch geht. Die Schmerzen gehen vorbei. Bleib hier, bis ich zurückkomme. Oder bis jemand anderes euch hilft.« Pádraig drehte nur unter Mühe den Kopf, denn sein Nacken war durchsiebt und blutüberströmt. »Nicht, Mayland. Sie werden Sie töten.« Long stützte sich an einen Baum, um wieder hochzukommen, wobei er den Stamm zwischen sich und dem Haus hielt. »Sollen wir vielleicht wieder durch den Wald schleichen, Mann aus Kerry? Blutend und mit einem Kind, dem man … den Geist gestohlen hat? Irgend jemand oder etwas muß mir dafür erst eine Erklärung geben.« Pádraig warf einen verstohlenen Blick auf Marty und schrie vor Schmerz bei der Bewegung auf. Als er sich wieder umwandte, war Long verschwunden. Die Windschutzscheibe des Wagens war verschmutzt. Der Benzintank nur noch ein Viertel voll. »… wir kamen Freitag morgen ziemlich früh hier an«, erzählte Martha gerade ihrer Tochter. »Sie hatte in der Nacht zuvor nicht viel geschlafen und war auf der Fahrt sehr quengelig. Schlecht war ihr auch. Als wir ankamen,
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bot sich Elens Freundin Sandy an, auf sie aufzupassen, während wir alles auspackten und aufbauten. Das war vermutlich ein Fehler, denn Sandy schleppte sie den ganzen Morgen in der Stadt herum und machte Besorgungen mit ihr. Vielleicht hat sie mit Marty angegeben. Marty hat es nicht gefallen.« »Vielleicht hat sie dabei diese Judy getroffen«, schlug Elizabeth vor, die sich gegen das Fenster lehnte und die vorbeiziehende River Street betrachtete. Martha nagte nachdenklich an der Oberlippe. Sie hielt vor einer Ampel an. »Möglich. Aber wenn das stimmt, dann muß sie in kürzester Zeit einen sehr starken Eindruck hinterlassen haben, denn so lange waren sie nicht unterwegs. Als wir sie nach dem Morgen fragten, wurde sie einfach gereizt.« »Wenn die Leute doch nur merken würden, daß man nichts anderes tun kann, wenn man auf ein Kind aufpaßt«, sagte Elizabeth recht hochmütig. »Man wird doch dem Kind nicht gerecht …« Martha warf ihrer Tochter einen kühlen Blick zu und fragte sich, ob Elizabeth merkte, was sie gerade von sich gegeben und was sie von ihrer Mutter erwartet hatte. Doch sie schien es nicht zu bemerken, und endlich wurde es grün. »Von hier hat er zuletzt angerufen«, sagte Martha und ließ den Wagen neben der Telefonzelle an der Ecke zum Highway I ausrollen.
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Elizabeth öffnete das Fenster, als würde sie es besser begreifen, wenn sie die Telefonzelle genau betrachtete. »Nun, jetzt sind sie nicht mehr hier.« Martha bemerkte die Angespanntheit in den Worten ihrer Tochter. Hinter ihnen hupte es, und ein Mann mit einem Subaru überholte sie wütend, weil er mitten auf der Kreuzung aufgehalten wurde, und die Ampel bereits umgeschalten hatte. Martha fädelte sich wieder in den Verkehr ein. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie in diese Richtung ging«, meinte Elizabeth mit dem Kopf aus dem Fenster. »Hier gibt es doch nichts zu sehen, keinen Gehsteig, keine Häuser, und … igitt, eine Gerberei direkt neben der Straße.« Martha hielt an dieser Stelle an. Der alte Lieferwagen mit der klapprigen Aufhängung schaukelte heftig. »Das zieht keinen Erwachsenen an. Zumindest die meisten nicht. Ich war schon einmal hier und fand diese Gerberei höchst interessant. Nicht wegen der Felle und Pelze, sondern weil es hier einen Park gibt.« Sie sprang von dem hohen Fahrersitz, ließ die Wagentür offen und ging ein paar Stufen hinab. Elizabeth sah sich gezwungen, ihr zu folgen. Die Gerberei wirkte recht sauber, und der Park war schön, doch niemand der Verkäufer in dem angeschlossenen Laden hatte ein kleines Mädchen gesehen. Danach hatte heute schon einmal jemand gefragt. Diese Nachricht war zwar nicht besonders aufregend oder bedeutsam, aber es hieß zumindest, daß sie sich auf
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Longs Spuren befanden. Martha und Elizabeth kehrten zum Wagen zurück und fuhren weiter. »Es ist furchtbar, Mutter. Das ist doch die reinste Wildnis hier! Nirgendwo ein Haus zu sehen. Sicher würde Marty nicht hier herumspazieren, wenn sie überhaupt so weit laufen kann.« Martha lächelte gepreßt. Wie naturliebend jemand auch war, in Zeiten der Gefahr war man am liebsten von vier Wänden umgeben. Selbst Kalifornier. »Ich kann hier ohnehin nicht umdrehen. Ertrag es noch ein wenig.« Highway 9 wand sich wie ein Faden, den man achtlos fallen gelassen hat. Es war eine schmale Straße, oftmals ohne Randstreifen. Die Autos rasten mit furchterregender Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Elizabeth fluchte bei jeder Kurve, nach der man nur weiteren Wald sah und keine Möglichkeit, den großen Lieferwagen zu wenden. Jetzt fuhren sie neben einem Gerüst her, und die Straße war schmaler geworden. Martha wand sich hindurch und berührte fast das Geländer. Es ging durch holprige Schlaglöcher. »Gibt es denn hier eine Eisenbahn?« »Ich glaube, es ist ein Touristenbähnchen«, antwortete Martha. »Eine von den kleinen, ein Überbleibsel aus der Zeit, als man diese Berge hier abholzte, um San Francisco wieder aufzubauen. Ich wollte immer mal im Sommer damit fahren.« Nachdem sie eine Meile weit in den Nationalpark gefahren waren, fanden sie eine Stelle zum Wenden und wurden fast von einem Mercury gerammt, der aus der Gegen313
richtung heranraste. Sie fuhren nervöser wieder zurück, als sie gekommen waren. »Bieg hier ab.« Elizabeth deutete nach links. Martha gehorchte, ohne zu fragen, warum. Sie hoffte nur, daß niemand an dieser unübersichtlichen Stelle aus der anderen Richtung käme. Der Weg wirkte wie eine Auffahrt und war von Geißbart fast überzogen. Auf einem Schild stand ›Privatweg‹. »Immerhin heißt es nicht ›Betreten verboten‹«, meinte Elizabeth. »Ich glaube, so etwas hätte Marty gern untersucht. Ein Weg zwischen Blumenbeeten … Schweigen. »Meinst du nicht, Mutter?« Martha konzentrierte sich darauf, das Steuerrad auf dem Weg durch die furchtbaren Schlaglöcher in der Gewalt zu behalten. Sie dachte über die Bemerkung ihrer Tochter nach und erinnerte sich an Martys helle, überaus altkluge Stimme, die sagte: ›Mir macht heute nichts Spaß, falls es jemand wissen will.‹ Marty, die von ihr fortgerannt war, zweimal. Deren Gesicht grau und leer geworden war, die Judy suchte. »Ich weiß eigentlich nicht, was Marty gern untersuchen würde«, sagte sie sehr traurig. Links lag eine trockene Wiese, rechts ein Stück mit dürrem Gras und Disteln. Rechts, in Richtung Süden, fiel der Boden ab, und man konnte Santa Cruz mit seinen braunen Dächern und Stuckgebäuden vor dem blauen Hintergrund des Meeres erkennen. Dann umschlossen sie von beiden Seiten Mammutbäume. Links bog ein Weg ab, der zum Park hinaufführte, wo die Bäume noch dichter standen. Auf dem handgemalten 314
Holzschild stand FLAGER und PRIVAT. Die Schlaglöcher auf diesem Weg waren noch tiefer. »Was war denn das?« Elizabeth gab sich nicht mehr damit zufrieden, sich aus dem Fenster zu lehnen, sondern öffnete die Tür und beugte sich hinaus. »Eine Fehlzündung?« fragte Martha. Elizabeth schlug die Tür wieder zu. Ihr Gesicht war schweißnaß. »Da rauf, Ma. Schnell!« Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte Elizabeth ihre Mutter ›Ma‹ genannt. Martha starrte sie von der Seite her an, doch dann wendete sie den unförmigen Lieferwagen. Dreimal hüpfte er hoch, landete in einer tiefen Furche und heulte jämmerlich auf. Es roch nach verbranntem Gummi, und sie saßen fest. * Mayland stand so reglos wie die Bäume und halb von ihnen verborgen. Er lauschte und spähte nach allen Seiten. Das Fenster, durch das auf Pádraig geschossen worden war, stand immer noch offen, doch er konnte die Dunkelheit dahinter gut genug durchdringen, um zu erkennen, daß niemand dort stand. Der Wind hatte sich gelegt, und man hörte keinen einzigen Vogel, abgesehen von einem einsamen, krächzenden Eichelhäher. Nach zwei Minuten trat er ins Sonnenlicht hinaus, das ihm aber keine Wärme schenkte.
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Irgend etwas in diesem ordentlichen kleinen Häuschen war schrecklich. Long konnte es sehen, riechen und mit der Haut spüren. Ich bin kein Hellseher, sagte er bei sich. Ich bin kein Zauberwesen, sondern ein natürliches Wesen, gebunden nur von den Regeln der Natur. Er schüttelte sich wie ein Tier und trat einen weiteren Schritt vor. Sein ungutes Gefühl nahm zu. Weder Dudelsackpfeifen, noch Möwengeschrei: sondern ein wütendes Klagen. Es war eigentlich gar kein Laut, sondern, als ob sich plötzlich eine Wolke des Unglücks auf Long herabsenkte. Seine Knie wurden weich, und sein Magen verknotete sich. Er stolperte und fiel zu Boden. Als er eine Hand und ein weißbehostes Knie abstützte, spürte er, wie sein Gleichgewicht versagte und ihm entsetzlich schwindlig wurde. Wenn er heute gegessen hätte, er hätte sich übergeben. Wurde er vielleicht krank, fragte er sich, plötzlich und ernsthaft krank, überfallen von einer dieser zahlreichen Krankheiten, für die Menschen anfällig sind? Natürlich war er krank, lautete die Antwort. Er hatte eine Erkältung. Leute, die keine persönliche Stärke haben, ziehen sich Erkältungen zu, aber sie fallen deshalb nicht hin. Gewöhnliche Menschen bleiben nicht einmal von der Arbeit zu Hause, nur weil sie eine Erkältung haben. Gewöhnliche Menschen, die ein paar Jährchen leben und dann ohne Protest sterben, die nehmen solche Kleinigkeiten wie Grippe einfach hin. Warum waren sie dann so gewöhnlich?
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»Ich bin nicht krank!« sagte Long laut und stand wieder auf. Jetzt schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, und sein Gleichgewicht kehrte zurück. Er ignorierte seinen Körper, tat zwei weitere Schritte, und dann hörte er das Weinen. Er blickte zurück, doch es war nicht Marty. Marty saß auf einem Stamm und ließ verdrießlich den Kopf hängen. Pádraig hielt ihre Hand. Der arme Junge saß vor Schmerzen gekrümmt neben ihr und beobachtete Long. War Pádraig ein gewöhnlicher Mensch? Long machte ihm ein Zeichen mit der Hand, das unfreiwillig elegant ausfiel. Das Weinen drang aus dem Haus, verbunden mit diesen Wellen von Krankheit und Unglück. Mr. Longs Beine fühlten sich an wie Gummi, dennoch ging er weiter darauf zu. Da öffnete sich auf dem Balkon im zweiten Stock eine Tür. »Gehen Sie weg, sonst schieße ich!« Eine Frau. Long erkannte die Stimme, oder vermeinte zumindest die Hysterie dann wiederzuerkennen. Dann schob sich etwas Dunkles durch den Türspalt. Ein Gewehrlauf. Long sprang nach rechts, so daß die Tür selbst ihn verdeckte. Seine Knie fühlten sich nun steif an, und sein Körper eisig. Angst überrann ihn wie Wasser, doch es war keine Angst vor dem Gewehr. Er trat zitternd in den Hausschatten. Das Klagen dröhnte in seinen Ohren. Vielleicht war es sein eigenes. 317
Welches Gebet hatte Pádraig gemurmelt, als er den Berg herabkam, das Long so gleichgültig zurückgewiesen hatte? Das war sehr schlecht gehandelt gewesen, und es geschah ihm nur recht, wenn ihm die Worte jetzt nicht einfielen, wo er sie gern willkommen geheißen hätte. Auch andere Hilferufe fielen ihm nicht ein. Statt dessen sagte ihm eine innere Stimme, daß er jetzt hier sterben könnte, ohne je zu erfahren, um was es bei dieser Gewalttat eigentlich ging. Oder um was es überhaupt ging. Das Leben war eine lange Nacht gewesen und die Begegnung mit Martha nur der Beginn des Erwachens. Fünf Jahre. Fünf gute Jahre, seinen Maßstäben nach eine kurze Zeit, doch es reichte, um Erkenntnis zu gewinnen, falls ihm das überhaupt jemals gelänge. Die Übelkeit kehrte zurück, und Tränen wallten in seinen Augenwinkeln auf. Niemand kann einem Menschen beibringen, was er nicht ohnehin schon weiß, hatte Martha gesagt. Und in diesem Augenblick erkannte Long, daß in ihm eine ungeheure Leere herrschte. Mayland Long gelangte zur Tür und legte seine Hand auf die Klinke. Er roch den Gestank von Erbrochenem aus dem Hausinneren. Hier herrschte Verwirrung, Irrtum, Leere. Er spürte eine schändliche Verbundenheit und flehte – wie, das wußte er nicht –, daß er nicht hineinzugehen brauchte. Doch so kalt und krank, wie er sich fühlte, er war immer noch Mr. Long. Er verfolgte die eingefleischte Gewohnheit, Dinge zu Ende zu führen. Und trotz des Jammerns 318
und aller üblen Gerüche in seinem Innern war er immer noch neugierig. Er wollte erfahren, was hier vor sich ging. Er öffnete die Tür, und es herrschte Leere, keine Dunkelheit, sondern Leere. Vielleicht war er blind geworden. Long hörte, wie seine eigene Stimme so schrill wie eine Katze schrie. Wieder suchte er nach Pádraigs Gebet. Die Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form. Diese Worte drängten sich ihm auf. Er hörte sie mit einer Überraschung, die sein Gesicht verspannte. Es war das Prajna Paramita Sutra. Eine unbequeme Schrift. Nihilistisch hatte er immer gedacht. Es hatte ihn nie sonderlich berührt. Und das, was Form ist, ist Leere. Das war alles, was ihm einfiel, also flüsterte er die Worte in die leere Luft. Es war Mr. Longs höchstpersönliches trockenes, trostloses Gebet um Schutz. Da. Jetzt konnte er wieder sehen. Vielleicht hatten seine Augen nur Zeit zur Anpassung gebraucht. Das Licht löste sich zu einem Muster auf, einer Decke und einem Boden. Vertikale Linien formten sich zu Wänden und Ecken. Eine Diele. Sie war ziemlich leer, wie im Sutra behauptet, und gewiß hatte sie Form, denn die Sonne brach sich auf mexikanischen Fliesen. Und ganz leer war sie auch nicht, denn dort stand ein Tontopf mit einer Jadepflanze. Mr. Long blinzelte das kleine grüne Ding an (weder so dickfleischig noch so gesund, wie die Pflanze hätte sein müssen) und begann zu weinen, ohne zu wissen, warum. Er
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berührte die Pflanze und war leicht überrascht, daß er nicht dabei starb. Kein Tod sagte das Sutra, wie auch die Jadepflanze in dieser Diele. Der Gestank wurde stärker, und es war nicht alles eingebildet. Long legte einen Arm vor das Gesicht und versuchte, durch den Stoff seines Jackettärmels zu atmen. Dann merkte er, daß er auf den blauschwarzen Lauf eines Gewehrs starrte. Und auch keine Auslöschung durch den Tod… sagte das Sutra, damit er nicht übermütig würde. »Leg das Gewehr fort, Sandy«, sagte Long leise. »Ich bin lediglich Marthas Manager. Du kannst mich doch unmöglich umbringen wollen.« Der Arm der jungen Frau, die das Gewehr hielt, zitterte so heftig, daß der Lauf Kreise beschrieb. Ihre Hand am Abzug bebte. Sie spähte Long zwischen homgfarbenen, zerzausten Haarsträhnen an. »O Jesus, Sie sind's!« sagte sie, und die Gewehrmündung zerbrach beim Aufsetzen auf den Boden eine Fliese. Dann ließ sie das Gewehr ganz fallen. »O Jesus! O Scheiße! Ich bin so froh, daß Sie da sind! Ich habe alles versucht, aber ich kann es nicht!« Sandy setzte sich auf die kalten Fliesen und stützte den Kopf in die Hände. Ihr buntes Kleid hatte große Flecken und nasse Stellen. Es rutschte bis zur Mitte ihrer Schenkel hoch. Longs Mund zuckte. »Ich weiß nicht, ob ich dem zustimmen kann. Sie haben dem armen Pádraig ganz schön eine verpaßt.« 320
Verständnislos starrte sie ihn an. Dann flutete eine Welle des Abscheus über ihr Gesicht und über Longs ebenfalls. Erneut begann das Jammern. Long hob den Kopf und starrte auf die Wand neben ihm, denn aus dieser Richtung ertönte es. Es war keine Phantasie gewesen. »Pádraig? Pat? Nein, das war nicht Pat. Er… kam auf mich zu.« Sie machte eine verzweifelte Handbewegung auf Longs ausgestreckte Hand zu. Ihr Gesicht war so verzerrt wie das eines Säuglings. »Man hat mir gesagt, ich dürfte niemanden hereinlassen. Sie werden überall suchen, und ich habe solche Angst. Solche Angst. Hab' sie immer wieder im Stich gelassen. Und jetzt ist alles verdorben!« Alle Dharmas werden durch Leere gekennzeichnet. Sie tauchen nicht auf und verschwinden nicht. Sie sind weder befleckt noch rein. Long setzte sich neben die Frau. Er wollte ihr alles wiederholen: Alle Dharmas werden durch Leere gekennzeichnet. Weder befleckt noch rein. Er sah, wie sie sich auf den harten Fliesen vor und zurück wiegte und berührte ihren Kopf. »Nichts ist verdorben«, sagte er. »Weder Ereignisse, noch Äpfel, noch Leben. Besonders Leben verderben nicht, Miß Flager.« Sandy ballte zwei magere Fäuste und schüttelte den Kopf. »Sehen Sie sich das Kind an, und dann sagen Sie es noch einmal. O Jesus, ich kann das nicht!« Long runzelte die Stirn. »Das Kind? Marty?« Sandy starrte ihn mit Augen an, die grau und absolut rund waren. »Nicht Marty. Das Kind. Sie wissen doch.« 321
Sie deutete auf die Wand, auf das dahinterliegende Zimmer. Mr. Long stand auf und betrachtete diese Wand, während die Sonne, die schräg durch den Türspalt schien, seinen Hinterkopf wärmte. Spontan öffnete Long die Tür ganz, so daß Licht und Wind in den Gang drangen. »Gehen Sie jetzt hinaus«, sagte er zu Sandy und half ihr aufstehen. Sie kniff die Augen vor dem Licht zusammen und gehorchte ihm. Das schwarze Gewehr ließ sie auf dem Fliesenboden zurück. Long selbst ging allein durch die Diele ins Hausinnere. * Das Wohnzimmer war beleuchtet wie eine Kirche, denn die Jalousien waren zugezogen, und das einzige Licht drang durch den gotischen Bogen der sechs Meter hohen Glaswand. In diesem zentralen Raum waren die Wände sehr schön getäfelt. Long sah einen hellen Teppich, ein Stereogerät und einen Videorecorder in einem Eichenschrank in der Ecke. Es gab nur wenig Möbel aus echtem Holz und viele Kissen, die handgearbeitet waren. Es roch wie in einem Schlachthaus. Und in der Ecke gegenüber dem Eichenschrank befand sich, in schmutzige Decken gewickelt und auf ein handgesticktes Kissen gestützt, die dämonische Quelle von all dem Unglück und der Verwirrung, die an Mayland Long genagt hatten.
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Es war weiß und hatte eine gewölbte Stirn. Die Augen waren fast ebenso milchig wie die Haut, der Mund bläulich. Die Hände waren groß, und es hielt sie wie Paddel, die Finger seltsam abgespreizt. Es wiegte sich vor und zurück und schlug mit dem furchterregenden Kopf gegen die Wand. Es war ein Kind von etwa acht Jahren, und sein Gesicht war mit Exkrementen verschmiert. Als es Longs Gegenwart spürte, heulte es auf. Long stand neben dem Kind und wurde von den Ausdünstungen seines Elends gebeutelt. Er würgte an dem Gestank und hustete in ein Taschentuch. Da runzelte das Kind mitleidig die Stirn und rieb einen kotverschmierten Arm über die Nase, was alles noch schlimmer machte. Es würgte, wie Long draußen im Hof, und genau wie Long verlor es das Gleichgewicht und fiel auf das fleckige Kissen. Sein Atem klang geräuschvoll. Mr. Long war empfindlich. Er haßte Gerüche. Er verabscheute Häßlichkeit fast ebensosehr wie einen philosophischen Irrtum, vielleicht sogar noch mehr. Keine Augen, keine Ohren, keine Nase, keine Zunge… Es hörte sich an, als würde das Kind auf dem Boden ersticken. Da rollte Long die Ärmel auf, langte ihm unter die Arme und richtete es auf. Es umklammerte seine Ellbogen mit seinen Paddelhänden. Nur mit Mühe konnte er sich lösen. Kein Verstand… Das Wesen war ein Irrtum an sich, ohne eine Hoffnung auf Besserung. Longs Mund zog sich zu einer dünnen Linie zusammen. 323
Keine Frau mit Augen von Himmelsblau konnte dieses Kind aus seinem Alptraum erwecken. Es war ohne Hoffnung. Es war die Substanz der Hölle selbst, und es rief Mayland Long zu sich. Diese Leere und Verwirrung würde man niemals, niemals aus der unvollständigen Seele treiben. Hier saß, in sich selbst verschlossen, Selbsthaß. So war es vor Mr. Longs Geburt gewesen, und es würde ohne Zweifel so sein, wenn er und dieses arme, geschädigte, gefährliche Wesen starben. Es war Schmerz, der nicht ein für allemal beseitigt werden konnte. Doch vielleicht konnte man ihn beherrschen. Long erhob sich wieder und dachte nach. Vom Boden stiegen Angst und Wut auf, doch er achtete nicht darauf. Die Anfälle von Verwirrung konnten die Tatsache nicht überdecken, daß es einfach etwas zu tun gab. Das Dharma der Handlung. Er betrachtete das Bündel Leiden in seinen Decken und fegte jegliches Mitleid beiseite. Mr. Long zog sein Jackett und Hemd aus. Als er noch einen Blick auf das Wesen tat, streifte er die Hose ebenfalls ab, und dann bückte er sich und berührte es. »Gib mir deine Hand«, sagte er. Es schlug erschrocken mit den verschmierten Händen nach ihm. Long wandte das Gesicht ab. »Nein, so nicht«, sagte er nicht allzu sanft. Er schob die Hände unter den Körper und hob das kleine Wesen auf. Es war schrecklich dünn und zerbrechlich. Dann schlug er die Decken zurück. »Nun, mein Junge«, sagte Long und schaukelte das häßliche Ding genauso, wie er seine 324
strahlende Enkelin geschaukelt hätte. »Irgendwo müssen wir ja anfangen.« Der Junge reckte den blinden Kopf vor und schob ihn unter Longs Kinn. Er seufzte wie ein Kind seufzt und begann zu schniefen. Das schien ansteckend zu wirken, denn Mr. Long mußte husten. Und mit diesem Husten verschwanden all die kranken Einbildungen, die Leere und der Irrtum aus dem Raum, als hätten sie nie existiert. Verschwunden, verschwunden, völlig verschwunden, ohne eine Erinnerung. O Freiheit. Einen Moment lang dachte Long, der Junge sei tot, doch er schlief. Er verließ den Raum mit dem Kind in den Armen, auf der Suche nach Sandy und einer Badewanne. Marthas Geduld war erschöpft, nachdem sie zwanzig Minuten lang versucht hatte, den Wagen aus diesem verdammten Loch zu zwingen, ohne den Motor allzusehr aufjaulen zu lassen. Ihre Stimme war schrill geworden, fast so schrill wie Elizabeths. Doch dann kamen sie durch irgendeine Gnade frei, fuhren den schlechten Feldweg weiter und knüpften die Fetzen ihrer guten Manieren wieder zusammen. Hinter ihnen stieg eine undurchsichtige sandfarbene Wolke auf und verdeckte den Blick. Martha hatte zwar schon lange die Hoffnung aufgegeben, daß am Ende dieses Wegs etwas Hilfreiches auf sie wartete, doch sie mußte weiterfahren, denn der Lieferwagen war zu breit, um hier zu wenden. (Auf dem Rückweg würden die gleichen Schlaglöcher auf sie warten.) Elizabeth murmelte indes vor 325
sich hin und biß kleine Löcher in eine alte Parkquittung, die sie auf der Ablage gefunden hatte. Da erspähte Martha Gestalten auf dem Weg vor ihnen und versuchte zu bremsen. Der Lieferwagen brach hinten ein wenig aus, weil der Sand fast ebenso glatt war wie Schlamm. »Was ist das?« fragte sie ihre Tochter. »Ein Mann mit zwei Kindern«, antwortete Elizabeth ohne Interesse, »und …« Sie wollte nicht sagen, daß die andere Gestalt wie ein Affe aussah, doch ihr fiel nichts anderes ein. Sie ging geduckt und bewegte sich seitwärts und zögernd. Sie beugte sich vor. Dann erkannte Martha Longs Umriß, der wie ein König und Tänzer über die Straße ging, auf jedem Arm ein Kind. »Da ist er!« Marthas Stimme klang stolz und triumphierend, was sie selbst nicht ganz begriff. »Marty? Er hat Marty?« Elizabeth riß die Tür auf und beugte sich hinaus, obwohl der Wagen noch rollte. »Ja. Und sie trommelt wieder mit den Füßen gegen seine Rippen, wie gewöhnlich. Aber da ist noch ein Kind.« Sie hielt in wenigen Metern Abstand von der kleinen Prozession und sprang aus dem Wagen. Da war er, ihr Freund, Schüler, Geliebter, Manager. Lächelte sie so gelassen und fest an wie ein Felsen. Da war Marty, sehr müde. Und das andere… das war das Gesicht von Martys Krankheit: leer, blind und ohne Verstand. Sie sah den Jungen und nickte, als habe man ihr etwas erklärt. Und sie sah den armen, blutenden Pádraig . 326
* Auf der Ocean Street, nicht weit vom Highway entfernt, gab es ein Krankenhaus. Martha fuhr zuerst dorthin und blieb bei dem Verletzten, während Elizabeth den launischen Lieferwagen zum Hotel mühte. Mr. Long hatte zwar mehr Erfahrung mit dem Wagen, doch er wagte es nicht, den Arm des schlafenden Kindes von seinem Hals zu lösen. Auch Marty schlief, zu einem Ball zusammengerollt auf dem Sitz neben ihrer Mutter. Der Sicherheitsgurt war verdreht und schnitt in ihren Bauch ein, doch sie störte es nicht. »Ich frage mich, was wir ihm zu essen geben«, murmelte Long. »Hat er es dir nicht gesagt?« erwiderte Elizabeth. Sie blickte ihn im Spiegel an, und in ihren Augen lag ungeheurer Respekt. »Er hat… mir … eigentlich gar nichts gesagt. Ich bin nicht telepathisch, weißt du.« Sie schnaubte leise, aber nicht verächtlich. »Glaub mir. Ich kann ihm nur helfen, weil ich nicht übersensibel in bestimmten Dingen bin. Ich habe einen starken Rücken anstatt eines starken Verstandes, weißt du …« Er lachte belustigt über diesen müden Scherz, wurde dann aber wieder ernst. »Wenn er … kommuniziert, ist er schrecklich überzeugend, Elizabeth.«
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Rasch und besorgt wandte sie den Blick von der Straße ab und ihm zu. »Das glaube ich gern.« »Wir müssen die Polizei benachrichtigen«, fügte sie dann hinzu. Long wartete eine Weile, ehe er antwortete: »Das ist nicht so eilig.« * Beide trugen ein Bündel vom Parkplatz heran. Elizabeth Macnamara wirkte mit ihrem glücklicher und weniger nachdenklich, denn Martys Gesicht war sehr hübsch im Schlaf. Sie schob die unverschlossene Tür mit der Hüfte auf. Drinnen wartete Elen, allein. »Hallelujah!« flüsterte sie und klatschte leise über dem schlafenden Kind in die Hände. »Ich habe die ganze Zeit Jesus alle möglichen Versprechungen gemacht und war fast bereit, Schokolade aufzugeben! Haben Sie sie selbst gefunden? Oder hat unser findiger Manager ein weiteres Beispiel seiner Nützlichkeit erbracht?« Sie erspähte Longs Kopf durch den Türspalt. »Übrigens, der Großinquisitor war wieder da und hat Teddy mitgenommen. Ich habe noch nichts gehört!« Long trat hinter Elizabeth mit dem behinderten Kind ein. Vorsichtig schloß er die Tür mit einem Fuß und blickte Elen an.
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Ihre gestikulierenden Hände wurden schlaff, ihr strahlendes dunkles Gesicht kittfarben. Sie gab keinen Laut von sich. »Pádraig wurde angeschossen«, berichtete Long. »Er hätte bei dieser Sache sterben können.« Dann wandte er sich an Elizabeth, die ihr Baby aufs Bett gelegt hatte. »Hol mir Decken und Kissen, um ihn abzustützen. Wenn er flach liegt, kann er nicht atmen.« Elizabeth ging ohne zu zögern in Longs und dem anderen Zimmer von einem Bett zum anderen und sammelte alle Kissen ein. Es erschien ihr komisch, daß Elen Evans sich nicht rührte, um ihr zu helfen, sie war aber zu besorgt, um sich daran zu stören. Zusammen mit Long stützte sie die kleine Gestalt mit dem aufgedunsenen Kopf und den leeren Augen ab. Sie versuchte, seine Hand zu streicheln, zuckte aber ängstlich zusammen, als er sie fest umklammerte und nicht wieder loslassen wollte. Sie setzte sich, ganz gelassene Ruhe, neben ihn. Wartete. Hinter ihr sprachen Elen und Long miteinander. Sie konnte von hier unten kaum etwas verstehen, daher drehte sie sich halb und legte den Kopf auf den Arm, um sie sehen zu können. Der Anblick erstaunte sie, denn die manierierte, selbstbewußte Harfenistin hatte beide Hände klauenartig erhoben und schüttelte heftig den Kopf. »O nein, nicht Sandy! Nicht Sandy!« sagte sie gerade. »Dieses dämliche Gewehr mit dem Salz! Und nicht Pat!« »Sie traf ihn im Rücken und im Nacken. Er hat große Schmerzen und hat stark geblutet, doch zum Glück sind 329
seine Wirbelsäule und der Kopf unverletzt geblieben.« Er hätte die Angelegenheit ebensogut mit einer Fremden besprechen können, so kalt klang seine Stimme. Elen schüttelte immer noch den Kopf. »Sandy hat das getan?« »Es war Verwirrung«, bemerkte Long. »Angst und Verwirrung. Sie konnte Jude nicht ertragen.« »Jude?« Elizabeth rutschte mit der Hand, die sie hielt. Elen schrie wie ein Vogel. »Ertragen? Niemand kann ihn ertragen, ich am allerwenigsten!« Ihre Stimme brach. »Ich konnte ihn nicht einmal an dem Tag aushalten, als ich ihn zur Welt brachte, und ich schwöre, es ist immer schlimmer geworden.« Elizabeth starrte sie mit offenem Mund an. »Zur … Welt… brachte?« Sie blickte wiederholt zwischen dem unförmigen Kopf des Jungen und Elens Gesicht hin und her: dunkeläugig, schön wie ein Kind, oder wie Kinder sein sollten. »Er ist Ihrer? Ihr Sohn?« Elen zuckte bei diesem Wort zusammen. Dabei stieß sie gegen die Lampe auf dem Tisch, die klirrend zu Boden fiel. »Mein Kind und Georges. Gott verdamme ihn. Er wurde so geboren.« Sie starrte Elizabeth fest an und fügte hinzu: »Er heißt Jude.« »Judy, meinen Sie.« Elizabeth lehnte sich wieder zurück. »Judy«, bemerkte Long, »nach der Schutzpatronin der hoffnungslosen Fälle.« 330
Elen holte tief Luft und fuhr etwas ruhiger fort: »Ich habe ihm den Namen nicht gegeben, das waren die Schwestern im Heim. Ich habe ihm keinen Namen gegeben. Ich bin fortgerannt.« Sie stützte sich am Tisch ab und schloß die Augen. Elizabeth blickte verständnislos zwischen Long und Elen hin und her. Schließlich blieb der Blick auf der Frau hängen. »Warum kommen Sie nicht her, Elen. Wollen Sie ihn nicht anfassen? Er war sehr unglücklich.« Elen wandte den Kopf zum Fenster. »Kann ihn nicht anfassen. Wenn ich es tue, schreit er. Das war immer so.« Unvermittelt schlief Jude wieder ein. Es geschah ebenso rasch wie ein plötzlicher Tod, und seine Hand fiel von Elizabeths Arm. Zuerst war sie beunruhigt, doch sie merkte, daß er atmete, und stand auf. Elizabeth war keine neugierige Person und sich wohl bewußt, daß diese Angelegenheit sie nichts anging. Aber sie war eine Mutter und konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. »Lassen Sie mich noch einmal anfangen. Das ist das Kind, das vor ein paar Tagen aus dem Heim entführt wurde?« Elen nickte, mied aber Elizabeths Blick. »Und er ist Judy, der Marty in den letzten paar Tagen so beunruhigt hat.« Sie blickte automatisch auf die Tür zum Nebenzimmer: Martys Zimmer. Jetzt antwortete Long. »Ich finde keine andere Erklärung, Elizabeth.« Aber Elizabeth sah ihn nicht an. »Wissen Sie, daß er es war, der meiner Tochter das angetan hat?« Ihre Stimme wurde laut und wütend. 331
Elen blickte fort – in den Spiegel, dann zu Boden. »Ich vermute, daß Sandy sie am Freitag mitgenommen hat, ihn zu besuchen, als sie auf sie aufpaßte. Das war nicht sehr gut. Was versteht ein kleines Mädchen davon? Ich fürchtete, sie hätte ihn für einen häßlichen Zwerg gehalten, der sie holen würde. Er sieht so komisch aus. Aber es war anders. Marty ist so ein … so ein liebes Kind. Und als sie anfing, fortzulaufen, dachte ich … nun, was denken Sie, wie ich mich fühlte?« Elizabeths kantige Schultern senkten sich, weil ihre Wut zerrann. Sie dachte an ihre gesunde Tochter, die ebenso gut nicht so gesund hätte sein können. »Warum … warum haben Sie denn den Jungen aus dem Heim geholt, wenn Sie ihn nicht einmal anfassen können? Dort war er doch sicher glücklicher …?« Jetzt schaltete sich Longs tiefe Stimme ein. »Ich glaube nicht, daß es Elen war, die Judy aus dem Heim entführte, Elizabeth. Ich meine, es war George St. Ives.«
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Das dicke Ende Long streckte die Hände mit nach oben gerichteten Flächen in einer förmlichen, uralt wirkenden Geste vor. Seine ungewöhnlichen Finger bildeten eine Schale. Er sagte zu Elen: »Anders ergibt es keinen Sinn. Sie hatten nicht einmal etwas vorbereitet, wo er leben sollte …« »Nur bei der armen Sandy, die …« »So etwas nicht gut kann. Ich weiß. Ich habe mich nur gefragt, warum Sie Judy nicht wieder ins Heim gebracht haben, nachdem Sie herausfanden, daß George ihn hatte.« »George ihn hatte? Wen?« Das war Teddy. Er war leise hereingekommen und starrte nun auf die Szene. Seine keksbraune Stirn war gerunzelt. »George St. Ives hat ein Kind entführt? Dieses hier?« Der hochgewachsene Mann bückte sich neben Elizabeth zu dem Bett herunter. Sie hätten der Gestalt, dem Ausdruck und der Frisur nach Zwillinge sein können. Er stieß gegen ihre Schulter, doch sie schien es nicht zu bemerken. Elen saß an dem kleinen Tisch, das Gesicht von unten von der am Boden liegenden Lampe beleuchtet. Ihre Stubsnase wie auch ihre Brauen hatten entfernte Ähnlichkeit mit denjenigen des schlafenden Jungen. Ihre Harfenistennägel strichen abwesend über den Lampenfuß und den Filzbelag auf dessen Unterseite. »Ja, ja.« Dann blickte sie alle der Reihe nach mit halbgeschlossenen
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Augen an. »Ihr werdet alles hören. Alles über Judy und George. Es ist eine ziemliche Geschichte!« »Vielleicht solltest du warten, bis Martha und Pádraig kommen«, schlug Teddy vor, der plötzlich vor der Geschichte Angst bekam. »Ich sollte besser auf die Polizei warten«, antwortete sie langsam und während sie alle erstaunt anstarrten, hob sie den Telefonhörer ab und wählte die Nummer der Wache. Es war voll in dem kleinen Hotelzimmer, mit acht Erwachsenen und zwei Kindern, denn Martha und Pádraig waren kurz vor der Ankunft des müde wirkenden Detektivs Anderson und seines Assistenten aufgetaucht. Während der zwanzigminütigen Wartezeit hatte sich Elen Evans nicht einmal auf ihrem Platz am Tisch geregt. Niemand saß ihr gegenüber, obwohl Pádraig das wohl getan hätte, hätte er nur auf einem Stuhl sitzen können. Die Unterhaltung war verwirrt gewesen und erstarb, als die Polizei ankam. Das Fenster stand offen, und eine Abendbrise drang durch den Türspalt und ließ die Vorhänge flattern. »Ich war sechzehn, als ich schwanger wurde«, begann Elen und hielt den Blick auf den Filzfetzen gerichtet, den sie von dem Lampenfuß gekratzt hatte. »Es war in Oakland, in meinem ersten Collegejahr. Es geschah nach drei Tagen in Gesellschaft von George St. Ives. Sandy Flager hatte uns miteinander bekannt gemacht, wissen Sie. So geriet sie in die Sache hinein. Ihre … karmische Schuld. Ich war damals verrückt.«
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Niemand sagte ein Wort, wenn auch Teddy dicht davor schien. Er machte eine wortlose, wegwerfende Geste und grinste Elen an. Pádraig war völlig hinter dem massigen Rücken des Detektivs verschwunden. Vielleicht konnte er nicht folgen, nach all den Pillen, die man ihm verabreicht hatte »Ich stamme nicht aus einer Familie, in der man derartige … Originalitäten einfach übergeht. Als ich Weihnachten zurück nach Atlanta ging, gab es einen fabelhaften Krach, bei dem ich zusammengeschlagen wurde und fortging. Ich bin nie mehr nach Hause zurückgegangen. Ich wollte keine Abtreibung. Kann mich nicht mehr erinnern, welcher Grund von den vielen, die ich vorschob, für mich wichtig war. Wie auch immer, ich machte es jedenfalls nicht. Vielleicht nur, weil mein Vater das von mir verlangt hatte. Außerdem gibt es doch immer Leute, die sich nach einem süßen weißen Baby verzehren, dachte ich.« Der Filz löste sich bei ihren Worten in Streifen von der Lampe. Elen blickte nicht auf, und auch die anderen gaben keinen Laut von sich. »Ich hatte keine Abtreibung, aber ich ging auch nicht zur Vorsorge. War voller Ideen, daß Frauen schon lange Babys bekommen hatten, ehe sich die Ärzte einmischten. Paßt zur traditionellen Musik. Komische Haltung, nicht wahr? Außerdem war es mir höllisch peinlich. Daher habe ich nicht rechtzeitig herausgefunden, daß er … Tripper hatte. Ich selbst hatte keine Symptome. Jedenfalls keine, die ich nicht mit dieser komischen Schwangerschaft in 335
Verbindung gebracht habe. Das ist ein extraterrestrischer Lebenszustand.« Elen wiederholte das Wort: »Extraterrestrisch.« Sie verzog den Mund. »Sandy war bei der Geburt dabei. Meine beste, verschwiegenste Freundin. Die einzige, die es jemals erfuhr. Sie fühlte sich immer so schuldig, als könne sie etwas dafür, wie George nun einmal war. Und wie Jude war, oder ich. Die arme, arme Sandy.« Pádraig stöhnte, doch das war vielleicht Zufall. Sergeant Anderson warf einen interessierten Blick auf seinen bandagierten Torso. Er war überrascht, wie weiß die Haut des Jungen war, als hätte sie noch nie Sonne gesehen. »Ich konnte es von Anfang an nicht aushalten, dieses Baby. Und er konnte mich nicht ausstehen. Wenn ich unbeherrschter gewesen wäre …« Andersons Blick kehrte zu ihr zurück. »… ich hätte ihn gegen eine Wand geschleudert. Er schrie einfach nur, schiß und schrie. Wollte nicht saugen. Wir haben nicht gemerkt, daß er blind war. Und geschädigt.« Ihre leise Stimme brach. »Nach ein paar Tagen wurde alles schier unerträglich. Ich fuhr mit ihm … zu einem Adventistenheim und ließ ihn dort zurück. Habe einfach geklingelt. Es war wie aus einem Roman von Dickens.« Anderson gab einen leisen Laut von sich, als wärme er seine Stimmbänder zum Sprechen auf. »So war das aber nicht nötig, Miß Evans. Es ist völlig akzeptabel, ein Baby in ein Heim zu geben, wenn man damit nicht fertig wird.
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Auch ein Problemkind, ja vielleicht besonders in diesem Fall.« Elen blickte mit funkelnden Augen auf. »Ach, aber es ist so viel leichter, einfach zu klingeln und fortzulaufen, Sergeant. Dann ist es so, als sei alles gar nicht geschehen. Verstehen Sie? Ich war gerade erst siebzehn und hatte mit meiner Familie gebrochen. Hört sich das vielleicht wie die Geschichte eines Mädchens an, das alles auf sehr vernünftige und angemessene Weise regelt? Jedenfalls …« Elen riß noch einmal wütend an dem restlichen Filz, der sich endlich ganz ablöste. Sie besah mit halb zusammengekniffenen Augen den Haufen Unrat auf dem Tisch. »Wer hätte das gedacht? Diese Lampe ist voller toter Wanzen!« Alle sahen auf den Tisch, doch nur, weil es leichter war, als Elen anzublicken. »Damals war ich gerade siebzehn. Jetzt bin ich vierundzwanzig –« »Ich auch«, warf Pádraig zur allgemeinen Überraschung ein. »Ich dachte, Sie seien einundzwanzig«, murmelte Anderson über die Schulter. »Vierundzwanzig«, beharrte Pádraig und wirkte wie ein kleiner, geduckter Stier. Er starrte den Sergeanten finster an. »Und ich bin auch nicht der Pádraig ó Súilleabháin , für den die Leute mich halten. Ich bin mein Vetter. So, jetzt haben wir keine Geheimnisse mehr.«
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Mayland Long blickte Pádraig tadelnd an und machte eine Handbewegung zu Elen. Ein weiterer Blickwechsel mit Anderson besagte sehr deutlich, daß der Schock und die Medikamente manche Menschen auf sonderbare Weise beeinflussen. Elen hatte die Unterbrechung nicht bemerkt. »Wenn ich jetzt unvernünftig handle, ist das ganz anders. Ich lasse mich, hoffentlich, nicht mehr so leicht unterkriegen. Ich renne nicht mehr so schnell fort. Ich habe bezahlt…« »Handelt es sich um das Geld, das Jude jeden Monat in einem blauen Umschlag erhält?« fragte Anderson. Sie lächelte dünn. »Das hab' ich nicht gemeint. Doch, ja, Sie haben recht.« Er brummte zufrieden. »Daher vermuteten wir, daß der Junge von jemandem entführt wurde, der ihn will. Dieses Geld, das pünktlich jeden Monat eintraf.« Sie nickte, nun ein wenig lebhafter. »Die armen Schwestern. Vermutlich kümmern sie sich gut um ihn. Ich weiß, daß er nicht auf jeden so reagiert, wie auf mich…« Sie warf dem besorgt aussehenden Mr. Long einen versteckten, raschen Blick zu. »Mein … Sohn mag mich immer noch nicht. Das habe ich in diesen paar Tagen herausbekommen, und zwar überdeutlich.« Ihr Blick wanderte an Andersons Beinen vorbei zu Marthas Rock und zu der Stelle, wo Jude, gestützt von seinen Kissen und fast behaglich aussehend, schlief. »Aber warum um alles in der Welt sollte er mich mögen?« Man spürte die Spannung wortloser Zustimmung. 338
»Sandy war es, die George wieder ins Spiel brachte. Das ist wohl ihr Schicksal. Es war in San Francisco. Er erinnerte sich an sie und ihre Verbindung zu mir. Kaum zu glauben, denn es waren immerhin acht Jahre vergangen, bei seinem Wechselbad von Mädchen und Frauen … Und er sagte wohl etwas, was sie zu der Annahme verleitete, er wisse etwas über Jude. Irgend etwas über Verantwortung. Sie wußte nicht, daß er nur gerade auf seinem Trip ›Männliche Wechseljahre‹ war. Und so …« Elen holte tief Luft und blies die winzigen getrockneten Insektenleichen vom Tisch. »… ließ sie die Katze aus dem Sack. Als nächstes hört Sandy im Radio, daß ein Kind wie Jude entführt wurde, und sie ruft bei mir an, ob ich es war.« »St. Ives hatte also den Jungen entführt?« fragte Anderson sachlich. Elen versuchte ein Lächeln. »Ja. Es hatte mit seiner Suche nach Identität zu tun.« Sie warf einen entrückten, sehr kühlen Blick auf Ted Poznan, der sie ansah. »Er ging direkt nach dem Konzert am Freitag aus. Wir hatten gerade im Keller einen sehr heiklen Kampf um einen sehr unangenehmen musikalischen Streich ausgefochten, den er jemandem gespielt hatte.« Anderson zuckte zusammen. »Noch einer von diesen Streichen? Hat er es zugegeben?« »Nein … nicht richtig. Er sagte, es sei ein Versehen gewesen.« Anderson holte tief Luft, während seine Augen nachdenklich zuckten. »Hat er vielleicht zufällig dabei 339
erwähnt, daß er einen weiteren Streich … mit einer Tür und einem Kabel inszeniert hat?« Elen starrte ihn verständnislos an, doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit und die der anderen auf Pádraig ó Súilleabháin gelenkt, der die Hände an den Kopf gelegt hatte, sich hin und her wiegte und rief: »Oh, oh, oh!« – die perfekte Imitation einer verzweifelten alten Frau. »Was ist los, Mr. ó Súilleabháin ?« fragte Anderson mit bewundernswerter Zurückhaltung. »Wissen Sie etwas über einen dieser Scherze oder Unfälle?« Pádraig schnitt eine Reihe von Gesichtern, einige komisch, andere überwältigt, und einige nur für ihn selbst deutbar. »Cinnte! Natürlich, wenn ich bei einem der Leidtragende war und den anderen selbst verbrochen habe?« »Du?« Jetzt schaltete sich Martha ein. »Du hast diese Falle mit der Tür aufgestellt, die Mayland erwischte? Und hast mir glatt ins Gesicht gelogen?« Er wurde unter ihrem Blick zusehends kleiner, und seine verschwommenen blauen Augen blinzelten sie an. »Nun, ja und nein, Martha. Verurteile mich nicht zu schnell. Weißt du, ich wollte immer schon diesen Trick mit den Bolzen an der Tür ausprobieren, seit ich gehört hatte, daß jemand das mit einem Onkel in Watertown gemacht hatte. Aber man braucht ein großes Fenster und einen Abhang dahinter, alles in gerader Linie. Als ich dieses Theater sah mit der Rampe und dem dicken Betonblock … es schien, als habe der Himmel selbst alles inszeniert.«
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Long in seiner Ecke stöhnte auf. »Vielleicht schulde ich Don Stoughie eine Abbitte.« »Nein, auf keinen Fall!« schnappte Martha, erklärte es aber nicht weiter. Zu Pádraig sagte sie: »Wußtest du nicht, daß du jemanden mit dieser Schlinge unter der Tür umbringen konntest?« Jetzt sah Pádraig völlig unglücklich aus. »Es tut mir leid, Martha. Ich wußte es nicht. Ich wollte es ganz schlau anfangen. Ich habe das Kabel säuberlich angebracht, und dann stand ich davor und dachte: ›Du Esel, jeder wird merken, daß du es warst, denn in dieser Truppe kann niemand einen anständigen Knoten schlingen.‹ Daher hab' ich es Stück für Stück noch einmal gemacht, so schlecht wie ich es mir nur vorstellen konnte. Diese große Schlaufe in der Mitte war am schlimmsten, am wenigsten eines Seemanns würdig. Ich war richtig stolz auf die Idee. Aber ich hätte nie gedacht, daß das steife Kabel unter der Tür vorspringen könnte.« »Du hast Mayland damit unangenehme Verletzungen zugefügt und ihm eine Menge Schwierigkeiten eingebracht«, sagte Martha. Pádraig ließ den verletzten Kopf hängen. »Und du hast mich angelogen.« Long umfaßte Marthas Knöchel und flüsterte ihr etwas zu. Sie verstummte. Anderson kratzte sich am Kopf. »Also, Mr. Long, da haben wir endlich eine Erklärung für Ihren wilden Flug. Wollen Sie Anklage erheben?«
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»Nein«, antwortete Long. »Ich meine, diese sehr unwichtige Abschweifung ist nun erschöpft.« Elen spürte, wie sich der Raum wieder ihr zuwandte. Sie zuckte die Achseln. »Auch ich bin schuldig, Martha. Ich habe gelogen, als ich behauptete, ich hätte Pádraig den ganzen Morgen im Auge gehabt. Ich wußte über den Vorfall nur das, was du uns erzählt hattest, aber ich dachte, alles, was Pádraig unternimmt, um sich an George zu rächen, brauchte Unterstützung, auch wenn es albern war … Er hatte mir gerade verraten … George, meine ich …, daß er über Jude Bescheid wußte. Er stellte es so dar, als hätte ich ihn gerade erst geboren und verlassen, wie ein Huhn, das ein Ei legt und dann weitergeht. Er hingegen wollte die Vormundschaft beantragen. Könnt ihr euch irgendeine Behörde vorstellen, die ein mehrfach behindertes Kind einem mürrischen, schmutzigen Typen wie St. Ives überträgt? Ohne einen besseren Grund, daß er zufällig der Vater ist? Vermutlich merkte George, als er sich wieder beruhigt hatte, daß er wohl zuviel erwartete. Jedenfalls hat er sich gar nicht die Mühe gemacht, einen Antrag zu stellen, sondern schlug ein Fenster ein und trug den Jungen fort. Vermutlich fand er ihn aufgrund von Sandys Beschreibung, weil er ihn noch nie gesehen hatte. Das war schlecht, denn ein einziger Besuch bei ihm hätte ihn kuriert.« Elen schwankte nach vorn. Ihre schwarzen Augen, die völlig leer blickten, glänzten in dem blassen Gesicht auf. (So weiß wie Sullivans Rücken, dachte der Sergeant.) 342
Dann lehnte sie sich langsam wieder zurück, bis ihr Kopf die Wand berührte. Sie schloß die Augen, und er dachte, sie sei eingeschlafen, bis sie den Kopf wieder hob und gegen die Wand schlug. Wiederholt. Es war genauso, wie Long ihren Sohn in seinem Schmerz und seiner Verwirrung gesehen hatte, eingehüllt in kotverschmierte Decken. »Elen!« rief er laut, und Elen hörte auf. Jude jammerte im Schlaf auf. Andersons Füße tappten auf dem Teppich, und er schloß jeden der Anwesenden mit seinem nachdenklichen Blick ein. »Es tut mir leid, daß es so schwer ist, Miß Evans. Doch fahren Sie fort. Sie konnten herausfinden, wohin er den Jungen gebracht hatte ?« Sie schüttelte den Kopf, wie um ihn zu klären. »Er rief mich an und sagte es mir. Das war nach dem Konzert am Samstag. ›Mäuschen‹, sagte er, ›bring sofort deinen Arsch hierher!‹ Es stellte sich heraus, daß er eine Idee gehabt hatte … hatte ein mexikanisches Mädchen eingestellt, das auf Jude aufpassen sollte. Sie sprach nicht viel Englisch und er kein Wort Spanisch. Ich weiß nicht. Vielleicht schlief er auch mit ihr. Er meinte, sie wollten zurück nach Ottawa, ein kleines Haus finden, und dann hätte er eine fertige Familie, zu der er sich immer wieder zurückziehen konnte, wenn ihm danach zumute war. Wenn er nicht auf Tournee war. Was für ein rührendes Bild! Und wie unmöglich! Ich weiß nicht einmal, woher er das Geld nehmen wollte, um die Mexikanerin zu bezahlen …«
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»Er war ziemlich pleite«, sagte Martha bedauernd. Doch dann richtete sie sich kerzengerade auf. »Nein! Warte mal! Ich weiß, woher das Geld kam.« Sie ergriff Mayland am Ellbogen. »Mayland. Das fehlende Geld!« Sein Gesicht blieb ungerührt, und er starrte an Martha vorbei zu der traurig zusammengesackten Gestalt von Pádraig . Martha kniff die Augen zusammen, als er ihren Blick mied. »Du wußtest darüber Bescheid?« Wieder keine Antwort. »Was hörte ich gestern nebenan, als ich mit Elizabeth telefonierte … ?« Long seufzte. »Tut mir leid, Martha. Das ist etwas, über das ich nicht reden darf.« »Mr. Long …« begann Anderson geduldgeprüft. »Er hat dich zum Stillschweigen verpflichtet? Nein. Ich habe es gehört. Du hast ihm Stillschweigen versprochen. Und jetzt ist er tot, und es gibt für keinen von euch eine Schuldbegleichung. Stimmt das?« Martha stand auf. Sie wirkte angestrengt und besorgt. »Und wenn ich dir erzähle, wie es geschah?« Long wirkte verlegen. »Martha, du machst zuviel Aufhebens von …« »Er hat zugegeben, das Geld gestohlen zu haben und versprach, es zurückzuzahlen. Er sagte, er brauchte es für … für seine Familie. Stimmt's? Und du sagtest, du würdest es vorschießen an die gemeinsame Kasse und den Diebstahl in ein persönliches Darlehen von dir an ihn umwandeln. Stimmt's? Es sei besser, wenn niemand anderer aus der Gruppe es wisse.« 344
»Viel besser«, antwortete er mit einem Anflug von Wut. »Viel besser, wenn es niemand weiß. Es war unsere Angelegenheit, meine ich.« Martha setzte sich schwer atmend nieder. »Es tut mir leid, aber ich stimme dem nicht zu. Elen, erzählen Sie weiter.« Elen Evans blickte von Martha zu Long. »Genau das fehlt uns jetzt noch, daß ihr beide euch anfaucht.« Sie strich sich mit der gespreizten Hand über die Stirn. »Ihr wißt doch, wir alle brauchen eure wunderbare Romanze als die einzig perfekte Beziehung in dieser imperfekten Welt.« Sie wiederholte die letzten beiden Worte leise für sich. Anderson beugte sich vor und bedeutete ihr, weiterzureden. Elen runzelte nachdenklich die Stirn. »Als ich dort ankam …« »Wo, bitte?« fragte Anderson. »Er hatte den Jungen in das Sprays Hotel gebracht. Ist nur einen Block von hier. Vielleicht ist Marty deshalb …« Martha fluchte leise vor sich hin. »Samstag abend war sein wunderbarer Plan schon fast gescheitert. Judy. Er hatte seine Lady fast den ganzen Tag mit dem Jungen allein gelassen und wollte auch den Abend fortbleiben. Sie zurücklassen wie Topfflanzen auf dem Fensterbrett… Als er zurückkam, auf der Suche nach einem Nachmittag voller New Age-Harmonie, war Jude aufgebracht und seine Aufpasserin am Ende ihrer Nerven. Sergeant, der Junge ist hirngeschädigt, aber er hat doch Möglichkeiten, seine Bedürfnisse deutlich zu machen. Er konnte einen zum Selbstmord treiben, dieser Judy.« 345
Der Detektiv fragte nicht, wie Judy sich verhielt. »Und was genau war los? Hat die Unzufriedenheit mit dem Jungen George St. Ives in diese Richtung getrieben?« Elen riß die Augen auf. »So genau habe ich das nicht gemeint. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß das mexikanische Mädchen um halb acht aufstand und ging und George allein bei einem kindlichen Wutanfall mit explosivem Durchfall hinterließ. Er hoffte immer noch, er könne rechtzeitig für die Vorstellung wieder da sein, dann, daß er zu spät kommen würde, bis alles zuviel wurde und die Leute das Hotel verließen, weil es so stank. Der Besitzer hämmerte schon an die Tür … Mann, was für eine Szene!« Elen rieb sich die Augen mit gespreizten Fingern, eine Geste, die nichts mehr mit ihrer sonstigen Beherrschtheit zu tun hatte. »Als ich dort ankam, hatte George Judy gefesselt – mit dem Seil natürlich, das er auf seine Kidnapping-Exkursion mitgenommen hatte. Als der Junge nicht aufhörte zu schreien, fing George an, ihn zu schlagen. Da lag der Junge heulend und blindlings in die Luft schlagend, und George mit einem Gesicht wie ein Klotz, riß sich das Haar aus. Schönes Familienleben, meine ich. Doch in diesem Augenblick taten mir beide so leid, daß ich nicht wußte, wem es schlechter ging.« Elens Worte verebbten. Sie legte den Kopf auf die Hand. »Armes Schwein. Hat nicht viel gewollt. Eine gute Tournee und Musik machen, wie er wollte. Jemand … etwas eigenes.« Elen schob die Lampe beiseite und legte den Kopf auf die Stelle, wo die toten Insekten gelegen hatten. 346
Martha regte sich. »Er hat sich sein Leben ausgesucht, Elen. Jeden Augenblick. Nicht viele Menschen haben so viel Freiheit.« Anderson kratzte sich an der Nase, als wolle er sie erinnern, daß das Gesetz anwesend war. »Und er ließ Sie das Kind mitnehmen?« Sie nickte heftig. »Er war unendlich dankbar. In Wirklichkeit rannte er aus dem Zimmer und ließ mich mit Judy allein.« Sie lachte bitter auf. »Und das war nicht angenehm.« »Hat er das Seil zurückgelassen, Miß Evans? Oder hat er es mitgenommen?« Elen runzelte die Stirn und stöhnte. »Ich habe den ganzen Tag versucht, mich daran zu erinnern. Ich weiß allerdings nicht, warum er es hätte mitnehmen sollen.« »Und der Junge? Warum haben Sie ihn nicht einfach zurück ins Heim gebracht? In sein Zuhause?« Sie hob den Kopf. »Ich rief an, aber es meldete sich niemand. Da habe ich Sandy angerufen. Ich hatte das Gefühl, sie schulde mir etwas, was, das weiß ich jetzt nicht mehr. Sie sagte, sie würde ihn für den Rest der Nacht übernehmen, was nur noch ein paar Stunden bedeutete. Judy hatte auf Sandy nie schlimm reagiert, zumindest noch niemals vorher. Sie mochte ihn. Ist ihn oft besuchen gegangen. Bildete sich ein, sie verstünde sich mit ihm. Aber diese Nacht wurde für uns beide zur Hölle, und am nächsten Morgen … schwupps! Wir steckten mitten in einer Mordsache, und ich war die letzte, die das Opfer lebend gesehen hatte. Bis zum Hals steckten wir in schrecklichen Geheimnissen …« 347
»Sind wir denn so sicher, daß es ein Mord war?« fragte Anderson ausdruckslos. Alle Köpfe wandten sich ihm zu. Niemand sprach ein Wort. »Wir möchten natürlich gern das Hotelzimmer sehen, in dem sich alles abgespielt hat.« »Es ist auf der Front Street«, antwortete Elen. »Das ist dicht am Kai?« Sie nickte. »Ich bringe Sie hin.« Anderson nickte, als sei es selbstverständlich, daß Elen mit ihm gehen würde. Dann schürzte er die Lippen und schrieb etwas in sein kleines Notizbuch, das er aus der oberen Jackettasche zog. »In Ihren eigenen Worten, Miß Evans: In was für einer Stimmung befand sich Mr. St. Ives, als Sie ihn an diesem Abend verließen? War er bedrückt? Ich kann mir vorstellen, daß alle seine … mmh, Vorstellungen von Familie zerronnen waren?« »Einfach kaputt«, antwortete Elen. »Und ziemlich betrunken.« »Mmmmh.« Anderson schloß das Notizbuch mit einem Knall. Und stand auf. »Ich schlage vor, Miß Evans, wir schauen einmal kurz in dieses Hotelzimmer, und gehen dann auf die Wache und nehmen diese Geschichte ordentlich auf.« »Bin ich verhaftet?« fragte sie und blickte ihn unter halbgesenkten Lidern hervor an. Andersons Zauberbrauen schossen in die Höhe. »Wollen Sie das, Miß Evans? Wenn Sie mir erklären können, wie 348
Sie einen Mann, der viel größer war als Sie, zum Ende des Kais locken konnten, ihn dann überzeugten, seinen Kopf in eine Schlinge zu legen, die ihn ohnehin nicht halten würde, dann folge ich Ihrem Vorschlag höchst gern. Aber sonst…« Sein Blick fiel auf Pádraig, der sich gegen Martha lehnte. »Ehe ich gehe, Mr. ó Súilleabháin , würden Sie mir bitte erklären, warum Sie nicht Sie selbst sondern Ihr Vetter sind?« Martha trat einen Schritt auf ihn zu. Long zischte unmißverständlich. Pádraig winkte sie beide zum Schweigen. »Der Paß gehört meinem Vetter, der genauso heißt wie ich. Ich habe ihn benutzt, damit ich mich nicht um eine Arbeitserlaubnis bemühen mußte, die ich vermutlich nicht bekäme. Jetzt habe ich auch keine Geheimnisse mehr, und Sie können mich aus dem Land werfen, noch ehe meine Segelkurse anfangen.« Anderson legte seine Hand vor den Mund und strich sich über den Schnurrbart. Martha trat an ihm vorbei. »Nein, Pádraig . Es gibt andere Möglichkeiten. Du kannst doch eine Amerikanerin heiraten.« Pádraig zuckte zusammen und blickte zum Bett. »Treib keine solchen Scherze mit mir, Martha. Ich habe hier nur die Wahrheit erzählt.« Doch Marthas Gesicht wirkte entschlossen. »Aber du kannst eine Amerikanerin heiraten. Viele Frauen würden dich gern nehmen, ich zum Beispiel.« Pádraig blickte sie mit weiten, fassungslosen blauen Augen an. 349
»Martha!« brüllte Long und schnappte nach ihrem Ellbogen. Sein Gesicht war gänzlich dunkelrot. »Wie kannst du nur! Wie kannst du es wagen!« »Zum Teufel!« schrie Elizabeth, nicht weniger aufgebracht. Sie schüttelte ihn ab. »Eine absolut legale standesamtliche Ehe, eh? Mit keiner Religion im Spiel? Und wenn es nicht klappt, sagen wir, nach sechs Monaten…« »Das ist überhaupt keine Ehe«, antwortete Pádraig . Anderson beobachtete diese Szene ohne eine Miene zu verziehen, den Mund hinter der Hand verborgen. »Das wird mir zuviel«, sagte er in den Raum. »Das ist eine Bundesangelegenheit. Vielleicht auch eine kirchliche.« Er sprach lauter, um verstanden zu werden. »Mr. Sullivan, ich schlage vor, Sie regeln das mit Ihrem Paß, sobald es Ihnen möglich ist. Und heiraten Sie nur, wenn Sie sehr sicher sind. Vielleicht erst in zwanzig Jahren. Und, Mrs. Macnamara, werfen Sie sich nicht an einen Grünschnabel weg. Ich bin sicher, er wird Sie unglücklich machen.« Dann stand er auf und glättete ostentativ seinen Anzug. »So, Miß Evans, und wir beide fertigen nun eine wunderbare, zusammenhängende Aussage auf unserem neuen Textcomputer an. Dann geht es Ihnen bestimmt besser. Wir können den kleinen Jude unterwegs abliefern.« Er wandte sich zu dem Jungen und merkte, daß Long vor ihm stand. »Ich rate Ihnen höchst eindringlich, Sergeant, mir das zu überlassen. Oder rufen Sie das Heim an und 350
lassen jemanden schicken, der an ihn gewöhnt ist. Weder Judy noch Sie wären sehr froh, wenn er wieder in einem Auto fortfahren würde.« Anderson starrte leicht mißtrauisch auf den dunklen Mann vor ihm. »Sie scheinen sehr überzeugt zu sein, daß ich nicht mit ihm fertig werde. Oder sind einfach nur sehr von sich selbst überzeugt.« »Jude und ich kommen miteinander aus. Das hat nichts mit irgendwelchen Qualitäten meinerseits oder dem Mangel derselben Ihrerseits zu tun. Wir kommen miteinander aus. Und er … er hat eine Art, seine Unzufriedenheit zu verströmen … wie wir alle, natürlich.« »Was kreist…« begann Teddy. Elizabeth schoß ihm einen giftigen Blick zu. Anderson entging nichts von dem, doch seine Miene blieb neutral. »Dann machen wir es so, Mr. Long. Sie bringen den Jungen nach Hause. Aber, bitte, tun Sie es bald, denn er wird erwartet. Übrigens freue ich mich, Ihnen mitteilen zu können, daß Mr. Stoughie beschlossen hat, die Anklage gegen sie fallenzulassen.« Mayland Long riß überrascht seine sonnenfarbenen Augen auf und zeigte grinsend die weißen Zähne. »Das ist aber eine gute Nachricht. Warum?« »Ich habe keine Ahnung.« Martha lächelte still vor sich hin. Elen Evans erhob sich und fegte Filz und Insektenteilchen von ihrem Rock. Dann ging sie zur Tür. Als sie an 351
Pádraig vorbeikam, trat er neben sie, gebückt und ernst wie Quasimodo. »Viele Mädchen haben Babys«, flüsterte er ihr ein wenig zu laut ins Ohr. »Das heißt doch heutzutage gar nichts mehr.« Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu und schloß die Tür hinter sich. * Dan Scherer dachte daran, seine Uniform zu wechseln. Wieder blickte er zur Uhr. Dann schloß er mit sich einen Kompromiß, duschte und zog ein frisches Diensthemd an. Während der fünf Minuten, die er unter der Dusche verbrachte, war Anderson wieder hereingekommen. Scherer eilte hinter ihm her und fing ihn an der Tür ab. »Kann ich bleiben?« fragte er und wurde beim Klang seiner eigenen Worte verlegen. Der Sergeant zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte, Sie wären schon vor einer Stunde nach Hause gegangen, Dan«, sagte er. »Es gibt eigentlich keinen Grund für Sie, zu bleiben.« Scherer blieb stumm. Ihm fiel keine Entschuldigung ein, warum er bleiben könnte, dennoch wollte er nicht gehen. Schließlich fragte er: »Sie haben sie hier?« Der Sergeant nickte. »Wir haben sie beide, die Evans und die Flager.« »Dann … wird morgen alles vorbei sein, wenn ich …?« Jetzt senkte sich Andersons mobile Stirn. »Nach dem Bericht des Untersuchungsrichters … Ja, vermutlich gibt es 352
nicht mehr viel zu tun.« Seine Nasenflügel zuckten, und er seufzte. »Okay, Dan. Kommen Sie herein, aber bleiben Sie still.« * Als Long zurückkam, lag Pádraig flach auf dem Bauch auf Longs Bett. Die Augen des jungen Mannes standen offen, verrieten aber völlige Interesselosigkeit. Er fand Martha in Martys ehemaligem Zimmer, wo sie mit ihren alten, abgenutzten Koffern hantierte. »Bist du sicher, daß sie uns heute abend gehen lassen?« fragte er. »Wir können sofort gehen, mein Lieber. Das hat der Beamte jedenfalls am Telefon gesagt. Alles hängt jetzt von Pádraig ab.« Long blieb einen Moment stehen und legte sich dann mit im Nacken verschränkten Händen aufs Bett. Das letzte Tageslicht schob sich in Streifen durch die Jalousien. Waren es erst vierundzwanzig Stunden her, seit er an seinem kleinen Keyboard zum ersten und vermutlich einzigen Mal mit Macnamara's Band gespielt hatte? Und war es erst heute früh um neun gewesen, als die Sturmkrähe Anderson mit der Nachricht hereingekommen war, daß St. Ives tot sei? Oft waren seine Tage einfach verstrichen, ohne daß sich irgend etwas ereignete. Tage und Wochen. Aber nicht mehr, seit er mit Martha zusammen war.
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»Mir geht es viel besser«, sagte er schließlich und fügte hinzu: »Wer ist ›wir‹, die gehen dürfen, Martha?« Sie blickte auf. »Wer fortfahren kann? Alle außer Elen vermutlich. Vielleicht aber auch Elen. Das hat er nicht gesagt.« »Das müssen wir herausfinden.« Long rieb sich die Augen und räusperte sich versuchsweise. Kein Husten. »Darauf kannst du wetten!« Martha klappte energisch den Kofferdeckel zu. »Alles schmutzige Wäsche«, murmelte sie. »Schmutzig scheint sie immer mehr Platz einzunehmen.« Sie merkte, daß Long sie anstarrte, ignorierte ihn aber, bis er sagte: »Hättest du Pádraig wirklich geheiratet, Martha? Nur, damit er im Land bleiben kann?« Sie lachte lauthals heraus. »Klar, mein Schatz. Diese Segelkurse bedeuten so viel für ihn. Mehr als die Tournee. Außerdem wäre es strikt pro forma gewesen. Selbst die Kirche könnte nichts dagegen haben. Zumindest nicht allzuviel.« »Ich aber«, sagte er grimmig lächelnd. »Und zwar eine Menge.« Jetzt blickte sie ihn an. Er stach von der blaugrünen Bettdecke in seinem Hemd und der ebenholzdunklen Haut in scharfem Schwarzweiß ab. Er blickte träge, abgesehen von seinen überraschend hellen Augen. Wie ein Gußeisenbecken mit Feuer darin. »Du siehst heute abend anders aus«, sagte Martha und setzte sich neben ihn. »Komischerweise wirkst du
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glücklicher. Ein wenig unheimlich auch. Hast du endlich deine Haut abgeworfen?« Er ließ ihre Hand in seiner verschwinden. »Vielleicht. Vielleicht habe ich es aber auch endlich hinter mir gelassen, mich permanent für meine Unzulänglichkeit zu entschuldigen. Irgend etwas ist zwischen mir und Judy geschehen.« Martha stieß ein kurzes, fast rauhes Lachen aus. »Gesegnet seien alle Winde und der Regen!« Dann betrachtete sie weiter sein Gesicht. »Was hast du mit Judy angefangen, Mayland? Wie hat es geklappt?« Er öffnete den Mund, hielt aber dann inne, als wisse er nicht, was er sagen wollte. Dann grinste er mit blitzenden Zähnen. »Ich habe das Prajna Paramita Sutra für ihn aufgesagt.« Er küßte ihre Hand. Martha wandte den Blick ab, sah in den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand und wieder zu ihm. »Eine so kalte Schrift. ›Keine Augen, keine Ohren, keine Zunge …‹ Klar, es paßt auf ihn, aber es ist eine schwere Lektion für ein hirngeschädigtes Kind.« »Oder für einen älteren Mann im feinen Anzug.« Jetzt legte sie ihre verschränkten Hände vors Gesicht. »Würde es dir wirklich soviel ausmachen, wenn ich jemand anderen heiratete, auch wenn es nur auf dem Papier stünde?« »Ja, weil ich mich entschlossen habe, dich selbst zu heiraten. Und zwar nicht nur auf dem Papier. Komm, Martha, ich bin reich, und du weißt, daß jede schöne Frau durch die Tradition gehalten ist, einen reichen alten Mann 355
zu heiraten. Das kommt in einem halben Dutzend deiner Lieder vor.« Sie schmunzelte und küßte seine Finger. »Und ich rufe die Himmel zum Zeugen, daß ich von Natur aus treu bin und überdurchschnittlich gefällig. Du weißt genau, daß ich gefällig bin! Meine Gesundheit wird stündlich besser, und ich habe eine gewisse Fähigkeit, mit Kellnern umzugehen. Meinst du nicht, daß ich eine Menge zu bieten habe?« Pádraig, der gerade durch die Verbindungstür schlurfte, fand die beiden händchenhaltend vor. Er versuchte einen Rückzug. »A bhúacaill!« rief Long. »Pádraig, komm wieder«, sagte Martha. »Wir tun nichts, was der Priester nicht sehen dürfte.« Der junge Mann kehrte zurück, lehnte sich gegen den Türrahmen und kniff heftig die Augen zusammen. »Ich war unsicher. Ich wollte dir sagen, Martha, daß ich heute abend abreisen kann, falls du das meintest.« Martha drückte Long ein paar Mal unbewußt die Hand. »Willst du nach allem doch nicht auf Elen warten?« Sie wandte den Kopf und erklärte: »Ich fahre Pádraig zum Flughafen nach San Jose, entweder zum Nachtflug nach Boston oder morgen früh. Hängt davon ab, wie er sich fühlt.« »Ah…« Pádraig schienen die Kräfte zu schwinden. Long sprang auf wie eine Peitschenschnur und schob ihm einen Stuhl unter. Er legte beruhigend eine Hand auf die unverletzte Schulter des jungen Mannes. »Ich glaube nicht, 356
Martha. Ich glaube, es ist besser für sie, wenn ich nicht bleibe.« »Warum? Ich glaube, sie mag dich gern, Pádraig «, erwiderte Martha zögernd. Er zog ein schmerzverzerrtes Gesicht, das man nur ungern ansah. »Nenn mich Pat, ja? Pat Sullivan. So nennen sie mich im Hafen. Das andere war die Idee meiner Mutter und meiner Schwester Orla. Es war alles so albern.« »Was?« fragte Long, der im Schatten neben Pádraigs Stuhl stand. »Der Name? Die Tournee? Oder meinst du, wie du und Elen das Seil geknüpft habt?« »Mehr war nie zwischen uns!« Pádraigs Stimme klang zu laut. »Nur ein auf einem Parkplatz geknüpftes Seil.« Martha antwortete sehr leise: »Mehr hatten wir auch nicht gedacht, und außerdem wäre es uns egal. Ich … ich würde nur gerne das Gefühl haben, daß es etwas auf dieser Tournee gegeben hat, das du in guter Erinnerung behältst.« Pádraig richtete sich so gut er vermochte auf und blickte Martha an. Sie sah überrascht, daß seine blauen Augen vor Tränen glänzten. »Martha, es tut mir leid. Das habe ich nicht gemeint. Du warst großartig zu mir. Alle waren es eigentlich, außer George. Und der war ein solches Schwein, daß er nicht zählt.« »Geht es darum, daß Elen ein uneheliches Kind hat?« Martha bemühte sich, ihre Stimme sachlich klingen zu lassen. »Aber ich habe doch gesagt, das macht nichts, oder? Die Arme.« Die Tränen verschwanden und wurden durch einen besorgten Ausdruck abgelöst. »Nein, es ist etwas anderes, 357
und ich weiß nicht…« Wieder senkte er den Kopf. »Kannst du es für dich behalten, wenn ich es dir erzähle? Ich muß es jemandem sagen.« »Gewiß«, sagte Long rasch. Martha sah unglücklich aus, doch endlich nickte sie. »Also.« Mühsam richtete sich Pádraig auf. »Ich habe Elen gestern abend am Pier gesehen. Es war spät. Die Bars waren schon geschlossen. Ich bin sicher, daß sie es war. Sie saß in einem Auto, und die Freundin mit der Dauerwelle war bei ihr.« Martha und Long tauschten über seinen Kopf hinweg einen Blick aus. »Ich hatte meinen Pullover in der Bar vergessen, weil es dort so warm war, und als ich zu Fuß unterwegs war, merkte ich die Kälte. Ich dachte, vielleicht hat der Barkeeper ihn an die Tür gehängt. So macht man es in Ballyferriter. Ich ging also zurück.« Long fragte: »Aber mit ihr geredet haben Sie nicht?« Der junge Mann schüttelte den Kopf, zuckte aber wegen seiner Halswunden vor Schmerz zusammen. »Nein. Ich rede nicht gern mit Mädchen, wenn ich getrunken habe. Ist nicht gut, wenn sie es merken.« »Sie haben also nicht gesehen, was sie dort machten?« Pádraig brummte und schüttelte den Kopf nur wieder ansatzweise. »Nein, aber ich weiß, daß Elens Geschichte für die Polizei eine Lüge war. Wie soll ich ihr nur wieder unter die Augen treten und so tun, als wüßte ich nichts?« Er blickte erst Martha ins Gesicht, dann Long, als könnten sie es ihm verraten. 358
Martha seufzte. Sie schlug mit den Händen auf ihre Knie. »Aber das wissen wir bereits, Pádraig, daß Elen log.« »Es ist für uns alle sehr unangenehm«, fügte Long hinzu. * Es klopfte an der Tür hinter Pádraig, und Elen Evans trat ein. Die drei, die gerade über sie gesprochen hatten, blickten auf. Ihre Augen waren gerötet, und sie sah schrecklich aus. Das Haar stand wirr vom Kopf ab, sie schien halb eingeschlafen zu sein und starrte sie nur stumpf an. »Ich habe dich nicht kommen gehört«, sagte Martha. Elen gähnte. »Das liegt daran, daß ich ein einziges Mal nicht meinen Stimmschlüssel mit herumschleppe.« Dann schleuderte sie, wie um das zu beweisen, ihr Makrameenetz aufs Bett. »Kein Peng, Krach, Bum.« Sie schob sich zwischen Pádraig und der Wand hindurch und setzte sich auf die andere Seite des Betts. Dann blickte sie sich um. »Wo sind die anderen?« »Elizabeth ist mit Marty nach Hause gefahren«, antwortete Martha, »und Teddy hält nebenan ein Schläfchen.« Es dauerte lange, bis Elen diese Worte begriff. Schließlich fuhr ihr Kopf bestätigend hoch. »Ah, ja. Ich hatte gehofft, allen auf einmal die gute Nachricht überbringen zu können.
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Man hat mich nicht wegen Mordes verhaftet.« Sie schien das verlegene Schweigen nicht zu bemerken. »Niemand wurde wegen Mordes verhaftet.« Martha glättete ihren Rock über den Schenkeln. »Dann haben sie also beschlossen, es war Selbstmord?« »So gut wie …« Elen ließ sich aufs Bett zurückfallen. Ihr Kopf lag nun nur wenige Zentimeter von Marthas Knien entfernt. »Oh, du süße, heilige Harfe! Ich glaube, ich kann nie wieder schlafen.« In völligem Widerspruch zu dieser Bemerkung schloß sie die Augen und schien einzunicken. »Elen!« Jetzt mühte sich Pádraig von seinem Stuhl und taumelte zu ihr. »Elen, wach auf.« Er sah nach rechts und links. »Ich meine, wir sollten es ihr sagen. Wir müssen es ihr sagen.« Elen öffnete mißtrauisch die dunklen Augen. »Was willst du mir sagen, Pat? Ist es etwas Schlimmes? Soll ich wieder fortlaufen?« »Ziemlich schlimm, glaube ich.« Long trat neben Pádraig . Martha blieb neben Elen. »Ich habe dich gestern abend auf dem Pier gesehen«, sagte Pádraig . Die dunklen Augen blinkten nur ein einziges Mal. »Ja? Aber was genau hast du gesehen? Auf dem Pier? Willst du behaupten, du hast gesehen, wie ich George umbrachte?« Pádraig ballte die Hände im Schoß … »Ich sage nur, daß ich dich dort gesehen habe, und Sandy auch. Aber dem gardai hast du nichts davon gesagt.« 360
Elen sah so verwirrt aus, wie es nur ging. »Um wieviel Uhr war das?« Er zuckte die Schultern und stieß unfreiwillig einen leisen Schmerzenslaut aus. »Spät. Nachdem alle Bars geschlossen waren. Ich hatte keine Uhr dabei.« »Aber das hast du der Polizei nicht gesagt?« Ihre Augen blickten forschend. »Natürlich nicht, Elen. Ich mag dich, Elen. Und George … mochte ich kein bißchen.« Elen lachte kurz und rauh auf und blickte Long an. »Wie finden Sie das, Mayland? Glauben Sie, daß ich nun doch der geheime Mörder bin?« Long wandte sich ihr nicht zu. »Ich habe auch gewußt, daß Sie gelogen haben.« Elen zog ein Gesicht und wandte den Blick ab. »Wissen Sie, Elen, ich lausche auf die Sprache«, erklärte der dunkelhäutige Mann. »Die Sprache von Individuen wie die von Nationen. Sie sagten zum Detektiv, daß St. Ives Sie ›Mäuschen‹ nannte, als er Sie gestern abend anrief.« »Ja, das tat er auch«, antwortete Elen, die ihre Erschöpfung nun vergessen hatte. »So hat er mich viele Male genannt. Oder ›Baby‹ oder Schlimmeres.« Long nickte. »Ich bin sicher. Aber nicht gestern abend. Nicht während dieser Tournee. Nicht nüchtern und nicht betrunken oder unter dem Einfluß von Drogen. George hat es aufgegeben, Frauen solche Namen zu geben.« Jetzt wurde Elen deutlich wütend. »Wenn Sie denken, daß sich dieses Schwein irgendwie geändert hat, seit…« 361
Long fiel ihr ins Wort. »Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber sein Vokabular hat sich sicherlich verändert. Denn wir ändern uns, Elen. Und wenn nicht in großen Zügen, dann doch zumindest in Kleinigkeiten.« Martha fuhr sich durch ihre ungebändigte Frisur. »Ich stimme ihm zu. Aber ich glaube eher, weil es für einen alten Schürzenjäger keinen Sinn ergibt, drei von vier ›Mäuschen‹ zu beleidigen, die er kennenlernte. Ich habe ihn kein einziges Mal gehört, wie er jemanden aufdringlich anredete … nicht einmal die Teenies, die er sich immer vornahm.« »Er tat es, um mich zu beleidigen«, murmelte Elen. »Aber er wollte dich nicht beleidigen. Zumindest nicht in jenem Augenblick«, sagte Martha. »Er wollte Hilfe mit dem Baby. Doch ich habe einen anderen Grund, deine Geschichte anzuzweifeln«, fuhr sie dann fort. »Es geht um die Knoten. Besonders um den Lerchenkopf.« »Ein Segelknoten«, unterbrach Pádraig . »Aber ich habe ihn nicht geknüpft.« »Ja, das hattest du schon dem Sergeanten gesagt. Aber es ist nicht nur ein Segelknoten. Selbst ich weiß, wie man ihn schlägt, doch ich wußte nicht, wie er heißt. Man findet ihn bei Hängematten und Wandbehängen und …» Martha deutete mit einem rosa Zeigefinger auf Elens Netz. »Wer hat das gemacht, Elen? Du selbst?« Elen zog das Netz an sich. »Das weißt du doch.« »Und sind das nicht Lerchenköpfe, mit denen es an dem Holzgriff befestigt ist?« 362
Elen starrte sie an. »Bei meinem Leben, ich weiß nicht, wie diese Knoten alle heißen. Ich habe es nach einem Buch gemacht.« Diese Phrase hallte in Mr. Longs Gedanken nach: ›Bei meinem Leben‹. »Ist es nur das, was mich in deinen Augen schuldig macht, Martha? Daß ich einen Knoten knüpfen kann?« Martha holte tief und umständlich Luft. »Das und die Tatsache, daß George es nicht konnte.« »Was?« fragten Long und Pádraig gemeinsam. Sie schüttelte den ergrauten Kopf. »Nein. Wenn George St. Ives sich hätte erhängen wollen, hätte er es mit zwei Altweiberknoten gemacht. Und die hätten sich vermutlich gelöst.« Pádraigs Miene verdüsterte sich. »Aber er stammte vom Cap Breton, wo die Tradition …« »Wo die Tradition sich nur um Fischerboote dreht. Ich weiß. Aber ich kenne auch seine Tante, erinnert ihr euch?« Martha blickte von einem zum anderen. »George ist übrigens in Ottawa großgeworden, und zwar in der Wohnung seiner Tante und Großmutter. Und wie die meisten Musiker war er von seinen Flöten so besessen, daß er sich um nichts anderes kümmerte. Er hat nie etwas einfach aus Spaß gelernt, weder über Menschen, noch wie die Dinge funktionieren oder Sport oder Spiele … Ich kenne seine Tante, und was seine seemännische Vergangenheit angeht, da weiß ich zufällig, daß er das Schwanken einer großen Fähre nicht ertragen konnte, ganz
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zu schweigen von einem Dinghi. Seit seiner Kindheit war das so. Es war einfach alles schlecht für ihn.« Martha blickte düster. Dann folgten dreißig Sekunden Schweigen, während derer alle ins Leere starrten, außer Elen Evans, die von einem Gesicht zum anderen blickte, am längsten zu Pádraig . »Und keiner von euch … nicht einer, der über diese verdammten Sachen Bescheid wußte, verriet es auch nur mit einem Wort der Polizei, als ihr verhört wurdet?« Sie begann laut heraus zu lachen, doch Pádraigs verletzter Blick ließ sie wieder ernst werden. Martha schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit. »Ich habe Sergeant Anderson versprochen, ich würde herausfinden, was mit George geschehen ist. Und mein Versprechen nehme ich ernst. Ach Elen, meine liebe Elen …« Elen Evans blickte sie erschöpft an. »Gut, meine Mäuschen.« Sie seufzte. »Ich hatte gedacht, ich könnte es euch ersparen. Doch jetzt muß ich wohl mit der Wahrheit herausrücken.« Long, der die ganze Zeit gestanden hatte, hockte sich nun auf die Fersen. Pádraig lehnte sich gegen den Stuhl. Martha biß die Zähne aufeinander, blickte aber weiterhin durch das Fenster. »Also gut, George rief nach dem Konzert an, als ich gerade nach ihm suchen gehen wollte. Er kam mit dieser Idee von Verantwortung heraus und wie die mexikanische Kinderfrau ihn sitzengelassen hatte. Ich kann mich an seine 364
genauen Worte nicht erinnern, vielleicht klang es nicht ganz so furchtbar. Doch sein Ton war schlimm, überhaupt nicht bittend. Er sagte, er brauche Hilfe mit Judy. Sofort. Und es sei allein meine Verantwortung. George schien es für natürlicher zu halten, wenn eine Frau Scheiße aufwischt. Ich hingegen …« Elen fegte sich mit der langnageligen Hand das Haar aus dem Gesicht. »… sagte ihm, er solle mich am Arsch lecken. Ich legte auf. Ich dachte, das geschieht ihm recht. Immerhin kenne ich Judy! Doch dann dachte ich an den Jungen, und wenn es George auch recht geschah, war es nicht fair. Ich wollte bei dem Adventistenheim anrufen, aber … aber für den nächsten Tag stand ja noch Los Angeles auf unserem Programm.« Martha stöhnte leise auf. »Ich weiß, ich weiß. Aber zu diesem Zeitpunkt schien es wichtig. Ich ging also los, um Jude abzuholen und ihn selbst zurückzubringen. Ich fand das Zimmer ohne Schwierigkeiten, brauchte nur dem Geruch nachzugehen. Doch als ich dort ankam, war es, abgesehen von dem Chaos, leer.« Sie griff in die Tasche ihrer Armeehose und zog ein Taschentuch heraus, mit dem sie sich die Nase putzte. »Ich fragte mich, was ein alter Säufer mitten in der Nacht mit einem kranken, zurückgebliebenen Jungen anfing, der ein einziger Jammer in den Gedanken der Leute war und permanent Durchfall hatte. Hölle, dachte ich, er
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wohnte so nahe am Strand. Er wird den Jungen ins Meer werfen. Ich rannte also los und fand George, als er die leere Front Street überquerte, das arme, kranke, spastische Kind wie eine Raupe in Pádraigs Seil geschnürt. Meine Vermutung traf den Nagel auf den Kopf. Er wollte Jude in der Gischt den Rest geben. Wie kalt ist das im Juni? Vielleicht sechzehn Grad? Gestern habe ich doch die Dame gespielt, wißt ihr noch? Also wackelte ich auf meinen acht Zentimeter hohen Absätzen hinter ihnen her, stolperte ununterbrochen und knickte um, und er hörte mich und begann zu rennen. Er lief jetzt nicht zum Strand, sondern zum Pier. Vielleicht dachte er, ich hätte die Polizei gerufen und geriet in Panik … oder er hatte schon beschlossen … Oh, ich weiß es nicht. Ob ihr es glaubt oder nicht, ich habe ihn den ganzen Pier entlang verfolgt, an all den geschlossenen Läden und den stinkenden Fischständen und den dunklen Bars vorbei, und es war keine einzige Menschenseele unterwegs, außer uns und dem Mond. Und Jude kreischte! Ich wußte noch nicht, was er vorhatte, aber als wir ans Ende des Piers gelangten, hob er Judy über das Geländer, und ich merkte, er wollte ihn ins Wasser werfen. Ihn ersäufen. ›Das ist besser!‹ brüllte er immer wieder, als ich mich an ihn klammerte. ›So ist es besser und sauberen. Und: ›Ein Leben der Feigheit. Immer und immer wieder: ›Ein Leben 366
der Feigheit.‹« Elen holte tief Luft und hielt den Kopf zwischen den Händen. Unvermutet blickte sie Martha direkt an. »Weißt du, ich glaube, ohne Teddys Zauberpille wäre das nicht passiert. George war ein Ekel und krank, aber er war nicht verrückt! Ted kann sich jedenfalls glücklich schätzen, daß er nicht sitzt.« Martha fegte diese Bemerkung beiseite. »Wie hast du ihm Jude abnehmen können?« Elen ließ den Kopf wieder sinken. »Ich habe ihn geschlagen. George, meine ich. Ich habe ihm mit dem Stimmschlüssel hinten eins über den Kopf gezogen. Nicht sehr damenhaft. Und er fiel mit dem Kind gegen das Geländer. Jude ist doch noch fast hineingeflogen. Der arme Junge war vor Entsetzen außer sich.« Sie schauderte. »Und da lag George nun und sah Jude so ähnlich, beide so hoffnungslos … und mir wurde übel, furchtbar übel, und mein Herz raste … das lag an Jude. Ich hätte sie einfach beide hinüberzerren und ihnen ins Wasser folgen sollen. Dann hättet ihr am nächsten Morgen wirklich vor einem Rätsel gestanden.« Sie blickte Martha ernst an. »Dann bekam ich schreckliche Angst. Genau wie Jude. Kannst du begreifen, wie das war?« »Ja«, antwortete Long. »Ich saß da draußen auf den Planken in der Kälte und wollte nicht sterben. Aber ich wollte auch nicht, daß George in seinem Wahnsinn aufwachte und wieder auf mich losging. Ich hatte schreckliche Angst vor George, wie 367
er dort lag, genau wie Judy. Natürlich. Außerdem hätte er gewußt, daß ich es war, die ihn geschlagen hatte. Ich dachte, alles wäre besser, wenn er die Augen nicht mehr aufmachte …« Elen sah Longs Gesicht dicht vor ihrem. »Warum haben sie ihn denn nicht einfach hinabgestoßen?« fragte er, schlicht neugierig. »Das wäre doch viel leichter gewesen.« Elen nickte leer. »Das habe ich fast getan. Aber ich war wahnsinnig vor Angst. Wenn er in dem kalten Wasser nun wach wurde? Wenn er hinter mir herschwamm? Ich stellte mir vor, wie er am Anfang des Piers auf mich wartete, wie ein echter Geist, behangen mit tropfendem Tang, und mich mit diesem schweren Lumpen von einem Pullover umfing, der nach Salz und menschlichem Kot roch…? Den Gedanken konnte ich nicht ertragen. Ich nahm also das Seil, machte einen Knoten an einem Ende und eine Schlaufe am anderen und ließ ihn daran langsam herab. Ich habe mir meinen Rock um die Hände gewickelt, um sie zu schonen.« »Langsam?« Long furchte die Stirn. »Aber sein Hals war gebrochen. Er muß gefallen sein.« Mit Gewißheit schüttelte Elen den Kopf. »Nein, ich hätte ihn werfen sollen, mit einem Ruck, aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen. Außerdem traute ich dem Seil nicht.« Sie blickte sich flehend um und sagte noch einmal: »Ich war verrückt vor Angst. Ich sah ihn immer wieder aus den Wellen auftauchen und auf mich zukommen. 368
So habe ich es getan. Am Ende des Piers steht eine Telefonzelle. Ich rief Sandy an. Wieder die arme Sandy. Sie kam mit dem Wagen und holte uns ab. Wir haben dich überhaupt nicht gesehen, Pádraig, und es war ebenfalls ein Glück, daß wir Jude bereits im Auto hatten und die Fenster geschlossen waren, sonst hätten wir uns auch noch mit einem betrunkenen Akkordeonspieler abgeben müssen. Ich konnte an nichts denken, und Sandy wurde hysterisch, sobald sie Judy berührte. Furchtbar. Wir verstauten ihn im Auto und fuhren zu ihrem Haus.« Elen knirschte mit den Zähnen. »Es waren absolut unglückselige Tage für alle Beteiligten.« Pádraig schnalzte mit der Zunge wie eine alte Jungfer. »Du armes Wesen«, sagte er zu Elen. Sein Gesicht wirkte nun fast wie erwachsen. Long starrte mit schmalen Augen auf seine schräg gegeneinandergelehnten Finger. »Und der Detektiv hat davon nichts herausbekommen? Gar nichts?« Marthas Rücken sackte zu einem Halbkreis zusammen, und sie ballte die Hände im Schoß. »Ha!« Alle blickten bei diesem trockenen Ruf Elens auf. »Anderson hat alles herausbekommen.« Longs Augen blitzten. Pádraig runzelte die Stirn. Martha richtete sich auf und blickte dümmlich. »Er hat alles herausgefunden, nur nicht das mit dem ›Mäuschen‹. Er wußte, daß George kein Seemann war. Er kam auf mein Netz. Vor allem aber hatte er sich Sandy 369
geschnappt, der alles zuviel wurde. Jemand hatte den Schuß gehört, versteht ihr. Die arme Sandy.« Elen preßte mitfühlend die Lippen aufeinander und blickte dann wieder Pádraig an. »Sandy will herkommen und sich in Dankbarkeit und Reue vor dir auf die Knie werfen. Falls es dir nichts ausmacht. Es tut ihr furchtbar leid, daß sie mit dem Salz auf dich geschossen hat.« Pádraig blickte verlegen. »Ach, das war doch nicht der Rede wert.« Martha platzte heraus: »Ich verstehe das nicht! Wie kommt es, daß Anderson alles weiß und dich gehen läßt?« Elens Lächeln wurde dünnlippig. »Weil es kein Mord war. Und Selbstmord auch nicht.« Long knurrte: »Das Ganze wird immer mehr zu einem chinesischen Puzzle.« »Es war Totschlag. Ich habe ihn im Verlauf eines Kampfes getötet, wobei ich ihn davon abhielt, einen Mord zu begehen.« »Aber er war doch bereits bewußtlos, als du ihn umbrachtest«, bohrte Long. »Nein. Ich habe eine Leiche an den Pier von Santa Cruz gehängt.« Martha erhob sich so plötzlich, daß das Bett federte. Ihr Mund war zu einem großen O geformt, ihre Augen zu einem Paar kleineren. »Mit dem Stimmschlüssel. Als du ihn mit dem Stimmschlüssel geschlagen hast. So ist sein Hals gebrochen.« 370
»Genau.« Elen versuchte ein Lächeln, doch es endete mit einem Schauder. Sie blickte Martha mit einem Anflug ihrer alten Lebhaftigkeit an. Long dachte immer noch über die Informationen nach. »Aber… Sie wollten ihn doch umbringen, als Sie ihn an dem Seil herabließen. Sie hielten ihn für lebendig.« »Ja.« Die Lebhaftigkeit verschwand. »Aber die Absicht dazu allein ist noch kein Mord. Anderson sagte, man wird das gegen die Tatsache aufwiegen, daß ich seinen Mord an einem Kind verhindern wollte. Kann sein, daß man mich wegen Totschlags anklagt. Oder wegen etwas anderem. Aber …« Sie stand auf. » … nicht wegen Mord. Also … La!« Sie ging zur Tür. »Ich muß Teddy sagen, wie froh er sein kann, denn ich glaube, Anderson wußte, daß sein Freund Wolfie herkam, um ihn mit Drogen zu versorgen.« »Aber Teddy sagte, er nimmt keine Drogen«, protestierte Martha. »Und ich glaube ihm.« Elen nickte. »George aber. Ich glaube… und Anderson auch … daß George Teddy irgendwie zwang, ihn damit zu versorgen. Doch Anderson ist Gott sei Dank kein Drogenbulle. Und Teddy kann von Glück reden.« An der Tür wandte sie sich noch einmal um. »Küßchen, Küßchen«, flüsterte sie und ging. Pádraig drehte sich nachdenklich um. »Ná … Elen … Stürz nicht einfach so davon …« Und als er hinter ihr herstürzte, fiel sein Stuhl polternd gegen den Heizkörper.
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* »Doch«, sagte Martha zu Long. Sie waren jetzt allein in dem dunklen, ungemütlichen Zimmer, und er richtete verwirrt seine gelben Augen auf sie. »Was?« »Weißt du denn nicht mehr, was du sagtest? Kurz, ehe Pádraig hereinkam? Du hast deine Vorzüge für mich aufgelistet, mein Lieber. Einige sind wirklich unschätzbar. Dein Reichtum kann sehr nützlich sein, das garantiere ich dir. Er kann einem aber auch in die Quere kommen … Falls ich jünger wäre, würde er mir vermutlich mehr bedeuten. Deine Treue ist natürlich ein sehr großer Vorteil, und damit meine ich nicht, daß du nicht allen möglichen Frauen unter den Rock greifst. Ich meine damit deine intellektuelle Integrität. Und deine Beständigkeit.« Sie zählte diese Eigenschaften an den Fingern ab. »Was nun deine Gefälligkeit angeht… nun, die hatte, glaube ich, immer ihre Grenzen, denn du kannst so unnachgiebig wie eine Mauer sein, Mayland. Fast so hartnäckig wie ich. Weiterhin meine ich, daß ich nach dem heutigen Tag immer weniger von deiner Ergebenheit erfahren werde.« Im Lampenlicht wirkten ihre Augen, als sie ihn abschätzend betrachtete, himmelblau. »Du scheinst deine ›geistige Lehrerin‹ nicht mehr zu benötigen.« Er saß vor ihr in seinem gewohnten Sessel. »Es tut mir leid. Ich meine, es tut mir leid, dir so lange Schwierigkeiten bereitet zu haben. Ich sehe nun, wie 372
kompliziert alles dadurch wurde, indem ich dir alles überließ. Ich staune nur, daß du mich nicht einfach fortgescheucht hast.« Jetzt blickte sie erstaunt. »So dumm bin ich nicht. Außerdem wärest du schwer zu verscheuchen gewesen. Ach, warte nur, bis sich dir begeisterte Anhänger an die Fersen heften. Und das wird geschehen, mein Liebling.« Sie nickte ruckartig und kreuzte die Beine züchtig über den Knöcheln. »Ich glaube jedoch, ein Grund, warum ich dich heiraten möchte, sind die Kellner, ich hasse es zu kochen, und ein wenig wegen deiner umwerfenden Männlichkeit…« Mayland Long erhob sich, schnappte nach Luft, hustete und warf die Tischlampe zum zweiten Mal um, als er nach Martha griff. Dieses Mal zerbrach sie. In der darauffolgenden Dunkelheit bemühte sich Martha, ihren Satz zu Ende zu sprechen: »Aber … mmh. Ich glaube, am besten an dir finde ich, wie du dich kleidest…«
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