Das neue Abenteuer 425
Joseph Conrad: Der schwarze Steuermann
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Illus...
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Das neue Abenteuer 425
Joseph Conrad: Der schwarze Steuermann
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Illustrationen von Werner Ruhner © Verlag Neues Leben, Berlin 1982 Lizenz-Nr. 303 (305/76/82) LSV 7324 Umschlag: Werner Ruhner Typografie: Walter Leipold Schrift: 9p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 643 402 3 DDR 0,25 M
Man schrieb die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Damals war London eine Stadt mit mehr schönen
Schiffen im Hafen als schönen Häusern in den Straßen. Am Jetty, London Dock, lagen sie eins hinter dem andern, und die Sapphire, das drittletzte, machte sich so gut wie die übrigen, weder besser noch schlechter. Natürlich hatte jedes seinen Ersten Offizier. Der Polizist bei den Schleusen kannte sie alle vom Ansehen, obwohl er nicht, ohne zu überlegen, sagen konnte, welcher Mann auf welches Schiff gehörte, weil ja die Steuerleute des London Dock wie die Mehrzahl ihrer Kollegen von der Handelsflotte überhaupt so manches miteinander gemein hatten, obwohl sie aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten kamen. Sie waren ein unromantischer, kräftiger, ausdauernder Schlag - Menschen, die hart arbeiten konnten, denen ihr Beruf seinen Stempel aufgedrückt hatte und die im übrigen keine besonders stark ausgeprägten individuellen Züge aufwiesen. Das galt für jeden mit Ausnahme des Steuermanns der Sapphire. Bei ihm gab es für die Polizisten nie einen Zweifel. Er hatte seine unverwechselbaren persönlichen Merkmale. Ihn erkannten sie auf der Straße schon aus großer Ferne, und wenn er morgens die Pier hinunter zu seinem Schiff schritt und die Hafenarbeiter ihre Kisten karrten und die Ballen einer Ladung rollten, machten sie sich gegenseitig aufmerksam: "Seht mal, da kommt der schwarze Steuermann." Diesen Namen hatten sie ihm gegeben: denn sie waren respektlose Gesellen, ohne Achtung vor seiner würdevollen Haltung; aber daß sie ihn so nannten, verriet nur, wie oberflächlich sie urteilten, indem sie sich von einem sehr
flüchtigen Eindruck leiten ließen. Natürlich war Mister Bunter, der Steuermann der Sapp hire, keineswegs schwarz, ebensowenig wie Sie oder ich, sondern weiß wie die anderen Ersten Steuerleute im Londoner Hafen. Er hatte einen zarten Teint, bräunte schwer, und mir ist zu Ohren gekommen, daß der arme Kerl gerade eine einmonatige Krankheit überstanden hatte, als er an Bord der Sapphire kam. Sie vermuten, daß ich Bunter kannte? Selbstverständlich habe ich ihn gekannt. Darüber hinaus erfuhr ich manches Wissenswerte, zum Beispiel ein Geheimnis, das - doch davon später. Zurück zur Person. Ein Oberstauer, der in meiner Anwesenheit bemerkte: "Könnte wetten, daß er irgend so ein Ausländer ist", stellte sich nach meiner Meinung ein großes Armutszeugnis aus. Schließlich kann einer schwarzhaarig sein, ohne gleich Italiener zu sein. Ich erinnere mich an einen Bootsmann, der spanischer als jeder mir bekannte Spanier aussah. Er schien ein typischer Spanier zu sein und war doch keiner. Anerkannte Autoritäten erklären uns, diese Erde werde irgendwann einmal ausschließlich von dunkelhaarigen, braunäugigen Leuten bevölkert sein, und heute schon ist die Menschheit in ihrer übergroßen Mehrheit dunkelhaarig. Jedoch bei Licht betrachtet, handelt es sich um verschiedene Nuancen. Nur wenn man mal einem wirklich Ebenholzschwarzen begegnet, wird einem klar, wie wenig Vertreter dieses Typs es gibt. Bunter hatte absolut schwarzes Haar. Es war schwarz wie ein Rabenflügel. Ebenso sein gestutzter Vollbart und seine kräftigen buschigen Brauen. Die stahlblauen Augen, die bei einem Blonden kaum aufgefallen wären, standen in einem schreienden
Kontrast zu seiner sonstigen Erscheinung. Seinem Äußeren nach hätte man Bunter für einen höchst leidenschaftlichen Menschen halten können, wären seine Bewegungen nicht so ruhig, seine Lebensart nicht so nüchtern gewesen. Natürlich war er kein Jüngling mehr, jedoch groß, dabei ziemlich schlank, und wenn die Redewendung, jemand habe sich gut gehalten, keine Phrase ist, dann traf sie voll auf ihn zu. Einmal beobachtete Captain Ashton vom Schnellsegler Elsinore, der vor der Sapphire lag, wie Bunter unermüdlich schuftete, und der Kapitän sagte zu einem Freund: "Der Johns hat da jemanden, der bei ihm klar Schiff macht." Captain Johns, Herr der Sapphire, war seit vielen Jahren Schiffsführer. Die Leute kannten ihn, ohne ihn sonderlich zu achten oder zu mögen. Seine Kollegen schnitten oder foppten ihn. Beim Hänseln tat sich besonders Ashton hervor, ein Zyniker und Spötter ohnegleichen. Einmal leistete er sich den üblen Scherz, zu behaupten, Johns sei der Meinung, jeder Seemann über vierzig sollte vergiftet werden - ausgenommen nur die Schiffsherren. Das geschah in einem Restaurant in der City. Dort saßen sie beim gemeinsamen Mittagessen: Captain Ashton, das blühende Leben, jovial, mit großer weißer Weste, im Knopfloch eine gelbe Rose; Captain Seilers im Sakko, schmal, bleich, mit eisengrauem, hinter die Ohren gestriegeltem Haar - wäre er dazu noch Brillenträger gewesen, hätte man ihn für einen asketischen, sanftmütigen Buchgelehrten halten können -; Captain Hell, untersetzt wie ein Seehund, mit behaarten Fingern, einem leichten blauen Anzug, den schwarzen Filzhut hatte er weit aus der roten Stirn geschoben; und da war auch ein junger Schiffsführer mit einem kleinen blonden Schnurrbart und ernsten Au-
gen. Er sagte nichts und lächelte nur von Zeit zu Zeit schwach vor sich hin. Captain Johns hob erschrocken den verwirrten, ungläubigen Blick, der ihn sowenig wie seine niedrige, von Querfalten durchzogene Stirn besonders intelligent erscheinen ließ, zumal sein leicht spitz zulaufender kahler Schädel den ungünstigen Eindruck in keiner Weise milderte.
Das allgemeine Gelächter, das folgte, wirkte ansteckend auf Captain Johns, und er verzog das Gesicht zu einer säuerlichen Miene. Die Herren könnten gut witzeln, meinte er, aber es sei nun mal so, seitdem ein Schiff aus Rentabilitätsgründen seiner Besatzung sowohl bei der Fahrt als auch im Hafen größte Kräfte abverlange, sei die See tatsächlich kein Tummelplatz für ältere Menschen. Nur junge Leute und Männer in der Blüte ihrer Jahre genügten noch den harten Anforderungen, der Hast und
der schweren Arbeit. Wer erste Anzeichen des Alterns erkennen lasse, sei zu nichts mehr nütze. Fast jede große Firma verfahre nach diesem Prinzip. Er jedenfalls wünsche sich keine Greise an Bord seines Schiffes. Tatsächlich war Captain Johns nicht der einzige, der so dachte. Es gab viele Seeleute, deren ganze Schuld darin bestand, grau zu werden, und die sich auf der zermürbenden Suche nach einer Stelle die Sohlen ihres letzten Paars Stiefel durchliefen. Captain Johns fügte mit Unschuldsmiene hinzu, von der Meinung, die er vertrete, bis zu der Absicht, Menschen zu vergiften, sei es wohl ein riesengroßer Schritt. Diese Bemerkung schien einen Schlußpunkt zu setzen, doch Captain Ashton wollte seinen Spaß auf die Spitze treiben. "O doch, ich glaube, Sie würden es tun. Sie haben sehr deutlich gesagt: ,Zu nichts nütze.' Was macht man denn mit Menschen, die zu nichts nütze sind? Sie sind ein gutherziger Bursche, Johns. Trotzdem bin ich der Ansicht, wenn Sie es einmal gründlich durchdenken, werden Sie zugeben, daß man die Nichtsnutze in einem schmerzlosen Verfahren beseitigen sollte." "Sie in Geister verwandeln", bemerkte Captain Seilers spitz, und seine schmalen, verkniffenen Lippen zuckten. Bei der Erwähnung von Geistern fuhr Captain Johns verwirrt zusammen. Er duckte sich unsicher und scheu. Captain Ashton zwinkerte. "Ja, und dann hätten Sie vielleicht Gelegenheit, zum Reich der Gespenster Verbindung aufzunehmen. Natürlich sollten die Geister der toten Seeleute nicht an Bord spuken, aber dieser oder jener würde bestimmt gern einen alten Kameraden aufsuchen." Captain Seilers bemerkte trocken: "Erwecken Sie nicht seine Hoffnungen. Das ist grausam. Es wird keine Verbin-
dung geben. Niemand hat je einen Geist gesehen. Das weiß Johns so gut wie ich." Es war mehr, als Captain Johns vertragen konnte, eine unerhörte Herausforderung, die ihn aus der Reserve lockte. In seinen leeren kleinen Augen blitzte es fanatisch auf. Ohne zu zögern, brachte er zahlreiche verbürgte Gespenstergeschichten vor. Bücher über Bücher berichteten von so vielen Fällen, daß es ein Zeugnis großer Ignoranz sei, das Auftreten übernatürlicher Erscheinungen zu leugnen. Es gebe eine spezielle Zeitschrift, die Monat für Monat neue Beispiele veröffentliche. Professor Cranks sehe täglich Gespenster, und Professor Cranks sei nicht irgendwer, sondern eine Kapazität, einer der größten lebenden Wissenschaftler. Und dann wäre da ein Journalist - wie heiße er doch gleich -, den der Geist eines Mädchens besucht habe. Er schreibe darüber in seinem Blatt und berichte, was sie zu ihm gesagt habe. Angesichts all dessen zu behaupten, es existierten keine Geister! "Man hat sogar schon einige fotografiert!" rief Captain Johns entrüstet aus. "Welche Beweise verlangen Sie da noch?" Captain Hell schürzte die Lippen. Jetzt protestiert Captain Ashton: "Nun lassen Sie ihn doch um Himmels willen endlich in Frieden. Übrigens, Johns, wer ist der behaarte Pirat, der neuerdings als Steuermann bei Ihnen arbeitet? Niemand im Hafen scheint ihn schon mal gesehen zu haben." Der Themenwechsel besänftigte den Kapitän, und er antwortete einfach, Willy, der Tabakhändler an der Ecke Fenchurch Street, habe ihn vermittelt. Willy, sein Laden und das Haus, in dem er sich befand, sind nicht mehr. Damals aber versorgte der Mann mit der
sorgenvollen, zerstreuten Miene und dem bläßlichen Gesicht viele Schiffe, die den Londoner Hafen verließen, um nach Süden zu fahren. Zu bestimmten Tageszeiten drängten sich die Kapitäne im Geschäft. Sie saßen auf Fässern oder lehnten gegen den Ladentisch. So mancher junge Mann schloß dort die erste Heuer seines Lebens ab. Nur weil er in einem günstigen Augenblick hereingekommen war, um für wenige Pence Feinschnitt zu kaufen, fand er die Stelle, die er dringend brauchte. Sogar der Verkäufer, der bei Willy arbeitete, ein unbeteiligt wirkender schwächlicher junger Rotkopf, reichte manchmal außer Zigaretten eine wertvolle Information über den Ladentisch. "Die Bellona", raunte er einem zu, ohne die Lippen zu bewegen, "South Dock. Zweiter Offizier gesucht. Wenn Sie sich beeilen, schaffen Sie's vielleicht noch." Und dann flog man förmlich hin. "Ach, Willy hat ihn geschickt", sagte Captain Ashton. "Eine auffällige Erscheinung. Wenn man dem eine rote Schärpe um die Hüften und ein rotes Tuch um den Kopf binden würde, sähe er wie ein Pirat aus, und man könnte meinen, daß er darauf versessen ist, Männer kaltzumachen und Frauen zu rauben. Geben Sie acht, Johns, daß er Ihnen nicht die Kehle durchschneidet und sich mit der Sapphire davonmacht Auf welchem Schiff ist er zuletzt gefahren?" Captain Johns hob wie gewöhnlich gutgläubig den Blick und bemerkte friedfertig, der Mann habe bessere Zeiten erlebt. Sein Name sei Bunter. "Vor ein paar Jahren führte er die Samaria aus Liverpool. Er verlor sie im Indischen Ozean. Daraufhin wurde ihm für zwölf Monate die Erlaubnis entzogen. Seitdem hat ihm niemand wieder ein Schiff anvertraut. Zuletzt ist er im Westhandel gefahren."
"So, darum kennt ihn kein Mensch", stellte Captain Ashton abschließend fest, als sie vom Tisch aufstanden. Nach dem Essen ging Captain Johns zum Dock. Er war klein von Gestalt und leicht O-beinig. Mit seinem Äußeren erregte er im allgemeinen kein großes Aufsehen, aber seine Auftraggeber hatten ihn offenbar ins Herz geschlossen. Er genoß den Ruf, ein unbequemer Schiffsführer zu sein, ein pedantischer Kleinigkeitskrämer, der an allem etwas auszusetzen hatte und ständig herumnörgelte.
Er gehörte nicht zu der Sorte, die einen Streit austrägt und vergißt. Immer mußte er in weinerlichem Ton häßliche Dinge sagen. Ein Mann also, der einem Untergebenen das Leben zur Hölle machen konnte, wenn er ihn einmal auf dem Kieker hatte. Gegen Abend besuchte ich Bunter an Bord. Ich verstand seine Ansichten über die bevorstehende Fahrt. Er war in sich gekehrt, aber jemand, der ein Geheimnis mit sich
herumträgt, ist wahrscheinlich nie überschwenglich, und es gab andere Gründe, weshalb er keinen rechten Elan zeigte. Überhaupt war er seit geraumer Zeit nicht ganz auf dem Posten. Außerdem - doch davon später. Captain Johns war am Nachmittag an Bord gewesen und um seinen Ersten Steuermann herumgestrichen. Es hatte Bunter sehr aufgebracht. "Was hat er sich nur dabei gedacht?" fragte er ruhig, aber empört. "Man könnte meinen, er verdächtigt mich, etwas gestohlen zu haben, und will herausbekommen, in welcher Tasche es versteckt ist. Oder glaubt er, ich war ein Teufel und hätte einen Schwanz? Vielleicht möchte er sehen, wie ich ihn verberge? Ich kann es nicht ausstehen, wenn man sich von hinten heranpirscht und dann plötzlich unter dem Ellenbogen hervorspäht. Was soll das? Ein neuartiges Katz-und-Maus-Spiel? Ich finde es gar nicht lustig. Schließlich bin ich kein kleines Kind, das sich freut, wenn jemand ,Kuckuck' sagt." Ich versicherte ihm, falls irgendwer seinem Kapitän einreden sollte, daß er, Bunter, Bockshuf und Schwanz habe, würde es Johns unbedingt für bare Münze nehmen und nichts unversucht lassen, um die Behauptung bestätigt zu finden. Er war unerhört argwöhnisch und dabei leichtgläubig, würde alle Schmarren glauben, jedem Menschen jede Gemeinheit zutrauen und gründlich nachsinnen, wie er in schäbigster Weise die niederträchtigsten Anwürfe übertrumpfen könnte. Bunter erzählte mir auch, der gemeine Kerl sei mit seinen krummen Beinen durchs ganze Schiff gewackelt, habe ihn zu seinem Rundgang mitgenommen und ihm dabei über tausend Nichtigkeiten die Ohren vollgeheult. Wie ein elendes Insekt, wie ein Kakerlak, nur nicht so flink, sei er
von Deck zu Deck gezogen. Entrüstet brachte der sonst beherrschte Bunter seine Empörung zum Ausdruck. Dann fuhr er mit seiner üblichen Zurückhaltung fort, wobei die gerunzelten pechschwarzen Augenbrauen seiner majestätischen Miene eine finstere Note verliehen: "Außerdem ist der Kerl verrückt. Er wollte sich ein bißchen anbiedern. Da fiel ihm nichts Besseres ein als mich groß anzusehen und zu fragen, ob ich an Verständigungsmöglichkeiten nach dem Tode glaube. Verständigungsmöglichkeiten nach dem Tode! Zuerst wußte ich gar nicht, wie er das meinte und was ich sagen sollte. ,Ein durchaus ernst zu nehmender Gegenstand, Mister Bunter, ich habe mich gründlich damit befaßt', sagte er." Hätte Johns an Land gelebt oder zwischen den Fahrten mehr Freiheit genossen, wäre er unweigerlich ein Opfer der gehässigen Umwelt geworden. Zu seinem Glück wohnte er in Lytonstone mit einer zehn Jahre älteren Schwester, einem schrecklichen Mannweib, das doppelt so schwer wie er selbst war und vor dem er zitterte. Nach allem, was man hörte, tyrannisierte sie ihn fürchterlich. Über seine spiritistischen Marotten hatte sie ihre eigenen Auffassungen. Diese Schwäche war in den Augen der Schwester "einfach satanisch". Einmal sollte sie erklärt haben, "den Narren mit Gottes Hilfe" daran hindern zu wollen, "sich dem Teufel zu verschreiben". Hätte sie ihn gewähren lassen, wäre ohne Zweifel nichts unversucht geblieben, mit den Geistern der Toten in persönliche Verbindung zu treten. Doch sie war unerbittlich. Es wurde sogar erzählt, wenn er nach London fuhr, müßte er über jeden Penny und jede Stunde Rechenschaft ablegen. Außerdem verwaltete
sie sein Sparbuch. Bunter hatte eine stürmische Jugend hinter sich, konnte sich jedoch auf gute Verbindungen berufen, stammte aus angesehenem Hause, und irgendwo in den heimatlichen Grafschaften gab es ein Familiengrab. Er war entrüstet, vielleicht wegen der toten Vorfahren. Seine stahlblauen Augen blitzten wild im schwarzbärtigen Gesicht. Er beeindruckte mich. Grenzenlose Leidenschaft lag in seiner unheilvollen Lässigkeit. "Die Vermessenheit dieses Burschen! In Verbindung treten wollen zu . So ein schäbiger kleiner Schuft! Unverschämt aufdringliches Biest! Er und in Verbindung treten! Was soll's! Eine neue Art von Snobismus? Oder was?" Ich lachte offen über diese originelle Einschätzung des Spiritismus oder wie immer man den Geisterwahn benennen mag. Sogar Bunter mußte lächeln, aber es war ein herbes Lächeln, das rasch verschwand. Natürlich konnte man von einem Menschen in seiner nahezu tragischen Lage keine Heiterkeit erwarten. Er war wirklich beunruhigt, aber bereit, während der Fahrt jeden schmutzigen Trick hinzunehmen. Jemand, der einem Mann wie Johns auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, durfte sich keine allzu große Rücksicht erhoffen. Ein Unglück ist ein Unglück, und irgendwann geht es zu Ende. Aber sich den ganzen Weg bis Calcutta und zurück durch abgeschmackte, fade und schale Geistergeschichten langweilen zu lassen, das waren trübe Aussichten. Unerträglich, entsetzlich! Der arme Kerl! Noch ahnten wir beide nicht, daß er schon bald . Leider konnte ich ihn nicht trösten. Ich war selbst ziemlich erschrocken.
Und noch etwas ärgerte Bunter im Lauf dieses Tages. Kam da doch unter irgendeinem Vorwand ein zudringlicher Dockmeister an Bord. Tatsächlich wollte er nur seine Neugier befriedigen. Zumindest glaubte das Bunter, den der lästige Besuch sehr ärgerte. Nachdem der Kerl mehr oder weniger versteckt auf den Busch geklopft hatte, sagte er: "Ich kann mir nicht helfen, Herr Steuermann, mir scheint, daß wir uns schon einmal begegnet sind. Wenn ich Ihren Namen höre, weiß ich vielleicht ." Bunter - und das ist begreiflich, da er ein Geheimnis zu hüten hatte - zuckte zusammen. Es war ja nicht auszuschließen, daß sie sich wirklich irgendwo getroffen hatten. Dann war es sein Pech, daß der andere ein so gutes Gedächtnis hatte. Er selbst erinnerte sich natürlich nicht an jeden Hafenarbeiter, der ihm irgendwo über den Weg gelaufen war. Bunter setzte seine finsterste Miene auf, wodurch er dank seinem eindrucksvollen Bart abschreckend wirkte, und entgegnete dreist: "Mein Name ist Bunter, mein Herr. Stillt das Ihre Wißbegier? Seien Sie unbesorgt, ich frage Sie nicht, wie Sie heißen. Es interessiert mich nicht. Es ist mir völlig egal, Sir. Ein Individuum, das mir gelassen ins Gesicht sagt, es sei sich nicht sicher, ob wir uns kennen, ist entweder unverschämt oder nicht besser als ein Wurm, Sir. Jawohl, ein Wurm - ein elender Wurm!" Der wackere Bunter! Das war die richtige Taktik. Jedes Wort ein Keulenschlag. Er jagte den aufdringlichen Burschen von Bord. Doch die Unverschämtheit des Fremden kannte keine Grenzen. Er floh stumm vor dem Zorn des Steuermanns, grinste nur geringschätzig, aber kaum hatte er die Pier gewonnen, drehte er sich um und starrte dro-
hend zurück. Er stand dort reglos wie ein Ankermast, und seine Augen waren unbeweglich wie Kajütenluken. Was sollte Bunter tun? Angesichts dieser peinlichen Situation konnte er nicht einfach den Kopf in den Brotkasten stecken. Also stellte er sich hinter der Besantakelage auf und erwiderte den Blick. So standen sie einander gegenüber, und ich weiß nicht, wem von beiden zuerst schwindelig geworden wäre. Da der Mann draußen jedoch keine Stütze fand, erlahmte er eher als Bunter, winkte ab und trollte sich, ein Zeichen, daß er sich geschlagen gab. Bunter sagte mir, er sei froh, daß die Sapphire, "jenes Kleinod unter den Schiffen", wie er sich ausdrückte, am nächsten Tag in See stechen sollte. Er hatte genug vom Hafen, und mir schien seine Ungeduld begreiflich. Er lechzte nach einer handfesten Arbeit, aber obwohl er auf mancherlei gefaßt war, ist heute doch klar, daß er das ungewöhnliche Abenteuer, das er während der Fahrt bestehen sollte, keinesfalls erwartete, und sonderbarerweise erlebte er es ausgerechnet im Indischen Ozean, jenem Teil der Welt, in dem der arme Kerl das Schiff verloren hatte und unglücklich geworden war. Die Gewissensqualen, die ihn seither verfolgten, waren bei einem charakterfesten Menschen wie Bunter zweifellos echt. Dennoch kann niemand leugnen, daß - unter uns gesagt und ohne die geringste Absicht, zynisch zu werden - auch im edelsten Gemüt die Furcht vor der Entdeckung einen nicht unerheblichen Bestandteil der Reue bildet. Ich äußerte mich Bunter gegenüber nicht so deutlich, aber da er das leidige Thema immer wieder berührte, sagte ich ihm wenigstens, daß mancher ehrenwerte Mann, bei Licht besehen, Dreck am Stecken habe,
und seine eigene Schuld stehe ihm gewiß nicht auf der Stirn geschrieben, so daß er sich folglich nicht zu sorgen brauche. Er entgegnete, das sei ein etwas tröstlicher Gedanke, und da ihm bis zum Ablegen noch rund zwölf Stunden verblieben, ging er an Land, um den letzten Abend bei seiner Frau zu verbringen, ehe er sich für viele Monate von ihr trennen mußte. Trotz seines ungestümen Temperaments führte er eine glückliche Ehe. Er hatte eine Lady geheiratet, eine vollendete Dame, zudem eine liebenswerte kleine Frau, deren Mut ich nicht genug bewundern kann, denn ich weiß ja, welche Zeiten sie durchmachen mußte. Tag für Tag, immer wieder aufs neue, bewies sie eine eherne, unerschütterliche Standhaftigkeit, deren nur eine Frau von der rechten Sorte fähig ist - eine Frau, die nie verzagt, würde ich sagen. So schwer wie diesmal war dem schwarzen Steuermann in all den zurückliegenden Unglücksjahren nie ein Abschied gefallen. Sie aber blieb stark, und ihre sanfte Miene verriet weniger Schmerz als das Piratengesicht ihres würdevollen schwarzhaarigen Gatten. Vielleicht hatte sie ein ruhigeres Gewissen. Natürlich kannte er keinerlei Geheimnisse vor ihr, doch auf der Suche nach guten, brauchbaren Entschuldigungsgründen ist eine Frau erfinderischer als ein Mann, besonders wenn ihr die Person, der sie dienen soll, sehr nahesteht Sie hatten vereinbart, ihn nicht zum Hafen zu begleiten. "Es wundert mich, daß du mich überhaupt noch ansehen kannst", sagte er, und sie lachte nicht. Bunter war sehr einfühlsam. Sein Lebewohl kam ziemlich unvermittelt. Er ging pünktlich an Bord und hinterließ einen nachhaltigen Eindruck bei dem Hafenlotsen, der die
Ausfahrt der Sapphire leitete. Der Mann mit dem schäbigen Strohhut gab sich betont höflich vor dem vornehmen Offizier, und der Seelotse, der das "Kleinod der Schiffe" bis zur Straße von Dover begleitete, erzählte später, unter Freunden, der alte Johns habe da einen Ersten Steuermann, der viel zu gut für ihn sei. "Bunter heißt er. Möchte wissen, wo er herkommt. Habe ihn in der ganzen Zeit, seit ich ein- und ausfahre, auf keinem Schiff gesehen. So eine Erscheinung vergißt man nicht. Unmöglich. Außerdem ein verdammt guter Seemann. Wird Johns schön zu schaffen machen, den alten Esel in Furcht und Schrecken versetzen. Der sieht nämlich gar nicht aus wie jemand, der sich an der Nase herumführen läßt, und es gibt wohl nichts, was der alte Johns mehr fürchtet als einen ihm überlegenen Menschen." Da es mir hier in erster Linie um die Geschichte eines Spukerlebnisses geht - um das Erscheinen eines Geistes, der zwar nicht Captain Johns persönlich, wohl aber sein Schiff besuchte -, will ich mich im übrigen künftig so kurz wie möglich fassen. Es war eine gewöhnliche Fahrt, eine gewöhnliche Besatzung, gewöhnliches Wetter. Die gelassene, besonnene Art des schwarzen Steuermanns, seine Arbeit zu verrichten, prägte das gesamte Leben an Bord. Alles verlief ruhig. Selbst bei Sturm geriet niemand in Panik. Nur einmal hatte jeder an Bord volle vierundzwanzig Stunden lang alle Hände voll zu tun. Das war vor der afrikanischen Küste, als das Kap der Guten Hoffnung hinter ihnen lag. Während der Sturm seinen Höhepunkt erreichte, nahmen sie mehrere schwere Seen über, zwar ohne ernstere Folgen, aber mit einem erheblichen Verlust an zerbrechlichem Material in der Speisekammer und den
Kajüten. Mister Bunter, dem die Besatzung so respektvoll begegnete, sah sich hilflos dem niederträchtigen Wüten der Naturgewalten gegenüber. Wie ein brutaler Einbrecher sprengte das Wasser seine Tür, trug beim Zurückweichen mehrere nützliche Gegenstände ins Meer hinaus und durchtränkte die übrigen völlig. Später am Tage legte sich die Sapphire so arg auf die Seite, daß die beiden Schubfächer unter Bunters Schlafkoje herausfielen und ihr gesamter Inhalt umherflog. Natürlich hätten sie verschlossen sein müssen. Mister Bunter konnte von Glück sagen, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein, da er versäumt hatte, den Schlüssel umzudrehen, bevor er an Deck gegangen war, aber seine Bestürzung kannte keine Grenzen. Der Proviantmeister, der die überflutete Kammer aufwischte, hörte ihn entsetzt ausrufen: "Hallo!" Da tat ihm bei der eigenen Arbeit der vom Mißgeschick verfolgte Bunter leid. Captain Johns lachte sich heimlich ins Fäustchen, als er alles erfuhr. Er fürchtete sich tatsächlich, wie der Seelotse vorausgesagt hatte, und aus dem vermuteten Grunde. Er hätte es daher gern gesehen, wenn der Schwarze irgendwie von seiner Gnade abhängig gewesen wäre, aber Bunter ließ sich nichts zuschulden kommen. Er war nahezu fehlerfrei. Das ärgerte Johns sehr. Gleichzeitig aber gratulierte er sich zu einem so tüchtigen Ersten Steuermann. Er gab sich große Mühe, gut mit ihm auszukommen, nach dem Grundsatz: Je enger du mit einem Menschen befreundet bist, desto leichter kannst du ihn bei einem Fehltritt ertappen. Außerdem brauchte er jemanden, der ihm zuhörte, wenn er mit klangloser Stimme von Offenbarungen oder Erscheinungen sprach und seine Geister- oder
sonstigen albernen Spukgeschichten erzählte. Sie lagen ihm immer auf der Zunge, und er spann sein Garn in der ihm eigenen nichtigen Weise. "Ich liebe es, meine Offiziere zu unterhalten", pflegte er zu sagen. "Manche Schiffsführer kriegen von Beginn bis Ende der Fahrt den Mund nicht auf. Sie meinen, es fiele ihnen ein Stein aus der Krone. Was ist schon das bißchen Stellung, das ein Mann bekleidet!" Am meisten gefürchtet war seine Geselligkeit während der zweiten Hundewache, denn er gehörte zu jenen, die gegen Abend lebendig wurden, und der diensthabende Offizier fand keine Entschuldigung, die Poop zu verlassen, wenn Captain Johns plötzlich erschien und sich heranschlängelte. Dem armen Bunter, der auf und ab schritt, schleuderte er irgendeine Bemerkung an den Kopf, zum Beispiel: "Geister, männliche wie weibliche, zeigen im allgemeinen große Spitzfindigkeit. Stimmt's?" "Ich weiß nicht", murmelte Bunter. "Ja, weil Sie nicht wollen. Sie sind höchst voreingenommen, der starrköpfigste Mann, den ich je gesehen habe, Mister Bunter. Ich sagte Ihnen schon, daß Sie jedes Buch aus meinem Schrank haben können. Sie brauchen nur in meine Kajüte zu gehen, um sich irgendeinen Band zu nehmen." Wenn Bunter protestierte, er wäre zu müde vom Dienst, als daß er noch Lust zum Lesen hätte, dann grinste Captain Johns häßlich hinter seinem Rücken und bemerkte, natürlich brauchten einige Leute besonders viel Schlaf, um fit für die Arbeit zu bleiben. Falls Mister Bunter fürchtete, während des Nachtdienstes nicht richtig wachen zu können, sei das freilich etwas anderes.
Einmal sagte der Kapitän mit einem Seufzer: "Aber ich glaube, neulich haben Sie sich vom Zweiten Steuermann einen Schundroman ausgeliehen, irgend so einen Schmöker voller Lügen. Vermutlich fehlt Ihnen das Interesse an geistigen Dingen, Mister Bunter. Ja, ich fürchte, so wird es sein." Manchmal erschien er mitten in der Nacht an Deck. Dann sah er grotesk aus mit seinen krummen Beinen und dem Schlafanzug. Bei diesem Anblick rang der gehetzte Bunter verstohlen die Hände, und die Stirn wurde ihm feucht, während Captain Johns müde vor dem Kompaßhäuschen stand, sich widerlich kratzte und nach gewisser Zeit todsicher die eine oder andere Seite seines einzigen Gesprächsthemas anschnitt. Beispielsweise ließ er sich darüber aus, welche Verbesserung der Moral von allgemeinen und engen Beziehungen zu den Seelen der Verschiedenen zu erwarten wäre. Die Geister, so meinte Captain Johns, würden sich sicher bereit finden, freundschaftlich mit den Lebenden zu verkehren, sofern es der großen Masse der Menschheit nicht am Glauben fehlte. Er selbst hätte auch keine Lust zum Umgang mit einer Menge, die seine Existenz leugnen würde. Warum sollte ein Geist anders denken? Das wäre wohl zuviel verlangt. Er stand noch am Kompaßhäuschen und atmete schwer beim Versuch, sich zwischen den Schulterblättern zu kratzen. Dann erklärte er streng: "Sir, Ungläubigkeit ist das Übel unserer Zeit." Seine Zunge klang belegt und schläfrig, und er behauptete, nackte Torheit hindere die Leute daran, die Beweise eines Professors Cranks, eines fähigen Journalisten und sogar von Fotos anzuerkennen. Captain Johns glaubte fest, daß gewisse Geister fotogra-
fiert worden waren. Er hatte es in den Zeitungen gelesen, und da er den Dingen unkritisch gegenüberstand, faszinierte ihn der Gedanke. Bunter sagte später, nichts sei gräßlicher gewesen als dieser kleine Mann, der mit seinem drei Nummern zu großen Schlafanzug im Mondschein stand, aufgeregt vorm Steuerrad hin und her schlurfte, aufs friedliche Meer hinausstarrte und die Faust schüttelte. "Fotos, Fotos!" rief er aus, wobei seine Stimme wie eine Tür in einer verrosteten Angel quietschte. Der Rudergänger hinter ihm konnte nicht begreifen, weshalb der "Alte so in die Wolle geriet", und fragte sich, was es mit dem Steuermann zu streiten gebe. Nachdem sich Johns beruhigt hatte, fing er erneut zu lamentieren an: "Die Kamera lügt nicht, nein, mein Herr, das tut sie nicht." Nichts war komischer als die Verbohrtheit dieses lächerlichen kleinen Mannes mit seinen dogmatischen Überzeugungen. Hin und her wanderte Bunter, hin und her wie ein gleichmäßig schwingen; des Pendel. Er sagte nichts, aber sein Gewissen war belastet. Er litt Höllenqualen, und wenn ihm die närrischsten Gespenstergeschichten aufgetischt wurden, verlor er fast den Verstand. Er wußte, daß er an den Rand des Wahnsinns getrieben wurde und schon unter Bewußtseinsstörungen litt. Ungewollt gab er sich der Halluzination hin, Captain Johns bei den Speckfalten im Genick zu packen und über die Heckreling zu werfen. Das war etwas, was kein gesunder Seemann einer Katze oder irgendeinem anderen Lebewesen antun würde. Er aber stellte sich vor, einen winzigen schwarzen Punkt im mondbeschienenen Kielwasser auftauchen zu sehen. Ich kann mir nicht denken, daß Bunter seinen Kapitän
tatsächlich ertränken wollte, das wohl in den schlimmsten Augenblicken nicht. Vermutlich lechzte seine vergewaltigte Phantasie ganz einfach nach einem Ende des Gewäsches. Trotzdem war es gefährlich, sich gehenzulassen. Man stelle sich das Schiff im Indischen Ozean vor. Eine klare Tropennacht, die Segel voll gesetzt, die Wache außer Sicht, nur der stattliche schwarze Steuermann geht gemessenen Schritts das Deck auf und ab, würdevoll, aber düster in Schweigen gehüllt, vor ihm die komische, mit einem gestreiften Schlafanzug bekleidete kleine Gestalt, bald schrill, bald leiernd von "persönlichem Umgang über das Grab hinaus" schwatzend.
Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke. Und manchmal das törichte Nützlichkeitsbegehren, wie glücklich es sich fügen könnte, die Geister der Toten dafür zu gewinnen, ein praktisches Interesse an den Pro-
blemen der Lebenden zu finden! Welche Hilfe beispielsweise für die Polizei bei der Aufklärung von Verbrechen! Das würde jedenfalls eine erhebliche Senkung der Mordquote bedeuten, stellte er scharfsinnig fest. Dann wurde er mutlos. Welchen Zweck hatte es, mit Ungläubigen, die sich über alles mokierten, Kontakte anstreben zu wollen. Geister seien empfindsam, gewissermaßen durch und durch Gefühl. Ihn wundere nur die Nachsicht, die Seelen Ermordeter ihren Mördern angedeihen ließen. Solche Geister würde kein schuldiger Mensch zu verspotten wagen. Vielleicht hätten alle unentdeckten Mörder - gläubige wie ungläubige - ihre Erscheinungen. Gewiß würden sie kaum damit prahlen, nicht wahr. "Was mich angeht", fuhr er rachsüchtig und gehässig in weinerlichem Tonfall - fort, "wenn mich mal jemand ermorden sollte, ich würde dem Betreffenden keine ruhige Minute gönnen, sondern ihn terrorisieren und zu Tode hetzen." Die Vorstellung, wie der Geist des Kapitäns jemanden terrorisierte, wirkte so albern, daß der schwarze Steuermann kurz auflachte, obwohl ihm gar nicht spaßig zumute war, und dieses Geräusch, der einzige Kommentar zu seinen langen, ernst gemeinten Ausführungen, verletzte Captain Johns. "Was gibt's da hochnäsig zu lachen, Mister Bunter?" knurrte er. "Übernatürliche Besucher haben schon besseren Männern als Ihnen das Fürchten beigebracht. Wollen Sie mir meine Seele absprechen?" Ich glaube, es war der häßliche Ton, der Bunter stehenbleiben und herumfahren ließ. "Vielleicht gehören Sie zu denen, die im Menschen nur ein Tier sehen", bemerkte der zornige Fanatiker. "Es sollte
mich nicht wundern, Sie sind zweifellos fähig, zu leugnen, daß die Seele Ihres eigenen Vaters unsterblich ist" Das war mehr, als Bunter ertragen konnte. Unter der Wucht der Vorwürfe und seines geheimen Kummers verlor er die Selbstbeherrschung. Plötzlich ging er auf Captain Johns zu, beugte sich hinab, um ihm gerade in die Augen zu sehen, und sagte leise und maßvoll: "Sie wissen nicht, wozu ein Mann wie ich fähig ist." Captain Johns warf den Kopf zurück, war jedoch so überrascht, daß er sich nicht von der Stelle rührte. Bunter wanderte wieder hin und her. Das Geräusch seiner Schritte und das leise Plätschern des Wassers an der Schiffswand - weiter war in der unheimlichen Stille, die über dem Wasser brütete, lange nichts zu hören. Schließlich räusperte sich Captain Johns zaghaft, rückte vorsichtshalber näher an die Treppe heran, nahm seinen ganzen Mut zusammen und zog sich zurück, indem er gebieterisch befahl: "Backbrassen Sie querschiffs, Mister Bunter. Sehen Sie nicht, daß der Wind fast genau von hinten kommt?" "Ay, ay, Sir", erwiderte Bunter wie aus der Pistole geschossen, obwohl nicht die geringste Notwendigkeit bestand, die Rahen zu bewegen, da die Windrichtung völlig unverändert war. Während Bunter das Kommando ausführte, brummte Captain Johns beim Abwärtssteigen vor sich hin: "Stolziert wie ein Admiral über die Poop und vergißt, die Segel zu trimmen." Er sagte es immerhin so laut, daß es der Rudergänger hören konnte. Dann ging er langsam weiter. Auf der untersten Stufe verweilte er und überlegte still: Er ist ein abscheulicher Rohling, trotz seines vornehmen Getues. Nie wieder einen Gentleman als Steuermann, kommt
für mich nicht noch einmal in Frage. Zwei Nächte später schlummerte er friedlich in seiner Koje, als ihn ein dumpfes Dröhnen über seinem Kopf ein verabredetes Signal, daß er oben gebraucht wurde aus den Federn springen ließ. Er war augenblicklich hellwach. "Was ist da los?" murmelte er und setzte sich gleich barfuß in Bewegung. Während er hinauslief, warf er einen Blick auf die Uhr: die Zeit der mittleren Wache. Was konnte der Steuermann von ihm wollen? Es war eine klare, feuchte Mondnacht. Eine beständige steife Brise wehte. Er sah sich aufgeregt um, bemerkte jedoch niemanden außer dem Rudergänger, der ihn sofort ansprach. "Das war ich, Sir. Ich verließ das Rad für eine Sekunde, um über Ihrem Kopf aufzustampfen. Dem Steuermann scheint etwas zugestoßen zu sein." "Wo steckt er?" fragte der Kapitän scharf. Der Mann antwortete sichtlich nervös: "Als ich ihn zuletzt sah, stürzte er die Backbordtreppe runter." "Die Kampanjetreppe! Wieso, warum? Wie konnte das geschehen?" "Ich weiß nicht, Sir. Er patrouillierte auf der Backbordseite. Dann machte er kehrt und kam nach achtern ." Der Kapitän unterbrach ihn: "Sie haben ihn gesehen?" "Ja. Ich sah ihn gerade an, dann hörte ich einen Krach schrecklich. Als ob der Großmast über Bord gegangen wäre. Irgend etwas muß ihn getroffen haben." Captain Johns erschrak und wurde sehr unruhig. "Hören Sie", sagte er schneidend. "Hat ihn jemand geschlagen? Was haben Sie gesehen?" "Nichts, Sir. Wahrhaftig, es war nichts zu sehen. Er
schrie nur kurz auf, streckte die Arme aus. Dann fiel er. Krach! Mehr konnte ich nicht hören. Da ließ ich das Rad fahren, um Sie zu rufen." "Sie haben Angst", sagte Captain Johns. "Ja, Sir, es ist nicht ganz geheuer." Captain Johns blickte ihn an. Ruhig zog das Schiff seine Bahn. In der Stille schien sich eine Gefahr - ein Geheimnis zu verbergen. Es widerstrebte ihm, selbst nach seinem Steuermann zu sehen. Das Hauptdeck war so schattenreich, so verschwiegen, so starr. Er lief bis zum Ende der Poop und rief die Wache. "Unten nachsehen!" brüllte er die schlaftrunkener Leute an. "Liegt der Steuermann dort vor der Treppe?" Entsetzte Ausrufe verrieten, daß sie ihn gefunden hatten. Jemand schrie erschrocken auf: "Er ist tot!" Mister Bunter wurde in seine Koje getragen. Als die Lampe den Raum erleuchtete, sah er tatsächlich wie tot aus. Er atmete jedoch. Der Proviantmeister kam herbei, der Zweite Steuermann wurde an Deck geschickt, um die Stelle des Verletzten einzunehmen, und eine gute Stunde lang bemühte sich der Kapitän, den Bewußtlosen zu sich zu bringen. Dann öffnete Mister Bunter verwirrt die Augen, aber er konnte nicht sprechen. Er war wie leblos. Der Proviantmeister verband eine üble Platzwunde am Kopf, wobei ihm Captain Johns mit zusätzlichem Licht leuchtete. Sie mußten viele seiner pechschwarzen Haare abschneiden, um einen ordentlichen Verband anlegen zu können. Nachdem es geschehen war und die beiden Männer ihren Patienten eine Weile schweigend gemustert hatten, verließen sie die Kammer. "Hat einen über den Durst getrunken, Steward", be-
merkte der Kapitän draußen. "Jawohl." "Ein nüchterner Mensch, der seiner Sinne mächtig ist, fällt nicht wie ein Sack Kartoffeln die Treppe runter. Das Schiff schwankt so wenig wie eine Kirche." "Jawohl. Irgendein Anfall, sollte mich nicht wundern." "Nun, mich schon. Er sieht nicht aus wie jemand, der an Krämpfen oder Schwindelanfällen leidet. Hören Sie, er steht in der Blüte seines Lebens. Ich könnte mir keinen besseren Steuermann wünschen. Sie glauben nicht, daß er ein heimliches Schnapslager hat, nein? Er kam mir in letzter Zeit wiederholt ein bißchen seltsam vor. Das Essen schmeckte ihm auch nicht mehr richtig, wie ich festgestellt habe." "Ja, Sir, wenn er je ein paar Flaschen in seiner Kajüte hatte, müssen sie längst leer sein. Nach dem letzten Sturm bemerkte ich, daß er Glasscherben über Bord warf, aber das war nicht der Rede wert. Jedenfalls können Sie nicht behaupten, daß Mister Bunter ein Trinker wäre, Sir." "Wohl nicht", gab der Kapitän nachdenklich zu, und der Proviantmeister verschloß die Tür zur Vorratskammer. Er versuchte, in den Gang zu entweichen, denn er hätte gern noch ein Stündchen geschlafen, ehe er aufstehen mußte, um ans Tagewerk zu gehen. Captain Johns schüttelte den Köpf. "Irgend etwas stimmt da nicht." "Ein wahres Wunder, daß er sich den Schädel nicht wie eine Eierschale an den Ankerteilen des Quarterdecks aufgeschlagen hat, Sir. Die Leute sagen, er könnte sie höchstens um einen Zoll verfehlt haben." Nach dieser Bemerkung verschwand der Proviantmeister geschickt. Captain Johns verbrachte den Rest der Nacht und den
ganzen folgenden Tag teils in seinem Raum, teils in dem des Steuermanns. Wenn er mit geschürzten Lippen in seinem Raum saß, stützte er sich auf die Knie und runzelte kräftig die Stirn. Ab und zu hob er bedächtig eine Hand, um sich sanft die Glatze zu kratzen. Im Raum des Steuermanns legte er die Fingerspitzen an die Lippen und betrachtete lange den Halbbewußtlosen. Drei Tage lang sprach Mister Bunter kein Wort. Seine Blicke verrieten den Besuchern, daß er bei Bewußtsein war, aber er schien ihre Fragen nicht zu verstehen. Sie schnitten ihm mehr Haare ab und legten ihm feuchte Kompressen um den Kopf. Er nahm ein wenig Nahrung zu sich, und sie bemühten sich nach Möglichkeit, ihm seine Lage zu erleichtern. Am dritten Tag bemerkte der Zweite Steuermann bei Tisch: "Diese abgerundeten Messingbeschläge auf den Stufen der Kampanjetreppe sind äußerst gefährlich." "Was Sie nicht sagen!" versetzte Captain Johns spitz. "Es bedarf mehr als einer Messingleiste, um einen kräftigen Mann wie einen abgestochenen Ochsen umzuwerfen." Das leuchtete dem Zweiten Steuermann ein. "Und schönes Wetter, alles trocken, das Schiff wie eine Kirche", fuhr Captain Johns mürrisch fort. Da er eine essigsaure Miene machte, zog es der Zweite Steuermann vor, während des Restes der Mahlzeit zu schweigen. Seine unschuldige Bemerkung ärgerte und verletzte den Kapitän, weil die Messingverzierungen auf seinen Vorschlag hin bei der letzten Fahrt angebracht worden waren. Am vierten Tag sah Mister Bunter entschieden besser aus. Natürlich fühlte er sich noch schwach, aber er hörte
und verstand, was man zu ihm sagte, und er sprach mit matter Stimme auch schon ein paar Worte. Captain Johns, der eintrat, betrachtete ihn aufmerksam, jedoch ohne sichtliches Mitgefühl. "Also, würden Sie uns noch einmal schildern, wie es zu dem Unfall kommen konnte, Mister Bunter?" Bunter bewegte leicht den verbundenen Kopf und richtete den kalten Blick auf das Gesicht des Kapitäns, als ob er alles genau sehen und deuten wollte: die zerfurchte Stirn, den leichtgläubigen Ausdruck der Augen, die dümmlich herabhängenden Mundwinkel, und er starrte so lange hin, daß Captain Johns nervös wurde und über die Schulter zur Tür spähte. "Kein Unfall", sagte Mister Bunter schließlich sehr leise und mit besonderem Unterton. "Sie wollen doch nicht behaupten, daß Sie an Fallsucht leiden?" fragte Captain Johns. "Hätten Sie es sonst gewagt, Ihre Stelle auf unserem Segler anzunehmen?" Bunter warf ihm nur einen finsteren Blick zu. Der Kapitän scharrte mit den Füßen. "Nein? Also was hat Ihren Sturz veranlaßt?" Bunter richtete sich leicht auf, sah Captain Johns gerade in die Augen und flüsterte sehr deutlich: "Sie - hatten recht." Er sank zurück, seine Lider senkten sich, und Captain Johns bekam kein Wort mehr aus ihm heraus. Als der Proviantmeister auftauchte, verließ er den Raum. Doch in der Nacht schlich er unbemerkt zur Tür, öffnete sie vorsichtig und trat wieder ein, unfähig, sich länger zu zügeln. Der Steuermann, der wach - schrecklich angegriffen und völlig teilnahmslos - in der Koje lag, bemerkte die
schlecht verhüllte Neugier, die große Erregung, die sich der ganzen kleinen Gestalt bemächtigt hatte, und ohne einen Finger zu krümmen, teilte er einen empfindsamen Schlag aus, indem er feststellte: "Sie kommen vermutlich, um sich an meinem Anblick zu weiden." "Du meine Güte!" rief Captain Johns ernüchtert. "Wie können Sie so etwas sagen!" "Gut, weiden Sie sich! Sie und Ihre Seelen, die Sie über einen Lebenden gebracht haben." Bunter hatte leise gesprochen, nicht sonderlich ausdrucksvoll, unbewegt. "Wollen Sie etwa andeuten, daß Sie in jener Nacht eine übernatürliche Begegnung hatten?" flüsterte Captain Johns scheu. "Dann haben Sie also einen Geist an Bord meines Schiffes gesehen?" Widerwille, Scham, Ekel, all das wäre in der Miene des Steuermanns zu lesen gewesen, hätte der Verband nicht einen großen Teil des Gesichts verdeckt. Die ebenholzschwarzen Augenbrauen zogen sich finster zusammen, als er stirnrunzelnd und unter gewaltiger Anstrengung bestätigte: "Ja, ich habe ihn gesehen." Seine Zerknirschung hätte das Mitleid jedes anderen erweckt. In Captain Johns aber siegten Triumph und Sensationsgier. Dabei verbarg er die Angst, die er gleichfalls empfand. Er sah den ungläubigen Zyniker, der auf dem Kreuz lag, und ahnte nicht im entferntesten, wie gedemütigt und elend sich Bunter fühlte. Überhaupt besaß Johns nicht die Gabe, am Seelenschmerz seiner Mitmenschen teilzuhaben. Außerdem hätte er brennend gern erfahren, was geschehen war. Er heftete den gläubigen Blick an den umwickelten Kopf und fragte mit bebender Stimme: "Und hat er - hat er Sie niedergeschlagen?"
Gegen diesen Verdacht protestierte Bunter heftig: "Hören Sie! Bin ich der Mensch, der sich von einem Geist niederschlagen läßt? Erinnern Sie sich, was Sie neulich abend sagten? Einen besseren Steuermann als mich . Ha! Sie werden lange suchen müssen, bis Sie einen so guten gefunden haben." Captain Johns richtete den Zeigefinger bedeutsam auf die Koje. "Er hat Sie erschreckt. So ist es gewesen. Er hat Sie erschreckt. Freilich, sogar der Mann am Steuerrad war verängstigt, obwohl er gar nichts gesehen hat. Er fühlte das Übernatürliche. Sie sind für Ihre Ungläubigkeit bestraft worden, Mister Bunter. Sie waren erschrocken." "Und wenn! Wissen Sie denn, was ich gesehen habe? Können Sie sich vorstellen, was für eine Seele jemanden wie mich besucht? Meinen Sie, es war eine Dame, die mich zu einer Tasse Tee einlud? So ein Geist, wie er Ihrem Professor Cranks erscheint oder dem Journalisten, von dem Sie immer erzählen? Weit gefehlt! Ich kann es Ihnen nicht beschreiben. Jeder Mensch hat seine eigenen Erscheinungen. Sie wären außerstande, sich vorzustellen ." Bunter verstummte atemlos, und Captain Johns bemerkte mit innerer Genugtuung, die in seiner Stimme mitschwang: "Ich war stets der Meinung, daß Sie zu allem fähig sind, von einem Katz-und-Maus-Spiel bis zum geplanten Mord. Ja, ja! Sie waren also erschrocken!" "Ich wich zurück", versetzte Bunter barsch. "An mehr erinnere ich mich nicht." "Der Mann vom Steuer sagte mir, Sie wären getaumelt, als ob jemand zugeschlagen hätte." "Es war eine Art innerer Schlag", erklärte Bunter, "aber das ist zu hoch für Sie. Geben Sie sich keine Mühe, Sie können es nicht verstehen. Ihr Leben und mein Leben sind
zu unterschiedlich. Genügt es Ihnen nicht, mich bekehrt zu sehen?" "Und mehr können Sie mir wirklich nicht sagen?" fragte Captain Johns begierig. "Nein, ich kann nicht. Ich will nicht. Es wäre sinnlos, wenn ich es täte. So etwas muß man selbst erlebt haben. Sie meinen, ich sei bestraft worden. Gut, ich betrachte es als Strafe, aber ich mag nicht darüber sprechen." "Also schön, Sie möchten nicht", sagte der Kapitän, "bedenken Sie jedoch, daß Sie mich damit zwingen, meine eigenen Schlüsse zu ziehen." "Ziehen Sie doch, was Sie wollen. Nur hüten Sie Ihre Zunge, Sir. Sie schrecken mich nicht. Sie sind kein Geist." "Ein Wort. Gibt es irgendeinen Zusammenhang zwischen Ihrer Erscheinung und der Bemerkung, die Sie neulich machten, als wir über Spiritismus sprachen?" "Was habe ich denn gesagt?" fragte Bunter müde und benommen. "Sie sagten, ich wisse nicht, wozu ein Mann wie Sie fähig wäre." "Ja, ja. Und nun genug." "Sehr gut. Dann bin ich im Bilde", bemerkte Captain Johns. "Ich kann nur sagen, ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken, obwohl ich so ziemlich alles darum geben würde, mit der Welt der Geister persönlich Verbindung aufzunehmen. Yes, Sir. Allerdings nicht in dieser Form." Der arme Bunter stöhnte kläglich. "Seitdem fühle ich mich zwanzig Jahre älter." Captain Johns zog sich still zurück. Er war entzückt, diesen anmaßenden Rohling durch das segensreiche Wirken der Geister erniedrigt, in den Staub geworfen zu sehen. Der ganze Vorgang erfüllte ihn mit Stolz und Genugtuung,
und er begann Achtung für seinen Ersten Steuermann zu empfinden. Dieses Gefühl festigte sich nach späteren Gesprächen, in denen sich Bunter sehr zurückhaltend und ehrerbietig zeigte. Außerdem schien er sich um geistigen Beistand an seinen Kapitän zu wenden. Manchmal schickte er nach ihm und sagte: "Ich fühle mich elend." Dann blieb Captain Johns stundenlang in dem kleinen heißen Raum und war stolz, gerufen worden zu sein. Mister Bunter war noch viele Tage krank, daß er das Bett hüten mußte. Er wurde ein überzeugter Anhänger des Spiritismus, kein begeisterter Verfechter - das war kaum zu erwarten -, aber er vertrat seine Auffassung grimmig und unerschütterlich, ohne wie Captain Johns ein ausgesprochener Freund der Seelen toter Erdenbürger zu sein. Doch er war ein wackerer, wenngleich finsterer Rekrut. Eines Nachmittags, als sich das Schiff schon weit im Norden des Golfs von Bengalen befand, klopfte der Proviantmeister an die Tür der Kapitänskajüte, öffnete sie aber nicht und sagte: "Der Steuermann läßt fragen, ob Sie einen Augenblick Zeit für ihn haben, Sir. Er scheint in einer sonderbaren Verfassung zu sein." Captain Johns sprang sofort von der Couch auf. "Ja. Richten Sie ihm aus, daß ich komme." Er dachte: Wäre es denkbar, daß es eine zweite Manifestation gegeben hat? Noch dazu am Tage! Er schwelgte in Erwartung. Jedoch war nicht genau das geschehen, was er erhofft hatte. Immerhin saß Bunter zusammengesunken auf einem Stuhl - neuerdings lag er nicht mehr, obwohl er noch in seiner Kammer blieb, und er wußte etwas ziemlich Aufregendes mitzuteilen. Er hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und die Beine weit von
sich gestreckt. "Was ist denn nun wieder passiert?" krächzte Captain Johns - nicht unfreundlich, denn es freute ihn immer wieder aufrichtig, Bunter "gezähmt" zu sehen, wie er es nannte.
"Passiert!" rief der bekehrte Skeptiker durch die Finger. "Etwas ganz Erstaunliches, Captain Johns. Wer würde leugnen, daß es schrecklich, daß es einmalig ist? Ein anderer wäre tot umgefallen. Sie wollten wissen, was ich gesehen habe. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist: Seit ich es gesehen habe, wird mein Haar weiß." Bunter nahm die Hände vom Gesicht, jetzt hingen sie seitlich schlaff herab. Er wirkte wie ein gebrochener Mann in dem dämmrigen Raum. "Was Sie nicht sagen!" stammelte Captain Johns. "Weiß? Warten Sie mal, ich werde Licht machen." Als die Lampe brannte, war das eigentümliche Phäno-
men deutlich zu sehen. Der Schreck, das Entsetzen, die Furcht schienen durch die Poren der Haut gedrungen zu sein. Ein silbriger Hauch lag auf den Wangen und auf den Haaren. Die nachgewachsenen Teile des kurzen Bartes und des gestutzten Haupthaars waren nicht schwarz, sondern grau, fast weiß. Als Mister Bunter seinen Dienst wieder versehen konnte, kam er abgemagert und zittrig, glattrasiert und weißhaarig an Deck. Die Leute staunten fassungslos. "Ein anderer Mann", flüsterten sie sich zu. Allgemein war man der Ansicht, er müsse etwas Ungewöhnliches gesehen haben. Nur der Rudergänger blieb dabei, daß der Steuermann geschlagen worden sei. Diese kleine Meinungsverschiedenheit ist kaum erwähnenswert, zumal völlige Übereinstimmung darin herrschte, daß Bunter, nachdem er leidlich zu Kräften gekommen war, noch geschickter zu operieren schien als vorher. In Calcutta zeigte Captain Johns den weißhaarigen Steuermann einem Besucher und sagte geheimnisvoll: "Dieser Mensch steht in der Blüte seiner Jahre." Solange Bunter auf Fahrt war, machte ich seiner Frau jeden Sonnabend meine Aufwartung, um zu sehen, ob ich ihr irgendwie helfen könnte. Wir hatten vereinbart, daß ich dies tun solle. Sie mußte mit seiner halben Löhnung auskommen, etwa einem Pfund die Woche. In einem stillen kleinen Viertel des East End bewohnte sie ein Zimmer. Das war Luxus im Vergleich zu dem Leben, das die beiden vorher geführt hatten. Nach dem Verlust des Schiffes und des Glücks war Bunter morgens um sieben mit nichts als einem Glas heißen Wassers und einer Scheibe trocknen Brotes im Magen aus dem Haus gegangen. Noch heute überläuft mich eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, was
er und seine Frau seinerzeit erdulden mußten. Die gute Frau machte sich ernstliche Sorgen, nachdem die Sapphire ausgelaufen war. Manchmal sagte sie zu mir: "Es muß so schrecklich für den armen Winston sein." Winston ist Bunters Vorname, und ich versuchte sie zu trösten, so gut ich es vermochte. Später unterrichtete sie die Kinder einer Familie und brachte den halben Tag bei ihnen zu. Die Ablenkung tat ihr wohl. Im allerersten Brief, den sie aus Calcutta erhielt, teilte ihr Bunter mit, er sei die Treppe hinuntergefallen, habe eine Platzwunde am Kopf, aber zum Glück keine Knochenbrüche davongetragen. Mehr verriet er ihr nicht. Natürlich bekam sie weitere Briefe. Jedoch für mich griff der Vagabund während der vollen elf Monate seiner Abwesenheit nicht ein einziges Mal zur Feder. Ich nahm daher an, daß alles in Ordnung wäre. Wer konnte ahnen, was wirklich geschehen war? Eines Tages wurde Mistreß Bunter behördlich über das Ableben ihres Onkels informiert. Der griesgrämige Geizkragen - Effektenmakler im Ruhestand, ein herzloser, verknöcherter Greis - war uralt geworden, an die Neunzig, wenn ich nicht irre. Sollte ich je seiner ehrwürdigen Seele begegnen, würde ich versuchen, ihr den Hals umzudrehen. Diese Bestie konnte es der Nichte nicht verzeihen, daß sie Bunter geheiratet hatte. Lange nach ihrer Eheschließung ließen ihn die Leute wissen, daß sie in London lebe und mit ihren vierzig Jahren ein Hungerdasein friste. Da sagte er nur: "Geschieht der kleinen Närrin ganz recht!" Ich glaube, er hat ihr den Hungertod an den Hals gewünscht, und dann - ja, dann starb der alte Menschenfresser, ohne ein Testament zu hinterlassen, und außer der
"kleinen Närrin" gab es keine Erben. So wurden die Bunters über Nacht wohlhabende Leute. Selbstverständlich weinte Mistreß Bunter zum Herzerweichen. Bei jeder anderen Frau wäre die Trauer bloße Heuchelei gewesen, aber nicht bei ihr. Natürlich wollte sie die Neuigkeiten ihrem Winston nach Calcutta telegrafieren, aber ich zeigte ihr die Gazette, der zu entnehmen war, daß die Sapphire seit einer Woche Heimatkurs steuerte. So beschlossen wir zu warten und unterhielten uns täglich über den lieben alten Winston. Am Ende der langen Kette dieser Tage brachte ein einlaufendes Postboot schließlich die Meldung, das Schiff sei wohlbehalten vor dem Kanal angelangt. "Ich reise ihm nach Dünkirchen entgegen", sagte sie. Die Sapphire hatte eine Ladung Jute dorthin zu bringen. Selbstverständlich mußte ich die Dame begleiten. Bis zum heutigen Tag nennt sie mich "unseren aufrichtigen Freund", und ich hatte Gelegenheit zu beobachten, daß mich einige Leute - Fremde - forschend ansahen, sicher um nach Zeichen meiner Aufrichtigkeit zu suchen, vermute ich. Ich brachte Mistreß Bunter in einem guten Dünkirchener Hotel unter. Dann ging ich zum Hafen. Es war später Nachmittag, und ich konnte zu meiner Überraschung feststellen, daß die Sapphire schon festgemacht hatte. Johns oder Bunter oder beide mußten sie durch den Kanal gejagt haben. Sie war am Vortag eingelaufen, und die Besatzung hatte bereits abgeheuert. Ich begegnete zwei Schiffsjungen, die ihre Habe mit einem Schubkarren transportierten und in vergnügter Laune ihren Heimaturlaub antraten. Ich fragte sie, ob der Steuermann an Bord sei.
"Er ist dort auf dem Kai und sieht sich die Ankerkette an", erklärte einer der beiden jungen Leute, während sie vorübereilten. Man kann sich vorstellen, wie verdutzt ich war, als ich einen weißköpfigen Mann bemerkte. Seine Frau sei in einem Hotel abgestiegen, mehr konnte ich ihm nicht sagen, denn er verließ mich sofort, um seinen Hut zu holen. Es wunderte mich außerordentlich, wie elastisch er bald darauf die Gangway herab von Bord eilte. Der schwarze Steuermann hatte die Leute immer durch seine wohlausgewogenen Bewegungen und seinen für einen Mann in den besten Jahren sonderbar würdevollen Gang verblüfft. Dieser Weißhaarige aber verwunderte sie noch mehr, er schien ein jugendlich flinker Greis zu sein. Wahrscheinlich war er jedoch nicht schneller als vorher. Ich glaube, allein die Haarfarbe bewirkte so unterschiedliche Eindrücke. Ähnliches läßt sich von seinen Augen sagen. Früher hatten sie die Menschen stahlhart, energisch, faszinierend angeblickt, jetzt schauten sie unschuldig, gutmütig, beinah knabenhaft fröhlich unter den weißen Brauen hervor. Ich führte ihn unverzüglich ins Wohnzimmer seiner Frau. Sie vergoß ein paar Tränen über den Tod des Menschenfressers, schloß ihren Winston in die Arme und sagte ihm, er müsse seinen Schnurrbart wieder wachsen lassen. Dann zog sie die Beine aufs Sofa hoch, und da Bunter beim Erzählen viel Platz brauchte, setzte auch ich mich in eine Ecke. Er schritt stürmisch auf und ab, schlenkerte dabei die langen Arme und redete sich in regelrechte Raserei. Immer und immer wieder zerfleischte er Johns an diesem Abend.
"Gefallen? Natürlich bin ich rückwärts gefallen, auf den Messingleisten dieses Narren ausgerutscht. Ehrenwort, ich wußte nicht mehr, wo mir der Kopf stand und ob ich im Indischen Ozean oder auf dem Mond war. Ich fürchtete, den Verstand zu verlieren." Er wandte sich mir zu. "Der ganze Vorrat an Flaschen, den du mir gegeben hattest, ging zum Teufel, denn bei einer starken Bö flogen die Kästen, in denen ich sie verstaut hatte, heraus. Das kam so: Ich war durchnäßt worden und im Begriff, die Kleidung zu wechseln, da hieß es: ,Alle Mann an Deck!' Ich also raus, ohne die Kästen richtig reinzuschieben. Esel, der ich war! Als ich zurückkam, sah ich die Bescherung und wäre beinahe in Ohnmacht gefallen." Er machte eine Pause, ehe er fortfuhr. "Betrug ist schlecht, aber ihn nicht aufrechterhalten zu können, nachdem man dazu gezwungen worden war, das ist noch schlimmer. Du weißt, daß mich jüngere Leute von den Postbooten verdrängt hatten, nachdem ich allmählich grau geworden war, und dir ist bekannt, wie die Chancen standen, jemals wieder ein Schiff zu bekommen. Und kein Mensch, an den man sich wenden konnte. Wir standen allein da, wir beide. Sie hatte alles für mich aufgegeben, und jetzt sollte ich zusehen, daß sie kaum trocken Brot hatte ." Er schlug mit der Faust auf den Tisch, der um ein Haar kaputtgegangen wäre. "Für sie wäre ich ein Seeräuber geworden", fuhr er fort, "und dagegen war es harmlos, eine Heuer zu erschwindeln, indem ich mir das Haar färbte. Kurz und gut, als du mir das wunderbare Zeug deines Drogisten brachtest ." Er verstummte plötzlich. " .der Bursche könnte, wenn er
wollte, ein Vermögen machen. Es ist phantastisches Zeug, salzwasserbeständig. Sag es ihm. Die Farbe hält sich, bis das Haar ausfällt." "In Ordnung", bemerkte ich. "Erzähle weiter."
Darauf fiel er wieder über Johns her. Er sprach mit einem Zorn, der seine Frau erschreckte und mich zum Lachen reizte. Mir traten sogar Tränen in die Augen. "Versucht doch, euch vorzustellen, was es bedeutet hätte, dieser erbärmlichen Kreatur auf Gedeih und Verderben ausgeliefert zu sein! Überlegt mal, zu welchem Leben mich der schleimige Johns verurteilt hätte! Er ist der gemeinste Schiffsführer, den ich je kennengelernt habe. Und ich wußte: In spätestens einer Woche werden die nachgewachsenen weißen Stellen zu sehen sein. Und die Besatzung! Habt ihr auch daran gedacht? Vor allen als lumpiger Betrüger dazustehen. Bis Calcutta wäre es die Hölle gewesen, und dort hätten sie mir natürlich den Laufpaß gegeben. Die halbe Löhnung. Basta. Annie hier, ohne einen Penny, dem Verhungern nahe, und ich auf der anderen Seite der Erde dito." Er lief ein paar Schritte und nahm den Faden wieder auf. "Ich dachte daran, mich zweimal täglich zu rasieren. Aber sollte ich mir die Haare auch scheren? Das ging nicht. Es gab keinen Ausweg, höchstens den einen, Johns über Bord zu werfen. Und selbst dann . Versteht ihr nun, wie mir zumute war? An jenem Abend brodelte es in meinem Kopf. Ich wußte nicht mehr, wo ich hintrat. Plötzlich spürte ich, daß ich stürzte. Dann krachte etwas, und es wurde finster." Nach einer Weile erklärte er: "Als ich zu mir kam, fühlte ich mich irgendwie ernüchtert. Mir hing alles zum Halse heraus. Zwei Tage lang wollte ich mit niemandem sprechen. Sie hielten es für eine leichte Gehirnerschütterung. Ich sah den geisteskranken Narren. Da dämmerte mir eine Idee. Ich dachte: Richtig, du willst ja hören, daß es gespukt hat - gut, das Vergnügen kannst du haben."
Er wanderte weiter durchs Zimmer und erzählte: "Ich brauchte keine Geschichte zu erfinden - zum Glück, denn ich konnte mir beim besten Willen keinen Geist vorstellen. Nicht mal ein zusammenhängendes Garn zu spinnen, wäre ich imstande gewesen. Ich widersprach ihm einfach nicht. Das genügte. Wißt ihr, er hatte sich da etwas ausgedacht. Irgendwann sollte ich irgendwo jemanden umgebracht haben, und die Seele des Toten ." "Ach, der schreckliche Kerl!" rief Mistreß Bunter aus. "Und bei der Heimfahrt marterte er mich wieder", klagte Bunter erschöpft. "Er liebte mich. Er war stolz auf mich. Ich war bekehrt. Mir war ein Geist erschienen. Wißt ihr, was er vorhatte? Er wollte, daß er und ich eine Seance abhielten, um den Geist, dem ich angeblich mein weißes Haar zu verdanken hatte - die Seele meines vermeintlichen Opfers -, herbeizurufen und die Angelegenheit in freundschaftlicher Weise zu klären. ,Falls nicht, Bunter', sagte er, erscheint er Ihnen vielleicht noch mal, wenn Sie am wenigsten darauf vorbereitet sind. Dann wirft er Sie über Bord oder tut Ihnen irgend etwas Schlimmes an. Sie sind Ihres Lebens erst sicher, nachdem wir die Welt der Geister beschwichtigt haben.' Könnt ihr euch so einen Blödling vorstellen? Nein - wirklich?" Ich sagte nichts. Mistreß Bunter erklärte jedoch in sehr entschiedenem Ton: "Winston, ich will nicht, daß du dieses Schiff noch einmal betrittst." "Aber, meine Liebe", erwiderte er, "ich habe noch alle meine Sachen an Bord." "Du brauchst sie nicht. Begib dich nie wieder in die Nä-
he dieses Schiffes." Er blieb stehen, senkte die Augen und sagte langsam und verträumt, wobei ein leises Lächeln seine Lippen umspielte: "Des Schiffes, auf dem es spukt." "Dein letztes", ergänzte sie. Wir brachten ihn zum Nachtzug. Er war sehr still, doch als wir den Kanal überquerten und wir beide allein an Deck waren, um zu rauchen, drehte er sich unvermittelt zu mir um, knirschte mit den Zähnen und flüsterte: "Er ahnt nicht, wie nahe er daran war, über Bord geworfen zu werden." Er meinte Captain Johns. Ich schwieg dazu. Captain Johns stellte fest, daß sein Erster Steuermann verschwunden war, und erhob ein Riesengeschrei. Er alarmierte die französische Polizei. Auf der Suche nach seiner Leiche durchkämmten sie das ganze Land. Schließlich muß er dann wohl von der Reederei eine Mahnung erhalten haben, nicht soviel Aufhebens zu machen, es wäre alles in Ordnung. Ich glaube kaum, daß er je erfahren hat, was tatsächlich geschehen war. Heute ist er pensioniert, und es fällt ihm schwer, zusammenhängend zu reden, aber manchmal versucht er, die Geschichte eines seiner einstigen Steuermänner zu erzählen, eines "mörderischen Rohlings, der den Gentleman spielte und dessen rabenschwarzes Haar über Nacht weiß wurde, weil ihm die rachsüchtige Seele eines Toten erschien". Ist seine Schwester zugegen (eine immer noch sehr energische Person), dann fällt sie ihm barsch ins Wort: "Achtet nicht auf sein Geschwätz. Alles Hirngespinste, was er sich da zusammenreimt."
Heft 426 Wolfgang Mittmann Das Kartenhaus
Der Streifenwagen "Lina 18" fährt durch die dunklen Straßen der Vorstadt. Plötzlich stoppt Oberwachtmeister Wengler. Ein unbeleuchteter W50, der mitten auf der Straße steht, und ein Bündel, das neben dem LKW liegt, haben seine Aufmerksamkeit erregt. Ein Unfall? Wengler und sein Begleiter eilen zu dem Fahrzeug, da erkennen sie, daß vor ihnen auf der Straße der Fahrer liegt. Jemand hat ihn gefesselt und geknebelt, aus einer Kopfwunde sickert Blut. Auch der Laderaum ist durchwühlt. Wengler ruft die Genossen von der K.