Der sündige Engel � von Uwe Voehl
Al’Thera, Stadt der Vampire, im siebten Mond des zwölften � Jahres des zehnten Jahrh...
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Der sündige Engel � von Uwe Voehl
Al’Thera, Stadt der Vampire, im siebten Mond des zwölften � Jahres des zehnten Jahrhunderts (911) � Der Vollmond stand hoch am Himmel und schuf Schatten in der Nacht, die von eigenem, wimmelnden Leben erfüllt schienen. Trotzdem drückte Nizam sich eng in den Schutz der hohen Mauer. Die Gesichtszüge der bildschönen Frau mit den pechschwarzen, lang wallenden Haaren waren verzerrt vor Panik. Ihre Finger krallten sich angstverkrümmt in die scharfkantigen Kerben des unverputzten Steins in ihrem Rücken. Ihre Augen waren vor Furcht geweitet. Im stillen verfluchte sie ihre Torheit, in dieser Nacht der Nächte nicht zu Hause geblieben zu sein. Unter dem aschfahlen Licht des vollen Mondes wirkten die engen, gewundenen Gassen der Stadt wie in ein Leichentuch gehüllt.
Was bisher geschah … � Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer schrecklichen Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Gleichzeitig wird in einem Kloster in Maine, USA, ein Knabe geboren, der sich der Kraft und Erfahrung der todgeweihten Vampire bedient, um schnell heranzuwachsen. Sowohl die Vampirseuche als auch die Geburt des Kindes erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Rund um den Erdball reagieren parasensible Menschen, träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund im Dienst des Vatikans, wird auf die Para-Träumer aufmerksam und schickt »Gesandte« aus, um sie anzuwerben. In diesen Träumen spielt ein widderköpfiger Tiermensch eine tragende Rolle. Es ist die Traumgestalt des Kindes, das auf der Suche nach starker Lebensenergie ist. Auch die Halbvampirin Lilith Eden folgt seinem Ruf nach Neuengland im Norden der USA. Dort gerät sie in den Bann des Kindes. Aber nicht allein – auch der Illuminati-Gesandte Raphael Baldacci hat über die Para-Träumer die Spur des Knaben gefunden. Zusammen mit Lilith wird er in eine Traumwelt versetzt, in der die Vampire die Menschheit versklavt haben. Lilith und Baldacci fechten einen verzweifelten Kampf, während der Knabe ihnen die Lebenskraft stiehlt. Doch dann opfert sich Baldacci und offenbart im Tod seine geistige Macht. Durch ihn kann Lilith den Träumen – und dem Ort – entfliehen. Das Kind aber ist noch nicht besiegt … Durch eine Zeitungsnotiz wird Lilith auf den Fall einer »lebenden Toten« aufmerksam; eine junge Frau, die beim Brand einer Kirche so schwer verletzt wurde, daß sie eigentlich tot sein müßte. Es ist eine Dienerkreatur, die von einem Vampir in der Kutte eines Mönchs ge-
bissen wurde. Dieser Mönch gehörte vor gut 500 Jahren dem Illuminati-Orden an, der nahe Rom in einem unzugänglichen Kloster ein Tor bewachte (und es noch heute tut). Eines Tages wurde er von jenseits des Tores versucht und besessen. Zwar konnte er die Pforte nicht öffnen, lebte fortan aber als Vampir weiter, ausgestattet mit der Macht über das Feuer. In Los Angeles schuf er sich seine Sippe. Als dann die Seuche kommt, versucht er seine Anhänger mit dem Feuer zu schützen – und bringt sie dabei um. Wahnsinnig geworden rächt er sich nun an Gott, den er für die Seuche verantwortlich macht, indem er Kirchen in Brand setzt. Lilith stellt sich dem Vampirmönch und kann ihn in einem wahrhaft feurigen Kampf vernichten. Dabei hört sie von dem geheimnisvollen Tor, ohne aber die Hintergründe und seine Bedeutung zu erfahren.
Ein Leichentuch, das Nizam in einen Rausch versetzt hatte. Mehr als andere ihrer Rasse war sie den Verlockungen des Mondes erlegen. Seine kalten Strahlen ließen die Flammen der Leidenschaft in ihr hochlodern; ihre Instinkte verlangten nach Befriedigung, und der Hauch der tödlichen Gefahr steigerte nur noch ihr Verlangen. Die Häscher durchstreiften die Stadt. Wie bei jedem hundertsten Vollmond – der Zahl des Gründers – suchten sie ein jungfräuliches Opfer für ihren Herrscher. Nizam war Jungfrau. Zwar war das Brennen in ihrem Schoß schon seit langem erwacht und ließ sich kaum mehr bändigen, aber ihre Eltern hatten bislang erfolgreich jeden auch nur ansatzweisen Versuch unterbunden, den unbändigen Trieben des Mädchens freien Lauf zu lassen. Es war des Königs Gesetz in Al’Thera, daß keine Frau unter hundert Jahren sich mit einem Mann vereinigen durfte – eine praktische Erwägung, denn sonst hätte sich wohl kaum noch ein Opfer finden lassen. Furchtbare Strafen erwarteten jene Sippen, deren Töchter sich nicht daran hielten. Immer dann, wenn der Mond vollendet am Himmel stand, waren Nizams Gelüste kaum mehr unter Kontrolle zu bringen. Aber ihre Eltern hatten ein einfaches Mittel gefunden, ihre Tochter im Zaum zu halten, schon um Nizams eigener Sicherheit willen: Sie sperrten sie ein und ketteten sie an. Seit Jahrzehnten fürchtete Nizam dieses monatlich wiederkehrende Ritual, das ihren Körper in Fesseln legte, während ihre Leidenschaft wie tausend spitze Messer durch ihren Körper toste und Hitze das Zentrum ihrer Lenden und Hunger ihre Eingeweide durchströmte. In dieser Nacht hatte sie sich befreit! Ohne daß ihre Eltern es bemerkten, hatte sie das Schloß ihrer Ketten mit einem heimlich unter ihrem Gewand verborgenen Nachschlüssel geöffnet. Dann hatte sie sich aus dem Haus geschlichen und war innerlich jubelnd durch die Gassen Al’Theras gelaufen.
In dieser Nacht hatte sie die Straßen für sich allein. Zumindest fast. Bereits nach kurzer Zeit waren die Häscher des Königs an ihr vorbeigezogen: in schwarze Gewänder gekleidete, riesige Vampire, in deren roten Augen ein brutales Feuer brannte. Ihre reglosen Gesichter sahen wie dämonische Masken aus. Es hieß, daß sie den Befehlen des Königs bedingungslos gehorchten … Vier von ihnen näherten sich Nizams provisorischem Versteck. Noch hatten sie sie nicht entdeckt. Nizam drückte sich noch enger an die Wand, so daß sie mit den Schatten verschmolz. Die Häscher waren fast auf gleicher Höhe mit ihr, als sich einer von ihnen plötzlich ruckartig umdrehte. In einem Eingang auf der anderen Seite der Gasse war eine weitere Gestalt aufgetaucht. Ein nächtlicher Spaziergänger, dachte Nizam. Einer, den es wie sie nicht in den engen Mauern gehalten hatte. Aber im nächsten Moment erkannte sie, daß es sich um keinen Angehörigen ihrer Rasse handelte. Es war ein Mensch. Ein uralt wirkender Mann, wahrscheinlich aber nur halb so alt, wie er aussah. Die Menschen alterten rasch hier in Al’Thera. Die Vampire hielten sie wie Tiere. Es war die praktischste Art, den Hunger nach Blut zu stillen. Und auch sonst erwiesen sich Menschen als überaus nützliche Sklaven. Allerdings verfielen sie rapide, wenn ein Vampir sich regelmäßig an ihnen verköstigte. Obwohl Al’Thera versteckt in der Wüstenregion lag, kamen immer wieder verirrte Karawanen hierher und sorgten unfreiwillig für frischen Nachschub an Menschen. Der Mann auf der anderen Straßenseite hatte bereits seinen Zenit überschritten. Sein schlohweißes Haar und seine ausgemergelten Gesichtszüge verrieten, daß er wahrscheinlich nicht mehr lange unter den Lebenden weilen würde.
»Was hast du hier zu suchen, Alter?« herrschte ihn einer der Vampire an. Der Mann fiel winselnd auf die Knie und brachte vor Schreck kein Wort heraus. Mit zwei Schritten waren die Häscher bei ihm und drückten ihn noch tiefer in den Staub der Straße. »Wahrscheinlich wollte er flüchten«, vermutete einer der Häscher. Es kam immer wieder vor, daß ein Mensch versuchte, aus Al’Thera herauszukommen und sein Schicksal abzuwenden. Bislang war es noch keinem gelungen. »Sprich endlich, du Wanze!« forderte ihn einer der Vampire ungeduldig auf. »Verschont mich!« wimmerte der Alte. »Ich habe mich nur verlaufen. Ich bin auf dem Weg zu meinem Herrn …« Die Vampire ergötzten sich offensichtlich an der Angst des alten Mannes. Sie ließen ihn aufstehen, nur um ihn zwischen sich herumzuschubsen. »Ein schöner Herr, der seine Sklaven nicht in Zaume hält. Zu schade, daß du kein junges hübsches Mädchen bist, Alter. Dann könnten wir vielleicht noch etwas mit dir anfangen. Aber so stehst du uns einfach nur im Wege!« Der Mann flehte nochmals um Gnade, aber der brutale Tötungsinstinkt der Häscher war in Nächten wie dieser noch stärker als sonst. Der Tod des alten Mannes war ebenso qualvoll wie sein Leben unwürdig gewesen war. Nizam wandte sich ab. Sie empfand zwar keinerlei Mitleid, aber in Augenblicken wie diesen schämte sie sich fast für das, zu was ihre Rasse fähig war. Die Häscher des Vampirkönigs waren für ihre Grausamkeit bekannt. Als sie von dem Mann abließen, verwandelten sich ihre Gesichter wieder in reglose Mienen. Mehr denn je schienen sie Nizam tatsächlich nicht viel mehr als Marionetten zu sein. Marionetten, in denen nur für den Moment des Tötens so etwas wie ein Lebensfunke ge-
brannt hatte. Die Häscher zogen an ihr vorbei. Nizam wollte bereits aufatmen, als einer der Vampire genau in ihre Richtung schaute und die Stirn runzelte. Vielleicht verbarg sie der Schatten doch nicht so perfekt, wie sie gehofft hatte. Vielleicht war es aber auch irgendein Impuls, den der Vampir von ihr aufgefangen hatte. Langsam kamen die Häscher in ihre Richtung. Ihre roten Augen schienen sie nun zu durchbohren. O nein, dachte Nizam, sie werden mich nicht töten. Das Schicksal des alten Mannes würde ihr erspart bleiben, doch dafür würde ihr ein weit schlimmeres bevorstehen. Nur Gerüchte waren jemals aus dem Schwarzen Tempel herausgedrungen. Niemand wußte wirklich, auf welche Weise die Jungfrauen den endgültigen Tod fanden. Nur daß sie auf dem Stein des schwarzen Blutes zu Ehren des legendären Begründers Al’Theras, Gandhara Sas-Bahu, geopfert wurden. Und niemand wußte, was zuvor mit ihnen angestellt wurde. Es hieß, daß auch der Vampirkönig selbst zuvor noch sein Vergnügen mit den Opfern hatte – ohne deren Jungfräulichkeit zu betasten. Aber es gab zahlreiche Greuelgeschichten darüber, was er ansonsten mit ihnen anstellte. »Da haben wir ja noch jemanden«, sagte einer der Vampire. Sie waren so weit heran, daß Nizams Versteckspiel nutzlos geworden war. Obwohl sie innerlich in Aufruhr war, trat sie mit aufrechter Gestalt aus ihrem Versteck heraus. Das Mondlicht verfing sich in ihren schönen Gesichtszügen und umfloß ihre fast vollendete Figur. Die Blicke der Häscher huschten gierig über ihren Körper. Nizam spürte die Blicke fast körperlich, so als strichen die rauhen Hände der Häscher bereits über ihre glatte, kühle Haut. Es war kein unangenehmes Gefühl. Unter anderen Umständen hätte sie die Blicke der Männer vielleicht sogar genossen. Jetzt aber überdeckte die Angst ihr Verlangen.
Dennoch: Sie dachte nicht daran, sich vor diesen Kerlen zu demütigen. »Was wollt ihr von mir?« fragte sie mit fester Stimme. »Wir sind auf der Suche nach einem Täubchen wie dir«, sagte einer der Häscher. Sie waren nun so weit herangekommen, daß sie einen Halbkreis um Nizam bildeten. Wohlgefällig wanderten ihre Blicke noch immer über ihren Körper. Nizam war hochgewachsen, und ihr Gewand betonte die vollendeten Rundungen ihres Körpers mehr als daß es sie verbarg. Selbst die Knospen ihrer voll erblühten Brüste zeichneten sich unter dem dünnen Stoff ab. »Unser aller Herr wird zufrieden mit dir sein. So schnell wie heute war unsere Suche noch nie von Erfolg gekrönt. Natürlich werden wir uns erst noch vergewissern müssen, daß du eine Jungfrau bist.« Die Häscher lachten grausam. »Und wenn nicht … nun, in diesem Fall kannst Du uns noch viel Freude bereiten.« »Wenn ihr mich anrührt, werdet ihr es büßen!« rief Nizam. »Mein Vater wird euch bis in euer schändliches Grab verfolgen!« Die Drohung schien die Vampire nur noch mehr zu erheitern. »Wer sich gegen den König auflehnt, ist des ewigen Todes«, antwortete einer der Häscher. »Du weiß genau, welche Nacht heute ist. Die Nacht des Hundertsten Mondes. Die Nacht, in der wir unserem Gründervater Gandhara Sas-Bahu Ehre und Dank zu erweisen haben. Du hast dein Schicksal selbst gewollt, wenn du dich in dieser Nacht hier draußen herumtreibst.« Der Ring schloß sich dichter um sie. Eine feste Hand griff nach ihrer Schulter. »Nein!« Nizam schrie auf. Blitzartig tauchte sie unter dem Arm des Häschers hinweg. Die Überraschung war auf ihrer Seite. Die Vampire hatten nicht mit Widerstand gerechnet. Vor allen Dingen nicht mit Nizams Schnelligkeit.
Wie der Blitz befreite sie sich aus dem Halbkreis der Häscher und lief davon. Instinktiv war sie der Versuchung nahe, ihre vampirische Fähigkeit, sich in eine Fledermaus zu verwandeln, zu entfalten, um sich mit ledrigen Schwingen in die Nacht zu erheben. Aber die Metamorphose hätte wertvolle Zeit gekostet. Zeit, in der ihre Verfolger sich vielleicht schon auf sie gestürzt und sie überwältigt hätten. Außerdem würde keine Macht der Welt sie davon abhalten, sich ebenfalls in Fledermäuse zu verwandeln, um ihr in die Lüfte zu folgen. Nein, vielleicht boten die verwinkelten Gassen Al’Theras mehr Chancen, ihrem Schicksal doch noch zu entkommen. Al’Thera bestand aus fünf ringförmig angeordneten Teilen, deren fünfter, äußerer Ring die Stadtmauer bildete. Nizam befand sich auf den Straßen des vierten Rings. Sie konnte die hohen Wälle der Stadtmauer bereits sehen. Es war die falsche Richtung! Dort würde sie nur den Wachen in die Hände fallen! Sie schlug ein paar Haken und tauchte in den engen Gassen zwischen den Häusern unter. Die Häscher folgten ihr dichtauf. Sie hörte kaum deren Schritte, weil sie sich mit der Gewandtheit von Raubtieren bewegten. Dunkle Schatten, deren Jagdinstinkt nun vollends erwacht war. Aber auch Nizams Urinstinkte waren nun vollends erwacht. Sie erinnerte an eine nachtschwarze Katze, die mit den Schatten verschmolz. Kurz bevor sie eine Querstraße erreichte, tauchten vor ihr plötzlich weitere Vampire auf. Nizam sprang zur Seite und huschte in eine enge Passage. Ihre Flucht kam ihr plötzlich so sinnlos vor. Wohin sollte sie sich wenden? Letztlich würde sie im Kreis laufen. Und ihre Verfolger wurden immer zahlreicher. Wahrscheinlich steckten sie hier überall und warteten nur darauf, daß sich jemand wie sie auf den Straßen zeigte.
Ihr Elternhaus! Es war vielleicht ihre einzige Rettung. Fast sämtliche Häuser waren verbarrikadiert. Nicht, daß jemand ernsthaft glaubte, den Häschern des Vampirkönigs wirklichen Widerstand leisten zu können. Selbst wenn man einen von ihnen überwältigte, würden dreimal so viele zurückkommen. So war es mehr ein Ausdruck der Angst, daß eine ihrer Jungfrauen als Opfer auserkoren werden könnte. Niemand würde Nizam helfen. Niemand würde sie vor den Häschern verstecken. Bis auf ihre Eltern. Mit pochendem Herzen duckte sie sich in eine Türnische und ließ eine weitere Gruppe von Häschern vorbeilaufen. Sie hatten sie nicht bemerkt! Nizam schlug den Weg zu ihrem Elternhaus ein. Wie sie ihren Ungehorsam bereute! Es war so töricht gewesen, anzunehmen, daß ausgerechnet sie sich über die Regeln hätte hinwegsetzen können. Sie verfluchte die Unvernunft ihrer Jugend und die Schwachheit ihres Fleisches. Endlich erreichte sie ihr Elternhaus. Das Eingangstor war verschlossen. Sie pochte mit beiden Fäusten an die große Pforte. »Laßt mich herein! Schnell!« In der Gasse hinter ihr tauchte eine weitere Gruppe von Königstreuen auf. Noch eine Spur verzweifelter setzte Nizam ihr Pochen fort. »Bitte, macht auf!« flehte sie. »Macht doch auf! Ich bin es, Nizam!« Die Häscher kamen langsam heran. Es war eine andere Gruppe als die, die sie zuerst verfolgt hatte. Drei hochgewachsene Vampire, in deren Gesichtern sich der gleiche maskenhaft starre Ausdruck befand wie bei allen übrigen Vasallen des Vampirherrschers. Sie hatten keinen Grund zur Eile. Selbst wenn der Frau geöffnet würde – niemand konnte ihnen den Einlaß verwehren. Mit der Gewißheit ihrer Macht näherten sie sich Nizam. Das Mädchen warf den Kopf herum. Instinktiv dachte sie daran,
weiter fortzulaufen, aber ihr Verstand sagte ihr, daß es keinen Zweck haben würde. Die Häscher waren überall. Und sie würden sie überall aufspüren … Da öffnete sich das Tor vor ihr. Arme zogen sie hinein in die schützende Dunkelheit des Hauses. Sie fiel fast ins Innere, während die Tür hinter ihr wieder zugeschlagen wurde. Sie war in Sicherheit! Zumindest vorläufig. Aber vor ihr standen nicht etwa ihre Eltern. Es war eine Frau, die sie noch nie gesehen hatte, von solcher Schönheit, daß selbst Nizam dagegen wie ein häßliches Entlein wirkte. Das Gesicht der Unbekannten besaß engelsgleiche Züge. Ihr Körper unter dem schlichten Gewand verhieß perfekte Maße. Am auffälligsten aber waren ihre fast weißblonden Haare, die in dieser Gegend Asiens so selten waren wie Wassertropfen in der endlosen Wüste. Nizam wußte, daß es Rassen gab, bei denen die Frauen nicht ausnahmslos dunkelhaarig waren, aber sie war noch nie einer blonden Frau leibhaftig begegnet. Noch dazu einer solch ätherischen Erscheinung. Aber was noch entscheidender war als ihre optischen Vorzüge, das war die körperliche Präsenz der Frau. Eine fast mit den Händen greifbare Sinnlichkeit ging von ihr aus. »Wer bist du?« fragte Nizam. »Wo sind meine Eltern?« Die Frau legte den Finger an die Lippen und gebot ihr zu schweigen. Unwillkürlich gehorchte Nizam dem stummen Befehl. Im nächsten Moment pochten draußen harte Fäuste gegen das Holz der Pforte. »Macht auf! Im Namen des Nachgeborenen, öffnet das Tor, oder ihr seid verflucht!« Nizam sah die fremde Frau angstvoll an. Hatte sie einen Plan, wie der Gefahr zu entgehen war? Mit einem Wink bedeutete die Unbekannte ihr, sich in den hinte-
ren Teil des Zimmers zurückzuziehen. Noch immer sprach sie kein Wort, was ihre geheimnisvolle Aura nur verstärkte. Dann öffnete sie die Tür. Die Häscher des Königs polterten herein. Als sie der fremden Frau ansichtig wurden, stutzten sie. »Wer seid Ihr?« fragte einer der Häscher. Automatisch redete er die Frau wie eine Höhergestellte an. Die Frau verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Nennt mich Salea.« »Ihr seid fremd hier. Ihr kommt nicht aus Al’Thera und kennt womöglich unsere Gesetze nicht. Es ist besser, wenn Ihr jetzt zur Seite tretet.« Salea blieb regungslos stehen. »Laßt das Mädchen in Frieden«, sagte sie. »Sie ist noch zu jung und unreif, um zu erkennen, welche Ehre es für Sie wäre, als Opfer auserkoren zu werden.« »Also kennt Ihr doch unsere Bräuche?« wunderte sich der Wortführer der Häscher. »Eure Sitten sind mir wohlbekannt. Zu jedem hundertsten Mond sucht ihr nach einer Jungfrau für euren Herrscher. Nehmt mich anstelle dieses Mädchens!« Sie strich sich mit ihren Händen verführerisch über Brüste und Hüften. »Oder gefalle ich Euch nicht?« flüsterte sie verheißungsvoll. »Euer Herr wird zufrieden mit euch sein, wenn ihr mich zu ihm bringt.« Es war offensichtlich, daß die Häscher in der Tat beeindruckt waren. Aber noch waren sie unsicher, wie sie sich verhalten sollten. Sie waren es nicht gewohnt, daß sich jemand freiwillig als Opfer anbot. Außerdem war Salea zu fremdartig, als daß sich ihr Mißtrauen so einfach beiseiteschieben ließ. Trotz der fast magischen Aura der Frau. »Wer sagt uns, daß Ihr kein falsches Spiel treibt?« fragte einer. »Und wer, daß Ihr noch Jungfrau seid?« fügte ein anderer hinzu. Salea lächelte spöttisch. Aber selbst im Spott lag eine verführeri-
sche Faszination auf ihren vollen Lippen. »Wollt ihr es testen?« fragte sie und deutete auf ihren Schoß. »Es würde mir schon gefallen, aber ich weiß nicht, was euer Herr dazu sagen würde.« Die Häscher berieten sich flüsternd. »Also gut«, sagte der Wortführer schließlich. »Was kann es schaden, wenn wir Euch erst einmal mitnehmen! Ihr scheint tatsächlich etwas ganz Besonderes zu sein.« Er warf Nizam einen abwertenden Blick zu. »Allerdings nehmen wir auch dieses Täubchen mit. Nur zur Sicherheit, falls Ihr die Unwahrheit gesprochen habt.« Nizam schrie auf, aber eine Handbewegung Saleas brachte sie zum Schweigen. Sie wandte sich dem verängstigten Vampirmädchen zu. »Vertrau mir«, sagte sie. »Sie werden dich schon wieder ziehen lassen.« »Meine Eltern … wenn ich sie nur noch einmal vorher sehen könnte. Nur für einen Moment!« flehte Nizam. »Alles, was ich tue, geschieht mit ihrem Einverständnis«, sagte Salea. Ihre Stimme klang nun kälter. Offensichtlich war sie es nicht gewohnt, daß man ihr nicht sogleich gehorchte. »Und nun zier dich nicht länger und komm mit!« Als wäre es ein Befehl gewesen, traten zwei der Häscher vor und nahmen Nizam in die Mitte. Ihr Widerstand war gebrochen. Alles, was sie tun konnte, war, zu gehorchen. Und zu hoffen, daß Salea wirklich die Retterin war, als die sie sich ausgab. Nur – warum hielten ihre Eltern sich verborgen? Welchen Handel hatten sie mit der schönen Fremden ausgemacht? Plötzlich kam sich Nizam wie übertölpelt vor. Vielleicht war es gar kein Zufall gewesen, daß sie so leicht an den Schlüssel, mit dem sie sich von ihren Ketten und aus ihrem Verlies hatte befreien können, herangekommen war. Ihrem Vater war der Schlüsselbund aus seinem Gewand gefallen, kaum daß er sie angekettet hatte. Er hatte es scheinbar nicht bemerkt, und Salea hatte rasch danach gegriffen.
Vielleicht war es Absicht gewesen. Vielleicht hatten ihre Eltern gewollt, daß sie heute nacht den Häschern in die Hände fallen sollte … Wie auch immer: Sie würde gehorchen und sich fügen. Was blieb ihr auch sonst zu tun übrig …?
* Al’Thera war ein Moloch, eine Metropole des Blutes, fest in der Hand der Alten Rasse. Fast zweihunderttausend Vampire lebten hier, darunter auch viele Sippenoberhäupter, die sich hier niedergelassen und dem König untergeordnet hatten. Kein Mensch, der je seinen Fuß über die Stadtgrenze gesetzt hatte, war von hier wieder entkommen. Aus diesem Grunde war Al’Thera in all den Jahrhunderten ihres Bestehens so gut wie unbekannt geblieben. Nur in den Köpfen einiger Gelehrter spukte der Name als sagenhafte Legende herum. Obskure Schriftrollen sprachen von der Stadt der fünf Ringe, in deren innersten ein sagenhafter Schatz verborgen liegen sollte, während der fünfte, äußere Ring die gewaltige Stadtmauer aus schwarzem Basalt bildete. Die Mauer war zugleich ein magischer Bannkreis, der die Stadt von der Außenwelt abschirmte. Wenn eine Karawane sich in diese Gegend verirrte, mochte es sein, daß die Mauern für kurze Zeit sichtbar wurden – um die Menschen anzulocken und ins Verderben zu führen. Der nächste Ring bestand aus den Häusern der vampirischen Bewohner und den Stallungen ihrer menschlichen Sklaven. Viele der Häuser waren miteinander verbunden; winzige Straßen und Gassen bildeten ein für Eingeweihte fast undurchdringliches Labyrinth, das sich in unterirdischen Tiefen fortsetzte. Dieser Ring war eine Stadt für sich. Kaum einen der Bewohner drängte es über die Stadtmauer hinaus. Sie hatten in Al’Thera alles,
was sie für ihre Existenz brauchten. Und ebenso zog es keinen von ihnen in den Bereich des dritten Ringes. Dieser wurde vom Herrschergefolge und ihren Familien und Sippen bewohnt. Diese Privilegierten zogen es vor, unter sich zu bleiben. Der zweite Ring bildete den eigentlichen Palast, in dem der Vampirkönig mit seinen engsten Vertrauten herrschte. Das wirkliche Zentrum der Macht lag jedoch im inneren Ring: Die geheimnisvollen Tempelbauten, düsteren Göttern geweiht, den »Hohen Wesen«, und magischen Zeremonien vorbehalten. In der Mitte der ringförmigen Tempelbauten befand sich der Stein des schwarzen Blutes. Ein verehrtes Unheiligtum, das die Macht und den Zauber Al’Theras einst begründet hatte und seinen Fortbestand garantierte. Salea befand sich im zweiten Ring, dem Palast. Sie wartete. Die Häscher hatten sie in einen mit prunkvollen Säulen verzierten Raum gebracht. Ein Lager mit Teppichen und Kissen lud dazu ein, es sich bequem zu machen, aber danach stand ihr nicht der Sinn. Sie war aus einem anderen Grund hier. Dochte sogen Kokosöl aus goldenen Lampen und illuminierten den Raum mit ihrem angenehmen Schimmer. In kristallenen Spiegeln brach sich die verführerische Pracht und warf sie dutzendfach zurück. Alles war wie dafür geschaffen, daß sie sich mehr als Gast denn als Gefangene fühlte. Und beinahe war Salea versucht, dem schönen Schein zu glauben. Aber eben nur beinahe … Die Tür öffnete sich, und ein Vampir betrat den Raum. Eine ehrfurchtgebietende Gestalt, wohl über zwei Meter groß und in eine purpurne Robe gehüllt. Sein Gesicht war von Narben übersät. Sie erschienen wie ein zufälliges Gittermuster und zeugten von seiner gewalttätigen Vergangenheit. Vielleicht hatte er sie sich bei Kämpfen mit anderen seiner Art zugezogen, vielleicht aber auch bei Auseinandersetzungen mit Menschen. Damals, beim legendären Aufstand
der Sklaven vor über dreihundertfünfzig Jahren, der als »Die Nacht des Blutes« in die Annalen Al’Theras eingegangen war. Der Kelchhüter, der kurz darauf in die Stadt gekommen war, hatte Nächte damit zugebracht, die Reihen der Vampire neu zu füllen, mit Kindern, die aus den Dörfern im weiten Umkreis geraubt worden waren. Es war eine Zeit, in der Mahabali noch wahrhaft groß gewesen war. Auch heute noch strahlte sein Gesicht einen Abglanz markanter Männlichkeit aus, wenngleich es längst voll geworden war, mit hängenden Wangen und einem Doppelkinn. Auch der Körper, der sich unter der Robe abzeichnete, wies weniger Muskeln als Speckwülste auf. Salea wußte, daß sie den Vampirkönig, Mahabali, vor sich hatte. Den allmächtigen Herrscher von Al’Thera, einem direkten Nachgeborenen des legendären Gründers. Der Herrscher hatte den Raum allein, ohne seine Wachen, betreten. Nun musterte er sie arrogant und herrisch. Salea erwiderte den Blick ohne Furcht. »Also haben mir meine Diener nicht zuviel versprochen«, sagte Mahabali schließlich. »Eine Frau mit Haaren aus weißem Gold!« Seine Augen verrieten die Begehrlichkeit, die hinter seinen Worten steckte. Und die betraf nicht nur ihre Haare. »Bis Mitternacht haben wir noch ein paar Stunden Zeit.« Salea ahnte, was er damit sagen wollte. Also stimmten die Gerüchte, daß sich Mahabali zuvor an den auserwählten Opfern labte. Nein, selbst er würde es nicht wagen, die Jungfräulichkeit der Auserwählten aufs Spiel zu setzen. Aber vielleicht hatte er andere Methoden. Er nestelte an seinem Gewand, und es fiel zu Boden. Offensichtlich hatte er nicht vor, viele Worte zu verlieren. Seine Männlichkeit war mittelprächtig und stand kaum. »Zieh dich aus!« befahl er. »Oder magst du es lieber, wenn ich dir
das Gewand vom Leib reiße?« Mit einer geschickten Bewegung ließ auch Salea ihr Tuch zu Boden gleiten. Mahabali war offensichtlich beeindruckt. Schweratmend näherte er sich ihr. Salea sank auf das mit Kissen und Decken bereitete Lager zurück. Mahabali legte sich plump zwischen ihre Schenkel. Er war so erregt, daß ihm kaum bewußt war, wie höhnisch Salea ihn taxierte. »Sei deinem König zu Diensten!« stieß er hervor. Er küßte sie. Seine Zunge bohrte sich wie ein Pfahl in ihren Mund, fuhr wieder heraus, arbeitete sich tiefer, über ihren Hals, und wanderte zu ihren vollendeten, weichen Brüsten. Im Wechsel massierte er mit den Fingern die eine Brust, während er an der anderen gierig saugte. Obwohl sie es nicht wollte, zeigte allmählich auch Salea Wirkung. In Nächten wie dieser war jeder Vampir von Lust erfüllt – ein Gieren, das man nicht einfach unterdrücken konnte. Sie stöhnte, und ihre Brustwarzen wuchsen und verhärteten sich unter seinen Anstrengungen. Seine direkte, wenig einfühlsame Art erregte sie mehr, als es bei zärtlicheren Liebkosungen der Fall gewesen wäre. Sein Glied war noch immer nur halbsteif, aber Salea hatte keinen Zweifel, daß dies nicht das Problem sein würde. Sie verfügte über Techniken, einen halb impotenten, dekadenten Herrscher mehr als nur zufriedenzustellen. Sie spürte, wie seine Zähne sich fast schmerzhaft in ihre Brüste bissen, und ein erster, vorweggenommener Höhepunkt durchrieselte sie. Seine Zunge ging weiter auf Entdeckungsreise, über ihren Bauch, den Nabel bis hinab in das feuchte Dreieck zwischen ihren Schenkeln. Sie zog die Beine an, faßte seinen Kopf und dirigierte ihn zu der richtigen Stelle. Mahabali war alles andere als ein geschickter Liebhaber, aber unter Saleas Führung bewies er eine erstaunliche Lernfähigkeit. Mit schnellen Zungenbewegungen brachte er sie zur Ekstase.
Sie schrie. Als er über ihren Bauch aufblickte, sah er, daß sie ihre Augen geschlossen hatte und ihre Brüste mit den Händen knetete. Im nächsten Moment vollzog sie eine geschickte Drehung, so daß auch sie ihre Zungenfertigkeit unter Beweis stellen konnte. Tatsächlich schwoll Mahabalis Männlichkeit unter ihren Bemühungen um einiges an. Nun begann auch er zu stöhnen … Nach einer Stunde hatten sie sämtlichen Abarten des Liebesspiels Tribut gezollt – außer einer. Salea hätte vieles dafür gegeben, seine Männlichkeit vollends in sich aufzunehmen, und auch Mahabali lechzte nach der Vereinigung. Aber damit hätte sie alles aufs Spiel gesetzt. Als er sich auf sie warf und in sie dringen wollte, stieß sie ihn brüsk zur Seite. »Wie könnt Ihr daran nur denken!« erinnerte sie ihn. »Nur als Jungfrau bin ich würdig, dem Gründer geopfert zu werden.« Mahabali kam schweratmend auf dem Rücken zu liegen. Zorn umwölkte seinen Blick, und Salea befürchtete, im Ton zu weit gegangen zu sein. Ihre Hände massierten ihn sanft weiter, so daß er sich beruhigte. »Für Euer Verlangen könnt Ihr immer noch das andere Mädchen nehmen, das Eure Wachen mitgebracht haben«, betörte sie ihn. »Ihre Jungfräulichkeit reizt mich nicht halb so viel wie die deine«, knurrte Mahabali. »Aber du hast recht. Es wäre gefährlich, den Zorn des Gründers heraufzubeschwören.« Mißtrauen schlich sich in seinen Blick. »Ich frage mich schon die ganze Zeit, wer du wirklich bist. Warum wolltest du dieses andere Mädchen retten, wo dir in anderer Hinsicht doch nicht allzuviel an ihr zu liegen scheint?« »Sie war mir Mittel zum Zweck. Ich habe sie aus der Obhut ihrer Eltern befreit, weil ich sie schon länger beobachtet habe. Ich sorgte dafür, daß dieses dumme Ding trotz des Vollmonds nichts Besseres zu tun hatte, als auf die Straße zu laufen und Euren Häschern zu begegnen. Ich habe sie die ganze Zeit im Auge behalten bis zu dem
Moment, als Eure Schergen zugriffen …« »Und ihre Eltern …?« Salea zuckte mit den Schultern. »Man muß Opfer bringen, um ein höheres Ziel zu erreichen«, sagte sie leichthin. »Warum hast du dich nicht direkt gestellt?« »Weil die List ein bevorzugter Zeitvertreib für mich ist, mein Gebieter. Auch die Katze spielt mit der Maus, bevor sie sie verschlingt …« Mahabali runzelte die Stirn. Was sie sagte, war für ihn nur schwer zu begreifen, aber andererseits vollführten Saleas Hände auch in diesem Moment wieder Wunderdinge an seinem Körper. Es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen. »Warum bist du so erpicht darauf, geopfert zu werden? Du bist jung und schön. Alle Männer liegen dir wahrscheinlich zu Füßen. Selbst ich wäre nicht abgeneigt, es länger mit dir auszuhalten …« »Es ist ein Gelübde meiner Sippe gegenüber«, sagte Salea. »Sie haben Schuld auf sich geladen, und durch mein Opfer kann ich ihren Namen reinwaschen.« »Dann bist du ein Sippenoberhaupt?« fragte er erstaunt. Salea neigte den Kopf. »So ist es. Ich kam her, um mich Euch zu unterwerfen, und meine Sippe zog mit mir nach Al’Thera. Doch dann kam es zum Streit mit einer anderen, bereits hier ansässigen Sippe, und …« Sie seufzte. »Aber die Einzelheiten würden Euch nur langweilen, mein Gebieter …« »Wahrscheinlich hast du recht«, grunzte Mahabali, des Redens müde. »Vor allen Dingen, weil uns nur noch wenig Zeit bis Mitternacht bleibt und mir gerade noch eine weitere, äußerst phantasievolle Art, sich Vergnügen zu schenken, eingefallen ist.« Salea schloß die Augen und ließ ihn willig gewähren.
*
Die beiden Vampirinnen ließen bewundernde Blicke über Saleas vollendeten Körper schweifen. Die Liebesstunden mit dem König schien ihn nur noch mehr zum Erblühen gebracht zu haben. Ihre makellose weiße Haut schimmerte verführerisch. Die vollen Brüste mit den rosafarbenen Knospen schienen wie aus Marmor gemeißelt. Wahrscheinlich hätten die beiden Vampirinnen liebend gern das fortgesetzt, was ihr Gebieter begonnen hatte, aber sie wagten noch nicht einmal, Salea anzusprechen. Salea ließ sich willig von den beiden Frauen waschen und pflegen. Sanfte Hände cremten sie ein und massierten ihren Rücken. Duftende Essenzen wurden auf ihrer Haut verrieben. Schließlich hüllten sie sie in ein fast durchsichtiges, seidenes Tuch, das ihren Körper wie eine zweite Haut umgab. Die ganze Zeit über hatte Salea ihre rechte Hand nicht geöffnet. Kein Wunder – schließlich verbarg sie etwas darin, das sie in den Falten ihres eigenen Gewandes mit in den Palast gebracht hatte und von nun an nicht mehr aus der Hand legen würde. Wenn sie es verlor, würde sie sterben … Nicht zum ersten Mal fiel ihr Blick auf das riesige Schwimmbassin, das sich in der Mitte des Raumes befand. Das Wasser darin wirkte fast schwarz, was mit der Tiefe des Beckens zusammenhängen mußte. In Wirklichkeit war es kristallklar und entstammte wahrscheinlich einer unterirdischen Quelle. »Ich hätte gerne noch ein Bad darin genommen«, sagte Salea plötzlich und deutete auf das tiefe Wasser. Die beiden Vampirinnen sahen sie erschrocken an. Sie wollten etwas sagen – und erst jetzt bemerkte Salea, daß sie es gar nicht konnten. Man hatte ihnen die Zunge entfernt. Dennoch gaben sie ihr zu verstehen, daß es zu spät für ein Bad sei. Immerhin war sie bereits eingekleidet worden. Das Zeremoniell rückte näher …
»Ich mache, was mir beliebt«, sagte Salea. Die dunkle Tiefe des Bassins übte einen fast magischen Reiz auf sie aus. Wie tief mochte es sein? Wohin mochte es führen? Fast spielerisch warf sie das Seidengewand wieder ab und trat nackt an den Beckenrand. Die Wasseroberfläche war völlig regungslos. Salea versuchte mit ihren Blicken die Tiefe zu ergründen, aber alles, was sie zu erkennen glaubte, war ein noch dunklerer Schatten irgendwo dort unten. Sie zögerte nicht länger und sprang hinein. Die Eiseskälte des Wassers spürte selbst sie. Ein normaler Mensch hätte wahrscheinlich einen Schock erlitten. Doch nach wenigen Sekunden hatte sie sich nicht nur an die Kälte gewöhnt, sondern genoß sie wie ein angenehmes Streicheln. Dann tauchte sie unter. Minuten vergingen, ohne daß Salea wieder auftauchte. Beunruhigt traten die beiden Vampirinnen an den Beckenrand. Sie waren für das Wohl Saleas verantwortlich! Wenn ihr etwas zustieß, würde man sie zur Verantwortung ziehen! Eine der Vampirinnen ließ sich auf die Knie fallen, damit sie besser in die Tiefe schauen konnte. Von Salea war nichts zu sehen. Nur eine leichte Kräuselung des Wassers verriet, daß sich etwas in der Tiefe bewegte. Die Vampirin legte ebenfalls ihr Kleid ab. Vielleicht war Salea etwas widerfahren. Sie würde nach ihr tauchen und … Plötzlich kam Bewegung in die Wasseroberfläche. Der dunkle Schatten in der Tiefe schien Formen und Konturen anzunehmen. Und dann bahnte sich etwas mit atemberaubender Geschwindigkeit seinen Weg nach oben. Salea? Nein, was dort herankam, war viel zu groß! Das Wasser brodelte, als wäre es kochend heiß. Die beiden Vampirinnen fuhren erschrocken zurück und wollten flüchten. Zu spät.
Ein massiger Körper durchbrach die Wasseroberfläche. Ein behörnter Kopf mit einem riesigen Rachen, in dem mehrere Reihen nadelspitzer Zähne blitzten. Ein beschuppter Leib, Tatzen mit stahlscharfen Klauen und ein dornenbewehrter Schwanz. Alles ging blitzschnell und fast lautlos vonstatten. Die Vampirinnen hatten nicht die Spur einer Chance. Diejenige, die sich entkleidet hatte, erwischte das Ungeheuer sofort. Ein fast spielerischer Tatzenhieb warf sie gegen die Wand und brach ihr das Genick. Die zweite Vampirin hätte fast die Tür erreicht. Fast! Als sie noch einen Meter davon entfernt war, wurde sie von dem massigen Leib einfach zu Boden gedrückt und zerquetscht. Die Kreatur aus dem Bassin bewegte sich mit alptraumhafter Geschicklichkeit. Sie packte die beiden reglosen Leiber, schleifte sie zum Bassin und warf sie hinein. Dann schleckte es die wenigen Blutspuren, die den weißen Marmorboden besudelt hatten, genüßlich mit der Zunge auf. Schließlich begab sich das Wesen selbst wieder zum Bassin. Es war kaum zu glauben, daß der massige Körper dort hineinpaßte. Die Kreatur sprang in das Becken und bewies dabei die Geschmeidigkeit eines Reptils, das sich den Konturen des Beckens beliebig anpassen konnte. Die toten Leiber der beiden Vampirinnen wurden mit in die Tiefe gezogen. Eine Weile noch kräuselte sich die Oberfläche, dann war nichts mehr zu sehen. Der Raum lag wieder so ruhig da, als wäre nie etwas passiert. Bis eine junge, engelsgleiche Frau aus den Wassern auftauchte, mit wenigen Schwimmstößen den Rand des Bassins erreichte und sich daran hochzog …
*
Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht, als zwei Wachen ohne anzuklopfen die Tür aufrissen und den Raum betraten. Salea schaute ihnen gleichmütig entgegen. Wieder trug sie ihr seidenes Gewand. Ihr Körper duftete betörend. Ihr Anblick und ihre physische Präsenz blieben nicht ohne Wirkung auf die beiden Wachen. Ungeniert ließen sie ihre Blicke über den Körper der Frau wandern. »Schade, daß wir nicht noch ein wenig Zeit haben«, grinste eine der Wachen. »Na ja, dann begnügen wir uns nachher noch mit den beiden anderen Schönen. Wo stecken sie überhaupt?« Sein Blick suchte die beiden Dienerinnen. Er schaute zum Bassin. Das Wasser ruhte schwarz wie eh und je. Daß es diesmal jedoch das schwarze Blut der Vampirinnen war, das es tiefdunkel gefärbt hatte, konnte er nicht ahnen. »Sie haben ihre Arbeit erledigt. Ich habe sie fortgeschickt«, sagte Salea und setzte ihr verführerischstes Lächeln auf. »Zu schade, daß ihr nicht früher gekommen seid!« Die beiden Wachen fühlten sich sichtlich geschmeichelt. Es war ihnen anzumerken, daß sie ihre vampirischen Instinkte kaum noch unter Kontrolle hatten. »Genug mit dem Geschwätz«, kam einer der beiden zur Sache. »Der König wartet bereits.« »Und ebenso Gandhara Sas-Bahu auf sein williges Opfer«, ergänzte der zweite. Salea wirkte gefaßt und bereit. »Also laßt uns gehen«, sagte sie. »Schließlich will ich nicht schuld daran sein, wenn wir uns verspäten.« Die beiden Wachen nahmen sie in ihre Mitte, wagten aber nicht, sie zu berühren. Der Raum, in dem die Vorbereitungen getroffen worden waren, befand sich im äußeren Bereich der Tempelanlage. Der Weg durch die Gänge und verschiedenen Räume schien endlos zu dauern. Salea
hatte genügend Zeit und Muße, die Pracht und den zur Schau gestellten Reichtum zu bewundern. Al’Thera war tatsächlich eine beneidenswerte Metropole, wenn sich der Herrscher diesen Prunk erlauben konnte. In der übrigen Stadt war von diesem Reichtum nicht allzuviel zu bemerken gewesen. Wahrscheinlich waren die Einwohner zufrieden damit, daß sie mit genügend Menschenblut versorgt wurden und keinen Hunger zu leiden hatten. Vielleicht mußten sie ja sogar dafür zahlen, daß sie unter dem Schutz Al’Theras ihr sorgloses Leben fristen durften. Je weiter sie dem Zentrum kamen, um so prunkvoller wurde das Ambiente. Mahabali schien kein Freund von Bescheidenheit zu sein, und er hatte auch den Tempelanlagen seinen Stempel aufgedrückt. Blattgoldverzierte Wände und Säulen, wohin der Blick fiel, kostbare Schnitzereien, mit Edelsteinen besetzte Statuen, erlesene Möbel und prunkvolle Lüster aus anderen Teilen des Landes. Salea begann zu ahnen, woher der Reichtum stammte. Die Karawanen, die durch die Wüste zogen, waren reich beladen. Wer mochte wissen, seit wie vielen Jahrhunderten die Herrscher von Al’Thera hier fremde Schätze anhäuften. Selbst Salea wußte nicht, wie alt Al’Thera wirklich war. Aber sie hatte sich kundig gemacht: Eine Legende besagte, daß Gandhara Sas-Bahu, der sagenhafte Gründer, Al’Thera auf noch älteren Mauern errichtet hatte … Aber selbst das war so lange her, daß Sas-Bahu nur noch als Götze Bedeutung besaß. Die Opferungen ihm zu Ehren waren längst Institution und Routine geworden. Die Jahrhunderte waren auch an diesem Kult nicht spurlos vorübergegangen. Salea konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart, als die beiden Wachen sie ins Freie führten. Sie blickte auf einen erleuchteten Platz, in dessen Mittelpunkt sich der Stein des schwarzen Blutes befand. Der Opferaltar. Er bestand aus dem gleichen schwarzen Basalt wie die äußeren Stadtmauern. So gesehen machte alles einen eigentümlichen Sinn.
Auf einer Tribüne hatte der Vampirkönig mit seinem Gefolge Platz genommen. Mit keiner Miene gab er zu erkennen, daß er irgendwelche Gefühle für Salea hegte. Neben ihm befanden sich seine Frauen und Konkubinen. Salea erkannte auch Nizam darunter. Also hatte Mahabali sie nicht ziehen lassen. Das Mädchen machte einen abwesenden, teilnahmslosen Eindruck. Vielleicht war sie hypnotisiert. Vielleicht hatte man auch ihren Verstand zerstört … Die beiden Wachen schoben sie vorwärts. Adepten setzten eigentümliche Knocheninstrumente an die Lippen und begannen ihnen eine gespenstische Melodie zu entlocken. Fackeln schufen eine feierliche Atmosphäre. Zwei Priester hatten vor dem Altar Aufstellung bezogen. Sie trugen das Zeichen Gandhara Sas-Bahus, eine gehörnte Fledermaus. In ihren Händen hielten die Priester scharfe Dolche. Selbst Salea zuckte plötzlich zusammen, als ihr solcherart vor Augen geführt wurde, auf was sie sich eingelassen hatte. Nun, hatte sie etwas anderes erwartet? Ihr schwarzes Blut würde den Altar noch schwärzer färben. Vielleicht beschworen die Priester auf diese Weise ja tatsächlich den Geist des legendären Gründers herauf. So oder so würde es ihren Tod bedeuten, selbst wenn Gandhara Sas-Bahu nicht erscheinen würde. Sofern es nach dem Plan des Herrschers und der Priester lief … Doch Salea hatte ihre eigenen Pläne. Ihre rechte Hand schloß sich noch fester zur Faust. Die Wachen drängten sie weiter vorwärts. Nun nahmen sie keine Rücksicht mehr. Brutal stießen sie sie zu Boden. »Küß die unheilige Stätte!« hörte sie einen der Priester sagen. Angewidert tat Salea, was man von ihr forderte. Die Wachen zogen sie wieder hoch und stießen sie weiter vorwärts, bis sie direkt vor dem schwarzen Altar stand. Sie wußte, was man nun von ihr erwartete. Mit einer anmutigen, katzenhaften Bewegung glitt sie auf den Altar und legte sich nieder. Der Stein strahlte eine unirdische Kälte aus, die selbst ihr durch
Mark und Bein ging. Die unwirkliche Kälte berührte ihr Innerstes. Und anders als das Wasser in dem Bassin ließ sich diese Kälte nicht ohne weiteres abschütteln. Salea begann zu ahnen, daß die Ausstrahlung des Steins nur ein Abglanz dessen war, was sie wirklich erwartete. So, als sei er nur die Tür zu finsteren, noch kälteren Dimensionen. Eine Tür, die noch verschlossen war, die sich jedoch mit ihrer Opferung öffnen würde … Um was herauszulassen? Die Wachen entfernten sich, während die Priester rechts und links von ihr Aufstellung nahmen. Die atonale Musik der Adepten steigerte sich zu einem dissonanten Crescendo. Der Altar befand sich unter freiem Himmel, so daß Salea den nachtschwarzen Himmel über sich sah. Dunkle Wolkenbänke schoben sich vor den vollen Mond. Es schien, als seien sie Vorboten von etwas noch Dunklerem. Wind kam auf und trieb sie schneller vor sich her. Saleas weißblonde Haare flossen über den Stein. Nicht mehr lange, und ein Sturm würde sich erheben … Die Priester sahen sich bedeutungsvoll an. Die plötzliche Wetterverschlechterung und das Verdunkeln des Mondes schien auch ihnen nicht geheuer. Dennoch setzten sie das Ritual fort und rezitierten uralte Worte in einem merkwürdig hohen Singsang. Salea spürte die Magie, die in diesen Worten lag. Aber sie spürte auch, daß dies erst der Anfang war. Noch konnte sie sich frei bewegen. Und klar denken! Mit einer heimlichen Geste drehte sie das Ding in ihrer Hand und faßte es zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war ein Stück Kreide. Der Singsang der Priester wurde immer schriller. Trotzdem: Die Spannung, die in der Luft lag, war nicht ihrer Zeremonie zuzuschreiben. Auch der Vampirherrscher und sein Gefolge schienen nun zu spüren, daß etwas Außergewöhnliches im Gange war. Ein
Raunen erhob sich von der Tribüne her. Die Wolken am Himmel spielten verrückt. Sie schienen einen grotesken Tanz aufzuführen, der nur den einen Zweck hatte, den Betrachter mit Wahnsinn zu umgarnen. Die anfänglichen Windböen waren innerhalb von Minuten in einen Sturm übergegangen, der feinen Wüstensand mit sich trug. Das Heulen des Sturmes hatte selbst für Vampirohren etwas Schauriges an sich. So, als trüge er Stimmen verlorener Seelen mit sich … Mit einer Geste gab Mahabali den Priestern zu verstehen, daß sie sich beeilen sollten. Was immer der Sturm auch zu bedeuten hatte, Mahabali zog es vor, rasch von diesem Platz wegzukommen. Aber noch war er gebunden. Die Zeremonie hatte gerade erst begonnen. Die Priester hoben wie auf ein Kommando gemeinsam ihre Dolche. Salea sah die blankgeschliffenen scharfen Klingen im Schein der heftig flackernden Fackeln unheilvoll aufblitzen. Jetzt! Jetzt war die Zeit zum Handeln gekommen! Noch bevor die Hände der Priester mit den Dolchen auf sie niederstießen, um ihr schwarzes Blut strömen zu lassen, rollte sie wie eine Raubkatze vom Altar herunter. Die Dolche stießen ins Leere. Die Wachen waren zu weit entfernt. Dafür reagierten die beiden Priester sofort. Mit einem wütenden Geheul stürzten sie sich auf Salea. Die Vampirin fauchte. Blitzschnell riß sie eine der Fackeln aus ihrer Halterung und schleuderte sie den beiden Vampiren entgegen. Das Gewand des einen Priesters fing Feuer. Schreiend warf sich der Vampir auf den Boden, während die Flammen auf seinen Körper übergriffen. Gleichzeitig stürzte sich Salea auf die schmächtige Gestalt des zweiten Priesters. Die Wucht des Anpralls ließ ihn zu Boden gehen.
Aus den Augenwinkeln vergewisserte sich Salea, daß die Wachen noch immer keine Anstalten machten, einzugreifen. Statt dessen bildeten sie einen weitläufigen Ring um den Altar. Eine Handbewegung ihres Herrschers hielt sie davon ab, sich auf die junge Frau zu stürzen. Offensichtlich genoß er Schauspiele wie dieses. Wie eine Katze, die mit der Maus spielte … Wir sind uns ähnlicher, als ich dachte, schoß es Salea durch den Kopf. Die Wachen sollten abwarten, wie sie sich schlug. Danach war sie so oder so verloren … Die Übermacht der Männer würde Salea nichts entgegenzusetzen haben. Sie konzentrierte sich wieder auf den Priester. Er wand sich unter ihrem Griff. In seinen Augen flackerte Todesangst. Salea grinste verächtlich. Er, der wahrscheinlich schon viele Jungfrauen der endgültigen Vernichtung zugeführt hatte, zitterte vor Angst, sein eigenes armseliges Leben zu verlieren! Aber er hatte Glück. Salea war gar nicht darauf aus, den Priester zu töten. Im Gegenteil; wenn sie es tat, würden die Wachen eingreifen und ihr kostbare Zeit nehmen. Sie zog den Priester in die Höhe, stellte ihn geradezu auf seine schlackernden Beine – und stieß ihn von sich. Der Vampir taumelte haltlos zurück, ruderte haltsuchend mit den Armen und setzte sich rücklings auf den Boden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Salea sich schon niedergebeugt und zeichnete mit der Kreide ein magisches Symbol auf den Stein. Ein Schrei kam von der Tribüne her. Der Vampirkönig hatte ihn ausgestoßen. Ahnte er, daß Salea mehr im Sinn hatte, als sich nur gegen die Opferung zur Wehr zu setzen? »Ergreift das Weib!« rief er. »Schnell!« Salea ließ sich nicht beirren. Sie hatte die magischen Zeichen hunderte Male geübt und beherrschte sie im Schlaf. Es waren drei ineinander verschachtelte Dreiecke. Kaum hatte sie das Symbol beendet, ließ sie das Kreidestück fallen
und sprang zurück. Keine Sekunde zu früh. Rauch wallte aus dem Inneren des Zeichens hervor. Rauch, der sich fast augenblicklich zu einem undurchdringlichen Nebel verdichtete. Im Innern des Nebels regte sich etwas. Etwas Schwarzes, das entfernt an die Umrisse im Bassin erinnerte – an dessen innere Wandung sie vor wenigen Stunden das Symbol ebenfalls gezeichnet hatte, um sich seiner Wirkung noch einmal zu vergewissern. Die Wachen standen wie zu Stein erstarrt. Das Heulen des Sturms ging in ein kakophonisches Tosen über, als würden die Sterne selbst vom Himmel stürzen. Die Umrisse in der Nebelsäule gewannen Kontur. Klauenbewehrte Hände griffen daraus hervor. Im nächsten Moment schälte sich eine riesige Kreatur heraus. Es war das Wesen aus dem Bassin. Es überragte sämtliche Vampire. Die Wachen wichen erschrocken zurück, als das Scheusal ein wütendes Brüllen ausstieß. Der Rauch und der Nebel ließen es wie einen Sendboten aus tiefsten Höllenschlünden erscheinen. Daneben stand Salea wie ein Todesengel. Triumphierend lächelnd hob sie die Arme zum Himmel, an dem noch immer das Chaos tobte. Blitze zuckten. Regen peitschte hernieder. Die Höllentore selbst schienen sich geöffnet zu haben. Salea vollführte eine weitausholende Geste, bis ihr Finger an einem bestimmten Punkt verharrte. Sie wies direkt auf Mahabali, den Herrscher von Al’Thera. Dessen Augen weiteten sich, als er ihre Geste begriff. Mit geschmeidigen Schritten setzte sich die Kreatur in Bewegung. Der Boden vibrierte unter ihren mächtigen Füßen. Die Wachen wichen von Panik erfüllt zurück. Diejenigen, die nicht schnell genug flüchteten, wischte das Ungeheuer mit einer fast lässig wirkenden Handbewegung beiseite. »Nein!« kreischte Mahabali. »Halt es mir vom Leibe! Ich erfülle
alle deine Forderungen!« Salea lachte spöttisch. »Ich nehme mir lieber selbst, was ich begehre.« Im nächsten Augenblick hatte die Kreatur den Herrscher erreicht. Er versuchte sich noch in einen Wolf zu verwandeln und zu flüchten, aber die riesigen Pranken packten seinen halb transformierten Körper und schmetterten ihn zu Boden. Mahabali war augenblicklich tot. Sein Körper löste sich zu Staub auf. Friede seiner Asche, dachte Salea spöttisch. Bevor das Ungeheuer weiter wüten konnte, machte sie eine weitere Handbewegung, die es innehalten ließ. »Hört mich an, Bürger von Al’Thera!« rief sie. Triumphierend blickte Salea in die Runde. Die Wachen, die übriggebliebenen Priester und Tempeldiener sowie das herrschaftliche Gefolge starrten sie fassungslos an. »Euch wird nicht das Geringste geschehen, wenn ihr mich als eure rechtmäßige Herrscherin anerkennt.« Sie deutete auf das Häuflein Asche, das von Mahabali übriggeblieben war und das der Wind bereits verwirbelte. »Ich habe ihn besiegt. Also werde ich seine Position einnehmen. Und ich verspreche euch, es wird nicht zu eurem Nachteil sein!« Mißtrauen schlug ihr wie eine Wand entgegen. »Wer garantiert uns, daß du es ehrlich meinst, wenn du schon den Kodex brichst?« fragte einer der Männer aus dem Gefolge. Der Kodex war das oberste Gesetz. Er besagte, daß kein Vampir einen anderen töten dürfe. Salea hatte ihn doppelt gebrochen – sogar viermal, rechnete man die beiden Dienerinnen mit ein, von denen die Menge nichts ahnte. Also gut, sie brauchen noch eine weitere Demonstration, dachte Salea. Ein Wink von ihr genügte, um die Kreatur wieder aktiv werden zu lassen. Mit einem Hieb seiner Klauen zerdrückte sie den Mann, der die Frage zu stellen gewagt hatte, am Boden. Von dem
Vampir blieb nicht mehr als ein blutiges Etwas auf den Marmorfliesen. Nun wagte niemand mehr zu widersprechen. Im Gegenteil; einer nach dem anderen sank auf die Knie und beugte demütig den Kopf vor ihr. »Wollt ihr mir gehorchen und mir dienen?« rief sie. »Wir gehorchen und dienen!« Sie kostete das prickelnde Gefühl der Macht mit allen ihren Sinnen aus. Es war berauschender als jeder Höhepunkt, den sie bislang in den Armen irgendeines Mannes erlebt hatte. Sie spürte, daß sie vor Erregung zitterte. Alles oder nichts, das war ihre Devise gewesen. Die Herrschaft oder den Tod. Sie hatte alles in die Waagschale geworfen – und gewonnen. Sie, Salea war die ungekrönte Herrscherin über Al’Thera. Für heute und immerdar.
* Zwei Stunden später befand sie sich in ihren neuen Gemächern. Alles, was getan werden mußte, um ihre gerade gewonnene Macht zu festigen, war vollbracht. Die Leibgarde war auf sie eingeschworen, die wichtigsten von Mahabalis ehemaligen Getreuen ihr zu Diensten, und auch die Priesterschaft kuschte vor ihr. Sie hatte einen ersten Sieg errungen. Einen ersten Sieg? Was dachte sie da? Den letztlichen Sieg! Niemand würde es nach den Geschehnissen der Nacht wagen, sich ihr noch in den Weg zu stellen. Ein Geräusch in ihrem Rücken ließ sie herumfahren. Als sie sah, wer den Weg durch das Fenster gewählt hatte, entspannte sie sich und lächelte. »Ich dachte schon, du kämst überhaupt nicht mehr. Ich habe mei-
ne Dienerinnen schon vor einer Ewigkeit weggeschickt. Oder möchtest du nicht, daß ich dir meine Dankbarkeit beweise?« Der junge Mann vor ihr verzog die Lippen zu einem Lächeln. Er trug nur ein leichtes Gewand, unter dem sich seine prächtigen Muskeln athletisch abzeichneten. Vor allen Dingen aber seine Männlichkeit nahm Saleas Blick gefangen. Welch ein Unterschied zu diesem Versager von Mahabali! Sie glitt aus ihrem Gewand und trat mit schnellen Schritten auf ihn zu. Noch fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, daß dies nur eine von vielen Gestalten war, die das Wesen annehmen konnte. Er war auch die Kreatur im Bassin und auf dem Tempelplatz gewesen. Rank’Nor verfügte über viele Gesichter. Gleichwohl, dachte sie. Heute nacht kam er in der Gestalt, in der er für den Moment am nützlichsten für sie war. Sie drängte ihren heißen und gar nicht mehr so jungfräulichen Körper an den seinen und rieb sich an ihm. Ihre Jungfräulichkeit! Das war das größte Risiko gewesen! Keiner der Trottel hatte daran gezweifelt oder sie einer Probe unterzogen. Selbst Mahabali hatte nicht an ihrer Jungfräulichkeit gezweifelt. Alles wäre umsonst gewesen, wäre die Wahrheit entdeckt worden! Na ja, dachte Salea. Dann hätte ich mir eben einen anderen wirkungsvollen Auftritt verschafft, um Mahabali abzulösen. So oder so. Ihre Hände rieben sanft das mächtige Glied ihres neuen Gefährten. Rank’Nor gab ein wohliges Knurren von sich. »Dieser Teil unseres Paktes gefällt mir fast am besten«, sagte er. »Ich weiß«, schnurrte Salea. Dann kniete sie nieder und hatte für die nächsten Minuten keine Gelegenheit mehr zu sprechen. Das Stöhnen des Mannes erfüllte den Raum. Als er seinen ersten Höhepunkt erreichte, glaubte Salea, seine Gestalt für einen Moment zerfließen zu sehen. Wenn er sich jetzt in das Monster verwandelte … Aber ihr erster Anflug von Furcht wurde zu einer nie gekannten Erregung. Sie zog Rank’Nor zu sich auf den Boden. Dann stieg sie
mit gespreizten Beinen über ihn. »Jetzt bin ich an der Reihe«, sagte sie. Rank’Nors Männlichkeit war nicht um einen Zentimeter geringer geworden. Salea setzte sich auf ihn. Sie fühlte sich fast aufgespießt, als er in sie eindrang. Sein Pfahl brachte ihr Inneres augenblicklich zum Kochen. Ihr Unterleib stand in Flammen. Erst nach Stunden ließ er von ihr ab. Ihr makelloser Körper war mit jedem Höhepunkt mehr erblüht. Sie wußte nicht, wie viele sie in den vergangenen Stunden erlebt hatte. Es hätte auch keinen Sinn gemacht, sie zu zählen, weil sie meist ineinander übergegangen waren. Erschöpft lagen sie nebeneinander auf dem Lager. Ihre Körper glühten in einer Hitze, die von innen kam und selbst Saleas untoten Vampirleib bis in die letzte Faser ausfüllte. Schließlich erhob sie sich und fragte: »Was ist mit dem anderen Teil unseres Paktes?« Das Wesen, das sich selbst Rank’Nor nannte – Salea wußte, daß sein wahrer Name für menschliche und vampirische Kehlen nicht auszusprechen war – schaute sie spöttisch an. »Ich diene und gehorche«, sagte er und imitierte dabei den unterwürfigen Tonfall des Gefolges. »Wage es nicht, dich über mich lustig zu machen!« wies ihn Salea scharf zurecht. Als Sippenoberhaupt war sie es gewohnt, Befehle zu erteilen. Auch wenn sie diesem Status längst nicht mehr gerecht wurde. Sie hatte ihre Sippe im Stich gelassen, als sie nach Al’Thera aufbrach, um höhere Ziele zu suchen. Was bedeutete schon die Befehlsgewalt über gerade mal zwanzig Vampire in einer kleinen, kaum bekannten Stadt im Norden des römischen Imperiums im Vergleich zu zweihunderttausend in der Metropole der Welt? »Das würde ich nie wagen, Gebieterin.« Trotz Rank’Nors unterwürfigen Worte klangen auch diese eher wie eine Parodie. »Wirst du dein Versprechen halten oder nicht?« drängte ihn Salea. »Was, glaubst du, habe ich in den vergangenen Stunden getan?
Hast du noch nicht aus dem Fenster gesehen?« Sie stürzte an eines der hohen Fenster und blickte hinaus. Nur die Mauern Al’Theras standen noch am gewohnten Platz. Sonst war alles anders: Draußen herrschte völlige Schwärze. Dort, wo zuvor der Himmel gewesen war, dräute nun undurchdringliche Finsternis. Weder Wolken, noch der Mond, noch Sterne waren zu sehen. »Es … es ist unglaublich«, sagte Salea. »Der Himmel – er ist verschwunden!« »Nicht nur der Himmel!« brüstete sich Rank’Nor. »Ich habe deinen Wunsch erfüllt und Al’Thera zu einer uneinnehmbaren Festung gemacht. Niemand wird deine Macht je bedrohen können, niemand dir deine Herrschaft streitig machen! Das, was du Schwärze nennst, ist das Nichts. Die Leere zwischen der Dimension der Menschen und meiner Welt …« Also stand in den alten Schriftrollen auch in dieser Hinsicht die Wahrheit. Das Volk, dem Rank’Nor angehörte, vermochte über die Dimensionen zu gebieten. Es konnte sich beliebig zwischen ihnen hin und herbewegen und ganze Kontinente versetzen. Das sagenhafte Atlantis, das legendäre Mu und andere in der Menschheitsgeschichte verschwundenen Städte und Länder mochten auf das Konto seinesgleichen gehen … »Ich kann es noch immer nicht glauben«, sagte Salea. »Ich muß es mit eigenen Sinnen spüren.« »Überzeuge dich!« Salea verwandelte sich in ihre Fledermausgestalt. Sie beherrschte diese Transformation fast im Schlaf. Mit ihren Fußkrallen stieß sie sich vom Fenstersims ab und erhob sich auf ledrigen Schwingen in die Nacht. Sie strebte in die Höhe, dorthin, wo die Schwärze am tiefsten schien. Auch hier oben waren keine Sterne zu sehen. Plötzlich erfaßte ihr körpereigenes Sonarsystem eine Barriere. Instinktiv verlangsamte sie den Flug. Doch was sollte sie hier oben in
der Luft veranlassen, umzukehren? Die Antwort erfuhr sie im nächsten Moment. Mit voller Wucht prallte sie gegen eine unsichtbare Mauer. Für einen kurzen Moment schwanden ihr die Sinne. Sie trudelte nach unten, hinab in die Tiefe. Gerade noch rechtzeitig kam sie wieder zu Bewußtsein. Sie entfaltete ihre Schwingen und fing den Sturz zehn Meter über dem Erdboden ab. Schnell gewann sie wieder an Höhe; diesmal jedoch hütete sie sich, allzu hoch zu fliegen. Trotz des fast tödlich ausgegangenen Sturzes war sie voll des Triumphes. Rank’Nor hatte die Wahrheit gesagt: Al’Thera war von der Außenwelt abgeschnitten. Niemand würde jemals die Mauern der Stadt überwinden und ihr ihre neue Stellung streitig machen können. Und die Nachricht von ihrem Bruch des Kodex würde nie von anderen Vampirsippen gehört werden. Aus der Luft wirkte Al’Thera noch größer und mächtiger. Von hier oben war deutlich zu erkennen, warum man sie die »Stadt der fünf Ringe« nannte. Und rings um ihre Mauern herrschte nur noch Schwärze … Am liebsten wäre Salea noch stundenlang weiter durch die Nacht geflogen. In der Luft fühlte sie sich noch mehr als am Boden als Herrscherin über die Stadt. Aber zunächst drängte es sie zu Rank’Nor zurück. Sie steuerte den Palast an und landete wieder auf dem Fenstersims. Ihre Rückverwandlung ging ebenso schnell vonstatten wie die Transformation zuvor. Als nackte Schönheit sprang sie vom Fenstersims direkt in das Zimmer und landete federnd auf dem kissenbedeckten Liebeslager. Verlangend streckte sie ihre Arme nach Rank’Nor aus. Das Gefühl des Triumphes hatte erneut ihr Verlangen nach ihm geweckt. Auch er schien einer Fortsetzung der Liebesnacht nicht abgeneigt. »Nun?« fragte er. »Habe ich dir zuviel versprochen?« »Eher zu wenig«, sagte sie. »Ich habe nicht geahnt, daß es so voll-
kommen sein würde!« »Nun«, sagte er geschmeichelt. »Immerhin hast du mir nicht gerade wenig dafür zu bieten. Und das, was ich bislang als Anzahlung erhalten habe, findet durchaus mein Wohlgefallen.« »Meinst du mich – oder die schwarzen Seelen meiner Artgenossen?« fragte sie neckisch. »Ich bin fast geneigt, dem ersten den Vorzug zu geben.« Rank’Nor hatte zwei Bedingungen gestellt. Die erste war leicht zu erfüllen gewesen. Er hatte verlangt, daß sie seine Geliebte wurde. Die zweite Bedingung hatte ihr am Anfang mehr Kopfzerbrechen bereitet: ihm die Seelen ihrer Artgenossen zuzuführen. Dies verstieß eindeutig gegen den Kodex. Dennoch hatte sie keine Gewissensbisse verspürt. Und die vergangenen Stunden hatten sie gelehrt, daß sie in dieser Hinsicht nicht die geringste Reue empfand. Auch in Zukunft würde sie keine Schwierigkeiten damit haben, sich an diesen Teil des Paktes halten. Der Stein des schwarzen Blutes würde weiterhin seinem Namen alle Ehre machen. Allerdings nicht zu Ehren Gandhara Sas-Bahus, des legendären Gründers, und nicht nur zu jedem hundertsten Mond. Sie würde eine neue Legende ins Leben rufen. Von nun an würden die schwarzen Seelen der Vampire zu Ehren Rank’Nors geopfert werden …
* Al’Thera, Stadt der Vampire, im achten Mond des siebten Jahres des letzten Jahrzehnts im zwanzigsten Jahrhundert (1996) Die Stadt selbst hatte sich kaum verändert. Ihre Lage, gefangen zwischen den Dimensionen, schien sie und alles darin für die Ewigkeit konserviert zu haben. Von der Außenwelt abgeschnitten, waren die
Vampire von der natürlichen, durch ihre Umwelt bedingte Evolution ausgenommen gewesen. Während sich die Blutsauger in der Welt der Menschen verändert hatten, waren längst vergangene Lebensweisen in Al’Thera erhalten geblieben. Überall sonst waren Gefühle wie Vertrauen, Zuneigung oder gar Liebe abgestorben; hier existierten sie noch immer. Nirgendwo sonst gab es noch Familien unter den Vampiren; sie waren vor langer Zeit von Sippen abgelöst worden. Und auch der Lilienkelch hatte nie wieder den Weg nach Al’Thera gefunden. Nur die menschlichen Sklaven konnten sich fortpflanzen und so die Versorgung sichern; die Zahl der Vampire jedoch verringerte sich mit jedem Opfer, das die Herrscherin der Stadt befahl. Noch waren es Zehntausende, doch der Zeitpunkt nahte, an dem Salea sich über dieses Problem Gedanken würden machen müssen. Aber soweit war es noch nicht. Gelangweilt rekelte sich das frühere Sippenoberhaupt auf dem Diwan. In den über tausend Jahre, die sie nun als unangefochtene Herrscherin über Al’Thera waltete, war sie um keine Sekunde gealtert. Womöglich war ihr Körper nur noch begehrenswerter geworden. Dennoch: die Jahre hatten andere Spuren hinterlassen … Ihr schwarzes Herz war zu Stein geworden. Sie spürte, wie es mit jedem Tag schwerer wurde und ihre Lebensfreude immer mehr zum Versiegen brachte. Ihr Wort war Gesetz in Al’Thera. Ein Wink von ihr genügte, und sie konnte sich jeden gefügig machen. Sie war die Herrin über Leben und Verlöschen, über Trauer und Freude, Glück und Verderben. In erster Linie über letzteres. Dunkle Taten prägten ihre Herrschaft. Saleas Grausamkeit war Legende. Die Bewohner Al’Theras duckten sich, wenn sie nur ihren Namen hörten. Sie war eine Tyrannin, die ihr eigenes Volk ausbeutete, es dezimierte und ihm jede Hoffnung nahm. O ja, es hatte Aufstände gegeben. Von Zeit zu Zeit begehrten ihre
Untertanen auf, angeführt von einem dieser Verrückten, die sich anmaßten, Al’Thera »in eine bessere Zukunft« zu führen. Begriffen diese Narren denn nie, daß es keine Zukunft für die Stadt gab, solange sie sich an diesem Ort befand, von Rank’Nors Macht zwischen den Dimensionen gehalten? Die Hoffnung auf Freiheit war so unsinnig wie der Versuch, der Stadt zu entfliehen. Niemand, der es je versuchte, war auch nur wenige Schritte weit gekommen, nachdem er die unsichtbare Grenze überschritten hatte. Wie auch immer, jene Aufstände waren geeignet, Kurzweil in Saleas Dasein zu bringen, auch wenn sie nur kurz währten und Rank’Nor ein Festmahl bescherten. Es gab nur zwei Dinge, an denen Salea noch Freude hatte: An den Liebesspielen mit Rank’Nor, da er sie in immer neuer, überraschender Gestalt nahm. Und an den Grausamkeiten, die sie mit immer perfiderer Perfektion ersann. Doch es fiel ihr zunehmend schwerer, überhaupt etwas zu empfinden. Die Macht der Gewohnheit verlangte ihren Tribut. Und längst hatte der Stein des schwarzen Blutes seine Schuldigkeit getan. Es war ihr schnell zu eintönig geworden, die immer gleichen Rituale dort abzuhalten. Dafür erdachte sie sich phantasievollere Szenarien, um Rank’Nors Hunger nach den schwarzen Seelen der Vampire zu stillen. So, daß auch sie etwas davon hatte. Und sei es nur ein außergewöhnliches Schauspiel. Vor ihr auf dem Diwan ruhte eine gläserne Kugel. Sie zeigte das angstverzerrte Antlitz einer jungen Frau …
* Mit großen, vor Entsetzen geweiteten Augen sah Calara, wie die eisenbeschlagene Tür hinter ihr ins Schloß fiel. Sie hörte, wie der Riegel von außen vorgeschoben wurde. »Willkommen in meinem Palast«, hörte sie eine Stimme sagen.
Irritiert sah sich Calara um, aber außer kahlen dunklen Mauern um sie herum war nichts zu sehen. Dennoch ahnte sie, wer die Worte ausgesprochen hatte. Es mußte Salea sein, die grausame Herrscherin, deren Name, wenn überhaupt, nur im Flüsterton über die Lippen der Bewohner Al’Theras kam. »Was … was habt Ihr mit mir vor?« fragte Calara mit zitternder Stimme. Sie war eine junge Vampirin mit attraktiven Gesichtszügen. Ihr großer Busen hob sich verheißungsvoll unter ihrem Gewand ab. Ein höhnisches Lachen ertönte. »Hast du etwa Angst vor der Dunkelheit?« Natürlich fürchtete sie sich nicht davor. Was sie schaudern machte, das war ihre Umgebung. Daß man sie in dieses Verlies gesperrt hatte, hatte jeden Hoffnungsfunken in ihr zum Erlöschen gebracht. Vor wenigen Stunden erst waren die Häscher der Herrscherin in das Haus eingedrungen, das sie mit ihrem Geliebten, Magrador, bewohnte. Ohne den Hauch einer Chance und ohne jegliche Gegenwehr hatten sie sich festnehmen lassen. Doch bis zuletzt hatte Calara gehofft, daß alles nur ein Irrtum war. Hieß es nicht, daß nur Jungfrauen auf dem Stein des schwarzen Blutes geopfert wurden? Sie selbst war längst keine Jungfrau mehr. Außer Magrador hatte es noch eine ganze Reihe von Männern gegeben. Obwohl es viele andere gab, die in den Palast verschleppt und spurlos verschwunden waren, hatte Calara den Gedanken immer weit von sich geschoben, daß eines Tages sie an der Reihe sein würde. Sie versuchte die Dunkelheit mit ihrem scharfen Blick zu durchdringen. Tatsächlich schien dieses Verlies weiter ins Innere zu führen … Plötzlich lichtete sich die vollkommene Finsternis. Ein schwacher Glanz erfüllte das merkwürdige Verlies. Die Mauern selbst schienen dieses seltsame Leuchten auszustrahlen. »Geh deinen Weg«, fuhr die unsichtbare Stimme fort.
»Wohin?« fragte Calara. Die Angst hielt ihre Brust wie eine stählerne Klaue umschlossen. Abermals ertönte das Lachen. »Wohin es dich beliebt. Ich erkläre es dir: Du befindest dich in einem Labyrinth. Wenn du Glück hast, gelangst du zum Ausgang und bist frei!« »Wer sagt mir, daß Ihr kein falsches Spiel mit mir treibt?« »Du willst mein Wort anzweifeln?« »Nein, nur …« »Also, schweig und hör mir weiter zu: Auch dein Geliebter befindet sich in diesem Labyrinth – angekettet in einer der Kammern. Nur du kannst seine Ketten lösen – wenn du darauf verzichtest, sofort den Weg zu finden, der in die Freiheit führt …« Calara stöhnte gequält auf. Also war jedes Wort wahr, das man sich über Salea erzählte: Ihre sprichwörtliche Grausamkeit. Ihre perfide Fantasie. Und ihre teuflische Verschlagenheit. Salea labte sich am Schmerz ihrer Opfer. »Bedenke«, fuhr die Stimme fort, »du könntest das Glück haben, zu deinem Geliebten zu gelangen, ihn von seinen Ketten zu befreien, und gemeinsam könntet ihr den Weg in die Freiheit finden.« Calara straffte sich und war bemüht, ihrer Stimme einen entschlossenen Tonfall zu geben, als sie antwortete: »Ich werde solange suchen, bis ich ihn finde!« »Nur zu! Allerdings gibt es noch eine dritte Möglichkeit …« Calara ahnte es: Das Labyrinth mochte derart verzweigt sein, daß sie irgendwann vor Blutdurst wahnsinnig werden und schließlich rapide altern würde. Schon jetzt verspürte sie nagenden Hunger, denn ihre letzte Blutmahlzeit lag bereits zwei Tage zurück. Aber sie hatte sich getäuscht. »Es gibt noch jemanden in diesem Labyrinth«, fuhr die Stimme fort. »Er kann es kaum erwarten, deine Bekanntschaft zu machen und sich deine schwarze Seele einzuverleiben. Vielleicht ist er gerade jetzt ganz in deiner Nähe und hört uns zu. Oder er durchstreift
einen anderen Teil des Labyrinths und sucht nach dir. Lauf, sonst findet er dich!« Die Stimme verstummte. Calaras kurz entflammte Hoffnung war vollends erloschen. Trotzdem hatte sie keine andere Wahl, als ihr Glück zu versuchen. Sie dachte an Magrador, ihren Geliebten. Wenn es stimmte, daß er irgendwo in diesem Labyrinth angekettet war, dann mußte sie ihm helfen. Salea hatte auf der Klaviatur ihrer Gefühle genau den richtigen Ton getroffen. Zögernd setzte Calara einen Fuß vor den anderen. Ihr natürlicher Instinkt schien in dieser Umgebung völlig zu versagen. Sie drückte sich eng an der kalten Steinwand entlang. Bereits nach wenigen Metern hatte sie die erste Abzweigung erreicht. Rechts oder links? Sie entschied sich für den linken Gang. Er schien unmerklich in die Tiefe zu führen, so daß sie zweifelte, die richtige Wahl getroffen zu haben. Sie kehrte um und nahm den anderen Gang. Dieser führte sanft bergan. Weitere Abzweigungen folgten, und schon nach kurzer Zeit hatte sie sich hoffnungslos verirrt. Eine weitere Eigentümlichkeit des Labyrinths trug zu ihrem Dilemma bei: Es schien sich über mehrere Stockwerke zu erstrecken. Die Gänge führten wahllos auf- und wieder abwärts und krümmten sich in verwirrenden Winkeln. Nur ein kranker Geist konnte diese Gänge erbaut haben. Plötzlich stutzte Calara. Sie glaubte einen Laut gehört zu haben. Gespannt lauschte sie in die Dunkelheit. Da war es wieder! Es klang wie das Wimmern eines Mannes. Magrador? Sie war sich nicht völlig sicher. Die Sorge und ihre Furcht kämpften miteinander. Schließlich gewann ihre Sorge die Oberhand. Beherzt ging sie weiter, dem Wimmern entgegen. Es war schwierig, die Richtung genau zu lokalisieren. Mehrmals, als sie bereits glaubte, ganz nahe am Ziel zu sein, wurde es wieder leiser. Ein-
mal verebbte es sogar völlig. Vielleicht waren die Gänge auch so erbaut, daß sie die erzeugten Laute aus einer ganz anderen Richtung vortäuschten. Als Calara um eine weitere Ecke bog, sah sie vor sich etwas aufblitzen. Hier waren der Gang und die Wände wieder in völlige Dunkelheit getaucht. Selbst ihre scharfen Augen vermochten die Nacht hier nicht mehr zu durchdringen. Da war es wieder, dieses eigenartige Aufblitzen. Es erinnerte sie an die Augen eines Raubtieres. Calara erstarrte. Jeden Moment rechnete sie damit, daß sich etwas aus der Finsternis heraus auf sie stürzen würde. Aber nichts geschah. Sie lauschte und wartete. Aber weder war das Wimmern zu hören noch das Aufblitzen ein weiteres Mal zu sehen. Ängstlich und zögernd setzte sie ihren Weg fort. Einmal wollte sie sich in eine Fledermaus verwandeln, um sich besser orientieren zu können. Aber so sehr sie sich auch anstrengte: Das, was sie sonst mühelos vollbrachte, wollte plötzlich nicht mehr gelingen. Als läge eine Magie über dem Labyrinth, die ihr die Transformation unmöglich machte. Calara verlor jegliches Zeitgefühl. Die Stunden dehnten sich zu Ewigkeiten. Wenn wenigstens Salea noch einmal zu ihr gesprochen hätte oder irgendein anderer Laut zu hören gewesen wäre! Irgendwann sank sie frustriert zu Boden. Sie hatte keine Ahnung, ob sie Stunden oder schon Tage herumgeirrt war. Wahrscheinlich lag die Wahrheit irgendwo dazwischen. Ihr Durst nach Blut war ins Unendliche gewachsen; sie vermochte sich kaum noch auf den Beinen zu halten. Als triebe jemand ein neckisches Spiel mit ihr, vernahm sie im gleichen Moment wieder das Wimmern. Irgendwie gab ihr der Laut tatsächlich wieder so etwas wie Hoffnung, war sie doch nicht allein in dieser völligen Schwärze. Calara schleppte sich weiter.
Vor ihr wich die Finsternis einem schwachen Lichtschein. Das Wimmern wurde lauter. Der Gang verbreiterte sich zu einer Kammer, die von einer einsamen Fackel beleuchtet wurde. Magrador! Sie hatte sich nicht getäuscht. Es war ihr Geliebter, von dem die Laute stammten. Er befand sich in einem engen Käfig, der unter der Decke hing. Zusätzlich machten schwere Ketten seine Flucht unmöglich. Magrador blutete aus zahllosen Wunden, die auch seine vampirischen Heilkräfte nicht so schnell wieder schließen konnten. Das schwarze Blut tropfte von oben herab auf den steinernen Boden. Calara schrie auf, als sie ihren Geliebten in dieser verzweifelten Situation sah. »Magrador!« Er schien sie gar nicht zu bemerken. Offenbar war er so entkräftet, daß sein Verstand längst Schaden genommen hatte. Abermals rief sie seinen Namen, und sein Wimmern wurde lauter. Der Schlüssel! Die Stimme hatte etwas von einem Schlüssel gesagt, mit dem sie ihren Geliebten würde befreien können. Hektisch huschten Calaras Blicke durch die Kammer. In einer Nische reflektierte etwas den flackernden Schein der Fackel. Mit raschen Schritten war sie dort und bückte sich. Es war tatsächlich ein Schlüssel! Sie nahm ihn an sich und lief wieder zu dem Käfig zurück. Er hing viel zu hoch. Sie hatte nicht die geringste Chance, an das Schloß zu gelangen. Wer immer sich dieses Spiel ausgedacht hatte, mußte unsagbar teuflisch sein. Mit ihren Blicken folgte Calara dem Lauf der Kette, an welcher der Käfig hing. Die schweren Eisenglieder verschwanden durch ein Loch in der Wand. Die Vorrichtung, mit der man den Käfig herablassen konnte, mußte sich in dem angrenzenden Raum befinden. Abermals rief Calara den Namen ihres Geliebten. Wenn er wenigstens ansprechbar gewesen wäre! Sie hätte ihm den Schlüssel hochwerfen können, damit er sich selbst befreite. Doch Magrador rea-
gierte nicht. Calara stürmte aus der Kammer. Vielleicht war es möglich, in den angrenzenden Raum zu gelangen, von dem der Kettenmechanismus gesteuert wurde! Die Gänge empfingen sie mit eisiger Dunkelheit. Sie mußte sich abermals vorwärts tasten. In ihren Gedanken herrschte Chaos. Was war mit Magrador passiert? Wer hatte ihn derart zugerichtet? Natürlich, sie ahnte die Antwort. Aber sie wollte Gewißheit. Gewißheit, um irgendwann einmal Rache nehmen zu können. Doch vorerst war Magradors Rettung wichtiger. Trotz ihrer inneren Aufgewühltheit hatte sie all ihre vampirischen Sinne geschärft, um nicht abermals in die Irre zu laufen. Immer wieder waren die Gänge derart konstruiert, daß sie sich von ihrem eigentlichen Ziel entfernte, aber Calara ließ sich nicht mehr beirren. Endlich erreichte sie das Ziel ihrer Suche. Abermals verbreiterte sich der Gang zu einem Raum. Auch er war schwach beleuchtet, doch diesmal war nicht auszumachen, woher der Lichtschein stammte. Er schien aus den Steinwänden selbst zu kommen. Das leichte Glimmern reichte aus, daß Calara sich zurechtfand. Es war genauso, wie sie es sich vorgestellt hatte: Die Kette kam aus der Wand und verlief über Zahnräder an einem Flaschenzug. Es war nicht schwierig, den einfachen Mechanismus zu durchschauen. Calara trat an die Vorrichtung heran. Vorsichtig löste sie den Hebel, der die Kette in der Einrastung hielt. Langsam setzte sich der Flaschenzug in Bewegung. Sie lauschte, aber das Wimmern ihres Geliebten war durch die dicken Mauern nicht zu hören. Das Loch, durch das die Kette verlief, war so klein, daß nicht einmal die geringsten Geräusche hindurchdrangen. Calara ließ die Kette völlig abspulen. Auf der anderen Seite der Mauer mußte sich der Käfig nun auf dem Boden befinden. Dann machte sie sich auf den Rückweg. Diesmal war es einfacher,
da sie den Weg in ihrem Gedächtnis gespeichert hatte. Automatisch folgten ihre Schritte ihrem inneren Kompaß. Dennoch schien es ihr abermals eine Ewigkeit zu dauern, ehe sie endlich wieder den Raum mit dem Käfig erreichte. Sie hatte sich nicht geirrt! Der Käfig stand nun auf dem Boden. Ihr Geliebter war darin zusammengesunken, sein Wimmern verstummt. Sie beeilte sich, den Schlüssel in dem Schloß herumzudrehen. Die Ketten fielen klirrend auf den steinernen Boden. Die junge Frau zog die Tür auf und schlang ihre Arme um den Geliebten. Er hatte die Augen geschlossen, aber sie spürte, daß sie nicht zu spät gekommen war. Noch war vampirisches Leben in ihm. Aber wie sollte sie die Kraft finden, mit ihm zusammen aus diesem Labyrinth herauszufinden? Wieder wurde ihr die Aussichtslosigkeit ihrer Lage bewußt. Da schlug Magrador die Augen auf. Unwillkürlich zuckte Calara zurück. Seine Augen hatten sich seltsam verändert. Sie erinnerten an die leuchtenden Pupillen von Raubtieren, und augenblicklich kam ihr wieder das Aufblitzen in den Gängen in den Sinn. Es waren seine Augen gewesen! Seine Augen? Plötzlich erkannte sie es: Dieser Mann mochte aussehen wie ihr Geliebter, aber es war nicht Magrador! Irgend jemand benutzte seine Gestalt! Mit einem Aufschrei ließ Calara ihn los und stürzte davon. Hinter ihr ertönte ein Lachen. Es war eine Falle gewesen! Sie hatten nur ihr Spiel mit ihr getrieben! Trotz der Dunkelheit in den Gängen hatte Calara das Gefühl, daß ihre Gegner jeden ihrer Schritte genau verfolgten. Von Panik erfüllt schaute sie zurück. Sie glaubte wieder, die Augen des Mannes wie die eines Raubtieres in der Finsternis aufblitzen zu sehen. Die Todesfurcht über-
mannte sie beinahe. Ihre Beine weigerten sich ihren Dienst zu tun. Sie zitterte so heftig, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen und ihre Glieder unkontrollierte Bewegungen vollführten. Von einem Moment zum anderen war jegliche Widerstandskraft in Calara erlahmt. Sie spürte, wie ihr Verfolger langsam näherkam, noch bevor sie seinen Schemen in der Dunkelheit ausmachen konnte. Seine Gestalt schien zu zerfließen. Er schüttelte das Aussehen ihres Geliebten wie eine zu eng gewordene Hülle einfach ab. Etwas Anderes, Ungeheures schälte sich daraus empor. Ein massiger Körper, auf dem ein behörnter Kopf thronte, mit einem riesigen Rachen, in dem mehrere Reihen nadelspitzer Zähne blitzten. Klauenbewehrte Tatzen griffen nach ihr. Sie sah es im Widerschein – – eines purpurfarbenen Lichts? Calara blickte an sich selbst heran und bemerkte erst jetzt das purpurne Leuchten, das ihren Leib umfloß. Und schon in der nächsten Sekunde spürte sie die Veränderung, die mit ihr vorging. Etwas geschah. Etwas Schmerzhaftes. Und diese Veränderung ging nicht von dem Wesen aus, das sich ihr näherte …
* Salea schrie auf. Die Szene in der magischen Kristallkugel beachtete sie nicht mehr. Das letzte, was sie darin gesehen hatte, war der Purpurschimmer auf der Haut des Vampirmädchens gewesen. Der im gleichen Moment entstanden war, als auch sie selbst von purpurfarbenem Glanz ummantelt wurde! Es war eine geisterhafte, unwirkliche Erscheinung. Das Licht prickelte leicht auf ihrer Haut, aber es schmerzte nicht und zog auch sonst keine Folgen nach sich. Es war aus dem Nichts gekommen – und löste sich jetzt ebenso schnell wieder auf. In der nächsten Sekunde war der Purpurglanz verschwunden. Sa-
lea strich über die kühle Haut ihres rechten Arms und lauschte in sich. Aber da war nichts, kein unheilvolles Echo, kein leiser, noch ferner Schmerz oder eine unheilvolle Ahnung. Sie konnte nicht wissen, daß der Vorgang, ausgelöst im fernen Kairo durch den Einsatz des infizierten Lilienkelchs*, sich überall in Al’Thera wiederholte, wo immer sich Sippenführer aufhielten. Und daß die Seuche dank der Bevölkerungsdichte reichlich Nahrung fand und sich wie ein Buschfeuer verbreitete. Trotzdem war Salea über alle Maßen beunruhigt – vor allen, als ihr Blick nun erneut in die Kugel fiel. Mit dem Mädchen im Labyrinth war etwas geschehen. Bei ihm schien den Purpurschein nicht ohne Folgen geblieben zu sein, denn es krümmte sich vor Schmerz. Irritiert verfolgte Salea die Szene. Rank’Nor, der nur noch wenige Schritte von seinem Opfer entfernt war, blieb ebenfalls stehen und beobachtete fasziniert, was mit dem Mädchen geschah. Calara krümmte sich, als erleide sie unsagbare Qual. Gleichzeitig schien etwas mit seinem Körper zu passieren. Ihre Haut wurde grau und faltig. Die zuvor so aufreizenden Formen unter ihrem Gewand fielen in sich zusammen, als hätte jemand die Luft herausgelassen. Innerhalb von Sekunden alterte sie um Jahrzehnte. Ihre ebenen Gesichtszüge waren plötzlich die einer uralten Frau, und im nächsten Moment bohrten sich Knochen durch zerfallendes Fleisch. So, als holte sich die Natur innerhalb von wenigen Augenblicken das zurück, was die Vampirin ihr all die Jahrhunderte über abgetrotzt hatte. Salea wandte den Blick von der Kristallkugel, einem Geschenk Rank’Nors, das in den letzten Jahrzehnten eines ihrer Lieblingsspielzeuge geworden war. Sie hatte es genossen, mit ihrer Hilfe den Szenarien hautnah beizuwohnen. Doch nicht solchem Schrecken! *siehe VAMPIRA T01: »Der Durst nach Blut«
Was im Labyrinth geschehen war, hatte sie bis in ihr Innerstes getroffen. Sie mußte wissen, was Calaras Verfall ausgelöst hatte. »Hercante! Anaris!« Sie rief die Namen ihrer Zofen. Normalerweise hätte ein Flüstern genügt, und die beiden Vampirinnen, die sie als ihre engsten Dienerinnen auserkoren hatte, wären im Zimmer erschienen. Jetzt jedoch tat sich gar nichts. Ein weiterer Hinweis darauf, daß etwas nicht stimmte. Salea erhob sich von ihrem Lager und begab sich selbst zur Tür. Auf dem Korridor machte sie eine weitere schreckliche Entdeckung: Ihre beiden Dienerinnen krümmten sich vor Schmerz auf dem Boden. Doch im Gegensatz zu Calara alterten sie nicht. Im Gegenteil: Als sie die Herrscherin auf sich zukommen sahen, schien so etwas wie ein neuer Lebensfunke in ihnen aufzuglimmen. Sie rafften sich auf und wollten nach ihr greifen. »Durst!« stöhnte Anaris auf. In ihren Augen flackerte nackte Gier. »Gib uns Blut!« Instinktiv wich Salea vor den beiden zurück. »Wagt es nicht, mich anzurühren!« rief sie. Die Vampirinnen hörten nicht auf sie, sondern krochen langsam näher. Salea hatte die beiden einst ob ihrer Häßlichkeit ausgewählt. Das war eine ihrer vielen Launen gewesen: Die Häßlichkeit ihrer Zofen sollte ihre eigene Schönheit noch unterstützen. Jetzt machte die Gier aus ihren Gesichtern wahre Dämonenfratzen. Die Augäpfel quollen ihnen aus den Höhlen, und Speichel troff aus ihren Mündern. Ihre Haut schien brüchig wie Pergament zu sein. Salea wich noch weiter zurück. Ein Instinkt hielt sie davor zurück, die beiden zu berühren. Was geschah hier? Was hatte all der Schrecken zu bedeuten? Um eine Antwort zu finden, verwandelte sich Salea kurzerhand in eine Fledermaus und flog mit wenigen kräftigen Flügelschlägen über die beiden Vampirinnen hinweg. Diese stießen krächzende
Laute der Enttäuschung aus. Der Durst schien sie wahnsinnig zu machen – und hier, im Inneren des Palastes, würden sie ihn auch kaum stillen können. Menschen durften diesen Bereich nicht betreten – ausgenommen jene, die der Herrscherin als Mahl dargebracht wurden. Bis sie diese Aufgabe erfüllen mußten, hielten sie sich in den Stallungen vor dem Palast auf. Und dorthin schienen sämtliche ihrer Getreuen und Bediensteten unterwegs zu sein, wie Salea erkannte, als sie die Gänge des Palastes durchquerte. Fast überall bot sich ihr das gleiche Bild des Schreckens: Manche der Vampire wanden sich unter furchtbaren Schmerzen. Andere irrten mit Wahnsinn in den Augen umher und murmelten unverständliche Worte. Wieder andere schrien ihren Durst lauthals heraus und liefen in Richtung der Stallungen. Und kaum jemand von ihnen war ansprechbar. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich Saleas prächtiger Palast in einen Ort schieren Grauens verwandelt. Und ihr fiel nur einer ein, der dafür verantwortlich sein konnte: Rank’Nor! So also hielt er sich an ihren fast tausend Jahre alten Pakt! Salea landete am Eingang zum Labyrinth und verwandelte sich in ihre vampirische Gestalt zurück. Ihre Reißzähne blitzen gefährlich über den vollen roten Lippen; ihre Finger bogen sich zu gefährlichen Klauen. Rank’Nor mochte ein starker Gegner sein, aber auch sie hatte in den vergangenen Jahrhunderten an Kräften gewonnen … Ihre Wut verpuffte, als sie Rank’Nor auf sich zueilen sah. Er hatte wieder die Gestalt eines kräftigen jungen Mannes angenommen, und in seinem Gesicht konnte Salea dieselbe Ratlosigkeit lesen, die auch sie selbst empfand. »Was geht hier vor?« fragte sie. Rank’Nor zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht«, entgegnete er. »Ich wollte gerade die Seele des Mädchens an mich reißen, als sie …
aufzuglühen schien, in purpurfarbenem Glanz.« »Ich weiß«, sagte Salea voller Ungeduld. »Ich habe es in der Kugel beobachtet. Aber woher kam dieses Licht, und was hat es bewirkt?« »Es ist, als wäre eine Seuche über deinen Palast gekommen«, mutmaßte Rank’Nor. »Deine Untertanen siechen dahin. Durst scheint ihre Eingeweide zu zerfressen …« »Aber ich selbst wurde von dem Licht ebenfalls erfaßt«, warf Salea ein, »und bei mir zeigte es keine Wirkung!« Rank’Nor schloß die Augen und schien kurz in sich hineinzulauschen. Salea ahnte, daß er seinen Geist schweifen ließ, um sich einen Überblick zu verschaffen, was in Al’Thera vorging. Als er die Augen wieder aufriß, schauderte Salea. Sie hatte ihren Verbündeten noch niemals zuvor so verwirrt gesehen. »Die Seuche wütet unter den Vampiren der Stadt«, berichtete er, »aber nicht alle sind von ihr befallen. Es gibt einige wenige, die dagegen immun scheinen. Soweit ich erkennen kann, sind es die Sippenoberhäupter. Und auch die Menschen bleiben verschont.« »Was willst du unternehmen, um die Seuche zu stoppen?« fragte Salea. »Ich erinnere dich an unseren Pakt, Rank’Nor! Ich habe meinen Teil der Abmachung stets erfüllt. Dein Teil war es, Al’Thera vor allen äußeren Einflüssen zu schützen und mir meine uneingeschränkte Herrschaft zu garantieren …« »Genug! Genug!« Jetzt funkelte er sie wütend an. »Du brauchst mich nicht daran zu erinnern. Ich weiß, was ich dir schuldig bin.« »Dann unternimm etwas! Aber tu es rasch!« »Dir wird nichts passieren!« versprach er. »Als ehemalige Sippenführerin bist du offenbar gegen die Seuche gefeit.« »Aber meine Untertanen! Was ist eine Herrscherin wert, wenn sie über eine Geisterstadt regiert?« Er bedachte sie mit einem weiteren wütenden Blick, aber ihre Worte trieben ihn zur Eile. Seine Gestalt zerfloß und bildete sich neu. Der junge Mann verwandelte sich wieder in die Kreatur, als die er
Saleas Macht begründet hatte. Dann wölkte Rauch auf, in den Rank’Nor mit einem Grollen eintauchte – und verschwand. Salea wankte zu ihrem Lager. Sie versuchte Ordnung in ihre rasenden Gedanken zu bringen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Al’Thera starb. Und damit auch ihre Macht …
* In den Gassen und Häusern tobte der Wahnsinn. Die schwarzen Mauern der Stadt waren leer und verwaist. Obwohl ein Angriff von außerhalb unmöglich geworden war, hatte Salea darauf bestanden, daß die Wachmannschaften wie zu früheren Zeiten ihren Dienst verrichteten. Und sei es nur, um die wabernde Schwärze außerhalb der Mauern im Auge zu behalten. In all den Jahrhunderten hatte keiner der Soldaten es gewagt, den unsinnigen Befehl zu verweigern. Bis heute. Auch die Männer, die auf der Stadtmauer ihren Dienst verrichteten, waren von der Seuche infiziert worden. Einige hatten sich im Wahn in die Schwärze gestürzt und waren von ihr verschlungen worden. Die anderen versuchten den vierten Ring zu erreichen, wo die meisten Menschen untergebracht waren, um ihren rasenden Durst zu löschen … Aber dort tobte das Chaos. Auf den Straßen und in den Gassen spielten sich unglaubliche Szenen ab. Wo immer ein Mensch entdeckt wurde, stürzten sich die Vampire zu Dutzenden auf ihn und soffen sein Blut. Aber sie merkten bald, daß nichts gegen ihren Hunger half. Das Blut blieb nur kurz in ihrem Gedärm, dann würgten und spien sie es wieder aus. Ähnliche Szenen spielten sich in den herrschaftlichen Häusern und Gemächern des dritten Stadtrings ab. Das hier residierende Herrschergefolge war zwar in den Jahrhunderten der Herrschaft Saleas erheblich geschrumpft, da Rank’Nor höhergestellte Persönlich-
keiten als Opfer seit jeher bevorzugt hatte, aber noch immer waren die meisten der Häuser bewohnt. Die Sklaven starben schnell, ohne ihre Herrschaft retten zu können. Darin unterschieden sie sich nicht vom »gemeinen Volk« – sie erbrachen das Blut sofort wieder, ohne daß es den Durst zu löschen vermochte. Im Palast stand Salea an einem der Fenster, von denen aus man die Stadt überblicken konnte. Seit dem Ausbruch der Seuche waren nun bereits Stunden vergangen, und mit jeder weiteren Minute wuchs ihre Panik. Sie sah das blutige Geschehen tief unten in den Straßen der Stadt und konnte nichts dagegen unternehmen. Am wenigsten hatte die Seuche im inneren Ring wüten können. Dafür gab es einen einfachen Grund: Die einst prunkvollen Tempelbauten waren fast völlig verwaist. Nach ihrer Machtübernahme hatte Salea keinen Grund mehr darin gesehen, den Göttern ihres Vorgängers zu huldigen. Also hatte sie die Priesterschaft kurzerhand abgeschafft. Die Priester waren die ersten Opfer gewesen, mit denen Salea ihren Pakt mit Rank’Nor besiegelt hatte … Das Innere Al’Theras – und damit auch das einstige Symbol der Macht, der Stein des schwarzen Blutes –, lag vergessen und verwaist. Zumindest fast vergessen. Salea wußte seit geraumer Zeit von den geheimen Zusammenkünften in den Tempelmauern. Gelehrte und Magier, die den uralten Riten verbunden waren, trafen dort zusammen. Sie hatte geplant, sich ihrer bald anzunehmen – sobald sie einen Plan ersonnen hatte, wie man möglichst unterhaltsam mit ihnen verfuhr. Doch auch vor dem innersten Ring machte die verhängnisvolle Seuche nicht halt. Den Gelehrten würde Saleas Zorn erspart bleiben. Aber sie tauschten ihn gegen ein ungleich schlimmeres Schicksal ein …
*
Salea wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Rank’Nor zurückkehrte. Von einem Moment auf den anderen manifestierte er sich im Raum. Die Herrscherin fuhr zu ihm herum. »Was hast du erreicht?« fragte sie ihn atemlos. Rank’Nor deutete zum Fenster. »Sieh selbst.« Die seit fast tausend Jahre währende Finsternis um Al’Thera geriet in Wallung. Die Luft vibrierte von den Flügelschlägen monströser Wesen. Die Hölle selbst schien ihre Sendboten ausgespien zu haben. Geflügelte Kreaturen, alptraumhafte Gestalten, Rank’Nor ähnlich, erfüllten das Nichts rund um die Stadt. Sie waren so zahlreich, daß sie einen geschlossenen Kreis um Al’Thera bildeten. Ihren Mäulern entsprangen nie gehörte, unirdische Laute, die keiner Sprache, keinem Geräusch glichen, das jemals ein menschliches Ohr vernommen hatte. Dennoch schien in diesen schrecklichen Lauten eine Art Struktur zu liegen. Die seltsamen Wesen intonierten ein Beschwörungsritual. Und es zeigte Wirkung! Innerhalb der Mauern der Stadt kam die Seuche zum Stillstand – fast so, als würde sie von einem Augenblick auf den anderen eingefroren. Gerade noch rapide alternde Vampire verharrten in ihrer schrecklichen Verwandlung. Die Haut halb zerfallener Gestalten hörte auf, weiter zu faulen. Und auch ihr Durst nach Blut erlosch. Kein Schmerz regte sich mehr in ihrem Inneren. Kein Schmerz – aber auch kein anderes Gefühl. Die Magie der geflügelten Wesen hatte zwar den Stillstand der Seuche bewirkt, aber es hatte auch alles andere in den Vampiren zum Erliegen gebracht. Die meisten von ihnen waren in einem erbärmlichen Zustand. Ihre Wunden konnten sich nicht schließen, und auch ihre Körper regenerierten sich nicht mehr. Innerhalb von Sekunden wurden aus den rasenden, blutrünstigen
Vampiren halb verfallene Wesen, von dem geheimnisvollen Zauber mitten im Sterben konserviert. Teilnahmslos standen sie an den Orten, wo ihre Raserei sie hingeführt hatte. Salea war noch immer die Herrscherin über Al’Thera. Nur daß sie nicht mehr über ein Volk der Vampire, sondern über tumbe Zombies regierte. Ihr Antlitz verzerrte sich vor Zorn, als sie die Wahrheit erkannte. »Was hast du getan?« Sie funkelte Rank’Nor, der wieder in der Gestalt des attraktiven Mannes vor ihr stand, wutentbrannt an. »Du hast alles noch schlimmer gemacht! Was bringt es mir, über eine Stadt der lebenden Toten zu regieren?« Rank’Nor sah sie offen an. »Es war die einzige Möglichkeit«, sagte er leichthin. »Ja, du hast mein Volk vor dem endgültigen Sterben bewahrt«, spie Salea aus. »Aber um welchen Preis?« Auch im Palast standen die Vampir-Zombies teilnahmslos herum. Salea brauchte nur die Tür zu öffnen, um ihrer ansichtig zu werden. Noch schlimmer aber war, daß sie offensichtlich zu nichts zu gebrauchen waren. Sie reagierten nur träge und langsam, als müßten sie erst in ihren zerstörten Erinnerungen nach dem Sinn ihrer Befehle fischen. Die einzige Bewegung, die Salea draußen in der Stadt noch ausmachen konnte, kam – und das beunruhigte sie mehr, als sie sich eingestehen mochte – von den geflügelten Wesen, die nun überall zu sehen waren. Sie flatterten durch die Lüfte oder hatten es sich auf Dächern und Zinnen bequem gemacht. »Es war die einzige Möglichkeit«, bekräftigte Rank’Nor. »Du solltest meinem Volk dankbar sein, daß es euch gerettet hat.« »Dein Volk?« »Meine Brüder haben keine Minute gezögert, als ich meinen Hilferuf an sie richtete. Wie du siehst, durchaus mit Erfolg.« »Ja. Vor allen Dingen scheinen sie sich hier ganz wohl zu fühlen!«
Salea sprach es nicht aus, aber diese sogenannte Hilfe kam eher einer Invasion gleich. Wer garantierte ihr, daß die geflügelten Wesen auch wieder verschwinden würden? Und welche Macht hatte sie noch, dies zu verlangen? »Ich hoffe, dein Widerwille gegen meine Brüder wird nicht allzu lange andauern.« Rank’Nor grinste anzüglich. »Schließlich hast du dich bei mir ja auch nicht lange geziert!« »Unser Pakt ist nichtig!« sagte Salea. »Ich verlange, daß du Al’Thera wieder dorthin zurückversetzt, wo es sich vor fast tausend Jahren befand – und daß du danach verschwindest. Mitsamt deinen Brüdern!« Rank’Nor lächelte sie grausam an. »Du wirst anmaßend«, erklärte er. »Unser Pakt wurde mit schwarzem Blut besiegelt. Er ist nicht so ohne weiteres zu lösen, das weißt du. Außerdem … was mich angeht, so habe ich keinen Grund zur Klage!« Er wollte nach ihr greifen, aber Salea stieß ihn von sich. Rank’Nor gab ein Grollen von sich, das tief aus seinem Inneren zu kommen schien. Seine Augen blitzten gefährlich und schienen sich in glühende Kohlen zu verwandeln. Einen Moment lang fürchtete Salea, daß er sich auf sie stürzen wollte. Gerade noch rechtzeitig schien ihm einzufallen, wen er vor sich hatte. Statt dessen erinnerte er sie an etwas: »Was auch immer passiert ist, du bist mir etwas schuldig«, sagte er. »Du kannst weiterhin über Al’Thera herrschen. Und das hast du mir zu verdanken!« »Ich wäre lieber tot«, sagte Salea müde. Ihre Wut verrauchte und machte einer nie gekannten Hoffnungslosigkeit Platz. »Du solltest nicht an den Tod denken«, warnte ihr Verbündeter sie. »Wer sollte mich daran hindern?« »Es gibt Schlimmeres als den Tod. Falls du an Selbstmord denkst – vergiß es. Deine Seele würde auf ewig die schlimmsten Qualen erleiden.«
Er sagte nicht, wer ihrer Seele diese Qualen bereiten würde, aber Salea wußte, daß es eine Drohung war. Sie hatte oft genug beobachtet, was er mit den schwarzen Seelen der Vampiropfer angestellt hatte, bevor er sie verschlang. Früher hatte sie es genossen, ihm dabei zuzusehen. Nun schauderte sie bis ins Mark. »Also schön«, sagte sie schließlich. »Diese eine Nacht werde ich es mit dir und deinesgleichen noch aushalten. Was danach geschieht … darüber werde ich später nachdenken.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Gebieterin. Ich habe nicht vor, mich mit einer einzigen Nacht zu begnügen. Wie ich schon andeutete: Meinen Brüdern gefällt es hier sehr gut!« Salea begriff. Und Rank’Nor fuhr fort: »Ich werde mich hier im Palast schon nicht langweilen. Dafür wirst du sorgen!« Salea wich zurück. Schneller, als sie befürchtet hatte, verkehrten sich die Machtverhältnisse in ihr Gegenteil. »Verschwinde! Auf der Stelle!« zischte sie. »Wer bist du, daß du dies verlangen darfst?« grinste er. »Und jetzt lege dein Gewand ab! Oder ist es dir lieber, wenn ich es dir vom Leib reiße?« Salea wich noch weiter zurück. »Aber vielleicht bevorzugst du ja einen meiner Brüder. Ich habe ihnen von deinen Vorzügen erzählt. Sie können es kaum erwarten, deine Bekanntschaft zu machen …« Damit kam er über sie – und ließ erst nach Stunden wieder von ihr ab. Salea lag auf dem weichen, duftenden Lager ihres Gemachs und war zu schwach, um sich zu erheben. Sie war durch die Hölle gegangen. Rank’Nor hatte sie spüren lassen, welche Rolle sie in Zukunft zu spielen hatte. Die seiner Sklavin. Irgendwann hatte er von ihr abgelassen, nicht ohne ihr genüßlich zu versichern, daß er bald zurückkäme.
Salea sah in der Kugel, was er vorhatte. Rank’Nor hatte nicht vergessen, daß im Labyrinth noch immer ein Opfer auf ihn wartete. Nun war es an der Zeit, es sich zu holen …
* Calara hockte reglos da. Das einst blühende Geschöpf war mitten im Sterben daran gehindert worden, Frieden zu finden. Calara bestand nur noch aus Haut und Knochen. Ihr Gesicht glich einem Totenschädel. Dennoch zwang eine unerbittliche Magie sie, weiterzuleben. Teilnahmslos saß sie in der Dunkelheit des Labyrinths. Nun drang ein Befehl in ihren leeren Verstand. Sie wußte nicht, was er bedeutete, aber sie gehorchte automatisch. Bilder tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Auch sie hatten keinerlei Bedeutung mehr. Ein Mann. Ein Name. Magrador … Nur langsam begann sich ihr Gedächtnis zu füllen. Noch immer waren ihr die Bilder und Namen fremd, aber sie verursachten Gefühle in ihr; Gefühle, die sie dazu brachten zu reagieren. Mühsam erhob sie sich, geriet ins Wanken, fing sich wieder; wie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden agierte. Mit langsamen, ungelenken Bewegungen schlurfte sie durch die Gänge. Die Bilder in ihrem Kopf leiteten sie. Vor ihrem geistigen Auge tauchte eine Gestalt auf; ein Mann. Magrador war sein Name! Ihr … Geliebter! Trotz der Leere und dem völligen Fehlen eines eigenen Impulses versetzte sie dieses Bild in Aufregung, und sie beschleunigte ihre Schritte – eine Hast, die ihr verheerter Körper nicht mehr koordinieren konnte. Mit ihrem Kopf stieß sie gegen die Mauern. Hautfetzen fielen herab. Knochen splitterten. Aber selbst dies verscheuchte nicht die Bilder in ihr. Gehorsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Bis sie plötzlich stehenblieb. Vor ihr stand eine Gestalt im Gang,
die sie erst nach Sekunden erkannte, obwohl das Bild längst in ihren Gedanken war: Magrador. Etwas wie ein Lächeln glitt über ihre Züge – eine Regung, die angesichts ihres Zustands zu einer schlechten Karikatur verkam. Calara hob die Arme und taumelte auf den Geliebten zu. Diesmal hielt sich Rank’Nor nicht mit einem grausamen Vorspiel ab. Diese Kreatur war ohnehin nicht mehr fähig, Gefühle wie Hoffnung oder Enttäuschung zu empfinden. Hungrig stürzte er sich auf Calara, um sich an ihrer schwarzen Seele zu laben. Das Aussehen des Wesens war ihm gleichgültig. In dieser Hinsicht war er weniger wählerisch als seine herrschaftliche Geliebte. Für Calara bedeutete es die Erlösung.
* Was Rank’Nor angekündigt hatte, trat ein. Vergeblich hoffte Salea, daß er und seine Kumpane wieder verschwinden würden. Das Gegenteil war der Fall. In ganz Al’Thera hatten sich die Kreaturen eingerichtet und labten sich an den schwarzen Seelen der Vampire. Die Sippenführer, die ebenfalls die Seuche überstanden hatten, fielen ihnen zuerst zum Opfer. Hatte Salea erst gehofft, sich der Hilfe ihrer Schicksalsgenossen versichern zu können, so war bald auch diese vage Zuversicht dahin. Und nach wie vor besuchte Rank’Nor sie in ihren Gemächern. Doch was ihr früher selbst Freude bereitet hatte, wurde nun zu endlosen Stunden der Qual. Die wenigen Menschen, die den unstillbaren Blutdurst der Vampire überlebt hatten, waren in den Palast getrieben und dort gefangengesetzt worden. Wann immer Salea es wünschte, konnte sie sich an ihnen laben. Mehrmals versuchte sie die Menschen zu hypnotisieren. Vielleicht
war es ja möglich, daß sie einen von ihnen dazu zwingen konnte, sie zu töten. Aber sie merkte schnell, daß sie mit ihren Gedanken nicht an sie herankam. Sie standen unter Rank’Nors allmächtigem Bann. Und auch die Vampir-Zombies waren in dieser Hinsicht keine Hilfe: Sie reagierten nicht auf Saleas Todeswunsch. Fliehen konnte sie ebensowenig. Sie hatte es versucht, war aber, wie Dutzende Male zuvor, an der unsichtbaren Barriere gescheitert, die Al’Thera von der Außenwelt abschirmte und die Stadt zwischen den Dimensionen hielt. Salea war eine Gefangene, der es noch nicht einmal vergönnt war, in den Tod zu flüchten …
* Wochen später Die Tempelbauten lagen still und verlassen da. Sie wirkten noch vergessener als zu den Zeiten, bevor die schreckliche Seuche über Al’Thera gekommen war. Salea hielt sich dicht bei den schwarzen Mauern. Die ringförmig angelegten Gebäude mit ihren in sich verwinkelten Wegen und Durchgängen boten ihr genügend Verstecke. Eine Bewegung auf dem Hintergrund des schwarzen Himmels über ihr ließ sie rasch in einen Gebäudeeingang huschen. Hoch oben flog eine der monströsen Kreaturen dahin, fast unsichtbar inmitten der Schwärze. Offensichtlich hatte sie sie nicht entdeckt. Salea atmete auf. Vorsichtig schlich sie weiter und drang in den inneren Bereich der Tempelanlage vor. Sie versuchte sich zu orientieren. Es war viele Jahrhunderte her, seit sie das letztemal hiergewesen war. Irgendwo mußte es einen Abstieg zu den Katakomben unter der Anlage geben. Dort lag Saleas letzte Hoffnung. Und sie gründete auf purer Spe-
kulation. Sie wußte, daß sich hier vor Ausbruch der Seuche Magier und Gelehrte zusammengerottet hatten, die ihr Wissen nutzen wollten, um ihre, Saleas, Schreckensherrschaft zu beenden. Der Tempelbereich lag weit von den übrigen, bewohnten Stadtbezirken entfernt; vielleicht war ja einer dieser Umstürzler von der Seuche verschont geblieben und hatte sich in den Katakomben verborgen. Wie gesagt: Es war eine schwache Hoffnung, und im Grunde ihres schwarzen Herzens glaubte Salea selbst nicht recht daran. Dennoch war es ihr einen Versuch wert. Das Innere der Tempel lag genauso verlassen da wie die weiten Plätze davor. Die hohen Hallen mit den Statuen blinder, längst vergessener Götter flößten ihr eine Ungewisse Furcht ein. Plötzlich hörte Salea ein Geräusch: das Schlurfen von nackten Füßen auf bloßem Stein. Sie duckte sich in die Deckung einer Säule und wartete, bis der Urheber der Schritte in ihr Blickfeld geriet. Es war ein uralter Vampir mit einem halb verfallenen Gesicht. Seinem Gewand nach mußte er der ehemaligen Priesterkaste angehört haben. Der Alte beachtete sie nicht. Und die Art, in der er davonschlurfte, erinnerte an den gemächlichen, taumelnden Gang einer Schildkröte. Er war ein Zombie; kein Zweifel. Und dennoch – zumindest schien er sich aus eigenem Antrieb zu bewegen. »Halt!« verlangte Salea. Der Zombie gehorchte. Salea trat näher. »Wer bist du?« fragte sie ihn. Der Alte murmelte einen Namen. Salea erinnerte sich nicht daran, ihn je gehört zu haben. Aber es hatte früher eine unübersehbare Anzahl von Priestern gegeben. Die meisten von ihnen hatte sie Rank’Nor in den ersten Wochen ihrer Regentschaft zugeführt. Es hatte nicht gelohnt, sich ihre Namen zu merken. Bis auf einen: Kamabar. Er war einer der mächtigsten Magier und
Gelehrten gewesen und hatte es geschafft, sich ihrem Zugriff immer wieder zu entziehen, bis sie es schließlich leid gewesen war, ihn erfolglos zu verfolgen. Seit Jahrhunderten hatte sie nichts mehr von Kamabar gehört, wußte nicht einmal, ob er überhaupt noch existiert hatte, als die Seuche kam. Nun war er die große Hoffnung, an die sie sich klammerte. Wenn es überhaupt noch jemanden gab, der ihr würde helfen können, so war er es. »Weißt du, wo Kamabar sich aufhält?« fragte sie den Zombie. Der Alte gab mit keiner Miene zu verstehen, ob er sie verstanden hatte. Doch schließlich nickte er kaum merklich mit dem Kopf. Saleas schwarzes Herz machte einen Sprung. »Wo?« bohrte sie nach. Wieder drang ein kaum verständliches Grummeln aus der zerstörten Kehle des Priesters. »Führe mich zu ihm!« befahl Salea. Der Zombie gehorchte. Mit schlurfenden Schritten ging er voran. Salea mußte sich zwingen, ihre Ungeduld zu zügeln und sich der langsamen Gangart ihres Führers anzupassen. Er leitete sie durch ein regelrechtes Labyrinth von Gängen und Räumen. Mehr als einmal zweifelte Salea daran, daß er sie überhaupt richtig verstanden hatte. Vielleicht war es seine Passion, hier die ganze Zeit ziellos in den Gewölben herumzuirren, und sie Närrin lief nun wie ein herrenloser Hund hinter ihm her. Nach einer Ewigkeit jedoch schien er endlich am Ziel zu sein. Mit verkrüppelten Fingern wies er auf eine letzte Tür. Zögernd trat Salea näher an die hölzerne Pforte heran. Ihre Vampirsinne waren aufs äußerste gespannt. Trotzdem konnte sie keine direkte Gefahr erkennen. Und selbst wenn – schließlich wollte sie sterben! Entschlossen öffnete sie die Tür. Der Raum dahinter lag in einem dämmrigen Licht. Regale mit Hunderten von Schriftrollen bedeckten die Wände. Auf einem mit
zerlumpten Kissen und Decken bereiteten Lager saß ein Mann im Schneidersitz und schaute ihr entgegen. Kamabar! Sein Blick war erstaunlich klar und fest, und auch sein Körper war weniger zerfallen als die der meisten anderen Vampire. Die Seuche war bei ihm kaum zum Ausbruch gekommen; sie schien ihn erst ereilt zu haben, als die Geflügelten bereits ihren Bannkreis um Al’Thera zogen. Dennoch war sein Gesicht zerfurcht und das eines alten Mannes. Aber alt war er schon immer gewesen. »Willkommen in meiner bescheidenen Behausung!« sagte Kamabar. »Ich habe Euch erwartet.« Seine tiefe Stimme klang ebenfalls erstaunlich fest. Salea runzelte die Stirn. »Erwartet? Du hast gewußt, daß ich kommen würde?« Der Magier und Gelehrte nickte. »Früher oder später. Es gab keinen einzigen Herrscher über Al’Thera, der nicht meinen Rat gesucht hätte.« Einen Moment lang empfand Salea seine Worte als überhebliche Anmaßung. Wer war er, daß er sie so zu durchschauen glaubte. Aber dann erinnerte sie sich daran, weshalb sie gekommen war. Und gab ihm recht. »Ich brauche tatsächlich deine Hilfe«, sagte sie. »Du weißt selbst, was aus Al’Thera geworden ist …« »In dieser Hinsicht werde ich Euch kaum helfen können. Die Übermacht derer, die Ihr selbst gerufen habt, ist zu gewaltig, die Magie, die sie praktizieren, zu fremdartig. Dunkel sind ihre Pläne. Selbst ich vermag ihre wahren Absichten nicht zu durchschauen …« Salea brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Glaubst du im Ernst, ich wäre deswegen zu dir gekommen, alter Mann? Ich bin mir darüber im klaren, daß es kein Mittel gegen Rank’Nor und seine Brut gibt. Wenn du gewußt hast, daß ich zu dir kommen würde, dann müßtest du auch den wahren Grund meines
Besuches kennen. – Ich bin hier, damit du mir den Tod bringst. Jede Stunde, die ich in dieser Hölle weiterschmoren muß, bereitet mir unendliche Qualen. Rank’Nors Demütigungen werden von Tag zu Tag, von Nacht zu Nacht erniedrigender … Du, Kamabar, bist meine letzte Hoffnung, dem Elend zu entfliehen.« Der alte Mann schien wieder in sich zusammenzusinken. »Ich verfüge nicht mehr über die alte Macht. Auch an mir ist die Seuche nicht spurlos vorübergegangen, auch wenn ich weniger in Mitleidenschaft gezogen wurde als die meisten anderen.« Er verstummte und dachte nach. Schließlich fuhr er fort: »Ich wüßte allerdings einen Weg, meine Fähigkeiten zu erneuern. Für einen einzigen Akt der Magie sollte es reichen. Vielleicht auch für mehr …« »Ich tue alles, was du verlangst«, flehte Salea. »Verschafft mir den Samen Rank’Nors! Als seine Geliebte wird das nicht allzu schwierig sein. Und wenn Ihr ihn habt, dann eilt sofort zu mir, denn er muß noch warm sein, damit er mir etwas nützt!« »Aber was hast du vor?« »Das, Herrin, sollt Ihr erfahren, wenn es soweit ist!«
* Als Salea den Magier das nächste Mal aufsuchte, hielt sie eine winzige Phiole in einer Falte ihres Gewandes versteckt. Darin befand sich die begehrte Flüssigkeit. Es war nicht weiter schwierig gewesen, Rank’Nor etwas vorzumachen. Neuen Liebestechniken gegenüber war er immer aufgeschlossen. Schwieriger war es gewesen, ihn loszuwerden, gleich nachdem sie ihm den Samen abgerungen hatte. Endlich hatte er sie in Ruhe gelassen und ihr erlaubt, sich zurückzuziehen. Sie hatte den Weg zum Tempel als Fledermaus zurückgelegt, die gläserne Phiole in den Krallen. Als Salea nun die Tür zu dem Raum aufstieß, in dem Kamabar
sich aufhielt, sah er ihr bereits erwartungsvoll entgegen. »Schnell!« drängte er. »Jede Sekunde ist kostbar. Ich habe alles vorbereitet.« Salea reichte ihm die Phiole mit dem Samen. Er war giftgrün und wallte beständig auf, als wäre das unheilige Leben, das in ihm ruhte, für das bloße Auge sichtbar. Begierig griff Kamabar nach der Röhrchen. So gierig, daß Salea für einen Moment mißtrauisch wurde. Hatte der alte Magier vielleicht viel mehr im Sinn, als ihr gefällig zu sein? Glaubte er, durch den Zauber seine alte Macht wiederzuerlangen, um seine Pläne gegen sie endlich zu verwirklichen? Wie auch immer, sie hatte keine andere Wahl, als sich in seine Hände zu begeben. Was konnte sie schon anderes erwarten als den Tod? Auf einem Tisch hatte Kamabar einen magischen Kreis gezeichnet. Darin befand sich eine leere Schale. Nun schüttete er aus einigen winzigen Gefäßen verschiedenfarbige Pulver, Flüssigkeiten und andere Ingredienzen hinein. Rauch stieg auf. Kamabar murmelte beschwörende Worte. Die Masse in der Schale begann sich zu erhitzen und Blasen zu werfen. Innerhalb von Sekunden wurde daraus eine schleimige Substanz. »Und nun das Wichtigste!« Die Augen Kamabars begannen zu glänzen. Er entkorkte die winzige Phiole und schüttete den grünen Inhalt in die schleimige Flüssigkeit. Wenige Tropfen genügten, um das Brodeln derart zu verstärken, daß die Masse überlief. »Es ist vollbracht!« triumphierte der Magier. Salea sah ihn stirnrunzelnd an. »Was ist vollbracht?« fragte sie. »Erkläre dich endlich, Alter!« Anstatt zu antworten, ergriff der Magier die Schale mit beiden Händen und führte sie an die Lippen. Dann leerte er die Flüssigkeit bis auf den letzten Tropfen. Noch während er trank, straffte sich sein Körper. Eine neue Kraft schien ihn zu durchströmen. Langsam setzte er die Schale wieder in den magischen Kreis zurück und wandte er sich Salea zu.
»Der Trunk hat mir meine magischen Fähigkeiten zurückgegeben. Nun müssen wir rasch handeln. Ich weiß nicht, wie lange sie andauern werden.« »Benutze die Macht, um mich zu erlösen!« drängte Salea. Und erstarrte innerlich zu Eis, als der Alte den Kopf schüttelte. Sie hatte es doch geahnt: Er betrog sie! Das sollte er büßen! Wenn er ihr den Tod nicht gönnte, würde eben er … Doch bevor sie sich auf Kamabar stürzen konnte, hob dieser die Hand. »Haltet ein!« rief er. Ihre Absicht mußte allzu deutlich auf ihren Zügen gestanden haben. »Es ist nicht, wie Ihr denkt!« Salea beherrschte sich mühsam. »Was also hast du vor, Verräter?« grollte sie. Der Magier vollführte eine Handbewegung, welche die Schale, in der er den Trunk angerichtet hatte, mit feinem Nebel füllte. Er ließ seine Rechte über dem Gefäß kreisen, und im nächsten Moment verdichtete sich der Dunst zu einer Art … magischer Projektion. Fasziniert trat Salea näher an die Schale heran. Eine junge Frau war darin zu sehen, in ihrer Schönheit Salea ebenbürtig. In gewisser Hinsicht war sie ihr perfektes schwarzhaariges Gegenstück. Die seidig schimmernden Haare reichten ihr lang den Rücken hinab. Ihre bleichen Gesichtszüge mit den faszinierenden grünen Augen verliehen ihr eine geheimnisvolle Ausstrahlung. Ihr Körper wurde von einer seltsam anmutenden Kleidung umhüllt: einem schwarzen, hautengen Kostüm, das sich ihren Formen perfekt anpaßte und in ebenfalls schwarze Stiefel überging, als wäre es aus einem Stück gefertigt. Die Frau stand vor den Resten eines brennenden Gebäudes, dessen ehemalige Form sich nicht einmal mehr erahnen ließ. »Warum zeigst du mir dieses Bild?« fragte Salea. »Weil sie unser aller Schicksal sein wird«, entgegnete Kamabar. »Ihr Name ist Lilith Eden. Sie ist ein Geschöpf unserer alten Welt;
ein Kind beider Rassen, einer Vampirin und eines Menschen.« »Dann … hat ihre Mutter sich geopfert, um sie zu gebären?« fragte Salea fasziniert. »Bemerkenswert … Aber wie kann sie uns helfen?« »Sie ist die vom Schöpfer bestimmte Feindin unseres Geschlechts«, fuhr Kamabar fort. »Ihre Aufgabe ist es, uns zu töten, wo immer sie auf uns trifft, bis irgendwann auch der letzten Vampir vernichtet ist.« »Ich verstehe …« Salea schwieg für einen Moment und dachte nach. »Also hast du mich doch hintergangen, alter Mann! Du willst den Tod aller, die noch in der Stadt sind.« »Ihr gehört dazu«, entgegnete Kamabar. »Und so wird sie auch Eure Erlösung sein.« »Aber wenn sie in der alten Welt lebt, wie soll sie hierher gelangen? Al’Thera liegt zwischen den Dimensionen. Das Nichts, das die Mauern umgibt, verhindert, daß jemand hinausgelangt …« »Aber vielleicht herein«, sagte Kamabar. »Auch Rank’Nor und seine geflügelten Schergen sind schließlich hierhergelangt.« Er griff nach Saleas Hand. Sie war überrascht, ließ ihn aber gewähren. Er zog ihr einen goldenen Ring vom Finger. »Was hast du vor?« »Vielleicht gibt es einen Weg, Lilith Edens Aufmerksamkeit zu wecken. Überlaßt mir den Ring für ein paar Stunden … Und dann kommt wieder. Vielleicht weiß ich dann einen Weg.«
* Lilith Eden! Salea mußte immer wieder an die Frau denken. Das Bild, das der Magier geschaffen hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Dieses Wesen, halb Mensch, halb ihrer eigenen Rasse zugehörig, würde sie erlösen können! Salea trug wieder ihren Ring. Äußerlich hatte er sich nicht verändert, aber Kamabar hatte ihr versichert, daß nun Magie in ihm wirk-
te. Zugleich hatte er ihr genau erklärt, was sie als nächstes tun sollte. Salea streifte durch die Gänge ihres Palastes und hielt nach einem geeigneten Opfer Ausschau. Die Kreaturen, die in Al’Thera eingefallen waren, fühlten sich längst auch in ihrem Palast heimisch. Bislang allerdings war ihnen Salea möglichst aus dem Weg gegangen. Die gierigen Blicke der Kreaturen machten – wie immer – auch vor ihr nicht halt. Wahrscheinlich war es nur Rank’Nor zu verdanken, daß sie sich nicht auf sie gestürzt hatten. Aber Salea ahnte, daß dies vielleicht nur eine Frage der Zeit sein würde. Endlich hatte sie ihr Opfer erspäht. Es war einer der Geflügelten, eine gut zwei Meter große Kreatur, die sich eben in eines der zahllosen Ruhezimmer zurückzog, um es sich auf einem weichen Lager bequem zu machen. Salea betrat das Zimmer gleich hinter ihm und schloß die Tür. Erstaunt sah das Scheusal sie an und ließ seine rauhe Zunge über die Lippen gleiten. Sein Schwanz zuckte erregt. Er schien sich zu fragen, weshalb diese Schönheit seine Nähe suchte. Salea ließ ihn nicht lange im Unklaren darüber. Verführerisch blickte sie ihn an und strich aufreizend über ihren Schoß. »Kannst du mir zu Diensten sein?« fragte sie mit Wollust in der Stimme. »Rank’Nor hat keine Zeit für mich, aber ich sehne mich nach den Berührungen eines starken Liebhabers.« Der Kehle des Monstrums entrang sich ein rauher Ton, formte Worte, die Salea nicht verstand. Doch dann zerfloß sein Körper und ordnete sich neu. Aus der geflügelten Kreatur wurde eine nackte menschliche Gestalt, und mit der Verwandlung kamen auch die Worte verständlich über seine Lippen. »… gern gefällig, wenn du es willst.« Salea trat näher. »Wie heißt du?« fragte sie. »Nig’Or«, antwortete er. »Aber ich weiß nicht, ob es richtig ist, was du vorhast. Rank’Nor …« Sie unterbrach ihn mit einer abwertenden Handbewegung. »–
Rank’Nor braucht von unserem kleinen Geheimnis nichts zu erfahren!« Bevor er weitere Einwände vorbringen konnte, war sie an ihn herangetreten. Aufstöhnend preßte sie ihren Körper gegen den seinen und tastete gleichzeitig nach seiner empfindlichsten Stelle. »Zieh mich aus!« flüsterte sie. Es fiel ihr schwer, Erregung vorzutäuschen, aber für Nig’Or schienen ihre Schauspielkünste völlig auszureichen. Er beeilte sich, ihr die Kleider vom Körper zu zerren. Salea triumphierte. Es funktionierte! Dieser Tölpel war kaum mehr Herr seiner Sinne. Seine rauhe Zunge hinterließ eine Speichelspur auf ihrem Körper. Sie spreizte die Beine und zeigte ihm ungeniert, was bislang nur Rank’Nor vorbehalten war. Gierig drängte er sie zu Boden und versuchte plump, in sie einzudringen, aber im letzten Moment preßte Salea ihre Beine zusammen. Mit einem enttäuschten Grollen gab er zu verstehen, daß er damit nicht einverstanden war. Salea stieß ihn von sich. Er funkelte sie wütend an. »Nicht, daß ich dich nicht mag«, sagte sie, »aber bevor ich mich dir hingebe, mußt du mir beweisen, daß du ebenso mächtig bist wie Rank’Nor. Eine kleine Gefälligkeit, mehr nicht.« »Was verlangst du von mir?« Salea streifte den Ring von ihrem Finger. »Bring diesen Ring für mich an eine bestimmte Stelle meiner alten Welt.« Der Geflügelte schüttelte den Kopf. »Der Weg dorthin ist mir ebenso wie dir versperrt. Aber ein Ring …« Etwas schien ihm durch den Kopf zu gehen. Salea konnte ihm beim Denken förmlich zusehen. »Es gibt eine Stelle hier in Al’Thera«, fuhr er fort, »einen schmalen Riß zwischen den Dimensionen, der ausreichen mag, einen Ring zu befördern.« Er nahm das Kleinod aus Saleas Hand entgegen. »Wirst du es versuchen?« fragte sie fordernd und reckte ihren schönen Körper, so daß ihm die Entscheidung leichter fiel. »Nun gut. Es ist ja nur ein Ring. Aber bleib, wo du bist. Es wird
nicht lange dauern!« »Wer sagt mir, daß du es ehrlich meinst?« fragte Salea. »Niemand«, grinste Nig’Or. »Und nun beschreibe mir, wohin der Ring in die Menschenwelt fallen soll …«
* Los Angeles, USA, 22. Januar 1997,19:15 Uhr Der Mann starrte sie bereits die ganze Zeit über unverblümt an. Nicht, daß es Lilith etwas ausmachte. Sie war es gewohnt, daß Männer sie unverhohlen ansahen und dabei vor allen Dingen eines im Sinn hatten. Nun, sie konnte damit leben. Dieser Kerl ging ihr allerdings auf den Wecker. Er war mindestens siebzig, trug einen Pferdeschwanz und an jedem Finger mindestens einen protzigen Goldring. Als er sah, daß Lilith auf seine Blicke reagierte, erhob er sich von seinem Platz und kam langsam näher. Er humpelte leicht. »Darf ich mich setzen?« fragte er. Lilith verdrehte die Augen. Sie hatte keine Lust, hier eine Szene zu machen. Außerdem war es ein öffentliches Restaurant. Sie konnte ihn nicht daran hindern, sich zu ihr zu setzen. Sie seufzte innerlich. Ihr Flugzeug hatte zwar Verspätung, aber in spätestens zwei Stunden würde sie von hier verschwunden sein. Nach dem Kampf mit dem verrückten Vampirmönch sehnte sie sich nach etwas Ruhe und Entspannung. Sie ahnte nicht, daß es anders kommen sollte. »Also, was wollen Sie von mir?« fragte sie kalt, nachdem sich der Mann niedergelassen hatte. »Warum denn so unfreundlich, mein schönes Kind«, tadelte er. »Sagen Sie bloß, Sie kennen mich nicht?« »Müßte ich das?«
»Na: ›Engel der Lust‹, ›Die Geliebte des Marquis‹, ›Göttinnen aus dem All‹ …« Jetzt dämmerte es ihr. Wahrscheinlich war der Knabe Regisseur und auf Anmach-Tour, um neue Darstellerinnen erst in sein Bett und dann auf in das Set eines drittklassigen Films zu zerren. Wo sonst als hier, in Los Angeles, liefen diese Spinner herum? »Ich sehe, der Groschen ist gefallen«, fuhr er selbstgefällig fort. »Richtig, Kindchen: Ich bin James W. Crawler!« »Und wenn Sie Steven Spielberg persönlich wären: Ich bin nicht interessiert. Außerdem bin ich keine Schauspielerin!« »Aber Sie könnten eine werden!« beharrte er. Die Bewunderung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Sie haben – verzeihen Sie, wenn ich das so direkt sage – den perfektesten Körper, den ich je gesehen habe!« Lilith öffnete den Mund, um ihm eine finale Abfuhr zu erteilen, aber er ließ ihr keine Chance. »Doch, doch, widersprechen Sie nicht! Aber das ist es nicht allein. Es ist Ihre Ausstrahlung, Ihre Präsenz! Glauben Sie mir, ich habe einen Riecher für diese Dinge! Sie könnten, mit ein wenig Unterstützung, versteht sich …« Er redete weiter, ohne ein einziges Mal Luft zu holen – aber seine Stimme verlagerte sich für Lilith irgendwie in den Hintergrund. Sie war so verblüfft von dem Effekt, daß sie ihn reden ließ. Dann spürte sie, wie sich etwas in ihre Gedanken drängte. Es war ein nur schwacher Impuls, aber nichtsdestotrotz war sie alarmiert. Es klang wie ein Hilferuf, ohne daß sie wußte, auf welche Weise er ihre Gedanken erreichte. Und er wurde mit jeder Sekunde stärker. Lilith erhob sich abrupt. Crawler sah sie stirnrunzelnd an. »Was ist mit Ihnen?« fragte er. »Sie sind ja ganz blaß geworden, Kindchen! Soll ich einen Arzt rufen?« Sie hörte ihn kaum noch. Der Ruf wurde drängender. Sie mußte hier raus! Gehetzt sah sie sich um.
»Aber so warten Sie doch!« rief der angebliche Regisseur. »Ich tue Ihnen doch gar nichts!« Lilith ließ ihn stehen. Ohne ihr Getränk zu bezahlen, stürmte sie durch die Tür des Restaurants hinaus in die riesige Wartehalle des Flughafens und von dort weiter ins Freie. Draußen atmete sie tief durch. Das Leben pulsierte geschäftig um sie herum. Dennoch gelang es ihr hier viel besser, sich zu konzentrieren. Der Hilferuf war nicht verstummt; im Gegenteil, er nahm beständig an Intensität zu. Lilith überlegte kurz, ob sie ihm wirklich folgen sollte, ohne zu wissen, was er bedeutete und wohin er sie führen würde. Aber es war ein magischer Ruf, für normale Ohren nicht zu vernehmen. Wer immer ihn aussandte, er setzte darauf, daß ein magisch oder mental begabtes Wesen ihn empfing. Vielleicht würde er sie geradewegs zu einem weiteren Vampir führen – oder zu einem der Para-Träumer. Lilith suchte nach einer geschützten Stelle und fand sie in einem nach unten führenden Kellergang. Die Transformation ging blitzschnell vonstatten. Nur Augenblicke später erhob sich eine große Fledermaus auf ledrigen Schwingen hinauf in den Abendhimmel. Völlig frei von störenden Einflüssen war der Ruf hier oben noch deutlicher zu vernehmen. Lilith gab sich dem Impuls ganz hin und ließ sich von ihm leiten. Unter ihr glitt das einzigartige Panorama von Los Angeles dahin. Das riesige, aus der Luft leicht gekrümmt wirkende Schachbrettmuster der Millionenmetropole bot ein einzigartiges Bild, für dessen Schönheit Lilith im Augenblick jedoch keinen Sinn hatte. Der Impuls trug sie aus dem Stadtkern in einen der Randbezirke. Schließlich wurde er so stark, daß sie seinen Ursprung direkt unter sich vermutete. Mit ihren vampirischen Sinnen suchte sie den Boden nach Hinweisen ab, konnte aber aus dieser Höhe nichts erkennen.
Vorsichtig glitt sie tiefer. Mißtrauisch, denn es mochte ebensogut eine Falle sein. Ein kleiner Park tauchte unter ihr auf. Kein Mensch hielt sich darin auf. Kein Wunder; die Bäume waren noch kahl und der Rasen von Schneeresten überzogen. Die Kälte der einbrechenden Nacht tat ein übriges, Besucher fernzuhalten. Lilith landete und verwandelte sich in ihre humanoide Gestalt zurück. Der Symbiont floß über ihren Körper und nahm das Aussehen eines schwarzen Catsuit an, das sie wie eine zweite Haut umspannte. Lilith erfaßte den Park mit einem Blick. Ein großer Rasen, von dürrem Strauchwerk eingefaßte Wege, ein paar Bäume … Wenn sich hier jemand versteckt hielt, hätte sie ihn sehen müssen. Dennoch hatte der Hilferuf irgendwo hier seinen Ursprung. Dann fiel ihr der steinerne Sockel auf, der mitten auf der größten Rasenfläche stand; offenbar der Beitrag eines Kubisten zum Thema »Unsere Stadt soll schöner und mein Geldbeutel dicker werden«. Das klobige Kunstwerk bestand aus schwarzem Basaltstein und maß etwa anderthalb Meter im Quadrat. Moos und Unkraut hatten sich darauf breitgemacht. Lilith trat näher und besah sich den Stein genauer. Der Impuls war jetzt so stark, daß er nur von dem Klotz ausgehen konnte. Aus der Nähe erwies sich der Stein tatsächlich als Kunstwerk. Er war über und über mit feinen Linien überzogen, die sich zu einem verwirrenden Muster ordneten. Der Bildhauer hatte sich wirklich Mühe gegeben. Schade, daß der Eindruck nur aus unmittelbarer Nähe wirkte. Dann entdeckte Lilith die Kerbe. Es war ein tiefer Spalt an der Oberseite des Steins, wild gezackt und gerade mal so breit, daß eine zusammengefaltete Zeitung hineinpaßte. Und als sie den Spalt genauer untersuchte, sah sie tief darin etwas golden blitzen. Es war ein Ring! Das Schmuckstück zog sie geradezu magisch an. Fast wie unter einem Zwang steckte Lilith einen Finger in die Spalt
und tastete danach. Ihre Fingerkuppe berührte den Reif. Er fühlte sich warm an – fast wie etwas Lebendiges. Doch es war kein unangenehmes Gefühl; ganz im Gegenteil. Lilith streckte den Finger noch ein wenig mehr, so daß der Ring darüber glitt. In diesem Augenblick geschah es. Die Spalte glühte plötzlich auf. Erschrocken wollte Lilith den Finger zurückziehen – doch er steckte fest! Und nicht nur das: Irgend etwas zog daran! Lilith wehrte sich mit aller Kraft, aber diesen Mächten hatte sie nichts entgegenzusetzen. Sie spürte, wie der Zug stärker wurde, während ihr Verstand innerhalb von Sekunden von dem Hilferuf, den sie noch immer empfing, völlig überflutet wurde. Dann wurde sie in den Spalt gezogen – nicht nur ihr Finger, sondern auf unmögliche Weise ihr ganzer Körper! Ein reißender Schmerz war das Letzte, was sie wahrnahm, dann schwand ihr Bewußtsein …
* Als Lilith erwachte, lag sie auf kaltem Stein in fast völliger Dunkelheit. Sie versuchte ihre Umgebung mit Blicken zu ergründen. Erstaunt stellte sie fest, daß sie sich in einem altertümlichen Gemach zu befinden schien. Wie in 1001 Nacht, fuhr es ihr durch den Kopf. Langsam richtete sie sich auf und erhob sich vom Boden. Soweit sie es beurteilen konnte, befand sie sich allein in dem prunkvoll ausgestatteten Raum. Ihre Gedanken gehörten wieder ganz ihr. Der Hilferuf, der sie zu dem Stein geleitet hatte, war nicht mehr zu vernehmen. Sie schaute auf ihren Finger. Der Ring war verschwunden! War er ihr von jemandem während ihrer Ohnmacht vom Finger gezogen worden, oder hatte er sich aufgelöst, nachdem er seine Aufgabe er-
füllt hatte? Im Augenblick war Lilith völlig verwirrt. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was mit ihr passiert war. Nur soviel wußte sie: Dies war kein Ort, den sie kannte. Sie lauschte in die Dunkelheit hinein, aber selbst ihr feines Gehör vermochte nicht den geringsten Laut auszumachen. Trotzdem hatte sie mehr und mehr das Gefühl, daß sie beobachtet wurde. Mit geschmeidigen Schritten erreichte sie die Tür. Sie war unverschlossen. Also war sie zumindest nicht eingesperrt. Als sie die hohe Pforte vorsichtig öffnete, zuckte sie zurück. GEFAHR! Direkt vor Lilith fiel eine Gestalt von der Decke herab, landete dicht vor ihr und stieß sie zurück in das Gemach. Hart landete sie auf dem Boden, aber noch im Fallen erwachte ihr vampirischer Instinkt. Automatisch verformten sich ihre Zähne. Markante obere Eckzähne schoben sich wie von selbst über ihre Lippen. Sie fauchte. Ihre ansonsten grünen Augen funkelten rot, als würde ein inneres Feuer sie erleuchten. Ihre Finger formten sich zu tödlichen Klauen. Die Macht, die sich in ihr manifestierte, ließ ihre Muskeln schwellen. Ihre Kehle produzierte unter der einsetzenden Metamorphose knurrende Laute. Ihr Gegenüber verharrte für einen Moment. Es war eine Blutsaugerin. Selbst in ihrer animalischen Vampirgestalt war sie unglaublich schön. Weißblondes, zu einem hohen Pferdeschwanz gebändigtes Haar floß ihren Rücken hinab. Die Vampirin warf die Tür hinter sich zu. Die beiden Frauen belauerten sich wie zwei Raubkatzen, bereit zum Sprung. Die kleinste Bewegung genügte, um den Angriff auszulösen. Ihre Körper prallten mit voller Wucht gegeneinander. Schwarzes und dunkelrotes Blut strömte aus ersten Wunden, als lange spitze Fingernägel Haut ritzten. Beide Frauen kamen sie hart auf dem Boden auf und rollen, inein-
ander verkrallt, über die Marmorfliesen. Dann gelang es Lilith, ihre Gegnerin auszuhebeln. Die Vampirin kam unter ihr zu liegen. Lilith setzte all ihre Kraft ein, um ihren Körper am Boden zu halten. Die weißblonde Vampirin bäumte sich unter ihr auf, fauchte und versuchte mit den Zähnen nach Liliths Handgelenken zu schnappen. Bevor es ihr gelingen konnte, zuckte Liliths Kopf nach unten. Sie traf ihre Gegnerin an der Stirn und schleuderte deren Kopf zurück, so daß er hart gegen die Fliesen prallte. Für einen Moment erschlaffte der Körper der Vampirin unter ihr, aber es dauerte nur Sekunden, bis er sich schon wieder zu regen begann. Lilith hätte sie nun töten können, wie ihre Mission es verlangte. Aber sie sah keinen Sinn darin, bevor sie nicht wußte, was genau mit ihr geschehen war und wo sie sich befand. Schon setzte sie an, die blonde Vampirin in den Hals zu beißen, um sie mit ihrem Keim gefügig zu machen, da gab ihre Gegnerin unvermittelt allen Widerstand auf. Ihr Körper verlor alles Animalische und gewann noch an Schönheit. Regungslos lag sie da und starrte Lilith mit weitaufgerissenen Augen an. »Also los!« knurrte sie. »Worauf wartest du noch? Du bist mir überlegen – also töte mich!« Lilith war irritiert. Nach der Heftigkeit des Angriffs hatte sie mit weiterer verbissener Gegenwehr gerechnet. Warum fügte sich die Fremde so rasch in ihr Schicksal? »Wer bist du?« fragte sie. Enttäuschung füllte den Blick ihrer Gegnerin. Dann Wut: »Beiß zu! Brich mir das Genick! Töte mich endlich!« stieß sie zornerfüllt hervor. Liliths Gedanken überschlugen sich. Sie konnte sich das Verhalten ihrer Gegnerin nicht erklären, die geradezu um den Tod flehte. »Ich denke nicht daran!« gab Lilith zurück. Sie lag noch immer auf den Angreiferin und drückte sie unerbittlich zu Boden. »Erst ver-
rätst du mir, wer du bist und wie ich hierher geraten bin!« Abermals bäumte sich die Vampirin unter ihr auf, doch Lilith hielt sie fest gepackt. Nach dem kurzen Aufbäumen lag die Schöne wieder still. Ihre Augen blitzten, doch diesmal schien sich ihr Zorn nicht allein gegen Lilith zu richten. »Kamabar, du verfluchter Narr!« zischte sie. »Warum hast du behauptet, diese Frau wäre die größte Feindin aller Vampire? Sie bringt es ja nicht einmal fertig, eine Gegnerin im Kampf zu töten!« Das Rätsel um diese Vampirin wurde immer größer, und Lilith war von einer Lösung noch genauso weit entfernt wie zu Anfang. Es wurde Zeit, die Widerspenstige gefügig zu machen … Erneut beugte sie ihren Kopf der Blonden entgegen und zog die Lippen über ihre Eckzähne. Im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Liliths Kopf ruckte herum. Im Türrahmen stand ein Wesen, das geradewegs der Hölle entstiegen sein mußte. Ein Koloß mit schuppiger Haut und gewundenen Hörnern. Ein Schwanz peitschte die Luft, Geifer tropfte ihm aus dem Rachen, und seine Pranken hätten genügt, Lilith mit einem Ruck in der Mitte zu zerfetzen. Keine Zeit mehr, einen Biß anzubringen! Gedankenschnell rollte sich die Halbvampirin von ihrer Gegnerin herunter und ging auf Distanz. Gegen dieses Wesen würde sie nicht den Hauch einer Chance haben. Da erhielt sie Beistand von unerwarteter Seite. »Laß sie in Ruhe, Rank’Nor!« rief die blonde Vampirin. »Sie gehört mir!« »Ich gehöre niemandem!« widersprach Lilith. Das Wesen knurrte wütend. »Mit dir rechne ich später ab, Salea!« sagte es zu der Vampirin. Dann wandte es sich wieder an Lilith, die mittlerweile mit dem Rücken zur Wand stand. »Ich weiß nicht, woher du kommst«, knurrte er, »aber du bist
schön. Vielleicht werde ich dich nicht sofort töten.« Er leckte sich mit einer langen, äußerst biegsamen Zunge die hornigen Lippen. »Vielleicht habe ich noch Verwendung für dich. Wie mir Salea bewiesen hat, ist deine Rasse zu bemerkenswerten Leistungen in der Lage.« Lilith begann zu ahnen, was er damit meinte. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Rank’Nor ließ ihr keine Zeit, seine Worte zu verdauen. Mit einem Brüllen stürzte er vor. Und abermals bekam Lilith unerwarteten Beistand. Mit einem Satz verstellte die blonde Vampirin der Kreatur den Weg. Und obwohl Rank’Nor sie mit seiner bloßen Körpermasse spielend hätte überrennen können, hielt er in seinem Lauf inne. Offenbar lag ihm an der Vampirin, auch wenn seine Drohungen eher dagegen sprachen. Lilith nutzte die Chance, die sich ihr bot. Sie sprang zur Seite, rollte sich geschickt ab, und noch während sie wieder hochkam, verwandelte sie sich in ihre Fledermausgestalt. Die Tür, durch die Rank’Nor das Gemach betreten hatte, stand noch immer offen. Lilith beschrieb einen weiten Bogen um den wütenden Koloß flatterte hinaus auf den Korridor. Hinter ihr ertönte abermals das Brüllen der Kreatur, und es klang nicht um einen Deut freundlicher. Aber es beflügelte Liliths Flucht – und das sogar wörtlich. Sie folgte langen Korridoren und spähte verzweifelt nach einem Ausgang. Einige weitere Kreaturen, kleiner als Rank’Nor, aber ebenso häßlich, kreuzten ihren Weg, aber sie waren zu überrascht, um schnell genug zu reagieren. Rank’Nor blieb ihr dicht auf den Fersen! Und er holte auf! Als Lilith um eine weitere Ecke bog, sah sie vor sich ein offenes Fenster. Sie jubilierte. Mit einer letzten verzweifelten Kraftanstrengung schwang sie sich in die Nacht hinaus. Aber dann erkannte sie, daß sie zu früh triumphiert hatte – als sie sah, wie sich Rank’Nor ebenfalls durch die Fensteröffnung zwängte.
Auf seinem Rücken wuchsen in Sekundenschnelle gewaltige Schwingen! Doch während er sie noch entfaltete und dabei mit Blicken nach der Fledermaus suchte, ließ sich Lilith wie ein Stein nach unten fallen. Sie fing ihren Sturz erst im allerletzten Moment ab und landete bei einem Brunnen auf einem Vorplatz. Dort verbarg sie sich und wartete ab. Es dauerte nur Sekunden, bis der nunmehr geflügelte Körper der Kreatur über ihr den schwarzen Himmel querte. Und Rank’Nor war nicht mehr allein. Offensichtlich hatten nun auch die anderen Monster begriffen, was sie zu tun hatten. Dutzende von ihnen sah Lilith ausschwärmen. Sie wartete ab und hatte dabei viel Zeit, über alles nachzudenken. Es war nicht viel, was sie wußte. Ganz offensichtlich war sie durch den Spalt im Fels in diese fremde Welt gesogen worden – wo eine Vampirin auf sie wartete, um durch ihre Hand zu sterben. Bizarr. Für einen Moment dachte Lilith allen Ernstes darüber nach, ob sie nicht in Wahrheit irgendwo im Flughafen von Los Angeles auf einer Bank saß, eingenickt war und sich dieses ganze krude Zeug nur zusammenträumte. Oder – und dabei durchfuhr sie ein schmerzhafter Stich – hatten die Träume des Widderköpfigen sie eingeholt? Befand sie sich erneut in einer Phantasiewelt, wo sie sich in ständigen Kämpfen verausgaben sollte, während das »Kind« ihre Lebenskraft raubte?* Selbst wenn es so war – wie sollte sie die Wahrheit erkennen? Erst wenn der Widderköpfige auch in diesem Traum erschien? Was aber, wenn er diesmal eine andere Gestalt gewählt hatte? Zum Beispiel die eines Kolosses mit einem schuppigen Schwanz und gewundenen Hörnern …? Lilith erkannte mit Schrecken, daß Logik ihr hier nicht weiterhalf. Über ihre Lage nachzudenken verwirrte sie nur noch mehr. Die ein*siehe VAMPIRA T08: »Im Bann des Kindes«
zige, an die sie sich halten konnte, war jene blonde Vampirin – Salea hatte das Monstrum sie genannt. Aber in den Palast konnte sie jetzt nicht zurückkehren. Mit Sicherheit waren die Kreaturen dort in Alarm versetzt worden und warteten nur darauf, daß sie sich noch einmal blicken ließ. Also blieb ihr vorerst nur eines: zu versuchen, so schnell wie möglich einen Weg aus dieser orientalisch anmutenden Stadt zu finden. Lilith wartete noch ein paar Minuten ab, bis sie sicher war, daß die Luft rein war. Dann kroch sie unter dem Becken des Brunnens hervor und flog erneut in die Nacht hinaus.
* Nie zuvor hatte Lilith solcherart gesehen, und mit jedem Flügelschlag, den sie zurücklegte, wuchs ihre Ahnung zur Gewißheit, sich nicht mehr auf der Erde zu befinden. In dieser Metropole schien es keine menschlichen Wesen zu geben, nur Vampire. Hier lebten nicht einzelne Sippen, die sich in einer Stadt der Menschen eingenistet hatten; es handelte sich wahrhaftig um eine Stadt der Vampire! Und um eine Stadt des Todes. Wohin Lilith auch blickte, sah sie Schrecken und Verfall. Sie wußte nicht, was mit den Bewohnern geschehen war. Die Vampire waren nur noch Schatten ihrer selbst, zerstörte, verheerte Leiber, von einer unheiligen Kraft auf den Beinen gehalten, aber nicht mehr fähig, selbst zu handeln. Die meisten standen irgendwo reglos herum und glotzten in die Nacht, ohne wirklich zu sehen. Andere gingen routinehaft ihren alten Gewohnheiten nach – in immer stereotypen Bewegungen. Was war mit diesen Blutsaugern passiert? Nachdem Lilith sich aus der Luft einen ersten Überblick verschafft hatte, fand sie endlich den Mut, in einer der Gassen zu landen. Sie kam auf dem Boden auf und transformierte sofort wieder in ihre menschliche Gestalt. Der Symbiont paßte sich den Gegebenheiten an
und hüllte ihre Gestalt in ein zerrissenes Gewand. In dieser nachlässigen Kleidung liefen die meisten der Bewohner herum. Die Gasse, in der sie gelandet war, war verlassen, aber als Lilith ein paar hundert Schritte gegangen war, wurden die Straßen belebter. Aus der Luft hatte sie gesehen, daß sich die Stadt in fünf Ringe gliederte. Sie war innerhalb des Ringes gelandet, der gleich hinter der befestigten Stadtmauer lag. Die Vampirwesen beachteten sie nicht. Ihre Augen waren stumpf, und ihre Bewegungen glichen denen von Robotern. Lilith inspizierte einige der Häuser. Auch in den Wohnungen befanden sich Vampire, aber sie standen nutzlos herum oder gingen alten, ebenso nutzlos gewordenen Tätigkeiten nach, ohne Notiz von ihrer Umwelt zu nehmen. Hier schien sich tatsächlich eine Art Familienleben etabliert zu haben, wie Lilith verblüfft erkannte. Zwar konnte sie nirgendwo Kinder entdecken, aber es gab einige Jugendliche, besonders Mädchen, und viele der Vampirwesen, die in den Häusern ihr einstiges Leben routinehaft nachzelebrierten, hatten sich zu Kleinfamilien zusammengeschlossen. So als hätten sie sich mehr an menschlichen Sozialformen denn an vampirischen Sitten orientiert. Lilith kannte bislang nur Sippen mit zwanzig bis dreißig Vampiren, die sich um ein Oberhaupt geschart hatten. In dieser Stadt schien sich infolge ihrer Abgelegenheit eine andere Art von Gemeinschaft gebildet zu haben. Wie auch immer – die vermeintliche Idylle war zerstört. Etwas war mit den Vampiren geschehen, hatte sie sterben lassen, in letzter Konsequenz aber doch nicht getötet … Lilith hatte im ersten Moment an den Seuchenimpuls gedacht, der die Vampirrasse dezimierte. Die meisten dieser grauenhaften Wesen wiesen zumindest die äußeren Merkmale der weltumspannenden Seuche auf. Aber warum war dann die Seuche nicht weiter fortgeschritten?
Weshalb sah es so aus, als wäre sie im letzten Moment verebbt und hätte diese Vampire ihrem grausamen Schicksal überlassen, gefangen zwischen unheiligem Leben und endgültigem Tod? Offenbar litten diese Wesen auch nicht den geringsten Blutdurst. Lilith fand keinen Hinweis darauf, daß sie sich ernährten. Auch Menschen, von denen sie hätten trinken können, gab es nirgendwo. Lilith wanderte weiter durch die Gassen, sich nur hastig verbergend, wenn sie die Flügelschläge eines der dämonischen Wesen vernahm, die nach ihr suchten. Sie schlug die Richtung zur Stadtmauer ein. Je früher sie von diesem Ort des Grauens verschwand, desto besser. Und der Weg hinaus führte über die Stadtmauer aus schwarzem Basaltstein, die sie aus der Luft gesehen hatte. Wie vermutet standen Wachtposten hier. Aber es waren keine der geflügelten Monstren, sondern Vampire, die ebenso apathisch wirkten wie alle anderen und Lilith nicht beachteten. Sie erklomm eine hölzerne Treppen, die an der Mauer hochführte. Niemand hielt sie auf. Dann stand sie auf den obersten Zinnen der steinernen Brüstung. Im ersten Moment sah sie jenseits der Mauer nur Dunkelheit – die gleiche Art von absoluter Finsternis, die auch über der Stadt lag. Kein Mond. Keine Sterne. Nichts. Ihre Augen versuchten angestrengt, die Finsternis zu durchdringen. Und plötzlich glaubte sie tatsächlich etwas zu erkennen: riesige Schatten körperloser Gestalten, die ihr ein bizarres Schauspiel vorgaukelten. Sie strengte ihre Augen weiter an und versuchte das Schattenspiel zu begreifen. Mit jeder Sekunde konnte sie es deutlicher erkennen. Es erinnerte sie an Szenen aus Dantes »Göttlicher Komödie«: Es war das Grauen selbst. Das Inferno. Die schattenhaften Gestalten wanden sich in unvorstellbarer Pein, schrien lautlos ihre Qual, die sich als Sturzbäche von Schwarz um ihre Leiber wanden, sie einschnürten und verformten. Ein normaler Mensch wäre wahrscheinlich in Irrsinn verfallen, hätte er sie erblickt. Selbst Lilith mußte ih-
ren Blick abwenden. Dennoch. Es könnte auch nur eine Vision sein. Etwas, das mich davon abhalten will, aus dieser Stadt zu verschwinden. Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis spürte sie einen warmen Hauch, der sie von jenseits der Mauern erreichte. So, als wollten die Schemen dort ihre Gedanken Lügen strafen. Es kam auf einen Versuch an. Lilith transformierte abermals in ihre Fledermausgestalt, stieß sich von den Zinnen ab und erhob sich in die Nacht. Mit jedem Flügelschlag wurde die Luft heißer. Wenige Meter genügten, und die Hitze war kaum mehr auszuhalten. Und noch ein kleines Stück weiter glaubte sie bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Kreischend kehrte Lilith um und flog zurück auf die Zinnen der Stadtmauer. Ihr ganzer Körper glühte, als sie sich in ihre humanoide Gestalt zurückverwandelte, und es dauerte Minuten, bis die Schmerzen abklangen. Ihre Augen hatten ihr nichts vorgegaukelt. Dort draußen herrschte das Inferno. Eine lebensfeindliche Welt jenseits aller Vorstellungskraft, die eine Flucht unmöglich machte. Also blieb nur noch die eine Möglichkeit: Zurück in die Höhle des Löwen! Sie mußte auf irgendeine Weise wieder in den Palast gelangen und diese Vampirin finden, aus ihr herauspressen, was hier gespielt wurde! Lilith schlug die Richtung zum Palast ein. Aber sie kam nicht weit. Die geflügelten Kreaturen schienen sich nach ihrer vergeblichen Suche um die Palastbauten herum zusammengezogen zu haben. Sie bildeten eine dichte Linie, die sie niemals ungesehen würde passieren können. Lilith hatte keine Wahl: Sie mußte umkehren, bevor man auf sie aufmerksam wurde. Innerhalb des vierten Ringes, zwischen den Be-
hausungen der zombiehaften Vampire, ging sie nieder. Nun blieb ihr nichts mehr, als zu warten und darauf zu hoffen, doch noch einen Weg in den Palast zu finden. Verdursten würde sie nicht. Seit sie auf das schwarze Blut der Vampire angewiesen war, war ihre Ernährung zum Problem geworden – aber nicht hier. Der Tisch war reich gedeckt. Aber es war ein Mahl, vor dem Lilith sich ekelte.
* Endlose Stunden waren vergangen, als Lilith aus ihrem Versteck heraus beobachtete, wie plötzlich Bewegung in die Vampir-Zombies auf den Straßen kam. Sie schauten immer öfters zum Himmel hoch, als fürchteten sie von dort eine Gefahr. Lilith hing in ihrer Fledermausgestalt unter einem vorspringenden Dach, von wo aus sie einen hervorragenden Blick auf eine der belebteren Gassen hatte. Wie lange sie dort schon ausharrte, wußte sie nicht. Dadurch, daß in dieser Stadt nur Dunkelheit herrschte, verlor man jegliches Zeitgefühl. Dann sah sie, weshalb die Wesen immer öfter zum Himmel blickten. Drei der Kreaturen aus dem Palast kamen herangeflogen und landeten mitten auf der Straße. Die Vampir-Zombies reagierten nur schwach. Einige versuchten so etwas wie Flucht, aber sie waren so unendlich langsam und unbeholfen, daß es nur lächerlich wirkte. Die Geflügelten entfalteten ein riesiges, großmaschiges Netz, breiteten es auf dem Boden aus und begannen damit, einige der Vampire darauf zusammenzutreiben. Es war ihnen anzusehen, daß sie diese Aufgabe mit großem Vergnügen erledigten, als könnten sie es kaum erwarten, ihre Grausamkeit endlich auszuleben. Sie trieben die Vampire wie Vieh vor ihnen her, traten und schlugen sie. Eine der Frauen fiel zu Boden. Die Kreatur, die sie gestoßen hatte,
trampelte einfach über sie hinweg. Ihr massiger Körper zerquetschte die Vampirin regelrecht. Das, was von ihr übrig blieb, krümmte sich in noch groteskeren, sinnlosen Zuckungen auf dem Boden weiter. Schließlich hatten die geflügelten Wesen ein halbes Dutzend Vampire auf dem ausgelegten Netz versammelt. Sie standen auf engstem Raum und warteten teilnahmslos ab. Die Unruhe, die Lilith zuvor an ihnen bemerkt hatte, war wieder einer allumfassenden Lethargie gewichen. Nun ergriffen die Geflügelten die Enden des Netzes, erhoben sich in die Lüfte und zogen das Netz dabei zusammen. Lilith sah ihnen nach, wie sie mit ihrer grotesken Fracht davonzogen. Wenn sie sich nicht sehr täuschte, dann schlugen sie die Richtung zum Palast ein, der mitsamt seinen vielen Nebenbauten im zweitinnersten Ring der Stadt eingebettet lag. Über den Grund der Aktion konnte sie nur mutmaßen. Vielleicht dienten die Vampire ja als Nahrung für die geflügelten Wesen … Da kam ihr eine Idee. Wenn die Kreaturen mit ihrem Fang wirklich zum Palast zurückflogen, war dies eine Chance, unbemerkt dort hineinzugelangen! Bald hatte Lilith sich einen Plan zurechtgelegt, der nicht ohne Risiko war und vor allem Geduld von ihr erforderte. Aber Geduld war in dieser Stadt vielleicht das einzige, womit sie etwas ausrichten konnte …
* Die Vampir-Zombies in den Straßen schienen es wiederum als erste zu merken, daß Gefahr im Anflug war. Ihre Bewegungen wurden um eine Spur unkontrollierter, und ihre Augen hoben sich immer öfter gen Himmel. Mit scharfem Blick suchte auch die Halbvampirin das finstere Firmament ab, bis sie inmitten der Schwärze die sich bewegenden
Punkte sah, die rasch näherkamen. Die Zeit zum Handeln war gekommen! Lilith ließ sich auf den Boden fallen und verwandelte sich in ihre menschliche Gestalt zurück. Neben dem Haus befand sich ein Berg mit Unrat. Sie bückte sich und bediente sich mit beiden Händen aus einem Berg von Asche und Dreck, schmierte sich das Gesicht, Hals und Hände damit ein, so daß sie genauso mitgenommen und vernachlässigt aussah wie die anderen Vampire dieser Stadt. Gleichzeitig befahl sie dem Symbionten, ein zerrissenes Gewand zu modellieren, aus dem die Nachbildungen von Hautfetzen und blanken Knochen lugten. Als sie mit ihrem »Make-up« fertig war, schaute Lilith an sich hinab. Sie war zufrieden mit dem, was sie sah. Das Bild des Jammers, das sie bot, mußte selbst die geflügelten Kreaturen überzeugen. Jetzt hoffte sie nur noch, daß die Wesen auch dort landeten, wo sie schon beim letztenmal niedergegangen waren. Lilith reihte sich in die langsam dahinschlurfende Schar der Zombies ein und verfiel in den gleichen roboterhaften Schritt. Dann waren die Wesen heran. Das Schlagen ihrer gewaltigen Flügel verursachte einen heftigen Wind. Der Boden bebte, als ihre schweren, massigen Körper aufsetzten. Das Geschehen wiederholte sich in der gleichen Weise, die Lilith schon einmal beobachtet hatte: Die drei Geflügelten trieben einige der Vampir-Zombies auf dem großen Netz zusammen. Lilith steuerte unauffällig auf das Netz zu. Doch dann widmete ihr eine der Kreaturen plötzlich mehr Aufmerksamkeit, als ihr lieb sein konnte. Der Geflügelte ließ von einem anderen Vampir ab, dessen Rücken er mit seinen Krallen malträtierte, und stapfte auf Lilith zu. In seinen Augen lag die nackte Gier. Wahrscheinlich strahlte die Halbvampirin trotz ihrer jammervollen Verkleidung noch genug Leben und Frische aus, um aus der Masse der anderen herauszuragen. »Wen haben wir denn da?« grollte das Monstrum. »Eine Perle in-
mitten dieser halbvertrockneten, stinkenden Brut!« Lilith behielt ihre langsamen, roboterhaften Bewegungen bei und starrte weiter geradeaus. Wenn sie sich jetzt verriet, war es um sie geschehen! Dann hatte das Wesen sie erreicht. Seine rauhen Hände strichen gierig über ihren Körper. »Noch alles dran«, polterte seine rauhe, kaum verständliche Stimme. »Du könntest mir gefallen. Vielleicht habe ich ja Glück, und der Herr läßt etwas für uns übrig.« Er leckte sich mit seiner warzigen Zunge über die Lippen. Dann packte er Lilith und trug sie hinüber zu den anderen Opfern, die seine Kumpane zusammengetrieben hatten. Dabei nutzte er noch einmal ausgiebig die Möglichkeit, Lilith zu quetschen und zu betasten. Seine Hände glitten über ihre Brüste und kniffen sie, dann wanderten sie tiefer, über ihre Hüften, und suchten ihren Schoß. Um ein Haar hätte Lilith ihre Tarnung aufgegeben, um ihm die Augen auszukratzen, so widerlich waren ihr die Berührungen. Aber sie beherrschte sich mühsam. Die Kreatur ließ sie zu Boden fallen, wo sie unsanft aufkam. Auch hier mußte sie sich wieder beherrschen, ihre Rolle als tumbe Zombiefrau beizubehalten und sich nicht geschmeidig abzurollen. Im nächsten Moment fielen die anderen Vampire über sie. Lilith blickte direkt in das zerstörte Gesicht eines uralten Mannes. Mit seinen weitaufgerissenen Augen blickte er stumpf in imaginäre Fernen. Die Monstren zogen das Netz in die Höhe und gleichzeitig eng zusammen. Für Lilith war es eine weitere fast unerträgliche Prüfung, derart mit den Vampiren zusammengepfercht zu sein. Sie hatte das Gefühl, als einziges warmblütiges Wesen in ein Netz mit noch träge zappelnden, eiskalten Fischen geraten zu sein. Mit einem Ruck hob das Netz vom Boden ab und schaukelte in den Lüften. Der Druck auf Lilith verstärkte sich. Sie befand sich im-
mer noch zuunterst, während die Vampir-Zombies in mehreren Schichten auf ihr lagen. Aber das kam ihrem Plan nur zugute … Sie hatte sich nicht getäuscht: Die Kreaturen schlugen die Richtung zum Palast ein. Nach einer Weile sah sie seine Kuppeln in der Ferne auftauchen. Aber noch war es zu früh zum Handeln. Zu viele der geflügelten Wesen hatten sich nach wie vor hier zusammengezogen und bildeten einen weiträumigen Kreis. Sie ließen ihre Artgenossen mit den Gefangenen ungehindert passieren. Die Halbvampirin atmete auf. Die erste Hürde war genommen! Rasch näherten sie sich nun den Palastbauten. Und für Lilith wurde es Zeit, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Erneut transformierte sie sich zur Fledermaus. Die Maschen des Netzes waren so weit, daß sie problemlos hindurchschlüpfen konnte. Sie ließ sich ins leere fallen. Dies war der kritischste Moment. Wenn die geflügelten Wesen merkten, daß ihre Last plötzlich leichter geworden war oder ihre Fledermausgestalt entdeckten, würde sie nicht weit kommen. Aber es schien gutzugehen. Lilith ließ sich wie ein Stein Richtung Boden fallen. Erst im letzten Moment bremste sie ihren Sturz und wagte einen Blick in die Höhe. Die Monstren setzten ihren Flug unbeirrt fort. Sie hatten ihre Flucht nicht bemerkt. Doch Lilith wußte, daß dieser Zustand nicht allzu lange anhalten würde. Der Geflügelte, der sich vorhin so für sie interessiert hatte, würde ihr Fehlen gewiß bemerken. Die Frage blieb, ob er die richtigen Schlüsse daraus zog. Im besten Falle würden die Kreaturen annehmen, daß sich die Vampirfrau bereits am Anfang der Reise unbemerkt aus dem Staub gemacht hatte, und sich damit zufriedengeben. Im ungünstigsten Fall … aber daran mochte Lilith gar nicht denken. Sie orientierte sich. Die Palastbauten nahmen einen ganzen Stadtring ein; sie aber mußte den Teil wiederfinden, in dem sie der weiß-
blonden Vampirin begegnet war. Schließlich glaubte sie die Gebäude entdeckt zu haben und landete auf einem Fenstersims. Vor ihr lag ein dunkler Korridor. Von den Kreaturen war nirgendwo etwas zu sehen. Wahrscheinlich hatten die meisten von ihnen damit zu tun, den Wachring um die Palastbauten herum zu bilden. Nachdem sich Lilith von der relativen Ruhe überzeugt hatte, drang sie weiter in den Korridor vor. Sie spielte wieder ihre Rolle als Zombie. Wenn jemand sie entdeckte, konnte sie ihm immer noch vorgaukeln, nur eine der verwirrten Seelen zu sein. Vorsichtig schlich sie weiter. Sie befand sich in demselben Gang, aus dem sie vor Rank’Nor geflüchtet war. Bald lag die Tür vor ihr, die zu dem Raum führte, in dem die Vampirin so unvermittelt über sie hergefallen war. Natürlich erwartete sie nicht wirklich, Salea dort immer noch vorzufinden. Wieviel Zeit inzwischen vergangen war, vermochte Lilith nicht abzuschätzen, aber nach irdischen Maßstäben mochten es zwei oder drei Tage gewesen sein, die sie in den Straßen, Gassen und Häusern der Vampir-Zombies ausgeharrt hatte. Behutsam öffnete sie die Tür zu dem Gemach. Es war leer und verlassen. Wo mochte sich die Vampirin aufhalten? Lilith schlich weiter, suchte das gesamte obere Stockwerk ab. Vergeblich. Einmal glaubte sie von irgendwoher grollende Laute zu vernehmen, wahrscheinlich von einigen der geflügelten Kreaturen, und sie beeilte sich, eine andere Richtung einzuschlagen. Über eine gewundene Treppe erreichte sie das nächstuntere Stockwerk – und im gleichen Moment, da sie den Fuß auf den Fuß der Treppe setzte, erreichte ein Laut der Qual ihre feinen Ohren. Es hörte sich an wie das Schreien und Wimmern einer gepeinigten Frau. Alarmiert schlich Lilith weiter. Sie ging dem Laut nach, bis er deutlicher zu hören war. Eine weitere Treppe führten hinab in dunkle Tiefen. Sie erreichte die Keller und Verliese des Palastes.
Hier irgendwo mußte die Quelle der schmerzerfüllten Laute liegen! Sie waren nun aus unmittelbarer Nähe zu vernehmen. Im nächsten Augenblick hatte Lilith das Rätsel gelöst. Vor ihr öffnete sich ein vergitterter Raum, in dem sich die Vampirin Salea auf dem Boden wand. Sie war es, die vor Schmerzen schrie. Lilith erkannte sofort den Grund dafür: Unter der Decke schwebte eine blendend grelle, heiße Kugel. Eine künstliche Sonne! Sie war nicht so stark, daß sie Salea zu töten vermochte, aber gerade stark genug, um ihr unsägliche Schmerzen zu bereiten. Die Alte Rasse mußte, im Gegensatz zu ihren Dienerkreaturen, die Sonne nicht fürchten – wenn sie ihr nicht allzu lange ausgesetzt war. Unter ihrem Licht verblaßten die magischen Fähigkeiten der Blutsauger, und einer anfänglichen Benommenheit folgte schnell ein heftiger Kopfschmerz. War ein Vampir aber über längere Zeit intensivster Sonnenbestrahlung ausgesetzt, noch dazu durstig nach Blut, war es auch um ihn geschehen. Wie mochte da erst Salea leiden, über deren Stadt es immer Nacht blieb? Lilith spürte, wie angesichts dieser teuflischen Folter die Wut in ihr hochkochte. Wie lange schon war die Vampirin diesen Qualen ausgesetzt? Seit sie, Lilith, in den Palast gekommen war? Das lag immerhin schon etwa drei Tage zurück! Die Vampirin mochte ihre Feindin sein, aber kein Wesen hatte es verdient, derart gepeinigt zu werden. Lilith rüttelte an den Gitterstäben. Die Vampirin hörte das Geräusch und wandte ihr den Kopf zu. Saleas Gesicht war eingefallen und zu einer Maske des Schmerzes erstarrt. Trotzdem schien noch genug Verstand in ihr zu sein, daß sie Lilith erkannte. Auch unter ihrer Zombie-Maskerade. Ihre Augen begannen zu glänzen. »Wie kann ich dir helfen?« fragte Lilith. Sie hoffte, daß die Vampirin soweit bei Sinnen war, daß sie sie verstand.
Der Blick der Vampirin heftete sich auf einen Punkt hinter Lilith. Röchelnde Worte entrangen sich ihrer Kehle. Im ersten Augenblick glaubte Lilith, daß Salea sie warnen wollte, und warf sich herum. Doch da war niemand zu sehen. Kein Angreifer. Ihr Blick suchte die Wände ab, und endlich sah sie, was die Vampirin ihr hatte mitteilen wollen. In einer Wandspalte befand sich ein Schlüssel. Rasch nahm Lilith ihn an sich und führte ihn in das Schloß ein. Er paßte! Sie öffnete die Gittertür und schirmte ihre Augen ab. Die Sonne löste zwar nicht solche Schmerzen aus, wie die Vampirin sie erlitt, aber sie war auch für Lilith unangenehm. Salea war zu geschwächt, um selbst aus dem Bereich der künstlichen Sonne zu kriechen. Lilith lief geduckt zu ihr hin und griff ihr unter die Arme. Dann zog sie die Vampirin aus dem direkten Einflußbereich der Sonne hinaus in den Gang, wo sie beide einen Moment lang erschöpft liegenblieben. »Ich danke dir!« hauchte die Vampirin schließlich. »Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, daß du wiederkommen würdest.« »Wolltest du nicht sterben?« fragte Lilith. »Das wäre doch die Gelegenheit gewesen.« Salea schüttelte matt den Kopf. »Rank’Nor war nicht daran gelegen, mich umzubringen. Er sorgte dafür, daß mir die Folter nicht den Tod brachte. Nur Schmerzen …« Lilith bedeutete ihr zu schweigen. »Sind wir hier sicher?« fragte sie. Die Vampirin schüttelte abermals den Kopf. »Also sollten wir so schnell wie möglich verschwinden. Vielleicht können wir uns fürs erste irgendwo hier im Palast verstecken. Hast du eine Idee?« Salea überlegte einen Moment, dann sagte sie: »Hier drinnen ist es zu gefährlich. Wir müssen nach draußen.« »Diese geflügelten Kreaturen haben den Palast von der restlichen Stadt abgeriegelt«, gab Lilith zu bedenken. »Ich glaube nicht, daß
wir weit kommen würden.« »Aber ihre Aufmerksamkeit ist nur nach außen gerichtet«, widersprach Salea. »Du meinst …« Salea nickte heftig. »Der innerste Ring! Der Tempel! Dort gibt es zahllose Verstecke. Und – einen Verbündeten.« Lilith half ihr auf die Beine. Es war erstaunlich, wie schnell die Vampirin ihre alte Kraft zurückgewann und sich zunehmend regenerierte. Trotzdem mußte sie sich auf Lilith stützen, um überhaupt laufen zu können. Eine merkwürdige Situation! Vor Tagen noch hatten sich die beiden Frauen als erbitterte Feindinnen gegenübergestanden – und nun halfen sie sich gegenseitig. So gut es ging, versuchte Salea ihrer Befreierin die Richtung zu weisen. Sie schleppten sich die Stufen hinauf und ließen die feuchten Kellerverliese hinter sich. Einmal hörten sie wieder die grollenden Stimmen der geflügelten Kreaturen und schlugen einen weiten Bogen. Schließlich erreichten sie eines der großen Portale, die in den inneren Ring mündeten. Mit jedem Schritt gewann die Vampirin an Kraft. Schließlich konnte sie allein gehen, ohne daß Lilith sie noch stützen mußte. Salea schritt voran. Über einen gewundenen Pfad erreichten sie die Tempelbauten. Nun war es die Vampirin, die zur Eile drängte. Ungeduldig bedeutete sie Lilith, ihr schneller zu folgen. Durch einen schmalen, halb versteckten Eingang betraten sie einen der alten Tempel. Allzu gut schien sich auch Salea hier nicht auszukennen. Mehr als einmal kam es Lilith so vor, als würden sie im Kreise laufen. »Wonach suchst du?« fragte sie schließlich. Sie wollte endlich mehr von Salea erfahren. »Kamabar. Er ist ein Gelehrter und Magier, der uns vielleicht hel-
fen kann.« »Kamabar … Ich habe den Namen schon gehört«, sagte Lilith. Dann fiel es ihr wieder ein: »Du hast ihn verflucht, weil er mich als deine Henkerin empfohlen hat. Eine schlechte Wahl übrigens. Ich tue selten, was man von mir erwartet.« »Ganz so war es nicht«, erklärte Salea. »Kamabar hat weitreichende Pläne mit dir. Aber ich wollte die Sache beschleunigen. Darum griff ich dich an. Ich dachte …« Ein Geräusch ließ sie verstummen. Die beiden Frauen preßten sich eng in eine Nische. Aber es war keine der geflügelten Kreaturen oder gar Rank’Nor. Einer der Vampir-Zombies tauchte vor ihnen auf, eine abgerissene Gestalt, die ihrer nutzlosen Tätigkeiten nachging. Sein zerrissenes Gewand wies ihn als einen der ehemaligen Priester aus. »Den kenne ich«, sagte Salea und trat aus der Deckung. Sie verstellte dem Zombie den Weg. Das Wesen reagierte kaum, blieb aber stehen. »Führe uns zu Kamabar!« verlangte Salea. Einen Moment lang schien es, als würde er den Sinn ihrer Worte nicht verstehen. Dann drehte er sich herum und schlurfte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Salea und Lilith folgten ihm, so gemächlich, als würden sie in einem Park flanieren. Vor allem Salea mußte sich beherrschen, den Priester nicht einfach beiseitezustoßen und an ihm vorbeizustürmen. Die unendliche Langsamkeit, mit der er einen Schritt vor den anderen setzte, war zermürbend. Doch schließlich waren sie am Ziel. Vor einer Tür verharrte der lebende Tote. Auch Salea erkannte nun die Behausung des Magiers wieder. Sie lief an der Zombiegestalt vorbei und stürmte in den Raum. Lilith folgte ihr. Der Leib Kamabars lag verkrümmt auf dem Teppich. Er war zu einer grauenvollen Mumie erstarrt, die nur noch aus Haut und Kno-
chen bestand. Seine bleckenden Zähne schienen die beiden Frauen anzugrinsen. Seine wie Krallen gekrümmten Finger hatten sich in den Magen vergraben. Auf dem Boden vor ihm schimmerte eine grüne Pfütze, die er offenbar erbrochen hatte. Salea kniete nieder. Verzweiflung stand ihr im Gesicht geschrieben. »Er war meine letzte Hoffnung«, sagte sie leise. »Ich ahne, was mit ihm passiert ist …« Lilith sah sie fragend an. »Er hat einen Zaubertrank zu sich genommen, mit dessen Hilfe er seine alte Macht zurückzugewinnen hoffte. Offensichtlich ist er ihm der Trank nicht bekommen … obwohl es am Anfang funktioniert hat.« Lilith horchte auf. »Was hat funktioniert? Hat es etwas mit meiner Anwesenheit hier zu tun?« Salea sank auf das einfache Lager des Magiers nieder. Ihre Hoffnungslosigkeit war fast körperlich spürbar. Dann endlich rückte sie mit der Sprache heraus: »Ich habe Kamabar dazu verholten, seine alte Macht zurückzugewinnen, damit er mich erlöst. Einst war ich die Herrscherin über diese Stadt, Al’Thera. Doch eine Seuche, die aus dem Nichts kam, tötete meine Untertanen. Ich selbst blieb verschont und wandte mich in meiner Not an Rank’Nor. Er versprach mir zu helfen, doch alles, was er und seine Brüder erreichten, war ein Stillstand der Seuche. Die Vampire Al’Theras wurden in ihrem Sterben konserviert.« Salea schlug die Hände vor das Gesicht. Sie schien Höllenqualen zu leiden, aber diesmal waren sie seelischer Natur. Schließlich fuhr sie fort: »Rank’Nor, der mir bis dahin gedient hat, änderte sein Verhalten; ich weiß nicht, warum. Er demütigte mich, hielt mich, seine Herrin, als niederste Sklavin! Schließlich hatte ich nur noch den Wunsch zu sterben, aber Rank’Nor, der sich wie sein ganzes Volk von den
schwarzen Seelen der Vampire nährt, warnte mich, meine eigene Hand gegen mich zu richten. Er hätte meine rastlose Seele gefangengenommen und für alle Zeiten gequält. Also suchte ich jemanden, der mich töten sollte – und fand Kamabar. Ich flehte ihn um Erlösung an, doch er wollte den Tod aller Vampire in Al’Thera, damit Rank’Nors Horden sich nicht mehr an ihnen laben konnten. Er zeigte mir dein Bildnis und erklärte mir, wie man dich hierher locken könnte. Ich half ihm, seine alte Kraft zurückzugewinnen, und er präparierte meinen Ring. Dann überredete ich einen der Geflügelten, ihn zur Menschenwelt zu schaffen …« Salea hielt Lilith die Hand hin. Der goldene Ring steckte wieder an ihrem Finger. »Ich habe ihn dir abgenommen, als du bewußtlos in meinem Gemach lagst«, erklärte sie. Lilith verstand nun, warum sie hier war. Vorausgesetzt, Saleas Geschichte stimmte. Sie konnte der Vampirin nicht trauen; schließlich hatte sie versucht, sie umzubringen. Auch wenn sie es im nachhinein als Versuch darstellte, selbst den Tod zu finden. »Kamabar hatte recht«, sagte Lilith. »Ich habe geschworen, alle Vampire zu verfolgen und zu töten. Allerdings denke ich gar nicht daran, irgendein Spiel mitzuspielen.« »Ich bitte dich!« Salea richtete sich auf und sah Lilith abermals flehend an. »Du bist das einzige Wesen hier, das mich zu töten vermag!« Lilith sah sie kalt an. »Reichlich egoistisch von dir, mich deshalb herzuholen«, sagte sie. »Glaubst du, ich hätte Lust, auf immer und ewig in dieser Hölle zu schmoren? Oder vielleicht an deiner Stelle die Lieblingssklavin Rank’Nors zu werden?« Lilith erhob sich. Die Situation war grotesk. Normalerweise hätte sie dem unseligen Leben der Vampirin allzu gern ein Ende gemacht. Dies war ihre Bestimmung. Aber nun erwies sich Salea als die viel-
leicht einzige, die ihr die Rückkehr ermöglichen konnte. »Wenn ich mit Hilfe des Ringes hierhergelangt bin, kann ich durch ihn vielleicht auch wieder auf die Erde zurückkehren«, überlegte sie. »Gib ihn mir!« Fordernd streckte sie ihre Hand aus. Salea zog sich den Ring vom Finger und gab ihn Lilith, die ihn überstreifte. Nichts geschah. »Der Zauber ist erloschen«, sagte Salea. »Aber der Ring diente ohnehin nur dazu, dich zu dem Dimensionsriß zu locken, durch den du nach Al’Thera gelangt bist.« »Du weißt, wo sich der Riß befindet?« Salea schüttelte den Kopf. »Die Kreatur, die mir zu Diensten war, wußte davon. Alle von Rank’Nors Spießgesellen scheinen davon zu wissen. Aber sie hüten das Geheimnis.« Lilith versank in düstere Gedanken. Alles schien so aussichtslos. Sie konnte natürlich versuchen, ebenfalls eine der Kreaturen zu becircen. Aber die Chancen, damit geradewegs vor Rank’Nor zu landen, standen ungleich größer. Rank’Nor … Je mehr Lilith darüber nachdachte, desto sicherer war sie, daß er der Schlüssel zu allem war. Zumindest schien er der Anführer der Kreaturen zu sein. »Vielleicht kann mir dein ehemaliger Geliebter weiterhelfen«, sagte sie. »Rank’Nor? Warum sollte er?« »Nun, freiwillig wird er es bestimmt nicht tun«, fuhr Lilith fort. »Aber vielleicht gibt es irgendwo in seinen Gemächern einen Hinweis auf den Dimensionsriß.« Salea sah sie mit vor Furcht geweiteten Augen an. »Du willst in den Palast zurück? Ohne mich!« Lilith funkelte sie wütend an. »Was fürchtest du? Den Tod?« Sie lachte rauh. »Ich verspreche dir: Wenn wir Erfolg haben, erfülle ich dir deinen Wunsch.«
Die Vampirin dachte nur einen Augenblick nach, dann stimmte sie zu. »Ich habe wohl keine Wahl«, sagte sie. »Also komm. Versuchen wir es gleich. Vielleicht hat man meine Flucht ja noch nicht einmal bemerkt …« Für den Weg zurück durch die endlosen Gänge und riesigen lichtlosen Hallen der Tempelanlagen benötigten sie diesmal nur einen Bruchteil der Zeit. Schon eine Viertelstunde später traten sie aus dem Gebäude ins Freie und näherten sich abermals dem Ring mit den prächtigen Palastbauten. Noch schien noch niemand Saleas Verschwinden bemerkt zu haben. Es herrschte Totenstille. Lilith traute der Ruhe nicht recht. Aber auch nachdem sie den Palast betreten hatten, waren nirgendwo Aufruhr oder das Hasten von Wachen zu vernehmen. Salea schlich voran, während Lilith ihr dicht auf den Fersen blieb. Schließlich machte sie vor einer Tür halt. »Dies ist Rank’Nors Gemach!« flüsterte die Vampirin. »Was machen wir, wenn er sich dort drinnen befindet?« »Wir müssen es riskieren«, flüsterte Lilith zurück. Sanft schob sie Salea zur Seite. Mit unendlicher Vorsicht öffnete sie die Tür einen Spaltbreit und lauschte: Es war nichts zu hören. Sie lugte durch den Spalt: Das Gemach schien verwaist zu sein. Lilith nahm all ihren Mut zusammen und drückte die Tür weiter auf. Mit einem Blick vergewisserte sie sich, daß der Raum wirklich leer war. Dann zog sie rasch Salea nach und verschloß die Tür hinter sich wieder. Sie hatten es geschafft! In dem Gemach sah es aus wie nach einer Schlacht. Zerrissene Goblins, zerfetzte Kissen und Decken, zerborstene Möbelstücke. »Hier sieht es aus wie nach einem Kampf«, sagte Lilith. »Hat Rank’Nor Feinde?« »Nein. Das ist nur seine Art, sich wie zu Hause zu fühlen«, entgeg-
nete Salea geringschätzig. »Anscheinend ist er über irgend etwas in Wut geraten und hat sich entsprechend ausgetobt.« In der Mitte des Raumes befand sich ein magischer Kreis, in dessen Zentrum ein schwaches Leuchten zu erkennen war. Lilith trat vorsichtig näher. Als sie den Kreis mit den Fingerspitzen berührte, erhielt sie einen schmerzhaften Schlag und wurde zurückgeworfen. Salea beugte sich besorgt über sie, aber Lilith schob sie von sich. Es war die Sorge, Lilith könne etwas zustoßen, bevor sie ihr Versprechen einlösen konnte. Auf derlei Mitgefühl konnte sie gern verzichten. »Es geht schon wieder«, sagte sie. »Aber anscheinend praktiziert Rank’Nor schwarze Magie. Weißt du Näheres über seine Pläne?« »Ich weiß, daß er über gewaltige Macht verfügt, aber ich habe ihn nie dabei beobachtet, wie er seine Beschwörungen abhielt. Was, glaubst du, hat es zu bedeuten?« »Ich weiß es nicht. Noch nicht.« Lilith sah sich weiter in dem Raum um. Aber bis auf den magischen Kreis und die Unordnung gab es nirgendwo Hinweise auf seinen Bewohner. Keine persönlichen Gegenstände. Keine Aufzeichnungen oder Truhen. Sie suchten jeden Winkel des Zimmers ab, aber es war vergeblich. »Wenn wir nur wüßten, zu was dieser magische Kreis gut ist!« sagte Lilith schließlich. »Vielleicht stellt er ja einen der Dimensionsrisse dar …« Sie beschloß, sich dem Kreis ein zweites Mal zu widmen, allerdings ohne ihn zu berühren. Allein der Gedanke an den Schmerz ließ sie zurückschrecken. Sie griff sich ein Kissen und warf es in die Richtung des Kreises. Es war, als prallte es gegen eine unsichtbare Barriere. In einer magischen Verpuffung ging es in Flammen auf und verschmorte innerhalb von wenigen Augenblicken zu einem Häufchen Asche. Lilith griff zu einem schwereren Gegenstand, einer kunstvoll gehauenen Steinfigur, so lang wie ihr Unterarm, die wohl einen der
hiesigen Götter darstellte. Mit voller Wucht schleuderte sie die Statue gegen den magischen Kreis. Mit einem lauten Knall zerplatzte sie in tausend winzige Splitter. Lilith und Salea duckten sich, um dem Gesteinsregen zu entgehen. »So kommen wir nicht weiter«, sagte Salea düster. »Früher oder später wird man uns hier finden.« »Gibt es noch ein anderes Gemach, in das sich Rank’Nor zurückzuziehen pflegt?« Salea schüttelte resigniert den Kopf. »Ich wüßte nicht, wo wir noch suchen sollten.« »Dann ziehen wir uns wieder zurück«, entschied Lilith. »Vielleicht fällt uns mit der nötigen Ruhe …« Als wäre dies ein Stichwort gewesen, erzitterte in diesem Moment der Boden. Es war nur ein leichtes Erbeben, aber die beiden Frauen ahnten sofort, was es bedeutete. Eine der Kreaturen näherte sich dem Gemach! Wahrscheinlich sogar Rank’Nor selbst! Liliths Blicke suchten hastig nach einem Versteck. Salea reagierte noch schneller. Sie zog Lilith hinter einen Wandbehang, hinter dem sie beide gerade so viel Platz fanden, daß er keine Ausbuchtungen zeigte. Dann warteten sie ab. Vielleicht würde die Kreatur ja auch am Gemach vorübergehen. Doch dieser Wunsch erfüllte sich nicht. Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Sie prallte mit voller Wucht gegen die Wand und riß krachend aus den Angeln. Lilith und Salea wagten sich nicht zu rühren oder gar einen Blick zu riskieren. Sie hörten jetzt deutlich, wer das Gemach betreten hatte. Rank’Nor schrie unflätige Verwünschungen. Dem Gepolter nach ließ er seine Wut abermals an der Zimmereinrichtung aus. Lilith und Salea preßten sich dicht an die Mauer hinter dem Wandbehang. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Rank’Nor seine Wut auch an diesem Stück auslassen würde. Er kam ihnen bereits gefährlich nahe.
Da erzitterte der Boden aufs neue. Weitere der Kreaturen kamen herbeigelaufen. »Was wollt ihr hier?« brüllte Rank’Nor. »Sucht sie! Wenn ihr Salea nicht bald findet, werdet ihr die Stunde bereuen, in der ihr geboren seid!« Nun wußten die beiden Frauen auch, worüber Rank’Nor so in Wut geraten war. Warum aber legte er so großen Wert auf die Vampirin? Hatte er Salea nicht schon genug gedemütigt? Lilith glaubte kaum, daß er sie aus reiner Liebe suchte. Die anderen Kreaturen versuchten sich zu rechtfertigen, aber Rank’Nor brüllte sie nieder. Hastige Schritte zeigten an, daß sie sich zurückzogen. Rank’Nor blieb allein in dem Gemach zurück. Sein Schnauben verhieß nichts Gutes. Jeden Augenblick rechnete Lilith damit, daß er den Wandbehang herunterreißen und sie entdecken würde. Aber nichts geschah. Rank’Nor schien sich halbwegs beruhigt zu haben. Eine Weile geschah nichts. Dann plötzlich hörten sie, wie er seltsam fremdartige Laute zu intonieren begann. Lilith schob sich an der Mauer entlang zur Kante des Teppichs und wagte einen Blick. Sie sah direkt auf Rank’Nors breiten Rücken. Er kniete vor dem magischen Kreis. Während die Laute aus seinem Mund flossen, zeichnete er mit den Händen magische Zeichen in die Luft. Die Spuren seiner Bewegungen glühten in grünem Schimmer nach, bevor sie verblaßten. Und dann begann sich in dem Kreis etwas zu manifestieren! Eine diffuse Erscheinung, die aus schwarzen Flammen zu bestehen schien! Rasch zog Lilith ihren Kopf wieder hinter den Wandbehang zurück. Sie wußte nicht, ob die Erscheinung Augen besaß. Das Risiko einer Entdeckung war zu groß. »Warum hast du mich gerufen?« hörten sie die Manifestation sagen. Die Laute waren so fremdartig, daß sie Lilith Schmerzen bereiteten, und auch Salea neben ihr zuckte zusammen und verzog das Gesicht
in Agonie. Die Stimme schien nicht nur den Raum bis in die hinterste Ecke zu erfüllen, sondern gleichzeitig in ihrer beider Köpfe zu entstehen, so daß sie sie als seltsam verzerrten Doppelklang hörten. »Weil ich Euren Rat und Eure Hilfe brauche«, sagte Rank’Nor. Seine Stimme klang seltsam kleinlaut. Offensichtlich hatte selbst er einen Herrn und Meister. »Salea ist verschwunden. Sie kann nicht weit sein. Vielleicht sucht sie nach dieser anderen Vampirin, die sie auf Wegen, die ich noch nicht ergründen konnte, in den Palast geholt hat …« »Diese andere Frau«, sagte die Erscheinung, »trägt den Namen Lilith Eden. Vor ihr nimm dich in acht! Sie ist eine größere Gefahr, als du ahnst. Sie könnte unseren Plan vereiteln!« »Ich werde sie finden und vernichten!« versprach Rank’Nor. Seine Stimme zitterte. »Außerdem werde ich alle meine Leute zur Rechenschaft ziehen, die so jämmerlich versagt haben …« »Dann fange bei dir selbst an!« donnerte die Stimme. »Deiner Fleischeslust ist zu verdanken, daß nicht von Anfang an der einzig wahre Weg beschritten wurde! Sorge nun dafür, daß Salea nicht zu Schaden kommt! Du bürgst mir dafür mit deiner Existenz und Seele, Rank’Nor! Sie allein ist der Schlüssel zu Al’Thera. Die Verbindung zur Menschenwelt darf nicht abbrechen; nicht nach tausend Jahren und so kurz vor den Ziel! Die Vorbereitungen, das Tor zu umgehen, sind bald abgeschlossen. Bald wird es nicht länger von Belang für uns sein …« Liliths Gedanken überschlugen sich. Das Tor! Meinte er dasselbe Tor, von dem auch schon der Vampirmönch in Los Angeles gesprochen hatte? Das Tor, welches die Apokalypse über die Welt bringen sollte, wenn es geöffnet wurde? »Ich dachte, Herr, Ihr könntest mir mit Eurer unendlichen Macht bei der Suche behilflich sein«, fuhr Rank’Nor demutsvoll fort. »Salea kann nicht weit gekommen sein. Es wäre doch ein leichtes für Euch …«
»Schweig!« herrschte ihn die Stimme an. »Wenn ich es wüßte, wäre sie längst wieder in ihrem Kerker. Doch seit diese Lilith Eden Al’Thera betreten hat, vermag ich die Zeichen nur noch undeutlich zu erkennen, denn sie trägt SEINEN Keim in sich. Finde beide. Töte Lilith Eden. Und behüte Salea gut!« »So sei es«, antwortete Rank’Nor. Das Knistern der schwarzen Flammen verstummte. Dann herrschte Stille – für einen Moment. Rank’Nor schien die Demütigung durch seinen Meister nicht gut verkraftet zu haben. Sie hörten ihn schnaufen, dann donnerte seine Faust herab und zerschmetterte Holz. Ein Brüllen löste sich aus seiner Kehle. Dann knirschte etwas. Als würde er einen schweren hölzernen Gegenstand vom Boden heben. Lilith ahnte die Gefahr, ohne sie zu sehen, doch sie konnte nichts dagegen unternehmen. Für einen kurzen Moment traf sich ihr Blick mit dem Saleas, die zwei Schritte neben ihr stand. Dann versank ihre Umgebung in schwerem Tuch, splitterndem Holz und Schmerz. Rank’Nor hatte den schweren Eichentisch gepackt, in die Höhe gerissen und wutentbrannt gegen die Wand hinter dem Teppich geschleudert. Daß er weder Lilith noch Salea direkt traf, war eine glückliche Fügung. Weniger glücklich war der Umstand, daß der Wandbehang sich löste und zu Boden sank. Für einen Augenblick stand Rank’Nor wie erstarrt. Die großen, geschlitzten Augen schienen ihm aus dem monströsen Kopf zu quellen. Doch während die Frauen noch mit den Folgen des Einschlags rangen, der ihnen lange Holzsplitter in Arme und Seite getrieben hatte, erholte sich die Kreatur rasch von ihrer Verblüffung. Rank’Nor fixierte Lilith mit glühenden Augen. Es war offensichtlich, wem der beiden er sich zuerst widmen würde. Seine unbändige Wut ließ seinen geschuppten Körper noch gewaltiger wirken.
»Diesmal entkommst du mir nicht, Vampirin!« schnaubte er, und Lilith hatte keinen Zweifel daran, daß er meinte, was er sagte. Daß sie sich mit einer wischenden Bewegung der meisten Splitter entledigte und in eine Abwehrhaltung ging, wirkte angesichts der Körperfülle Rank’Nors nur lächerlich und vermessen. Langsam kam er näher, bereit, ihre Kehle mit einem einzigen schnellen Streich seiner gekrümmten, rasierklingenscharfen Klauen zu zerfetzen. Lilith wich langsam zur Seite. Sie spürte, wie ihre Muskeln erzitterten, als sich ihr Körper wie von selbst verwandelte. Ihre Eckzähne wuchsen und schoben sich über ihre vollen Lippen; die Finger mutierten zu gekrümmten Klauen – und waren doch so gut wie wirkungslos gegen die Pranken, Dornen, Reißzähne und Panzerplatten der Kreatur. Es war ein Kampf David gegen Goliath. Mit einem Brüllen sprang Rank’Nor sie an. Lilith duckte sich gedankenschnell, aber die Kreatur war so behende, daß sie noch in der Luft nach ihr schlug und ihr mit ihren scharfen Krallen die halbe Schulter wegriß. Liliths Blut spritzte gegen die Wände. Rank’Nor hatte einen solchen Schwung, daß er gegen die Mauer krachte. Aber noch in der gleichen Bewegung kam er wieder auf die Beine, drehte sich und fixierte Lilith erneut. Im nächsten Moment war er über ihr. Liliths Reaktion kam viel zu spät. Sie fühlte sich emporgerissen und durch den halben Raum geschleudert, direkt auf Salea zu. Dann prallten sie mit voller Wucht zusammen. Saleas Hinterkopf schlug gegen die Mauer. Bewußtlos ging sie zu Boden. Lilith hatte mehr Glück. Der Körper der Vampirin hatte ihren Flug aufgefangen. Sofort rollte sie sich ab und sprang abermals auf die Füße, bereit für den nächsten Angriff Rank’Nors. Doch der stand wie erstarrt. Sein Blick galt Salea, die reglos am Boden lag.
Sorge dafür, daß Salea nicht zu Schaden kommt! schossen es Lilith die Worte der Erscheinung durch den Kopf. Du bürgst mir dafür mit deiner Existenz und Seele, Rank’Nor! Sie schaltete blitzschnell. Ehe Rank’Nor reagieren konnte, war sie bei Salea. Die Vampirin stöhnte, war noch immer benommen. Lilith nahm ihren Kopf zwischen beide Hände, schöpfte noch einen Moment der Kraft – – bevor sie den Kopf der Vampirin mit einem Ruck auf den Rücken drehte. Saleas Genick brach mit einem dürren Knacken. Das letzte, was Lilith wahrnahm, war ihr fast dankbarer Blick.
* Dann brach das Chaos über Lilith herein. Die Welt um sie herum begann zu wanken. Ihr Blick verschwamm. Ein kosmischer Strudel schien sie zu erfassen – sie und ganz Al’Thera. Hatte sich mit Saleas Tod die Verankerung Al’Theras zwischen den Dimensionen gelöst? War sie selbst der Anker gewesen, der die Stadt in dieser Position gehalten hatte, zwischen der Welt der Menschen und der infernalischen Schwärze? Widerstandslos gab Lilith sich dem Strudel hin, ließ Körper und Geist treiben, bis sie selbst ein Teil des Chaos war. Ein feuriger Strudel erfüllte sie bis in die letzte Faser ihres Seins. Als sie erwachte, war es weder in der Hölle noch im Paradies. Es war die Erde. Sie spürte klammes Gras unter ihren Händen. Vor ihr sah sie wie durch einen Schleier den Stein, in dem sie den Ring gefunden hatte. Ungläubig erhob Lilith sich. Sie konnte einfach nicht glauben, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Aber dies hier war die Realität. Sie schaute zum nächtlichen Himmel hinauf, in dem die Lichter eines Flugzeuges wie fast magisch wirkende Zeichen blinkten. Und
dahinter … die Sterne. »Die Vorbereitungen, das Tor zu umgehen, sind bald abgeschlossen …« Was hatten die Worte zu bedeuten? � Plötzlich fror Lilith. � Und nicht wegen der Kälte der Nacht … � ENDE
Glossar � Agrippa – Ein magisches »Ei«; einer von drei Gegenständen (Agrippa, Schlangenstab und Lilienkelch), welche die Ur-Lilith den Vampiren mit auf die Dunkle Arche gab. In der Agrippa wohnte ein Runendämon, dessen Körper mit uralten Schriftsymbolen bedeckt war: die Beschwörungsformel, mit der Lilith Eden die Urmutter der Vampire aus ihrem Wachschlaf erwecken konnte. Jeder andere, der die Agrippa öffnete und nicht »von dem Dämon lesen« konnte, wurde von ihm getötet. Lilith gelang es dank der Tatsache, daß sie alle Sprachen der Welt beherrscht. Heimstatt der Hüter – Nach dem Ende der Sintflut setzte auch die Dunkle Arche der Vampire auf dem Berg Ararat in der heutigen Türkei auf. Sie verschmolz mit dem Felsen und bildete den Dunklen Dom, die Heimstatt der Hüter. Dort lagen die Kinder der Ur-Lilith in Jahrtausende währendem Schlaf, während je einer von ihnen den Keim in die neu erwachende Welt trug und mit dem Lilienkelch eine neue Vampirrasse schuf, die nicht mehr so gottgleich war wie die frühere. Einer dieser Kelchhüter und direkter Nachkomme der Urmutter ist Landru. Thuul – Ein bizarres Wasserwesen aus dem Schöpfungspool Gottes – eine Dimension, in die der Schöpfer all die Wesen verbannte, die ihm nicht wohlgeraten waren. Auf ihrem Weg zum Anfang der Zeit geriet Lilith Eden mit der Agrippa (>) in diese Zwischenwelt. Im Geiste ein Bruder des Runendämons, wurde Thuul von diesem getötet, als Lilith ihm den Befehl dazu gab. Vampirkeim – Eine Art magischer Virus, der beim Biß vom Vampir auf sein Opfer übertragen wird und sich in dessen DNS verankert. Erst mit dem Tod des Menschen übernimmt der Keim die
Kontrolle über den Körper und läßt ihn zu neuem, unheiligem Leben erwachen: Eine Dienerkreatur ist geboren. Bis zu seinem Tod ist der Gebissene dem Vampir hörig, führt ansonsten aber ein normales Leben. Einige Sippen hielten sich in der Vergangenheit regelrechte »Herden« von Menschen, die sie nicht töteten, sondern als nie versiegende Nahrungsquelle nutzten. Der Keim wurde erst auf der Dunklen Arche mit dem Schlangenstab in der Alten Rasse etabliert; vorher kannten die Vampire weder ihn noch Dienerkreaturen.
Vampirismus und Nekrophilie 2. Teil von Carter Jackson Lieferte die Wissenschaft zu früheren Zeiten noch gute Ratschläge, wie ein Vampir zu bekämpfen sei, anstatt seine Existenz in Frage zu stellen, so ist sie seit Anfang dieses Jahrhunderts bemüht, die Legende zu entzaubern. Im Grunde lassen sich sämtliche Symptome, nach denen man früher einen Leichnam als Vampir »erkannte« (biegsame Glieder, Blutaustritt, Haar und Nägel gewachsen, etc.), heutzutage erklären, ohne dafür das Übernatürliche bemühen zu müssen. Denn ungefähr sechsunddreißig Stunden nach Eintritt des Todes und dem damit verbundenen Beginn der Totenstarre, bei der sich die Muskeln der Leiche – zunächst in Gesicht und Nacken – versteifen, löst sich die »Rigor mortis« wieder; die Muskeln erschlaffen, und der Körper des Leichnams wird relativ beweglich. Doch dies bekamen die abergläubischen Bürger selten mit, da die Verstorbenen damals aus verschiedenen Gründen so schnell wie möglich verscharrt wurden – besonders in Zeiten, zu denen die Pest umging, entledigten sich die Menschen der Toten aus Angst vor Ansteckung so rasch wie irgend möglich, was eine Erklärung für die hohe Zahl der vorzeitigen Begräbnisse ist, bei denen etliche Scheintote lebendig begraben wurden (siehe Teil 1). So galt eine Leiche mit erschlafften, biegsamen Gliedern in ihren Augen automatisch als Vampir. Bestärkt wurden die Menschen in ihrem Irrglauben dadurch, daß das Haar und die Nägel des Toten durch die postmorale Epidermisfunktion, die vor allem bei Leichnamen, die in salzhaltiger Erde beigesetzt werden, stark ausgeprägt ist, seit ihrem Dahinscheiden »gewachsen« waren, was den Eindruck erweckte, als wäre die Leiche noch am Leben. Und was das Blut betrifft, das gelegentlich auf den
Totenkleidern Exhumierter gefunden wird, so läßt sich dieses Phänomen ganz einfach damit erklären, daß die Körperflüssigkeiten durch den Druck der im Leib des Toten entstehenden Fäulnisgase durch die Augen, den Mund, die Nase, die Ohren, den After und zuweilen sogar die Poren der Haut nach draußen gepreßt werden. Doch obwohl sich heutzutage die meisten Fälle von angeblicher vampirischer Aktivität rational erklären lassen, gibt es auf der Welt Millionen von Menschen, die nach wie vor überzeugt sind, daß Vampire tatsächlich existieren. Einrichtungen wie die amerikanische »Vampire Society« rechnen beispielsweise jährlich mehr als zehntausend ungeklärte Mordfälle, die sich in den USA ereignen, Blutsaugern an. Allerdings ist es bezeichnend, daß die Anzahl der »Vampiropfer« in Zeiten, in denen die Blutsauger durch Hollywoodfilme wie Stephen Frears Adaption von Anne Rices Bestsellerroman Interview with the Vampire oder Bram Stoker’s Dracula von Francis Ford Coppola in den Medien präsent sind, explosionsartig ansteigt … Gleichwohl läßt sich nicht leugnen, daß es tatsächlich Vampire gibt bzw. gegeben hat, setzt man voraus, daß der Begriff in erster Linie den Durst einer Kreatur nach Blut definiert. Zahlreiche psycho-analytische Studien beschäftigen sich mit der perversen Veranlagung mancher Menschen, die beim Anblick von fließendem Blut sexuelle Befriedigung empfinden. Schon Marquis De Sade zeigt in seinem Roman Justine diesen Zusammenhang von Wollust und Grausamkeit, wenn Marquis Gemande seiner Geliebten mit dem Messer Wunden beibringt, um seine Lust zu steigern. In der modernen Sexualpathologie wird für solcherlei veranlagte Personen neben dem Ausdruck »Blutfetischist« ebenfalls die Bezeichnung »lebender Vampir« benutzt. Magnus Hirchfeld definiert Fetischismus in dem Werk Sexualität und Kriminalität (1924) als das »krankhafte Übermaß einer an und für sich keineswegs abnormalen Empfindung. Der Fetischist überträgt aber nicht die Liebe von solchen Eigenschaften auf die ganze
Persönlichkeit, sondern bleibt in den Teilen stecken. Das Nebensächliche wird für ihn zur Hauptsache. Ein bestimmtes Attribut fesselt ihn so sehr, daß er gegen alle sonstigen Dinge blind ist.« Nach Hirschfeld übt Blut auf die »lebenden Vampire« eine »partielle Attraktion« aus, weswegen man diese Veranlagung auch als Hämatophilie bezeichnet. Die harmloseste Form der Hämatophilie äußert sich in Träumen und Gedanken, die sich um Blut drehen. Laut Hirschfeld ist der »ideale Vampir« ein Blutfetischist, der lediglich in seiner Phantasie zum Blutsauger wird, wie im Fall einer dreißigjährigen Portugiesin, für die Blut das Symbol für Liebe, Haß, Zorn und Leidenschaft war. In Gedanken spielte die Frau mit dem Körper eines toten Säuglings, da sie unter Kinderhaß litt und häufig den Wunsch verspürte, ihren siebenjährigen Sohn zu töten. Gegen ihren Ehemann hegte sie ebenfalls Mordgelüste und stellte ihn sich beim Geschlechtsverkehr als Leiche vor, was ihre Lust steigerte. Sie wollte jungen Mädchen in die Brüste beißen oder sie ganz aufessen. Ähnliche Gefühle waren auf Vagina, Unterleib und Mastdarm gerichtet. Der Höhepunkt ihrer Traumvorstellungen war allerdings das Trinken von Blut aus dem Ohr, was zusammen mit den übrigen Aspekten des Falles die Theorie verschiedener Psychologen bestätigt, daß Blutgenuß die »lebenden Vampire« nicht nur zum Koitus animiert, sondern für sie jede Art von geschlechtlichem Verkehr ersetzt, wobei das Geschlecht des Partners – oder Opfers – für sie keine große Rolle spielt. So gestand der Frauenmörder Verzeni bei seiner Vernehmung: »Im Moment des Schützens sah ich nichts mehr. Nach vollbrachter Tat war ich befriedigt und fühlte mich wohl. Mir ist niemals in den Sinn gekommen, die Genitalien der Frauen zu berühren oder zu betrachten. Es genügte mir völlig, ihren Hals aufzuschlitzen und ihr Blut zu saugen. Ich weiß heute noch nicht, wie ein Weib gebaut ist.« Den französischen Mörder Leger, dessen Taten sich ohne weiteres mit den grausigen Blutorgien des Gilles de Rais messen können, der
als »Blaubart« bekannt geworden ist, dürstete es nicht nur nach dem Blut seiner Opfer, sondern auch nach ihrem Fleisch. Nachdem er eine junge Frau vergewaltigt und getötet hatte, schnitt er ihr die Brüste ab und riß ihr das Herz heraus, um es zu essen und vom Blut seines Opfers zu trinken. Auf die Frage des Richters, was ihn zu seiner grauenhaften Tat getrieben hat, antwortete Leger leichthin: »Ich hatte Durst.« 1824 starb der Mörder unter der Guillotine. In der Nacht vor seiner Hinrichtung im Jahre 1949 schrieb John Haigh, der »Vampir von London«, seine »Beichte« nieder, in der er von der Faszination spricht, die Blut auf ihn ausübte. Als Haigh sich als Junge versehentlich die Hand verletzte und das Blut ableckte, hatte er zum ersten Mal »wirkliche Lustgefühle, und das bewirkte eine Revolution in meinem ganzen Wesen.« Haigh hatte sich zunächst selbst Wunden beigebracht, aber als sein Blutdurst stärker wurde, lockte er Männer und Frauen in sein Atelier, ermordete sie und trank Blut aus ihrer Kehle. Nachdem er gefaßt worden war, bekannte Haigh, daß er »zur Familie der Vampire« gehören würde. Auffällig viele gefaßte Serienmörder haben zugegeben, daß sie durch ihre Gier nach Blut zu ihren Taten getrieben wurden. Das wohl schrecklichste Beispiel hierfür ist der Amerikaner Jeffrey Dahmer, der sogenannte »Milwaukee-Mörder«, der neben seinem sprichwörtlichen Blutdurst ebenso wie Leger einen ausgeprägten Hang zum Kannibalismus besaß. Nachdem er seine Opfer zumeist durch Strangulation getötet hatte, zerstückelte er die Leichen mit akribischer Sorgfalt mit einer elektrischen Kettensäge. In Dahmers Appartement fand die Polizei nach seiner Verhaftung am 23. Juli 1991 – ursprünglich wollten zwei Beamte des Milwaukee Police Department Dahmer lediglich anweisen, dafür zu sorgen, daß der aus seiner Wohnung dringende Gestank nach »verdorbenem Fleisch«, über den sich die anderen Hausbewohnern beschwert hatten, endlich verschwand – die Überreste mehrerer seiner Opfer. Im Gefrierfach des Kühlschranks entdeckten die Polizisten neben einem abgetrennten Kopf und einer Plastikflasche Blut drei Beutel mit mensch-
lichen Organen, die Dahmer, wie er bei der Vernehmung erklärte, »später essen wollte«. In der Gefriertruhe entdeckte man Tüten mit Muskeln und anderen Körperteilen, die Dahmer in Pflanzenöl zu braten pflegte, sowie weitere Schädel. Jeffrey Dahmer wurde im Februar 1992 von einem Gericht in Milwaukee wegen sechzehnfachen vorsätzlichen Mordes ersten Grades (für einen von dem überaus gesprächigen Serienkiller gestandenen siebzehnten Mord reichten – grotesk, aber wahr – die Beweise nicht aus) zum Tode verurteilt. Doch bevor er auf dem Elektrischen Stuhl sein Ende finden konnte, wurde Dahmer im Gefängnis von Mithäftlingen wegen seiner grausigen Taten ermordet. Wie in Dahmers Fall paaren sich bei vielen »Vampirmördern« der Blutdurst und die Mordlust mit nekrophilem Leichenkult. Während der »Vampir von Hannover«, Fritz Haarmann, der junge Männer normalerweise durch einen Biß in die Kehle tötete, von seinen Opfern oft das eine oder andere »Souvenir« aufhob, konservierte Reginald Christie »seine« Leichen sorgfältig in Plastiksäcken. Edward Gein, einer der wohl bekanntesten Massenmörder überhaupt (Gein »inspirierte« den Horrorautor Robert Bloch zu seinem Buch Psycho, das später von Alfred Hitchcock erfolgreich verfilmt wurde und den Schauspieler Anthony Perkins als schizophrenen Killer Norman Bates berühmt machte), präparierte die Schädel seiner Opfer, um sie auf ein Regal zu stellen, und tapezierte sein Schlafzimmer mit Menschenhaut. Die Nekrophilie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen zeigt die enge Verbindung der Vorstellung von Leben bzw. Liebe und Tod, die auch den Vampirmythos kennzeichnet. Doch obgleich die Ähnlichkeit dieser beider Phänomene bemerkenswert ist, darf man Nekrophilie nicht mit Vampirismus verwechseln, vor allem, weil Nekrophile – anders als der Killer Donnie Pfaster in der X-Files-Episode »Irresistible« – gewöhnlich nicht zu Gewalttaten neigen. Zahlreiche Nekrophile sind »pure« Fetischisten, deren perverse Faszination sich nicht wie bei den Hämatophilen auf Blut, sondern
auf Leichen konzentriert, wie am Fall des »Vampirs von Muy«, Victor Ardisson, deutlich wird, der auf dem Friedhof die Leiche eines dreijährigen Mädchens ausgegraben und mit nach Hause genommen hatte. Bei seiner Verhaftung erklärte Ardisson den Beamten, die die Reste des schon verwesten Leichnams bei ihm fanden: »Sie war hübsch. Sie hätten sie sehen sollen.« Später fand der Gerichtsarzt heraus, daß Ardisson bereits seit langer Zeit den Kontakt von Frauenleichen suchte, wobei ihn besonders deren »weiche Beine« erregten. In der Nacht nach einem Begräbnis grub Ardisson oftmals den Leichnam aus und liebkoste ihn. Im Moment des Orgasmus sah er die Frau dann lebend vor sich, was ihm ein »seliges Glücksgefühl« vermittelte. »Liebe« und Tod – oder Sexualität und Tod – sind die Pfeiler, auf denen der Vampirmythos fußt, und zugleich die Erklärung für dieses Phänomen. Denn der Tod ist für die meisten Menschen der größte denkbare Schrecken. Deshalb versuchen viele Kulturen und Religionen den Tod als »Ende« zu eliminieren, ihn umzudeuten »in einen Ritus, der nur transformiert«, wie Hans Meurer sagt. Zahlreiche Völker glauben an ein Leben nach dem Tod, aus Angst vor der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz. Und in eben »diesem Spannungsverhältnis zwischen Leben und Nicht-tot-sein-Wollen, Sterben und Weiterleben nach dem Tode, liegt der Ursprung der Existenz des Vampirs«. Hinzu kommt, daß seit Urzeiten alles Schlechte, das die Menschen sich nicht erklären können, bösen Geistern und Dämonen zugeschrieben wird. Weil die Menschen im 17. Jahrhundert keine Erklärung für die Pest fanden, gaben sie kurzerhand dem Vampir die Schuld daran. Der Vampir verkörpert alles, »das nicht sein darf«: Gewalt, Tod – und Sex, denn vor allem im 18. und 19. Jahrhundert wurde das Geschlechtliche aus dem bürgerlichen Bewußtsein ausgegrenzt und tabuisiert, so daß die Menschen ihre geheimen Wünsche und Sehnsüchte kurzerhand in die Figur des Blutsaugers projizierten. Der »Vampirkuß« in den Hals des Opfers besitzt ein starkes erotischsa-
distisches Element, das auch in Bram Stokers Klassiker Dracula deutlich zutage tritt. In seinem Buch Der erotische Film erklärt Gerard Lenne die Motive, die Dracula antreiben: »Die Wollust, die ihn peinigt, wird immer nur durch flüchtige Eroberungen gestillt, und jede Nacht beginnt sie aufs neue. Wenn nicht klar wäre, daß die Suche nach dem Blut sexuelles Verlangen symbolisiert, daß der Biß und das Saugen dem Orgasmus entsprechen, würde der Besuch des Schattenfürsten keinen so theatralischen, extremen Effekt haben. Er bereitet all den jungen Mädchen, die da in ihren spitzenbesetzten Nachthemden zitternd und bibbernd in ihren jungfräulichen Betten liegen, die Liebesungeduld, mit der sie als bereite Opfer den durch das Fenster einsteigenden Verführer erwarten.« Noch deutlicher drückt es der Bestsellerautor Stephen King in seiner bemerkenswerten Abhandlung über den Horror, Danse Macabre, aus, wenn er schreibt: »Die sexuelle Grundlage von Dracula ist wohl eine infantile Oralfixierung, verbunden mit einem ausgeprägten Hang zu Nekrophilie (und Pädophilie auch, denkt man an Ludy Westenra in ihrer Rolle der ›schönen weißen Frau‹). Darüber hinaus geht es um Sex ohne Verantwortung. Eigentlich kann man den Sex in Dracula, um den einzigartigen Ausdruck von Erica Jong zu gebrauchen, als den ›endgültigen Fick ohne Reißverschluß‹ bezeichnen.« Im Grunde genommen ist der Vampir eine Zwittergestalt, da er sowohl unsere Urängste als auch unsere verborgenen Sehnsüchte personifiziert. Und wahrscheinlich macht gerade diese konträre Vielschichtigkeit die Faszination des Vampirismus aus, die seit jeher ungebrochen ist.
Die Verlorenen � von Timothy Stahl Um das Jahr 1860 hielt der Tod in Amerika reiche Beute. Nord- und Südstaatler vernichteten einander im Brudermord. So war der Tisch reich gedeckt für die Vampire; wie zu jedem Krieg, wenn niemand fragte, welche Sense Gevatter Tod führte. In den Sümpfen von Louisiana versanken Hunderte von Soldaten und Zivilisten in morastiger Tiefe. Nicht alle waren durch eine Kugel oder eine scharfe Klinge zu Tode gekommen. Schließlich kehrte Frieden ein. Über hundert Jahre zogen ins Land. Die Toten ruhten – bis man begann, Teile der Sümpfe trockenzulegen, um sie urbar zu machen. Aber dort unten lauerten Schrecken, die die Zeiten überdauert hatten …