MYTHOR
Der Sohn des Kometen von
Hugh Walker
Band 01
VORWORT
Liebe Leserinnen, liebe Leser, als im April 1980...
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MYTHOR
Der Sohn des Kometen von
Hugh Walker
Band 01
VORWORT
Liebe Leserinnen, liebe Leser, als im April 1980 der erste Roman der Heftromanserie MYTHOR erschien, konnte sich kaum einer der Beteiligten und Leser vorstellen, daß von dieser Fantasy-Serie fast 200 Bände auf den Markt kommen sollten. Damit ist MYTHOR die erfolgreichste Fantasy-Serie aus dem deutschsprachigen Raum – und eine der erfolgreichsten Serien dieses Genres überhaupt. Was ist Fantasy nun eigentlich? Was ist der Kern dieser Lite raturgattung, die weltweit Millionen von Menschen fasziniert? … Mythos und Legende, germanische Saga und keltisches Märchen und indogermanisches Heldengedicht, Ballade und Epos, die phantastischste und ursprünglichste Form des Er zählens. … ein Abenteuer sondergleichen, in einer Welt, wie sie mög licherweise gewesen sein könnte, wie sie aber vielleicht nie war, wie sie irgend- oder nirgendwo im Universum existiert. … Phantasie – die Vorstellungskraft, die aller schöpferischen Tätigkeit innewohnt, ein wesentliches Element des Denkens überhaupt, ohne die das menschliche Bewußtsein verkümmert wäre. Viele namhafte Personen, die diesem Genre verschworen sind, haben versucht, gültige Definitionen für den Begriff »Fantasy« zu finden. Sie formulierten viele zutreffende Erklä rungen, aber keine glich der anderen. Robert A. Heinlein begann seinen berühmten Roman »Straße des Ruhms« mit folgenden Worten: »Ich kenne einen Ort, wo es keine Industrieabgase und kein Parkplatz problem und keine Bevölkerungsexplosion gibt… keinen Krieg und keine Wasserstoffbomben und kein Werbefernsehen… keine Gipfelkonferenzen, keine Steuern und keine allgemeine Wehrpflicht.«
Ist das nicht eine verlockende Vision?
Fantasy kann der Traum eines Zivilisationsmüden sein, der mehr sucht als die Erfüllung seiner Sehnsüchte nach einer Welt der Phantasie. Es geht nicht darum, wie realitätsbezogen oder nicht, wie wahr oder unwahr das geborene Universum ist, auch stellt sich nicht die Frage nach der Reflexion der Wünsche. Ein durch und durch rationalistischer Wissenschaftler braucht schließlich auch nicht die materielle Darstellung eines Atoms, um es zu akzeptieren. Das System von Gesetzen und Hypo thesen läßt ihm keine andere Wahl, als seine Existenz anzuer kennen. Aber so extremer Beispiele bedarf es gar nicht. Halten wir uns nur einmal einen Spiegel vor. Stellen wir uns die Frage, was an der Realität wahr ist, die uns unsere Sinne zeigen. Würden wir im Infrarot-Bereich sehen und Ultraschall hören, böte sich uns die Welt dann nicht ganz anders dar? Und noch einfacher: Was für eine bescheidene Rolle spielen doch die wissenschaftlichen »Wahrheiten« in unserem Alltag. Was wir wirklich verstandesmäßig erfassen, nimmt sich vergleichswei se bescheiden gegen das aus, was wir fühlen und glauben und uns vorstellen. Lassen wir der Phantasie, unserem kostbaren Gut, ihren Spielraum, lassen wir sie schweifen. Und lassen Sie sich, lieber Leser, von MYTHOR in eine der vielen Welten der Fantasy führen, in der böser Zauber und Weiße Magie herrschen, wo zauberhafte Frauen standhafte Heroen umgarnen und ins Wanken bringen, die Mächte der Finsternis aus unvorstellba ren Bereichen nach den Herzen der Menschen greifen, Dämo nen, Fabelwesen und Monstren sich zu einem Reigen des Bö sen vereinen und ihre zerstörerischen Kreise um die Lichtwelt enger ziehen – und wo die Aufrechten mit MYTHOR für das Gute kämpfen. Zum vorliegenden Buch steuerte Hugh Walker seinen Ro
man »Der Sohn des Kometen« bei, von Horst Hoffmann stammt »Die Flotte der Caer«, und Ernst Vlcek schrieb »Die Goldene Galeere«. Ernst Vlcek und Klaus N. Frick
Hugh Walker
DER SOHN DES KOMETEN
Chaos und Tod begannen in der Morgendämmerung mit ihrer Ernte. Die Wachen und die Schlafenden wurden gleicherma ßen überrascht, diejenigen, die es mit halbem Herzen erwarte ten, und diejenigen, die auf die Götter vertrauten. Selbst jene, die Mythors Warnungen nicht in den Wind geschlagen hatten, lauschten mit Grauen und einer ergebenen Hilflosigkeit den Geräuschen des Untergangs der Welt. Denn Orina, die Seherin, hatte keinen Schatten erblickt, und Etro, der Erste Bürger Churkuuhls, hatte entschieden, daß sie blieben. So blieben sie, wie sie es immer getan hatten, den ganzen weiten Weg über, den ihre Stadt gewandert war. Wirklich si cher waren sie immer nur auf dem Rücken der Yarls gewesen, hinter ihren hölzernen Zinnen und Wehren, den balkengesi cherten Toren und Fenstern, auf den schwankenden Panzern, die sie durch die Länder des Lichts trugen. Das war die Welt der Marn – ihre hölzerne Stadt Churkuuhl, die auf den gewaltigen gepanzerten Yarls seit eineinhalb Ge nerationen in Richtung Sternbild des Drachen kroch, unlenk bar von Menschenhand, gehalten allein von den Fäden der Fügung. Sie kamen tief aus dem Süden, wo der Abgrund der Welt lag, wo der Schatten über das Land fiel und der halbe Himmel von einer düsteren Glut erfüllt war, wo es Lichter regnete, die starben, bevor sie die Erde berührten, und wo die Wirklichkeit so trügerisch wie Träume war. Aber das lag viele Generatio nen zurück in einer Zeit, bevor die Yarls aufhörten, dem Wil len ihrer Bewohner zu folgen. Seither war der Glanz südlicher
Sterne längst verblaßt und die Glut südlicher Sonne Asche in ihren Herzen geworden. Die Winter in Tainnia hatten ihre Gemüter das Frösteln gelehrt. Doch es gab keinen Weg zurück. Es gab nichts, was die Yarls zur Umkehr gebracht hätte. Etwas trieb sie, ein Zwang, ein Fluch. Und immer hatten die Ersten Bürger Churkuuhls ent schieden, länger zu bleiben. Denn der Gedanke, die schützen de Stadt zu verlassen, war viel erschreckender als die ungwis se Zukunft auf dem Rücken von Yarls, die unbekannten Mäch ten gehorchten. Durch viele Länder waren sie gezogen, solche, die sie verga ßen, und solche, die in ihrer Erinnerung haftenblieben. Warme Länder wie Kyrion, Arkenien, Tahora, Itanien, Salamos. Doch dann kam Tainnia mit immer längeren Wintern, daß es manchmal schien, als liege eine neue Schattenwelt voraus, zu der es die Yarls zog. Selten nur hatten sie ihre Wehren verlassen und sich den Ge fahren des festen Landes ausgesetzt, den meist feindlich ge sinnten Bewohnern, der Wildnis, den Bestien. Nur wenn es sein mußte, wenn sie Wasser brauchten oder ihre Toten ver brannten oder wenn das Futter für ihre Ziegen und Kühe knapp wurde. Erst in den letzten fünf Jahren, als der junge Mythor begon nen hatte, junge Marn mit seiner fremdartigen Neugier anzu stecken, hatte ein kleiner Trupp Wagemutiger ab und zu Churkuuhl verlassen und das Land in unmittelbarer Nähe er kundet. Nur Mythor selbst hatte trotz aller Warnungen immer wieder weite Streifzüge unternommen, sogar Kontakt mit den Menschen aufgenommen, wenn Dörfer in der Nähe lagen, ihre Sprache, ihren Dialekt verstehen gelernt und manch Nützli ches mitgebracht: Waffen, Geräte aus Eisen, selbst Pferde, auf denen sie reiten lernten. Dennoch vermochte er niemanden von der Nützlichkeit, vielleicht sogar der Lebensnotwendig
keit seiner Neugier zu überzeugen. Sie alle warnten ihn, die Ältesten, seine Familie. Wenn sie ihn gehen sahen, schüttelten sie die Köpfe. Wenn sie ihn kommen sahen, machten sie das Zeichen Quyls, des weisesten ihrer Götter. Doch auf ihre Art achteten und respektierten sie Mythor, obwohl er nicht einer der Ihren war, weder vom Äu ßeren noch vom Wesen, aber sie hatten den Lichtschimmer gesehen, der ihn umgab, als er ein Knabe war, und sie hatten in seiner Gegenwart den Schrei des legendären Bitterwolfs gehört. Er war ein wenig wie jene schimmernde Gestalt ihrer My then und Prophezeiungen, die das Feuer in ihrer Faust hielt, der ewigen Schwärze der Schatten Einhalt gebot und sie letzt endlich besiegte. Deshalb nannten sie den Knaben Mythor, nach dem mythischen Helden des Lichts. Doch das Licht, das ihn umgab, schwand, als er heranwuchs, und der Bitterwolf ward nicht mehr gehört. Was er sagte und tat, wog ein wenig mehr als das anderer Marn, aber nicht genug. Er achtete ihre Gesetze, doch lachte über ihre Ängste. Er schlug ihre Warnungen über die Welt außerhalb Churkuuhls in den Wind. So lernte er mehr und wußte mehr als sie. So lernte er, offen zu kämpfen, statt sich zu verkriechen. So lernte er, daß der Boden fest war und daß alle Bewegung dem eigenen Willen entsprang und daß jeder, der Kraft genug besaß, an den Fäden der Fügung mitknüpfen konnte. Er jedenfalls würde das tun! Doch nun sah es aus, als endeten alle Fäden im Meer der Spinnen. Seit hundert Tagen hatten die Yarls nicht mehr angehalten, um Nahrung aufzunehmen. Ohne Unterlaß schoben sie sich vorwärts mit ihren drei Dutzend Beinen, den spitzen Kopf vorgestreckt, den Rachen geöffnet und keuchend, die vier dunklen, starren Augen hungrig auf etwas in der Ferne gerich
tet, was die Menschen Churkuuhls nicht zu sehen vermochten. Ihre Bewegungen waren schwankend und stolpernd gewor den wie von Erschöpfung. In den letzten zwanzig Tagen waren immer wieder Reiter in der Ferne aufgetaucht und hatten die seltsame wandernde Stadt in sicherem Abstand begleitet – bewaffnet und zeitweilig in so großer Zahl, daß auch Mythor nicht mehr wagte, Chur kuuhl zu verlassen, um den Weg zu erkunden, den die Yarls nahmen. Aber er fand es auch so bald genug heraus, denn sie hörten die Brandung. Vor ihnen lagen die Klippen einer felsi gen Küste, die steil in schäumende Gischt abfiel. Nach allem, was Mythor auf seinen Streifzügen über Tainnia erfahren hat te, mochten sie die Straße der Nebel erreicht haben oder das gefürchtete Meer der Spinnen. Und es sah aus, als könnten auch die Felsen den besessenen Marsch der Yarls nicht aufhalten. Zum erstenmal in seinem Dasein zögerte der Erste Marn mit der Entscheidung. Denn in Churkuuhl zu bleiben bedeutete den Tod. Niemand in der Stadt bezweifelte, daß die Yarls von Mächten der Schattenwelt besessen waren, an deren unmittelbarem Rand sie geboren wurden und in die Lichtwelt hinauswanderten. Doch während Etro noch zögerte, blieben die Yarls stehen. Sie sanken mit klagenden Schreien nieder und regten sich nicht mehr. Ihre mächtigen Köpfe glitten zurück unter die ge waltigen Panzer, auf denen die Häuser der Marn standen. Nun, da die unmittelbare Gefahr vorüber war, entschied Etro wie gewohnt, daß sie blieben, denn alle Gefahren, die ih nen jenseits ihrer vertrauten und sicheren Bauten drohten, wä ren ungleich größer gewesen als das Risiko auf den Panzern besessener, doch zu Tode erschöpfter Yarls. Mythor warnte, doch es war entschieden. Die tainnianischen Reiter waren ihnen gefolgt und kamen in der Abenddämme rung näher an die so plötzlich stillstehende Wanderstadt her
an. Sie waren viele, vielleicht nicht genug, um Churkuuhl zu stürmen, wovon sie wohl auch die Furcht vor den Yarls abhal ten mochte, doch genug, um die Marn niederzureiten, falls diese ihre schützenden Wälle verließen. Selbst Mythor, der dazu neigte, an Fremden erst die friedliche Seite zu sehen, war in diesem Fall ziemlich sicher, daß die Tainnianer auf Beute aus waren und nur auf einen günstigen Augenblick warteten. So blieben sie alle und warteten in der hereinbrechenden Dunkelheit, bis Müdigkeit und Schlaf die meisten übermann ten. Das war am Vorabend gewesen.
Und nun, in der Morgendämmerung, erwachte die Nomaden stadt, um zu sterben. Zuerst rührte sich ein Yarl, der aus seiner erschöpften Starre erwachte, den Schädel aus seinem Panzer schob, mit düsterer Glut in den Augen um sich blickte, einer Glut, von der die al ten Legenden der Marn warnend als Dämonenfeuer berichte ten. Der Koloß ruckte hoch, fast wie es Kamele tun, wenn sie sich erheben. Die Häuser und Türme schwankten knirschend, Seile rissen knallend. Ein Dutzend Marn, die Familien Altras und Katrans, die auf diesem Yarl lebten, erwachten im Ange sicht des Todes, jene wenigstens, die nicht bereits im Schlaf erschlagen worden waren. Die Balkenwände rissen wie Strohmatten. Wen das Krachen noch nicht aus dem Dämmerschlaf geris sen hatte, in den die meisten trotz der möglichen Gefahr schließlich gegen Morgen erschöpft gesunken waren, der schreckte durch das Schreien der Menschen hoch. Während die Marn zu den Waffen griffen und auf ihre Zinnen und an ihre Schießscharten liefen, stieß der Yarl einen langgezogenen Schrei aus, der wie das Heulen verdammter Seelen klang. Kei
ner der Marn hatte je solch einen Schrei vernommen, und selbst den Yarls mußte er erschreckend klingen, denn viele erwachten aus ihrer Leblosigkeit und setzten sich ruckartig in Bewegung. In wenigen Augenblicken war ganz Churkuuhl ein schreiendes, krachendes Chaos, in dem jeder um das nackte Überleben kämpfte. Doch das war erst der Beginn. Als der Schrei des Yarls verstummte, schob das Geschöpf sich vorwärts mit seinen Trümmern und Toten auf dem Rü cken und glitt schlurfend und wankend über die Felsen auf die Klippen zu. Die übrigen Yarls hatten innegehalten. Ihre vorge streckten Schädel waren auf das Meer gerichtet. Auch die Menschen waren verstummt, selbst jene, die Qualen litten, als spürten sie alle, daß noch Grauenvolleres bevorstand. Und die inmitten der Trümmer noch sehen konnten, erblick ten das Ende zweier ihrer Familien, als der Yarl sich scharrend über die Klippen schob und in die Tiefe stürzte. Atemlose Augenblicke später vernahmen sie erneut das Heulen des Yarls, peinvoll diesmal, und sie hörten das Tosen von Wasser und Geräusche wie von einem gewaltigen Kampf. Dann Stille, nur die Brandung. Aber gleich darauf schrie ein weiterer Yarl und schob sich auf die Klippen zu. Da kam Bewegung in alles, was noch Kraft und Leben genug besaß, sich zu bewegen. Die Menschen befreiten sich aus den Trümmern ihrer Häu ser und Wehren und waren hilflos außerhalb der trügerischen Sicherheit, auf die sie so lange vertraut hatten, um so mehr, als es auch draußen keine Sicherheit gab. Zwischen den dicht zu sammengedrängten Yarls war wenig Platz und wenig Schutz vor herabstürzenden Trümmern. Ihre mächtigen Beine mit den steinharten Krallen würden alles zermalmen, wenn sie in Bewegung kamen. Und in ihren lodernden Augen war deut lich genug zu lesen, daß sie jeden Augenblick losstürzen wür
den. Mit neuem Schreien und Heulen setzte sich ein weiterer Ko loß in Bewegung und schob sich zwischen einem halben Dut zend erstarrter Yarls hindurch, begleitet von donnerndem Krachen, als Panzer und Türme gegeneinanderstießen. Der Boden erzitterte. Männer und Frauen und Kinder sprangen in panischem Entsetzen aus den Häusern. Die meisten gerieten zwischen die Yarls, unter die stampfenden Beine und zwi schen die Panzer, wo sie ein rasches Ende fanden. Die nicht den Mut fanden, in die Tiefe zu springen, riß der Yarl mit sich über die Klippen in die tosenden Fluten. Bevor die Geräusche des Sterbens verklingen konnten, klan gen neue auf, als ein dritter Yarl Anlauf in den Tod nahm. Es war einer aus der Mitte der Herde, und er pflügte einen Weg durch die Stadt wie ein Orkan, kroch mit Urgewalt über sei nesgleichen hinweg. Ein weiterer folgte, noch bevor er die Klippen erreicht hatte. Dann zwei. Drei. Ein halbes Dutzend. Es ging immer schneller. Die Kraft, die sie über die Klippen lockte, griff rasch um sich. Und daß es am lichten Tag geschah – die ersten Strahlen der Morgensonne tauchten die Klippen in blendendes Licht –, daß die Dämonen der Schatten die Macht besaßen, ihre Geschöpfe zu dieser Zeit zu rufen, machte es um so schrecklicher. Der Stamm der Marn war viele Generationen lang auf diesen Yarls durch die Lichtwelt gewandert. Immer, seit die Yarls begonnen hatten, ihren eigenen Weg zu gehen, unbekümmert um die lenkenden Versuche ihrer menschlichen Parasiten, war ihr Schicksal ungewiß gewesen. Nun gab es keine Ungewißheit mehr. Hier war ihr Weg zu Ende. Hier würden sie bleiben, begraben in den Trümmern
ihrer eigenen Stadt, die sie nie verlassen hatten.
Es gab einige, die sich nicht mit diesem Schicksal abfanden. Das war eine Gruppe junger Marn, die stets zu Mythor auf geblickt hatten, die in ihm ein Idol sahen, auch wenn sie selbst nicht immer den Mut fanden, die Warnungen ihrer Eltern in den Wind zu schlagen und wie er Abenteuer auf der festen Erde zu suchen. Aber sie hatten seinen Erzählungen gelauscht, und manchmal hatten sie ihn sogar begleitet. Sie besaßen ein wenig von seinem Geist, dem Geist des A benteurers. Sie waren bereit, außerhalb Churkuuhls ein neues Leben aufzubauen, wie schwer es auch immer sein mochte. Ein wenig mehr als zwanzig fanden sich bei den äußeren Y arls zusammen. Die dunkle Haut ihrer Gesichter war bleich vor Furcht. Sie hatten ihre Yarls verlassen und folgten dem Plan, den Mythor mit ihnen noch während der Nacht besprochen hatte. Einige schafften Waffen und Vorräte zwischen die schützen den Felsen, andere sammelten Fliehende auf und versuchten, die Familien aus ihren Häusern zu treiben, solange ihre Yarls noch ruhig lagen. Viele ihrer Freunde, mit denen sie nachts noch Pläne geschmiedet hatten, fehlten. Manche mochten be reits tot sein. Es war ein waghalsiges Unterfangen, zu den in neren Yarls vorzudringen oder gar in die Nähe der Klippen zu gelangen. Das Brüllen und Schreien erklang nun immer häufi ger. Schwarzer Rauch stieg irgendwo im Inneren der Stadt auf. Die Yarls waren alle wach. Sie lauschten mit erhobenen Schä deln, doch nicht den Geräuschen der Zerstörung und des To des, sondern einem Ruf, der ihren dunklen, verlorenen Geist berühren würde. Sie waren weit durch diese Welt gekrochen, um es zu finden. Sie waren bereit.
Und für jeden erklang der Ruf.
Mythor war einer der letzten, die die Versammlung der Ver schworenen verlassen hatten. Der Morgen begann bereits zu grauen, als er aus Gorgins Haus stieg. Mehr denn zuvor spürte er die Gefahr. Er schüttelte sich unwillkürlich. Er hätte nicht so lange warten dürfen. Das Schwierigste stand noch bevor: seine Familie zu überzeugen, Churkuuhl zu verlassen. Aber es war auch nicht leicht gewesen, den Freunden klarzumachen, daß sie auf eigene Faust handeln mußten, wenn die Gefahr da war, die er spürte. Daß er nicht zu sagen vermochte, was geschehen würde und woher seine Ahnung kam, stellte ihr Vertrauen auf eine harte Probe. Aber sie hatten zu viele Dinge gemeinsam unternommen, die der Tradition der Marn zuwiderliefen; sie waren eine verschworene Gemeinschaft, die Verschworenen, wie sie sich denn auch nannten. Und so, wie der Stamm der Marn einen Führer hatte, Etro, den Ersten Bürger von Chur kuuhl, so war Mythor ihr Führer, dieser junge Fremde, mit dem sie aufgewachsen waren. In solchen Augenblicken, da er sie für etwas zu begeistern oder zu überzeugen suchte, spürte er immer am deutlichsten, daß er anders war; nicht nur vom Äußeren – sein Haar war glatt und dunkelbraun, ihres schwarz und kraus, seine Haut war heller als ihre, wenn auch nicht so weiß wie die der Be wohner Tainnias, sein Gesicht länglicher und kantiger –, mehr noch vom Wesen. Was er an ihnen so sehr vermißte, war der Tatendrang. Sie besaßen zuviel Phantasie, mit der sie ihn er setzten. Wenn er fragte: »Was mag wohl hinter jenen Hügeln lie gen?« so konnten sie ihm wundervolle Geschichten erzählen, von Dingen, die dort sein mochten, von denen sie träumten. Und sie begnügten sich damit! Was wirklich dort sein mochte,
war nichts, was einen Marn interessierte. Seine Welt war seine Stadt, der Weg, den die Yarls nahmen. Und was das Schicksal ihnen bescheren wollte, mußte es ihnen schon in den Weg le gen, sonst zogen sie blind daran vorbei. Aber die Jahre an Mythors Seite waren an ihnen nicht ohne Spuren geblieben. Da war noch immer die eingefleischte Furcht, Churkuuhl zu verlassen. Doch an seiner Seite vergaßen sie diese Furcht oft. Sie waren etwa gleichen Alters, um die zwanzig Sommer, junge Männer und Frauen. Unter ihnen Taka aus Elkrins Familie, deren Augen selten von ihm ließen, wenn sich die Gruppe traf, und deren Sinn lichkeit ihn oft in die Träume verfolgte – ihre Lippen, wenn sie ihm zulächelte, ihr Körper, wenn sie sich bewegte. Er spürte, daß sie ihn begehrte und darauf wartete, daß er den ersten Schritt tat, wie es der Brauch war. Aber trotz seiner leiden schaftlichen Träume vermochte er sich nicht dazu durchzurin gen. Denn wenn ihre Leidenschaft fruchtbar war, würde er einen großen Schritt in die Richtung ihrer Art zu leben tun müssen. Sie würden ihm ein Haus geben, und Mythor würde Haupt einer Familie sein. In Takas Armen würde er ein Marn sein müssen. Aber er hatte auch noch andere Träume, die aus Churkuuhl hinaus führten. Und würde Takas Leidenschaft groß genug sein, ihn zu begleiten? Als Mythor den Panzerrand erreichte und sich daranmachte, die Strickleiter auf den Boden hinabzusteigen, sah er eine dunkle Gestalt am Boden auf ihn warten. »Myth!« So nannten sie ihn in ihrem Kreis. Es war Takas Stimme. Er spürte, wie sein Herz heftiger schlug. Gleichzeitig spürte er die Drohung, die über ihnen allen hing, stärker als je zuvor. Ein Schatten lag über ihnen, über Churkuuhl. Mythor war es,
als weiche alles Licht aus seinen Gedanken. Er stieg hastig hinab und nahm sie an den Armen. »Taka, wo ist dein Bru der?« Sie erschrak über seine düstere Miene. »Ist es soweit?« fragte sie. »Ich…« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber es war nie näher als in diesem Augenblick.« »Ich habe allein auf dich gewartet. Mein Bruder ist bereits im Haus. Du weißt, warum ich auf dich gewartet habe, Myth? Nicht wahr, Myth?« »Ich begleite dich, wenn du es möchtest. Komm! Ich glaube, es ist nicht mehr viel Zeit.« Sie kam in seine Arme und hielt ihn umschlungen. Sie schloß die Augen und murmelte: »Du hast recht, wir haben nicht mehr viel Zeit.« Trotz ihrer geschlossenen Augen fand sie sei nen zögernden Mund mit ihren hungrigen Lippen und seufzte erleichtert, als er sich entspannte und ihre Zärtlichkeiten erwi derte. Ihre Küsse wurden jäh unterbrochen, als in der Nähe der Klippen der erste Yarl erwachte und sich aufrichtete, als wolle er springen. Gebäude krachten, und Schmerzensund Entset zensschreie schallten schrill durch die Morgendämmerung. Als die beiden erschrocken voneinander abließen, sahen sie am fernen Ende der Stadt Türme und Häuser schwanken und einstürzen. Ringsum wurde die Stadt lebendig. Gesichter erschienen in den dunklen Öffnungen der Häuser. Mythor kletterte hastig die Strickleiter hoch. »Warte auf mich… bitte!« Er griff nach ihrer Hand und zog sie hoch. Er spürte, daß sie zitterte. Er fröstelte. Die junge Frau klammerte sich an seinen Arm, und er war dankbar für die Wärme ihres Körpers. Er lauschte den berstenden Geräuschen und den Schreien.
»Ist es das, was du erwartet hast?« fragte Taka. Er hob stumm die Schultern und ließ sie wieder sinken. Von ihrem tiefen Standpunkt aus konnten sie nicht viel er kennen. Doch der Tumult schien sich zu entfernen. Dann erschütterte ein schier nicht enden wollendes Brüllen die Dämmerung, das die Yarls ringsum aus ihrer Leblosigkeit weckte. Ihre mächtigen Schädel schoben sich aus den Panzern. »Die Yarls!« entfuhr es der jungen Frau. »Wir müssen hinunter!« rief Mythor. »Wenn sie zu laufen beginnen, ist es zu spät! Du weißt, was zu tun ist, Taka«, sagte er eindringlich. »Wir haben es heute nacht besprochen. Zwi schen den Felsen liegt die einzige Sicherheit.« Ein schrilles Wiehern von Pferden ließ ihn innehalten. Es kam aus der Richtung der tainnianischen Reiter. »Auch vor ihnen. Für eine Weile wenigstens.« »Und dann?« »Dann werden wir kämpfen und es ihnen nicht zu leicht ma chen. Beeil dich, Taka!« »Und du?« Erneutes Krachen kam von den Klippen her. Ein weiterer Teil der Stadt setzte sich schwankend in Bewegung, begleitet von panischen Schreien. »Sie stürzen ins Meer!« schrie jemand von einem Turm. »Großer Quyl, sie stürzen ins Meer! Wir sind alle verloren!« Mythor blickte in Takas bleiches Gesicht. »Meine Eltern… Ich will versuchen, sie in Sicherheit zu bringen.« Taka nickte. »Ich komme mit dir, Myth.« Er schüttelte hastig den Kopf. »Nein! Sie können jeden Au genblick losstürmen.« Er deutete auf die Yarls. Als gelte es, die Wahrheit der Worte zu beweisen, brüllte ei nes der Tiere am jenseitigen Rand der Herde und schob sich mit einem gewaltigen Ruck vorwärts. Die Häuser auf seinem Rücken wurden aus ihren Verankerungen gerissen und fielen
in sich zusammen. Schreie verhallten und verstummten, wäh rend sich die Ruinen mit zunehmender Geschwindigkeit vor wärts schoben und mit donnernden Geräuschen verschwan den. »Weshalb tun sie das?« fragte Taka tonlos. Mythor starrte auf den emporgereckten Schädel des Yarls, auf dem sie standen. »Es ist, als warteten sie nur auf ein Zei chen.« In der Mitte Churkuuhls neigten sich die Türme. Überall schienen die Yarls in Bewegung zu kommen, rammten solche, die noch ruhig standen. Die Geräusche dieser gewaltigen Zer störung und des Sterbens waren unbeschreiblich. »Aus den Häusern! Verlaßt die Yarls!« Mythor sah ein, wie nutzlos sein Rufen war. Niemand vermochte ihn zu hören. So rüttelte er an Türen, die verschlossen waren. Aber selbst in Häusern, in die er eindringen, konnte, hörte niemand auf ihn. Er ahnte, daß es fast unmöglich sein würde, die Herde zu durchqueren und durch die Trümmer zum Haus Curos’, sei nes Vaters, zu gelangen. Aber er war entschlossen, es zu ver suchen. Wie die meisten Marn würden sie ihr Haus nicht ver lassen. Sie hatten es ihm gesagt: Sollte es Quyls Wille sein, daß sie hier starben, dann wollten sie es innerhalb der Wände tun, wo sie immer Schutz gefunden hatten. Aber Quyls Wille war etwas, mit dem sich Mythor nie abge funden hatte. Als er die Nutzlosigkeit seiner Versuche einsah, die Men schen von den Yarls zu treiben, arbeitete er sich zielstrebig zur Mitte der Herde vor. Manchmal standen die Yarls so dicht, daß er von Panzer zu Panzer springen konnte, doch meist mußte er den mühseligen Weg die Strickleitern hinab und wieder hinauf nehmen. Die Erde bebte unter den donnernden Beinen und scharrenden Panzern der Yarls. Nach einer Weile wurde Mythor bewußt, daß Taka beharr
lich hinter ihm blieb. Er blieb stehen. Die Sonne ging auf und enthüllte mit aller Klarheit, daß die Stadt auch hinter ihnen bereits in Bewegung war. Der Weg zurück war ebenso mörde risch wie der nach vorn. Er war plötzlich froh, nicht in diesem Chaos allein zu sein. Er drückte sie flüchtig an sich. Ihre Lip pen bewegten sich, aber er verstand nicht, was sie sagte. Bisher hatten sie Glück gehabt. Die Yarls auf ihrem Weg waren alle ruhig gewesen. Doch gleich darauf stießen sie auf die Zerstörung. Taka unterdrückte nur mühsam einen Aufschrei. Mythor ballte die Fäuste. Der Boden war übersät mit Trümmern, die einst Häuser ge wesen waren. Tote lagen dazwischen, verstümmelt und halb begraben. Wie ein breiter Pfad durch einen Dschungel führte der Weg der Zerstörung durch die Stadt, über andere Yarls hinweg, deren Panzer ebensolche Ruinenfelder waren, bis hin zu den fernen Klippen. Sie kletterten hinab zu den stillen Körpern. Diese waren alle tot. Krinans Familie. Coren und seine Brüder. Die kleine Cana. Der Boden erbebte, und der Schrei eines Yarls in unmittelba rer Nähe betäubte sie fast. Schwere Balken rollten mit dump fem Poltern über die Trümmer. Die Luft war erfüllt von Ge genständen, die wie Geschosse niederprasselten. Taka zog Mythor in trügerische Deckung und drängte sich schutzsuchend an ihn. Der Yarl neben ihnen hatte sich in Bewegung gesetzt. Sein Schädel reckte sich vor, als wolle er das Unmögliche versu chen und sich wie ein Vogel in die Luft schwingen. Die klau enbewehrten Beine hieben in den Boden und schoben die mächtige Masse vorwärts, ungeachtet der Yarls, die in seinem Weg lagen. Die Häuser schwankten. Panische Schreie erklangen, als die Menschen, die sich verkrochen hatten, durch die Räume ge
wirbelt wurden. Nun war es zu spät für eine Flucht. Seile ris sen. Die Grundbalken glitten aus ihren Verankerungen, als der Yarl sich aufrichtete, um über das Hindernis vor ihm zu krie chen. Mauern und Dächer kippten, brachen auseinander. Häu ser und Türme sackten zusammen und begruben alles unter sich, was nicht mehr ins Freie fand. Die Schreie verstummten, doch nicht das dämonische Brül len des Yarls und das Donnern und Krachen der Häuser, über die er sich hinwegschob in seinem unerklärlichen Verlangen, das Meer zu erreichen. Einige Marn wagten sich aus den umliegenden Häusern. Sie hatten das Sterben und die Vernichtung unmittelbar miterlebt. Es wurde ihnen klar, daß ihnen jeden Augenblick das gleiche Schicksal bevorstand. Sie sahen die Trümmer und die Toten, und das Verlangen, wieder in ihre Häuser zurückzukehren, die ihnen immer Schutz gewesen waren, war groß. Dann ent deckten sie Mythor und Taka, die winkten und riefen. Da faß ten sie Mut, stiegen von ihren Yarls herab und folgten den beiden auf ihrem Weg durch die Ruinen von Churkuuhl. Mythor gab seinen Plan auf, Curos’ Yarl zu erreichen, der sich in der Nähe der Klippen befand. Die tiefen Furchen der Vernichtung führten alle in diese Richtung, und jeden Augen blick entstanden neue. Wenn sie sich nicht längst aus eigener Kraft in Sicherheit gebracht hatten, wie er es ihnen geraten hatte, wenn etwas Ungewöhnliches geschehen sollte, würde keine Hilfe sie mehr rechtzeitig erreichen. Er preßte die Lippen zusammen und verdrängte die Vorstellung, daß sie längst tot sein mochten. Es galt nun, die Marn, die sich ihm und Taka angeschlossen hatten und deren Zahl ständig wuchs, in Sicherheit zu brin gen. Er mußte den kürzesten Weg aus Churkuuhl und der Herde hinaus finden. Es zeigte sich, daß diejenigen, die sich Mythors Flüchtlings
zug angeschlossen hatten, rasch begriffen, was zu tun war. Sie hielten die Richtung, die Mythor anzeigte, doch sie fächerten aus und holten andere aus den noch heilen Häusern, manch mal mit Gewalt. Mehrere Feuer brannten bereits in den Ruinen, wo glühende Herdstellen plötzlich Nahrung fanden. Dunkle Rauchwolken stiegen in den sonnenhellen Morgenhimmel. Und zur alten Furcht vor der Außenwelt gesellte sich nun auch jene vor dem Feuer, wie sie in den Herzen derjenigen Menschen wohl ver ankert ist, die in Städten aus Holz leben. Eine Weile versuchten sie, auch Verwundete aus den Ruinen zu holen, doch das verlangsamte ihre Flucht, und ganze Scha ren gerieten solcherart in die Bahn plötzlich losstürmender Yarls und wurden zertrampelt oder unter den gewaltigen Körpern erdrückt. Immer rascher wurden die Tiere von ihrem Wahnsinn erfaßt und stürmten auf die Klippen zu. Die Feuer trieben auch die übrigen aus ihrer Reglosigkeit. Sie trampelten in Panik zur Seite oder warfen sich auf die Yarls neben ihnen, wobei sie ein drohendes Brüllen ausstießen und mit den vorderen Klauen um sich schlugen. Noch nie zuvor in all den Generationen hat ten die Marn ihre Yarls in solch kämpferischer Erregung gese hen. Voller Grauen starrten sie auf die Zerstörung, voller Furcht wichen sie vor der dämonischen Wildheit der Kolosse zurück, denen sie so lange ihr Leben anvertraut hatten. Die Yarls waren für sie wie Schiffe gewesen; Schiffe, die ihre Vor väter aus Gründen, die sie nicht mehr kannten, zu lenken ver lernt hatten.
Ein wenig abseits des großen Sterbens standen ein gutes Hun dert Beobachter in tainnianischen Waffenröcken und Ketten hemden, wohl bewaffnet und gerüstet für den Kampf, der El
vinon bevorstand. Sie waren seit vielen Tagen aus Darain und anderen Dörfern im Osten und Süden des Landes unterwegs, um Herzog Krudes Ruf zu den Waffen zu folgen. Wenige Tage vor Elvinon waren sie dann auf die Fährte der Nomadenstadt gestoßen und ihr gefolgt. Sie hatten Boten nach Elvinon ge sandt, die von ihrem Fund berichten sollten. Dann blieben sie immer in Sichtweite der Yarls und ließen die Beute nicht mehr aus den Augen – die erste Beute des Krieges, wenn Erain ihnen wohlgesinnt war. Sie waren guter Stimmung, wie Krieger immer sind, wenn sie in den Krieg ziehen. Die Wanderstadt war zwar nicht der Gegner, zu des sen Vernichtung sie herbeieilten, sondern die Caer und ihre Zauberpriester, aber sie waren dunkelhäutige Fremde, die wohl zu einer Gefahr werden mochten, die vielleicht sogar die Partei der Caer ergreifen würden, wenn die Kämpfe erst be gannen. Was sie von Tätlichkeiten abhielt, war die Größe der Wan derstadt und der Yarls. Es war unmöglich, aus der Ferne ihre Anzahl festzustellen, aber wenigstens vier Dutzend mußten es sein. Und wie viele Fremde in diesem Gewirr aus hölzernen Häusern und Türmen lebten, war erst recht nicht abzuschät zen. Es mochte ein halbes Tausend sein, zu viele, um sich mit ihnen ohne Verstärkung aus Elvinon anzulegen. Anführer der Schar war Fürst Thorwil aus Callowy, ein bär tiger Haudegen, der gewinnbringenden Beutezügen nie abge neigt war und der auch immer darauf bedacht war, daß seine Gefolgsleute mit ihren Schwertern nicht aus der Übung ka men. Er war ein erfahrener Mann, was Plündern und Erobern be traf, und er rechnete sich aus, daß ein ordentliches Feuer unter den behäbig dahinkriechenden Ungeheuern allerlei bewirken würde, was die geringe Zahl der Angreifer ein wenig ausglich. Auch würde sich solcherart feststellen lassen, wie viele der
Fremden sich in den Häusern und Türmen befanden. Nachdem die Nomadenstadt schließlich am Abend nahe den Klippen angehalten hatte, war es bereits zu dunkel für Thor wils Pläne. Er ließ die Stadt beobachten, soweit das möglich war, denn in Churkuuhl brannten kaum Lichter. So verließen sie sich auf ihre Ohren. Als am Morgen, bevor er noch seine Pläne in die Tat umset zen konnte, in der Wanderstadt plötzlich die Hölle losbrach, wurden auch er und seine Männer empfindlich in Mitleiden schaft gezogen. Zu dem Zeitpunkt, als der erste Yarl auf die Hippen los stürmte, brach Panik unter den Pferden aus, als habe auch von ihnen ein Dämon Besitz ergriffen. Wie die Yarls rasten sie auf die Klippen zu und stürzten sich hinab, mit oder ohne Reiter. Während die Männer schreiend und fluchend damit beschäf tigt waren, wenigstens zu retten, was noch zu retten war, starr te Thorwil grimmig hinab auf den Untergang der Nomaden stadt. Er wußte nicht, was diese gewaltigen Tiere veranlaßte, sich selbstmörderisch über die Klippen zu stürzen, nur, daß es eine dämonische Kraft war, die diese schwarzen Teufel wohl aus dem Süden mitgebracht und in ihrer gottlosen zauberischen Art beschworen hatten, das wußte er. Und daß es ihre Schuld war, wenn ein Großteil seiner Männer zu Fuß nach Elvinon marschieren mußte. Mitleidlos sah er ihnen beim Sterben zu, sah die Yarls über die Klippen springen und in die weiße Gischt der Brandung tauchen. Als sie wieder hochkamen, wehrten sie sich hilflos gegen die Umklammerung gewaltiger schwarzer Beine, die sie endgültig in die Tiefe zogen, wobei die Wogen für kurze Au genblicke die nachtschwarzen Körper riesiger Spinnen enthüll ten. Das Meer der Spinnen besaß seinen Namen, weil es bewohnt
war von diesen schwarzen Ungeheuern bis hoch hinauf in den Norden, wo das Eis auf dem Wasser trieb. Sie töteten alles, was unvorsichtig genug war, sich in das Wasser zu wagen. Selbst große Schiffe vermochten sie in die Tiefe zu ziehen, so daß niemand das Meer der Spinnen befuhr, obwohl Legenden von Drachenschiffen aus Dandamar berichteten, welche die Küsten Tainnias unsicher gemacht hatten. Als die Sonne aufging, hatten die Tainnianer die Hälfte ihrer Pferde zu retten vermocht und ein Dutzend Männer verloren. In grimmiger Rachestimmung standen sie auf den Felsen und starrten wie Thorwil hinab auf das blutige Schauspiel. Aber trotz aller Genugtuung flößte ihnen der Anblick bald Grauen ein. »Weshalb fliehen sie nicht?« entfuhr es manchem. »Weshalb verkriechen sie sich in ihren Häusern?« »Einige tun es!« rief einer. »Sie versuchen es!« »Die Pest über sie, wenn sie es schaffen!« brummte einer. »Dann bekommen unsere Klingen noch Arbeit, wie ich meinen Herrn Thorwil kenne!« Deutlich sahen sie eine rasch anwachsende Gruppe von Menschen wie eine lange Schlange durch die Trümmer ziehen, während die Bestien nun auch übereinander herfielen und an mehreren Stellen Feuer ausbrachen. Immer wieder krochen Bestien über die dünne Schlange der Fliehenden hinweg. Manch einer ballte die Fäuste bei diesem Anblick. Sie waren nicht alle Plünderer. Viele hatten nur zu den Waffen gegriffen, um ihrem Herrn zu folgen, wie es ihre Pflicht war. »Die vordersten schaffen es!« Es klang fast wie Beifall. Zwei, drei Dutzend der Fliehenden erreichten den Rand der Herde, bevor auch die äußeren Tiere sich in Bewegung setzten und Menschen und Trümmer vor sich her auf die Klippen zu schoben. Die Menschen, die den Rand erreicht hatten, liefen und stol
perten hastig zwischen die schützenden Felsen. Wie ein wandernder Teppich glitt die Herde nun über die Klippen, und das Wasser schäumte, als ihre gewaltigen Körper eintauchten, und es brodelte von Hunderten von Spinnen, die alles in die dunkle Tiefe zogen. Langsam löste sich die Starre der Zuschauer. »Wie viele sind übrig?« »Ein halbes Hundert vielleicht, Frauen und Kinder mitge rechnet.« »Gut«, stellte Thorwil fest und rückte seinen Waffengurt zu recht. »Sie werden uns keine Schwierigkeiten bereiten. Holen wir sie uns, ehe sie sich verkriechen. Das ist eine gute Übung für den bevorstehenden Krieg!« »Gefangene?« »Keine Gefangenen!« Bevor sie losschlagen konnten, erschien ein Reitertrupp aus Elvinon mit wehenden Fähnchen auf den Lanzen auf der Fähr te der Nomadenstadt. Thorwil schickte ihnen zwei seiner Männer entgegen, damit sie nicht den dunkelhäutigen Teufeln zwischen den Felsen in die Arme liefen. Sie waren nur sechs und die Vorhut weiterer fünfzig Männer der Stadtgarde von Elvinon, die Herzog Krude seinem Vasal len zur Unterstützung schickte, wohl in der Hoffnung, auch ein wenig von der Beute auf die Seite zu bringen. Thorwil beschloß, auf sie zu warten, wenigstens solange die Schwarzen hinter ihren Felsen blieben. Doch da die Nomaden keine Pferde besaßen, konnten sie ihnen in keinem Fall ent kommen. Sie wußten es wohl auch, denn alles blieb ruhig, bis gegen Mittag der Haupttrupp aus Elvinon eintraf, mit Zohmer Felzt, dem Hauptmann der Leibgarde der Herzogsfamilie, und der jungen Nyala von Elvinon, der Tochter des Herzogs, an der Spitze.
Die Männer begrüßten die Gegenwart der jungen Frau stür misch. Die meisten von ihnen hatten bisher nur gewußt, daß sie von großer Schönheit sein sollte. Aber die Wirklichkeit ü bertraf bei weitem ihre Vorstellungen. Mit ihren achtzehn Sommern war sie voll erblüht, hochgewachsen, mit kräftigen Brüsten, wie es ein Merkmal der Frauen dieses Landstrichs war. Ihre dunklen Augen funkelten begeistert über diesen Empfang. Ihre Wangen waren gerötet vom Ritt. Das lange, dunkle, geflochtene Haar hatte sie unter einem hellen Schleier verborgen. Sie lachte, und ihr voller Mund machte manchem bewußt, wie lange es schon her war, daß er eine Frau in den Armen gehalten hatte, obwohl der Krieg noch nicht einmal in Gang gekommen war. Zohmer Felzt half ihr vom Pferd. Er ließ niemanden zu nahe an die Frau heran, mit Ausnahme des Fürsten, der die Tochter Krudes in höfischer Manier begrüßte. Felzt musterte ihn kühl und grüßte knapp. Thorwil überging ihn, worauf sich das Gesicht des jungen Hauptmanns vor Wut rötete, denn in seiner Stellung am Hof war er gewohnt, mit ähnlicher Höflichkeit behandelt zu werden wie die herzogli che Familie selbst. Und aus der Art, wie er Nyala behandelte und nicht aus den Augen ließ, mochte ein Beobachter leicht genug erkennen, daß er sie begehrte. Der Fürst berichtete in kriegsmännischer Art von den Ge schehnissen, unterbrach sich aber ein paarmal, um sich in Ge genwart Nyalas feiner auszudrücken, was seinen Männern ein gelegentliches Grinsen entlockte. Er unterstrich das Faktum, daß die schwarzen Teufel Zaube rei nicht nur über sich selbst, sondern auch über Bürger Tain nias gebracht hatten, so daß Pferde und Männer wie von Dä monen besessen über die Klippen sprangen, und daß sie somit ebenso bekämpft werden müßten wie die Caer und ihre dunk
len Machenschaften. Fast hundert Überlebende des dämoni schen Strafgerichts – er übertrieb mit Bedacht – hätten sich zwischen den Felsen verkrochen und es gelte, sie vor Einbruch der Dunkelheit herauszulocken und zu vernichten, bevor sie sich davonschleichen und in den Nächten neue Teufeleien ü ber Tainnia bringen konnten. Nyala von Elvinon war nicht ängstlich. Sie war ein stolzes Geschöpf, das auch den Dolch zu gebrauchen wußte, wenn es notwendig war, und das Männer nicht fürchtete. Aber die Ge schehnisse, die der Fürst so lebendig berichtete, jagten ihr doch einen Schauder den Rücken hinab, und sie hatte keine Einwände dagegen, daß die Männer die unheimlichen Frem den aus ihren Verstecken trieben und töteten. So unterstellte sie ihre Männer dem Kommando des Fürsten, mit Ausnahme eines halben Dutzends ihrer Garde, unter ihnen Zohmer Felzt, die sie zu ihrer eigenen Sicherheit behielt. Dann beobachtete sie die Krieger, wie sie hinabstiegen. Sie war neugierig. Sie hoffte, daß sie ein paar der schwarzen Teu fel zu Gesicht bekommen würde, bevor sie alle erschlagen wa ren.
Als Mythor und Taka und gut zwei Dutzend der Männer und Frauen, die sich ihnen angeschlossen hatten, erschöpft die schützenden Felsen erreichten, erwarteten sie dort kaum mehr, als sie selbst waren. Viele der Freunde, der Verschworenen, hatten überlebt. Doch nur wenige andere hatten sie zu retten vermocht, unter ihnen jedoch Etro, den Ersten Bürger Chur kuuhls, und manche Augen, die leer geweint waren, bedach ten ihn mit grimmigen Blicken. Mythors Gruppe wurde mit aller Freude begrüßt, deren die Überlebenden noch fähig waren. Die meisten sanken einfach zusammen, überwältigt von dem erlebten Grauen, von dem
vielen Sterben, das sie gesehen hatten. Aber Mythor riß sie aus ihrer erschöpften Gleichgültigkeit. Er rang die quälenden Gedanken an Curos und Entrinna, seine toten Eltern, nieder. Sie waren ein schutzloser Haufen in einer Wildnis, die ihnen unbekannt war. Und daß die tainnianischen Reiter ihnen nicht zu Hilfe gekommen waren, bedeutete, daß sie auf der Hut vor ihnen sein mußten. Wenn sie überleben wollten, mußten sie planen, vom ersten Augenblick an. Für Trauer war später Zeit. Churkuuhl war nicht mehr. Ihre Festung war zerstört. My thor erschien es mehr wie ein Gefängnis, das aufgebrochen war. Er jedenfalls war bereit, die weite Welt zu seinem Zuhau se zu machen, mit Taka an seiner Seite. Er würde es ihr sagen, wenn sie in Sicherheit waren. Denn wo immer die überleben den Marn sich niederließen, um neue Türme zu bauen und sich zu verkriechen, er würde dort nicht bleiben. Er zwang seine Gedanken zurück in die Gegenwart. Trotz Etros Gegenwart akzeptierten sie ihn als ihren Führer. Er nahm es dankbar an, denn er hätte Etros Anordnungen nicht befolgt. Er hätte sie verlassen. Es war keine Rivalität, die ihn so handeln ließ, nur die einfache Tatsache, daß er dabei war, sich frei zu machen von allem marnischen Denken, das von einer kleinen, beengten Welt geprägt war. Und sie mußten auch frei davon sein, wenn sie in dieser grenzenlosen Welt überleben wollten. Er schickte einige seiner Freunde aus dem Kreis der Ver schworenen los, um die nähere Umgegend im Auge zu behal ten und nach den Reitern Ausschau zu halten. Er schärfte ih nen ein, vorsichtig zu sein und sich nicht sehen zu lassen. Wenn sie sich bis zum Einbruch der Dunkelheit verborgen halten konnten, hatten sie eine gute Chance zu verschwinden. Andere schickte er aus, Wege zwischen den Felsen zu er kunden, auf denen sie nachts fliehen konnten. Dank seiner
Voraussicht hatten sie Waffen und Nahrungsmittel genug für einen langen, gefahrvollen Weg. Pläne, wohin sie sich wenden sollten, hatte er noch nicht. Das Land war fremd. Nach Süden wollten sie jedoch. Aber auf dem Weg, auf dem sie gekommen waren, konnten sie nicht zurückkehren. Vorerst galt es, die Küste zu verlassen, die wie eine unüber windliche Mauer war. Denn das Meer der Spinnen war unü berquerbar, das wußte er aus Erzählungen, die er in tainniani schen Dörfern gehört hatte. Danach – das mochten die Götter entscheiden. Während sie warteten, wuchs die Feindschaft gegenüber Etro fast bis zu Handgreiflichkeiten. Mythor verstand ihren Grimm. Etro hatte entschieden, in der Stadt zu bleiben. Chur kuuhls Ende und das Ende des Stammes waren sein Werk. Ein einziges Mal hatte er falsch entschieden, und es hatte das Ende bedeutet. Erst als Mythor ihnen klarmachte, wie oft Etro wohl richtig entschieden hatte und wie gut es dem Stamm fast immer unter seiner Führerschaft ergangen war, ließen sie beschämt von ihm ab. Etro dankte Mythor. Der alte Mann strömte etwas Unbeug sames aus, was Mythor bewunderte. »Du brauchst mir nicht zu danken. Es sind nur der Schmerz und das überstandene Entsetzen, was sie blind macht und au ßer sich geraten läßt.« »Du denkst, daß ich falsch entschieden habe, nicht wahr?« »Wer von uns weiß, was falsch und richtig ist?« erwiderte Mythor. »Die Zukunft wird es weisen. Was ich denke, ist nicht wichtig. Ich bin kein Marn.« »Nein, du bist kein Marn.« Der alte Mann nickte zustim mend. Er sah Mythor an. »Es gab eine Zeit, da glaubten wir, du seist mehr als ein Marn… mehr als nur ein Mensch…« Er
seufzte. »Aber die Zeichen schwanden.« »Du meinst die Märchen, die man sich über mich erzählte, als ich ein kleiner Junge war, mit denen Vater und Mutter zu erklären suchten, weshalb meine Haut anders war und mein Wesen?« »Es sind keine Märchen, Mythor. Du bist nicht in unserer Mitte geboren worden, und deine Eltern haben auch wir nicht gekannt. Selbst Curos und Entrinna nicht.« »So weiß wirklich niemand, woher ich stamme?« seufzte Mythor. »Die Wahrheit kennen nur wenige. Vielleicht bin ich der ein zige von uns hier, der sie noch weiß. Du sollst sie jetzt erfah ren, denn in unsicheren Zeiten wird die Wahrheit oft begra ben.« Mythor nickte nur stumm. »Du bist ein Findelkind. Curos fand dich, als die Yarls durch Salamos wanderten. Es war so, als habe dich das Schicksal auf unseren Pfad gelegt. Churkuuhl wäre über dich hinwegge wandert, wenn Curos und Entrinna dich nicht aufgehoben hätten. Quyl mag wissen, wie du dort hingekommen bist. Wir sahen niemanden weit und breit, obwohl die Steppe eben war und man bis zum fernen Horizont blicken konnte.« Er lächelte bei der Erinnerung. »Du mochtest ebensogut vom Himmel gefallen sein, und das war es auch, was Entrinna behauptete. Und sie hatte nicht ganz unrecht damit, denn es lag ein selt sames Licht auf dir, das wir uns nicht erklären konnten, bis der alte Korin, der schon lange tot ist, von jenen Legenden sprach, von einem strahlenumkränzten Helden des Lichts mit Namen Mythoron, der die Dunkelheit besiegte und die Men schen von aller Düsternis befreite. Deshalb nannten wir dich Mythor.« »Wie alt war ich?« »Vier oder fünf Sommer wohl.«
»Und das Licht? Wie war es?« Der Alte zuckte die Achseln und dachte nach. Schließlich sagte er: »So als ob du in einem Sonnenstrahl stündest, denke ich. Ja, das trifft es am besten…« »Vielleicht stand ich nur in einem Sonnenstrahl.« Etro schüttelte den Kopf. »Es währte viele Tage und Nächte, und es erschien uns allen wahrhaftig wie ein Zeichen der Göt ter. Aber es schwand nach und nach. Nur deine Haut blieb so hell.« »Was hat es mit dem Bitterwolf auf sich? Gibt es ihn über haupt? Oder ist er auch nur eine Legende?« »Legenden sind nur uralte Erfahrungen, mein Junge. Du solltest sie nicht geringschätzen.« »Das lag mir fern.« »Ja, er ist eine Legende. Kein Marn hat je den Bitterwolf ge sehen.« »Und gehört?« »Sein Heulen ist sehr selten zu hören. Es kündigt große Er eignisse an. Dinge, die für die Welt von Bedeutung sind.« »Wie ich?« unterbrach ihn Mythor lächelnd. Als Etro keine Antwort gab, fragte Mythor: »Wenn keiner ihn je gesehen hat und kaum je einer gehört, woher wollt ihr wissen, daß es der Bitterwolf war, als ihr mich gefunden habt?« »Es gibt Dinge, die weiß man, ohne daß man vorher Kennt nis davon hat. Das ist eine Eigenschaft des unsterblichen Geis tes in uns.« Mythor nickte. »Aber wo blieb das große Ereignis für die Welt?« Er erwartete keine Antwort. »Ich war zu jung, um mich deutlich an Salamos zu erinnern. Wie sind die Menschen dort? Wie ich?« »Wenn du die Haut meinst, ja. Nicht vom Wesen. Du bist kein Marn. Und ebensowenig bist du ein Salamiter. Es ist, als
hättest du von vielen Völkern etwas. Verzeih die Phantasie eines alten Mannes!« Mythor nickte. Er war immer noch auf eigenartige Weise be rührt von der Tatsache, daß er ein Findelkind war und nie mand seine Eltern gekannt hatte. Er lächelte innerlich über die naive Gläubigkeit der Marn, und er versuchte sich vorzustel len, welch ein Wunderding er wohl für sie gewesen sein muß te. Er hatte nie daran gezweifelt, daß sie ihm das wundersame Licht und den Bitterwolf angedichtet hatten. Nun verstand er es auch ein wenig besser. Früher hatte er nur erfahren, daß seine Eltern Fremde gewesen waren und daß sie kurz nach seiner Geburt starben. Aber irgendwie waren auch Etros Er klärungen nicht befriedigend. Im Gegenteil. Sie stimmten ihn nachdenklicher als alles zuvor. Doch jetzt war nicht die Zeit zu grübeln. Jetzt war nicht die Zeit, an die Vergangenheit zu den ken. Auch nicht an die Zukunft, an Rückkehr und andere große Pläne. Jetzt zählte nur die Gegenwart. Dieser eine Tag. Er würde über Leben und Tod entscheiden. Er war ziemlich sicher, daß ein Kampf mit den Tainnianern bevorstand. Er versuchte sich nicht vorzustellen, welchen Ausgang er nehmen würde. Diese kleine erschöpfte Schar der Marn, so verbissen sie kämpfen würde, hatte keine Chance. Ihre Chance lag in der Dunkelheit und in der Flucht. Gleichzeitig empfand er ein seltsames Gefühl der Freiheit, als habe der Untergang viele Bande gesprengt, die ihn fessel ten. Es war eine kostbare Freiheit, weil sie aus so viel Grauen erwachsen war. Er würde sie verteidigen mit allen Kräften, allezeit. In diese melancholische Aufbruchstimmung platzte einer der Marn, die er als Wache aufgestellt hatte: »Mythor, ich glaube, sie sammeln sich zum Angriff!« Mythor nickte nur. Sie griffen alle zu den Waffen, eisenge
spickten Keulen, langen Spießen und unterarmlangen ge krümmten Messern, die sie wie Schwerter zum Hauen ver wendeten, und natürlich Äxten, obwohl diese für sie mehr Werkzeuge als Waffen waren. Nur wenige hatten Bogen und gefüllte Köcher zu retten vermocht. Aber sie würden gegen die kettenhemdgeschützten Tainnianer ohnehin nicht viel aus richten. »Der Schutz der Felsen gleicht zu einem guten Teil aus, daß sie uns an Zahl überlegen sind«, sagte Mythor. »Und wir sind ihnen überlegen, weil wir gewohnt sind, aus der Deckung zu kämpfen.« Sie sahen ihn hoffnungsvoll an. »Diese Felsen sind wie Churkuuhl.« »Ja«, stimmte Etro zu. »Es ist wie immer. Wir bleiben. Wo wir auch sind, wird es Churkuuhl für uns geben. Wenn wir es halten, werden wir leben!« Sie nickten düster. Und Mythor wußte, er würde wieder aus Churkuuhl fliehen müssen. Taka kam zu ihm. Wie er hatte sie eines der langen Messer in ihren Gürtel geschoben. Trauer und Zuversicht standen in ihren Augen. Trauer um ihre verlorene Familie. Nur ihr Bruder hatte überlebt. Und Zuversicht, nicht nur für diesen Kampf, sondern für das Leben danach. Nein, es würde keine Flucht aus diesem Churkuuhl sein. Nur eine Abreise und nicht allein. Er fühlte sie plötzlich selbst, diese Zuversicht. Während sie dem Posten folgten bis zu dem Punkt, an dem sie den Feind beobachten konnten, meinte einer sarkastisch: »Ja, das ist wie Churkuuhl. Es gibt keinen Rückzug!« Er hatte recht. Hinter ihnen lag das Meer der Spinnen. Fast jeder andere Tod war diesem vorzuziehen. Als sie die Stelle erreichten, von der aus der Posten die Tain nianer beobachtet hatte, empfing sie ein zweiter Beobachter
mit der hastig geflüsterten Nachricht, daß die Tainnianer die Angriffsvorbereitungen abgebrochen hatten, da neue Männer angekommen waren. »Wie viele?« fragte Mythor. »Nur ein halbes Dutzend, soweit wir sie sehen konnten. Aber es könnte eine Vorhut sein.« »Es muß immerhin wichtiger Besuch sein, sonst hätten sie sich nicht stören lassen«, meinte der andere. Eine Weile verstrich, und nichts geschah. Sie konnten von ih rem Standort aus zwar nicht das Lager beobachten, wohl aber den breiten Weg zwischen den Felsen, auf dem die Yarls ge kommen waren, und dahinter die Beobachtungsposten der Tainnianer. Gegen Mittag brachte ein dritter Ausguck die Nachricht, daß eine größere Gruppe Reiter auf den Spuren der Yarls geritten komme. Während sie beobachteten, wurde die Gruppe von den Tainnianern abgefangen und in ihr Lager geführt. »Wenigstens vierzig oder fünfzig Krieger«, murmelte einer der Beobachter neben Mythor. Es klang hoffnungslos. »Wir sollten fliehen«, meinte ein zweiter. »Wir Marn waren nie feige. Aber das ist der sichere Tod.« »Die Flucht ebenfalls. Sie haben Pferde. Sie können uns je derzeit einholen und stellen, wo es ihnen gefällt. Wir kennen das Gelände nicht.« »Wir sollten unser Leben wenigstens so teuer wie möglich verkaufen.« »Wenn es aus ist, kümmert es keinen mehr, wie teuer es ver kauft wurde, am wenigsten den Toten.« »Was schlägst du also vor?« mischte sich Mythor in das Ge spräch. »Daß wir zu ihnen gehen und mit ihnen reden.« »Ein ungewöhnlicher Gedanke«, warf einer ein, bevor My thor antworten konnte. »Was sollen wir ihnen sagen, das sie nicht schon wüßten?«
»Daß wir nichts mehr besitzen, was sie uns wegnehmen könnten, außer der Kraft unserer Arme und dem Stolz in un seren Herzen, und daß viele von ihnen am Leben blieben, um größere Dinge zu vollbringen, wenn sie uns in Frieden ziehen ließen.« Stille folgte den Worten, die jeden berührten. Schließlich sag te Mythor: »Den Versuch ist es wert, aber ich glaube nicht an einen Erfolg. Sie müssen wissen, daß wir nur das nackte Leben gerettet haben. Wenn sie uns dennoch angreifen, können sie es nur darauf abgesehen haben, uns zu töten.« »Aber weshalb nur? Töten sie nur um des Tötens willen? Wir haben ihnen keinen Anlaß gegeben!« »Vielleicht«, entgegnete Mythor. »Vielleicht ist es nur, weil wir Fremde sind, weil wir anders sind. Weil wir eine dunkle Haut haben und sie alles Dunkle fürchten. Weil wir durch ihr Land gezogen sind, ohne zu fragen. Für sie mag es tausend Gründe geben, die wir nicht kennen.« »Vielleicht erfährt man sie, wenn man mit ihnen redet.« Mythor nickte zustimmend. »Gut, Atran, ich rede mit ih nen.« Atran schüttelte den Kopf. »Es ist nicht gut, wenn du es tust. Es ist gefährlich. Und wer sollte uns führen, wenn dir…« »Aber nur so kann ich euch führen, wenn ich die Aufgaben übernehme, für die ich am besten geeignet bin«, widersprach Mythor entschieden. »Ich verstehe die Tainnianer am besten, daher…« »Was Atran meint«, sagte der Erste Bürger des versunkenen Churkuuhl, der in Begleitung der übrigen drei Dutzend männ lichen Marn herangekommen war, »ist, daß sie deine Erfah rung brauchen werden, um in diesem fremden Land zu über leben, nicht unbedingt deinen Mut, Mythor. Und was den Dia lekt dieser tainnianischen Barbaren betrifft, nun, ich denke, die Verständigungsmöglichkeiten werden ausreichen, um zu klä
ren, daß wir Frieden wollen. Ich werde daher gehen. Sie wer den einen alten Mann, der ohne Waffen kommt, nicht einfach erschlagen. Und wenn sie es tun, so ist nicht viel Kraft vergeu det.« »Ich werde dich begleiten, Etro«, sagte Atran rasch. Mythor schüttelte den Kopf. »Ich werde ihn begleiten.« »Aber…« »Bin ich euer Führer?« fragte Mythor. »So will ich die Macht, selbst zu entscheiden.« »Du hast sie, Mythor, doch…« »Wenn sie uns töten«, unterbrach Etro, »werden die Marn ohne Führer sein.« »Wenn sie uns töten«, sagte Mythor, »werden die Marn kei nen Führer mehr brauchen.« Damit war es entschieden. Mythor schärfte den Marn ein, unter keinen Umständen die Deckung der Felsen zu verlassen, um ihnen im Fall einer Gefahr zu Hilfe zu eilen. Vielmehr soll ten sie die Tainnianer zwingen, zu ihnen zu kommen, und sie sollten sie tiefer zwischen die Klippen locken, wo die Frauen und Kinder sie von den Felsen aus mit Steinen erschlagen konnten.
Bevor Mythor und Etro aufbrachen, erschienen die Tainnianer jenseits des Plateaus, auf dem noch vereinzelt Trümmer Chur kuuhls lagen. Nicht alle waren beritten. Sie hatten Schwerter und Spieße in den Fäusten, viele auch kleine runde Schilde. »Sie kommen!« rief Atran aufgeregt. Aber es gab keinen unter den Marn, der sie nicht bereits ge sehen hatte. Und jedem wurde bei ihrem Anblick klar, wie gering ihre eigene Zahl war und daß es der Tod war, der auf sie zukam. »Rasch!« rief Mythor. »Rasch, bevor sie uns keine Zeit mehr
lassen für Verhandlungen!« Er trat aus der Deckung und warf sein Messer fort, so daß es für den Gegner deutlich sichtbar sein mußte. Etro folgte ihm, ohne zu zögern. Sie schritten mit halb erhobenen leeren Händen über die E bene. Die Tainnianer hielten zögernd nach und nach an. Sie warteten offenbar ab, um herauszufinden, was die beiden vor hatten. Vielleicht fürchteten sie auch eine Falle. Mythor und Etro blieben in der Mitte der Ebene stehen, winkten mit leeren Händen und warteten. Ein halbes Dutzend Reiter drängten sich an der Spitze der Tainnianer zusammen. Sie berieten eine Weile. Dann kamen vier langsam herangeritten, während sich hinter ihnen die breit ausgefächerte Schar noch ein wenig näher schob. Ein Dutzend Krieger der vordersten Reihe hielten ihre Bogen be reit, mit Pfeilen an den Sehnen. »Sie gehen kein Risiko ein«, murmelte Etro. »Wir im Grunde auch nicht«, stellte Mythor fest. »Sie haben ebensoviel zu verlieren wie wir, wenn wir jeder nur einen Gegner mit in den Tod nehmen.« »Du irrst, Junge«, sagte Etro schwer. »Wir haben viel mehr zu verlieren als diese kriegslüsternen Narren. Denn wir lieben das Leben.« »Ja«, sagte Mythor schwer. »Das tun wir. Aber zum Leben gehört auch das.« Er deutete auf die heranpreschenden Reiter. »Du meinst den Kampf?« Mythor gab keine Antwort. Die Reiter wirbelten um sie her um und verhielten mühsam auf dem Geröll ihre schnauben den Pferde. Grimmige blond- und rotbärtige Gesichter starrten sie an, halb verdeckt von eisernen Helmen. Sie hatten armlan ge, gerade, zweischneidige Schwerter in den Fäusten. Und ei ner trug sogar eiserne Handschuhe. Mythor sah nun, wie wohlgerüstet diese Männer waren, mit
Kettenhemden und Beinschienen. Er dachte an ihre eigene Ausrüstung, an die ledernen Wämser und Panzer, die diesen Klingen nicht lange widerstehen würden. Er sah, wie schwer es für ihre kurzen krummen Messer und ihre Keulen sein würde, solch einen Gegner zu erschlagen, wenn sie im Hand gemenge aneinandergerieten. Nur wenige würden in der Lage sein, einen Gegner mit sich in den Tod zu nehmen. »He, der eine sieht anders aus«, sagte der Mann mit den ei sernen Handschuhen zu seinen Gefährten. Mythor, der schon ein wenig Übung mit der tainnianischen Art zu sprechen hatte, verstand ihn. Er sah, wie Etro einen Augenblick auf die Stimme lauschte und nickte. »Ob sie verstehen, was ich rede?« fuhr der Reiter fort. »Wir verstehen«, sagte Mythor. Der Rotbärtige wandte sich an seine Begleiter: »Hat einer von euch das verstanden?« Bevor einer antworten konnte, wiederholte Mythor langsam: »Wir verstehen euch sehr gut.« Der Rotbärtige grinste. »Drollige Art zu reden, was sagt ihr?« Seine Begleiter lachten. »Vielleicht sollten wir einen am Leben lassen. Wir könnten eine Menge Spaß mit ihm haben.« »Weshalb wollt ihr uns töten?« fragte Etro langsam und be tont. Der Rotbart ignorierte die Frage. »Wer seid ihr?« »Der Stamm der Marn«, antwortete Etro. »Wir kommen aus dem Süden.« Der Rotbart hing den Worten nach, aber er schien sie zu ver stehen, denn er nickte und sagte kalt: »Ihr hättet dort bleiben sollen.« »Es war nicht unser Wille, hierherzuziehen und hier solch ein Ende zu finden.« Ruhig deutete Etro auf die Trümmer von Churkuuhl und die Klippen. »Wir haben es gesehen. Es war Zauberei und Dämonenwerk.
Die Hälfte unserer Pferde raste über die Klippen wie beses sen.« Diesmal hatte Etro Schwierigkeiten, den raschen, heftigen Worten zu folgen. »Das bedauern wir«, sagte Mythor deshalb. »Und wäre nicht unser eigener Verlust so vollkommen, daß uns nichts blieb als das Leben, würden wir die Schuld begleichen.« »Das werdet ihr!« sagte der Rotbart grimmig. »Ihr werdet sie mit Blut begleichen wie alle schwarzhäutigen Schattenanbeter! Bei Erain und God! Es ist ein heiliger Krieg, den wir führen, gegen alle Dämonenbeschwörer, ob es nun Caer oder andere Stämme sind. Ihr Blut wird die Erde Tainnias tränken! Ihre Gebeine werden…« »Daß unsere Haut dunkel ist, bedeutet nicht, daß unsere Herzen es sind«, unterbrach ihn Etro ruhig. »Es ist die Sonne, das Licht, das sie dunkel brannte.« »Still, alter Narr!« fuhr der Rotbart ihn wütend an. »Aber versteht ihr denn nicht«, fuhr Etro fast flehend fort, »daß auch wir die Dunkelheit fürchten… daß auch wir nur hier sind, weil wir vor den Mächten der Schatten flohen seit langer Zeit?« »Ich bin Thorwil aus Callowy«, brüllte der Rotbart drohend, »Fürst von Arwyns Gnaden! Noch nie hat jemand in meiner Gegenwart gesprochen, wenn ich zu schweigen befahl!« »So müssen es Tote gewesen sein, denen du befohlen hast«, erwiderte Etro. »Denn Lebende können die Wahrheit nicht verschweigen, auch wenn sie nicht gehört werden will.« Thorwil starrte ihn an. Selbst seine Begleiter waren ein wenig blaß geworden. »Wahrlich, die werden schnell zu Toten, denen ich zu schweigen befehle, Alter!« Er beugte sich vor und schwang die Klinge. Etro wich stolpernd zurück. Mythor, auf den keiner der
Männer geachtet hatte, während Etro sprach, stieß ihn zur Sei te und erreichte mit einem Sprung das Pferd des Fürsten. Er bekam die herabsausende Klinge am Griff zu fassen und ent wand sie den eisernen Fingern mit einer ruckartigen Drehung, die Thorwil aus dem Sattel riß. Mit der gleichen Drehung brachte er das Schwert mit beiden Händen hoch und wieder herab, bevor einer der Reiter ihm nahe kam. Die Klinge traf Thorwil an der Schulter, und so groß war die Wucht, daß sie durch Umhang und Kettenhemd drang und tief ins Fleisch fuhr. Der Fürst wälzte sich schreiend herum. Die Reiter hieben ih ren Pferden die Fersen in die Flanken und beugten sich mit grimmigen Gesichtern vor, die Klingen zum Hieb erhoben. Aber sie behinderten einander, und Mythor ließ ihnen keinen Augenblick für gezieltes Handeln. Das gerade Schwert war eine gute Waffe. Es hatte den Hauptschlagpunkt weiter vorne als die krumme Klinge. Das gab ihm eine größere Reichweite. Andererseits schnitt es nicht. Alle Kraft mußte im Hieb selbst liegen. Aber sie vermochte noch etwas, wie ihm gleich darauf bewußt wurde: Sie vermochte aus völlig ungewohnten Stoß richtungen zu stechen und mit tödlicher Kraft einzudringen. So wurde aus einer abwehrenden Aufwärtsbewegung von der Seite ein tiefer Stich zwischen die Rippen eines der Reiter. Der sank mit erstauntem Gesicht aus dem Sattel und bekam keine Luft mehr für einen Schrei, doch Mythor verlor die Klin ge fast aus den Händen. Mit einem gewaltigen Ruck riß er sie aus dem sterbenden Mann und taumelte zurück. Diese ungewollte Bewegung rettete ihm das Leben, denn die anderen beiden waren heran und hieben auf ihn ein von ihren schnaubenden, tänzelnden Pferden. Der eine traf nur die fla che Klinge, die laut klirrte, aber nicht brach. Das Schwert des zweiten streifte seinen linken Arm, daß sein ledernes Wams dunkelrot von Blut wurde und Schmerz ihn fast lähmte.
Aber es blieb keine Zeit, auf Wunden oder Schmerz zu ach ten. Mit grimmiger Entschlossenheit stürmten die beiden auf ihn ein, während der Fürst stöhnend versuchte, auf die Beine zu kommen und seinen Dolch zu ziehen, jedoch feststellen mußte, daß Etro ihm zuvorgekommen war, den Dolch aus sei nem Gürtel gerissen hatte und außerhalb seiner Reichweite gesprungen war. Verdammt flink für einen alten Mann! Er sank zurück und kämpfte gegen den Schmerz in seiner Schulter an. Er sah den dunkelhäutigen Teufel wie einen Dä mon zwischen zwei seiner Männer springen und gleich darauf einen aus dem Sattel stürzen und still liegen. Und aus den Au genwinkeln sah er das Gesicht Gilways, blutüberströmt und leblos. Ihr Götter! Warum ließen sie nicht von ihm ab und lie ßen die Bogenschützen die Arbeit aus sicherer Entfernung tun? Der letzte Gegner ließ von Mythor ab, als habe er die Gedan ken seines Fürsten vernommen. Einen Augenblick lang schien es, als wollte er seinem Pferd die Fersen geben und fliehen. Dann sah er seinen Fürsten am Boden liegen. Mythor stand heftig atmend mit halb erhobener Klinge vor ihm. Der Reiter trieb plötzlich sein Pferd auf ihn zu und drängte ihn von Thorwil weg. Mythor hatte zu tun, den heftigen Schwerthieben auszuweichen. Es widerstrebte ihm, das pa nisch aufgeregte Pferd zu töten, und er verachtete den Mann dafür, daß er es wie einen Schild vor sich her trieb. Bevor eine Chance kam, ließ der Reiter von ihm ab, riß das Pferd herum, daß es schmerzvoll aufwieherte, und raste zu Thorwil zurück. Er war ein guter Reiter. Als er Thorwil erreichte, beugte er sich tief hinab aus dem Sattel und ergriff den Fürsten, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht aufrichtete und ihm entgegenstol perte, am Arm. Mythor hastete hinterher. Wenn der Fürst entkam, war alles
verloren. Auch Etro ahnte es, denn er warf sich in den Weg. Einen Augenblick lang sah es so aus, als werde der Griff des Reiters brechen und Thorwil fallen. Dann schwanden die Kräfte des alten Etro. Seine Hände ließen los. Er geriet unter die eisenver stärkten Schuhe des Fürsten, der verzweifelt nach ihm trat. Mit unerwarteter Behendigkeit kam er wieder auf die Beine, griff taumelnd an seinen Gürtel. Dann hatte er den Dolch des Fürsten in der Faust und holte weit aus. Mythor war stehengeblieben, als er keine Chance mehr sah, die Fliehenden zu erreichen. Keuchend sah er Etro den Dolch werfen und wußte, daß es zu weit war, selbst für den Wurf eines kräftigeren Mannes, als Etro es war. Aber der Reiter hatte angehalten, um dem Fürsten das Auf steigen auf das Pferd zu ermöglichen. Der Dolch traf ihn. Seine Wucht ließ ihn vorwärts kippen und fast den Halt verlieren. Es war nicht zu erkennen, wo er getroffen war, doch mußte es schwer sein, denn er blieb vornübergebeugt sitzen. Das Pferd trottete vorwärts und schleifte den Fürsten, der den Aufstieg nicht geschafft hatte, aber sich verzweifelt festhielt, über den steinigen Grund. Dies alles war sehr rasch geschehen, und die Tainnianer, die zuerst ratlos zugesehen hatten und nicht einzugreifen wagten, schwärmten nun über die Ebene. »Zurück!« keuchte Etro. »Rasch! Laß dich nicht von mir auf halten! Die Bogenschützen!« Er hätte es nicht zu sagen brauchen. Ringsum klirrten die ei sernen Pfeilspitzen auf die Felsen. Ein gefiederter Schaft streif te Mythors Hals. Sie wirbelten herum und rannten zurück in die Deckung, wo ihnen die Gefährten entgegenblickten und sie zu größerer Eile anspornten. Als Etro stürzte, zog ihn Mythor trotz seines Pro tests hoch und trug und zerrte ihn halb.
Als sie einen erneuten Pfeilhagel heil überstanden, keuchte Etro: »Quyls Hand ist über uns, wahrlich.« Danach antworteten die wenigen Bogen der Marn, und daß zwei Tainnianer zusammenbrachen, bremste ihren Vormarsch ein wenig, so daß Mythor und Etro Zeit genug blieb, in den Schutz der Felsen zu gelangen. Wütendes Schreien gellte hinter ihnen her, das die Marn trotz ihrer düsteren Stimmung ein wenig mit Triumph erfüllte. Eine kurze Pause folgte, in der die Tainnianer offenbar nicht wußten, ob sie vorwärts oder zurückgehen sollten, bis eine wütende Stimme, die Thorwils, sie antrieb: »Holt sie heraus! Bringt mir ihre schwarzen Kadaver, oder zu den Schatten mit euch!« Als sie vorwärts liefen, schossen die marnischen Bogen schützen erneut. Zu viert waren sie, und ein gutes Dutzend Pfeile war ihr ganzer Vorrat. Drei Pfeile trafen, aber nur zwei Männer fielen. Einige stol perten über die Fallenden. »Sie sind nicht alle so gut geschützt, wie es den Anschein hat«, stellte Mythor nicht ohne Befriedigung fest. Die Schützen kamen zu einem weiteren Schuß. Nur einer fiel diesmal. »Zurück!« befahl Mythor. »Schießt von hinten, solange ihr Pfeile habt! Und ihr versperrt die engen Durchgänge und ver teidigt jeden Fußbreit Boden, als ob es Churkuuhl wäre!« Für mehr Reden blieb keine Zeit. Überall zwischen den Fel sen schwärmten plötzlich Krieger, und die Marn stellten sich mit todesmutiger Entschlossenheit dem Feind. Auch für Furcht war keine Zeit mehr, nur noch für die grimmigen und verzweifelten Anstrengungen, zu töten. Die erste Woge der Tainnianer brach sich an den Felsen. So kam die zweite ins Stocken. Die Marn frohlockten, als sie den Ansturm aufhielten. Ja,
dies war ihre Art zu kämpfen, aus der Deckung heraus! So hatten sie es viele Generationen lang getan. Es war wie in Churkuuhl. Ein mörderisches Ringen um jeden Fußbreit Boden begann. Und wenn die Götter zusahen an diesem Nachmittag, konnte ihnen nicht entgehen, daß sie alle über sich hinauswuchsen, die Feigen wie die Tapferen, und viele waren es, die die Felsen mit ihrem Blut tränkten. Vielleicht hätten die Marn eine Chance gehabt, wenn sie nur ein paar mehr gewesen wären. Aber als die vordersten Reihen der Männer fielen und die tainnianischen Krieger über die To ten hinwegtrampelten, sprangen die Frauen in die Bresche. So tapfer sie auch waren und so gewandt mit ihren Messern, so reichte ihre Kraft doch nicht aus, die gepanzerten tainniani schen Krieger aufzuhalten. Sie wichen allein unter der Wucht des Ansturms zurück. Frauen und Kinder fielen unter den Schwertern der Tainnia ner, die mit kalter Entschlossenheit ausführten, was ihr Fürst befohlen hatte: Keine Gefangenen! Aber genug von ihnen hat ten auch erfahren, daß diese dunkelhäutigen Frauen gefährli che Gegner waren. Wenn ihre Kameraden zögerten, sie zu er schlagen, sie zögerten nicht. Sie fochten wie die Teufel, und ihre krummen Klingen brachten raschen Tod für den Zögern den.
Nyala von Elvinon beobachtete vom Rand des Lagers aus die Geschehnisse, mit Felzt und den Wachen an ihrer Seite. Zu sehen war nicht viel, aber die Geräusche des Kampfes schall ten deutlich genug über die Ebene. Das Heulen und Schreien ließ sie frösteln. »Es klingt in der Tat, als ob sie Dämonen aus der Schatten welt wären«, murmelte sie.
Zohmer Felzt verzog das Gesicht und bemerkte sarkastisch: »Es sind Thorwils Männer, die so heulen, vermutlich, um sich Mut zu machen, Prinzessin. Nicht so sehr vor den Fremden, denn ich denke nicht, daß von den armen Teufeln genug am Leben geblieben sind, um wirklich eine Gefahr zu sein, son dern vor der Wut ihrer fürstlichen Herrschaft, die nur mit Mühe und nicht gerade würdevoll mit dem Leben davonge kommen ist.« »Kein Grund zur Eifersucht, mein guter Zohmer. Nyala von Elvinon verliert ihr Herz nicht an einen wie ihn. Wenn es mir auch gefällt, daß ein Haudegen wie er in meiner Gegenwart seine Manieren entdeckt.« Zohmer Felzts Gesicht hatte sich bei ihren Worten ein wenig gerötet. »Du mußt meine Eifersucht verzeihen, Nyala. Aber da dich keine leidenschaftlichen Gefühle an mich binden, könnte es nur um so schneller geschehen, dich an einen anderen zu verlieren.« »Genug!« sagte sie scharf. »Du weißt, ich schätze deine bei ßenden Reden, aber nicht, wenn ich das Thema bin. Verzeihe ich deine Eifersucht nicht immer großmütig? In meiner Stel lung braucht eine Frau einen Begleiter, der jung und attraktiv ist und nicht über seine Skrupel stolpert.« »Und der sie anbetet?« fragte er sarkastisch. Sie nickte lächelnd. »Kämpft man nicht um das, was man begehrt?« fragte er ein wenig bitter. »Hindere ich dich je daran, mein Hauptmann? Verspotte ich je deine Gefühle? Daß ich sie nicht erwidere, mußt du versu chen, mit soviel Großmut zu ertragen wie ich deine Eifersucht. Sonst könnte ich deiner nicht mehr sicher sein. Ich müßte be ginnen, dir zu mißtrauen…« »Nein«, sagte er rasch. »Von Herzen und von Stand, Prinzes sin, könntest du keinen Treueren finden.«
»Gut, mein Freund. Denn auf eine Weise, die du nicht be greifen würdest, wäre es sehr einsam ohne dich.« Bevor er etwas erwidern konnte, brach eine kleine Gruppe der Fremden zwischen den Felsen hervor, dicht gefolgt von Thorwils Männern. Einige der Dunkelhäutigen stürzten, und Thorwils Krieger hieben sie nieder. Einige waren klein und zierlich. Ihr Schreien ließ Nyala zusammenzucken. »Großer God! Es sind Frauen und Kinder. Sie erschlagen sie wie Vieh! Zohmer, laß uns dem Einhalt gebieten!« »Willst du dich mit Thorwil anlegen, Prinzessin?« »Ja, denn er tut es, weil er sie fürchtet.« »Er wußte nicht gerade Erfreuliches von den Schwarzen zu berichten«, stimmte Felzt zu. »Er fürchtet sie. Und ich hasse Feigheit. Komm!« Felzt winkte den fünf Männern seiner Garde. Dann folgten sie Nyala, die in halsbrecherischem Tempo zwischen den Fel sen hinabritt, auf die Gruppe der Kämpfenden zu. Die Schwarzen waren umringt von Thorwils und ihren Kriegern. Doch als sie mit ihren Gardekriegern den Kampfplatz erreich te, löste sich die Gruppe bereits auf. Nur noch Tainnianer wa ren übrig. Die dunkelhäutigen Toten waren junge Frauen und Kinder. Die Männer machten Nyala Platz. »Es hieß, keine Gefange nen«, sagte einer unsicher. Nyala starrte mit zusammengepreßten Lippen auf die Toten. »Thorwils Befehl?« fragte sie. Es war mehr eine Feststellung. »Ja, Herrin.« Kampflärm näherte sich ihnen. Die Männer griffen erneut zu ihren Waffen. »Wartet!« befahl Nyala. »Es ist genug getötet worden.« »Aber Herrin. Das mögen unsere Männer in Bedrängnis sein«, wandte einer ein. »In Bedrängnis durch Frauen und Kinder?« fragte sie sarkas
tisch. Sie wartete keine Antwort ab, sondern trieb ihren Rappen zwischen die Felsen, woher der Kampflärm drang. Die Män ner folgten ihr zögernd. Aber sie wußten auch, daß der Fürst der Tochter des Herzogs von Elvinon Gehorsam schuldete. Und ihre eigenen Leute empfanden ohnehin keine Loyalität für Thorwil. Vier oder fünf Männer waren es, die zusammengedrängt grimmigen Widerstand leisteten, obgleich ihre Lage aussichts los war. Es war in dem Gewühl nicht genau zu erkennen. Doch zwei fielen unter den Schwerthieben der Tainnianer, als Nyala hinzukam. »Hört auf!« rief sie. »Laßt sie leben!« Zwei von Thorwils Männern sanken nieder und eine dritte der schwarzen Gestalten, ehe ihre Stimme in die kampftrun kenen Gehirne der Krieger drang und sie widerwillig zurück wichen, um Nyala Platz zu machen. Zwei Dutzend Tote, dun kelhäutige und tainnianische, lagen wie ein Wall vor den Ü berlebenden; lediglich zwei Männern, die keuchend und halb zusammengesunken vor Erschöpfung gegen die Felsen gepreßt standen. Einer sank zu Boden, und ein tainnianischer Schild entfiel seinen Händen. Es sah aus, als liege er im Ster ben. Der andere hielt ein tainnianisches Schwert – es war Thorwils kostbare Klinge – in beiden Fäusten und stierte mit blutverkrustetem Gesicht und blutunterlaufenen Augen in die Runde. Er wankte, zu kraftlos, die Chance zu nützen und eini ge der langsam zurückweichenden Gegner niederzustrecken. Nyala wiederholte: »Laßt sie leben!« Sie blickte die keuchen den, langsam zu ihren Sinnen kommenden Männer fest an, obwohl ihre Seele schreien wollte vor all dem Grauen und Tod, den sie sah. »Oder denkt einer, daß noch nicht genug ge tötet worden ist?« Als keiner antwortete, fuhr sie fort: »Gut. Nehmt sie gefan
gen! Wir bringen sie nach Elvinon, die Neugier meines Vaters zu stillen.« »Wie du befiehlst, Nyala«, sagte eine Stimme kalt hinter ihr. Es war Fürst Thorwils Stimme. Er war auf seinem Pferd he rangekommen. Sein Gesicht war bleich von Schmerz, und sei ne Schulter, obwohl verbunden, blutete. Sein linker Arm hing schlaff herab. »Aber sei gewarnt! Bring diese schwarzen Teufel nach Elvi non, und du öffnest ihren Schattenkräften Tür und Tor!« »Sie sind keine Teufel, Thorwil. Macht dich der Schmerz so blind, daß du das nicht sehen kannst? Oder ist es nur der Grimm, daß einer dich schlug? War er es?« Sie deutete auf die einsame schwankende Gestalt im Halbkreis der Tainnianer. »Ist das nicht deine Klinge, die er hält?« »Es mag sein«, zischte Thorwil mit schmerzverzerrter Miene. »Dieser verdammte Teufel!« »Er ist kein Teufel«, unterbrach sie ihn schroff. »Er hat hel denhaft gekämpft.« »Er hat wie ein Dämon gewütet!« Sie stampfte mit dem Fuß auf und rief heftig: »Wie es auch sei, ich will ihn!« Furchtlos ging sie auf die Gestalt zu, die das Schwert gesenkt hatte und sich schwer darauf stützte. Der Grimm und der Wahnsinn waren aus seinen Augen verschwunden. Nur noch Erschöpfung lag in seinen Zügen. Sie sah, daß er jung war, kaum ein Mann. »Gilt dein Wort auch für Etro und Taka?« krächzte er mit kaum verständlicher Stimme. Sie nickte. »Für alle, die noch leben.« »Hab Dank, wer du auch bist.« »Ich bin…« Sie brach ab. Der Fremde war gegen den Felsen gesunken. Seine Beine gaben nach. Der tainnianische Helm, den er im Kampf einem Toten entrissen hatte, glitt von seinem
Kopf und enthüllte schulterlanges, glattes Haar und eine helle re Haut an Stirn und Wangen. Er sah nicht aus wie die Toten, die sie gesehen hatte. Aber sein Anblick weckte eine andere Erinnerung in ihr, so übermächtig, daß es ihr den Atem ver schlug. »Der Sohn des Kometen!« flüsterte sie. Nur die nahe bei ihr standen, vernahmen es, Zohmer Felzt und ihre Wachen und einige von Thorwils Männern. Sie achtete nicht auf die erstaunten Gesichter. Sie trat zu dem Fremden. Seine Kräfte hatten ihn verlassen. Sie hob seinen Kopf. »Wie heißt du? Sag mir, wie du heißt!« bat sie drängend. Doch er war nicht mehr genug bei Sinnen, ihr zu antworten. »Er heißt Mythor«, sagte einer der Männer, die unentschlos sen herumstanden. Andere hatten begonnen, die Toten zu sammenzutragen und die Verwundeten zu versorgen. »Mythor«, wiederholte sie verwundert. Sie drehte seinen Kopf vorsichtig herum und strich das Haar aus seinem Na cken, was Zohmer Felzt mit düsterer Miene beobachtete, da er instinktiv fühlte, daß dieser junge Krieger Nyala weitaus mehr beschäftigen würde als jeder andere Mann zuvor. Und sie fand, was sie suchte – eine kleine kreisrunde Narbe hinter dem rechten Ohr. Und sie wiederholte mit vor Ehr furcht zitternder Stimme: »Der Sohn des Kometen!« Diesmal hörten es die meisten, und ein verwirrtes Raunen ging durch die Versammelten. »Bringt ihn mir lebend nach Elvinon!« befahl sie und erhob sich. Es war ein drohender Ton in ihrer Stimme. »Und sucht diesen Etro und Taka!« Einer der Männer bückte sich und drehte einen dunklen, leb losen Körper herum, den eine Klinge durchbohrt hatte. Es war eine junge Frau. »Das ist Taka«, sagte der Krieger, während die anderen My thor hochhoben und zum Lager trugen. »Ich hörte, wie er sie
rief. Sie wußte mit diesem Messer umzugehen.« Seine Stimme war nicht ohne Bewunderung. »Sie hatte ein halbes Dutzend unserer Männer niedergemacht, bevor wir an sie heranka men.« Es war einer der Männer aus Elvinon, und er wußte in der Miene seiner Herrin zu lesen, deshalb fügte er hinzu: »Wir haben nicht gegen Weiber gekämpft. Sie waren Krieger wie die Männer.« »Und die Kinder?« »Das frage Thorwils Männer, nicht die deinen, Nyala.« Sie nickte. »Der hier lebt noch!« rief einer. »Scheint ein alter Mann zu sein.« Er drehte die stöhnende Gestalt herum. Nyala beugte sich hinab. »Bist du Etro?« Der Alte nickte. Er wollte sich hochstemmen, aber er war zu schwach. »Bringt ihn zu dem anderen!« befahl Nyala. »Und sorgt da für, daß sie am Leben bleiben. Ich glaube, daß es wichtig ist… für uns alle.« »Ja, Herrin.« Sie wandte sich um und sah Fürst Thorwil noch immer starr und mit schmerzverzerrtem Gesicht unweit des Schauplatzes auf seinem Pferd sitzen. Sie trat zu ihm. »Wie viele Männer haben wir verloren, Thorwil?« Er gab keine Antwort. »Vier Dutzend… fünf Dutzend… die Hälfte…?« Sie studierte sein Gesicht. »Männer, die mein Vater gebraucht hätte. Die Elvinon so dringend gebraucht hätte. Es steht nicht zum bes ten um Elvinon. Und wenn Elvinon unter dem Ansturm der Caer fällt, dann ist das ganze Herzogtum verloren. Und du hast nichts Besseres zu tun, als mit deinen Männern hier zu verbluten. Wofür?«
Zohmer Felzt berührte das Mädchen unauffällig am Arm, und sie verstand den Wink. Sie sah Thorwils düsteres Gesicht und spürte ebenfalls, daß es besser war, wenn sie Thorwils Grimm nicht neue Nahrung gab. Als sie zum Lager zurückritt, wo man Mythor und Etro eben auf Pferde hob und festband, brachten die Krieger noch immer tote Tainnianer zwischen den Felsen hervor. Sie würden sie weit tragen müssen, bis sie den Wald erreich ten und Scheiterhaufen errichten konnten. Die Männer Nyalas, die den Kampf überlebt hatten – ein wenig mehr als dreißig –, blieben ebenfalls, um dafür zu sor gen, daß ihre Toten bestattet wurden. Mit Felzt und den fünf Wachen machte sie sich sofort auf den Weg nach Elvinon. Bei aller Eile würden sie gut zwei Tage unterwegs sein. Sie bangte um Mythors Leben. Sie war verwirrt, den Sohn des Kometen hier zu finden. Und sie brannte darauf, mit ihm zu sprechen und ihm tausend Fragen zu stellen. Wie Zohmer Felzt darauf brannte, ihr tausend Fragen zu stellen. »Wer ist dieser Mythor, der dich in solche Aufregung versetzt? Woher kennst du ihn? Weshalb nennst du ihn Sohn des Kometen?« Aber sie ließ seine Fragen unbeantwortet. Sie wollte nicht von ihren Hoffnungen sprechen oder von der Legende, bevor sie sich nicht selbst über die verwirrende Wahrheit im klaren war. Oft und lange ruhte ihr Blick auf der reglosen Gestalt My thors und war von einer Art, wie Zohmer Felzt es noch nie an ihr gesehen hatte. Seine Eifersucht wuchs, obwohl er dagegen ankämpfte.
Die Residenz des Herzogs Krude von Elvinon lag auf dem
höchsten Punkt der hügeligen, spärlich bewaldeten Küste. Es war eine klobige, an dandamarische Raubritterzeiten erin nernde Burg, die bisher, wenn die Überlieferungen richtig wa ren, nur einmal erobert wurde, nämlich von den tainniani schen Heeren, zu deren Führern einer von Krudes Vorfahren gehörte. Viel Blut war diese steinernen Mauern hinabgeflos sen, denn Versuche, über ihre Zinnen zu gelangen, hatte es genug gegeben, in jenen Zeiten, als Tainnia dabei war, sich zu festigen, und Dandamarer und Ugalier immer wieder mit Axt und Feuer über die tainnianischen Eroberer kamen. Die Burg hatte einen gewaltigen Turm, von dessen Zinnen aus bei klarem Wetter die jenseitigen Küsten der Straße der Nebel zu sehen waren. Die Mauern waren von solcher Höhe, daß normale Sturmleitern sie kaum bezwingen konnten. Die Erbauer planten die Tore aus Eisen und so gewaltig, daß kein Schmied des Landes sie befestigen konnte. Daraufhin erhielt der Hof eine zweite Mauer und Tore, die so klein und dick waren, daß kein Rammbock sie zu durchdringen vermochte. Und dennoch… Herzog Callawyn hatte keinen Bericht hin terlassen, wie er die Burg von Elvinon bezwungen hatte. Das beunruhigte Herzog Krude nun, wenn er an den bevor stehenden Angriff der Caer dachte. Denn es bedeutete, daß die Erstürmung möglich war. Am Fuß des Schlosses, wo die Mauern steil aus den Wiesen ragten, drängten sich die Häuser der Stadt, viele erbaut aus den Steinen, die für die Burg aus dem Norden herangeschafft worden und dann übriggeblieben waren, viele Bollwerke in sich selbst und miteinander verbunden, daß sie tiefer gelegene Mauern des Schlosses bildeten. Dort, wo die Hügel steil in die Wasser der Straße der Nebel sanken, hinab zur Hafenbucht, lagen die Holzhäuser des lebendigen Elvinon, der Händler und Kaufleute, der Bettler und Diebe, der Soldaten und Dir nen, die Hütten der Seher und weisen Männer, die Schmieden
und Holzwerkstätten, die Quartiere der Spinner, Wirker und Färber – der Atem von Elvinon. Und im Wasser der langgestreckten Bucht schwankten die Kriegsschiffe und Kauffahrer und Fischerboote, geschützt von mächtigen Mauern an der Einfahrt, an denen jedermann Maut bezahlte, was viel zur Prosperität der Stadt beitrug. Herzog Krude war ein geliebter und gehaßter Mann, denn er tat populäre und unpopuläre Dinge. Er prägte das Herzogtum, das sich im Nordosten bis Dandamar, im Osten bis Darain und im Süden bis tief in Tainnias Berge erstreckte, mit seinen Vor stellungen, die waren: Sicherheit und Reichtum für jeden, der gewillt war, dafür zu kämpfen. Warum ihn manche haßten, lag auf der Hand. Seine Steuern waren überaus hoch. Aber viele sahen auch, daß er alles dafür tat, Elvinon zu erhalten. Sein stehendes Heer war das gewal tigste Tainnias, seine Waffen waren die neuesten, die tainnia nische Geister erfanden, und seine Phantasie war die kühnste seiner Zeit. Und dennoch… Die Caer besaßen die Kräfte der Schatten, die niemand ge nau kannte. Die Kräfte von Zauberern und Dämonen. Krude war ein alternder Mann, der auf mehr als sechzig Sommer zurückblickte. Seine Tochter Nyala stammte von sei ner Frau Chalice, die vor drei Jahren verstorben war. Krude liebte Nyala, vor allem, weil sie klug und umsichtig war und einen Sinn für den Wert der Dinge besaß. Weil er spürte, daß sie für die Regentschaft durchaus geeignet war, auch wenn er sie manchmal für verrückt hielt. Aber er spürte, daß die Welt ihren Lauf nahm und daß neue Geister sich mit neuen Ideen herumschlagen mußten, eine Sache, um die er sie nicht beneidete. Er hatte es in seiner Jugend auch getan. Aber jetzt war er einfach bequem geworden, bereit, sich auf den Früchten seines Wirkens auszuruhen.
Von den neuen Dingen interessierten ihn nur Waffen, ihre Wirkung und die Herstellungskosten. Daß Nyala allen anderen neuen Dingen gegenüber aufge schlossen war, beruhigte ihn ungemein. Er bewunderte ihren künstlerischen Geschmack, ihr beherztes Eintreten für die Rechte der Frauen, obwohl er diese Probleme nicht so ganz verstand, denn er war mit den Frauen immer tadellos ausge kommen, und keine hatte ihm je etwas von mehr Rechten er zählt, die sie haben wolle. Er hatte sich jedenfalls immer bemüht, ihr den rechten Weg zu zeigen und ihr auch klarzumachen, daß nicht alle rechten Dinge gelingen konnten, weil es vielerlei Anschauungen über Recht und Unrecht gab. Sie war ein wenig verrückt, aber sie hatte alles begriffen. Und dennoch… Da war diese Legende um den Lichtboten und den Sohn des Kometen, die in ihrem Kopf herumspukte, als sei sie behext. Ihren klaren Verstand schob sie einfach zur Seite. Und nun stand er auf seinem Turm und fror trotz des Man tels im Herbstwind. An diesem Tag war die Küste von Akin borg hinter Nebelschleiern verborgen. Die nebligen Tage fürchtete er am meisten, weil die Schiffe der Caer ungesehen die Straße der Nebel überqueren mochten. Aber im Grunde war es gleichgültig, ob er es einen halben Tag früher wußte oder nicht. Elvinon würde fallen, wenn nicht ein Wunder geschah. Zu den Schatten mit Darain und Akinlay, die ihre alten Zwiste nicht vergessen konnten und einem Bündnis nicht zu stimmten! Der Herzog von Akinlay besaß starke südliche Ver bündete und dünkte sich mächtig genug, um die Caer von ei nem Angriff auf sein Land abzuschrecken. Und Darain lag zu weit im Hinterland, um die Gefahr wirk lich so zu erkennen, wie sie war und wie Krude sie sah.
Im Herbst des vergangen Jahres waren die letzten Boote mit Flüchtlingen von der Insel gekommen und hatten von der blu tigen Herrschaft der Caer in Ambor und Akinborg berichtet und auch davon, daß sie für neue Eroberungszüge rüsteten. Und manchmal – und als der Sommer kam, immer häufiger – sah man die schwarzen Caer-Schiffe die Küste der Insel ent langsegeln. Sie sammelten sich in Akinborg. Es konnte kein Zweifel bestehen, daß ihr nächstes Ziel Elvi non war. Und es mochte jeden Tag soweit sein. Tag und Nacht standen Wachtposten auf den Zinnen der Burg und der Hafenmauern und ließen das Meer nicht aus den Augen. Jeden Tag kamen Männer allen Alters in die Stadt, die bereits zum Bersten voll war, die meisten nicht zum Kämpfen ausgerüstet, versehen mit Knüppel oder Haumesser, wie sie es zum Bearbeiten der Felder benutzten. Das Hämmern der Schmiede und Schiffbauer hörte selbst nachts nicht auf. Aber es wurde mit jedem Tag schwerer, so viele Menschen auf so engem Raum zu versorgen. Die Stadt platzte aus allen Mauern. Und es war auch nicht leicht, sie alle sinnvoll zu be schäftigen, wenn er auch die meisten, sobald sie die Tage ihrer kriegerischen Ausbildung hinter sich hatten, zur Beschaffung von Nahrung und zu ausgedehnten Patrouillenritten einsetzte. Zum Bau neuer Mauern und zur Verstärkung der alten. Doch wußte er, daß er sich mit dieser großen Anzahl von Verteidigern nicht in der Stadt verkriechen durfte. Er mußte versuchen, ihre Hauptkraft noch auf dem Wasser zu brechen, sonst mochte es wohl geschehen, daß sie seine Festung um gingen und ihn in aller Ruhe aushungerten. Und seine Flotte, obwohl sie stetig wuchs, seit der Früh lingswind das Eis in der Bucht gebrochen hatte, war Elvinons wunder Punkt. Weder Krude noch sein Vater oder die Herzöge vor ihm hat ten eine große Flotte unterhalten, denn das Meer der Spinnen
war unpassierbar. Und ein Feind, der vom Ozean herkam, mußte erst die Straße der Nebel passieren – für Fremde ein Unterfangen, das in seinen Auswirkungen einer Seeschlacht gleichkommen konnte. Ambor und Akinborg hatten schon seit alten Tagen Schwierigkeiten mit dem Herzogtum Caer, so daß sie gar nicht dazu kamen, Eroberungszüge nach Süden zu kul tivieren. Akinlay, das wohl eine Flotte besaß und auch nicht abgeneigt war, sich mit Elvinon anzulegen, konnte auch den bequemeren und wetterunabhängigen Landweg wählen. Es war nie wirklich notwendig gewesen, eine Kriegsflotte zu be sitzen. Aber nun standen die Caer in Akinborg und Ambor. Zu Beginn von Krudes Regentschaft in Elvinon war Caer ei ne der sieben Provinzen Tainnias gewesen, mit Herzog Mur don von Caer an der Spitze, bis er von den Priestern entmach tet wurde. Es war ein Triumph der Schattenkräfte, denn die Priester huldigten seit alten Tagen der Magie und der Schat tenwelt. Mit ihrer Hilfe gelang es ihnen bald, ihre Macht aus zudehnen und fast die gesamte tainnianische Insel zu erobern. Was ihre Krieger nicht vermochten, taten ihre Dämonen. So war es auch jetzt, daß Herzog Krude nicht so sehr die Kriegerscharen fürchtete, die auf den schwarzen Caer-Schiffen nach Elvinon kommen würden, sondern jene Kräfte, vor de nen auch Mut nicht schützte – die unheiligen Kräfte der Zau berei.
»Vater, du hörst mir gar nicht zu. Ich sagte, ich glaube, ich ha be ihn gefunden!« wiederholte Nyala ungeduldig. Herzog Krude wandte sich seufzend vom Anblick der Straße der Nebel ab. »Ja, Kind. Verzeih. Aber der bevorstehende Un tergang von Elvinon beschäftigt mich mehr und mehr. Viel leicht solltest du die Stadt verlassen…«
»Das werde ich auch«, unterbrach sie ihn heftig. »Um wieder diese Gruft aufzusuchen, ich weiß, aber die Wa chen haben meinen Befehl, auch dich nicht in die Nähe zu las sen.« Er winkte ab, als sie heftig etwas erwidern wollte. »Ich weiß natürlich, daß du trotzdem Mittel und Wege finden wirst, deine Spinnereien in die Tat umzusetzen. Das ist ja das Erfreuliche an deinem Charakter, deine Phantasie und deine Tatkraft. Und nun hör mir zu und versuche Tatsachen als das zu sehen, was sie sind: Einmal stehen meine Wachen seit vie len Tagen an der Gruft, und ihres Wissens hat niemand sie betreten oder verlassen, auch dein Held nicht.« Er winkte erneut ab, als sie zu einer Entgegnung ansetzte. »Laß mich meinen Teil vorbringen, Tochter! Zum zweiten, wenn die Götter in der Tat einen Helden schicken, der Licht in unser düsteres Dasein bringen soll, so sicher nicht solch einen Halbwilden aus dem Süden, wie du ihn angeschleppt hast. Ich will an der Legende gar nicht zweifeln. Uns steht große Dun kelheit bevor, wenn die verdammten Caer kommen, und wir könnten solch einen himmlischen Helfer gut brauchen. Erain ist mein Zeuge, ich sehne ihn ebenso herbei wie du. Und zu guter Letzt: Diese Wanderstadt kam aus dem Süden. Wie weit aus dem Süden, weiß niemand. Vermutlich wissen sie es selbst nicht mehr genau.« »Das kann man erfragen.« »Tu das. Er ist dein Gast. Oder dein Gefangener?« »Mein Gast!« »Und wenn es ihm einfallen sollte, einfach zu gehen?« »So mag er gehen.« Krude lächelte. »Ich wollte, wir hätten alle diese Wahl.« Sie sah ihn an. »Du denkst noch immer, es sei mein Krieg, nicht wahr?« fragte er. »Und daß ich diese kleine Abwechslung herbeisehne, um mit Elvinons Schlagkraft zu protzen? Du denkst noch im
mer nicht ernsthaft, daß unser aller Ende bevorstehen könn te?« »Ich habe gesehen, daß dein Haar grau geworden ist in die sen Tagen, Vater. Ich weiß, daß die Lage ernst ist, wenn Akin lay keine Hilfe sendet. Aber all diese Männer, die jeden Tag in die Stadt kommen, wollen erst einmal bezwungen sein, gleich von wem.« Krude schüttelte den Kopf. »Nein, gleich ist es nicht. Denn die Caer-Priester sind die Diener jener Kräfte, gegen die dein Lichtheld antreten soll.« Er nickte in sich hinein. »Bei Erain und God, wir könnten einen solchen brauchen.« Er blickte auf und straffte sich. »Ich habe keine Zeit zum Träumen, Tochter. Tu du es für mich.« Er lächelte und fügte ernst hinzu: »Aber behalte deinen Hauptmann im Auge. Er hat das Gemüt einer Giftschlange.« »Keine Angst vor Zohmer, Vater«, sagte sie erleichtert. »Er ist mir so ergeben wie immer.« »Das ist es, was mich beunruhigt.«
Als Mythor erwachte, erinnerte er sich undeutlich an vergan gene wache Augenblicke, an den schwankenden Ritt, an das dunkeläugige Gesicht einer Frau, an bärtige tainnianische Ge sichter und an eines, das ihn grimmig beobachtete. Aber es mochten auch Traumbilder gewesen sein. Doch möglicherwei se war auch die Wirklichkeit ein Traum, denn er hatte ihres gleichen noch nie gesehen. Er lag auf einem Lager aus kostba ren Decken und Kissen. Er fühlte sich schwach und zerschla gen, und sein Arm schmerzte. Er sah, daß er sauber mit wei ßem Stoff verbunden war. Als er sich aufsetzte, sah er, daß er nackt war. Er hatte eine ganze Reihe von Schrammen abbekommen, aber sie hatten alle bereits zu heilen begonnen. Der Kampf also und der Unter
gang Churkuuhls, der so lebendig in seiner Erinnerung war, waren kein Traum. Und der Tod so vieler seiner Freunde. Seine Gedanken kehrten zur unmittelbaren Umwelt zurück. Er lebte. Jemand hatte ihn hierhergebracht und ihn gepflegt. Und es sah nicht danach aus, als betrachte ihn dieser Jemand als Gefangenen. Dicke Vorhänge aus schwerem Stoff hingen an den Wänden der geräumigen Kammer. Sie machte ihm das Beengende der Holzhäuser Churkuuhls bewußt. Ein Tisch aus Messing stand nicht weit von seinem Lager. Darauf lagen Kleider. Er stand auf und nahm sie an sich. Es waren nicht seine eigenen, wohl aber diesen sehr ähnlich, wenn auch das Leder anders war, nicht so weich, wie die Marn es herzustellen wußten. Er klei dete sich an und konnte nicht umhin, das feine Gewebe des Hemdes zu bewundern. Ungewohnt waren ihm das hohe, ge schnürte Schuhwerk und das fast knielange lederne Über hemd. Waffen lagen keine dabei, doch nahm er an, daß er sein Mes ser wohl im Kampf verloren hatte und daß der Fürst, dessen Schwert ihm so gute Dienste geleistet hatte, sich seine Waffe wiedergeholt hatte. Andererseits, wie wohlgesinnt ihm auch seine Gastgeber sein mochten, war er schließlich ein Feind, der ein gutes Dut zend der Ihren erschlagen hatte. Selbst wenn sie ihn nicht als Gefangenen hielten, hüteten sie sich wohl, ihm eine Waffe in die Hand zu geben. Er beschloß, sich umzusehen, wie die Lage war und ob eini ge seiner Gefährten noch am Leben waren, die zuletzt an sei ner Seite kämpften. Taka vor allem. Und Etro. Atran. Ikrom. Aber die Erinnerung an diesen letzten Kampf, als sie wußten, daß sie nun sterben würden, war nur vage. Nur zwei Stellen der Wände waren nicht verhängt. An der einen Seite befand sich ein Kamin, in dem das Feuer am Erlö
schen war. Er sah sich nach Holz um und brachte das Feuer wieder in Gang. Die andere Wand bestand aus schwarzen, wunderbar ge schliffenen Steinen. In der Mitte hing ein lebensgroßes Bildnis in leuchtenden Farben. Es stellte eine Frau mittleren Alters dar. Sie hatte üppige Formen, und sie erinnerte Mythor an das Gesicht der Frau, die in seinen Träumen immer wieder vorge kommen war. Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen fiel Tageslicht. Er zog sie auseinander und hielt bewundernd den Atem an. Es war ihm, als blicke er von einem himmelhohen Gemach hinab. Die Stadt lag unter ihm, ausgebreitet über die Hügel bis hin ab zum Meer, das in wirbelnden Nebeln endete. Der Hafen wimmelte von Menschen, und die Sonne ließ das Wasser wie Juwelen funkeln. Er war noch nie in einer Stadt gewesen oder in einem Steinhaus von solch gewaltiger Höhe, obwohl er beides vor Jahren aus der Ferne gesehen hatte. Aber die Marn waren immer froh gewesen, wenn die Yarls an den großen Ansiedlungen der Einheimischen rasch vorbeizogen, wo einer sich vom anderen bedroht fühlte. Er war so vertieft in den phantastischen Anblick, daß er kei ne Schritte hörte und erst herumfuhr, als er ein Klirren ver nahm. Eine alte Frau in zerschlissenen Kleidern, die in dieser Um gebung fremd wirkte, starrte ihn an, erschrocken und schuld bewußt. Sie stand an dem Tisch und hatte ein silbernes Tablett mit einem Becher hingestellt, worauf sie nun zögernd deutete. Dann ging sie rasch zur Tür. »Warte!« rief Mythor. Sie drehte sich um und machte eine Bewegung, die bedeuten mochte, daß sie nicht sprechen konnte oder wollte. Als sie ver schwand, zuckte Mythor mit den Achseln und wandte sich
wieder dem Fenster zu. Sie würde den Bewohnern des Hauses schon sagen, daß er wach sei. Nach einem Augenblick ging er zu der Tür, durch die sie hi nausgegangen war, und versuchte sie zu öffnen. Sie war nicht verschlossen. Als er sich umwandte und sie wieder schloß, sah er, wie sich die Vorhänge im hinteren Teil des Raumes öffneten und eine halbnackte Gestalt enthüllten. »Etro!« entfuhr es Mythor. Er eilte ihm entgegen und schloß ihn erfreut in die Arme. Der alte Mann stand schwach auf den Beinen, die verbunden waren. Er humpelte und war froh, daß Mythor ihn stützte. Erleichtert seufzend ließ er sich auf Mythors Lager nieder. »Was ist mit den anderen?« fragte Mythor. »Sind sie auch hier? Taka? Atran?« »Als Taka fiel, hast du gewütet wie ein Berserker. Weißt du es nicht mehr?« Mythor schüttelte den Kopf. »Sie ist tot?« Der Gedanke schmerzte. »Wolltest du dich mit ihr zusammentun?« Mythor nickte stumm. »Wir haben so viele Freunde verloren«, sagte Etro nach ei nem Augenblick. »Man weiß nicht, um welchen man weinen soll.« Erneut nickte Mythor. »Ich weiß nicht, ob noch andere übriggeblieben sind. Aber ich weiß, daß wir beide die einzigen sind, die sie hierhergebracht haben«, fuhr der Alte fort. »Es sieht so aus, als wäre ich der Letzte der Marn.« »Wer hat uns hierhergebracht?« »Eine Frau«, berichtete Etro. »Sie ist jung und schön, und sie muß sehr angesehen sein, denn alle gehorchten ihr. Sie nann ten sie Nyala. Sie war sehr aufgeregt, als sie dich sah. Und sehr
oft während des Rittes auf diesen schrecklichen Pferden ruhte ihr Blick auf dir. Besorgt und wie es mir schien, voller Erwar tungen.« Er blickte auf den Tisch. »Oh, du hast zu trinken. Was ist es? Meist haben sie Wein in den Städten und Dörfern. Es ist lange her, daß wir Wein hatten in Churkuuhl. In Sal amos tranken wir welchen. Er war schwer und süß. Da kamen sie geritten mit ihren Weinsäcken, nachdem sie uns vorher tagelang begleitet hatten.« Der alte Mann lächelte bei der Erinnerung. »Ich denke, nachdem sie sich klar darüber waren, daß sie uns nicht plün dern konnten wie andere Karawanen, wollten sie wenigstens Geschäfte mit uns machen. Und dann tranken wir tainniani schen Wein in einem Dorf, an dem die Yarls so nah vorbeizo gen, daß die Bewohner flohen. Erinnerst du dich? Er war herb wie die Sonne hier, aber nicht ohne Kraft. Erlaubst du mir, daß ich davon trinke?« Mythor, der zum Fenster zurückgegangen war und über Ta kas Tod nachdachte, nickte abwesend. Etro hob den Becher. »Ah, Freund, wer immer du wirklich bist, ich trinke auf unsere Zukunft und auf die Toten, die so sinnlos gegangen sind, deren Tapferkeit ihnen so wenig ge nützt hat.« »Ich denke, daß keine Tat vergebens ist. Und daß alle Ge danken, die jemals gedacht worden sind, irgendwo…« »Aaaahhh…! Quyl… welch… ein… Feuer…! Aa-aahhh…!« Mythor fuhr herum, als Etros Schrei erstickt abbrach. Er sah, daß der alte Marn sich krümmte und nach Luft für einen wei teren Schrei rang. »Etro!« entfuhr es ihm. Er war mit einem Sprung bei ihm und versuchte ihn aufzurichten. »Was ist mit dir?« Doch Etro wand sich, als seien Dämonen in ihm, und als er schließlich in Mythors Griff erschlaffte, waren seine Augen gebrochen.
»Etro!« Mythor schüttelte ihn und ließ die leblose Gestalt zu Boden gleiten. Es war nicht so sehr Schmerz über den Tod des letzten Freundes, was ihn in diesem Augenblick erfüllte, es war Grauen über die Heimtücke, mit der es geschehen war. Er zweifelte nicht daran, daß der Anschlag ihm gegolten hat te. Aber weshalb hatten sie sich die Mühe gemacht, ihn hierherzubringen, wenn sie ihn doch nur töten wollten? Mythor beugte sich über Etro, um sich zu vergewissern. Dann legte er den Letzten der Marn auf sein Lager. Er betrach tete den Toten einen Augenblick. »Tut mir leid, alter Freund«, murmelte er gepreßt. »Nach diesem weiten Weg zusammen bleibt keine Zeit, deinem Körper Frieden zu geben.« Er wandte sich ab und untersuchte rasch die Tür, durch die Etro in den Raum gekommen war. Dahinter befand sich eine weitere Kammer, ähnlich der, in der er selbst erwacht war. Ein Lager, nicht so breit und kostbar wie seines, ein kleiner Tisch, ein Schrank, eine Truhe, die steinernen Wände mit einem Dut zend farbiger Bilder behangen, die allesamt Menschen dar stellten, die einander merklich ähnlich sahen. Ein halb ver hängtes Fenster, davor eine schmale Bank. Davon abgesehen war der Raum leer. Mythor wollte eintreten, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen, verhielt aber mitten im Schritt, als er ein Geräusch hin ter sich vernahm. Er fuhr herum. Eine junge Frau stand unsicher im Eingang. In ihrem hübschen Gesicht war Überraschung zu lesen. Sie war die Frau aus seinen Träumen, Nyala, wie Etro sie genannt hatte. Doch sosehr er von ihrer Erscheinung fasziniert war, so hef tig wandte sich sein Grimm gegen sie. Sie war die Mörderin. Sie mußte die Alte mit dem vergifteten Wein geschickt haben. Die Überraschung auf ihrer Miene sag te es deutlich genug. Sie war überrascht, daß er noch lebte!
Doch gleichzeitig wehrte sich ein besonnener Teil seines Ichs gegen die blinde, aus Schmerz geborene Wut. Er ließ die ge ballten Hände sinken und entspannte sich. Es war nicht die Tatsache, daß es eine Frau war, die vor ihm stand, denn bei den Marn hatten die Frauen ebenso gut zu kämpfen gelernt wie die jungen Männer. Es war auch nicht der Umstand, daß ein tainnianischer Soldat, offenbar höheren Ranges, hinter ihr den Raum betrat, mit der Hand am Schwertgriff. Es war nur, daß alles um ihn neu und verwirrend und faszinierend war, so daß ihm Rachegefühle klein und unbedeutend erschienen. Auch das Gesicht des Mannes war ihm aus der Erinnerung vertraut. Es hatte ihn mit drohenden Blicken gemustert. Nun war seine Miene überrascht und haßerfüllt. Mythor entging nicht, daß der Blick des Mannes suchend durch den Raum wanderte und am Becher haftenblieb. Die Frau sah Mythor an, und als er ihren Blick nur stumm erwiderte, sagte sie mit einem unsicheren Lächeln: »Wir hör ten ein Rufen. Ich bin froh, daß du aufstehen kannst. Ich muß meinen Heilern ein Lob aussprechen.« »Dafür auch?« Er deutete auf sein Lager. Das Mädchen sah die leblose Gestalt Etros verwundert an. Dann wurde ihr klar, daß der alte Mann tot war. Sie sah My thor mitleidig an. »Es tut mir leid. Wir haben alles getan.« »Ja«, versetzte er heftig. Ihr Blick hing fragend an ihm. »Weißt du es nicht? Es war Gift in diesem Becher Wein.« Er zeigte auf den Tisch. »Gift?« entfuhr es ihr. Sie war blaß geworden. »In welchem Becher?« »In dem dort am…« Er hielt inne. Der Becher war ver schwunden. Und als er sich umsah, war es auch der Begleiter des Mädchens. »Er muß ihn mitgenommen haben.« »Zohmer?« Sie lief zur Tür und rief einige Male seinen Na
men. Danach rief sie einige Wachen herbei. Auch drei Mägde erschienen mit blassen Gesichtern. »Sie hatten die Pflicht, über dich und deinen Freund zu wa chen. Haben sie den Wein gebracht?« »Nein.« »Zohmer?« »Der vorhin? Nein. Eine alte Frau kam herein und stellte ihn auf den Tisch. Er war für mich bestimmt.« »Das denke ich auch«, stimmte Nyala zu. Sie wandte sich an die anderen: »Hat jemand diese alte Frau gesehen?« Sie verneinten ausnahmslos. Nyala entließ sie und befahl den Wachen, am Eingang zu bleiben. »Ist das dein Haus?« fragte Mythor. »Es ist die Burg des Herzogs von Elvinon. Herzog Krude ist mein Vater. Ich bin Prinzessin Nyala.« »Ließ er mich hierherbringen?« »Nein, ich. Es war mein Wunsch, dich nach Elvinon zu brin gen und gesund zu pflegen. Und auch deinen Freund… Etro war sein Name, nicht wahr?« »Weshalb?« »Weil…« Sie zögerte. »Es ist nicht mit ein paar einfachen Worten erklärt. Wir haben beide sehr viele Fragen. Ich möchte, daß wir Freunde werden, aber es bleibt uns nicht mehr viel Zeit, fürchte ich. Ich werde nach deinen Wunden sehen lassen. Und du wirst hungrig sein. Laß uns beim Essen in Ruhe mit einander sprechen.« »Was geschieht mit Etro?« »Nimm Abschied von ihm. Dann wollen wir ihn bestatten, wie es bei deinem Volk der Brauch ist. War er ein angesehener Mann?« Mythor nickte. »Er war der Erste Bürger der Marn.« »Marn? Hieß so dein Volk?« »Ja.«
»Erster Bürger? Was bedeutet es?« »Er bestimmte, was geschah. Er führte den Stamm der Marn.« »So, wie mein Vater in Elvinon bestimmt«, stellte sie fest. »Der Herzog der Marn soll nach seinem Stand bestattet wer den, das verspreche ich. Und sein Mörder wird bestraft wer den, wenn er es wagt zurückzukommen. Ich bin sicher, daß Zohmer Felzt der Anstifter war. Er ist… war mein Garde hauptmann.« »Verurteilst du ihn, ohne ihn anzuhören?« fragte Mythor er staunt. »Bei uns in Churkuuhl… Churkuuhl, das war unsere Wanderstadt…« »Du mußt mir mehr darüber erzählen«, unterbrach sie ihn. »Und ich werde Zohmer anhören, denn es würde nicht leicht sein, ihn zu ersetzen. Es war nur seine Eifersucht, die ihn dazu trieb. Obwohl er weiß, daß ich seine Gefühle nicht erwidere, erträgt er es nicht, wenn ich Interesse an einem anderen Mann zeige. Ich dachte nicht, daß er so weit gehen würde, zu töten. Ich glaubte mich seiner so sicher. Seine leidenschaftliche Erge benheit war sehr nützlich.« Sie senkte den Kopf. »Ich glaube, ich war sehr selbstsüchtig. Ich werde ihn vermissen.« »Wie ich Etro«, sagte Mythor. Sie nickte ernüchtert. »Ja. Und wir müssen vorsichtig sein, denn er wird es wieder versuchen.« Sie blickte auf den Toten. »Wir übergeben unsere Toten dem Feuer, damit ihre Geister frei werden.« »Auch wir verbrennen die Körper«, sagte Mythor, »damit keine Dämonen von ihnen Besitz ergreifen können.« »Gut. Ich werde alles vorbereiten lassen.« »Sind alle Marn tot?« »Ja.« Nyala zögerte. »Auch Taka.« Er antwortete nicht, aber sie sah, wie Trauer sein Gesicht verdüsterte. Rasch fragte sie: »Du bist kein Marn, nicht wahr? Du bist
keiner von ihnen?« Er schüttelte abwesend den Kopf. »Ich wußte es«, flüsterte sie atemlos. »Du bist es. Der Pro phezeite.« Mythor sah sie verwirrt an. Etros Worte kamen ihm in den Sinn. »Das Ereignis, das große Ereignis für die Welt?« murmel te er. »Ja«, hauchte Nyala.
So viel Neues stürmte auf ihn ein an diesem Tag, daß ihm kei ne Zeit für Trauer blieb. Zudem war er in einer Situation, die mit wachem Verstand gemeistert werden mußte. Und außerdem war Nyala die ungewöhnlichste Frau, die er je getroffen hatte. Und sie schien die unglaublichsten Dinge von ihm zu erwarten. Auch sie, die ihn erst wenige Tage kann te, war überzeugt, daß etwas Großes in ihm schlummere, daß er jemand sei, auf den die Welt wartete. Und dann die unmittelbaren faszinierenden Dinge: das Bad, zu dem die Dienerinnen Nyalas ihn führten, die Kammer aus wunderschönem Stein, das brusttiefe Becken mit klarem, duf tendem, warmem Wasser. Großer Quyl, welche Vergeudung! In Wasser von solcher Reinheit hätten die Marn niemals gebadet. Einmal, als die Y arls durch Bergland zogen, kamen sie an Bächen und Seen von solch klarem Wasser vorbei. Da konnten sie ihre Wasservorrä te für lange Zeit auffüllen, und es war das köstlichste Wasser ihrer Wanderschaft. Manchmal badeten sie, wenn tagelang der Regen fiel und sich die hölzernen Badetröge füllten. Doch meist war Wasser knapp, denn auf die Suche nach Quellen oder Bächen in der Umgebung der Yarls gingen die Marn nur, wenn die Not sehr groß war, bedeutete es doch, die Sicherheit der Stadt aufzugeben.
Hier aber sprudelte eine klare Quelle das ganze Jahr über und versorgte nicht nur die Burg des Herzogs, sondern auch, wie er erfuhr, viele Häuser und Brunnen der Stadt. Und, Wunder über Wunder, unterirdische Rinnen führten das Schmutzwasser hinab ins Meer. Und diese wohlriechenden Säfte und Öle, die sie hatten, und Heilsäfte, die wie Balsam auf seinen Wunden waren. Danach schnitten sie ihm das Haar mit Messern von solcher Schärfe, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Und sie besaßen ein spiegelndes Glas, in das Männer und Frauen voll Eitelkeit blickten. Nach diesem Bad, in dem er alles abstreifte, was noch mar nisch an ihm sein mochte, geleiteten sie ihn in Nyalas Gemä cher. Zwischen Vorhängen aus fast durchsichtigem Gespinst, Schränken und Truhen aus edlen Hölzern, silbernen und gol denen Dingen, deren Zweck er nicht erriet, erwarteten ihn an dere Wohlgerüche, die seinem Magen deutlich machten, wie unendlich hungrig er war. Und Nyala selbst verschlug ihm den Atem, in ihrem durch scheinenden Gewand, das von einem Band um ihren weißen Hals hinab zu ihren Füßen zu fließen schien. Kerzen brannten, und die kleinen Flammen funkelten in Edelsteinen in ihrem dunklen Haar und an ihren Armen. Sie lächelte ihm entgegen, und er war wie berauscht von al lem, was ihn umgab. Nyalas Stimme, ihre dunklen Augen, ihr Kleid, das Weiß ihrer Haut, die Art, wie sie sich bewegte, das alles ließ ihn Taka vergessen. Er zögerte dennoch einen Augenblick, als er den Becher Wein an die Lippen setzte. Doch er genoß die scheinbare Erfri schung, die ihn nur noch tiefer in Nyalas Bann zog. Was ihn ernüchterte, waren die Speisen. Da waren Früchte und Gewürze, die ihm die Tränen in die Augen trieben, und selbst mit dem Fleisch hatten sie Dinge getan, die weit entfernt
von allem waren, was die Marn mit Wild machten. Aber die Düfte waren köstlich, und der Hunger überwand manche Schranke, und bald fing er an, den tainnianischen Ge schmack zu mögen. Sie selbst aß kaum. Aber sie sah ihm lächelnd zu. »Ich habe gehört, daß die Männer und Frauen hier in der Burg dich Lady nennen. Was bedeutet es?« »Soviel wie edle Dame.« »Vor langer Zeit, als wir nach Tainnia kamen, hörte ich in ei nem Dorf die Menschen von einem König sprechen, den sie König Arwyn nannten.« »Ja. Er war der König von ganz Tainnia. Das Land besteht aus sieben Provinzen. Eine davon ist Elvinon. Doch als König Arwyn vor zwanzig Jahren starb, zerfiel das Reich. Einige sei ner Provinzen fühlten sich als eigene Königreiche. Die Caer nutzten diese Zerwürfnisse. Gäbe es einen König über ganz Tainnia, so gäbe es eine Macht, die die südlichen Provinzen einen könnte. So aber stehen wir allein vor dem Angriff der Caer. Und die anderen lauern auf Beute, gleich ob von Caer oder Elvinon.« »Werden diese Caer denn Elvinon angreifen?« »Seit dem Beginn des Sommers sammeln sich ihre Schiffe. Es besteht kein Zweifel, daß sie kommen werden. Sie werden die starken Nebel des Frühherbstes nutzen, glaubt Vater. Er er wartet sie jeden Tag.« »Wer sind diese Caer?« »Tainnianer wie wir«, antwortete Nyala. »Wenigstens waren sie das noch vor wenigen Jahren, bis ihre Priester den Herzog stürzten und sich den Schattenmächten verschrieben. Mit ihrer Hilfe erobern sie Provinz um Provinz. Auch die Straße der Nebel hält sie nicht auf.« »Wie sind eure Streitkräfte?« »Stark, aber nicht genug. Nicht gegen ihre Schattenkräfte.
Vater glaubt, daß Elvinon fallen wird.« »Und was werdet ihr tun?« fragte er erstaunt. »Kämpfen, was sonst?« Ihre gleichmütige Antwort versetzte ihn noch mehr in Erstaunen. »Tatet ihr nicht das gleiche, als unsere Krieger euch angriffen? Wohin sollten wir laufen? In den Süden? Wie lange wird es dauern, bis wir ihnen auch dort wieder gegenüberstehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Vater sagt, es gebe keine Flucht vor den Schattenkräften. Sie wach sen und werden mit jedem Tag stärker. Der Feind, den man heute nicht bezwingen kann, wird morgen nur noch unbe zwingbarer sein.« »Das ist sicher wahr, aber könntet ihr nicht irgendwo Ver bündete finden?« »Wenn wir sie hier nicht finden, wo wir zu Hause sind, wie dann wohl in der Fremde, wo uns keiner kennt und keiner traut? Habt ihr hier irgendwo Freunde gefunden?« »Wir haben sie nicht gesucht«, antwortete er. »Aber das hat alles nichts damit zu tun, warum du hier bist und warum mich deine Anwesenheit mit solcher Hoffnung erfüllt.« »Hoffnung?« Er sah sie überrascht an. »Daß ein einzelner Mann…?« Nyala nickte ernst. Ihre Finger hatten sich verkrampft. »Ich… ich weiß, daß es unglaublich ist und daß Vater viel leicht recht hat, wenn er mich für verrückt hält. Und daß viele Dinge nicht zusammenpassen… und dennoch, so viele Dinge deuten darauf hin…« Sie blickte ihm in die Augen. »Wirst du mich anhören und darüber nachdenken?« »Du hast schon so vieles gesagt, über das ich nachdenken möchte. Ich muß in deinen Augen ein Barbar sein. Ich weiß kaum etwas von der Welt. Ich vermag ein Schwert zu führen oder eine Axt…« »Hör mich an. Und urteile selbst. Es gibt eine Legende in
Tainnia, eine sehr alte Legende. Ich will sie dir erzählen, so gut ich kann.« Sie lehnte sich vor, ermutigt durch seine Miene ge spannter Aufmerksamkeit. »Es war einst eine Zeit, da lag die Welt im Schatten des Bö sen. Überall, wohin die furchtsamen Augen der Menschen blickten, sahen sie nur die Geschöpfe des Bösen, und sie ge horchten ihnen, denn auch ihre Herzen und Seelen waren von diesem Schatten erfaßt, der die ganze Welt umspannte. Erst als der Lichtbote erschien, durchdrang er in Gestalt eines Kome ten die Hülle des Bösen, und was sein Licht berührte, das ward gereinigt an Herz und Gestalt. Doch auf dieser großen Welt gab es Orte, die sein Licht nicht fand, an denen das Böse sich verkroch, um auf die Stunde zu warten, da er weiterzog. Und als der Lichtbote unsere Welt verlassen mußte, da wußte er, daß das Böse des Schattenreichs erneut hervorkriechen würde aus den dunkelsten Orten und versuchen würde, sich erneut in die Herzen und Körper der Menschen zu schlei chen.« Sie unterbrach sich und sagte beschwörend: »So, wie es jetzt geschieht. Das Böse ist in den Herzen und Hirnen der Priester der Caer. Es ist auf dem Vormarsch, und es wird er neut Leid und Furcht über die Menschen bringen!« Mythor nickte, seltsam berührt von ihren leidenschaftlichen Worten. Was sie sagte, erinnerte ihn an die Legenden der Marn, an jene, die Etro ihm erzählt hatte und der er den Na men Mythor verdankte. »Und nun gib acht, Fremder!« fuhr Nyala fast flüsternd fort. »In seiner Weisheit gab der Lichtbote ein Versprechen oder eine Prophezeiung, wohl weil er wußte, daß es eine Macht gab, die den Menschen selbst in düstersten Stunden Kraft ge ben würde… die Hoffnung nämlich. So prophezeite er, daß dann, wenn die Schatten des Bösen erneut die Welt zu be zwingen drohten, ein Retter herabsteigen würde, den er den Sohn des Kometen nannte.«
»Mythoron!« entfuhr es Mythor. Nyala sah ihn mit wachsender Überraschung an. »So weißt du davon?« »Nein, es ist… eine Legende der Marn, in der ein Held er scheinen soll. Er trägt den Namen Mythoron, und er ist es, der dereinst die Lichtwelt retten soll vor der Dunkelheit.« »Es ist die gleiche Legende«, stellte Nyala atemlos fest. »Und dein Name ist Mythor.« »Du denkst, daß ich…?« Er lachte lauthals, zum erstenmal seit vielen Tagen. Aber es klang selbst ihm falsch und fremd in den Ohren. »Aber das ist es, was ich dir sagen will und woran ich glau be.« »Ich, der Held der Welt?« Er versuchte erneut zu lachen. »Ich besitze nicht einmal ein eigenes Schwert.« »Dafür will ich sorgen«, unterbrach sie ihn. Er schüttelte nachsichtig den Kopf. »Sehe ich denn aus, als ob ich vom Himmel herabgestiegen wäre?« »Woher kommst du?« »Ich…« Er hielt inne und starrte sie an. »Ich weiß es nicht.« »Weißt du gar nichts?« bohrte sie in einem Tonfall, als gebe es keine Zweifel mehr. »Die Marn fanden mich, als ich um die fünf Sommer alt war. Sie fanden mich in Salamos… irgendwo in der Weite des Lan des, durch das die Wanderstadt zog. Und sie schworen, daß niemand weit und breit gewesen sei, der mich dorthin ge bracht haben könnte. So weit auch das Auge reichte.« »Salamos«, murmelte sie stirnrunzelnd. Er gab sich einen Ruck. »Aber da ist noch etwas, das ich ge hört habe, auch wenn es dich in deinem Glauben nur bestär ken wird: Etro berichtete, daß ein seltsames Licht um mich gewesen sei, als ob ich in einem Lichtstrahl gestanden hätte, was es vermutlich auch gewesen ist.«
Sie nickte. »Und sie wollten den Schrei des Bitterwolfs gehört haben, der auch nicht mehr als eine Legende ist und dessen Schrei große Ereignisse ankündigt.« Ihr Blick war bei diesen Worten fast andächtig geworden. Er erhob sich voller Unbehagen, nicht nur über ihr Verhal ten, auch über die Phantasien im eigenen Kopf in diesem Au genblick. Er schritt zum Fenster und starrte durch die schleierartigen Vorhänge hinab auf die Stadt und die Nebel über der Bucht. Als er sich umwandte, hatte er seine Gedanken wieder in der Gewalt. Nyala hatte sich nicht bewegt. Aber ihr Blick wich nicht von ihm. »Lady«, begann er fast bittend. »Nyala«, unterbrach sie ihn rasch. »Nenn mich Nyala!« »Nyala… es ist nur wenige Tage her, seit ich erfahren habe, daß ich ein Findelkind bin und daß kein Marn meine Eltern je gesehen hat. Seitdem quälen auch mich Gedanken über meine Herkunft. Es mag sein, daß die Umstände meiner Auffindung ungewöhnlich erscheinen. Dennoch fühle ich mich ganz und gar menschlich, und ich denke, daß alles ganz natürliche und gewöhnliche Ursachen hat. Ich bin kein Retter der Welt. Ich bin… ich. Ein Heimatloser… mit einem Namen, der ihm nicht gehört. Aber du hast mich gerettet.« »Vielleicht bin ich nur ein Werkzeug der Götter.« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Was macht dich so sicher, daß ich der Held aus der Legende bin?« »Ich bin nicht sicher, Mythor. Das ist es ja, was mich so quält. So vieles weist darauf hin. In dieser Legende ist auch beschrie ben, wie der Held aussieht. Und als ich dich unter den Krie gern sah, als dein Helm vom Kopf glitt, da war es für mich, als ob der Held dieser Legende vor mir stünde.«
»Bestimmt sehen viele aus wie ich in Salamos.« »Nein. Ich kenne Männer aus Salamos. Manchmal kommen Karawanen von weit aus dem Süden an unseren Hof. Diese Männer haben eine dunklere Haut als deine. Und sie haben andere Nasen als deine, nämlich krumme, fast hakige, und ihre Augen sind scharf und stechend wie von Raubvögeln. Nein, du magst aus dem Süden kommen, aber du bist nicht aus Salamos. Und da ist noch etwas, das mich am meisten be stärkt und das nicht wegzuleugnen ist. Die Legende sagt, daß der Sohn des Kometen ein Mal trägt, eine kleine kreisrunde Narbe hinter dem rechten Ohr.« Unwillkürlich fuhr Mythors Hand hinter sein Ohr, und seine Finger spürten die runde Narbe, die er schon seit seiner Kind heit besaß. »Großer Quyl, du bist hartnäckig«, sagte er. »Müß te nicht ich selbst am besten wissen, was ich bin?« »Vielleicht ist die Zeit noch nicht reif.« Er hörte auf, ihr zu widersprechen, nicht nur ihrer Hartnä ckigkeit wegen, mehr noch, weil er neugierig war. Er hatte selbst so viele Rätsel zu lösen. Und er stand in der Schuld die ser Lady. Er würde ihr Spiel spielen, bis sie selbst erkannte, wie verrückt es war, in ihm etwas Weltbewegendes zu sehen. Und die Aufmerksamkeit, die sie ihm zollte, war aufregend genug, selbst wenn man die verwirrenden Dinge außer acht ließ, von denen sie sprach. Er kehrte zu dem niedrigen Tisch zurück und setzte sich auf sein Kissen. Dann betrachtete er Nyala stumm, bis sie errötend den Kopf senkte. Das war ein neues Erlebnis für ihn, denn die schwarzhäutigen Marnmädchen hatten die Verwirrung ihres Herzens nur mit den Augen gezeigt. Er beugte sich vor und berührte sie sanft am Arm, daß sie wieder aufblickte. Sie nahm rasch seine Hand, bevor er sie zu rückziehen konnte, und drückte sie einen Atemzug lang. Dann stand sie hastig auf, und der Augenblick für Geständ
nisse verflog. Schritte einer Wache erklangen vom Korridor. Eine Dienerin erschien gleich darauf und pochte vorsichtig. »Lady Nyala?« »Ja, Lian?« »Hauptmann Felzt ist zurück, Lady.« »Zohmer?« entfuhr es ihr. Das Mädchen nickte. »Soll ich ihn einlassen?« »Nein!« Aber harte Schritte erklangen bereits an der Tür. Mythor sprang auf. Zohmer lächelte, als er hereinkam, doch seine Augen waren kalt und übersahen nichts. Und sie brannten, als sie Mythor hinter den seidenen Vorhängen entdeckten. Er riß sich nur mit Mühe los. »Nyala, verzeih, daß ich dich so überstürzt verließ«, sagte er leichthin, doch seine Stimme schwankte vor unterdrückten Gefühlen. »Einer meiner Männer machte eine wichtige Entde ckung, und ich ritt sofort los. Es sieht aus, als ob die Caer…« »Weshalb hast du den Becher mitgenommen?« unterbrach sie ihn. »Becher?« »Du weißt gut, wovon ich rede, nicht wahr?« »Bei Erain und…« »Laß die Götter aus dem Spiel, Zohmer. Wir drei waren al lein im Raum. Als wir beide eintraten, stand dieser Becher auf dem Tisch. Der alte Mann hatte daraus getrunken und war am Gift gestorben.« »Ich weiß von keinem Becher und keinem Gift, Nyala. Hast du den Becher gesehen?« »Nein«, erwiderte sie heftig. »Aber Mythor, dem das Gift gegolten hat! Ist das deine Art, lästige Nebenbuhler zu beseiti gen?« »Du glaubst also diesem dreckigen Nomadentölpel mehr als
mir, deinem Hauptmann, der dir immer treu ergeben war?« »Wenn es nur Treue war, bist du zu weit gegangen, Zoh mer.« »Bei Erain, jemand wird mir dafür Genugtuung geben!« sag te er heftig. »Dazu wird keine Gelegenheit mehr sein! Wachen!« »Nyala!« Er wich zurück. »Ich habe nichts mit dem Tod die ses schwarzen Teufels zu tun, den du gegen alle Vernunft in die Stadt gebracht hast.« Die schweren Schritte der Wachen erklangen vor der Tür. »Das wünsche ich mir, Zohmer. Es ist nur, daß ich deiner si cher sein möchte, bis die Wahrheit gefunden ist. Schließt ihn in seiner Kammer ein und bewacht ihn gut!« befahl sie den vier Wachtposten, die auf ihren Ruf eingetreten waren. Die Männer nahmen ihn in die Mitte, bevor seine Wut ihn Unüberlegtes tun ließ. »Du bist eine Närrin, Nyala«, stieß er hervor. »Die Caer ste hen fast vor den Toren, und du läßt mich einschließen. Du wirst mich brauchen!« »Ich werde dich holen, wenn ich dich brauche, darauf magst du dich verlassen, Hauptmann.« Sie winkte den Wachen, die ihn hinausführten. Er streifte Mythor mit einem haßerfüllten Blick. »Hätte es nicht einen anderen Weg gegeben?« fragte Mythor. »Sein Haß wächst nur dadurch.« »Sein Haß ist bereits groß genug, wenn er ihn zum Mord treibt. Ich kenne ihn. Ich kann ruhiger schlafen, wenn ich ihn in sicherem Gewahrsam weiß.« »Wenn er flieht?« »Wird mein Vater ihn jagen lassen. Er hat nicht viel übrig für Zohmer Felzt.« »Was meinte er damit, daß die Caer bereits vor den Toren stehen?«
»Daß wir nicht mehr viel Zeit haben, Mythor. Laß mich dir zu Ende erzählen, und dann magst du selbst entscheiden, was du tust.« Er nickte. »Nicht weit von Elvinon liegt eine Gruft, aus der der Legen de nach einst der Sohn des Kometen erscheinen wird. Ich ken ne die Gruft gut, ich war oft dort, wenn ich auch nie gewagt habe, sie zu betreten. Sie liegt verborgen hinter den Wasserfäl len von Cythor.« Sie schauderte. »Etwas Unheimliches geht von ihr aus, fast als sei es ein Weg hinab ins Reich der Schat ten. Bis ich sie entdeckte, wußten nur wenige von ihrem Vor handensein, und sie erzählten schreckliche Dinge: von Neu gierigen, die sich hineinwagten, um große Schätze zu finden, und die nicht wiederkehrten oder dem Wahnsinn verfielen, vom Atem des Todes, der jeden umfange, der sich in die Nähe wage.« Sie schüttelte sich erneut. »Ich weiß selbst von einem halben Dutzend von Vaters Wachen, die nicht wiederkehrten. Seither ist die Gruft streng bewacht und selbst mir der Eintritt verwehrt.« Mythor schüttelte den Kopf. »Das klingt mehr danach, als ob ein Held der Schattenwelt dort auftauchen könnte, nicht der Held des Lichtes, den du erwartest.« Sie nickte zögernd. »Es mag sein, daß ich die Legende falsch verstanden habe. Sie ist sehr alt. Viele Münder haben sie ver ändert. Ich weiß nicht, was die Gruft bedeutet, aber sie birgt Geheimnisse, die nicht für gewöhnliche Menschen sind.« Er sah sie nachdenklich an. »Du willst, daß ich sie mir anse he?« »Du nicht?« entgegnete sie. »Und deines Vaters Wachen?« »Wir werden einen Weg finden.« »Wir?« »Ich werde dich begleiten. Und keine Angst. Wie die
Marnfrauen weiß auch ich mit einer Klinge umzugehen.« Sie sah ihn fragend an. »Wann reiten wir?« fragte er entschlossen. Sie atmete auf. »Sobald du bei Kräften bist und deine Wun den verheilt sind.« »Dann können wir sofort aufbrechen.« »Nein, das ist zu früh. In einigen Tagen…« Sie hielt inne, als die Schritte einer Wache erklangen und vor ihrer Tür verhiel ten. »Lady, Hauptmann Felzt ist geflohen.« »Ihr habt ihn entkommen lassen?« rief sie. »Er wehrte sich wie ein Dämon, Lady. Er hätte uns alle er schlagen oder wir ihn. Es ist schwer, einen Mann zu töten, mit dem man manche gute Schlacht geschlagen hat.« »Und manche Nacht durchgezecht«, fügte Nyala grimmig hinzu. Der Mann wand sich. »Mit den Caer vor den Toren zählt je der Mann, Lady.« »Was bedeutet das, wenn du sagst, vor den Toren?« fragte Mythor. »Ist die Stadt schon belagert?« »Nein, Fremder. Aber einer unserer Wachtrupps hat ein Caer-Schiff in einer Bucht entdeckt, gut getarnt. Es mögen noch mehr sein. Jedenfalls haben Caer-Krieger und vielleicht auch einige ihrer verdammten Priester die Straße der Nebel überquert, und wir müssen auf der Hut sein.« »Weiß mein Vater Bescheid?« »Ja, Lady.« Sie nickte gedankenvoll. »Das sind keine guten Neuigkei ten.« »Nein, Lady.« »Es ist gut, du kannst gehen.« Als er sich umwandte, rief sie ihm nach: »Welche Anord nungen hat mein Vater daraufhin getroffen?«
»Daß die Ausgänge der Stadt gut bewacht werden. Überall sind die Wachen verstärkt worden. Deshalb ist es auch un wahrscheinlich, daß Hauptmann Felzt weit kommen kann.« »Haltet trotzdem die Augen nach ihm offen!« »Ja, Lady.« »Das erschwert unseren Plan«, sagte sie zu Mythor, als die Wache gegangen war. »Und es bedeutet, daß wir rasch handeln müssen«, ergänzte Mythor. »Am besten heute noch.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, heute nicht. Du hast heute noch eine wichtige Abend-Audienz.« Auf seinen fragenden Blick erklärte sie: »Bei meinem Vater, dem Herzog von Elvinon, der sich genau ansehen will, wie mein rettender Held aussieht und welche Chancen er mit dei ner Hilfe hat, den bevorstehenden Kampf zu gewinnen.« Vor der Audienz hatte Mythor noch Gelegenheit, ein wenig von der Stadt zu sehen. Nyala wies zwei ihrer Wachen an, ihn zu begleiten. Sie selbst wollte mit ihrem Vater sprechen, um nicht nur die Erlaubnis zu bekommen, die Gruft zu besuchen, sondern auch ausreichenden Begleitschutz für den Fall, daß wirklich bereits Caer in der Nähe der Stadt waren. Mythor ertappte sich immer wieder dabei, wie er Churkuuhl mit Elvinon verglich und in allen kleinen Dingen feststellte, wie verschieden das Leben hier war. Selbst die schmalsten Gassen unten am Hafen waren breiter, als die breitesten Durchgänge in Churkuuhl gewesen waren; selbst die einfachs ten Kleider waren bunter als die faser-farbenen Gewänder der Marn; die Menschen hier trugen viel weniger Leder, mehr Gewebe. Es gab Straßen, die waren gepflastert, damit Wagen auf zwei oder vier hölzernen Rädern bequem rollen konnten, gezogen von Pferden und Ochsen. Dann sah er Läden mit Kostbarkeiten aus Metall und Ton, Leder und Holz, Waffen und Gefäße, Gürtel und Helme und Schilde.
Die Wachen, die bald Spaß an diesem Rundgang hatten, als sie merkten, wie unwissend und leicht zu beeindrucken ihr Begleiter war, nahmen es mit der Wahrheit nicht immer sehr genau. Und sie machten sich den einen oder anderen Scherz mit ihm. So schoben sie ihn durch die schmale Gasse der Dir nen, die sich recht handgreiflich um ihn bemühten. Dann nahmen sie ihn mit in eine Taverne und machten ihn vertraut damit, welche Art Vergnügen ihresgleichen in einer Weltstadt fand und daß sie eher sterben als Elvinon den Caer überlassen würden. Der einfache Wein in der Taverne ließ Mythors Sinne bald ein wenig schwimmen. Es trieb ihn aber nach kurzer Zeit wie der hinaus auf die Straßen; was auch die Wachen ein wenig brummig wieder auf die Beine brachte. Für den Weg zur Hafeneinfahrt hinab reichte die Zeit nicht mehr. Es wurde rasch dunkel und kühl. Da und dort brannten die ersten Fackeln und Lampen, doch Soldaten löschten sie, und Mythor erfuhr, daß Herzog Krude die Anordnung gege ben hatte, die Stadt in den dunklen Mantel der Nacht zu hül len, was es den Caer, wenn sie nachts über das Meer kamen, erschweren würde, sie zu finden. Da und dort flammten Lichter auf, wurden jedoch rasch ab geschirmt und ausgelöscht. Die einzigen Feuer, die sie auf dem Rückweg sahen, waren jene in den Essen der Schmieden. Die engen Gassen waren so dunkel, daß sie die Hände nicht vor den Augen sehen konnten. Mythor war dankbar für die Begleitung der Wachen, die ihren Weg mit schlafwandleri scher Sicherheit fanden. Die Menschen hatten sich in die Häuser zurückgezogen. Ne bel zogen vom Meer herauf und krochen durch die steinernen Straßen wie Gespenster. Manchmal hörten sie Schreie. Auf seine Fragen bekam My thor jedoch nur zur Antwort, daß das nicht viel zu bedeuten
habe. Wenn Caer in die Stadt kämen, würde sich das anders anhören. Schließlich wurde ihm auf seine bohrenden Fragen klargemacht, daß wohl Diebsgesindel die Straßen unsicher mache, besonders in einer dunklen Nacht wie dieser, und daß es nicht zu selten in Elvinon sei, daß einer solcherart sein Le ben ließ. Es war schließlich eine große Stadt, und jeder wollte irgendwie leben. Bevor sich Mythor über diesen Widerspruch klarwerden konnte, hatten sie den unteren Teil der Stadt verlassen und die offenen Straßen erreicht, die zwischen den letzten und beein druckenden Häusern und ihren mächtigen Verbindungsmau ern hindurch zur Burg des Herzogs hinaufführten. Dunkel und in weißliche Nebelschleier gehüllt lag der Hafen Elvinons unter ihnen. Wolken hatten den größten Teil des Himmels be deckt, daß kaum ein Stern zu sehen war. Nur undeutlich hob sich der dunkle Koloß der Burg gegen diesen Himmel ab. Unwillkürlich blickte Mythor nach Süden. Doch da waren Berge am Horizont und verbargen das Schimmern des Him mels, das Churkuuhl so viele Jahre begleitet hatte – der Ab glanz des feurigen Kampfes zwischen Himmel und Erde. Hier in Tainnia wußten sie nichts von den unirdischen Mächten, denen die Menschen im Süden ausgeliefert waren, wo die wirklichen Horte der Schatten lagen, wo das Böse hervorkroch in vielerlei Gestalt, um die Menschen zu vernichten. Aber auch er wußte es nur aus den Erzählungen der Marn, Erzählungen, die durch so viele Münder und Generationen gegangen waren, daß sie längst mit Legenden vergleichbar waren. Aber darin lag ein Widerspruch, der ihn beschäftigte. Denn wenn so tief im Süden die Horte der Schattenwelt waren, wes halb sollte dann ein Held des Lichtes so weitab vom Feind er scheinen? Er kam nicht dazu, diesem Gedanken gründlicher nachzu
hängen. Mehrere Männer glitten aus der Dunkelheit einer Mauer auf ihn zu. Fackeln wurden aufgedeckt und blendeten ihn und seine Begleiter. Undeutlich sah er Klingen blitzen. Dann hörte er die Flüche seiner Begleiter und das Klirren von Eisen, als die Klingen aufeinandertrafen. »Laßt die anderen am Leben!« vernahm er einen halblauten Befehl. »Nur der Fremde ist wichtig!« Er duckte sich, als sie auf ihn einhieben. Ein Schlag traf ihn an der Hüfte, und der Schmerz lähmte ihn fast. Er hatte keine Waffe. Aber einer seiner Begleiter war plötz lich neben ihm und ein zweiter Mann auf ihm, der eben zum Stoß mit der Klinge ansetzte. Mythor rollte herum und verbiß sich den Schmerz seiner frisch verheilten Armwunde. Er entwand dem Angreifer das Schwert, bevor er zustoßen konnte. Dann war er auf den Bei nen und wehrte eine Fackel ab, die jemand nach seinem Ge sicht zu stoßen versuchte. Die Klinge fand den Arm, und ein Aufschrei und Wimmern folgte, und die Fackel fiel zu Boden und erlosch. Sein Schwert fand ein zweites Mal Fleisch, als etwas Dunkles auf ihn zustieß. Der Gegner japste, unterdrück te ein Stöhnen, und das Rascheln kündete davon, daß er sich eilig aus dem Staub machte. Neben ihm waren seine Begleiter erfolgreich und brachten die übrigen drei Fackeln zu Fall. Schreien begleitete dies, und in der folgenden Dunkelheit war nur noch das sich rasch ent fernende Geräusch von hastigen Schritten zu vernehmen. »Das war ein kurzes Vergnügen«, brummte eine der Wa chen. »Hat einer von euch was abgekriegt?« »Nicht der Rede wert«, knurrte der andere. »Und du, Frem der?« »Ich muß mich erst vergewissern. Der erste Schlag…« Er be tastete seine Hüfte. Aber der Schmerz rührte nur von der Wucht des Hiebes selbst her. Das rauhe Leder hatte die Waffe
aufgehalten. Da war ein tiefer Schnitt im Gewand, ein Kratzer darunter, nicht mehr. »Nein, es ist alles in Ordnung.« »Da bin ich froh, Fremder. Lady Nyala hätte uns streng zur Rechenschaft gezogen, wenn dir etwas geschehen wäre. Wir hätten uns am besten gleich selbst das Messer gegeben.« Anerkennend meinte der zweite: »Du führst eine gute Klin ge. Man hat schon davon gesprochen… die draußen in den Klippen dabei waren.« »Es gab nicht viel anderes, was man bei den Marn lernen konnte«, meinte er. Aber er schämte sich seiner Worte inner lich. »Möchte wissen, wer es auf ihn abgesehen hat. Von uns wollten sie gar nichts.« Bevor der andere etwas erwidern konnte, behauptete My thor: »Das war ein Gruß von eurem feinen Hauptmann Zoh mer Felzt.« »Du hast einen Zwist mit dem Hauptmann?« sagte der eine grinsend und nickte. »Ja, ja, die Gunst der Lady hat ihre Vorund Nachteile. Er ist ein guter Hauptmann und bei der Garde beliebt. Aber er ist recht eigen, was die Prinzessin betrifft. Wenn er sich bei anderen Weibern ein wenig Entspannung holen würde… Aber dazu ist er sich zu gut.« Er seufzte. »Wir haben immer gewußt, daß es kein gutes Ende nehmen wird.« »Tut mir einen Gefallen«, bat Mythor. »Gern, Freund.« »Da nichts weiter geschehen ist, bitte ich euch, nicht über diesen Vorfall zu reden.« »Wenn du es so willst. Und wie willst du das hier erklären?« Er deutete auf das Schwert in Mythors Hand. »Gar nicht«, sagte Mythor und hob die Klinge, um sie in die Dunkelheit der Nacht zu werfen. »Nein, warte. Es scheint eine gute Waffe zu sein. Es wäre schlecht, sie irgendeinem Schurken zu überlassen. Gib sie uns.
Es ist leicht erklärt, daß wir sie einem Burschen abgenommen haben, der damit Ärger machte.« »Ja, ihr habt recht. Es tut mir in der Seele weh, sie her zugeben.« »Kannst sie dir wiederholen, wenn du Sehnsucht danach hast«, meinte der eine und steckte sie in seinen Gürtel. »Aber wir sollten jetzt eilen. Wenn du noch eine Audienz beim Her zog hast, wie du sagst, dann müssen wir zusehen, daß wir in die Burg kommen.« Er lachte unterdrückt. »Zohmer scheint dich zu unterschätzen, wenn er dir solche Tölpel auf den Hals hetzt.« Herzog Krude saß müde in seinem kleinen Audienzraum und grübelte über die Auswirkungen nach, die es haben mochte, wenn die Nachricht seiner Männer stimmte, daß näm lich Scharen von Caer sich bereits auf dem Festland herum trieben. Es gab keine Hinweise, wie viele es waren. Es mochten hun dert sein, der Größe des Schiffes nach zu schließen, das seine Patrouillen entdeckt hatten, oder tausend, falls es Schiffe gab, die seine Patrouillen nicht entdeckt hatten. Oder ein ganzes Heer! Die Götter mochten es wissen. Ihre Anzahl und ihre Pläne. Es mußte Zauberei gewesen sein. Wie sonst hatten sie seinen Patrouillen entgehen können? »Zu den Schatten mit ihnen!« rief er halblaut. In diesem trüben, grüblerischen Augenblick meldete die Leibwache die Ankunft des Fremden. »Ah, Nyalas Held, der uns alle retten wird«, rief der Herzog ironisch. »Herein mit ihm. Ich bin gespannt auf den Burschen, wenn ich ihn auch schon halb tot gesehen habe, weil ich mir alles ansehe, was meine Tochter heimbringt.« Er lachte und vergaß für einen Augenblick die drohenden Caer. Als Mythor hereinkam und sich verneigte, wie er es von den
Wachen gesehen hatte, wenn auch längst nicht so tief, sagte der Herzog: »Junger Mann, ich habe alles über deine Taten gehört. Meine Männer sagen, daß du ein guter Kämpfer bist. Das schätze ich. Auch wenn der Fürst von Callowy wenig er baut sein wird davon, schlage ich dir vor, ehe du dich von meiner Tochter zum Narren machen läßt, daß du in meine Dienste trittst. Na, was meinst du?« »Um mir noch mehr Feinde zu machen?« erwiderte Mythor. »Hm«, meinte Krude nachdenklich. »Klug bist du auch, scheint es. Wenn du einen Wunsch frei hättest?« »Würde ich dich bitten, mich des Weges ziehen zu lassen.« »Hm.« Eine Weile war Stille. Der Herzog dachte nach, und Mythor hielt es für das beste, ihn nicht zu unterbrechen. »Hat meine Tochter schon mit dir gesprochen?« »Ja.« »Auch über diese kindlichen Vorstellungen, die sie da hat?« »Auch über die.« »Wie denkst du darüber?« »Ein alter Mann lehrte mich, daß Legenden nur eine Form der Wahrheit sind.« »Dann denkst auch du, daß es ihn gibt, diesen… Helden der Lichtwelt?« fragte der Herzog enttäuscht. »Ich würde jedenfalls nicht so einfach behaupten, daß es ihn nicht gibt, Herzog Krude.« »Würdest du nicht, hm? Und möchtest wohl auch gern die ser Held sein?« »Um für andere das gare Fleisch aus dem Feuer zu holen?« bemerkte Mythor beiläufig ablehnend. »Und die Träume an derer wahr zu machen? In meinem Alter hat man eigene Träume.« »Bei den Göttern, du gefällst mir von Augenblick zu Augen blick mehr. Ich wünschte, du würdest mein Angebot anneh
men, aber das würde wohl auch bedeuten, deine eigenen Träume zu opfern.« »Ich glaube, das würde es.« »Bedenke aber, daß eine gute Stellung auch ein guter Aus gangspunkt zur Verwirklichung von Träumen ist.« »Ich bin nicht besonders vertraut mit eurer Art zu leben. A ber nun, da du es sagst, leuchtet es mir ein.« Krude grinste. »Da ist eine Stellung als Hauptmann der Leibgarde frei geworden. Ich könnte mir denken, daß du hoch genug in der Gunst meiner Tochter stehst.« Mythor lächelte. »Ein verlockendes Angebot.« »Inzwischen wäre es mir eine Beruhigung, eine gute Klinge, wie du sie führst, an meiner Seite zu wissen in den Stunden, die vor uns liegen.« »Du brauchst es nur zu befehlen.« Krude nickte. »Ich habe so viel befohlen. Aber manche Be fehle taugen nichts.« »Ja«, stimmte Mythor zu. »Wie jener, der deine Krieger auf die wenigen Überlebenden meines Stammes hetzte…« »Und der vielen meiner Krieger den Tod brachte«, ergänzte der Herzog bitter. »Ich habe diesen Befehl nicht gegeben, Jun ge. Aber welche Höhe und Macht ein Reich auch immer errei chen mag und wie sehr es auf andere Völker als Barbaren he rabsieht, es hat immer noch einen guten Teil Barbarisches selbst in sich. Thorwil von Callowy ist ein solcher. In ihm sind die alten Ängste, die alten Kräfte und die alten Leidenschaften lebendig. Ihr schient ihm eine leichte Beute zu sein. Und die schwarzhäutigen Menschen deines Volkes flößten ihm Furcht ein.« »Furcht vor drei oder vier Dutzend Überlebenden, die vor Grauen über den Untergang ihrer Welt wie gelähmt waren?« fragte Mythor ungläubig. »Die Urangst der Menschen vor der Schwärze und Dunkel
heit. Ich habe deinen alten Freund gesehen. Ein wenig verstehe ich Thorwils Furcht. Die Umstände… diese riesigen dämoni schen Kreaturen, auf denen ihr eure Häuser bautet, und das dämonische Heulen, als sie sich in die Tiefe stürzten… Ich ha be es nicht selbst gesehen oder gehört, aber ich habe die Män ner reden hören. Und nun steht uns ein Geschick bevor, das nicht weniger barbarisch sein wird. Vernichtung um der Ver nichtung willen.« Der Herzog von Elvinon blickte Mythor starr an. »Dein Stamm ist nicht bedauernswerter als jedes andere Volk, dessen Zeit abgelaufen ist. Deine Vorwürfe entspringen dem quälenden Geist der Jugend, der tausend Fragen stellt und immer nach dem Warum sucht. Ich hatte keinen Anteil am Untergang deines Volkes, das nicht einmal dein Volk ist, wenn ich Nyala recht verstanden habe. Ich fühle auch keine Schuld. Du überschätzt deine Wichtigkeit, wenn du denkst, daß ich dir um den Bart streiche. Und an den verrückten Ideen meiner Tochter habe ich keinen Anteil. Sie ist launisch. Sie hebt dich heute in den Himmel und läßt dich morgen fallen. Wäre sie nicht im Grunde ihres Wesens gut und gerecht, ließe ich ihr nicht diese Freiheit in so vielen Dingen. Aber es mag alles nur der Einfluß dieses unseligen Hauptmanns gewesen sein, mit dem sie herumspielte. Und jetzt bist du an der Rei he… ein himmlischer Held. Mit Geringerem gibt sie sich nicht mehr zufrieden. Ihre Mutter war nicht anders.«
Es war fast Mitternacht, als Mythor endlich aus der Gesell schaft des gesprächigen alten Mannes entlassen wurde. My thor lernte eine ganze Menge über Tainnia, und er bekam den Eindruck, daß es ein großartiges Land war, in dem sich gut leben ließe, wären die Caer nicht dieser gleichen Ansicht ge wesen. Mythor berichtete ihm über Churkuuhl und die Marn,
über das einfache Leben in der Wanderstadt, über die Yarls, die sich seit Generationen nicht mehr lenken ließen und schließlich wie von Dämonen besessen ins Meer sprangen. Er erwähnte nichts von seiner nebelhaften Herkunft oder den Legenden der Marn, die Nyala so in Aufregung versetzt hat ten. Er hatte vorgehabt, den Herzog zu bitten, ihm Zugang zur Gruft zu gewähren. Aber er bekam keine Gelegenheit dazu, und schließlich kam er auch wieder von dem Gedanken ab. Nyala würde sich übergangen fühlen, und er stand zu tief in ihrer Schuld, um sie zu hintergehen. Er wollte ihre Gunst nicht verlieren. Es war, als ob er die kurze Berührung ihrer Hände noch immer spüre. Es war mehr als nur Gunst. Und nach all den Schrecknissen war die Zuneigung dieser wunderschönen jungen Frau wie Balsam auf der Seele und ließ ihn die schmerzlichen Erinnerungen vergessen, die ihn immer wieder überfielen. Krude erschien Mythor als ein seltsamer Mann. Er wußte nie genau, wann der Herzog scherzte oder es ernst meinte. Er mochte lächeln mit grimmigem Blick, und er mochte fluchen mit lachenden Augen. Aber er war ein verträglicher Mann, der gern ein wenig Ruhe gehabt hätte, anstatt noch einmal in die Schlacht zu ziehen. Er hatte keine Furcht, nicht vor dem Kampf, nur diese Urangst vor dem Bösen, vor der Magie der Caer-Priester, die ihn mutlos zu machen drohte und die ihm immer wieder einflüsterte, daß Elvinon fallen würde. Er war ein alter, starker Mann, der angefangen hatte, mit dem Schicksal zu hadern. Als Mythor schließlich, geläutert von dieser Vielfalt tainnia nischer Ansichten und Vorstellungen, den Audienzraum ver ließ und in jenen Teil der Burg zurückging, in dem seine Kammer lag, hatte er das Gefühl, daß ihm jemand nachschlei che. Die abgedunkelte Lampe erhellte kaum die Steinwände
des Korridors neben ihm. Er spürte Unbehagen und Unsicher heit in dieser steinernen, hallenden Dunkelheit, wie er sie nachts in Churkuuhl nie gekannt hatte. Hier waren so viele Menschen, und sie waren alle fremd. In Churkuuhl war ihm jeder vertraut gewesen. Die grandiose Welt der Stadt hatte auch ihre düsteren Seiten. Er fand gleich darauf erleichtert die runde Treppe, die vom Turm nach unten in das langgestreckte Haus der Burg führte. Er fröstelte in der zugigen Kälte. Er hätte das Schwert behalten sollen, statt es den Wachen zu geben. Er brauchte eine Waffe in dieser unsicheren Welt. Zohmer Felzt mochte in jedem Winkel dieser Schwärze auf ihn lauern. In der verdunkelten Stadt konnte sich jeder Schurke frei bewegen. Als er sich seiner Kammer näherte, glaubte er eine erstickte Stimme aus Nyalas Räumen zu hören, wie ein unterdrücktes Rufen. Er blieb stehen und lauschte. Der Laut wiederholte sich nicht, aber hinter ihm erklang ein verräterisches Knirschen von kleinen Steinen unter festem Schuhwerk. Er hatte sich also nicht getäuscht. Jemand verfolg te ihn. Er hielt die Lampe hoch, in dem Augenblick, als eine Klinge aus der Schwärze herabfuhr. Mythor ließ sich fallen und warf die Lampe. Das Schwert verfehlte ihn um Fingerbreite. Die lange Kette der Lampe be hinderte den Angreifer einen Augenblick. Er fluchte etwas, das Mythor nicht verstand. Mythor rollte am Boden herum, erst aus dem Schein der Lampe, dann auf den Angreifer zu und zwischen seine Beine. Der Unbekannte fiel und begrub die Lampe unter sich. Er kam jedoch rasch wieder auf die Beine und fluchte erneut in unverständlicher Weise. Das Öl der Lampe war ausgelaufen, und der Boden des Korridors und das Wams des Mannes lo
derten auf. Die Furcht vor dem Feuer war größer als die vor einem Angriff seines Opfers. Während er versuchte, das Feuer an seinem Wams zu löschen, entglitt das Schwert seiner Hand. Bevor er sich bücken konnte, sprang Mythor durch das Feuer, das über die ganze Breite des Korridors brannte, und stieß den Angreifer zur Seite. Dann hatte er die Klinge in der Faust und stach zu, bevor der andere auf die Beine kommen konnte. Der fiel mit einem lautlosen Schrei auf den Lippen und war bereits tot, als Mythor die Klinge wieder aus dem Körper riß. Heftig atmend sah er sich um. Der Korridor war taghell er leuchtet. Der Angreifer schien allein gewesen zu sein. Wieder ein Meuchelmörder, den Zohmer Felzt ihm schickte, dachte Mythor grimmig. Und er wußte, er würde nicht immer soviel Glück haben. Aber als er den Mann näher betrachtete, sah er, daß es kein Tainnianer war, wie er sie bisher in Elvinon gesehen hatte. Der Umhang mochte den flüchtigen Beobachter täuschen, doch darunter trug er Wams und Rock aus Fellen. Sein Gesicht war von einer grimmigen Wildheit gezeichnet, soweit es unter dem dicht wucherndem Bart zu erkennen war. In seinen gebroche nen Augen war ein dunkler Schatten, der wie eine schwarze Flamme wogte und schließlich erlosch. Mythor schauderte. Aber dann war nichts Dämonisches mehr an dem Toten. Es war wohl das flackernde Feuer, das nun langsam niederbrannte, das ihm Gespenster vorgaukelte. Obwohl das Feuer den ganzen Korridor entlang und sein heller Schein wohl auch noch weit um die Krümmung zu se hen sein mußte, erschien keine von den Wachen, die gewöhn lich vor Nyalas Gemächern standen. Vorsichtig schritt Mythor den Korridor entlang, das Schwert halb erhoben, zum Stoß bereit. Als er um die Krümmung kam, sah er, daß Nyalas Tür unbewacht war. Und im gleichen Au genblick hörte er wieder den erstickten Laut.
Er beschleunigte den Schritt, verhielt an der Tür und lausch te. Als er sein Keuchen unterdrückte, vernahm er leise Stim men, die eigenartig klangen. Es waren männliche Stimmen. Er verstand nicht, was sie sprachen, so fremdartig klang ihr Dia lekt. Er widerstand dem Drang, die Tür aufzureißen und hinein zustürmen. Er wußte nicht, wie viele sie waren. Das Feuer war fast niedergebrannt und der Korridor dunkel. Unentschlossen horchte er. Dann vernahm er wieder das er stickte Stöhnen, und diesmal wußte er, daß es Nyalas Stimme war. Gleichzeitig näherten sich Schritte der Tür. Mythor wich zurück in die Dunkelheit des Korridors gegen über. Eine Stimme sagte etwas halblaut. Dann wurde die Tür vorsichtig geöffnet, und ein bärtiges Gesicht starrte heraus. Wie der Tote im Korridor trug der Mann Fellkleider. Er hatte eine Axt im Gürtel, aber einen Dolch in der Faust. Er entdeckte Mythor nicht sofort, da seine Augen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen mußten. Aber Mythor sah hinter ihm deutlich ein Bild, das ihn keinen Augenblick zögern ließ. Nyala stand zwischen zweien dieser fremdartigen Krieger. Sie wehrte sich, als die beiden sie auf die Tür zuschoben, doch ihre Hände waren gefesselt, und ein Tuch vor dem Mund hin derte sie am Schreien. Mythor sprang mit vorgestreckter Klinge auf den ersten zu, und der Mann an der Tür starb, bevor er seinen Gegner wahr genommen hatte. Mythor stieß ihn mit der Klinge zur Seite und schob sich durch den Eingang. Bevor er die Tür schließen konnte, kamen ihm drei dieser fellgekleideten Männer entge gen. Sie hatten ihre Waffen bereits in den Fäusten, Äxte und Schwerter. Und ein vierter winkte den beiden mit der gefan genen Nyala, aus Mythors Reichweite zu gehen. Nyala blickte ihm mit Wut und Verzweiflung entgegen und
versuchte sich von ihren Gegnern loszureißen. Aber einer nahm sie an dem langen Zopf dunklen Haares und riß sie zu Boden. Ihr rotes weites Gewand behinderte sie. Mythor sprang ihr zu Hilfe, doch er erreichte sie nicht. Zwei der Krieger versperrten ihm den Weg. Einer nur für einen Au genblick, weil er Mythors Geschwindigkeit unterschätzte und nicht mehr zum Parieren kam. Der zweite warf sich heulend auf ihn, und Mythor taumelte unter dem Aufprall zurück und ging zu Boden. Die Axt des Mannes schlug neben seinem Kopf klirrend auf den Stein. Mythor rammte seine Knie hoch und kippte den Gegner über sich hinweg. Als er auf die Beine kam, sah er aus den Augenwinkeln die übrigen Männer mit der sich heftig wehrenden Nyala durch die Tür verschwinden. Aber auch sein unmittelbarer Gegner war auf den Beinen und ließ ihm keine Zeit, hinterherzueilen. Er schwang die Axt, und Mythor versuchte nicht erst, mit der leichteren Klinge zu parieren. Er wich aus und stieß zu, als der Mann unter der Wucht des eigenen Hiebes ins Leere taumelte. Mit einem er stickten Schrei fiel der Mann. Mythor raste zur Tür und hetzte den Korridor entlang, an dessen entferntem Ende ein Lichtschein verschwand. Sie muß ten noch vier sein, wenn nicht noch andere auf sie warteten. Stimmen wurden laut irgendwo in seiner Nähe, verschlafe ne, erschrockene Stimmen. Halb angekleidete Wachen stolper ten aus ihren Kammern. »Lady Nyala!« rief Mythor, ohne anzuhalten. »Man will sie entführen! Schnell!« Irgendwo hob ein Tumult an. Die Burg erwachte. Fackeln und Lampen flammten auf und warfen ein vages, flackerndes Licht durch die Gänge und Treppen, über die Mythor nach unten eilte. Mehrere Körper lägen still und verkrümmt auf seinem Weg. Er hielt nicht an. Er mußte auf der Spur der Lebenden bleiben.
Ein wilder Grimm krampfte sein Herz zusammen. Er hatte Taka vor wenigen Tagen verloren, weil er zu schwach gewe sen war, sie zu beschützen. Es durfte nicht auch noch mit Nya la geschehen! Hastige Schritte hinter ihm sagten ihm, daß die Wachen folg ten. Er würde Hilfe brauchen können. Dann erreichte er die untere Halle, die zum Tor führte. Hier brannten drei Fackeln in ihren mannshohen Halterungen und hellten die schwarze weite Leere der Halle spärlich auf, doch genug, um zu erken nen, daß sie ihn erwarteten. Zwei von ihnen, während die übrigen – ihre Zahl war auf ein halbes Dutzend angewachsen – mit der sich heftig sträu benden Nyala durch das Tor liefen. Verstreut in der Halle lagen die Leichen der Wachen, die von den Eindringlingen überrascht worden waren. Mythor verlangsamte seinen Lauf nicht, aber er änderte die Richtung, als sie ihm den Weg versperren wollten. Kurz vor dem Zusammenstoß sprang er geschmeidig zur Seite, was die beiden zwar erwartet hatten, aber sie behinderten einander einen Moment, so daß Mythor nur einen vor sich hatte, der mit seiner Axt ausholte, die schwere Waffe aber nicht mehr nach unten brachte, bevor Mythor gegen ihn stieß. Der Mann ächzte unter dem Zusammenprall, und seine Zähne schlugen kli ckend aufeinander. Sie fielen beide, wobei der Körper des anderen Mythors Fall erheblich dämpfte. Der große Raum hallte von Klirren und Fluchen wider. Mythor kam auf die Beine und sah, daß die Wachen die Treppe herabkamen und auf die beiden Eindringlinge ein stürmten. Er hielt sich nicht auf. Als er das Tor erreichte, sah er, wie sie Nyala auf ein Pferd hoben. Vier waren aufgesessen. Zwei ließen davon ab, als sie ihn kommen sahen. Mythor täuschte den einen und bohrte die Klinge in vollem
Lauf in den anderen. Wie durch ein Wunder der Götter war er bis zu diesem Augenblick unverletzt geblieben. Er wartete nicht auf den zweiten, der den Tod seines Kame raden mit einem wütenden Aufbrüllen begleitet hatte. Mythor erreichte eines der wild tänzelnden und wiehernden Pferde, das in panischen Lauf fiel, noch bevor er ganz auf dem Rücken war. Der Gegner erreichte ihn fast, doch sein Hieb ging ins Leere, als das Pferd vorwärts stob. Es war ein halsbrecherischer Galopp, erst ein Stück die ge pflasterte Straße hinab und schließlich an einer der Mauern entlang. Mythor, der sich verzweifelt festklammerte, die Hän de in die Mähne gekrallt, tief über den Hals gebeugt, sah vor sich die dunklen Schatten der Fliehenden und weit hinter sich den Verfolger. Die spärlichen Reitererfahrungen, die er auf seinen Ausflü gen von Churkuuhl gesammelt hatte, nützten ihm wenig, aber das Pferd folgte instinktiv den Fliehenden. So beschränkte sich Mythor darauf, sich festzuhalten und in eine aufrechtere Lage zu kommen, die ihm auch Gegenwehr gestatten würde. Das Schwert lag unendlich schwer in seiner Faust und behinderte ihn, aber er wagte nicht, es loszulassen. Sie erreichten einen Graben, der die Flucht verlangsamte. Er war mitten unter ihnen, als sie sich südwärts wandten. Er stob durch die Gruppe hindurch und schwang die Klinge. Daß er traf, war purer Zufall, und der Schlag warf einen der Männer vom Pferd. Und ihn fast mit. Nyala, die einer der Männer vor sich auf sein Pferd genom men hatte, nützte das Chaos und ließ sich fallen. Sie landete mit einem Aufstöhnen und rollte in die Dunkelheit, bevor der Reiter sie wieder zu fassen bekam. Fluchend begann er mit der Axt in die Dunkelheit zu schlagen. Und er war so damit be schäftigt, daß er Mythor erst bemerkte, als ein Schwerthieb ihn vom Pferd holte.
Der Verfolger kam heran, und sie erschlugen ihn, bevor sie erkannten, daß es ihr eigener Mann war. Als Mythor sein Pferd vollends zum Halten brachte, war Stille unmittelbar um ihn. Nur aus weiter Ferne kamen Stim men und der Schein winziger Lichter. Heftig atmend glitt My thor von seinem schnaubenden Pferd und lauschte. »Nyala!« rief er halblaut. Hufgetrappel antwortete ihm augenblicklich. Ein Reiter kam auf ihn zu. Mythor duckte sich tief zum dunklen Boden. Der Reiter sah ihn nicht, doch Mythor konnte ihn gegen den spärlich helleren Himmel ausmachen. Er wich der Axt aus und brachte die Klinge von unten hoch. Der Mann schrie kurz und stürzte. Als der Schrei verklungen war, rief eine Stimme fragend: »Aemin! Aemin, was ist? Hast du den verfluchten…« Das folgende Schimpfwort vermochte Mythor nicht zu ver stehen. Undeutlich erwiderte er: »Ja.« »Gut. Wo ist diese dreimal verdammte Hexe? Wir können nicht ohne sie zurückkehren. Umin würde uns…« Auch das vermochte er nicht zu verstehen. Dann war längere Zeit Stille und schließlich ein röchelnder Aufschrei und kämpfende Geräusche am Boden. Als sie verklangen, rief Mythor: »Nyala?« »Hier, Mythor!« kam die erleichternde Antwort. »Quyl sei Dank, du lebst!« rief er erfreut. »Und Erain sei Dank dafür, daß ich dich lebend wiederse he!« schluchzte und rief sie. »Wo bist du?« »Hier, Nyala.« Er führte sein Pferd am Zügel langsam in die Richtung, aus der ihre Stimme kam. Gleich darauf kam ein dunkler Schatten auf ihn zugestolpert und glitt mit einem er schöpften, glücklichen Seufzen in seine Arme. Doch nahende Stimmen ließen sie nicht zu Atem kommen. Sie klangen genauso fremdartig wie die der Männer, die sie so
erfolgreich bekämpft hatten. »Dein Freund Zohmer hat wohl eine ganze Armee angeheu ert, um uns in die Finger zu bekommen«, flüsterte er. »Das sind nicht Zohmers Leute. Das sind Caer.« »Caer!« entfuhr es ihm. »Still!« Die Stimmen näherten sich. Schritte und Hufeklappern ka men ganz aus ihrer Nähe, und Mythor betete zu Quyl, daß sein Pferd ruhig bleiben würde. Sein Gebet wurde erhört. Nach einer Weile entfernten sich die Stimmen und Geräusche. Die Krieger entdeckten auch ihre gefallenen Kameraden nicht. Aber sie bewegten sich auf die Burg zu und schnitten ihnen den Weg ab. »Wir können nicht zurück«, murmelte Mythor. »Was tun wir?« »Erst warten, bis sie weit genug weg sind, daß sie uns nicht mehr hören können.« »Weißt du, wo wir sind?« »Ungefähr.« »Gibt es einen Weg in die Stadt hinab, den sie vielleicht nicht bewachen?« »Ich glaube nicht, Mythor. Sie werden überall in den Hügeln sein.« »So sollten wir versuchen, die anderen zu warnen.« »Das wird nicht nötig sein. Du hast genug tote Caer in der Burg zurückgelassen, daß Vater die richtigen Schlüsse ziehen wird. Komm, mit ein wenig Glück können wir im Morgen grauen Cythor erreichen. Vaters Männer bewachen die Gruft. Dort finden wir genug Hilfe, um sicher zurückzukehren.« Er zögerte. »Wenn das alles der Auftakt zum Angriff ist, was ich glaube, wird dein Vater im Ungewissen sein über den Verbleib seiner Tochter und…« »Er hat seine Heerführer und Kapitäne, um die er sich
kümmern muß«, sagte sie fest. »Und er wird wissen, daß du auf meiner Fährte bist. Und er weiß auch, daß du ein Mann bist, an dem sich die Caer die Zähne ausbeißen. Und…« Ihre Hand strich durch sein Haar und verweilte an der Nar be hinter seinem Ohr. Sie zog seinen Kopf herab und küßte ihn leicht auf den Mund. »Er wird vielleicht ein wenig zu hoffen beginnen, daß ich recht habe mit meinen Träumereien und daß du derjenige bist, für den ich dich halte.«
Sie flohen unangefochten durch die Nacht. Nyala hatte den Umhang eines toten Caer um ihre Schultern geworfen, denn sie fror in ihrem roten Abendgewand. Sie hat te auch die Klinge behalten, an der sie ihre Fesseln durchge schnitten hatte, und das Pferd des Caer. Mythor bewunderte sie ihrer Entschlossenheit und ihrer Furchtlosigkeit wegen. Sie wäre eine gute Gefährtin in dieser rauhen Welt des Kampfes. Er fragte sich, wie sie in der Dun kelheit ihren Weg fand. Sein eigener Ritt, obwohl er mit dem Pferd langsam vertraut wurde und es seinem einfachen Schenkeldruck gehorchte, erschien ihm mehr wie das Voran tasten eines Blinden. Sie verirrte sich nicht. Bei Anbruch der Morgendämmerung vernahmen sie das Rauschen der Wasserfälle, das sie begleite te und kräftiger wurde, bis sie in der aufgehenden Sonne das grandiose Schauspiel des herabstürzenden Wassers vor sich sahen. »Die Wasserfälle von Cythor«, erklärte sie. Die Müdigkeit hatte ihnen das letzte Stück des Weges zu schaffen gemacht, doch der Anblick ihres Zieles erfüllte sie mit frischer Kraft. »Wir reiten am besten ganz offen, damit uns die Wachen früh entdecken.«
Er nickte. »Müssen wir ganz hinauf?« »Wenn du in die Gruft willst, ja. Sie ist hinter den Fällen ver borgen.« Während der Stunden des nächtlichen Rittes hatten ihn die Gruft und die Legende mehr beschäftigt, als er sich eingeste hen wollte. Und nun war seine Neugier unbezähmbar. »Nichts wird mich davon abhalten, Nyala. Weder deines Vaters Wa chen noch die Schattenkräfte, die deine abergläubischen Landsleute in solchen Schrecken versetzen.« Sie lächelte. »Das dachte ich mir.« »Sagt deine Legende auch etwas darüber aus, was alles auf den Helden zukommt, wenn er den Entschluß faßt, die Welt zu retten?« fragte er ironisch. »Und ob. Es heißt, daß der Sohn des Kometen sich erst be währen muß und daß ihm schwere Prüfungen auferlegt wer den. Erst wenn dies geschehen ist, wird er die Macht besitzen, seine Aufgabe zu beginnen. Aber die Prophezeiung enthält auch eine Warnung. Es heißt, daß es getan sein muß, ehe der Lichtbote von seiner langen Reise zur Welt zurückkehrt, denn er wird sehr schwach sein, und fällt sein Licht nicht auf eine klare Lichtwelt, so wird sein Licht erlöschen und die Welt un tergehen.« »Um nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Welt geht also der Kampf?« Sie nickte ernst. »Du bist fest überzeugt von der Wahrheit dieser Legende?« »Von ihrem wahren Kern«, berichtigte sie. »Gibt es jemanden, der wissen könnte, wann der Lichtbote auf unsere Welt zurückkehrt?« Sie sah ihn überrascht an. »Diese Frage habe ich mir noch nicht gestellt. Ja, Seher vielleicht. Aber hätten sie es nicht längst verkündet, wenn sie es wüßten?« Mythor nickte. »Vielleicht weiß die andere Seite es.«
»Die andere Seite?« »Die Zauberpriester der Caer.« Sie ritten einen felsigen Pfad am Fuß der Fälle entlang und hielten unvermittelt an. Eine reglose Gestalt lag auf dem stei nigen Boden. »Ein Wachtposten!« entfuhr es Nyala. »Einer von Vaters Männern. Ich kenne ihn.« Sie stieg ab und beugte sich über ihn, während Mythor un ruhig die Felsen beobachtete. »Er hat keine Wunde«, sagte sie mit bleichem Gesicht. »Der Atem des Todes. So weit drang er noch nie. Nun siehst du es selbst.« Neugierig stieg Mythor ab. »Wo sind die anderen?« »Es wird ihnen ebenso ergangen sein.« Sie zitterte. Mythor beugte sich über den Toten. Blut war nirgends zu sehen, aber etwas anderes fand er. »Der Atem des Todes war sein eigener«, stellte er trocken fest. »Er hätte mehr gebraucht. Er ist erwürgt worden… von hinten.« Er deutete auf die bläu lichen Würgemale zwischen Helm und Wams. »Wir lassen besser die Pferde hier, steigen zu Fuß hoch und nutzen jede Deckung, die wir finden können. Vorwärts.« Weder des Herzogs Männer noch ihre Widersacher kamen zum Vorschein, während sie nach oben kletterten. Das Don nern und Rauschen der Fälle war betäubend, und es wurde kälter mit jedem Schritt, den sie taten. Aber trotz des Lärms hörten sie in der Ferne die Alarmhörner. Nyala hielt an und klammerte sich an Mythor. »Elvinon!« »Was bedeutet es?« »Nur eines: Die Caer greifen an!« Sie starrten auf den Hori zont hinter den Hügeln. »Es ist zu spät, jetzt umzukehren«, sagte Mythor nach einem Augenblick. »Laß uns dies hier zu Ende bringen.« Sie nickte fröstelnd. »Es ist kalt wie…«
»Der Atem des Todes?« ergänzte er unsicher. »Spürst du es nicht?« »Es ist das Wasser. Es ist immer kalt in den Bergen, wo es herkommt.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist eine andere Kälte. Sie klam mert sich mir ums Herz. Ich habe sie noch nie so stark gefühlt. Ich kann kaum atmen.« Sie taumelte. Mythor hob sie hoch und trug sie ein Stück. Sie lag wie leb los in seinen Armen, die Augen geschlossen, die Wangen bleich und feucht vom sprühenden Wasser, das der Wind der Fälle wie Staub über die Felsen trug. Als er das Mädchen absetzte, nun, da der Vorhang schäu mender Gischt vor ihm lag, war es schwach und sank zu Bo den. »Laß mich hier«, flehte sie, so leise, daß er sein Ohr an ihre Lippen bringen mußte, um sie zu verstehen. »Nicht weiter! Es ist der Hauch des Todes.« Sie versuchte sich aufzurichten. Mythor hob sie erneut hoch und trug sie ein Stück zurück den Hang hinab, bis er sah, daß Farbe in ihre Wangen zurückkehrte. »Ich werde auf dich warten, Mythor. Ich fühle, daß ich mich nicht irre.« Sie klammerte sich an seinen Arm. »Du spürst ihn nicht, den Hauch des Todes?« Er schüttelte verneinend den Kopf. »Weil du gewappnet bist… von den Göttern gewappnet… Geh jetzt! Du weißt, ich kann auf mich allein achtgeben.« Er beugte sich rasch hinab und küßte ihre kalten Lippen. »Ich komme zurück«, versprach er. Und fügte zu sich hinzu: »Wenn du recht hast mit deinen Träumen.«
Als er durch das tosende Wasser am Rand des Falles trat, um gab ihn eisige Kälte, die ihm den Atem verschlug. Einen pani
schen Moment lang dachte er an Nyalas Atem des Todes. Aber es war nur die eisige Nässe, die ihm selbst noch durch die Haut zu dringen schien. Dann war er durch, wie sie es gesagt hatte. Dahinter gähnte ein dunkler Schlund, eine dämmrige Tiefe, erhellt nur von dem gedämpften Licht, das durch die Wasserwand des Falles drang. Seine Schritte hallten auf dem Geröll des Höhlenbodens. Er sah auch gleich Spuren von Besuchern, die vor ihm dagewesen waren. Halb verbrannte Fackeln und Zunder. Frierend ließ er sich nieder und verbrachte eine Weile damit, eine der Fackeln zu entzünden. Verwirrung war in seinen Gedanken. Verwirrung und Auf regung. Er empfand keine Furcht. Was ihn beschäftigte, war nur Neugier. Konnte es wahrhaft sein, daß er Teil einer tainni anischen Legende war? Mit einemmal erschien ihm selbst der unbeirrbare Marsch der Yarls voller Bedeutung. Sie hatten seinen Weg gekreuzt und ihn zu seinem Bestimmungsort getragen, hierher, wo die se Gruft lag. Großer Quyl, welch ein verrückter Gedanke! Aber nein, da war auch die marnische Legende, das Licht und der Bitterwolf. Die Geheimnisse häuften sich um ihn. Lag hier die Lösung? Kaum. Er grinste ernüchtert, als er die Fackel hob. Viele wa ren vor ihm dagewesen. Auch sie hatte nur die Neugier ge trieben. Oder Gier nach Reichtum. Nicht irgendeine himmli sche oder höllische Bestimmung! Es war trotz allem nur der Traum eines Mädchens und seine eigene Sehnsucht nach gro ßen Dingen, die ihm hinter den hölzernen Wehren der Marn verwehrt gewesen waren. Er schritt vorwärts in die Dunkelheit hinein. Und der Boden wurde glatt und schwarz, von einer funkelnden Schwärze, die das Licht seiner Fackel in tausend flackernden Punkten wider
spiegelte. Mythor hielt den Atem an. Vor ihm lag eine Treppe, die in die Tiefe führte. Sie war aus schwarzem Stein gehauen. Das Rauschen des Wasserfalls klang plötzlich gedämpft, als sei er weit entfernt. Aber als er sich umwandte, konnte er ihn deut lich sehen. Ein kalter Lufthauch kam aus der Tiefe. Er begann hinabzusteigen, von Staunen und Ehrfurcht erfüllt. Eine Trep pe wie diese mußte zu großen Dingen führen. Sein Herz poch te aufgeregt. Das Schwert in seiner Rechten war ein Stück der vertrauten Welt, an das er sich klammerte. Weißliche Gegenstände schimmerten auf den schwarzen Stufen. Als er näher kam, sah er, daß es Skelette waren. Dut zende. Bis hierher waren viele gelangt. Was hatte sie aufgehalten? Waren sie bereits auf dem Rück weg gewesen? Ein drohendes Knurren, das vielfach widerhallte, ließ ihn mitten im Schritt verhalten. Aus der Schwärze der Treppe löste sich ein noch schwärze rer Schatten von gewaltiger Größe und kam geduckt auf ihn zu. Augen glühten rötlich in einem großen schwarzen Schädel, und ein Rachen öffnete sich und ließ Zähne im Fackellicht auf blitzen, so groß wie die krummen Schwerter der Marn. Ein Atem von Tod schlug ihm entgegen, nicht kalt wie der, den Nyala verspürt hatte, sondern heiß und voll Hunger. My thor wich zurück vor dem Tod. Und was wie eine Spiegelung auf dem schwarzen Stein ausgesehen hatte, wurde zu einer zweiten Bestie, die ebenfalls das Opfer erspäht hatte. Der Drang, sich umzudrehen und um sein Leben zu laufen, war fast übermächtig in Mythor. Aber das war es wohl, was auch die anderen getan hatten. So blieb er stehen, als sei er mit dem schwarzen Stein ver wachsen, und starrte den geifernden Rachen der beiden Raub katzen entgegen.
Sie zögerten. Ein Grollen kam aus ihren Rachen. Geifer floß die Säbelzähne hinab. Aber da war ein Opfer, das nicht lief. Es war anders als I sonst. Sie duckten sich zum Sprung, aber sie sprangen nicht. Auch nicht, als Mythor sich mit grimmiger Entschlossenheit vor wärts schob. Der Hunger war in ihren gelben Augen und raste in ihren Eingeweiden. Der Hunger von vielen Tagen. Aber ihr Grollen erstarb in einem winselnden Ton. Hechelnd wichen sie zurück. Und gaben den Weg in die dunkle Tiefe frei für diesen ungewöhnlichen Eindringling. Mythor zögerte nicht. Er spürte zum erstenmal den Hauch der Bestimmung.
Horst Hoffmann
DIE FLOTTE DER CAER
Sie kamen mit dem ersten Morgenlicht und schienen die Strah len der aufgehenden Sonne zu schlucken. Schwarze Schiffe bildeten eine dunkle Linie auf der Straße der Nebel zwischen dem Land- und dem Inselteil Tainnias. Caer-Schiffe, eine Flotte, mächtiger als in den düstersten Visi onen des Mannes, der einsam auf einem der Wachtürme der Hafenanlage von Elvinon stand, nur von ein paar Kriegern umgeben, die er nicht einmal mehr wahrnahm. Herzog Krude von Elvinon hatte sie erwartet. Er hatte ge wußt, daß Caer sich nicht auf die Herzogtümer auf der Insel beschränken würde – Ambor und Akinborg waren fest in der Hand der blutrünstigen Krieger und ihrer besessenen Priester, die sie mit den Kräften der Dunklen Magie vorantrieben. Caer griff nun nach dem Kontinent; nach Elvinon, Akinlay, Nuga mor und Darain. Nach ganz Tainnia, nach den angrenzenden Reichen, nach dem Rest der Lichtwelt. Hungrige Wölfe, die über die untereinander zerstrittenen Schafe herfielen. Verbitterung zeichnete sich auf dem Gesicht des Herzogs ab und ließ ihn um Jahre gealtert erscheinen. Vergeblich hatte er auf Hilfe von den anderen Herzogtümern gewartet. Seine Ku riere waren mit Absagen oder Vertröstungen zurückgekehrt – plumpen Ausreden. Alles, was Elvinon den Invasoren entge genwerfen konnte, war die eigene Flotte, die diesem giganti schen Aufgebot der Caer hoffnungslos unterlegen war. Krude hatte sich damit abzufinden, daß er diesen Kampf al lein durchfechten mußte. Und was er sah, zerstörte seine letz ten Hoffnungen. Der Herzog konnte die schwarzen Schiffe nicht zählen, aber es mußten Tausende sein – vier- oder gar
fünftausend. Schreie hallten über das Hafengelände. Herzog Krude senkte den Blick und beobachtete, wie seine Flotte auslief, um den Gegner noch auf offener See zu stellen und zu verhindern, daß er erst seinen Fuß auf das Land setzen konnte. Krieger gingen an Bord, besetzten die Ruderbänke, setzten die Segel. Kom mandos wurden gebrüllt. Krude begegnete den Blicken von Männern, die wußten, daß sie in den Tod gingen. Sie alle hat ten von der Schwarzen Magie der Caer-Priester gehört, und für viele war Caer gleichbedeutend mit dem dunklen Rand der Welt, dem Sitz alles Bösen und Finsteren, von Dämonen und Kreaturen, die sich auszumalen nicht einmal die kühnste Phantasie in der Lage war. Herzog Krude versuchte vergeblich, seine düsteren Visionen zu verscheuchen. Mut war alles, was er seinen Kriegern geben konnte. Sie sollten ihn sehen, aufrecht und voller scheinbarer Zuversicht. Kein Muskel zuckte im Gesicht des Mannes, der in voller Rüstung auf dem Wachturm stand, dann und wann die Hände hob und die Krieger zur Eile trieb. Die Alarmfanfaren waren verstummt. Nicht einmal sie hat ten Nyala, des Herzogs Tochter, herbeibringen können, die in dieser Stunde größter Gefahr nicht an der Seite ihres Vaters war. Krude bebte innerlich, als er daran dachte, daß die auf ungeklärte Weise in den Palast eingedrungenen Caer mit Nya la entkommen konnten. Alles in Krude drängte darauf, von den Zinnen zu steigen und selbst die Suche aufzunehmen. Sein einziger schwacher Trost war, daß auch Mythor ver schwunden war. Die tot in den Korridoren und der Halle des Schlosses liegenden Feinde waren durch seine Hand gestor ben. Mythor war hinter den Entführern her, und wenn es je manden gab, der Nyala retten konnte, dann war er es. Es war ungeheuerlich, daß ein Caer-Trupp unbemerkt in die Stadt und gar ins Schloß hatte eindringen können, obwohl
man in Elvinon wußte, daß einige ihrer Schiffe im Schutz des Nebels bereits an versteckten Stellen der Küste gelandet wa ren. Die letzten Schiffe verließen den Hafen. Die dunkle Mauer rückte heran. Schon waren einzelne Caer-Schiffe zu erkennen. Selbst die Segel waren schwarz – schwarz wie die Seelen der Besatzungen. Stille senkte sich über die See und Elvinon. Krude blickte sich unter seinen Kriegern auf dem Wachturm um und sah blanke Furcht in ihren Augen. Sie waren nicht feige. Sie wür den bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, für ihn und für El vinon, aber jeder von ihnen wünschte sich, mit einem Schwert im Leib zu sterben, im Kampf gegen Gegner aus Fleisch und Blut. Die Priester der Caer waren für sie keine Menschen aus Fleisch und Blut. Völlige Stille. Selbst die Möwen waren verschwunden, und die Luft schien stillzustehen. Alles ringsum schien vor dem Aufeinanderprallen der mächtigen Flotten zu erstarren und den Atem anzuhalten. Stunden vergingen. Der Herzog mußte gegen den Drang an kämpfen, hinunter zum Hafen zu gehen und sein Schiff, die Tannahier, auslaufen zu lassen. Noch war es zu früh dafür. Er mußte in Elvinon sein, wo die letzten Vorbereitungen für die Verteidigung der Stadt getroffen wurden. Wieder überwältigte den alten Mann die Angst um seine Tochter. Wegen der Caer hatte er die Wachen an den Stadtto ren erheblich verstärken müssen. Zusätzliche Sorgen bereitete ihm, daß Hauptmann Felzt, der Mythor nach dem Leben trachtete, geflohen war und sich irgendwo außerhalb Elvinons frei herumtrieb. Ihm traute er jetzt alle Teufeleien zu. Ein Aufschrei brachte ihn in die Realität zurück. Es war so weit.
Die Flotten von Caer und Elvinon prallten aufeinander, und in der Straße der Nebel entbrannte eine der schrecklichsten Seeschlachten der Geschichte.
Es war sinnlos. Der Kampf gegen diese Übermacht war von vornherein entschieden. Die Horden von der Insel konnten nicht besiegt werden – aber aufgehalten. Das wußten die Krie ger und Seefahrer von Elvinon. Nur wenige gaben sich fal schen Hoffnungen hin. Dagegen schürten die Kapitäne die vagen Hoffnungen auf Hilfe aus den Nachbarherzogtümern. Die Caer aufhalten! Zeit gewinnen! Das war die Parole. Sie aufhalten und in Einzelkämpfe verstricken, bis sich Elvinon gegen den Überfall genügend gewappnet oder Hilfe bekom men hatte. Wieder, so hatte der Herzog verkünden lassen, wa ren Kuriere unterwegs, und die Nachricht von der gewaltigen Caer-Flotte mußte auch die starrsinnigsten Nachbarn einsich tig werden lassen, denen es nach König Arwyns Tod nur noch darum zu gehen schien, die eigene Macht zu festigen und sich auf Kosten der anderen Herzogtümer auszudehnen. Wer an ihrer Hilfe zweifelte, zeigte das nicht. Kampf bis zum letzten Blutstropfen! Die Caer nicht an Land gelangen lassen, wo sich die Familien der Krieger befanden! Kein einziges Schiff sollte die Küste erreichen und landen können! Samor Yorgst war der Kapitän der Ranua, eines der ersten Schiffe, die den Hafen von Elvinon verlassen hatten. Und als einer der ersten sah er die gegnerische Flotte in ihrer ganzen schrecklichen Größe. Die Ranua war, in einer langen Reihe mit anderen Schiffen, nun auf hundert Meter an die Caer heran. Wo sich Lücken zwischen den auf breiter Front angreifenden Caer befanden, wurden diese von nachrückenden Schiffen gefüllt. Eine einzi ge schwarze Mauer aus schwarzen Rümpfen, schwarzen Se
geln und schwarzen Rudern. Die Caer-Schiffe waren Dreimaster mit doppelten Ruder bänken. Auf jedem von ihnen befanden sich gut 150 blutlüs terne Krieger in Fellwams und Waffenrock. An jeder Seite hin gen zwanzig Ruder ins Wasser. Yorgst, auf dem Bugaufbau der Ranua mit einigen Bogen schützen stehend, konnte hohe Deckaufbauten mit düsterem Zierat und jeweils einem Altar ausmachen. Auf einigen Schif fen waren hagere Gestalten in langen schwarzen Mänteln und mit spitzen hohen Helmen, verziert mit Knochen und Hör nern, zu sehen – die gefürchteten Priester der Caer. Und fast jedes zweite Caer-Schiff verfügte über eine Galions figur, doch diese bestanden nicht aus Holz. »Das sind unsere Männer«, flüsterte einer der Bogenschüt zen, unfähig, laut zu reden. Das Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu. »Rakorn!« Er deutete auf ein Schiff weiter links. »Er gehörte zu denen, die seit Wochen auf der Straße der Nebel kreuzten, um Elvinon vor einem Überraschungsangriff zu warnen.« »Und die niemals zurückkehrten«, sagte Yorgst finster, von Grauen geschüttelt. Die Krieger des Herzogs, deren Verbleib für so viele Speku lationen gesorgt hatte, hingen tot und mit weit aufgerissenen Augen in dicken schwarzen Seilen von den Bugspitzen der Caer-Schiffe. »Laßt euch davon nicht blenden!« schrie Yorgst seinen Män nern zu. Seine Worte stießen auf taube Ohren. Voller Entset zen starrten die Krieger die Toten an. Yorgst fluchte, entriß einem von ihnen den Bogen und legte einen Pfeil ein. »Sie leben nicht mehr!« brüllte er und schoß. Der Pfeil schwirrte über die See und traf eine der Galionsfigu ren in die Seite. »Seht!« Die Männer zuckten zusammen, doch kein Schrei löste sich
aus dem Mund des Getroffenen. Yorgst blickte nach links und rechts. Die Schiffe warteten auf den Angriff, und je länger die Caer zögerten, desto mehr griffen Aberglaube und Furcht nach den Seelen der Krieger. Vielleicht war das ihr Plan. Yorgst spürte die schreckliche Stille, die über der Szenerie lag, wie körperlichen Schmerz. Einen Augenblick dachte er daran, mit einem Brandpfeil selbst das Signal für den Angriff zu geben. Dann hörte er die Schreie. Er drehte den Kopf und sah, daß die Caer ein Stück weiter links vorzurücken begannen. Kommandos sprangen von ei nem Schiff zum anderen. Yorgst sah Pfeile fliegen und die Bo genschützen auf dem Caer-Schiff direkt gegenüber der Ranua ihre Geschosse einlegen. Er gab dem Mann neben sich den Bo gen zurück und das Signal zum Angriff. Sie glitten aufeinander zu, die schwarzen Dreimaster und die Schiffe von Elvinon. Schreie und das Sirren von Pfeilen zerrissen die Stille. Ruder klatschten ins Wasser. Yorgst verließ den Bugaufbau und überquerte das Schiff, bis er neben dem Steuermann stand. Ein Pfeilhagel ging auf die Ranua nieder. Schwere Speere bohrten sich in die Planken. Die Krieger schossen zurück, während die Ruderer sich so eng wie mög lich an die Reling preßten und duckten. Wie ein riesiger Schat ten schob sich der Caer auf die Ranua zu. Noch stand jedem Angreifer der ersten Linie ein Verteidiger gegenüber, aber ein Blick nach achtern zeigte Yorgst, daß sich der riesigen Armada von schwarzen Schiffen nur wenige Reihen von eigenen Schif fen entgegenstellten. Die Absicht der Caer war klar. Sie wür den sich durch sie hindurchschieben und nichts als Wracks zurücklassen, wenn die Verteidiger nicht auf der Hut waren. »Brandpfeile!« brüllte Yorgst, die Hände trichterförmig an den Mund gelegt. Jedes Schiff war jetzt auf sich allein gestellt, und jeder Kapitän mußte soviel aus der Situation machen, wie es ihm seine Mittel erlaubten. »Versucht, so viele Schiffe wie
möglich zu treffen und in Brand zu setzen. Hunork!« Er packte den Arm des Steuermanns. »Wir müssen zwischen ihnen hin durch. Paß höllisch auf!« Yorgst trieb die Ruderer zu größter Anstrengung an. Er schrie Befehle, dirigierte die Krieger, sah immer wieder hin über zu den Nachbarschiffen. Eines war jetzt ganz dicht an einen Caer heran, wo bereits die Enterhaken geschwungen wurden. Wieder flogen Pfeile aufs Deck. Männer schrien ge troffen auf. Yorgst suchte Deckung, arbeitete sich wieder zum Bug vor und nahm selbst einen Bogen, zündete die Pfeile an den mit Pech getränkten, umwickelten Spitzen an und schoß sie ab. Schwarze Segel brannten. Überall schrien Krieger. Ru derer kippten mit Pfeilen im Rücken von ihren Bänken. Plötzlich war die schwarze Mauer heran. Die Ranua schien direkt in sie hineinzutreiben. Hunork schwitzte am Steuer. Yorgst verschoß alle Pfeile aus seinem Köcher. Flammen schlugen aus dem Bug eines Caer-Schiffs. Auf der Ranua wa ren Männer dabei, die ersten kleinen Brände zu löschen. Die Krieger lagen hinter der Reling, warteten den Pfeilhagel ab und schleuderten ihre Speere. Von Steuerbord kam ein Schat ten heran. Yorgst drehte sich um, wollte Hunork einen Befehl zurufen, doch der Steuermann lag mit einem Pfeil in der Brust neben dem Steuer. Die Ruderer sprangen von den Bänken, als Holz barst und sich etwas krachend in die Reling schob. En terhaken flogen heran und fanden ihr Ziel. Dann waren sie da. Dutzende von Caer-Kriegern sprangen mit ihren Schwertern an Deck. Yorgst warf sich ihnen an der Spitze seiner Männer entgegen. Ruderer und Bogenschützen hatten nun ebenfalls Breitschwerter in den Händen und kämpften um ihr Leben. Stahl schlug hart aufeinander. Der Schlachtenlärm klang von den anderen Schiffen zur Ranua herüber. Yorgst stand an der Reling und empfing springende Caer
mit der Klinge. Einige konnte er zurückstoßen, dann waren mehr Caer auf der Ranua als Männer des Herzogs, und immer noch kamen weitere von ihrem brennenden Schiff herüber. Flammen schlugen nun auch aus dem Heck der Ranua. Das Hauptsegel brannte, und auch der Mast fing Feuer. Niemand konnte sich jetzt mehr darum kümmern. Yorgst schlug wild um sich, verschaffte sich Luft. Er sah nur noch: Grimassen und blitzende Klingen. Die Ranua erhielt einen weiteren Stoß, der die Kämpfenden reihenweise von den Beinen riß. Das Schiff brach auseinander! Yorgst klammerte sich mit der Linken an die Reling, wäh rend der rechte Arm wie von Geisterhand geführt weiter das Schwert schwang. Ein Caer war über ihm. Stahl bohrte sich in seine Schulter. Der Kapitän der Ranua fühlte brennenden Schmerz. Verzweiflung und Zorn trieben ihn zu einem letzten Aufbäumen. Sein Schwert traf den Arm des Gegners und durchtrennte ihm die Sehnen. Der Caer schrie gellend auf. Einer von Yorgsts Männern sah, in welcher Lage sich sein Kapitän befand, und riß den Gegner zurück. Schützend stellte er sich vor Yorgst, schlug Caer mit dem Schwert zurück und half dem Kapitän mit der freien Hand auf die Beine. Ein neuer schrecklicher Stoß traf die Ranua. Wasser schoß sprudelnd aus den gesplitterten Planken. Der Bug eines CaerDreimasters schob sich über die Reling. Einen Moment lang starrte Yorgst in die toten Augen der Galionsfigur. Weitere Caer sprangen auf die Ranua herüber. Yorgst wußte in diesem Moment nicht, was er tat. Die Ranua war verloren. Der Krie ger, der ihn eben noch gerettet hatte, starb mit einem Pfeil im Hals. Yorgst sah die Bugstange des Caer-Schiffes über sich und zögerte keinen Augenblick. Er sprang in die Höhe, bekam die Seile zu fassen, in denen die Galionsfigur hing. Furchtbarer Schmerz in der linken Schulter drohte ihm die Sinne zu rau
ben. Er preßte die Zähne aufeinander. Seine Finger umklam merten die Seile, und er angelte sich daran hoch. Mit fast ü bermenschlicher Kraft brachte der Tainnianer die Arme über die Seile. Yorgst achtete nicht auf das, was unter ihm vorging. Immer noch wurde gekämpft, aber die noch lebenden eigenen Krieger waren an den Fingern einer Hand abzuzählen. Yorgst schob auch die Beine über die Seile. In einem letzten Kraftakt arbeitete er sich zu dem Toten vor, der in den Seilen wie in einem Netz lag, und packte ihn mit beiden Armen. Dann wälz te er sich, die Leiche fest umklammert, auf den Rücken und stieß sie ins Meer. Er wußte nicht, ob seine Aktion beobachtet worden war. Er lebte. Keine Pfeile schwirrten heran, nur einige verirrte Ge schosse prallten gegen den Bug des Caer-Schiffes, der sich re gelrecht in den Leib der Ranua fraß. Yorgst verlor das Bewußtsein. Anstelle des ins Meer gewor fenen Toten hing er als neue Galionsfigur in den Seilen. Sein letzter Gedanke war der, daß er seine Männer nicht verraten hatte, daß er das, was er getan hatte, tun mußte, um eine Chance zu haben, weiterkämpfen zu können, wenn die Ranua in den Fluten versunken war – für Tainnia, für den Herzog, für Elvinon. Und doch hätte er keinen größeren Fehler begehen können. Yorgst sollte es schon bald erfahren – dann, als es für eine Umkehr zu spät war. Er hatte nur den Bug des Caer-Schiffes gesehen, nicht das Heck mit den Aufbauten und dem Altar. Nicht den schwarz gekleideten Priester, der beschwörend seine Hände in die Luft gestreckt hatte – nach Süden. Unter ihm starb der letzte seiner Krieger. Yorgst hätte das Ende der Ranua nicht sehen können, selbst wenn er bei Be wußtsein gewesen wäre. Seine Augen waren nicht offen wie die der toten Galionsfiguren. Und er hörte nicht den Schrei des
Caer, der ihn entdeckte.
Zagend und bebend stand sie da in ihrem weiten roten Ge wand aus durchsichtigem Material, am Hals in einem golde nen Bund geschlossen, mit halblangen und weit ausfallenden Ärmeln. Die zierlichen, aber festen schwarzen Sandalen waren schmutzbedeckt wie ihre Knöchel. Nyala von Elvinon, die Tochter jenes verbitterten Mannes, der von seinem Turm am Hafen aus mit ansehen mußten, wie sich die Straße der Nebel in ein Meer der Flammen verwandel te; ein Massengrab für ungezählte Krieger von Caer und Elvi non, eine Gruft für ehemals stolze Schiffe. Sie stand im Schat ten einer mächtigen Eiche, die allein ihr hier Schutz versprach. Hinter ihr lag unüberschaubares Gelände, kleine Hügel, Sträu cher und Bäume. Dort lagen die von den Caer getöteten Män ner ihres Vaters. Nyala sah sich immer wieder um. Sie konnten überall sein, die Teufel von der Insel. Noch rührte sich nichts. Vor ihr be fanden sich die Wasserfälle von Cythor, hinter denen Mythor verschwunden war. Niemand war jemals von hinter den stür zenden Wassern zurückgekehrt. Diejenigen, die wie Nyala vom Hauch des Todes berührt worden waren und kehrtge macht hatten, bevor sie hinter den Wasserfall gelangen konn ten, waren in der Regel dem Wahnsinn verfallen und schließ lich erbärmlich dahingesiecht. Nyala hatte solche Männer gesehen, den irren Schimmer in ihren Augen, und nur der Gedanke an diese Bedauernswerten hatte sie davon abgehalten, Mythor zu folgen, als sie diesen kalten Hauch verspürte. Mythor aber hatte seinen Weg fortgesetzt, den Weg, der ihm vorgezeichnet zu sein schien. Nyalas Überzeugung, in ihm den Sohn des Kometen gefunden zu haben, war noch stärker
geworden. Mythor hatte nicht gezaudert. Mit sicheren Schrit ten war er hinter dem Vorhang des herabstürzenden Wassers verschwunden, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Sie würde warten, wenn nötig tagelang. Sie konnte und wollte nicht daran glauben, daß Mythor wie die anderen in der Gruft sein Grab finden würde. »Er ist der, der als einziger den Schlüssel besitzt, der den Vorhang des Wahnsinns niederreißen kann!« sagte sie sich immer wieder. Sie sprach es leise vor sich hin. Und sie liebte ihn. Sie zitterte nicht nur aus Angst um My thor, sondern vor stillem Zorn auf sich selbst, weil sie nicht die Kraft gehabt hatte, ihm zu folgen. Sie hatte ihn nicht im Stich gelassen! Sie war nicht nach Elvinon zurückgeritten, als die Alarmfanfaren herüberklangen, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. Sie hatte sich Mythor anvertraut. »Eines Tages wirst du mich verstehen, Vater«, flüsterte sie mit Tränen in den großen dunklen Augen. Sie warf den Kopf in den Nacken. Nichts rührte sich bei den niederstürzenden Wassern. Kein Lebenszeichen von Mythor. Immer wieder mußte Nyala die schrecklichen Visionen dessen, was den Krieger in der Gruft erwartete, zurückdrängen. Ihre zierlichen Hände waren zu Fäusten geballt. Fordere das Schicksal, Mythor! Kämpfe für deine Bestimmung! Aber komm zurück!
So vergingen Stunden. Nyala entspannte sich ein wenig. Sie lehnte sich an den mächtigen Stamm der Eiche. Kurz schweiften ihre Gedanken ab. Sie sah ihren Vater vor sich, den Schmerz in seinem Blick. Was würde sie vorfinden, wenn sie nach Elvinon zurückkehr te? Gab es eine Rückkehr? Würde jemals wieder alles so sein können wie vor der Begegnung mit Mythor? Falls er fand,
wonach er suchte, was immer es auch sein mochte, würde er seinen Weg gehen müssen. Und sie? Würde ihr Vater verste hen können, daß sie mit ihm fortging, den er, wenn er es auch nicht mehr so offen aussprach, für einen dahergelaufenen A benteurer hielt? So in ihre Gedanken versunken und nur den Wasserfall im Auge behaltend, hörte sie die Schritte erst, als sie schon ganz nahe waren. Mit einem Aufschrei fuhr sie herum. Ihre Augen weiteten sich voller Unglauben, als sie den Mann erkannte, der sich ihr näherte. »Felzt!« Der Mann blieb stehen und nickte ernst. »Ich dachte mir, daß ich dich hier finden würde, Nyala.« Sie riß das beim Überfall der Caer erbeutete Schwert aus ih rem Gürtel und richtete es drohend auf ihn. »Bleib stehen, Ver fluchter! Du bist also entkommen. Wahrlich, ich werde dich strafen, Felzt! Für den Giftanschlag, für den Tod des alten Mannes, für alle schwarzen Gedanken, die du in dir trägst!« Der Hauptmann senkte den Kopf. Als er ihn wieder hob, sah er Nyala schuldbewußt an. »Kannst du es denn nicht verste hen, Nyala? Du selbst sagtest, ein Mann müsse um die Liebe einer Frau kämpfen.« »Ich sagte es anders, Felzt! Es ist sinnlos und töricht, um eine Frau zu kämpfen, deren Liebe man nicht besitzt.« Bitter fügte sie hinzu: »Nur noch ihre Verachtung und ihren Haß!« Zohmer Felzt machte einen Schritt auf sie zu. Er breitete die Arme zu einer Geste der Hilflosigkeit aus. »Könntest du in meine Seele schauen, Nyala! Könntest du die Qualen sehen, die ich erleiden muß, immer wenn ich dir gegenüberstehe und diesen spöttischen Blick in deinen wunderschönen Augen se he. Ich weiß, daß ich eine Dummheit beging, und ich bin be reit, Buße zu tun.« Heftiger sagte er: »Aber ich konnte es nicht zulassen, daß du dich von einem Dahergelaufenen blenden läßt!« Er deutete auf
die Wasserfälle. »Ist er jetzt dort?« »Ja!« antwortete Nyala heftig. Zohmer machte einen weiteren Schritt auf sie zu. »Bleib, wo du bist! Ich werde nicht zögern, dich zu töten!« »Der Tod durch deine Hand wäre die Erlösung«, entgegnete Felzt, ohne den Blick von den stürzenden Wassern zu nehmen. »Er ist tot, Nyala. Seine Besessenheit hat ihn umgebracht. Die Götter haben ihn für seinen Hochmut gestraft.« »Er wird zurückkehren und einen toten Verräter zu meinen Füßen liegen sehen.« Felzt tat erschrocken, und Nyala entgingen nicht das Zucken seiner Gesichtsmuskeln und der kurze Blick in die Büsche o ben bei den Felsen, zwischen denen das Wasser hervorström te. Doch sie war viel zu erregt, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Felzt ließ einen Teil seiner Maske fallen. Nichts blieb von seiner zur Schau getragenen Reue. »Nyala, ich beschwöre dich. Ich bin gekommen, um dich zu holen. Komm mit mir, solange noch Zeit dazu ist. Vergiß Mythor. Er hat seine Strafe erhal ten.« Sie riß das Schwert in die Höhe. Felzt stand jetzt direkt vor ihr. »Ich verachte dich, Felzt! Warum gehst du nicht und ver kriechst dich vor den Kriegern meines Vaters, die dich wie einen Hund jagen werden?« Da lachte der Hauptmann rauh auf. »Die Krieger deines Va ters werden in ihrem Blut liegen, wenn dieser Tag zur Neige geht, Verblendete!« Felzt riß sein eigenes Schwert aus dem Gürtel. »Niemals wirst du sagen können, ich hätte nicht ver sucht, das zu verhindern, was jetzt geschieht!« Es war, als er schrecke er selbst ob seiner vorschnell ausgestoßenen Worte. Noch einmal fuhr ein Schatten über sein Gesicht, trat das Fle hen in seine Augen. »Noch ist es nicht zu spät, Nyala«, sagte
er ganz leise, und wieder huschten seine Blicke über die Buschgruppen zur Linken. »Ich…« »Wofür zu spät?« Nyala schrie es heraus. Ihr Arm mit dem Schwert zitterte. Eine schreckliche Ahnung stieg in ihr auf. Sie wollte herumfahren, nach Mythor schreien, aber irgend etwas lähmte ihre Bewegungen. Jetzt blickte auch sie zu den Büschen hinüber. Und sie sah blanken Stahl in der Morgensonne blit zen. Sie wich zurück. Ihre Augen waren vor Entsetzen und Un glauben aufgerissen. Es dauerte Sekunden, bis sie zusammen hängende Worte hervorbringen konnte. »Das sind nicht die Krieger meines Vaters«, brachte sie sto ckend hervor. »Nicht deine Verfolger. Sag, daß es nicht wahr ist, Felzt! Sag, daß du nicht so tief in Schuld gefallen bist, daß du…« Sie brachte kein weiteres Wort hervor. Felzts versteinertes Gesicht gab ihr die Antwort. Panik ergriff sie. Sie schrie nach Mythor, taumelte zurück, ließ das Schwert fallen. Felzt brüllte etwas, das sie nicht verstand. Im nächsten Au genblick kamen sie überall um sie herum zum Vorschein, aus den Büschen, hinter Felsen und Bäumen. »Ich wollte es dir ersparen, Nyala«, sagte Felzt mit tonloser Stimme. Seine Augen waren nun kalt. Seine Worte klangen höhnisch. »Ich hatte uns eine Möglichkeit zur Flucht offenge lassen. Nun ist es zu spät. Du hast es nicht anders gewollt. Ich werde deine Liebe besitzen, Nyala! Eine Liebe, wie du sie kei nem anderen Mann jemals geschenkt hast oder schenken wirst! Sechs lange Jahre, und sie wird so leidenschaftlich sein, daß ich am Ende daran zugrunde gehen werde. Aber ich wer de jede Stunde genießen! Jede Stunde mit dir!« Nyala konnte nicht fassen, was sie hörte. Sie kamen drohend näher, ein Dutzend Krieger in Fellen und schwarzen Waffen röcken. Caer! Also doch!
Alles Blut war aus den vollen Lippen der Herzogstochter gewichen. Sie starrte Felzt an wie einen leibhaftigen Dämon. »So ist es wahr«, flüsterte sie. »Du hast uns an die Horden von Caer verraten!« Felzt zuckte die Achseln. Er griff nach Nyalas Arm und zog sie fest an sich. In diesem Moment war sie unfähig, sich zu wehren. »Was sollte ich tun, gejagt von deines Vaters Männern? Ich mußte fliehen, nachdem ihr entdeckt hattet, wer die alte Gift mischerin ins Schloß gebracht hatte. Ich traf auf Caer und schloß mich ihnen an. Sie ließen mich am Leben, als ich ihnen sagte, was sie wissen wollten. Der Herzog wird in der Schlacht sterben oder in Gefangenschaft geraten, Nyala, aber du stellst eine Gefahr dar. Das Volk von Elvinon wird jedoch resignie ren, wenn es niemanden mehr hat, zu dem es aufschauen kann. Ich werde dafür sorgen, daß es so kommt. Ein kleines Schiff wartet in einer Bucht auf uns. Du wirst mit mir und den Caer gehen und meine Königin sein.« »Niemals!« kreischte Nyala und bäumte sich in Felzts Griff auf. Sie trat und kratzte. Der ehemalige Hauptmann der her zoglichen Leibgarde lachte nur höhnisch. Die Caer bildeten einen undurchdringlichen Ring um die beiden. Sie wirkten ungehalten und forderten Felzt auf, mit Nyala den Rückweg anzutreten. »Schweigt!« herrschte dieser sie an. »Vergeßt nicht, daß ihr mir hier zu gehorchen habt!« Er preßte Nyala noch fester an sich, ließ sie treten und lachte, als ihre scharfen Fingernägel seine Haut ritzten. »Caer ist die Macht!« zischte er. »Die Priester werden als Preis für meine Hilfe eine Liebeskraft in dir verankern, so dä monisch und leidenschaftlich, daß dein Körper mein Kommen kaum erwarten kann! Und nur mich wirst du herbeisehnen! Sechs lange Jahre, Nyala, und jeder Tag wäre mir den Verrat
wert.« »Mythor wird dich töten, wenn ich es nicht kann! Er lebt, Felzt! Er wird auftauchen hinter dem Schleier des Todes und den stürzenden Wassern, und er wird mächtiger sein als zu vor! Nimm mich, Felzt! Bei jedem Kuß wirst du an ihn denken müssen, an die Klinge, die darauf wartet, dich zu durchboh ren!« Felzt schrie einen Fluch und stieß Nyala von sich. Sie verlor den Halt und fiel zwischen die Caer. »Wenn du so sicher bist, daß dein Mythor lebend aus der Gruft zurückkehrt, dann werden wir ihn hier erwarten!« Felzt fuhr mit dem Schwert durch die Luft und brachte einen Caer, der protestieren wollte, mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er spuckte aus. »Du wirst ihn am Boden liegen sehen, mit meinem Schwert in der Brust!« »Nein!« krächzte sie mit halb erstickter Stimme, kreidebleich im Gesicht. »Oh doch, meine Liebe!« Zu den Caer gewandt befahl er: »Fesselt sie und bindet sie an die Eiche! Sie soll ihn sehen, ih ren Helden, sollte er aus den stürzenden Wassern hervortre ten. Sie soll sehen, wie er stirbt!« »Du bist zu feige«, flüsterte Nyala. »Niemals wirst du ihn besiegen können. Du wirst zittern, wenn du seinem Blick be gegnest!« Felzt winkte barsch ab. Seine Augen waren nun starr auf die Wasserfälle gerichtet. »Du zitterst ja jetzt schon!« schrie Nyala, als sie sich mit Händen und Füßen gegen die Caer zu wehren versuchte. »Seht euch euren neuen Freund an, ihr Hunde! Seht die Angst in seinem Blick!« »Schweig endlich!« Felzt fuhr herum. Seine Augen schienen Feuer zu verschleudern. Nyala erschrak. So hatte sie noch kei nen Menschen gesehen.
Ein furchtbarer Gedanke durchfuhr sie. War Felzt bereits von einem Dämon besessen, so, wie es den Gerüchten zufolge den Unglücklichen erging, die in die Hände der furchtbaren Caer-Priester gerieten? War er nicht mehr er selbst? »Knebelt sie, damit sie Mythor nicht warnen kann!« befahl Felzt den Kriegern, die sie bereits zum Baum geschleppt hat ten und lange Stricke um ihren Körper und den Stamm wi ckelten. Nyala konnte sich nicht mehr bewegen, doch ihre Au gen waren voller Haß und tiefsitzender Furcht, die mit eisigen Klauen nach ihrer Seele griff. Die Caer-Krieger verteilten sich auf Felzts Geheiß wieder und versteckten sich in der Nähe der Felsen neben und über dem Wasserfall. Auch sie mußten den Hauch des Todes spü ren, der von der verborgenen Gruft ausging, denn sie wagten sich nicht zu nahe heran. »Nun warte auf deinen Mythor«, sagte Felzt mit dämoni schem Grinsen. Er ließ sie allein und folgte den Kriegern. Welchen unseligen Handel mochte er mit ihnen abgeschlos sen haben, daß sie ihm gehorchten? Ging es wirklich nur um sie? Hatte er am Ende den Invasoren die verborgenen Wege in den Palast von Elvinon verraten? Nyalas Abscheu vor diesem Mann kannte keine Grenzen mehr. Sie weinte, und die Tränen rannen in das Tuch, das den Knebel in ihrem Mund hielt, so daß sie gerade noch atmen konnte. Mythor! Es durfte nicht so kommen, wie der Verräter es sich vorstellte. Aber wie konnte sie ihn noch warnen? Mythor würde sie an den Baum gefesselt sehen und zu ihr eilen, um sie zu befreien. Er würde genau in die Klingen der Lauernden rennen! Und er würde zurückkehren! Nyala wußte es so sicher, wie sie wußte, daß sie Felzt töten würde, sobald sie Gelegenheit dazu hatte.
Vielleicht gab es eine einzige Möglichkeit, wenigstens My thors Leben zu retten. Zum erstenmal war Nyala von Elvinon, die stolze Herzogs tochter, die es gewohnt war, zu herrschen und mit Männern zu spielen, sich zu nehmen, was sie begehrte, bereit, sich für einen anderen Menschen zu opfern.
Das relativ kleine Caer-Schiff lag verborgen in der Bucht o berhalb Elvinons. Die Caer hatten sich keinem Risiko ausge setzt, als sie hier landeten, Tage bevor die eigentliche Kriegs flotte in Marsch gesetzt wurde. Hier gab es weit und breit kei ne Dörfer oder Gehöfte, und das Land ringsum war unfrucht bar. Keine Straßen führten hier vorbei. Die Küste war an dieser Stelle steil und felsig. Keine Fischer führten ihre Boote in diese Bucht, deren Wasser durch aus dem Grund aufsteigende Erd gase vergiftet war. Dies war der ideale Platz für den Mann, der hoch aufgerich tet vor dem schwarzen Altar im Heck des kleinen Schiffes stand, das er nur so lange benutzte, bis er selbst in die See schlacht eingreifen würde. Sein eigentliches Schiff, die Dur duune, befand sich unter den 5000 Einheiten der Invasionsflot te und wurde von Yardin geführt, einem der besten Seefahrer Caers. Der Mann trug den langen, schwarzen, silberverzierten Man tel der Caer-Priester. Der hohe, spitze Helm mit den bemalten Hörnern und Tierknochen, von denen viele glaubten, daß es in Wahrheit Menschenknochen seien, saß über einem finsteren Gesicht mit unglaublich tief eingefallenen Augen. Eine Haut wie aus Pergament spannte sich über die weit hervorstehen den Wangenknochen. Die Brauen waren schwarz und dicht zusammengezogen, so daß über der Stirn eine steile Falte stand. Eingerahmt wurde dieses finstere Gesicht mit seiner
gläsern wirkenden Haut von langem, schwarzem, fettig zu sammenklebendem Haar. Im Gegensatz zu den anderen Pries tern trug der Caer keine der silberroten Gesichtsmasken. Seine Gestalt war unglaublich dürr. Die Finger der schwarz behandschuhten Hände glichen den Klauen eines Raubvogels, wenn er sie beschwörend in den Himmel reckte oder über dem Altar kreisen ließ, auf dem schon manches Opfer sein Le ben ausgehaucht hatte – Männer und Frauen, aus deren Le benskraft die Caer-Priester die Energien für ihre magischen Experimente schöpften. Dieser hochgewachsene Mann war Drundyr, einer der vielen Caer-Priester, die Macht über Mensch und Natur besaßen, be seelt von den Dämonen, die in ihnen wohnten und direkt aus der Schattenzone kamen, jenem furchtbaren Rand der Welt. Über ihnen, die die Macht von Caer in die anderen Teile Tain nias trugen, gab es nur noch Drudin, den mächtigsten aller Priester und Schlachtenlenker aus dem Hintergrund, und sei nen Priesterrat. In diesen zwölfköpfigen Rat der Erwählten aufzusteigen war Drundyrs sehnlichster Wunsch, und er würde keine Mittel scheuen, um diesen Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen. Vielleicht gab die Eroberung Elvinons bereits den Ausschlag. Drundyr zog von der kleinen, geschützten Bucht aus, die sein Schiff im Nebel erreicht hatte, die Fäden der Invasion. Kurierboote unterrichteten ihn vom Verlauf der Schlacht. Und Drundyr konnte zufrieden sein. Der Augenblick war abzusehen, in dem der Herzog selbst in die Schlacht eingreifen würde, und er mußte lebend in die Hände der Caer fallen, ebenso wie seine Tochter. Dieser bei den beraubt, war Elvinon führerlos. Trotz der drückenden Ü bermacht der Caer durften nicht zu viele Krieger geopfert werden, denn Elvinon war nur eine Station auf dem Weg zur Herrschaft über ganz Tainnia.
So war der aus Elvinon geflohene Hauptmann der herzogli chen Leibgarde Drundyr gerade recht gekommen, nachdem der Versuch, Nyala von Elvinon aus ihrem Palast zu entfüh ren, gescheitert war. Es hatte keiner Magie bedurft, um ihn zum Reden und zur Kooperation zu bringen. Eine andere Ma gie als die der Priester beherrschte diesen Mann – die einer schönen Frau, der er mit Leib und Seele verfallen war. Flüchtig dachte Drundyr an Felzts Worte von jenem ge heimnisvollen Fremden, der von der Herzogstochter für den Sohn des Kometen gehalten wurde, jenen Mann, der den Kampf gegen die sich ausbreitenden Mächte der Finsternis aufnehmen sollte. Drundyr hatte für derlei Phantastereien nicht viel übrig. Doch sollte der Sohn des Kometen eines Tages erscheinen und sollten sich die alten Prophezeiungen erfüllen, so war er der Todfeind aller Caer – der Todfeind des mächti gen Drudin. Nur wenige Krieger befanden sich noch an Bord des kleinen Schiffes, zusammen mit den Spionen, die seit Monaten in Elvi non unerkannt für Caer gearbeitet hatten. Nun hatte Drundyr sie abziehen lassen. Die Stadt sollte im offenen Kampf fallen. Die Caer brauchten keine Kollaborateure hinter den Fronten mehr. Von Elvinon aus sollte die Kunde ihres Sieges in alle Teile Tainnias getragen werden. Das Festland sollte zitternd die Herrschaft der Caer erwarten. Die Herrschaft der Finsternis, dachte Drundyr, als er mit vier Kriegern das Schiff verließ und über einen alten Pfad eine der Klippen bestieg, von wo aus er die Seeschlacht beobachten konnte. Die Schiffe des Herzogs leisteten erbitterten Widerstand. Ih re Kapitäne verstanden es, die eigenen Verluste vorerst gering zu halten. Doch für jedes brennende Caer-Schiff stießen drei andere in die Lücke. Der unbändige Kampfgeist der Krieger und die Magie der Priester an Deck überzogen die Straße der
Nebel mit Blut und Tod. Noch immer war die Luft klar, als wolle die Meerenge zwischen Elvinon und Akinborg ihren Namen Lügen strafen. Die Seeschlacht würde Tage dauern. Drundyr hatte Zeit. »Gehen wir zurück«, sagte der Priester mit unangenehm heller Stimme, die im Erregungszustand kreischend wurde. Er hatte genug gesehen. Die Sonne stand nun hoch am Himmel. Es war Mittag, und noch immer waren Felzt und die ihm von Drundyr zum Schein unterstellten Krie ger nicht zurück. Noch beunruhigte es ihn nicht. Er würde noch zwei Stunden warten und dann, sollte es nötig sein, persönlich nach dem Rechten sehen. Wieder an Bord, stellte sich Drundyr vor den Altar und murmelte magische Formeln. Er stand wie ein schwarzes Denkmal im Heck des Schiffes. Seine Krallenfinger fuhren langsam in die Höhe, als wollten sie in die Luft greifen und den Himmel zu sich herabziehen. Plötzlicher Nebel stieg auf, hüllte die Bucht vollkommen ein und machte das Versteck vollkommen. Kein Schiff des Her zogs, das als Wrack abgetrieben wurde und noch Leben an Bord trug, sollte Drundyrs Pläne kurz vor dem Erfolg durch kreuzen. Jene, auf die er wartete, wußten, wo sie ihn fanden.
Leise, flüsternde Stimmen. Sie wurden stärker, brannten sich in sein Bewußtsein. Nein, kein Flüstern! Das waren Schreie von Menschen in höchster Todesangst! Das Bersten von Holz. Kampfeslärm. Entferntere Schreie und das Geräusch hart aufeinandergeschlagenen Stahls. Wasser spritzte in sein Gesicht. Yorgst schrie und riß die Augen auf. Mit einem Schlag war die Erinnerung wieder da.
Der Kampf um die Ranua, aussichtslos vom ersten Moment an, als die Caer-Schiffe heran waren und sie enterten. Die ver zweifelte Flucht in die Netze unter dem Bug des schwarzen Dreimasters. Aber er hing nicht mehr als Galionsfigur in den Seilen. Sa mor Yorgst war an Händen und Füßen gefesselt und lag auf glattem, glitschigem Holz. Schwarze Schiffsplanken. Schwarze Stiefel von Männern, die achtlos an ihm vorbeirannten. Aber Yorgst sah noch mehr. Er lag auf der Seite, drehte nun den Kopf, bis er wieder die Wunde in der linken Schulter spürte. Seltsamerweise hatte das Brennen nachgelassen. Yorgst konnte nicht einmal Erleichterung darüber empfinden. Er sah Männer, die gefesselt waren wie er. Krieger des Her zogs. Einige lebten noch, und die anderen… Ein grauenvoller Schrei drohte seine Trommelfelle platzen zu lassen. Direkt neben ihm landete ein Gefesselter auf den Schiffsplanken. Der Mann war tot. Seine Augen spiegelten noch im Tod das Entsetzen wider, das sie geschaut hatten. Kräftige Hände griffen nach einem anderen Gefesselten. Der Mann bäumte sich auf, heulte und winselte um Gnade. Und Yorgst kannte ihn. »Dargan!« stieß er mit heiserer Stimme hervor. Der Mann konnte ihn nicht hören, wohl aber die Caer, denn Yorgst er hielt einen Fußtritt in den Rücken. Dargan winselte um sein Leben! Dargan, einer der tapfersten Männer, denen Yorgst jemals begegnet war! Yorgst wurde an den Schultern gepackt und aufgerichtet. Die Wunde schmerzte jetzt fürchterlich. Yorgst hatte kein Ge fühl mehr im linken Arm. Und nun sah der Seefahrer, was aus einem gestandenen Mann ein winselndes Bündel Mensch machte: ein schwarzer Altar inmitten anderer, rätselhafter Aufbauten. Ein hagerer, großer Mann in schwarzem Mantel und mit schwarzen Klauen
statt Fingern. Ein Mann, dessen Gesicht hinter einer silberro ten Maske verborgen war, so daß es aussah, als liefen silbrige Adern über nacktes rotes Fleisch. Yorgst stieß einen erstickten Laut des Entsetzens aus. Dies war also einer der schrecklichen Caer-Priester, vor denen der freie Teil Tainnias zitterte. Und nichts, was in den Tavernen und Straßen gemunkelt wurde, kam auch nur annähernd an das Grauen heran, das Yorgst nun miterleben mußte. Er sollte sehen, was mit seinen Kameraden geschah und was ihm bestimmt war. Der Caer hinter ihm hielt ihn im Nacken gepackt und richtete sein Ge sicht auf den Altar, auf den Dargan nun gezerrt wurde. Dargan wehrte sich nicht länger. Keine Kraft schien mehr in seinem Körper zu sein, kein Wille, der sich gegen das furcht bare Schicksal aufzubäumen in der Lage war. Irgendwo lag die Grenze, jenseits deren der menschliche Verstand sich wei gerte, die Wirklichkeit zu begreifen. Der Priester im schwarzen Mantel ließ mit beschwörendem Murmeln seine Hände über Dargans Körper kreisen. Die hin ter der Maske liegenden Augen waren geschlossen. Yorgst spürte die Aura dessen, was diesen Mann erfüllte. Es war wie der Hauch der absoluten Finsternis, des Todes. Es war die Ausstrahlung eines Dämons. Und voller Entsetzen erkannte Yorgst, daß alles wahr war, was man über die Priester der Caer sagte. Dieser hagere Mann vor ihm war besessen. Er trug einen Dämon in sich. Und dieser Dämon verlangte seine Op fer. All dies wirbelte durch Yorgsts Gedanken. Der Priester hob die Hände, die Handflächen nach oben ge richtet wie zwei schwarze Schalen, mit denen er etwas auffan gen wollte, was geradewegs vom brennenden Himmel fiel. Neben ihm tauchte ein bärenhafter Caer auf. Yorgst sah das Breitschwert erst, als es auf den Altar herabsauste und Dar gans Leben beendete.
Der Aufschrei blieb Yorgst im Halse stecken, denn jetzt erst bemerkte er die wie tot am Boden liegenden Caer-Krieger. Es waren fast zwei Dutzend, und sie füllten den Raum zwischen den Heckaufbauten und dem mittleren Schiffsmast. Mit Dar gans Tod kam neues Leben in sie. Sie schlugen die Augen auf, spannten die Muskeln und erhoben sich einer nach dem ande ren. Dies alles konnte nicht wirklich sein. Er mußte träumen. Doch um ihn herum tobte die Seeschlacht im aufgepeitschten Wasser, als die Krieger nun Waffen gereicht bekamen und aus Yorgsts Blickwinkel schritten, mit kraftstrotzenden Bewegun gen und brutaler Entschlossenheit in den Augen. An ihre Stelle wurden andere gelegt, total erschöpfte Caer, die aus schlimmen Wunden bluteten. Jetzt lagen diese Männer reglos da und warteten. Da war der Funke des Begreifens in Yorgst, doch noch zwei weitere Gefangene mußten sterben, bevor sein Verstand die grauenvolle Wirklichkeit akzeptierte. In Elvinon und anderen Teilen Tainnias, die Yorgst kennen gelernt hatte, war die Rede von der dämonischen Macht der Caer-Priester gewesen, doch worin sie genau bestand, darüber gab es nur Spekulationen, und je größer der Aberglaube der Bevölkerung war, desto wirrer waren ihre Phantastereien. Mit jedem auf dem Altar geopferten Menschen kam neues Leben in erschöpfte und verwundete Caer. Yorgst begriff, daß Caer durch die Magie seiner Priester über eine niemals ermü dende Armee verfügte. Die Lebensenergie der geopferten Feinde ging in die eigenen Männer über. Mit aufgerissenem Mund, unfähig, auch nur ein Wort zu sa gen, sah Yorgst den Caer-Kriegern nach, die sich erhoben und zu den Waffen griffen, um frisch und kraftstrotzend wieder in die Seeschlacht einzugreifen. Yorgst wand sich unter dem Griff seines Bewachers und konnte nun sehen, wie sie sich an
hoch an den Masten befestigten Stricken zu den back- und steuerbords liegenden schwarzen Schiffen hinüberschwangen. Diese nahmen sofort wieder Fahrt auf, und andere tauchten an ihrer Statt auf. Yorgst sah Caer, die von anderen getragen wurden und bald auch neben dem Altar liegen würden. Neue Gefangene wurden gebracht, um ihnen ihre Lebensenergie zu geben. Doch bevor sie auf den Altar gezerrt wurden, war er selbst an der Reihe. Ringsum tobte die Schlacht mit unverminderter Heftigkeit. Yorgst sah brennende Schiffe der Caer und des Herzogs, sah Enterhaken durch die Luft fliegen und Masten knicken wie dünne Hölzer. Dies alles spielte sich in einiger Entfernung ab. Das Schiff des Priesters wurde von anderen schwarzen Dreimastern re gelrecht abgeschirmt, so, wie es an unzähligen anderen Stellen geschehen mochte. Backbords erschien ein Schiff und brachte gefangene Krieger des Herzogs. Steuerbords wurden kampfunfähige Caer heran geschafft. Und er, Samor Yorgst, befand sich mitten in diesem Alp traum. Er hatte geglaubt, in den Seilen unter dem Bug neue Kräfte sammeln und auf einen günstigen Augenblick warten zu können, um wieder in den Kampf einzugreifen. Ausge rechnet unter dem Bug dieses verwunschenen Schiffes! Der Tod auf der Ranua wäre ein ungleich gnädigeres Schick sal gewesen. In Yorgsts Verzweiflung mischte sich unbändiger Zorn, Zorn auf sich selbst, der seine letzten Kameraden auf dem Schiff im Stich gelassen hatte, Zorn auf die Caer, die mit Mitteln kämpften, die keines Kriegers und keines Seefahrers würdig waren. Und er wollte nicht auf diesem furchtbaren Altar sterben! Er erhielt einen Stoß in den Rücken und fiel auf die Knie. Der letzte Gefesselte vor ihm wurde gepackt und zum Altar ge
führt. Der Mann schrie sich die Seele aus dem Leib, riß sich in einer übermenschlichen Kraftanstrengung los und rannte ei nem der beiden überraschten Caer, die ihn trugen, den Schä del in den Leib. Der Caer stürzte. Sofort war der zweite heran, aber auch ihm gelang es nicht, den Tobenden zu bändigen. »Auf den Altar mit ihm!« kreischte der Priester, und seine Stimme klang wie aneinandergeriebener Feuerstein, rauh und unmenschlich. Der Tainnianer lag auf dem Rücken. Er trat nach dem Caer und traf mit den Stiefelspitzen dessen Kinn. »Niemals!« schrie er. »Ihr bekommt mich nicht lebend!« Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Yorgst spürte, wie der Druck in seinem Nacken nachließ. Sein Bewacher kam den beiden Caer zu Hilfe. Doch was aus seinem unglücklichen Kameraden wurde, interessierte Yorgst in diesem Moment nicht. Er hatte nur Augen für das Schwert, das der sich vor Schmerz windende Caer fallen gelassen hatte. Yorgst wußte, daß er diese Chance nur einmal erhielt. Er tat so, als erhielte er von hinten einen heftigen Stoß, und ließ sich auf das Schwert fallen, wobei er hart mit dem Kopf aufschlug. Er hielt den Atem an. Hatte der Priester ihn gesehen? Die an deren Krieger? Niemand kümmerte sich um ihn. Er hörte Schreie hinter sich. Offenbar versuchten auch die neu an Bord geschafften Gefangenen, ihre Bewacher zu überwältigen, vom Beispiel des Tobenden angesteckt und ermuntert durch die vorübergehen de Unaufmerksamkeit der Caer. Niemand kümmerte sich um Yorgst. Niemand hatte gese hen, worauf er sich gestürzt hatte. Es war eine Frage von Sekunden, bis die Caer wieder Herren der Lage waren. Yorgst lag auf dem Bauch und spielte den Bewußtlosen. Er spürte den kalten Stahl der Klinge unter sich,
brachte seine Hände daran, drehte sie so, daß die scharfe Seite oben war, und begann, seine Handfesseln daran zu reiben. Sie durften nicht sehen, daß er sich bewegte. Das war so gut wie unmöglich, und schon kam es ihm wie ein Wunder vor, daß keine Hände nach ihm griffen und ihn in die Höhe zerr ten. Es wurde gekämpft. Die Tainnianer wußten, was ihnen bevorstand, und fürchteten den Tod nicht mehr – im Gegen teil. Die Hände waren frei! Jetzt setzte Yorgst alles auf eine Karte. Er hatte das Deck vor seinem geistigen Auge, so, wie er es gesehen hatte. Die hölzer ne Reling war nur wenige Meter entfernt. Er sprang auf, sah sich nicht um. Wenn Caer direkt neben ihm standen, war es um ihn geschehen. Auf jeden Fall würde er sich das Schwert selbst in die Brust stoßen, bevor sie ihn wieder überwältigen konnten. Doch niemand stand vor ihm, und als die mit den tobenden Gefangenen Beschäftigten auf ihn aufmerksam wurden, war es zu spät. An den Füßen noch gefesselt, kam Yorgst mit einem Satz in die Höhe, das Schwert fest in der rechten Hand. Der linke Arm gehorchte ihm nicht mehr. Er ging in die Hocke, sprang mit seiner ganzen Kraft, landete wieder hart auf den Knien und sprang sofort wieder. Er landete auf der Reling. Die Caer waren heran. Er sah Hände, die sich nach ihm ausstreckten, und ließ sich mit ei nem letzten Ruck über die Reling ins kalte Wasser fallen. Es blieb ihm nicht einmal mehr Zeit, Luft zu holen, bevor er in die See klatschte – mitten zwischen den beiden CaerSchiffen, treibenden Holzplanken, Wrackteilen und Leichen. Yorgst versank. Neben, vor und hinter ihm schossen Pfeile ins Wasser. Nur einer traf ihn – in die linke Schulter.
Frei! Nur dieser Gedanke beherrschte den Seefahrer. So gut er das mit den Beinfesseln und dem tauben linken Arm vermoch te, machte er heftige Schwimmbewegungen, um unter Wasser zu bleiben und unter den Rumpf des Schiffes zu kommen, von dem er gesprungen war. Seine Lungen schmerzten, doch sein Triumph war stärker. Unbändiger Wille zum Überleben ver lieh ihm nie gekannte Kräfte. Yorgst schlug mit dem Rücken gegen etwas Hartes. Seine rechte Hand fühlte Holz. Schnell zog er die Beine an und durchtrennte die Fesseln mit dem Schwert. Helle Punkte be gannen vor seinen Augen zu tanzen, und der Triumph wich aufkommender Panik. Er mußte nach oben und Luft holen. Am Rumpf des Schiffes tauchte er hoch, brachte den Kopf über Wasser und machte zwei, drei tiefe Atemzüge. Er sah einige Bogenschützen an der Reling des zweiten Schiffes, die an der falschen Stelle auf sein Auftauchen warteten. Yorgst sog die Lungen voll Luft und tauchte wieder. Zuerst einmal mußte er fort von hier. An anderer Stelle konnte er sich auf dem Wasser wie eine der vielen Leichen treiben lassen, und mit einiger Geschicklichkeit und etwas Glück konnte er dem Schlachtgetümmel lebend entkommen. Yorgst sah es als eine Fügung an, daß sich ihm die Möglich keit zur Flucht geboten hatte. Wie viele der Caer-Schiffe moch ten über diese Altäre mit den schrecklichen Priestern dahinter verfügen? Wußte Herzog Krude von dem, was sich an Bord dieser Schiffe tat? Er mußte es erfahren! Yorgst schwamm unter Wasser, den linken Arm schlaff nachziehend, bis zum Bug des schwarzen Altarschiffs, tauchte kurz auf, holte Luft und verschwand sofort wieder unter Was ser. Überall trieben die Leichen. Verwundete und geflüchtete Seefahrer klammerten sich an Wrackteile, bis sie von den Pfei
len der Caer getroffen wurden. Yorgst begriff dieses Massen sterben nicht. Warum mußte es sein? Warum hatten sich die noch freien Herzogtümer des Tainni anischen Reiches nicht zusammengeschlossen, als Caer nach Ambor und Akinborg griff? Nein, dachte der Kapitän, als er sich vom schwarzen Schiff des Priesters entfernte, auf dem das Morden in diesen Augen blicken weiterging. Keine Armee der Welt kann gegen diese dämo nische Macht bestehen, über die die Caer-Priester verfügen. Der Herzog mußte erfahren, was sich hier wirklich tat. Viel leicht war er, Samor Yorgst, der einzige, der Zeuge des Unfaß baren gewesen und dem schrecklichen Ende in letzter Sekun de entkommen war. Herzog Krude mußte den Befehl geben, gezielt die Schiffe mit den Priestern anzugreifen und zu zer stören! Yorgst mußte an Land, nicht direkt vor Elvinon, denn dort hin war ihm durch die Schiffe der Weg versperrt, und er woll te nicht von einem verirrten Pfeil getroffen oder von ins Was ser stürzenden Masten erschlagen werden. Um die Schiffe herum schwamm er zunächst nach Osten, wohin sich die Seeschlacht noch nicht verlagert hatte. Nur ein zelne Wracks trieben dort, von niemandem mehr beachtet. Mit Unbehagen dachte Yorgst daran, daß nach Osten auch näher zum Meer der Spinnen bedeutete. In der kalten Jahres zeit trieb es die Seeungeheuer erfahrungsgemäß oft in die Straße der Nebel, und sie mochten wittern, welch reiche Beute sie hier erwartete. Der Gedanke daran ließ Yorgst noch schneller schwimmen, auftauchen, wieder unter Wasser, wieder Luft holen. Endlich war er so weit vom Priesterschiff entfernt, daß er glaubte, nun an der Wasseroberfläche bleiben und den toten Mann mimen zu können. Er ließ sich nach oben treiben und schaukelte mit dem Gesicht nach oben auf den hohen Wellen
zwischen den Rümpfen kämpfender Schiffe, die Hand mit dem Schwert unter dem Rücken. Es war kein Ende zu erkennen. Überall um ihn herum brann ten Segel, gingen Tote über Bord und wurde erbittert ge kämpft. Ein Schiff des Herzogs war direkt vor ihm. Yorgst hätte versuchen können, sich zu erkennen zu geben, an Bord zu gehen und dort bis zum bitteren Ende mit den Ver teidigern zu kämpfen. War er feige? Der Gedanke ließ ihn nicht los, und er mußte sich dazu zwingen, einen klaren Kopf zu behalten. Immer wieder führte er sich das Bild dessen, was er gesehen hatte, vor Augen. Nein, hier wäre er nur eine Leiche unter vielen. Lebend nützte er dem Herzog mehr. Immer weiter nach Osten. Nicht zu auffällig bewegen. Nur mit dem rechten Arm unter Wasser paddeln, dann und wann, wenn er sicher sein konnte, daß ihn niemand sah, einige Schwimmstöße mit den Beinen machen. Zwischen Schiffsleibern hindurch. Nur vermeiden, daß er zwischen sich gegenseitig rammende Schiffe geriet! Immer weiter, nach Osten, aus dem Kampfgetümmel heraus, zu einer Stelle der Küste, wo er unbemerkt an Land gehen und von dort aus auf schnellstem Weg die Stadt erreichen konnte.
Herzog Krude von Elvinon hatte den Wachturm nicht ein ein ziges Mal verlassen. Er stand noch so auf den Zinnen wie am frühen Morgen, als die Flotte der Caer am klaren Horizont erschienen war. Mittlerweile waren Stunden vergangen, ohne daß sich eine Entscheidung anbahnte. Die Sonne hatte ihren Höhepunkt am Himmel erreicht und wanderte weiter nach Westen. Die kom promißlose Entschlossenheit, der Mut und die Bereitschaft
eines jeden Kriegers und Seefahrers, sein Leben für Elvinon, für die Freiheit ihrer Brüder und Schwestern zu geben, mach ten die zahlenmäßige Überlegenheit der Caer wett – zumin dest jetzt noch. Aber der Augenblick war abzusehen, an dem das letzte Schiff der Verteidiger in Flammen aufgehen oder auseinanderbrechen würde. Die Caer hatten dann vielleicht tausend ihrer Schiffe verlo ren. Noch zögerte der Herzog, selbst in die Schlacht einzugreifen. Immer noch hoffte er, Nyala werde an seiner Seite erscheinen und es ihm leichter machen, an Bord der Tannahier zu gehen. Doch sie kam nicht. Dafür wurden ihm Männer gebracht, deren Schiffe gesunken und die mehr tot als lebend an Land gespült worden waren. Diejenigen, die noch die Kraft hatten zu reden, berichteten ü ber merkwürdige Dinge. Caer-Krieger, die verwundet und völlig verausgabt von ihresgleichen aus dem tobenden Meer gefischt und an Bord ihrer Schiffe gebracht wurden, sollten plötzlich wieder kraftstrotzend in den Kampf eingegriffen ha ben, und des Herzogs eigene Männer wurden gefangenge nommen und trieben wenig später als Leichen in der See. Es gab nur wenige, die von solchen Beobachtungen zu be richten wußten, und ihre Worte waren wirr. Viele hatte der Wahnsinn gepackt. Die wenigen Berater, die der Herzog in diesen Stunden neben sich duldete, sprachen von den Zauber kräften der Caer-Priester, doch auch sie wußten nur mit phan tastischen Vermutungen aufzuwarten. Mit brennenden Augen wartete der gebrochene alte Mann auf seinem Turm, spähte aufs Meer hinaus, oftmals überwäl tigt von Verbitterung und Schmerz über den Tod unzähliger tapferer Männer und voller Zorn auf die Nachbarherzogtü mer, die ihn und Elvinon im Stich ließen. Die See zwischen Elvinon und Akinborg schien zu brennen.
Sie war ein Flammenmeer mit schwarzen Schatten darin. Un unterbrochen hallten die Schreie der Kämpfenden und Ster benden herüber. Und kein Nebel legte sich über die See. War auch dies das Werk der Priester? Konnten sie durch ihre Zauberkräfte die Nebel bannen, um den Bewohnern Elvinons die Seeschlacht in ihrem ganzen Schrecken zu zeigen und sie zu demoralisieren, bevor der Kampf das Festland erfaßte? Herzog Krudes Hände waren zu Fäusten geballt. Er befahl, die Tannahier zum Auslaufen fertigzumachen. Er wollte mit seinen Männern kämpfen, an ihrer Seite sein. Doch noch siegte die Vernunft. Solange er auf dem Wachturm stand, für seine Krieger zu sehen und ihnen Mut und Zuversicht ge bend, war Elvinon nicht gefallen. God! dachte der Herzog inbrünstig. Erain! Laßt nicht zu, daß sich diese Horden über unser Land ergießen! Laßt nicht zu, daß sie uns die Finsternis bringen!
Und er ertappte sich dabei, wie er zu hoffen begann, daß seine Tochter recht habe, daß der fremde Jüngling der war, für den sie ihn hielt. Doch schon im nächsten Atemzug schalt er sich wegen sol cher Hoffnungen einen Narren. Wenn Nyalas Schützling der Sohn des Kometen aus der Legende wäre, befände er sich jetzt hier, wo die Not am größten war.
Mit erhobener Fackel in der einen und dem Schwert in der anderen Hand stieg Mythor gemessenen Schrittes zum Ende der Treppe hinab. Der schwarze Stein schien das Licht seiner Fackel zu schlucken, aber er sah genug. Das Rauschen der fallenden Wasser war verstummt. Hinter sich vernahm er noch die Geräusche, die die beiden Bestien von sich gaben. Ihr hungriges Knurren, das Scharren ihrer
Krallen auf dem Stein und das Klirren der Ketten, an die sie gefesselt waren. Aber die Laute klangen gedämpft, wie durch eine Wand, obwohl nur einige Stufen zwischen ihm und den tierischen Wächtern lagen. Die Skelette in ihrem Bereich ließen die Zahl der Wagemuti gen erahnen, die im Streben nach Macht und Reichtum hier eingedrungen und Opfer der beiden Raubkatzen geworden waren. Nur ihn hatten sie vorbeigelassen. Wenn er Nyala glauben durfte, dann war das vor ihm noch niemandem gelungen. Verdankte er dies allein seiner furchtlo sen Haltung, oder gab es einen bedeutenderen Grund? Nyala hatte einen genannt. Sie glaubte ganz fest daran, daß er der Berufene sei, der die Gruft betreten durfte und als Sohn des Kometen aus ihr hervorkommen werde. Und hätte sie mit ansehen können, wie sich die beiden schrecklichen Bestien trotz ihres rasenden Heißhungers winselnd vor ihm zurückge zogen hatten, sie wäre in ihrem Glauben an ihn nur noch be stärkt worden. Was hinter ihm lag, geriet in Vergessenheit. Seiner bemäch tigte sich eine Reihe seltsamer Empfindungen, die er nicht auseinanderhalten und erklären konnte. Aber etwas sagte ihm, daß er sich einem Ort der Bestimmung nähere. Mythor überwand die letzten Stufen. Vor ihm lag ein schma ler Gang, dessen Boden und Wände aus dem gleichen schwar zen Stein bestanden wie die Treppe. Er wußte nicht, wie lang der Gang wirklich war, denn schon nach zehn Schritten ver schwand er in einer Wand aus Nebel. Dieser seltsame Nebel war für das Auge undurchdringlich; dennoch bekam Mythor den Eindruck, daß dahinter ein wei ter, lichter Raum liege. Und von dem Nebel ging ein Leuchten aus, als fange er den Fackelschein ein und werfe ihn verstärkt zurück.
Eine Weile stand Mythor nur da und starrte in das ver schwommene Nichts vor ihm. Erst als ihn ein Harztropfen der Fackel auf den Handrücken traf, fand er in die Wirklichkeit zurück. Er ließ vor Schmerz die Fackel fallen. Als er sich nach ihr bücken wollte, machte er die Entdeckung, daß die Nebelwand vor ihm immer noch un verändert strahlte. Kurz entschlossen trat er die Fackel aus und schritt in den Gang hinein. Dabei faßte er den Griff des Breitschwertes fester. Er mochte nicht unvorbereitet sein, egal wie sehr ihn sein Ge fühl in Sicherheit wiegte. Er trat durch den Nebel, und im selben Moment löste sich dieser auf. Um ihn war nur noch Licht, das ein großes Gewöl be erhellte. Der Anblick ließ ihm den Atem stocken, er verwirrte seine Gedanken. Seine Augen nahmen unzählige Eindrücke auf, und doch vermochte er nicht zu erkennen, was er alles sah. Das mochte zum Teil an dem unwirklichen Schein liegen, der von nirgendwo und überall zu kommen schien. Es erinner te Mythor an das fahle Licht des vollen Mondes, das vertraute Dinge fremdartig und unwirklich erscheinen läßt. Der Eindruck, unter dem freien Weltendach zu stehen und im Mondlicht zu baden, wurde durch die Leuchterscheinun gen entlang den Wänden noch verstärkt. Die Ansammlungen aus unzähligen Leuchtpunkten, die sich zu verschlungenen Linien und phantastischen Mustern vereinigten, erinnerte an die geheimnisvollen Sterne. Dazu kam die vollkommene Stille. Dies war ein Ort der Er habenheit. Und er spürte, daß hier magische Kräfte gewirkt haben mußten, um eine Stätte für die Ewigkeit zu errichten. Doch waren das nicht jene, die aus der Dunkelzone stammten und wegen ihrer dämonischen Bösartigkeit überall gefürchtet wurden. Es waren hier andere Kräfte am Werk gewesen – jene
des Lichtes. Es gab keinen Staub. Die Luft war rein, ohne Moder und Fäulnis. Jeder Atemzug vermittelte steigendes Wohlbehagen und eine nie gekannte Geborgenheit. Mythor mußte an sich halten, um sich von den überwälti genden Empfindungen nicht ins Uferlose treiben zu lassen. Sein Verstand klärte sich, aber ein Nachhall des ersten über wältigenden Eindrucks blieb. Zum erstenmal blickte er sich bewußt um und nahm die Größe des Gewölbes wahr. Die leuchtenden Wandsymbole störten sein Schätzvermögen zwar, aber er glaubte, daß die Gruft gut an die fünfzig Schritt in der Länge maß und etwa dreißig in der Breite. Es gab nur diesen einen Zugang, durch den er gekommen war. Ziemlich genau in der Mitte der Gruft erhob sich bis in Brusthöhe ein länglicher Schrein, der oben offenstand. Er be stand aus dem gleichen schwarzen Stein wie der Boden, war ebenso glatt geschliffen und schien mit diesem verwachsen. Mythor hatte den Eindruck, daß Schrein und Boden aus einem Stück gefertigt seien, wie er überhaupt meinte, daß die ganze Gruft mitsamt dem Zugang und der langen Treppe aus einem einzigen großen Block dieses schwarzen Steines geschlagen worden war. Der Boden war so glatt, daß man meinte, sich darin spiegeln zu können. Aber als Mythor an sich hinuntersah, stellte er fest, daß er weder ein Spiegelbild noch einen Schatten hatte. Er dachte nicht weiter an das steinerne Behältnis in der Mitte des Gewölbes, obwohl er sich fragte, welchem Zweck es dien te. Etwas wie eine magische Eingebung ließ ihn sich jedoch der Wand links vom Eingang zuwenden, die im fahlen Schein der leuchtenden Symbole erstrahlte. Zuerst konnte er keinen Sinn in den verschlungenen Darstel lungen erkennen. Er dachte, daß es sich um rätselhafte magi
sche Schriften handle. Doch je länger er darauf blickte, desto deutlicher wurde ihm, daß die Linien und Zeichen nichts anderes als Bilder darstell ten. Für Mythor war das wie eine Offenbarung. Er fühlte sich wie ein Blinder, der auf wundersame Weise sehen lernte. Es war jedoch nicht leicht, den ersten Bildteil zu überschau en, der die ganze Schmalseite der Gruft neben dem Eingang einnahm. Er bestand aus so vielen einzelnen Zeichnungen, daß Mythor nicht in der Lage war, sie zu zählen. Manche Zeichnungen waren etwas größer gehalten, andere wiederum waren so klein wie ein Fingerglied. Letztere stellten fast ausschließlich in einfachen Strichen gehaltene Menschen dar, deren Haltung durchwegs Leid und Entsetzen und Ab wehr ausdrückte. Dazwischen tummelten sich Geschöpfe verschiedener Grö ße, die die Menschen auf vielerlei Arten quälten und töteten. Mythor entdeckte in den Bildern so unvorstellbar bedrohliche Ungeheuer, wie er sie nicht einmal aus Sagen und Legenden kannte. Jeder dieser Unholde war für sich furchteinflößend, aber alle zusammen ergaben sie das Sinnbild des absoluten Schreckens. Damit nicht genug, fanden sich überall die Darstellungen der tobenden Elemente. Da waren aufbrechende Berge, aus deren Schlünden Feuer stieg. Wolken, die Pest und Schwefel in sich trugen, schwebten über den Menschen. Wellenberge wälzten sich über sie hinweg und verschlangen sie. Dort reg nete es Feuer, und da trug ein Wirbelwind seine Opfer davon. Und über allem lagen Schatten, körperlose, nicht greifbare Schatten. Mythor fröstelte. Er deutete die Zeichen richtig. Dies waren Darstellungen der Welt aus jener Zeit, als Dunkelheit über ihr lag und das Böse sie regierte. Er war wie ein Schlafwandler die Wand entlang gegangen
und hatte die Bilder in sich aufgenommen. Nun erreichte er die nächste Wand. Und wieder schaute er die Bilder, die ihm eine Offenbarung waren, ohne daß er ihre Sprache wirklich entschlüsseln konnte. Er verstand nur ihre oberflächliche Bot schaft, ihr magischer Gehalt blieb ihm verborgen. Er sah die Darstellung von Schrecken, die sich jedoch nicht mehr steigerten, sondern sich verringerten, je weiter Mythor die Wand abschritt. Der Schatten wurden weniger, die Düs ternis des Bildinhalts nahm merklich ab. Erste Lichtstreifen zeigten sich, und dann brach etwas durch das Staubdach und vertrieb die letzten Reste des Dunkels zu einem schmalen Bannstreifen. Mythor starrte auf das größer werdende Licht. Er hatte das Gefühl, als sehe er die Sonne nach einem Unwetter durch die sich auftuende Wolkendecke strahlen. Und wie die Sonne brachte dieses Licht Wärme über die Welt und spendete Leben und vertrieb die Dunkelheit. Nur war dieses Licht größer und stärker als die Sonne. Es war… ein Komet! »Der Lichtbote!« murmelte Mythor unwillkürlich. Was er schon zuvor zu ahnen begonnen hatte, wurde nun zur Gewißheit. Dies war die bildliche Darstellung der Vertrei bung der dämonischen Mächte in die Schattenzone. Hier war die Legende, die ihm Nyala vor kurzem erzählt hatte, in Bil dern festgehalten. Mythor kam zur nächsten Schmalseite der Gruft, deren Dar stellungen noch ganz im Zeichen einer beständigen Lichtwelt standen. Aber durch alle Bilder spannte sich ein dunkler Strei fen, von dem eine unerklärliche Drohung ausging. War das die Schattenzone? Die Bilder auf der zweiten Längswand zeigten in zuneh mendem Maß wieder bedrohlichere Darstellungen. Auch wa ren sie in dunkleren Farben gehalten.
Mythor versuchte, alle Einzelheiten in sich aufzunehmen und sie sich zu merken, um vielleicht später einmal Schlüsse daraus zu ziehen. Aber sosehr er sich die Zeichen auch einzu prägen glaubte, so waren sie wenig später schon wieder aus seinem Gedächtnis entschwunden. Da war das Bild eines Schwertes, ein durchaus vertrauter Anblick für ihn. Aber in welcher Beziehung standen die anderen abgebildeten Gegens tände, die darum angeordnet waren? Im nächsten Augenblick vermochte Mythor nicht einmal mehr zu sagen, welche Dinge das waren. Er wollte zurück, doch da machte er eine überraschende Feststellung. Er konnte nicht umkehren, um einmal betrachtete und seinem Gedächtnis entschwundene Bilder ein zweites Mal zu schauen. Etwas trieb ihn unaufhaltsam weiter. Ein unglaublicher Gedanke kam ihm. Sah er hier Bilder von Ereignissen, die zwar prophezeit, aber noch nicht wirklich geschehen waren? Hatte er deshalb nicht den richtigen Blick dafür? Dieser Gedanke erregte ihn und spornte ihn zu noch größe rer Aufmerksamkeit an. Aber es half nichts. Die Abbildungen verschwammen ihm vor den Augen, verloren ihre Leuchtkraft – die Farben wurden stumpf. Und auf einmal, von einem Augenblick zum anderen, war der Zauber verflogen, der Mythor bis zuletzt gefangengehal ten hatte. Auf den Wänden waren nur noch einfache Malerei en zu sehen, die keine besondere Ausstrahlung mehr hatten. Mythor war, als habe er die größte Chance seines Lebens verpaßt und etwas von lebenswichtiger Bedeutung für alle Zeiten verloren. Der steinerne Schrein fiel ihm ein. Er erhoffte sich davon nichts mehr, doch gab es in der Gruft sonst nichts anderes, dem er seine Aufmerksamkeit hätte schenken können. Ohne große Erwartungen, enttäuscht und lustlos fast, wand
te er sich der Mitte des Gewölbes zu. Und da passierte es, daß eine eigentümliche Spannung von ihm Besitz ergriff. Mit je dem Schritt, den er sich der steinernen Erhebung näherte, wurden seine Erwartungen größer. Hinter diesen steinernen Wänden, im Inneren des Schreins, erwartete ihn etwas unglaublich Kostbares! Diese Überzeu gung wurde in Mythor immer stärker. Aber war er würdig, diese Gnade entgegenzunehmen? Die aufkommenden Zweifel waren jedoch nicht stark genug, ihn in Widerstreit mit seinen Absichten zu bringen. Er wischte sie hinweg. Er hatte die Gefahr eines schrecklichen Todes durch die Bestien nicht auf sich genommen, um nun darauf zu ver zichten, alle seine Möglichkeiten wahrzunehmen. Er hatte die steinerne Wandung auf der Stirnseite des Schreins fast erreicht und konnte in sein Inneres blicken. Dort lag auf dem Grund des nackten Steins ein menschlicher Körper. Das Wesen war unschwer als weiblich zu erkennen. Es war ein unglaublich zartgliedriges Geschöpf mit kindlich anmutendem Körper. Das silberne Haar umrahmte das Ge sicht wie ein Schleier aus Spinnweben. Aber dieses überirdisch scheinende Wesen war tot, und nur die Kunst des Balsamierens hatte den Zerfall der sterblichen Hülle verhindert. Und vielleicht war dabei auch Magie im Spiel gewesen. Der Schrein war ein Sarg – und darin lag eine Mumie. Wel che Geheimnisse konnte eine Mumie ihm schon anvertrauen? Mythor klammerte sich mit einer Hand haltsuchend an die steinerne Wandung und stützte sich gleichzeitig mit dem Schwert am Boden ab. Da geschah es. Er zuckte im ersten Moment der Überraschung zurück, als sich aus dem Steinsarg eine silbrig flirrende Wolke erhob, die die Gestalt einer Frau annahm.
Mythor hielt den Atem an. Die Erscheinung hatte sich gefes tigt, und doch blieb sie weiterhin ungreifbar. Ihr Gesicht war von edler Sanftmut, und die Blässe der Haut hatte nichts Mumienhaftes mehr an sich. Ihr Haar glitzerte wie Tau im Morgenlicht. Die Gestalt war von einem langen weißen Gewand bedeckt, das durch seinen lockeren Faltenwurf die Körperformen nur erahnen ließ. Die Erscheinung der Frau schwebte über der Mumie, aus der sie geschlüpft war. Beine oder Füße waren keine zu sehen, denn ihr Gewand verlor sich in diesem Bereich in einem Ne belschleier. Mythor stand keine vier Armlängen entfernt. Er wußte nicht, wie lange er wortlos dagestanden hatte, als er sich ein Herz faßte und fragte: »Wer… bist du?« »Gwasamee.« Er hörte die Antwort als Flüstern in seinem Kopf. Die sanfte, weibliche Stimme wurde nicht von Schall getragen, sondern von denselben unergründlichen Kräften wie die gespenstische Erscheinung selbst. »Ich bin Gwasamee«, wiederholte die flüsternde Stimme. »Gwasamee, die Kometenfee. Und du hast den Weg zu mir gefunden.« »Ich wollte nicht…«, begann Mythor, sprach aber nicht zu Ende. »Du hattest nicht die Absicht, meine Ruhe zu stören, ich weiß«, flüsterte Gwasamees übernatürliche Stimme. »Wie soll test du auch wissen können, daß eine Kometenfee dich hier erwartet. Und meine nicht, daß du mich gestört hättest. Durch dein Erscheinen hast du mir dazu verholfen, daß ich endlich meine Ruhe finden werde. Einst wirkten mehrere von meiner Art auf dieser Welt. Doch sind sie längst endgültig vergangen. Nur mir war es aufgetragen, auf diese Weise über meine Zeit
hinaus zu wirken.« »Dann ist es vielleicht wahr, was Nyala über mich gesagt hat?« fragte Mythor laut, aber mehr zu sich selbst. Er heftete seinen Blick auf die Erscheinung. »Bist du eine Gesandte des Lichtboten, der einst die Welt besuchte und sie frei machte von aller Finsternis?« »Nicht ganz frei von Finsternis, wie du wissen solltest«, antwortete Gwasamee. »Er konnte das Böse nur zurückdrän gen und dafür sorgen, daß es in einem Bannstreifen gefangen war. Der Lichtbote konnte sein Werk nicht vollenden, er muß te weiterziehen. In weiser Voraussicht erkannte er jedoch, daß das Böse sich eines Tages wieder ausbreiten und sich anschi cken würde, von der Welt erneut Besitz zu ergreifen.« »Ich kenne die Legende, und ich habe sie in den Bildern an den Wänden wiedergefunden«, sagte Mythor, der seine Si cherheit wieder zurückgewonnen hatte. Er machte eine Bewe gung, die die Gruft umfaßte, und fügte bedauernd hinzu: »Ich habe die Bilder alle geschaut, aber sie gaben mir nicht ihre letzten Geheimnisse preis.« »Das darf dich nicht verwundern«, sagte Gwasamee sanft. »Du bist ein Suchender, der seine ersten unsicheren Schritte auf dem Weg der Bestimmung getan hat. Die Bilder aber sind von einem Wissenden für Eingeweihte bestimmt. Verzage nicht, weil du sie nicht deuten konntest. Eines Tages wirst du den Bildern wieder begegnen, und dann wirst du ihre Bot schaft vernehmen können. Höre, was ich sage, und du wirst erkennen, daß meine Worte auch nicht den richtigen und end gültigen Namen der Dinge nennen.« »Bin ich denn nicht der Berufene, daß du mir die Geheimnis se vorenthältst?« fragte Mythor herausfordernd. »Diejenigen, die sich alle berufen fühlten, sind Legende. Du hast ihre Gebeine gesehen«, sagte Gwasamee. »Du aber hast dich allein dadurch bewährt, daß du den Weg zu mir ge
funden hast. Du mußtest zuerst zu mir kommen. Denn hier beginnt der Weg der Prüfungen für dich. Und dieser Beginn ist zugleich deine erste Bewährungsprobe. Sei willkommen in dieser kleinen Insel des Lichts. Du stehst hier als der mögliche Sohn des Kometen. Du sollst dazu ausersehen sein, die Mächte der Finsternis in ihre Schranken zu weisen. Doch noch bist du unwissend und verwundbar. Um deine Mission erfüllen zu können, mußt du der Vollkommenheit näherkommen. Darum ist es nötig, dich einer Reihe schwerer Prüfungen zu unterzie hen und dich vor Rätsel zu stellen. Du sollst geläutert werden und die erforderliche Reife erlangen. Und du sollst das nötige Rüstzeug bekommen, um dich in einer Welt behaupten zu können, in der das Böse immer mehr überhandnimmt. Diesen Weg mußt du gehen. Höre noch einmal, was du von anderer Zunge schon vernommen haben magst.« Und Mythor lauschte den Worten der Kometenfee, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen. Was sie ihm zu sagen hatte, klang vertraut in seinen Ohren. Er hatte es schon einmal von Nyala gehört, die ihm die Legende vom Sohn des Kometen er zählte. »Vor grauer Urzeit lag die Welt in einen dichten Nebel des Bösen gehüllt…« Mythor sah es im Geist vor sich, wie es gewesen war. Seine Eindrücke waren eine Mischung der Bildinhalte von den Wänden der Gruft und seiner eigenen Vorstellungen. Er sah den leuchtenden Kometen förmlich vor sich, wie er der Welt das Licht brachte. Er vernahm die Prophezeiung, als spreche der Lichtbote zu ihm selbst, jene Voraussage, daß der Sohn des Kometen in Erscheinung treten würde, wenn das Böse wieder übermächtig zu werden drohte. Es kam so, wie der Lichtbote es vorausgesehen hatte. Die Kräfte der Finsternis, vom Licht des Kometen an den Rand der Welt verbannt, erholten sich, wurden stärker und schickten
sich an, die Welt zurückzuerobern. Die Zeit brach an, in der nur noch der Sohn des Kometen in der Lage war, die finsteren Mächte zu zerschlagen und die Lichtwelt endgültig zu festigen. Aber um für diese Aufgabe gerüstet zu sein, mußte er viele Rätsel lösen und schwere Prü fungen bestehen. Dafür war ihm eine Frist gesetzt, in der er die nötige Stärke erreicht haben mußte, andernfalls… »… wird die Welt im Griff des Bösen ersticken und in einem furchtbaren Chaos enden. Denn wenn der Lichtbote in fernen Tagen von seiner langen Reise geschwächt zurückkehrt, dann muß sein Schein auf eine reine Lichtwelt fallen.« Mythor erkannte, daß Gwasamee am Ende ihrer Ausführun gen angelangt war. Sie entließ ihn aus ihrem Zauber. »Ich will tun, was von mir verlangt wird«, sagte Mythor. »Aber ist es dir nicht möglich, meine letzten Zweifel darüber zu zerstreuen, daß ich der Auserwählte bin?« »Kein Glaube ohne Zweifel«, sagte Gwasamee. »Kein Licht ohne Schatten. Niemand kann ohne Schwäche wirklich stark sein. Das ist das Gleichgewicht der Welt. Es muß alles im Lot bleiben, dafür hat der Sohn des Kometen zu sorgen. Dieser Auf gabe kannst du nur gewachsen sein, wenn du lernst, die Schat ten mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen. Da die Welt ein Gleichgewicht hat, gibt es für die Waffen der Schwarzen Ma gie die Gegenstücke der Weißen Magie. Diese mußt du be herrschen lernen. Dir werden deshalb sieben Prüfungen aufer legt sein, und sobald du eine abgelegt hast, wirst du der nächs ten zugeführt. Sieben Ziele sind es, deren erstes du bereits er reicht hast, und glaube mir, es war das schwerste nicht. Dein Weg wird steinig sein und immer dornenvoller werden, aber ebenso steil wird es hinaufgehen bis in eine Höhe, von der aus du dich mit allem Bösen messen kannst, dessen die Dämonen aus der Schattenzone fähig sind. Hier hast du einen Beginn
gemacht. Bei mir wurdest du für das nächste Ziel gewappnet.« »Dann nenne mir dieses Ziel!« verlangte Mythor ungedul dig. War das Antlitz der Kometenfee durchscheinender gewor den? Wollte sie ihn verlassen und sich in ihren Mumienkörper zurückziehen, ohne ihm den Weg gewiesen zu haben? »Ich werde den anderen Kometenfeen folgen, wie es mir be stimmt ist«, sagte Gwasamee, und ihre Stimme klang entrück ter, als entferne sie sich bereits aus dieser Welt. »Aber zuvor werde ich dir sagen, was du als nächstes zu tun hast.« Mythor spannte sich an. »So sage es mir endlich!« verlangte er fast flehend. »Zuvor noch ein Wort.« Das Licht der Kometenfee wurde langsam schwächer, wie auch ihre Stimme. »Du wirst immer nur ein Ziel erfahren, dem dein ganzes Streben gelten soll. Erst wenn du an diesem Ziel bist, wird dir das nächste genannt.« Die Stimme erstarb, und in Mythor wuchs die Furcht, daß sie entschwinden könne, bevor sie ihm den entscheidenden Hin weis gegeben hatte. »Schnell, ich bitte dich!« rief er. »Suche Xanadas Lichtburg.« Gwasamees Stimme war nur noch ein Hauch. »Dort wirst du das Gläserne Schwert Alton finden, das nimm an dich.« Die letzten Worte verwehten wie im Wind; Mythor konnte sie kaum hören. Und dann erstarb die Stimme endgültig. Doch die Worte hallten wie ein starkes, unauslöschliches Echo in seinem Geist nach. Xanadas Lichtburg! Das Gläserne Schwert Alton! Es war vorbei. Gwasamee begann sich vor seinen Augen aufzulösen. Das Gesicht verflüchtigte sich, aber Mythor glaub te noch ihr Lächeln zu sehen, als die Züge sich längst schon verwischt hatten. »Wie finde ich Xanadas Lichtburg?« rief er verzweifelt, ob
wohl er wußte, daß er vergebens auf eine Antwort hoffte. Gwasamee verging. Nur noch der Mumienkörper in dem prächtigen Steinsarg war von ihr geblieben. Als Mythor auf die Mumie blickte, entfuhr ihm ein gurgeln der Laut. Mit ungläubigem Entsetzen sah er, wie die Mumie verfiel. Was über unzählige Generationen durch den Geist der Gwasamee zusammengehalten worden war, löste sich nun auf. Das Gesicht wurde weich und zerfloß. Verwesungsgeruch stieg auf und raubte Mythor den Atem. Mythor wich hustend zurück. Er taumelte zu einer Wand und stützte sich. Seine Hand brannte, und er zog sie zurück. Da sah er, daß seine Hand einen dunklen Abdruck in dem Wandbild hinterlassen hatte. Davon zogen sich Sprünge über die Bilder, die sich immer mehr verästelten und breiter wur den. Nein! dachte Mythor. Er wollte nicht schuld daran sein, daß die Bilder erloschen. Er wollte sie vor seinem Rückzug noch einmal genau betrachten. Aber die Bilder wurden von den schwarzen Sprüngen zerrissen und verloren ihre Farbe. Die Zeichnungen blätterten ab, zerfielen zu Staub und wurden zu Nichts. Mythor wandte sich ab. Aus dem steinernen Sarg stieg nun eine dichte Qualmwolke, die ihm die Sicht auf die gegenüber liegende Wand nahm. Giftige Dämpfe breiteten sich in der Gruft aus und hüllten ihn ein, als er nicht rasch genug zu rückwich. Er hielt den Atem an und wirbelte das Schwert vor seinem Gesicht, um sich frische Luft zuzufächeln. Aber es half wenig. Seine Augen brannten bereits wie Feuer. Das Gift drang ihm in die Atemwege und drohte sein Inneres zu zersprengen. Keuchend und hustend durcheilte er den schmalen Gang und erreichte die Treppe. Aber die giftige Wolke erreichte ihn auch hier, und sie folgte ihm in dichten, wallenden Schwaden,
als er die Treppe hinaufhastete. Wütendes Fauchen schlug ihm von oben entgegen. Er hielt an und blickte die Treppe hinauf. Im dämmrigen Schein der Todeswolke sah er die Schatten der beiden Raubkatzen, die sich ihm in drohender Haltung entgegenstellten. »Zurück!« schrie er sie an. »Geht aus dem Weg!« Dabei machte er mit dem Schwert eine drohende Geste. Als Antwort kam ein heiseres Gebrüll aus ihren säbelzahnbewehr ten Rachen. Und statt sich eingeschüchtert zurückzuziehen, warfen sie sich in plötzlicher Raserei in seine Richtung. Mitten im Sprung wurden sie von ihren Ketten zurückgerissen. Das schien sie jedoch nur zu noch größerer Wut anzustacheln. Mythor war sich darüber klar, daß er die Mordbestien dies mal nicht würde zähmen können. Zurück konnte er nicht, das verhinderte die Giftwolke. Er mußte sich den Raubkatzen zum Kampf stellen, denn nur an ihnen vorbei führte der Weg ins Freie.
Samor Yorgst fror. Zum kalten Wasser der Straße der Nebel kam nun ein eisiger Wind, der über die Wellen strich. Endlich konnte er sich wieder bewegen. Er hatte den Schau platz des Kampfes hinter sich gelassen. Vor Entdeckung war er nun sicher. Das Schwert in seinem Gürtel behinderte ihn kaum, aber sein linker Arm machte ihm zu schaffen. Bei jeder Schwimm bewegung setzte das schmerzhafte Pochen verstärkt ein, daß es ihm fast die Besinnung raubte. Aber er biß die Zähne zu sammen und schwamm weiter, denn er mußte noch vor Ein bruch der Dunkelheit die Küste erreichen. Andernfalls war er verloren. Die Schulterwunde hatte sich entzündet, und er wußte, daß das Gift in seinem Blut ihn umbringen würde. Yorgst fürchtete
nicht um sein Leben. Zweimal war er bereits dem Tode ent ronnen, und er war es müde, gegen sein Schicksal anzukämp fen. Nur noch eines zählte: Der Herzog mußte rechtzeitig er fahren, was er mit angesehen hatte. Der Schlachtlärm ebbte ab, je mehr sich der Seefahrer von den Schiffen entfernte. Er schwamm langsam, um Kraft zu sparen. Bald spürte Yorgst seine Bewegungen nicht mehr. Der rechte Arm und die Beine schienen ein Eigenleben zu besitzen. Die Küste kam näher. Ununterbrochen hielt Yorgst Ausschau nach den gefürchteten Seeungeheuern aus dem Meer der Spinnen. Noch deutete nichts darauf hin, daß welche in der Nähe wa ren. Doch wahrscheinlich würde das erste, was er von ihnen bemerkte, der Griff sein, der ihn in die Tiefe zog. Der Gedanke an das Schwert im Gürtel beruhigte ihn nur wenig. Yorgst schwamm weiter. Keine Leichen oder Planken trieben mehr in der Nähe, nichts, an das er sich klammern konnte. Als er schon bis auf wenige hundert Meter an die Felsen her an war, sah Yorgst etwas Seltsames: Ein Stück weiter oberhalb war ein Teil der Küste in dichten Nebel gehüllt. Nebel war hier nichts Ungewöhnliches – im Gegenteil war es verwunderlich, daß den ganzen Tag über noch keine Schwaden aus der See aufgestiegen waren. Aber der Nebel, den er sah, hüllte nur einen Teil der Küste ein und bewegte sich nicht an ihr entlang, obwohl jetzt Wind aufkam. Samor Yorgst kannte die Küste zu beiden Seiten Elvinons so gut wie jeder Seefahrer, der fast sein ganzes Leben auf dem Wasser verbracht hatte. Dort, wo der Nebel war, lag eine klei ne geschützte Bucht, in der Vergangenheit ein beliebter Anle geplatz für Piratenbanden, die von dort aus ihre Raubzüge unternahmen. Es konnte kein Zufall sein, daß sich ausgerechnet dort eine
dichte Nebelbank befand, obgleich die ganze übrige Küste und See frei waren. Samor Yorgst erreichte das Ufer an einer seichten Stelle zwi schen zwei steil aufragenden, hohen Klippen. Heftig atmend ließ er sich auf den steinigen Strand fallen und strich die lan gen nassen Haare hinter die Ohren zurück. Jetzt spürte er den kalten Wind noch mehr, aber gerade diese Kälte war es, die seine Schmerzen linderte. Yorgst schnitt sich mit dem Schwert den linken Ärmel seines Wamses ab. Es war nicht viel besser als die der einfachen See leute und Krieger, und seinen Umhang hatte er längst verlo ren. Bestürzt mußte er feststellen, daß sein Arm sich zu verfär ben begonnen hatte. Beim Anblick der Wunde erschrak er noch mehr. Yorgst biß die Zähne zusammen, reinigte sie, so gut es ging, und verband sich. Zwei Stunden bis zur Dunkelheit, schätzte er, als er den Himmel betrachtete. Dann glitt sein Blick wieder über die Schlacht, und es fiel ihm schwer, zu begreifen, daß er diesem Chaos entkommen war. Er stand auf. Zum Herzog! dachte er. Nach Elvinon! Er kannte die Gegend hier. Zwischen den beiden Klippen verlief ein begehbarer Pfad, auf dem man zu einem Weg in die Stadt gelangte. Es gab keine für Fuhrwerke und Gespanne befahrbaren Straßen hier oberhalb Elvinons. Ein Reiter würde Mühe haben, sein Pferd an der Küste entlangzutreiben. Zu Fuß hatte Yorgst die Chan ce, vor Anbruch der Dämmerung die Stadttore zu erreichen. Doch seine Entschlossenheit, sich unvermittelt dorthin zu begeben, war durch seine Entdeckung ins Wanken geraten. Vielleicht sah er schon Gespenster, vielleicht sollte er der ge heimnisvollen Nebelbank überhaupt keine Bedeutung beimes sen und keine Minute verlieren. Aber irgend etwas sagte ihm, daß von dort Gefahr drohe, schreckliche Gefahr nicht nur für ihn, sondern für ganz Elvinon.
Der Nebel mußte durch Zauberei entstanden sein. Das aber bedeutete, daß sich dort in der kleinen Bucht Caer befanden – und mit ziemlicher Sicherheit einer ihrer schrecklichen Pries ter. Und niemand in Elvinon wußte davon. Niemand hatte das Schiff, das zweifellos hinter dem Nebel verborgen lag, kom men sehen. Gerüchte waren kurz vor dem Auslaufen der Ranua an sein Ohr gedrungen, daß es einem Caer-Trupp gelungen sein soll te, in die Stadt einzudringen. Aber niemand wußte, woher sie gekommen waren. Es ist nur ein Abstecher, dachte Yorgst. Er betastete wieder die Wunde. Er fühlte sich noch kräftig genug, um Elvinon zu er reichen und vorher der Bucht einen Besuch abzustatten. Er kannte den Weg dorthin, und wenn er sich beeilte, kam er trotz des Umwegs vor Anbruch der Nacht nach Elvinon – viel leicht mit noch wichtigeren Nachrichten. Yorgst faßte seinen Entschluß. Er kannte die Küste besser als jeder Fremde, und wenn der Nebel die Caer schützte, dann bot er auch ihm Schutz vor Entdeckung. Selbst sie konnten nicht durch ihn hindurchsehen. Der Kapitän der zerstörten Ranua machte sich auf den Weg. Einige Male mußte er seinen Körper zwischen den Klippen hindurchzwängen. Das lose Gestein unter seinen Füßen be hinderte ihn zusätzlich. Er biß die Zähne zusammen und preß te die Lippen aufeinander, bis Blut aus seinen Mundwinkeln lief. Yorgst gönnte sich keine Rast mehr. Jetzt zahlte es sich aus, daß er langsam geschwommen war und seine Kräfte ein geteilt hatte. Nach kurzer Zeit war die Nebelwand direkt vor ihm. Yorgst kannte den einzigen Zugang vom Land her zur Bucht. Ein Ge röllfeld vom Strand bis hinauf hinter die Steilklippen, wo der Küstenpfad verlief.
Der Seefahrer befand sich bereits auf dem losen Gestein, als ihn die Nebelbank einhüllte. Er brauchte nur abwärts zu ge hen, so leise es ihm möglich war. Jeder zum Strand hinunter kullernde Stein konnte ihn verraten. Als Yorgst glaubte, das Ende des Geröllfelds nun fast er reicht zu haben, sah er undeutlich einen riesigen Schatten vor sich. Er blieb stehen, machte zu seiner Rechten einen Felsen aus und ging dahinter in Deckung. Seine Schritte, so vorsichtig er auch einen Fuß vor den anderen setzte, verursachten knir schende Geräusche. Yorgst wartete hinter dem Felsen mit klopfendem Herzen, das ein schmerzhaftes, dumpfes Echo im Pochen der Wunde fand. Für einen Moment wich der Nebel, und durch die Lücke konnte Samor Yorgst den schattenhaften Umriß des Schiffes sehen. Es war schwarz, wie er erwartet hatte, aber kleiner als die Dreimaster in der Schlacht. Keine Stimmen, sosehr er auch lauschte. Nur der nun stärker aufkommende Wind pfiff und heulte zwischenden Felsen. Doch die Nebelbank wurde nicht davongetrieben. Yorgst überlegte fieberhaft. Blieb ihm noch die Zeit, das of fensichtlich verlassene Caer-Schiff zu untersuchen? Und wo war die Besatzung? Ganz Elvinon bereitete sich auf den An griff von der See aus vor. Wenn die Caer nun… Yorgst kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu denken. Plötzlich waren sie hinter ihm. Er spürte sie. Der Seefahrer fuhr herum. »Keine Dummheiten, wenn dir dein Leben lieb ist, Freund!« Zwei Caer-Krieger direkt vor ihm. Zwei Schwerter, die auf seine Brust zeigten. Yorgst glaubte, hinter den beiden im Ne bel weitere schattenhafte Gestalten zu erkennen. Wie ein Töl pel war er in die Falle gelaufen. »Ich glaube, er ist allein«, sagte einer der Caer zum anderen.
Er drehte sich um und rief: »Sucht trotzdem weiter! Wir kümmern uns um den hier!« Yorgst stand auf, langsam, sich gehetzt nach allen Seiten umsehend. Aber es gab keinen Fluchtweg. »Wir nehmen ihn mit an Bord«, hörte er den Krieger sagen. »Unser Priester wird sich über den unerwarteten Besuch freu en.« Priester! Allein das Wort ließ Yorgst in Panik ausbrechen. Vergessen waren Elvinon und die Nachricht, die er dem Her zog bringen mußte. Nur nicht noch einmal in die Hände eines dieser Ungeheuer fallen! Yorgst sah die auf sich gerichteten Schwerter. »Nein!« schrie er. »Lebend bekommt ihr mich nicht!« Er warf sich den Kriegern entgegen, um sich selbst in ihren Waffen aufzuspießen und dem grausamen Spiel ein Ende zu machen. Vielleicht hatten sie seine Absicht erahnt, vielleicht in seinen Augen gelesen. Vielleicht war er einfach schon viel zu lang sam. Sie wichen zur Seite, bevor er heran war. Yorgst streckte schreiend die Hände aus und griff ins Leere. Er fiel hart und schlug mit dem Kopf auf einen Stein. Augenblicklich verlor er das Bewußtsein. Er spürte nicht mehr, wie starke Arme ihn packten und aufs Schiff schleppten.
Es war unmöglich, gegen beide Säbelzahntiger gleichzeitig zu kämpfen. Unmöglich, es mit einem von ihnen aufzunehmen, ohne daß ihm der andere in den Rücken fiel und ihn zer fleischte. Mythor hatte nicht die Zeit, sich sein Vorgehen lange zu ü berlegen. Er mußte heftig husten und spürte, wie die eingeat meten Dämpfe in Hals und Lungen brannten.
Mythor sah, daß auch die Tiger von den Dämpfen angegrif fen wurden. Er zwang sich dazu, noch einen Augenblick zu warten, gerade so weit vor den Bestien stehend, daß ihre Pranken ihn nicht erreichen konnten. Dann, als er den Ein druck hatte, daß einer der Tiger nach Luft schnappte und für einen Moment in seinen Bewegungen erlahmte, handelte er. Er setzte alles auf eine Karte. Entweder tötete er die Tiere in einem Überraschungsstreich, oder er würde bald ein weiteres Skelett neben den anderen sein. Er schleuderte das Schwert. Bis zur Hälfte der Klinge fuhr es in die Brust des Tigers, der noch wild an seiner Kette zerrte und ihn zu erreichen versuchte. Die Katze fiel wie ein Stein. Mythor verlor keine Sekunde. Er stürmte vor, nutzte das Überraschungsmoment und schlang beide Arme um den Hals des anderen Tigers. Ein furchtbarer Laut drohte ihm die Trommelfelle zu zerreißen. Die Bestie bäumte sich auf, ver suchte sich dem Griff zu entwinden und schlug mit allen vie ren um sich. Mythor hatte ein explodierendes Energiebündel im Arm und spürte den heißen Atem des Tigers. Er ließ nicht los und schlang nun auch die Beine um den mächtigen Körper. Der Säbelzahntiger wälzte sich herum und rollte sich auf den Rücken. Mythor spürte die harten Kanten der Stufen, das ganze Ge wicht der Bestie auf sich. Ein schneller Blick zum zweiten Tier. Das Schwert war in sein Herz gedrungen. Es war tot, doch es schien, als solle er es nur um wenige Augenblicke überleben. Mythor brachte den rechten Arm ganz um die Kehle des fau chenden und tobenden Tigers und drückte mit aller Kraft, die noch in seinen Armen war, zu. Eine Hinterpranke erreichte ihn und riß ihm tiefe Wunden ins Bein. Es war unmöglich, den furchtbaren Krallen auszuweichen, selbst wenn er sich noch so fest an den Körper des Tigers preßte. Er konnte ihn nicht ersti cken. Doch die Dämpfe raubten ihm mehr und mehr Kraft.
Ohne das Schwert hatte er keine Chance. Er würde mit dem Tiger zusammen sterben, noch im Tod umschlungen. Er muß te an die Waffe heran. Mythor zwang sich zu atmen. Schwarze Punkte begannen vor seinen Augen zu tanzen. Er mußte wie der aus der Reichweite der tobenden Pranken, die nun wieder in sein Fleisch fuhren. Der Tiger versuchte ihn an die Wand zu drücken. Mythor erkannte seine Chance blitzschnell, warf sich mit aller Kraft herum und schmetterte den Kopf der Katze gegen den schwarzen Marmor. Für einen Moment war die Bestie betäubt. Mythor ließ los und sprang auf. Seine Beine gaben nach. Der Tiger sprang auf die Beine. Mythor ließ sich die Treppenstufen hinabrollen, doch ein Prankenhieb traf ihn noch an der Schul ter. Blutüberströmt kam Mythor zum Halten, richtete sich tau melnd auf und kroch die Stufen wieder hinauf, eng an die der tobenden Bestie gegenüberliegende Wand gedrückt, wo das tote Tier lag. Mythor bekam den Griff des Schwertes zu fassen und zog es aus der Brust des Tigers. Schwankend richtete er sich auf und blieb einen Augenblick mit dem Rücken an die Wand gelehnt stehen. Er konnte fast nichts mehr sehen. Seine Lungen weigerten sich zu atmen. Die Kette rasselte. Der Säbelzahntiger auf der anderen Seite der Treppe sprang wieder. Mit letzter Kraft stürzte Mythor vor und rammte ihm das Schwert bis zum Heft in die Schulter. Er taumelte zurück, sah die Treppe frei vor sich und nahm einige Stufen, bevor er wieder auf allen vieren kroch. Hinter ihm ver endete der Tiger. Mythor kroch weiter. Nur noch wenige Stufen. Das Rau schen des Wasserfalls war in seinen Ohren. Immer weiter! Nur jetzt nicht liegenbleiben! Gwasamees Gesicht erschien wie im Fiebertraum vor ihm, dann ihre feingliedrigen Hände, die ihn lockten. Ihre Stim
me… Wenn du der Sohn des Kometen bist, mußt du deinen Weg gehen. Er schleppte sich weiter. Irgendwann sah er, daß keine Treppenstufen mehr unter ihm waren. Der Wasserfall! Die Luft wurde besser. Die giftigen Dämpfe verteilten sich und zogen zur anderen Seite hin ab. Mythor atmete heftig, preßte das Gift aus seinen Lungen und füllte sie mit frischer Luft. Er wußte nicht, wie lange er so dagelegen hatte, als er die neue Kraft spürte, die seinen Körper durchrann. Er konnte sich aufrichten. Mit den Händen stützte er sich an den Felswänden hinter den Fällen ab und taumelte weiter. Wasser spritzte auf ihn und wusch das Blut ab. Wie benommen trat er zwischen den herabstürzenden Was sern und den Felswänden hindurch ins Freie. Vor Erschöpfung schwankend, erreichte er die Stelle, an der er Nyala zurückge lassen hatte. Dann sah er sie. Er stieß einen erstickten Laut aus und wollte auf sie zulau fen. Doch die Kraft in ihm war trügerisch. Wieder gaben seine Beine nach. Die von den scharfen Krallen gerissenen Fleisch wunden brannten höllisch. Er fiel, richtete sich auf Knie und Ellbogen auf und sah die Caer heranstürmen. Und bei ihnen war… »So warst du tatsächlich in der Gruft«, hörte er eine höhni sche Stimme sagen. »Du hättest dir den Weg zurück sparen können, Mythor!« Mythor hob den Kopf, daß er ins Gesicht des Mannes sehen konnte. Zohmer Felzt, der ihn durch Gift beseitigen wollte und dafür den alten Etro auf dem Gewissen hatte. Das Schwert in Felzts Hand blitzte in den Strahlen der un tergehenden Sonne auf, als der ehemalige Hauptmann der
herzoglichen Leibgarde sich mit teuflischem Grinsen zu der an den Baum gefesselten und geknebelten Nyala von Elvinon umdrehte. »Sieh genau her, meine Liebe!« rief er. Dann lachte er schallend. »Sieh, wie er stirbt, dein Held!« Und Mythor hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich zur Seite zu werfen, als er den blitzenden Stahl über sich in die Höhe fahren sah. Er wollte es, wollte die Hände vorstrecken, um Felzts Arm zu packen, doch seine Beine versagten ihm den Dienst. Er fiel auf die Seite und blieb auf dem Rücken liegen, schwer atmend, und sah, wie Zohmer Felzt zum tödlichen Hieb ausholte.
Alle Muskeln des Verräters waren gespannt. Hilflos lag der verhaßte Rivale unter ihm. Felzt schlug noch nicht zu. Er ge noß diesen Augenblick. Das Warten hatte sich gelohnt. »So stirb!« schrie er dann, von plötzlicher Wut gepackt. Mythor winselte nicht um Gnade. Blutüberströmt und ohne einen Funken Kraft in seinem Körper hielt er dem Blick Felzts stand. Felzts Arme mit dem Schwert fuhren herab, doch mit ten im Hieb hörte er eine Stimme, die ihm das Blut in den A dern gefrieren lassen wollte. »Ich will ihn lebend!« Im letzten Augenblick konnte Felzt die Klinge an Mythor vorbeilenken. Sie bohrte sich tief in den weichen Boden. Vom eigenen Schwung mitgerissen, taumelte Felzt zwei Schritte vorwärts. Dann blieb er einen Moment wie gelähmt stehen, bevor er sich umdrehte. Vor ihm stand Drundyr, schwarz und auf schreckliche Weise erhaben. »Aber…«, stammelte Felzt, »… dieser Mann gehört mir! Nur seinetwegen ließ ich…« »Du bestimmst nicht, was dir gehört!« fuhr ihm Drundyr
barsch ins Wort. Seine Stimme klang schrill und anklagend. »Du hast zu nehmen, was dir gegeben wird. Und du willst doch die Frau?« »Ja!« entfuhr es Felzt. »Aber dieser…« Drundyr kam näher und beugte sich über Mythor. Lange sah er ihn an und nickte immer wieder. »Ich täuschte mich nicht. An diesem Mann ist etwas, das ihn als Gefangenen wertvoller macht denn als Toten. Wertvoll und interessant für mich. Ihm wird kein Haar gekrümmt, Hauptmann.« Felzt wagte nicht mehr zu widersprechen. Drundyr sah Nya la an, dann Felzt. »Binde sie los! Wir nehmen beide mit. Du hattest Glück, Hauptmann, weit größeres Glück, als du glaubst.« Felzt begann zu schwitzen, obgleich es bitter kalt war. Die Dämmerung setzte ein. Was immer Drundyr mit seinen rätselhaften Worten meinte, hing zweifellos mit Felzts Befehl zum Warten zusammen – und mit Mythor. »Wirst du dein Versprechen halten?« fragte er den Priester, als er auf halbem Weg zu Nyala, die ihn haßerfüllt anblickte, noch einmal stehenblieb. »Ich sagte doch, du hattest Glück. Dein Handeln war ver antwortungslos, so daß ich die Bucht verlassen mußte. Dieser Mann allein hat dich gerettet.« Kaum schlauer als zuvor, machte sich Felzt daran, Nyala vom Baum loszubinden. Er nahm ihr den Knebel aus dem Mund und löste auch ihre Handfesseln. Brutal schleifte er die kratzende, schreiende und tretende Herzogstochter mit sich, bis sie vor Drundyr und den Kriegern standen, die nun einen Kreis um Mythor gebildet hatten und auf die Befehle des Priesters warteten. In diesem Augenblick befreite sich Nyala. Bevor irgend je mand es verhindern konnte, entriß sie einem der Caer das Schwert und stieß es Felzt tief in die Brust. »Das ist für dich,
du elender Verräter!« schrie sie. Die junge Frau ließ den Schwertgriff los und sah, wie Felzt röchelnd niedersank. Dann stürzte sie auf Mythor zu und ließ sich schluchzend neben ihm zu Boden fallen. Entsetzt sah sie seine Wunden. Sie wollte sein Gesicht in die Hände nehmen, doch jemand packte sie brutal von hinten und zerrte sie in die Höhe. »Es ist besser, wenn ihr die Wildkatze wieder fesselt«, sagte Drundyr. Er zeigte auf Mythor. »Ihn auch, aber behandelt ihn mit Vorsicht.« Die Krieger gehorchten. Wenig später waren sie mit ihren Gefangenen unterwegs zur Bucht. Es war dunkel geworden. Mythor wurde von zwei Caer-Kriegern gestützt. Drundyr ging dicht hinter ihm und beobachtete ihn. Der Feuerschein am Himmel wies ihnen den Weg.
Die Straße der Nebel stand in hellen Flammen. Jetzt erst bot sich das Bild des Schreckens in seinem ganzen Ausmaß. Noch immer tobte die Seeschlacht, ohne daß die Entscheidung sich sichtbar anbahnte. Noch hielt der Sperrgürtel der herzoglichen Schiffe der geballten Macht der Caer-Flotte stand. Und nun, mit Anbruch der Nacht, zog auch der erwartete Nebel auf. Für die Beobachter wurde es schwerer, Einzelheiten zu erkennen. Einen Tag lang kämpften nun die Seefahrer und Krieger aus Elvinon gegen die Horden aus Caer. Und noch war kein Ende des sinnlosen Sterbens abzusehen. Männer und Frauen in den Straßen von Elvinon blickten zu dem Wachturm der Hafenanlage auf, wo noch immer ihr Her zog stand – wie aus Stein gemeißelt. In vorsorglich errichteten Notunterkünften wurden Ver wundete gepflegt, die den Hafen erreicht hatten oder zu den Kriegern gehörten, die die Besatzungen von vier Caer
Schiffen, die den Durchbruch geschafft hatten und gelandet waren, in erbittertem Kampf besiegt hatten. Straßen und Ge bäude waren erleuchtet. Kriegerscharen standen bereit, um sich dem Feind entgegenzuwerfen, sobald die Schiffe nicht mehr in der Lage waren, ihn aufzuhalten. Jeden Augenblick rechneten die Verteidiger damit. Die Wehrgänge am Hafen barsten fast vor Kriegern. Ununterbrochen wurde Öl erhitzt. Immer noch strömten Bewaffnete aus allen Teilen des Herzog tums in die Stadt. Bauern kamen mit Sensen und Äxten, Heu gabeln und allem, was sich als Waffe verwenden ließ. Die Frauen versorgten sie mit Nahrung und kümmerten sich um die Unterbringung. Obwohl Tausende von Kriegern die Schif fe bestiegen hatten, in der Straße der Nebel kämpften oder als Leichen im Wasser trieben, war kaum noch Platz in der Stadt. Die Kinder waren zu entlegenen Gehöften gebracht worden. Und Herzog Krade stand bebend auf dem Wachturm. Die Tannahier lag auslaufbereit im Hafen. Mit zusammengebisse nen Zähnen hatte der einsame Mann auf den Zinnen auf seine Berater gehört. Doch nun stand sein Entschluß fest: Am frühen Morgen des nächsten Tages würde er an Bord gehen. Wider besseres Wissen hielt sich immer noch die Hoffnung in ihm, die Schlacht um Elvinon könne auf See entschieden werden. Vielleicht gab sein Erscheinen den dort Kämpfenden noch einmal die Kraft, sich aufzubäumen. Krude wußte, daß er sich etwas vormachte, aber er konnte seine Männer dort im Flammenmeer nicht im Stich lassen. Wenn die Caer landen konnten, war die Stadt verloren – mit oder ohne ihn. Und er wollte nicht mit ansehen müssen, wie Elvinon in Schutt und Asche gelegt wurde. Der Herzog verwünschte sich selbst für seine Gedanken und seine Unentschlossenheit. Vielleicht wollte er nur so schnell wie möglich im Kampf sterben, weil er zu gut wußte, daß alle Hoffnungen Selbstbetrug waren. Vielleicht warteten die, die
zu ihm aufblickten, doch nur darauf, daß er endlich in den Kampf eingriff. Einsamkeit und Verbitterung nagten schwer an ihm und machten es ihm fast unmöglich, klare Gedanken zu fassen. Herzog Krude von Elvinon sehnte den Morgen herbei. Er wußte, daß er die ganze Nacht über hier oben stehen und das mit ansehen würde, was er nicht mehr sehen wollte. Die Ne bel, die sich nun rasch verdichteten, erschienen ihm fast als ein Geschenk der Götter. Nur vereinzelt waren noch Fackeln und Windlichter zu erkennen, doch unablässig drangen die Schreie der Sterbenden herüber zum Turm. Herzog Krude stand regungslos da und zählte die Stunden.
Auch Drundyr dachte an Aufbruch. Es wurde bald Zeit, daß er sich an Bord der Durduune begab. Er schickte Kuriere mit Booten aus, um die anderen Priester von seiner bevorstehenden Ankunft zu unterrichten und ihnen Befehle zu erteilen. Späher hatten berichtet, daß das Schiff des Herzogs auslaufbereit im Hafen Elvinons liege. Der Zufall hatte ihm einen Mann in die Hände gespielt, der dafür sorgen sollte, daß Krude von Elvinon bereits als Gefan gener an Bord der Durduune sein würde, wenn er selbst sein Schiff erreichte. Vorerst kümmerte er sich jedoch um die beiden anderen Ge fangenen. Nur widerwillig hatte des Herzogs Tochter die Sal ben und Tränke angenommen, die die Wunden des schwarz haarigen Jünglings in wenigen Stunden heilen und ihn zu Kräften kommen lassen sollten. Drundyr überzeugte sich da von, daß sie ihn behandelte. Ihre haßerfüllten Blicke und Be schimpfungen ließen ihn kalt. Kalt, wie er den Tod des Hauptmanns hingenommen hatte. Auf die Dauer wäre Felzt ihm lästig geworden, und eine Nya
la von Elvinon, die Herrin ihrer Sinne war, konnte sich letzt lich als wertvoller erweisen als eine Felzt hündisch ergebene, von animalischen Trieben beherrschte Sklavin. Drundyr ließ sie und Mythor in einem von außen streng be wachten Raum unter dem Schiffsheck allein, der ansonsten als Vorratsraum diente. Er betrat die Heckaufbauten des kleinen Schiffes und ließ den Tainnianer zu sich bringen, der den Wachen in der Bucht in die Hände gefallen war. Drei Männer mußten ihn festhalten. Er tobte. Die Stirnadern waren dick hervorgetreten, und die Augen drohten aus den Höhlen zu quellen, als er dem Priester gegenüberstand. Drun dyr erkannte schnell, wie es um ihn bestellt war. Sein Blut war vergiftet. Drundyr konnte den Seefahrer nicht retten, doch er konnte den Tod hinauszögern. Der Mann mußte so lange le ben, daß er den Herzog in die Falle locken konnte. »Du!« sprach er den Rasenden an. »Wie heißt du?« »Antworte Drundyr!« schrie ein Krieger und versetzte Y orgst einen Tritt in die Seite. Er riß seinen Kopf hoch. »Sieh Drundyr an, wenn er mit dir redet!« Yorgsts Körper bäumte sich ein letztes Mal auf, um dann schlaff in den Armen der Caer zu hängen. Sie ließen ihn auf die Knie gleiten, den Kopf noch immer in den Nacken gezo gen, so daß Yorgst gezwungen war, ins Gesicht des Priesters zu blicken. Dieser trug keine Gesichtsmaske, doch sein Anblick war kaum weniger grausam. »Laßt mich sterben«, flüsterte Yorgst flehend. »Gebt mir den Tod, nun, da alles ohne Sinn ist.« »So schnell willst du dich besiegen lassen?« Drundyrs Stim me klang höhnisch. »Ich hatte die Männer von Elvinon für tap ferer gehalten. Wie heißt du?« Irgend etwas war in dieser unangenehm hellen Stimme, was
jeglichen Widerstand in dem Gefangenen auslöschte. Mit ge brochenem Blick, wissend, daß sein kühnes Vorhaben endgül tig gescheitert war, murmelte er: »Yorgst. Mein Name ist Sa mor Yorgst. Ich bin… ich war Kapitän der Ranua, die…« Noch einmal traten Trotz und Zorn in den Blick des Seefahrers. »Der stolzen Ranua, die ihr versenkt habt!« Drundyr triumphierte innerlich. Kein einfacher Krieger, sondern ein Seefahrer, der ein Schiff befehligt hatte. Das mach te die Durchführung seines Planes um einiges leichter. »Und du kennst den Herzog?« Drundyr stellte die Frage an ders: »Er kennt dich?« »Ja«, knirschte Yorgst. Er erwartete, durch die Hand des Priesters oder eines seiner Krieger zu sterben. Was konnte er schon preisgeben? Was hatte er anderes zu erwarten als den Tod? Er spuckte dem Priester ins Gesicht und begann ihn wüst zu beschimpfen. Vielleicht ließ er sich aus der Reserve locken. Ein schneller Schwertstoß, und der Alptraum wäre vorüber. Doch Drundyr dachte nicht daran. Er hob die Hände und begann Beschwörungen zu murmeln wie der Priester auf dem anderen Schiff, von dem Yorgst gesprungen war. Yorgst schloß die Augen und wollte nichts mehr hören. Doch das Bild des Priesters drang durch seine geschlossenen Augenlider und die helle Stimme direkt in sein Bewußtsein. Und es waren andere, verborgene Sinne, die nun auf das rea gierten, was von diesem schrecklichen Mann im schwarzen Mantel auszugehen schien. Nur für Sekunden konnte Yorgst sich dagegen aufbäumen. Dann umfing ihn die unheimliche, bösartige Aura, die plötz lich überall zu sein schien – vor ihm, hinter ihm, in ihm. Yorgst trieb in einem Meer aus Finsternis, und wispernde Stimmen waren in ihm. Die Stimme Drundyrs?
Er wußte es nicht. Er wußte nichts mehr. Kein Widerstand war mehr in ihm. Der Seefahrer brach vollkommen zusam men. Alle Kraft wich aus ihm. Er hatte keinen eigenen Willen mehr. Etwas ergriff von ihm Besitz, und es war nicht mensch lich. Nicht der Priester, sondern das, was von ihm ausstrahlte, was tief in seiner Seele wohnte. Der Dämon hatte Yorgst in seinem Würgegriff und brannte alles aus ihm heraus, was noch er selbst war. Yorgst fühlte keinen Schmerz und keine Verzweiflung mehr. Wie eine Puppe kniete er, von den Kriegern gehalten, vor Drundyr, dessen Hände sich wie ein Helm um seinem Kopf schlossen. Er hörte die Worte des Priesters, ohne sie verstehen zu kön nen. Dafür waren plötzlich Begriffe in ihm, dann Bilder. Y orgst sah das vor sich, was der Rest seines Lebens sein sollte. Die Durduune, Kapitän Yardin… Elvinon, Herzog Krude. Er mußte zu ihm, ihm mitteilen, was er gesehen hatte, als er auf der Durduune gewesen war. Kein Widerstand, nichts, was ihm sagte, daß er die Durduune niemals gesehen hatte. Er sah sie jetzt, in diesem Augenblick. Ja, es waren seine eigenen Erinnerungen. Und er mußte zum Herzog. Yorgst wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er die Augen wieder aufschlug. Es spielte auch keine Rolle. Wichtig war allein, daß er tat, was er tun mußte. Drundyr stand finster vor ihm, doch Yorgst hatte keine Angst mehr vor dem Priester. Er war sein Herr, war es immer gewesen, würde es sein, solange ein Funke Leben in ihm war. »Wiederhole mir, was du zu tun hast«, forderte Drundyr ihn auf, und die helle Stimme klang vertraut, nicht mehr absto ßend. Die Augen auf Drundyrs Gesicht gerichtet, begann Yorgst zu sprechen. Als er geendet hatte, nickte der Caer zufrieden. »So
soll es sein«, sagte er. Yorgst erhob sich. Die Krieger hatten ihn losgelassen und warteten in einiger Entfernung. Er brauchte sie nicht mehr. Er war kräftig genug, um selbst stehen zu können. Mehr noch. Er fühlte sich frischer als jemals zuvor. Die Wunde war verges sen. Er spürte keinen Schmerz mehr. »Geh jetzt!« befahl Drundyr. Yorgst gehorchte, ohne zu zögern. Er drehte sich um und wurde vom Schiff gebracht. Der Mann, der den Namen des Seekapitäns Samor Yorgst trug, sah sich nicht mehr um. Geradewegs nach Elvinon. Er kannte den Weg. Und er mußte sich beeilen. Er begann zu laufen, stolperte über loses Gestein und kam immer wieder auf die Beine. Ja, er hatte den Weg von jener Stelle der Küste, wo er an Land geschwommen war, nach Elvinon genau vor Augen, e benso wie seine Flucht von der Durduune. Der Gedanke an dieses schreckliche Schiff trieb ihn unermüdlich voran.
Es war weit nach Mitternacht, als die Krieger den Erschöpften heranschleppten. Herzog Krude wurde jäh aus seinen finste ren Gedanken gerissen. Er erkannte den Mann auf Anhieb. »Yorgst!« entfuhr es ihm. »Kapitän Samor Yorgst. Die Ranua ist…?« »Sie ist nicht mehr, Herzog«, brachte Yorgst schwer atmend hervor. Er lehnte sich gegen eine Zinne und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Unter seinen Augen waren dunkle Ränder. Sein Gesicht war eingefallen. Erst jetzt, im Schein der Fackeln, sah Krude, wie es um den Seefahrer bestellt war. »Bei God! Man muß sich um deine Wunde kümmern. Wie siehst du aus, Yorgst? Als hättest du direkt in die Hölle gese
hen!« »Vergiß die Wunden. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Yorgst fühlte wieder, wie die Kraft ihn durchströmte, die auf dem Weg nach Elvinon sein ständiger Begleiter gewesen war. Beschwörend streckte er die Arme aus und zeigte auf die blut rote See hinaus. »Deine Schiffe haben keine Chance, solange diese Teufel…« Yorgst brauchte sein Entsetzen nicht zu schauspielern, denn dies waren seine Erinnerungen. Er faßte sich und hielt dem for schenden Blick des Herzogs stand. »Das Schiff, auf dem alle Fäden der Invasion gezogen werden, ist die Durduune. Sie steht abseits von dem eigentlichen Schlachtgetümmel. Ihr Ka pitän ist ein Caer namens Yardin. Aber nicht er hat die eigent liche Macht. Die Priester haben sie. Sie befinden sich auf vielen Schiffen und erwecken Tote wieder zum Leben! Tote Caer, in die die Lebenskraft unserer Männer überfließt, die auf den schrecklichen Altären geopfert werden.« Die Worte sprudelten nun nur so aus Yorgsts Mund hervor. »Aber all diese Priester erhalten ihre Befehle von der Durduune aus, wo der mächtigste dieser Besessenen steht und sie auf eine Art und Weise, die nur Zauberei sein kann, dirigiert. Ich bin nach dem Untergang der Ranua gefangengenommen und auf die Durduune verschleppt worden. Nur durch unerhörtes Glück konnte ich fliehen. Dieses Schiff muß vernichtet werden, Herzog!« Krude hatte zugehört, ohne auch nur einmal den Versuch zu machen, Yorgsts Redefluß zu unterbrechen. Nun stand der Seefahrer wieder schwer atmend an die Zinne gelehnt. Der Herzog von Elvinon sah das Entsetzen in seinen Augen. Nein, sagte er sich, Yorgst log nicht. Und er hatte schon von den Caer gehört, die scheinbar tot gewesen und dann wieder kraftstrotzend im Kampfgetümmel aufgetaucht waren – und von den Kriegern, die gefangengenommen und kurz darauf
tot im Wasser treibend gesehen worden waren. Dies also steckte dahinter! In hilflosem Zorn ballte Krude die Hände und warf einen wilden Blick auf die tobende See schlacht. Der Nebel hatte sich verdichtet. Die Tannahier wartete nur auf ihn. Der Herzog änderte seinen Entschluß, erst bei Anbruch des Tages auszulaufen. Er legte eine Hand auf Yorgsts unverletzte Schulter. Ernst fragte er: »Kannst du mich zu diesem Schiff führen?« »Ich kann es versuchen! Bei God und Erain, wir müssen es versuchen! Ich habe nicht mehr lange zu leben, Herzog. Laß mich nicht in der Stadt sterben. Laß uns auslaufen, so daß mein Tod einen Sinn hat!« Bewunderung für diesen selbstlosen Mann durchströmte den Herzog, aber auch Furcht, als er in Yorgsts Augen sah. Wenn er selbst auf der Durduune gewesen war, wie er berich tete, war es dann ausgeschlossen, daß er bereits in ihrem Bann war? Krude gab sich einen Ruck. Dieses Risiko mußte er eingehen. Es mußte eine Fügung sein, daß dieser Mann jetzt erschienen war und daß er selbst mit dem Auslaufen gezögert hatte. Hier bot sich eine Chance, die Schlacht doch noch zugunsten Elvi nons zu entscheiden, eine Chance, mit der Krude nicht mehr gerechnet hatte. Die Caer waren mit ihren Priestern stark, aber dadurch auch von ihnen abhängig. Wenn es nun gelang, die sen geheimnisvollen Drahtzieher im Hintergrund noch recht zeitig auszumerzen… »Dann komm mit mir!« sagte er entschlossen. »Auf dem Weg sollen sich die Frauen um deine Schulterwunde küm mern.« Yorgst wehrte ab. »Das Gift ist schon in meinem Blut. Es ist zwecklos. Laß uns keine Zeit verlieren, Herzog.«
Krude nickte mit zusammengepreßten Lippen. Kurz be sprach er sich mit seinen Beratern und erteilte ihnen Anwei sungen, auch für den Fall, daß er nicht mehr zurückkehrte. Dann verließ er mit Yorgst und einigen Kriegern den Turm.
Die Tannahier war der Stolz der Flotte von Elvinon, größer als die anderen Schiffe des Herzogs, und besaß wie die CaerSchiffe drei Masten. Die Bug- und Heckaufbauten waren kost bar verziert. An Bord befanden sich die besten Seefahrer und Krieger des Herzogtums. Der Kapitän war ein stämmiger, hellhaariger Mann namens Hamur Belzor. Am Steuer stand ebenfalls eine Hüne. Die Tannahier war voll besetzt. Frische Männer saßen auf den Ruderbänken. Augen, in denen die Un geduld stand, sahen dem Herzog entgegen, als er mit Samor Yorgst sein Schiff betrat. Der Herzog besprach sich kurz mit Belzor, und Yorgst sagte, wie die Durduune am besten zu erreichen sei. Die Tannahier sollte zunächst nach Westen segeln, dann einen Bogen um die Schlacht machen und im Rücken der Caer auf die Durduune stoßen. »Eines dieser schwarzen Schiffe sieht aus wie das andere«, gab Belzor zu bedenken. »Woher nimmst du die Sicherheit, die Durduune zu erkennen?« »Ich war auf ihr! Und niemand, der sie einmal gesehen hat, wird sie jemals wieder vergessen können. Ich habe sie gespürt, verstehst du? Und ich werde sie wieder spüren. Ihr alle werdet sie spüren! Die Durduune steht allein hinter den Reihen der Schiffe.« Belzor schien mit dieser Auskunft alles andere als zufrieden zu sein. Er drehte sich um und schrie seine Kommandos. Die Männer griffen in die Ruder. Langsam schob sich das mächtige Schiff aus dem Hafen. Wind griff in die Segel, der
gleiche Wind, der es nicht schaffte, die Nebel aufzulösen. Dem Herzog war dies vorerst nur recht. Die Tannahier teilte die Wellen und gelangte auf offene See. Yorgst stand neben dem Kapitän, den er von früher her kann te, und hielt den Atem an. Belzor stellte Fragen nach dem Schicksal der Ranua, wollte Einzelheiten über die Kämpfe und die Durduune wissen. Wenn er mißtrauisch war, so zeigte er es nicht. Aber er war alles an dere als freundlich zu Yorgst. Yorgst hielt seinem Blick stand und beantwortete die Fragen, so gut es ging. Sein Haß auf die Caer und die Priester, vor al lem auf jenen an Bord der Durduune, war echt. Er hatte kein schlechtes Gewissen und empfand Zorn auf Belzor. Nur der gegenseitige Respekt verhinderte, daß die beiden Kapitäne sich in die Haare gerieten. Herzog Krude bemerkte davon nichts. Er stand auf dem Bugaufbau zwischen den Bogenschützen und starrte auf die See. Er war den Blick vom Wachturm ge wohnt. Jetzt, in einer völlig anderen Perspektive, schien die Seeschlacht lange nicht so schrecklich zu sein. Die Tannahier hielt streng nach Westen. Dann und wann riß der Nebel doch auf, und die Schiffe, die darauf warteten, in die von den Caer gerissenen Lücken zu stoßen, waren kurz zu sehen. Die eigentliche Schlacht spielte sich weiter zur Mitte der Straße der Nebel hin ab, wo die gegnerischen Schiffe und die Verteidiger regelrecht ineinander verkeilt waren. Es war für Krude ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, daß seine Flotte noch Reserven hatte. Er ahnte nicht, daß gerade in diesen Augenblicken, als die Tannahier von Yorgst nach Westen geführt wurde, im Osten die ersten Caer-Schiffe massiv den Riegel der Verteidiger durchbrachen und zur Landung ansetzen. Es begann zu dämmern.
Die Tannahier trieb tiefer in den Nebel hinein. Rufe und Schreie waren wie aus dem Nichts heraus zu hören. Männer auf anderen Schiffen riefen sich den Namen des Herzogs und seines Schiffes zu. Sie hatten sie also im Vorbeifahren erspäht. Noch vor Stunden war es Krudes Vorhaben gewesen, durch sein Auftauchen neue Hoffnung zu verbreiten. Nun befürchte te er, daß sich die Kunde von seinem Eingreifen wie ein Lauf feuer bis hin zu den Invasoren und dieser geheimnisvollen Durduune verbreiten würde. Wrackteile tauchten im Wasser auf. Herzog Krude von Elvi non sah Männer, die sich verzweifelt daran klammerten. »Holt sie an Bord!« befahl er den Kriegern. »Das Schiff kann nicht alle aufnehmen«, warnte Belzor. »Sie werden an die Küste treiben und dort sicher sein.« »Sie haben keine Kraft mehr. Wir nehmen so viele auf wie möglich.« Taue wurden über die Reling geworfen, ohne daß die Tanna hier ihre Fahrt verlangsamte. Die Krieger halfen ihren Kame raden an Bord und kümmerten sich um die Verletzten. »Wir haben die Grenze der Belastbarkeit erreicht!« protes tierte der Kapitän. »Die Tannahier wird kämpfen müssen, Her zog!« Und wahrscheinlich werden viele von uns sterben, fügte Krude in Gedanken hinzu. War diesen armen Kerlen damit gedient, sie dem Tod zu entreißen, nur um sie, wehrlos, wie sie waren, kurz darauf noch einmal die Schrecken einer Schlacht erleben zu lassen? Schweren Herzens befahl er, keine weiteren Schiffbrüchigen mehr aufzunehmen. »Das müßte weit genug sein«, sagte Yorgst schließlich. Was immer ihm die Kraft gab, den Tod hinauszuzögern, konnte nicht das Gift aus seinem Blut waschen. Er hatte es plötzlich eilig. »Wir müssen uns jetzt an die Schiffe herantasten. Der
Nebel schützt uns noch.« Belzor murmelte eine Verwünschung. Die Tannahier segelte weiter in die Straße der Nebel hinein. Der Kampflärm war jetzt nur noch schwach zu vernehmen – von Osten her. Das Schiff des Herzogs hatte die Mauer der kämpfenden Schiffe fast umfahren. Kaum ein Wort wurde gesprochen. In einigen hundert Schritt Entfernung war ein Schatten zu sehen. Fackeln und Windlichter leuchteten schwach herüber. »Eines unserer Schiffe«, sagte Belzor. Eines derer, die schon am weitesten nach Westen ausge schwärmt waren, um einen Durchbruch der Caer auf den Sei ten zu verhindern. Es war ruhig dort drüben. Da der Herzog nicht wußte, was sich zu diesem Zeitpunkt auf der anderen Seite, im Osten, tat, nahm er an, daß die Caer noch immer ver suchten, in der Mitte durchzubrechen. Bei klarem Wetter hätte er selbst von hier aus sehen können, wie die Caer-Krieger von immer mehr gelandeten schwarzen Schiffen an Land sprangen und sich den Verteidigern der Ha fenanlage entgegenwarfen, als hätten sie nur darauf gewartet, daß er die Stadt verließ. So aber segelte die Tannahier weiter, doch auch falls der Her zog vom Durchbruch auf der Ostflanke gewußt hätte, wäre es zu spät für eine Umkehr gewesen. Schon glaubte er, sich bereits im Rücken der Invasoren zu befinden, als ein riesiger Schatten sich aus dem Nebel schob. »Ein Caer!« schrie Belzor. »Ist das die Durduune, Yorgst?« »N… nein«, stammelte dieser. »Die Durduune steht weiter östlich, genau hinter den Reihen der Caer. Dieses Schiff hier…« Er brachte den Satz nicht zu Ende. Ein weiterer Schatten, dann noch einer. Drei Caer-Dreimaster. Sie kamen von allen Seiten. »Sie haben uns erwartet!« brüllte Belzor. Er fuhr herum und
packte Yorgst am Wams. »Du hast es gewußt! Du hast uns ab sichtlich hierhergeführt!« »Nein!« Yorgst schrie sein Entsetzen heraus. »Ich wußte nichts von ihnen! Ich weiß nur, wo die Durduune steht, ich schwöre es bei den Göttern!« Belzor ließ ihn los. Yorgst taumelte zurück und stürzte. Er hörte nicht die Kommandos und die Schreie der Caer auf den drei angreifenden Schiffen. Irgend etwas in ihm drängte mit aller Gewalt zur Oberfläche seines Bewußtseins, aber es kam nicht durch. Das, was ihn beherrschte, war stärker. Aber Yorgst wußte nun, daß etwas nicht so war, wie es sein sollte. Dunkel begann er etwas zu ahnen. Ganz verschwom men sah er die Bucht oberhalb Elvinons vor seinem geistigen Auge. Aber was war da? Was? Der Herzog mußte es wissen. Die Caer schoben sich heran. Pfeile prasselten auf das Deck der Tannahier nieder. Die eigenen Bogenschützen hatten sich über den Bug und zur Reling hin verteilt und verschossen Brandpfeile. Es war zu spät. Das erste Caer-Schiff schob sich ganz nahe an die Tannahier heran. Enterhaken wurden geschwungen und flogen durch die Luft, gingen auf dem Deck der Tannahier nieder und verfingen sich in der Reling. Dunkle Gestalten schwangen sich an Seilen vom Caer-Schiff herüber und landeten mit ihren Schwertern zwischen die Zähne geklemmt inmitten von Ruderern und Kriegern. Ein erbitterter Kampf entbrannte. Belzor und der Steuer mann hatten Schwerter in den Händen und stürzten sich ins Getümmel. Die Ruderer verließen ihre Bänke, griffen ebenfalls zu den Waffen und empfingen die Enterer. Stahl schlug auf einander. Die Pfeilschützen knieten hinter der Reling und schossen auf die an den Seilen herüberschwingenden Caer.
Fast die Hälfte wurde getroffen und stürzte schreiend auf die harten Planken. Doch immer weitere tauchten auf. Der Ab stand zwischen den beiden Schiffen war nun so gering, daß sie springen konnten. Achtern schob sich ein vierter Dreimaster aus dem Nebel. Yorgst richtete sich auf. Er spürte die Schulterwunde wieder – zum erstenmal seit… Die Erinnerung traf ihn mit voller Wucht. Er hatte das Ge fühl, in abgrundtiefe Leere zu stürzen, in ein Meer aus Schuld und Schmerz und Finsternis. Was er getan hatte, konnte er nie wiedergutmachen. Alle Kraft drohte ihn zu verlassen, aber er wußte, daß es die Kraft des Dämons war, der in Drundyr steckte und auf ihn ausgestrahlt hatte. Er war frei! Er kämpfte gegen die Schwäche an. Nur wenige Augenblicke hatte er noch zu leben, und nun gab es nur noch eines für ihn zu tun. Er sah den Herzog wie einen Baum inmitten von mehreren Caer-Kriegern stehen und mit starkem Arm das Schwert füh ren. Er blutete aus einigen tiefen Wunden. Seine Kleidung war von den Flammen der Fackeln, mit denen die Caer nach ihm schlugen, angesengt. Das ganze Deck schien vor Kämpfenden zu bersten. Die Krieger hatten alle Mühe, sich ihrer eigenen Haut zu wehren. Belzor kämpfte wie ein Berserker und ver suchte, bis zum Herzog durchzukommen, um ihm beizuste hen. Zu viele Caer waren zwischen den beiden Männern. Yorgst wollte die Treppe zum Deck hinunterstürzen, als ihn ein Caer erblickte. Einen Moment lang sahen die beiden sich in die Augen, als ob der Caer wisse, wen er vor sich hatte. Yorgst kämpfte gegen die Schwärze an, die sich auf ihn herabsenken wollte. Er sah einen Enterhaken, der sich im Bugaufbau ver fangen hatte. Im gleichen Augenblick, in dem der Caer brül lend die Treppe heraufstürmte, erreichte er ihn und riß ihn los. Der Caer war vor ihm, das Schwert zum tödlichen Hieb er hoben. Yorgst trieb ihm den Haken in den Leib.
Er sprang zurück und sah den Caer stürzen. Unglauben stand in den dunklen Augen. Yorgst riß ihm das Schwert aus der Hand und stieß es ihm in die Brust. Er sah sich gehetzt um. Noch trotzte der Herzog der Über macht. Seine Krieger starben beim Versuch, sich zu ihm durchzuschlagen. Die Absicht der Caer war klar. Sie wollten Krude lebend. Und gerade das durfte nicht geschehen! Yorgst kämpfte um seine Kraft. Er sah Drundyr vor sich, spürte wieder die furchtbare Ausstrahlung, die ihn zum Skla ven gemacht hatte. Das trieb ihn vorwärts. Weitere Caer waren an der Treppe. Yorgst blieb keine andere Wahl, als zu sprin gen. Mit aller noch in seinen Beinen befindlichen Kraft stieß er sich ab und landete auf dem Deck, mitten zwischen den Kämpfenden. Den linken Arm schlaff herabhängend, kam er auf die Beine. Die Rechte mit dem Schwert bahnte ihm den Weg. Er wußte nicht, wie er es geschafft hatte, plötzlich an der Sei te des Herzogs zu stehen. Wie besessen schlug er auf die Caer ein. »Zur Reling!« schrie er dem Herzog zu. »Frag nicht! Du mußt von Bord, bevor sie dich lebend bekommen! Alles ist Drundyrs Plan!« »Wer ist Drundyr?« »Der Priester, der mich…« Ein Schwert zuckte vor. Yorgst sah es zu spät, und auch der Herzog war durch ihn für einen Augenblick abgelenkt. Yorgst ließ die eigene Waffe fallen und packte die Klinge, die sich in seine Brust bohrte, mit der rechten Hand. Yorgst brach zusammen. Vor den Füßen des Herzogs lie gend, sah er noch verschwommen, wie dieser von den CaerKriegern entwaffnet und gepackt wurde. Mit allerletzter Kraft versuchte er, sich an des Herzogs Bei nen hochzuziehen. Plötzlich war es still. Die letzten Verteidi
ger hauchten ihr Leben aus. Dutzende von Caer bildeten einen undurchdringlichen Ring um Krude und den sterbenden Y orgst, der noch einmal den Blick des Herzogs suchte. »Ich… ich wollte es nicht«, brachte er unter furchtbaren Schmerzen hervor. »Ich war… nicht auf der Durduune… Ich…« Kurz sah er die Augen des Herzogs auf sich gerichtet; und da war kein Zorn in ihnen, nur grenzenlose Verbitterung. »In der… Bucht. Er ist… in der Bucht… Drundyr.« Der Tod griff endgültig nach dem Kapitän. Er schrie: »Er hat mich mit seiner dämonischen Kraft gezwungen, dich zur Durduune zu führen! Vergib mir!« Yorgst sackte leblos in sich zusammen. Herzog Krude von Elvinon sah ihn an, bis er einen Stoß in den Rücken erhielt. Erst jetzt merkte er, daß seine Hände ge fesselt waren. Belzor, Yorgst – alle waren sie tot. Nur ihn hatten die Caer am Leben gelassen. »Warum?« schrie er verzweifelt. »Warum habt ihr nicht auch mich getötet?« Er kannte die Antwort. »Bringt ihn herüber!« hörte er einen Caer vom backbords liegenden Schiff rufen. »Drundyr will ihn an Bord der Dur duune haben, wenn er kommt!« Und eine andere Stimme rief voller Hohn: »Damit die ganze stolze Familie zusammen ist!« Herzog Krude hatte schon resigniert. Jetzt bäumte er sich auf und schrie verzweifelt: »Nein! Das ist nicht wahr! Sagt, daß ihr Nyala…« Ein Caer schob sich aus dem Kreis der Umstehenden auf ihn zu. »Du wirst sie bald wiedersehen, deine kostbare Tochter.« Der Caer grinste. »Das heißt, falls Drundyr nicht andere Pläne mit ihr hat.« »Nein! Meine Krieger werden euch…!«
»Gar nichts werden sie! Während sie hier in der Straße der Nebel kämpfen, brennt Elvinon!« Ein Schlag traf Krude hart am Hinterkopf. Bewußtlos brach der Herzog in den Armen der Caer zusammen. Aus fast hundert schwarzen Schiffen ergossen sich die Hor den von Caer an Land. Sie landeten auf breiter Front und lie ßen den Verteidigern der Stadt keine Chance. Noch während die Befestigungen am Hafen hart umkämpft wurden, drangen sie in die Straßen ein. Erste Häuser gingen in Flammen auf. Und immer weitere Dreimaster landeten an der Küste und bald darauf im Hafen. Die Armee der Caer sammelte sich dort, nachdem die Hafenanlagen erobert worden waren, und warte te auf den Befehl der Priester, zum Sturm auf den Palast anzu setzen, wohin sich die Verteidiger Stück für Stück zurückzo gen. Die Schiffe des Herzogs kämpften weiter. Nur wenige folg ten den durchgebrochenen Caer-Schiffen, während die ande ren versuchten, die entstandene Lücke zu schließen. Es war aussichtslos. Von der Ostflanke her wurde die Reihe der Ver teidiger immer weiter aufgerissen. Und Kurierboote brachten Drundyr die Nachrichten von der Entwicklung der Schlacht.
Bei Anbruch des Tages löste sich der Nebel um die kleine Bucht so plötzlich auf, wie er gekommen war. Drundyr ließ sich von den Kurieren berichten, wie es mit dem Sturm auf Elvinon voranging. Er nickte zufrieden, als er hörte, daß sich der Herzog an Bord der Durduune befand. Er schickte die Männer mit neuen Befehlen zurück und ließ das kleine Schiff zum Ablegen bereitmachen. Wenig später segelte es aus der Bucht auf die Straße der Ne bel hinaus, um in einem weiten Bogen um die Schiffe herum
zur Durduune zu gelangen. Drundyr hatte nun sehr viel Zeit. Er hatte nicht so schnell mit dem Durchbruch gerechnet und selbst mit dem Ausgang der Schlacht um Elvinon nichts mehr zu tun. Alle Befehle waren gegeben. Die anderen Priester wuß ten, wie sie vorzugehen hatten. Die Kapitäne der herzoglichen Flotte würden bis zur völli gen Vernichtung kämpfen. Jetzt waren sie kopflos und in heil loser Verwirrung. Sie wußten, daß der Herzog in die See schlacht eingegriffen hatte – zumindest mußte es sich ihnen so darstellen, und die Caer würden sie in diesem Glauben be stärken. Solange sie auf See waren und sich dort sinnlos opfer ten, konnten sie die Krieger in der Stadt nicht verstärken. Etwa eine halbe Stunde nachdem Drundyrs kleines Schiff die Bucht verlassen hatte, löste sich auch der Nebel auf der See straße auf. Ein dünnes Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht des Priesters ab. Die Kuriere hatten sich also beeilt. Und er sah die brennenden Hafenviertel der Stadt. Es würde noch viele Leben kosten, bis ihr Palast genommen war, aber alles verlief wunschgemäß. Drudin konnte mit ihm zufrieden sein. Je weiter das Schiff in die Straße der Nebel segelte, desto mehr häuften sich die Anzeichen dafür, daß vereinzelte Spin nenungeheuer aus dem Osten herbeigelockt worden waren. Zweimal sah der Priester sie, und die Krieger stießen Schreie des Entsetzens aus, als Teile der riesigen Körper für Augenbli cke aus dem Wasser ragten. Die Monstren konnten ihnen nichts anhaben, nicht, solange Drundyr sich an Bord befand. Seine magische Kraft schützte sie und das Schiff. Und die bei den Gefangenen. Drundyr überzeugte sich davon, daß sie keine Anstalten zur Flucht machten. In dem kleinen Raum ließ er ihnen ihre Bewe gungsfreiheit. Alle Waffen waren entfernt worden. Vor dem
Eingang hielten Caer Wache. Ja, dachte Drundyr. Drudin wird mit mir zufrieden sein. Und einer der zwölf Angehörigen des Priesterrats würde bald seinen Platz für ihn, Drundyr, zu räumen haben. Viel leicht schon nach dem Fall Elvinons – spätestens aber nach der Eroberung des nächsten Herzogtums. Drundyr begab sich wieder an Deck und träumte den Traum von Macht.
Für Mythor war alles viel zu schnell gekommen. Er hörte zwar, was Nyala ihm sagte, aber es fiel schwer zu begreifen. Und zu sehr war er noch mit dem beschäftigt, was er in der Gruft erlebt hatte. Er blickte im Licht der drei an den Wänden brennenden Talgkerzen an sich hinab. Waren es Nyalas Hände gewesen, die das Wunder bewirkt hatten? Die tiefen Fleischwunden von den Krallen der Säbelzahntiger waren fast verheilt. Nur Nar ben waren geblieben – und die Schwäche. Auch sie hätte größer sein müssen. Mythor schüttelte den Kopf, als er aufstand und rastlos auf und ab zu gehen begann. Die Salben und Gebräue des Priesters. Ihnen war die rasche Heilung zu verdanken. Vielleicht steckte noch mehr dahinter – irgendeine Zauberei. »Mythor…«, sagte Nyala leise. »Du solltest liegenbleiben.« Unwirsch winkte er ab. Sie sah ihn besorgt an. »Du denkst an Flucht?« Mythor zuckte die Schultern. Wohin sollte er fliehen, falls es gelang, von diesem Schiff zu entkommen? Wo befand es sich? Er drehte sich langsam um und sah Nyala in die Augen. »Du hättest zu deinem Vater reiten sollen, als du die Alarmfanfaren hörtest«, warf er ihr vor. »Er brauchte dich.« Sie starrte ihn an wie einen Geist. »Dann… dann brauchtest
du mich nicht?« Fast schrie sie es, die Hände zu Fäusten ge ballt. Eine Zornesader trat auf ihre Stirn. »Was glaubst du denn, warum ich nicht ritt? Warum stand ich zitternd bei den Wasserfällen? Warum wohl? Ich gehöre dir, Mythor!« »Unsinn«, murmelte er. »Niemand gehört einem anderen Menschen. In der Stunde der Not war dein Platz an der Seite deines Vaters.« Tränen traten in Nyalas schöne Augen. Immer noch hielt sie die Hände geballt und starrte Mythor an. »So gleichgültig bin ich dir also? Jetzt, da du gefunden hast, wonach du suchtest? Du hast dir von mir helfen lassen, und nun…« Der Rest ging in einem Schluchzen unter. Nyalas ganzer Körper bebte. Mythor ging auf sie zu und schloß sie in seine Arme. »Du weißt genau, daß du mir nicht gleichgültig bist. Du weißt es sehr gut.« Er strich ihr sanft über das Haar, doch sei ne Augen suchten den Raum ab. Keine Waffen. Nichts, was ihm Aufschluß darüber gab, wo er sich befand und was es mit diesem Schiff auf sich hatte. »Oh, Mythor«, flüsterte Nyala. »Wie groß war meine Angst um dich, als du dort unten warst und dieser Schuft erschien, um…« Mythor hörte nur mit halbem Ohr zu. Nyalas Gefühle ließen ihn nicht kalt. Er begehrte die Tochter des Herzogs ebenso wie diese ihn, doch dies war nicht der geeignete Augenblick für Liebesgeflüster. Vor der Holztür standen Wachen. Mythor hatte die kräftigen Krieger kurz gesehen, als Drundyr den Raum wieder verließ. Deprimierender als der Anblick ihrer Waffen war die Tatsa che, daß er und Nyala auch nun, da er wieder aufstehen konn te, nicht wieder gefesselt worden waren. So sicher war sich Drundyr seiner Sache. Aber wer war er? Ein Priester der Caer, natürlich. Doch wie groß war seine
Macht? Was waren seine Ziele? Wohin fuhr dieses Schiff? Schwach war der Lärm der Schlacht zu vernehmen. Es be fand sich also in der Nähe Elvinons. Aber es nahm nicht an der Seeschlacht teil. »Mußte Felzt deshalb sterben?« fragte Mythor, mehr um ü berhaupt etwas zu sagen als aus wirklichem Interesse. Nyala sah zu ihm auf. Die Tränen schimmerten in ihren Au gen und auf den Wangen. »Er hatte den Tod tausendfach ver dient! Hast du vergessen, daß er es war, der die Alte im Palast das Gift in deinen Becher tun hieß? Daß Etro deshalb sterben mußte… an deiner Stelle? Was er mit mir vorhatte, war noch viel schlimmer. Er mußte sterben. Er war ein Verräter.« Sie hatte Mythor bisher nicht gesagt, was Hauptmann Felzt als Preis für seinen Verrat bekommen hätte, wäre er nicht durch ihre Hand gestorben. Und sie hatte nicht die Absicht, es zu sagen. »Ich sehe, daß du mit den Gedanken woanders bist, Mythor«, flüsterte sie und blickte zur Tür. »Was immer du tun wirst, nimm mich mit.« »Ich habe nicht vor, tatenlos zu warten«, knirschte er. »Mythor, ich habe bis jetzt keine Frage danach gestellt. Was hast du in der Gruft gefunden?« Er zwang sich dazu, seine quälenden Fragen für einen Au genblick zu verscheuchen. Wieder trafen sich sein und Nyalas Blick, und er kam sich auf einmal gemein vor. Sie hatte Qualen auf sich genommen, um auf ihn zu warten, und nicht verdient, daß er sie nun wie Luft behandelte. Ihre flehenden Augen, ihre vollen, begehrenden Lippen… Mythor küßte sie leidenschaftlich. Dann zog er sie mit sich auf die primitive Liegestatt aus schmutzigen Decken, auf der sie ihn gepflegt hatte. Während er flüsternd berichtete, ohne Nyala alles zu enthül len, erschien wieder das Bild der Kometenfee vor seinem geis tigen Auge.
Nyala hörte fasziniert zu. Unwillkürlich tasteten ihre Finger über Mythors Brust und Arme, berührten seine Wangen, noch während er sprach. Der Sohn des Kometen – konnte er ein Mensch sein wie alle anderen? Ein Mensch wie sie? Gab es für sie eine Zukunft an seiner Seite? Plötzlich schwieg Mythor. Er sah sie ernst an. »Xanadas Lichtburg«, sagte er. »Hast du den Namen schon einmal ge hört?« Sie schüttelte den Kopf. »Noch nie, Mythor. Aber ich kenne Elvinon. Sie muß in einem anderen Herzogtum liegen, viel leicht in einem der angrenzenden Reiche.« Das waren Salamos, Ugalien und Dandamar. Mythor kannte nur das erstere, und auch dies nur flüchtig. Nie hatte er je manden von Xanadas Lichtburg reden hören. Auch keiner der Marn hatte je davon gesprochen, und die Nomadenstadt Churkuuhl hatte große Teile der Lichtwelt durchwandert. Wissen war von Generation zu Generation weitergegeben worden. »Du wirst Xanadas Lichtburg finden, Mythor«, versuchte Nyala ihm Mut zu machen. »Gwasamee hätte dir Hinweise gegeben, wenn es nicht so wäre.« »Sie löste sich auf. Vielleicht wollte sie es tun und kam nur nicht mehr dazu.« Er glaubte nicht wirklich daran. Er sollte sie suchen, hatte Gwasamee gesagt, mit all seiner Kraft den steinigen Weg gehen, der von einem seiner Ziele zum nächsten führte. »Wir werden gar nichts finden, wenn wir nicht erfahren, wohin man uns bringt und was mit uns geschehen soll«, flüs terte er. »Wir können nicht von diesem Schiff fliehen, Mythor. In die ser Jahreszeit kommen die Meeresungeheuer aus dem Meer der Spinnen zu oft in die Straße der Nebel. Ich habe kein Boot gesehen.«
»Nicht von hier, aber vielleicht haben wir eine Chance, wenn wir am Ziel angekommen sind. Drundyr bringt uns nicht nach Elvinon, sonst hätte er den Landweg nehmen können.« Er stand auf, ging vorsichtig zur Tür und lauschte. Nichts war zu hören. Er kehrte zu Nyala zurück und flüsterte: »Du mußt die Wachen hereinlocken. Sage ihnen, ich liege im Sterben. Sage ihnen irgend etwas. Meine Wunden seien aufgeplatzt, ich wol le mich umbringen. Vielleicht können wir sie überwältigen und das Schiff in unsere Gewalt bringen.« Nyala sprang erschrocken auf. »Du bist noch viel zu schwach!« beschwor sie ihn. »Und du kennst die Macht des Priesters nicht!« »Dann werde ich sie kennenlernen! Tu, was ich dir gesagt habe!« Die Heftigkeit der eigenen Worte überraschte Mythor. Zweimal hatte er in Drundyrs wie von einer quellklaren Schicht aus Obsidian überzogenes Gesicht geblickt, in diese finsteren schwarzen Augen, die dunkle Fenster zu etwas ande rem zu sein schienen, zu etwas Nichtmenschlichem, Dämoni schem. Zweimal hatte ihn dieses hagere Gesicht in seinen Bann ge schlagen, zuerst bei den Wasserfällen, als er es nur vage wahr zunehmen in der Lage war, dann auf diesem Schiff, als Drun dyr hier unter Deck nach dem Rechten sah. Vielleicht wäre es besser, ihn nicht herauszufordern. Viel leicht sollten sie abwarten. Drundyr hatte bei den Wasserfällen gesagt, daß er lebend wertvoller für ihn sei als tot. Doch gera de das stachelte den schwarzhaarigen Krieger an. Was immer der Caer auch mit ihm vorhatte – es konnte nichts Gutes sein. Wenn er in ihm etwas Besonderes sah, dann etwas, das nicht nur interessant, sondern gefährlich für ihn war. Er hatte verhindert, daß Felzt ihn tötete. Der verräterische Hauptmann hätte ihm alle Sorgen abnehmen können. Aber er
wollte ihn lebend. Wozu? Eine düstere Ahnung beschlich Mythor. Nyala von Elvinon hatte ihn aufgrund alter Beschreibungen als Sohn des Kometen erkannt. Zweifellos verfügten die CaerPriester über großes Wissen. Wenn nun Drundyr ebenfalls ahnte, wen er an den Wasserfällen vor sich gehabt hatte? Was nützte ihm ein lebender Todfeind, wenn er ihn nicht für seine Zwecke einspannen wollte? Hatte er die Macht, aus ihm ein Instrument des Bösen zu machen? Durfte Mythor anneh men, daß irgendeine schützende Hand über ihm lag und über ihn wachte? Er schüttelte grimmig den Kopf. Dies wäre der schlimmste Trugschluß, dem er sich hingeben konnte. Er war auf sich ge stellt, ganz allein. Mythor legte die Hand auf Nyalas Arm, als sie zur Tür ge hen wollte. »Warte noch«, flüsterte er. »Was weißt du über Caer?« »Über die Stadt? Sie ist der Inbegriff des Bösen, Mythor. Ge naues weiß niemand über sie. Aber im Herzogtum Caer soll es weitere schreckliche unterirdische Städte geben, in denen das Grauen haust.« »Dort ist ihre Macht am stärksten.« »Zweifellos«, antwortete Nyala unsicher. »Du glaubst, daß Drundyr uns zum Inselteil Tainnias bringen lassen wird?« »Ja«, murmelte Mythor. Wo die Macht der Priester und der finsteren Mächte, mit denen sie paktierten, am größten war… Was immer Drundyr mit ihm vorhatte – vielleicht konnte er es nur in Caer vollziehen. Sicher war es so. »Nun geh!« forderte er Nyala auf. »Ich lege mich hin und spiele den toten Mann. Bring eine der Wachen zu mir und ver suche zu verhindern, daß sie nach Drundyr rufen.« Nyalas Blick zeigte, was sie von der Idee hielt. Aber sie folgte der Auf forderung.
Nyala von Elvinon rückte sich das lange schwarze Haar zu recht. Der Zopf hatte sich gelöst, und das locker in weichen Wellen über ihre Schultern fallende Haar unterstrich den Ein druck von Wildheit und Leidenschaftlichkeit. Nyala wußte, wie sie auf Männer wirkte und was sie zu tun hatte, um sie den Verstand verlieren zu lassen. Die Frage war freilich, ob Caer-Krieger, vor allem solche, die die Elitetruppe des mächtigen Priesters zu bilden schienen, ebenfalls der Lust des Fleisches verfallen konnten. Zögernd klopfte Nyala gegen die Holztür. Ein ungehaltenes Brummen war die Antwort. Nyala biß sich auf die vollen Lippen. Sie begann leicht zu schwitzen. War die Tür offen? Sie hatte nicht gehört, daß ein Riegel von außen vorgeschoben worden war, nachdem Drun dyr gegangen war. Noch einmal klopfte sie, diesmal fester. »Ich werde nachsehen, was sie wollen«, hörte sie eine rauhe Stimme. »Sei vorsichtig. Du weißt, was Drundyr…« »Macht euch nicht lächerlich! Außerdem seid ihr noch da.« Die Tür wurde aufgestoßen. Nyala trat schnell zwei Schritte zurück. Ein Bär von einem Mann stand vor ihr. Dunkle Augen in ei nem von roten Haaren und rotem Bart eingerahmten Gesicht funkelten sie an. »Was willst du?« fragte der Caer barsch. Dann sah er My thor, der zwischen den Decken lag, so daß nur sein Kopf mit den geschlossenen Augen sichtbar war. Er zeigte mit dem Schwert in der rechten Hand auf ihn. »Was hat er?« Zwei andere Caer blickten neugierig herein. Nyala überlegte fieberhaft, wie sie sie loswerden könnte. »Mach die Tür zu! Er… lebt noch, aber euer Anblick könnte
ihn auf der Stelle umbringen. Er könnte euch für den Priester halten.« »Drundyr?« fragte der Caer. Er blickte sie mißtrauisch an, und Nyala fragte sich, wie sie diese Krieger von der Insel ein zuschätzen hatte. Waren sie dumm genug, auf einen so plum pen Trick hereinzufallen? »Er hat einen furchtbaren Schock erlitten, nachdem Drundyr den Raum vorhin verließ.« Sie sah den Caer mit gut gespiel tem Entsetzen an und senkte ihre Stimme um eine weitere Nuance. »Irgend etwas an Drundyr muß fatal auf ihn gewirkt haben. Ich glaubte, ihn wieder zu sich bringen zu können. A ber…« Sie breitete die Arme zu einer Geste der Hilflosigkeit aus und drehte sich mit besorgtem Blick zu den Kriegern vor der Tür um. »Wenn du uns zum Narren halten willst, Kleine…« Nyala tat erschrocken. »Bei Erain! Hier, wo wir in eurer Ge walt sind? Was hätte ich davon, außer, daß ihr uns wieder fes seln würdet?« Der Caer knurrte etwas in seinen Bart und schlug die Tür zu. »Bewegt euch nicht von der Stelle!« rief er den anderen noch zu. Nyala atmete auf. »Du wirst Drundyr nicht rufen lassen, o der? Mythor würde den Anblick nicht überleben.« »Dummes Gewäsch«, brummte der Caer. Langsam und vor sichtig näherte er sich der Liegestatt. »Was fehlt ihm denn?« »Er brach zusammen, und nun liegt er einfach so da, wie du ihn siehst. Ich versuchte wirklich alles, um ihn zu sich zu brin gen. Sein Herzschlag ist kaum noch zu spüren.« Nyala sah die Unentschlossenheit im Gesicht des Caer, aber auch Angst. Er mußte Drundyrs Strafe fürchten, denn er und seine Kumpane waren für die Sicherheit des wertvollen Ge fangenen verantwortlich. Nyala fand Spaß an ihrem Spiel. »Er reagierte nicht einmal
mehr…« Sie warf den Kopf leicht in den Nacken und straffte ihr Kleid, so daß ihre festen Brüste zur Geltung kamen. »Du weißt schon, was ich meine«, vollendete sie mit betörendem Augenaufschlag. »Ich kann es mir denken, du Hexe.« Die Augen des Caer waren und blieben kalt. Nyala empfand Zorn auf ihn. Er beachtete sie nicht weiter, sondern zog mit der Schwertspitze die Decken über Mythor zurück. In diesem Moment reagierte Mythor. Er schnellte mit dem Oberkörper in die Höhe, nach vorn, packte die Decken und zog so daran, daß sich das Schwert darin verfing. Mit einem gewaltigen Ruck zog er sie so schnell zurück, daß dem Krieger die Waffe entrissen wurde. Bevor der Caer schreien konnte, saß die Spitze der Klinge an seinem Hals. »Wovor hast du mehr Angst?« fragte Mythor leise, und sein Blick schien sich in die Augen des Gegners bohren zu wollen. »Vor Drundyr oder vor dem Tod? Ein Laut, und ich stoße zu!« Der Caer hatte die Augen weit aufgerissen. Mythor stand vorsichtig auf. Die Spitze des Schwertes blieb an der Kehle des Kriegers. »Du wirst nicht nach deinen Freunden rufen und mir nur ein paar Fragen beantworten. Dann schenke ich dir das Leben. Drundyr wird nie erfahren, wer mir die Informationen gab.« »Welche… welche Informationen?« stammelte der Caer leise, die Augen nun starr auf seine eigene Waffe gerichtet. Aller Stolz war aus seinem Blick gewichen. Nyala sah nur noch nackte Angst. »Du… du willst fliehen? Das ist unmöglich!« »Wer sagt dir, daß ich fliehen will? Du sollst nur…« Von draußen rief jemand nach dem Caer. Nyala zuckte zu sammen. »Antworte ihm!« flüsterte Mythor. Die Schwertspitze ritzte die Haut des Kriegers. »Sag, daß hier alles in Ordnung ist und
du gleich zurückkommst.« Sekundenlang herrschte Totenstille. »Warum antwortest du nicht, Barn?« war wieder die Stimme zu hören. »Ich töte dich«, zischte Mythor. »Wir haben jetzt nichts mehr zu verlieren.« »Es ist alles in Ordnung!« rief der Caer schnell. »Der Gefan gene kommt zu sich. Ich warte, bis ich sicher bin, was mit ihm los war!« »Beeile dich, Barn!« »Sehr gut«, lobte Mythor. »Nun sage mir, wohin dieses Schiff segelt!« »Ihr werdet zur Durduune gebracht, zu Drundyrs Schiff.« »Und dann?« »Ich weiß es wirklich nicht. Nur Drundyr kennt seine Pläne.« »Nach Caer?« »Ich weiß es nicht!« beteuerte der Mann. Nyala lauschte an der Tür. Plötzlich warf sie Mythor war nende Blicke zu. »Deine Freunde holen den Priester«, flüsterte Mythor. »Bis dahin will ich von dir wissen, was uns in Caer erwartet, und sage mir nicht, daß du auch das nicht weißt!« »Ich… Nur die Priester kennen die Magischen Stätten. Wir einfache Krieger…« »Was sind das für Magische Stätten?« »Ich kenne sie nicht! Ich schwöre es!« »Man will uns also dorthin bringen?« »Ich denke es mir, weil…« Nyala rief leise etwas. Mythor hörte nur den Namen Drun dyr. Auch der Caer verstand ihn. Für einen Augenblick war Mythor unaufmerksam. Der Caer nutzte seine Chance. Blitzschnell schlug er das Schwert zur Seite. Er schrie nach den anderen Wachen.
Mythor hatte keine Chance, geschwächt, wie er war. Ein Kampf war sinnlos. Jeden Augenblick konnte Drundyr er scheinen. Und er kam, begleitet von einem halben Dutzend bewaffne ter Krieger. Ein dünnes, überlegenes Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Du bist ungeduldig, mein junger Freund«, sagte der Pries ter mit seiner hellen Stimme. »Du wirst lernen müssen zu war ten.« Drundyr trat ganz dicht vor Mythor hin. »Du warst in dieser sagenumwobenen Gruft hinter den Wasserfällen, wo wir dich fanden, nicht wahr? Was hast du dort gesehen?« »Fahr zur Hölle!« preßte Mythor zwischen zusammengebis senen Zähnen hervor. Er hielt dem Blick des Priesters stand. Drundyr hob die Schultern. Das Lächeln verschwand aus seinem unheimlichen Gesicht. »Du wirst reden, verlaß dich darauf!« Zu den Kriegern ge wandt, befahl er: »Fesselt die beiden wieder! Vielleicht war es ein Fehler, unseren Freund so schnell wieder zu Kräften zu bringen.« Er sah Mythor wieder an. »Nur damit du nicht auf den Gedanken kommst, mir dein kostbares Leben zu entzie hen.« Er trat zurück und beobachtete, wie Nyala und Mythor sich widerstandslos Arme und Beine fesseln ließen. Mit dicken Stricken wurden sie zusätzlich an metallene Ringe gebunden, die aus den Wänden hervorragten. »Was habt ihr mit uns vor?« schrie Nyala, die plötzlich allen Mut und allen bislang zur Schau getragenen Stolz verloren zu haben schien, als sie sehen mußte, daß Mythor sich nicht wehrte. »Dein Freund ist klüger als du«, sagte Drundyr spöttisch. »Frage ihn. Bis wir am Ziel sind, habt ihr Zeit genug, euch Ge danken zu machen.« Er wandte sich ab und schritt aus dem Raum. Diesmal blie
ben zwei Caer als Wachen darin zurück. Nyala sah Mythor an und erschrak heftig, als sie den Blick in dessen Augen sah. Nein! durchfuhr es sie, und Erleichterung und Angst stritten in ihr. Er hat nicht aufgegeben! Er wird kämpfen, und es wird furchtbar sein!
Gegen Mittag des zweiten Tages der Schlacht hatten die Caer mehr Krieger an Land gebracht, als Männer des Herzogs in der Stadt waren. Die Verteidiger mußten immer weiter zu rückweichen, durch die Straßen der eigentlichen Stadt, wo die einfachen Familien wohnten – Fischer, Handwerker, Kaufleute und Dirnen –, dann weiter hinter die Mauern der Steinhäuser, die zusätzliche Bollwerke um den Hügel bildeten, auf dem der Palast stand. Der Palast, der nun vor Kriegern barst, hatte allen Angriffen bisher trotzen können, aber die Streitmächte der Ugalier und anderer Völker, die Elvinon in der Vergangenheit überfallen hatten, waren nicht zu vergleichen mit den schier unerschöpflich erscheinenden Horden aus Caer. Die Wehrtürme waren so hoch, daß keine Leiter lang genug war, um sie zu erstürmen. Eine gewaltige zweite Mauer war um die ganze Burg gezogen, und schon auf ihr standen die Bogenschützen und erwarteten den Ansturm der Caer. Hinter ihr waren mächtige Steinschleudern aufgefahren worden, Katapulte, die auch siedendes Öl und brennendes Pech verschleudern und so den Tod über die Angreifer brin gen konnten, noch während sie den Hügel hinaufstürmten. Zwischen den Katapulten drängten sich die Schwertkämpfer und beobachteten, wie riesige Kessel mit siedendem Öl an den Ketten der Flaschenzüge an der Mauer hochgezogen wurden. Und immer wieder blickten sie zu den Türmen hoch, wo die Beobachter standen und durch Zeichen und Schreie meldeten,
wie sich der Kampf in der Unterstadt entwickelte. Noch wehte das Banner Elvinons über dem Palast. Auf den Türmen der Hafenanlage standen andere Gestalten, in schwarze Mäntel gehüllt, die ihre Krieger voranpeitschten und dirigierten. Von einem Kampf in der Unterstadt konnte kaum noch die Rede sein. Die einfachen Holzhäuser brannten. Frauen wurden schreiend durch die Stadttore geschleust, um sie vor den Horden von der Insel in Sicherheit zu bringen. Aber sie wurden von den Caer erwartet. Schreckliche Szenen spielten sich ab, und mancher gestandene Mann stürzte sich in das eigene Schwert, bevor er in die Hände der Caer fiel. Im Lauf von Jahrhunderten angehäufter Reichtum ging in Flammen auf, Kostbarkeiten, die fleißige Hände gefertigt hat ten, einfache, aber liebgewonnene Dinge. Mit jedem Brand, der gelegt wurde, starb ein Teil der Seele von Elvinon. Das Werk von großartigen Baumeistern wurde innerhalb von Stunden vernichtet. Die Schlacht wurde weiter in die Stadt hereingetragen. Die Mauern Elvinons wurden gestürmt. Von allen Seiten drangen die Caer nun ein, Schutt und Asche hinter sich zu rücklassend. Es wurde Nachmittag. Die Verteidiger erhielten keine Hilfe mehr von der See aus. Wo in den frühen Morgenstunden die Krieger des Herzogs durch die Schwerter und Pfeile der lan denden Caer gestorben waren, bildeten nun die schwarzen Schiffe ein unüberwindliches Bollwerk vor der Hafeneinfahrt und zu beiden Seiten die Küste entlang. Die Schiffe Elvinons konnten nicht zurück, selbst wenn die Kapitäne den Befehl dazu gegeben hätten. Diese aber kämpften verbissen weiter. Man sah die Tanna hier nicht, aber jeder wußte, daß sie ausgelaufen und in der Nähe der Schiffe gesichtet worden war. Irgendwo im Schlachtgetümmel, in diesem sinnlosen Massensterben, mußte
sich der Herzog befinden, vielleicht schon in der Gewalt der Caer. Jeder Mann, der noch auf seinen Beinen stehen konnte, kämpfte für ihn, den gestrengen, aber weisen alten Mann, der Elvinon zur Blüte geführt hatte. Alle Opfer waren umsonst. Niemand konnte Herzog Krude mehr helfen. Niemand konnte den Untergang Elvinons ver hindern. Die Caer überrannten die Mauern um den Hügel. Für jeden getöteten Angreifer drängten drei weitere nach. Die Krieger Elvinons, die hier die Stellung zu halten hatten, sahen sich in der Falle. Zur Burg konnten sie nicht. Niemand kam mehr hinein. Von der Seite stürmten die ersten Caer den Hügel hin auf. Jeder herzogliche Krieger wäre auf die gleiche Weise emp fangen worden wie sie. Was ihnen blieb, war der Kampf bis zum letzten Blutstrop fen. Sie wichen zurück, wissend, daß sie zum Tod verurteilt waren, und warfen sich den Caer-Kriegern entgegen, die den Hügel erstürmten. Dort, wo sie eben noch erbitterten Wider stand geleistet hatten, standen nun schwarze Priester auf den Mauern oder den Dächern der Steinhäuser und dirigierten ihre Armee. Sie waren überall, wie Boten des Untergangs, schwei gend, nur ihre Arme schwingend. Der Kampf verlagerte sich immer weiter den Hügel hinauf, während der Strom der anstürmenden Caer von der Stadt aus nicht abriß. Caer und Krieger Elvinons schenkten sich nichts. Im Bewußtsein des sicheren Todes fochten die Verteidiger mit fast übermenschlichen Kräften. Und immer weiter ging es den Hügel hinauf, bis die ersten Pfeile auf die Kämpfenden herab prasselten. Die letzten Männer des Herzogs Krude außerhalb der Burg befestigungen starben, als die Sonne sich anschickte, im Wes ten zu versinken. Vom Hügel aus, auf der Südseite, war schon das Glühen am Himmel zu erkennen, das den Rand der Welt
anzeigte, wo es Tag und Nacht Lichter vom Himmel regnete, die erloschen, bevor sie als tödliche Geschosse, groß wie Fel sen, in die Erde schlugen. Es war, als ob dieses ferne Glühen das Signal für den Sturm auf den Palast gäbe, als hätten die Priester der Caer nur auf dieses Zeichen der finsteren Mächte gewartet, die ihre Ver bündeten waren. Vorangetrieben von ihren Priestern, erschienen Tausende von Caer-Kriegern zum entscheidenden Sturmlauf. Sie schleppten Sturmleitern und lange Seile mit mächtigen stäh lernen Widerhaken daran. Sie mußten sich den Weg den Hü gel hinauf über unzählige Leichen bahnen. Die Pfeile von den Türmen und Wehrgängen der Burg dezimierten sie, aber nichts hielt sie auf. Die ersten Leitern wurden angelegt. Von den Zinnen herab kam siedendes Öl. Caer schrien auf und liefen als lebende Fa ckeln über den Hügel, ließen sich fallen und wälzten sich brennend am Boden, um die Flammen zu ersticken. Für sie packten andere an. Mächtige Felsbrocken landeten, von den Katapulten der Verteidiger abgefeuert, in ihren Reihen, doch die Lücken schlossen sich in Sekunden. Eine dritte Mauer aus lebenden Leibern zog sich um den gewaltigen Palast. Pfeile schwirrten in die Höhe und schlugen Breschen in die Reihe der Krieger auf den Türmen und Wehrgängen. So wütete der Kampf bis in die Nacht hinein. Er wurde in dem Augenblick entschieden, als es den ersten Angreifern gelang, ihre Seile von den Leitern aus über die Zinnen zu werfen, zu verankern und daran hochzuklettern. Die Krieger des Herzogs stürmten heran, doch ein Caer nach dem anderen schob sich auf die Mauern, unterstützt von den unten stehenden Bogenschützen. Als die Caer die ersten Stücke Mauer für sich erobert hatten, gab es für die unten wartenden Horden kein Halten mehr.
Die Durduune lag in dichtem Nebel, als das kleine Schiff mit Drundyr, seinen Kriegern und den beiden Gefangenen an Bord sie erreichte. Mythor und Nyala waren die Augen ver bunden worden, so daß sie nicht wußten, ob es noch Tag oder schon Nacht war. Die Zeit, die Mythor und Nyala noch an Bord des kleinen Schiffes verbracht hatten, nachdem sie wieder gefesselt wor den waren, ließ sich kaum abschätzen. Stunden waren es mit Sicherheit. Aus irgendeinem Grund hatte Drundyr es nicht eilig gehabt, die Durduune zu erreichen. Mythor gab es auf, nach den Gründen zu forschen. Es brach te ihn nicht weiter. Vielleicht wollte Drundyr sie zermürben. Vielleicht hatte er auch nur auf irgend etwas gewartet. Welche Rolle spielte das noch? Mythor und Nyala wurden an Bord der Durduune gebracht. Sie hörten viele Stimmen, die rauhen, oft fremdartig klingen den Stimmen von Caer. Dazwischen immer wieder Drundyr, wie er Kommandos gab und sich mit einem anderen Mann unterhielt, wobei er den Namen Yardin gebrauchte und diesen Yardin einmal als Kapitän der Durduune ansprach. Schon jetzt zeigte sich aber, daß der eigentliche Befehlshaber an Bord niemand anderer als Drundyr war. Yardin mochte ein tüchtiger Seefahrer sein, aber hier hatte er nur Drundyrs Be fehle an andere weiterzugeben. Mythor und Nyala standen eine Weile wie unbeachtet auf den feuchten Decksplanken. Dann war plötzlich Drundyrs Stimme wieder ganz nah, befehlend und schneidend. Schlin gen wurden um die Hälse der Gefangenen gelegt, dann pack ten Caer sie und führten sie ein Stück weiter. Sie blieben an Deck. Überall um sie herum herrschte Betriebsamkeit. Die bis her still im Wasser liegende Durduune nahm langsam Fahrt
auf. Der Nebel legte sich feucht auf Mythors Gesicht, drang in seine Haare und seine Kleidung. Wenn es ein Zauber war, dann ein sehr realer, dachte er grimmig. Mythors Hände wurden gegen einen Mast gelegt, ebenso die von Nyala. Ihre Fesseln wurden ihnen abgenommen. »Ihr könnt euch setzen«, hörten die beiden die Stimme eines Caer. »Aber ich rate euch, am Mast zu bleiben.« Noch begriffen weder Mythor noch Nyala die Bedeutung der höhnisch hervorgestoßenen Worte. Sie drehten sich und ließen sich mit dem Rücken am Mast auf die feuchten Planken gleiten. »Was hat Drundyr zu verbergen, daß er uns die Augenbin den nicht abnehmen läßt?« fragte Nyala. »Dürfen wir die Dur duune nicht sehen?« Sie sollte die Antwort schneller als erwartet bekommen. Füße scharrten über die Planken. Jemand wurde herange schleppt, ein weiterer Gefangener. Und dieser Jemand schrie plötzlich, als säßen ihm tausend Dämonen im Nacken. Und dieser Jemand hatte eine Stimme, die Nyala von Elvi non einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Unbändi ges Entsetzen erfaßte sie. Sie nahm Mythors Hand und krallte ihre Finger so tief in sein Fleisch, daß blutende Wunden ent standen. Mythor nahm es kaum wahr. Auch er war wie ge lähmt. Das war die Stimme des Herzogs! Und er schrie Nyalas Na men, unablässig. Jemand trat von hinten an die Gefangenen heran und riß ih nen die Binden von den Augen. Und sie sahen ihn. Nyala konnte nicht schreien. Mit aufge rissenen Augen und weit offenem Mund starrte sie ihren Vater an, der bebend vor ihr stand und nun ebenfalls eine Schlinge um den Hals gelegt bekam. Das andere Ende des Strickes war,
wie auch bei ihnen, hoch über ihren Köpfen am Mast, dem Mittelmast des Schiffes, wie Mythor jetzt erkennen konnte, befestigt, unerreichbar für ihre Hände. Auch der Herzog war verstummt. Er bekam einen heftigen Stoß in den Rücken, taumelte und stürzte neben seiner Tochter auf die Planken. »Vater!« flüsterte Nyala endlich. Der Herzog drehte sich auf den Rücken und ließ sich von ihr helfen, sich aufzurichten. Sein Gesicht war entstellt. Blut klebte in seinem grauen Bart. Ein Teil seiner Kleidung war angesengt und rußgeschwärzt. Vor allem am Arm hatte er tiefe Wunden. »Nyala.« Der gebrochene alte Mann sah seine Tochter an, als habe er sie nie zuvor gesehen. Dann trat eine seltsame Wärme in seinen Blick. »Du lebst, Nyala.« Krude blickte zum ersten mal Mythor an. Und es war kein Vorwurf in seinem Blick, nur eine schreckliche Leere und maßlose Enttäuschung. »Vater!« Nyala warf sich halb auf ihn und schlang ihre Arme um seinen Hals. Er stöhnte auf, und sofort ließ sie los. »Was haben sie mit dir gemacht? Diese Teufel sollen für jeden Schmerz bezahlen, den sie dir zugefügt haben!« Sie schwieg, und ihr Blick senkte sich. »Auch ich habe dir großen Schmerz zugefügt, Vater. Ich kann nicht verlangen, daß du mir ver zeihst. Vielleicht wirst du mich verstehen können… eines Ta ges…« »Wie haben sie euch erwischt?« fragte der Herzog mit müder Stimme. Er fragte nicht nach der Gruft. Nyala berichtete. Während Mythor schweigend zuhörte, wobei es ihn ver wunderte, daß sie alles aussparte, was mit der Gruft und sei nem Erlebnis dort zusammenhing, versuchte er, Einzelheiten an Bord zu erkennen. Er saß mit dem Rücken zum Bug, so daß er die Heckaufbauten der Durduune sehen konnte, trotz des Nebels, der sich allmählich zu lichten schien.
Es war Nacht, und im Schein von Fackeln zeichnete sich in mitten der fremdartigen Heckaufbauten ein großer schwarzer Altar ab. Vor diesem Altar stand Drundyr, mit dem Rücken zu Mythor. Er tat etwas, aus dem Mythor nicht schlau wurde. Die Klau enhände waren in Bewegung. Manchmal warf Drundyr den Kopf weit in den Nacken und streckte die Arme in die Höhe. Caer reichten ihm merkwürdige Dinge. Von alldem ging eine grauenvolle, finstere Aura aus. Mythor spürte, daß Drundyr in seinem Element war. Um ihn herum war Finsternis, die selbst das Licht der Fackeln nicht zu dul den schien, denn es flackerte unnatürlich – so als ob es darum kämpfen müßte, leuchten zu dürfen. Kräftige Männer saßen an den Rudern. Ein Caer fiel Mythor besonders auf. Er war breitschultrig und bärtig, zweifellos Y ardin, der Kapitän des Schiffes. Doch auch er hielt sich jetzt von Drundyr fern. Nyalas Schweigen lenkte Mythors Aufmerksamkeit wieder auf sie und den Herzog. Offensichtlich hatten die Caer den Befehl erhalten, sich von den Gefangenen fernzuhalten. My thor fiel jetzt erst auf, daß sich das Seil mit der Schlinge um Nyalas Hals etwas gespannt hatte, als sie vom Mast abgerückt war und neben ihrem Vater saß. Und nun war ihm klar, wa rum die Caer auf Fesseln verzichtet hatten. Die Schlingen waren wirksamer als sie. Nur wenige Schritte vom Mast weg, und sie würden sich würgend um ihre Hälse zusammenziehen, wenn die Seile kein Spiel mehr hatten. Wieder sah Mythor den Blick des Herzogs auf sich ruhen. Und er dachte an die Unterhaltung mit dem alten, weisen Mann im Palast von Elvinon zurück. Auch der Herzog schien zu grübeln. Ein Mann, der mit dem Schicksal abgeschlossen haben mochte – ganz im Gegensatz zu Nyala, in deren Blick nun wieder Trotz und grimmige Ent
schlossenheit standen, der Wille, an Mythors Seite gegen die ses grausame Schicksal anzukämpfen. »Es gab Stunden, in denen ich hoffte, du wärest der, für den Nyala dich hielt, mein junger Freund aus dem Süden«, sagte Krude müde. »Ich halte ihn nach wie vor dafür, Vater«, korrigierte Nyala. »Nun mehr denn je.« Krude schwieg lange. Dann schüttelte er den Kopf. »Falls du recht behalten solltest, meine Tochter, wäre er dort, wo unsere Reise hingeht, ebenso verloren wie jeder andere auch.« Mythor fragte schnell: »So weißt du, wohin man uns bringt? Nach Caer?« »Zum Inselteil von Tainnia«, bestätigte der Herzog Mythors Vermutung. »Ich hörte es aus den Gesprächen der Krieger heraus, die mich bewachten, während ich unter Deck gefangen war. Dieses Schiff hat mit dem Ausgang der Schlacht nichts mehr zu tun. Wir sind bereits unterwegs nach Caer.« Wieder schüttelte er das Haupt. »Vielleicht legen wir im Hafen von Akinborg an, doch was bedeuten Namen nun noch? Bald wird es nur noch Caer geben. Sie werden es bitter bereuen, meine stolzen, so sehr von ihrer eigenen Stärke überzeugten Nach barn, daß sie Elvinon im Stich ließen.« Noch während der Herzog sprach, lichtete sich der Nebel weiter, und plötzlich lag die ganze Seestraße frei von ihm. Die Augen der drei Gefangenen waren in Entsetzen auf die Küste Elvinons gerichtet, über der der Himmel in wabernde rote Glut getaucht war. »Elvinon brennt«, flüsterte Krude ohne innere Anteilnahme, wie es schien. »Das Schloß galt als uneinnehmbar. Zweimal wurde es also bezwungen, einmal, um die Herrschaft derer von Elvinon über diesen Teil des Reiches zu bringen, und zum zweitenmal, um diese Herrschaft durch eine andere zu erset zen. Und wahrlich, die Zukunft wird finster sein.«
Mythor fühlte tiefen Schmerz und unbändigen Zorn auf jene, die diese herrliche Stadt in Trümmer gelegt hatten, jene Wun derwelt, an deren Schönheit er sich in den Tagen seines Auf enthalts als Gast des Herzogs nicht hatte satt sehen können. Nyalas Schrei ließ ihn herumfahren. Unbemerkt von den Gefangenen, die nur noch Augen für die brennende Stadt und die finstere Kulisse der Schiffe gehabt hatten, die sich als dunkle Schatten vor dem helleren Hinter grund abzeichneten, war ein Caer herangeschlichen, der ver suchte, Nyala an sich zu reißen. Das Mädchen schrie und trat nach ihm. Sie wollte aufspringen und fortlaufen. Mythor konnte sie im letzten Augenblick davor bewahren, sich selbst zu strangulieren. Doch auch so spannte sich das Seil. Jede noch so harmlos erscheinende Bewegung schien es auf unheimliche Weise zu verkürzen. Kapitän Yardin erschien im Licht der Fackeln und riß den Krieger zurück. Mit einem Faustschlag beförderte er ihn auf die Planken und setzte einen Fuß auf seine Brust. »Wenn du so übermütig bist, Calcos«, grollte seine Stimme, »dann kannst du die Rolle des Knotentänzers übernehmen.« Auf einen Wink des Kapitäns kamen zwei weitere Caer her bei und legten auch dem mit Calcos Angeredeten eine Schlin ge um den Hals. Dann stießen sie ihn zwischen die drei Ge fangenen. Was war das nun wieder? fragte sich Mythor. Was, bei Quyl, ist ein Knotentänzer? Er sollte es bald erfahren. Vorerst aber wanderte sein Blick zurück zum brennenden Himmel über Elvinon. Und während er so in die fernen Flammen starrte, fragte er sich erneut, welch teuflisches Schicksal Drundyr und die anderen Caer-Priester ihm zuge dacht hatten. Er hielt nicht viel von den Göttern der Marn, aber nun betete
er darum, daß sie ein Wunder geschehen lassen mochten, da mit die Durduune niemals ihr Ziel erreichte. Nyalas Hand legte sich auf seinen Arm. Er drehte sich um und begegnete ihrem Blick. Wir werden kämpfen, Mythor! sagte er ihm.
Am Abend des dritten Tages war die schrecklichste See schlacht in der jüngeren Geschichte Tainnias beendet. Die Männer des Herzogs waren entweder tot oder in Gefangen schaft geraten. Alle Schiffe waren manövrierunfähig oder be fanden sich in den Händen von Caer. Die Straße der Nebel war zum nassen Grab Tausender muti ger Männer geworden, deren Tod von vornherein ohne Sinn gewesen war. An den Küsten wurden Leichen angetrieben und bildeten einen dicken Streifen zusammen mit Wrackteilen und allem möglichen angeschwemmten Gut. Leichen auch in den Straßen der Stadt, Leichen von Verteidi gern und Angreifern gleichermaßen. Das Schloß war in der Hand der Caer, die Stadt besetzt. Die Holzhäuser waren nie dergebrannt. Nur hier und da loderte noch die Glut. Stille senkte sich über das Land. Die wenigen, die dem Gemetzel entkommen waren und draußen, weit vor den Stadttoren, Pferde aufgetrieben hatten, flohen in Panik bis zu den Grenzen des Herzogtums, wo die Krieger der Nachbarfürsten warteten und sich die Kunde vom Fall Elvinons schnell ausbreitete. Und jene, die Herzog Krude ihre Unterstützung versagt hat ten, begannen zu zittern, denn sie würden die nächsten sein, vor deren Küsten oder Mauern die Armeen der Caer auftau chen würden. Die Lichtwelt hielt den Atem an. Da war einer in Elvinon, von dem es hieß, er sei der, von
dem die alten Prophezeiungen sprachen; jener, der kommen würde, wenn die Mächte der Finsternis wieder nach der Welt greifen würden, so ging die Kunde. Alte Frauen begannen zu den Göttern zu beten, daß der Sohn des Kometen auf der Welt erschienen war. Aber es hieß auch, er sei während des Kampfes in die Hände der Caer geraten. In Akinlay, Darain und Nugamor wurde zu den Waffen ge rufen, doch niemand gab sich mehr großen Hoffnungen hin. Die Entscheidung war bereits gefallen, in der Straße der Ne bel, in Elvinon. Vielleicht hätte der Fall dieser Bastion der Lichtwelt verhindert werden können. Vielleicht – denn der Macht der schwarzen Priester konnte kaum etwas entgegengestellt werden.
Ernst Vlcek
DIE GOLDENE GALEERE
Der Nebel verschluckte die lodernden Feuer von Elvinon. Ge rade noch hatte der Schein der brennenden Stadt den Nacht himmel über dem Küstenstreifen des Festlands erhellt, hatte man die Schiffe der siegreichen Caer-Flotte als dunkle Sche men vor dem helleren Hintergrund gesehen. Doch innerhalb eines einzigen Atemzugs senkte sich eine Nebelbank über die Durduune und hüllte sie vollständig ein. Mythor war in den Anblick der lichterloh brennenden Stadt versunken und dachte daran, welche Verkettung von un glückseligen Ereignissen dazu geführt hatte, daß er als Gefan gener der Caer auf einem ihrer Schiffe die Meerenge vom Fest land zur Insel übersetzte. Als die Sicht sich unvermittelt trüb te, wollte für einen Augenblick Panik von ihm Besitz ergreifen. Aber dann sah er, daß niemand an Bord von dem abrupt umschlagenden Wetter überrascht war, und so beruhigte er sich sogleich wieder. Er blickte zu Nyala und deren Vater hin über und stellte fest, daß auch sie keine Gefühlsregung zeig ten. Der Herzog wirkte, als habe er mit dem Leben abgeschlos sen. Sein grauer Vollbart war blutverkrustet, sein Gewand durch Feuer und Waffeneinwirkung arg in Mitleidenschaft gezogen. Nyala hatte die tiefste seiner Armwunden notdürftig verbunden, und das weiße Tuch war bereits stark von seinem Blut gerötet. Nyala selbst war kaum etwas von dem anzumerken, was sie in den letzten Stunden durchgemacht hatte. Es tat ihrer Schönheit keinen Abbruch, daß sich ihr schwarzer Haarzopf etwas aufgelöst hatte. Das verlieh ihr etwas Kämpferisches, und dieser Eindruck wurde durch einen Blick in ihre dunklen
Augen unter den langen Wimpern noch verstärkt. Daraus sprachen ein unbeugsamer Wille, Trotz gegen das Schicksal und eine leise Hoffnung. Als sie Mythors Augen begegnete, legte sich ein Schleier über ihren Blick, so als wolle sie die in ihr lodernde Leidenschaft verhüllen. »Du nimmst es sehr gelassen hin, daß so plötzlich dichter Nebel aufgekommen ist«, sagte Mythor. »Birgt das nicht große Gefahren für die Überfahrt in sich?« »Um diese Jahreszeit ist das für die Meerenge nicht unge wöhnlich«, sagte Nyala. »Nicht umsonst wird sie die Straße der Nebel genannt. Die Gefahren lauern jedoch nicht im Nebel, sondern im Wasser. Wir sind nahe am Meer der Spinnen, das zur Herbstzeit von unheimlichen Meeresbewohnern heimge sucht wird, die vor dem Winter mit der Strömung in wärmere Gefilde abwandern. Mit einem unserer Schiffe würde ich mich nicht in dieses Gebiet hinauswagen. Aber die Caer beschäfti gen sich mit Zauberei, und wenn sie ihren magischen Prakti ken vertrauen, können wir es auch. In Drundyrs Obhut sind wir vor allen Meeresungeheuern sicher.« Mythor blickte unwillkürlich zu den Heckaufbauten, wo sich der mit düsterem Zierat ausgestattete Altar befand. Im fla ckernden Schein einer Fackel sah er die Rückansicht einer hoch aufragenden Gestalt. Der schwarze Umhang mit den sil bernen Stickereien legte sich um schmale, knöcherne Schul tern, die etwas nach vorne gebeugt waren. Obenauf saß ein Spitzhelm mit Hörnern, der durch die Ansammlung bemalter Tierknochen das Unheimliche dieser Erscheinung unterstrich. Es war Drundyr, der Caer-Priester, der bewegungslos vor dem Altar kauerte, seit sie in See gestochen waren. Kein Laut kam von ihm, und er hatte das Gesicht abgewandt. »Es scheint, als beschwöre er das Böse, um es von seinem Schiff fernzuhalten«, sagte Mythor. Er mußte den Kopf wieder abwenden, weil sich durch die Drehung die Schlinge um sei
nen Hals enger zugezogen hatte. Nyala und ihrem Vater erging es ebenso. Auch sie trugen Halsschlingen aus einem faserigen Material und waren durch fingerdicke Seile von etwa sechs Armlängen an den mittleren Schiffsmast gebunden. »Das hast du richtig erkannt«, sagte der Caer namens Calcos, der auf die gleiche Art wie sie an den Mast gebunden war. »Y ardin ist zwar der Kapitän der Durduune, aber das Kommando hat in Wahrheit Drundyr.« Nyala hatte sich zu ihrem Vater begeben, der kraftlos neben dem Mast kauerte und sich mit dem gesunden Arm abstützte. Nyala umfaßte ihn, und er ließ sich dankbar gegen sie sinken. »Elvinon brennt«, murmelte er kaum hörbar. »Bald werden die drei restlichen Herzogtümer des Festlands folgen. Wie lange kann es noch dauern, bis ganz Tainnia caerisch ist?« »Beruhige dich, mein Vater«, redete ihm Nyala zu. »Noch ist nicht alles verloren, noch können wir hoffen.« »Auf was denn, auf ein Wunder?« fragte er müde. »Vielleicht ist das Wunder schon geschehen«, sagte Nyala und blickte zu Mythor. Herzog Krude folgte ihrem Blick und winkte Mythor zu sich. Nachdem der junge Mann der Auffor derung Folge geleistet hatte, hob Herzog Krude mühevoll den verwundeten Arm und griff ihm hinter das rechte Ohr, wo er ihn abtastete. Mythor ließ es ruhig mit sich geschehen. Seine tastenden Finger hinter Mythors rechtem Ohr kamen zum Stillstand, und dann zog er die Hand abrupt zurück. Sein trüber Blick klärte sich etwas. »In der Tat, er hat dieselbe Narbe, wie sie der Sohn des Ko meten haben soll. Und auch sein Aussehen widerspricht nicht der Beschreibung aus der Legende. Aber das allein genügt nicht, um ihn als Auserwählten des Lichtboten auszuweisen. In den Südländern mag es viele junge Männer geben, auf die diese Beschreibung paßt. Was sagt er selbst dazu?«
Mythor erwiderte den Blick des alten Mannes. »Ich habe zum erstenmal von deiner Tochter die Legende über den Sohn des Kometen gehört«, sagte er wahrheitsgetreu. »Ich muß auch zugeben, daß ich mich nie berufen fühlte und nie den Gedan ken hegte, daß ich für etwas Höheres bestimmt sein könnte. Und auch jetzt, nachdem ich in der Gruft hinter den Wasser fällen war, bleibt mir eine Offenbarung versagt.« »Du warst in der Gruft bei den Wasserfällen von Cythor?« fragte der Herzog. »Ja«, antwortete Nyala an Mythors Statt. »Er ist der einzige, der lebend zurückgekommen ist. Was für ein deutlicheres Zei chen kann man denn noch verlangen! Für mich steht fest, daß er der Auserwählte ist, dessen Ankunft der Lichtbote dereinst prophezeite.« Sie hatte Mythors Arm ergriffen und klammerte sich daran. Er sah sie nur kurz an und wich dann ihren suchenden Augen aus, die voll Hoffnung und Zuversicht waren. Er fühlte sich unbehaglich, denn er spürte nicht die Kraft in sich, ihre Erwar tungen erfüllen zu können. Wie sollte er als Gefangener an Bord eines Caer-Schiffes und unterwegs zum Inselteil des Tainnianischen Reiches Xanadas Lichtburg erreichen und das Gläserne Schwert finden? »Wenn du es bist«, sagte Herzog Krude, »dann vertreibe die Düsternis, die von allen Seiten auf uns eindringt.« »Vater, wovon sprichst du?« fragte Nyala besorgt. »Seht ihr es nicht?« Der Herzog verdrehte die Augen. »Spürt ihr es denn nicht? Die Bedrohung ist greifbar um uns.« »Er fiebert«, sagte Nyala und drückte ihren Vater ängstlich an sich. »Er ist auf einmal so kalt und feucht. Sieh nur, Mythor, seine Hände sind ganz klamm, sein Körper steif. Hilf ihm doch, sonst stirbt er.« Mythor mochte Nyala seine Hilflosigkeit nicht eingestehen,
und so begab er sich an die Seite ihres Vaters und versuchte, ihn durch seine Nähe zu wärmen und seine Glieder durch Massieren zu beleben. »Was lauert da im Dunkeln?« fragte Herzog Krude mit ent rückter Stimme. »Was kommt da auf uns zu? Es schluckt alles Licht – und jeden Laut. Es ist ein unersättliches, unsichtbares Ungeheuer.« »Da ist nichts, Vater«, sagte Nyala. »Du bildest dir alles nur ein.« »Das ist keine Einbildung«, sagte da Calcos, der offenbar mitgehört hatte und nun näher rückte. Er warf Mythor einen abschätzenden Blick zu und fuhr fort: »Jetzt ist mir klar, wa rum Drundyr dich nicht töten wollte. Da du als Kometensohn verehrt wirst, nützt du ihm lebend mehr als tot. Aber gegen die hier wirkenden Kräfte bist du machtlos.« »Von welchen Kräften sprichst du?« fragte Mythor. »Um uns steht alles still«, sagte Calcos und ließ die Augen rollen. »Die Luft ist schwer zu atmen, das Wasser dicker als Öl, so daß der Bug es nicht teilen kann. Du siehst nur wenige Schritte weit. Der Mast ist über unseren Köpfen wie abge schnitten. Und die Fackeln flammen, aber sie spenden kein Licht.« Da wurde sich auch Mythor des Unheimlichen bewußt. Aus Richtung des Bugs erscholl ein Befehl, der hohl klang und wie aus weiter Ferne zu kommen schien: »An die Ruder!«
Schemenhafte Gestalten geisterten über die schwarzen Schiffsplanken. Von den Ruderbänken kamen verhaltene Stimmen und gedämpfte Geräusche. »Bewegt euch!« Eine Peitsche knallte dumpf, und der Lederriemen zuckte an Mythors Kopf vorbei. Dort stand Kapitän Yardin. Seine Gestalt
verschmolz beinahe mit dem Nebel. »Erhebt euch und geht um den Mast herum. Immer im Kreise, das erwärmt. Ihr wer det sonst ganz steif, und der Nebel erstickt euch noch. Ich habe schließlich den Auftrag, euch lebend an Land zu bringen. Los, Calcos, zeige ihnen, was du kannst.« Wieder durchschnitt die Peitsche mit dumpfem Laut die Luft, aber der Nebel geriet nicht in Bewegung. Calcos sprang japsend hoch und begann mit trippelnden Schritten um den Mast herumzugehen. Mythor und Nyala halfen dem Herzog von Elvinon auf die Beine. Als dieser stand, stieß er jedoch die helfenden Arme von sich. »Ich kann mich aus eigener Kraft halten«, sagte er würdevoll. Mythor sah, wie sich Yardin abwandte und zu den Heckaufbauten hochstieg. »Er sucht Drundyrs Rat«, raunte ihm Calcos zu, während er neben ihm trippelte. »Aber wenn es ernst wird, dann schert der Priester sich nicht um das Schiff und uns. Er wird nur an sich alleine denken.« »Was könnte einem so großen Schiff wie der Durduune denn gefährlich werden?« fragte Mythor und blickte besorgt zu dem Knotenpunkt am Mast hoch, wo alle vier Leinen zusammenlie fen. Als er sah, daß der Strang aus den vier Schnüren um Un terarmlänge zugenommen hatte, hielt er Calcos zurück und wartete, bis Nyala und ihr Vater sie erreicht hatten. »Es gibt Meeresbewohner, die drei- und viermal so groß sind wie dieses Schiff«, erklärte Calcos. »Die Vallsaven etwa…« »Das sind Fabelwesen«, fiel Nyala ihm ins Wort. »Ich kenne keinen Menschen, der jemals ein solches Untier mit eigenen Augen gesehen hätte.« »Weil keiner, der einen Vallsaven je gesehen hat, dies über lebte«, erklärte der Caer. Um sie war eine unheimliche Stille. Der Nebel schluckte selbst das Geräusch ihrer Schritte. Kein Ruderschlag war zu
hören, obwohl Mythor undeutlich an den sich krümmenden und streckenden Rücken der Ruderer erkannte, wie sie sich in die Riemen legten. Plötzlich vernahm er einen erstickten Laut und sah, wie Herzog Krude, der sich in die falsche Richtung bewegte, von der sich spannenden Leine zurückgeschnellt wurde. Bevor er sich jedoch um ihn kümmern konnte, erklang eine flüsternde Stimme an seinem Ohr. Sie kam aus Richtung der Heckaufbauten und gehörte offenbar Drundyr. Mythor verstand die Worte so deutlich, als stehe der Caer-Priester neben ihm. Da bei war er einige Mannslängen entfernt und in dem dichter gewordenen Nebel nur noch zu erahnen. Er hörte Drundyr sagen: »… im Fahrwasser der Goldenen Ga leere…« Mehr war nicht zu verstehen. »Mythor!« Das war Nyala. Er eilte sofort zu ihr. Sie hatte sich über ihren am Boden liegenden Vater gebeugt. Herzog Krudes Gesicht war dunkel verfärbt, und er rang verzweifelt nach Luft. Die Halsschlinge drohte ihn zu erwürgen. Mythor versuchte, mit zwei Fingern unter die Schlinge zu greifen, um sie zu lockern, aber dadurch schnitt er des Her zogs Atemwege nur noch mehr ab. »Da hilft nur Meerwasser«, sagte Calcos. »Das Salzwasser macht die Fasern geschmeidig und dehnt sie.« Noch während der Caer sprach, entdeckte Mythor einen hölzernen Eimer, der an einem Tau befestigt war. Er holte ihn mit schnellen Bewegungen ein und schleuderte ihn dann weit über die Reling. Kein Geräusch war zu hören, als der Eimer ins Wasser fiel. Mythor wollte den Eimer sofort wieder einholen. Aber er schien irgendwo festzuhängen, denn obwohl er mit aller Kraft an dem Tau zog, gab es nicht nach. Als Calcos ihm zu Hilfe kam und sie mit vereinten Kräften zogen, riß das Tau. Im selben Moment gab es eine Reihe dumpfer Laute wie von brechendem, morschem Holz.
»Die Ruder!« rief Calcos aus. Mythor sah im Nebel hinter der Reling irgend etwas split tern, und er hatte tatsächlich den Eindruck, als würden die dicken Riemen brechen. Etwas spritzte auf und quoll dann dickflüssig über die Reling. Langsam floß es über das leicht schräge Deck auf sie zu. »Wie zähflüssig es auch ist, es ist Meerwasser«, sagte Calcos zu dem zögernden Mythor, der es daraufhin mit beiden Hän den schöpfte. Das Salzwasser, das gerade noch so dick wie Honig gewesen war, wurde in seinen hohlen Händen wieder dünnflüssig. Ohne zu zögern, träufelte er es auf Herzog Kru des Hals, während Nyala in fiebriger Hast die Schlinge damit einrieb. »Es hilft«, sagte sie erleichtert. »Die Schlinge wird lo ckerer.« Mythor schöpfte noch zweimal beide Hände voll Meerwas ser, bis deutlich zu erkennen war, daß die Schlinge des Her zogs Hals nicht mehr einschnürte. »Vater lebt«, sagte Nyala. »Aber er hat das Bewußtsein ver loren.« Während Mythor sich die feuchten Hände an seiner Halsschlinge abwischte und bald merkte, daß sie daraufhin nach gab, wandte er sich Calcos zu, der in den undurchdringlichen Nebel starrte und sagte: »Da kommt etwas Grauenvolles auf uns zu. Ich spüre die Bedrohung, die davon ausgeht.« »Hat es etwas mit der Goldenen Galeere zu tun?« fragte My thor. Der Caer wandte sich um. »Was weißt du von der Goldenen Galeere?«
»Ich habe Drundyr davon sprechen hören«, antwortete My thor. »Was hat es damit auf sich?« »Die Goldene Galeere ist ein Geisterschiff, über das es unzäh lige Geschichten gibt«, antwortete Calcos. »Die Legende be sagt, daß sie Prinz Nigomir aus den Eislanden gehören soll.
Das ist ein geheimnisumwittertes Land im hohen Norden. Es heißt, daß Nigomir aus rasender Eifersucht seine heißgeliebte Stiefschwester Karen niedergestochen habe und dann auf sei ner Goldenen Galeere vor der Rache seines Vaters, König Irkens, geflohen sei. Auf Geheiß des Königs wurde der Prinz jedoch verfolgt und in die Düsterzone getrieben. Als die Goldene Ga leere in der Zone der Düsternis verschwand, da wurde der Fluch des Königs wirksam. Seither geistert die Goldene Galeere mit diesen Seelenlosen über die Meere und spukt in den Köp fen der Seeleute. Viele wollen das Geisterschiff gesichtet ha ben, aber noch niemandem gelang es, sich ihm zu nähern oder gar seinen Fuß an Bord zu setzen.« Die Durduune durchlief eine heftige Erschütterung. Calcos rutschte auf den glitschigen Planken aus und fiel der Länge nach hin. Sein Schrei erstarb, als sich seine Halsleine spannte. Das Schiff wurde ein zweites Mal erschüttert. Diesmal war wie fernes Donnergrollen das Krachen berstenden Holzes zu ver nehmen. Die Ruderer verließen schreiend ihre Bänke und liefen durcheinander. Die Stimme des Kapitäns verhallte ungehört. »Was bedeutet das?« fragte Mythor Nyala, die ihres Vaters Kopf in ihren Schoß gebettet hatte. Sie blickte ratlos und hilfe suchend zu Mythor auf. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Aber wir können unmöglich schon die Insel erreicht haben. Vielleicht läßt das Meer irgend einen seiner Schrecken gegen dieses verfluchte Schiff los.« Mythor sah, wie Kapitän Yardin einen seiner Männer zur Re ling stieß. Der Seemann schwang eine Schnur, an der ein faustgroßes Gewicht hing. Er warf das Lot über die Reling und ließ die Schnur nach. Mythor erkannte, daß er die Meerestiefe messen wollte. »Wie tief?« fragte Kapitän Yardin, als der Seemann das Lot wieder einholte.
»Fünf Faden etwa«, kam die Antwort, während der Caer das Lot wieder auswarf. Gleich darauf sagte er: »Vier Faden nur noch, Kapitän. Wir laufen auf Grund… Da!« Der Nebel brach auf einmal auf, und Mythor sah, wie sich steuerbords aus den diffusen, vom Fackelschein erhellten Schwaden ein bizarres Gebilde herausschälte. Im ersten Mo ment hatte er den Eindruck einer Moorlandschaft mit geknick ten Bäumen, aus deren Stümpfen sich schlangenartige Kletter pflanzen rankten. Die geborstenen Stämme lagen kreuz und quer und stachen spitz in die Höhe. Irgendwelche Pflanzen, die in trompetenförmigen Trichtern endeten, wanden sich und zuckten in Richtung des Schiffes, als seien sie von unheimli chem Leben erfüllt. Die Durduune trieb steuerbords gerade wegs darauf zu. »Eine Insel!« rief irgend jemand. »In diesem Gewässer gibt es keine Inseln«, widersprach Ka pitän Yardin. »Das ist ein Vallsave!« Von den Heckaufbauten erklang ein Schrei, der sich mit dem Krachen berstenden Holzes vermischte. Mythor sah, wie das Seitenruder brach, als es gegen ein Hindernis stieß. Der Steu ermann wurde von dem schwingenden Ruder getroffen und über Bord geschleudert. Sein Schrei endete in einem Gurgeln. Mythor blickte zu Drundyr, der seinen Platz am Altar noch immer nicht verlassen hatte. Der Caer-Priester kniete nun und hatte die dünnen Arme emporgereckt, so als wolle er damit höhere Mächte zu seinem Schutz einfangen. Drundyr schien in einer eigenen Welt zu leben und von den Geschehnissen ringsum nichts zu bemerken. Da traf ein neuerlicher Schlag die Durduune, der viel heftiger war als die beiden vorangegangenen. Einige Männer gingen über Bord. Die Bordwand vor Mythor wurde eingedrückt, und er sah, wie sich spitze, gezackte Stacheln von Übermannslänge durch die dicken Bohlen bohrten. Das ganze Schiff wurde an
Backbord hochgehoben. Mythor rutschte auf den schrägen Planken ab und wurde gegen den Mast gedrückt. Er hatte sich von dem Aufprall noch nicht erholt, als ihn zwei schwere Körper trafen. Er erkannte, daß es sich um Nyala und um Her zog Krude handelte. Unwillkürlich griff er nach der Tochter des Herzogs und drückte sie schützend an sich, als das Schiff sich zur Seite neigte. Aber er wartete vergeblich darauf, daß es kenterte. Der Schiffskörper verfing sich an mächtigen Stacheln, die den Rumpf durchbohrten, als bestünde er aus Pergament. Nyala klammerte sich an Mythor. Wieder wurde die Durduune erschüttert. Doch diesmal wi derstand sie der Belastung nicht mehr. Der Bug wurde unter mächtigem Druck nach oben gedrückt, das Heck mit den Al taraufbauten sackte ab. Und auf Höhe des Mittelmastes barst das Schiff über die ganze Breite in zwei Teile. Der Mast neigte sich und brach an seinem Fuß ab. Mythor duckte sich und drückte gleichzeitig Nyalas Kopf auf die Planken. Für die Dauer eines langen Atemzugs spannten sich die Halsleinen so fest, daß Mythor meinte, die Schlinge würde ihn köpfen. Bevor ihm jedoch die Sinne schwanden, erfaßte ihn ein Brecher und schwemmte ihn über die ausgezackte Bruchstelle von Bord. Er vermeinte noch, die zuckenden Stacheln des Untiers zu sehen, glaubte, das Trompeten der trichterförmigen Organe zu hören, das nur erstarb, wenn sie ein Opfer fanden, an dem sie sich festsaugen konnten. Dann tauchte er in die tobenden Flu ten ein, die verzweifelt um sich schlagende Nyala, deren be sinnungslosen Vater und den leblosen Körper des Caer mit sich ziehend, an die er gefesselt war. Ein Strudel wirbelte sie alle vier in die Tiefe und schien sie in den Schlund des riesigen Ungeheuers zu ziehen, das dieses Caer-Schiff mit Mann und Maus zu verschlingen drohte. Mythor erlebte diese Schrecken in der Gewißheit, daß dies
die letzten Augenblicke vor dem sicheren Tod waren.
Die Schrecken wollten kein Ende nehmen, doch der Tod ließ auf sich warten. Hatte ihn soeben noch ein mächtiger Sog unerbittlich hinun tergezerrt, so wurde auf einmal eine Gegenkraft wirksam, die ihn nach oben trieb. An seinem Hals hingen schwere Gewich te, und ein Körper wurde immer wieder gegen ihn getrieben. Das nasse Element spuckte ihn aus, und er rollte über die Schaumkrone einer Woge an der Seite eines leblosen Körpers. Er erkannte den Caer Calcos, und neben diesem tauchte Her zog Krude auf. Der Herrscher von Elvinon gab immer noch kein Lebenszeichen von sich. Aber wo war Nyala? Durch die aufpeitschende Gischt sah Mythor unweit einen mächtigen Spinnenkörper, der wie ein Gebirge aus den schäumenden Fluten ragte. Auf seinen Stacheln waren Men schen und Schiffsteile aufgespießt. Die trompetenförmigen Saugtrichter wanden sich auf der Suche nach Opfern, zuckten und kreischten wie Nebelhörner. Die Spinnenbeine zertrüm merten die Wrackteile zu Kleinholz. Mythor stürzte in ein Wellental, genau auf einen Mast mit schwarzem Segel zu. Er wollte nach dem runden Holz greifen, sich daran festklammern, doch da zog ihn die Leine nach links, und er griff ins Leere, tauchte unter und schluckte salzi ges Wasser. Als er wieder auftauchte, stellte er fest, daß Nyala es gewe sen war, die ihn daran gehindert hatte, den rettenden Mast zu erreichen. Sie waren durch die Leinen immer noch aneinan dergebunden. Doch als Nyala nun aus der Gischt auftauchte, hielt sie ihre Halsschlinge mit beiden Händen über dem Kopf. Mythor begriff, daß sich ihre Schlinge durch das Wirken des Meerwassers so weit gedehnt hatte, daß sie aus ihr schlüpfen
konnte. Sie rief seinen Namen und deutete hinter ihn. Da trieb ihr Vater; eine Woge drohte ihn gegen die Spitze einer sich über das Mastende schiebenden Planke zu schleudern. Mythor holte den Herzog schnell an der sie verbindenden Leine ein, legte ihm die Armbeuge unters Kinn und schwamm rücklings mit ihm zu dem Mast. Gerade als er ihn erreichte, wurde er Zeuge eines Zwischen falls, der ihm den Atem stocken ließ. Auf dem Mast stand breitbeinig ein Caer, der beidhändig mit einem Schwert zum Schlag gegen Nyala ausholte. Mythor ließ den Herzog für einen Moment los, wendete kraftvoll im Wasser und stieß wuchtig mit beiden Beinen ge gen den Mast. Durch den Caer ging ein Ruck, er taumelte, ver lor das Gleichgewicht und stürzte ins Wasser. Mythor spürte einen kurzen Zug an seinem Hals, die Schlinge schnitt ihm tief ins Fleisch. Während sich das Wasser um ihn rot färbte, sah er, wie der stürzende Caer mit seinem Schwert die Leine durch schlug, an der der tote Calcos hing. Inzwischen hatte Nyala den Mast erklommen und half My thor, ihren besinnungslosen Vater hochzuhieven. Nachdem ihnen das gelungen war, zog sich Mythor selbst hoch und nahm auf dem Mast im Reitersitz Platz. Nun erst entledigte er sich der Schlinge und befreite auch Herzog Krude davon. Dann band er ihn mit den Beinen am Mast fest und bettete sein Haupt in seinen Schoß. Er tat es, ohne zu wissen, ob über haupt noch Leben in dem Mann war. Neben Mythor tauchte der Kopf eines Caer-Kriegers auf. Er hielt sein Schwert zwischen den Zähnen, um die Hände zum Schwimmen frei zu haben. Er war bereits in Mythors Reich weite, so daß dieser mühelos den Schwertgriff zu fassen be kam und dem Caer die Waffe abnehmen konnte. Eine drohen de Bewegung mit dem Schwert genügte, um den Caer zu ver jagen. Mythor sah ihn unter eine Woge tauchen, dann war er
seinen Blicken für immer entschwunden. Um sie ging das Toben des Vallsaven weiter. Immer wieder geriet das Meer in Unruhe, türmten sich masthohe Wellen, wenn das Spinnenungeheuer nach oben stieß, um die Schiffs trümmer zu zermalmen und mit den Saugtrichtern Opfer zu erfassen. Nyala beugte sich weit hinaus, während sie sich mit einer Hand an der Takelage festhielt. Als sie sich in die aufrechte Haltung zurückbrachte, hielt sie eine mannslange Planke in der Hand, die einigermaßen an ein Ruder erinnerte. Damit versuchte sie zu steuern. Es war in diesem Chaos ein hoff nungsloses Unterfangen, aber Nyala ließ die Planke nicht los. Das Meer um sie beruhigte sich etwas, und Mythor glaubte schon, daß sie sich außer Reichweite des Vallsaven befanden. Da bekam ihr Mast von unten einen Stoß. Links und rechts von Mythor stießen Zackenstacheln aus dem Meer, von denen einer beinahe seinen linken Schenkel durchbohrt hätte. Das Geräusch reißenden Leinens erklang, als weitere Stacheln durch das schwarze Segel stießen und es zerfetzten. Aus den Rissen schoben sich die trompetenförmigen Saugtrichter und suchten röhrend nach Beute. Mythor schlug einen von ihnen ab, als er Herzog Krude zu nahe kam. Aus dem sich einziehenden Stumpf quoll eine tra nige, dunkle Flüssigkeit, die einen üblen Geruch verbreitete. »Entferne die Takelage!« rief Nyala Mythor zu. »Wir müssen uns des Segels entledigen, sonst werden wir mitsamt diesem in die Tiefe gerissen.« Noch während Nyala das sagte, begann Mythor bereits, die Taue zu kappen. Die Rah mit dem Segel hing nur noch an ei nem Tau, als der Mast plötzlich einen furchtbaren Stoß erhielt, der Mythor fast seines Haltes beraubt hätte. Er konnte sich noch im letzten Moment festhalten, sah jedoch, wie Nyala rücklings in die Fluten stürzte und fast von einem der mörde
rischen Stacheln des Vallsaven aufgespießt wurde. Ohne lange zu überlegen, schlüpfte er mit einem Fuß unter eine der Lei nen, mit denen der Herzog an den Mast gebunden war, und schwang sich in die Fluten. Die Fußangel verhinderte, daß er abgetrieben werden konn te, während er mit den Armen ruderte und Nyala zu fassen versuchte. Er erwischte etwas, das sich wie Haar anfühlte, und zog daran. Gleich darauf stieß Nyala mit dem Kopf gegen ihn. Ihre Arme legten sich um ihn und zogen ihn in die Tiefe. Mythor hatte keine andere Wahl, als sie durch einen Schlag mit dem Schwertknauf besinnungslos zu machen. Dann erst löste sich ihre tödliche Umschlingung, und er konnte sich zu rück auf den Mast ziehen. Nach ihrer geglückten Rettung stell te er fest, daß sie den unmittelbaren Gefahrenbereich verlassen hatten. Hinter ihnen wütete immer noch der Vallsave, aber um sie war das Gewässer ziemlich ruhig. Mythor benutzte das Schwert als Paddel und zum Steuern und lenkte den Mast in die Nebelwand hinein, die hier wieder von einer Dichte war, daß Mythor das vordere Ende des Mastes nicht sehen konnte. Nyala hatte sich von dem Schlag sofort wieder erholt. Sie saß jetzt hinter Mythor, umklammerte ihn in der Körpermitte und hielt gleichzeitig ihren Vater an den Schultern fest. Sie lehnte den Kopf gegen Mythors Rücken, und als sie sprach, konnte er das Vibrieren ihrer Stimme spüren. »Wie kommt es, daß du dich auf dem Meer so gut zurechtfindest, obwohl du zeit deines Lebens nur im Landesinneren gelebt hast?« fragte sie. »Oder sind die Yarls mit der Nomadenstadt auf ihren Rücken auch über Wasser gezogen?« »Solange meine Erinnerung zurückreicht, ist das nie pas siert«, antwortete Mythor, während er mit der breiten Schwertklinge gleichmäßige Ruderbewegungen vollführte. »Möglich, daß Churkuuhl einst von den Yarls über ein Meer
getragen wurde. Doch davon weiß ich nichts. Curos und Entrinna haben mich im Süden von Salamos gefunden und mich bei sich aufgenommen.« Nyala nickte. »Ich weiß, beim Schrei des Bitterwolfs. Das muß ein Omen gewesen sein, das deine Zieheltern richtig er kannt haben. Glaubten sie auch, daß du der Sohn des Kometen bist?« Mythor wurde nachdenklich. »Curos und Entrinna hatten immer eine große Scheu vor mir und eine Ehrfurcht, die mir unangenehm war und die ich mir nicht erklären konnte. Erst vor ihrem tragischen Tod haben sie mich darüber aufgeklärt, daß ich gar kein Marn bin. Aber ich kann nicht genau sagen, ob sie die Legende vom Sohn des Kometen kannten.« Eine Weile herrschte zwischen ihnen Schweigen, und My thor durchlebte im Geist noch einmal die furchtbare Katastro phe, bei der das Nomadenvolk der Marn umgekommen war. Er hörte förmlich das Stampfen und Gebrüll der rasenden Y arls, die sich in ihrer Besessenheit über die Klippen bei Elvinon stürzten und alle Gebäude und deren Bewohner mitrissen. Das waren bittere Erinnerungen. Aber durfte er den Unter tanen Herzog Krudes grollen, weil sie sich gegenüber den fremden Nomaden so unbarmherzig gezeigt hatten? Die Marn waren es gewohnt, von den Bewohnern der Länder, durch die sie mit ihrer Stadt zogen, verachtet und gemieden zu werden. Denn sie waren selbst darauf bedacht, den Abstand zu ande ren Völkern zu wahren. Ihnen war der Ruf vorausgeeilt, ein friedfertiges, aber scheues und verschrobenes Volk zu sein. Jetzt, da Mythor die Marn von einer anderen Warte aus be trachten konnte, erschienen selbst ihm ihre Sitten und Gebräu che fremdartig. Es wunderte ihn nicht mehr, daß die Tainnianer tatenlos zu gesehen hatten, wie die Yarls mit ihrer menschlichen Last in den Tod gesprungen waren. Das Fremde meidet man eben,
manchmal fürchtet oder haßt man es, und die Summe von al ledem mochte die Tainnianer zur Zurückhaltung veranlaßt haben. Mythor konnte schon deshalb keinen tieferen Groll gegen Nyalas Volk empfinden, weil er ihr zu Dank verpflichtet war. Sie war es, die ihn im Palast ihres Vaters aufgenommen und gezeigt hatte, daß Tainnianer auch Menschen waren. Nur eben völlig anders als die Marn. »Du hast mir sicher noch nicht alles erzählt, was du in der Gruft erlebt hast«, sagte Nyala in die Stille, in der nur die Pad delgeräusche zu hören waren. »Stimmt es, daß dir auch dort die Erleuchtung nicht gekommen ist?« »Es stimmt, und deshalb plagen mich immer noch Zweifel«, sagte Mythor. »Aber mein Abstieg in die Gruft war nicht um sonst, denn nun habe ich ein Ziel vor Augen. Ich soll eine Rei he von Prüfungen ablegen. Und die erste davon lautet, Xana das Lichtburg aufzusuchen.« »Beweist das nicht, daß du der Auserwählte bist, Mythor? Auch in der Legende heißt es, daß der Sohn des Kometen eine Reihe von Bewährungsproben zu bestehen haben wird, um sich für seine schwere Aufgabe zu wappnen.« Sie schmiegte sich fester an ihn und flüsterte: »Ich glaube an dich, Mythor.« Er wollte ihr daraufhin sagen, daß auch der Geist der Gwa samee ihn als Sohn des Kometen begrüßt und an seine Beru fung eben die Bedingung geknüpft hatte, daß er zuerst sieben Prüfungen bestehen mußte, um die erforderliche Reife zu er langen. Aber da fühlte er ihren Körper erschlaffen und stellte fest, daß sie vor Erschöpfung eingeschlafen war. Er war ebenfalls so müde, daß er auf der Stelle hätte ein schlafen können. Doch er wußte, daß sie dann verloren gewe sen wären, und so kämpfte er tapfer gegen die Schwäche an. Aber schließlich passierte es doch, daß ihn die Müdigkeit übermannte. Er wußte gar nicht, wie ihm geschah, als er auf
einmal Wasser schluckte. Irgendwie kämpfte er sich jedoch an die Meeresoberfläche hoch und fand am Schiffsmast Halt. Ny ala lag vornübergebeugt auf ihrem an den Mast gebundenen Vater. Mythor ließ sich eine Weile im kalten Wasser treiben, um seine Sinne zu beleben. Er hätte es besser bleibenlassen sollen, denn nun spürte er, wie die Kälte seine Glieder steif werden ließ und ihm die letzten Kräfte aus den Knochen sog. Er war kaum mehr in der Lage, zurück auf den Mast zu klettern. Erst beim vierten Versuch gelang es ihm. Aber gerade in diesem Moment stieß der Mast mit der Spitze gegen ein Hindernis, und er fiel wieder ins Wasser. Ein Hindernis! Bedeutete das, daß sie gestrandet waren? My thor starrte durch den Nebel nach vorne und glaubte, dort ei nen dunklen Streifen wie von der Breitseite eines Schiffes zu erkennen. Der Mast trieb nun seitwärts darauf zu. Sich mit einer Hand am Mast festhaltend, zog Mythor mit der anderen das Schwert unter dem Tau hervor, an dem er es verankert hatte. Er erwar tete, hinter der Bordwand Caer auftauchen zu sehen, und war bereit, sich ihnen zum Kampf zu stellen, obwohl er wußte, daß er kaum genug Kraft hatte, die Waffe zu heben. Aber bei dem näher gleitenden Schatten, der im Wasser schaukelte, rührte sich nichts. Und es handelte sich gar nicht um ein Schiff, wie Mythor nun feststellen konnte. Es war… Mythor konnte es nicht glauben. Er hielt das, was er sah, für eine Sinnestäuschung. Doch dann erreichte ihn das Hindernis, und er konnte es be fühlen und sich über den Rand hochziehen. Erst jetzt wollte er wahrhaben, daß dies alles Wirklichkeit war. Irgendwo in Salamos. Wüste, so weit das Auge reichte. Nur der Späher
im höchsten Turm von Churkuuhl konnte im Norden einen Grünstreifen erkennen, der Nahrung und Wasser verhieß. Es gelang dem Ersten Bürger Etro, die Yarls zu einer schnelleren Gang art zu veranlassen. Das lebenspendende Grün rückte immer näher, bis alle Marn es sehen konnten. Da passierte es. Ein Yarl geriet in Treibsand und blieb stecken. Je heftiger er seine achtzehn Beinpaare einsetzte, desto rascher versank er. Schließlich war das Tragtier so tief eingesunken, daß nichts mehr von seinem Panzer zu sehen war und der Sand das klägliche Brüllen des Tieres erstickte. In einem verzweifelten Rettungsversuch gelang es schließlich mit Hilfe der anderen Yarls, das Tier mitsamt dem ganzen Stadtbezirk aus dem Sandloch zu ziehen. Doch von dem Yarl war nur noch der Rückenpanzer mit dem Gerippe übriggeblieben. Irgendein Monstrum, das unter dem Treibsand lebte, hatte die Zeit genützt, um den Yarl aufzufressen. Den Marn blieb nichts anderes übrig, als den stillgelegten Stadtbezirk zu räu men und die knöchernen Überreste des Yarls zu verwerten. Aus dem Ge rippe gewann man Knochenmilch, die Hohlknochen wurden für die Erzeu gung von Blasinstrumenten aufbewahrt, andere Knochen wurden, je nach Härte und Festigkeit, für Waffen und kunsthandwerkliche Dinge verwer tet. Zurück blieb der nackte, flache Rückenpanzer.
An dieses Ereignis erinnerte sich Mythor, als er den Rücken panzer eines Yarls in der Straße der Nebel treiben sah. Er lag mit der Oberseite nach unten auf dem Wasser, so daß er tat sächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Schiffsrumpf hat te. Mythor steuerte den Mast zu, einer Stelle, die so niedrig war, daß er sich mühelos daran hochziehen konnte. Es war die Vorderseite des Panzers, aus dem normalerweise der Kopf des Yarls herausragte. Aber von den Weichteilen des Tieres war nichts mehr übriggeblieben; an seinem Fleisch hatten sich die Meeresbestien gütlich getan. Nur noch das nackte Skelett wölbte sich von der Innenseite nach oben. So wie damals in der Wüste von Salamos.
Nacheinander zog Mythor die reglosen Körper von Herzog Krude und Nyala zu sich herauf. Den Schiffsmast stieß er mit einem Fußtritt weg. Dann erst brachte er die beiden Körper der Bewußtlosen vom Rand des Panzers fort. Er überzeugte sich davon, daß beide noch atmeten, aber es schien ihm, daß sie dem Tod nä her waren als dem Leben. Wie lange hatten sie schon keine Nahrung zu sich genommen, wie lange nichts mehr getrun ken? Der Gedanke daran ließ Mythor seinen Hunger schmerzhaft spüren, das Verlangen nach einem kühlen, salzlosen Trunk wurde übermächtig. Mythor nahm das Schwert auf und begab sich damit zum Brustkorb des Yarls, wo sich die übermannshohen Hohlkno chen wie Krummschwerter nach oben wölbten. Während er mit der einen Hand den Knochenbogen über dem Kopf stütz te, hieb er in Hüfthöhe mit dem Schwert dagegen. Schon nach dem ersten Schwerthieb bekam der Knochen Risse, und die Milch rann aus. Schnell hieb Mythor ein zweites und ein drit tes Mal zu, bis der Knochen brach und die Milch heraus schwappte. Bevor jedoch die Hälfte der Milch ausgeflossen war, hatte er die armspannenlange Hohlrippe mit der Öffnung nach oben gedreht. Er nahm einige große Schlucke von der nahrhaften Flüssig keit, um sich zu stärken, bevor er das knöcherne Füllhorn zu den beiden Besinnungslosen zerrte. Er senkte die Öffnung der Hohlrippe zuerst über Herzog Krudes Mund und träufelte ihm einiges von der Milch auf die Lippen. Dann wiederholte er den Vorgang bei Nyala. Das Mädchen gab auch alsbald ein Lebenszeichen von sich. Ihre Lippen öffneten sich, und ihnen entrang sich ein seufzen der Laut. Wie schön sie war! Selbst in der Erschöpfung hatte sie nichts
von ihrer Ausstrahlung eingebüßt. Er vergaß Herzog Krude und die ganze Umgebung, vergaß, wo er sich befand und welche Gefahren hinter ihm lagen. Und so kniete er neben Nyala nieder und beugte sich über ihr Ge sicht. Er wünschte sich in diesem Augenblick nichts so sehr, als diesem schönen Gesicht wieder Leben einzuhauchen. »Mythor.« Sie schlug die Augen auf, und er fühlte sich ertappt. Be schämt wollte er sich Zurückziehen, aber eine kaum wahr nehmbare Regung in ihrem Gesicht hinderte ihn daran. »Gib mir Kraft, Mythor.« In dieser Aufforderung schwang so viel Unausgesprochenes mit, das gar nicht in Worte zu fassen war. Und so tat er, was er ursprünglich hatte tun wollen. Als sich ihre Lippen fanden, war es auch, als hauche er ihr etwas von seiner Lebenskraft ein, denn ihr Körper erbebte während der Vereinigung ihrer Lippen unter einer Woge von Leidenschaft, die ihn förmlich mitriß. Nyala löste sich sanft, aber bestimmt von seinem Kuß. »Als Sohn des Kometen bist du ein Bestandteil der Lichtwelt«, sagte sie. »Aber ein Teil von dir soll immer mir gehören.« Als er sei nen aufgewühlten Gefühlen erneut freien Lauf lassen wollte, fragte sie: »Wie geht es meinem Vater?« Das ernüchterte ihn. Sie trieben hilflos auf dem Panzer eines Yarls in der Straße der Nebel und waren allen Gewalten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. »Herzog Krude von Elvinon wird überleben.« Mythor hätte hinzufügen können, daß jedoch alles davon abhing, ob sie ge rettet wurden. Und daran wagte er unter den gegebenen Ver hältnissen gar nicht zu glauben. Im Norden erstreckte sich das Meer der Spinnen. Im Westen lag die tainnianische Insel, die von den Caer beherrscht wurde, und auch das Festland im Osten stand seit dem Fall von Elvinon unter caerischer Herr
schaft. Woher konnten sie Hilfe erwarten? »Was war das?« fragte Nyala. Ein kalter Windstoß zerzauste ihr Haar. Durch den Yarlpanzer ging ein Ruck und brachte ihn zum Schwanken. Eine einzelne Welle brach sich an der seitli chen Aufwölbung, und die Gischt spritzte auf sie. »Ein Sturm kommt auf«, sagte Nyala. Mythor blickte über sich. Der Nebel hatte sich aufgelöst, dicht über ihnen türmten sich dunkle Wolkengebirge. Die Finsternis der Nacht war der Dämmerung eines sturmge peitschten Morgens gewichen. Es war kaum zu glauben, daß eine einzige Nacht eine solche Fülle von Schrecken bereithal ten konnte. Der Wind pfiff singend durch das Gerippe des Yarls. Der Panzer wurde von dem aufgepeitschten Meer hochgehoben und in die Tiefe gezerrt. Die Natur war entfesselt. Blitze geis terten durch die Wolkenberge und durchleuchteten sie mit ihrem grellen Schein. Brecher um Brecher rollte gegen die ü bermannshohe gepanzerte Wandung. Mythor hatte Nyalas Vater zwischen dem Knochengerüst in Sicherheit gebracht. Nun öffnete er ihm den Gürtel und band ihn damit an einem durchlöcherten Gelenkknochen fest. Nyala wollte etwas sagen, aber eine Bö riß ihr die Worte von den Lippen. Als sie erneut zum Sprechen ansetzte, wurde sie unter den über sie hereinbrechenden Wassermassen begraben. Mythor packte sie schnell bei der Hand, damit sie nicht fortge schwemmt werden konnte. Als sie prustend wieder zum Vor schein kam, formten ihre Lippen Worte, die Mythor nicht ver stehen konnte. Der Yarlpanzer schwankte beängstigend. Auf einem Schiff dieser Größe hätten sie auch solchen Gewalten trotzen können. Aber ein Yarlpanzer war nicht seetüchtig. Es ergoß sich mehr Wasser über sie, als wieder durch die Vertiefungen am Kopf ende abfließen konnte. Mythor rechnete jeden Augenblick
damit, daß der Panzer sank. Früher oder später mußte er auf einer Seite Übergewicht be kommen und kentern. Dann wären sie verloren. Er fragte sich unwillkürlich, ob sie es hier wirklich nur mit Naturgewalten zu tun hatten oder ob nicht auch höhere Mäch te mit im Spiel waren. Die Mächte der Finsternis vielleicht, die die Caer-Priester aus der Schattenzone beschworen hatten? Hieß es nicht, daß die Welt einst in einem undurchdringli chen Nebel des Bösen verborgen gewesen war, der erst durch das Erscheinen des Lichtboten an den Rand der Welt verbannt wurde? Und hatte ihm Nyala nicht erzählt, daß nach dem Ab gang des Lichtboten das Böse sich wieder entwickelt und aus gedehnt hatte und danach strebte, neuerlich von der Welt Be sitz zu ergreifen? Ein Blitz, ein Krachen! Plötzlich brach ein Teil des Panzers ab. Ein Brecher rollte durch die geschlagene Bresche und ließ sie für die Dauer eines Atemzugs untertauchen. Als das Was ser wieder zurückwich und Mythor endlich nach Luft schnap pen konnte, mußte er entsetzt feststellen, daß der Yarlpanzer sank. Das Wasser stand nun so hoch, daß es Herzog Krudes Kör per bedeckte. Mythor schnallte in fiebernder Hast seinen Gür tel ab und hob Krudes Kopf über Wasser. Der Herzog schien kurz zu sich zu kommen. Denn aus seinem Mund ergoß sich gurgelnd ein Wasserschwall. Er gab ein krächzendes Geräusch von sich, dann sackte sein Kopf kraftlos auf Mythors Schulter. Ein Blitz folgte nun dem anderen. Der Donner rollte endlos lange über das wolkenverhangene Weltengewölbe, und mit jedem Blitz erreichte das Grollen einen neuen Höhepunkt. Nyala schrie. Mythor hatte zuvor noch nie einen Menschen so schreien hören. Ihr nach oben gerichtetes Gesicht war dabei bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, ihre Haut wirkte im geister haften Zucken der Blitze unnatürlich weiß und durchschei
nend. Als Mythor ihrem Blick folgte, entrang sich auch ihm un willkürlich ein Laut des Entsetzens. Da schwebte schräg über ihnen ein unheimliches Wesen, das auf einem Pfahl aufgespießt zu sein schien. Es war ein Ge schöpf mit den Merkmalen einer Frau, nackt und nur mit ei nem Schulterumhang bekleidet, den es wie im Flug ausgebrei tet hatte. Dieser Mantel schmiegte sich jedoch seitlich an einen größeren Körper, der vorne zusammenlief und sie in den Rü cken stieß. Das wohlgeformte, ebenmäßige Gesicht dieses Weibsdämons war jedoch durchsichtig, so daß man dahinter den Schädel sehen konnte: Dieses Weib schien wie aus Eis ge formt, und es brachte auch eine unheimliche Kälte mit sich. Diese zur Bewegungslosigkeit erstarrte Gestalt schob sich wei ter über sie und verursachte dabei am Panzer des Yarls ein Scharren, obwohl sie gar nicht dagegen stieß. Während namenloses Entsetzen noch Mythor gepackt hielt, begann Nyala auf einmal wie von Sinnen zu lachen. »Wir sind gerettet!« rief sie. »Das ist eine Galionsfigur. Und sie stammt gewiß nicht von einem Schiff der Caer.« Im Licht des nächsten Blitzes erkannte auch Mythor, daß die im ersten Moment so unheimlich erscheinende Gestalt nur den Bug eines Schiffes zierte. Die Galionsfigur drehte ab, als das Schiff mit der Breitseite an dem Yarlpanzer anlegte. Jetzt glaubte auch Mythor, daß sie gerettet seien. Er nahm noch einmal all seine Kraft zusammen, hob Herzog Krude auf und watete mit ihm durch das kniehohe Wasser zum Panzer rand. Dort erschienen eine Reihe bleicher Gestalten, die ihnen dünne, knöcherne Arme entgegenstreckten. Mythor übergab ihnen zuerst den Herzog, während er sah, daß Nyala bereits hochgezogen wurde. Dann ließ er sich selbst hinaufhelfen.
Aber schon bei der ersten Berührung mit diesen Händen zuckte er erschrocken zusammen, und die anfängliche Erleich terung wich zunehmender Besorgnis. Die Hände ihrer Retter waren eiskalt. Die Gesichter, in die er hinaufsah, wirkten maskenhaft. Sie waren hohlwangig und hatten tief in den Höhlen liegende Augen. Die Haut, die sich über stark hervortretende Knochen spannte, wies einen Stich ins Bläuliche auf – es war ein Blau, in dem nur Gletschereis schimmert. Unter der Belastung von Mythors Gewicht ächzten und knarrten ihre Armgelenke. Ihr Atem, ein eisigkalter Hauch, ging rasselnd. Mythor mußte sich fragen, ob das wirklich die Rettung sei oder nur ein Trugbild, mit dem ihr gequälter Geist sie narrte. Er schwang noch bei vollem Bewußtsein die Beine über die Bordwand. Aber als seine Füße die Planken des seltsamen Schiffes berührten, hatten ihn die Kräfte bereits verlassen, und Schwärze senkte sich über seinen Geist.
Steinmann Sadagars Tage in Büttelborn waren gezählt. Mor gen oder spätestens den Tag darauf würde er diesen maleri schen und beschaulichen Ort im östlichsten Teil Tainnias ver lassen müssen. Er hatte hier mit seiner Begleiterin, der Runenkundigen Fahrna, eine schöne, wenn auch sehr kurze Zeit ver lebt. Und er war überaus erfolgreich gewesen. Gegenüber den einfachen Leuten, zumeist Bauern und Fallensteller ohne ir gendwelche Bildung, hatte er all sein Können ausgespielt, oh ne sich groß anstrengen zu müssen. Die Büttelborner hatten die einfachsten Tricks mit offenen Mündern bestaunt und sei ne Wahrsagungen mit einer Gutgläubigkeit aufgenommen, wie er sie sich nicht besser hätte wünschen können. Dennoch dachte der kleine, hagere Mann ohne das geringste Bedauern an den bevorstehenden Abschied. Er war es ge
wohnt, von einem Ort zum anderen zu ziehen und manchmal seine Zelte blitzartig abzubrechen und sein Heil in der Flucht zu suchen. Das geschah gar nicht so selten, immer dann näm lich, wenn von ihm aufgestellte Prophezeiungen zu schnell als unwahr erkannt wurden. Angesichts seiner vielen Schlappen konnte er froh sein, sich in Büttelborn zehn Tage lang behauptet zu haben. Aber er wollte sein Glück nicht herausfordern und von der Statte sei nes Triumphs fortziehen, bevor ihm die Büttelborner auf die Schliche kamen. Er gab sich höchstens noch zwei Tage, wie sehr ihn manche Ortsbewohner auch bedrängten, sich hier niederzulassen und fortan mit seinen magischen Gaben für ihren Schutz zu sorgen. Doch würde die Stimmung früher o der später gegen ihn umschlagen, dessen konnte er sicher sein. So war es bisher noch immer gewesen, und er hatte in Büttel born nicht nur Verehrer. Da war der Ortsvorsteher Brockel, der zudem noch für sich in Anspruch nahm, ein Heil- und Wetterkundiger zu sein, und ihm von Anfang an mit offener Feindschaft begegnete. Der Schultheiß fürchtete auch mit gutem Grund um sein Amt, denn einige Mißernten und eine Viehseuche, deren er nicht Herr hatte werden können, hatten sein Ansehen unter den Bauern arg geschädigt. Und nun hatte er zu allem anderen in ihm noch einen Rivalen bekommen. Ein anderer, der dem Wahrsager weniger mit offener Feind schaft als mit Mißtrauen begegnete, war der Wirt der Herberge »Zum Licht«, in der Sadagar mit Fahrna abgestiegen war. Oblatko war ein großer, fettleibiger Mann, dessen feistes Ge sicht, von einer rötlichen Haartolle gekrönt, halslos mit dem Rumpf verwachsen zu sein schien. Seine acht Söhne, die ihm seine ungemein fruchtbare Frau Gauda geschenkt hatte, waren verschieden große Ebenbilder von ihm. Ein neunter Sproß, vermutlich wieder ein Sohn, war bereits unterwegs und würde
wohl bald zum Kreis der halslosen Ungeheuer stoßen, wenn man Gaudas Leibesumfang betrachtete. Aber Oblatko mißtraute weniger Sadagars Wahrsagekünsten als seiner Zah lungskräftigkeit. So unangebracht waren die Befürchtungen des Herbergswir tes gar nicht, denn Sadagar dachte in der Tat nicht daran, ihn mit klingender Münze zu bezahlen, denn auch die Büttelbor ner hatten die Dienste des Wahrsagers ihrerseits nicht auf die se Weise abgegolten. Die Bauern hatten ihn mit Brotlaiben und Kornsäcken, mit Butter, Käse und Schinken und Fleisch förm lich überhäuft, aber nur ganz selten seinen Geldbeutel zum Klingeln gebracht. In der einen Ecke des Zimmers häufte sich ein wahrer Berg von Nahrungsmitteln, und Sadagar hätte ei nen eigenen Ochsenkarren gebraucht, um diese Güter mit auf die Reise nehmen zu können. Er liebäugelte mit dem Gedan ken, daß er diese umfangreichen Erträge bei Oblatko, wenn schon nicht gegen Münzen, so doch wenigstens gegen handli chere Dinge umtauschen könnte. Aber bisher war der Wirt in dieser Beziehung unnahbar gewesen. Sadagar hatte es auch noch nicht geschafft, ihn dazu zu bewegen, sich von ihm wahrsagen zu lassen, obwohl ihm das halbe Dorf einen guten Leumund ausstellte. Dabei war Oblatko nicht weniger aber gläubisch als die anderen, aber wahrscheinlich stand er zu stark unter dem Einfluß des Schultheißen. Während Sadagar diesen Überlegungen nachhing, zählte er sein Geld, seine liebste Beschäftigung. Dieser kleine Schatz, den er stets in einem Lederbeutel am Gürtel und versteckt un ter seinem Gewand trug, war seine Grundlage für einen gesi cherten Lebensabend. Wann und wo er sich einst zur Ruhe setzen wollte, wußte er selbst noch nicht. Denn obwohl er an die sechzig Winter zählte, fühlte er sich an Geist und Körper noch ziemlich jung. Fahrnas Vorhaltun gen, daß er ein alter, närrischer Bock sei, machten ihn nur lä
cheln. Er wußte es besser, und er wußte, daß sie das nur aus Eifersucht auf die jungen Maiden sagte, die er mit seiner magi schen Kunst und der Beschwörung seines persönlichen Schutzgeistes, des Kleinen Nadomir, allemal zu beeindrucken wußte. Wie etwa Barba, die blutjunge Tochter des Dorf schmieds Vatzmo, die seinen Rat in Liebesdingen gesucht hat te. Es klopfte. Sadagar raffte in fliegender Hast seinen Münzschatz zu sammen und ließ die Kupfer- und Silberlinge klirrend in den Lederbeutel fallen. Es waren sogar einige Goldstücke darun ter; ihren satten Klang, wenn sie in den Beutel fielen, mochte Sadagar besonders gerne. Gleichzeitig lauschte er dem Klop fen und kam zu der Ansicht, daß es ein dicker, fleischiger Knöchel sei, der da an seine Tür pochte. Das Klopfen wurde immer ungeduldiger, aber Sadagar dachte nicht daran, den Besucher sofort einzulassen. Nachdem er seine Münzen verstaut hatte, schlüpfte er in seine mit magi schen Zeichen bestickte Samtjacke, legte den breiten Ledergür tel mit der Löwenkopfschnalle um und überprüfte letztlich den Sitz der zwölf Wurfmesser, die im Gürtel steckten. Wäh rend er zur Tür trat, strich er sich noch einmal über das weiß blonde, gelockte Haar, das schon reichlich gelichtet war. Dann erst öffnete er die Tür. Draußen stand Gauda, die Frau des Wirtes. Ihr praller Leib sprengte fast die vier Lagen Stoff, die sie darüber trug, und sie war so breit, daß sie den Türstock mühelos füllte. »Hast du geschlafen, Wahrsager?« fragte sie in dem breiten Dialekt der Grenzländer und kam schnell in die Stube, Sada gar, der im Vergleich zu ihr wie ein Gnom wirkte, mit dem Bauch vor sich her schiebend. Sie blickte sich schnell um, ob jemand sie beobachte, dann schloß sie die Tür hinter sich. Sie schnaubte atemringend und fügte dann überhastet hinzu, wo
bei sie jedes Wort halb verschluckte: »Du mußt mir helfen, Steinmann Sadagar. Mein Oblatko hat sich dazu entschlossen, deinen Rat einzuholen, und das gefällt mir gar nicht.« »In welcher Sache will mich dein Mann denn befragen?« er kundigte sich Sadagar, dessen faltiges Gesicht nichts von sei ner Überraschung über die Absichten des Herbergswirts ver riet. Gauda trommelte sich auf den prallen Leib. »Es geht um das ungeborene Kind«, sagte die Wirtsfrau. »Schon von Anfang an haben ihn Zweifel an meiner Treue geplagt, obwohl ich ihm nie Anlaß dazu gegeben habe. Das wissen God und Erain und alle Götter, die es sonst noch geben mag. Aber Oblatko ist ein ungläubiger, argwöhnischer Klotz, der nicht einmal sich selbst traut. Nur aus diesem Grund zweifelt er seine Vaterschaft an. Jetzt hat er mir sogar angedroht, dich aufzusuchen, um von dir die Wahrheit zu erfahren. Das habe ich nicht verdient!« Sie begann so heftig zu schluchzen, daß ihre Körpermassen in zu ckende Bewegungen gerieten. »Aber wenn du ein reines Gewissen hast, brauchst du die Wahrheit nicht zu fürchten«, sagte Sadagar. Als sie ihn er schrocken ansah, stellte er ihr die Frage: »Oder hast du etwa Grund zu berechtigter Sorge, Gauda?« »Wie kannst du mich so etwas Beleidigendes fragen, Stein mann Sadagar«, erwiderte sie empört. »Ich habe nur Angst, daß du dich irren könntest. Oder vielleicht haben gar die bö sen Mächte aus der Schattenzone mein Ungeborenes beeinflußt. Aber ich gelobe bei God und Erain…« »Schon gut«, unterbrach Sadagar sie. »Wen hat dein Mann denn in Verdacht?« »Einen Barbaren«, sagte Gauda kleinlaut. »Es war ein kräfti ger, dunkelhäutiger Mann, wie wir ihn in Büttelborn noch nie gesehen hatten. Er kam auf der Flucht vor den Ugaliern in un ser Dorf, und ich gab ihm Obdach. Als Oblatko dahinterkam,
verjagte er den Barbaren. Wir hörten nichts mehr von ihm, und obwohl ich ihn nicht einmal angefaßt hatte, wurde ich bald darauf schwanger. Als Oblatko erfuhr, daß ein Kind un terwegs war, kam ihm sofort jener Verdacht, an dem er bis heute festhält. Du mußt ihm versichern, daß er im Unrecht ist, Wahrsager.« Sadagar wollte schon seine Bedenken äußern und auf seine Standesehre verweisen, als er sah, daß in ihrer fleischigen Handfläche ein paar Silbermünzen blitzten. »Nun ja«, sagte er überlegend. »Für wann erwartest du denn deine Niederkunft?« »Ich spüre noch überhaupt nichts, und so denke ich, daß es noch etliche Tage dauern wird, bis ich dran bin.« Sadagar überlegte sich, daß er dann längst schon weit in Dandamar sein könnte und eigentlich gar kein Wagnis ein ging, wenn er der Frau half. Er nahm die Silbermünzen schnell an sich und sagte: »Ich will dir helfen, weil ich von deiner Un schuld überzeugt bin. Und selbst wenn sich die Mächte des Bösen an der Frucht deines Leibes vergriffen haben, werde ich dafür sorgen, daß sich alles zum Guten wendet. Ich werde dem Kleinen Nadomir auftragen, es einzurichten, daß das Neugeborene deinem Oblatko wie aus dem Gesicht geschnit ten ist.« Sie kniete nieder und wollte ihm die Hände küssen, aber da ging die Tür auf, und die Runenkundige Fahrna trat ein. Sa dagar zog seine Hände schnell zurück und befahl der Wirtsfrau zu gehen. Sie warf ihm einen letzten flehenden Blick zu, der ihn an ihrer Unschuld zweifeln ließ, dann verschwand sie aus dem Zimmer. »Entschuldige, ich wußte nicht, daß du Damenbesuch hast«, sagte Fahrna und ließ sich ächzend auf einen wackligen Stuhl nieder, daß die Pergamente, die sie unter ihren Kitteln trug, raschelten.
Sadagar war es gewohnt, von seiner Begleiterin dauernd be krittelt zu werden. Was er auch tat, er machte es ihr nie recht. Wenn es ihnen schlechtging, warf sie ihm vor, daß er unfähig sei, für ihrer beider Sicherheit und Unterhalt zu sorgen. War er erfolgreich, dann bemängelte sie, daß er nicht mehr herausho le. Anfangs hatte er sie aus Mitleid bei sich behalten, aber mit der Zeit waren sie zu gut eingespielten Partnern geworden. Wohin immer sie kamen, war es Fahrna, die sich unter der Bevölkerung umhörte und ihn mit jenem Klatsch versorgte, den er brauchte, um seine Kunden durch Kenntnis ihrer Le bensumstände zu verblüffen. Fahrna war für ihn unentbehr lich geworden, so, wie sie ihn brauchte, um in einer Welt, in der das Böse immer mehr um sich griff, überleben zu können. Sadagar warf schmunzelnd die Münzen in die Luft, fing sie auf und verstaute sie in seinem Beutel. Das war seine Antwort auf Fahrnas Äußerung. »Freu dich nicht zu früh!« sagte sie, während sie sich des Kopftuchs und einiger Umhänge entledigte, die sie über die Schultern geworfen hatte. Sie fuhr sich durch das verschwitzte weiße Haar und blickte Sadagar dabei von unten herauf an. Das gab ihr einen Aus druck von Verschlagenheit, aber er wußte, daß diese Ange wohnheit, den Kopf gesenkt zu halten, auf ihren gekrümmten Rücken zurückzuführen war. Sie fuhr fort: »Es stehen schlimme Zeiten bevor. Wenn du etwas von der Wahrsagerei verstehen würdest, hättest du das drohend heraufziehende Unheil längst schon erkannt.« »Ha, was redest du?« rief er aus. »Habe ich nicht schon längst erkannt, daß das Flimmern im Süden von Nacht zu Nacht heller wird? Das nächtliche Leuchten der Schattenzone nimmt zu, und ich habe bereits letzten Herbst prophezeit, daß dies zu einem verstärkten Einfluß der bösen Mächte führen
wird. Das hat sich bewahrheitet.« »Dazu brauche ich keinen Wahrsager, das kann ich von je dem Bauern hören«, sagte Fahrna giftig. »Du warst noch nicht geboren, da habe ich schon davon reden hören, daß die Schat tenzone sich ausdehnt und die Dämonen der Schwarzen Ma gie immer mächtiger werden. Und doch steht die Welt noch. Aber sie wird bald untergehen, wenn nicht etwas geschieht, um den Inselhorden aus dem Westen Einhalt zu gebieten.« »Du sprichst, als wüßtest du etwas Genaues«, sagte Sadagar. »Was hast du herausgefunden, sprich schon!« »Warum läßt du es dir nicht vom Kleinen Nadomir flüs tern?« sagte Fahrna und erhob ihre schrille Stimme zu einem gackernden Kichern. »Wenn dein Schutzgeist schon nicht all wissend ist, so müßte ihm doch bekannt sein, daß die Caer auf dem Festland gelandet sind und Elvinon erobert haben. Nicht lange, und sie werden auch Darain überrannt haben.« »Ist das wahr? Woher willst du das wissen?« Fahrna gab nicht sofort Antwort. Sie fuhr umständlich damit fort, sich eines Kleidungsstückes nach dem anderen zu entle digen. Es war erstaunlich, wie viele Lumpen die alte Runenkundige an sich hatte. Sadagar hatte bei sich schon immer vermutet, daß sie Kleider, die sie einmal anlegte, nicht wieder abstreifte, sondern nur weitere darüberzog. Darunter verbarg sie dann eine große, aber unbestimmte Anzahl von Pergamen ten und Schriftrollen und Runenstücken, die sie wie ihren Augapfel hütete. Das war ihre ganze Habe, ihr wertvollster Schatz. Sie träumte davon, mit Hilfe dieser Unterlagen eines Tages die Runenbotschaft der Königstrolle zu entziffern. Sie zwinkerte ihm aus ihren in Runzeln eingebetteten listi gen Äuglein zu und sagte: »Ich war draußen am Weiher und habe dort einen Kurier aus Darain sterbend vorgefunden. Er trägt einen Brief seines Herzogs bei sich. Darin ergeht ein Auf ruf an alle Grenzposten, sich in der Hauptstadt des Herzog
tums einzufinden und sie gegen die Caer zu verteidigen, falls diese von Elvinon nach Darain weitermarschieren. Bevor der Kurier starb, hat er mir gesagt, daß Elvinon fest in caerischer Hand sei und Herzog Krude und seine Tochter zur Insel ge bracht wurden.« Sadagar war zum Fenster gegangen und blickte auf den Hauptplatz hinunter. Der Abend dämmerte, hinter einigen Fenstern waren die Lichter angegangen, über den Platz kamen drei tainnianische Soldaten auf die Herberge zu. Das Leben in Büttelborn schien seinen gewohnten Gang zu nehmen. »Seltsam, daß die Büttelborner diese schreckliche Kunde so gelassen aufnehmen«, sagte Sadagar. »Sie wissen noch gar nichts davon, ich habe es für mich be halten«, erwiderte Fahrna. »Ich dachte, du könntest etwas dar aus machen.« Sadagar nickte. Die Nachricht vom Fall Elvinons erschütterte ihn. Er überlegte sich, ob es nicht klug wäre, Pferde für sich und Fahrna zu kaufen, um vor den anrückenden Caer fliehen zu können. Büttelborn lag dicht an der Grenze von Dandamar und Ugalien, die einstweilen vor den Caer sicher sein würden, denn diese hatten es bestimmt vor allem darauf abgesehen, zuerst einmal ganz Tainnia zu erobern. »Diese eine Nacht können wir noch ruhig unter Oblatkos Dach schlafen, und morgen sehen wir dann weiter«, sagte Fahrna, als könne sie ihm seine Befürchtungen vom Gesicht ablesen. Vielleicht konnte sie es sogar, er war da nicht sicher. Die Runenkundige griff unter einen Rock und holte offenbar aus einer dort verborgenen Tasche einige Gegenstände hervor: Knochensplitter, Herbstblätter, Stücke von Baumrinden und dergleichen mehr. Darauf, das wußte Sadagar, hatte sie alles aufgeschrieben, was sie im Lauf des Tages über die Dorfbe wohner und voraussichtliche Kunden herausgefunden hatte. Dazu sagte sie: »Vielleicht hilft dir das weiter. Viel habe ich
heute nicht in Erfahrung gebracht. Aber ich bin fast sicher, daß Oblatko dich mit seinen Sorgen heimsuchen wird. War seine Frau deswegen hier? Sie steht wohl Höllenängste aus!« »Ich gehe an die Arbeit«, sagte Sadagar statt einer Antwort. Er ergriff die wie Fetische anmutenden Gegenstände, die Fahrna auf den Tisch gelegt hatte, und schob sie sich in den Ärmel der Samtjacke, wo in einer Tasche weitere Hilfsmittel verborgen waren. »Aber mach keinen Unsinn«, ermahnte ihn Fahrna keifend. »Ich möchte Büttelborn nicht bei Nacht und Nebel verlassen müssen. Übrigens war ich beim Schmied und habe mich mit seiner Tochter unterhalten. Ich will ja keinen Dämon heraufbe schwören, aber werweiß, ob sie Sommer nächsten Jahres nicht ähnliche Sorgen wie Gauda haben wird.« »Pfui!« sagte Sadagar. »Wie du dir das Maul über Dinge zer reißt, die dich nichts angehen, muß man bezweifeln, daß du adeliger Abstammung bist.« Das war ihr wunder Punkt. Immer wenn er die Sprache auf ihre Herkunft brachte, wurde sie entweder zornig oder schweigsam. Diesmal rief sie ihm eine Reihe von Flüchen nach, als er das dunkle Zimmer verließ und sich auf den Weg in die Schankstube machte.
Die Schankstube war bereits halb voll. Die drei Krieger aus dem Heer des Herzogs von Darain saßen mit einem jungen Barden am Tisch, der gegen Mittag ins Dorf gekommen war. Der blonde, jedoch dunkeläugige Mann zupfte mit feinfühli gen Spinnenfingern ein Saiteninstrument und sang dazu mit wehmütiger Stimme: »Im Jahre des Kometen
In einer Welt voll Licht…«
Die darainischen Grenzposten lauschten ihm aufmerksam, nur einer von ihnen, es war ihr Anführer Verian und Barbas Lieb haber, wandte sich zu Sadagar um und nickte ihm zu. Er hatte ein rotes, von Alkohol und Krankheit gezeichnetes Gesicht. Oblatko stand mit dem Rücken zum Schankraum und zapfte Wein von einem Faß. Durch eine offene Tür konnte Sadagar in die schmutzige Küche sehen, wo Gauda händeringend inmit ten ihrer Kinderschar stand. »Einen Krug Elchblut!« bestellte Sadagar und begab sich dann zu dem Tisch in der hintersten Ecke, der sein Stamm platz war, weil er hier weitgehend von störenden Einflüssen verschont blieb und eine Wand in seinem Rücken hatte. Au ßerdem gab es einen Vorhang, den er bei Bedarf vorziehen konnte. »… erkennt den falschen Propheten Und Dämonen sieht man nicht…«
Oblatko kam zum Tisch und stellte den Krug und eine bren nende Kerze hin. »Das ist umsonst«, sagte der Herbergsbesit zer und wischte sich die schwitzenden Hände an der Schürze ab. »Nichts ist umsonst«, sagte Sadagar mit einem weisen Lä cheln. »Wenn dich etwas bedrückt, dann setz dich her und schütte mir dein Herz aus. Aber denke nicht, daß ich mich mit einem Krug Wein zufriedengebe.« »Aber es ist ein Krug vom Besten!« behauptete der Wirt. »Aus Trauben, die im tiefsten Winter, nach dreißig Frostnäch ten, gelesen wurden. Ich selbst habe sie…« »Ich lese dir von den Augen die Sorgen ab, Oblatko, und ich lese darin auch, daß dir meine Hilfe drei Goldmünzen wert ist«, fuhr ihm Sadagar ins Wort. »Ziere dich nicht und über
winde deinen Geiz, dann werde ich dazu beitragen, daß wie der Zufriedenheit in dein Herz zurückkehrt.« »Drei Goldmünzen!« rief der Wirt aus, beugte sich über den Tisch zu dem Wahrsager und fragte: »Weißt du wirklich, was mich bedrückt? Wenn du es mir sagen kannst, dann will ich anerkennen, daß du deinen geforderten Lohn wert bist.« »Das ist ein Wort!« Sadagar setzte den Krug an, tat einen herzhaften Zug und reichte ihn dann Oblatko. »Ah, wirklich nicht schlecht. Aber wo ist das Gold?« Oblatko holte, ohne den Krug abzusetzen, unter seiner Schürze drei Goldstücke hervor, die er auf den Tisch knallte. Das Geräusch war wie Musik in Sadagars Ohren. Und dazu sang der Barde: »Die Zeit nach dem Kometen Das Böse greift um sich…« Sadagar begutachtete die Münzen. Zwei davon zeigten das Abbild des letzten tainnianischen Königs Arwyn. Die dritte war jedoch auf beiden Seiten völlig blank, bestand aber auch aus purem Gold. »Du bist ein guter Mann«, sagte Sadagar salbungsvoll und tätschelte den wulstigen Handrücken Oblatkos. »Du bist ein ganzer Mann, ein Bulle. Acht Prachtjungen nach deinem E benbild – und ein weiterer ist unterwegs. Er wird der stärkste und der klügste von allen sein. Du wirst meinen, God selbst hätte ein Stück von dir genommen und es beseelt.« »Ist das wahr?« fragte Oblatko. »Ein Junge? Und er wird sein wie ich?« »Ich sehe die Zukunft, ich sehe dich«, sagte Sadagar. »Der Tag seiner Geburt strahlt in hellem Licht. Dieser Tag wird die eheliche Treue deines Weibes Gauda lobpreisen.« »Und es gibt keine Schatten?«
Sadagar überlegte sich, ob er sich absichern solle, entschied sich aber dagegen. Er sah sich schon in den einsamen Wäldern von Dandamar, und mit etwas Glück würde Oblatko sogar in der Stunde der Wahrheit seinen Namen rühmen. »Licht! Licht!« rief Sadagar. »Ich sehe nur reines, ungetrübtes Licht. Die Zukunft ist eitel Wonne!« Oblatko sprang mit einem Jubelschrei auf und verkündete seinen verblüfften Gästen, daß die nächste Runde auf seine Rechnung gehe. Sadagar hatte in der nächsten Zeit so viel zu tun, daß er kaum zum Trinken kam. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen suchten ihn auf, um sich ihre Zukunft weissagen zu lassen. Der eine erkundigte sich danach, wie lange God ihm noch die Manneskraft gewähren werde, ein anderer wollte wissen, ob es ratsam sei, schon jetzt den im Sterben liegenden Onkel aufzusuchen, der drei Dörfer weiter südlich wohnte, oder ob es besser sei, seinen Tod abzuwarten, um ihn beerben zu können. Ein dritter wollte erfahren, ob er seine Viehherde noch vor dem Winter ins Karsh-Land treiben sollte, wo er sich einen guten Preis erhoffte, oder ob es klüger sei, bis zum kommenden Frühjahr zu warten. Sadagar riet ihnen allen, ihre Vorhaben so rasch wie möglich durchzuführen, weil schlechte Zeiten bevorstünden. Das tat er in Anbetracht der näher rü ckenden Caer, aber er ließ sich nicht näher darüber aus. Er wollte sein Wissen wirkungsvoller an den Mann bringen. Als nächster war der Anführer der darainischen GrenzWächter an der Reihe, Barbas Liebhaber. Verians Gesicht war nun noch mehr gerötet. »Mein Liebchen hat mir gesagt, daß sie bei dir war«, eröffne te er das Gespräch mit schwerer Zunge. »Sie war von deinen Weissagungen sehr angetan und schwebt seither in den Wol ken. Besonders entzückt war sie von dem heraufbeschworenen Geist, diesem winzigen Damian…«
»Kleiner Nadomir«, berichtigte Sadagar wohlwollend. »Alle, die ihn zu sehen bekommen, sind von ihm entzückt. Beson ders die Mädchen.« Der Krieger schnitt ihm das Wort mit einer unsicheren Handbewegung ab und fragte: »Stimmt es, daß du Barba end loses Glück an meiner Seite versprochen hast? Und daß wir uns bis ins hohe Alter lieben und sie mir eine Legion von Bäl gern gebären würde? Hast du ihr wirklich diese Flausen in den Kopf gesetzt? Sprich!« »Nun…«, begann Sadagar unsicher. »Wenn ihr euch liebt und zusammenbleiben wollt…« »Ich denke nicht daran, in diesem Nest alt zu werden«, schrie Verian wütend. »Ich komme hier vor Langeweile um. Eher werde ich fahnenflüchtig, als unter diesen Hinterwäld lern mein Leben zu fristen. Wie kommst du dann dazu, der Tochter des Schmieds solche Hoffnung auf mich zu machen?« Der Krieger hatte sich so in Wut geredet, daß er die Beherr schung verlor, sich auf den Wahrsager stürzte und ihn bei den Jackenaufschlägen packte. Sadagar hatte es kommen sehen, sich jedoch entschlossen, sich nicht handgreiflich zu Wehr zu setzen, sondern seinen Trumpf auszuspielen. Eine bessere Ge legenheit würde sich nicht mehr bieten. Er täuschte einen Schwächeanfall vor und begann unzu sammenhängend zu plappern. Da er sich den Büttelbornern schon einige Male in diesem Zustand gezeigt hatte, wandten sie ihm sofort ihre Aufmerksamkeit zu und scharten sich um seinen Tisch. »Er hat eine Eingebung«, murmelten sie. »Was ist das für eine Erscheinung, die dich plagt, Steinmann Sadagar?« fragten sie. »Ich sehe Blut«, murmelte er mit geschlossenen Augen. »Ein Meer von Blut. Und darauf die Schiffe der Caer. Sie ziehen gen Westen und morden und brandschatzen. Das Land an der
Straße der Nebel brennt. Elvinon geht in Schutt und Asche.« Seinen Worten folgte unheimliche Stille. Das Lied des Bar den war verstummt. In das Schweigen hinein sagte Barbas Liebhaber: »Das ist keine Kunst. Wir alle wissen, daß die Caer eines Tages ihre Eroberungspläne in die Tat umsetzen werden. Es fragt sich nur, wann das geschehen wird. Wer weiß, ob wir das noch erleben.« »Es ist bereits geschehen«, sagte Sadagar mit unheilvoller Stimme. »Elvinon ist caerisch. Es gibt keine Bastion mehr, die den Eroberern auf dem Weg nach Osten Widerstand leistet. Ich höre das Geklapper unzähliger Hufe, ich wittere den Ge ruch brennender Städte. Darain kommt in Sicht…« Sadagar brach ab, als vom Dorfplatz aufgeregte Stimmen er klangen und das Hufgeklapper eines einzelnen Pferdes zu hö ren war. »Kann es sein, daß dies der Bote ist, der uns die furchtbare Kunde bringt?« fügte er in der Hoffnung hinzu, aus dem Tumult vor der Herberge die richtigen Schlüsse zu zie hen. Und diesmal war ihm das Glück ausnahmsweise hold. Die Tür der Kneipe flog auf, und ein Mann stürzte herein. »Ein Kurier des Herzogs!« rief er aufgeregt. »Er ist tot… Sein Pferd hat ihn mitgeschleift… Aber in seiner Tasche ist eine Botschaft.« Verian sprang von seinem Platz auf und stürmte aus der Schankstube, die anderen Gäste folgten ihm ins Freie, selbst Oblatko watschelte hinter ihnen drein. Nur Sadagar und der Barde blieben zurück. Letzterer stimmte mit seinem Instru ment eine traurige Melodie an. Von draußen klang erregtes Stimmengewirr herein. Es dauerte nicht lange, dann kam die Menge wieder ins Lo kal zurück. Der Anführer der Grenzwächter hielt ein Perga ment in der Hand und versuchte die Schriftzeichen im Schein einer von der Decke hängenden Öllampe zu entziffern. Er war
von seinen beiden Kameraden und einer Menschentraube um ringt. »Es stimmt wahrhaftig«, sagte er schließlich. »Elvinon ist ge fallen. Unser Herzog befiehlt alle Krieger nach Darain zu rück… Die Caer überrennen ganz Tainnia.« Er ließ das Pergament sinken und sah seine Kameraden be deutungsvoll an. Dann sagte er: »Ihr habt es gehört. Wir sam meln uns am Wehrturm und reiten dann geschlossen ab.« Die Grenzwächter bahnten sich einen Weg ins Freie und zo gen die Schaulustigen mit sich. Sadagar ließ der Menge Zeit, sich zu zerstreuen, dann trat er ebenfalls auf den Dorfplatz hinaus. Es war eine kalte, sternenklare Nacht. Im Süden war der fer ne Silberstreif, der das Ende der Welt anzeigte, deutlich zu sehen. Er war schön und majestätisch, und doch ging alles Bö se und Dämonische dieser Welt von ihm aus. Das Pferd des herzoglichen Kuriers stand verlassen da. Die Leiche hatte man weggeschafft. Sadagar nahm das Pferd am Zügel und band es an der Koppel vor der Herberge fest. Wie zur Abwehr gegen Dämonen brachte er einige seiner nutzlo sen Fetische am Sattel an, so daß jeder sie sehen konnte. Kein Büttelborner würde es wagen, dem Tier zu nahe zu kommen. Er warf einen Blick zu dem Fenster seiner Unterkunft hoch und stellte fest, daß dahinter Licht brannte. Dann kehrte er in die Schankstube zurück, nahm den Krug von seinem Tisch und ging damit nach oben. Der Barde saß noch immer an sei nem Platz und schien seine Anwesenheit gar nicht wahrzu nehmen. Vermutlich dichtete er gerade an einer neuen Strophe seines Liedes. Als Sadagar oben angelangt war, vernahm er aus den Räu men der Wirtsleute ein Stöhnen, maß diesem aber keine Be deutung bei. Gutgelaunt öffnete er die Tür und betrat die Un terkunft.
Fahrna hatte den Vorhang ihres Bettes geschlossen. Durch den Stoff war das gedämpfte Licht einer Öllampe zu sehen. Das Rascheln von Pergament verriet ihm, daß die Runenkun dige eifrig am Lesen war. »Ich kann ohne Übertreibung sagen, daß ich einen erfolgrei chen Abend hinter mir habe«, sagte Sadagar. Er nahm einen Schluck Elchblut und fügte dann hinzu: »Ich habe dafür ge sorgt, daß wir morgen einen starken Abgang haben werden.« »Stör mich nicht«, sagte Fahrna. »Ich habe auch noch eine Überraschung«, sagte er. »Halt den Mund!« »Wir haben gute Aussicht, Büttelborn auf – einem Reittier zu verlassen«, fuhr er unbeirrt fort. »Viehdieb!« Sadagar überzeugte sich mit einem Blick aus dem Fenster, daß das Pferd des Kuriers immer noch unter ihrem Zimmer stand. Er rülpste, wartete jedoch vergeblich darauf, daß Fahrna ihn schalt. Sie mußte schon sehr in ihre Schriftstücke ver tieft sein, wenn sie diese Gelegenheit zum Schimpfen ver säumte. Der Elchwein zeitigte langsam seine Wirkung. Den noch trank er den Krug leer, bevor er sich, angekleidet, wie er war, zurück aufs Bett sinken ließ. Er konnte noch nicht lange geschlafen haben, als er unsanft geweckt wurde. Über sich erblickte er das häßliche Gesicht Fahrnas. Sie wirkte zierlicher als sonst, zumindest nicht so un förmig, was darauf zurückzuführen sein mochte, daß sie zum Schlafen einige Lagen ihrer Lumpen abgelegt hatte. Sie hatte die Öllampe gelöscht, aber es war eine helle Nacht, und der Mond spendete genügend Licht. »Hörst du das Schreien, Sadagar?« raunte sie. »Sind die Caer etwa schon da?« fragte er verschlafen zurück. »Dummkopf. So jammert nur eine Frau, die in den Wehen liegt«, erwiderte sie.
»Gauda?« »Wer denn sonst! Barba kommt erst in drei Jahreszeiten dran.« Sadagar war sofort hellwach. »Am besten, wir packen sofort das Nötigste zusammen«, beschloß er. »Nimm nur das mit, was wir wirklich brauchen, und verschnüre es zu zwei Bün deln. Mehr können wir nicht mitnehmen.« »Was hast du denn nun wieder angerichtet, daß du die Ge burt von Oblatkos Kind nicht abwarten willst?« fragte Fahrna zornig. »Ich?« fragte er voll Unschuld. »Ich überhaupt nichts. Ich halte nur nicht viel von Gaudas Treue. Mach schon, Fahrna. Wir müssen zusehen, daß wir unsere Habe zusammenpacken. Nur für alle Fälle.« Fahrna gehorchte, aber ihr Mundwerk kam keinen Atemzug lang zur Ruhe. Sadagar ließ ihr Gekeife ruhig über sich erge hen. Er würde das alles und noch viel mehr ertragen wollen, wenn nur nicht… »Das Schreien hat aufgehört«, sagte Fahrna auf einmal. »Es ist soweit.« »Versuche nicht die Dämonen!« ermahnte Sadagar sie. Der Schweiß war ihm aus allen Poren gekommen, und dabei war ihm kalt. Plötzlich erschollen vom Gang trampelnde Schritte, und dann pochte jemand wild gegen ihre Tür. Und Oblatko rief mit donnernder Stimme: »Aufmachen, Wahrsager!« Sadagar gab Fahrna ein Zeichen, still zu sein, doch sie wink te ab. Es war auch unsinnig anzunehmen, daß der Wirt sich wieder zurückziehen werde, wenn sich niemand meldete. Al so fügte sich Sadagar und ging zur Tür. Kaum hatte er sie geöffnet, als die Pranke des Wirtes zupack te und ihn auf den Gang zerrte.
»Ich muß dir was zeigen, Wahrsager«, sagte er mit unheil schwangerer Stimme und drängte ihn vor sich her zu den Räumen, die er mit seiner Familie bewohnte. »Jetzt kannst du dich mit eigenen Augen davon überzeugen, ob du auch wirk lich wahr gesprochen hast.« Oblatko stieß ihn in ein Zimmer. Dort waren alle acht Söhne in einer Reihe angetreten. Sie trugen nur ihre schmuddelige Unterwäsche. Im Hintergrund stand der Schultheiß neben ei nem zerwühlten Bett, aus dem die Knie eines abgewinkelten Beinpaares ragten. Aus dem Deckenberg erklang das Krei schen eines Neugeborenen. »Sieh dir meine Söhne an, Wahrsager!« wetterte der Wirt und drehte Sadagar in ihre Richtung. »Schau sie dir einen nach dem anderen genau an und sage mir, ob sie mir nicht wie aus dem Gesicht geschnitten sind. Es sind Prachtjungen, mein Stolz. Bei keinem von ihnen ist mir je der geringste Zweifel an meiner Vaterschaft gekommen. Aber nun sage mir, was ich davon halten soll!« Er gab dem Ortsvorsteher, der offenbar als Geburtshelfer gewirkt hatte, ein Zeichen, und Brockel griff in den Decken berg hinein und hielt das Neugeborene an den Beinchen in die Höhe. Das Kind war tief dunkelhäutig und hatte gelocktes schwar zes Haar. O untreue Gauda, was hast du mir angetan! dachte Sa dagar. Aber da er mit etwas Ähnlichem gerechnet hatte, faßte er sich schnell und sagte: »Also ist doch ein Schatten auf das Kind gefallen. Ich kann es mir nur so erklären, daß die Pries terschaft der näher rückenden Caer einen schlechten Einfluß auf die Geburt deines Sohnes genommen hat.« »Es ist ein Mädchen!« sagte Oblatko, als sei das Geschlecht viel schlimmer zu werten als die Hautfarbe. »Auch das noch«, sagte Sadagar bekümmert. »Aber ver
zweifle nicht, Oblatko. Noch ist es nicht zu spät, den Schatten von dem Kindlein zu nehmen. Der Schultheiß soll es schon waschen. Eine gründliche Waschung ist die beste Vorausset zung für einen wirksamen Gegenzauber. Immer wieder wa schen! Ich treffe inzwischen meine Vorbereitungen.« »Alles Schwindel«, sagte Brockel. »Das ist das Kind von ei nem schwarzhäutigen Wilden.« »Nein! Nein!« kreischte Gauda. »Wir kriegen das hin«, versprach Sadagar dem Wirt. »Diesen Schatten nehme ich spielend von dir. Dann liegt einer strah lenden Zukunft nichts im Wege.« »Glaube ihm kein Wort, Oblatko!« riet der Schultheiß. »Und die Schande?« erwiderte der Wirt verzweifelt. »Ich muß es versuchen. Aber glaube nicht, mich täuschen zu kön nen, Wahrsager. Wenn das Kind nicht meine Haarfarbe und meine rosige Haut bekommt, dann reiße ich dich in Stücke.« Sadagar kehrte zu seiner Unterkunft zurück. Oblatko beglei tete ihn. Als er ihm ins Zimmer folgen wollte, sperrte ihn Sa dagar mit der Begründung aus, daß Uneingeweihte bei seinen magischen Riten nicht anwesend sein durften. Oblatko blieb jedoch vor der Tür stehen. »Ich habe alles mitgehört«, raunte ihm Fahrna zu, nachdem Sadagar die Tür verriegelt hatte. »Schlimmer hätte es gar nicht kommen können. Was nun?« Sadagar sah, daß drei Bündel mit ihren Habseligkeiten be reitlagen, und ging zum Fenster. Mit einem Blick überzeugte er sich davon, daß das Pferd noch da war. Er öffnete das Fens ter und kletterte hinaus. »Ich springe zuerst, und du folgst mir«, sagte er. Aber Fahrna weigerte sich mit der Begründung: »Ich bin eine alte Frau.« »Wenn du nicht willst, dann bleibst du eben zurück.« Ohne ein weiteres Wort sprang Sadagar in die Tiefe, unter
jeden Arm ein Bündel geklemmt. Er landete geradewegs im Sattel, was er sich nie zugetraut hätte. Aber der Aufprall ver ursachte ihm solche Schmerzen im Schritt, daß er den Kleinen Nadomir anrief. Nur brachte das keine Linderung. Er rief Fahrnas Namen, und die alte Runenkundige warf ihm daraufhin das letzte Bündel zu und kam anschließend selbst aus dem Fenster geklettert. Aber sie sprang nicht. Sie hielt sich hartnäckig am Sims fest. Erst als Sadagar sich streckte und sie an den Knöcheln zu fassen bekam, ließ sie los. Sie fiel quer über den Hals des Pferdes und drehte sich dann so ungeschickt herum, daß sie mit dem Rücken nach vorne vor Sadagar saß und ihm ihr Gesicht zeigte. Aber er nahm diesen Anblick vorerst in Kauf, band das Pferd los und trieb es zu einem halsbrecherischen Galopp an. »Im Schlaf braucht dein Körper von allem weniger. Sei es Nahrung oder Atemluft oder etwas Ungreifbares wie Liebe und fürsorgliche Betreuung. Was dir auch einfällt, im Schlaf braucht der Körper nur wenig oder gar nichts davon. Und dabei kann er zu Kräften kommen.«
An diese Worte seiner Ziehmutter Entrinna wurde Mythor beim Erwachen erinnert. Er hatte sie oft von ihr gehört, vor nehmlich in Zeiten der Not, wenn die Marn zu Sparsamkeit genötigt wurden und deshalb ihre ausgedehnten Ruhepausen einlegen mußten. Mythor erinnerte sich auch noch gut daran, wie wenig er vom Ausruhen gehalten hatte. Er war nie einer gewesen, der stillhalten konnte, er war zu allen Zeiten von einer Rastlosigkeit erfüllt gewesen, der die Marn nur mit Ver ständnislosigkeit begegneten. Doch als er nun im Erwachen merkte, daß er nach den ver gangenen Mühen erholt und von neuer Kraft erfüllt war, er kannte er die Wahrheit dieser Worte. Noch bevor er die Augen öffnete, wurde er des sanften Wie
gens gewahr. Er wußte schlagartig wieder, was geschehen war. Nyala, Herzog Krude und er waren von seltsamen See leuten aus dem sinkenden Yarlpanzer gerettet und auf deren fremdes, unheimliches Schiff geholt worden. Als er sich umblickte, fand er sich in einer engen, niedrigen Koje liegen. Die Kajüte war auch nicht viel größer, aber sie be saß ein Bullauge, durch das diffuses Licht hereinfiel. Dahinter herrschte dichter Nebel. Vorsichtig schwang er die Beine über den Kojenrand und stellte sie auf den Boden. Er lag auf dem untersten Lager und war völlig nackt. Auf dem Boden waren seine Kleider ordent lich ausgelegt. Er griff danach, und als er feststellte, daß sie trocken waren, kleidete er sich an. Der Fellrock und das ärmellose Lederwams wärmten ihn angenehm, und als er die Pelzstiefel anzog und sie verschnür te, kam auch die Wärme in seine Füße zurück. Erst jetzt wurde er sich bewußt, wie kalt alles in dieser Kajüte war. Das Holz des Bodens und der Wände strahlte diese eisige Kälte aus, und dieses Holz sah aus wie versteinert. Als habe es viele Men schenalter hindurch in dichtem Urboden gelagert und sei dann ausgegraben worden. Und als hätten die seltsamen Gesellen mit den kalten Händen und den knackenden Gelenken daraus Bretter und Spanten geschnitten und sie mit Eis zu diesem Schiff verleimt. Darum diese Kälte. Das Schiff hatte keine See le. Und die Besatzung? Mythor stellte beim Ankleiden fest, daß in der Koje über ihm Herzog Krude lag. Über den Rand der dritten und obersten Koje sah er Nyalas schwarzes Haar wallen; ihr Zopf hatte sich völlig aufgelöst. Das Gewand der beiden lag ebenfalls auf dem Boden. Mythor hob Nyalas rotes Kleid und ihre Sandalen auf und legte beides in ihre Koje. Er blickte kurz durch das Bullauge, ohne etwas anderes als Nebel zu sehen, dann wandte er sich der Tür zu. Als er da
vorstand, zögerte er kurz, denn ihm fiel das Schwert ein, das er einem Caer abgenommen hatte. Aber es war nirgends in der Kabine zu sehen. Daraus glaubte er schließen zu können, daß man sie weniger als Schiffbrüchige ansah, sondern vielmehr als Gefangene. Er öffnete dennoch die Kajütentür und trat hinaus. Er fand sich auf Deck wieder. Ein kalter Windhauch ließ ihn frösteln, und das zeigte ihm, wie warm es eigentlich in der Kajüte gewesen war. Er dachte, daß die Kajüte voller Leben war im Vergleich zu dem übrigen Schiff, das er nun zum ers tenmal genauer in Augenschein nehmen konnte. Es hatte nur einen einzigen Mast mit einem einzelnen, vier eckigen Segel, das gebläht war, obwohl nur eine leichte Brise ging. Auf das erdfarbene Segel war ein großer goldener Stern gemalt, der nur elf Zacken hatte. Der Platz für die zwölfte Za cke war frei, als sollte damit symbolisiert werden, daß sie aus gebrochen sei. Die Takelage bestand aus dicken, ölig wirken den Seilen, die so straff gespannt waren, daß sie keinen Fin gerbreit durchhingen. Mythor sah sieben Männer über das Deck verteilt, drei auf dem Mitteldeck, zwei auf dem Heck und zwei auf den Bugaufbauten. Sie regten und rührten sich nicht – als seien sie Sta tuen! Einer der Seefahrer stand nur zwei Schritte von Mythor entfernt, ohne daß er ihn wahrzunehmen schien. Er stand auf dem Vorschiff. Ihre Unterkunft befand sich in den Bugaufbauten, so daß er von dort, wo er stand, die eigen artige Galionsfigur nicht sehen konnte, die Nyala und ihm sol chen Schrecken eingejagt hatte. Die Heckaufbauten waren größer, bestimmt weitaus geräu miger in ihrem Inneren, und waren in Mannshöhe mit Wap penschilden verziert. Auch auf den Schilden fand sich das Zei chen des elfeckigen Sterns mit der ausgebrochenen Zacke wie der. Die Heckaufbauten besaßen nur eine einzelne Tür, wäh
rend auf Mythors Seite deren zwei waren. Die andere, so ver mutete er, mußte unter Deck führen. Das Deck war geschlos sen; es gab aber neben dem Mast eine Schachterhebung mit einem zweiflügeligen Deckel. Dort standen zwei der Seefahrer, als hielten sie Wache. Der Mann vor ihm schien Nyala und ihren Vater und ihn zu bewachen, obwohl er sich in keiner Weise um Mythor kümmerte, als dieser noch einen Schritt nä her trat, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Er sah auch aus nächster Nähe nicht weniger unheimlich aus. Seine Haut schimmerte immer noch, wie es Mythor in Erinnerung hatte, in Gletscherblau und war doch von einer wahrhaften Totenblässe. Er schien nur aus einem von Sehnen und Muskelsträngen zusammengehaltenen Gerippe zu beste hen, um das sich die Haut spannte. Die Augen, tief im Schat ten der Augenbrauenwülste liegend, waren dunkle Punkte ohne den geringsten Schimmer. Es waren keine menschlichen Augen, sondern zwei seelenlose Ballungen aus Schwärze. So eigenartig wie der Mann selbst war auch sein Gewand. Es bestand aus lauter Schuppen, die den gesamten Oberkörper und die Arme bis zu den Ellbogen, den Unterleib und die O berschenkel wie eine zweite Haut bedeckten. Die Unterarme und Hände waren frei, nur um das linke Handgelenk spannte sich ein Reif aus ebensolchen Schuppen. Die Füße waren eben falls bis zu den Knöcheln beschuppt, als steckten sie in einem kurzen Strumpf. Er war barhäuptig und hatte dichtes, sich ringelndes und sträubendes Haar von Fingerlänge. Es glänzte wie eingeölt. Aber der Mann hatte eigenartigerweise überhaupt keinen Ge ruch an sich. Mythor war es gewohnt, Menschen zu riechen; auf diese Weise konnte er jederzeit einen Marn von einem Fremden unterscheiden. Darum verwirrte es Mythor, daß die ser Fremde überhaupt keine Ausdünstung hatte. Wenn er die Augen schloß, roch er überhaupt nichts, nicht einmal das Salz
des Meeres. Der Fremde rührte sich noch immer nicht, und so konnte Mythor auch in Ruhe seine Waffe betrachten. Es war das selt samste Kriegsgerät, das er je gesehen hatte. Es sah aus wie eine Lanze von Übermannslänge, aber ob wohl es bis zum Handgriff in der Mitte eine zweischneidige Klinge aufwies, besaß es keine Spitze zum Stechen, sondern endete in drei sternförmig auseinanderlaufenden Haken, wie sie zum Entern geeignet waren. Das andere Ende der Haken lanze endete in einer Keulenverdickung. Damit stützte er sich auf dem Boden auf. Mythor wollte an dem Seekrieger vorbei. Doch da kam un vermittelt Bewegung in ihn. Sein rasselnder Atem und das Ächzen und Knarren seiner Gelenke vermischten sich zu ei nem fremdartigen Geräusch, als er die Waffe herumschwang und Mythor mit der Keule einen Stoß vor die Brust versetzte. »Mythor!« erklang da Nyalas Stimme aus der offenen Kajüte. »Sei vorsichtig.« Sie erschien in der Tür, das rote, leicht durchsichtige Ge wand vor ihre Blößen haltend. Mythor war durch den heftigen Schlag gegen die Aufbauten gestoßen worden. Und von dort sah er, wie der Beschuppte bei Nyalas Anblick die Arme vor das Gesicht hob und zurücktaumelte. Dabei entrang sich ihm ein heiseres, tierhaftes Krächzen. Die Arme in Gesichtshöhe, den Kopf abgewandt, so taumelte er zurück. »Seltsam«, sagte Nyala. »Es sieht so aus, als würde mein An blick den Seelenlosen zutiefst entsetzen. Was ist an mir, das ihn so ängstigt?« »Es könnte daran liegen, daß du eine Frau bist«, sagte My thor. Er betrachtete sie mit wohlgefälligem Schmunzeln. »An ders kann ich sein Benehmen nicht deuten, denn an dir ist wirklich alles so, wie es an einer Frau sein soll.« »Mythor, wie kannst du nur!« sagte sie tadelnd und schlug
ihm die Tür vor der Nase zu. Auf einmal war um Mythor wieder das seltsame Lautge misch von Rasseln und Ächzen. Zwei sehnige, beschuppte Gestalten kamen von den Bugaufbauten gesprungen. Sie ver riegelten mit einem dicken Balken die Kajütentür und nahmen dann mit erhobenen Waffen davor Aufstellung. Kaum standen sie still, kam kein Laut mehr von ihnen. Als Mythor einen Schritt auf sie zumachte, stießen sie ihm beide wie auf einen unhörbaren Befehl hin die Keulenenden ihrer Lanzen vor die Brust. Sie waren so schnell, daß Mythor ihren Schlägen nicht ausweichen konnte. In die Stille hinein ertönte ein Krachen. Als Mythor herum wirbelte, sah er, daß die Tür bei den Heckaufbauten aufgeflo gen war. Darin tauchte ein Mann auf, der sich von den ande ren nicht wesentlich unterschied. Seine Kleidung war die glei che, sein Gesicht ebenso knochig und sehnig und sein Hals unter hervortretenden Muskelsträngen angespannt. Nur sein Haar war locker und leicht und wirbelte beim leisesten Luft zug wie eine schwarze Flamme. Er schien Mythor aus dunkel lodernden Augen geradewegs anzusehen. Und dabei schwang er ein dickes Geflecht wie aus ge schmeidigem Leder von einer Hand in die andere. Es war ein an beiden Enden verdickter Knüppel, und mal ließ er das eine Ende links von sich und dann wieder das andere rechts von sich gegen die Aufbauten knallen. Das dadurch hervorgerufe ne Geräusch klang wie ein Trommeln. Mythor bekam von hinten einen Stoß und machte ein paar Schritte in Richtung des Neuankömmlings. Als er stehenblieb, begann der andere wieder auf diese eigenartige Weise zu trommeln, ungeduldiger und herrischer diesmal. Da verstand Mythor und ging auf ihn zu. Beim Näherkom men erkannte er, daß es sich um einen Jüngling handelte, der um drei oder vier Lenze weniger zählen mochte als er selbst.
Er trat einen Schritt zur Seite, um Mythor Platz zu machen, und deutete mit seinem Knüppel durch die Tür. Dabei sagte er mit kehliger, undeutlicher Stimme: »Komm herein!« Es hörte sich an, als habe sein Mund schon seit undenklichen Zeiten keine Worte mehr geformt. Aber es überraschte My thor, daß er des Sprechens überhaupt mächtig war. Er trat an dem Jüngling vorbei in eine geräumige Kapitäns kajüte, deren rückwärtiger Teil eine Reihe verglaster, bunt bemalter Fenster aufwies. Die farbigen Scherben ergaben zu sammen ein Bild, das ein herrschaftlich gekleidetes Paar dar stellte. Es waren ein Mädchen und ein Jüngling. In dem Jüng ling glaubte Mythor sein Gegenüber zu erkennen. Das Glas mit dem Kopf des Mädchens fehlte. »Was ist das für ein Schiff?« fragte Mythor. Der Jüngling mit dem flammenden Haar sah ihn nur an. My thor hatte den Eindruck, daß seine unergründlichen Augen Trauer und Wehmut widerspiegelten. Aus seiner Stimme sprach eine trostlose Einsamkeit, als er sagte: »Mein Name ist Nigomir. Und deiner?« »Dann ist das die Goldene Galeere!« entfuhr es Mythor. »Die sagenumwobene Goldene Galeere aus den Eislanden, auf der ein Fluch König Irkens liegen soll?« Der Jüngling gab keine Antwort. Er ging um den Tisch, auf dem sich ein Berg von abgegriffenen Seekarten türmte. Er fuhr mit einer knarrenden Bewegung durch die Karten, den Blick dabei ins Leere gerichtet. Er wollte etwas sagen, aber über sei ne blutleeren Lippen kam nur eine Reihe von unverständli chen Lauten. Er räusperte sich krächzend, dann hatte er die Stimme wiedergefunden. »Ich finde nicht den Weg zurück«, sagte er. Es klang verzweifelt, hoffnungslos. Mythor wußte darauf nichts zu sagen. Er dachte an die Wor te Calcos’, der ihm die Nigomir-Legende erzählt und gesagt hatte, daß es noch niemandem gelungen sei, sich diesem Geis
terschiff zu nähern oder gar seinen Fuß darauf zu setzen. »Ich fahre die Meere ab!« rief Nigomir unvermittelt und so laut, daß Mythor zusammenzuckte. »Ich kreuze alle Gewässer! Aber wohin ich mich wende, ob nach Norden, Süden, Westen oder Osten, ich finde keine Passage! Ich finde nicht zu mir!« Er brach plötzlich wieder ab. »Ist es wahr, was man sich erzählt?« fragte Mythor. »Es heißt, daß du durch den Tod deiner Schwester große Schuld auf dich geladen hast.« »Karen«, sagte Nigomir. Und dann schrie er den Namen: »Karen!« Er sank hinter dem Kartentisch in den Sitz, ließ mit einer un gestümen Handbewegung seine Gelenke knacken, dann er starrte er, den Blick ins Nichts gerichtet. »Kann ich dir helfen?« fragte Mythor. »Hast du uns deshalb an Bord geholt?« Nigomir rührte sich nicht. Er war eine mitleiderregende Ges talt, obwohl er einen starken Willen vermittelte, eine Kraft, die er aus einem nicht versiegenden Quell zu schöpfen schien. Aber er war gleichzeitig ein Verdammter, mit einem in einem Irrgarten Eingeschlossenen vergleichbar, der im Kreise läuft und dabei seine Kräfte vergeudet. Nigomir schwieg, und so fragte Mythor: »Sind wir deine Ge fangenen?« Nigomir sprang abrupt auf, ging zu einem Waffenschrank und holte das Caer-Schwert heraus, das Mythor bei sich ge habt hatte. Er streckte es ihm mit einer eckig wirkenden Bewe gung hin. Mythor rührte es nicht an und sagte: »Es sei dein Pfand. Wo zu sollte ich auf deinem Schiff eine Waffe brauchen?« Nigomir gab keine Antwort. Er hielt das Schwert noch im mer. Er schien Mythors Verhaltensweise überhaupt nicht ver stehen zu können. Entweder konnte dieser Verdammte, der
nur von Seelenlosen umgeben war, überhaupt nicht mehr mit normalen Menschen umgehen. Oder aber in ihm waren die Kräfte der Schattenzone mit seinem ureigensten Wesen in ei nem ständigen Widerstreit, so daß er sich mit Wirklichkeiten nicht mehr abfinden konnte. »Geht jetzt!« verlangte Nigomir. »Ihr dürft euch auf meinem Schiff frei bewegen. Auch dieses… Geschöpf. Aber es soll das Gesicht verschleiern.« »Du meinst Nyala«, stellte Mythor fest. »Sie ist die Tochter Herzog Krudes von Elvinon. Warum versetzt ihr Anblick dei ne Männer in Schrecken?« »Sie sehen Karen in ihr«, antwortete Nigomir, und der Schmerz der Erinnerung brach ihm die Stimme. »Meine Män ner werden darüber hinwegkommen.« Er sagte es, als könne er dies für sich nur vergebens hoffen. Mythor wandte sich der Tür zu. »Eines merkt euch!« rief Nigomir ihm nach. »Geht nicht un ter Deck! Achtet dieses Verbot, oder…« Nigomir ließ die Dro hung in der Schwebe. Mythor verließ die Kapitänskajüte und strebte dem Bug zu. Dabei stellte er fest, daß die beiden Wachtposten verschwun den waren und die Mannschaft verschiedenen nautischen Be schäftigungen nachging. Wäre nicht ihr ungewöhnliches Aussehen gewesen und hätte man das Ächzen und Rasseln überhört, das sie von sich gaben, hätte man sie für normale Seeleute halten können. Der unheilvolle Bann des ersten Augenblicks schien ver weht. Aber etwas Drohendes und Geheimnisvolles blieb zu rück. »Geht nicht unter Deck!« hatte Nigomir gedroht. Mythor hätte zu gerne gewußt, was der Verdammte der Meere dort vor ihnen verbarg.
»Um meines Vaters willen, tu es nicht, Mythor«, bat Nyala und drückte dabei seine Hände. »Und wenn schon sein Schicksal dich nicht rührt, dann denke wenigstens an mich. An uns!« »Eben weil mir unser aller Wohl am Herzen liegt, muß ich sehen, was sich unter Deck verbirgt«, erwiderte Mythor. Er war nicht bereit, den einmal gefaßten Entschluß zu revidieren. Er fuhr fort: »Auf diesem Schiff liegt ein Zauber, in dessen Bann der Verdammte mit seinen Seelenlosen steht. Wenn es im Bauch des Schiffes etwas gibt, von dem diese Schwarze Magie ausgeht, dann kann ich den Zauber vielleicht löschen. Und dann wäre Prinz Nigomir unser Verbündeter. Darum muß ich es wagen, Nyala. Und du mußt mir helfen.« In der mittleren Koje rührte sich etwas, dann tauchte dort das bärtige Gesicht Herzog Krudes auf. »Tu, was er verlangt, meine Tochter«, sagte Krude von Elvinon mit schwacher Stimme. »Mythor ist ein Mann, der weiß, was er will.« Nyala wechselte einen Blick mit ihrem Vater, dann nickte sie. »Also gut. Wenn auch du es sagst, dann werde ich Mythors Willen nachgeben. Aber ich kann mich der Ahnung nicht er wehren, daß dieses Vorhaben nicht zum Besseren führt.« Mythor drückte sie dankbar an sich, dann ließ er sie los. »Du weißt, was du zu tun hast.« Nyala verhüllte ihr Gesicht mit einem Stück ihres roten Ge wands und verließ mit Mythor die Kajüte. Die Goldene Galeere war immer noch in dichten Nebel gehüllt. Aber das Meer war nun nicht unnatürlich glatt, sondern ziemlich bewegt. Ein rau her Wind wehte. Nyala hielt mit einer Hand den Schleier vor dem Gesicht und schritt langsam und sich mit der anderen Hand an der Bordwand abstützend über Deck. Niemand von der seelenlosen Mannschaft schenkte ihr Be achtung. Es waren wieder sieben Mann an Deck, und Mythor
mutmaßte, daß dies alle Getreuen waren, die Nigomir noch hatte. Mythor blieb bei den Heckaufbauten und tat, als wolle er den Nebel mit den Blicken durchdringen. Dabei beobachtete er jedoch unablässig die Männer und den Zugang zur Kapi tänskajüte. Dort rührte sich nichts; Prinz Nigomir ließ sich nicht blicken. Jetzt bewegte sich Mythor langsam auf den abgedeckten Schacht zu, wo zwei Mann Wache standen. Als Mythor nur noch vier Schritte von ihnen entfernt war, sah er aus den Augenwinkeln, wie der Wind Nyala den Schleier aus der Hand riß und ihn davon wehte. Kaum war ihr Gesicht unbedeckt, da prallten die Seelenlosen wie geblendet zurück, wandten sich krächzend ab, taumelten davon. Mythor war mit drei schnellen Sätzen beim Schacht, hob die beiden Flügelklappen an und kletterte die schmale, senkrechte Leiter in die Tiefe. Er vermerkte sofort mit Unbehagen, daß auch hier unten nichts von den Gerüchen zu merken war, die Laderäume von Schiffen sonst an sich hatten. Es war düster, und schon beim ersten Schritt verfing er sich mit einem Bein in einem aufgerollten Tau. Gleich darauf stieß er gegen eine Truhe. Er öffnete sie. Als sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, sah er, daß die Truhe voller Frauenkleider war. Er holte ein Kleid heraus und stellte fest, daß es am Busen zerfetzt war und dunkle Flecken aufwies. Blut? Waren das Karens Kleider? Der Laderaum erstreckte sich an dieser Stelle über die ganze Schiffsbreite. An beiden Seiten konnte er die erhöhten Ruder bänke sehen, doch die Aussparungen für die Riemen waren leer. Aber wenigstens fiel etwas Tageslicht durch die Öffnun gen. Heckwärts stapelten sich Fässer und Kisten. Auf der anderen Seite endete der Laderaum nach drei Schritten. Dort war eine Tür, die vermutlich in die Mannschaftsräume führte. Mythor
versuchte sich an ihr, aber sie war so fest, als sei sie mit der Wand verwachsen. Er blickte sich um, konnte jedoch nichts entdecken, was ihn an Dämonen oder Zauberei gemahnte. Er kletterte zur Galerie mit den Ruderbänken hoch, konnte jedoch auch hier nichts Ungewöhnliches finden. Und er vermochte auch von hier nicht hinter die Trennwand zu gelangen, hinter der er die Mannschaftsunterkünfte vermutete, denn die Galerie war mit Brettern vernagelt. Auf der anderen Seite war es dasselbe. Was für ein seltsames Schiff! Hatte man einst auf der Golde nen Galeere die Rudersklaven eingemauert? Aber das war nicht das, was er wissen wollte. Er suchte nach dem Geheimnis, das der Leib dieses Schiffes barg. Nun wandte er sich dem Heck zu, den Stapeln vertäuter Kis ten. Auch dort waren die Ruderbänke durch Verschlage abge sondert. Es hätte ihn nicht gewundert, angekettete Skelette vorzufinden. Aber nichts dergleichen, es gab hier unten keine Spuren menschlicher Schicksale… abgesehen von der Truhe mit Frauenkleidern. Je weiter er nach achtern vordrang, desto dunkler wurde es. Er trat auf ein Hindernis, das raschelnd nachgab. Als er sich danach bückte, sah er, daß er die Überreste getrockneter Blü ten in Händen hielt. Er zerrieb sie zwischen den Fingern zu Staub. Waren es Blumen, die einst Karens sterbliche Hülle geziert hatten? Er war fast sicher, daß er in all den Kisten Andenken an Nigomirs leidenschaftlich geliebte Stiefschwester finden würde – und in den Fässern Öle, mit denen sie ihrer jugendli chen Haut zu blühender Frische und zu verführerischem Duft verholfen hatte. Mythor prallte auf einmal zurück. Nichtsahnend war er hin ter einen Stapel von in Segeltuch verpackten Ballen getreten – und stand plötzlich vor einem metallenen Sarg.
Er war von schlichter Form, nicht einmal der Deckel wies ei ne Verzierung auf. Er war glatt und kalt. Mythor zog die Fin ger sofort zurück, die er über die ebene Fläche gleiten ließ, denn er hatte das Gefühl, daran haftenzubleiben. Er kannte das Metall nicht, aus dem der Schrein gefertigt war. Er wußte nur, daß es weder Gold noch Silber war und natürlich auch nicht Schmiedeeisen. Und doch wirkte er kost barer, als bestünde er aus Edelsteinen. Mythor zögerte. Er hätte gerne gewußt, was dieser Schrein barg, obwohl er es ahnte. Er zögerte nicht, weil er den zu er wartenden Anblick fürchtete. Er hatte bloß eine Scheu davor, an etwas zu rühren, das Nigomir heilig war. Durfte er sich erdreisten, das Andenken des Verdammten zu entehren? Doch was konnten ihm Aberglaube und übertriebene Rühr seligkeit bedeuten! Hier ging es um Zauberei. Und wenn es Karens unseliger, von einem Dämon besessener Geist war, der die Goldene Galeere in Bann hielt, durfte er auch nicht zögern, dem Spuk ein Ende zu machen. Es mußte sein! Er packte den Sargdeckel an beiden Seiten am unteren Abschluß. Das Metall war erstaunlich leicht – aber diese Kälte! Mythor meinte schon bei der ersten festeren Be rührung, die Finger würden ihm abfrieren. Aber er biß die Zähne zusammen und schob den Deckel am Kopfende zur Seite. Er nahm es als gegeben an, daß die Kopfseite in Fahrt richtung stand. Und Mythor hatte richtig geraten. Aber – bei God! – aus dem Sarg blickte ihm kein Frauenantlitz entgegen. Er blickte in das obsidianstarre Maskengesicht eines Caer-Priesters. »God!« entfuhr es Mythor fassungslos. Es war zum zwei tenmal, daß er die tainnianische Gottheit anrief, obwohl er Inicht an sie glaubte; es war wohl auch mehr ein Ausdruck sei ner grenzenlosen Überraschung, in dem Schrein, der als letzte Ruhestätte für eine eisländische Prinzessin gedacht war, einen
Dämonenpriester der Caer vorzufinden. Und dazu noch einen, den er kannte: Drundyr! Es war unverkennbar der CaerPriester, dem er sein Leben und die Gefangenschaft auf der Durduune verdank – und dessen dämonischen Fängen er ent kommen zu sein glaubte, Drundyr, der beim Angriff des Vall saven über Bord gegangen war und den Mythor auf dem Grund des leeres oder im Bauch des Ungeheuers wähnte. Aber war er nicht trotzdem tot? Seine magere, wie ausge dörrt wirkende Gestalt, von der nur die Hände und das Ge sicht aus dem Magiergewand ragten, schien blutleer und leb los zu sein. Etwas an ihm war jedoch, was Mythor dazu ge mahnte, kein voreiliges Urteil zu fällen. Es war etwas Ungreif bares, eine Ausstrahlung, die Mythor nicht zu deuten wußte. Vielleicht war der Körper dieses Magier-Priesters tot. Aber etwas in ihm lebte. Der Dämon in ihm! Dieses unheilige Le ben, diese Macht aus der Schattenzone, mußte Mythor auslö schen. Er wußte nicht, wie man Dämonen bezwang, aber es genügte auch, wenn er den Körper, diesen Nistplatz des Dä mons, über Bord warf. Auch dann wäre die Goldene Galeere von seinem Bann erlöst. Es kostete Mythor einige Überwindung, sich zu dem Entschluß durchzuringen, den Caer-Priester anzupacken. Doch kaum hatte er sich dazu überwunden, da bemächtigte sich seiner plötzlich eine fremde Macht, die seine Glieder lähmte. Über der Priestergestalt lag ein unsichtbarer Schein, der seine zupackenden Hände abstieß und ihm einfach nicht erlaubte, seinen Willen auch in die Tat umzusetzen. Diese Macht schlich von seinen Fingerspitzen die Arme hoch, kroch in seinen Körper und in seinen Kopf und setzte sich dann in seinem Gehirn fest. Diese Macht lähmte ihn, und sie starrte ihn aus Drundyrs Augen an. Das war der Dämon. Hämisch, siegesgewiß, verderbenbringend. Schwach noch, aber immer stärker werdend. Und er holte sich seine Kraft
auch aus Mythor. Er flüsterte ihm zu und zeigte ihm, wie Drundyr es geschafft hatte, zu überleben. Der Dämon in dem besessenen Caer-Priester war es gewe sen, der ihn sicher aus der Gefahr geleitet hatte. Der Dämon steuerte den Körper aus dem Bereich des Vallsaven und schiff te ihn durch die tobenden Elemente geradewegs ins Fahrwas ser der Goldenen Galeere, deren seelenlose Besatzung sich den Befehlen ihres neuen Meisters nicht entziehen konnte und Drundyrs Körper einholen mußte. All das hatte den Körper erschöpft und Drundyr in tiefe Be sinnungslosigkeit versinken lassen. Er war noch lange nicht erholt und würde noch eine Weile ohne Bewußtsein sein. Aber der Dämon in ihm war wach. Er attackierte Mythor und wollte ihm die Lebenskraft entziehen, um sie seinem Gastkörper zu zuführen. Mit einem Aufschrei riß sich Mythor von den unheilvollen Eingebungen des Dämons los. Er fand augenblicklich zu sich selbst zurück. Er war wieder er selbst, aber die Augen des Caer-Priesters hingen immer noch an ihm. Der Dämon gab nicht auf, wollte ihn zurückholen und seinen Verstand be zwingen. Mythor sah in rascher Flucht den einzigen Ausweg. Ohne sich umzublicken, stürzte er durch den Laderaum, erreichte die Leiter und kletterte sie hoch. Als er durch die Doppelklap pe ins Freie stieß, stand dort bereits Prinz Nigomir mit einer der widerhakenbesetzten Keulenlanzen. Er wartete, bis My thor ganz zum Vorschein gekommen war, dann versetzte er ihm mit der Keule einen Stoß, daß er quer über Deck flog. »Unseliger!« schrie er dabei. »Habe ich dich nicht gewarnt?« Mythor stellte fest, daß niemand von der Besatzung an Deck war. Er überdachte seine Aussichten, im Kampf gegen Nigo mir bestehen zu können, der ihn mit der Waffe vor sich her zum Heck trieb. Er versuchte, ihm die Waffe zu entwinden,
doch Nigomir war zu geschickt, um ihn an sich heranzulassen. Plötzlich spürte Mythor im Rücken einen Widerstand. Ni gomir trieb ihn die Heckaufbauten entlang, bis Mythor hinter sich ins Leere griff und durch die offene Tür in die Kapitäns kajüte taumelte. Nigomir folgte ihm. Mythor erinnerte sich des Waffen schranks, öffnete ihn und fand dort sein Caer-Schwert. Doch als er sich mit der Waffe in der Hand umdrehte, hatte Nigomir seine Lanze bereits sinken lassen. Mythor blieb dennoch kampfbereit, denn der Verfluchte aus den Eislanden war un berechenbar. Prinz Nigomir ließ aber keine Feindseligkeiten mehr erkennen. Mit seiner ungeübten Stimme, die das Sprechen fast schon verlernt hatte, sagte er bekümmert: »Ich wollte euch schonen. Nur zu eurem Besten habe ich das Verbot erlassen. Nun, da du dagegen verstoßen hast, seid ihr ebenfalls verloren.«
»Er hat mich gerufen«, sagte Nigomir, und Mythor war klar, daß er nur Drundyr meinen konnte. »Ich mußte ihm gehor chen. Er hat Gewalt über mich.« »Du kannst dich seinem bösen Einfluß entziehen«, sagte My thor. »Noch ist Drundyr schwach, hilflos geradezu. Wende dich von ihm ab, Nigomir! Mir ist es vorhin auch gelungen, mich ihm zu widersetzen.« »Ich unterliege anderen Gesetzen«, sagte Nigomir. Er hatte sich dem Fensterbild zugewandt, das ihn und seine Schwester Karen in glücklicheren Tagen ihrer Jugend zeigte. Als erkläre es alles, fügte er hinzu: »Ich war in der Schattenzone.« Diesem Ausspruch folgte wieder eine lange Pause, und My thor schwieg erwartungsvoll. Er hoffte, daß der Eisländer den Faden nicht verlor und diesen Gedanken weiter verfolgte. »Mein eigener Vater hat mich dazu getrieben, dieses verab
scheuungswürdige Verbrechen an meiner geliebten Karen zu begehen«, sagte Nigomir. »Er hat einen Gemahl für sie ausge wählt. Einen Nebenbuhler, Mythor! Ich geriet darüber in Rase rei. Ich tötete zuerst den Rivalen und dann Karen, als sie sich deshalb von mir abwandte.« Sein Atem ging keuchend, es hörte sich wie Kettenrasseln an. »Und es war wiederum mein eigener Vater, der mich wegen dieser Tat verfolgte und geradewegs in die Düsterzone trieb, in diesen Vorhof zur Unterwelt. Erst während meiner Irrfahrt durch das Reich der Dämonen wurde ich zu dem, was ich jetzt bin. Ich kann nicht sterben und darf nicht leben. Und wenn mich Diener des Bösen beschwören, dann muß ich gehorchen. Ich bin ihr Sklave. Drundyr hat schon einmal den Weg der Goldenen Galeere gekreuzt. Das war während seiner Überfahrt zum Festland. Dabei hatte er sich meiner Dienstbereitschaft versichert. Nun weißt du alles – aber ob du es auch begreifen kannst, Mythor?« »Was ist in der Schattenzone geschehen?« wollte Mythor wissen. »Unbeschreibliches.« Nigomir sagte dieses eine Wort und schwieg dann wieder für eine Weile. Er starrte immer noch das Fensterbild an. Leiser und mit hei serer Stimme, so als scheue er sich, diese Dinge laut auszu sprechen, fügte er hinzu: »Ich war mit meinem Schiff und der gesamten Mannschaft ein Spielball dieser grauenvollen Mäch te. Wir haben uns tapfer zur Wehr gesetzt, und mehr als die Hälfte meiner Männer fand den Tod, bevor unser Widerstand gebrochen war. Ich habe die Unterwelt erlebt. Dort hat meine Irrfahrt begonnen, die immer noch nicht zu Ende ist. Wir wur den in die tiefsten Abgründe hinabgezerrt, und wir ritten mit der Goldenen Galeere auf einer Welle, die höher war als der höchste Berg, den ich kenne. Ich hätte lieber sterben mögen.« »Hast du denn keinen Einfluß auf die dunklen Mächte, die
dich geformt haben?« fragte Mythor. »Kannst du denn nichts tun, um dich ihnen zu widersetzen? Wenn es etwas gibt, was ein Außenstehender für dich tun könnte, dann sage es mir.« Nigomir wandte sich um und sah ihn aus seinen dunklen, lodernden Augen an. »Ich fühle, daß meine Irrfahrt, solange sie schon gedauert hat, im Grunde erst beginnt«, sagte er. »Und mir sind nur sieben Getreue verblieben. Ich brauche Männer, tüchtige Seeleute, um meine Mannschaft zu verstär ken. Mir wäre jeder zusätzliche Mann willkommen.« Mythor senkte den Blick. Er hatte sich die Hilfe für den Ver fluchten anders vorgestellt, als seinen Geist und seinen Körper für ihn zu opfern. »Ich habe mir ein Ziel gesetzt, Nigomir«, sagte Mythor be dächtig. »Das muß ich erreichen, und darum kann ich dich nicht begleiten.« »Ich könnte dich zwingen«, sagte Nigomir und straffte sich. »Und der Einfluß des Bösen wird mich früher oder später da zu treiben. Ich kann ihm nicht standhalten. Ich bin nur ein Sklave.« »Ich würde kämpfen«, sagte Mythor fest, »und eher sterben, als das Erbe deines Fluches zu übernehmen. Damit ist es mir ernst, Nigomir.« »Ich glaube dir, Mythor, denn du bist ein aufrechter, wacke rer Mann. Aber auf meinem Schiff wäre dein Widerstand bald gebrochen. Ich hoffe wirklich, daß es nicht dazu kommt. Ver lasse die Goldene Galeere, bevor es zu spät ist.« »Wie denn, hier auf dem offenen Meer?« »Noch habe ich die Kraft, mein Schiff gen Land zu steuern. Ich kann dich absetzen, wo immer du willst.« »Kennst du Xanadas Lichtburg?« Nigomir wandte sich dem Kartentisch zu und fuhr in den Berg von Pergamenten und Tierhäuten. »Auf diesen Karten sind so ziemlich alle Punkte der bekann
ten Welt eingezeichnet«, behauptete er. »Es sind darauf selbst Orte festgehalten, die keines Sterblichen Fuß je betreten hat. Ich kenne die Welt, aber ich finde mich nicht in ihr zurecht. Sieh selbst, ob du Xanadas Lichtburg findest.« Mythor setzte sich an den Tisch. Er wühlte in fiebriger Hast in den Karten und durchsuchte sie nach bekannten Namen: Tainnia, Elvinon, Caer, Akinlay, Salamos… Aber ihm stachen nur fremde Begriffe ins Auge, die nichtssagend für ihn waren und die ihn nur verwirrten. Als er so nicht weiterkam, zwang er sich zur Ruhe und begann, die Karten genauer zu lesen. Endlich stieß er auf eine, die das Meer der Spinnen zeigte. Es war sogar ein Teil der Westküste darauf, mit einem Teil des Grenzlands zwischen Tainnia und Dandamar. Aber es waren keine bekannten Orte eingezeichnet. Mythor suchte weiter und entdeckte schließlich die Anschlußkarte. In dieser war Nyrngor, die Hauptstadt von Dandamar, eingezeichnet, und sie zeigte auch ein großes Ge biet des Hinterlands. Und da war Xanadas Lichtburg! Mythor mußte zweimal hinsehen, um es glauben zu können. Er wisch te sogar mit seinem zitternden Finger darüber, aber der Name blieb: Xanadas Lichtburg! Er verstand nicht viel von Maßstäben, so daß er nicht zu sa gen vermochte, wie weit entfernt dieser Ort von der Westküste war. Aber Xanadas Lichtburg war etwa eine halbe Handspan ne landeinwärts vermerkt und lag östlich und etwas unterhalb von Nyrngor. »Das ist mein Ziel!« sagte er erregt und stieß mit dem Finger auf diesen Punkt der Landkarte. »Xanadas Lichtburg, dorthin muß ich.« Nigomir sagte, ohne hinzusehen: »Wenn Drundyr mich lan ge genug gewähren läßt, werde ich dich dort absetzen.« Mythor wurde auf einmal mißtrauisch. »Du sprichst immer nur von mir, Nigomir. Aber ich bin nicht allein.«
Der Eisländer sagte darauf nichts, und so fügte Mythor be tont hinzu: »Ich verlasse die Goldene Galeere nicht ohne meine beiden Begleiter. Herzog Krude und seine Tochter kommen mit mir.« Prinz Nigomir nahm mit knarrenden und ächzenden Schrit ten eine Wanderung durch seine Kajüte auf. Dabei beschrieb er einen Halbkreis um den Kartentisch, wendete und kehrte auf seiner eigenen Spur um. Das wiederholte er einige Male, und dabei unterhielt er sich mit Mythor. »Ich brauche Männer«, sagte er, machte eine Pause, während der er auf seiner Wanderung drei Schritte tat, dann meinte er: »Ich brauche Vertrauen.« Wieder folgte eine kurze Pause. »Ohne Unterstützung durch Außenstehende werde ich nicht die Kraft haben, dem dämonischen Einfluß meines Meisters zu widerstehen.« Eine kurze Weile war nur das Geräusch seiner scheuernden Gelenke zu hören. »Ich brauche einen Beweis deines guten Willens, Mythor.« Pause. »Gib mir den Herzog. Ich brauche neues Leben als treibende Kraft für meine Mann schaft. Dann könnte ich auf dich und Nyala verzichten.« »Das kann ich nicht tun«, sagte Mythor entschlossen. »Allein schon der Gedanke an einen solchen Handel stößt mich ab.« »Dann, Mythor…«, sagte Nigomir bedauernd und ließ den Satz unvollendet. Er blieb nun stehen und sah traurig auf My thor hinunter. »Ich habe es wirklich gut gemeint. Aber mit weniger als einem von euch kann ich mich nicht zufriedenge ben.« Mythor überlegte. Er wußte, daß er allein gegen Nigomir und seine Seelenlosen auf verlorenem Posten stand. Auf den Herzog konnte er nicht zählen, denn er war noch nicht wieder kräftig genug, um seinen Mann zu stehen. Darum sann er verzweifelt nach einer Möglichkeit, wie er ei ne offene Auseinandersetzung abwenden konnte. »Ich würde mich dir unter gewissen Bedingungen zur Ver
fügung stellen, Nigomir, wenn du den Herzog und seine Tochter ziehen läßt«, sagte er schließlich. »Das ist ein Wort!« sagte Nigomir. »Du wärst ein Gefährte nach meinem Geschmack. Mit dir an der Seite dürfte ich sogar hoffen, diese ewige Irrfahrt zu beenden. Dann gilt der Pakt?« »Nur wenn du mir Gelegenheit gibst, zuerst die mir gestellte Aufgabe zu erledigen«, erwiderte Mythor. »Ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist, daß ich danach auf deine Goldene Galeere zurückkehre. Bevor noch der Winter ins Land zieht, will ich mein Versprechen einlösen und mich dir stellen.« »Dein Wort ist mir zuwenig«, sagte Nigomir und nahm seine Wanderung wieder auf. »Aber im Grunde gefällt mir dein Vorschlag.« Er wendete einen Schritt vor der Wand. »Er ist überaus verlockend. Und wenn es dir ernst damit ist, dann wüßte ich einen Ausweg.« »Was schlägst du also vor?« »Laß mir den Herzog als Bürgen!« Mythor schüttelte den Kopf. Er konnte dies Nyala nicht antun. Es wäre wie ein Verrat an ihrem Vater. Nein, sie würde kein Verständnis dafür haben. Aber welche Aussicht hätten sie im anderen Fall, der Verskla vung durch die dämonischen Mächte zu entgehen? Sie wären alle drei verloren. Wenn er sich aber einen Aufschub verschaf fen konnte und sich in Xanadas Lichtburg das Gläserne Schwert Alton beschaffte, konnte er damit auf die Goldene Ga leere zurückkehren und Herzog Krude nötigenfalls auch ge waltsam befreien. Er setzte sehr viel Hoffnung in diese Waffe und glaubte sich damit stark genug, es mit ihr gegen alle Schrecken der Unterwelt aufnehmen zu können. Alton, das Gläserne Schwert! »Schlage ein, Mythor!« Prinz Nigomir streckte ihm die sehnige Knochenhand hin. Mythor überwand seine Bedenken und griff zaghaft danach.
Er würde sein Handeln vor Nyala schon rechtfertigen können. Der Pakt war schließlich begrenzt. Noch vor Einbruch des Winters würde er auf die Goldene Galeere zurückkehren und Herzog Krude von Elvinon auslösen. Und wäre der Herzog auf dem Geisterschiff vor den Caer nicht sicherer als irgendwo anders? Mythor ergriff die dargebotene Hand und umschloß die eis kalten Finger fest. Damit war der Pakt besiegelt. Aber dabei wurde ihm allmählich bewußt, daß er diese Abmachung mit einem traf, der sich selbst als ein Opfer dämonischer Mächte bezeichnete. Hinter ihm aber stand der besessene Drundyr, der ein Träger dieser unheilvollen Mächte war. Doch diese Erkenntnis kam zu spät. Mythor ließ die eiskalte Hand fröstelnd los. »Es gilt«, sagte Prinz Nigomir wie zu sich selbst. »Ich lasse Kurs gen Nordosten nehmen.« Mythor verließ die Kajüte wie ein Geschlagener. Er wußte, daß er soeben große Schuld auf sich geladen hatte. Er konnte seine Handlungsweise vor sich selbst rechtfertigen, denn er wußte, daß er die Schuld eines Tages tilgen würde. Aber wie würde Nyala es sehen? Er beschloß, ihr einstweilen noch nichts von seinem Pakt zu erzählen.
Sie ritten die ganze Nacht hindurch, und als sie im Morgen nebel zu einem Bach kamen, strauchelte das übermüdete Pferd und brach sich das Genick. Steinmann Sadagar erlöste das ar me Tier mit einem Dolchstoß von seinen Leiden. Fahrna wur de schlecht, und sie verschwand hinter einem Gebüsch. »Au, mein Sitzfleisch«, hörte er sie jammern. »Ich bin ganz wund und kann mich nicht bewegen.« »Das wirst du aber müssen«, rief Sadagar ihr zu, während er
die drei Bündel an sich nahm. Zwei band er mit einer Schnur zusammen und warf sie sich über die Schulter, das dritte trug er in der Hand. »Wir sind noch zu nahe der tainnianischen Grenze. Sicher sind wir erst, wenn wir zwei Tagesreisen von Büttelborn entfernt sind.« »Ich kann nicht«, klagte Fahrna aus dem Gebüsch. »Ich muß mein Sitzfleisch pflegen. Es tut so weh!« »Als Hexe kennst du doch eine Menge Wunderheilmittel«, rief Sadagar. »Oder wirken diese auf deinem edelsten Körper teil nicht?« Ihr häßliches Gesicht erschien durch das Gebüsch. »Ver schwinde und laß mich in Frieden«, keifte sie ihn an. »Ich brauche ein wenig Zeit, um mich zu erholen. Kundschafte die Gegend aus oder geh jagen, nur bleib mir vom Leib.« »Meinetwegen«, sagte Sadagar. »Ich vertrete mir ein wenig die Füße. Wenn der Nebel sich lichtet, komme ich hierher zu rück. Dann müssen wir aufbrechen.« Er hörte das Rascheln ihrer pergamentverstärkten Lumpen und das Geräusch brechender Äste und nahm an, daß sie Vor bereitungen traf, ihr geschundenes Hinterteil zu behandeln. Diese Vorstellung erheiterte ihn dermaßen, daß er lauthals lachte. Sie schickte ihm ein paar saftige Flüche nach, während er sich entfernte. Er hatte ihre Habe abgelegt, um sich ungehinderter bewegen zu können. Der Bach schlängelte sich in westliche Richtung, und Sadagar wandte sich gen Norden. Im Nebel tauchten ei nige Weiden auf, aus deren Geäst das Krächzen von Krähen kam. Sadagar mochte diese Vögel nicht, die so schwarz waren wie die Schattenzone, aber Fahrna tat geradeso, als könne sie sich in der Sprache dieser gefiederten Luftbewohner mit ihnen unterhalten. Vielleicht sagte man nicht umsonst, daß Krähen vögel Dämonenboten seien und die Kuriere der Hexen und Zauberer. Immer wenn er über Fahrna nachdachte, wurde ihm
bewußt, wie wenig er sie eigentlich kannte. Sadagar kam ins freie Feld. Der Nebel hatte sich etwas ge lichtet, vor ihm lag eine Heidelandschaft. Nichts bewegte sich. Er hielt kurz an, und als er wieder einen Schritt tat, erhob sich hinter ihm ein Schwarm von Krähen krächzend in die Lüfte. Im gleichen Augenblick ertönte aus derselben Richtung das Geräusch vieler Pferdehufe. Es war, als habe der Nebel bis jetzt alle Laute verschluckt und gebe sie nun auf einmal gleichzeitig frei. Rauhe Stimmen erschollen, Gelächter brandete auf. Diesem folgte ein verzweifeltes Schreien. Fahrna! Sadagar erkannte sofort ihre Stimme, und ihm war klar, daß die unbekannte Rei terschar seine Gefährtin bedrängte. Ohne einen Gedanken an die Gefahr zu verschwenden, in die er sich begab, machte er kehrt und lief den Weg zurück. Dabei achtete er jedoch darauf, daß er keine verräterischen Geräusche verursachte. Er erreichte den Bach und folgte seinem Lauf in die Rich tung, aus der der Tumult kam. Die Stimmen waren noch zu undeutlich, als daß er hätte verstehen können, was sie spra chen, aber er unterschied deutlich mehrere Männerstimmen und Fahrnas schrilles Zetern. »Rühr dich ja nicht vom Fleck, du alte Hexe!« hörte Sadagar nun eine Männerstimme rufen, die ihm vertraut erschien. »Ich werde mir noch den Tod holen«, erwiderte Fahrna schrill. »Was seid ihr doch für gefühllose Bastarde, daß ihr mit einer alten, schwachen Frau kein Mitleid habt!« »Wo ist denn dein wahrsagender Freund?« rief die Stimme von vorhin, und Sadagar erkannte nun ganz deutlich die von Verian, dem darainischen Grenzwächter, der sich mit ihm Barbas Gunst geteilt hatte. »Warum beschützt er dich nicht mit seinem starken Arm und seiner Magie?« »Dieser Elende hat mich im Stich gelassen, als das Reittier
stürzte, und ist geflohen«, antwortete Fahrna. »Aber sagt mir, wie ihr auf dandamarisches Land kommt. Darain liegt doch in einer ganz anderen Richtung.« Die Männer lachten, und einer sagte: »Die Vernunft treibt uns in die andere Richtung.« Wieder folgte Gelächter, und ein anderer sagte: »Warum sol len wir uns mit den Caer herumschlagen, wenn im Norden ein weites, offenes Land auf uns wartet?« »Mir ist kalt«, sagte Fahrna, und Sadagar hörte das Klappern ihrer Zähne. Er war jetzt so nahe, daß er die Männer als Schatten erken nen konnte. Er zählte ihrer acht; nur zwei von ihnen waren von ihren Pferden abgestiegen. Die anderen umtänzelten mit ihren Reittieren das Bachufer. Sadagar ging noch etwas näher, bis er aus dem Schutz eines Strauches Einzelheiten erkennen konnte. Und da sah er Fahrna mit hochgerafften Kitteln im Bach hocken, offenbar, um ihr Sitzfleisch zu kühlen. Er konnte mit ihr fühlen und sich den ken, wie entwürdigend sie es empfand, in dieser Haltung von den rauhen Kriegern begafft zu werden. »Was soll mit ihr geschehen?« fragte einer der Männer sei nen Anführer. »Wir werden mit ihr die Hexenprobe machen«, bestimmte Verian. »Wenn es stimmt, daß Krähen die Verbündeten der Magier sind, werden sie kommen und die Alte in ihren Krallen davontragen.« »Was seid ihr doch für ein hartherziges Gesindel!« schrie Fahrna. »Ich verfluche euch!« Sadagar hatte nur auf einen solchen Ausspruch gewartet. Jetzt ahmte er das Krächzen einer Krähe nach. »Hört ihr es?« rief Fahrna, versuchte sich zu erheben, wurde jedoch durch das Schwert eines Reiters genötigt, sich wieder zurück in das kalte Wasser zu hocken. Fahrna fuhr fort: »Das
sind meine schwarz gefiederten Freunde, die mich ihrer Hilfe versichern.« »Altweibergeschwätz«, behauptete Verian. Sadagar stieß wieder ein Krächzen aus. Diesmal lauter und in einer bestimmten Folge. Gleichzeitig zog er einen Dolch nach dem anderen aus dem Gürtel, bis er ein halbes Dutzend fächerförmig und an den Spitzen zwischen Daumen und Zei gefinger der Linken hielt. »Hört genau hin«, sagte Fahrna. »Dann erkennt ihr vielleicht die Botschaft meiner geflügelten Freunde.« »Was sagen sie dir denn?« fragte Verian spöttisch. »Sie versprechen mir, euch mit unsichtbaren Krallen zu zer fleischen, wenn ihr nicht von dannen zieht und mich in Ruhe laßt«, behauptete Fahrna. »Wollt ihr es noch einmal hören?« Sadagar ließ wieder einen Krähenruf folgen. »Es klingt tatsächlich, als könne sie mit den schwarzen Vö geln sprechen«, sagte einer der Krieger. »Unsinn«, behauptete Verian. »Wir werden die Alte erträn ken und dann ihrem Freund folgen. Ich habe mit ihm noch eine Rechnung zu begleichen.« »Zu Hilfe, meine Freunde! Zu Hilfe!« rief Fahrna verzweifelt, als sich der Anführer der fahnenflüchtigen Grenzwächter ihr mit dem Pferd näherte, als wolle er sie niederrennen. Sadagar stieß in schneller Folge eine Reihe wütend klingen der Krächzlaute aus. Dabei griff er mit der Rechten in den Fä cher aus Wurfmessern. Ohne lange zu zielen, schleuderte er das erste Messer nach Verian und traf ihn in die Brust. Wäh rend der Reiter noch wankte, warf er die weiteren Messer ei nes nach dem anderen nach ihm, und alle fanden sie ihr Ziel. Und dabei kreischte er wie die Krähe. Es ging alles so rasch, daß die anderen Krieger gar nicht rich tig mitbekamen, von welch tödlichen Waffen ihr Anführer ei gentlich getroffen wurde. Für sie mußte es tatsächlich den An
schein haben, als zucke Verians Körper unter den Einschlägen unsichtbarer Krallen. Unter viel Geschrei gaben die Krieger ihren Pferden die Fer sen und preschten in südlicher Richtung in den Nebel. Die beiden, die abgestiegen waren, schwangen sich in wilder Pa nik auf die Rücken ihrer Reittiere und folgten ihren Kamera den. Verians Pferd wurde von der Unruhe angesteckt, warf seinen leblosen Reiter ab und verschwand schnaubend und wiehernd ebenfalls im Nebel. Sadagar trat aus seinem Versteck und sagte: »Die sind wir endgültig los.« Statt sich für die Rettung im letzten Augenblick zu bedan ken, herrschte ihn Fahrna an: »Besitzt du denn überhaupt kei nen Anstand? Schau gefälligst weg, während ich meine Klei der in Ordnung bringe, du Barbar!« Sadagar wandte sich gehorsam ab. Er wußte nicht, sollte er lachen oder sich ärgern. Er zog seine Messer aus dem Toten und reinigte sie im Gras von dessen Blut.
Zwei Tage lang marschierten sie durch das öde, wie ausge storben daliegende Heideland mit seinen vereinzelten Bäu men, ohne einem menschlichen Wesen zu begegnen. Die Nacht verbrachten sie in einem verlassenen Tierbau, einer großen Erdhöhle, die sie jedoch im Morgengrauen verlassen mußten, als es zu regnen begann und sich die Höhle mit Was ser füllte. Fahrna hatte die ganze Nacht über in ihren Schriftstücken gelesen und dabei einige ihrer selbstleuchtenden Runenstücke zu Hilfe genommen. Bei ihrem plötzlichen Aufbruch hatte Sa dagar sie gefragt, wann sie eigentlich schlafe, und sie hatte geantwortet, daß sie das untertags im Gehen tue. Tatsächlich stellte er dann fest, daß sie ihm mit geschlossenen Augen folg
te und den ganzen Tag unansprechbar war. Die folgende Nacht wanderten sie durch, bis sie das bewal dete Hügelland erreichten, das sie aus der Ferne gesehen hat ten. In der Morgendämmerung stießen sie auf, eine verfallene Mühle, die zwischen bemoosten Felsen am Fuß eines Wasser falls stand. Es dauerte jedoch eine ganze Weile, bis sie sich get rauten, sich der verfallenen Hütte zu nähern und sie zu betre ten. Denn die Luft war von einem unheimlichen Singen erfüllt, das sich ständig veränderte. Manchmal wurde es schwächer, so daß es kaum zu hören war, dann wieder schwoll es zu ei nem lauten Wehklagen an. Aber immer hörte es sich wie das Jammern verlorener Seelen an. Sadagar mutmaßte, daß dies ein Ort Schwarzer Magie sei oder daß es sich um einen Kriegerfriedhof handle, an dem ir gendwelche Helden einen unehrenhaften Tod gefunden hat ten. Für diese beiden Möglichkeiten sprach, daß rund um die verlassene Mühle kaum Pflanzen wuchsen. Es gab in weitem Umkreis auch keine Bäume, nur eine Reihe von ausgehöhlten Baumstümpfen – ein wahrer Nistplatz für Geister. Fahrna ließ sich jedoch nicht einschüchtern und sah sich an diesem gespenstischen Ort ganz unerschrocken um. Sie fand schließlich in einem der hohlen Baumstümpfe ein menschli ches Skelett. Es war in hockender Stellung, die Arme vor der Brust überkreuzt, in den hohlen Baum gezwängt worden. »Manche Völker bestatten so ihre Toten«, sagte Fahrna dazu. »Sie glauben, daß dann deren Seelen leichter in die obere Welt des ewigen Lichts eingehen können.« »Die Seele dieses Toten hat aber keine Ruhe gefunden«, be hauptete Sadagar und lauschte dem unheimlichen Wispern, das mit dem aufkommenden Wind lauter geworden war und von überall zu kommen schien. Aber auch dafür hatte Fahrna eine einfache Erklärung zur Hand. »Es ist der Wind, der das Singen erzeugt, wenn er
durch die hohlen Bäume fährt, Steinmann Sadagar. Er spielt dabei wie auf einem Blasinstrument. Mach dich also nicht zum Narren. Was der Wind kann, das kannst du auch. Versuch es einmal.« Zögernd kam er ihrer Aufforderung nach und begab sich zu einem der ausgehöhlten Baumstümpfe. Er beugte sich darüber und stieß einen langgezogenen Laut aus. Sofort wurde das Geräusch zu einem klagenden Ruf verstärkt und scholl als Heulen über die Lichtung vor der verfallenen Mühle. »Wie bist du dahintergekommen, Fahrna?« wollte Sadagar wissen. »Auf meinen Reisen bin ich einmal zu einer Orakelstätte ge kommen, wo sich die Priester dieses Tricks bedienten, um so die Stimmen der Götter nachzuäffen«, antwortete die Runenkundige. »Wäre das nicht auch etwas für dich?« »Dieser Ort ist zu abgelegen, um ihn zur Stätte meines Wir kens zu erwählen«, erwiderte Sadagar. Er suchte die Hütte auf, um sich einen Platz zum Schlafen herzurichten. Die unermüdliche Fahrna aber begab sich ober halb des Wasserfalls, um dort ungestört ihrer Beschäftigung mit ihren geheimnisvollen Aufzeichnungen nachgehen zu können. Sadagar verfiel sofort in tiefen Schlaf. Irgendwann hatte er den Eindruck, daß Fahrna ihn weckte, aber er war sich nicht sicher, ob er das nicht nur träumte. Denn was sie sagte, drang nur wie aus weiter Ferne zu ihm. »Steinmann Sadagar!« raunte ihre Stimme. »Steinmann Sa dagar, wach auf! Ich habe einige Aufzeichnungen entziffert und glaube, einen deutlichen Hinweis auf die Runenbotschaft der Königstrolle gefunden zu haben. Der Weg führt ziemlich sicher zu…« Er erinnerte sich seines Schimpfens über die Ruhestörung und glaubte, Fahrna von sich gestoßen zu haben. Dann
schwanden diese Eindrücke, und sein Schlaf wurde wieder traumlos. Aber sein Geist wollte einfach keine Ruhe finden, und so wurde der Körper neuerlich um den so dringend benö tigten Schlaf gebracht. Sadagar fühlte sich noch immer wie gerädert, als Geräusche an sein Ohr drangen. Es hörte sich wie das Rascheln von Schritten an, und es vermittelte ihm das unbehagliche Gefühl, daß sich rings um ihn einige Gestalten bewegten. Sie näherten sich ihm von allen Seiten, umzingelten ihn. Er wollte der Dunkelheit entweichen, indem er die Augen aufriß. Aber noch immer konnte er nichts sehen, denn die Finsternis blieb undurchdringlich. Er ahnte mehr, als daß er es sah, daß er von einer regelrechten Mauer kräftiger und über und über behaarter Gestalten umringt war. Eine tödliche Be drohung senkte sich über ihn, und er griff in seiner Angst nach dem Gürtel. Bevor er jedoch eines seiner Wurfmesser zu fassen bekam, erhielt er einen Tritt gegen seinen Unterarm. Gleichzeitig wurde er an den Beinen fortgezogen, daß sein Kopf über den Rand des weichen Nachtlagers glitt und auf dem harten Boden aufschlug. Etwas Haariges legte sich um seinen Hals und zog ihn daran hoch, daß es ihm die Atemwege abschnürte. Er hatte das Ge fühl, als spanne sich der zottige Arm eines Tieres im Würge griff um seine Kehle. Er konnte keinen Laut von sich geben. In seinen Ohren war ein Rauschen, durch das furchterregendes Gebell drang. Tiermenschen! durchzuckte es ihn. Er hatte gehört, daß die einsamen Wälder Dandamars von unheimlichen Geschöpfen der Schwarzen Magie, die weder Tier noch Mensch waren, unsicher gemacht wurden. Als er nun am Hals und an den Beinen durch die Luft ge zerrt wurde, da war er sicher, solchen Bestien zum Opfer ge
fallen zu sein. Ihr wütendes Gebell, das nur sehr entfernt an menschliche Stimmen erinnerte, wurde lauter. Jetzt lockerte sich der Würgegriff, und er fiel zu Boden, traf mit dem Kopf schmerzhaft auf. Auch seine Beine wurden losgelassen. Das Rauschen in seinen Ohren ebbte ab und wurde von dem geisterhaften Singen des Windes abgelöst, der sich in den Aushöhlungen der morschen Baumstämme brach. Ein Bellen wie ein Befehl erklang. Sadagar versuchte, die Dunkelheit über sich mit den Augen zu durchdringen. Aber die Nacht war wie ein schwarzes Tuch. Aus der Dunkelheit antworteten andere kehlige Stimmen. Sadagar drehte sich herum und wollte sich auf allen vieren davonschleichen. Aber da traf er mit dem Kopf auf Widerstand. Eine Klaue griff in sein Haar und zog ihn daran hoch. Sadagar mußte dem Zug nachgeben und kam auf die Beine. Ein Atem wie nach Aas schlug ihm entgegen. Ein kläffender Laut drang ihm schmerzhaft ins Gehör. Sadagar wollte etwas sagen, aber seine Kehle war ausgedörrt. Die Todesangst ver schlug ihm die Sprache. Er war wie in einem Dämonenreigen gefangen. Um ihn fleuchte und kreuchte es, Körper trafen in der Dunkelheit dumpf aneinander, Füße scharrten unruhig. Und von überall drangen die bellenden Stimmen auf ihn ein. Sie klangen nun eine Spur unsicher, ein wenig ratlos. Sadagar verstand die Sprache der Tiermenschen nicht, aber aus dem Tonfall glaubte er herauszuhören, daß unter ihnen eine aufkeimende Besorgnis um sich griff. Und er glaubte auch den Grund zu kennen. Es mußte an dem lauter und bedrohli cher gewordenen Heulen liegen. Sein Haar wurde losgelassen. Gleichzeitig stieß ein zottiger Körper gegen ihn, und etwas Hartes bohrte sich ihm in die Seite. Er krümmte sich und wich gleichzeitig rückwärts aus. Die bellenden Stimmen wurden wieder zorniger, nachdem die Unsicherheit aus ihnen gewichen war. Nun entstand ein
Durcheinander von Geräuschen, und zum erstenmal war ein metallenes Klirren zu hören. Es klang, als kreuzten sich Schwertklingen. Tiermenschen, die Waffen trugen? Oder aber waren die Jä ger dieser dämonischen Ausgeburten der Schattenzone einge troffen? Konnte das für ihn die Rettung bedeuten? Oder wür de er nun schweißgebadet aus diesem schrecklichen Traum erwachen? Der Kampflärm wurde immer deutlicher. Aber noch immer war nur das Gekläff der Zottigen zu hören. Keine menschliche Stimme mischte sich in das tierische Gebrüll. Dafür schwoll das geisterhafte Singen immer mehr an, steigerte sich zu ei nem so schrillen Winseln, daß es in den Ohren schmerzte. Sadagar stieß mit dem Rücken gegen ein Hindernis und fühlte zu seiner Erleichterung das feuchte, glitschige Holz der verfallenen Hütte hinter sich. Der Lärm verlor sich und verstummte schließlich ganz. Stille kehrte zurück. Und in diese Stille hinein fragte Fahrnas Stim me besorgt: »Steinmann Sadagar? Bist du noch am Leben?« »Ja… ich hoffe es wenigstens.« Fahrna kicherte. »Den Barbaren haben wir es aber gegeben.« Hinter einem Baumstumpf tauchte eine leuchtende Rune auf, die Fahrna vor sich hielt und in deren fahlem Schein sie sich ihm näherte. »Diese Wilden haben sich bei der Bekämpfung des vermeintlichen Feindes gegenseitig die Schädel blutig ge schlagen.« »Barbaren? Wilde?« fragte Sadagar verständnislos. »Ich dachte, es handle sich dabei um dämonische Bestien.« »Hast du sie nicht an ihrer Sprache erkannt?« wunderte sich Fahrna, als sie ihn erreichte. »Es hat sich angehört wie der Dia lekt von Lorvanern.« »Doch nicht das wilde Reitervolk aus den Ostländern!« rief Sadagar schaudernd aus. Die barbarischen Lorvaner, die von
Zeit zu Zeit in Horden die kultivierten West- und Südländer überfielen, waren mitunter gefürchteter als dämonische Bes tien aus der Schattenzone. Ihr Name wurde nur im Zusam menhang mit furchtbaren Greueltaten genannt. Die bloße Er innerung daran, daß er es mit solchen Wilden zu tun gehabt hatte, ließ ihn zittern. »Ich irre mich gewiß nicht«, sagte die Runenkundige. »Ich habe sie an ihrer Sprache erkannt.« »Das ist ja furchtbar«, sagte Sadagar, während er zusammen mit Fahrna die verfallene Hütte betrat. Ihr Runenzeichen be leuchtete ihnen den Weg. »Im Westen überrennen die Caer alles, und aus dem Osten donnern die zügellosen Horden der Lorvaner heran. Wenn diese beiden Kräfte aufeinanderprallen, dann werden sich die Länder der Westküste in ein riesiges Schlachtfeld verwandeln. Tod und Verderben werden über die friedlichen Völker kommen.« »Nun mal langsam, Sadagar«, unterbrach Fahrna ihn. »Ich bin keiner deiner zahlenden Bauerntölpel, denen du Schre ckensbilder vorzugaukeln brauchst. Wir haben es nur mit ei ner Handvoll Lorvaner zu tun gehabt. Wahrscheinlich handelt es sich um einen versprengten Haufen, der weit nach Westen verschlagen wurde. Daraus eine völkerbedrohende Gefahr zu machen erscheint mir reichlich übertrieben. Hätten die Lorva ner zu einer größeren Streitmacht gehört, dann hätten sie sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen lassen.« »Wenn du nur recht hast«, meinte Sadagar. »Vielleicht sollte ich den Kleinen Nadomir anrufen, um von ihm das wahre Ausmaß der Gefahr zu erfahren.« »Diese Mühe kannst du dir sparen«, sagte Fahrna giftig. »Dieser Schutzgeist gehorcht dir sowieso nicht, sofern es ihn überhaupt gibt. Du kannst dich unbesorgt wieder schlafen le gen. In dieser Nacht kommen die Barbaren sicher nicht mehr zurück. Sie haben mit sich selbst genug zu tun und werden
erst aufhören, sich gegenseitig zu verprügeln, wenn ihnen die Morgendämmerung zeigt, wen sie eigentlich bekämpfen.« »Ich kann bestimmt keinen Schlaf mehr finden«, behauptete Sadagar. »Dann hör mir zu, was ich entdeckt habe«, ereiferte sich Fahrna plötzlich. »Ich habe einige meiner Aufzeichnungen miteinander verglichen und dabei den Schlüssel zu einem Ge heimnis gefunden. Alles deutet darauf hin, daß ich in Xanadas Lichtburg einige Antworten auf meine Fragen finden werde. Dorthin müssen wir, zu Xanadas Lichtburg! Hörst du mir ü berhaupt zu, Sadagar?« Aber seine Schnarchlaute zeigten ihr an, daß er trotz gegen teiliger Behauptungen bereits wieder in Gods Schoß ruhte. »Nichtsnutzige Schlafmütze«, schimpfte Fahrna und schickte sich an, den Rest der Nacht zu nutzen, im Licht der Rune das Studium ihrer Pergamente fortzusetzen.
Die Seelenlosen in ihren geschuppten Anzügen waren von einer Geschäftigkeit erfüllt, die Mythor fast vergessen ließ, daß ein Fluch auf ihnen lastete. Ob am Steuerruder oder an der Takelage, beim Setzen oder Einholen des Segels, sie verrichte ten ihre Arbeit mit gekonnten Handgriffen. Und sie verrichte ten sie stumm, als hätten sie die Gabe des Sprechens verloren. Aus ihren Mündern kam bloß das Rasseln ihres Atems; in be sonderen Fällen stießen sie unverständliche Laute aus. Aber es schien, daß sie das Gorganische verstanden, das die meisten Völker redeten und auch Prinz Nigomir gebrauchte. Das schloß Mythor daraus, daß einer der Seeleute einer Unterhal tung zwischen ihm und Nyala aufmerksam gelauscht hatte. Von diesem Augenblick an unterhielt sich Mythor mit ihr nur noch unter vier Augen. Nyala war entsetzt, als er ihr erzählte, daß sich unter Deck
der schlafende Caer-Priester Drundyr befand. Aber im glei chen Moment sprach sie Mythor ihr volles Vertrauen aus. »Du bist der Sohn des Kometen«, sagte sie. »Du wirst nicht zulassen, daß Schatten auf unser Schicksal fallen.« Mythor hatte darauf schuldbewußt geschwiegen. Er hatte ihr von seiner Abmachung mit Prinz Nigomir noch nichts erzählt. Er fürchtete, daß ihr Zutrauen augenblicklich in Verachtung umschlagen könnte, wenn sie unvorbereitet erfuhr, daß er ih ren Vater als Bürgen auf der Goldenen Galeere zurückzulassen gedachte. Nyala tat alles mit solcher Leidenschaft, daß sie in ihrem Haß vermutlich ebenso unerbittlich war wie in ihrer Liebe und Verehrung rückhaltlos. »Was hast du, Mythor?« fragte ihn Nyala, als sie am Morgen des folgenden Tages mit ihm an Deck ging. »Seit deinem Ge spräch mit Prinz Nigomir erscheinst du mir seltsam verän dert.« Er stand an der Bordwand und spähte über das ruhige Meer. Obwohl eine steife Brise das Segel mit dem elfeckigen Stern mächtig blähte, war der Wellengang nur mäßig. Die Sicht war gut, aber sosehr Mythor seine Augen anstreng te, er konnte kein Land sehen. Mythor schwieg auf Nyalas Frage, aber sie dachte nicht daran, ihn seinen Gedanken zu überlassen. Sie suchte seine Hand, die ein Tau umschloß. »Glaubst du Nigomirs Versprechen denn nicht, daß er uns an Land absetzen wird?« fragte sie weiter. »Dabei hast du ihn mir als Ehrenmann beschrieben, der zu seinem Wort steht. Was er auch getan hat, so fühle ich doch, daß er kein schlech ter Mensch war – und auch nicht dazu geworden ist. Was ist es also, das dich verstimmt?« Ich verachte mich selbst, dachte er. Ich hätte nicht über Herzog Krude verfügen dürfen. Er dachte fieberhaft über eine Möglich keit nach, aus diesem Pakt auszusteigen, ohne wortbrüchig zu werden. Und in diesem Sinn sagte er: »Es wäre nötig, Drundyr
zu beseitigen.« »Nein, Mythor«, sagte Nyala entsetzt. »Und wenn der CaerPriester noch so tief schläft, so bist du ihm nicht gewachsen. Noch nicht!« »Ich weiß«, sagte Mythor. »Ich war nachts wieder unter Deck und habe nach dem Dämonenpriester gesehen. Er ist noch nicht wieder bei Besinnung. Aber mein Vorhaben, ihn aus sei nem Sarg zu holen und durch eine Luke ins Meer zu stoßen, konnte ich wieder nicht durchführen.« »Versprich mir, daß du es nie mehr versuchen wirst, My thor«, verlangte Nyala. »Du bist die Hoffnung aller aufrechten Menschen unserer Welt. Du darfst dein Leben nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Versprich mir das!« Er tat es wortlos. Mit einem Nicken und einem besiegelnden Kuß auf ihren Mund. Mythor schreckte auf, als er über sich einen heiseren Laut vernahm. Dort erblickte er einen der Seelenlosen, der rittlings auf der Rah saß und ein Tau festziehen wollte. Aber er wankte, schien auf einmal nicht mehr die Kraft zu haben, sich auf der Segelstange zu halten. Mit einem letzten krächzenden Laut kippte er zur Seite und fiel in flachem Bogen ins Meer. Im ersten Moment wollte Mythor nachspringen, um dem Geschwächten zu Hilfe zu kommen. Aber Nyala hielt ihn zu rück. Und dann schlugen die Wellen über dem Mann zusam men; das nasse Element hatte ihn verschlungen. Die verblie benen Seeleute zeigten keine Regung. Da flog die Tür der Ka pitänskajüte auf, und Nigomir kam mit ächzenden Gelenken herausgestürzt. Er beugte sich über die Bordwand und starrte ins Meer. »Ist der Mann durch meine Schuld über Bord gegangen?« fragte Nyala und hob unvermittelt den weiten Ärmel ihres Kleides vors Gesicht. »Nein«, sagte Prinz Nigomir, ohne sie anzusehen. »Meine
Männer wissen nun, daß du nicht Karen bist. Dein Anblick macht ihnen nichts mehr aus. Sie sind nur geschwächt.« Er warf Mythor einen durchdringenden Blick aus seinen dunkel lodernden Augen zu und sagte: »Es muß etwas geschehen, damit sie zu neuen Kräften kommen.« Damit wandte er sich ab und stieg die Stufen zu den Heckaufbauten hoch. Er begab sich geradewegs zum Bugspriet und starrte auf die Galionsfi gur, die seine über alles geliebte Stiefschwester Karen darstell te. So konnte er Stunden und vermutlich auch Tage zubringen. »Was hat er damit gemeint?« fragte Nyala. Mythor blickte in östlicher Richtung aufs Meer hinaus. Dort war noch immer kein Land in Sicht. Statt ihr die Frage zu beantworten, legte er ihr den Arm um die Schultern und führte sie zu ihrer Kajüte, die sie sich immer noch zu dritt teilten. »Geh zu deinem Vater und achte auf ihn«, sagte er. »Du darfst nicht von seiner Seite weichen, egal was passiert. Er braucht deine Pflege und deinen Schutz.« »Du sprichst so seltsam, Mythor«, sagte sie mit banger Stimme. »Hast du Grund, um das Leben meines Vaters zu fürchten?« »Sein Leben ist nicht bedroht«, versicherte Mythor. »Aber er ist noch nicht wieder wohlauf, und sicher wird der Anblick seiner Tochter dazu beitragen, seine Genesung zu beschleuni gen.« Nyala wollte noch etwas einwenden. Aber dann biß sie sich auf die Lippen und verschwand in der Kajüte. Mythor wußte, daß er ihre Besorgnis nicht hatte zerstreuen können, aber noch hatte sie solch starkes Zutrauen zu ihm, daß sie ihm blind ge horchte. Er hieb mit der Faust gegen die versteinerte Bordwand, daß seine Knochen krachten. Den Schmerz spürte er kaum. Viel schlimmer war die Enttäuschung über das eigene Versagen.
Von Westen zogen schwere, dunkle Wolken auf und vereinig ten sich mit der von Osten einfallenden Dämmerung zur Nacht. Ein Sturm kam auf und schob Brecher heran, die back bords gegen die Goldene Galeere schlugen. Der Steuermann stand wie eine Statue am Ruder; ihn schien nichts erschüttern zu können. Er hatte das Schiff sicher im Griff. Einer der Hohlwangigen entzündete am Bug eine Fackel, wo Prinz Nigomir immer noch kauerte und die Galionsfigur anstarrte. Mythor fragte sich, welche Gedanken ihn in Bann geschlagen hatten. Vielleicht durchlebte er in seinem Geist die blutige Tat an seiner Stiefschwester. Die Mannschaft, die ohne den Steuermann nur noch aus fünf Seeleuten bestand, reffte das Segel. Das Leinen knallte immer wieder im Wind, und die Seelenlosen hatten große Mühe, sei ner Herr zu werden. Mythor hatte sich einmal in Nigomirs Kabine geschlichen und versucht, von der Karte ihren Standort abzulesen. Aber Nigomirs Berechnungen und Eintragungen waren ihm schlei erhaft. Als er daraufhin den Prinzen angesprochen hatte, um ihn zu fragen, wann endlich Land in Sicht komme, hatte er keine Antwort bekommen. Sofort war einer der Seelenlosen zur Stelle gewesen und hatte ihn mit dem Keulenende der Ha kenlanze zurückgedrängt. Die meiste Zeit des Tages hatte sich Mythor an Deck auf gehalten. Einige Male hatte er nach Nyala und ihrem Vater gesehen. Herzog Krude war noch immer sehr schwach, und das Sprechen fiel ihm schwer. Die meiste Zeit döste er einfach vor sich hin. Nyala war wegen des Zustands ihres Vaters be sorgt und glaubte, daß er sich verschlechtert habe. Doch My thor konnte sie beruhigen. Er fand, daß der Herzog ganz nor mal aussah. Seine geheimen Befürchtungen teilte er Nyala nicht mit.
Es gefiel Mythor nicht, daß Nigomirs Männer nach einer kurzen Schwächeperiode nun wieder zu Kräften gekommen waren. Er fragte sich gerade, aus welchem Quell sie diese Kraft geschöpft haben mochten – da ging die Kajütentür auf. Nyala erschien darin und rief seinen Namen. Es klang ent setzt. Er machte hinter ihr einen Schatten aus und war sogleich zur Stelle. Mythor war erleichtert, als er erkannte, daß der sich bewegende Schatten kein anderer als Herzog Krude war. Er hatte schon befürchtet, daß Drundyr zu sich gekommen und auf magische Weise in die Kajüte gelangt war. »Vater geht es nicht gut«, sagte Nyala gehetzt. »Irgend etwas Schreckliches geschieht mit ihm.« Durch das Bullauge fiel etwas Fackellicht ein, so daß auch Mythor sofort erkannte, welche Veränderung im Gesicht des Herzogs vor sich gegangen war. Es war nicht mehr wohlgenährt, die fleischigen Backen, die nach den Anstrengungen der vergangenen Tage schlaff herab gehangen hatten, waren nun gänzlich verschwunden. Sein Gesicht war eingefallen, die Wangen hohl, und die Augen la gen nicht mehr in Fettpölsterchen eingebettet, sondern ver schwanden tief in den Höhlen. »Ich habe geschlafen und wurde durch unheimliche Geräu sche geweckt«, erzählte Nyala mit sich überschlagender Stim me und drückte sich in den Winkel neben der Tür. »Ich habe geglaubt, einer der Seelenlosen wolle mich heimsuchen. Aber dann sah ich, daß es Vater war, der die Koje verlassen hatte. Er gibt die gleichen Geräusche von sich wie die Seelenlosen.« »Leg dich wieder hin, Herzog Krade«, redete Mythor Nyalas Vater zu. Als er Hand an ihn legte, um ihn in Richtung der Kojen zu drehen, hob der Herzog den Arm und schlug My thors Hand weg. Dabei entstand ein Geräusch, das sich anhör te, als scharrten Gelenkknochen gegeneinander. Und des Her zogs Atem ging rasselnd.
»Ist mein Vater… ist er ein Opfer des Fluches?« fragte Nyala. Mythor ergriff den Herzog mit beiden Händen an den Ober armen und ließ sich diesmal nicht wieder abschütteln. Es kos tete ihn nur wenig Anstrengung, den Widerstand des alten Mannes zu brechen, der durch den Einfluß magischer Kräfte noch zusätzlich geschwächt schien. Er drückte ihn in die Koje und ließ ihn erst los, als er sich ausstreckte. Mythor zog die Hände schnell zurück, denn die vom Herzog ausgehende Käl te hatte sie ganz gefühllos gemacht. »Was geschieht mit ihm, Mythor?« fragte Nyala und schob sich neben ihn. Sie streckte die Hände nach ihrem Vater aus, zuckte jedoch sofort wieder zurück. »Er ist so unnatürlich kalt. Was bedeutet das, Mythor?« »Ich fürchte, es ist meine Schuld«, sagte Mythor schweren Herzens. Er richtete sich auf und erwiderte Nyalas ungläubi gen Blick. »Du?« fragte Nyala verständnislos. »Warum solltest du dich am Zustand meines Vaters schuldig fühlen müssen? Du hast doch nichts getan.« »Doch, Nyala«, beharrte Mythor fest. »Ich habe mich eines schweren Vergehens schuldig gemacht. Meine einzige Ent schuldigung ist, daß ich nicht wußte, welch schlimmes Schick sal ich damit für deinen Vater heraufbeschwören würde.« Nyala schüttelte ungläubig den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Wessen du dich auch bezichtigen willst, ich glaube es nicht. Du trägst doch den Funken des Lichtboten in dir. Du bist…« Er legte ihr die Hand auf den Mund. »Sag es nicht, ich bin dieses Namens nicht würdig. Ich habe schwer gefehlt, als ich Prinz Nigomir versprach, deinen Vater als Bürgen auf der Gol denen Galeere zurückzulassen, wenn er uns an Land bringt.« »Das… das kannst du nicht getan haben, Mythor. Nicht du!« »Doch. Es ist die Wahrheit.« Er sah, welcher Kampf der Gefühle in ihrem Gesicht tobte.
Auf einmal löste sich ihre Verkrampfung in einem Schrei, und sie stürzte sich auf ihn. Sie trommelte wie von Sinnen auf ihn ein, schlug nach seinem Gesicht und bohrte ihm die Fingernä gel ins Fleisch. Mythor ließ es ohne Gegenwehr mit sich ge schehen. Nyala ließ unvermittelt von ihm ab, drehte sich mit wim merndem Schluchzen ab und sank in die Koje ihres Vaters. »Du Elender! Hinterhältiger, erbärmlicher Verräter«, kam ih re Stimme gedämpft. Sie war im Augenblick bar jeglicher Ge fühle. Als sie sich ihm zuwandte, da war ihr Gesicht jedoch von unbändiger Wut verzerrt. Und ihre Stimme war von der gleichen Leidenschaft gezeichnet, als sie sagte: »Ich habe dich geliebt, ich habe dich verehrt. Aber jetzt hasse und verachte ich dich. Ich verabscheue dich so sehr, wie ich dich geliebt ha be.« Sie erhob sich, taumelte jedoch und mußte sich mit dem Rü cken abstützen. Mythor wollte ihr behilflich sein, aber dann sah er den Ekel in ihrem Gesicht und ließ es bleiben. »Rühr mich nicht an!« sagte sie fauchend. »Ich wünsche dir alles erdenklich Böse, Mythor! Ich werde dich vernichten! Das gelobe ich.« »Ich wollte das nicht, Nyala«, sagte Mythor und kam sich dabei verloren und hilflos vor. »Wenn ich geahnt hätte, was mit deinem Vater passieren würde, hätte ich mich nie auf die sen Handel eingelassen.« »Ist das deine ganze Rechtfertigung?« Verachtung sprach aus ihrer Stimme. »Ich kann deine Nähe nicht mehr ertragen, Mythor.« Sie zwängte sich an ihm vorbei zur Tür. »Ich lasse dich mit deinem Opfer allein. Du kannst die Totenwacht hal ten!« Damit verließ sie die Kajüte. Mythor blickte zu Herzog Krude, der röchelnd in der Koje lag. In diesem Moment wäre er bereit gewesen, sich selbst zu opfern, um dem Herzog zu Wärme und Leben zu verhelfen.
Aber der Lauf der Dinge ließ sich nicht mehr ändern, das Ver hängnis war nicht mehr abzuwenden.
Der Sturm zerrte an ihr, und sie fand auf den schwankenden Schiffsplanken kaum Halt. Gischt spritzte ihr ins Gesicht, aber das kalte Wasser konnte sie nicht kühlen. Ihre Hand glitt an der glitschigen Bordwand ab, die Kälte ließ ihr Fleisch erstar ren. Schmerzhaft gruben sich ihr die Taue in die Handflächen. Das Unwetter entsprach genau dem Vorgang in ihrem Inne ren. Wenn jetzt eine Flutwelle käme und mich über Bord schwemm te, dachte sie, dann wäre ich eins mit den Elementen. Aber diese romantische Vorstellung erfüllte sich nicht. Ihre Träume waren nie Wirklichkeit geworden. Auch ihr letzter Traum, der ihr so nahe der Verwirklichung schien, war zu nichts zerplatzt. Mythor, mein Traum – mein Meuchelmörder… Sie war so fest davon überzeugt gewesen, daß er der Sohn des Kometen war, dessen Ankunft die Legende in einer Zeit großer Not verhieß. Er konnte es nicht sein. Ihr Vater hatte wohl recht gehabt, daß sie eine unverbesserliche Schwärmerin war. Sie hatte nie auf ihn gehört, war ihre eigenen traumver schlungenen Pfade gegangen, selbstsüchtig und selbstherrlich gegenüber allem, was ihr zu Füßen lag, aber empfangsbereit und aufopfernd für alles Unerreichbare. Sie hatte geschwebt, aber nach diesem tiefen Fall stand sie fest auf ihren Beinen. Wenn du einen Feind nicht schlagen kannst, verbünde dich mit ihm! Von wem stammten diese Worte? Von Hauptmann Zohmer Felzt, der sie in hündischer Ergebenheit angebetet hatte und seine Seele für einen sechs Jahre dauernden Sinnenrausch an ihrer Seite gegeben hätte? Schon möglich. Er hatte jedenfalls danach gehandelt, als er sich mit den Caer verbündete, um sie für sich zu haben. Sie hatte ihn mit einem tödlichen Schwert
streich dafür belohnt. Jetzt wäre ihr einer wie Felzt gelegen gekommen, um ihn auf Mythor zu hetzen. Wie sie Mythor nur haßte! Er konnte nicht der sein, für den sie ihn gehalten hatte. Mythors Handlungs weise war eines Sohnes des Kometen unwürdig. Der Sturm und die Gischt hatten eine kühlende Wirkung. Sie vertrieben die Hitze aus ihrem Kopf, und ein Gedanke schlich sich in ihren Geist, den sie schnell wieder von sich wies. Sie redete sich ein, daß sie nicht wankelmütig werden durfte. Was Mythor getan hatte, war unverzeihlich. Diese Schmach durfte sie nicht auf sich sitzen lassen. Ihm gehörte ihr ganzer Haß. Er mußte für seinen Verrat bezahlen. Nyala sah eine Wasserwand geradewegs auf sich zukom men. Der rollende Wasserberg war fast so hoch wie der Schiffsmast. Im nächsten Moment war die Flutwelle heran, erschütterte das Schiff und schwemmte sie mit sich fort. Sie rang vergeblich nach Luft und schluckte Wasser. Ihre Hände fanden keinen Halt. Da griff ein starker Arm nach ihr und hielt sie fest. Als die Wassermassen zurückfluteten, erkannte sie in ihrem Retter einen der Seelenlosen. Sie wollte schreien, doch dann merkte sie, daß von ihrem unheimlichen Retter nichts Unheilvolles ausging. Sie empfand es fast als beruhigend, daß er sie am Arm festhielt. Der seltsame Recke hatte für sie auf einmal et was Beruhigendes an sich. Sie spürte, wie durch ihn ein Ruck ging und er sie mit sich sicher über die Schiffsplanken führte, wie diese auch wankten und erschüttert wurden. Das Heulen des Sturmes übertönte gnädigerweise alle von ihm ausgehenden Geräusche. Er war ein stummer und sicherer Lotse durch die tobenden Elemente. Und da stand Prinz Nigomir. Breitbeinig und mit flatternder Mähne. Er hielt die beiden Flügelklappen offen und gab so den Zugang in den Bauch des Schiffes frei. Dabei hatte er das
Gesicht abgewandt. Nyala wehrte sich in plötzlich aufkeimender Angst gegen den Griff ihres Führers, und der Seelenlose folgte sofort ihrem Zug und hielt an. Wie konnte der Sklave einer dämonischen Macht nur so einfühlsam sein und auf ihre leiseste Regung eingehen? Das nahm ihr die Angst vor dem, was im Schiffsbauch auf sie wartete. Sie ließ sich ohne Widerstreben zu der Öffnung geleiten und stieg dann aus eigener Kraft die Leiter hinab. Sie war nun fest entschlossen und voller Rachepläne gegen Mythor. Wenn du einen Gegner nicht bezwingen kannst, verbünde dich mit seinem Feind!
Mythor konnte sich nicht erklären, woher die Müdigkeit kam, die seinen Kopf so schwer machte, daß er ihn schließlich nicht mehr halten konnte. Wie im Traum verfolgten ihn die ganze Zeit über wildes Sturmgeheul und Meeresrauschen, und die schwankenden Bewegungen seiner Umgebung hielten ihn in einem Dämmerzustand, in dem ihm alles wie zwischen Traum und Wirklichkeit erschien. Als das Toben sich legte, schreckte er aus diesem unnatürli chen Schlummer hoch. Tageslicht fiel durch das Bullauge. Herzog Krude lag wie tot da, und von ihm ging die Kälte eines Eisbergs aus. Mythor fühlte sich selbst wie zu Eis erstarrt. Nyala! Der Gedanke an sie ließ ihn aufspringen. Mit einem einzigen Blick stellte er fest, daß die beiden oberen Kojen leer waren. »Nyala!« Mit ihrem Namen auf den Lippen stürzte er aus der Kajüte. Er machte einige Schritte auf Deck, bevor er stehenblieb. Zual
lererst fiel ihm die unheimliche Stille auf. Prinz Nigomirs sechs Mannen waren über das ganze Schiff verstreut und zu bewegungslosen Statuen erstarrt. Nigomir selbst war nicht zu sehen. Die See war ruhig; von ferne war das Kreischen eines weißen Vogels zu hören, der majestätisch seine Kreise zog. Und dort war Land. Keine vier Steinwürfe an Steuerbord erstreckte sich eine flache Landzunge in die See, und dahinter erhob sich ein Streifen Grün. Endlich am Ziel. Sie waren gerettet! »Nyala!« Der Ruf verhallte wirkungslos. Die Seelenlosen standen stumm und reglos. Mythor faßte die Klappe ins Auge, die über den Zugang zum Laderaum geschlossen war. Dann wandte er den Kopf zum Heck. »Prinz Nigomir!« rief er in Richtung der Kapitänskajüte. »Wo hältst du meine Gefährtin versteckt?« Er dachte an Nyalas Gefühlsausbruch, als er ihr seine unseli ge Vereinbarung mit dem verfluchten Eisländer gestanden hatte. Aber wie ernst sollte er ihre Drohung nehmen? Sie war sehr jähzornig und sagte in ihrer ersten Erregung oft Dinge, die sie letztendlich nicht so meinte. Mythor näherte sich der Kajütentür. »Prinz Nigomir, ich ver lange von dir Aufklärung!« rief er, als er den Mast mittschiffs erreicht hatte. Wieder kam keine Antwort, und Mythor tat einen weiteren Schritt. Da kam auf einmal Leben in die beiden Seelenlosen, die am Zugang zum Laderaum Wache standen. Als Mythor das sah, begann er zu laufen. Er erreichte die Tür zur Kapitänskajüte noch vor seinen Ver folgern, die ihm ächzend und knarrend dicht auf den Fersen waren. Mythor rannte in vollem Lauf gegen die Tür. Der Auf prall war so hart, daß ihm schwarz vor Augen wurde. Er meinte, gegen eine Felswand gerannt zu sein. Aber das Kra
chen zeigte ihm an, daß die Tür unter der Wucht seines An sturms nachgegeben hatte. Sich von den Trümmern befreiend, drang er in die Kabine ein. Ohne dieses Ziel vor Augen gehabt zu haben, stand er auf einmal vor dem Waffenschrank. Die günstige Gelegenheit nutzend, holte er daraus sein Caer-Schwert hervor und stellte sich damit den beiden Verfolgern. »Zurück!« Wie hingezaubert stand auf einmal Prinz Nigomir vor seiner Koje. Mythor hatte nicht gesehen, wie er daraus hervorgekommen war. Breitbeinig, die Hände um die verdick ten Enden seines armlangen Lederknüppels gespannt, sah er Mythor an. »Was willst du bei mir?« fragte Prinz Nigomir barsch. »Ich habe mein Versprechen gehalten und Land angesteuert. Sieh nun zu, daß du von Bord gehst.« »Gib zuerst Nyala frei«, verlangte Mythor. »Es war abge macht, daß sie mich begleitet. Wo ist sie?« »Du hättest besser auf sie achtgeben müssen«, antwortete Nigomir. »Ich habe nichts mit ihr zu schaffen. Geh jetzt!« »Nicht, ehe du mir…«, begann Mythor, sprach den Satz je doch nicht zu Ende. Er sah, wie Nigomirs eine Hand ansatzlos vorschnellte und dabei den an beiden Enden beschwerten Knüppel schwang. Gleich darauf wirbelte dieser durch die Luft auf ihn zu. Mythor wollte das Wurfgeschoß mit seiner Schwertklinge abfangen. Aber bevor er das Schwert gehoben hatte, schlang sich der Lederriemen um seinen Hals und zog ihn mit sich. Er schnürte ihm förmlich die Kehle ab, und er verlor den Halt. Bevor er jedoch stürzte, löste sich der Flecht riemen von seinem Hals und flog zu Nigomir zurück, der sei ne seltsame Wurfwaffe wieder auffing. Als Mythor rücklings auf dem Boden landete, rollte er sich nach hinten ab und kam außerhalb der Kajüte wieder auf die Beine. Sofort wollte er sich mit dem Rücken zu den Heckauf
bauten stellen, aber da bekam er von hinten einen Stoß und wurde zur Bordwand geschleudert. Er war ganz benommen von dem Aufprall, kam jedoch augenblicklich wieder auf die Beine und stellte sich seinen Angreifern. Er sah, daß er es mit allen sechs Mann zu tun hatte, die Ni gomir noch verblieben waren. Sie bildeten eine Linie, die nur an einer Stelle unterbrochen war. Den freien Platz nahm Prinz Nigomir selbst ein. Er ließ spielerisch die verdickten Enden seiner Wurfwaffe von einer Hand in die andere gleiten, und er tat es so schnell, daß Mythor mit den Augen nicht folgen konnte. »Spring, Mythor!« sagte der Eisländer fast sanft. »Verlasse mein Schiff, bevor du noch schlimmere Erfahrungen machst als die, daß du deine Gefährten verloren hast. Dies ist deine letzte Gelegenheit.« »Ich habe nur einmal gefehlt«, sagte Mythor und behielt die Angreifer im Auge. »Ich werde das Vertrauen meiner Gefähr ten kein zweites Mal mißbrauchen. Gib mir Nyala, dann will ich deinen hinterlistigen Versuch, sie mir abspenstig zu ma chen, vergessen.« »Ich habe auf sie keinen Einfluß«, sagte Nigomir. »Und hast du sie überhaupt gefragt, ob sie denn mit dir gehen will?« »Wo ist sie?« Statt einer Antwort sagte Nigomir: »Flieh, Mythor, das er spart dir viel Leid.« »Nie!« Mythor war entschlossen, eher im Kampf zu sterben, als Ny ala aufzugeben. Wenn er wirklich zu Höherem berufen war und er unter dem Leitstrahl des Kometen stand, dann mußte diese Kraft auch seine Schwerthand im Kampf gegen diese seelenlosen Sklaven der dunklen Mächte führen. Noch hatte sich die Lage nicht so weit zugespitzt, daß das Äußerste unvermeidlich war, und Mythor hatte die leise Hoff
nung, daß Nigomir vielleicht doch klein beigeben werde. Seine Haltung war abwartend. Da durchbrachen ferne Geräusche die spannungsgeladene Stille. Sie kamen von Land. Es waren laute, kehlige Schreie wie von Tieren, die von Hufgeklapper begleitet wurden. Mythor wandte halb den Kopf, um einen Blick auf die Ver ursacher des anschwellenden Lärms zu werfen. Aus den Au genwinkeln erkannte er eine Reitergruppe, die über die Dünen preschte, vor dem Meer abschwenkte und dann das Ufer ent langritt. Er drehte den Kopf noch weiter herum, um Einzelheiten er kennen zu können. Doch war die wilde Reiterhorde zu weit entfernt. Es waren bloß barbarisch anmutende, zottige Gestal ten zu erkennen, die drohend ihre Waffen schwangen und da bei ihre an Tiergekläff gemahnenden Schreie ausstießen. Es schien so, als ob sie mit ihren Rössern in Wettstreit mit der gemächlich dahingleitenden Goldenen Galeere treten wollten. Der Anblick lenkte Mythor nur für den Bruchteil eines A temzugs von der unmittelbaren Gefahr ab. Er hatte das Ge fühl, daß seine Gegner diesen Moment der Unachtsamkeit für sich nutzen wollten, und duckte sich blitzschnell ab. Etwas zog dicht über seinem Kopf eine gerade Bahn, und als er ihm nachblickte, erkannte er Nigomirs Würgeschleuder. Der Eis länder hatte sie zweifellos in der Absicht geworfen, ihn damit über Bord zu schleudern. Jetzt stand Nigomir mit leeren Händen da. Er ballte sie zu Fäusten. Mythor meinte, in seinem knöchernen Gesicht einen Ausdruck des Bedauerns zu erkennen. Mythor konnte sich jedoch nicht weiter mit Nigomir befas sen, denn von links hatte sich einer der Angreifer genähert. Dieser stieß mit dem Keulenende seiner Lanze nach ihm, doch Mythor wich dem Schlag mit einem Sprung zur Seite aus. Er wunderte sich selbst, daß ihm das so leicht fiel. Aber schon
nach der Attacke des nächsten Angreifers, der er mit dem glei chen Ausweichversuch entging, merkte er, daß die Seelenlosen mühelos zu durchschauen waren. Sie waren zwar ungemein schnell, aber einfallslos und nicht wendig. Sie trugen einer wie der andere ihre Angriffe nach dem gleichen Muster vor: hin hauen und nachsetzen und stur auf den Gegner einstürmen. Nachdem Mythor dies erkannt hatte, stellte er sich auf seine Gegner ein. Er wich ihren Hieben aus, ließ sie ins Leere rennen oder schlug ihre Lanzen mit Schwertstreichen zur Seite. Durch die so entstandenen Lücken konnte er stets einer Umzingelung entgehen und den Gegnern in die Rücken fallen. Nigomir mischte sich nicht in die Auseinandersetzung ein, sondern stand wie ein unparteiischer Beobachter abseits. Seine dunklen Augen folgten jeder Bewegung Mythors, aber er blieb dabei unbewegt, als gehe ihn das alles nichts an. Mythor stand am Mast und wurde von zwei Seelenlosen gleichzeitig bedrängt. Der eine bedrohte ihn mit dem Enterha ken seiner Lanze, der andere schlug mit der Keule nach ihm. Mythor wich hinter den Mast aus, und der Widerhaken schlug mit einem knallenden Geräusch in das versteinerte Holz ein. Die Keule durchschnitt an der Stelle die Luft, an der sich so eben noch sein Kopf befunden hatte. Die Wucht des Schlages hätte seinen Schädel zertrümmern können. Mythor schwang sein Schwert und zerschlug mit einem Hieb den Lanzenschaft. Dann wich er zum Bug aus. Drei Angreifer folgten ihm mit vorgehaltenen Hakenlanzen. Doch bevor sie ihn bei den Aufbauten in die Enge treiben konnten, schwang er sich über das Geländer auf die Treppe, die zur Buggalerie hinaufführte. Die Angreifer wollten ihm folgen, aber sie waren sich gegen seitig im Weg. Mythor hielt sie mit Kreuzhieben seines Schwertes im Schach. Eine der Lanzen brach, als ein Angreifer mit den Widerhaken nach ihm stoßen wollte. Ein zweiter An
greifer wollte blindlings hinaufstürmen und lief ihm gerade wegs ins Schwert. Obwohl ihm die Klinge eine tiefe Wunde geschlagen haben mußte, war kein Blut zu sehen. Das machte den Kampf noch unheimlicher und auch aus sichtsloser. Gegner, die nicht bluteten, konnten wahrscheinlich auch nicht sterben. Zudem spürte Mythor, daß seine Kräfte langsam zu erlahmen drohten. Er mußte sich beeilen, um eine Entscheidung herbeizuführen. Auf der Buggalerie war er zwar einigermaßen sicher, aber er war auch abgeschnitten. Es gab nur noch eine Möglichkeit, wo Nyala sein konnte. Das war der Laderaum, wo sich auch der Sarg mit Drundyr befand. Die Aussicht, daß sich Nyala in unmittelbarer Nähe des Caer-Priesters befand, machte Mythor rasend vor Wut und Angst. Er vernachlässigte seine Verteidigung, um die Angreifer heraufzulocken, und sie waren kopflos genug, dichtgedrängt nach oben zu stürmen. Mythor wartete, bis der erste von ihnen auf der Galerie war und der letzte auf der Treppe nachdräng te. Dann sprang er über die Brüstung in die Tiefe. Als die Angreifer erkannten, daß sie ins Leere stießen, gaben sie eine Reihe unmenschlicher Laute von sich. Mythor hatte nun einen genügend großen Vorsprung und freie Bahn, denn Nigomir stand immer noch wie ein unbetei ligter Zuschauer vor seiner Kajüte und stellte ihm nichts in den Weg. Der Eisländer sah unbewegt zu, wie Mythor sich der Laderaumklappe näherte. Irgend etwas ließ Mythor kurz zögern. Es war nicht das Ge schrei, das vom Ufer übers Meer schallte, das ihn ablenkte. Er vermerkte nur nebenbei, daß die barbarische Reiterhorde auf Höhe der Goldenen Galeere die Dünen kreuz und quer durch pflügte. Sie stießen dabei ein zorniges Geheul aus und schwangen ungestüm ihre Waffen. Einige der Barbaren trieben ihre Pferde in die Fluten, kehrten jedoch immer wieder um, als
sie einsahen, wie aussichtslos ihr Unterfangen war, das Schiff auf diese Weise zu erreichen. Andere wiederum preschten auf die Landzunge hinaus, um so der Goldenen Galeere näher zu kommen. Aber auch sie mußten einsehen, daß das Schiff für sie unerreichbar war. Mythor konnte sich vorstellen, wie sehr sich diese Wilden mit ihrer zügellosen Wut gegenseitig aufsta chelten. Aber er hatte andere Sorgen. Da war die Klappe. Mythor verhielt den Schritt. Etwas stimmte nicht. Was hatte er überse hen? Was hatte er nicht bedacht? Sein Kampf gegen Nigomirs seelenlose Mannschaft war aus sichtslos. Er konnte nur von Bord gehen – oder fallen. Ersteres würde er nicht ohne Nyala tun, und in letzterem Fall wollte er wenigstens noch den caerischen Dämonenpriester mit ins Verderben reißen. Mythor war entschlossen, Drundyr diesmal den Garaus zu machen. Er bückte sich nach der Klappe – da öffnete sie sich von selbst. Nyala erschien im Schacht. Mythor wollte sie schon schützend an sich ziehen, hielt je doch mitten in der Bewegung inne. Denn hinter ihr tauchte eine zweite Gestalt auf. Es war Drundyr.
Mythor wich entsetzt einen Schritt zurück. Nyala war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Um die Augen hatte sie dunkle Ringe. Das volle, ovale Gesicht war eingefallen, ihre Haut aschgrau – jedoch ohne den bläulichen Gletscherschimmer. Ihre Lippen, die für Mythor der Inbegriff von Sinnlichkeit ge wesen waren, wirkten blutleer und wie ausgetrocknet. Sein Entsetzen wechselte zu Mitleid und Schmerz. Es zog ihn wie der zu ihr, doch die eisige Wolke, die sie umhüllte, ließ ihn
erneut zurückprallen. Nyala war auf eine eigene Weise immer noch schön, aber es war mehr die Schönheit einer vollendet geformten Puppe. Sie hatte nicht mehr die Ausstrahlung des Weiblichen, nichts Be gehrenswertes mehr. Als sie in voller Größe an Deck kam, da hatte sie für Mythor etwas von einem Boten der Finsternis an sich. Drundyr, der ihr dichtauf gefolgt war, stellte sich neben sie. Mythor wurde mit einem Schlag klar, was ihn ins Bewußtsein zurückgerufen hatte. Er hatte die Lebenskraft in sich aufge nommen, die Nyala entzogen worden war. Drundyr erschien in voller Priesterkleidung. Sein starres Ge sicht mit den unheimlichen Augen verschwand fast unter dem knochenverzierten Spitzhelm. Sein schwarzer, silberbestickter Mantel schlotterte um seine hohe, dürre Gestalt. Darunter sah das geschwärzte Lederschuhwerk hervor. Die Handschuhe aus dem gleichen Material, das geschwärzten Knochen glich, ragten seitlich aus den Mantelschlitzen. Der Caer-Priester stand wie schwebend da, und er erweckte den Anschein, als könne ihn der leiseste Windstoß umwerfen. Aber es regte sich kein Lüftchen, alles schien auf dem Schiff unter dem Einfluß dämonischer Mächte erstarrt zu sein. Auch Mythor war zu keiner sinnvollen Handlung fähig, was jedoch weniger auf Magie zurückzuführen war, sondern ein fach daher kam, daß er alle Hoffnung fahrenließ. Er erkannte nun, daß Nyala für ihn verloren war. Sie stand im Schatten Drundyrs. Mythors Lähmung machte ihn zu einer leichten Beute für die Seelenlosen, die ihm plötzlich in den Rücken fielen und ihn niederknüppelten. Als sie ihn wieder auf die Beine zerrten, spürte er an seinem Rückgrat den Schaft einer Hakenlanze, und seine nach hinten gebogenen Arme waren daran gefesselt. Er mußte den Rücken hohl krümmen, um sich nicht an der
zweischneidigen Klinge zu verletzen. Die Krallen der Wider haken drückten ihm schmerzhaft gegen den Hinterkopf, wenn er den Kopf zu senken vergaß. In dieser unnatürlichen und kräfteraubenden Haltung stand er nun Nyala und Drundyr gegenüber. Die Seelenlosen waren zurückgewichen, und Nigomir hatte sich zu ihnen gesellt. Sie bildeten zusammen einen Kreis. »Wie konntest du so leichtfertig sein und unter Deck gehen, Nyala«, sagte Mythor ohne Vorwurf. Er empfand nur Bedau ern für sie. »Du mußt gewußt haben, wie gefährlich dir Drun dyrs Nähe werden konnte.« »Ich war keineswegs leichtfertig«, sagte Nyala mit leiden schaftsloser Stimme; in ihr war nur noch ein schwacher Funke Gefühl. Doch dieser entfachte sich zu flammendem Haß, der sich in ihrem Gesicht niederschlug, als sie hinzufügte: »Ich habe Drundyr in einer ganz bestimmten Absicht aufgesucht. Habe ich dir nicht Rache geschworen, Mythor?« »Du hast…?« Mythor konnte nicht zu Ende sprechen. »Ja, ich habe Drundyr aufgesucht, um ihn zu Hilfe zu rufen«, fuhr Nyala fort. Der Funke des Hasses war verglommen, ihr Gesicht war wieder eine ausdruckslose, düstere Maske. »Und er hat mir seinen Beistand nicht verwehrt. Ich brauchte ihm nur etwas von meiner Lebenskraft zu spenden. Und dazu hat te ich die ganze Nacht Zeit, denn eine dunkle Wolke hat dich in Schlaf gehalten.« »Wie konntest du das nur tun, Nyala?« sagte Mythor fas sungslos. »Wie konntest du nur dein Leben hinwerfen, in ei nem kurzen Augenblick der Unbeherrschtheit? Du hättest dei ne Wut verrauchen lassen sollen.« »Mein Haß auf dich entsprang nicht einer plötzlichen Lau ne!« Der Funke der Leidenschaft glomm nun in ihrem Blick auf. »Ich habe keinen zu hohen Preis bezahlt, wenn ich dich dafür der verdienten Strafe zuführen kann.«
Drundyr machte eine ungeduldige Handbewegung, und Nyala trat sofort zurück. Er hatte sie bereits fest in seiner Ge walt, wie auch die gesamte Mannschaft der Goldenen Galeere. Auch Nigomir konnte sich dem Bann des Caer-Priesters nicht mehr entziehen. Er war kein Unbeteiligter mehr, sondern ein willenloser Sklave. Es gab nur noch zwei freie Geister an Bord der Goldenen Ga leere ihn und Drundyr, die hier aufeinanderprallten. Doch der Caer-Priester war auch nur so frei, wie der ihn beherrschende Dämon es ihm gestattete. Und dieser Dämon war Mythors ei gentlicher Gegenspieler. »Ich habe dir einmal das Leben gerettet, weil ich deine au ßergewöhnlichen Anlagen erkannte«, sagte Drundyr mit sei ner hohen Stimme, die auch im Flüsterton schrill klang. Wenn er sie aber im Zustand der Erregung erhob, dann wurde sie zu einem unerträglichen Kreischen. Noch blieb der Caer-Priester jedoch ruhig, als er fortfuhr: »Ich hatte Großes mit dir vor, My thor. Ich dachte, daß mich Drudin in den Zwölferrat unserer Priesterschaft erheben würde, wenn ich dich ihm zum Ge schenk machte. Du hättest dich bestimmt als Mittler zwischen dem Diesseits und der Schattenwelt geeignet. Aber die höhe ren Mächte haben es anders gefügt. Es spricht für dich, daß du dem Vallsaven entkommen bist. Das zeigt aber auch deine Ge fährlichkeit.« »Gibst du damit zu, daß du außerstande bist, mir deinen Willen aufzuzwingen?« rief Mythor höhnisch. »Du hast es schon einmal versucht und würdest immer wieder scheitern.« »Ich könnte dich bezwingen!« schrie Drundyr mit schrill er hobener Stimme. » Aber ich will dich den Mächten der Fins ternis opfern. Ich werde hier und jetzt deinen Körper öffnen, um deine Lebenskraft ins Schattenreich fließen zu lassen.« Mythor zuckte zurück, als Drundyr einen Opferdolch unter seinem Umhang hervorzog und damit ausholte.
Aber da stand Nyala dazwischen. Sie warf sich gegen Drun dyr, streckte sich und packte ihn am dolchführenden Arm. Es entging Mythor nicht, daß Drundyr in dem Maß geschwächt wurde, in dem sie ihren eigenen Willen durchsetzte. Und so gelang es ihr, den Dolchstoß zu verhindern. »Drundyr!« Es war keineswegs ein Befehl, sondern mehr ein Flehen und Bitten. »Drundyr, du hast versprochen, nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben.« »Ich bin zum Geben bereit«, sagte der Caer-Priester. »Aber verlange nicht das Leben dieses Mannes.« »Das ist gar nicht meine Absicht«, versicherte Nyala und wandte sich Mythor zu. Ihre Blicke kreuzten sich. Nyalas Au gen waren voll unerbittlichem Haß, aber da war auch noch etwas anderes darin, was er nicht recht deuten konnte. Ihr Haß entsprang gekränkter Eitelkeit – zu einem guten Teil zumin dest. Aber wie sollte er das andere Gefühl deuten, das in ihren Augen zum Ausdruck kam? War es eine Spur Reue über den vorschnellen Entschluß? Oder eine leise Hoffnung, daß er trotz einer einmaligen Schwäche noch zu dem werden konnte, den sie einmal in ihm gesehen hatte? »Ich habe von dir verlangt, daß du Mythor leiden läßt«, sagte sie nun an Drundyr gewandt. »Ein Dolchstoß aber würde ihm einen zu schnellen Tod bereiten. Welche Qualen würde er da gegen erleiden, wenn er so, wie er ist, gegen den nassen Tod ankämpfen müßte. Wirf ihn ins Meer, Drundyr!« »Dein Vorschlag hat etwas für sich«, sagte der Caer-Priester überlegend. »Aber ich traue es diesem zähen Burschen zu, daß er auch das überlebt. Er ist selbst dem Vallsaven entkommen.« »Damals waren seine Hände nicht gebunden«, erwiderte Nyala. »Aber selbst wenn er das Unglaubliche vollbringt und sich ans Ufer retten kann, erwarten ihn dort die Barbaren. Sieh nur, wie sie sich vor Wut förmlich verzehren. Mythor wäre ein
willkommenes Opfer für sie.« Drundyr blickte nachdenklich zum Ufer, wo sich die wilde Horde in wahre Raserei gesteigert hatte. Sie benahmen sich wie ausgehungerte Wölfe, die die nahe und doch unerreichba re Beute an den Rand des Irrsinns trieb. »Es sei!« Drundyr hatte es kaum gesagt, da fühlte sich Mythor an der Lanze hochgehoben. Er hing nur an den gefesselten Armen. Die Fesseln schnitten ihm tief in die Handgelenke, in seinen Schultern war ein flammender Schmerz, als würden ihm die Arme aus den Gelenken springen. Und dann flog er in weitem Bogen über Bord, ohne daß ihm noch ein letzter Blick auf Nyala vergönnt gewesen wäre. Er sog die Luft tief ein, bis er meinte, es würde ihm den Brustkorb sprengen – und bis das Wasser über ihm zusam menschlug. Obwohl ihm die Klinge schmerzhaft in den Rücken schnitt und die Spitzen der Widerhaken gegen seine Schädeldecke schlugen, strampelte er wie wild mit den Beinen, um an die Wasseroberfläche zu kommen. Dabei hielt er die Augen offen, um im trüben Wasser nach den Schatten von Seeungeheuern zu spähen. Gleichzeitig winkelte er die Arme weiter an, bis seine Handfesseln über die Klinge des Lanzenschafts glitten. Mythor tauchte auf und schöpfte erneut Luft, bevor sein Körper wieder sank. Er sah kurz die Breitseite der Goldenen Galeere, über deren Bordwand ihn aus maskenhaften Kno chengesichtern mitleidlose Augen ansahen. Dann ging er wie der unter. Diesmal vergeudete er seine Kräfte nicht mit Wassertreten, sondern zerrte an seinen Fesseln, bis er spürte, daß sie nach gaben. Strick um Strick wurde von der Klinge zerschnitten, und dann war er frei. Japsend tauchte er auf, die Hakenlanze nun als Waffe am
Griff haltend. Er war frei und konnte sich auch gegen Angriffe der Bestien aus der Unterwasserwelt wehren. Aber noch schienen die Ungeheuer aus der Tiefe ihn nicht gewittert zu haben. Dafür hatten ihn andere Feinde ausgemacht. Ein Blick zum Ufer zeigte ihm, daß er von den mordlüster nen Barbaren bereits sehnlichst erwartet wurde. Er hatte nun die Wahl, sich schwimmend über Wasser zu halten, bis seine Kräfte erlahmten oder ein Meeresungeheuer ihn witterte. Die andere Möglichkeit war, sich an Land zu be geben und sich den Barbaren zum Kampf zu stellen. Er entschied sich für letzteres, wie gering ihm seine Überle benschancen auch erschienen. Aber das Meer war nicht sein Element, und an Land konnte er sich wenigstens seiner Haut wehren und wie ein Mann im Kampf fallen. Langsam, um seine Kräfte nicht zu vergeuden, schwamm er dem Ufer zu. Ein Blick zurück zeigte ihm, daß sich die Goldene Galeere aufs offene Meer entfernte. Er schenkte Nyala einen letzten wehmütigen Gedanken, dann widmete er seine ganze Aufmerksamkeit der Gefahr, die vor ihm lag. ENDE
Der nächste MYTHOR-Band:
Um sein eigenes Leben zu retten, mußte MYTHOR Nyala und ihren Vater an Bord der Goldenen Galeere zurücklassen und sich allein an Land durchschlagen. Will er seinen Fehler wie dergutmachen, muß er nun die erste ihm auferlegte Prüfung bestehen und Xanadas Lichtburg erreichen, wo das Gläserne Schwert Alton auf den Sohn des Kometen wartet. Dieses Schwert soll ihm im Kampf gegen die Mächte des Bösen bei stehen. Doch auf seinem Weg zur Lichtburg trifft er in einem ausge dehnten Sumpfland auf eigenartige Menschen und andere, weniger menschliche Wesen, gewinnt neue Freunde und macht sich neue Feinde. Und als er die Lichtburg endlich er reicht, muß er feststellen, daß sie inzwischen zu einem Hort der Finsternis geworden ist. MYTHORS Ankunft löst heftige Kämpfe aus, die er nur überleben kann, sollte es ihm gelingen, das Gläserne Schwert zu finden und für sich zu gewinnen. Weder MYTHOR noch seine neuen Gefährten ahnen, daß der verlockende Fluchtweg aus der Lichtburg in ein unterirdi sches Reich voller neuer Schrecken und Gefahren führt. Ob und wie MYTHOR das Ziel seiner ersten Prüfung als Sohn des Kometen erreicht, erfahren Sie im nächsten span nenden Band der MYTHOR-Serie:
DER WAHNSINNIGE XANDOR