GORDON BLACK Band 1
Der Spiegel des Grauens von Norman Thackery
Wenn hinter den Palastmauern des Grafen Girolamo Musi...
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GORDON BLACK Band 1
Der Spiegel des Grauens von Norman Thackery
Wenn hinter den Palastmauern des Grafen Girolamo Musik erklang und bis in die Morgenstunden gellende Schreie ertönten, bekreuzigten sich die Menschen in Venedig. Der Teufel sei dort zu Gast, hieß es, und Girolamo sei ein guter Gastgeber. Als die Soldaten des Dogen die Palasttüren einschlugen, fanden sie die Überreste von mehr als fünfzig Menschen, die der Graf auf entsetzliche Weise umgebracht hatte. Das Urteil für Girolamo lautete, auf dieselbe Art zu sterben wie seine Opfer – auf einen spitzen Pfahl gespießt und angesichts eines Spiegels, der ihm sein eigenes qualvolles Sterben zeigte…
Dumpf entsann er sich, daß er gelebt hatte, daß er hingerichtet wurde und daß man seinen geschundenen Körper auf dem Scheiterhaufen hatte verbrennen wollen. Davor war irgend etwas geschehen. Jemand hatte einen entsetzlichen Bannfluch gegen ihn geschleudert. Jedenfalls war er nicht auf den Scheiterhaufen gekommen. Gewissermaßen von einer höheren Warte aus hatte er seinen eigenen zuckenden Körper auf dem blutigen Pfahl sitzen sehen, hatte die namenlose Pein in seinen Augen erblickt und die
kaum noch menschlichen Töne vernommen, die dem brüllenden runden schwarzen Loch entflohen, das sein Mund war. Eine ungeheure Macht hatte Gewalt über ihn bekommen und hielt seine leicht wie eine Feder schwebende Seele von seinem gemarterten Körper fern. Und endlich zog ihn diese Macht hinab in die Folterkammer, zwischen den Knechten, dem Schreiber und den Vertretern des Klerus hindurch, in den Spiegel hinein, den sie ihm hingestellt hatten. Und plötzlich war seine Seele wieder mit seinem gepeinigten Körper vereint. Er hörte die Entsetzensschreie der Folterknechte, der Vertreter der Kirche, den zweiten Bannfluch »Anathema sit!«, den sie ihm nachschleuderten, und er sah den leeren Pfahl. Die unbekannte Macht hatte seinen Leib vom Pfahl gerissen. Noch in der Folterkammer fügte sie das Fleisch mit der Seele zusammen. Danach hatte ihn milde Dunkelheit umgeben, die weder wärmte noch kühlte. Irgendwann verstand er, daß er ins Schattenreich eingegangen war und daß der Spiegel in der Folterkammer eine Rolle dabei gespielt hatte. Er kam sich vor wie hinter einer Scheibe. Auf der anderen Seite war die Welt der Lebenden, jener Wesen, die mit pulsendem Blut gefüllt waren. Seine Gier nach Menschenblut stieg ins Unermeßliche, je länger er im Schattenreich gefangensaß. Einen eigentlichen Begriff für Zeit hatte er nicht. Er nahm nach einer Epoche der Ruhe und Ereignislosigkeit wahr, daß manchmal Bilder und Eindrücke wie kurze Lichtblitze von drüben in seine Schattenwelt drangen. Seine Neugierde wurde geweckt und seine Blutgier angestachelt. Er begann zu erforschen, wie die Bilder und Eindrücke aus der Welt der Lebenden zu ihm gelangten. Und er sann darauf, selber hinüberzugelangen…
*** Alles, was zwischen Boston, Albany, Philadelphia und New York zur Kulturszene gehörte oder sich dazu zählte, fand sich zu den sommerlichen Festen in Sir Goffreys Haus ein, um der Vorstellung talentierten Künstlernachwuchses beizuwohnen. Sir Goffrey Addisons Haus lag im äußersten Zipfel von Long Island, eingebettet in einen weitläufigen Park, dessen Bäume so alt waren wie die Vereinigten Staaten. Und wenn Sir Goffrey zu seinen Festen lud, dann stand dahinter genauso viel gesellschaftlicher Zwang, als hätten die Rockefellers zum Stehempfang im Waldorf-Astoria gebeten. Man mußte hin, da half nichts. Nur der eigene Todesfall galt als einigermaßen ausreichende Entschuldigung. Urheberin dieser Vorstellungsfeste war die selige Peggy Guggenheim. Zu Lebzeiten hatten herzliche Freundschaftsbunde sie mit Sir Goffrey verbunden. Goff, wie sie ihn zu nennen pflegte, hatte ein annähernd gleich großes Vermögen wie sie, und wie sie sammelte er Kunst. Alte Kunst allerdings, das war der Unterschied. Und er machte seine Sammlungen nicht der Öffentlichkeit zugänglich, sondern verschloß sie in seinem Haus, das er schlicht sein Heim nannte. Dieses Heim war ein veritabler Herrensitz, wirkte nach außen fast wie ein etwas verkommenes Gemäuer und sah innen wie ein vollgestopftes Museum aus. Peggy Guggenheim hatte ihm gesagt, daß es nicht recht sei, all seine Schätze zu verschließen. Ihrem Einfluß war es zu verdanken, daß er sein Heim den interessierten Kunstkreisen öffnete, und daß er vor allem ein Freund und Förderer des Nachwuchses wurde. Also hatte er diese Vorstellungsfeste eingeführt. Und wer bei ihm vor erlauchtem Publikum debütierte, hatte eine steile Karriere vor sich.
Zwar witzelten ergrimmte Neider, Sir Goffrey fördere in auffallender Weise nur noch Künstlerinnen, und im Gegensatz zu seinem zunehmenden Lebensalter seien die immer jünger. Doch mit der Toleranz und milden Nachsicht eines großen Geistes setzte er sich über solche niederen Gehässigkeiten hinweg und richtete unverdrossen die Feste aus, wie er es Peggy gelobt hatte. Ein Gentleman, der mit der Zuverlässigkeit des wahren Freundes ein einmal gegebenes Versprechen hält und immer wieder einlöst. Eine Verpflichtung, die über den Tod hinaus verbindlich ist. Traditionell wurde jedes Fest mit einem musikalischen Abend eröffnet. Die Debütantin war diesmal Linda Turtle; das Konservatorium in Boston sagte ihr eine glänzende Zukunft voraus. Freunde wußten über Linda zu berichten, daß sie an sich selber höchste Ansprüche stellte und ihre Ziele immer höher steckte. Ihren Freunden und sich machte sie das Leben damit oft unnötig schwer. So auch an diesem Abend. Es war besprochen, daß sie auf einem Flügel ihr Konzert gab. Völlig überraschend disponierte sie um und wollte unbedingt auf einem steinalten Spinett spielen. Das Instrument war eines der wertvollsten Stücke in den Sammlungen Sir Goffreys und mit Geld kaum noch zu bezahlen. Wie in Trance ging Linda Turtle darauf zu und strich über das wurmstichige, vom Alter dunkel gebeizte Holz. »Ein wundervolles Spinett«, sagte sie mit fast geschlossenen Augen. »Darauf spiele ich.« Sir Goffrey machte ein Gesicht, als bekäme sein Magen Knoten. »In der Tat ein außergewöhnliches Stück, Linda.« Seine Stimme klang seltsam gequält. »Es stammt aus der Werkstatt von Spinetus in Venedig.«
»Vom Erfinder des Spinetts, ich weiß.« Linda lächelte geduldig und wirkte ziemlich abwesend. Wieder strich ihre Hand über das altersdunkle Holz. »Schätzungsweise um fünfzehnhundertfünfzig entstanden. Lassen Sie es bitte in den Saal hinüberschaffen, Sir Goffrey.« Der Hausherr und Gastgeber machte einen letzten Versuch. »Das Instrument umfaßt nur drei Oktaven. Der Klang ist überdies sehr dünn.« »Schwer zu spielen also«, sagte Linda Turtle verständnisvoll. »Für mich genau richtig.« »Ja, aber Sie sind nicht vorbereitet, Linda!« »Ein echtes Talent braucht keine Vorbereitung.« Linda Turtle wirkte unnahbar wie eine Königin und hochmütig und eingebildet wie die Gewinnerinnen aller Schönheitswettbewerbe zusammen. »Ich suche mir aus Ihrer Sammlung eine passende Komposition aus – Ihr Verständnis voraussetzend, Sir Goffrey.« Lieber Himmel, was war mit diesem Mädchen plötzlich los? Es war wie umgewandelt. Sir Goffrey sah es im Hintergrund der dunklen Augen höhnisch glitzern. Er wollte sich nicht die Blöße geben, vor allen seinen Gästen als Geizkragen und kleinlicher Mensch dazustehen. Ein ungutes Gefühl bedrückte ihn; dennoch sagte er: »Bitte, es sind alles Originale. Treffen Sie Ihre Wahl, Linda.« »Das werde ich. Danke, Sir.« Sie wandte sich den Vitrinen zu, wo unersetzliche Handschriften und Notenblätter aufbewahrt wurden. Entschuldigend meinte einer von Lindas Freunden zu Sir Goffrey: »Sehen Sie ihr das bitte nach, Sir. Sonst ist sie die Bescheidenheit in Person. Vielleicht das Lampenfieber! So kennt sie niemand von uns.« Sir Goffrey Addison überspielte die peinliche Szene, indem er fröhliche Miene zu der überraschenden Entwicklung machte. »Dann gehen Sie doch meinem Personal zur Hand und
schaffen Sie das Spinett in den Saal.« Er rückte die weiße Smokingjacke zurecht und begab sich zum Gros seiner Gäste. Hilfreiche Hände faßten zu und trugen das Spinett in den größten Raum des Hauses. Der bereitgestellte Flügel wurde fortgeschafft. Erwartungsvoll nahmen die Gäste auf bereitgehaltenen Stühlen Platz oder reihten sich an der Wand auf. Ein Raunen ging um. Sir Goffrey Addison stand bereit, um die Eröffnungsworte zu sprechen. Die wichtigste Person des Abends fehlte jedoch noch – die Nachwuchspianistin. Mit ungebührlicher Verspätung erschien Linda Turtle endlich. Ihr Freundeskreis hatte weiteren Grund, sich zu wundern. Linda hatte sich umgezogen – statt des strengen schwarzen Kleides trug sie ein legeres weißes Kleid mit Viertelarm, und ihr zu dem festlichen Anlaß straff gekämmtes und zum Knoten geschlungenes Haar floß offen und ziemlich unordentlich um ihre Schultern. Mit dem Mädchen war eine unglaubliche Veränderung vorgegangen. Lindas Freunde schauten besorgt. »Bist du in Ordnung?« raunte ihr eine Stimme zu. Linda reagierte nicht, und ihr Blick schien durch sämtliche Gäste hindurchzugehen wie durch Glas. Sie hatte ein paar Notenblätter mitgebracht. Vergilbtes Papier mit vielen Stockflecken, handgezogenen Linien und verschnörkelt gesetzten Noten. Recht unbekümmert legte sie die kostbare Originalkomposition auf dem Spinett ab und nahm auf einem zurechtgerückten Hocker hinter dem Instrument Platz. Das Raunen legte sich. Sir Goffrey Addison sprach die Eröffnungsworte. Gelangweilt, wie es schien, lehnte sich Linda Turtle zur Wand in ihrem Rücken zurück, bis sie fast den altertümlichen Spiegel
berührte, der dort aufgehängt war. Dann raschelte sie mit den Notenblättern. Aus der Zuhörerschaft drang das erste indignierte Räuspern. Dann folgten eisige Blicke. Sir Goffrey brachte seine Begrüßungsrede zu einem vorgezogenen Schluß. »Und was bringen Sie uns zu Gehör, Linda?« fragte er. Linda Turtle blickte nicht einmal auf. »Monteverdi«, sagte sie. Mit einer Stimme, die ihr gar nicht zu gehören schien. Sir Goffrey spürte einen Stich. Monteverdi erinnerte ihn an einen grauenvollen Unfall. Hier in diesen Räumen. Zwar hatte er diese Erinnerung unterdrückt, ja sogar verdrängt gehabt, aber mit Nennung des Namens war alles wieder lebendig. Er machte eine Handbewegung, als wollte er Linda Turtle das Spiel untersagen. Zu spät. Sie schloß die Augen und begann zu spielen, als hätte sie wochenlang auf diesem Spinett geübt. Sir Goffrey zog sich zu seinem freigehaltenen Stuhl in der ersten Reihe zurück. Jemand lenkte ihn ab mit einer Bemerkung über das skandalöse Benehmen der Nachwuchspianistin, dann erst hörte er, was Linda Turtle spielte. Es war dieses Stück, das er damals gehört hatte! Mit dem sich grauenhafte Erinnerungen verbanden! Er hatte seitdem die Notenblätter doch fest weggeschlossen gehabt! Wie kam Linda Turtle daran? Die Komposition befand sich tief unten in einem eisernen Schrank. Und den Schlüssel dazu bewahrte er im Schreibtisch auf! »Bitte, lassen Sie mich vorbei!« raunte er der reifen Dame zu seiner Linken zu. Es war schier unglaublich, daß sich Linda Turtle den Schlüssel aus seinem Schreibtisch besorgt haben sollte. Sir Goffreys Stuhlnachbarin war gerade im Begriff, zur Seite zu rücken, als die elektrische Beleuchtung im Saal
erlosch. Die Zuhörer verhielten sich still. Sie glaubten, dieser Effekt sei geplant. Linda Turtle saß ebenfalls in der Dunkelheit. Aber sie spielte wie besessen, schneller, hastiger. Und plötzlich war milder Lichtschein hinter ihr zu sehen. Unmittelbar hinter ihrem Rücken. Es war, als strömte Licht aus dem alten Spiegel, warmes, flackerndes Kerzenlicht. Eine gespenstische Szene. In der Reihe hinter Sir Goffrey lachte ein Mann hysterisch. Ein anderer Gast hielt den Vorgang für geplant und klatschte in die Hände. »Licht an!« Sir Goffrey sprang auf. Entsetzliche Ahnungen peinigten ihn. »Bitte sofort das Licht einschalten!« »Sofort, Sir, sofort!« Das war jemand vom Personal. Die Saaltür klappte. Das seltsame Kerzenlicht hinter Linda Turtle wurde diffus und noch unwirklicher. Die Künstlerin schien jetzt erst die Verdunkelung des Saales zu bemerken; ihr Spiel wurde stockend. Zwei, drei dünne, etwas blechern klingende Anschläge auf dem Instrument folgten noch, dann drang ein ächzender Seufzer durch die Weite des Saales, daß es manchem Gast die Nackenhaare aufrichtete. Das seltsame Licht im Spiegel erlosch. Ein Körper schlug zu Boden. Lähmende Stille trat ein. *** Aber nur für wenige Augenblicke. Ohrenbetäubender Lärm brandete schlagartig auf. Da und dort zuckte spärliche Helligkeit auf. Flämmchen von Gasfeuerzeugen, ein paar Streichhölzer. Stühle wurden unachtsam gerückt, heftige Worte fielen zwischen Gästen, die eben noch die besten Nachbarn gewesen
waren. Das Brausen der Stimmen verebbte ebenso rasch, wie es aufgebrandet war, als mit einem Schlag sämtliche elektrische Lampen im Saal wieder brannten. »Ein bedauerlicher Kurzschluß, meine Damen und Herren«, sagte Sir Goffrey. »Ich bitte um Nachsicht und…« »Sie ist ohnmächtig geworden!« rief eine Frau und zeigte auf Linda Turtle, die halb hinter dem alten Spinett verborgen zu Boden gesunken war. Sir Goffrey hastete zu der Debütantin. Lindas Freunde nahten aus der anderen Richtung. Ein schwarzhaariger Mann mit Bürstenschnurrbart löste sich aus der Gästeschar. »Ich bin Arzt«, knurrte er und schob die Freunde der Pianistin zur Seite. »Ein Kollaps«, meinte Sir Goffrey. »Sie ist ja unglaublich blaß. Wir sollten sie an die frische Luft…« Der Arzt runzelte die Stirn. Er tastete nach dem Puls, fühlte dann nach dem Herzspitzenstoß und öffnete plötzlich gewaltsam die geschlossenen Lider des Mädchens. Er wandte den Kopf und starrte Sir Goffrey an wie jemand, der eben einen Blick in die Hölle getan hat. »Sie ist tot!« sagte er mit dumpfer Stimme. Im selben Augenblick sagte einer der Freunde von Linda Turtle entsetzt: »Auf den Tasten ist Blut – da, auf den Noten ebenfalls! Doktor, sie hat sich irgendwo verletzt! Tun Sie doch etwas!« Der Arzt kauerte am Boden, sein Schnurrbart sträubte sich langsam. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu, Sir Goffrey. Ihre Debütantin hat keinen Tropfen Blut mehr im Körper, soweit ich das feststellen kann! Am besten, Sie verständigen die Polizei!« ***
Der Officer, der mit seiner halben Mordkommission und ein paar unformierten County-Polizisten aus Riverhead herübergekommen war, machte ein Gesicht, als hätte er ganz allein das Schießpulver erfunden. »Okay, Sir, in Ordnung, Sie waren dabei, ich nicht.« Er war zu bereitwillig, als daß es Sir Goffrey gefallen hätte. »Da sitzen und stehen also einhundertundneun ausgewachsene Menschen herum, das Licht geht aus, für ziemlich genau fünfzig Sekunden, und als es wieder angeht, liegt dieses Mädchen da, ausgesaugt bis auf den letzten Tropfen Blut. Ich würde jetzt gern eine andere Version hören, die richtige nämlich.« Sein Bullenbeißergesicht nahm feindselige Züge an. Es war morgens um sieben, seit Stunden hatten er und seine Leute die Gäste vernommen. Daß er immer wieder dieselbe Story erzählt bekommen hatte, war ihm aufs Gemüt und an die Nerven gegangen. Sein guter Wille war aufgebraucht, und zwar restlos. Sir Goffrey hörte die letzten Wagen mit Gästen wegfahren. Der Skandal war nicht mehr aufzuhalten. Ein Mord in seinem Haus! Und einer der honorigen Gäste war der Täter! Das behauptete jedenfalls dieser Lieutenant Clancy, ohne es direkt in Worte zu fassen. »Darf ich den Gentlemen einen Kaffee reichen lassen?« Auch nach einer solchen Nacht wußte Sir Goffrey, was die Hausherrn- und Gastgeberpflichten verlangten. »Nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie mir den Burschen aufs Tablett dazulegen, der’s getan hat«, sagte Lieutenant Clancy mit einem Unterton in der Stimme, der wenig Bereitschaft zur Zusammenarbeit signalisierte. »Ich wünschte, ich wäre in der Lage, Ihnen den Namen nennen zu können. Es – es ist unfaßbar.« Sir Goffrey war die Erschütterung anzusehen. »Ich habe nicht einmal einen Verdacht, eine Vermutung, eine…« »Zu dem Punkt kommen wir noch, immer schön der Reihe nach.« Clancy hatte den Hut auf dem Kopf behalten und trug
ihn nur weit aus der Stirn gerückt. Möglich, daß er meinte, er würde dadurch besonders salopp wirken. Sir Goffrey begann Vorurteile gegen diesen Kriminalisten zu entwickeln, der ihm ins Wort fiel und ungehobelte Manieren an den Tag legte. Clancy rückte die drei Notizbücher zurecht, die die vorläufigen Zeugenaussagen der Gäste enthielten. Er schlug mit der Hand darauf. »Alles unschuldige Waisenkinder laut ihren Aussagen. Haben von nichts eine Ahnung. Es wundert einen, daß die Leute überhaupt etwas gesehen haben. – Hm, Sie sind der Veranstalter des Festes, ist das richtig?« »Durchaus, Lieutenant. – Wenn Sie erlauben, möchte ich für meine Person gerne ein Teefrühstück einnehmen. Diese Nacht, diese Aufregung – Sie werden mir Verständnis entgegenbringen.« Sir Goffrey läutete nach dem Diener. Ein breitschultriger Mann mit blauschwarzem Haar, unzähligen Runzeln im lederhäutigen Gesicht und einer Eskimofalte in den inneren Augenwinkeln brachte ein Tablett herein. Lieutenant Clancy wollte seine Seele darauf verpfänden, daß der Diener mit ausgefahrenen Ohren hinter der Tür gelauscht hatte, um nach dem Stichwort seinen Auftritt hinzulegen wie ein Schauspieler auf der Theaterbühne. Allerdings erwog er auch die Möglichkeit, daß Sir Goffrey Abhörvorrichtungen angebracht hatte. Wer so viele Schätze unter seinem Dach beherbergte, hatte zweifellos auch ein Alarmsystem installieren lassen. Der Diener deponierte das Teegeschirr auf dem Mahagonitisch; seine Bewegungen waren geübt und sicher. Clancy starrte auf die weißen Handschuhe des Mannes. Diese faszinierten ihn mehr als die vollendeten Manieren dieses Dieners. Kaum war der Mann draußen, fragte er knurrend: »Ihr Butler, eh? Was ist das für ein Bursche? Kommt mir vor, als
hätte sich ein Japaner in seine Ahnenreihe verirrt.« Sir Goffrey war zu gut erzogen, um seinen Unwillen zu äußern. »In der Tat mein Butler, Sie haben recht. Er ist seit fünfzig Jahren bei mir – seit ich mich in den Vereinigten Staaten niederließ. Ein Nachkomme der Shinnecock-Indianer, denen früher dieses ganze Long Island gehörte.« Clancy vermutete, daß der Hausherr ihm das deshalb unter die Nase rieb, weil er ihm Unwissenheit nachweisen wollte. Das reute ihn noch mehr. »Muß schon verdammt lange her sein und interessiert mich nicht. Sir, ich bin mit meinen Leuten hier, weil sich ein recht seltsamer Mord an einer jungen Frau ereignet hat und weil es meine verdammte Pflicht ist, das Verbrechen aufzuklären. Warum trägt der Butler Handschuhe?« Sir Goffrey zeigte mildes Erstaunen. »Ein guter Butler trägt stets Handschuhe!« »Aha!« Lieutenant Clancy notierte sich etwas. »Fahren wir also fort. Sie haben zugegeben, Sir, daß Sie dieses Fest veranstaltet haben…« Ein Wort mißfiel dem Hausherrn. Bei diesem Polizisten war äußerste Vorsicht geboten. Wenn der Mann das so niederschrieb, las es sich später ganz anders, als es der augenblicklichen Situation entsprach. »Zugegeben habe ich gar nichts, Lieutenant«, sagte Sir Goffrey mit einer Bestimmtheit, die gerade noch als höflich anzusehen war. »Das Wort entstammt Ihrem Sprachschatz. Ich habe zu erklären, daß ich dieses Fest veranstaltet habe wie all die Feste in den zwanzig Jahren davor.« Clancy grinste. Auf eine seelenlose Art allerdings. »Richtig, die Gäste sagten ziemlich übereinstimmend so etwas aus. Ist wohl immer dieselbe Clique, die sich da zusammenfindet?« »Es handelt sich um Freunde und Förderer der Kunst, und sie stammen aus allen Berufsschichten!« Die Stimme des Hausherrn war unterkühlt.
Clancy stieß mit dem Zeigefinger auf die Bücher. »Ein bemerkenswertes Völkchen. Wissenschaftler, Doktoren, Künstler, Anwälte, ‘n Garagenbesitzer, ‘n Pizzabäcker, zwei Industrielle, ‘ne fröhliche Witwe mit ‘ner Kaufhauskette am Bein, Juweliere, Bankdirektoren – ein hübscher Querschnitt durch die Berufsstände, wenn man reich sein auch als Beruf ansieht. Acht Gäste haben keinen angegeben. – Schön, wir werden die Leute durchleuchten, und wir werden jeden Schatten eines dunklen Flecks auf ihrer weißen Weste feststellen…« »Sofern es einen Fleck gibt!« unterbrach Sir Goffrey den Lieutenant. Wie er es sagte, klang es, als halte er Clancy für imstande, den Leuten einen Fleck auf der Weste zu beschaffen, wenn es in seine Ermittlungen paßte. »Es werden sehr lange und sehr gründliche Ermittlungen werden. Wie ich den Fall sehe, Sir, werden sie sich auch gegen Sie richten.« »Woran ich Sie nicht hindern kann und nicht hindern werde.« Sir Goffrey erkannte die Taktik des Polizisten. Der Mann versuchte Druck anzuwenden. »Jedenfalls sollten Sie sich einen Anwalt besorgen, Sir!« Das klang schon nicht mehr höhnisch, das war glattweg unverschämt. »Und in den zwanzig Jahren, die Sie solche komischen Feste veranstalten, ist es nie zu ähnlichen – hm, sagen wir mal – Zwischenfällen gekommen?« Sir Goffrey dachte an den Unfall damals. Der stand in keiner Verbindung mit den Debütantenfesten und ging die Polizei heute erst recht nichts mehr an. »Nein, und ich verstehe auch nicht, wohin Ihre Frage zielt!« »Das werden Sie gleich verstehen.« Clancy setzte ein Lächeln auf, das bloß er für listig hielt. »Mann, ich bin seit zwanzig Jahren im Job und kenne die Schattenseiten besser als die spärlichen Lichtblicke. Ich habe mir abgewöhnt, die
sogenannte gute Seite des Menschen zu suchen. Ist glatte Zeitverschwendung, was finden zu wollen, das es gar nicht gibt.« Er streckte die Beine weit unter den Mahagonitisch und fixierte Sir Goffrey. Der gab sich seinem Teefrühstück hin und zeigte äußerlich keine Wirkung. »Wissen Sie, vor ein paar Jahren haben Kollegen drüben in New Jersey ‘nen Mann aus ‘nem Bethaus geholt, nachdem er elf Menschen mit dem Messer umgebracht hatte. Er war der Prediger der Gemeinde und behauptete, von Gott den Auftrag erhalten zu haben, alle Sünder seiner Gemeinde mit eigener Hand zu strafen.« Sir Goffrey nahm einen kleinen Schluck. »Ich erinnere mich. Es gab eine turbulente Gerichtsverhandlung.« »Weil sein beknackter Verteidiger um ein Haar noch die Geschworenen dusselig geredet hätte.« Clancy blickte unfroh; eigentlich hatte er mit einer anderen Reaktion des Hausherrn gerechnet. »Oder der Kerl, der sich auf dem Broadway in New York verschanzt hatte, fünf Passanten über den Haufen knallte und dann noch behauptete, die Toten hätten unter dem Abfallberg gelegen, und das Ganze sei eine Verschwörung der streikenden Müllabfuhr und der Polizei gegen ihn.« Sir Goffrey goß sich noch einmal Tee aus der silbernen Kanne nach. »Und wozu führen Sie diese Monologe, Lieutenant? Soll ich mich erschrecken?« »Na, für ‘nen angesehenen Bürger, unter dessen Dach man vor wenigen Stunden ein verdammt hübsches Mädchen auf scheußliche Art umgebracht hat, zeigen Sie sich aber mächtig abgebrüht. Ich beobachte Sie. Sie haben nicht einen Tropfen Tee verschüttet. Starke Nerven, alle Achtung.« »Ich bin Engländer, Lieutenant.« Clancy schluckte, daß sein Adamsapfel oben aus dem Hemd ruckte. »Ich denke, Sie leben schon fünfzig Jahre bei uns?« »Ja und? Das eine schließt doch das andere nicht aus. Ich
bin naturalisierter Amerikaner, und im Herzen bin ich Brite.« »Verstehe!« sagte Clancy auf den hinteren Zähnen. Demnach schien was dran zu sein an dem blöden Spruch, daß einen rechten Engländer nichts aus der Ruhe brachte, höchstens das leibhaftige Erscheinen der Königin. Sir Goffrey frühstückte seelenruhig weiter. Peinliche Stille breitete sich aus. »Wundern Sie sich nicht, warum ich Ihnen die zwei Geschichten erzählt habe?« bohrte Clancy. »Bei der geschätzten amerikanischen Polizei wundere ich mich über gar nichts«, erwiderte Sir Goffrey mit feiner Ironie. »Außerdem werden Sie mir schon sagen, was es mit Ihren unerquicklichen Geschichten auf sich hat.« Clancys Hängebacken begannen zu zittern wie die eines aufgeregten Hamsters. »Daß jeder Mord seine eigene Story hat, Sir!« »Was ja überaus logisch ist«, pflichtete der Hausherr bei. Clancy schluckte seinen Grimm hinunter und holte tief Atem. Jetzt war er am Zuge. Jetzt konnte er seine Idee entwickeln. »Auch dieser Mord hat seine eigene Geschichte. Jetzt ist sie mir noch verborgen, aber ich werde sie Stück um Stück sichtbar machen. Und ich habe das Gefühl, daß Sie und ein paar andere Leute keine gute Rolle darin spielen, Sir.« »Ihr Beruf hat Sie verdorben, Lieutenant. Sie betrachten jedes Individuum als geborenen Übeltäter.« »Ich orientiere mich an Tatsachen. Nur an Tatsachen, und die sprechen für sich. Ihre Gäste und Sie haben sich mehr als zwanzig Schritte von Miss Turtle entfernt aufgehalten – als das Licht verlöschte und als es wieder anging. Für eine knappe Minute war es finster. Alle Aussagen sind bemerkenswert präzise und verdächtig identisch.« »Was ist an der Wahrheit verdächtig?« Lieutenant Clancy warf einen verzweifelten Blick zur
Decke. »Die Wahrheit ist eine höchst zweifelhafte Einrichtung, Sir«, sagte er. »Ein grüner und ein blauer Wagen haben auf einer Kreuzung einen Unfall, und da gibt es fünf Zuschauer, die ihre Aussage machen. Drei wollen beschwören, daß der grüne den blauen Wagen gerammt hat, zwei behaupten das glatte Gegenteil. Und nach ein paar Stunden ist beim einen Zeugen ein Wagen braun geworden und der andere rot.« Lieutenant Clancy hatte monoton gesprochen. Jetzt hob sich seine Stimme, wurde, scharf und durchdringend: »Hier waren mehr als hundert Menschen beisammen, und jede Aussage deckt sich fast wortgetreu mit den anderen. Das stinkt, Sir!« »Sehen Sie es positiv – als Beweis für die Wahrheit, Lieutenant.« »O nein, guter Mann! Diese scheinbar verblüffende Übereinstimmung ist der Beweis für ein Komplott! Die Aussagen wurden abgestimmt, bevor ich mit meinen Leuten eingetroffen bin.« Sir Goffrey stellte die Tasse zurück. »Das glauben Sie doch nicht im Ernst!« »Und ob!« Clancy legte die Hand wieder auf die Bücher. »Da gibt es nämlich ‘ne Ungereimtheit, und an der hänge ich Ihre Gäste und Sie auf. In gerade einer Minute oder etwas weniger holt nichts und niemand fast fünf Liter Blut aus einem Körper heraus. Das ist der Punkt, den sich Ihre zweifelhafte Gästeschar nicht überlegt hat. Ich lasse Ihren ganzen Besitz auf den Kopf stellen, und ich wette, daß wir irgendwo in diesem Gemäuer ‘n paar Spritzen oder ‘ne Apparatur finden, mit der dem armen Mädchen das Blut abgezogen worden ist.« Sir Goffrey schaute den Polizisten an wie einen toten Vogel, den die Katze hereingetragen hat. »Sie werden geschmacklos, mein Lieber!« »Der Beruf bringt es mit sich, daß man den Leuten auf die Zehen treten muß«, versetzte Clancy spöttisch. »Vielleicht sind Ihre seltsamen Gäste gar keine so kunstbeflissenen
Zeitgenossen, sondern ein Zirkel von Verrückten, so’n Club für Spinner und Abartige.« »Bitte?« Clancy wählte die Worte mit Bedacht: »Sexorgien und so. Blutmagie und was es alles gibt. In der Richtung habe ich schon ‘ne Menge ermitteln müssen.« »Statt sich in Unterstellungen und haltlosen Verdächtigungen zu ergehen, sollten Sie besser mit vernünftigen Ermittlungen beginnen«, erwiderte Sir Goffrey. »Das wäre immerhin ein Anfang. – Sexorgien! Sie sind ja nicht bei Trost!« Dieser Vorwurf vermochte den Lieutenant nicht zu erschüttern. »Ich sehe keinen Grund, etwas anderes anzunehmen, solange mir dafür die Beweise fehlen.« »Ach, aber für Ihre idiotische Theorie haben Sie Beweise?« Sir Goffreys Stimme wurde scharf. »Massenhaft«, versetzte Clancy lässig, etwa im Stil eines guten Pokerspielers, der seine Mitspieler aus der Runde blufft. »Kommen Sie mit, und ich werde Ihnen demonstrieren, wie Sie und Ihre Gäste meinen Leuten stundenlang den Buckel vollgelogen haben.« Er machte eine Geste in Richtung Tür. »Da bin ich aber gespannt.« Sir Goffrey war nicht minder gereizt wie Clancy. Der Lieutenant ging voran zum Saal, wo sich vor wenigen Stunden das Unvorstellbare ereignet hatte. Zwei uniformierte Polizisten hielten Wache, damit nichts verändert oder entfernt wurde. Clancy machte eine Handbewegung in Richtung des Spinetts auf dem kleinen Podest. »In jeder Aussage wird von einem seltsamen Kerzenlicht gefaselt. Soll aus dem Spiegel hinter Miss Turtle gekommen sein. Also aus diesem Spiegel.« »Es gibt ja nur diesen einen.« »Ich werde Ihnen beweisen, Sir, daß auch dieses Detail erstunken und erlogen ist. Es gibt keinen geheimnisvollen
Mörder, der auf unbekanntem Weg in den Saal gelangt und ebenso verschwunden ist. Ihre Gäste haben sich zu einer gigantischen gemeinschaftlichen Falschaussage verabredet. Und jemand hatte die Idee dazu.« Wie er es sagte, hielt er Sir Goffrey für den Übeltäter. Er blieb vor dem Spinett stehen und winkte einen Polizisten herbei. »Monahan, hängen Sie den Spiegel ab!« Der Polizist tat, wie ihm von seinem Lieutenant geheißen. Er ächzte; der Spiegel war ganz schön groß und schwer, und der alte braunrote Rahmen sah nicht gerade stabil aus. Monahan lehnte den Spiegel fünf Schritte entfernt an die Wand. »Nichts!« höhnte Clancy. Er fuhr mit der Hand über die glatte Wandfläche, auf der der Spiegel einen hellen Fleck hinterlassen hatte. »Kein Einstieg zu einem geheimen Gang, keine Nische, nicht mal eine winzige Öffnung. Und durchsichtig von der anderen Seite ist der Spiegel auch nicht. Also, woher soll dann das geisterhafte Kerzenlicht gekommen sein?« Sir Goffrey starrte auf die Wand. Er sah Spuren grober Gewalteinwirkung. »Was haben Sie hier gemacht, Lieutenant?« »Mit ‘nem Hammer die Wand abgeklopft!« Clancy lachte selbstgefällg. »In dem Gemäuer kommt man auf die seltsamsten Gedanken, und man will sich später ja nicht vorwerfen lassen, etwas übersehen zu haben. Eins steht nun mal fest – hier gibt es keine verborgenen Hohlräume, und die Version vom Licht, das aus dem Spiegel kam, ist geplatzt wie ‘ne Seifenblase.« »Lieutenant, hundert Menschen können sich nicht irren!« sagte Sir Goffrey beschwörend. »Sie sollten aber auch nicht versuchen, die Polizei zu verschaukeln.« Clancy seufzte übertrieben. »Also, Sir, fangen wir wieder von vorne an!«
*** Am späten Nachmittag fielen Clancy fast die Augen zu. Seit vierzig Stunden war er nicht aus Hemd und Anzug gekommen, und er konnte sich nicht einfach zurückziehen wie der Hausherr und für ein paar Stunden die Augen zukneifen. Er war wütend und erfüllt von dumpfer Resignation. An diesem Fall biß er sich die Zähne aus, wie es schien. Allein, die Augenzeugen noch einmal zu hören, war problematisch. Die Leute waren aus bis zu fünfhundert Meilen Entfernung angereist; er hielt es für ausgeschlossen, daß er sie der Reihe nach ins Hauptquartier nach Riverhead bestellen konnte. Etliche von ihnen waren zu einflußreich. Clancy schätzte seine Möglichkeiten realistisch ein. Man würde ihm Steine in den Weg rollen, so groß wie ein Haus. Als es draußen unter den uralten Parkbäumen schon wieder dunkel zu werden begann, kreuzte ein blaßgesichtiger Mensch mit Intelligenzbrille auf der Nase auf. Clancy kannte ihn. Das war ein Mitarbeiter aus dem Büro der Staatsanwaltschaft, ein knochentrockener und hartgesottener Bursche. Clancy bekam Ahnungen. Die Gäste dieses komischen englischen Sir schienen weit größeren Einfluß zu besitzen, als er sich in seinen kühnsten Vorstellungen ausgemalt hatte. Entsprechend eisig fiel seine Begrüßung aus. »Na, Wooley, hat man mir den Fall schon abgeknöpft, oder warum sonst schaltet sich die Anklagebehörde zu diesem frühen Zeitpunkt in die Ermittlungen ein?« Wooley brachte nichts aus der Ruhe. »Keine Aufregung, Lieutenant, es ist Ihr Fall, und das bleibt er. Ich bin abkommandiert, damit in der Sache nichts verbockt wird.« »Und wie soll Ihre Mitarbeit aussehen, Wooley?« fragte Clancy angriffslustig.
Der Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft lächelte dünn. »Ich passe auf, daß niemand in die Schußlinie gerät, der uns schaden könnte. Uns – das sind Sie und ich, Clancy. Ein unbewiesenes Wort über jemand in der Öffentlichkeit, und ein Sturm hebt an, der uns beide fortbläst und in den finstersten Winkel des Landes wirbelt.« »Verstehe! Sie möchten nicht in ein Nest mit fünftausend Einwohnern versetzt werden, Wooley.« »Fänden Sie diese Vorstellung reizvoll? Abgesehen davon, daß ich die Provinz ebenso verabscheue wie Sie, ist es meine Aufgabe, darüber zu wachen, daß alles mit rechten Dingen zugeht. Wenn jemand von Sir Goffreys Gästen in den Fall verwickelt ist, dann soll nichts vertuscht, sondern alles schonungslos aufgeklärt werden. Das trifft selbstverständlich auch auf Sir Goffrey zu. – Also bitte, informieren Sie mich, Clancy. Wo stehen wir jetzt?« Der Lieutenant benötigte eine halbe Stunde, um Wooley umfassend zu informieren. »Verbindungen der Toten zu irgendwelchen Gästen? Immerhin scheint es sich beim Opfer um ein attraktives Geschöpf gehandelt zu haben. Studentin der Musikwissenschaft ohne große Reichtümer, und auf der anderen Seite Leute, die an einem Tag mehr Geld verdienen als wir beide zusammen in einem Jahr.« »Meine Leute sind unterwegs, um da nachzubohren«, brummte Clancy. »Aus den Vernehmungen geht aber nicht hervor, daß sich Miss Turtle von einem der reichen Burschen hat aushalten lassen. Sie hatte ‘ne eigene Freundesclique.« »Dennoch, dennoch«, meinte Wooley. »Vielleicht auch ein Eifersuchtsdrama. Wer hat denn nun eigentlich das Licht ausgeschaltet?« »Niemand natürlich!« versetzte Clancy erbost. »Wooley, mir ist längst klar, daß der Mörder einen Helfer gehabt hat, der im richtigen Augenblick die Sicherungen rausdrehte. Die Sache
war geschickt vorbereitet.« »Was ist mit den Notenblättern? Sie sprachen in einem Ton darüber, als käme Ihnen daran etwas unsauber vor.« »Na, zumindest seltsam ist die Sache. Sir Goffrey hat ausgesagt, daß die Notenblätter in einem Eisenschrank verschlossen lagen und er den Schlüssel in seinem Schreibtisch aufbewahrte. Der Schrank war tatsächlich fest zu, keine fremden Fingerabdrücke, und der Schlüssel im Schreibtisch war ebenfalls ohne Spuren. Vielleicht ist ein Zweitschlüssel im Spiel.« Wooley starrte zur hohen Zimmerdecke mit den Stuckverschnörkelungen hinauf. »Könnte auch darauf hinauslaufen, daß jemand den Verdacht auf Sir Goffrey lenkt. Wie ich es sehe, ist er ohnehin am meisten belastet. Wäre also die Frage, wer den Nutzen davon hat, wenn er in der Klemme steckt. Die Familie?« »Hat er nicht, und der Rest der weitverzweigten Sippe lebt drüben im alten England und hat ein ordentliches Auskommen. Da wäre dann nur noch dieser ewige Student.« »Wer, bitte?« »Mel Teeler, ein entfernter Verwandter. Lebt drüben in New Haven, hat in Yale irgend etwas belegt, das mit alten Wissenschaften zu tun hat. So jedenfalls die Auskunft des Hausherrn.« »Mel Teeler war gestern abend hier?« Wooley begann sich die Hände zu reiben. Clancy blies die Luft verächtlich aus den Nasenlöchern. »Eins dürfen Sie nicht tun, Wooley – mich für einfältig halten! Der Bursche war gestern natürlich nicht im Haus. Hin und wieder besucht er seinen Onkel. Zuletzt vor zwei Wochen. Sagt das Hauspersonal in Übereinstimmung mit Sir Goffrey. In manchen Jahren hat Teeler auch den ganzen Sommer hier verbracht.« »New Haven?« sagte Wooley versonnen. Er dachte nach.
Plötzlich machte er eine ungeduldige Handbewegung, die nicht recht zu ihm paßte. »Weiter, Clancy, nur munter weiter. Ich sehe Ihnen an, Sie wissen mehr über Mr. Teeler.« »Na, aus den Schuhen hebt das keinen. Der Bursche ist manchmal ziemlich knapp bei Kasse und manchmal ganz gut bestückt. Er betreibt Ahnenforschung für Leute, die dafür Geld ausgeben. Vornehme europäische Abstammung und so. Wenn dann Zeiten großer Dürre für ihn anbrechen, erscheint er bei seinem Onkel, futtert sich durch und hält die Hand auf.« »Ist das alles?« »Ich habe Sie gewarnt. Derzeit überprüft die Polizei von Connecticut für uns Teelers Alibi für den gestrigen Abend.« »Sehr schön, Clancy. Wie steht es mit den Blutspuren?« »Sind von Miss Turtle. Dieselbe Blutgruppe. Auf den Tasten, auf dem alten Notenpapier. Bloß das verdammte Gerät haben wir noch nicht gefunden, mit dem dem bedauernswerten Opfer das Blut entzogen wurde.« »Richtig, Clancy, das ist ein ganz ominöser Punkt. Am Mittag war ich im gerichtsmedizinischen Institut. Kennen Sie schon das Ergebnis der Autopsie?« »Woher denn?« »An der Leiche fand sich keine Verletzungsstelle, die groß genug wäre, um dem Körper Blut zu entziehen. Geprelltes Gewebe, ja. Eine Folge des Sturzes. Und am Hals zwei feine Einstiche.« »Einstiche?« fragte Clancy. Er war wie elektrisiert. »Also doch!« »Nicht, was Sie jetzt denken. Die Einstiche fand man weitab jeder Schlagader. Im Institut haben sie gewitzelt, es könnte ein Vampir gewesen sein.« »Vampir? Wooley, machen Sie keine Witze! Ich bin Polizist und kein Spinner.« »Darum sollten Sie das auch nicht überbewerten. Ich würde mir jetzt gerne die Örtlichkeiten anschauen. Auch den
Eisenschrank und Sir Goffreys Schreibtisch. Wo steckt der Hausherr?« »Er hat sich vor etlichen Stunden zurückgezogen. Soll ich ihn holen?« »Das wäre mir recht, Clancy. Übrigens, besitzt das Anwesen eine Bootsanlegestelle? Oder gibt es eine in der Nachbarschaft?« »Wahrscheinlich, aber ich habe mich nicht speziell darum gekümmert. Wozu wäre sie nützlich?« Wooley verzog die Lippen und rückte die Brille zurecht. »Mir fiel nur ein, daß man mit einem guten Boot und entsprechend starkem Motor in zwei Stunden von New Haven quer durch den Longisland-Sund bis hierher gelangt.« »Teeler?« »In Ermanglung eines anderen hinreichend Verdächtigen sollten Sie sich erst mal an ihn halten, Clancy. Wie ich die Sache sehe, hätte er den größten Nutzen, wenn Sir Goffrey der Mord angelastet oder der Anschein seiner Mitwirkung erweckt wird.« Clancy bewahrte sich eine gehörige Portion Skepsis. »Ich sehe Teeler noch nicht in der Falle.« »Aber er hätte ein Motiv: Geld.« Wooley machte eine Handbewegung, die auf den Besitz Sir Goffreys gemünzt war. »Aber es ist noch nicht erwiesen, ob Teeler geldgierig genug ist«, brummte Clancy. Es mißfiel ihm, wie sich Wooley in die Ermittlungen einschaltete. Ohne Konzept, ohne Marschplan. Und er schlug auch noch wahllos um sich. So einfach war die Polizeiarbeit nun auch wieder nicht. »Ich hole den Hausherrn«, knurrte der Lieutenant. Wooley rammte die Hände in die Hosentaschen. »Ich sehe mich schon um.« »Von mir aus. Aber Sie dürfen nichts verändern.« »Halten Sie mich für einen Anfänger?« Dazu wollte sich Lieutenant Clancy lieber nicht äußern. Er
machte sich auf die Suche nach dem runzelhäutigen Butler und dem Hausherrn. *** Dem Polizisten Monahan gefiel es ganz und gar nicht, daß der Mann, der sich als Mr. Wooley aus dem Büro der Staatsanwaltschaft vorgestellt hatte, in jeder Ecke herumschnüffelte und dämliche Fragen stellte. Wo der Sicherungskasten war, zum Beispiel. Wo sich die Stühle für die Gäste befunden hatten. Dabei standen die noch an Ort und Stelle. Ob dies der Spiegel sei, in dem die Leute das Kerzenlicht gesehen haben wollten. Und ob dies das Harmonium sei, an dem das Opfer gespielt hatte. »Ein Spinett, Mister!« knurrte Monahan. »Und verdammt alt, wie ich verstanden habe. Mann, machen Sie bloß nichts kaputt!« »Und das sind diese Notenblätter?« Wooley hatte sie schon in der Hand. Die Blutflecken waren rostbraun und häßlich. »Nicht alle, Mister. Zwei sind ins Labor gegangen. – He, was machen Sie da?« Wooley zog den samtbespannten Hocker heran und pflanzte seine Kehrseite darauf. Er breitete die kostbaren alten Notenblätter aus. »Als Kind hatte ich Klavierunterricht. Mal sehen, vielleicht klappt es noch.« Er wunderte sich insgeheim über sich selber. Er verspürte überhaupt keine Lust, auf diesem wurmstichigen Instrument zu spielen. Aber eine unerklärliche Kraft trieb ihn dazu, die Tasten anzuschlagen. Es war fast ein zwanghafter Trieb, den er nicht zu kontrollieren vermochte. Die Töne schepperten schrill und dünn. Eine Melodie wurde daraus, fremdartig und altertümlich. »Lassen Sie’s bleiben!« warnte Monahan. Im nächsten Moment verlöschte das Licht. Wooley reagierte
überhaupt nicht, er spielte weiter. Und offensichtlich nach den Noten. Als hätte er Katzenaugen und könnte in der Dunkelheit sehen. Monahan kam das alles sehr sonderbar vor. Er rief nach seinem Kollegen: »Sam, lauf zum Sicherungskasten! Da fummelt doch einer dran rum!« Sam Somerset flitzte hinten aus der Tür und wunderte sich nicht wenig, weshalb gerade im Saal die Lichter erloschen waren und auf dem Flur nicht. Noch mehr wunderte er sich, als er den Sicherungskasten verschlossen vorfand und keine Spuren darauf hindeuteten, daß sich eben jemand daran zu schaffen gemacht hatte. »Da ist aber alles in Ordnung!« brüllte er durch den Flur. »Hank, was ist mit dem verdammten Licht? Brennt es wieder?« Hank Monahan antwortete nicht. Und mit einem schrillen Mißton endete das Spiel von Mister Wooley auf dem alten Spinett. Der scheppernde Klang zitterte durch das Haus wie eine verirrte Seele. Zwei Minuten später fanden Sam Somerset, Lieutenant Clancy und Sir Goffrey Addison in dem wieder hell erleuchteten Saal den unter einem schweren Schock stehenden Polizisten Hank Monahan, der mit dem Kopf wackelte und nur immer wieder etwas von einem Ding im Spiegel murmelte. Dann entdeckten sie Wooleys Beine und den umgestürzten Hocker. »Mein Gott, nicht schon wieder!« murmelte Sir Goffrey. Clancy griff Halt suchend nach dem Spinett, als er den Vertreter der Staatsanwaltschaft erblickte. Wooleys Brille lag zerbrochen am Boden, der Mann war so bleich wie Linda Turtle, und es gehörte kein kriminalistischer Scharfsinn dazu, um zu sehen, daß der Körper ebenfalls keinen Tropfen Blut mehr enthielt. Clancy schluckte würgend. Nach Minuten erst war er in der Lage, den Toten oberflächlich zu untersuchen.
Wooleys Krawattenknoten war herabgezogen und der Hemdkragen aufgerissen. Auf der rechten Halsseite, fingerbreit über dem Schlüsselbein, fand Clancy zwei rote Punkte auf der Haut, die wie winzige Einstiche aussahen. Von dem Apparat, mit dessen Hilfe Wooley das Blut abgezapft worden sein mußte, sah er keine Spur. Eine sofortige Durchsuchung der benachbarten Räume förderte auch nichts ans Licht, das als Hilfsmittel hätte gedient haben können. Eigenhändig hängte Clancy den Spiegel ab, der ständig in Monahans irrem Gestammel vorkam. Natürlich war darunter nichts – die Wandfläche war unverändert. Clancy hetzte den verstörten Polizisten Somerset ans Telefon und ließ die Mordkommission des Suffolk-County in Riverhead alarmieren. Und den Polizeiarzt für Monahan herbitten. Was der Lieutenant ganz und gar nicht begriff, war die unumstößliche Tatsache, daß vom Hauspersonal einschließlich Sir Goffrey niemand als Täter in Frage kam. Er selbst, Clancy, war das Alibi. *** Das Gebäude Nummer 200, Ecke Zweiundvierzigste Straße West und Second Avenue, in Sichtweite des Hauptquartiers der Vereinten Nationen in Manhattan gelegen, war eine erste Adresse im Geschäftsviertel der Midtown. Entsprechend waren die Firmenschilder im Eingang gestaltet. Schwere Bronzetafeln verkündeten, wer hier sein Büro hatte. Uniformierte Hauspolizisten in der Eingangshalle hatten ein Auge darauf, daß keine unbefugten Besucher den Fuß in die darüberliegenden Etagen setzten. Wer Einlaß fand, bekam einen Besucher- und Laufzettel mit. Sinnend betrachtete ein Mann um die Dreißig das
vergleichsweise bescheidene Firmenschild einer Anwaltskanzlei, die im 11. Stockwerk zu Hause sein sollte. Gordon Black Attorney-at-law Aus der Gesäßtasche seiner arg ausgebeulten und verwaschenen Jeanshose zog er einen Zettel und verglich. Auf dem Papier stand der Name Blackinverness. Entschlossen betrat der Mann die Halle. Die Hauswächter beäugten ihn mit wachsendem Mißfallen. »He, haben Sie hier ‘nen Job?« knurrte einer. »Eine Verabredung. Mit Anwalt Black.« Lässig hob der Mann die Hand und wandte sich den Aufzügen zu. Eine unerbittliche Stimme beorderte ihn zurück: »Vielleicht haben Sie einen Termin, vielleicht auch nicht! Mann, machen Sie uns keinen Ärger, dann kriegen Sie auch keinen, klar?« Das war deutlich. Der Besucher kam zurück. Man schob ihm einen Block mit Formularen hin. »Ausfüllen!« Der Mann genügte der Pflicht. Die Stelle, wo er seinen Namen hinsetzen sollte, ließ er frei. Einer der Hauswärter hatte schon den Telefonhörer am Ohr, um den Besucher zu melden, als er den Namen vermißte. Sein Blick wurde böse. »Okay, Mann, ich weiß zwar nicht, wie das neue Spiel heißt, aber mir gefällt es nicht. Hier kommt rein, wer in Ordnung ist. Sie sind nicht in Ordnung. Also verduften Sie!« Der Besucher legte die Hände flach auf den Tresen des Wächterstandes, reckte den Hals noch ein Stück aus dem ungebügelten Hemdkragen und grinste den Wächter mit dem Hörer am Ohr freundlich an. »Blackinverness! Geben Sie Mr. Black den Namen durch! Aber sagen Sie es bald. Könnte sonst sein, daß Mr. Black Sie zur Rechenschaft zieht.« »Auf Ihre Verantwortung!« Der Hauspolizist war durch das sichere Auftreten etwas irritiert. Er wandte sich an seinen Kollegen. »Behalte den ungebügelten Gentleman hier im Auge,
Jay. Und wenn er irgendwelche Späße macht, bevor Mr. Black sagt, daß er okay ist, wirf ihn achtkantig raus.« Und dann endlich drückte er den rechten Zeigefinger auf dem Tastentelefon breit. Sein Blick bekam Schmalz. »Morgen, Miss Kamara! Wir hätten da einen Besucher für Ihren Boß. – Nein, ‘nen Namen hat der Knabe nicht. – Wie? – Sieht auch nicht so aus, als hätte er Geld für einen Anwalt.« »Blackinverness!« zischte der Besucher. Die Augen des Hauspolizisten bekamen einen fast häßlichen Ausdruck. »Der Kerl sagt irgend so ‘nen komischen Namen. Blackinverness – können Sie was damit anfangen? – So, der Mann soll sofort raufkommen? Wird besorgt, Miss Kamara, aber auf Ihre Verantwortung. Wieso? Weil der Knabe aussieht, als könnte er gewalttätig werden!« Seine Gesprächspartnerin schien sich vor gewalttätigen Besuchern nicht sonderlich zu fürchten. Jedenfalls legte der Mann auf, riß das dürftig ausgefüllte Formular aus dem Block und schob es dem Besucher hin. »Das bringen Sie ausgefüllt mit, wenn Sie das Gebäude verlassen. Sie gehen dann ‘ner Menge Ärger aus dem Weg. Büro Black, elfter Stock. Folgen Sie den Hinweisen. – He, Mann, und falls Sie ‘ne Kanone unterm Hemd spazieren tragen, dann geben Sie das Ding besser gleich hier ab. Dort drüben«, und er zeigte zu den Aufzügen, »werden Sie bis auf die Zahnplomben gecheckt!« Der Besucher drehte symbolisch die Taschen nach außen. »Ich bin ein Anhänger der Bewegung für Frieden und Gewaltlosigkeit.« Mit geschmeidigen Bewegungen durchquerte er die Halle und reihte sich in die erstbeste Schlange vor den Metalldetektoranlagen ein. Wer die Aufzüge benützen wollte, wurde gefilzt bis auf die Knochen. Ohne Ansehen der Person. Gehorsam entledigte er sich des Tascheninhalts, als er an der Reihe war, und deponierte Kleingeld, einen Schlüsselbund
und seinen Kugelschreiber in einem Plastiktopf. Ein kompakter weiblicher Hauspolizist mit eingezwängter Oberweite betrachtete seine Habseligkeiten, als hätte er versucht, einen Hosenknopf unter die Sonntagskollekte in der Kirche zu schmuggeln. »Gehen Sie jetzt hier hindurch, Sir!« Sie wies auf den Detektorrahmen, der wie ein an absurdem Platz aufgestellter Türrahmen aussah. Der Besucher marschierte hindurch. Die Dame mit dem eingekerkerten Busen schob ihm den Plastiktopf hin – und ihr Blick blieb auf der dunklen Lederschnur um seinen Hals und der daran baumelnden silbernen Figur hängen. »Einen Augenblick, Sir – was ist das?« Ihr dicker Zeigefinger stach auf ihn zu und tippte gegen die Figur. »Das ist doch Metall – Silber! Das Gerät hat nicht angeschlagen! Würden Sie bitte noch einmal…?« »Kein Metall!« Der Besucher lächelte, hinten in der Schlange wurden die Nachdrängenden ungeduldig. »Eine Art Plastik. Sieht mächtig echt aus, nicht wahr?« Das wollte die Dame beschwören. Ob allerdings auch das Kribbeln echt war, das sie beim Berühren der Figur zu verspüren gemeint hatte, wollte sie hingegegen nicht auf ihren Eid nehmen. Die imitierte Figur sah ungefährlich aus. Zumindest war sie keine Waffe. Und darauf kam es hier an. Sie fuhr den Mann noch mit der Antennensonde ab. Über der schimmernden Figur am Lederband hielt sie inne. Der Mann lächelte sie entwaffnend an, als wüßte er genau, daß kein Piepser aus dem Gerät dringen konnte. »In Ordnung, Sir, Sie können passieren!« Er griff seinen transportablen Besitz aus dem Plastiktopf und betrat die mittlere Aufzugskabine, in der sich eine Fuhre Gebäudereiniger zu sammeln begann. Verstohlen umschloß seine linke Hand die Figur. Sie war
warm, massiv und schwer! Ihr Zauber triumphierte sogar über die moderne Technik! Die Metalldetektoren hatten keinen Mucks getan. Er ließ sich nicht in den Hintergrund der Kabine drängen und stieg im elften Stockwerk aus, als es der Liftführer mit leiernder Stimme ansagte. Im Hinausgehen streifte er den Liftführer so, daß er gegen die verdächtige Ausbeulung an dessen linker Hüfte stieß. Alle Wetter, der Mann trug eine Waffe unterm Jackett! Eine halblaute Verwünschung flog ihm auf den Flur nach. Er folgte den Zeichen bis zur Bürotür des Anwaltes Gordon Black und trat nach einem herzhaften Klopfen ein. Liebliche Mandelaugen schauten ihn einigermaßen erwartungsvoll an. Eine Asiatin hatte den Drehstuhl halb herumgeschwenkt und gestattete ihm einen Blick auf ihre übergeschlagenen Beine, die gar kein Ende nehmen wollten. Nach oben hin. Das lag aber bloß an dem geschlitzten Rock. Seine Verblüffung amüsierte sie sichtlich. »Sie sind der Besucher, der seinen Namen nicht schreiben kann? Treten Sie näher, Sir!« Der Mann ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen, was die Asiatin zu der ironischen Frage veranlaßte: »Sitzen Sie bequem?« Da erst besann er sich darauf, daß er eine Erziehung genossen hatte. Er schnellte hoch. »Verzeihen Sie, Madam! Ich…« Sie griff nach dem Namensschild auf ihrem kleinen Schreibtisch und hielt es ihm vor. »Hanako Kamara ist mein Name, Sir!« Das »Sir« kam zögernd. Er parierte die unausgesprochene Frage nach seinem Namen mit der lapidaren Floskel: »Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.« Dabei dachte er an den schmalzigen Blick des Hauspolizisten, als der mit diesem
Mädchen telefoniert hatte. Jetzt verstand er’s. »Wenn Sie mit ›außergewöhnlich‹ Blackinverness meinen, haben Sie allerdings recht.« Die Stimme der Asiatin zwitscherte noch immer, aber es war schon ein warnender Ton darin. »Ein bemerkenswerter Name, nicht wahr?« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Mir sagt er viel. Und Ihnen?« »Dann erklären Sie zweckmäßigerweise Mr. Black, was der Name Ihnen sagt.« Hanako Kamara drückte auf einen Summerknopf und zeigte auf eine schlichte Tür: »Treten Sie dort ein, bitte.« Der Besucher öffnete die Tür und verhielt sich fast wie ein Stück Wild, das erst wittert, bevor es zu dem Schluß kommt, daß ihm die Umgebung zusagt. Das Büro war eingerichtet wie hundert andere Büros dieser Art auch. Akten, Hängeregister, stapelweise Unterlagen – die Requisiten eines vielbeschäftigten Rechtsanwaltes. Ein paar Gegenstände dienten der unauffälligen Ausschmückung des Raumes. Gerade diesen widmete der Besucher seine Aufmerksamkeit. Auf einer Wandkonsole stand eine Silberstatuette, jener Figur verblüffend ähnlich, die er um den Hals trug. Nur größer und schwerer – falls sie massiv war. Solche Statuetten waren aber immer massiv. Das schrieben schon die strengen Regeln vor. Hinter dem Schreibtisch saß ein blondhaariger Mann mit einem einprägsamen Gesicht. Die Züge verrieten Einfühlungsvermögen und der Schwung des Kinnwinkels unbeugsame Härte und Energie. Die hellgrauen Augen waren fest auf den Besucher gerichtet. »Gefällt Ihnen mein Büro?« fragte er mit einem Anflug von Ironie. »Danke, danke, ich bin sehr zufrieden. Sie sind Mr. Black – Gordon Black?« »In Person. Anwalt beider Rechte.« Gordon Black deutete
eine dezente Verbeugung an. »Nehmen Sie doch Platz.« »Danke.« Der Besucher ließ sich nieder und machte automatisch den Versuch, die Bügelfalte seiner Hose glattzuziehen. Für Gordon Black ein Indiz dafür, daß der Mann für gewöhnlich besser gekleidet ging. Der sah dann auch die Nutzlosigkeit seiner Bemühungen ein und lächelte dünn. »Der Name Blackinverness hat sich als wunderbares Sesam-öffne-dich für diese gutbewachte Festung erwiesen. Wird hier ein Teil des Goldschatzes aus Fort Knox aufbewahrt? Selbst die Fahrstuhlführer sind bewaffnet.« Gordon Black verzog keine Miene. »Dieser Tage wurde von einem der Bürohochhäuser in der Umgebung auf das UN-Gebäude geschossen. Zum Glück wurde niemand verletzt. Jetzt gelten für alle Gebäude im Umkreis von einer halben Meile strengste Sicherheitsvorkehrungen. – Wenden wir uns Ihnen zu. Der Name Blackinverness hat mich natürlich neugierig gemacht, zugegeben.« Der Besucher lehnte sich zurück. »So hieß Ihr Vater, als er als Einwanderer aus Schottland herüber kam.« Gordon Black zeigte keine Verblüffung. »Das ist richtig, aber dieser Umstand ist kaum allgemein bekannt. Der Name erwies sich als zu schwierig für die Mentalität der Amerikaner, die zur Vereinfachung neigt. Mein Vater kürzte den Namen auf Black.« »Ich weiß. Aber der Name Blackinverness lebt fort – in gewissen Kreisen.« »Ist das der Grund Ihres Besuches?« »Auch. Sehen Sie, ich bin Doktorand der Ägyptologie und Byzantinistik und selbsternannter Bakkalaureus der alten Künste und Wissenschaften.« Der Besucher wartete die Wirkung seiner Worte ab. Gordon Black zeigte sich nicht beeindruckt. »Die alten Künste und Wissenschaften werden nirgendwo gelehrt.« »Nicht offiziell, Mr. Black, nicht offiziell. Um Ihnen das zu
sagen, bin ich auch nicht hergekommen. Sie beschäftigen sich mit der Aufklärung übersinnlicher Vorgänge und Ereignisse und…« »Zum Leidwesen der Anwaltskammer dieses Staates und zum Mißvergnügen gewisser Polizeieinheiten«, wandte Gordon Black seufzend ein. »… und genießen einen respektablen Ruf als Dämonenjäger«, fuhr der Besucher unbeirrt fort. »Unterbrechen Sie mich nicht, ich weiß, wovon ich rede. Im Gegensatz zu jenen Leuten nämlich, die Sie für einen Scharlatan und Geisterspuk für das Gedankenprodukt kranker Gehirne halten.« Gordon Black wurde erkennbar zugeknöpfter. Der Besucher vermerkte es mit Zufriedenheit. Er hatte diese Reaktion erwartet. Er vollführte eine leichte Drehung auf dem Stuhl und deutete auf die silberne Statuette. »Ein Abbild der magischen Göttin Aradia«, sagte er. »Es ist von Ihrem Vater auf Sie gekommen.« Damit holte er seine silberne Figur am Lederband aus dem Hemdausschnitt und hielt sie dem Anwalt entgegen. »Die Metallspürgeräte der Haustruppe haben nicht angesprochen.« Gordon Blacks Augen weiteten sich einen Moment lang. Dann zeigten sie wieder den Ausdruck von mildem Interesse. Aber die Wangenmuskeln blieben hart und gespannt. »Damit bin ich schon beim Grund meines Besuches, Mr. Black. Lesen Sie Zeitung?« »Die täglichen Fernsehnachrichten bieten schon genug Unerfreuliches. Gelegentlich lese ich auch Zeitung.« »Dann haben Sie Kenntnis von den Vorgängen auf dem Besitz Sir Goffrey Addisons in Montauk Point auf Long Island?« »Nur ungenügend. Zwei mysteriöse Morde.« »Ein Mädchen, eine Pianistin. Und ein Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft. Die Taten eines Wahnsinnigen. Sagt die
Polizei. Sie sucht seit gestern den Neffen Sir Goffreys, einen gewissen Mel Teeler, und wünscht Auskunft über seinen zeitweisen Aufenthalt. Weniger prosaisch heißt das, er steht in dringendem Tatverdacht.« »Und Mister Teeler schickt Sie zu mir?« fragte Gordon Black vorsichtig. Der Besucher atmete langsam aus. »Ich bin Mel Teeler.« *** Gordon Black hatte schon andere Dinge erlebt, als daß ihn diese Eröffnung aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. »Sie wünschen, daß ich Ihre Vertretung übernehme, Mr. Teeler?« »Wäre keine schlechte Idee.« Mel Teeler schmunzelte. »Viel lieber wäre mir natürlich, Sie könnten mir helfen, die Polizei davon zu überzeugen, daß ich mit den Verbrechen nichts zu schaffen habe, auch wenn es mit meinem Alibi hapert. Es ist nicht wasserdicht, wie es in Juristenkreisen heißt.« »Dann empfehle ich Ihnen dringend, sich zu stellen. Es macht einen besseren Eindruck. Wenn Sie wünschen, begleite ich Sie zur Polizei.« »Ich wäre nicht zu Ihnen gekommen, wenn ich das vorhätte«, versetzte Mel Teeler etwas gereizt. »Im Ernst, ich fürchte, daß die polizeiliche Ermittlungsarbeit in der Routine verkommt und am Kern der Dinge vorbeizieht. Ich möchte nicht den Lückenbüßer spielen, an den man sich hält, weil er sich gerade so günstig hat erwischen lassen. Die Vorgänge auf Montauk Point sind nichts für die Polizei, sondern für Sie, Mr. Black.« »Inwiefern?« »Weil es schon vier Tote gegeben hat, nach meiner Rechnung. Ich wäre der fünfte gewesen. Seit einiger Zeit weiß ich, daß mich diese Figur gerettet hat.« Er meinte das
Aradia-Abbild an seinem Hals. Jedenfalls zog er es am Lederband noch einmal ein Stück heraus. »Das sollten Sie mir schon eingehend erläutern, Mr. Teeler!« »Ich will’s versuchen. Übrigens, wenn Sie ein Tonbandgerät mitlaufen lassen wollen, ich erhebe keine Einwände.« »Von diesem Angebot mache ich Gebrauch.« Gordon Black öffnete eine Schublade des Schreibtisches und brachte ein Tischmikrofon zum Vorschein. »Miss Kamara sollte dem Gespräch beiwohnen. Sie ist meine Sekretärin.« Er zögerte, dann fügte er hinzu. »Und zuverlässige Mitarbeiterin. Eine Eingeweihte!« »Ich dachte mir schon so etwas«, murmelte Mel Teeler und spekulierte, wie weit die Beziehungen des Rechtsanwalts zu seiner Mitarbeiterin reichen mochten. Vor allem die zwischenmenschlichen. Gordon Black rief Hanako herein und stellte ihr Mister Teeler vor. »Sein Name ist ihm also doch noch eingefallen«, versetzte die bildhübsche Asiatin nicht ohne Ironie und reichte dem Besucher die Hand. »Unter Mel Teeler stellen die heutigen Zeitungen einen bärtigen Zeitgenossen vor, der keinerlei Ähnlichkeit mit Ihnen hat.« »Glauben Sie mir, es fiel mir nicht leicht, mich von meinem Bart zu trennen. Ich wäre jedoch nicht mal am ersten Polizisten vorbeigekommen. Schätze, mein Foto ist in handlicher Brieftaschengröße und in einer beachtlichen Auflage verbreitet. Der Butler meines hochverehrten Onkels war so aufmerksam, mich auf diese Gefahr hinzuweisen.« »Womit wir schon beim Grund Ihres Besuches wären, nehme ich an«, sagte Gordon Black und schaltete das Tonbandgerät ein. Hanako Kamara deponierte ihre zierliche Gestalt in einen Schalensessel. Der Vorgang fesselte den Besucher. Mel Teeler
starrte auf die langen nackten Beine und fand nicht nur diese, sondern auch alles übrige aufregend und wohlgefällig. Gordon Black war versucht, Hanako zu bitten, sich weniger blutdrucksteigernd hinzusetzen. Er unterdrückte die Anwandlung als spießbürgerlich. »Mr. Teeler, wenn Sie dann bitte zur Sache kommen wollen!« Der Mann schreckte hoch. »Tja, wenden wir uns eben den unerfreulichen Dingen zu. Also, im Haus meines Onkels Sir Goffrey Addison haben sich diese Verbrechen ereignet, mit denen mich die Polizei in Verbindung bringt.« »Ich muß Sie schon unterbrechen, Mr. Teeler. Was veranlaßt die Polizei dazu?« »Die Aussage eines ehemaligen Hausangestellten. Der Mann verhielt sich nicht korrekt und mußte entlassen werden, Mr. Black.« »Ein Racheakt demnach?« »Möglich. Ich möchte das nicht vertiefen. Jedenfalls ist der Mann, als über die beiden Verbrechen in den Zeitungen berichtet wurde, zur Polizei gegangen und hat über einen länger zurückliegenden Todesfall gesprochen, der mit Sicherheit ebenfalls ein Mord ist. Kein Mord in herkömmlichen Sinne wohlgemerkt. Soviel weiß ich heute. Ich bin in die Sache verwickelt.« »Können Sie das etwas verdeutlichen?« Gordon Black lehnte sich langsam zurück, seine hellgrauen Augen verrieten seine innere Konzentration. »Dazu muß ich weiter ausholen. – Keine Sorge, ich bemühe mich darum, knapp und präzise zu sein. Also, mein Onkel genießt einen großen internationalen Ruf als Kunstsammler und Liebhaber schöner Dinge. Vor wenigen Jahren zählte auch noch die holde Weiblichkeit zu den Dingen, die er leidenschaftlich verehrte. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe mehrere Sommer im Haus meines Onkels verbracht.«
»Zu welchem Zweck?« »Nennen Sie es Mildtätigkeit. Oder Gewissensberuhigung. Onkel Goff zeigte sich der Verwandtschaft gegenüber weit weniger großzügig und spendabel, als man aus seinen Spenden für künstlerischen Nachwuchs schließen möchte. Ich für meinen Teil will mich nicht beklagen. Wenn ich ihn um Unterstützung bat, half er mir. Aber er hielt die Hilfe eben begrenzt. Ich wollte kein Almosenempfänger sein und half ihm eben beim Ordnen und Sichten seiner umfangreichen Sammlungen. Ich hatte Kost und Logis frei, und Onkel Goff sah den guten Willen.« Mel Teeler förderte eine zerknautschte Schachtel Zigaretten ohne Filter aus der Tasche, klopfte ein Stäbchen heraus, brachte es in Form und gab sich Feuer. »Sie erlauben doch?« fragte er pro forma. Hanako Kamara blickte ihn unter seidigen Wimpern hervor an und sagte nichts, und der Anwalt schwieg ebenfalls. Mister Teeler paffte den Rauch zur Bürodecke hinauf. »In den Sammlungen befanden sich Gegenstände, die okkulte Bedeutung haben. Sie müssen sich eigentlich noch immer dort befinden – bis auf diese Statuette. Ich erwähne das, weil es von Bedeutung ist und noch Gewicht erlangt. In jenem Sommer vor fünf Jahren hielt sich jedenfalls eine junge Dame namens Sue Vandenberg im Haus meines Onkels auf. Ein überaus attraktives Geschöpf, musisch veranlagt, begabt, aber auf Abenteuer und Eroberungen aus. Mein Onkel bot ihr wohl das finanzielle Polster, aber ihre Liebhaber suchte sie sich in ganz Montauk Point zusammen. Und nicht einmal heimlich. Mir stellte sie auch nach. Ich hatte es gern, das will ich zugeben. Eines Tages merkte ich, wie sehr verändert sie war – leicht reizbar, unruhig, schreckhaft, voller Launen. Kurz zuvor hatten wir eine neue Sammlung von Kunstgegenständen bekommen und ausgepackt. Sue hatte dabei geholfen. Onkel Goff hatte durch Vermittlung von Peggy Guggenheim bei einem Händler
einen venezianischen Nachlaß erwerben können.« Teeler schnippte Zigarettenasche in den Becher, den ihm Gordon Black hinschob. Die Erinnerung wühlte sein Seelenleben offensichtlich stark auf. Nach ein paar hastigen Atemzügen fuhr er fort: »Sue tat schließlich die verrücktesten Dinge und ging an Stücke der Sammlungen heran, die streng tabu waren. Oder unersetzlich, was dasselbe ist. Onkel Goff meinte, es sei besser, Sue für ein paar Wochen nach Florida oder Kalifornien zu schicken. Ich sollte es ihr beibringen. Ich wollte ihr anderntags die Reise schmackhaft machen. In der Nacht kam es dann zu den geheimnisvollen Vorfällen.« »Ja?« Gordon Black zog einen Notizblock heran. »Ich hörte Sue mit jemand streiten. Mit Onkel Goff, dachte ich, er hat die Reise ihr doch selber angeraten! Aber dann ging mir auf, daß immer nur Sue sprach. Also bin ich aufgestanden. Sie war in dem Raum, in dem mein Onkel weltvollste Schriftstücke verschlossen aufbewahrt. Sue war dort. Sie hatte Notenblätter in der Hand und schien etwas tun zu sollen, wogegen sie sich sträubte. Ich sah jedoch keine weitere Person im Raum. Sue verließ den Raum, sie ging an mir vorüber, ohne mich zu bemerken. Wie in Trance, dachte ich noch. Befremdet, aber doch neugierig folgte ich ihr. Sie setzte sich an ein mittelalterliches Musikinstrument, das wir kurz zuvor mit jenem erwähnten Nachlaß bekommen hatten und von dem ich wußte, daß Sue es nicht ausstehen konnte. Dennoch begann sie darauf zu spielen. Nach den Noten, die sie aus einem der verschlossenen Behältnisse genommen hatte. Ich lauschte den dünnen Klängen und der seltsamen Melodie. Plötzlich ging das Licht aus. Ich hörte Sue fürchterlich schreien, hörte Geräusche eines Zweikampfes und sah in einem seltsamen Licht, das aus einer unbekannten Quelle zu sickern schien, Sue mit einer Gestalt ringen.« Mel Teeler schloß die Augen und atmete hastig.
»Ich war feige«, gestand er dann. »Ich hätte ihr beistehen müssen, aber ich stand wie angenagelt in einer Nische ganz hinten bei der Tür. Dann flüchteten Schritte, Glas klirrte ohrenbetäubend. Das Licht ging wieder an, und ich sah Sue unter einem zerbrochenen Fenster auf dem Fußboden liegen. Sie war mit Schnittwunden übersät. Ich erinnere mich an das Blut, das überall war. Die Verletzungen waren aber nicht so schlimm, daß Sue daran hätte sterben müssen. Sie war aber bereits tot, und in diesem Moment kam jener Hausangestellte, den ich eingangs erwähnte. ›Mr. Teeler, was haben Sie gemacht?‹ hat er gerufen. Sue war tot, ich hatte Blut an den Händen. Onkel Goff mußte dem Mann eine stattliche Summe Geldes geben, damit er den Mund hielt.« Gordon Black hatte sich Stichworte notiert. »Aber Sie hatten mit der Sache doch nichts zu schaffen, oder?« »Ich hatte Sue nicht beigestanden. Sehr viel später erst habe ich begriffen, daß ich ihr gar nicht hätte helfen können. Sues Tod wurde als Unfall deklariert, ein befreundeter alter Arzt aus der Nachbarschaft erledigte die erforderlichen Schritte. Einige Tage später wurde ich ungewollt Zeuge eines Gespräches zwischen ihm und Onkel Goff. Darin sagte der Arzt klipp und klar, daß Sue kaum noch Blut im Körper gehabt hätte und die Schnittwunden niemals die alleinige Ursache gewesen seien. Als ob jemand dem Mädchen das Blut herausgesaugt hätte. Onkel Goff war sehr ungehalten, aber ich mußte immer wieder über diese Worte nachdenken. Ein Vampir vielleicht. Oder ein Dämon. Ich begann mich mit diesen Dingen zu befassen, ich sprach mit Onkel Goff darüber. Natürlich wurde er wütend, er verbat sich solchen Quatsch und stellte mir frei, den Mund zu halten oder sein Haus zu verlassen. Ich hatte den Eindruck, daß unser Gespräch belauscht wurde. Von dem Hausangestellten einmal, aber da war noch etwas anderes. Und dann merkte ich auch, wie es mich trieb, Dinge zu tun, die ich gar nicht tun
wollte. Wie eine unsichtbare Macht versuchte, Gewalt über mich zu gewinnen.« Mel Teeler drückte die halbgerauchte Zigarette mit heftigen Stippbewegungen im Aschenbecher aus. »Irgendwo hatte ich mal gehört, Silber schütze vor dem Einfluß böser Mächte. Ich entsann mich, unter Onkel Goffs Sammlungen eine silberne Figur gesehen zu haben, die an einem starken Band zu tragen war. Ich nahm sie und hängte sie um den Hals. Von dem Augenblick an spürte ich nicht mehr dieses fremde Drängen. Das war der Grund, weshalb ich dann auch das heimliche Studium der alten Künste und Wissenschaften aufnahm.« Gordon Black wartete, bis sich der Besucher beruhigt hatte. Die Erzählung hatte Mr. Teeler ganz schön aufgewühlt. »Gut, das war damals. Vor fünf Jahren. Ich sehe jedoch noch keinen Zusammenhang mit den jüngsten Vorgängen.« Mel Teeler machte eine dämpfende Handbewegung. »Kommt alles noch. Immer der Reihe nach. Also, Onkel Goffs sogenannte Vorstellungsfeste, mit denen er dem Künstlernachwuchs unter die Arme greift, sind ja in Kennerkreisen immer ein Knüller. Es waren also genügend Menschen zugegen, als das Verbrechen an der Pianistin Linda Turtle verübt wurde. Ich erfuhr davon am anderen Morgen. Sofort fiel mir ein, was damals mit Sue Vandenberg geschehen war. Der Dämon, sagte ich mir, der verfluchte Dämon ist wieder da! Heute weiß ich sehr viel mehr als vor fünf Jahren. Für mich war jetzt klar, daß ich etwas gegen den Dämon unternehmen mußte. Mit Onkel Goff darüber zu reden war sinnlos. Er hat mich damals für fast verrückt gehalten, ich habe also keinen Grund zur Annahme, daß sich seine Einstellung bis heute grundlegend geändert hätte.« Mit Mr. Teelers Nerven stand es wahrhaftig nicht zum besten. Er fingerte schon wieder an der Zigarettenpackung herum.
»Man soll im Leben immer erst gründlich nachdenken und dann erst handeln«, philosophierte er. Gordon Black schmunzelte verhalten. »Sie haben den umgekehrten Weg eingeschlagen, vermute ich, und aus diesem Grunde ist Ihr Alibi nicht wasserdicht.« »Zu meinem Leidwesen kann ich Ihnen nicht widersprechen, Mr. Black. Ich habe mich also auf den Weg gemacht. Ein Freund stellte mir sein Boot zur Verfügung…« »Boot?« unterbrach der Rechtsanwalt seinen Besucher. »Ich wohne drüben in New Haven, sagte ich das nicht?« »Yale-Universität, verstehe. Nein, Mr. Teeler, Sie erwähnten diesen Umstand bisher nicht. Sie sind also mit dem Boot eines Freundes über den Sund geschippert. Und was weiter?« »Na, es war heller Tag, eine Menge Leute haben mich gesehen. Auch an der Anlegestelle in Montauk Point. Mit Bart, wohlgemerkt. Ich bin dennoch unauffällig auf das Anwesen meines Onkels gelangt. Wissen Sie, ich kenne da noch ein paar verschwiegene Pfade. Überall wimmelte es von Polizeiuniformen. Ich paßte einen günstigen Moment ab und schrieb eine Schutzformel auf den oberen Türquerbalken.« »Welche?« fragte Gordon Black sofort. Mel Teeler wußte, daß dies der Augenblick der Wahrheit war und daß jetzt die Überprüfung kam, mit der er von Anfang an gerechnet hatte. Es lag an ihm zu beweisen, daß er ein Eingeweihter war und mehr über Magie und Okkultismus wußte, als in jedem Handlexikon nachzulesen war. »Die drei S«, sagte Teeler leise. »Und was bedeuten sie?« »Sie stehen für Sopher, Sepher und Sipur. Das sind die Namen der drei Seraphime.« »Wie haben Sie die Zeichen angebracht?« »Mit Kreide. Ich weiß, daß die Beschriftung mit Farbe hätte wiederholt oder mit Feuer eingebrannt werden müssen. Dazu
blieb mir keine Zeit, überall im Park streiften die Polizisten herum. Und nur eine Stunde später ereignete sich der zweite Mord. Für mich war klar, daß der Dämon nicht von außerhalb des Hauses gekommen war. Die Schutzformel hätte ihn an der Tür abgewiesen. Er hat im Haus selber einen Schlupfwinkel.« »Vorausgesetzt, niemand hat Ihre Kreidezeichen entdeckt und abgewischt«, wandte Gordon Black ein. »Dann ist der Schutz erloschen.« »Sie sind noch vorhanden. Zumindest waren sie es, als mich Red Cedar heute früh warnte; ich fragte ihn danach. Der Mann ist zuverlässig, ein Nachkomme der Indianer, die früher hier lebten.« »Red Cedar ist der Butler, nicht wahr?« erkundigte sich Gordon Black. »Richtig. Er hat sich der Erneuerungsbewegung der nordamerikanischen Indianer angeschlossen und einen indianischen Namen angenommen – Rote Zeder. Dank seiner Schilderung der Vorgänge bin ich ganz sicher, daß die Morde auf das Konto des Dämons gehen. Geisterhaftes Licht wie von einer brennenden Kerze, wie damals bei Sue Vandenberg. Ebenfalls ging die elektrische Beleuchtung ohne das Zutun von Menschenhand aus und wieder an.« Der Anwalt schaute seine Mitarbeiterin an. »Deutet tatsächlich darauf hin, daß der Dämon seinen Schlupfwinkel im Haus von Sir Goffrey Addison hat. Es wird aber sehr gefährlich sein, ihn da aufzuspüren.« »Inwiefern?« »Er hat viel Blut bekommen. Das heißt, er ist voll bei Kräften, kann jederzeit wieder zuschlagen. Und mit jedem Opfer wird er mächtiger und unüberwindlicher. Wir sollten keine Zeit verlieren. Was ist deine Ansicht, Hanako?« Die Zungenspitze der Asiatin glitt über die Lippen. »Mr. Teeler sprach von vier Morden, Gordon.« Der Anwalt zog die Brauen hoch. »Richtig. Wie steht es
damit, Mr. Teeler?« »Das hatte ich schon vergessen«, gestand der Mann. »Ein Fehler, der tödliche Folgen haben kann«, sagte Gordon Black mit düster verhangener Stimme. »Ich muß Sie bitten, mit offenen Karten zu spielen und vor allem Ihr Gedächtnis auf Hochtouren laufen zu lassen.« Beschämt senkte Mel Teeler den Kopf. »Es wird nicht wieder vorkommen, Mr. Black. Ich habe mir auch schon überlegt, daß das Kind einen offiziellen Namen haben muß. Sie können sich ja nicht in den Doppelfall einschalten und sagen, Sie wollten nur einen Dämon dingfest machen. Ich beauftrage Sie hiermit offiziell mit der Wahrnehmung meiner Interessen gegenüber der Polizei und der Staatsanwaltschaft.« »Ein einzigartiger Fall – ich übernehme die Verteidigung eines Mandanten, gegen den noch keine offiziellen Beschuldigungen erhoben werden.« »Aber gegen den Ermittlungen laufen, und zwar auf einem völlig falschen Gleis und unter völlig irrigen Voraussetzungen«, ergänzte Mel Teeler hitzig. »Na, die Polizei wird jedenfalls ihre helle Freude haben. Wer ermittelt?« »Ein Lieutenant Clancy von der Mordkommission des Suffolk-County in Riverhead. Kann sein, daß er beide Fälle nach New York City abgeben muß. Das Büro der Staatsanwaltschaft ist ziemlich bestürzt, weil das zweite Opfer ein Mitarbeiter ist. Wooley hieß der Mann.« »Na, das ist doch schon etwas, mit dem man beginnen kann«, meinte Gordon Black. »Und jetzt hätte ich gerne alle Einzelheiten zu dem vierten Mord erfahren.« »Tja!« Mel Teeler kratzte sich verlegen am Kopf. »Das ist so eine Sache! Also, damals nach dem Tod von Sue Vandenberg habe ich hin und her überlegt, schließlich sucht man ja nach einer zufriedenstellenden Erklärung, nicht? Sues total verändertes Wesen, ihr widersprüchliches Benehmen,
meine Wahrnehmungen während der Tat und dann später diese unbekannte Macht, die Gewalt über mich gewinnen und mich zu Dingen anhalten wollte, die mir widerstrebten, dafür mußte es ja eine Ursache geben. Zu dem Zeitpunkt habe ich vielleicht mal an einen Dämon gedacht, aber seine Existenz doch niemals ernsthaft in Erwägung gezogen. Das Umdenken erfolgte fast automatisch – nachdem ich nämlich die silberne Aradia-Statuette als Amulett trug. Nie zuvor war es im Haus meines Onkels zu besorgniserregenden Zwischenfällen gekommen, die Veränderungen in Sue Vandenbergs Wesen waren auch ziemlich abrupt aufgetreten. Es mußte mit der Sendung zusammenhängen, die wir kurz zuvor bekommen und gemeinsam ausgepackt und eingeräumt hatten. Nachlaß, den Peggy Guggenheim vermittelt hatte, mehr wußte ich nicht. Ich begann Nachforschungen anzustellen. Der Nachlaß war zu Beginn des Jahrhunderts aus venezianischem Besitz an einen Händler in Boston gelangt. Merritt, Chapman und Scott, wenn Ihnen das etwas sagt. Die Firma bestand zwar nur noch aus dem alten Scott, hatte aber einen erstklassigen Ruf in der Kunst- und Antiquitätenszene. Nach Scotts Tod eine Woche vor dem Schwarzen Börsenfreitag kam das Geschäft an einen entfernten Verwandten namens Stoker. Ziemlich geldgierig, der Mensch. Er verhökerte alles, was der alte Scott an Schätzen aus der Alten Welt angehäuft hatte. Eines Morgens fand man ihn tot hinter einem Musikinstrument, leer bis zum letzten Blutstropfen. Die Sache ging im Wirtschaftskrach unter, Amerika hatte andere Sorgen, als sich über einen obskuren Mord zu wundern. Der venezianische Nachlaß blieb jedenfalls zusammen, und Peggy Guggenheim hat ihn schließlich aufgestöbert. Ich war dreimal in Boston droben, konnte aber niemand mehr finden, der die genauen Umstände des Todes von Stoker wußte. Lediglich in einem alten Polizeiprotokoll fand ich eine
Art Aufstellung und die Vermutung, Stoker müsse beim Musizieren an einem antiken Spinett von seinem Mörder überrascht worden sein. Da funkte es natürlich bei mir. Sue hatte ebenfalls musiziert – und wie mir der Butler versichert hat, ist es bei Linda Turtle passiert, als sie gerade mit ihrem musikalischen Vortrag begonnen hatte. Dieser Wooley aus dem Büro der Staatsanwaltschaft soll ebenfalls auf dem Instrument herumgeklimpert haben.« Gordon Black legte die Stirn in Falten. »Es wäre möglich, daß der Dämon sich dieses Instrument als Sitz erwählt hat.« »Möglich schon«, räumte Teeler ein, »aber die Sendung bestand aus vielen Teilen. Alle kommen in Betracht.« »Zählen Sie auf!« verlangte der Anwalt. »Das Spinett.« Teeler reckte den Daumen hoch. »Zwei vergoldete Kandelaber.« Zeige- und Mittelfinger spreizten sich ab. »Ein Packen vergilbter Noten, die wir gleich weggeschlossen haben. Monteverdi, glaube ich. Kann man gar nicht mehr bezahlen.« Er reckte den Ringfinger. »Dann war da ein Spiegel. Den haben wir aufgehängt.« Er bog den kleinen Finger in die Höhe. »Onkel Goff murrte zwar. Altes venezianisches Glas, aber der Originalrahmen war durch eine einfallslose neuzeitliche Rahmung ersetzt worden. Dann zwei lombardische Eichentruhen«, er nahm bereits die Finger der anderen Hand zu Hilfe, »ein Reliquiar des venezianischen Kommandanten bei der Seeschlacht von Lepanto. Diverse Münzensätze und – tja, ich glaube, das war’s. Vielleicht noch etwas Kleinkram. Es ist über fünf Jahre her.« Für diese lange Frist erinnerte er sich noch ziemlich gut. Gordon Black imponierte diese Fähigkeit. »Ihr Onkel besitzt möglicherweise noch eine Aufstellung«, meinte er. »Mit Sicherheit.« »Dann sollten wir eigentlich nicht länger zögern«, sagte Gordon Black an seine Mitarbeiterin gewandt. »Sage alle
Nachmittagstermine ab. – Und Sie beschreiben mir, wie ich zum Haus Ihres Onkels komme.« »Fahren Sie über den Sunrise Highway, durch ganz Long Island hindurch. Das letzte Haus auf der rechten Seite vor dem Montauk Point-Leuchtturm. Das scheußlichste Haus der ganzen Gegend mit dem schönsten Park. Sie können es gar nicht verfehlen.« Gordon Black prägte sich diese Kurzbeschreibung ein. »Kann ich mich Ihrem Onkel gegenüber auf Sie berufen?« »Tun Sie es, Mr. Black. Er wird entsetzt sein, aber das hilft ihm nicht viel. Und fallen Sie nicht mit der Tür ins Haus. Von wegen Dämon.« »Versprechen kann ich nichts, es wird sich ergeben. Wo erreiche ich Sie?« »Wenden Sie sich an den Butler, er weiß mich zu finden«, sagte Mel Teeler mit einem gewitzten Lächeln. »Ich möchte Sie nicht in die peinliche Lage versetzen, mir einen Ratschlag geben zu müssen, den Sie mir als Anwalt nicht geben dürfen. Unterzutauchen nämlich.« Er steckte seine zerdrückte Zigarettenschachtel ein und erhob sich. »Bestimmt muß ich noch was unterschreiben. Also her damit. Eine Anzahlung kann ich auch leisten. – Genügen hundert Dollar?« Gordon Black verzog schmerzlich das Gesicht. Das versprach so ein Fall zu werden, den andere Fälle finanzieren mußten. »Die genügen. Miss Kamara erledigt den Papierkram mit Ihnen.« *** Lieutenant Clancy verwünschte Tag und Stunde, als er beschlossen hatte, zur Polizei zu gehen. Aber nun war er schon eine halbe Ewigkeit dabei, und es half auch nichts mehr, daß er wünschte, es wäre alles anders gekommen. Die kunst- und kulturbeflissenen Gäste des so jäh
abgebrochenen Vorstellungsfestes waren wahrhaftig einflußreiche Leute. Clancy bekam es zu spüren. Von ganz oben wurde Dampf aufgemacht; man erwartete, daß er den Täter gewissermaßen wie der Zauberer das Karnickel aus dem Hut hervorholte. Da er als Lieutenant ziemlich unten in den Rangordnungen stand und offiziell mit dem Fall Linda Turtle betraut war, bekam er den meisten Druck ab. Das wurmte ihn. Er liebte es nicht, unter Zwang ein Ergebnis produzieren zu müssen. Das Büro der Staatsanwaltschaft ging unverblümter zur Sache. Wooleys rätselhafter Tod hatte eine Staubwolke aufgewirbelt, so gewaltig, daß Clancy auf der Hut sein mußte, wenn er darin nicht ersticken wollte. Sogar der High Commissioner des Staates New York hatte sich schon ans Telefon geklemmt und Clancy Streifendienst in Aussicht gestellt, wenn er nicht bald den Täter beibrachte. Die Zeitungen heizten die Sache noch richtig an. Ein Blutsauger! Ein Wahnsinniger, der frei herumlief! Clancy mußte sich eine Menge garstiger Fragen von seinen Vorgesetzten gefallen lassen. Immerhin gab es doch eine vage Spur! Er hatte doch einen Verdächtigen! Der Bursche erfüllte alle Voraussetzungen. Er kannte die Örtlichkeiten und die Gepflogenheiten im Hause Addison, da lag eine schwere Anschuldigung betreffend eines nicht weniger seltsamen Todesfalles vor fünf Jahren vor, und der Kerl betrieb Studien in Disziplinen, mit denen er später nicht das Salz in der Suppe verdienen konnte. Augenzeugen hatten Mel Teeler auch gesehen. An der Bootsanlegestelle am Montauk Point. Allerdings nur an dem Tag, an dem Wooley auf so entsetzliche Art umgekommen war. Gut, das Boot hatte man inzwischen. Auch den Besitzer. Und der gab freimütig zu, Mel Teeler das Boot geliehen zu haben. Aber wo der sich jetzt aufhalte, wisse er nicht. Den Tag davor, als das Vorstellungsfest so abrupt endete, hatte er mit
Teeler und anderen Freunden fürchterlich gesoffen. Dafür gab es Zeugen. Elf Aussagen lagen vor und das Protokoll der Streifenwagenbesatzung, die der Wirt um Hilfe gerufen hatte, weil er die betrunkene Bande nicht aus seinem Lokal schmeißen konnte. Warum aber sollte dieser verflixte Teeler Wooley umgebracht und ausgesaugt haben und Linda Turtle nicht? Das ging nicht zusammen. Es war auch nichts Belastendes daraus zu basteln, das gegen Sir Goffrey Addison eingesetzt werden konnte. Mel Teeler hatte kein Motiv. Von seinem Onkel bekam er unregelmäßig Zuwendungen, und wenn der alte Herr starb, bekam Teeler einen erklecklichen Teil des Besitzes. Nicht alles sollte in Stiftungen fließen. Clancy war sehr unzufrieden und tat das Gegenteil von dem, was die Staatsanwaltschaft wünschte – er rückte nämlich die bisherigen Ergebnisse der Ermittlungen nicht heraus. Die waren aber nötig, um den Haftbefehl gegen Teeler zu erwirken. Er schloß sie in seinem Schrank ein, setzte den Hut auf und langte den leichten Sommermantel vom Ständer. Die Kollegen sahen es mit Verwunderung. »Der Staatsanwalt hat schon zweimal angerufen«, erinnerte einer. »Er wird auch ein drittes Mal anrufen«, sagte Clancy. »Er soll mir den Buckel runterrutschen, das könnt ihr ihm bestellen.« »Wird erledigt«, versprach der Kollege knochentrocken. Clancy fuhr zum Hospital, wohin man Patrolman Hank Monahan gebracht hatte. Im ersten Anlauf stieß er gleich bis zum verantwortlichen Arzt vor. Der hatte ihn schon mehrmals abgewimmelt und gesagt, er könne Monahan nicht behandeln, wenn alle naselang jemand vorbeikäme und versuche, den Patienten auszuquetschen. Wahrscheinlich würde es Wochen, wenn nicht gar Monate dauern, bis man Monahan wieder
hinbekäme. Wenn überhaupt. Hinten herum hatte Clancy auch schon läuten hören, es seien Überlegungen im Gange, Hank Monahan ins St.-Elisabeth-Hospital für Geisteskranke zu verlegen. Das klang alles höchst bedenklich. Clancy sagte sich, daß Monahan wirklich Entsetzliches gesehen haben mußte, daß sich sein Verstand so nachhaltig verwirrt hatte. Gerade bei Monahan wollte das etwas heißen. Die Beurteilung in seiner Personalakte lobte ihn als kühlen, beherrschten und unerschrockenen Beamten. Es gehörte schon eine Menge dazu, um einen solchen Burschen aus dem seelischen Gleichgewicht zu stoßen. Der Chefarzt war unergiebig wie eine trockene Ölquelle und faselte etwas von Bewußtseinsspaltung und anderen Zuständen. Clancy kannte das. Er hörte mit einem Ohr hin, mimte den verständnisvollen Vorgesetzten und sagte: »Dann kann man nichts machen, Doc. Aber Sie unterrichten mein Büro sofort, wenn sich sein Zustand bessert.« »Sobald ich eine Vernehmung verantworten kann.« Der Arzt ließ sich damit sämtliche Hintertüren offen. Clancy trabte davon. Aber nur bis zum Stationszimmer. Er drückte sich fast eine Stunde lang dort herum, bis er herausgefunden hatte, welche Schwester am häufigsten in Monahans Zimmer ging. Da das Personal wußte, daß er von der Polizei war und sein Gesicht schon einen gewissen Bekanntheitsgrad hatte, vermutete niemand Arges. Man wunderte sich lediglich, daß es für ihn keine wichtigere Arbeit gab, als auf einem Krankenhausflur herumzustehen. Als die Schwester wieder aus Monahans Zimmer trat, war Clancy plötzlich neben ihr. Lautlos wie ein Schatten. Das Mädchen fuhr zusammen. »Sieht nicht gut für den armen Teufel aus, ich weiß«, brummte Clancy. »Der Doktor hat’s gesagt. Wenn wir nur
einen Anhaltspunkt hätten, verstehen Sie? Dann kämen wir in den Ermittlungen weiter und könnten ihm und dem ganzen Personal hier vielleicht helfen.« Sie war nicht auf den Kopf gefallen. »Ich darf nichts sagen.« »Verlangt ja auch kein Mensch von Ihnen, Schwester. Die Sache ist natürlich die, daß ich auch meine Pflicht tun muß. Können wir uns auf halbem Weg treffen? Sie sagen mir, was Monahan redet, und ich vergesse sofort, wer es mir gesagt hat.« »Ich darf nicht, Lieutenant, und außerdem ergibt es doch keinen Sinn.« »Was er sagt? Sie machen mich neugierig! Vielleicht steckt doch was dahinter, das uns hilft. Worum geht es?« Er hatte die Stimme gedämpft. Die Schwester schaute unglücklich; sie zögerte. Schließlich sagte sie leise: »Am häufigsten kommt in seinen Reden eine riesige Fledermaus vor. Und dann ist da noch ein Mann…« »Ja?« ermunterte Clancy, als sie abbrach. »Also, ein Mann schaut aus einem Spiegel und hält eine brennende Kerze. Ziemlich wirr das alles.« »Hm!« machte Clancy, und um der Schwester keine Gewissensnöte zu bereiten, sagte er: »Damit kann ich wahrhaftig nichts anfangen. Vielleicht bringt er später was Hilfreiches, wenn es ihm besser geht. Schwester, Sie sind hier mein zweites Ohrenpaar, abgemacht?« Er zwinkerte ihr zu und verließ in Eile die Station. Seine Stimmung näherte sich dem Gefrierpunkt. Wieder dieser verdammte Spiegel! Ein Mann, der daraus hervorschaut. Lächerlich! Ein Spiegel war dazu da, etwas zu reflektieren. Und zwar etwas, das sich vor dem Spiegel befindet und nicht dahinter! Das war der springende Punkt! schoß es ihm durch den Kopf. Die Augenzeugen waren einem optischen Trick aufgesessen, der Schock über das Verbrechen hatte ein übriges
getan, um die Aussagen in diesem Punkt zu vernebeln. Vielleicht war mit einem versteckten Projektionsgerät ein Bild auf den Spiegel geworfen worden. Das war schon denkbar. Aber Clancy vermutete eher, daß die Leute eine Gestalt gesehen hatten, die im Hintergrund des Saales Faxen gemacht hatte. Ein Kerl, der mit einer brennenden Kerze herumgegeistert war und für Ablenkung sorgte, bis sein Kumpan ein Opfer gefunden und ermordet hatte. Diesen Burschen mit der Kerze hatten die Leute gesehen. Oder besser sein Spiegelbild. Leider nicht den zweiten Mann, auf den es ankam – den Mörder! Ganz glücklich war Lieutenant Clancy mit diesem Gedankengerüst auch nicht. Das Ganze kam ihm wie ein Netz vor – eine Tattheorie, die vornehmlich aus Löchern bestand. Und die den Doppelfall noch unnötig komplizierte. Zwei Täter? Auch wenn sie in der Besetzung Haupttäter und Mittäter beziehungsweise Helfer auftraten? Wozu dann die Scheußlichkeit, den Opfern das Blut auszusaugen? Ein Täter konnte ein Verrückter sein, aber daß zwei Verrückte sich zusammentaten, um Verbrechen zu begehen, davon hatte Clancy nicht mal im theoretischen Unterricht auf der Polizeiakademie gehört. Ein einleuchtendes Motiv gab es damit auch nicht. Der Lieutenant stieß einen lästerlichen Fluch aus, daß sich ein paar Krankenhausbesucher entsetzt nach ihm umschauten. Er stapfte zum Parkplatz, angelte das Mikrofon aus der Halterung und ließ sich seine Dienststelle in Riverhead geben. »Seht auf dem Dienstplan nach, wo Somerset jetzt ist«, knurrte er. Sam Somerset befand sich auf der North Country Road auf Streifenfahrt. In Richtung Jefferson, wurde ihm mitgeteilt. »Ich brauche ihn – dringend!« Clancys Stimme hörte sich
auch so an. »Er soll zum Addison-Haus in Montauk Point kommen. Wer zuerst da ist, wartet. Ich fahre jetzt los.« Die Dienststelle versprach, Somerset sofort zu verständigen und in Marsch zu setzen. Clancy benötigte fast zwei Stunden, um aus New York heraus ans äußerste Ende von Long Island zu kommen. Sam Somerset wartete bereits. Es standen aber noch weitere Streifenwagen herum. Als letztes Fahrzeug war ein silbergrauer Pontiac geparkt, der vom Büro der Staatsanwaltschaft gefahren wurde. Clancy wollte sich nicht in die Nesseln setzen und fragte vorsichtshalber per Funk in seiner Dienststelle zurück. »Die ermitteln auf eigene Faust«, meldete der Kollege. »Wegen Wooley, und weil der Staatsanwalt auch ziemlich sauer ist, weil er dir den Buckel runterrutschen soll. Wir haben ihm das ausgerichtet.« Clancy gebrauchte einen Ausdruck, der sich wie »Idioten« anhörte. »Heißt das, ich bin raus aus dem Fall?« Der Kollege zögerte. »Noch nicht, aber es könnte passieren. Die Burschen sind auf Teeler scharf, der Junge ist heiß. Verbrenne dir nicht die Finger.« »Quatsch!« schimpfte Clancy. »Die brauchen bloß jemand zum Vorzeigen, damit die Öffentlichkeit beruhigt ist.« Wütend steckte er das Mikrofon in die Halterung und schaltete die Funkanlage ab. Mit Somerset stapfte er zu dem alten Herrensitz hinter den mächtigen Bäumen. Im Park wimmelte es von Polizisten. Die Staatsanwaltschaft hatte vierzehn Beamte zusammengetrommelt und beschäftigte sie damit, hinter jeden Strauch und unter jeden tiefhängenden Ast zu schauen. Sogar Suchhunde hatten sie dabei. Der Butler mit den vielen Runzeln im Gesicht und der stoischen Indianermiene öffnete auf Clancys Läuten. »Es sind
schon einige Gentlemen da. Folgen Sie mir bitte.« »Den Gentlemen möchte ich lieber nicht begegnen«, erwiderte Clancy in einem Ton, der den Butler bewog, sanft die Brauen zu heben. »Wir wollen uns nur eben noch mal den besagten Raum ansehen – Sie wissen schon. Ich denke, Sir Goffrey erhebt keine Einwände.« »Solange Ihre Ermittlungen andauern, stehen Räume und Personal zu Ihrer Verfügung, Lieutenant. Ich habe meine Anweisungen empfangen.« Er schritt vorneweg mit der steifen Würde eines Zeremonienmeisters. In dem Raum angekommen, in dem Clancy noch einmal mit seinen Ermittlungen beginnen wollte, entließ er den Butler: »Danke, wir kommen schon allein zurecht. Sollten sich Fragen ergeben, weiß ich ja, wo ich Sie finde.« Der Butler zog sich zurück. Clancy blickte gegen die drei hohen Fenster, die in den Park hinausgingen. Draußen war es heller Tag, schwach drangen die Stimmen der suchenden Polizisten herein. Es würde verdammt schwer sein, sich vorzustellen, es wäre draußen Nacht. Vorhänge gab es nicht. Wenigstens waren die Fenster nicht durchsichtig wie klares Wasser. Sie waren aus einer Vielzahl von bunten Glasstücken zusammengesetzt, alles in Bleiband gefaßt. Die Sache mit dem selbsttätig ausgehenden Licht mußte er sich eben im Geiste vorstellen. »Somerset, zeigen Sie mir jetzt ganz genau, wo Wooley stand, was er machte, klar? Dann zeigen Sie mir auf den Zoll genau, wo Monahan sich aufhielt, als Sie rausliefen, um den Sicherungskasten zu überprüfen. Und danach wiederholen wir Schritt für Schritt, was Sie während des Vorfalles gemacht haben.« Sam Somerset fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut. »Zum Teufel, ich kriege immer noch weiche Knie, wenn ich
an die Geschichte denke, Lieutenant. Gut, ich mache es aber nicht gerne, das sage ich Ihnen.« »Mann, stellen Sie sich nicht an!« schnaubte Clancy und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. »Los, bringen wir’s hinter uns.« Sam Somerset schaute sich ängstlich nach allen Seiten um. Er bot ein groteskes Bild – ein ausgewachsener Mann, stämmig, in der Uniform eines Patrolman, mit einer respektablen Pistolentasche auf der rechten Hüfte, der wie eine schreckhafte Jungfer um Mitternacht über den unheimlichen Friedhof muß und sich fürchterlich gruselt. Aus den Wänden schien ein Knacken und Knistern zu kommen. Somerset blieb sofort stehen. »Haben Sie das auch gehört, Lieutenant? Da ist doch was!« Clancy hatte in der Tat etwas gehört, das Geräusch schien ihm aber von draußen aus dem Park gekommen zu sein. »Geht uns nichts an, Somerset! Also, wo stand Wooley?« Der Patrolman lauschte. Jetzt war es still im großen Raum. Und draußen im Park auch. Er ging zu dem Podest. Dieses altertümliche Musikinstrument mit den Wurmlöchern stand noch unverändert an seinem Platz. Und genau dahinter hing an der Wand dieser verdammte Spiegel, auf den Clancy es abgesehen hatte. Er behielt ihn im Auge, als Somerset seine Erläuterungen gab. »Also, Lieutenant, da hat er sich hingesetzt und was auf dem Kasten runtergeklimpert. – Tja, da haben Notenblätter gelegen, aber die sind jetzt nicht mehr da.« Clancy überging diesen Einwand. »Und dann?« »Ging das Licht aus. Mister Wooley hat weitergespielt. Monahan hat zuvor noch gesagt, er soll es bleiben lassen. Na, und dann brüllte er, ich soll zum Sicherungskasten laufen, da fummle einer dran rum. Das habe ich gemacht.«
»Hm, dann zeigen Sie mir jetzt, wo Monahan stand, als das Licht noch brannte.« Sam Somerset kam sichtlich erleichtert vom Podest herunter. »Na hier, Lieutenant.« Er zeigte eine Stelle an, die ungefähr der linken Ecke der vordersten Stuhlreihe entsprach. Natürlich waren die Stühle inzwischen weggeräumt. Clancy hatte die Skizze aber ungefähr im Kopf, die der Polizeizeichner nach dem Mord an Linda Turtle angefertigt hatte. Genau an diesem Platz hatte Hank Monahan auch gelegen, nachdem die geheimnisvolle Sache mit Wooley geschehen war. Mit anderen Worten hatte sich Monahan nicht von der Stelle bewegt. Clancy hatte irgendwie das Gefühl, der Aufklärung ein Stück näher zu sein. Er stellte sich auf den Platz. »Und Sie nehmen Ihre Position ein.« Dieser Auftrag war Sam Somerset entschieden lieber. Da war er weit weg von diesem unheimlichen Spinett, an dem zwei Menschen gestorben waren. Er marschierte durch den saalartigen Raum nach hinten und bezog Posten neben der Tür. »Hier ist mein Platz, Lieutenant…« Clancy starrte zu dem Spiegel hinüber. Er hoffte, Somerset darin auftauchen zu sehen. Leider stimmte der Blickwinkel nicht. Von dieser Stelle aus war rein überhaupt nichts Aufregendes zu erspähen. Eine Längswand des Raumes – ohne Nischen, Türen, Portieren. Einfach eine nackte Wand. Plötzlich ging ein Pfeifen durch den Raum – wie von einem heftigen Windstoß. Das war aber nicht gut möglich, die hohen Fenster waren geschlossen. Und die Türen waren auch zu. Ein unvorstellbarer Kälteschwall streifte Lieutenant Clancys Gesicht.
»Sir – Lieutenant…!« brüllte Somerset. Clancy kam die Sache auch mehr als seltsam vor. Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn. Aber unverwandt starrte er auf den Spiegel, als könnte er erzwingen, daß sich dort etwas zeigte. Die Deckenleuchten gingen plötzlich an. »Na, wenigstens mal was anderes!« knurrte Clancy. »Somerset, bringen Sie mir den Kerl, der uns hier zum Narren hält!« Somerset ließ sich nicht zweimal bitten. Er flitzte hinaus, froh, dem unheimlichen Ort entronnen zu sein. Mit Riesensätzen lief er zum Sicherungskasten. Natürlich war wieder niemand da. Und die Blechtür war fest verschlossen. Ein irrsinniges Gelächter ließ ihn herumwirbeln. Es klang wie das Lachen eines Irrsinnigen, und es kam von weit her. Im nächsten Moment schien es direkt neben Patrolman Somerset aus der Wand zu dringen. Und dann war es überall – rechts, links, oben, unten. Das ganze alte Gemäuer hallte wider von diesem irrsinnigen Lachen. Ein Schrei in höchster Not mischte sich in dieses Gelächter. Ein Schrei aus menschlicher Kehle, wie ihn nur jemand ausstößt, der an der Schwelle zur Ewigkeit steht. Patrolman Sam Somerset fingerte die schwere Pistole aus der Tasche und lief zum Saal zurück. @* * * @* * * Hinter dem Polizisten klappte die Tür zu. Clancy grinste dünn. Somerset ließ sich anmerken, wie wenig ihm der Ort zusagte.
Dann stutzte er, und das Grinsen verging ihm und wich einem ungläubig staunenden Gesichtsausdruck. Ein dunkler riesiger Schatten bewegte sich flatternd, aber völlig lautlos durch den Saal. Er besaß keine genauen Umrisse, aber er wirkte ungemein bedrohlich. Die Fledermaus! schoß es Clancy durch den Kopf. Die Fledermaus, von der Monahan phantasierte! Sie existierte wirklich! Er zog den Kopf ein. Dieser Schatten stürzte sich auf ihn und schien ihn anzugreifen. Er bedauerte, keine Schußwaffe bei sich zu haben. Aus den Augenwinkeln sah er eine andere Bewegung. Im Spiegel leuchtete Kerzenschein auf – trotz der eingeschalteten Deckenbeleuchtung zu sehen. Der Schein war durchdringend, geradezu unwirklich. Und dann erblickte Clancy den Mann! Er trug unmoderne Kleidung, ganz dunkel. Und eine Frisur mit vielen Locken, als käme er von einer Theateraufführung. Die linke Hand hatte er erhoben; darin hielt er die brennende Kerze. Es sah wirklich so aus, als käme der Mann aus dem Spiegel. Clancy glaubte nicht an solchen Bluff. Er sah ein Spiegelbild. Was er betrachtete, ereignete sich natürlich hinten im Saal. Dachte er. Er wandte mit einem Ruck den Kopf. Nichts! Da war niemand! Lieutenant Clancy spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten und ihm der kalte Schweiß ausbrach. Der Unbekannte dort im Spiegel lächelte. Es war ein grausames Lächeln. Ohne jedes Mitleid. Und dann stieg er heraus. Er kam einfach aus dem Spiegel, als sei er eine weit offene Tür. Seine rechte Hand strich über das alte Spinett. Sein Mund
verzog sich. Er kam vom Podest herab und schritt unbeirrt auf den Lieutenant zu. Clancys Augen weiteten sich voller Entsetzen. Er wollte die Füße bewegen, aber sie hafteten am Boden wie festgeklebt. Eine unsichtbare Kraft hielt seine Füße dort, wo sie waren. Und dann spürte Clancy, wie er zu sinken begann. Ein wahnsinniges Lachen drang aus dem Mund des Unheimlichen, der mit seiner brennenden Kerze näherschritt, und schien über Clancy zusammenzustürzen. Die Füße des Lieutenants sanken tiefer. Schon waren die Knöchel nicht mehr zu sehen. Der Boden war wie eine zähe, schleimige Masse, die ihn in sich aufsog. Clancy ruderte verzweifelt mit den Armen. Er wollte sich zur Seite werfen, wollte festen Grund erreichen und sich aus diesem geisterhaften Sumpf befreien. Etwas hielt ihn aufrecht. Stehend, hilflos, die Augen aufgerissen, sank er immer tiefer. Ein fürchterlicher Schrei brach endlich aus seinem Mund. Ein Schrei voller Not und Qual. Der Unheimliche lachte dazu. Seine Kerzenflamme flackerte. *** Gordon Black stoppte vor dem alten Haus im Park und begutachtete stirnrunzelnd das Aufgebot der Polizeiwagen. Hanako zeigte in den Park, wo uniformierte Männer suchten. Einer führte einen Hund an einer langen Leine. Plötzlich warf sich der Hund herum, zog buchstäblich den Schwanz ein und versuchte, trotz der Leine davonzulaufen. Ein belangloser Zwischenfall. Aber Hanako wurde nur Minuten später an ihn erinnert. Sie und Gordon Black stiegen aus und gingen zum Haus.
Zwei Polizisten betrachteten sie mißtrauisch und folgten ihnen in einigem Abstand. Gordon Black ließ das Gemäuer auf sich wirken. Ziemlich alt, wie Teeler es beschrieben hatte. Aber irgendwie solide. Und mit einem Hauch Romantik umgeben. So mußten die Häuser ausgesehen haben, die sich die Kapitäne der Walfangschiffe früher auf Long Island gebaut hatten. »Es ist weggewischt«, sagte Hanako in seine Gedanken hinein. Er hob den Blick. Auf dem Türquerbalken waren mit Kreide drei Buchstaben geschrieben gewesen. Jemand hatte sie verwischt, war dabei aber nicht gründlich genug vorgegangen. »Jedenfalls sagt er in diesem Punkt die Wahrheit«, raunte Gordon Black. »Hoffen wir, daß er auch in den anderen nicht lügt.« Er sprach deshalb so leise, weil hinter der Tür Schritte näherkamen. Man hatte ihre Annäherung beobachtet. Hanako zeigte mit spitzem Zeigefinger andeutungsweise hinauf. »Das Haus ist ohne Schutz…« Die Tür wurde geöffnet. Ein runzliges Gesicht zeigte sich. »Sie wünschen bitte?« Gordon Black wandte sich um. Zehn Schritte weiter standen die beiden Polizisten und sperrten die Ohren auf. »Sie sind der Butler, nehme ich an«, sagte er und lächelte gewinnend. »Red Cedar.« Er senkte die Stimme. »Mister Teeler hat mich heute mit seinem Besuch beehrt.« Das stoische Runzelgesicht bekam Wärme und Freundlichkeit. »Madam, Sir – Sie sind in diesem Haus willkommen. Treten Sie bitte ein.« Der Butler hielt weit die Tür auf. »Sir Goffrey wird Sie empfangen, sobald die Gentlemen von der Staatsanwaltschaft gegangen sind. Wen darf ich melden?« »Miss Hanako Kamara, meine Mitarbeiterin – Gordon
Black, Anwalt aus New York.« Jetzt blickten Red Cedars Augen direkt wohlwollend. »Von Ihnen hat man schon gehört, Sir. – Bitte!« Er gab die Tür frei. Und dann fuhr sogar er zusammen, obgleich Indianer eigentlich nie ihr Erschrecken zeigen und auch sonst sparsam sind in der Äußerung von Empfindungen. Gordon Black und Hanako riß es dagegen regelrecht herum. Aus der Tiefe des Hauses drang ein so entsetzlicher Schrei, wie ihn der Anwalt noch nie zuvor gehört hatte. Und dann war auch ein irrsinniges Gelächter zu vernehmen, das sich nach dem Schrei noch steigerte. »Der Lieutenant!« rief der Butler erschrocken. »Wo ist er?« schrie Gordon Black. »Schnell, bringen Sie uns hin!« »Sehr wohl, Sir!« keuchte Red Cedar und lief voraus. Aus einer Tür sah Gordon Black ein paar Männer mit bleichem Gesicht und reinem Unverständnis in den Augen stürzen. Einer wollte ihn aufhalten, packte ihn am Arm. Der Anwalt schlug die Hand beiseite und sah hinter den Männern einen grauhaarigen Gentleman auftauchen. Ohne Frage war dies Sir Goffrey Addison, der unermeßlich reiche Sammler und Kunstliebhaber, der einen Dämon in seinem Haus beherbergte und keine Ahnung davon hatte. »He, Sie, warten Sie mal! – Zum Teufel, wer ist das?« brüllte ein Mann hinter Gordon Black und Hanako her. Der Butler lief, als hätte er die Beine und die Kraft eines Zwanzigjährigen. Er stieß eine Tür auf – und prallte zurück. Ein Schrei in Todesnot gellte wieder aus dem Raum dahinter, und eine gespenstische schwarze Gestalt, fließend in der Form, aber furchterregend, stürzte sich auf Red Cedar. Peitschende Schläge wie von eisenharten Flügeln prasselten auf den Mann nieder. Er hob schützend die Arme über den Kopf.
Ein sausender Schlag fegte ihn beiseite und streckte ihn zu Boden. Aus seinem Mundwinkel rann dünn etwas Blut. Gordon Black hatte den Eindruck, daß ein riesiges geflügeltes Untier den Zugang zu dem Raum bewachte. So lange bewachte, bis da drin ein entsetzliches Geschehen vorüber war. Das schemenhafte Wesen, das sehr reelle, schmerzhafte und sicher auch gefährliche Schläge austeilte, griff jetzt Hanako an. Sie stand der Tür am nächsten. Die zierliche Asiatin verwandelte sich innerhalb einer Sekunde zu einem Bündel an Energie und Geschicklichkeit. Sie hob beide Arme in die Angriffsstellung eines Karatekämpfers, führte zwei blitzschnelle Schläge in das flatternde Untier hinein, das ebenso Drache wie riesige Fledermaus sein konnte, und schrie sehr überrascht: »Nicht stofflich, Gordon! Ich kann es nicht treffen!« An der Wand ein paar Schritte entfernt richtete sich der Butler auf und wischte sich verlegen das Blut aus dem Mundwinkel. Es berührte ihn peinlich, daß ihn jemand am Boden liegen gesehen hatte. Dann erst sah er, daß die Gefahr noch gar nicht beseitigt war. Die Frau mit dem japanischen Namen kämpfte mit dem Schattenwesen, das so schmerzhafte Schläge austeilte. »Das Dogu!« rief Gordon Black und versuchte, durch die Tür zu drängen, weil drinnen das Gelächter zu einer satanischen Geräuschorgie anschwoll und die Entsetzensschreie aus menschlicher Kehle immer verzweifelter wurden. Hanako streifte ein Band über den Kopf. Es war eine Schnur, an der eine kleine Figur hing. Es war ein geweihtes Dogu, und nach japanischer Überlieferung besaß es so viel Kraft, daß es alle bösen Mächte der Finsternis in Bann halten konnte. Die zierliche Asiatin begann das Dogu in vorgeschriebenen
Figuren um den Kopf zu schwingen. Die Macht des Amuletts zeigte sich. Erschreckt zog sich das flügelschlagende Wesen zurück und streifte noch Gordon Black. Der Schlag durchzuckte ihn wie ewiges Höllenfeuer auf der blanken Haut. Eisige Kälte wehte ihn danach an – und der Spuk war fort. Dafür drang aus der Ferne nervenzerfetzendes Hundejaulen heran. Die Polizeihunde im Park! Tiere, ganz besonders Hunde, reagierten sehr stark, wenn sich Geister in der Nähe bemerkbar machten. Gordon Black sprang mit einem Satz durch die Tür und sah einen verzweifelt mit den Armen um sich greifenden Mann, der bis zu den Hüften in den Fußboden des Saales eingesunken war. Der Mann sah ihn und reckte die Anne in seine Richtung. Gordon Black konnte sich nicht entsinnen, je größeres Entsetzen in den Augen eines Menschen gesehen zu haben. Dieser halb versunkene Mann starrte ihn an, als sei er ein Abgesandter der Hölle oder der Teufel selber, der gekommen war, ihn zu holen. Der Mann war gar nicht mehr richtig bei Sinnen. Seine Bewegungen erfolgten mehr automatisch, mehr den Reflexen der Muskeln gehorchend. Das Einsinken des Mannes war das Werk eines Dämons. Der hölzerne Fußboden hatte sich aufgelöst und wallte und waberte wie kochender Leim. Fünf Schritte von dem Unglücklichen entfernt stand ein schwarzgekleideter Mann, hielt eine brennende Kerze und stieß dieses fürchterliche Lachen aus, das in den Ohren schmerzte und das sich durch alle Wände fortzupflanzen schien. Der Dämon! Gordon Black spürte die unsichtbare Kraft, die gegen ihn
prallte und ihn fortstoßen wollte, hinaus aus diesem Raum. Jetzt wandte der Schwarzgekleidete den Kopf. Sein Mund war grausam verzerrt und in dem schienen sich alle Sünden und Laster der Menschheit widerzuspiegeln. Gordon Black spürte die Gefahr. »Vorsicht, Hanako – halte mir den Rücken frei! Ich glaube, er greift an!« Der Schwarzgekleidete merkte, daß ihm seine Beute streitig gemacht werden sollte. Er stieß ein Fauchen aus. Der Anwalt verwünschte den Leichtsinn, so schlecht gerüstet dieses Haus aufgesucht zu haben. Aber er hatte schließlich nicht damit gerechnet, gleich auf den Dämon zu treffen, noch bevor er sich dem Hausherrn hatte bekannt machen können. Und er wunderte sich darüber, daß der Dämon diesen Mann, den er im Fußboden gefangen hatte, nicht ebenso blitzschnell getötet beziehungsweise ausgesaugt hatte wie die unglückliche Linda Turtle und den Mann aus dem Büro des Staatsanwalts. Möglich, daß die Bedingungen nicht gegeben waren, die dem Dämon Macht über die Lebenden verliehen und ihn in die Lage versetzten, sich sein Blut zu holen. Das war eine Chance, vielleicht die einzige. Sie war vorbei und vertan, wenn der Dämon erst eine für sich günstige Situation herbeigeführt hatte. Vielleicht mußte es Nacht sein. Oder dieses Spinett spielte eine maßgebliche Rolle dabei. Unter der Kleidung trug Gordon Black die rote Schnur, wie sie jeder Meister der Weißen Magie stets mitführt. Mit fliegenden Fingern knöpfte der Anwalt das Hemd auf. Es war ihm herzlich gleichgültig, welchen Eindruck es machte, wenn er hier einen halben Striptease hinlegte. Es ging um das Leben dieses Mannes und um seines. Der Dämon hob wieder die Hand und vollführte beschwörende Gesten. Ungeheure Kräfte prallten gegen Gordon Black. Wie mit
glühenden Haken griff es in seinen Kopf und tastete nach seinem Verstand. Er spürte die rote Schnur unter den tastenden Fingern. An der Schnur hing das Hexenmesser, das Athame. Er bekam es nur nicht heraus. Es verfing sich in der Kleidung. In seiner Verzweiflung erwog er, die erste Anrufung Luzifers aufzubeten. Aber das konnte Folgen haben, die gar nicht zu überblicken waren. »Großer, mächtiger Adonay«, murmelte er, während sein Verstand zu verbrennen schien. »Beherrscher aller Geister und guten Mächte, steh mir bei!« Mit einem Ruck sprang das Athame in seine Hand. Blitzschnell löste es Gordon Black von der roten Schnur, machte mit dem Hexenmesser das Kreuzeszeichen gegen den Dämon und hörte dessen schrilles, wimmerndes Heulen. Es klang wie das Geschrei von tausend betrogenen Seelen. Die Kerze begann zu flackern. Dann erlosch die elektrische Deckenbeleuchtung, sprang wieder an, zuckte und blieb aus. Der Dämon wich unwillig und zögernd zurück. Er versuchte den Lieutenant zu berühren, so, als wollte er ihn mitnehmen. Gordon Black schnellte sich zwischen den Dämon und den unglücklichen Mann. Ein letztes Heulen kam aus dem aufgerissenen Mund des Dämons, dann schritt er rückwärts in Richtung eines Podestes, auf dem ein Musikinstrument stand, und wo ein Spiegel an der Wand hing. Das mußte dieser Spiegel sein, den Mel Teeler erwähnt hatte! Gordon Black war bereit, den Dämon anzugreifen und ihn zu vertreiben, als er im letzten Augenblick das satanische Lächeln auf dessen grauen Zügen sah. Im selben Moment hörte er Hanakos Schrei. Er fuhr halb herum. Der Dämon war doch nicht gewillt, auf den Lieutenant zu
verzichten. Er ließ ihn mit seinen Kräften weiter in den Boden sinken. Die wabernde Masse um den Mann war in wildem Aufruhr. Gordon Black sprang statt zum Podest in die andere Richtung. Er erreichte gerade noch den Lieutenant und ritzte mit dem Hexenmesser einen magischen Kreis um den Unglücklichen in die Dielen. Der Parkettboden ging zum Teufel, aber die Mächte des Dämons waren gebrochen. Die brodelnde, wabernde Masse beruhigte sich, und der Lieutenant sank nicht weiter ein. Der Anwalt trat hinter ihn, schlang beide Arme unter den Achselhöhlen hindurch, bis sich seine Hände auf der Brust des Mannes verschränkten. Und dann zog er den Polizisten aus diesem unheimlichen Sumpf. Es war Schwerstarbeit. Ungeheure Kräfte zerrten an dem Opfer. Aber der magische Kreis schützte, und nach ein paar Minuten hatte Gordon Black den Mann heraus. Kaum war der Kontakt zwischen dem Opfer und dem unerklärlichen Sumpf verloren, verschwand die zähe Masse. An der Stelle war Parkettfußboden zu sehen, als hätte es dort nie etwas anderes gegeben. Nur der magische Kreis blieb erhalten. Den würde Sir Goffrey nicht einmal abschleifen lassen können. Die Spitze des Hexenmessers hatte einen tiefen Schnitt im Holz hinterlassen. In den Armen von Gordon Black sackte der gerettete Lieutenant zusammen. Der Anwalt ließ ihn behutsam zu Boden gleiten; er mußte die Hände für den Dämon frei haben. Da sah er, daß sich gegenüber eine Tür geöffnet hatte. Ein uniformierter Polizist stand dort, das Gesicht verzerrt vor Schreck und Entsetzen. Immerhin aber hatte der Mann eine Pistole in der Hand. Wie im Schießkeller der Polizei machte er
einen Grätschschritt, sank etwas in die Knie, streckte den rechten Arm und zielte mit der Waffe auf den Dämon. Der Anwalt wollte dem uniformierten Polizisten zurufen, daß er sich die Patronen sparen könnte. Doch schon peitschte der erste Schuß durch den saalartigen Raum. Dem ohrenbetäubenden Krach nach handelte es sich um eine großkalibrige Waffe. Die war sicher sehr nützlich in einem Gefecht mit einer Heroinhändlerbande oder bei einem Treffen mit einer Gang der Cosa Nostra. Hier mußte sie versagen. Die Kugel traf den Dämon, aber sie ging einfach durch ihn hindurch, ohne ihm das geringste anhaben zu können. Mit einem dumpfen Knall fuhr sie neben dem Spiegel in die Wand und schlug ein handtellergroßes Stück Putz herab. Der Polizist blickte verstört. Er drückte wieder ab. »Hören Sie auf, Mann!« schrie Gordon Black. Er hatte Angst um den Spiegel. Wenn der zerbrach, war dem Dämon vielleicht der Rückweg abgeschnitten. Das war aber nur eine von vielen denkbaren Möglichkeiten. Genauso gut konnte jede Spiegelscherbe ein Schlupfloch für den Dämon bedeuten, durch das er in sein Zwischenreich hinübergelangen konnte. Der Polizist hörte nicht. Vielleicht machte es die Anspannung. Oder der Schreck. Er leerte das Magazin. Der Anwalt zählte sieben Schüsse. Die Wand war danach ruiniert. Aber wenigstens war der Spiegel heil geblieben. Der Polizist schien aus einer Art Trancezustand zu erwachen. Er starrte auf seine Pistole, dann zu dem Dämon hin, und wischte sich über das Gesicht, als glaubte er nicht, was seine Augen sahen. Aufgeregte Stimmen wurden laut. Gordon Black wandte den Kopf. In der Tür, die der unheimliche Dämonendiener mit Flügelschlag und heftigen Angriffen verteidigt hatte, standen
jene Männer, die er vor wenigen Minuten in der Halle des Hauses aus einem Raum hatte drängen sehen. Sie waren ausnahmslos bleich wie frisch getünchte Wände. Hanako Kamara schob sich zwischen ihnen hindurch. In ihrem Windschatten tauchte der grauhaarige Gentleman auf, der der Hausherr sein mußte. Hanako hielt den Dogu noch in der Hand und die Schnur, an der er befestigt war, um das Gelenk geschlungen. Ihr Gesicht, das nur schwer Schlüsse auf ihre Gemütslage gestattete, verzog sich etwas. Ihr Kinn stieß nach vorn. Gordon Black begriff, daß sie ihn auf etwas aufmerksam machte. Er schaute auf den Dämon – oder die Stelle, wo dieser eben noch gestanden hatte. Jetzt war er verschwunden. Grauer Dunst kräuselte sich wie feiner Staub. Das war alles. Der Anwalt empfand es als ärgerlich, daß er nicht gesehen hatte, wohin der Dämon verschwunden war. Mächtige Höllenwesen konnten sich auflösen, sie konnten durch Wände gehen und praktisch überall erscheinen, aber das waren Dämonen der obersten Stufe, denen er mit dem Hexenmesser nicht beikam. Die hätten ihn verlacht, wenn sie sein Athame erblickt hätten. Dieser Dämon da hatte noch nicht die höchste Stufe erreicht. Sein Diener war vor dem geweihten Dogu ausgerissen, er selbst hatte sich vor dem Hexenmesser zurückgezogen, und der magische Kreis hatte ihm ein Opfer entrissen. Aber er hatte bereits Menschen getötet, und er hatte mit ihrem Blut Energie aufgenommen, die ihn befähigte, größeres Unheil anzurichten. Sofern ihm nicht zuvor das Handwerk gelegt wurde. Und jetzt war er entkommen. Ohne einen Hinweis zu hinterlassen, wohin er geflüchtet war. Gordon Black band das Hexenmesser an die rote Schnur, schob es unter sein Hemd und ordnete seine Garderobe. Es war kein gutes Renommee, sich in dieser lädierten Aufmachung
vorzustellen. Er fühlte sich wahrhaftig nicht besonders, aber er brachte es fertig, ein Lächeln zu zeigen, als er zu den Männern hinüberging. »Er ist entwischt«, sagte Hanako leise und mit großem Bedauern. »Lieber Himmel, was war denn das?« wunderte sich einer der Männer; er war wohlgenährt, hatte schwammige Wurstfinger und blickte milde wie eine kurzsichtige Ziege. Auf solche Äußerlichkeiten gab Gordon Black wenig. Leute, die so harmlos aussahen, waren meist hochkarätige Brocken, an denen man sich leicht die Zähne ausbiß. Außerdem hatte Red Cedar gesagt, es seien Gentlemen von der Staatsanwaltschaft. Und begriffen hatten die überhaupt nichts. Sonst hätte dieser Mensch nicht so dumm gefragt. »In Kreisen, die etwas mehr davon verstehen als Sie, meine Herren, nennt man das einen Dämon«, sagte Gordon Black und weidete sich an der Wirkung seiner Worte. Zwei Männer fuhren immerhin zusammen. Einer schaute ihn an, als hätte er ihn tödlich beleidigt. Der Mister mit den Wurstfingern und dem kurzsichtigen Blick bekam Farbe im Gesicht und Temperatur im Leib und tat das, was jeder Mensch tut, dem man erklärt, er habe eben einen leibhaftigen Dämon gesehen – er tippte sich an die Schläfe. *** Gordon Black erkannte dennoch die große Chance, für Mel Teeler die Kohlen aus dem Feuer zu holen. »Dieser Angriff auf einen Lieutenant wird sich kaum in der Anklageschrift gegen Mr. Mel Teeler aus New Haven unterbringen lassen«, sagte er mit unterkühlter Stimme. »Ich halte es überhaupt für fraglich, ob die Fortführung der
Ermittlungen gegen Mr. Teeler noch opportun ist.« »Wer sind Sie?« fragte der Mann, der so milde dreinblickte. Seine Stimme war scharf wie geschliffener Stahl. Er entsprach genau dem Bild, das sich Gordon Black von ihm gemacht hatte. »Rechtsanwalt Gordon Black aus New York, mit der Wahrnehmung der Interessen von Mister Teeler beauftragt.« Mit dieser Eröffnung löste er mehr Erstaunen aus als mit seiner Behauptung, die Männer hätten eben einen Dämon erlebt. »Dieser dubiose Anwalt, von dem behauptet wird, er jage Dämonen?« sagte der dicke Mensch verletzend. »Wenn Sie wünschen, setzen wir diese Unterhaltung vor einem ordentlichen Gericht des Staates New York fort«, bot Gordon Black an. »Es wird einiges Aufsehen verursachen, wenn öffentlich bekannt wird, wie Vertreter der Staatsanwaltschaft Qualifikationen verteilen, und welcher Methoden sie sich bedienen, um einem Mann Verbrechen anzuhängen, die er niemals begangen hat.« Das war schwerstes Geschütz, das er auffuhr. Aber diesem überheblichen Menschen, der zu sehr von sich eingenommen war, mußte er einen Dämpfer aufsetzen. Der Mann lachte spöttisch. Er nahm Gordon Blacks Worte nicht für voll. Die anderen taten’s; sie guckten gar nicht froh. Sie begriffen, daß der Anwalt einen ziemlich schweren Fall daraus machen konnte. »Gewiß wird auch die Aussage des wackeren Polizisten ihre Wirkung nicht verfehlen, wenn er dem Gericht schildert, wie er sieben Kugeln in ein Phantom hineinjagte und nur häßliche Löcher in der nächsten Wand erzeugte. Ganz besonders effektvoll stelle ich mir vor, wenn er dann Sie, meine Herren, als seine Zeugen benennt.« »Ach, halten Sie doch den Mund, Mister!« fauchte der
unsympathische Mensch. Sir Goffrey Addison stand ziemlich verloren dazwischen; er war der ganzen Sache nicht recht gewachsen. Er war eine zartbesaitete Seele und den schönen Dingen zugetan. Die Niederungen, in denen sich der Streit bewegte, waren ihm zuwider. Mit sichtlich diebischer Freude sagte aus dem Hintergrund der Butler: »Wenn ich die Gentlemen miteinander bekannt machen darf…« Gordon Blacks Kontrahent hieß demnach Dermott Tucker und war Stellvertreter des Ersten Staatsanwalts von New York. Kaum hatte Red Cedar die Vorstellung beendet, sagte der Rechtsanwalt an seinen Gegner gewandt: »Ein Name, den man sich wird einprägen müssen, Mr. Tucker! Mir wäre es lieber, wir kämen zu einem Abkommen.« »Nämlich?« »Begnügen Sie sich mit den Tatsachen, auch wenn sie schwer verständlich sind, und versuchen Sie nicht, einen Sündenbock aufzutreiben, den Sie als Mörder von Wooley präsentieren können.« Dermott Tucker lachte bellend, obgleich die Situation bitterernst war. »Soll ich etwa vor die Öffentlichkeit treten und erklären, ein Dämon war der Täter? Mister, ich verspüre nicht den Wunsch, die nächsten Jahre in einer geschlossenen Abteilung zu verbringen.« »Bauschen Sie den Fall nicht auf, lassen Sie ihn in der täglichen Routine mitlaufen, und es erhebt sich nicht einmal ein Sturm im Wasserglas.« »Unmöglich.« »Es ist Ihr Problem, nicht meines. Mir ist allerdings kein Fall aus der neueren juristischen Praxis bekannt, wo ein Dämon vor Gericht gestellt und ordnungsgemäß verurteilt wurde.« Das war zuviel für Dermott Tucker. Er nannte Gordon Black einen unseriösen Vertreter seines Standes und einen schäbigen
Winkeladvokaten und brüllte nach den Polizisten. Er hatte sich in die Idee verrannt, einen Täter aus Fleisch und Blut präsentieren zu müssen. Er ordnete an, daß die Hälfte der Beamten draußen um das Haus Posten bezog und jedes Fenster und jede Tür unter schärfster Bewachung hielt. Mit der anderen Hälfte machte er sich an die Untersuchung aller Räume des Hauses. Dazu mußten sogar die Suchhunde hereingebracht werden. Der Hausherr war entsetzt. Es half ihm allerdings nichts. Gordon Black sorgte dafür, daß der Lieutenant in ärztliche Betreuung kam. Mit Sicherheit hatte er einen schweren Schock erlitten; es kam darauf an, wie robust seine Psyche war und wie schnell oder langsam er das fürchterliche Erlebnis wegsteckte. Diesem Staatsanwalt Dermott Tucker schien es gerade gelegen zu kommen, daß der Lieutenant vorerst ausfiel. Gordon Black und Hanako machten auch noch einige andere Beobachtungen – es kam zu einem Disput zwischen den Abgesandten des Staatsanwaltes. Der Verlierer war Dermott Tucker; er schaute verkniffen und böse. Nach einer Stunde war die Durchsuchung beendet. Ein Ergebnis hatte sie nicht erbracht, nur die Erkenntnis, daß sich weder Mel Teeler hier aufhielt noch jemand, der nicht zum Haus gehört hätte. Und aus dem Haus entwischt war auch niemand. Die Polizisten draußen beschworen es. Am späten Nachmittag zog Dermott Tucker seine Truppe aus dem Haus und vom Anwesen ab, nachdem er dem Personal, dem Hausherrn, Gordon Black und Hanako Kamara Konsequenzen unangenehmster Art in Aussicht gestellt hatte für den Fall, sie würden nicht strenges Stillschweigen über die Vorgänge bewahren. Als die Truppe in den Fahrzeugen abrauschte, lächelte der Rechtsanwalt düster und sagte nur: »Na also!« »Was meinst du?« Hanako kämmte mit dem Finger ihre
schwarzen Stirnfransen. »Er kehrt den ganzen Fall unter den Tisch und hofft, daß er sich von selber erledigt.« »So sicher wäre ich nicht«, warnte sie. »Ich bin es schon«, meinte Gordon Black und zeigte ihr die Einschußlöcher in der Wand neben dem Spiegel. »Er hat nicht einmal die Projektile sichern lassen, sie stecken noch im Mauerwerk. Was bedeutet, daß dieser Somerset weder einen Bericht schreiben noch eine Aussage machen muß. Mel Teeler ist aus dem Schneider.« »Sofern sie ihm nicht wieder was anhängen.« »Anzuhängen versuchen«, stellte Gordon Black richtig. »Und für diesen Fall sind dann wir da. – Komm, machen wir dem Hausherrn unsere Aufwartung, mit weiteren Störungen ist kaum zu rechnen.« *** Sir Goffrey Addison entpuppte sich als großartiger, aber sehr sensibler und verletzlicher Mensch. Die beiden grauenvollen Morde in seinem Haus hatten ihm einen seelischen Tiefschlag versetzt. Nur widerwillig räumte er die mögliche Existenz eines Dämons ein. Daß sein Neffe Mel mit den entsetzlichen Vorfällen offensichtlich nichts zu schaffen hatte, war ihm ein Trost in dieser dunklen Stunde. Gordon Black brachte das Gespräch geschickt auf den Tod der Sue Vandenberg. Immerhin gestand Sir Goffrey, daß Mel ihn damals kurz nach dem schrecklichen Ende der jungen Frau schon auf das bösartige Treiben eines Dämons hingewiesen hatte. Er habe sehr erzürnt reagiert, alles als Unfug abgetan und erwogen, Mel das Haus zu verbieten. »Sie haben doch damals einen Nachlaß erworben«, erinnerte Gordon Black. »Durch freundliche Vermittlung von Peggy
Guggenheim. Venezianische Kunstgegenstände. Besitzen Sie hierzu noch die Aufstellung?« »Mit Sicherheit. Ich müßte sie Ihnen aber erst heraussuchen lassen. Ich muß leider zugeben«, er lächelte etwas schmerzlich, »daß ich den Überblick über meine Sammlungen verloren habe. Das Los vieler großer und leidenschaftlicher Sammler.« Bevor Sir Goffrey sich richtig in der Rolle des bedauernswerten Kunstfreundes gefiel, flocht Gordon Black rasch einen neuen Gesprächsfaden. Sir Goffrey war Brite, und er war als Kind mit seinem Vater aus Schottland gekommen. Nun sind sich auf heimatlichen Boden Schotten und Briten nicht grün, aber außerhalb besinnen sie sich darauf, daß sie letztendlich beide von der Insel kommen. Und hier war Amerika, und den Amerikanern ging doch viel von der feinen Art ab. Sir Goffrey ließ den Kamin anstecken und Tee servieren – original Orange Pekoe. Plötzlich füllte heimelige englische Atmosphäre den Raum und ließ vergessen, daß das Haus nur zwei Fahrstunden von New York entfernt stand. Nachdem der Boden solchermaßen gut vorbereitet war, lenkte Gordon Black die Unterhaltung auf das verpatzte Fest zurück. Sir Goffreys Blick wurde finster; er wollte nicht erinnert werden. Der Anwalt konnte es ihm nicht ersparen. In Gordon Blacks Überlegungen spielte das Spinett eine wichtige Rolle. Was, wenn sich jeder in die Gefahr begab, von dem Dämon angefallen zu werden, sobald er nur ein paar Töne auf dem Instrument anschlug? Da er schon einmal hier war, wollte er die Probe aufs Exempel machen. »Sir Goffrey, haben Sie unter Ihren Schätzen ein Kruzifix? Ein silbernes, nach Möglichkeit?« Der Hausherr besaß sogar deren mehrere. Gordon Black erbat sich eines und ging in Begleitung von Hanako und
geführt von dem Butler Red Cedar in den Raum, auf den sich das Treiben des Dämons bisher beschränkt hatte. Er hoffte, daß dieser Zustand erhalten blieb, bis er einen Weg ersonnen hatte, um dem Höllenwesen das Handwerk zu legen. Hanako hielt den Dogu bereit. Für alle Fälle. Red Cedar betrachtete interessiert die kaum fingerlange Figur, die eine mythische Gestalt in einem antiken japanischen Panzeranzug mit spitzem Helm und geschlossenem Augenvisier darstellte. Aber er stellte keine Fragen, und er versuchte auch nicht, die Figur zu berühren. Was ihm auch schlecht bekommen wäre. Hanako hatte schon bärenstarke Männer gesehen, die sich danach auf dem Boden gewunden hatten. Gordon Black faßte das schwere silberne Kruzifix mit der linken Hand, hielt es hoch in die Luft über das Spinett, und schlug ein paar Tasten an. Die dünnen Töne verzitterten. Zwar flackerte einmal die Beleuchtung, aber sie verlöschte nicht. Und der Dämon zeigte sich nicht. Gordon Black dachte scharf nach. Wie hatte Mel Teeler gesagt? Was hatte Sue Vandenberg gespielt? Ein Stück von Monteverdi? »Gibt es hier keine Noten?« fragte er den Butler. »Was hatte denn die verblichene Linda Turtle zu Gehör bringen wollen?« »Die Noten darf ich Ihnen nicht aushändigen«, sagte Red Cedar höflich, aber doch bestimmt. »Sie sind zu kostbar.« »Lauter Originale, ich weiß. Trotzdem können Sie mir sagen, was hätte gespielt werden sollen.« »Dasselbe, was auch Mister Wooley gespielt hat«, sagte Red Cedar. »Aber ich weiß den Namen nicht.« Es war fast eine Wohltat, an diesem perfekten Butler eine doch nicht so perfekte Stelle zu entdecken. »Gehen wir«, schlug Gordon Black vor. Er sicherte mit dem silbernen Kruzifix den Rückzug.
Sir Goffrey saß vor dem Kamin und rauchte eine Davidoff zum Schätzpreis von zwanzig Dollar. Der Mann hatte es ja. Hanako und der Anwalt nahmen wieder in den gemütlichen Ohrensesseln Platz, und Red Cedar servierte einen handfesten Whiskey. Tullamore Dew, beste irische Ware. »Sie haben die Noten wieder weggeschlossen, nach denen Miss Turtle ihr Konzert geben wollte?« fragte Gordon Black arglos. Sir Goffrey setzte sich ganz steif hin. »Ich stelle fest, ich werde vergeßlich«, meinte er dann. »Das Polizeilabor hat mir ja heute die beschlagnahmten Blätter zurückgereicht. Sie wurden für Blutanalysen benötigt.« Sein Gesicht nahm einen angewiderten Ausdruck an. »Red Cedar, sie liegen im Umschlag auf dem Schreibtisch in der Bibliothek. Holen Sie sie bitte.« »Sehr wohl, Sir!« Der Butler ging lautlos hinaus. »Die haben Ihnen die kostbaren Noten für Analysen abgenommen?« wunderte sich der Anwalt. Der Hausherr lächelte. »Nur einen Teil«, meinte er beschwichtigend. »Die Komposition besteht aus sieben Blättern. Die Polizei bat darum, drei untersuchen zu dürfen. Ich bin daran interessiert, daß diese grauenvollen Verbrechen aufgeklärt werden. Bis heute abend glaubte ich ja noch an herkömmliche Verbrechen.« »Und die anderen Blätter?« »Die habe ich weggeschlossen. Es sind keine guten Erinnerungen damit verbunden; wir sprachen vorhin davon. Miss Vandenberg. Übrigens seltsam!« Sein Blick wurde überaus nachdenklich. Gerade, als entsinne er sich eines Details, das ihm jetzt plötzlich ungeheuer bedeutungsvoll erschien. »Miss Turtle hatte ein ganz anderes Konzertprogramm vorgesehen. Auch ein anderes Instrument. Sie sah sich unmittelbar vor ihrem Konzert meine Sammlung an – ach, es hat sicher nichts zu bedeuten!«
»Es kann sehr wohl etwas bedeuten, Sir Goffrey! Bitte versuchen Sie, jedes Detail wiederzugeben.« Der Hausherr nahm einen winzigen Schluck Tullamore Dew und entlockte seiner Davidoff eine teuere Qualmwolke. »Zu meinem Erstaunen und nicht geringen Erschrecken entschied sich das arme Mädchen für das Spinett, das aus der Spinetus-Werkstatt stammt, wahrscheinlich vom Meister selber erbaut. Eine Rarität, deren Wert gar nicht zu schätzen ist. Sie wurde bockig und ungehalten.« Er seufzte. »Nun ja, ich wollte keinen Skandal provozieren und gab meine Einwilligung. Ihre Freunde waren zugegen, sie verstanden das Mädchen selber nicht. Plötzlich kam sie in den Saal und begann diese Komposition von Claudio Monteverdi zu spielen. Ohne daß sie zuvor geübt hätte. Spielte einfach von den Blättern!« »Gewiß sehr ungewöhnlich!« meinte Gordon Black etwas drängend. »Und was geschah dann?« »Das Entsetzliche.« Sir Goffrey schloß die Augen und strich sich mit der welken Hand über das Gesicht. Seine Finger zitterten. »Ich verstand nur nicht, wie sie sich der Originalnotenblätter bedienen konnte. Miss Vandenberg hatte seinerzeit, ebenfalls diese Komposition gespielt, und ich hatte irgendwie das Gefühl, daß von diesen Blättern Böses ausgeht. Ich kann es Ihnen nicht näher beschreiben. Zudem handelt es sich um eine Komposition, die gänzlich unbekannt war.« »Und somit auch sehr kostbar«, fügte Gordon Black hinzu. Der Hausherr bestätigte dies. »Fortan bewahrte ich die unersetzlichen Blätter in einem feuersicheren eisernen Behältnis auf, zusammen mit anderen Kostbarkeiten. Der Schlüssel dazu lag immer in meinem Schreibtisch. Ich verstehe heute noch nicht, wie Miss Turtle diesen Schlüssel und dann zielsicher die Originalnoten finden konnte.« »Aber ihr Wesen war verändert, sagen Sie?« »Ja. Als sie am Nachmittag mit ihrem Freundeskreis kam, war sie sanftmütig und ausgeglichen, freundlich und strahlend.
Und plötzlich verkehrte sich ihr Wesen in das genaue Gegenteil.« Der Anwalt wollte gerade die Frage stellen, ob vielleicht jemand vom Hauspersonal der jungen Künstlerin den Schlüssel ausgehändigt oder die Noten gegeben hatte, als der Butler mit bestürzter Miene zurückkehrte. »Sir, ich konnte zwar den Umschlag finden, aber nicht die Notenblätter!« meldete er. Mit einem Satz war Sir Goffrey auf den Füßen. »Das gibt es doch nicht. Ich habe doch selbst den Umschlag geöffnet.« Er hastete hinaus. »Merkst du was?« fragte Hanako leise. »Ich beginne zu ahnen«, gab Gordon Black leise zurück. »Der Dämon treibt sein Spiel. Diese Noten und die Musik, die danach zu spielen ist, haben eine sehr enge Beziehung zu ihm. Oder zu dem Menschen, dessen verdammte Seele er jetzt verkörpert.« Sir Goffrey kehrte aufgelöst zurück. »Unglaublich!« Er ächzte. »Ein unersetzlicher Verlust!« Das war Ansichtssache, fand Gordon Black. Solange der Mann seine Schätze und Kostbarkeiten hinter Schloß und Riegel aufbewahrte, konnten sie kaum einen Verlust darstellen, da sie ja nur ihm zugänglich waren. Die hübsche Asiatin hielt die Augen halb geschlossen. Sie dachte konzentriert nach. »Vielleicht haben Sie die zurückgegebenen Blätter zu den anderen gelegt und erinnern sich nur nicht, Sir Goffrey!« schlug sie eine Möglichkeit vor. Der Hausherr bestritt das, aber er wollte nichts versäumen und bat seine Besucher, mit ihm zu kommen. Der Butler durfte den Schlüssel für das eiserne Behältnis holen. Es war ein Schrank, wie er in jedem modernen Büro steht – die Fächer auf Rollen gelagert und mit eingehängten Registern. In der Nachbarschaft standen in Vitrinen und offenen Regalen antike Kostbarkeiten. Voraussichtlich bekam sie außer
Sir Goffrey und seinen Freunden nie jemand zu sehen. Der Sammler und Mäzen stierte fassungslos in den Stahlschrank. »Sie – sie sind weg – alle weg«, stotterte er. »Die Monteverdi-Blätter?« fragte der Anwalt scharf. Sir Goffrey nickte nur; sein graues Haar geriet in leichte Unordnung. Gordon Black und seine hübsche Mitarbeiterin tauschten Blicke. »Ich habe so eine Idee, als wüßte ich, wo sich die Blätter jetzt befinden«, sagte der Anwalt voller Ahnungen. Er ging voran. Der Butler war mitgekommen und schaltete die Beleuchtung in dem saalartigen Raum ein. Es hatte sich nichts verändert. Auf den ersten Blick jedenfalls. Aber dann entdeckten die vier Menschen die Notenblätter auf dem Spinett. Das oberste war durch rostbraune trockene Blutflecken verunziert. »Na also!« sagte Gordon Black schnaufend. »Vorhin lagen sie noch nicht hier!« Als eindeutige Antwort strich ein eisiger Hauch durch den Raum und ließ die Menschen frösteln. Sir Goffrey schüttelte sich und wollte die kostbaren Notenblätter ergreifen. Gordon Black fiel ihm blitzschnell in den Arm. »Um Gottes willen, lassen Sie sie liegen, Sir Goffrey! Nichts berühren! Lassen Sie diesen Raum verschließen!« Die bloße Erwähnung Gottes bewirkte ein gellendes Hohngelächter, das aus allen Ecken des Raumes kam. »Schnell hinaus!« zischte der Anwalt. Der Dämon war da und konnte jeden Augenblick wieder angreifen. Oder er schickte seinen geflügelten Diener. Der Butler faßte den entsetzten Hausherrn vorsorglich am Oberarm und geleitete ihn in Richtung Tür. Hanako hatte wieder die Schnur in der Hand, an der der geweihte Dogu hing. Sie wußte, daß die Figur nur einen dürftigen Schutz bot; der
Dämon gewann ständig an Macht. Aber selbst ein geringer Schutz war besser als gar keiner. Gordon Black warf noch einen Blick auf die Notenblätter. Das oberste schien auch das erste Blatt der Gesamtkomposition zu sein. Er sah eine unheimlich verschnörkelte Schrift und konnte nur mit Mühe einzelne Worte entziffern: Dedicato zum Beispiel; dann Conto Girolamo di Visconti; und rechts daneben a. d. 1633. Dieses a. d. stand für anno domini. Mehr einprägen konnte er sich nicht. Er hörte Hanakos Schrei, fuhr herum und sah das geflügelte unheimliche Wesen, das sich von der Raumdecke auf ihn niederstürzte. Mit einem gewaltigen Satz war er vom Podest herunter und flüchtete durch den Saal. Schon hörte er die sausenden Schwingenschläge dicht hinter sich. Mit einer letzten Anstrengung warf er sich aus der Tür. Geistesgegenwärtig warf der Butler den Türflügel zu. Das Wesen prallte mit aller Wucht von innen gegen die Tür, daß das Holz krachte und ein dumpfer Ton durch das Haus klang. Gottlob hielt die Tür. Drinnen gellte noch einmal das wüste Gelächter des Dämons, dann entfernte sich rauschender Flügelschlag. *** Sir Goffrey und sein Personal waren in Gefahr. Aber der eigenwillige alte Herr reagierte recht ungehalten auf den Vorschlag, vorübergehend sein Heim zu verlassen. Er dachte nur an seine angehäuften Kunstschätze. Die wollte er nicht im Stich lassen. Er blieb. Daraufhin entschloß sich auch das Personal zum Ausharren. Bis auf die Köchin. Die zog es vor, für die Nacht zu ihrer Schwester nach Queens zu fahren und am Morgen wiederzukommen.
Der Chauffeur erhielt den Auftrag, die ängstliche Frau nach Queens zu kutschieren und in der Frühe dort abzuholen. Gordon Black versperrte zusammen mit dem Butler die beiden Türen zu dem saalartigen Raum und stellte silberne Kruzifixe davor. Er hoffte, daß sie den Dämon und seinen Diener noch einige Zeit abweisen konnten, bis er eine Möglichkeit ersonnen hatte, diesen unerwünschten Besucher aus dem Schattenreich unschädlich zu machen oder auf immer aus der Welt der Lebenden zu verbannen. Red Cedar half ihm beim Stöbern in der Garage. Sie fanden einen Rest Farbe in einem Blecheimer, scheußlich gelb, aber auf Schönheit und Harmonie kam es nicht an. Mit Hilfe einer Aluminiumleiter und eines alten Pinsels brachte der Anwalt über jedem ebenerdigen Fenster und auf jedem Querbalken der drei Türen die Schutzformel S+ S + S an. Red Cedar leuchtete mit einer Handlampe und wunderte sich über nichts mehr. Aber wenigstens war Gordon Black überzeugt, daß der Dämon diese Schriftzeichen nicht mehr entfernen konnte, weil sie ihn behelligten. Ganz klar, daß er die Kreidezeichen weggewischt hatte, die Mel Teeler in aller Eile angebracht hatte. Der Dämon hatte es mit abgewandtem Gesicht machen müssen, und er hatte mit Sicherheit große Schmerzen dabei erlitten, aber nur er kam für das Entfernen in Frage. Das bewies wiederum, wieviel Macht, Kraft und Geschicklichkeit er schon erworben hatte. Wenn ihm niemand Einhalt gebot, ging diese Entwicklung weiter, und dann holte er sich seine Opfer wahllos. Dann war er bald nicht mehr an seinen Schlupfwinkel hier in diesem alten Haus gebunden, an das Spinett und die Monteverdi-Melodie. Gordon Black stutzte, als er den angelehnten Fensterflügel entdeckte. Ausgerechnet am mittleren der drei Fenster dieses so gefährlichen Saales. War das nur eine Unachtsamkeit des Personals, oder hatte
der Dämon das Haus verlassen? Er zog den Flügel zu, so gut er vermochte. »Red Cedar, können Sie das Fenster von innen schließen?« bat er den Butler, der ihm die Leiter hielt. Dieser rüttelte sehr unvorsichtig an der Aluminiumkonstruktion, die auf dem weichen Grasboden ohnehin nicht sehr sicher stand. Ärgerlich schaute Gordon Black hinunter – und ließ vor Schreck den Farbeimer samt Pinsel fallen. Red Cedar stand wie erstarrt wenigstens fünf Schritte von der Leiter entfernt; der Strahl seiner Handlampe war auf den Fenstersturz gerichtet, den der Anwalt und Dämonenjäger eben beschriftet hatte. Am Fuß der Leiter machte sich eine dunkle Gestalt zu schaffen und versuchte, sie umzustürzen. Zu spät! Bei der Höhe konnte sich Gordon Black den Hals brechen! Er spreizte die Füße gegen die Holme, lehnte sich mit der Schulter gegen den Fenstersturz und umklammerte die Leiter mit beiden Händen, um ihr Halt zu geben. Ein wilder Stoß traf die Leiter und ließ sie an der Hauswand entlang abgleiten. Auf der fünfobersten Sprosse stehend stürzte Gordon Black zu Boden. Er kam noch halbwegs günstig auf, es stauchte ihn nur schlimm zusammen. Trotzdem torkelte er keuchend auf die Gestalt zu und machte mit den Fingern das Kreuzzeichen. Die Augen der unheimlichen Gestalt begannen zu glühen, aus dem Mund fuhr ein Zischen. Blitzschnell schlug eine Klauenhand nach Gordon Black. Er zuckte nicht zurück. Das wäre sein Tod gewesen. Er hielt dem Unheimlichen die übereinandergelegten Zeigefinger vor und drang auf ihn ein. Mit einem wilden Schrei floh die Gestalt. Der Dämon lernte beständig hinzu, wie Gordon Black besorgt feststellte. Sein Machtzuwachs war beängstigend.
Besonders erschreckend war die Schnelligkeit, mit der sich das alles vollzog. Jetzt war er schon in der Lage, das Haus zu verlassen und sich draußen herumzutreiben. Er hatte noch einen geöffneten Fensterflügel benötigt, aber bald war auch der überflüssig. Der Butler stand noch immer wie zur Salzsäule erstarrt. Gordon Black berührte ihn vorsichtig. Und da bewegte sich Red Cedar gottlob wieder. »Verzeihen Sie, Sir, mir war plötzlich so kalt«, entschuldigte er sich. Seine Sprache war langsam, als seien Sprech- und Gesichtsmuskulatur noch nicht voll beweglich. »Oh, Sie haben die Leiter schon weggetragen?« Gordon Black schenkte sich alle Fragen. Red Cedar war von dem Dämon offensichtlich in eine Art Kältestarre versetzt worden, die sein Wahrnehmungsvermögen außer Funktion gesetzt hatte. Der Butler erinnerte sich weder an die unheimliche Gestalt, die an der Leiter gerüttelt hatte, noch an den Sturz des Anwalts. Gordon Black sagte nichts, um den Mann nicht nachträglich noch in tiefen Schrecken zu versetzen. Aber Red Cedar hätte ebensogut auch schon tot sein können. Er ließ sich von dem Butler zurück ins Haus leuchten. *** Hanako hatte natürlich mitbekommen, daß sich etwas Unvorhergesehenes ereignet hatte. Da Gordon Black nicht davon sprach, war sie klug genug, vor Sir Goffrey und Red Cedar nicht durch Fragen aufzufallen. Aber kaum waren sie auf dem Weg zum Wagen, wollte sie natürlich wissen, was sich abgespielt hatte. Ihr Chef erklärte es ihr mit wenigen Worten. »Jedenfalls ist er hier draußen, und ich fürchte, er läßt sich durch die aufgemalte Schutzformel wenig beeindrucken.«
»Du willst ihn zur Strecke bringen, nicht wahr?« »Er wird von Stunde zu Stunde gefährlicher. Wenn wir beide ihn nicht jagen, wer sonst? Du weißt, wie die landläufige Meinung über Dämonen und böse Geister lautet. Die Leute lachen und nehmen diese Gefahr nicht ernst. Dämonenjagd ist für sie ein Höchstmaß an Spinnerei.« Er schloß den Wagen auf. »Er wollte dich umbringen, als er die Leiter umstieß«, sagte Hanako besorgt. »Mit Sicherheit. Er weiß inzwischen, daß ich die größte Gefahr für ihn darstelle.« Er steckte den Schlüssel ins Zündschloß, ließ den Motor an und schaltete die Scheinwerfer ein. Mit einer Hand lenkte er den Wagen vom Parkplatz. Hanako kuschelte sich in den Beifahrersitz. Der sanft schnurrende Motor mit seinem Automatikgetriebe machte das einzige Geräusch. »Gordon, hast du eine Erklärung dafür, warum er Lieutenant Clancy nicht wie das Mädchen und den Mitarbeiter des Staatsanwalts umgebracht hat?« fragte Hanako plötzlich. »Oder den Butler?« Gordon Black klopfte eine Zigarette aus der Packung und drückte den Zigarettenanzünder ein. »Im Falle Turtle und auch im Falle Wooley waren ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllt«, sagte er. »Es hat mit dieser Musik zu tun, davon lasse ich mich nicht mehr abbringen. Zu viele Indizien sprechen dafür. Das Spinett ist ein wichtiges Requisit; diese Monteverdi-Komposition muß auf dem Instrument gespielt werden. Wenn diese beiden Voraussetzungen gegeben sind, erscheint unser schrecklicher Freund aus seinem Schattenreich und saugt in wenigen Augenblicken seine Opfer aus. Er ist kein Vampir, er würde sonst behutsamer und unauffälliger vorgehen. Bei ihm ist das genaue Gegenteil der Fall. Er erscheint spektakulär und handelt brutal. Auch diesem Spiegel
kommt eine Bedeutung zu. Er scheint das Tor zu sein, das dem Dämon das Überwechseln von einem Reich zum anderen ermöglicht. Lange allerdings nicht mehr, fürchte ich, dann hat er bessere Möglichkeiten entdeckt. Als der Dämon Lieutenant Clancy überraschte, waren die Vorausetzungen nicht erfüllt, die ich genannt habe. Der Dämon konnte ihm nicht das Blut aus dem Körper saugen. Also hat er den Fußboden einer reparablen Metamorphose unterzogen und Clancy langsam versinken lassen. Ich hoffe nur, daß die Ärzte den Ärmsten wieder hinbekommen. Und den Butler hat unser unheimlicher Freund mit einem Kälteschock angegriffen. Überspitzt formuliert eine mentale Vereisung, von der jeder rechtschaffene Naturwissenschaftler sagen muß, daß es sie nicht gibt und nicht geben darf.« »Weil nicht sein kann, was nicht sein darf – der alte Streit um die grundsätzliche Frage. – Hast du bereits eine Strategie im Auge, wie du ihn überlisten willst? Ich nehme an, in deine Überlegungen hast du bereits diese Notenblätter einbezogen, die der Dämon so bereitwillig ausgelegt hat.« »Ja, damit wieder jemand daherkommt und ein paar Takte auf dem wurmstichigen Kasten klimpert!« versetzte Gordon Black ungewohnt heftig. »Eine Strategie noch nicht, aber eine Idee. Auf der Komposition standen Namen. Vielleicht bringen mich die weiter.« »Wohin?« »Daß ich zumindest weiß, wessen verdammte Seele nicht in die Ewigkeit eingehen konnte, sondern dazu verurteilt ist, als Dämon umzugehen. Spinett, Spiegel, Noten – das ist eine untrennbare Einheit. Es muß irgendwann einmal etwas geschehen sein, bei dem diese Gegenstände eine wichtige Rolle gespielt haben.« »Wie könntest du nach so langer Zeit noch die Geschichte dieser Gegenstände erforschen?« fragte Hanako. »Das wird eine Lebensaufgabe.«
»Einen solchen Job überläßt man Leuten, deren Beruf es ist, über alte Dinge genau Bescheid zu wissen. Zum Beispiel H.P. Kraus.« »Der berühmte Antiquar?« »Der berühmteste von New York. Ein gebürtiger Österreicher. Ich habe ihm einige Male Gefallen erwiesen, jetzt gebe ich ihm Gelegenheit, sich zu revanchieren…« Was er noch sagen wollte, blieb in dieser Nacht ungesagt. Eine gigantische unbekannte Kraft packte den Wagen und drohte ihn vom Montauk Highway zu katapultieren und zwischen Sumpfzypressen am Straßenrand zu schleudern. Gordon Black lenkte blitzschnell gegen. Es gelang ihm, den Straßenkreuzer auf der Fahrbahn zu halten. Ein nervenzerfetzendes Kratzen wie von Metall auf dem Wagendach drang durch das Schrillen der Reifen und das Rumpeln des Wagens. Dann glitt draußen etwas ab, und neben Hanakos Kopf tauchte eine riesige Klaue auf, nur durch die Scheibe ausgesperrt. Die Asiatin schrie auf. »Den Dogu!« rief Gordon Black. »Unser Freund hat uns seinen schwingenschlagenden Diener auf den Hals gehetzt!« Sein Hexenmesser hätte bessere Dienste geleistet, aber an dieses kam er nicht heran. Er benötigte beide Hände fürs Lenkrad. Voraus sah er ein schnurgerade verlaufendes Straßenstück. »Festhalten!« warnte er und trat voll auf die Bremse. Das Wesen, das sich auf dem Wagendach niedergelassen hatte, rutschte nach vorne. Schwere Flügelschläge trafen das Auto und warfen es in der Federung hin und her. Aber der Wagen stand. Der Dämonenjäger nestelte das Hexenmesser von der roten Schnur und aus der Kleidung. Er warf sich halb auf Hanako, kurbelte das Seitenfenster spaltweit auf und stieß das Athame in die hornige Kralle.
Ein unvorstellbarer und unirdischer Schrei gellte durch die Nacht über Long Island. Die Kralle verschwand, rauschender Flügelschlag ertönte, und der Wagen kam aus der Federung hoch, nachdem das Gewicht von seinem Dach verschwunden war. Hanako zitterte wie Espenlaub im Herbststurm. Sie hatte das Dogu gegen die Scheibe gedrückt gehabt, aber es hatte schon nicht mehr gewirkt. Auch der Diener des Dämons gewann an Macht und Kraft. Erst das Hexenmesser hatte ihn in die Flucht geschlagen. Es dauerte einige Zeit, bis sich Hanako beruhigt hatte. Gordon Black spürte die Wärme ihres Körpers. Für so angenehme Dinge war jetzt jedoch nicht die Zeit. Da draußen war ein Dämon im Begriff, sich einen Herrschaftsbereich zu erobern. Er hatte schon bedenkenlos getötet und würde es wieder tun. Der Anwalt setzte den Wagen in Bewegung und fuhr nach New York hinein. Jetzt wußte er, was er zu tun hatte. Er setzte Hanako vor dem Haus ab, in dem sie ihre kleine Wohnung eingerichtet hatte, wartete, bis sie mit Lichtsignalen kundtat, daß bei ihr alles in Ordnung war, und fuhr dann weiter zu seinem Büro. Die Hauspolizisten wunderten sich nicht; im Gebäude ging es auch nachts recht lebhaft zu. Der Anwalt suchte aus einem kleinen, in rotes Leder gebundenen Notizbuch jene Privatnummer von H.P. Kraus heraus, die in keinem öffentlichen Teilnehmerverzeichnis zu finden war, und rief den Antiquar an. *** »Black?« Mr. Kraus befand sich noch mehr im schlafenden als im wachen Zustand. »Sind Sie des Teufels? Es ist zwei Uhr früh!« Um es akustisch zu untermauern, ließ er ein
herzerweichendes Gähnen hören. »Gerade die richtige Zeit, zu der sich drüben in Europa die letzten Spätaufsteher aus den Betten wälzen«, meinte Gordon Black unbeeindruckt. »Ich brauche Ihre Hilfe, und wie es aussieht, auch die Ihrer zahlreichen Freunde.« »Wollen Sie für einen prominenten Zeitgenossen eine Millionenbürgschaft zusammentrommeln?« erkundigte sich Kraus. Als er von Black keine Reaktion hörte, meinte er etwas verunsichert. »War wohl nicht gut, der Witz, was? – Also, jetzt bin ich schon mal wach, dann legen Sie auch ein Ei und gackern nicht bloß, Black. Wie sieht Ihr Problem aus?« »Sehr alt. Ich möchte, daß Sie für mich den Weg einiger Altertümer bis hinüber nach Europa verfolgen. Ihre Geschichte, außergewöhnliche Ereignisse, kurzum alles, was sich mit ihnen und um sie herum abgespielt hat.« »Wird ein kostspieliges Vergnügen für Sie«, deutete Kraus vorsichtig an. »Das erfordert langwierige Recherchen.« »So langwierig auch wieder nicht. Immerhin gibt es schon viele Jahrzehnte die segensreiche Einrichtung des Telefons. Schalten Sie Historiker ein, Sammler, Antiquare in Europa – mir ist es gleichgültig. Es muß nur schnell gehen, Kraus. Und das ist kein leeres Wort! Am liebsten wäre mir das Ergebnis vorgestern.« Aus der Leitung drang ein Brummen. »Dann ist es in der Tat brandeilig«, bestätigte Kraus. »Was sind das für Altertümer?« »Ich erzähle Ihnen die Story in Kurzfassung. Um die Jahrhundertwende kam eine Sammlung venezianischer Antiquitäten in die USA, und unter anderem gehörten dazu ein originales Spinett aus der Werkstatt Spinetus in Venedig, ein vermutlich venezianischer Spiegel, dessen Rahmen irgendwann verlorenging und der heute neu und sehr schlicht gefaßt ist, und eine Originalnotenschrift von einem gewissen Claudio Monteverdi aus dem Jahre sechzehnhundertdreiunddreißig.« »Vom Komponisten der Oper L’Orfeo!« Kraus pfiff
anerkennend. »Sie machen sich, Black. Ich hielt Sie bislang immer für einen dieser Banausen, die Kunst und Altertümer für sehr schön, aber wenig nützlich halten. – Also, mit dem Spinett läßt sich natürlich etwas anfangen, Originalstücke von Spinetus oder aus seiner Werkstatt sind mir weltweit drei bekannt. Mit Ihrem sind es vier…« »Schön wär’s, aber es gehört nicht mir«, warf Gordon Black ein. Kraus fuhr unbeirrt fort: »Die Angaben zu dem Spiegel sind zu dünn. Das bringt nichts, glaube ich. Die Handschrift Monteverdi ist die beste Sache.« »Dazu kann ich Ihnen einige Einzelheiten geben. Auf dem ersten Blatt der Komposition wird ein Name aufgeführt. Vielleicht der des Fürsten, dem diese Komposition zugedacht war.« »Wie kommen Sie auf Fürst?« »Weil das Wort Conte darauf steht«, erläuterte Black. Kraus schnaubte ungehalten. »Das heißt Graf, und irgendwelchen Adeligen waren Schriften und Kompositionen zumeist zugedacht.« »Gewidmet vielleicht«, fiel der Anwalt ein. »Da steht nämlich auch dedicato.« »Will auch nichts besagen. Selbst wenn ein Adeliger ein Musikstück gegen Bezahlung in festen Auftrag gab, schrieb der Komponist eine Art Widmung hinzu. Bedenken Sie, die Noten verblieben dann beim Auftraggeber, und Kopien waren damals unüblich.« »Danke für die Belehrung, Kraus. Kunsthistorischer Abriß im Schnellverfahren um zwei Uhr früh, das gibt es nur in New York.« »Ja«, versetzte Kraus bissig, »das macht euch Amis keiner nach. – Wie lautet der Name auf dem Blatt?« »Conte Girolamo di Visconti.« »Das hört sich alles vielversprechend an«, meinte Kraus
zuversichtlich. »Ich vermute schon jetzt als Bezugsort Venedig. Spinetus hat dort seine Instrumente gebaut, und das nach ihm benannte Spinett erfunden, Monteverdi hat in der Lagunenstadt gelebt und gewirkt.« »Das sollen Sie ja für mich herausfinden, Kraus.« »Aha. Und wer besitzt diese Schätze jetzt?« »Berufliches Interesse, wie?« sagte der Anwalt. »Ich denke nicht, daß die Stücke verkäuflich sind oder es je werden. Wie gesagt, sie kamen um die Jahrhundertwende nach hier. Zu Merritt, Chapman und Scott in Boston. Ein gewisser Stoker hat sie später verschleudert. Dann wurden sie von Peggy Guggenheim entdeckt und an einen ihrer Freunde vermittelt…« »Ein Sammler, was?« bellte Kraus. »Da bleiben nur wenige Möglichkeiten. Addison, wie? Der sammelt alles und läßt es von der Bildfläche verschwinden.« »Es ist Sir Goffrey Addison, Sie tippen richtig, Kraus. Um diese Gegenstände herum haben sich nach meinen Informationen bisher vier sehr geheimnisvolle Todesfälle ereignet – angefangen mit Stoker.« »Danke, ich blicke jetzt durch, Black, ich lese auch Zeitung. Zum Teufel, ich kenne Ihre Neigung und Ihren Ruf, sich mit okkulten Ereignissen zu beschäftigen. Ist da was im Busch?« »Ich fürchte, ja. Deshalb sollen Sie schließlich Ihre Beziehungen für mich spielen lassen. Ich bin Anwalt, ich kenne mich im Antiquitäten-, Literatur- und Kunstbetrieb nicht aus.« H.P. Kraus war danach ziemlich kurz angebunden. »Sie hören von mir, mein Lieber. Und ich wäre Ihnen herzlich verbunden, wenn Sie mich bei Addison einführen könnten. Der alte Knabe gibt sich ziemlich zugeknöpft. Ich genoß noch nicht den Vorzug, von ihm eingeladen zu werden.« Gordon Black lachte auf. »Als käme es Ihnen auf die Präsentation von Nachwuchstalenten an. Sie suchen doch nur eine Möglichkeit, ihm einige von seinen Schätzen abhandeln
zu können.« »Wenn Sie nicht eine so direkte Art hätten, könnte ich Sie fast gern haben, Black!« knurrte Kraus und legte auf. Der Anwalt machte sich eine Notiz. Bei Kraus waren die Nachforschungen am besten aufgehoben. Jetzt kam es darauf an, wie schnell und wie gut dessen Beziehungen spielten. *** Gordon Black schlief miserabel. In der Frühe kam er sich wie gerädert vor. Er telefonierte mit Hanako und bat sie, schon ins Büro zu gehen und für den Fall, daß ein Anruf von Kraus käme, ihn sofort zu verständigen. Er frühstückte und brachte sein Innenleben halbwegs ins Gleichgewicht. Danach begab er sich in jenes fensterlose Zimmer in seiner Wohnung, das er als Meditationsraum benützte. Mit untergeschlagenen Beinen setzte er sich mitten in den kabbalistischen Kreis, der mit Mosaiksteinen in den Boden eingelassen war, und schöpfte Kraft, indem er sein Bewußtsein versenkte. Gestärkt und erfrischt fuhr er später ins Büro und entnahm einem stabilen Wandtresor zwei silberne Anhänger, die die Göttin Aradia darstellten. Einen gab er Hanako. »Das trägst du ab sofort«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. »Es hat zehnmal mehr Kraft als der Dogu. Ich habe das Gefühl, wir werden diesen Schutz brauchen.« Den anderen Anhänger streifte er sich über den Kopf. Seine Hand verharrte handbreit über einem geflochtenen Peitschenstiel, der im untersten Fach des Wandtresors lag. Die fünf Schnüre der Peitsche waren säuberlich aufgerollt, nach einem ganz bestimmten Muster. Gordon Black schüttelte den Kopf. Nein, vorerst bestand
keine Notwendigkeit, diese fürchterliche Waffe einzusetzen. Er hatte die Dämonenpeitsche von seinem Vater bekommen. Jede Schnur war aus einem anderen Material und hatte eine andere Bedeutung und Wirkung. Der Legende nach war eine Schnur aus der Haut der Paradiesschlange geschnitten, eine war die Beinsehne des gefallenen Erzengels Leviathan, die dritte stammte aus dem Knäuel, das einmal der berühmte Gordische Knoten war, die vierte kam aus dem Seil, mit dem der Verräter Judas sich erhängt hatte, und die letzte war die Seidenkordel, mit der die Henker der osmanischen Herrscher ihre Opfer erdrosselten. Die Energie aller Untaten, die mit den einzelnen Teilen je begangen wurden, die Flüche und Verwünschungen, die ihnen anhafteten, machten sie in ihrem Zusammenwirken zu einer fürchterlichen Waffe. Eine Waffe, aus dem Bösen entstanden und für den Kampf gegen das Böse gedacht. Hastig schlug Gordon Black die Tresortür zu. Der Vormittag verging mit den üblichen Arbeiten einer Anwaltskanzlei. Zum Mittagessen war Gordon Black mit einem Klienten verabredet. Als er zurückkam, schaute er auf den Notizblock, auf dem Hanako wichtige Anrufe festzuhalten pflegte. Nichts. »Ruf bei Kraus an«, sagte er und gab ihr die Nummer. Sie versuchte ihr Glück. »Er hebt nicht ab, Gordon.« Fünf Minuten später schrillte das Telefon. Es war aber nicht der dringend erwartete Anruf von Kraus. Der Butler von Sir Goffrey war am anderen Ende: »Sir, es ist etwas geschehen. Sie sollten vielleicht herauskommen.« Seine Stimme klang angegriffen. »Ja, bitte? Sprechen Sie weiter!« »Der Chauffeur und die Köchin – den leeren Wagen hat man bereits heute früh gefunden. Nun hat die Polizei die beiden entdeckt, an der Straße nach East Hampton…«
Bei Gordon Black klingelte es Alarm. Vor East Hampton waren er und Hanako in der Nacht von dem geflügelten Diener des Dämons angegriffen worden. »… und jetzt ist auch Mr. Teeler verunglückt. Wir haben einen Arzt herrufen müssen, Sir.« »Herrufen? Ja, ist er denn in Montauk Point?« fragte der Anwalt erstaunt. »Sir, es ist meine Schuld«, bekannte Red Cedar. »Nachdem gestern die Gentlemen von der Staatsanwaltschaft ja mit eigenen Augen gesehen hatten, daß jemand anders die Untaten begangen hat, habe ich mir erlaubt, ihn in Kenntnis zu setzen. Er kam heute früh her.« »Und was ist passiert?« »Die Türen, die wir gestern verbarrikadierten, wurden zerschlagen. Mr. Teeler eilte hin, vom Lärm aufgeschreckt. Er wehrte sich mit einem Kruzifix und einer Silberfigur, wurde aber zweimal gebissen. Tiefe, schreckliche Wunden, Sir.« »Ich komme sofort!« Gordon Black legte auf. Hanakos Mandelaugen schauten ihn an; sie hatte am zweiten Apparat mitgehört. »Der Dämon schlägt in immer kürzeren Abständen zu«, sagte sie. »Und bereits außerhalb des Hauses.« »Ich muß es doch tun.« Gordon Black holte die Dämonenpeitsche aus dem Tresor und steckte sie unter dem Jackett in den Hosenbund. Hanako griff nach einer seidenweichen Sommerjacke und warf sie sich um die Schultern. »Ich komme mit, Gordon!« Als sie die Bürotür öffneten, stand H.P. Kraus draußen, den Arm ausgestreckt, im Begriff, anzuklopfen. »Hellseherei, ja?« wunderte er sich etwas. »Miss Kamara – hallo, Black! Sie sind im Aufbruch? Tja, dann komme ich wohl ungelegen.« Kraus war noch nie in der Kanzlei gewesen. Wenn er sich selber herbemühte und sogar auf das Telefon verzichtete,
mußte das schon schwerwiegende Gründe haben. »Treten Sie ein, Kraus! Wir sind zwar in Eile, aber Sie bringen ungewöhnliche Nachrichten, und die erscheinen mir wichtig.« Gordon Black bot dem Besucher einen Platz an. »Ich will Sie und mich nicht lange aufhalten«, sagte Kraus. »Sie haben wirklich eine Begabung dafür, die Finger in höchst seltsame Geschichten zu stecken, Black. Das macht Ihnen keiner nach.« Der Antiquar warf einen Blick auf die Asiatin. »Sie können offen sprechen, Kraus, bei uns gibt es in diesem Sinne keine Geheimnisse.« Kraus räusperte sich. »Mir soll es recht sein. Mit diesem Grafen Girolamo di Visconti ist einer der entsetzlichsten und geheimnisvollsten Kriminalfälle der Republik Venedig verknüpft. Für meine Freunde war es relativ einfach, den Dingen nachzuspüren. Die Protokolle aus der Zeit sind weitgehendst öffentlich zugänglich. Dieser Girolamo war ein Leuteschinder, ein Ungeheuer. Hat in seinem Palazzo in Venedig über Jahre hinweg sein Unwesen getrieben. Er – er hat Leute bei lebendigem Leib pfählen lassen, hat ihr Blut getrunken, hat sie in einem Spiegel ihre Qualen sehen lassen, und dazu wurde eine Musik gespielt, die er sich von Monteverdi hatte komponieren lassen. – Hm, der gute Monteverdi dürfte natürlich keine Ahnung gehabt haben, wofür diese Musik gedacht war.« Hanako und Gordon Black lauschten atemlos. Der Anwalt räusperte sich. »Die Musik und der Spiegel – erinnern Sie sich, Kraus, was ich Ihnen diese Nacht sagte? Und mit Sicherheit hat dieses Spinett im Palazzo gestanden und wurde gespielt.« »Denkbar ist es schon.« Kraus wollte keine verbindliche Erklärung dazu abgeben und zog sich diplomatisch aus der Affäre. »Zirka fünfzig Menschen sind diesem Wahnsinnigen damals zum Opfer gefallen. Man überführte ihn, er bekam seinen Prozeß und wurde zum Tode verurteilt. Und ich glaube,
dieser Punkt interessiert Sie am meisten. Er sollte nämlich auf dieselbe Art hingerichtet werden, die er für seine Opfer ersonnen hatte. Natürlich ohne Musik. Aber auf einen Pfahl gespießt und angesichts seines Spiegelbildes. Den Spiegel aus seinem Palast hatte man eigens herbeigeholt. Und jetzt, Black, passen Sie gut auf: Das Protokoll sagt, daß der Delinquent vor den Augen seiner Richter und Peiniger und kirchlichen Zeugen spurlos verschwunden ist. Vom Pfahl herunter, auf dem er schon einen halben Tag gesteckt hatte. Unglaublich!« »Hm!« machte der Anwalt. Es war offensichtlich: Der Vorgang war der Schlüssel zu den Ereignissen auf Long Island. »Falls es für Sie auch von Bedeutung ist – die Sache hatte ein Nachspiel. Der Inquisitor bezichtigte alle Augenzeugen der Gotteslästerung, der verbotenen Hexerei und des Paktierens mit dem Teufel. Durch ihr Zutun sei Girolamo entsprungen. Drei der Beteiligten endeten auf dem Scheiterhaufen, zwei kamen auf die Galeeren, nur einer wurde bedingt freigesprochen und für den Rest seines Lebens in ein Kloster gesteckt.« Gordon Black schüttelte sich. »Und da reden die Leute von der guten alten Zeit. – Kraus, ich danke Ihnen! Fassen Sie es bitte nicht als Unhöflichkeit auf, aber wir sind wirklich in größter Eile.« »Ich gehe ja schon«, maulte Kraus. »He, können Sie mit den Auskünften überhaupt etwas anfangen?« »Mehr, als Sie sich vielleicht vorzustellen vermögen. Sie sind mir eine unschätzbare Hilfe.« *** Hinter East Hampton sahen sie am Straßenrand Polizeiwagen stehen. Uniformierte Beamte durchstreiften rechts und links das Gelände. Hier also hatte der Dämon den Chauffeur und die Köchin umgebracht. Vielleicht hatte sein geflügelter Diener den
Wagen attackiert und die beiden Menschen derart geängstigt, daß sie ausstiegen – und genau in ihr Verderben liefen. Hanako schaute immer wieder hinaus. Gerade, als rechnete sie mit dem plötzlichen Auftauchen des Wesens, das sie gestern angegriffen hatte. Es war früher Nachmittag und sonnenklar, aber die Tageszeit schien keinen Einfluß mehr auf den Dämon zu haben. Auf dem Parkplatz vor Sir Goffreys Haus standen zwei fremde Wagen. Der eine gehörte dem Arzt; der Mann kam ihnen auf dem Weg zum Haus entgegen. Mit dem anderen war wahrscheinlich Mel Teeler gekommen. Red Cedar schien hinter der Tür gewartet zu haben; er öffnete, noch bevor Gordon Black die Klingel betätigt hatte. »Gut, daß Sie kommen, Sir!« sagte der Butler sehr unförmlich. »Es geht gerade wieder los.« Er machte eine Handbewegung hinter sich. Aus dem Haus waren dumpfe Schläge zu hören, dazu ein Kreischen, als wären tausend Katzen auf einmal losgelassen. »Es hat gerade begonnen?« vergewisserte sich Gordon Black. »Kaum daß der Doktor das Haus verlassen hatte«, bestätigte der Butler. »Gut«, sagte der Anwalt, »warten Sie hier.« Er zog Hanako mit sich fort und ging außen um das Haus herum. »Er hat gespürt, daß du gekommen bist, um ihn zu vernichten, nicht wahr?« vergewisserte sich die Asiatin. »So ist es. Und er spürt die Macht der Dämonenpeitsche. Vielleicht versucht er zu fliehen. Mit der Peitsche vertreibe ich ihn nur, wenn ich ihn nicht mit dem ersten Schlag treffe. Ich habe mir etwas anderes überlegt.« Er betrat mit Hanako die Garage. Dieser war ein Werkstattraum angegliedert. Gordon Black suchte sich dort eine Axt aus und fällte im
Park einen jungen Baum von Oberarmstärke. Er kappte den Stamm, bis er ein ungefähr eineinhalb Meter langes astloses Stück erhielt. Mit dem Hexenmesser schälte er die Rinde ab, und auf dem Feuerplatz, wo die Hausangestellten den Papiermüll zu verbrennen pflegten, zündete er ein Feuer an und härtete die Spitze des Pfahles. Diese Vorbereitungen dauerten nicht einmal eine halbe Stunde. Aber während dieser ganzen Zeit drang ein unbeschreiblicher Lärm aus dem Haus. Als er den Pfahl schulterte und mit Hanako zum Haupteingang zurückkehrte, sah er, daß das Hauspersonal in den Park geflüchtet war und unter den Bäumen erst einmal die Entwicklung abwartete. In der Halle kamen dem Anwalt und seiner Mitarbeiterin Sir Goffrey und der Butler entgegen – und Mel Teeler, den sie zwischen sich genommen hatten. Teeler grinste unter seinem Kopfverband. »Der Krach treibt sogar einen Toten wie mich hoch«, versuchte er zu scherzen. Seine Blicke hefteten sich auf den geschälten Pfahl. Er verstand. Oder er ahnte etwas. »Viel Glück, Mister Black!« »Warten Sie draußen!« empfahl der Anwalt dem Hausherrn und seinem Butler. »Und beten Sie, daß es mir gelingt, den Dämon zu überwältigen.« Ein höhnisches Gelächter dröhnte sofort aus den Tiefen des Hauses. Red Cedar zog Mel Teeler und Sir Goffrey energisch aus der Halle zum Haupteingang. Hanako atmete hörbar ein. »Wohl ist mir nicht!« sagte sie. »Mir auch nicht, aber das hilft jetzt nichts. Du bleibst hinter mir, egal, was geschieht. Ich schätze, der Angriff erfolgt von zwei Seiten.« Hanako holte die Silberfigur hervor und hielt sie in der Hand. Gordon Black schulterte den Pfahl jetzt links, damit er die
rechte Hand für das Hexenmesser oder die Dämonenpeitsche frei hatte. Vorsichtig näherten sie sich dem saalartigen Raum. Der Butler hatte noch untertrieben. Von den Türen war kaum noch etwas übrig, das größer als eine Handfläche war. In unbändiger Wut hatte der Dämon die Blätter zertrümmert. Die silbernen Kruzifixe waren umgestoßen. Offensichtlich hatte der Dämon den Versuch gemacht, sie verkehrt herum hinzustellen und ihnen eine satanische Symbolik zu geben. Die Schutzformeln rings am Haus hatten also nicht ausgereicht, den Dämon im Gebäude festzuhalten. Aus dem Raum drang das irrsinnige Hohngelächter, das das Haus erfüllte bis unter das Dach. Jemand klopfte herausfordernd auf Holz. Gordon Black riskierte einen Blick in den Saal. Der Dämon stand auf dem Podest neben dem Spinett und pochte mit den Fingerknöcheln auf das alte Holz. Mit der anderen Hand winkte er einladend. Das graue Gesicht war verzerrt, aus dem aufgerissenen Mund drang dieses nervenzerfetzende Lachen, das einen Menschen wahnsinnig machen konnte, wenn er es lang genug hörte. Den rauschenden Flügelschlag hörte der Dämonenjäger fast zu spät. Auch Hanako war zu sehr abgelenkt. Der Diener des Dämons stürzte sich von hinten auf die zwei Menschen. Hanako stieß einen Schrei aus und duckte sich. Ganz knapp entging sie einer hornigen Klaue, die nach ihrem Kopf griff. Sofort schnellte sie hoch und stieß mit der silbernen Göttin nach dem Untier. Ein scharfes Fauchen kam aus der Höhe, ein wilder Flügelschlag warf die zierliche Frau fast um. Dem Wesen schien eine Berührung mit der silbernen Göttin höchst unangenehm zu sein. Es setzte zwar wieder zu einem Angriff aus der Höhe an, aber es drehte ab – und schlug mit
den Klauen nach Gordon Black. Der spürte den sausenden Luftzug im Nacken und wirbelte herum. Nur armlang von seinem Gesicht entfernt krümmte sich eine Hornklaue. Er ahnte die Absicht des Wesens. Es wollte sich auf ihm niederlassen, wollte ihn und vor allem den Pfahl und die Dämonenpeitsche unter sich begraben und festhalten, bis der Dämon selber eingeschritten war. Blitzschnell riß Black die Dämonenpeitsche aus dem Gürtel, schüttelte die Schnüre aus und führte einen Schlag nach oben. Nur einen. Das geflügelte Untier stieß Töne aus, wie er sie nie gehört hatte – ein Brüllen, Keifen, Jammern, Klagen, Wut und Schmerz – all dies drückten die Schreie aus. Dann begann die Gestalt zu zerfließen. Sie löste sich auf, wurde immer mehr transparent, bis nur noch ein leichtes Gespinst in der Luft schwebte. Sekunden später war auch das verschwunden. Ein wütendes Heulen aus dem Saal begleitete die Vernichtung des Untieres. Der Dämon hatte machtlos dem Ende seines Dieners zuschauen müssen. Gordon Black trat in die Türöffnung. Der Dämon hatte drohend die Faust erhoben. Er machte damit ein Zeichen in die Luft – das Zeichen der Rache und des Wiederkommens und der Unversöhnlichkeit. Dann trat er zurück – und verschwand in den Spiegel hinein. »Jetzt hast du‘s mit eigenen Augen gesehen!« rief der Anwalt seiner Mitarbeiterin zu. »Der Spiegel, den er seinen Opfern vorhalten ließ, während sie sich auf den Pfählen gewunden haben! Es ist Graf Girolamo – es ist sein Dämon!« In der einen Hand die Dämonenpeitsche und das Hexenmesser, unter dem linken Arm den Pfahl, dessen Gewicht sich bemerkbar zu machen begann, eilte er in den Saal. Die Notenblätter lagen auf dem Spinett.
Er zögerte keinen Augenblick, steckte Peitsche und Messer ein und lehnte den Pfahl an das Musikinstrument. Wenn der Dämon aus seinem Schattenreich in eine andere jenseitige Ebene wechselte und von dort wiederkehrte, blieb er eine ständige tödliche Bedrohung. Der Anwalt war nicht einmal ein versierter Hausmusiker, aber die sehr umfassende schulische Ausbildung trug noch späte Früchte, denn immerhin war er in der Lage, Noten richtig zu lesen. Die drei Oktaven allerdings stellten ihn vor ein Problem. Aber beherzt begann er, die richtigen Tasten zu den richtigen Noten zu suchen. Es klappte, und es hörte sich nicht einmal schlecht an. Diese Melodie übte einen Zwang auf den Dämon aus. Sie hatte er leidenschaftlich gehört, als er zu Lebzeiten seine Opfer auf den Pfählen sich zu Tode zappeln sah, sie hatte ihn auch im Falle Stoker, bei Sue Vandenberg, bei Linda Turtle und Wooley aus seinem Schattenreich gelockt. Gordon Black spielte im Zweifingersystem weiter. Ein Musikkritiker hätte ihn in der Luft zerrissen, und Sir Goffrey hätte Zustände wegen des unsachgemäßen Umgangs mit dem kostbaren Instrument bekommen. Für den Dämonenjäger war die Hauptsache, daß er Wirkung erzielte. Und die trat auch ein – als er schon fast nicht mehr mit einem Erfolg rechnete. Er sah Hanako in der Türöffnung stehen und plötzlich geweitete Augen bekommen. Und dann spürte er auch den eisigen Hauch, der seinen Nacken und seine Schläfen streifte. Ein leichtes Rascheln war hinter ihm. Muffiger Geruch, wie er jahrhundertealten Kleidern entströmt, reizte seine Nase. Der Dämon war da! Er hatte sich aus dem Schattenreich herüberlocken lassen, trotz der Gefahr, die er spüren mußte. Diese Musik übte noch einen ungeheueren Zwang auf ihn aus.
Und verbunden damit war die Empfindung, daß Blut floß, sobald diese Melodie ertönte. Eine schwere kalte Hand legte sich von hinten auf Gordon Blacks linke Schulter. Er spielte weiter. Dann kam die andere Hand und legte sich auf die rechte Schulter. Kälte durchströmte den Anwalt, der Wunsch, sich nicht zu wehren, alles über sich ergehen zu lassen. »Gordon!« Hanakos Schrei schnitt in die Stille. Gordon Black begriff, daß er zu spielen aufgehört hatte, und daß der Dämon gierig neben seinem rechten Ohr atmete. Gleich beißt er zu! schoß es dem Anwalt durch den benommenen Kopf. Er konzentrierte seine Gedanken – und sprengte den Bann. Zugleich winkelte er beide Arme an und stieß die Ellbogen nach hinten. Für den Dämon erfolgte der körperliche Angriff überraschend. Seine Reaktion war jedoch viel schneller. Er krallte die eiskalten Finger in den Stoff der Kleidung und riß den Anwalt rücklings vom Hocker. Mit einem heiseren Knurren stürzte er sich auf ihn, den Mund aufgerissen und die Zähne entblößt. Die Kraft, die er besaß, war mörderisch. Gordon Black konnte nur mit Mühe den Ansturm parieren. Wenn er nur einen Schlag des Dämons hinnehmen mußte, war er bewußtlos, das begriff er. Und ein willenloses Opfer. Er rollte sich blitzschnell unter dem niederstürzenden Körper des Dämons weg und konnte gerade noch das Ende des Pfahles fassen. Der Dämon erkannte die Gefahr, die ihm drohte. Er versuchte, dem Anwalt den Pfahl zu entwinden, und als das nichts half, trat er ihm auf beide Hände. Gordon Black brüllte auf vor Schmerzen, aber er ließ nicht los. Der Dämon schnellte hoch, stieß einen zornigen, ungebärdigen Schrei aus, packte den Anwalt an der Achsel und
riß ihn mit einem wilden Ruck zurück – genau auf den grauenvollen Spiegel zu. Er nimmt mich mit! Er reißt mich mit hinüber in sein Schattenreich! Das war alles, was Gordon Black in diesem entsetzlichen Augenblick dachte. Mit dem Mut der Verzweiflung warf er sich zur Seite und spürte den Pfahl unter seinen Händen. Doch er erkannte, daß er nicht mehr vom Boden hochkam. Der Dämon hielt ihn in Rückenlage. Mit aller Kraft riß er den Pfahl hoch, schwang ihn mit der feuergehärteten Spitze voran über sein Gesicht hinweg und stieß ihn dem Dämon mit voller Wucht tief ins Herz. Ein heulender Schrei wie aus den Kehlen von Hunderten gepeinigter Menschen entrang sich dem Mund des Dämons. Seine Augen wurden groß und weit und starr. Dann zerfielen sein Gesicht, sein Kopf, sein Körper. Alles spielte sich direkt über Gordon Black ab, der keuchend auf dem Rücken lag und den Schaft des Pfahles hielt. Das Gewicht wurde leichter; nun begann sich auch der Pfahl aufzulösen. Einen Gegenstand nahm der Dämon mit in den Abgrund des ewigen Vergessens. Der Anwalt war froh, daß es nur ein Stück Holz war und nicht er. Ein wirbelndes Nebelgebilde stand für ein Augenzwinkern dort, wo der Dämon den tödlichen Pfahl ins Herz empfangen hatte. Und ein Geräusch drang noch durch den Saal, das wie ein Echo klang und sich rasend schnell in unendliche Fernen verflüchtigte – ein Geräusch wie ein Seufzen. *** Ein hübsches asiatisches Gesicht beugte sich über ihn. Hanakos Augen drückten die entsetzliche Angst aus, die sie durchgestanden hatte.
»Ich dachte, er nimmt dich mit. Er… er wollte dich in den Spiegel zerren«, sagte sie und half ihm auf die Füße. »Zum Glück habe ich seine Absicht bemerkt.« Gordon Black atmete tief ein. Er ergriff die alten Notenblätter. »Der alte Monteverdi hätte sich auch nie träumen lassen, was mit seiner Komposition angerichtet wird. – Komm, sagen wir Sir Goffrey, daß es vorbei ist. Keiner wird froher darüber sein.« »Doch«, widersprach Hanako »Doch, ich bin auch sehr froh, Gordon.« ENDE