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Seewölfe 255 1
Fred McMason 1.
Mit den trockenen sommerlichen Winden des östlichen Mittelmeeres, den Etesien, war es nun endgültig vorbei. Man schrieb den 26. November 1591. Der Himmel war von schnell dahinjagenden dunklen Wolken bedeckt. Die See ging hoch und war mitunter so kabbelig, daß die Feluke hart erschüttert wurde. Feluke war nicht der richtige Ausdruck. Das Schiff war eher eine Kreuzung aus einer Feluke und einer Schebecke. Das ließ sich auf den ersten Blick nicht so genau einordnen. Es fuhr drei lateingetakelte Masten, und war ein schnelles, wendiges und flachgehendes Schiff. Über das Heck hinaus ragte ein Grätingdeck als Fortsetzung des Quarterdecks, und vorn trug sie eine der Ramme vergleichbare Galion. Ihr Baumeister war ein Genie, denn in dem Schiff gab es geheime Türen, geheime Räume und einige merkwürdige Schotten, die ebenso merkwürdige Funktionen erfüllten. Ein größerer Laderaum befand sich vor dem Mast, und aus diesem Raum, über dem eine Gräting lag, drang Geschrei, das bis aufs Achterdeck zu hören war. Der Kapitän, ein sarazenisches Schlitzohr, der das Mittelmeer von den Säulen des Herkules bis zum Libanon kannte, verzog unwillig das Gesicht. Sein Temperament ging wieder einmal mit ihm durch. „Sieh nach den verdammten Christenhunden, Muhmad!“ befahl er. „Sie werden unruhig. Sag ihnen, wir werden bald Land erreichen.“ „Sie haben Angst vor der See, Sidi Reis.“ Reis wurde der arabische Kapitän genannt, und Sidi war die Anrede die „Herr“ bedeutete. „Sie haben Angst, weil sie nicht an Allah glauben“, sagte der Kapitän verächtlich. „Sag ihnen, von nun an stehen sie unter Allahs Schutz, und nichts wird ihnen passieren.“ „Ja, Herr.“
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Der Gaffir erfüllte die Funktion eines Aufsehers, und so ging er nach vorn, um die aufgebrachten Menschen zu beruhigen. In dem Raum befanden sich, dicht zusammengepfercht, sechsundvierzig Europäer, vorwiegend Spanier, darunter auch ein paar Frauen, die der Sarazene beim Überfall auf eine Galeone in seine Gewalt gebracht hatte. Diese Leute sollten nach Kreta gebracht, dort in eine Höhle verfrachtet und später als weiße Sklaven auf den arabischen Märkten verkauft werden. Der Sarazene und seine Besatzung lebten davon, daß sie weiße Sklaven an den geheimnisvollen Araber Ali Abdel Rasul verkauften. Dafür erhielten sie zehn Prozent vom Preis der erzielten „Ware“: „Euch wird nichts passieren!“ schrie der Gaffir durch die Gräting nach unten. „Wir sind auch bald da. Benehmt euch vernünftig, ihr kriegt zu essen und zu trinken. Ihr braucht wirklich vor dem bißchen Wind keine Angst zu haben.“ Von unten tönte Gebrüll herauf. Die gefangenen Spanier beleidigten den Gaffir, nannten ihn einen arabischen Hund und fluchten ihm die Knochen ab. Ein Großteil der Gefangenen hatte noch keine Erfahrung auf dem Wasser sammeln können. sie waren meist Kaufleute, Weinhändler und Reisende, die lediglich zu Gast in ein anderes Land wollten, dann aber von dem Sarazenen aufgebracht worden waren. Jetzt gingen sie einem höchst ungewissen Schicksal entgegen. Die Männer wurden als weiße Sklaven verkauft, die wenigen Frauen landeten später meist als Odalisken in irgendeinem Harem. Der Gaffir hörte sich die Flüche und Beleidigungen mit unbewegtem Gesicht an, doch als das Geschrei kein Ende nahm, pützte er Wasser und goß es durch die Gräting nach unten. Dann, als es etwas stiller wurde und nur noch vereinzelte Männer ihn einen Hundesohn nannten, beugte er sich über die Gräting und blickte in den finsteren Raum. „Wenn ihr jetzt nicht ruhig seid“, sagte er laut, „dann lasse ich das Geschütz vor dem
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Schott abfeuern. Ihr habt gesehen, daß es mit Bleistücken geladen ist, und genau auf euch zielt. Wir werden uns nicht lange mit euch herumärgern.“ Natürlich würde er das Geschütz nicht einsetzen, denn weiße Sklaven brachten Geld, viel Geld, und wenn sie die Gefangenen zusammenschossen, dann war die Reise umsonst, ganz zu schweigen von den eigenen Verlusten und den vielen Mühen. Die Schebecke legte sich hart in die See, als der Gaffir wieder nach achtern ging. Ihr Bug hob sich steil in die Luft und knallte kurz darauf laut und hart auf das Wasser zurück. Durch ihren geringen Tiefgang lag sie nicht so gut im Wasser, und so wurde bald eine höllische Schaukelei daraus. Etwas später ging die See noch höher. Das leichte Schiff tauchte tiefer ein, und die ersten Brecher fegten über das Deck. Der sarazenische Kapitän sah besorgt zum Himmel, wo sich immer mehr Wolken zu einem wirbelnden Tanz auftürmten. Sein Versprechen, Allah würde helfen, schien sich nicht zu bewahrheiten, denn Allah überließ das Schiff sich selbst und den Elementen, die jetzt gewaltig aufschäumten. Ein weiterer Brecher sprühte kalte Gischt bis zum Quarterdeck und durchnäßte den Mann am Kolderstock. Auch der Kapitän kriegte einen Schwall ab. „Schnell, laß die Luken verschalken, Gaffir!“ schrie der Kapitän. „Wenn die Christenhunde ersaufen, zieht mir Ali Abdel Rasul das Fell über die Ohren! Beeil dich, verdammt! Nimm dir ein paar Männer!“ „Ja, Herr.“ Der schlitzohrige Sarazene kannte kaum Angst. Er fürchtete nicht die wilde See, nicht den heulenden Sturm. Er fürchtete nur zwei Dinge, und das waren Allahs Rache und der Zorn Ali Abdel Rasuls, jenes geheimnisvollen Arabers, der mal als einfacher Fellache, dann wieder als reicher Kaufmann, verkleideter Spion, als Gaffir oder Kapitän auftrat, und von dem niemand wußte, wer er wirklich war. Es hieß nur, er sei ein sehr reicher, aber auch
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gewalttätiger, listiger Mann, der tausend Ohren und tausend Augen hatte, alles sah und dem nichts entging. Aber er bezahlte immer gut und sofort, und dafür verlangte er auch einwandfreie Ware. Die Bezahlung erfolgte in einem Geheimversteck auf Kreta, nahe dem Ort Chania, aber doch so weit entfernt, daß sich dort nur ganz selten jemand blicken ließ. Fiebernd vor Ungeduld wartete er darauf, daß das Luk mit Brettern abgedichtet wurde, und als ihm das zu langsam ging, verließ er seinen Platz auf dem Achterdeck und legte selbst mit Hand an. Ein getränktes Segeltuch wurde darüber festgezurrt, und so verhallte das erneute Geschrei da unten. Es wurde vom Donnern der Wellen, vom Heulen des Windes und vom Ächzen und Aufklatschen des Schiffes in der See verschluckt. „Ein paar Verluste müssen wir einkalkulieren“, sagte der Sarazene, „falls es noch schlimmer wird. Aber die meisten werden es wohl überleben.“ „Es wird ganz sicher noch schlimmer, Sidi“, meinte der Gaffir Muhmad. „Und bis wir die Insel erreicht haben, werden auch noch zwei Tage vergehen. Sollten wir nicht lieber nach Norden ausweichen und den Sturm umsegeln?“ Der Sarazene schüttelte den Kopf. Er war ein großer schlanker Mann, mit einem sauber gestutzten Kinnbart und kohlschwarzen, verschlagen blickenden Augen, die mitunter sehr stechend wirkten. Seine Hände waren in ständiger unruhiger Bewegung. „Dadurch wird die Strecke auch nicht kürzer“, sagte er. „Nein, nein, wir bleiben auf östlichem Kurs. So Allah will, wird er uns auch glücklich ans Ziel führen.“ Gegen die Anordnungen des Reis, des arabischen Kapitäns, gab es keinen Widerspruch. Muhmad durfte sich bestenfalls ein paar Vorschläge erlauben, doch das letzte Wort hatte der Kapitän, und demnach blieben sie auf östlichem Kurs, und wenn die ganze Welt dabei unterging.
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Die meisten Leute verschwanden in den unteren Räumen. An Deck hielten sich nur fünf Mann auf. Nach einer weiteren Stunde, als es immer schlimmer wurde, ließ der Sarazene, wie er von Feinden oft genannt wurde, jedoch die Besatzung hochpurren. Es wurde dunkel, die Dämmerung ging ziemlich schnell in totale Finsternis über, und die See begann immer wilder zu toben, zu kochen und zu brodeln. Der Wind fiel jetzt hart von Nordnordwest ein, jagte die Schebecke durch wilde aufgepeitschte See, ließ sie hüpfen und tanzen, jagte sie mit Urgewalten vor sich her und trieb sie mit wütendem Gebrüll nach Osten. Die Männer auf dem Achterdeck mußten schon schreien, um sich zu verständigen. Der harte Wind riß ihnen die Worte von den Lippen und richtete ihnen die Haare auf. Donnernd ging es rauf und runter. In den Kammern flog alles, was nicht ganz besonders gut festgezurrt war, wild durcheinander. Seen überfluteten das Deck, brüllten schäumend und mit wirbelnden Armen über die Galion, wälzten sich weiter und überfluteten das Mitteldeck, wo das Wasser wie eine schwarze Mauer aus Glas lange stehenblieb, bis es beim nächsten Aufklatschen wieder in die See zurücklief. Immer wilder wurde der Höllentanz. Es krachte und knackte in allen Verbänden. Schon vorher waren die Segel eingeholt worden, und jetzt begann die Schebecke vor Topp und Takel zu lenzen. Selbst die Sturmlaternen, die entzündet wurden, blies der Wind gleich wieder aus. Muhmad brachte eine Lampe, die mit Leuchtöl brannte und deren Flamme der Wind durch das schützende Glas nicht ausblasen konnte. Doch sie verbreitete kaum Licht. Der Restschein genügte jedoch, um vage die Umrisse des Mitteldecks erkennen zu können. Dort liefen immer wieder gewaltige Seen auf, türmten sich bis zum Niedergang hoch und zischten über das Quarterdeck, liefen
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weiter über das verlängerte Heck und brausten wild durch die Gräting. Der Sarazene hatte Angst um seine Gefangenen. Wenn sie sich hier schon auf dem Achterdeck kaum noch halten konnten, dann mußte in dem großen Raum der Teufel los sein. Dort kullerten die Leiber wild durcheinander, da hielt sich keiner mehr auf den Beinen, und da war längst eine Panik ausgebrochen. Vielleicht waren auch schon einige tot, dachte der Kapitän bekümmert, oder so schwer verletzt, daß ihr Tod nur noch eine Frage der Zeit war. Tote Gefangene bezahlte Ali Abdel Rasul aber nicht, und so überlegte der Sarazene krampfhaft, wie er die Leute retten könne. Aber es gab keine Möglichkeit, sie da herauszuholen. Zwar gab es geheime Wege zu dem Raum, und Platz war genügend an Bord, genügend, um zweihundert Mann zu verstecken. Doch wenn er die verängstigten Spanier jetzt auf dem geheimen Weg weiter nach achtern bringen ließ, dann drehten diese Ungläubigen durch, überwältigten vielleicht noch die Mannschaft oder schickten das Schiff zum Scheitan. Nein, beschloß er, sie mußten da drin bleiben. Einmal würde dieser höllische Sturm ja auch wieder abflauen. Ein paar Tote mußte er eben mit einkalkulieren. Doch der Sturm flaute nicht ab. Er legte jetzt richtig los. * Um Mitternacht ritt die Schebecke durch die Hölle. Der Wind fauchte mit Urgewalten, die pechschwarze See rannte alles verschlingend und mit mörderischer Wut gegen das Schiff an und versetzte ihm einen harten Schlag nach dem anderen. Das Geschrei aus dem Raum war verstummt, man hörte jedenfalls auf dem Achterdeck nichts mehr außer einem hin und wieder auftretenden entnervenden Gepolter.
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Das Mitteldeck stand permanent unter Wasser, und noch bevor die salzige Brühe ablaufen konnte, wälzte sich schon die nächste Woge mit elementarer Gewalt heran. Um sie herum war Schaum, quirliger wirbelnder Schaum, der in langen Fetzen durch die Nacht heulte und die See trotz der Finsternis schaumig und weiß färbte. Ein großer Lenzsack war ausgebracht worden, doch die Schebecke spielte weiterhin in der tobenden See verrückt. Auf dem Achterdeck hatten sich der Kapitän und der Aufseher Muhmad mit Tauen festgelascht, um nicht über Bord gewaschen zu werden. Sie ersoff en fast in dem steigenden Wasser und mußten für lange Zeit krampfhaft die Luft anhalten, bis sich ihre Gesichter blau verfärbten. Jetzt hatte auch den Sarazenen die Zuversicht verlassen, hier noch jemals heil herauszugelangen. Er glaubte nicht mehr daran, daß sie Kreta noch erreichen würden. Und es wurde noch schlimmer. Einmal, niemand wußte genau wie lange sie schon durch diese Hölle ritten, schäumte es weit vor ihnen in der See leuchtend weiß auf. Das übliche Brausen und Heulen wurde von einem anderen Geräusch überlagert, das sich so anhörte, als würde ein gewaltiger Sog das Meer mit sich fortreißen und irgendwo ablaufen lassen. Gehetzt sah sich der Sarazene um. Hinter sich hörte er den Gaffir laut schreien und nach Allah rufen. Vor sich sah er ein blasenähnliches Gebilde aus dem Meer steigen, das von innen her wie erleuchtet wirkte, als brannten dort tausend mit Leuchtöl gespeiste Lampen. Dann fühlte er sich übergangslos sanft in die Höhe gehoben, spürte, wie es immer höher ging, und wußte auch, was gleich danach passieren mußte. Es ging mit teuflischer Geschwindigkeit bergab, wie in ein tiefes Tal hinunter, wie in einen Schlund der Hölle. Die Schebecke setzte laut und donnernd auf, als sei sie auf einen Felsen geraten. Der Schlag pflanzte sich durch das ganze
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Schiff fort und ließ es unheimlich knistern. Sofort danach wuchtete die weißliche Riesenblase in den Himmel. Sie wälzte sich aus beängstigender Höhe heran, schob einen Schwall aus kalter Luft vor sich her und stürzte sich dann auf das Schiff. Diesmal schrie auch der Kapitän unterdrückt auf. Das gesamte Mittelmeer schien sich auf das Schiff zu wälzen. Da war nur noch ein Donnern, Krachen und Bersten, mit dem der Himmel einstürzte. Als der Sarazene wieder einen Gedanken fassen konnte und halbtot nach Luft schnappte, stand an Deck nur noch ein einziger Mast. Alles andere hatte der Berg aus Wasser gnadenlos abgeräumt und mit sich gerissen. Die weiteren Verwüstungen ließen sich noch nicht erkennen, aber es schien schlimm genug zu sein. Die Schebecke hatte Wasser genommen, und für das Leben seiner Gefangenen gab der Sarazene keinen lausigen Piaster mehr. Sie kämpften sich weiter durch die See, blind, taumelnd, schwer angeschlagen und warteten auf die Morgendämmerung, die so unendlich lange auf sich warten ließ. Mit dem heraufziehenden Morgen beruhigte sich auch der Sturm, das Meer wurde nicht mehr so aufgewühlt, und die Wellen wurden nach und nach kleiner. Dann schob sich der Morgen bleigrau und düster über die Kimm, und die erschöpften Männer sahen das Ausmaß der Verwüstungen. Der Sarazene ging nach vorn und ließ das Luk öffnen. „Das hat niemand überlebt“, meinte Muhmad. „In dem Raum steht ganz sicher eine Menge Wasser, wir haben ziemlichen Tiefgang.“ Der Kapitän schwieg. Er war übernächtigt, durchnäßt und ihn fror ganz erbärmlich. „Schneller, schneller!“ schimpfte er. „Nehmt die Enterbeile und schlagt die Luken ein — oder beeilt euch gefälligst.“ Aus dem Raum waren keinerlei Geräusche zu hören. Dort blieb alles unheimlich still und ruhig — totenstill. „Es kann auch ein Trick sein“, warnte ein Mann in türkischen Bundhosen, die ihm
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bis an die Waden reichten. „Sie warten, bis wir öffnen, und dann fallen sie über uns her. So ähnlich tun wir es ja auch, wenn wir ein Schiff aufbringen.“ „Quatsch kein dummes Zeug“, sagte der Sarazene. „Sieh lieber zu, daß die Luke bald offen ist. Von diesen Leuten haben wir ganz sicher nichts zu befürchten.“ Endlich war das Luk geöffnet, die letzten dicken Bretter lagen an Deck, und der Kapitän beugte sich hinunter. Er sah nur Wasser und Leiber, die in der Brühe herumschwammen, als lebten sie noch. Das .Wasser war etwa brusthoch, und es schwappte leicht hin und her. Aber diese Höhe und der Seegang hatten genügt, um fast alle ertrinken zu lassen. Einundvierzig ungläubige Giaurs waren ertrunken. Fünf lebten noch, und merkwürdigerweise waren die überlebenden Frauen in der Überzahl. Zwei Männer, drei Frauen hatten überlebt, sie hatten diese Höllennacht überstanden, wenn auch in allerschlechtester Verfassung. Der Sarazene stieß einen erbitterten Fluch aus, als er sich wieder aufrichtete. Das war ihm in seinem ganzen Leben nur sehr selten passiert, daß so viele umgekommen waren. * Die See beruhigte sich weiter, die Wellen gingen nur noch als leichte Dünung. „Bringt sie alle nach oben“, befahl der Sarazene. „Gebt die Toten über Bord. Die anderen werden verpflegt und verarztet. Die anderen kümmern sich um das Schiff. Lenzt die Räume leer, untersucht, wo das Wasser eindringt.“ Die grausige Arbeit nahm ihren Anfang. Leitern wurden in den Raum gestellt, die Ertrunkenen nach oben gebracht und über Bord gegeben. Bei jedem ließ der Kapitän feststellen, ob auch wirklich kein Fünkchen Leben mehr in ihm war. Zwischendurch wurden die Überlebenden verarztet, behandelt und anschließend mit
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heißem Pfefferminztee und viel Zucker wieder zum Leben erweckt. Die Schebecke selbst sah wüst aus, und sie ließ sich mit Bordmitteln auch nicht wieder aufriggen. Das konnte erst auf der Insel geschehen, die sie morgen anlaufen würden. „Setzt das Segel!“ befahl der Sarazene einem Mann mit müdem, grauem Gesicht. „Und beginnt gleich damit, das Schiff zu lenzen.“ „Wo bleiben die Gefangenen Sidi?“ Der Kapitän überlegte einen Augenblick und fuhr mit der Hand durch seinen Kinnbart. Ein anderer brachte ihm einen Becher kochend heißen Tee mit Rosenöl und Zucker, den er in kleinen Schlucken gierig schlürfte. „Bringt sie nach achtern in die Kammer neben der meinen. Und stellt eine Wache mit gezogenem Schiffshauer davor auf.“ Das Lateinersegel wurde gesetzt, und ein Mann, der den Schiffszimmermann ersetzte, der vor ein paar Tagen erschlagen worden war, meldete sich beim Kapitän. „Nur ein kleines Leck, Sidi, mehr nicht“, meldete er. „Wenn wir etwas Wasser abgepumpt haben, gelange ich besser heran. Nur an Deck können wir nicht arbeiten, wir haben keine Ersatzhölzer.“ „Allah hat uns verschont“, sagte der Sarazene, warf sich auf die Knie und stieß ein kurzes Gebet aus. Nach dem Gebet schlürfte er weiter seinen Tee und blickte nachdenklich auf eine Spanierin mit nassen aufgelösten schwarzen Haaren und zerrissener Kleidung. Der Mann mit den Türkenhosen hob sie gerade auf und brachte sie nach achtern in die Gästekammer. „Wir haben keinen einzigen Mann verloren“, sagte der Kapitän. „Die Ungläubigen hingegen sind fast alle ums Leben gekommen.“ „Ja, wir sind Allahs Söhne“, sagte der Gaffir, hütete sich aber zu bemerken, daß es von ihnen vermutlich auch keiner in dem engen Raum und dem vielen Wasser überlebt hätte.
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Die Schebecke lag jetzt auf Ostkurs, und der Wind blies sie handig über das wieder ruhige Meer. Der Sarazene ging nach unten und wechselte seine Kleider. Als er zurückkehrte, wirkte er bedrückt und ratlos. Mal blickte er über das Wasser, mal sah er Muhmad an. Der Gaffir merkte, daß sein Herr und Meister etwas loswerden wollte, was ihn bedrückte, und er konnte sich auch schon denken, was es war, um was die Gedanken des Kapitäns kreisten. Aber er fragte nicht, er verhielt sich nur abwartend. Nach einer Weile stampfte der Sarazene mit dem Fuß auf. „Beim Scheitan!“ schrie er. „Diese Reise war umsonst, damit ihr das nur gleich wißt. Einen Anteil wird es nicht geben.“ „Wir haben noch fünf Gefangene, Sidi“, erinnerte Muhmad sanft. „Fünf Gefangene! Pah, was ist das schon! Wir brauchen mindestens dreißig oder vierzig, lieber noch mehr. Ich kann nicht hingehen und die Bezahlung aus dem Versteck holen, wenn ich dafür keine Gegenleistung erbringe. Ich kann es auch vor meinem Gewissen nicht verantworten, Ali Rasul zu betrügen.“ „Er wird sicher von unserem Mißgeschick erfahren, Sidi. Aber das Gold oder die Perlen können wir wirklich nicht holen, wenn wir uns nicht seinen Zorn zuziehen wollen.“ Auch der Gaffir war bekümmert und starrte auf die Planken. Nein, das konnten sie wirklich nicht, dachte er. Alis Rache würde sie alle furchtbar treffen. Ali konnte man nur einmal betrügen, dann nie mehr, denn nur der Kopf betrog, und den hatte man dann nicht mehr. Auf den Gang zu den Felsen mußten sie also verzichten, und dabei war das jedesmal eine kleine feierliche Handlung, die nach einem ganz bestimmten Ritual ablief. Nach der Landung auf der Insel wurden zunächst die Gefangenen in die Höhle gebracht und so ausreichend verpflegt, daß sie gut eine Woche lang von dem Proviant
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leben konnten. Dann schritten zwei Männer, meist der Sidi und Muhmad, zu den Felsen, wo sich das seltsame Zeichen im Gestein befand. Das Zeichen stellte einen Menschen mit einem Stierkopf dar, einen Minotaurus, ein Ungeheuer der griechischen Mythologie, den Minos, der König von Kreta, Sohn des Zeus und der Europa, im Labyrinth gefangen hielt. Dieses Zeichen aber barg ein Geheimnis, und wer es kannte, der war in der Lage, den kleinen Felsblock zurückschwingen zu lassen. In dem dahinterliegenden Hohlraum lag die „Bezahlung“, meist Gold, Perlen oder silberne Piaster, wie Ali Abdel Rasul es für angemessen hielt. Dieser Gang würde also jetzt entfallen, überlegte Muhmad, denn sie konnten das deponierte Gold nicht nehmen, ohne eine entsprechende Gegenleistung zu erbringen. Das tat ihm zwar in der Seele weh, ließ sich aber nicht ändern. Er fand aber doch noch einen Ausweg, denn die Piaster ließen ihm keine Ruhe. „Wenn wir nun fünfundvierzig durch fünf teilen“, meinte er listig, „dann steht uns doch der neunte Anteil zu, denn wir haben ja fünf Überlebende, Sidi. Und fünf mal neun ergeben fünfundvierzig. Das wird auch Ali Rasul einsehen.“ Der Sarazene blickte ebenfalls auf die Planken und rechnete. Natürlich gelangte er zu demselben Ergebnis, aber dann schüttelte er ablehnend den Kopf. „Nein, das tun wir nicht. Wir verrechnen unsere nächste Ware und zählen fünf dazu. Ich weiß nicht, wie Ali reagieren wird, aber wir wollen seinen Zorn nicht beschwören. Er ist nicht nur ein geheimnisvoller, sondern ein einflußreicher und mächtiger Mann. Und solche Herren sind da ganz empfindlich.“ Das sah schließlich auch Muhmad ein, und so fügte er sich in Demut und gab keinen Widerspruch. Das Geld war ja nicht ganz verloren, wenn es natürlich auch schmerzte, so empfindliche Einbußen hinnehmen zu müssen. Die Schebecke segelte weiter, lahm und angeschlagen, aber sie kam mit dem einen Mast dennoch ganz gut voran.
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Auch die „Isabella VIII.“, die ranke Galeone des Seewolfs, hatte den Sturm nicht schadlos überstanden. Zwar fehlten ihr keine Masten oder Rahen, aber etwas anderes war passiert. Smoky, der die Vorpiek kontrolliert hatte, erschien wieder auf der Kuhl, wo der Kutscher und Edwin Carberry zusammenstanden. Die beiden schienen ein Herz und eine Seele zu sein, denn der Profos lachte laut über eine Bemerkung des Kutschers. Doch nach und nach verschwand das Grinsen aus seinem Gesicht, und Ed blickte leicht angewidert auf das, was der schmalbrüstige Kutscher in der Hand hielt. Die Datteln sahen etwas zermatscht und klebrig aus, aber der Kutscher stopfte sich eine nach der anderen in den Mund. kaute darauf herum und spie die Kerne dicht an Eds Schulter vorbei übers Schanzkleid in Lee. Einer der klebrigen Kerne blieb auf dem Handlauf des Schanzkleides liegen, was Carberry mit Widerwillen registrierte. „Spuck deine Pflaumenkerne gefälligst ins Wasser, du Dorsch“, sagte Ed grollend. „Ich will das klebrige Zeug nicht auf meinem Schiff herumliegen haben.“ „Aha“, sagte der Kutscher angriffslustig. „Da muß ich aber vorher noch drei Dinge richtigstellen, mein lieber Profos. Erstens sind die Pflaumenkerne Dattelsteine, zweitens spucke ich sie nicht aufs Schiff, und drittens ist es mir ganz neu, daß es jetzt dein Schiff ist. Ich entsinne mich nicht, meinen Anteil an dich verkauft zu haben.“ Smoky stand daneben und grinste. Er wollte seine Meldung loswerden, aber jetzt wartete er ab, denn wenn sich der Kutscher und der Profos gegenseitig am Haken hatten, dann wollte sich das der Decksälteste Smoky nicht entgehen lassen, zumal der Profos dabei meist den kürzeren zog.
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Noch bewahrte der Profos Ruhe und blieb gelassen, und auch seine Stimme klang noch einigermaßen sanft. „Hör mal zu, du abgelaichter Kombüsenaal“, sagte er freundlich. „Auf diesem Schiff habe nach Hasard und Ben immer noch ich das Sagen, du lausiger Mustopf. Und wenn ich sage, daß du deine verdammten Datteldinger an Bord spuckst, dann stimmt das auch, was, wie? Oder täuschen mich meine Augen etwa, und auf dem Handlauf liegt nur eine aufgedockte Riesenkakerlake, he? Du wirst jetzt den verdammten klebrigen Mist sofort ins Meer befördern. Und was mein Schiff betrifft: Genau das Stück vom Schanzkleid gehört mir, und auf mein Eigentum werden weder Dattelsteine gespuckt noch sonst was. Und was die Pflaumenkerne betrifft: Es ist mir wurschtig, was das ist. Steine sind Steine, und jetzt wirst du wohl höflicherweise zugeben müssen, daß ich in allen drei Punkten wieder mal recht habe. Aber du siehst das natürlich wieder durchs falsche Ende vom Kieker.“ Ein mit gekonnter Präzision gespuckter weiterer Dattelkern sauste an Eds Schädel vorbei. Carberry holte tief Luft, aber dann sah er zu seiner Verblüffung, wie der neue Kern den anderen traf und alle beide im Meer verschwanden. Zufallstreffer, dachte der Koch und Feldscher, aber er nutzte das für sich selbst aus. „Da liegt also ein klebriger Dattelkern auf dem Handlauf“, sagte er ironisch. „Und ausgerechnet auf deinem Eigentum. Siehst du da etwa einen Kern, Smoky?“ fragte er den Decksältesten. Smoky verbarg nur mühsam sein Grinsen, als Carberrys wütender Blick ihn streifte. „Wirklich nicht“, sagte er. „Ich sehe jedenfalls nichts, aber vielleicht sind meine Augen auch nicht ganz in Ordnung. Ich wollte aber etwas anderes sagen.“ „Du hältst jetzt mal die Luft an“, erklärte Ed. „Und du wirst erst dann etwas sagen, wenn ich dich frage. Ihr wollt mich wohl zum Narren halten. Lag da ein verdammter Stein, oder nicht?“
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„Das ist richtig“, sagte der Kutscher. „Da lag einer, aber da liegt keiner mehr, und das ist ein Unterschied.“ Carberry griff nach des Kutschers Hand und drückte sie zusammen, so fest, daß aus den Datteln eine dunkle breiige Masse wurde, und dem Kutscher das Mus zwischen den Fingern hervorquoll. Er kriegte kaum noch die Hand auf, so klebte das. Zeug. „Wenn ich mir deine Spitzfindigkeiten anhöre, Kutscher“, sagte der Profos, „dann steigt mir noch das Kielwasser von der letzten Reise hoch.“ „Das sind deine Argumente!“ rief der Kutscher empört. „Kraft, nichts als brutale Kraft. Im Gehirn ist nichts, gar nichts. Du solltest dir mal einen Strohhalm in den Schädel stecken und es auf Erbsengröße aufblasen lassen, damit du argumentieren kannst!“ „Meine Argumente überzeugen mehr“, behauptete Ed trocken. „Und solche lahmen Vergleiche wie mit dem Gehirn bringe ich auch immer noch zustande. Sieh dich doch an! Du siehst von weitem aus wie ein Ofenrohr ohne Umhüllung.“ Smoky begann wie ein kranker Gaul zu wiehern. Er sah die beiden Streithähne an und lachte noch lauter, ganz besonders über den Kutscher, der immer noch sprachlos und verdattert mit verklebter Hand an Deck stand und den Profos grimmig anblickte. Doch gleich darauf glitt ein freundlicher Schimmer über sein Gesicht, er schlug Carberry mit der linken Hand leicht auf die Schulter und grinste ihn an. „Keinen Streit, Ed“, sagte der Kutscher. „Diesmal hast du gewonnen, das muß ich ehrlich zugeben. Schlag ein!“ Als der Profos die Hand ausstreckte, kam ihm die bittere Erkenntnis etwas zu spät. Der Kutscher hatte seine Rechte schon ergriffen und drückte sie kräftig. Der Profos hatte das Gefühl, in einem klebrigen Mustopf zu rühren und kriegte seine Pranke kaum aus der Hand des Kutschers los. Sein Gesicht verzog sich und drückte allen Ekel dieser Welt aus. Sein Amboßkinn
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schob sich vor, als sollten darauf yardlange Eisennägel geschmiedet werden. Als sich sein gewaltiger Brustkasten aufblähte, entfloh der Kutscher mit einem hämischen Kichern, rannte durch die Kuhl und blieb vor dem Kombüsenschott noch einmal stehen. „Jetzt hast du auch ein Argument in der Hand!“ brüllte er. Dann donnerte das Schott zu und wurde von innen verbarrikadiert, weil der Kutscher die verständliche Rache des Profos fürchtete. „Dieser Mistkerl, dieser“, sagte Ed andächtig. „Gegen den kann man einfach nicht anstinken, der hat’s hier oben“, sagte er zu Smoky und tippte sich an die Stirn. „Du meinst, daß er verrückt ist?“ fragte Smoky. „Ganz sicher nicht, ich meine das Gegenteil. Er hat mich wieder mal reingelegt, und ich bin ihm auch nicht böse. Aber eines Tages fällt er dabei böse aufs Kreuz.“ „Hör mal, Ed“, sagte Smoky ernst. „Ich habe in der Vorpiek nach dem Sturm alles kontrolliert. Auch die Wasserfässer. Vier davon sind ausgelaufen, ausgerechnet die größten. Das war der Schlag, der unseren Bug so erschüttert hat. Eins der Fässer ist mitsamt der Verankerung davongeflogen, hat ein zweites angeknackst und bei dem dritten den Spund herausgeschlagen. Und im vierten war ja sowieso nicht mehr viel drin, das hatten wir ja schon umgefüllt.“ Carberry pfiff durch die Zähne. „Wieviel Wasser haben wir noch?“ „Es langt höchstens noch für zwei Tage, wenn ich das Faß auf der Kuhl mitrechne. Uns bleibt also nichts anderes übrig ...“ „…als Land anzulaufen und die Fässer zu füllen“, vollendete Ed. „Oder wir saufen ein paar Tage lang nur Rum.“ „Das ist kein Witz, Ed.“ „Ich weiß, ich werde es gleich melden. Es ist ja kein großes Problem, denn hier gibt es ja genug Inseln, und Trinkwasser werden wir schon finden.“ Carberry ging zu seinem Freund Ferris Tucker hinüber, der am Niedergang zum Achterdeck zwei Stufen ausbesserte. Der
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rothaarige Schiffszimmermann blickte amüsiert von seiner Arbeit auf. „Immer du und der Kutscher“, sagte er, aber Ed grinste nur, steckte seine mächtige Pranke in die Pütz und wollte sich das klebrige Zeug abwischen. „In der Pütz ist Holzleim drin“, sagte Ferris grinsend. Aber da war es schon zu spät. Carberry stieß einen lästerlichen Fluch aus, der über alle Decks zu hören war, und zog seine Hand zurück, als habe er in einen Topf giftiger Nattern gegriffen. „Du scheinst heute einen schlechten Tag erwischt zu haben, mein Freund“, sagte Tucker und grinste weiter, aber der Profos war nicht mehr zu Späßen aufgelegt. Er starrte wütend seine Hand an, von der zähflüssiger dicker Holzleim auf die Planken tropfte. „Hör mal zu, Mister Tucker!“ brüllte er, krebsrot vor Wut. „Eine Pütz ist zum Wasserpützen da, und nicht für deinen lausigen Holzleim. Schreib dir das hinter die Ohren, du rothaariger Polaraffe!“ „Häng deine Segel ins Gei, Mister Carberry“, empfahl der Schiffszimmermann trocken. „Was kann ich dafür, wenn du hier voll aufgebraßt herumläufst! Außerdem ist das meine Pütz, und da ist immer Holzleim drin. Die andere Pütz steht dahinten, du Stint!“ Carberrys narbiges Gesicht war immer noch sauer verzogen. Er stand verärgert da und ließ den Holzleim auf die Zwingen tropfen, die Ferris gerade an den Stufen angelegt hatte. „Gegen mich hat sich heute die ganze Welt verschworen“, knurrte Ed. „Erst grinst mich dieser verwanzte Kutscher an und gibt mir seine klebrige Flosse, und jetzt passiert mir das bei dir, Mister Tucker. Da steckt doch ein Komplott dahinter!“ Der alte O’Flynn, der dem Disputinteressiert zuhörte, setzte sein Holzbein in Bewegung und rückte näher. „Fang jetzt ja nicht wieder mit Spukgeschichten an“, drohte Ed, „sonst ist meine gute Laune vorbei, und aus deinem Holzbein lasse ich Zahnstocher fertigen!“
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Der Alte zog sich sofort zurück, denn wenn Carberry schlechte Laune hatte, war es besser, man legte sich nicht mit ihm an. „Scheiß Holzleim“, fluchte er weiter. „Das hält sowieso nicht die Stufen zusammen. Da gehören richtige Nägel reingedonnert.“ „Der Holzleim hält“, versicherte Ferris. „Der hält nicht, Mister Tucker!“ „Der hält doch, Mister Carberry!“ Ed holte sich die andere Pütz, die noch halbvoll Wasser war, tauchte seine Pranke hinein und wischte das klebrige zähe Zeug unter lauten und lästerlichen Flüchen wieder ab. Dabei sah er sich immer wieder um, ob auch nicht einer grinste, doch er sah nur in merkwürdig starre Gesichter, die ausnahmslos alle in verschiedene Richtungen blickten. „Die Fässer in der Vorpiek sind angeschlagen oder kaputt“, sagte er dann zu Tucker etwas versöhnlicher. „Vielleicht solltest du dich mal darum kümmern, Mister Tucker, statt hier mit Holzleim das ganze Schiff zu versauen.“ „Ausgelaufen?“ fragte Ferris, ohne auf das Gemotze einzugehen. „Hast du schon mal ein kaputtes Faß gesehen, in dem noch Wasser drin ist?“ fragte Carberry. „Natürlich gibt es das“, versicherte Ferris freundlich. „Wenn zum Beispiel oben nur eine kleine Beschädigung ...“ Carberry griff schon nach der Pütz mit Holzleim, so aufgebraßt war er, aber dann überlegte er es sich doch noch anders. Er hatte heute einfach einen rabenschwarzen Tag erwischt. Das gab es ja mitunter, da ging eben alles schief. „Ihr seid doch heute alle beknackt“, sagte er mißmutig. Dann suchte sein Blick den Seewolf auf dem Achterdeck, doch da standen nur Big Old Shane, der ehemalige Schmied von Arwenack, Dan O’Flynn und Hasards Stellvertreter Ben Brighton. Alle drei grinsten ziemlich anzüglich, weil sie alles von Anfang an mitgehört hatten. „Wo ist Hasard?“ fragte Ed grob. „Achtern in seiner Kammer. Sag mal, Ed, das muß ja eine verdammt große Laus
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gewesen sein, die dir über die Leber lief“, meinte Ben Brighton grinsend. „Oder er hat eine kleine Leber“, sagte Dan O’Flynn nachdenklich. „Aber das kann auch nicht sein, denn der Kutscher sagte einmal, Ed hätte die größte Leber von allen, und das käme hauptsächlich vom vielen Saufen.“ Zu Eds guter Laune trugen die Sticheleien nicht gerade bei, aber wenn man sich schon einmal in die Nesseln gesetzt hatte, dann mußte man auch den Hohn ertragen, und so warf Carberry den Männern auf dem Achterdeck nur einen wilden Blick zu. „Ihr könnt mich mal, ihr lausigen Nachttopfsegler“, sagte er. Dann ging er weiter, klopfte an Hasards Kammer und trat ein. Der Seewolf, Philip Hasard Killigrew, kniete auf dem Teppich vor seiner Koje. Der untere Teil bestand aus drei großen Schubladen mit einer Verriegelung gegen das Herausrutschen. Hasard hatte gerade einen der chinesischen Brandsätze herausgeholt, der nun neben ihm auf dem Teppich lag. „Al Conroy will versuchen, die Dinger nachzubauen“, sagte er zu Ed. „Unsere Vorräte sind stark geschrumpft. Daher will ich einen von ihnen opfern, damit Al und Ferris ihn zerlegen können. Weshalb ziehst du so ein ärgerliches Gesicht?“ fragte er im selben Atemzug und sah Ed an. „Nichts besonderes, Sir, ich habe mich nur ein wenig geärgert. Aber das ist schon vorbei. Der letzte Sturm hat ein paar Fässer in der Vorpiek beschädigt, und das Wasser ist ausgelaufen. Deshalb bin ich hier. Unser Wasser reicht nur noch ganz kurze Zeit.“ „Das ist ärgerlich, aber nicht zu ändern. Setz dich, Ed, und gieß uns einen Schluck aus der Flasche ein. Das hilft gegen Ärger.“ Carberrys Stimmung schlug um. Er lächelte milde, goß etwas Rum in zwei Mucks und reichte eine dem Seewolf. Als sie getrunken hatten, fühlte sich Ed merklich wohler. „Fast genau auf unserem Kurs liegt eine Insel“, sagte Hasard. „Wir werden sie
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anlaufen und nach Trinkwasser suchen. Diese Insel hat viele Namen. Die Venezianer nennen sie Kreta, die Italiener Candia, und bei den Türken hießt sie Kirid. Scheint so, als hätte sie schon öfter die Besitzer gewechselt, infolgedessen scheint es sich um eine besondere Insel zu handeln.“ Carberry nickte und goß noch eine Muck voll, die er sich nach einem dezenten Räuspern schnell in den Hals kippte. Jetzt fühlte er sich schon viel besser, und die kleinen Übel waren vergessen. „Und wann erreichen wir die Insel?“ wollte er wissen. „Morgen, gegen Mittag oder Nachmittag müßten wir dran vorbeisegeln, wenn die Karten stimmen und der Wind anhält.“ Die letzten Worte klangen ziemlich abwesend, so als sei der Seewolf mit seinen Gedanken ganz woanders. Aus der Schublade hatte er eine Rolle hervorgezogen, richtete sich auf und legte die Rolle auf die Lest verankerte Back. Sein Blick war nachdenklich auf die Rolle gerichtet. „Noch einen, Sir?“ fragte Ed, auf die Flasche deutend. „Du hast zwar schon einen heimlich runtergekippt“, sagte Hasard, „aber du kannst uns noch einen eingießen.“ „Hast du hinten auch Augen, Sir?“ fragte der Profos verlegen. „Ich hörte es am leisen Gluckern.“ „Ich hab heute wirklich meinen schlechten Tag“, meinte Ed grinsend. „Was sind das für Karten, Sir?“ Hasard entfaltete die Rolle, die aus fünf Karten bestand, strich sie glatt und beschwerte sie auf dem einen Ende mit der Flasche, auf dem anderen mit einem schweren Zirkel. „Die haben wir auf der Insel gefunden, in der Höhle. Ich wollte sie mir schon vor ein paar Tagen ansehen, aber da hatten wir es mit diesem verdammten Lord Henry zu tun, und ich kam nicht dazu.“ Carberry entsann sich jetzt. Auf der Insel war ihm in der Grotte ein Pulverfaß um die Ohren geflogen, und er war unter Gesteinstrümmern begraben worden. Viel
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hätte nicht gefehlt, und es hätte ihn das Leben gekostet. „Ich denke, wir können die Karten nicht enträtseln? Deine Söhne haben es doch schon versucht.“ „Ja, das ist richtig. Viele neue Erkenntnisse haben uns die Karten nicht gebracht. Aber das, was sie bezeichnen, muß irgendwo in der Nähe liegen, denn es handelt sich nicht um reine Seekarten. Eher um Landkarten, soviel weiß ich. Und darauf sind diese monströsen Gebilde verzeichnet. Wenn es sie wirklich gibt, dann muß es sich um die höchsten Gebäude der Welt und um wahre Wunder handeln.“ Diese fünf Karten, die sie nach langwieriger und gefährlicher Suche gefunden hatten, schienen einen unermeßlichen Wert darzustellen, so vermutete der Seewolf, denn warum sonst hätte man sich der Mühe unterzogen, sie so sorgfältig zu verstecken? Auch der Profos studierte eine der Karten, aber aus den seltsamen Schriftzeichen wurde er nicht schlau, und auch die monströsen Dreiecke sagten ihm nichts. Hasard ließ sich mit der Betrachtung Zeit, tauschte die Karten gegeneinander aus und legte sie zusammen. Dann versuchte er es auf dem Boden, und legte wieder eine Karte neben die andere, vertauschte und verschob sie. Die Söhne des Seewolfs, Hasard und Philip erschienen, sahen die Karten und wollten sich gleich darauf stürzen. „Ah, da sind ja die Schatzkarten“, sagte Hasard junior. „Wir haben sie schon seit langem gesucht, Dad. Wo waren sie denn?“ „Verschlossen“, sagte der Seewolf lächelnd. „Damit an Bord nicht wieder alles drunter und drüber geht.“ „Wir haben kein Trinkwasser mehr, Dad“, meldete Philip. „Smoky hat es uns gesagt. Das ist genau wie auf der letzten Reise, da ist uns auch das Wasser ausgelaufen, als der Sturm wütete.“ „Das weiß ich auch schon. Und deshalb laufen wir die nächste Insel an, um die Fässer wieder zu füllen.“
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Die Augen der Zwillinge klebten fast an der Karte, so erwartungsvoll waren sie. Daher hatte Hasard die Karten wohlweislich versteckt, sonst wären die beiden ihm mal wieder gründlich auf die Nerven gegangen mit ihrer ewigen Schatzsucherei. Carberry stand auf und reckte seinen Brustkasten. „Bleib hier, Ed“, sagte Hasard. „Vielleicht finden wir zusammen etwas heraus. An Deck ist alles in Ordnung.“ Gemeinsam beugten sie sich jetzt über die geheimnisvollen Karten. „Eine zeigt diese Bauwerke“, sagte Hasard. „Davor scheint ein Fluß zu verlaufen, und in der Nähe könnte eine Stadt sein. Aber hier wird der Fluß anscheinend unterbrochen, und was da als Randbemerkung steht, kann ich nicht entziffern. Damit hört. auch die Karte schon wieder auf, und ich finde einfach die Verbindung nicht.“ „Ein paar Wörter haben wir schon damals entziffert“, sagte der junge Hasard. „Was du meinst, Dad, das heißt Katarakt, und dahinter steht eine sechs: Aber das Wort kennen wir nicht, und es wiederholt sich auf insgesamt drei Karten.“ Hasard sah seinen Sohn verblüfft an. „Katarakt?“ fragte er. „Das sind hintereinander liegende Stromschnellen oder Wasserfälle. Dem. nach ist das hier doch ein großer Fluß mit vielen Nebenarmen und einem riesigen Delta.“ Wieder wurde die Lage der Karten verändert, nur eine schoben sie zur Seite, denn sie enthielt ein wirres Muster aus Strichen, leicht gekrümmten Linien und dünnen kaum sichtbaren Linien. Und doch sollte ausgerechnet das Schicksal der „Isabella“ und ihrer Besatzung noch einmal von ihr abhängen, denn diese Karte barg ein geradezu sensationelles Geheimnis. Jetzt, da sie sich alle intensiv mit der Karte beschäftigten, ging es leichter, und das Ganze ergab bald einen Sinn. Hasard richtete sich kniend auf und sah den Profos an.
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„Auf dieses Land und den langen Fluß haben wir keinerlei Hinweise auf der Karte, Ed. Wir wissen nicht, wo es liegt. Aber wir wissen, daß es im Mittelmeer sein muß. Es kann sich also nur um einen Teil Persiens oder Arabiens handeln, alles andere scheidet aus.“ „Also das Gebiet, in das wir segeln“, sagte Carberry. „Wenn wir noch weiter nach Osten segeln, kriegen wir vielleicht Hinweise darauf. Zumindest müssen es doch aber die Sarazenen wissen.“ „Wir werden in jedem Fall nach Ägypten segeln, aber vorerst bleiben wir noch auf Ostkurs, bis es nicht mehr weitergeht.” „Was ist denn auf unseren normalen Karten eingezeichnet?“ wollte der Profos wissen. „Ein so gewaltiger Fluß müßte doch auf den Karten ebenfalls verzeichnet sein.“ „Nein, wir haben nichts, absolut nichts. Die Karten vom östlichen Mittelmeer deuten in dieser Richtung nichts an. Wir haben nicht einmal alle Hafenstädte darauf.“ „Dann müssen wir uns auf den Zufall verlassen?“ fragte Ed mit skeptisch verzogenem Gesicht. „Da können wir aber so lange segeln, bis wir schwarz werden.“ „Oder wir suchen ganz systematisch“, entgegnete Hasard. „Hartnäckigkeit hat schon oft zum Ziel geführt.“ „Das ist richtig. Hast du vor, Sir, in den Fluß hineinzusegeln, falls wir ihn jemals finden?“ Hasard lachte leise und erhob sich. „Schon um diese sagenhaften Bauwerke zu bewundern, würde ich den Fluß hinaufsegeln. Wenn er für unsere Lady schiffbar ist, werden wir das tun. Darüber können wir ja noch abstimmen.“ „Die Abstimmung kannst du vergessen. Darauf ist doch jeder von uns neugierig. Ich brauche mir nur die Gesichter der beiden Helden da anzusehen, dann weiß ich genug. Habt ihr nicht einmal was von tausend Jahre alten Königsgräbern erzählt, die es auf der Karte angeblich gibt?“ wandte er sich an die beiden Jungen. „Die sind noch viel älter, so hat uns das Sidi Barim von der Gauklertruppe mal
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erzählt. Das war dieser alte Märchenerzähler.“ „Das festigt nicht gerade mein Vertrauen“, meinte Hasard. „Wenn man sich auf Märchenerzähler verläßt, dann werden wir diesen Fluß und das Land nie finden.“ „Er hat das nicht als Märchen erzählt“, sagte Philip voller Eifer. „Er hat das wirklich gemeint, und er hat seine Erzählung wieder von anderen, die schon einmal dort waren und alles mit eigenen Augen gesehen haben.“ „Es wird schon etwas daran sein“, sagte der Seewolf. „Sonst hätte man sich nicht soviel Mühe gegeben, die Karten fast unauffindbar zu verstecken. Nur wird immer alles aufgebauscht und übertrieben. Ich denke da an die mehr als hundert Yards hohen Bauwerke. Wenn ihr wollt, dann könnt ihr euch ja mit den Karten noch ein wenig beschäftigen, ich gehe jetzt an Deck.“ Und ob die Zwillinge wollten! Sie waren ganz versessen darauf und beugten sich mit einem wahren Feuereifer darüber. Die eine Karte mit den wirren Linien und dem rätselhaften Muster hob Hasard auf. Damit konnten sie vorerst nichts anfangen. Vielleicht gehörte sie auch gar nicht dazu und war nur versehentlich mit in die Rolle gewickelt worden. Oder sie fanden erst sehr viel später eine Erklärung dafür, wenn sie die anderen Karten restlos begriffen hatten. Ein Sonnenstrahl fiel durch die achteren Bleiglasfenster in Hasards Kammer gerade in dem Augenblick, als der Seewolf die Karte etwas höher hob, um sie zusammenzurollen. Da geschah etwas Merkwürdiges. Hasard stutzte, denn er glaubte neue Linien auf der Karte gesehen zu haben - oder das Sonnenlicht hatte sie nur deutlicher hervortreten lassen. Mit einem Satz war er beim Fenster, um sich von dem merkwürdigen Vorgang zu überzeugen. Er hielt die Karte gegen das Sonnenlicht und starrte verblüfft auf ganz andere Linien, die fast unsichtbar eingezeichnet waren. Aus den wirren Mustern waren erkennbare Striche und
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Linien geworden, und der Seewolf glaubte auch deutlich einen Landstrich zu erkennen, der ihm zwar nicht vertraut war, der sich aber deutlich auf der Karte abhob. Er ließ die Karte wieder sinken und war erstaunt. Die Linien verschwanden wie von Geisterhand ausradiert. Sie ließen sich auch bei genauem Drauf blicken nicht erkennen. „Das ist ja eine tolle Überraschung“, sagte er. „Wer hätte das wohl erwartet?“ Sofort wurde er von allen umringt, und jeder wollte das Wunder mit eigenen Augen sehen. Ein winziger Teil des Geheimnisses schien jetzt gelöst, und das versetzte sie alle in verständliche Aufregung. „Eine Zauberkarte“, sagte der kleine Philip andächtig. Ja, es schien fast eine Zauberkarte zu sein, denn so etwas hatte noch keiner von ihnen gesehen. 3. Ein paar Lidschläge vergingen, während sie staunend auf die Karte blickten, die je nach Sonnenlicht ihr Geheimnis preisgab oder es für sich behielt. „Philip, du gehst an Deck und holst den Kutscher und Dan. Nein“, berichtigte sich Hasard gleich darauf, „ich nehme die Karte mit. An Deck ist das Licht noch besser als hier unten.“ Zusammen mit dem Profos verließ er die Kammer. Die Zwillinge blieben da, auf dem Boden hockend und die vier anderen Karten mit den Augen verschlingend. Als Hasard das Achterdeck erreichte, schien noch immer die Sonne. „Kutscher!“ brüllte der Profos, als der Koch und Feldscher gerade seinen Abfallkübel ausschüttete. Er winkte ihn mit dem Finger herbei, aber der Kutscher zog ein mißtrauisches Gesicht und lehnte kopfschüttelnd ab. Er ahnte, was ihm bevorstand, wenn er dem Profos in die Fänge geriet, und so zog er es vor, lieber heimlich, still und leise zu verschwinden. „Kutscher aufs Achterdeck!“ brüllte Carberry. „Wenn du nicht gleich antrabst,
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zieh ich dir die ...“ „... Haut in Streifen“, sagte Dan, aber Ed überhörte es, als sei nichts gewesen. „... Hammelbeine lang!“ Der Kutscher schlich mit mißtrauischem Gesicht über die Kuhl und dann halb geduckt den Niedergang hoch, wo Ed ihn grinsend erwartete und sagte: „Keine Angst, du mickriger Portionenschwenker. Ich werde dich doch nicht schlagen, du brichst doch auf den Yard dreimal durch, wenn ich einmal hinlange.“ Hasard weihte die Männer in seinen Fund ein. „Bei dieser Karte habe ich etwas Eigenartiges festgestellt. Seht sie euch einmal an, vielleicht findet ihr es heraus. Aber haltet sie gut fest, denn wenn sie über Bord geht, haben wir etwas sehr Wertvolles verloren. Fang an, Ben!“ Ben nahm die Karte, betrachtete sie lange, drehte sie auch um und reichte sie dann an Dan O’Flynn weiter. „Merkwürdige Linien sind darauf“, sagte er, „aber sonst kann ich nichts feststellen.“ Auch Dan O’Flynn fand es nicht heraus, und schließlich wurde die geheimnisvolle Karte dem Kutscher gereicht. „Was versteht denn der Kutscher von Seeoder Landkarten“, sagte Dan grinsend. Die Karte ging weiter reihum, als auch der Kutscher nichts Besonderes an ihr entdeckt hatte. Schließlich strömten immer mehr Seewölfe auf dem Achterdeck zusammen und sahen die Karte an. Aber niemand fand das Geheimnis heraus, weder der ehemalige Schmied von Arwenack noch Smoky, Ferris Tucker, Batuti oder Stenmark. Auch der Moses Bill mühte sich vergeblich damit ab. „Ich habe es auch nur zufällig entdeckt“, sagte Hasard. „Haltet die Karte jetzt einmal gegen das Sonnenlicht.“ Erstaunte Rufe wurden laut, und alle drängten sich um Ben, der fassungslos die geordnete Übersicht auf der Karte erkannte. „Das ist ja ein Ding!“ sagte er überrascht. „Da ist ja ein Kontinent zu erkennen, oder was soll das darstellen?“
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„Auf zwei Seiten Land“, sagte Dan O’Flynn. „Dazwischen scheint es einen riesigen Wassergraben zu geben, ungefähr so wie der Ärmelkanal. Kann aber auch breiter sein, wir kennen ja nicht den Maßstab dieser Karte.“ „Jedenfalls handelt es sich um eine wichtige Seeverbindung“, stellte Hasard fest. „Sonst hätte man das nicht so geheimnisvoll aufgezogen.“ „Diese Linien können auch zu versteckten Schätzen führen“, meinte Big Old Shane bedächtig. „Frühere Piraten können sie angelegt haben, und damit kein anderer sie findet, hat man sich eben dieser geheimnisvollen Methode bedient.“ „Jetzt haben wir also zwei Möglichkeiten. Aber wir haben noch vier andere Karten, und irgendwie hängt das meiner Meinung nach doch alles zusammen“, sagte der Seewolf. Dann war der Kutscher an der Reihe, und der lächelte und erklärte in aller Gelassenheit: „Ich kenne, das von Doc Freemont her. Wenn man Nachrichten austauschen wollte, dann hat man sich dieser Geheimschrift bedient, damit kein anderer es lesen konnte. Dadurch, daß diese Karte schon ziemlich alt ist, wie ich vermute, ist die Geheimschrift jetzt zu einem Teil sichtbar geworden. Sonst sieht man sie nämlich nicht.“ „Das heißt also“, faßte Hasard zusammen, „es gibt eine Möglichkeit, die Geheimschrift sichtbar werden zu lassen.“ „Ja, die gibt es“, behauptete der Kutscher. „Und du Stint willst uns jetzt vorerzählen, daß du das natürlich kannst!“ rief der Profos dazwischen. „Ja, das kann ich, Mister Carberry, auch wenn du das nicht glaubst. Diese Karte ist nämlich mit Zitronensaft geschrieben worden, und der verschwindet fast spurlos im Papier.“ Die Seewölfe sahen den Kutscher ungläubig an, und selbst der Seewolf hob fragend die Augenbrauen. „Mit Zitronensaft?“ fragte Ed gedehnt. „Nicht vielleicht mit Dattelmus oder Pflaumenmarmelade?“
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„Leider kann ich über deine reichlich naiven Bemerkungen nicht lachen“, sagte der Kutscher würdevoll. „Aber ich werde das gelegentlich nachholen, falls du dich je ändern solltest.“ „Hört mit der Flachserei auf!“ befahl Hasard. „Laßt den Kutscher reden, der versteht davon mehr als wir alle zusammen. Wie ist das nun, Kutscher, welche Möglichkeiten hast du?“ „Es gibt nur eine Möglichkeit, Sir. Man muß die Karte über eine kleine Flamme halten. Dadurch werden die Linien dunkelbraun und heben sich sehr deutlich von dem Papier ab.“ „Die Karte könnte dabei Feuer fangen“, sagte Hasard. „Nicht, wenn man es ganz vorsichtig anfängt, Sir. Ich würde mir das zutrauen, und ich verbürge mich dafür, daß der Karte nicht das Geringste passiert. Ich bin auch davon überzeugt, daß sich noch weitaus mehr Positionen auf der Karte befinden, man kann sie nur noch nicht sehen.“ Hasard war von dieser Aussicht begeistert. Anscheinend wurde die Karte immer wertvoller. Und wenn dem Kutscher das gelang, was er behauptete, dann waren sie dem Rätsel ein ganzes Stück näher. Alle blickten jetzt fast respektvoll auf den Mann ohne Namen, auf den schmalbrüstigen Koch, dessen Kenntnisse sich nicht nur im Kochen und dem Verarzten von Wunden erschöpften, sondern der auch noch davon etwas verstand, was den anderen ein Buch mit sieben Siegeln blieb. Geheimschrift! Geheimtinte! Das war etwas, dachten die meisten. Der Kutscher war schon fast so etwas wie ein Alchimist oder zumindest ein Adept. Vielleicht konnte er sogar Gold herstellen. „Das können wir hier an Deck aber nicht tun, Sir“, sagte der Mann, der sich selbst nur der Kutscher nannte. Mittelgroß und dunkelblond, mit blauen Augen, stand er da und ließ die Blicke gelassen über sich ergehen, ein Mann, der mehr war, als er darstellte, der auch distinguierter wirkte als die anderen.
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Die Jahre bei Doc Freemont in Plymouth hatten seinen Verstand geschärft, die richtigen Seebeine waren ihm auf der „Isabella“ gewachsen. Ohne den Kutscher war die Crew eigentlich nur die Hälfte wert, dachten sie, und selbst der grobklotzige und rauhbautzige Profos beschloß, ihn nicht mehr zu ärgern - falls sich das vermeiden ließ. „Dann gehen wir in die Messe“, sagte Hasard. „Aber nicht alle bitte, nur ein paar. Ihr anderen kriegt das Ergebnis später ohnehin zu sehen.“ Der Kutscher holte eine Kerze aus Bienenwachs, die nicht so stark rußte und mit gleichbleibender ruhiger Flamme brannte. In der Messe, dem Aufenthaltsraum bei kaltem oder schlechtem Wetter, den Ferris Tucker gebaut hatte, wurde die Kerze auf die Back gestellt. Die Karte nahm der Kutscher in die Hand, und dann begann das geheimnisvolle Ritual. „Tretet mal etwas zurück, damit euer Atem nicht immer die Flamme flackern läßt“, sagte der Kutscher und war erstaunt, daß die Kerle sofort artig und ohne zu murren gehorchten. Dann hielt er die Flamme ganz vorsichtig an die Karte, ließ aber gut zwei Handbreiten Abstand zwischen Flamme und Papier. Die anderen standen neugierig und erwartungsvoll herum. „Da bin ich aber gespannt“, sagte Ferris Tucker, „ob das nicht nur irgendwelche Possen sind. So richtig bin ich davon noch nicht überzeugt. Man sieht ja noch gar nichts.“ „Wart’s ab!“ riet der Kutscher. „Das muß alles schön langsam und ohne große Aufregung erledigt werden, sonst geht nur noch etwas dabei kaputt. Es dauert noch ein Weilchen.“ Immer wieder schwenkte er das Papier vorsichtig über die Flamme. Dann nahm er die Kerze in die Hand und fuhr vorsichtig an den Rändern entlang. Nach einer Weile begann auch Hasard an dem Erfolg zu zweifeln, und sein Blick wurde immer skeptischer.
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„Da tut sich nichts, aber rein gar nichts“, bemerkte Dan. „Du hast dich vielleicht doch geirrt, Kutscher.“ Der Kutscher gab keine Antwort. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er das Papier, das sich immer noch nicht veränderte. Neben ihm hatte Big Old Shane die mächtigen Arme auf der Brust verschränkt. Auch in seinem Blick lag Neugier, und er zuckte zusammen, als der Kutscher plötzlich „Aha!“ ausrief. In den unmöglichsten Positionen standen die meisten da. Dan verrenkte sich fast den Hals und schielte halb unter der Back hervor nach oben. Tucker blickte dem Kutscher über die Schulter, und der Profos Edwin Carberry blickte mißtrauisch mal auf die Kerzenflamme, dann wieder über das Papier. „Verseng bloß die Karte nicht“, glaubte er bemerken zu müssen. „Wir haben nur die eine!“ Der Blick, den der Kutscher Ed aus blauen Augen zuwarf, ging dem Profos durch und durch. Da lag alle Überlegenheit dieser Welt drin, und dieser Blick drückte zumindest Rübenschwein, Kanalratte und triefäugige Kakerlake aus, wenn Carberry das richtig deutete, und so zog er leicht beschämt das Genick ein, getroffen von der überlegenen Würde, die der Kutscher ausstrahlte. „Es klappt!“ rief er und drehte die Karte um, damit alle sehen konnten, was passiert war. Ein bewunderndes Raunen ging durch die Reihe. Hasard beugte sich vor und sah sich die Karte an. An den Rändern traten die braunen Linien scharf und klar zutage, zur Mitte hin wurden sie erkennbar, waren aber noch nicht deutlich genug zu sehen. Jetzt ging das Rätselraten los, um welche Küste es sich wohl handeln mochte, und die Meinungen gingen weit auseinander. Dan O’Flynn, der die Seekarten immer vervollständigt hatte und gut darüber Bescheid wußte, schüttelte den Kopf. „Wir sind da jedenfalls noch nicht gewesen“, sagte er bestimmt. „Aber wir
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könnten sie noch einmal mit den spanischen Roteiros vergleichen. Mich irritiert dieser Wasserstreifen, der so aussieht, als beginne er erst weit hinter dem Festland.“ Hasard starrte die Karte an. Immer mehr Linien wurden sichtbar, immer schärfer zeichneten sich die Konturen ab. Seine Lippen wurden schmal, sein Blick immer nachdenklicher, und er konnte es kaum erwarten das Gesamtbild zu sehen. Das Papier wölbte sich leicht und begann an einigen Stellen gelblich zu werden, und der Kutscher ging mit der Flamme immer behutsamer um, bis er die Kerze wegstellte und die Karte auf der Back ausbreitete. Ein paar Lidschläge lang brachte keiner einen Ton heraus. Alle starrten gebannt auf die Karte, die ihr Geheimnis jetzt zu einem großen Teil preisgegeben hatte. Die Zeichnungen ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Es blieb nur noch die Frage offen, um welches Land es sich handelte. Das war allerdings fast unmöglich, es genau zu bezeichnen. „Hier sind Kanäle eingezeichnet, das ist einwandfrei zu erkennen“, sagte der Seewolf heiser. „Diese Kanäle durchziehen ein unbekanntes Land, und einer von ihnen führt in diesen Wasserstreifen, wie Dan ihn bezeichnet hat. Männer, ich werde das Gefühl nicht los, daß wir vor einer phantastischen Entdeckung stehen.“ Ja, so sah es fast aus, und jetzt strengte sich jeder an, auch das letzte Rätsel noch zu lösen. Doch die Karte gab ihr letztes Geheimnis noch nicht preis, obwohl die Seewölfe danach fieberten. Hasard spürte deutlich, daß sie etwas außerordentlich Wichtiges entdeckt hatten. Vielleicht einen neuen Seeweg? Nein, dachte er enttäuscht, als er die Linie immer weiter verfolgte. Sie ging in einen See über, aber aus diesem See wanderte sie wieder heraus und mündete schließlich in diesem geheimnisvollen Gewässer. „Das scheinen Handelswege zu sein“, sagte er. „Man hat ein paar Flüsse durch Kanäle miteinander verbunden, weitere Kanäle in einen See geleitet, von dem aus es dann - wieder weiterging. Diese Karte
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läßt mir keine Ruhe. Wir müssen unbedingt jemanden finden, der in der Lage ist, diese Schriftzeichen zu enträtseln. Das ist weder Persisch noch Türkisch, das ist etwas anderes. Hasard und Philip haben das auch noch nicht herausgefunden, sie haben lediglich ein paar Wörter erkannt.“ Die Aufregung legte sich keineswegs, und was ihnen am meisten zu raten aufgab, war der Maßstab der Karte. Auch ein paar ganz klein eingezeichnete Figuren blieben ein Rätsel. Niemand wußte, wer oder wen sie darstellten. „Wenn es sich um einen Teil Ägyptens handelt“, sagte der Seewolf, „dann kriegen wir auch alles heraus, denn wir treffen bestimmt auf Sarazenen, die das wissen. Und eine fürstliche Belohnung wird die Erinnerung ganz schnell wieder auffrischen, davon bin ich überzeugt. Es wird nicht mehr lange dauern.“ Ein letzter langer Blick wurde auf die Karte geworfen, die ihnen allen soviel Kopfzerbrechen bereitete, ehe Hasard sie vorsichtig zusammenrollte. Er schlug dem Kutscher mit der Hand anerkennend auf die Schulter. „Du hast den größten Teil dieses Rätsels gelöst“, sagte er. „Ohne dich hätten wir mit der Karte nichts anfangen können.“ „Leider hilft uns das nicht viel weiter“, sagte der Kutscher bedauernd. „Wir kriegen es heraus, verlaß dich darauf, Kutscher. Den Anfang haben wir, und ich gebe nicht eher Ruhe, bis ich alles weiß. Wir werden uns künftig ganz auf diese Karten konzentrieren, denn da scheint es nicht nur Schätze und seltsame Bauwerke zu geben, da gibt es auch neue Erkenntnisse, die uns helfen werden, unser Weltbild etwas mehr abzurunden. Und darauf bin ich gespannt, denn ich habe da eine ganz bestimmte Vermutung; über die ich jetzt aber noch nicht sprechen möchte, denn sie ist einfach zu phantastisch, und es ist, wie gesagt, leider auch nur eine Vermutung.“ „Vielleicht sollten wir alle vermuten“, meinte Ed. „Wenn du deine Vermutung preisgibst, Sir, dann kriegen wir ein Bild.“
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Aber aus dem Seewolf war nichts herauszuholen. Hasard gab sich mit Vermutungen nicht zufrieden. Er würde erst dann reden, wenn er konkretere Ergebnisse hatte. Danach ging jeder wieder seiner Beschäftigung nach, und Ferris Tucker reparierte die nun schon zweimal angeschlagenen Wasserfässer, denn bald würden sie die Insel erreichen. Aber die Karte blieb dennoch Gesprächsthema eins an Bord der „Isabella“. Die tollsten Vermutungen wurden von den Seewölfen angestellt, denn jetzt ging das Rätselraten erst richtig los. Jeder wußte immer mehr als der andere, und doch wußte keiner etwas. Alles blieb graue Theorie. 4. Die Sonne schien, es hatte ein wenig aufgebrist, und die See ging mit langer, rollender Dünung. Die Schebecke lief in eine felsige Bucht ein und ging dicht bei den Klippen vor Anker. Hinter den Felsen wurde das Land flacher und wellig. Dort wuchsen Ölbäume und Schirmpinien. „Fiert das Beiboot ab und bringt die Gefangenen zur Höhle“, befahl der Sarazene. „Die anderen gehen an Land und fällen zwei Pinien, damit wir das Schiff sofort wieder aufriggen können. Das muß alles sehr schnell gehen.“ „Eine Pinie genügt“, sagte Muhmad. „Wir haben noch einen abgelagerten Stamm hinter der Höhle liegen. Der kann gleich an Bord geschafft werden.“ „Umso besser“, meinte der Kapitän. „Aber beeilt euch. Wenn wir an dieser Fahrt schon nichts verdient haben, wollen wir wenigstens bei der nächsten eine Menge Gold einstreichen.“ Bei dem Wörtchen Gold wurde sein Blick sehnsüchtig. Er drehte sich um und starrte zurück, wo die Bucht mit dem Minotaurus lag. Sie waren daran vorbeigesegelt, aber
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jetzt war diese Bucht nicht mehr zu sehen, in der die Bezahlung auf sie wartete. Der Sarazene kriegte fast einen Tobsuchtsanfall, wenn er an das Gold und die Perlen dachte, an die silbernen Piasterchen, die er nun doch nicht holen konnte. In einem Anfall blinder und jähzorniger Wut raufte er sich die Haare und trampelte auf den Planken herum. In solchen Augenblicken durfte niemand seinen Weg kreuzen, und so verhielten sich auch alle ruhig und warteten angstvoll ab, bis der jähzornige Anfall vorüber war. Meist ging das ganz schnell, so wie jetzt, denn nachdem der Sarazene ausgiebig geflucht und seine Haare gerauft hatte, beruhigte er sich wieder und hörte mit dem Trampeln auf. Die drei spanischen Frauen und die beiden Männer erschienen an Deck und blinzelten verwirrt in das Sonnenlicht. Dann wanderten ihre Blicke weiter zu den finsteren Gestalten, zu den abenteuerlichen Gesellen, und niemand wußte, was jetzt mit ihnen geschah. Die Spanier sahen zerlumpt und abgerissen aus, aber ihre körperliche Verfassung war gut, und so würden sie auch gute Preise erzielen, überlegte der Kapitän. Sollte er vielleicht doch das Gold holen — sozusagen als Vorschuß? Er kämpfte diesen Gedanken nieder und musterte die Frauen, die ihn verächtlich anblickten. Ihre Gesichter waren noch von kleinen Schrammen gezeichnet, auch ihre Arme wiesen noch blaubraune Flecken auf. Aber das war in ein paar Tagen vergangen. Einer der Spanier schrie den Sarazenen an. „Was sagt er, Achmed?“ fragte er einen finster aussehenden Mann, der die Sprache der Spanier gut beherrschte. „Er sagt, er sei ein spanischer Grande, und er will wissen, was mit ihm und seiner Frau geschieht. Er fragt, wann sie endlich freigelassen werden?“ „Sag ihm, er wird überhaupt nicht freigelassen. Er wird auf dem weißen Sklavenmarkt verschachert, der Christenhund.“ Achmed übersetzte das, und kaum hatte er die Worte heraus, als sich der geschwächte
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Spanier mit einem Wutschrei auf den Sarazenen stürzen wollte. Der Kapitän hatte seinen versilberten Krummdolch gezogen. Muhmad zog seinen Schiffshauer und setzte ihn der einen Spanierin an die Brust. Seinem Gesicht sah man an, daß er sofort zum Töten bereit war. Da gab sich der Spanier geschlagen und ließ sich mit den anderen willenlos in das Boot führen. Zum Land waren es nur ein paar Yards, und so wurden die Spanier unter scharfer Bewachung ausgeladen und mußten am felsigen Strand Aufstellung nehmen. Der Sarazene ging voran, denn nur er hatte den Schlüssel für das Felsenverlies. Die anderen Männer folgten ein Stück dem gewundenen Pfad. Dann bogen sie nach links ab, um die Pinie für den Mast zu fällen und die andere zu holen. Ein paar Yards ging es über Steine und Geröll, durch einen engen Felsenschlauch. Ein riesiger Findling wurde umgangen, dahinter befand sich das Felsengitter. Die rostigen Stäbe waren tief im Felsen verankert, eine geschmiedete Kette mit einem Schloß hielt den engen Durchlaß noch einmal ganz besonders fest. Der Sarazene schloß auf, drehte das Gitter zur Seite und marschierte als erster hinein. Es war eine Höhle im Felsen, ein Gang von knapp zwanzig Yards Länge und vier Yards Breite, der künstlich erweitert worden war. Daß die Gefangenen hier jemals ausbrechen konnten, war so gut wie unwahrscheinlich. Von See her war die Höhle nicht einsehbar, und die Inselbewohner, die genau wußten, was hier vorging, hüteten sich, die Nähe der Felsenhöhle zu suchen, denn Alis Zorn war überall gefürchtet. Am Ende der Höhle befand sich eine breite Grotte. In die Felswände waren eiserne Ringe eingelassen, von manchen hingen noch die rostigen Ketten hinunter. Der Sarazene ging zu einer dickbäuchigen Wassertonne, schöpfte mit der Hand Wasser und kostete es.
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„Gut und frisch“, stellte er fest. Er kontrollierte ein kleines Faß mit Schmalzfleisch, prüfte, ob es ranzig roch, und ging dann weiter zu einem anderen Faß, in dem sich harter Zwieback befand. Inzwischen hatten die Frauen angstvoll an der hinteren Felswand Aufstellung genommen. Sie waren erstaunt, daß man sie nicht fesselte oder an den Ringen festband. Sie konnten sich in der Grotte und dem Gang der Höhle frei bewegen, genau wie die Männer auch. „Sag ihnen, sie sollen nicht versuchen, auszubrechen, Achmed“, befahl der Kapitän. „In den Felsen sitzen Tag und Nacht Wachen, und die hören jedes Geräusch. Wenn an dem Gitter nur gerüttelt wird, hätten sie Auftrag, in den Gang mit Musketen zu feuern.“ „Bleiben denn Wachen hier?“ fragte Achmed. „Nein, du Dummkopf. Das soll sie nur einschüchtern. Wir können hier keine Wachen zurücklassen, wir brauchen jeden Mann.“ Achmed übersetzte das, aber er erhielt von den Spaniern keine Antwort. Sie vermuteten eine neue Teufelei der Araber und fügten sich in ihr Schicksal. „Fünf Leute“, überschlug der Sarazene, „der Proviant dürfte für knapp eine Woche reichen. Aber solange dauert es bestimmt nicht, bis Ali Rasul die Gefangenen holt. Gehen wir, jetzt wird zuallererst das Schiff instandgesetzt.“ Die Gefangenen standen immer noch an der Wand. Verängstigt, abgerissen und gedemütigt gingen sie einem grauenhaften Schicksal entgegen. Aber sie muckten nicht auf, sie fürchteten die unberechenbaren Araber zu sehr. außerdem konnten sie gegen diese Übermacht gar nichts ausrichten. Der Sarazene legte die Kette vor, versperrte das Schloß und überprüfte alles noch einmal sorgfältig. Nein, hier konnten sie nicht ausbrechen, sie hatten auch keinerlei Werkzeug, mit dem sie einen Ausbruch bewerkstelligen konnten. Und mit bloßer Kraft brach keiner die eisernen Stäbe heraus.
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Keiner warf mehr einen Blick zurück, als sie den Weg zurückgingen. Dort trafen sie auf die Männer, die die beiden Ersatzmasten bereits bis fast zum Strand geschleppt hatten. Der Sarazene warf wieder einen Blick zu seiner über alles geliebten Bucht, und vor seinem geistigen Auge tauchten erneut Perlen, Piaster und Gold auf. Er seufzte leise, wenn er daran dachte. Von hier aus hatte man einen weiten Ausblick über das Meer. Der Sarazene war so in seine geldgierigen Gedanken versunken, daß ihm sogar das kleine weiße Etwas am Horizont entging. Erst als er sich bedauernd abwandte, wurde sein Blick wieder klar, und er blieb stehen, als hätte ihn der Blitz getroffen. „Ein Schiff!“ rief er laut, und deutete mit der ausgestreckten Hand zur Kimm, wo kaum sichtbar ein Schiff auftauchte. Es hielt genau Kurs auf die Insel, und es war auch ganz sicher kein Araber, Syrer oder Libanese. Diese Bauart, das ließ sich nach einer Weile deutlich erkennen, war europäisch, das Schiff wurde also von ungläubigen Giaurs gesegelt. „Allah hat ein Einsehen!“ schrie der Kapitän und warf sich mit einer theatralischen Geste auf die Knie. „Ein Wunder ist geschehen! Der Christenhund wird die Insel anlaufen, und wenn wir sie haben, können wir auch das Gold holen, dann haben wir es uns ehrlich verdient.“ Dann geriet Bewegung in die Gestalten, als der Kapitän losrannte. „Vergeßt das Aufriggen!“ rief er über die Schulter zurück. „Versteckt die Masten oder bringt sie schnell an Bord. Dann bewaffnet euch und begebt euch in die Kammern. Unser Schiff sieht gerade richtig aus, und die Hunde werden denken, es sei seit langem verlassen. Jeder geht sofort auf seinen Posten, niemand darf sich mehr an Deck sehen lassen!“ Wie die Wilden pullten sie an Bord zurück,- denn nun begann ein Spiel, wie sie es immer getrieben hatten.
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Das Beiboot wurde an Bord genommen. Der Sarazene ließ seine Männer bewaffnen und in die geheimen Verstecke kriechen. So hatte es beim letzten Mal auch geklappt. In den unsichtbaren Kammern und Hohlräumen des Schiffes verbargen sie sich schwerbewaffnet und warteten ab. Auch diesen Giaur würde die Neugier packen, wenn sie das vermeintlich verlassene oder wracke Schiff sahen, und da jeder glaubte, bei dem anderen immer etwas requirieren zu können, würde die menschliche Natur siegen, und die Kerle würden nachsehen, was es da vielleicht zu holen gab. Sie standen dann überall vor leeren Räumen, und das Schiff erweckte den Eindruck, als sei es tatsächlich verlassen worden. Waren genug Fremde an Bord, dann flogen überall die Geheimtüren auf, und mehr als siebzig Mann stürzten sich brüllend und säbelschwingend auf die Überrumpelten. Der Sarazene rieb sich die Hände und war zufrieden. Aber die Sache hatte noch einen kleinen Haken. Es war nicht absolut sicher, ob die Ungläubigen das Schiff auch wirklich sahen. Es konnte sein, daß sie in großem Abstand an der Insel vorbeisegelten. Aber er verließ sich auf sein Glück. Wenn man einmal Pech gehabt hatte, dann hatte man beim nächsten Mal eben wieder Glück. Das war seine Devise, und nach der lebte er. Als letzter kroch er in das Versteck, nachdem er kontrolliert hatte, ob auch alles unauffällig aussah. Niemand würde die Falle bemerken. Die Wände in der Kapitänskammer waren mit Arabesken und Ornamenten verziert, und es sah wirklich nicht so aus, als würden sie sich plötzlich öffnen. Bisher hatte niemand die doppelten Böden, Schotts und Wände bemerkt. Die Falle war aufgebaut. Jetzt brauchten die Giaurs nur noch die Schebecke zu bemerken, dann lief alles wie von selbst.
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Der Sarazene grinste erfreut, als er hinter der Wand verschwand und unsichtbar wurde. * Seit einer halben Stunde schon war die Insel gesichtet worden, die jetzt zwei Strich an Steuerbord lag. Auf der Kuhl waren Ferris Tucker, Al Conroy und der blonde Schwede Stenmark damit beschäftigt, den chinesischen Brandsatz kunstvoll zu zerlegen, um ihn nachbauen zu können. Ob das Experiment gelang, war fraglich, denn die Zutaten zu diesem merkwürdigen Schießpulver waren nur teilweise bekannt. Zunächst sahen sie sich enttäuscht an, denn beim Aufwickeln erschien Papier, das mit Leim fest verklebt war. Der Kutscher gesellte sich zu der Gruppe, denn von der Alchimie verstand er auch ein wenig, wie er bescheiden bemerkte. Ein Pfropfen in dem geklebten Papier löste sich und kullerte über die Planken. Als Ferris Tucker ihn vorsichtig aus dem Papier schälte, hielt er winzige schwarze und gelbe Kugeln in den Händen. „Kohle und Schwefel“, sagte Al Conroy, der Waffen- und Stückmeister der „Isabella“ fachmännisch. „Salpeter und Schießpulver gehören ebenfalls dazu“, bemerkte der Kutscher, „und weil das Zeug so leuchtet, hat man ganz sicher auch Phosphor verwendet. Das könnten die winzigen Kugeln sein, und damit haben wir auch eine Erklärung, warum das Zeug nicht zu löschen ist und immer weiter brennt, auch wenn man Wasser in rauhen Mengen darüber gießt.“ „Es handelt sich nur um die Zusammensetzung“, sagte Al Conroy. „Das ist das Geheimnis, aus wie vielen Teilen diese Masse zusammengesetzt ist. Aber mit guter Ausdauer werden wir auch das herausfinden und vielleicht eigene Brandsätze entwickeln. Leider haben wir weder Salpeter noch Phosphor an Bord, aber das können wir uns an Land in irgendwelchen Hexenküchen sicher besorgen.“
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In einem Messingbecken wurde die Brandprobe unternommen und ein paar der winzigen Kugeln angezündet. Sie brannten mit der typischen Rauchentwicklung leicht bläulich-grün, und als Ferris etwas Wasser aus der Pütz dazugoß, zischte das Zeug nur, stieg nach oben und brannte auf dem Wasser weiter. „Weißt du, was mir vorschwebt, Al“, sagte Ferris. „Einen Brandsatz zu bauen, der zehn- oder zwanzigmal so stark ist wie die chinesische Ausführung. Das müßte doch gehen, man muß eben nur die Mengen vergrößern.“ Al Conroy hob die Schultern. „Ich weiß nicht, ob es da nicht irgendwo eine Grenze gibt“, sagte er. „Kann sein, daß so ein Ding durch sein Gewicht gar nicht fliegen und an Deck des eigenen Schiffes krepiert. Das können wir nur an Land herausfinden. Aber wir werden weiter experimentieren. Ich glaube, wir kriegen das noch raus.“ „Man könnte damit Feuersperren im Wasser legen“, meinte Ferris nachdenklich. „Wenn man beispielsweise von einem ganzen Pulk von Schiffen angegriffen oder verfolgt wird.“ Immer wieder war es der rothaarige Schiffszimmermann, der tüftelte und sich etwas Neues einfallen ließ. Eines Tages, das wußte Al Conroy, verfügten sie über die Teufelsdinger — dank Ferris’ ständiger Grübelei und Experimente. Das Zeug wurde von Bill und Al Conroy sorgfältig wieder eingepackt und in die Pulverkammer gebracht. Die Anregung dazu war gegeben, und damit die Idee geboren. Aber jetzt ging es auf die Stationen, denn die „Isabella“ hatte sich der Insel rasch genähert und segelte an der Nordseite dicht unter Land. Der Mast war mit zwei Ausgucks besetzt. In einem stand der riesenhafte Gambianeger Batuti, im anderen Ausguck befand sich der schwarzhaarige und verwegen aussehende Blacky. Sie hielten Ausschau nach kleinen Flüssen oder Bächen, die vom Landesinnern her ins Meer strömten.
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Die Küste war teils felsig, von vielen Buchten eingeschnitten, teils aber auch wellig und fast eben. Zwischen den Felsenformationen befanden sich geradezu ideale Buchten. Etwas weiter im Land gab es Wälder mit Schirmpinien, wilde Olivenhaine und Ölbäume. Der Winter kam spät zu dieser Insel, denn das Klima war angenehm mild. Mehr als eine Stunde lang segelte die „Isabella“ an der Nordküste entlang, und auf Carberrys fragenden Blick antworteten die beiden Ausgucks lediglich mit einem bedauernden Kopfschütteln. „Hier muß es doch Wasser geben!“ rief Ed dem Gambianeger zu. „Woher stammt sonst das viele Grün?“ „Vielleicht von viel Regen“, meinte Batuti und hielt weiter Ausschau, aber voraus wuchteten jetzt Felsen aus dem Wasser, und ein Teil der Landschaft entzog sich ihren Blicken. Dann ertönte doch noch der erlösende Ruf von oben. „Ein See, aus dem ein Bach ins Meer mündet!“ meldete Blacky. „Halbe Meile voraus“, bekräftigte Batuti. „Aber nur kleines Wasser, ganz schmal.“ „Na, für uns wird’s wohl reichen“, sagte Carberry grinsend. „Einer von euch kann wieder abentern!“ Batuti blieb freiwillig oben, dafür stand etwas später Blacky auf den Planken der Kuhl. „Der See liegt weit im Landesinnern“, meldete er. „Dort scheint auch eine alte oder zerstörte Stadt zu liegen. Säulen stehen da inmitten eingestürzter Häuser. Vielleicht hat da mal ein Erdbeben stattgefunden, oder die Stadt ist uralt. Der Bach läuft direkt in eine Bucht, in der wir ankern können.“ „Na fein“, sagte Ed. „Sonst scheint auf der Insel ja nicht viel los zu sein. Vielleicht können wir uns die Ruinen später mal ansehen. Der Kutscher hat gesagt, hier gäbe es berühmte historische Stätten.“ „Was der Kutscher nicht alles weiß“, staunte Blacky. „Der ist so eine Art Weisheitsbuch auf Beinen.“ Die Fahrt der „Isabella“ ging rapide
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zurück, als ein paar Segel aufgegeit wurden. Der Profos übersah sogar großzügig eine Windbeule im Gei, denn lange würden sie hier ja nicht bleiben, so glaubte er wenigstens. Fässer und Tragegestelle lagen bereit. Die großen Fässer, die sich in der Piek befanden und nicht transportiert werden konnten, hatte Ferris Tucker wieder repariert. Hasard gab dem Rudergänger Pete Ballie ein Zeichen. „Hart Steuerbord, Pete. Dort vorn, gleich hinter der Felsengruppe, gehen wir vor Anker.“ Smoky sang unterdessen die Tiefe aus. Unter dem Kiel hatte die „Isabella“ mehr als zwölf Faden Wasser fast gleichbleibend, und auch als sie näher heransegelten, änderte sich die Wassertiefe nur ganz unmerklich und blieb bei elf Faden konstant. „Fallen Anker!“ Der Anker klatschte ins Wasser, Trosse wurde nachgesteckt, der Bug schwang leicht herum, und etwas später lag die „Isabella“ fast bewegungslos in der Bucht. Die Bucht war wie eine kleine Festung, links und rechts von Felsen umgeben. Ein kleines Stück Strand zog sich längs den Felsen dahin. Zwischen dem Gestein wuchsen verkrüppelte Pinien, die der Wind hart gebeutelt hatte. Von See her brachen sich Wellen klatschend an einem großen Felsen. Der Bach lief aus der Felsengruppe gluckernd über vorspringendes Gestein ins Meer und hatte sich seinen Weg durch den Strand gebahnt. Zum Wasserfassen war die Stelle ideal, denn sie ersparte lange Umwege und schwere Schlepperei. Man konnte die Fässer auf den Stein stellen und in aller Ruhe abwarten, bis sie voll waren und in die großen an Bord umgeschüttet wurden. Das Beiboot war abgefiert worden, und die Fässer mit den Tragegestellen wurden ins Boot gereicht. Fast alle wollten sich mal die Beine vertreten und drängten sich schon am Schanzkleid zum Abentern. Ganz
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besonders der Kutscher wollte, wie er sagte, historischen Boden betreten, einmal die Felsen erklettern und einen Rundblick über die Trümmer riskieren. „Es genügt, wenn drei, vier Mann an Bord bleiben“, sagte Hasard. „Hier gibt es ja nun wirklich nicht viel zu sehen, und wir werden hier auch nicht lange bleiben.“ „Und die Ruinen, Sir?“ fragte der Kutscher. „Ich wollte ganz gern mal dort hinauf, denn diese Insel hat eine sehr bedeutungsvolle und glorreiche Vergangenheit. Sie ist in Büchern beschrieben ...“ „... aus denen dir Doc Freemont immer vorgelesen hat“, sagte Hasard lächelnd. „Ich habe sie mir heimlich ausgeliehen, Sir“, sagte der Kutscher verschämt. „Wenn der Doc nicht da war natürlich.“ „Na gut, sieh dir alles an. Wir könnten uns auch die Zeit nehmen und den Ruinen einen Besuch abstatten, wenn du so versessen darauf bist.“ Der Seewolf warf dem Kutscher einen Seitenblick zu und staunte wieder einmal mehr über diesen Mann. Obwohl er ihn nun schon so lange kannte, wartete der Kutscher immer wieder mit Neuigkeiten auf und verstand etwas von Sachen, von denen die meisten anderen noch nie etwas gehört hatten. Das Boot legte ab, besetzt mit Hasard, dem Kutscher, den Zwillingen, Carberry, Ferris Tucker, Gary Andrews, Big Shane und Matt Davies. Ein paar andere wollten gleich folgen. Der Hitzkopf Luke Morgan blieb freiwillig zurück, denn seine Verletzungen waren noch nicht auskuriert, und er konnte sich nur sehr umständlich bewegen. Am Strand wurden die Wasserfässer ausgeladen, und das Boot fuhr wieder zurück, um weitere Seewölfe zu holen. Die ersten Wasserfässer wurden unter Gebrüll und Gejohle unter das plätschernde Rinnsal gestellt. Das Wasser spritzte nach allen Seiten, aber das empfanden sie alle nur als angenehm, und so ließen sie sich berieseln und warteten darauf, daß das erste Faß voll wurde.
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Da schreckte sie die laute Stimme des Kutschers auf. Fassungslos brüllte er: „Seht mal da drüben! Dort, an dem Felsen!“ 5. Schlagartig wurde es still. Die Blicke der Seewölfe wandten sich den Felsen zu. Die weiteren Worte blieben ihnen im Halse stecken, denn an der Felswand prangte ein merkwürdiges Gebilde. Hasard und Gary Andrews waren die ersten, die davorstanden. Der Seewolf streckte die Hand aus und zeigte auf das befremdlich wirkende Bild. Ein großer Kreis war von einem unbekannten Künstler in den Fels geschlagen worden, und in diesem Kreis war eine Figur zu sehen, die auf die fassungslosen Männer schockierend wirkte. Diese Figur war abstoßend und anziehend zugleich, und das Bildnis ergab scheinbar keinen Sinn. Es stellte einen menschlichen Körper dar, aber auf den Schultern befand sich der Kopf eines Stieres mit Hörnern. Das Stierfell bedeckte einen Teil des Rückens und ging in einen langen Kuhschwanz über. Die Gestalt stand geduckt da, als wolle sie die Betrachter mit dem fürchterlichen Schädel aufspießen oder rammen. Die meisten sahen fast angewidert auf das Bildnis, bis auf den Kutscher, der es andächtig anblickte. „So was Blödes“, sagte Matt Davies. „Wo hat die Welt denn schon einen Kerl mit einem Ochsenschädel gesehen? Oder einen Ochsenkopf mit einem Menschenkörper. Der Bildhauer war wohl volltrunken.“ „Vielleicht hat er sich den Schädel nur aufgesetzt, um damit andere zu erschrecken wie die Medizinmänner“, meinte Gary Andrews. Der Kutscher wandte sich kopfschüttelnd um und zeigte sich indigniert. „Wenn man euch so hört“, sagte er, „dann muß man sich in Grund und Boden schämen. Volltrunkener Bildhauer, Ochsenschädel. Ihr Kulturbanausen zieht
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immer alles ins Lächerliche. Dieses Werk hier stellt Asterios dar, den man auch Minotaurus nennt. Das geht auf eine uralte Mythologie zurück, und gerade deshalb ist diese Insel so interessant und voller Geheimnisse. Hier trifft man bei jedem Schritt auf Relikte, die schon ein paar tausend Jahre alt sind.“ „Du kennst die Geschichte der Insel, Kutscher?“ fragte der Seewolf gespannt. „Hast du das alles aus Doc Freemonts Büchern?“ „Ich kenne den größten Teil der Legende“, schränkte der Kutscher ein, „aber er ist sehr interessant. Ihr müßt das Bild mit anderen Augen sehen und es nicht als scheußlich empfinden.“ „Erzähl schon!“ rief der Profos. „Aber tisch uns bloß keine Ammenmärchen auf!“ „Ich kann nur das sagen, was ich darüber gelesen habe. Ob das stimmt oder nicht, ist eine andere Sache. Die alten Legenden berichten es jedenfalls so.“ Auch Hasard ermunterte den Kutscher zum Erzählen, und erst da bequemte sich der schmalbrüstige Mann dazu. „Die Insel Kreta. ist von Legenden umwoben wie von einem Gespinst”, sagte er. „Es heißt, Kreta sei einst unter dem König Minos eine große Seemacht gewesen. Es galt früher aber auch als zurückgebliebenes Land, in dem dorische Landbesitzer ihre Pächter piesackten. Die Insel war außerdem ein Schlupfwinkel für Piraten. Auch Söldner wurden hier ausgebildet, die sich aufs Bogenschießen verstanden.“ „Und wer war der König Minos?“ fragte Ferris Tucker. „Der Sage nach der Sohn des Göttervaters Zeus und der Europa. König Minos erhielt von dem göttlichen Schmied Hephaistos einen eisernen Roboter, der Talos hieß, und der die Aufgabe hatte, alle Fremden von der Insel fernzuhalten. Das tat er auch, indem er mit riesigen Steinen nach ihnen warf.“ „Und was hat das mit dem Stier zu tun?“ fragte Hasard. Der Kutscher mußte ein wenig in seiner Erinnerung kramen und überlegte, aber er
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fand sich schnell zurecht, denn nach den Erzählungen hatte ihn die Insel stark interessiert, und so hatte er auch kaum etwas vergessen. „Der Stier? Um den bat König Minos den Meeresgott Poseidon und versprach auch, den Stier dem Meeresgott zu opfern. Doch der König behielt den Stier und opferte an seiner Stelle einen anderen. Daraufhin nahm Poseidon Rache und zwang die Frau des Königs, Pasiphae hieß sie, glaube ich, sich in den Stier zu verlieben.“ Irgendwo aus den Reihen klang Gelächter auf, und es hörte sich wie Gemecker an. Der Kutscher bedachte die Lacher mit einem eisigen Blick, und der bewirkte, daß das Gelächter augenblicklich verstummte. „Weiter“, sagte Hasard. „Laß dich durch den Unverstand einiger Holzköpfe nicht stören.“ „Nun, die Königin verliebte sich und überredete den attischen Flüchtling Dädalus, eine Verabredung mit dem Stier zu treffen. Dädalus verwandelte sie daraufhin in eine Kuh. Der Meeresgott Poseidon veranlaßte dann den Stier, so wild zu werden, daß König Minos sich an Herakles wenden mußte, um ihn von diesem wilden Tier zu befreien.“ Der Kutscher sah sich wieder um, aber niemand grinste. Natürlich klang die Geschichte höchst unwahrscheinlich, so dachten die meisten, aber sie waren jetzt auch auf das Ende der Erzählung gespannt und ermunterten den Kutscher, weiterzuerzählen. „Pasiphae, die Frau des Königs, gebar dann ein Wesen mit einem Menschenkörper und einem Stierkopf. Das ist Asterios, auch Minotaurus genannt, den ihr hier abgebildet seht. Minos verbannte ihn voller Empörung in das Labyrinth, das Dädalus gebaut hatte, und aus dem der Minotaurus nicht entweichen konnte. Eigentlich ist das die ganze Geschichte, soweit sie das Bild hier betrifft. Später dann führte Minos Krieg gegen die Griechen, weil die einen seiner Söhne getötet hatten. Beim Friedensschluß stellte er die Bedingung, daß ihm jedes Jahr sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge
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übergeben würden, die er dem Minotaurus opfern wollte.“ „Und das hat er getan?“ fragte Big Old Shane gespannt. „Anfangs ja, dann erschien Theseus, der mit Hilfe von Minos Tochter Ariadne den Minotaurus tötete. Mehr weiß ich nicht darüber, aber von dieser Insel aus hat auch Ikarus seinen berühmten Flug unternommen. Jetzt seht ihr das vielleicht ein bißchen anders“, sagte der Kutscher. „Mann, Kutscher, du hast ja die Weisheit mit Löffeln gefressen!“ rief Matt Davies staunend. „Meinst du, an der Geschichte sei auch ein Körnchen Wahrheit dran?“ „Das weiß ich nicht. Früher gab es oft solche Wunderdinge, und ein kleiner Teil wird schon stimmen.“ Die Männer drängten sich jetzt um das Bildnis und betrachteten es tatsächlich mit anderen Augen, seit sie die Geschichte kannten. Bei einigen erwachte auch die Neugier; und sie wollten mehr über die seltsamen Geschichten wissen. So war der Kutscher wieder einmal der Mittelpunkt, und als sie nicht mehr über ihn lachten, erzählte er auch alles, was er wußte. Inzwischen waren die ersten Fässer an Bord gebracht worden. Die anderen Seewölfe erschienen ebenfalls und sahen sich das Bild an. Dazu gab der Kutscher für die, die es noch nicht wußten, noch einmal kurze Erklärungen. „Von Herakles habe ich schon mal gehört“, sagte Dan O’Flynn. „Aber das mit dem Stier wußte ich nicht. Ist das nicht der Gott, der sich auch Herkules nennt?“ „Ein Halbgott“, verbesserte der Kutscher, „ein Sohn des Zeus und der Alkmene, dem von Eurystheus zwölf schwierige Aufgaben auferlegt wurden. Eine davon war die Zähmung des kretischen Stieres.“ „Und das hat der geschafft?“ fragte Bob Grey staunend. „Der Sage nach ja. Er hat noch viel schwierigere Probleme gelöst. Zum Beispiel die Tötung der neunköpfigen Hydra, Tötung eines Löwen, Einfangen eines wilden Ebers, das Fangen einer windschnellen Hirschkuh, die Vertreibung
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der menschenfressenden Vögel. Auch den Höllenhund Zerberus hat er aus der Unterwelt heraufgebracht.“ Eine Weile herrschte Schweigen, denn den Männern imponierte des Kutschers enormes Wissen. Nur als Carberry den Mund auftat, wurde das Gesicht des Kutschers grämlich, und er kriegte fast Zahnschmerzen. „Da seht ihr Rübenschweine einmal was ein einzelner Kerl leistet“, sagte Ed. „Der holt einen Hund aus der Hölle, und ihr Kanalratten bringt zu zweit nicht einmal ein Segel nach oben. Der schlägt einem neunköpfigen Eber den Schädel ab und fängt einen windschnellen Löwen. An dem könnt ihr euch ein Beispiel nehmen, ihr triefäugigen Kakerlaken. So einen Kerl hier an Bord, und wir wären die unumschränkten Herrscher aller Meere.“ „Ein Glück nur, daß du kein Historiker bist“, sagte der Kutscher erleichtert. „Dann käme ja keiner mehr mit der Geschichte klar.“ Dan konnte sich einen Seitenhieb ebenfalls nicht verkneifen. „Du hast noch etwas vergessen, Kutscher“, meinte er, „nämlich eine Sache, die Ed immer für sich in Anspruch nimmt, die aber auf Herkules zurückgeht.“ „Und das wäre?“ „Der hat mal einem zwanzigbeinigen Gorilla die Haut in Streifen von seinem Affenarsch gezogen, und Ed hat das bisher noch nicht mal bei Arwenack geschafft.“ Carberrys mächtige Pranke schoß schon vor, um Dan beim Genick zu packen, aber Dan O’Flynn tauchte noch rechtzeitig weg und grinste den Profos herausfordernd an. Wieder brandete Gelächter auf, als Hasard sich umdrehte. „Vergeßt die Fässer nicht“, sagte er. „Deshalb sind wir ja wohl hauptsächlich hier.“ Dann wandte er sich an den Kutscher. „Wir steigen dort hinauf“, sagte er. „Dan, Ferris, Ed, ihr könnt euch da ebenfalls umsehen, wenn ihr wollt.“ Das ließen sich die Männer nicht zweimal sagen.
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Links von dem Felsen, wo sich das Bildnis des Minotaurus befand, konnte man gut klettern. Als Orientierungspunkt wählte der Seewolf einen großen Stein, mehr einen länglich geformten Felsblock, der so auf der Kante lag, daß er bei einer leichten Berührung abstürzen konnte. Der Felsblock befand sich merkwürdigerweise genau über dem Felsenbild, und Hasard hatte das Gefühl, als liege er nicht nur zufällig dort. Als sie oben waren, fiel es auch Dan O’Flynn auf. Er bückte sich, um den Stein genauer zu betrachten. Er lag nur an einem einzigen Punkt auf und ähnelte einer Wippe, die sich nach zwei Seiten bewegen ließ. Zunächst aber sahen sie sich um. Hinter den Felsen ging es in welliges, hügeliges Land. Um einen See gruppiert standen Pinien, ein weiter Hain wilder Olivenbäume breitete sich aus. Etwas weiter links waren tatsächlich Säulen zu sehen, Relikte aus einer fernen Vergangenheit, und zwischen ihnen befand sich, aus Steinen nachgebildet, ein mächtiges Stierhorn. „Das ist eine der alten, längst untergegangenen Städte“, sagte der Kutscher andächtig. „Aber da gibt es leider nicht mehr viel zu sehen. Das meiste dürfte unter Sand und Schutt begraben sein.“ Der Blick ging weiter auf See, dorthin, wo die Felsen ihn erneut begrenzten. Wollten sie einen besseren Ausblick genießen, mußten sie noch höher steigen. Carberry stellte seinen rechten Fuß auf den Felsklotz. Es sah so aus, als würde sich der Stein bewegen lassen. Aber der Seewolf warnte ihn sofort. „Vorsichtig, Ed! Wenn der Block in Bewegung gerät, fällt er mitten zwischen unsere Leute. Ein kleiner Stoß genügt.“ „Der fällt nicht“, behauptete Ed. „Das Unterteil des Felsens ist tief in den Boden gewachsen. Den kriegen zwanzig Männer nicht von der Stelle.“ „Ein merkwürdiger Stein“, sagte auch Ferris Tucker und ließ sich auf die Knie nieder. „Unten ist er so glatt, als habe man ihn künstlich abgeschliffen. Vielleicht
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wollte der unbekannte Bildhauer hier eine weitere Statue schaffen.“ „Ein Stierhorn etwa“, meinte der Kutscher. „Das könnten jedenfalls die Anfänge gewesen sein.“ „So dicht am Abgrund?“ fragte Hasard skeptisch. „Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich.“ „Die Natur hat ihn jedenfalls nicht geschaffen“, behauptete Ferris Tucker hartnäckig. „Nicht in dieser Form! Ich sage euch, daß hier ein Zusammenhang besteht, und zwar zwischen dem Bild unter uns und diesem Stein.“ Jetzt war die allgemeine Neugier geweckt. Die Köpfe streckten sich dem Boden entgegen und betrachteten die Fortsetzung des Felsblocks, die wie glattgeschliffen in den Untergrund weiterführte. Ganz fein gemahlener Sand war in der rillenförmigen Vertiefung zu erkennen. Ferris Tucker schob den holzigen Strauch etwas zur Seite, der den Stein von einer Seite umgab, aber die Zweige schnellten sofort wieder zurück und schlugen ihm ins Gesicht. Der Profos war es, der das Geheimnis schließlich durch einen entschlossenen Kraftakt löste. Er drückte seitlich gegen den Felsen, aber so, daß er bei aller Kraft nicht hinunterstürzen konnte. Der Stein bewegte sich. Unter ihm war ein Knarren zu hören, wie wenn Stein auf Stein rieb. „He, ihr da unten!“ brüllte Ed. „Geht mal zur Seite, damit wirklich nichts passiert.“ „Oho, der Profos spielt den Herakles“, sagte Matt Davies. „Paßt auf, der wirft jetzt mit Felsen aufs Meer hinaus.“ Vorsichtshalber entfernten sie sich so weit, daß der Felsen keinen Schaden anrichten konnte, denn von unten sah die Lage doch bedrohlicher aus als von oben. Carberry griff noch einmal zu, und er war überrascht, daß der Felsen, wenn man ihn von einer Seite schob, sich mühelos bewegen ließ und um eine unsichtbare Achse drehte.
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Jetzt hatte er seinen Schwerpunkt so verlagert, daß seine eine Hälfte weit über dem Abgrund hing. Hasard sah den Profos an, Carberry blickte verdutzt zurück, während Ferris Tucker und Dan sprachlos dastanden. „Wozu soll das wohl gut sein?“ fragte der Kutscher. Sie sollten es gleich erfahren. Von unten drang ein überraschter Aufschrei herauf. „Der Minotaurus hat sich gedreht!“ Fassungslos blickten die Seewölfe auf den Stiermenschen, der jetzt sein Geheimnis preisgab. Das Bildnis hatte sich halb zur Seite geschoben. Dahinter befand sich eine kleine dunkle Höhle im Felsgestein. 6. Hasard kletterte schon hinunter, dicht gefolgt von den anderen, denen der Abstieg gar nicht schnell genug ging. Als er unten ankam, sah er immer noch in fassungslose und staunende Gesichter. Die Fässer mit dem Trinkwasser waren vergessen. Das Wasser plätscherte über die Fässer, und niemand kümmerte sich darum. Alle blickten auf die Felswand, die sich geöffnet hatte. „Ein Piratenversteck“, sagte Jeff Bowie und fuhr sich aufgeregt mit seiner Hakenprothese über sein stoppelbärtiges Kinn. „Oder Höhle von Stiergott“, sagte Batuti, der wild mit den Augen rollte. „Vielleicht werden alte Legenden jetzt wieder wach. Und dann rennen wilder Stiergott heraus.“ Hasard ging ein Stück durch das Wasser, zog sich an dem Felsen hoch und warf einen Blick in die dahinterliegende Höhle. Er hatte einen langen Gang erwartet, der weiter in die Felsen führte, doch es gab keinen Gang. Der Raum hinter dem Minotaurus war nur so groß, daß ein einzelner Mann zusammengekauert darin hocken konnte. Dahinter war die Felswand glatt und eben, und es sah auch nicht so aus, als gäbe es ein weiteres geheimes Versteck.
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Aber das, was in dem Versteck lag, erstaunte ihn doch. Da lagen ein Dutzend Goldstücke, fünf große zartschimmernde Perlen und zwei Händevoll silberner Piaster. „Ein kleiner Schatz, den jemand versteckt hat“, sagte Dan, der nun ebenfalls in die Höhlung blickte. Hasard griff nach den Silberstücken und ließ sie klimpern. „Ehrlich erworben ist das nicht“, sagte er, „sonst würde man sich nicht der Mühe unterziehen und es verstecken. Für die meisten stellt es ein mittleres Vermögen dar.“ Mittlerweile drängten sich auch die anderen um das Stierbild und versuchten, einen Blick zu erhaschen. Der Seewolf griff noch weiter hinein und fand einen zusammengerollten kleinen Papyrusbogen, den er vorsichtig herauszog. Im Tageslicht entfaltete er ihn, aber auf dem Papyrus standen nur ein paar Schriftzeichen, die vermutlich eine Nachricht enthielten. Er zeigte sie seinen aufgeregten Söhnen, die sich mit den Ellenbogen ihren Weg durch die Seewölfe erkämpft hatten. „Könnt ihr das entziffern, oder kennt ihr eins dieser Zeichen?“ fragte Hasard. Die beiden starrten die Zeichen an, drehten sich um, hielten sie gegen das Licht und schüttelten dann bedauernd die Köpfe. „Nein, ich kann es nicht lesen“, sagte Hasard junior. „Nein, keine Ahnung, das kann vielleicht syrisch sein, ich weiß es jedenfalls nicht. Aber du solltest die Rolle gut aufheben, Sir. Man kann ja nie wissen setzte er altklug hinzu. Hasard gab die Rolle an Ferris Tucker weiter, der sie in sein Hemd steckte. .“Was geschieht mit dem Zeug?“ fragte der Profos. „Wir sollten es an uns nehmen und zu den übrigen Schätzen tun, die wir später in England wieder abliefern werden.“ „Also, ehrlich erworben ist das nicht, Sir“, schaltete sich Dan ein. „Da hast du ganz recht. Das hat hier jemand versteckt, der ein schlechtes Gewissen hatte und vielleicht schon lange tot ist, zu Staub
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geworden und verweht. Der nächste, der das Geheimnis entdeckt, nimmt das Gold, und das andere Beiwerk ohnehin an sich. Warum sollen wir es nicht nehmen?“ „Ja, warum eigentlich nicht? Bedenken habe ich keine, denn wir sind die rechtmäßigen Finder. Oder ist jemand dafür, daß wir das Zeug hier in der Höhle lassen?“ „Das wäre Verschwendung, Sir!“ rief Big Old Shane. „England braucht jeden Silberling.“ „Möglich, daß es sich der nächste Don holt, der die Insel ansegelt“, sagte Matt Davies. „Dann kriegt es Old Philipp.“ Keiner wußte, woher dieser kleine Schatz stammte, für wen er bestimmt war, oder wer ihn erbeutet hatte. Einem guten Zweck diente das alles nicht, und so hatte Hasard auch keinerlei Bedenken, das Zeug abzuräumen. Die Piaster allein waren schon ein beträchtliches Vermögen; dann die Goldstücke mit einer Prägung, die den Seewölfen ebenfalls nicht geläufig war, und von den Perlen ganz zu schweigen. Hasard ließ alles ins Boot bringen und warf noch einen letzten Blick hinter den Minotaurus. Dann sah er zu dem Felsen hoch und sagte zu Ferris Tucker: „Sieh dir das mal an, Ferris! Eine simple, geradezu verblüffend einfache Konstruktion, aber sie hat verdammt viel Arbeit bereitet.“ Die Konstruktion ließ sich nicht so genau erkennen, weil das Tageslicht nicht voll in die Höhle fiel. Aber ein Blick darauf erklärte eigentlich alles. „Oben hat man vermutlich eine Eisenstange durch den Fels getrieben“, sagte Ferris, der solche Konstruktionen immer schnell begriff und durchschaute. „Dann hat man Löcher in den Stein gebohrt und sie mit Bolzen untereinander verbunden. Der letzte Bolzen berührt das Bildnis und ist ebenfalls mit ihm verbunden. Wenn man jetzt da oben den Stein zur anderen Seite dreht, ziehen die Bolzen das Bildwerk wieder in den Felsen zurück. Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert unsere Ruderanlage.“
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„Richtig. Und beim Öffnen wird der Vorgang umgekehrt, und der Bolzen stößt den Minotaurus nach außen.“ Der Kutscher stand sinnend davor, und betrachtete das Bild. „Das Bild scheint uralt zu sein, aber die Konstruktion besteht ganz sicher nicht so lange. Das ist ein richtiges Versteck, das vermutlich doch Piraten angelegt haben.“ „Woraus schließt du das?“ „Es gibt ganz einfach keinen Sinn, daß sich das Bild halb um die Achse dreht und eine kleine Grotte freigibt. Natürlich kann ich mich da auch täuschen, Sir.“ „Möglich, daß es doch uralt ist”, widersprach Hasard. „Und die Grotte hinter dem Asterios diente als eine Art Altar, um Opfer für die Gottheit darzubringen.“ „Das ist natürlich auch gut möglich“, räumte der Kutscher ein. „Ich möchte noch einmal dort hinaufsteigen, Sir. Darf ich?“ „Selbstverständlich“, sagte Hasard. „Ich begleite den Kutscher!“ rief Dan. „Mich interessieren die alten Säulen auch.“ Hasard erlaubte auch das, und so stiegen Dan und der Kutscher wieder in die Felsen, während die anderen sich weiter um das Trinkwasser kümmerten oder den Minotaurus anstarrten. Smoky nahm ein paar Steine und legte sie hinter die Öffnung. Dabei grinste er über das ganze Gesicht. „Die Burschen werden staunen, wenn sie statt Gold nur Steine vorfinden“, sagte er. „Ganz sicher nehmen sie an, der Stiermensch habe sie betrogen und das Gold in Steine verwandelt.“ „Falls sich überhaupt jemand darum kümmert“, meinte Gary Andrews. „Aber wenn, dann gibt das sicher ein Späßchen.“ Was dieses Späßchen später allerdings für den räuberischen Sarazenen für Folgen haben sollte, das konnte sich keiner der Seewölfe ausmalen, denn sie kannten die Geschichte nicht. Als Dan und der Kutscher auf der Höhe des Steins waren, hob der Seewolf die Hand. „Dreht ihn wieder vorsichtig um“, sagte er, „damit die Grotte unsichtbar wird.“
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„Aye, aye, Sir.“ Den großen Stein konnte ein Mann bequem allein drehen, wenn man den Punkt kannte, an dem man ansetzen mußte. Fast spielerisch schob sich das halbtonnenschwere Ungetüm herum. Weiter unten knirschte es leise, dann schwang das Bildnis langsam herum und glitt in seine ursprüngliche Lage zurück. Niemand sah ihm jetzt das verborgene Geheimnis an. In der rauhen Felswand befand sich das Bild eines Menschen mit aufgesetztem Stierkopf, weiter war nichts zu sehen. „Gehen wir da vorn am Wasser entlang“, sagte der Kutscher. „Wenn wir ein paar hundert Yards gelaufen sind, können wir die Ruinen besser erkennen und kehren wieder um.“ „Wir können uns ruhig Zeit lassen, Kutscher, und in der Zwischenzeit kannst du mir noch mehr von den alten Sagen erzählen. Mich interessiert die Geschichte wirklich.“ Der Kutscher seufzte. „Mit dir kann man reden, Dan“, sagte er ehrlich, „du bist aufgeschlossener als die meisten anderen. Die haben einfach keine Ader dafür. Unser Profos ist in der Beziehung ein richtiger Klotzkopf, und mitunter bin ich mir nicht sicher, ob er seine Worte ernst meint, oder ob er sich nur verstellt und mich verschaukeln will.“ „Wenn er etwas nicht weiß, besteht seine Verlegenheit darin, es ins Lächerliche zu ziehen“, meinte Dan. „Vorsicht, Kutscher, geh nicht so dicht an die Klippen heran, da gibt es loses Gestein.“ Links vor ihnen wuchsen die Felsen hoch auf, ähnlich wie an der Südküste Englands, und zwischen den Felsen gab es viele natürlich entstandene Buchten, aber auch tückische Untiefen. Der Kutscher wies nach einer Weile zur rechten Seite hinüber. Noch weiter im Landesinnern standen Überreste dorischer Säulen, von charakteristisch gedrungenen Proportionen ohne Basis. Die Schäfte der Säulen mündeten mit flachen Kannelüren direkt in den dicken Platten. Ein paar steinerne
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Quader lagen noch auf den Säulen, den Rest hatte die Zeit zerstört. Im Umfeld der Säulen war alles mit Trümmerbrocken übersät, und über vielen wuchsen schon Sträucher und Bäume. Noch etwas weiter zurückversetzt sah man das minotische Zeichen. Die Hörner des Stieres, die übergangslos aus den Trümmern wuchsen. „Das habe ich in den Büchern Doc Freemonts als Zeichnung gefunden“, sagte der Kutscher andächtig. „Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, wenn man dann wirklich und wahrhaftig davorsteht.“ „Du hast schon viel gelesen, Kutscher, nicht wahr?“ „Ja, das kann ich behaupten, und ich würde dir auch empfehlen, alles an Wissen in dich hineinzustopfen. Mitunter kann man darauf zurückgreifen und es gebrauchen.“ Dan sann eine Weile darüber nach, dann nickte er. Sein Blick fiel nachdenklich durch einen schmalen Spalt zwischen zwei Felsen, und er konnte bis aufs Wasser sehen. Wie angenagelt blieb er stehen. „Was ist?“ fragte der Kutscher und blieb auch stehen. „Hast du einen Geist gesehen?“ Dan O’Flynn legte den Finger an die Lippen. „Leise“, sagte er, „dort unten liegt ein Schiff in der kleinen Bucht. Wir sind also nicht allein.“ „Ein Schiff ?“ „Ja, wir pirschen uns heran. Wenn wir die Felsen erreicht haben, können wir es besser sehen. Aber leise, sonst hört man uns. Und gib acht, daß sich keine Steine lösen. Von dort vorn haben wir einen vorzüglichen Beobachtungsplatz, ohne daß wir selbst gesehen werden.“ Vorsichtig schlichen sie weiter, die letzten paar Yards bis zu den Felsen legten sie robbend zurück. Vergessen waren die minotischen Relikte. Weder Dan noch der Kutscher hatten jetzt einen Blick dafür. Was im Augenblick zählte, war nur das fremde Schiff, denn solange man nicht wußte, wen man vor sich hatte, konnte es eine ernsthafte Bedrohung sein.
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Sie erreichten die Stelle und blickten hinunter. Ihr Blick ging in eine felsige Bucht, nicht weit von den aufragenden Felsen ankerte ein Schiff. „Das ist ein Wrack“, flüsterte der Kutscher. „Da ist ja nicht viel heil geblieben, dem Kahn fehlen zwei Masten, und an Deck sieht es auch nicht gerade schön aus.“ „Ja, die Tante scheint einen wüsten Sturm abgeritten zu haben. Aber an Deck ist niemand zu sehen, und ich höre auch keine Geräusche nach oben dringen.“ „Was ist das für ein Schiff?“ fragte der Kutscher. „Das läßt sich schwer sagen. Der Bauart nach eine moderne Schebecke, aber sie erinnert mich auch an eine Feluke. Das ist so ein Mittelding wie — wie ...“ Dan suchte nach einem passenden Vergleich, fand aber keinen. „Wie der Schwarze Segler ,Eiliger Drache über den Wassern’, eine Mischung aus Dschunke und Galeone, nur natürlich hier wieder ganz anders.“ „Richtig, um einen Vergleich zu’ haben.“ Dan suchte mit seinen scharfen Augen das Deck ab, und ihm wäre auch keine Bewegung entgangen, aber es gab keine Bewegung auf diesem Schiff, nichts, das auf Leben hindeutete. „Die Besatzung hat es’ verlassen“, meinte er nach einer Weile. „Aber sie haben es hier in die Bucht gebracht, sonst würde es nicht vor Anker liegen.“ Dan robbte weiter um den Fersen herum, bis er einen noch größeren Überblick hatte und die gesamte Bucht überschauen konnte. „Merkwürdig“, sagte er mißtrauisch. „Das Boot ist an Bord, und trotzdem scheint sich niemand auf dem Kahn aufzuhalten. Verstehst du das, Kutscher?“ „Ein Mittagsschläfchen werden sie um diese Zeit wohl kaum halten. Nein, das Schiff ist verlassen, Dan, sonst hätte sich ganz sicher schon jemand an Deck gezeigt.“ „Wir beobachten es noch eine Weile“, sagte Dan.
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Er vergaß auch nicht, sich von Zeit zu Zeit umzudrehen. Es war ja nicht ausgeschlossen, daß sich ihnen jemand näherte. Aber alles blieb still und ruhig. Nur der Wind flüsterte in den Felsen, \kräuselte das Wasser in der Bucht und jagte weiter aufs Meer hinaus. Nach einer Viertelstunde rührte sich da unten immer noch nichts. Dan O’Flynn hob einen faustgroßen Brocken auf und verließ sich auf seine guten Augen. In jedem Fall sah er einen anderen zuerst, bevor der ihn entdeckte, und so stand er hinter dem Felsen auf, wog den Brocken in der Faust und schleuderte ihn hinunter. „Wenn der trifft, dann weckt der Knall Tote auf, Kutscher.“ Der Stein traf und knallte auf das Vordeck. Dort sprang er ein paarmal hoch, polterte durch die Kuhl und donnerte an das Achterschott des Niederganges. Das Geräusch war ekelhaft laut, und es pflanzte sich durch die Bucht fort, als die Felsen das Echo zurückwarfen. Die beiden Seewölfe warteten mit angehaltenem Atem. Nichts rührte sich auf dem halben Wrack. Niemand .erschien an Deck, um sich nach dem Urheber des Kraches umzusehen. Auch ein zweiter Stein änderte nichts. Alles blieb still und ruhig. Das Schiff war von seiner Besatzung einwandfrei verlassen oder aufgegeben worden. Der Teufel mochte wissen, wie lange es hier schon vor Anker lag. Dan O’Flynn gab noch ein paar Minuten zu, wobei er die Schebecke scharf im Auge behielt. Dann erhob er sich, als sich unter ihnen immer noch nichts rührte. „Kehren wir wieder um“, sagte er. „Das müssen wir sofort Hasard melden. Vielleicht sehen wir uns das Schiff einmal aus der Nähe an. Vielleicht gibt es da noch etwas zu holen.“ „Schätze lassen die Kerle sicher nicht unbewacht an Bord zurück“, meinte der Kutscher trocken. „Ebenso besteht natürlich die Möglichkeit, daß die Besatzung an einer Krankheit zugrunde
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gegangen ist. Womöglich finden wir nur Tote an Bord.“ „Das ist nicht auszuschließen“, sagte Dan beklommen. Gleich darauf traten sie den Rückweg an. 7. Bei den gefangenen Spaniern war ein Wunder geschehen. Der spanische Grande hatte lange Zeit gelauscht, ob sich wirklich Wächter in der Umgebung versteckt hielten, doch nach einer Weile waren alle Geräusche erstorben, und es war totenstill. „Die sind abgezogen“, sagte er. „Wir probieren es einfach, und dann werden wir sehen, ob jemand erscheint.“ Die Zwieback wurden aus dem einen Faß entfernt und auf den kahlen Boden gelegt. Dann wurde das Wasserfaß umgefüllt und geleert. Danach hoben zwei Mann das relativ schwere Faß hoch und warfen es an die Felswand. Das Faß zersplitterte, der Reif flog ab, die langen Dauben legten sich säuberlich nach allen Seiten auseinander. Der Grande arbeitete verbissen weiter. Er wollte diesen Halunken schon beweisen, daß sie nicht einfach mit ihnen tun konnten, was sie wollten und sie als Sklaven auf den Märkten verkaufen. Wenn ihnen die Flucht gelang, dann fanden sie auch in einem der Häfen mit Sicherheit ein Schiff, das sie mitnahm. Sie legten die Dauben übereinander, bis sie einen handlichen Hebel hatten, den sie durch die Gitter schoben. Dann drückten die drei Frauen und zwei Männer dagegen, und gaben all ihre Kraft her. Der erste Eisenstab verbog sich leicht, und nach einer kraftvollen Anstrengung und weiteren Bemühungen verbog sich auch der zweite. Noch ein paarmal wurde angesetzt, weitergedrückt, die Dauben als Hebel benutzt. Von den vermeintlichen Wächtern ließ sich immer noch keiner sehen. Es gab sie nicht.
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Sie hielten die Grotte für ausbruchsicher und waren abgezogen. Der Grande, er war der schmalste von allen, zwängte sich als erster hindurch und hebelte von außen weiter, bis der Weg für alle frei war. Eine der Senoras hatte Schwierigkeiten, aber schließlich konnte sie sich auch hindurchzwängen und befand sich in Freiheit. Draußen sanken sie sich stumm in die Arme und wollten ins Landesinnere gehen, um vorerst in Sicherheit zu sein. Doch der Grande hatte noch eine Idee. „Sie sollen noch ein Rätsel lösen“, sagte er. „Wir nehmen die Faßdauben mit und werfen sie unterwegs weg. Aber zuerst versuchen wir, die Gitter wieder so zu verbiegen, daß niemand die Flucht bemerkt, der außen vorbeigeht und einen Blick darauf wirft.“ „Dazu haben wir keine Zeit“, wandte der andere Spanier ein. Aber die Zeit nahmen sie sich doch, setzten wieder die Dauben an und hebelten die eisernen Stäbe zurück. Es sah aus wie vorhin, und man mußte schon ganz besonders scharfe Augen haben, wenn man erkennen wollte, daß der eine Stab noch leicht nach außen gebogen war. Der Grande kicherte boshaft, dann klemmte er sich ein paar Dauben unter den Arm, verteilte die restlichen an die anderen und zeigte auf die weit entfernten Olivenhaine. „Verhungern werden wir nicht, aber wir müssen uns auf ein paar unangenehme Tage vorbereiten. Wasser finden wir auf dieser Insel sicher genügend, und wilde Früchte gibt es auch. Notfalls kann sich der Mensch tagelang von Oliven ernähren.“ Diese Zukunftsaussicht war immer noch besser, als in dem stinkenden Verlies zu sitzen und darauf zu warten, bis man auf irgendeinem arabischen Markt verkauft wurde. Sie sahen sich noch einmal nach allen Seiten um. An die Küste trauten sie sich nicht, denn da konnte noch das Schiff liegen, das sie hergebracht hatte.
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Also marschierten sie ins Landesinnere und warfen unterwegs hin und wieder eine der Dauben weg. Sie waren wieder frei, und das war ihnen mehr wert als alles andere auf der Welt. * „Also eine Mischung zwischen einer Schebecke und einer Feluke“, sagte Hasard, als er den Bericht der beiden Männer gehört hatte. „Und das Schiff ist ein Wrack?“ „Ein halbes Wrack. Zwei Masten fehlen, aber das Beiboot befindet sich noch an Bord. Wir haben Steine hinuntergeworfen, und nichts hat sich gerührt. Es ist also mit Sicherheit anzunehmen, daß es verlassen ist. Aber wie erklärt sich das mit dem Boot?“ „Da kann es mehrere Möglichkeiten geben“, meinte Hasard. „Sie können ein zweites Boot gehabt haben, mit dem sie zur nächsten Ansiedlung gesegelt sind. Piraten können sie überfallen und verschleppt haben. Oder sie sind geflüchtet und kehren erst später wieder zurück. Und — und — und ...“ Niemand ahnte die unmittelbaren Zusammenhänge, keiner der Seewölfe wußte etwas von dem Sarazenen, ebenso wenig war ihnen etwas über das Schicksal der Gefangenen und jetzt geflüchteten Spanier bekannt. Die Geschichte lief auf zwei nebeneinander liegenden Ebenen ab, die der eine nicht kannte, und von der der andere keine Ahnung hatte. Aber in einem hatte der Sarazene recht: Auch diese Ungläubigen würde die Neugier packen, wenn sie das verlassene und wracke Schiff sahen, und der Profos sprach es auch aus. „Vielleicht gibt es da was zu holen, Sir. Wir sollten uns den alten Kahn wenigstens einmal ansehen.“ Der Reiz, den gestrandete oder verlassene Schiffe ausübten, hatte nicht nur den Profos ergriffen, er packte auch Hasard und die anderen Seewölfe.
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„Gut“, entschied der Seewolf nach einer Weile des Nachdenkens. „Dan sagt, die Schebecke sei nicht weit von unserem jetzigen Liegeplatz entfernt. Wir segeln oder pullen mit dem kleinen Boot hin. Mit der ‚Isabella’ dahin zu segeln, wäre zu umständlich. Wir müßten erst Anker hieven, dann wieder Anker setzen, von den Segelmanövern ganz zu schweigen. Der Profos, Dan und Ferris gehen mit. Ben übernimmt das Kommando während meiner Abwesenheit. Noch ein Mann kann mit. Sten, du bist meist benachteiligt gewesen.“ „Aye, danke, Sir“, sagte der Schwede erfreut. „Sollten wir wider Erwarten in spätestens zwei Stunden nicht zurück sein, dann geht die ‚Isabella’ ankerauf und besetzt die Bucht, in der das Wrack liegt.“ „Da passiert nichts, Sir“, sagte Dan, doch der Seewolf winkte ab. „Es bleibt dabei. Wir haben nicht nur schon Wunder erlebt, wir haben sogar blaue Wunder erlebt. Ihr riegelt also die Bucht ab. Ein Mann wird zu dem Wrack geschickt, um nachzuforschen. Geht etwas schief, nimmst du den Kahn unter Feuer, Ben. Alles verstanden?“ „Aye, aye, Sir! Und wenn ihr ...?“ „Hast du nicht alles verstanden, Ben?“ fragte Hasard sanft. „Doch, doch, natürlich.“ „Dann ist es gut. Diejenigen, die mitgehen, bewaffnen sich. Steckt genügend geladene Pistolen in die Bandeliere.“ Zwar wußte keiner, was da schiefgehen sollte, aber in ihrem langen, erfahrungsreichen Dasein hatten die Seewölfe schon genug haarsträubende Dinge erlebt, und so war die nötige Vorsicht nicht unbedingt Angst. Sie waren nur deshalb alle noch am Leben, weil sie diese Vorsichtsregeln immer befolgt hatten. Die fünf Männer gingen ins Boot, beneidet von den anderen, die sich das geheimnisvolle Wrack auch zu gern aus der Nähe angesehen hätten. Aber Ben ließ sie nicht lange trauern.
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„Verstaut die restlichen Fässer“, sagte er. „Wenn wir ankerauf gehen, will ich kein Durcheinander an Bord haben. Ihr werdet schon noch erfahren, was mit dem alten Kahn los ist.“ Das kleine Segel wurde gesetzt, und das Boot nahm schwerfällig Fahrt auf. Erst als sie aus der Bucht auf dem unruhigeren Wasser waren, ging es schneller. Dicht an der Felsenküste ging die Fahrt entlang, vorbei an Klippen, an scharfen Zacken, die aus dem Wasser ragten, bis zur nächsten Bucht, in der es ein kleines Stück hellen Strand gab. „Hinter den nächsten hohen Klippen ist es“, sagte Dan, der immer scharf Ausschau hielt und die Felsen weit oben musterte, ob da vielleicht Gesichter auftauchten. „In Zukunft“, sagte Hasard, „sollten wir uns unsere unmittelbare Umgebung immer etwas genauer ansehen, um vor Überraschungen sicher zu sein, ganz besonders dann, wenn uns hohe Felsen die Aussicht versperren. Aus dieser Nachlässigkeit werde auch ich wieder etwas lernen, das weiß ich genau. In der Bucht könnte ja auch ein stark bewaffnetes Schiff liegen, das uns bemerkt hätte. Wir würden eine prächtige Zielscheibe abgeben.“ „Aus dem Ausguck war das jedenfalls nicht zu sehen, Sir“, sagte Stenmark entschuldigend. „Es war mein Fehler, reine Nachlässigkeit. Und jetzt ist das Thema erledigt.“ „Da, hinter den Felsen geht es hinein“, sagte Dan. Das Boot schwenkte ab nach Steuerbord und bewegte sich zwischen den Felsen zielsicher hindurch. Dann wurde das Segel weggenommen, und Hasard ließ das Beiboot treiben. Ganz am Ende der Bucht lag die Schebecke mit den verstümmelten Masten und dem teilweise verwüsteten Deck. Nichts rührte sich, alles blieb still. „Du hast recht, Dan“, sagte der Schiffszimmermann. „Halb Schebecke, halb Feluke. Ein prächtiges Schiff, ein schnelles Schiff, und es sieht trotz der Verwahrlosung schnittig aus. Wenn der
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alle Lateiner hochzieht, segelt er uns spielend davon.“ „Dafür taugt er in hoher See nicht“, sagte Hasard. „Dem Schiff fehlt der nötige Tiefgang.“ Immer näher glitten sie heran, und jetzt wurde es ganz offensichtlich, daß die Schebecke verlassen war. Dazu hatte man wahrscheinlich ein weiteres Boot benutzt, das an Deck mitgeführt worden war. Jeder musterte dicht vor der Bordwand noch einmal das Schiff. Es strömte einen eigenartigen Geruch aus, denn es roch nach vermoderten Gewürzen, nach Olivenöl, Knoblauch und Rosenwasser, als seien alle Planken davon durchtränkt worden. Auch ein ferner Hauch von Pfefferminz lag unsichtbar über dem Schiff. Die Männer sahen sich an, und jeder stellte sich insgeheim die Frage, was sich hinter diesen Planken der Schebecke wohl befinden mochte. Lagen da Tote herum, hatte ein Gemetzel stattgefunden? Das Deck sah ganz danach aus, obwohl das Blut fehlte. Aber das konnte auch Regen wieder abgewaschen haben. Ein Tau hing von der Bordwand hinunter, einladend baumelte es dicht über dem Wasser. Der Seewolf schwang sich hinauf und war mit einem schnellen Satz an Deck. Ihm folgten Dan, der Profos, Ferris Tucker und schließlich der Schwede Stenmark. Kaum standen sie an Deck, als Dan den Arm hob. Ein leises Schaben war zu hören, aber gleich darauf erstarb das Geräusch wieder. „Habt ihr das gehört?“ fragte Dan leise. „Es schien von da hinten zu stammen, dort, wo der Niedergang ist.“ „Das war das Holz“, sagte Ferris und sah sich um. „Das Holz arbeitet immer.“ Ihre Schritte hallten laut, als bewegten sie sich über einen riesigen Klangkörper. Ferris Tucker fand das ungewöhnlich. Er blieb an der Gräting stehen und sah in den finsteren Raum darunter. Tief unter ihm roch es modrig und nach fauligem Wasser. Aber der Raum war leer, das erkannte er,
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nachdem sich seine Augen an das Dämmer gewöhnt hatten. „Da unten liegt etwas“, sagte er. „Sieht aus wie ein Tuchfetzen.“ „Das wird ein alter Lappen sein“, meinte Dan, beugte sich jedoch auch darüber und sah nach unten. In dem Raum stand noch ein wenig Wasser, und darin lag der bunte Fetzen. „Hilf mir mal“, sagte Ferris und hob die Gräting an. Mit vereinten Kräften hoben sie sie heraus und legten sie zur Seite. An einem: Tau ließen sie sich hinunter, um nachzusehen, was es mit dem Tuchfetzen auf sich hatte. Am Süll des Luks standen Hasard, Carberry und Stenmark. Der Seewolf hielt seinen Radschloßdrehling in der Faust und musterte das Deck von vorn bis achtern. Er konnte das Gefühl nicht definieren, das ihn beschlichen hatte, seit sie sich an Deck dieser fremden Schebecke befanden. Vermutlich war es sein Instinkt, der ihn warnte und sich nicht unterdrücken ließ, obwohl keinerlei Gefahr im Verzug war. Auch wenn er nach oben in die Felsen blickte, konnte er nichts erkennen. Ferris und Dan gingen über aufgequollene Planken zwischen denen noch dreckiges Wasser stand. Dann bückte sich Dan nach dem Lappen und hob ihn auf. Dicht daneben blinkte etwas, und als er es näher in Augenschein nahm, erkannte er einen vergoldeten Knopf. Er warf beides nach oben, wo Hasard es begutachtete. Dann sahen sie sich noch weiter in dem Raum um. Ferris Tucker zeigte auf das Schott. Dan kam es so vor, als wirke sein Gesicht verkniffen und mißtrauisch. „Hier, Dan, sieh mal. Bis hierher stand das Wasser, in dem Raum. Das sieht man noch deutlich an dem Dreckrand, der sich abgesetzt hat. Etwa bis zur Brusthöhe.“ „Kein Wunder, wenn der Kahn fast entmastet ist. Der muß ja auch eine Menge Wasser gezogen haben.“ Ferris ging nicht darauf ein. Er suchte noch weiter die aufgequollenen Planken ab und wurde wieder fündig.
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Wieder war es ein Fetzen Tuch, schmutzigweiß und an den Rändern mit Spitzen verziert, die in Fransen herabhingen. „Verdammt, das sind doch Überreste von Frauenkleidern“, sagte Dan. „Wie ist denn das möglich?“ Weil sich nichts mehr finden ließ, enterten sie wieder auf. „Ja, das sind einwandfrei Frauenkleider gewesen“, sagte der Seewolf. „Auch der vergoldete Knopf gehört zu einem Kleid. Und es sind ebenso einwandfrei spanische Frauen gewesen, die das hier einmal trugen. Es kann noch gar nicht so lange her sein.“ Ein Geheimnis lag über der Schebecke. Daß sie keinem Spanier gehörte, stand mit Sicherheit fest. Die Seeräuber der Barbareskenstämme bevorzugten diese Schiffe, und der Geruch, den das ganze Schiff ausströmte, ließ auch keinen Zweifel offen, daß es irgendwelchen arabischen Piraten gehören mochte. „Soviel ich weiß“, sagte Hasard, „werden hier weiße Sklaven auf den arabischen Märkten gehandelt. Es ist gut möglich, daß dieses Schiff welche an Bord hatte, und das waren der Kleidung nach bestimmt Spanier.“ Ferris Tucker beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, aber er benahm sich reichlich seltsam, wie Stenmark nach einem verwunderten Blick feststellte. Der Schiffszimmermann spähte erneut in den Raum hinunter, dann ging er zur Backbordseite, hielt den Blick starr auf die Planken gerichtet und kehrte wieder zurück. Genauso verfuhr er, als er sich der Steuerbordseite näherte. Wieder kehrte er bis an den Raum zurück und sah aus zusammengekniffenen Augen hinunter. Hasard fiel das eigenartige Gebaren jetzt auch auf, denn Ferris begann die Prozedur zu wiederholen. Schließlich blieb er kopfschüttelnd am Süll stehen. „Was ist los, Ferris?“ „Die Maße stimmen nicht überein“, sagte Ferris Tucker. „Das ist es, was mich so wundert.“ „Welche Maße stimmen nicht?“
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Ferris deutete nach unten, dann zur Bordwand. „Wenn man sein ganzes Leben lang mit Holz- und Schiffbau zu tun hat“, sagte er, „dann geht einem das in Fleisch und Blut über. Dann hat man das im Gespür. Den Außenmaßen der Schebecke nach müßte der Frachtraum breiter sein, mindestens ein Yard breiter.“ „Sie könnten zur Verstärkung ein weiteres Schott eingezogen haben“, meinte Stenmark, aber Ferris widersprach. „Dazu gibt es keinen Grund. Die Schebecke ist aus gutem starken Holz gebaut, da zieht man kein unnötiges Schott nachträglich ein.“ „Und was vermutest du?“ fragte Hasard. „Bisher noch gar nichts, denn ich sehe den Sinn dahinter nicht. Aber es kann in dem Raum eine Kammer geben für Schmuggelgut oder ähnliche Diebesbande, einen geheimen Raum wie ihn auch der Schwarze Segler des Wikingers hat.“ Hasard maß das nach, es war ihm nicht aufgefallen, was Ferris mit bloßem Auge entdeckt hatte und fand es bestätigt. Der Raum verbarg etwas, das stand fest. Noch einmal ließ sich Ferris hinunter, besah sich die Wände, klopfte mit den Fäusten dagegen, und entdeckte auch eine Stelle, die hohl klang, aber sie lag so weit unten, daß sie als Versteck sinnlos erschien. Nirgendwo ließ sich jedoch eine heimlich eingebaute Tür erkennen, so exakt der Zimmermann auch alles absuchte. Schließlich gab er es auf und enterte an Deck. „Sehen wir mal vorn nach“, entschied Hasard, nachdem die Suche nichts eingebracht hatte. „Zwei Mann bleiben an Deck, die anderen beiden gehen mit mir.“ „Wir können inzwischen schon achtern nachsehen“, sagte Carberry. „Nein, ihr bleibt an Deck, du und Stenmark“, entschied Hasard. Im Vorschiff gab es zwei Schotts, ähnlich denen der „Isabella“, wo das eine zur Kombüse führte. Auch hier führte das eine zur Kombüse, während das andere einen Niedergang
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aufwies, der mit sechs Stufen nach unten führte. Die Kombüse sah so aus, als sei sie seit einigen Tagen nicht mehr benutzt worden. Auch hier war ein wenig Seewasser eingedrungen. Der Duft war allerdings unbeschreiblich, denn es roch nach vergammelten Essensresten und durchdringend nach fauligen Kräutern. Töpfe, Tiegel und Pfannen waren verdreckt, verklebt und schmierig, was Hasard zu der Bemerkung veranlaßte: „Wenn in diesem Saustall mein Schiffskoch Essen zubereiten würde, dann würde ich ihn zur Abschreckung an die Rah hängen.“ Sie schlugen das Schott wieder zu, trotzdem legte sich der Geruch nach fauligen Gewürzen über das ganze Schiff. Er schien durch das Holz nach außen zu dringen. Der nächste Raum. Der Geruch hing pestilenzartig darin, und im ersten Augenblick zuckte Hasard zurück, denn es erinnerte ihn an den Pesthauch, der aus offenen Gräbern wehte. „Mann“, sagte Dan O’Flynn, „da liegen bestimmt Leichen.“ Der Raum war fast dunkel. Hasard stolperte über ein baumwollenes Tuch und fluchte leise, denn im ersten Augenblick glaubte er einen menschlichen Körper zu berühren. Dan ging ein paar Schritte zurück, und öffnete das Schott noch weiter, das wieder halb zugefallen war. Jetzt drang das Tageslicht etwas besser herein. Für eine Unterkunft war der Raum fast komfortabel, fand Hasard. Hohe Kojen waren auf beiden Seiten eingebaut, und es gab sogar eingebaute Schapps mit Ornamenten und Arabesken verziert. „Hier scheinen die Abmessungen ebenfalls nicht zu stimmen, Sir“, ließ sich Ferris Tucker vernehmen. „Auch dieser Raum müßte eigentlich etwas breiter sein. Aber vielleicht hat das Schapp viel Tiefe.“ Er öffnete eins der Schapps, dessen Tür sich knarrend drehte. Es war leer, außer einem schmuddeligen Hemd, das auf dem Boden lag.
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Die Tiefe betrug bestenfalls eine Elle, mehr nicht. Ferris klopfte dagegen. Es klang hohl, hohl von oben bis unten. Er sah Hasard an, legte den Finger auf die Lippen und deutete mit dem Kopf nach oben. Als sie an Deck standen, schloß Ferris das Schott und lehnte sich dagegen. Der Profos und Stenmark traten näher heran. „Mit diesem Kahn stimmt etwas nicht“, sagte Ferris energisch. „Es gibt mir zuviel Hohlräume. Du wirst dich erinnern, Sir, daß auch wir so etwas schon einmal entdeckten. Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir von etlichen Augen belauert werden.“ „Du glaubst, in dieser Schebecke haben sich Leute verborgen, die nur darauf warten, um über uns herzufallen?“ „So ist es, das glaube ich jedenfalls.“ „Aber das ist Quatsch, Ferris“, sagte Dan. „Wir haben das Schiff lange beobachtet, und es hat sich nichts darauf gerührt. Mag ja sein, daß es hier zahlreiche Verstecke gibt, aber so lange werden die Kerle doch wohl nicht warten.“ „Ich habe auch so ein unbestimmbares Gefühl“, erklärte Hasard. „Aber es ist möglich, daß man uns längst gesehen, vielleicht unsere Ankunft bemerkt hat, und da haben sich die Kerle entsprechend darauf vorbereitet. Sie rechnen ganz sicher damit, daß wir das angeschlagene Schiff sehen und es untersuchen. Das ist aber alles nur bloße Theorie.“ „Wenn wir erst die Beweise kriegen, ist es zu spät“, meinte der Schwede Stenmark. „Ich glaube auch, daß man uns einen Köder vorgelegt hat, nach dem wir schnappen sollen.“ Hasard ging weiter, den Niedergang zum Achterdeck hoch. Einmal glaubte er, ein feines Knistern zu hören, aber das konnte wirklich vom Holz stammen und war ganz natürlich. Das Achterdeck war kahl, wie leergefegt, ein Teil der Schmuckbalustrade, die es zur Kuhl hin abschloß, war zersplittert.
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Unter dem Niedergang befanden sich ebenfalls zwei Kammern. Die Schotten waren geschlossen. „Bleibt mal da unten“, sagte er, „ich sehe mich nur ein wenig um. Haltet die Augen offen.“ Es war ein merkwürdiges Gefühl, über dieses Schiff zu laufen und zu ahnen, daß man in einer tödlichen Falle saß, die jeden Moment zuschnappen konnte. Ebenso gut war alles harmlos, und niemand lauerte ihnen auf, wer konnte das schon sagen! Hasard ging bis zum verlängerten Grätingdeck und blieb lauschend stehen. Blitzschnell drehte er sich um, denn er glaubte erneut, ein leises Geräusch zu hören. Wie hastiges Trappeln klang es. Aber von seinen Leuten hatte sich keiner bewegt. Auf der Kuhl stand Ferris Tucker in angespannter Haltung, neben ihm Dan, der mit zusammengekniffenen Augen alles musterte, und Stenmark, der sich gerade bückte und ein langes Holzstück aufhob. Mit ein paar schnellen Schritten war er an dem einen Schott zum Vordeck und klemmte das Holzstück so fest, daß sich das Schott nicht von innen öffnen ließ. Dann kehrte er zurück, die Pistole in der Faust, nach allen Seiten mißtrauisch sichernd. Wieder hörte Hasard auf dem Achterdeck das leise Scharren. „Achtung!“ brüllte er laut. Dann war auch schon die Hölle los. 8. Krachend flogen zwei Schotts auf. Sie wurden fast herausgesprengt, so donnerte es. Augenblicklich ergoß sich eine wilde Meute über die Kuhl, die laut schreiend, ihre Krummsäbel schwingend, vorwärtsstürmte. Auch am Schott zum Vordeck polterte es, aber das Schott klemmte und ließ sich nicht öffnen, weil Stenmark vorgesorgt hatte.
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Das scheinbar verlassene und ruhige Schiff erwachte zum Leben, und abenteuerliche Gestalten ergossen sich über Deck. Hasard feuerte, ohne zu zögern, vom Oberdeck aus und traf einen säbelschwingenden Kerl, der laut aufschrie, die Arme hochriß und mit dem Gesicht voran auf die Planken fiel. Ein paar Araber stoppten mitten im Lauf, denn mit dem Angreifer in ihrem Rücken hatten sie nicht gerechnet, und so waren sie einige Augenblicke verwirrt. Die drei Seewölfe auf der Kuhl nutzten das gnadenlos aus. „Auf sie!“ brüllte der Profos wild, aber diese Aufforderung war nicht nötig, denn die Männer handelten wie immer blitzschnell und überlegt. Immerhin hatten sie etwas geahnt, und so war die Überraschung nicht vollkommen. Der narbengesichtige Profos feuerte, ein Mann brach kreischend zusammen, dem zweiten warf er die Waffe an den Schädel, und dem dritten rammte er seinen gesenkten Schädel in den Leib, daß es den Kerl mit ungeheurer Wucht ans Schott katapultierte. Einen weiteren Mann, der sich auf ihn stürzen wollte, unterlief er und entriß ihm den Krummsäbel. Damit senste er in wilder Wut um sich, und trieb die zwölf oder vierzehn Kerle zurück. Ein paar wichen aus, als sie diesen tobenden, um sich hauenden Riesen sahen, für den Angst ein unbekannter Begriff zu sein schien. Sie liefen Dan, Ferris und Stenmark in die Arme. Vom Achterdeck erklang der nächste Schuß, und wieder brach einer getroffen zusammen. Sein letzter Streich fetzte Ferris Tucker das Hemd auseinander. Von dem Dutzend Kerle lagen schon vier reglos am Boden, noch bevor der Kampf richtig begonnen hatte. Dan sah sich einem gedrungenen dunkelhäutigen Burschen mit finsterem Gesicht gegenüber, der gerade mit dem Krummschwert ausholte, um ihn von seinem Schädel zu befreien. Der Kerl war wendig und schnell, und Dan spürte, wie die Klinge hart an seinem Ohr vorbeipfiff,
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als er blitzschnell in die Knie ging. Der Luftzug richtete ihm noch die Haare auf. Bevor der Finstere zum zweiten Male ausholen konnte, drückte Dan ab. Der Mann wurde ein Stück zurückgetrieben, blieb einen Moment fassungslos stehen und sackte dann in die Knie. Stenmark streckte einen weiteren Angreifer auf die Planken, während Ferris Tucker zwei Schüsse auf das Schott abgab, aus dem immer noch abenteuerlich gekleidete Kerle nach oben strömten. Hasard trat mit aller Kraft gegen den Torso der Balustrade, die unter seinem Tritt erzitterte und nachgab. Ein weiterer harter Stoß ließ sie zersplittern, Teile davon sausten mit Donnergetöse hinunter und trafen die Kerle, die aus dem Schott weiter nach oben drängten. Dann sprang der Seewolf, riß im Fallen einen Araber um und zog den Degen. Die Seewölfe hatten einen kleinen Vorteil dadurch, daß sie den Rücken frei hatten, denn das vordere Schott vermochten die Kerle immer noch nicht zu öffnen, ein Faktor, der in ihrer Überlegung offenbar nicht mit eingeplant war. Dan zog sich weiter zum Vorschiff zurück und lockte einen Piraten mit sich, der ihm mit dem Säbel vor dem Gesicht herumfummelte, aber nicht zum Zug gelangte, weil Dan sich immer wieder duckte. Dann hatte er ihn soweit. Der Kerl setzte nach, Dan wich nach rechts aus und trat mit dem Stiefel zu. Aufschreiend fiel der Mann kopfüber in den Laderaum hinunter. Einen zweiten, der entsetzt auf den offenen Raum starrte, beförderte Dan gleich hinterher. Auch dieser Strauchdieb landete brüllend ein Deck tiefer und muckste sich nicht mehr. Hasard drosch mit dem abgebrochenen Ende des Handlaufs von hinten auf die schreienden und tobenden Araber ein, die sich immer wieder umwandten und vor dem schwarzhaarigen Scheitan mit den blauen Augen flüchteten.
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Sie hatten nicht mit hartem Widerstand gerechnet, daher sah es jetzt trotz der Überlegenheit nicht gerade rosig aus. Der Profos raste immer noch wie ein Orkan über das Deck, schwang den erbeuteten Krummsäbel und drosch um sich, als wolle er ganze Weizenfelder abmähen. Stenmark und Dan kämpfen Rücken an Rücken, rissen immer wieder ihre Pistolen aus den Bandeliers, rannten ein Stück zurück und feuerten, bis die Waffen leergeschossen waren. Dann stürzten sie sich auf die Säbel, die an Deck lagen, und kämpften weiter. Hasard bedrängte die Meute immer noch, schlug mit dem Degen zu oder benutzte das lange schwere Holzstück. Mit dem Degen trieb der Seewolf die Kerle zur Seite, und mit dem Holzprügel schlug er zu, wenn sie sich ängstlich duckten. Carberry stolperte über einen auf den Planken liegenden Mann. Sein Gegner, ein harter muskulöser Kerl mit olivenfarbenem Gesicht, holte wild aus und hieb zu. Carberry rollte zur Seite und schloß für eine Sekunde die Augen, denn er glaubte, es schon knirschen zu hören. Das Schwert sauste voller Wucht in die Planken und blieb stecken. Der Olivengesichtige versuchte vergeblich, es herauszuzerren. Da war der Profos wieder auf den Beinen. Noch während er sich aufrichtete, riß er den Kerl am Fußgelenk um, packte ihn dann am Hosenbund und stauchte ihn auf die Planken zurück. „So, du Plattnase!“ brüllte er. „Jetzt wirst du es mal deinen anderen Gaunern zeigen, wie du kämpfen kannst!“ Noch einmal wurde der Kerl auf die Planken gestaucht, dann ergriff Carberry ihn an den Beinen und ließ ihn kreisen. Mit dem Schädel voran donnerte er zwischen seine Kumpane, riß sie um und senste sie nieder. „Es geht nichts über eine harte Rübe“, knurrte Ed und ließ den Kerl noch einmal um seine Achse kreisen. Dessen Schädel scheint aus ungewöhnlichem Material zu bestehen,
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dachte Ed und grinste bösartig, denn die Kerle, die er traf, die schleuderte es davon, als hätten sie mit einem Rammbock Bekanntschaft geschlossen. Auf dem Deck lagen Tote und Verwundete. Einige stöhnten entsetzlich, rollten sich zur Seite und landeten meist ein Deck tiefer. Erst dann gaben sie Ruhe. Der Kampf geriet ins Stocken, die ersten Araber wichen zurück, und Nachschub von unten erfolgte auch nicht mehr. Die restlichen, die noch in den Hohlräumen steckten, zogen es vor, darin zu bleiben, denn das, was sie vom Deck aus hörten, klang gar nicht gut. Sie waren auch keine ausgefuchsten Kämpfer, sie wirkten zu unentschlossen und gingen nur zögernd an den Mann. Ihre ganze Stärke war ihre Überlegenheit und das Überraschungsmoment, und das hatte diesmal nicht geklappt. Carberry war aber gar nicht damit einverstanden, daß die Burschen sich jetzt auf den Rückzug begaben. Als die Angriffswelle stockte, es waren etwa vierzehn, sechzehn Mann, griffen die Seewölfe erneut an, ohne Pause, und drehten den Spieß um. Die ersten rannten den Niedergang hoch auf das Achterdeck. Einen Kerl mit einem großen Ohrring, der geduckt den anderen folgen wollte, erwischte Stenmark gerade noch und zog an dem Ohrring. Da der Kerl aber unbedingt fortwollte, und Stenmark ihn unbedingt nicht loslassen wollte, hielt er plötzlich den Ohrring in der Hand. Der Kerl stieß einen Schrei aus, griff an sein Ohr, blickte sich wild um und sprang mit einem gewaltigen Satz über Bord. Ein paar andere hatten die Krummsäbel weggeworfen und erklommen ebenfalls das Achterdeck. „Auf sie!“ brüllte der Profos noch einmal, doch die Araber hatten genug von diesen rasenden Teufeln. Die paar Mann, die sie hatten erwischen wollen, um sie als Sklaven zu verkaufen, standen in keinem Verhältnis zu ihren eigenen Verlusten, und so suchten die meisten ihr Heil in der Flucht.
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Als Hasard sich ebenfalls anschickte, zum Achterdeck aufzuentern und dabei wild den Degen schwang, verließ die Kerle auch der letzte Mut. Die ersten rannten noch bis zum Grätingdeck, dann blieben sie unentschlossen stehen, und der Mut verließ sie ganz. Sie hoben wieder die Arme, aber damit war der Profos nicht einverstanden. Mit finsterem Gesicht näherte er sich einem Kerl in blutverschmierten Türkenhosen, holte aus und setzte ihm die Faust in den Magen. Ein zweiter Schlag trieb ihn über die Verschanzung, und der Kerl landete im Wasser. „Du auch!“ rief Carberry. „Ab mit dir, hinterher!“ Sie brauchten keine lange Aufforderung mehr, ihr Mut war restlos abgekühlt, und sie blickten schaudernd auf die Ungläubigen, die wie die Teufel wirkten. „Ar-we-nack !“ brüllte Ed plötzlich mit seiner Donnerstimme. „Zum Teufel, das hatten wir ganz vergessen, oder wir waren noch nicht richtig warmgelaufen. Ar-wenack!“ Hasard, Stenmark, Ferris und Dan fielen in den alten Schlachtruf der Seewölfe ein. Die Araber nahmen an, ihr letztes Stündlein habe geschlagen, als sie die Giaurs so laut brüllen hörten. Als wäre das das Startzeichen gewesen, sprangen sie voller Entsetzen von der Gräting aus schreiend und voller Panik ins Wasser. Ihre Körper klatschten ins Wasser, tauchten wieder auf, und ihre bärtigen Gesichter drehten sich angstvoll herum, als sie zum Ufer schwammen. Wie eine Horde verängstigter Ratten wirkten die Kerle. Carberry drohte ihnen mit der Faust nach. Sie kletterten an Land und verschwanden zwischen den Felsen. Erst da kehrte ihr Mut wieder zurück, und sie drohten ebenfalls. Der Sarazene, der sich auch an Land hatte retten können, gebärdete sich jetzt am tollsten von allen.
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„Christenhunde, verdammte!“ schrie er zornig. „Der Scheitan wird euch ungläubige Hundesöhne alle holen. Die Ratten sollen euch fressen, und die Pest soll euch erwischen.“ „Was sagt die Wanze?“ fragte Ed. „Woher soll ich das wissen?“ sagte Hasard. „Ich verstehe nicht ein einziges Wort. Vielleicht wollen sie sich bei uns bedanken.“ „Ja, das wird’s wohl sein. Allen Grund haben sie ja dazu. Aber jetzt sollten wir mal nach den anderen Kerlen sehen, Sir.“ „Die wagen sich so schnell nicht hervor. Sieh mal an Deck, Ed, da liegen fast ein Dutzend Tote und Verletzte.“ „Ja, wenn wir reinhauen, dann richtig“, meinte Carberry und wischte sich einen Blutstreifen vom rechten Oberarm, wo ihn ein Säbel leicht gekitzelt hatte. „Ist jemand verletzt?“ fragte der Seewolf. Er hatte seinen Degen wieder eingesteckt. Jetzt hingen ihm die Haare feucht in die Stirn, sonst war ihm keine Gemütsregung anzusehen. „Es war kein schwerer Kampf, Ed, ganz gewiß nicht. Diese Kerle verstehen nur nicht richtig zu kämpfen. Sie dachten wohl, sie könnten uns blitzschnell überrumpeln. Wahrscheinlich hätten sie uns, wenn ihnen das gelungen wäre, als Geiseln behalten, und wären so möglicherweise auch an die anderen gekommen. Das ist aber noch nicht sicher, denn Ben hat eindeutige Befehle.“ Unter ihnen war es mucksmäuschenstill. Dort hockten verängstigte Kerle mit vollen Hosen, denn daß sich keiner ihrer Kumpane mehr blicken ließ, war sehr bedenklich. Das hieß nichts anderes, als daß hier oben die Teufel persönlich an Deck standen und alle anderen längst abgemurkst hatten. Niemand wagte sich an Deck, obwohl Hasard sicher war, daß sich unter ihnen mindestens noch ein Dutzend Männer befand, wenn nicht noch mehr. „Ernstlich verletzt ist keiner“, sagte Dan. „Ich habe nur ein paar Kratzer, und Stenmark hat eins über den Schädel gekriegt. Das ist nicht der Rede wert.“
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„Und meine Kratzer erst recht nicht“, sagte der Profos. Er blickte zum Land hinüber und hob wieder die Faust. „Da schleichen sie, diese Rattenpisser, dieses erbärmliche feige Gesindel. Ich hätte nicht übel Lust, die Kerle da unten einzeln herauszuholen, durchzuklopfen und über Bord zu werfen.“ „Die haben sich ja vor lauter Angst nicht an dem Kampf beteiligt. Aber wir werden ihnen noch eine Erinnerung zurücklassen, sobald wir an dieser Bucht vorbeisegeln“, versprach Hasard. „Wir zerhacken ihren Bug noch ein wenig, damit sie wirklich recht viel Zeit zum Aufriggen haben.“ „Wir könnten den Kahn auch gleich an Ort und Stelle anbohren und in der Bucht versenken“, brummte Ferris. „Dann flitzen die Kerle von ganz allein nach oben wie die Ratten.“ „Wir kehren zurück“, entschied Hasard. „Die Kerle haben ihre Lektion erhalten und sich blutige Nasen geholt. Das dürfte für eine Weile reichen. Ich rechne es ihnen jedenfalls an, daß sie uns nicht aus dem Hinterhalt beschossen haben. Aus diesem Grund lassen wir sie jetzt in Ruhe.“ „Klar, die wollten uns lebend oder aber wenigstens leicht verletzt“, meinte Stenmark. „Tote Sklaven nutzen ihnen nichts, die kann man nicht verkaufen.“ „Das ist schon richtig, Sten. Trotzdem haben sie auch später nicht geschossen, und wir konnten uns nicht anders wehren.“ Hasard sah auf die Verwundeten, die an Deck lagen. Einige stöhnten leise, andere, die es nur leicht erwischt hatte, stellten sich tot, aus Angst noch einmal in die Hände dieser Teufel zu geraten. „Was tun wir jetzt mit denen da?“ fragte Ferris und wies auf die durcheinanderliegenden Piraten. „Um die sollen sich die anderen kümmern“, sagte Hasard kalt. Es war nicht seine Art, so zu handeln, aber die Kerle hatten ihre Kumpane, und die sollten ihnen gefälligst helfen. Sie konnten ohnehin hier an Bord für sie nichts tun. Schließlich hatten die Kerle genau gewußt, daß es ein Risiko war, andere heimtückisch zu
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überfallen. Eigene Verluste mußten in solchen Fällen immer einkalkuliert werden. Vorsichtig bewegten sie sich nach unten am angelehnten Schott vorbei, aber dahinter gähnte Finsternis, und niemand ließ sich blicken oder streckte den Schädel heraus. Carberry trat mit dem Stiefel gegen das Schott, bis es zuknallte. Sie wollten beim Abgang nicht noch eine Kugel einfangen, die jemand heimtückisch abfeuerte. „Entert leise ab, die Kerle sollen glauben, wir befänden uns noch an Bord. Ins Boot mit euch, ich gehe als letzter.“ Einer nach dem anderen hangelte sich hinunter, bis der Seewolf noch allein an Deck stand. Er raffte ein paar Krummschwerter zusammen und warf sie über das Deck. Ein paar Holzstücke flogen hinterher. Dann trat er mit den Stiefeln hart auf, donnerte noch mal an das Schott und rief: „Raus mit euch, ihr feigen Hunde!“ Alles blieb unheimlich still. Hasard kehrte lautlos zurück, ließ sich an dem Tampen ins Boot ab und stieß es von der Bordwand. Ed hatte schon das Segel gesetzt, und so bewegte sich das Boot leicht mit dem Bug zur Bucht hin. Nach zwanzig Yards Entfernung rührte sich immer noch nichts auf der Schebecke. Sie lag da wie ausgestorben. Erst als sie die Felsen rundeten und der Küstenverlauf unübersichtlich wurde, hob einer der Verwundeten den Kopf und blickte furchtsam über das Schanzkleid. Hasard kümmerte sich nicht mehr darum. Die Kerle hatten genug mit sich selbst zu tun, sie mußten erst einmal ihre Wunden lecken. Von ihnen war nichts mehr zu befürchten. 9. Die fünf Seewölfe wurden mit Erleichterung begrüßt, als das Beiboot an der „Isabella“ anlegte. „Was ist passiert?“ fragte, Ben Brighton. „Ihr seht .ja reichlich mitgenommen aus. Wir glaubten, Schüsse gehört zu haben, waren uns aber nicht ganz sicher.“
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„Da habt ihr richtig gehört”, sagte Ed. „Wir haben auch tatsächlich geschossen, und jetzt sind einige Hundesöhne unterwegs, um ihre Urgroßväter einzuholen.“ „Die Schebecke war eine Falle“, erklärte Hasard. „Sie müssen unsere Ankunft bemerkt haben und haben sich entsprechend darauf eingestellt. Sie wollten unsere Neugier wecken, und genau das haben sie auch erreicht.“ „Jetzt ist ihre Neugier allerdings auch befriedigt“, sagte Dan O’Flynn trocken. Ben Brighton und die anderen, die die Zurückgekehrten umstanden, sahen sie ungläubig an. „Und euch ist nichts passiert?“ wollte Old O’Flynn wissen. „Die Kerle waren doch gewiß in der Überzahl.“ „Das schon, aber unser gesundes Mißtrauen hat uns gerettet - und unsere schnelle Gegenwehr. Auf der Schebecke sind arabische Piraten, die sich auf den Sklavenhandel verlegt haben. Sie handeln mit weißen Sklaven, wir haben Kleiderfetzen von Spaniern gefunden, aber die Gefangenen waren nicht mehr an Bord. Man hat sie wahrscheinlich auf ein anderes Schiff gebracht, oder sie sind im Sturm ums Leben gekommen.“ „Wir sollten den Mistkahn versenken, Sir“, sagte Big Old Shane und blickte finster auf die Felsen. „Wir werden ihm den Bug zerschießen, wenn wir an der Bucht vorbeisegeln. Hievt das Beiboot hoch. Sobald es an Bord ist, segeln wir weiter.“ Die meisten waren dafür, die Schebecke zu stürmen, die restlichen Araber kräftig zu verprügeln und sie anschließend ins Land zu jagen. Dann wollten sie den Mistkahn versenken, aber Hasard winkte ab. „Damit halten wir uns nicht auf, Leute. Wir setzen ihm ein paar Siebzehn-Pfünder ins Vorkastell und segeln weiter. Bis der Kahn wieder aufgeriggt ist, wachsen den Kerlen lange Bärte, und sie werden noch eine Weile an uns denken.“ Der Anker wurde gehievt und die Segel gesetzt. Darüber verging fast eine halbe Stunde, und als die „Isabella“ aus der
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Bucht manövrierte und langsam Fahrt aufnahm, verging noch einmal eine weitere halbe Stunde. Die Ausgucks suchten die Felsen ab, aber die geflüchteten Piraten waren entweder ins Landesinnere geflohen oder hatten sich irgendwo zwischen den Felsen gut versteckt. Langsam kam die Bucht in Sicht und mit ihr die Schebecke, die Menschenfalle. In dieser einen Stunde hatten die arabischen Piraten wie die Wilden geschuftet, weil sie fürchteten, die Giaurs würden mit ihrer gesamten Crew zurückkehren und alles kurz und klein schlagen. Sie hatten auch die Verwundeten und Toten mitgenommen und an Land gebracht. „Kein einziger befindet sich mehr an Bord, Sir!“ schrie Bill aus dem Großmars an Deck. „Aber ganz oben in den Felsen haben sich anscheinend einige versteckt.“ Der Seewolf gab das Verstandenzeichen. Al Conroy hatte mittlerweile drei Culverinen laden lassen. Die Stückpforten waren auch schon hochgezogen. Er wartete nur noch auf den Feuerbefehl. Blacky stand bereit, Smoky hatte den glimmenden Luntenstock in der Hand, und Al Conroy selbst nahm bereits Maß. Der Schimpanse Arwenack verschwand nach oben - wie immer, wenn die Rohre Feuer spuckten. Dort hockte er auf der Großmarsrah und verzog grämlich das Gesicht. Hasard hatte die Arme auf die Schmuckbalustrade des Achterdecks aufgestützt und rief Al Conroy zu: „Ohne Erlaubnis feuern, wenn ihr das Ziel aufgefaßt habt.“ „Aye, aye, Sir!“ tönte es zurück. Die anderen umstanden ihre Kameraden, und der Profos hatte die Arme in die Seiten gestemmt und sah finster zu der jetzt wirklich verlassenen Schebecke hinüber. „Glatte See, klares dichtes Ziel“, sagte er. „Wenn einer von euch nicht genau die Fliege trifft, die auf dem Vordeck sitzt, dann stopfe ich denjenigen anschließend in
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das Rohr und jage ihn mit zehn Pfund Pulver hinüber.“ Aus den Bergen erklang plötzlich Gebrüll. Die arabischen Piraten hatten erkannt, was die „Isabella“ beabsichtigte, und jetzt zeigten sich auch einige. Sie brüllten, fluchten, und ein schwarzhaariger Kerl, den Hasard durch das Spektiv betrachtete, hüpfte ganz oben zwischen den Felsen hin und her und raufte sich die Haare. Smoky hielt die Lunte an das Zündkraut. Der Funke fraß sich zischend hindurch. Die Culverine entlud sich mit einem dumpfen Gebrüll und sauste zurück, bis die Brooktaue sie auffingen und stoppten. Gleichzeitig fuhr eine feuerrote Lanze aus dem Rohr, eine Qualmwolke entstand auf der Steuerbordseite. Unmittelbar darauf schlug es dröhnend im Vorkastell der Schebecke ein, und Planken wirbelten durch die Luft. Die zweite Culverine entlud sich mit Gebrüll, spuckte Rauch und Feuer und die Siebzehnpfünderkugel rasierte einen Teil des als Rammbug ausgebauten Galionseck weg. Auch dort ein Krachen, ein Zerfetzen von Holz und ein Splitterregen, der über das Deck und ins Wasser flog. Der dritte Schuß. Krachen, Bersten. Der Maststumpf der Schebecke flog mit einem Teil des Decks davon, und riß auf der anderen Seite das Schanzkleid auf. Als sich der Rauch verzogen hatte, war es in den Bergen still. Nur der Sarazene raufte sich noch immer die Haare und erstickte fast vor Wut. Jetzt erst sah man die Beschädigungen. Die drei Siebzehnpfünder der „Isabella“ hatten sauber getroffen und das Vorschiff in einen Trümmerhaufen verwandelt. Geborstene Planken ragten nach oben, die Galion war zerfetzt und zertrümmert. Von dem Rammsporn hing nur noch ein trauriger Stumpf nieder. „Ihr habt die Fliege getroffen“, sagte der Profos gönnerhaft. „Das habe ich ganz deutlich gesehen. Nächten Monat ist Weihnachten, da dürft ihr euch alle etwas wünschen.“
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Das ohnehin verwüstete Deck glich nun einem Berg aus wahllos aufgeschichteten Trümmern, die Ferris Tucker neugierig musterte. „Das gibt Arbeit für die Hundesöhne“, sagte er fachmännisch. „Damit sind sie eine Weile beschäftigt und werden ihre Menschenjagd fürs erste vergessen. Man hätte den Kahn besser doch total versenken sollen.“ Daß das ein anderer für ihn tun würde, erfuhr Ferris Tucker allerdings nicht mehr, aber es sollte nicht lange dauern. Die „Isabella“ segelte weiter, an der Bucht vorbei, und aus den Bergen rannten die Kerle ans Ufer, als gelte es ihr Leben. Langsam blieb die Bucht zurück. Die Schebecke entschwand ihren Blicken, und auch die Felsen wurden kleiner. Bevor die Nacht anbrach, wurde eine alte Ruinenstadt entdeckt, und als Hasard den fast flehentlichen Blick des Kutschers sah, wurde er weich und befahl zu ankern. Morgen in aller Frühe wollten sie sich ein Stück uralter Geschichte ansehen und dann endgültig weitersegeln. * Die Sache mit dem Sarazenen hatte jedoch noch ein übles Nachspiel, von dem die Seewölfe ebenfalls nichts erfuhren. In der Dämmerung des nächsten Morgens lief eine kleine unscheinbare Feluke die Bucht des Minotaurus an. Sie hatte nur zehn Mann Besatzung, und aus dieser Besatzung, die ausschließlich aus Arabern bestand, hob sich nur ein Mann etwas aus der Masse der anderen heraus. Dieser Mann war Ali Abdel Rasul, den nur wenige kannten, den aber alle fürchteten, und der an den Küsten bis hinauf zur Ägäis Angst und Schrecken verbreitete, wenn nur sein Name fiel. Ali Abdel Rasul war groß und schlank, schwarzhaarig, mit kohlschwarzen Augen und einem Bärtchen, wie die Scheiche es trugen. Aber dieses Bärtchen trug er nicht immer. Mitunter war er glattrasiert, mal in
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kostbare Gewänder gekleidet, mal in Lumpen gehüllt, mal als Händler auftretend, der Ware an andere Schiffe verkaufte. Die Feluke lief in die Bucht. Die Segel wurden weggenommen, und der letzte Schwung brachte sie bis dicht auf den Strand, wo sie etwas schräg geneigt liegenblieb. Ali Abdel Rasul winkte zwei Männer herbei. Seine linke Hand lag auf einem goldverzierten Krummdolch, der im Gewand an seiner linken Hüfte steckte. Er trug ein burnusähnliches Gewand von ockergelber Farbe und hatte Sandalen an den Füßen. „Du siehst nach, wie viele Gefangene wir haben“, befahl er dem einen Mann, „und du drehst den Stein. Ich werde nachsehen, ob der Kapitän eine Nachricht hinterlassen hat.“ Die beiden verbeugten sich fast ehrfurchtsvoll vor Ali und sprangen in den Sand. Der eine kletterte in die Berge, während der andere den Felsen erklomm und den schweren Stein bewegte. Ali Rasul stand vor dem Bild des Minotaurus und blickte es aus ausdruckslosen Augen an. Dann schwang der Stiermensch mit einem leisen Knirschen zurück und gab den Blick in das Innere preis. Am Horizont ging die Sonne auf. Zaghaft schob sie sich von Osten her über das Meer und tastete mit roten und silbernen Strahlen über die Wasserfläche. Aber dafür hatte der Ägypter keinen Blick. Er zog sich an dem Felsen hoch und blickte in die kleine Höhlung. Das Gold, das Silber und die Perlen waren weg. Das war richtig so, das hatte sich der Kapitän geholt, wie es ihm zustand. Ali irritierten nur die fünf Steine, die darin lagen. Weiter befand sich nichts in dem Hohlraum. Verblüfft und ratlos nahm er sie heraus, drehte sie hin und her und wußte nichts damit anzufangen. Hinter ihm war ein weiterer Mann erschienen, ein kleiner, kriegerischer Bursche, der devot dienerte.
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Ali drehte die Steine immer noch hin und her, betrachtete sie von allen Seiten und wurde nicht schlau daraus. „Hast du dafür eine Erklärung?“ fragte er den Mann mit dem Wieselgesicht. Der starrte ebenfalls auf die Steine und schüttelte den Kopf. Dann blickte er seitlich auf das Bild des Stiermenschen. „O Herr“, sagte er, „vielleicht zürnt der Stier von Kreta und hat das Gold in Steine verwandelt.“ „Meinst du, daß ein Halbgott das kann?“ fragte Ali spöttisch und kräuselte verächtlich die Lippen. „Die Halbgötter vermögen viel, o Herr.” „Aber dieser ist nur ein Bastard“, sagte Ali lachend. „Und du redest wieder einmal dummes Zeug, Moshe.“ Der unterwürfig wirkende Mann zuckte ängstlich zusammen. Dann schwieg er bedrückt. „Ich möchte wissen, was hier vorgeht“, sagte Ali Rasul leise. Dann blickte er nach oben. Seine Hand tat eine herrische Bewegung, und gleich darauf schloß sich ganz sanft das Versteck mit einem leisen Knirschen. Auf Alis Zügen lag leichte Ratlosigkeit, aber er blieb geduldig stehen und wartete ab, bis der Mann aus den Bergen wieder zurückkehrte. Das dauerte fast eine Viertelstunde. „Was ist?“ fragte Ali knapp. „Es sind keine Gefangenen da, o Herr“, stammelte der Mann verstört. „Kein einziger Christenhund befindet sich in dem Verlies. Es ist leer.“ „Bist du ganz sicher?“ „Ganz sicher, Herr. Allah soll mich „Schon gut. Du willst noch etwas sagen?“ „In der Bucht weit vor uns liegt der Sarazene, Herr. Sein Schiff ist arg beschädigt. Die Leute haben mich nicht gesehen, sie arbeiten und bessern aus.“ Alis Gesicht verfinsterte sich bei den Worten. Er blickte auf die Steine, sah den Minotaurus an, und dann erschien in seinen dunklen Augen ein bösartiges Licht. „Keine Gefangenen“, sagte er, als spräche er zu sich selbst. „Das Gold ist fort, und dieser Hundesohn wagt es, in der Bucht
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liegenzubleiben und sein Schiff zu reparieren.“ Wütend warf er die Steine in den Sand. „Er hat mich betrogen, dieser Hund. Er glaubte sich wohl in Sicherheit, aber dann hat ihm der Sturm übel mitgespielt. Gold und Silber hat er sich geholt, er hat die Bezahlung kassiert, ohne die geringste Gegenleistung zu erbringen. Das hat noch keiner gewagt.“ In den Augen glomm es immer düsterer auf, und die beiden Männer traten ein paar Schritte zurück, als sie ihren Herrn so zornig sahen. „Dieser Hundling von einem Sarazenen“, sagte Ali flüsternd. „Er wagt es ...“ Mit schnellen Schritten ging er an Bord zurück. Sein Gesicht blieb jetzt kalt und ausdruckslos, aber in seinem Innern fraß der Zorn, da kochte es über diese bodenlose Frechheit. „Dorthin, wo die Schebecke liegt!“ befahl er. Die Männer sprangen ins Wasser, schoben mit vereinten Kräften die kleine Händlerfeluke ins Wasser und sprangen wieder auf. Sofort segelte die Feluke weiter, bis sie die bezeichnete Bucht erreichte. Ali Abdel Rasul starrte auf die Schebecke, die bestenfalls noch ein Wrack war. Die Reparatur würde ei-. ne Weile in Anspruch nehmen. Er sah, wie die Männer sich abmühten, den Mast aufzuriggen und die Schäden auszubessern. „Wer von ihnen ist der Sarazene, Moshe?“ fragte er. Moshe deutete dezent nach achtern, wo ein Mann mit mürrischem Gesicht stand und den zertrümmerten Balustradenschmuck anstarrte. „Der Kerl ganz achtern, Herr.“ Auf der Schebecke wurden die Arbeiten jetzt unterbrochen, als die kleine Feluke in die Bucht segelte, die Segel strich und langsam heranglitt. Sie starrten den vermeintlichen Händler an und grüßten lässig. Ali Abdel Rasul verneigte sich.
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„Allahu Akhbar, meine Brüder“, grüßte er überschwänglich. „Allah sei mit Euch, Kapitän. Ihr seid doch der Kapitän, Herr?“ Der Sarazene war in ausgesprochen übler Stimmung. Er erwiderte den Gruß mürrisch und fragte: „Was willst du? Was verkaufen?“ „Allah beschütze dich, Herr“, sagte Ali. „Ihr habt schwere Schäden erlitten, wie ich sehe, und ihr werdet unsere bescheidene Hilfe gut gebrauchen können. Wir haben alles an Bord, was Euch zum Leben mangelt. Nüsse, Datteln, Oliven, frisches Gemüse, Beeren und auch Pulver.“ Zuerst sah es so aus, als wollte der Sarazene die vermeintlichen Händler zum Teufel jagen, aber dann war er einem kleinen Plausch nicht abgeneigt und gestattete, daß die Feluke an der Bordwand vertäut wurde. „Wir könnten schon etwas gebrauchen“, sagte er und musterte den Händler mißtrauisch von oben bis unten. „Aber nur, wenn ihr vernünftige Preise aushandelt.“ Alis Gesicht blieb devot und unterwürfig, wie die Händler ihren Kunden immer begegneten. „Ihr werdet zufrieden sein, Herr, und Ihr werdet über meine Preise ehrlich erstaunt sein.“ „Dann kommt an Bord und bringt gleich Tee mit.“ „Zu Diensten, Herr.“ Ali und drei weitere Männer enterten geschickt und schnell auf und sahen sich bedauernd um. „Seid ihr zufällig hier vorbeigesegelt?“ fragte der Sarazene. „Zufällig, Herr. Wir wollten weiter nach China, um frische Ware zu übernehmen und dort zu handeln. Was ist geschehen, Herr? Wer hat euer Schiff so beschädigt?“ Der Sarazene spuckte wütend über Bord. Dabei musterte er anerkennend den Dolch in Alis Gürtel, ohne zu wissen, wen er vor sich hatte. „Zuerst war es der Sturm, dann segelte ein spanischer Christenhund hier vorbei und feuerte auf uns, die wir doch völlig wehrlos waren.“ „Und warum tat er das?“
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„Frag ihn selbst, Händler, ich weiß es nicht. Hast du auch Pulver anzubieten?“ „Soviel ihr wollt, Herr.“ Über Ali Rasuls Gesicht glitt ein Schimmer. Er blickte über das achtere Schanzkleid und gab den Befehl, ein paar Fässer Pulver an Bord zu bringen. Ein anderer erschien mit einem Kessel kochenden Wassers und kleinen Täßchen mit frischen Pfefferminzblättern. Ali nahm sie entgegen, hielt eins der zerbrechlichen Täßchen in der linken Hand und goß aus großer Höhe geschickt wie ein Zauberkünstler das kochende Wasser schwungvoll in das Täßchen. Dann tat er ein paar Tropfen Tamarindensaft dazu und in das andere ein paar Tropfen Rosenöl. Der Sarazene nickte anerkennend über soviel Geschick. Dieser Händler hatte nicht einen einzigen Tropfen verschüttet. Wahrlich, ein sehr geschickter Mann. Ali plauderte, stellte Fragen und horchte den Sarazenen geschickt aus. Aber er erfuhr nicht viel, denn der Kapitän war mißtrauisch und geizte mit den Worten. Für Ali Rasul stand jedoch schon das Urteil fest. Der Sarazene hatte ihn betrogen, betrogen um die Sklaven und betrogen um das Gold, das er widerrechtlich und entgegen aller Geschäftspraktiken an sich genommen hatte. Aber einen Ali Abdel Rasul betrog man nicht, auch wenn der Sarazene sich bisher immer korrekt verhalten hatte. Ali glaubte genügend und einwandfreie Beweise zu haben. Die Pulverfässer wurden an Deck gestellt, scheinbar unabsichtlich an mehreren Stellen. Dann wurden die Lebensmittel nach oben gebracht, die der Sarazene verlangte. Er begutachtete alles, meckerte hier und da herum und versuchte, den Preis zu drücken, was Ali mit beifälligem freundlichem Lächeln quittierte. Aber er blieb bei dem Preis. „Du bist ein harter Knochen!“ fuhr er Ali an. „Deine Preise sind zu hoch. In der nächsten Stadt kriege ich das Zeug billiger.“
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„Herr, ich muß auch meine Leute bezahlen, ich hin ein armer Mann, der eine große Familie ernährt, Ich kann euch eine Zugabe geben. Aber dann möchte ich euch an Bord meines Schiffes bitten, damit Ihr euch eine der Kostbarkeiten aussuchen könnt. In welcher Währung wollt ihr mich bezahlen?“ „In Piastern“, sagte der Kapitän. Mit meinen eigenen Piastern, dachte Ali, die du Hundesohn mir aus dem Versteck geklaut hast, Er lächelte verbindlich und blickte auf die kleinen Krüge und Fässer, die jetzt an Deck standen. Der Sarazene war neugierig auf die Zugabe, die der Händler ihm gewährte, und so zeigte er nach unten. „Gehen wir, ich habe nicht viel Zeit. Mein Schiff muß wieder aufgeriggt werden. Was qualmt da so entsetzlich bei euch an Bord?“ wollte er wissen. „Moshe wird Brotfladen backen, Herr. Er stellt sich dabei reichlich ungeschickt an. Eines Tages wird er das ganze Schiff in Brand setzen.“ Der Sarazene enterte ab. Er sah sich die Feluke an und war erstaunt, daß das kleine Händlerschiff über eine hölzerne Schleudervorrichtung verfügte, mit der man Brandtöpfe und Griechisches Feuer verschießen konnte. Ali sah den Blick und lächelte. „Wir werden oft ausgeplündert, Herr. Aber wir wissen uns unserer Haut zu wehren. Bitte, folgt mir!“ Kaum war der Sarazene an Bord, da beugten sich auch schon neugierige Köpfe über das Schanzkleid. „Steht nicht rum, glotzt nicht!“ befahl der Kapitän. „Geht an eure Arbeit, ihr Hundesöhne.“ Die Köpfe fuhren zurück, und die Arbeit wurde emsig fortgesetzt. Ali Abdel Rasul bat den Kapitän in seinen bescheidenen Raum, der mit kostbaren Teppichen ausgestattet war. Teure Öllampen hingen von der Decke, auf dem Boden lagen Wasserpfeifen, Tonkrüge und Gewänder, alles, was die Händler verkauften.
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Zwei Mann aus Alis Besatzung lösten unauffällig die Leine, und gleich darauf trieb die Feluke leicht von der Schebecke ab. Zunächst bemerkte es niemand, doch dann fiel dem Sarazenen die leichte schlingernde Bewegung auf, und er stürzte an Deck. Gehetzt sah er sich um, starrte Ali an und wollte etwas sagen, denn die Feluke hatte bereits Fahrt aufgenommen und glitt aus der Bucht. Auf der Schebecke brüllten die Leute durcheinander und rangen die Hände, als das Händlerschiff weitersegelte. „Was hat das zu bedeuten?“ fragte der Sarazene mit vor Wut verzerrtem Gesicht. „Willst du Hundesohn mir wohl eine Antwort geben, du räudiger Köter?“ Ah Abdel Rasul lächelte hintergründig: Der Sarazene sah sich plötzlich von sechs Männern eingekreist und wurde blaß. „Wenn du einem giftigen Köter die Zähne ziehst”, sagte Rasul immer noch lächelnd, „dann kann er nicht mehr beißen. Stimmt das?“ fragte er mit sanfter Stimme. Zitternd hob der Sarazene die Hände, als er den scharf geschliffenen Krummdolch an seiner Hüfte verspürte. Die Männer, die ihn umringten, starrten ihn mit finsteren Augen an. „Ali - Ali - Abdel Rasul!“ stammelte der Sarazene, als ihm endlich dämmerte. was hier passiert war. Der schlanke Mann sah ihn an und nickte. „Ganz recht, Hundesohn. Du hast mich bestohlen, du hast mich getäuscht und betrogen. Du hast keinen einzigen Gefangenen, aber trotzdem hast du mein Geld genommen! Das hast du nun davon.“ „Ich habe nichts genommen!“ schrie der Kapitän angstvoll und hob abwehrend die Hände hoch, als der Dolch ihn drückte. „Und die Gefangenen sind im Verlies. Fünf Leute sind es.“ „Und jetzt belügst du, mich auch noch, du räudiger Hund. Wir hätten das verrechnen können, aber du mußtest mich auch noch verhöhnen, indem du fünf Steine in das Versteck legtest. Du hast meine Ehre besudelt und mich der Lächerlichkeit
Der Stier von Kreta
preisgegeben. Du weißt, wie ich darauf reagiere.“ Der Sarazene schrie wie am Spieß, beteuerte lauthals seine Unschuld, aber dafür hatte Ali Rasul nicht mehr als ein verächtliches Lächeln übrig. „Sieh dir jetzt an, wie es Verrätern geht!“ sagte er kalt. Dann gab er seinen Männern einen Wink. Sie trugen einen runden Kessel an Deck, in dem es qualmte, zischte und brodelte. Vorsichtig legten sie ihn in den hölzernen Kopf der Schleuder. Dann trat ein Mann zurück und kappte das Tau mit dem die Schleuder gespannt war. Voller Kraft schoß der Topf in die Höhe, der Luftzug ließ das Leuchtöl erglühen, und eine helle Flamme schoß hoch, als der Topf einen großen Bogen beschrieb und sich wie eine glühende Sonne über der Schebecke entlud. Waberndes Feuer leckte nach allen Seiten, schaurige Schreie hallten von der Schebecke herüber, und dann stand sie schlagartig lichterloh in Flammen. Etwas später detonierten die Pulverfässer unter bestialischer Geräuschentwicklung. Der Rest der Schebecke flog krachend auseinander, und alles verging in einem Glutball. Der Sarazene stand mit leerem Blick da. Er hatte nur noch Angst, hündische Angst, und er sank heulend und jammernd auf die Knie und hob bittend die Hände. „Es muß der Spanier gewesen sein, Herr“, winselte er. „Ich war es nicht, bei Allah, ich schwöre.“ „Du brauchst nicht mehr bei Allah zu schwören, Sarazene“, sagte Ali freundlich. „Einmal ein räudiger Hund, immer ein räudiger Hund, daran wird sich nichts ändern.“ Der Sarazene stieß einen dumpfen Schrei aus, als ihm der Dolch in die Rippen fuhr und sein Leben beendete. Ali Abdel Rasul sah kalt auf ihn hinunter. Dann warf er einen Blick auf das Chaos in der Bucht und wandte sich ab. „Werft ihn über Bord!“ befahl er. Der tote Sarazene wurde über Bord geworfen und verschwand aufklatschend in
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der See. Er ging sofort unter und tauchte auch nicht mehr auf. Nur ein paar Blasen stiegen noch hoch. „Weiter, immer an der Küste entlang!“ befahl Ali. Er stand auf dem Achterdeck der Feluke und blickte ins Wasser. „Vielleicht hat er doch die Wahrheit gesprochen“, murmelte er leise, „vielleicht treffen wir diesen Spanier, wenn es ihn überhaupt gibt.“ Doch dann schüttelte er den Kopf. Nein, nein, dachte er, es paßte alles viel zu gut zusammen. Der Sarazene hatte den Tod verdient. * Noch während der Kutscher und einige ändere die historische Stätte besichtigten, rollte dumpfer Donner durch die Luft. Das donnernde Geräusch erklang zweifellos aus Westen, und es mußte von jener Stelle herrühren, wo die Schebecke lag. Die Seewölfe legten das auf ihre Art aus, denn sie wußten es nicht anders. „Die haben den Kahn in die Luft gejagt“, meinte Hasard. „Wahrscheinlich haben sie eingesehen, daß sich eine Reparatur nicht mehr lohnte.“ „Ganz recht, Sir“, pflichtete Ferris Tucker bei. „Ich an Ihrer Stelle hätte genauso gehandelt. Da gab es nicht mehr viel zu reparieren, das lohnte sich gar nicht, und das haben sie auch eingesehen.“
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„Ist nicht schade darum“, meinte Dan. „Der Kerl wird vorerst keine Sklaven mehr verkaufen. Bis der ein neues Schiff hat, vergeht eine Weile.“ Gegen Mittag kehrte der Kutscher mit den anderen zurück, und die „Isabella“ ging wieder ankerauf und setzte die Segel. Von achtern segelte eine kleine Feluke auf, ein Händlerschiff, wie es den Anschein erweckte. Aber niemand schenkte dem kleinen Kahn Beachtung, der in mehr als zwei Kabellängen vorbeisegelte. Und niemand ahnte, daß sich auf der Feluke ein Mann befand, der ihnen noch sehr viel Ärger bereiten sollte und sehr nachdenklich durch ein Spektiv die „Isabella“ beobachtete. Ali Abdel Rasul lächelte, während er den vermeintlichen Spanier musterte. Das Schiff interessierte ihn, und womöglich hatte der Sarazene doch nicht gelogen. Aber das würde die Zukunft erweisen, denn Ali Abdel Rasul hatte Zeit, sehr viel Zeit, und er war außerordentlich hartnäckig, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Immer noch lächelnd sah er, wie die ranke Galeone Fahrt aufnahm und Ostkurs steuerte. Für ihn war die Angelegenheit noch lange nicht erledigt, für die Seewölfe vorerst schon...
ENDE