James Kahn
Der Tempel des Todes
Um ein vor dem Untergang stehendes Dorf in Indien zu retten, muß Indy den heiligen San...
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James Kahn
Der Tempel des Todes
Um ein vor dem Untergang stehendes Dorf in Indien zu retten, muß Indy den heiligen Sankara-Stein aus dem Tempel des Todes holen. ISBN: 3442115922 Originalausgabe: Indiana Jones and the Temple of Doom Aus dem Amerikanischen von Toni Westermayr Goldmann, Mchn. Erscheinungsdatum: 1996
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Indiana Jones im Goldmann Verlag Rob McGregor: Indiana Jones und die Macht aus dem Dunkel Rob McGregor: Indiana Jones und das Vermächtnis des Einhorns Martin Caidin: Indiana Jones und die Hyänen des Himmels Rob McGregor: Indiana Jones und der letzte Kreuzzug Campbell Black/James Kahn: Jäger des verlorenen Schatzes/Indiana Jones und der Tempel des Todes Wolfgang Hohlbein: Indiana Jones und die Gefiederte Schlange Wolfgang Hohlbein: Indiana Jones und das Schiff der Götter Wolf gang Hohlbein: Indiana Jones und das Gold von El Dorado Wolfgang Hohlbein: Indiana Jones und das Schwert des Dschingis Khan Wolfgang Hohlbein: Indiana Jones und das verschwundene Volk Wolfgang Hohlbein: Indiana Jones und das Geheimnis der Osterinseln Wolfgang Hohlbein: Indiana Jones und das Labyrinth des Horus Rob McGregor: Indiana Jones und die Herren der toten Stadt Rob McGregor: Indiana Jones und das Orakel von Delphi Rob McGregor Indiana Jones und der Tanz der Giganten Rob McGregor: Indiana Jones und das Geheimnis der Arche Noah
Inhalt Aus dem Regen in die... ...................................................... 2 Short Round ...................................................................... 21 Der heilige Stein................................................................ 44 Der Pankot-Palast.............................................................. 61 Überraschung im Schlafzimmer........................................ 84 Der Tempel des Todes .................................................... 113 ...Traufe ........................................................................... 134 Ausbruch in die Freiheit.................................................. 165 Mit Ach und Krach... ...................................................... 185
Aus dem Regen in die... Shanghai 1935 Der Nachtklub war voller Lärm und Rauchschwaden. An Tischen rund um die Tanzfläche saßen Damen und Herren in Abendkleidung, darunter auch Männer, die nicht unbedingt Herren waren. Sie stammten aus verschiedenen Ländern, obwohl manches davon auf solche Landeskinder wohl kaum Wert legen mochte. Langbeinige Zigarettenmädchen, Rausschmeißer mit bulligen Gesichtern, exotische Speisen, Kellner im Frack, leises Lachen und lautes Gelächter, Champagner und gebrochene Versprechungen, hier und dort im Tabak ein wenig Opium, um dem Ganzen den letzten Pfiff zu geben. Ein dekadenter Ort in einer Zeit des unaufhaltbaren Verfalls. Aber bei allem doch trés gai. Wie die letzte Party vor dem Jüngsten Gericht. In wenigen Jahren sollte die Welt im Krieg entflammen. An der Seitenwand umschlossen Deco-Kurven und orientalische Mauerbogen intime Nischen oder Balkone mit Treppen. Die Bar lag hinten. Vorne neben den Türen zur Küche befanden sich das ein wenig erhöhte Musikpodium und daneben, unmittelbar vor der Tanzfläche, die Bühne. Die Bühne war von zwei gigantischen, holzgeschnitzten Statuen flankiert: chinesische Herrscher auf Thronen, goldene Breitschwerter in den Händen. Sie lächelten kühl, so als führten sie den Vorsitz bei diesen Festlichkeiten. Neben der linken Statue hing ein riesiger Gong an zwei dicken Kordeln von der Decke bis fast zum Boden herab. Auf der Vorderseite schwebte im Halbrelief ein zorniger Drache über einem hohen Berg. Neben dem Gong stand ein muskulöser Diener in einer Haremshose, den Hammer vor der nackten Brust. In der Bühnenmitte war der Schädel eines mächtigen -2-
Drachen mit weit aufgerissenem Maul nach vorn gerichtet. Die riesenhaften Augen quollen aus dem Kopf, die PappmacheFühler bebten im Takt mit dem Lärm im Saal, die Schuppen aus Lampionpapier wogten. Plötzlich drang Rauch aus dem tiefen Schlund. Der Diener schlug weit ausholend auf den Gong. Feuerrotes Licht ergoß sich in den Rauch im Drachenmaul. Das rauchige Licht strömte die Stufen hinab von der Bühne auf die Tanzfläche, während die Kapelle zu spielen begann. Dann entstieg langsam aus den klaffenden Kiefern des Untiers die Frau. Sie war Anfang, vielleicht Mitte Zwanzig. Grünblaue Augen, dunkelblonde Haare. Sie trug ein hochgeschlossenes, hautenges Abendkleid mit goldenen und roten Quasten, dazu passende Handschuhe, hohe Absätze und Schmetterlingsohrringe. Sie blieb an der Unterlippe des Drachen stehen, hob die Hand, um kokett an einem der oberen Zähne zu zerren, dann trat sie mit sinnlichem Gegurre vor. Sie hieß Willie Scott und war atemberaubend. Zwölf Mädchen tanzten die geschwungenen Treppen auf beiden Seiten des Drachenschädels hinab. Sie schwenkten Fächer vor ihren zart geschminkten Gesichtern und zeigten unter knielangen goldenen Kimonos ihre Beine in Seidenstrümpfen wohl eher länger als nur für kurze Augenblicke, während Willie zu singen begann: »Ji wang si- i wa je kan dao Xin li bian jao la jing bao jin tian shi Dao Anything goes.« Das Publikum achtete kaum darauf, aber das war Willie ziemlich gleichgültig. Sie zog ihre Nummer professionell ab, tanzte die Stufen hinauf und hinunter und sang kehlig ihr Lied; ihre Gedanken zogen durch den Rauch, der über der Bühne wirbelte, am dichtesten über dem Bestienschädel, als wären es die Träume des Drachen. In ihrer Vorstellung war das kein -3-
zwielichtiger Nachtklub in Shanghai, sondern die große Bühne. Diese billigen Hupfdohlen hinter ihr waren ein exaktes Revueballett, sie traten in den Staaten auf, und sie selbst war der umschwärmte Star, reich, bewundert und bezaubernd und unabhängig und... Der Raum verzog sich ein wenig. Willie fiel wieder ein, wo sie wirklich war. Keine Ahnung, die Leute hier, dachte sie. Sie sind zu primitiv, um eine Spitzennummer zu erkennen, auch wenn sie an ihren Tisch gesteppt kommt. Der Bandleader gab ihr den Einsatz, und sie sang den letzten Refrain, hob einen roten Schal vor das Gesicht und blickte die Zuschauer aufreizend an. »Anything goes!« Die Kapelle spielte die Schlußtakte; das Publikum applaudierte. Die drei Männer am vordersten Tisch klatschten höflich und zogen die Mundwinkel hoch, ohne zu lächeln: Es waren der Gangster Lao Tsche und seine zwei Söhne. Üble Schurken mit elegantem Anstrich. Willie zwinkerte ihnen zu. Genauer gesagt, sie zwinkerte Lao Tsche zu, der zur Zeit für ihre Spesen aufkam. Er nickte ihr zu - aber dann fiel ihm etwas anderes auf. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Während Willie auf die Bühne zurücklief und sie verließ, folgte sie Lao Tsches Blick, um zu sehen, was sein Mißvergnügen erregt hatte. Es war ein Mann, der den Nachtklub eben betreten hatte und an der Rückseite des Lokals die Treppe herunterkam. Er trug ein weißes Dinnerjacket mit einer roten Nelke im Knopfloch, schwarze Hosen, Weste, Fliege, Schuhe. Viel mehr als das konnte Willie nicht sehen. Der Mann schien eine gute Haltung zu haben, aber sie hatte ein ungutes Gefühl. Ob er von der Polizei war? -4-
Sie sah ihn unten an der Treppe ankommen, wo ihn ein Kellner begrüßte, gerade als sie die Bühne verließ. Ihr letzter Gedanke dazu war: Na, gut sieht er ja aus, aber mit dem könnte es Ärger gebe. Indiana Jones verließ den Aufzug und stieg die Treppe zum Nachtklub ›Obi Wan‹ in dem Augenblick hinunter, als die Vorstellung zu Ende ging. Er sah die zwölf Tänzerinnen in Rot und Gold unter lautem Beifall davonhuschen und lächelte. Nur nicht wegrennen, meine Damen, dachte er. Bin doch eben erst angekommen. Lässig stieg er die letzten Stufen hinunter, aber seine Augen suchten das ganze Lokal ab, wachsam wie die einer Katze. Alles war, wie er es in Erinnerung hatte, eher noch auffälliger, krasser: das liederliche Volk, der hohle Genuß; Angehörige einer untergehenden Gattung. Er fragte sich, ob denn wenigstens ihre materiellen Werke bleiben würden, ob in tausend Jahren ein Kollege von ihm ihre Häuser und Juwelen ausgraben und sich das Leben in diesem Raum hier ausmalen würde. Dieses verkommene Leben, dachte er, als sein Blick auf den Tisch von Lao Tsche fiel. Als er unten ankam, trat ein Kellner heran. Der Mann war jung, obwohl er schon schütteres Haar hatte, schmächtig gebaut, obwohl er gefährlich wirkte, halb Chinese, halb Holländer. Er hieß Wu Han. Er verbeugte sich leicht vor Indiana, während er leer lächelte, und sagte so leise, daß nur Jones es verstehen konnte: »Vorsicht.« Indy nickte zerstreut und ging auf Lao Tsches Gruppe zu. Als er herankam, setzte man sich wieder. Der Applaus verklang. »Doktor Jones«, sagte Lao Tsche. »Lao Tsche«, sagte Indiana Jones. Lao war nah an die Fünfzig. Das gute Leben hatte Gesicht und -5-
Bauch aufgeschwemmt, aber unter der Oberfläche war alles hart. Wie Eidechsenfleisch. Er trug eine schwarze Smokingjacke aus Seidenbrokat, ein schwarzes Hemd, weiße Fliege. Seine Augen drückten schwere Lider, er wirkte reptilhaft. Am linken kleinen Finger trug er den goldenen Siegelring der königlichen Familie der Tschang-Dynastie. Indy stellte es mit Kennermiene bewundernd fest. Links neben Lao Tsche saß sein Sohn Kao Kan, eine jüngere Ausgabe des Vaters: stämmig, nicht aus der Ruhe zu bringen, skrupellos. Auf Laos rechter Seite saß sein zweiter Sohn Tschen. Er war groß gewachsen und beinahe gespenstisch hager. Der weiße Schal, der lose um seinen Hals hing, erinnerte Indy an die zerfetzten Laken, die manchmal um langverdorrte Leichen hingen. Lao lächelte Indy an. »Nee tschin lie hau ma?« Tschen und Kao Kan lachten höhnisch. Indy lächelte ebenfalls. »Wah junghan, nee nah? Wah hwei hung jung tschee ja lunee kao su wah shu shu.« Er kehrte den Witz gegen Lao Tsche selbst. Die drei Männer verstummten. Lao starrte Indy bösartig an. »Sie haben mir nie erzählt, daß Sie meine Sprache verstehen, Doktor Jones.« »Ich gebe ungern an«, erwiderte Indy mit unbewegtem Gesicht. Zwei Leibwächter tauchten auf, tasteten ihn rasch ab und verschwanden wieder. Es gefiel ihm nicht, aber er hatte nichts anderes erwartet. Er setzte sich Lao gegenüber. Ein Kellner erschien am Tisch. Er brachte eine große Schüssel Kaviar und eisgekühlten Champagner im Sektkübel. Das Lächeln kehrte auf das Gesicht des Verbrecherkönigs -6-
zurück. »Zu dieser besonderen Gelegenheit habe ich Champagner und Kaviar bestellt.« Er starrte Indy unverwandt an, während er fortfuhr: »Es ist also wahr, Doktor Jones. Sie haben Nurhachi ge funden.« Indy beugte sich ein wenig vor. »Sie wissen dies genau. Gestern nacht hat einer Ihrer Jungs versucht, Nurhachi zu nehmen, ohne dafür zu bezahlen.« Kao Kan legte seine linke Hand auf den Tisch. Sie trug einen frischen Verband. Der Zeigefinger fehlte. Tsche kochte innerlich. Er nickte. »Sie haben meinen Sohn beleidigt.« Indy lehnte sich zurück. »Nein. Sie haben mich beleidigt. Aber ich habe sein Leben verschont« Lao starrte Indy an wie die Kobra den Mungo. »Doktor Jones, ich will Nurhachi haben.« Er legte ein Bündel Geldscheine auf das Drehtablett in der Tischmitte und drehte es, bis das Geld vor Indy lag. Indy legte die Hand auf das Bündel, prüfte seine Dicke, rechnete in Dollars um. Zu wenig. Viel zu wenig. Er drehte das Tablett zu Lao zurück und schüttelte den Kopf. »Das deckt nicht einmal annähernd meine Spesen, Lao. Ich dachte, ich hätte es mit einem ehrlichen Gauner zu tun.« Kao Kan und Tschen fluchten zornig auf Chinesisch. Tschen stand halb auf. Plötzlich lag eine Hand in einem eleganten Handschuh auf Laos Schulter. Indys Blick glitt an dem glatthäutigen Arm hinauf zum Gesicht der Frau, die hinter Lao stand; sie starrte ihn offen an. »Willst du uns nicht bekannt machen?« sagte sie leise. Lao gebot Tschen mit einer Handbewegung, sich zu setzen. »Doktor Jones, das ist Willie Scott«, sagte Lao. »Willie, das ist Indiana Jones, der berühmte Archäologe.« Willie ging um den Tisch herum auf Indy zu, während er aufstand, um sie zu begrüßen. Beim Händedruck taxierten sie -7-
einander. Ihr Gesicht gefiel ihm. Es besaß eine natürliche Schönheit, die durch die Schicksalsschläge des Lebens gezeichnet war wie ein seltenes Juwel nach einer Flut, ein Rohdiamant, der auf seine Fassung wartete. Sie trug eine durchsichtige Schmetterlingshaarspange, die aus ihrem Haar hervorzuwachsen schien. Indy faßte das als eine gewisse Extravaganz, wenn nicht gar Verdrehtheit ihrer Person auf. Sie trug Handschuhe. Für Indy hieß das soviel wie: ›Ich komme zwar mit vielen zusammen, aber mir kommt keiner zu nah. ‹ Ihr Parfüm war teuer. Das Kleid mit Quasten war vorne hochgeschlossen und hinten tief - sehr tief - ausgeschnitten, für Indy ein Hinweis darauf, daß sie kühl auftrat und eine schöne Erinnerung hinterließ. Sie gehörte zu Lao. Das bedeutete nichts Gutes. Willie erkannte sofort den Mann wieder, den sie beim Schluß ihres Auftritts bemerkt hatte. Ihr erster Eindruck bestätigte sich. Gutaussehend, aber so fehl am Platz, daß die Luft am Tisch geradezu knisterte. Aber er gab ihr Rätsel auf. Archäologe? Das paßte gar nicht. Er hatte eine interessante Narbe quer übers Kinn; sie fragte sich, woher sie stammen mochte. Sie war Kennerin von so was. Und ganz gewiß hatte er hübsche Augen, auch wenn sie die Farbe nicht genau zu bestimmen vermochte. Gewissermaßen grün-haselnußbraun-grau- himmelblau mit goldenen Pünktchen. Klar und hart und letzten Endes unergründlich. Eigentlich zu schade. Wie man es auch nahm, das personifizierte Unheil. Sie ließ den Blick von seiner interessanten Narbe zu seinen gar nicht braunen Augen gleiten. »Ich dachte, Archäologen wären komische kleine Männer, die dauernd nach irgendeiner Mammi suchen«, sagte sie spöttelnd. »Mumie«, verbesserte er. Sie setzten sich. Lao unterbrach ihr kurzes Gespräch. -8-
»Doktor Jones hat Nurhachi für mich gefunden und ist im Begriff, ihn abzuliefern... jetzt gleich.« Indy wollte antworten, aber da spürte er erst und sah dann auch die auf ihn gerichtete, kleine runde Mündung von Kao Kans Pistole in offensichtlicher Bereitschaft, sich zu äußern. Indy wollte jedoch nicht erfahren, was die Pistole zu sagen hatte. Er ergriff eine zweizinkige Vorlegegabel von einem nahen Servierten, während Willie weitersprach. »Wer ist denn Nurhachi?« fragte sie unschuldig. Von dem bevorstehenden großen Knall nahm sie immer noch nichts wahr. Im nächsten Augenblick wurde dieser ihr aber bewußt. Indiana zog sie an sich heran und preßte die Gabel an ihren Körper. Willie hielt kurz den Atem an. Ich wußte es, ich wußte es ja ganze Zeit, sagte sie zu sich. Zu Lao sagte sie leise, aber zwingend: »Lao, er bedroht mich mit einer Gabel.« Indy sagte mit monotoner Stimme zu Kao Kan: »Weg mit der Kanone, Kleiner« Er verstärkte den Druck mit der Waffe. Willie spürte die Zinken deutlich. Sie war bemüht, keine Furcht in ihrer Stimme sich anmerken zu lassen. »Lao, er bedroht mich mit der Gabel!« Sie glaubte nicht wirklich, daß er zustoßen würde, aber bei Männern und ihren Spielsachen wußte man nie. Lao warf seinem Sohn einen Blick zu. Der junge Mann ließ die Pistole sinken. Indy setzte nach. »Ich schlage vor, Sie geben mir jetzt, was Sie mir schuldig sind, oder... ich garantiere für nichts.« Er sah Willie an. »Nicht wahr?« »Ja«, flüsterte sie dumpf. »Sagen Sie es ihm«, empfahl Indy. »Bezahl den Mann«, flehte sie Lao an. Wortlos zog Lao einen kleinen Beutel aus der Tasche, legte ihn auf das Tablett und drehte ihn zu Indy und Willie hinüber. -9-
Indy forderte sie mit einer Kopfbewegung auf. Sie griff nach dem Beutel und schüttete eine Handvoll Goldmünzen auf den Tisch. In Indys Gesicht bewegte sich kein Muskel. »Den Diamanten, Lao. Es ging um den Diamanten.« Lao lächelte, zuckte als Besiegter mit den Schultern, zog ein viereckiges Silberkästchen aus der Westentasche und legte es auf das Drehtablett. In dem Augenblick, als Indianas Augen auf das Kästchen gerichtet waren, kippte Kao Kan weißes Pulver aus einem winzigen Fläschchen in das Champagnerglas neben sich. Und als das Drehtablett auf dem Weg zu Indy an ihm vorbeikam, stellte Kao Kan das Glas zu den Münzen und dem Silberkästchen. Als die Gegenstände sie erreichten, öffnete Willie das Kästchen. Im Inneren befand sich ein großer, aber zart aussehender Diamant. »O Lao«, stieß sie hervor. Diamanten waren für sie höchste Freude und Dämonie zugleich. Sie waren die Härte selbst, aber von wundersamer Schönheit. Sie waren klar, sie bargen alle Farben. Sie waren die magische Spiegelung ihres innersten Ichs. Und dabei waren sie auch noch überaus praktisch. Ein Diamant wie dieser konnte sie reich und von Kerlen wie diesen Typen am Tisch ein für alle Male unabhängig machen. Indy stieß die Gabelzinken in die Tischplatte, griff nach dem Edelstein und schob Willie auf ihrem Stuhl fort zu ihrem alten Platz. Sie starrte ihn eisig an. »Sie sind eine Schlange.« Das traf nun wirklich die Farbe seiner Augen. Er beachtete sie nicht und untersuchte den Edelstein. Perfekt geschliffen, jede Facette ein Spiegel des ewigen Alls. Lupenrein, keine Einschlüsse, weißes Feuer. Die Universität hatte lange nach diesem Klunkersteinchen gesucht. -10-
»Jetzt«, zischte Lao. »Her mit Nurhachi!« Indy winkte Wu Han, dem Kellner, der ihn beim Eintritt begrüßt hatte. Wu Han kam heran, eine Leinenserviette über dem linken Unterarm, in der rechten Hand ein Tablett. In der Mitte des Tabletts stand eine kleine Jadeschatulle. Willies Zorn verrauchte. Die Sache wurde immer spannender. Geld, Münzen, Edelsteine, Drohungen... und nun diese kostbare Miniatur. »Wer ist denn nun eigentlich dieser Nurhachi?« fragte sie scharf. Indy griff nach der Schatulle, stellte sie auf das Drehtablett und ließ sie zu Lao hinüberrotieren. Willie verfolgte sie mit dem Blick. »Muß wohl sehr klein sein, der Knabe«, murmelte sie. Lao zog die Schatulle zu sich heran. Seine Söhne beugten sich vor. Lao sagte mit leiser, ehrfürchtiger Stimme fast wie im Selbstgespräch: »Dieser heilige Sarg enthält die sterblichen Überreste von Nurhachi, dem ersten Kaiser der MandschuDynastie.« Indy griff nach dem Champagnerglas vor sich und hob es mit weit ausholender Gebärde zu einem Trinkspruch. »Willkommen daheim, Alter.« Er trank. Asche? dachte Willie. Das ist alles? Ein Häufchen Asche? Nach ihrer Sicht der Dinge brachte es nichts ein, bei der Vergangenheit zu verweilen. Gegenwart und Zukunft, nur sie zählten. Der Rest war bestenfalls von tödlicher Langeweile. Sie begann sich zu schminken. Lao grinste Indy schief an. »Und jetzt geben Sie mir den Diamanten zurück.« Indy hatte das Gefühl, daß die Temperatur im Lokal angestiegen war. Er lockerte den Kragen. -11-
»Ist das Ihre Art von Humor, oder höre ich schlecht?« Lao zeigte ihm eine kleine blaue Phiole. Willie starrte sie an. Noch mehr Schätze? dachte sie. »Was ist das?« »Gegengift«, zischte Lao. »Gegengift wofür?« fragte Indy argwöhnisch. Er hatte plötzlich eine Vorahnung. »Für das Gift, das Sie eben getrunken haben«, gab Lao höhnisch zurück. In Willie regte sich jenes flaue Gefühl, das nichts Gutes verhieß. »Gift!« sagte sie rauh. »Lao, was treibst du? Ich arbeite hier!« Wohl nicht mehr lange, dachte sie. Indy fuhr mit dem Finger über die Innenseite seines Champagnerkelchs. Ein körniger Rückstand bedeckte den Boden. »Das Gift wirkt schnell, Doktor Jones«, höhnte Lao. Indy legte den Diamanten auf den Tisch und streckte die Hand aus. »Her damit, Lao.« Tschen griff nach dem Stein, starrte in seine funkelnden Tiefen, grinste befriedigt, legte ihn wieder hin und drehte das Tablett zu seinem Vater. Als der Stein an Willie vorbeikam, griff sie nach ihm. Noch nie hatte sie einen so großen, so makellosen Diamanten in der Hand gehalten. Er schien beinahe zu vibrieren. Lao hatte das Interesse an dem Stein jedoch verloren. Er starrte die Schatulle an. »Endlich habe ich die Asche meines ehrwürdigen Ahnen!« Indy wurde mehr als ungeduldig. Vor seinen Augen begannen gelbe Punkte zu tanzen. »Das Gegengift, Lao.« -12-
Der Chinese beachtete ihn nicht. Das läuft in die falsche Richtung, dachte Jones. Er war aus dem Gleichgewicht. Seine Chancen wurden immer geringer. Er riß die große Gabel an sich und hielt sie wieder an Willies Rippen »Lao«, sagte er heiser. »Lao«, wiederholte sie. Lao Tsche, Kao Kan und Tschen lachten nur. »Behalten Sie das Mädchen«, sagte Lao. »Ich suche mir ein anderes.« Willie starrte Lao an, als gehe ihr erst jetzt etwas auf, das sie eigentlich schon die ganze Zeit gewußt hatte. »Du dreckiger kleiner Gauner«, sagte sie. Wu Han trat plötzlich vor. »Bitte«, sagte er und lächelte Lao an. Sie drehten die Köpfe. Unter dem Tablett, für die Gäste an anderen Tischen unsichtbar, hielt er eine Pistole in der Hand. Sie war auf Lao gerichtet. »Gute Bedienung hier«, meinte Indy. »Das ist ja gar kein Kellner«, entfuhr es Willie. Die Gabelzinken bohrten sich immer noch in ihren Körper. Bei allen waren die Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie wußte nicht mehr, wie sie sich verhalten sollte. »Wu Han ist ein alter Freund«, murmelte Indiana. »Das Spiel ist noch nicht aus, Lao! Das Gegengift!« Als Indy die Hand ausstreckte, gab es plötzlich einen lauten Knall am Nebentisch. Ihre Köpfe fuhren herum. Ein betrunkener Amerikaner hatte eine Flasche Champagner geöffnet, und der Schaum besprühte seine beiden kichernden Begleiterinnen. Mehrere Kellner ließen an anderen Tischen Sektkorken springen. Knallen, Spritzen, Gelächter. Indy richtete die Aufmerksamkeit wieder auf seinen eigenen Tisch. Er fühlte sich zunehmend unwohl. Wu Han, der neben -13-
ihm stand, sah leichenblaß aus. »Wu Han, was ist -« begann er, aber bevor er weitersprechen konnte, brach Wu Han über dem Tisch zusammen. Erst in diesem Augenblick sah Indy die rauchende Pistole in Tschens Hand unter einer Serviette verschwinden. »Indy!« stieß Wu Han hervor. Als Wu Han nach vorn kippte, fuhr Indiana hoch, fing den angeschossenen Kameraden auf und ließ ihn auf seinen Stuhl »Keine Sorge, Wu Han«, murmelte er. »Ich hol' dich hier schon heraus.« »Diesmal nicht«, flüsterte der Sterbende. »Ich bin dir bei vielen Abenteuern gefolgt, aber jetzt gehe ich allein in das große Unbekannte.« Und damit starb er. Indy ließ den Kopf seines Freundes auf die Tischplatte sinken. Ihm war heiß. Auf seinem Gesicht standen Schweißtropfen. Lao konnte seine Fröhlichkeit kaum verbergen. »Nicht traurig sein, Doktor Jones. Sie leisten ihm bald Gesellschaft.« Indys Beine waren plötzlich wie aus Gummi. Er taumelte rückwärts. Kao Kan lachte glucksend. »Zuviel getrunken, Doktor Jones?« Indy stolperte weiter nach hinten und prallte mit dem Betrunkenen am Nebentisch zusammen. Sogar Tschens Totenschädel grinste, als er sah, wie die beiden sich fassungslos anstarrten. Wutentbrannt schob Jones den Betrunkenen weg und stieß mit einem Kellner zusammen, der am nächsten Tisch von einem Servierwagen aus bediente. Er servierte flammende, alkoholgetränkte Tauben am Spieß. Und wenn es das letzte ist, was ich tue, dachte Indy, dieses Grinsen wische ich von Tschens Gesicht. Im nächsten Augenblick packte er den Flammenspieß, -14-
schnellte herum und schleuderte den Spieß nach Tschen. Der Spieß bohrte sich bis zu den lodernden Tauben in Tschens Brust. Für einen langen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Der Lärm im Lokal erstarb. Panik lag in der Luft. Die Menschen um Laos Tisch erstarrten, gebannt vom Anblick des skeletthaften Chinesen im Smoking, den ein Silberspieß durchbohrte, während die flammenden Vögel unheimliche Lichter über sein verzerrtes Gesicht tanzen ließen. Dann geschah alles gleichzeitig. Willie kreischte instinktiv. Die Frau am Nebentisch, die das zweite Grillschwert mit Pigeon Flambe neben sich auf dem Servierwagen sah und sich vielleicht fragte, wer noch durchbohrt werden sollte, kreischte ebenfalls. Im Lokal brach das Chaos aus. Schreie, Splittern von Glas, durcheinanderstürzende Menschen, absolute Verwirrung... so mochte es in Pandoras Büchse gewesen sein, bevor sie geöffnet worden war. Indy hechtete über den Tisch, um das kleine blaue Röhrchen mit dem Gegengift an sich zu reißen, aber es rutschte auf der glasigen Oberfläche davon und fiel auf den Boden. Indy und Lao starrten einander aus nächster Nähe an. Jones packte den Gangster an den Rockaufschlägen und fauchte ihn heiser an: »Hoe wei geh fan yaan.« Sehr üble Person gegen das Gesetz. »Ndio gwok haat yee«, zischte Lao. Ausländischer Bettler. Kao Kan packte Indy um den Hals, aber Jones schlug ihn mit einem linken Haken nieder. Einer von Laos Gehilfen riß Indy von hinten hoch und stieß dabei das blaue Röhrchen über den Boden. Kao Kans Pistole fiel unter den Tisch. In Willies Gehirn jagten sich die Gedanken: Lao war Abschaum. Sie konnte froh sein, ihn loszuwerden. Ihr Job in diesem Lokal war dahin. Diesen Jones hatte sie von Anfang an -15-
richtig eingeschätzt. Wenn sie einen kühlen Kopf bewahrte, mochte sie mit dem Diamanten entwischen können. Sie schob ihre Hand in das Durcheinander auf dem Tisch und ergriff den Diamanten. Es blieb ihr aber kaum Zeit, ihn zu befühlen, als auch schon Jones und der Leibwächter im Ringkampf an ihr vorbeitaumelten. Sie stießen ihr den Edelstein aus der Hand. Der Diamant fiel auf die Tanzfläche. »Du Idiot«, entfuhr es ihr. Sie meinte Indy und sich selbst damit. Im nächsten Augenblick hechtete sie ihrem verlorenen Schatz hinterher. Die Kapelle begann wieder zu spielen, so, als fange das Fest nun erst richtig an. Indy rollte mit dem Leibwächter auf den nächsten Tisch. Der andere traf ihn mit der Faust am Kinn und betäubte ihn. Indy schlug blindlings zurück und traf die Zigarettenverkäuferin, die auf die beiden Männer gestürzt war. Der Leibwächter packte Indy und schleuderte ihn auf einen Servierwagen, der durch den Schwung zum Musikpodium rollte. Jones schoß wie ein fliegender Geist durch das Getümmel. Der Luftzug an seinem Gesicht belebte ihn ein wenig und kühlte den Schweiß auf seiner Stirn. Die Menschen, an denen er vorbeifegte, sahen aber ein wenig verzerrt aus. Er sah die Phiole am Boden - oder bildete er sich das nur ein? -, konnte die schnelle Fahrt aber nicht aufhalten. Er krachte an das Podium. Als er sich aufrichtete, sah er Laos Leibwächter, der sich auf ihn stürzen wollte. Jones packte gerade noch rechtzeitig den großen Kontrabaß und hieb den Chinesen damit nieder. Er blieb kurz stehen, um sich zurechtzufinden. Plötzlich sah er das blaue Röhrchen mitten im Gewühl am Boden liegen. Er sprang darauf zu. Im selben Augenblick wurde es von einem Fuß fortgestoßen. -16-
Indy, auf Knien und Händen, hob den Kopf. Vor sich hatte er Willie in der gleichen Haltung. »Das Gegenmittel«, stieß Indy hervor. »Der Diamant!« rief Willie gleichzeitig. Indy bemerkte den Stein in seiner Nähe, aber der Diamant wurde in der nächsten Sekunde zwischen ein Dutzend Beine gestoßen. »Mist!« fauchte Willie und kroch auf Händen und Knien hinterher. Indy kämpfte sich in der entgegengesetzten Richtung vorwärts. Lao hatte sich schließlich durch das Gewühl geboxt und den Lokaleingang erreicht. Er schrie einige Worte. Fast augenblicklich stürmte ein Trupp seiner Helfer herein, um sich Befehle geben zu lassen. Die Kapelle spielte weiter, freilich ohne Baßbegleitung. Die zwölf Tänzerinnen sprangen fröhlich aus dem Drachenschlund und hinunter auf die Tanzfläche. Das Fest war in vollem Gange. Indy raffte sich vom Boden auf, hinein in die Reihe der Tänzerinnen. Er fühlte sich schwindlig. Der Anblick von Laos Leuten, die mit Beilen durch den Eingang hereinstürmten, putschte ihn aber wieder auf. Er taumelte zum Musikpodium. Drei Beilträger schleuderten ihre Waffen vergebens nach ihm, denn er sprang hinter eine der Statuen. Er packte hastig ein Schlagzeugbecken und ließ es dem vierten Beilkämpfer entgegensegeln. Der Mann wurde am Kopf getroffen und stürzte in einen großen Kühlkübel. Eiswürfel spritzten heraus und verteilten sich überall auf dem Boden. Und auch um den Diamanten herum. Willie stöhnte vor Verzweiflung, wühlte in Hunderten von Eissplittern und suchte darin mit letzter Kraft nach dem ihnen nun so ähnlichen Diamanten. Was sie fand, war aber nur das blaue Röhrchen. Indy sah von der Bühne aus, wie sie es aufhob. -17-
»Dortbleiben!« schrie er. »Bitte!« Ihre Blicke trafen sich. Willie stand vor einer Entscheidung. Was hatte sie mit dem Kerl zu schaffen? Vor zehn Minuten war er in ihr Leben getreten, hatte sie mit einer langen Gabel bedroht, ihr den ersten Blick auf einen Diamanten von unschätzbarem Wert verschafft, sie ihren Freund gekostet - was kein Verlust war - und ihren Job dazu - was sich verschmerzen ließ -, und nun hielt sie sein Leben in der Hand. Seine Augen waren ja wirklich etwas Besonderes. Sie schob das Röhrchen sicherheitshalber mal in ihren Ausschnitt. An der Suche nach dem Diamanten gedachte sie sich nicht hindern zu lassen. Sie durchwühlte weiter die Eishaufen. Kao Kan wachte auf. Er fand seine Pistole am Boden, drehte sich langsam herum und entdeckte Indy. Er hob, noch immer ein wenig schwankend, die Waffe und zielte. Indy sah ihn rechtzeitig. Er wich zurück zur Bühnenschmalseite und zerrte an dem dort hängenden Seil. Im nächsten Augenblick begannen mit traumhafter Langsamkeit Luftballons von der Decke herabzuschweben. Hunderte bunter Luftballons. Kao Kan verlor sein Zielobjekt hinter dem träge sinkenden Vorhang an Farbenpracht aus den Augen. Die Ballonschwärme verhüllten alles. Indy schob sich seitwärts weiter, hin zu der Stelle, wo Willie eben noch gewesen war. Er sah sie nicht mehr. Dafür aber zwei Gegner. Einer von ihnen traf ihn zwar mit einem Karateschlag, aber er schickte den Mann mit einem Hieb in die Magengrube zu Boden. Den anderen schleuderte er auf einen empörten Kellner. Er lehnte sich zusammengesunken an die Balkonwand. Das Gift zerfraß ihn, so daß er am ganzen Körper zitterte. Daß sein Gesicht aschfahl sein mußte, wußte er. Sein Magen -18-
verkrampfte sich. Am liebsten hätte er sich der Bewußtlosigkeit überlassen. Aber nein! Er mußte Willie finden! Er brauchte das Röhrchen. Er schüttete sich ein Glas Wasser ins Gesicht. Das half ein wenig. Die Situation wurde immer kritischer. Er sah vier weitere Mitglieder der Bande hereinstürzen. Kao Kan wußte sich vor Wut kaum zu fassen. Er wollte den Mörder seines Bruders tot sehen, aber sein Arm zitterte immer noch so stark, daß er nicht richtig zielen konnte. Voller Freude entdeckte er, daß einer seiner Leute eine Maschinenpistole bei sich hatte. Kao Kan stürzte wie ein Wahnsinniger zur Treppe und entriß dem Mann die Waffe. Er begab sich wieder in das Gewühl und schrie: »Wo ist er? Ich lege ihn um.« Als man die Maschinenpistole sah, stoben die Menschen auseinander. Auch das Ballongewimmel ließ nach. Es dauerte nur Augenblicke, bis Kao Kan und Indy einander sehen konnten. Kao begann zu feuern. Indy hechtete über die Balkonbrüstung direkt hinter den Riesengong. Geschosse fetzten in den Balkon. Indy kauerte hinter dem riesigen Schutzschild aus Bronze. Die Menschen kreischten, warfen sich zu Boden oder suchten anderweitig Deckung. Als der erste Feuerstoß vorbei war, sprang Indy zur Statue des chinesischen Fürsten, riß ihm das goldene Breitschwert aus der Hand und durchschnitt mit zwei raschen Hieben die Seile, an denen der Riesengong von der Decke herabhing. Mit einem hallenden Bonnngg stürzte die Scheibe auf den Boden. Jones sprang hinter sie, während Geschosse auf die Vorderseite prasselten. Er duckte sich an deren Rückseite und rollte die Scheibe langsam über den Boden, dorthin, wo Willie noch immer verzweifelt in den Eiswürfeln wühlte. Willie hatte auf das ohrenbetäubende Hallen hin den Kopf hochgerissen und sah die Riesenscheibe auf sich zurollen. Das ist also das Ende, -19-
dachte sie. Zerquetscht von einem Amokgong in einem Nachtklubinferno. Indy packte im letzten Augenblick ihren Arm und riß sie zu sich hinter die Scheibe. Querschläger surrten jaulend, als Laos Leute zwischen den umgestürzten Tischen bessere Schußmöglichkeiten suchten. Willie schrie auf. Indy blickte nach vorn. Unmittelbar vor ihnen erhob sich eine Wand bemalter Glasfenster. Sie kreischte: »Ich will nicht -« Aber für Diskussionen blieb keine Zeit. Der rollende Gong krachte durch die Fensterwand. Im nächsten Augenblick packte Indy Willie um die Hüfte und sprang mit ihr kopfüber durch die Öffnung. Sie stürzten drei Meter tief, rollten ein schräges Schindeldach hinunter und ins Leere. Aneinandergeklammert fielen sie zwei Stockwerke tief, stürzten durch eine Markise, brachen durch einen Bambusbalkon und landeten endlich auf dem Rücksitz eines Duesenberg-Kabrios, das direkt vor dem Haus geparkt war. Willie setzte sich hastig auf, fassungslos darüber, noch am Leben zu sein, und starrte in das ebenso erstaunte Gesicht eines zwölfjährigen Chinesenjungen auf dem Vordersitz. Er trug eine Baseballmütze der New York Yankees und glotzte Willie an. »Mann! Heiliger Strohsack! Bruchlandung!« sagte Short Round. »Mach schon, Short Round!« wies ihn Indy an, der sich langsamer aufgerafft hatte. »Klar doch, Indy!« sagte der Junge. »Schön festhalten!« Short Round drehte sich mit breitem Grinsen nach vorn, schob den Schirm der Baseballmütze ins Genick und trat aufs Gaspedal. Mit quietschenden Reifen fegten sie in die Nacht von Shanghai. -20-
Short Round Für Short Round war das ein ganz normaler Tag gewesen. Er war diesmal früh aufgestanden - gegen Mittag - und zur Arbeit gegangen. Sein Arbeitsplatz befand sich in den Räumlichkeiten der Opiumhöhle in der Liu Street. An den Nachmittagen hatte Short Round dort nicht sehr viel zu tun. Zu dieser Tageszeit gab es nur wenige Gäste, während ein paar andere sich von der vergangenen Nacht ausschliefen. Für ein paar Pennies brachte Short Round ihnen Tee; er führte sie zu den Rikschas hinaus; er bewachte Kleidung. Gelegentlich bediente er sich aus den bewachten Sachen mit mehr als Pennies; ab und zu nahm er Gegenstände an sich, die von Interesse waren. Unter anderem war Short Round ein Dieb. Natürlich nicht im ganz strengen Sinn genommen. Er sah sich eher als einen Nachfolger Robin Hoods, des Helden in dem Film, den er im Tai-Phung-Kino sieben- oder achtmal gesehen hatte. Zu den Armen, die er beschenkte, gehörte er eben selbst. Jedenfalls war das sein Gedankengang während der stillen Nachmittagsstunden in der Liu Street gewesen. Der süßliche Rauch hing in dünnen Schwaden über zwei halb besinnungslosen Gästen, die auf den bloßen Holzpritschen lagen, der eine ein alter Chinese, der andere ein junger Belgier. Short Round saß im Nebenzimmer auf ihren Habseligkeiten und dachte über ein Frühstück nach, als ihm der Gedanke kam, in der Tasche des Belgiers könnte etwas Eßbares sein. Er kramte gerade darin, als der Eigentümer hereinkam. Der Mann schien darüber gar nicht erfreut zu sein. Er wirkte auch nicht betäubt, sondern im Gegenteil sehr aufgebracht. Short Round hatte aus solchen Vorfällen genug gelernt, um zu wissen, daß Erklärungen in der Regel nichts -21-
fruchteten. Deshalb entfernte er sich durch das Fenster, den Paß des Belgiers - ganz zufällig - in den Fingern. Der Belgier jagte ihm nach. Short Round liebte schöne Hetzjagden. Er kam sich begehrt vor. Er rannte durch die Gasse hinter dem Haus, verfolgt von dem empörten Gast. Über einen Zaun, zwei weitere enge Gassen hinauf. Der Mann war ihm immer noch auf den Fersen. Eine Feuerleiter an einem uralten Holzgebäude empor, bis hinauf zum Dach. Der Belgier immer noch hinterher. Short Round jagte über die Dächer. Schrägdächer, Schindeln, Giebel - das machte am meisten Spaß. Er rutschte, sprang und wirbelte um Schornsteine wie ein Affe im Urwald. Dächer waren Shon Rounds Spezialgebiet. Sein Verfolger verlor an Abstand, aber ihn nicht aus den Augen. Short Round kam zur letzten Dachkante; dort ging es vier Stockwerke hinab. Der Belgier holte auf. Short Round hetzte die Schräge hinauf, über den First, auf der anderen Seite ging es genauso tief hinunter. Einen Meter unterhalb reichte aber aus dem obersten Fenster des Gebäudes eine Wäscheleine über die Gasse zum Fenster gegenüber. Genau wie bei Robin Hood! Mann! Heiliger Strohsack! Short Round hüpfte zur Wäscheleine hinunter, baumelte dort einen Augenblick und zog sich dann Hand über Hand an flatternden Seidenpyjamas entlang zum anderen Fenster, während sein Verfolger auf dem Dach gegenüber auf flämisch fluchte. Short Round sprang zum Fenster hinein, drehte sich herum, zeigte dem Wutentbrannten als Bezahlung für seinen Reisepaß ein strahlendes Lächeln und rief: »Sehr lustig! Sehr lustig, großer Spaß!« Der Mann fand das überhaupt nicht lustig. Die Menschen hatten einfach keinen Humor mehr. Short Round entschuldigte sich bei der fassungslosen Familie, zu der er hereingeplatzt war, -22-
für die Störung, verbeugte sich überaus höflich und verließ das Haus. Draußen waren die Schatten allmählich lang geworden. Die Fischverkäufer packten ein, denn ihre Ware begann verdächtige Gerüche zu verbreiten. Die Nachtmenschen regten sich noch nicht. Das war Short Round die liebste Tageszeit. Die Stunde der Tauben. Jeden Tag um diese Zeit versammelten sich im Hof des Klosters bei der Gung-Ho-Bar Hunderte von Tauben. Sie veranstalteten ein ganz wundersames Gurrkonzert wie das Schnurren von tausend zufriedenen Perserkatzen. Wenn Short Round das hörte, fühlte er sich an die Zeit erinnert, als seine Mutter ihn auf den Armen geschaukelt hatte, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, warum das so war. Eine Familie hatte er schon lange nicht mehr. Außer, natürlich, Dr. Jones. Dr. Jones war jetzt seine Familie. Short Round hegte sogar den Verdacht, Indy sei in Wahrheit eine Reinkarnation des niederen Gottes Tschao-pao, Er-derSchätze-entdeckt. Aber Short Round zählte Tschao-pao zu seinen eigenen Ahnen, also waren er und Indy ohnehin nah verwandt. Er verließ den Ort der Tauben und ging zur Gung-Ho-Bar. Dort hatten er und Indy sich kennengelernt. Er betrat das Lokal. In der hintersten Nische saß Indy vor einer Tasse Ginseng-Tee und wartete. Short Round lief mit breitem Grinsen auf ihn zu und setzte sich ihm gegenüber. »Indy, ich haben Paß für Wu Han!« flüsterte er aufgeregt. Er überreichte den Reisepaß des Belgiers. Indy blätterte ihn durch und zog die Brauen hoch. »Shorty, wo hast du den her? Ich dachte, ich hätte dir aufgetragen, nicht mehr zu stehlen.« »Nicht stehlen«, widersprach der Junge. »Mann ihn mir -23-
gegeben. Er nicht mehr brauchen.« Short Round wirkte so unschuldig, so verletzt, daß Indy ihm beinahe glaubte. Jedenfalls steckte er das Ausweispapier für Wu Han ein. Short Round strahlte. Das war einer der Gründe, warum er Indy liebte. Er und Indy waren aus dem gleichen Holz geschnitzt: Sie besaßen beide ein Talent, das Besitzrecht von Fundsachen zu übertragen, indem sie für Wertsachen, die zu lange an einem Ort verblieben waren, alsbald eine neue Heimat fanden. Indy gedachte auch für Short Round eine neue Heimat zu finden. Er wollte ihn nach Amerika mitnehmen. Indy sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Okay, Kleiner. Bist du sicher, ich kann mich wegen der Flugtickets auf dich verlassen?« Er gab dem Jungen Geld für den Kauf der Flugscheine. »Kinderleicht, Indy. Ich holen nur Auto von meine Onkel Wong, dann ich sprechen mit Ticketmann, dann ich am Klub auf dich warten.« »Direkt vor der Tür.« Indy nickte. »Eine Stunde, bevor es hell wird. Hast du eine Uhr?« »Klar okay.« »Dann vergiß nicht, deinem Onkel dafür zu danken, daß er uns wieder sein Auto leiht.« »Ach, ihn nicht stören. Wir bald fahren nach Amerika?« »Ja, ziemlich bald. Zuerst Delhi. Jetzt mach schon. Ich muß mit jemand wegen einer Schatulle reden.« Short Round verließ die Bar; Indy blieb sitzen. Short Round lief sechs Straßen weit zum Haus eines deutschen Diplomaten, den er oberflächlich kannte - eigentlich gar nicht kannte. Er hatte dem Mann in einem der besseren Bordelle vorige Woche die Schuhe geputzt und dabei den ehrenwerten Konsul zu der -24-
Bordellbesitzerin sagen hören, er verreise für vierzehn Tage, um Verwandte im Elsaß zu besuchen. Als Short Round am Haus ankam, ging er nach hinten. Er kroch durch die kleine Katzentür des Nebeneingangs in die Garage. Dort spielte er zehn Minuten lang mit der jungen Katze. Er zog eine kleine Wollmaus an einem Faden vor ihr hin und her, bis sie zupackte. Als die Katze mit ihrer Siegesbeute schließlich in einem Winkel unter der Treppe verschwand, schob Short Round die Flügel des Garagentors auf. Dann schloß er die Zündung des Autos kurz. Es war ein cremefarbenes Duesenberg Auburn-Kabriolett, Baujahr 1934, leicht kurzzuschließen. Ob leicht oder nicht, auf jeden Fall war er mit Indy in diesem Wagen diese Woche schon ein paarmal herumgefahren. Er duckte sich unter das Armaturenbrett und hielt Kabel aneinander, bis ein Funke übersprang und der Motor aufbrüllte. Short Round kam sich bei solchen Gelegenheiten vor wie der Junge im Märchen, der in einem Drachenbauch gelebt hatte. Er schloß die Augen und lauschte den ratternden Kolben, sog den Rauch ein, der vom elektrischen Kurzschluß aufstieg, spürte, wie die dunk le Wagenenge ihn umschloß gleich einem feuergehärteten Drachenbauch... Er hatte sich selbst Angst eingejagt. Er wand sich zum Fahrersitz hinauf, legte den Rückwärtsgang ein, steuerte den Wagen hinaus, ließ den Motor im Leerlauf, schloß das Garagentor und fuhr die Auffahrt hinunter auf die Straße. Er konnte kaum über das Lenkrad blicken und kaum die Pedale erreichen, aber das genügte. Im verschwimmenden Licht des Nachmittags wurden aus den Großstadt- bald Vorort- und schließlich Landstraßen. Das war die zweitschönste Tageszeit für Short Round - wenn die Sonne orangerot wie glühende Kohle glomm, bevor die Erde sie erneut für eine Nacht verschlang. -25-
Am frühen Abend stand er in einem kleinen britischen Flughafenbüro und verhandelte mit einem Engländer namens Weber um drei Flugscheine. »Ich glaube kaum, daß ich für jemanden von deiner Statur Platz finden kann«, begann der Brite hochmütig. Short Round gab ihm den Großteil von Indianas Geld. »Nicht für mich. Für Doktor Jones, die berühmte Professor. Das sein wichtige Regierungsauftrag. Ich sein Gehilfe.« Weber blieb skeptisch, nahm das Geld aber an. »Na, ich will sehen, was ich tun kann.« »Sie machen richtig, Doktor Jones Sie in sein Buch schreiben. Vielleicht Sie bekommen Orden.« Er zwinkerte ihm zu. Dieser sonderbare junge Mann schien Weber nicht geheuer zu sein. »Ich werde tun, was ich kann, bin mir aber nicht sicher, ob ich so kurzfristig drei Plätze in derselben Maschine bekommen kann.« Short Round zwinkerte ihn wieder an und gab Weber den Rest des Geldes als Bestechung. Außerdem ließ er Weber den Dolch in seinem Gürtel sehen. Weber fand es entschieden beunruhigend, sich von einem zwölf Jahre alten Gangster bestechen zu lassen; gleichwohl nahm er das Geld. »Ja, ich bin sicher, das wird sich machen lassen.« Er läche lte. Die Frage war nur, wann die Zentrale in London ihn in die Zivilisation zurückversetzen würde. Short Round verbeugte sich tief vor Weber, drückte ihm die Hand und salutierte stramm, die Fingerspitzen am Schirm der Baseballmütze. Dann lief er zum Duesenberg und fuhr in die Stadt zurück. Er stellte den Wagen im Lagerhaus eines Bekannten ab, der ihm eine Gefälligkeit schuldig war. Die Nacht begann erst jetzt allmählich aufzuleben. Short Round betrachtete den hellen Tag als einen schlafenden Schurken, der jeden Abend mit riesigem -26-
Hunger erwachte. Short Rounds drittliebste Tageszeit war die Nacht als Ganzes. Er schlenderte zum Hafen hinunter. Hier mußte man als Junge vorsichtig sein, denn Jungen waren sehr begehrt. Man zwang sie zur Arbeit auf Schiffen oder zu anderen wenig achtbaren Tätigkeiten. Allerdings konnte man, war man nur geschickt genug, zu einem kostenlosen Abendessen kommen. Und bei diesen Gedanken begann Short Round Hunger zu verspüren. Er requirierte ein schmales Brett aus dem Abfall hinter einer der Bars und nahm es mit zu einer Stelle, wo das ölige Wasser an einen der Stege schwappte. Dort kauerte er im Schatten, die Füße im Wasser, und wartete. Nachdem fünf Minuten still vergangen waren - in dieser Zeit betete er zu Naga, dem Drachenkönig, der dieses Meer bewohnte und beherrschte - schlug er plötzlich mit dem Brett mehrmals klatschend auf die Wasseroberfläche. Binnen Sekunden trieb ein saftiger Mondfisch, von Short Rounds Hieben betäubt, mit dem Bauch nach oben an die Oberfläche. Er packte den Fisch am Schwanz, riß ihn aus dem Wasser und schlug ihn an einen Pfahl. Dann ging er im Sand in die Hocke, schlitzte den Fisch mit seinem Dolch auf und schlang das zarte gelbe Fleisch hinunter. Er fragte sich, ob es in Amerika wohl auch Mondfische gäbe. Der Gedanke an Amerika erinnerte ihn ans Kino. Bevor er sich mit Indy wieder treffen sollte, hatte er viele Stunden Zeit. Er beschloß, zum Tai-Phung-Kino zu wandern und nachzusehen, ob ein neuer Film gespielt wurde. Das Tai-Phung zeigte meist amerikanische Filme, vor allem für die vielen Ausländer in den Bank- und Diplomatenvierteln der Stadt. Im Tai-Phung hatte Short Round den größten Teil seiner Englischkenntnisse erworben. Die Schrift über dem Eingang konnte er nicht lesen. Er konnte -27-
überhaupt kaum lesen, sah man von den Wörtern ab, die Indy ihm mit der Zeit beibrachte. Da die Buchstaben aber anders aussahen als bei seinem letzten Besuch, beschloß er, der Sache auf den Grund zu gehen. Er stieg an der Rückseite des Gebäudes auf zwei Abfalltonnen und kroch durch das hohe Badezimmerfenster hinein. Dort ließ er sich am Wasserbehälter auf den Boden herab. Er bot dem ein wenig fassungslos dreinblickenden Mann auf der Schüssel an, ihm die Schuhe zu putzen, aber der Mann lehnte höflich ab. Short Round huschte unter der Tür der Kabine hindurch und hinaus ins Kino. Er saß auf einem Außenplatz nahe beim Ausgang, um rasch verschwinden zu können, falls das nötig werden sollte. Er rutschte tief in den Sessel, damit die Platzanweiser, die ihn vom Sehen kannten, ihn nicht sofort entdeckten. Er schob einen Klumpen Bubblegum in den Mund und lehnte sich zurück, um den Film zu verfolgen. Der Streifen gefiel ihm gut. Ein Privatdetektiv namens Nick machte ständig witzige Bemerkungen zu seiner Frau Nora, einer überaus hübschen Dame. Sie hatten auch einen albernen Hund, der Asta hieß. Nick trank noch einen Martini bei einer großen Gesellschaft, wo die Schurken lauerten, als ein vornehmes Paar sich genau vor Short Round niederließ und ihm die Sicht versperrte. Er wollte schon aufstehen und sich einen anderen Platz suchen, als er bemerkte, daß die Dame ihre Handtasche in den Zwischenraum der beiden Sessel stellte. Das Angebot war zu verlockend. Short Round wartete zehn Minuten - bis die beiden vom Film gefesselt waren -, dann schob er die Hand nach vorn und zog die Tasche zu sich heran. Es war eine Abendtasche aus Silberlame mit Perlmuttverschluß. Short Round klappte sie auf und kramte -28-
hastig. Mann! Was für ein Glück! Er fand eine Puderdose, die mit Edelsteinen besetzt war. In der Rückwand befand sich eine kleine Uhr. Genau das, was er brauchte, um die Zeit für sein Treffen mit Indy zu vergleichen - wenn der kleine Zeiger auf die Vier und der große auf die Zwölf wies. Indy brachte ihm auch Ziffern bei. Die konnte man sich leichter merken. Das war ein sehr gutes Omen. Es verhieß einen erfreulichen Verlauf der Nacht. Short Round schickte ein kurzes Dankgebet zu Tschao-pao, Er-der-Schätze-entdeckt. Dann stand er auf, begann laut zu keuchen, stürzte im Mittelgang hin und hing einen Arm über den Sessel der Dame. »Aber nein!« stieß sie hervor. »Lady, großer Mann eben Ihre Tasche gestohlen!« keuchte Short Round und ließ die Handtasche vor ihre Füße fallen. »Ich ihn erwischen und für Sie zurückholen. Er mich geschlagen, aber ich entwischt. Da Ihre Tasche.« Er schob sie mit dem Knie zu ihr und brach zusammen. »Du armes Kind!« sagte sie und warf hastig einen Blick in die Brieftasche an der Unterseite. Das ganze Geld war noch da. »Psst!« flüsterte ihr Begleiter. Er versuchte, die Ablenkung unbeachtet zu lassen. Nach seiner Meinung war es stets das beste, auf die Avancen dieser Gassenjungen nicht einzugehen. Die Dame zog eine Braue hoch. Short Round wimmerte vor Schmerzen. Die Dame gab ihm zwei Dollar. »Da, mein Lieber«, sagte sie in vertraulichem Ton. »Weil du so tapfer und ehrlich gewesen bist.« »Danke, Lady«, erwiderte Short Round. Er stopfte die Geldscheine in die Hose, sprang hoch und lief zur Tür hinaus. Die Dame starrte kurze Zeit verwundert vor sich hin, dann achtete sie wieder auf den Film. -29-
Draußen wurde die Nacht lebendig. Papierlampions, Räucherstäbchen, Jongleure, Straßenhändler, Dirnen. Short Round, der sich ganz wie Nick Charles vorkam, ging auf eine Prostituierte zu, die einen Schlitz im Kleid hatte und einen zweiten in ihrem Lächeln. »He, Kle ine, hast 'ne Zigarette?« Er zwinkerte ihr zu. Sie wollte etwas erwidern, überlegte es sich, griff in ihre Handtasche, zog einen Streifen Kaugummi heraus und warf ihn Short Round zu. »O Mann!« rief er und steckte die Beute ein. »Danke, Lady!« Er rannte los, bereit für alles. Was für eine tolle Nacht! Für einen Dollar kaufte er einen Kreisel, der eine Melodie spielte und Lichter blinken ließ, während er sich drehte. Drei andere Jungen wollten ihm den Kreisel abnehmen. Er mußte einem davon das Spielzeug auf den Kopf schlagen, als er über einen Zaun kletterte, um zu entkommen. Ende der Jagd; Ende des Spielzeugs. Er hatte nur noch die abgebrochene Kurbel in der Hand. Die warf er in die Gasse hinein, so weit er konnte, und das war ziemlich weit. Eines Tages würde er ein ebenso guter BaseballWerfer sein wie der große Lefty Grove. Auch Short Round war Linkshänder. Seinen zweiten Dollar gab er einer alten Frau, die bettelnd auf einer Türschwelle saß. Es rührte ihn irgendwie an, wenn er alte Bettler sah, zumal Großmütter. Wichtiger als alles andere war natürlich die Familie. Seine eigene Großmutter lebte zwar nicht mehr, aber wie wäre das gewesen, wenn sie irgendwo an einer Haustür hätte betteln müssen? Daran mußte man immer denken. Die alte Frau verneigte sich vor Short Round; er dankte ihr dafür, daß sie ihm Gelegenheit gegeben hatte, sie zu ehren. Es begann leicht zu regnen. Short Round hastete zu dem Lagerhaus zurück, wo er den Duesenberg abgestellt hatte. An -30-
der Rückwand saßen ein paar Männer im Kreis beieinander. Einer von ihnen warf das I Ging. Short Round sah ihm eine Stunde lang zu. Der Mann warf die Schafgarbenhalme für alle Anwesenden, aber als Short Round seinen eigenen Schicksalsweg gelesen haben wollte, lehnte der Mann ab. Short Round machte hinter ein paar Teeballen ein Nickerchen, eingelullt vom fröhlichen Gemurmel einer Gruppe Matrosen, die in einer Wandnische würfelten. Würfel, I Ging - alles dasselbe. Als er wach wurde, sah er ein junges Paar, das sich neben einem anderen Stapel Ballen an der Wand küßte. Er sah den beiden ein paar Minuten zu. Sie schienen sehr glücklich zu sein. Er fragte sich, ob sie Kinder hatten. Durch die Tür hörte Short Round die atmosphärischen Störgeräusche eines alten Radios. Er ging hinüber. Das kleine Gehäuse stand am Boden; das Anschlußkabel führte zur Wand. Davor kauerte ein betrunkener amerikanischer Matrose und stellte das Gerät auf einen fast unhörbaren Sender ein, der geschmuggelte Schallplatten aus Amerika spielte. Über die Wellen drang ein weiteres Abenteuer des ›Schattens‹ durch, der das Böse in den Herzen der Menschen kannte und ihren Geist verwirren konnte. Shorty liebte diese Sendereihe; er hörte sie sich an, wo er konnte. Der Matrose verjagte ihn aber mit Tritten. Offenbar eine Privatvorstellung. Außerdem wurde es schon spät. Er blickte auf die Uhr, die er ›gefunden‹ hatte. Es wurde Zeit. Er ließ den Motor an und fuhr langsam hinaus in den Verkehr. Der Regen hatte aufgehört. Er erreichte den Nachtklub zur vereinbarten Zeit. Von Indy war jedoch nichts zu sehen. Der Tü rsteher wollte ihn vom Eingang verjagen, aber er gab ihm die Puderdose mit Uhr und erhielt die Erlaubnis, eine Weile zu bleiben, falls er keinen Ärger mache. -31-
Dann fiel Indy in das Auto. Gemeinsam mit der Dame. »Mann! Heiliger Strohsack! Bruchlandung!« sagte Shorty Round. »Mach schon, Short Round!« wies Indy ihn an. Mit quietschenden Reifen fegten sie in die Nacht von Shanghai. Willie wollte es nicht glauben. »Das ist doch nicht zu fassen! Ein Kind steuert den Wagen?!« »Keine Sorge, ich habe ihm Fahrstunden gegeben«, gab Indy lässig zurück. »Ah, da ist mir gleich viel wohler«, sagte sie sarkastisch und nickte. Als Short Round um die nächste Kurve jagte, wurde Willie auf Indiana geschleudert. Ohne lange Vorrede griff er in ihren Ausschnitt. »Hören Sie, wir haben uns eben erst kennengelernt«, sagte Willie empört. Was manche Männer sich so einbildeten... »Nur keine falschen Hoffnungen. Wo ist das Gegenmittel?« Es war schwer, dort etwas zu ertasten. Seine Fingerspitzen waren vom Gift schon gefühllos geworden. Sehr schade. Er fand das Glasröhrchen mit der Handfläche, rollte es zu den Fingern, zog es aus ihrem Büstenhalter. Als er den Verschluß abgeschraubt hatte, setzte er es an den Mund und trank es aus. »Ah!« »Sie sehen nicht sehr gut aus.« »Ich vertrage Gift so schlecht.« Er wischte sich die Lippen mit dem Ärmel ab. »Short Round, bieg rechts ab und fahr zur Wang Pu-Brücke.« »Klar! Kapiert!« rief der Junge. Wenn er am Steuer saß, versuchte er immer wie James Cagney auszusehen. Indy schaute zum Heckfenster hinaus und sah eine große -32-
schwarze Limousine, die sie verfolgte. »Wir scheinen Gesellschaft zu bekommen.« Willie war plötzlich bedrückt. Wenn Lao sie jetzt erwischte, würde er mehr als böse sein. Der Nachtklub war ein Trümmerhaufen, sie hatte den Diamanten verloren, der Junge mußte jeden Augenblick den Wagen an irgendeine Mauer setzen, sie hatte zwei Fingernägel abgebrochen... das war doch der Gipfel! Das hatte gerade noch gefehlt! Alles andere konnte sie verkraften, aber wie sollte man als Sängerin ein Engagement bekommen, wenn man aussah wie... Sie betrachtete ihr Spiegelbild in der Seitenscheibe. Noch schlimmer als erwartet. In ihre Augen traten Tränen; Tränen des Zorns. »Sehen Sie sich an, was Sie mit mir gemacht haben«, fuhr sie ihn an. »Mein Lippenstift ist verschmiert, ich habe mir zwei Fingernägel abgebrochen und in meinem Strumpf ist eine Laufmasche.« Kugeln durchschlugen die Heckscheibe und überschütteten sie mit Glassplittern. Indy und Willie duckten sich tief; Short Round saß schon zu tief auf seinem Sitz, um von hinten gesehen zu werden. »Ich werde das Gefühl nicht los, daß Sie größere Probleme haben«, murmelte Indiana und griff nach seiner Schultertasche. Er zog eine Pistole heraus und feuerte durch das zerschossene Fenster. »Da, Shorty!« rief er. »Durch den Tunnel!« Sie fegten heulend durch den dunklen Tunnel. Der Verfolger blieb ihnen auf den Fersen. Seine Scheinwerfer glühten wie Gespensteraugen. »Was sollen wir tun?« schrie Willie. »Wo fahren wir hin?« Erst jetzt ging ihr auf, in welcher Lage sie sich befand. »Zum Flugplatz«, knurrte Indy. »Nein, aufpassen, Shorty! -33-
Links, links!« Er griff nach vorn, legte die Hand auf das Lenkrad und half Short Round beim Steuern. Mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Du machst es gut, Kleiner.« Willie sank tiefer in den Sitz. Der Duesenberg erreichte einen Platz, auf dem das Leben pulsierte. Tausende von Händlern, Bettlern, Dirnen, Matrosen, Dieben, Kauflustigen und Kulis mit Rikschas schlenderten im Gewirr von Lampions, Transparenten mit chinesischen Schriftzeichen, Ladenfassaden und Verkaufsständen durcheinander. Alle stoben auseinander, als der Duesenberg vorbeiraste. Ein Teil der Menschen strömte hinter dem Fahrzeug wieder zusammen und versperrte den Weg, als die schwarze Limousine angebraust kam. Sie krachte in voller Fahrt auf einen Gemüsestand, geriet ins Schleudern, prallte an den Randstein und kam in einem Schwarm von Händlern zum Stehen. Indy blickte zum Heckfenster hinaus. »Sieht aus wie Chop Suey, da hinten.« Willie wagte nicht hinauszusehen. Sie holten einen Vorsprung vor dem Verfolger heraus, erreichten die Autostraße, brausten durch die nächtliche Landschaft. »Shorty, bist du am Flugplatz gewesen?« »Sicher, Indy. Mr. Weber haben Plätze für dich, mich und Wu Han.« »Wu Han kommt nicht, Shorty.« Short Round dachte nach. Wu Han konnte nicht davongelaufen sein; er war treu gewesen. Also war er entweder tot, gefangen oder hielt die Bösewichter auf - alles sehr ehrenhafte Beschäftigungen. Auf jeden Fall war es nun allein die Aufgabe von Short Round, ihren gemeinsamen geliebten Kameraden und Seelenfreund zu schützen. -34-
»Keine Sorge, Indy«, sagte er. »Short Round jetzt Leibwächter Nummer Eins.« Willie wagte einen Blick nach hinten. In der Ferne bogen zwei winzige Scheinwerfer um eine Kurve und folgten ihnen. »Den freien Platz nehme ich«, sagte sie trocken. Ihre Wahlmöglichkeiten schienen überaus begrenzt zu sein. »Wo fliegen wir eigentlich hin?« »Nach Siam«, sagte Indy, während er nachlud. »Siam?« klagte sie. »Für Siam bin ich nicht angezogen.« Sie hätte sich gern noch ausfü hrlicher beschwert, aber im Augenblick schienen im ganzen Universum keine Götter, Halbgötter oder auch Richter zuhören oder sich interessieren zu wollen, geschweige denn der Verrückte neben ihr. Sie blickte argwöhnisch zu ihm hinüber. Draußen an der Straße huschte ein Schild vorbei: FLUGHAFEN NANG TAO. Die Scheinwerfer hinter ihnen schienen aufzuholen. Nun ja, vielleicht würde doch alles gut werden. In Siam war sie noch nie gewesen... Short Round lenkte den Wagen über eine unbefestigte Auffahrt zum Flugfeld vorbei an einem kleinen Frachtbereich. Auf der Rollbahn liefen die Triebwerke einer Dreimotorigen warm. Der Duesenberg kam mit quietschenden Bremsen auf dem Vorfeld zum Stehen; die drei Insassen sprangen heraus. Short Round trug Indys Schultertasche. Vom Einstieg eilte ihnen der junge Engländer entgegen. »Doktor Jones, ich bin Weber. Ich habe mit Ihrem... Gehilfen gesprochen.« Er sah Short Round von der Seite kurz an und sprach weiter. »Es ist mir gelungen, drei Plätze zu finden. Bedauerlicherweise in eine r Frachtmaschine voller Geflügel.« »Macht er Witze?« fuhr Willie auf. »Madam«, sagte Weber steif, »das war das Beste, was ich bei einer so kurzfristigen -« Er verstummte plötzlich und lächelte. -35-
»Guter Gott, sind Sie nicht Willie Scott, die berühmte Sängerin?« Willie war im ersten Augenblick völlig verblüfft und im nächsten bezaubert. Mitten an einem abscheulichen Tag ein Hoffnungsstrahl - ein Fan. »Hm, ja, das bin ich.« Sie wurde rot. »Miß Scott«, sagte Weber eifrig, »Ihre Vorstellungen haben mich hingerissen. Ja, wenn ich das so ausdrücken darf -« Willie wagte schon den Gedanken aufkeimen zu lassen, der Tag sei vielleicht doch nicht völlig verloren, als Jones aber auch wieder dazwischenfahren mußte. »Sie können ja Autogramme geben, Herzchen. Shorty und ich müssen aber leider weg.« Indy und Shorty eilten zum Flugzeug. Willie zögerte noch, entschied sich aber rasch, als sie die schwarze Limousine heranbrausen sah. Mit größter Freundlichkeit und Würde tröstete sie Weber: »Es ist immer schön, einen Fan zu treffen, aber ich muß mich jetzt wirklich beeilen.« Und heiser zu Indy: »Verdammt noch mal, wartet doch auf mich!« Sie rannte auf das Flugzeug zu. Weber winkte. Willie sprang hinein. Die schwarze Limousine kam am Zaun des Frachtbereichs zum Stehen. Lao Tsche sprang heraus, gefolgt von mehreren Männern mit Pistolen. Der Vorfall erregte die Aufmerksamkeit von zwei Flughafenpolizisten, die langsam auf das Auto zugingen. Lao Tsche blickte über das Vorfeld zu dem rollenden Flugzeug hinüber. Indy salutierte in der Maschine und warf die Frachttür zu. Laos Leute warteten auf Befehle, auf einen Wutausbruch, aber dieser lächelte nur. Als die Maschine zum Start gedreht wurde konnte er auf der bisher abgewandten Rumpfseite deutlich die Beschriftung lesen: LAO TSCHE LUFTFRACHT. Der Pilot sah im Vorbeirollen Lao am Zaun stehen und grüßte -36-
seinen Chef. Lao Tsche lachte herzhaft und erwiderte den Gruß. Das Flugzeug hob mit heulenden Motoren ab, eine schwarze Silhouette vor dem orangeroten Schimmer der ersten Morgendämmerung. Sie flogen nach Westen. Willie saß zusammengekauert in ihrem feuchten Quastenkleid und fror, während Dutzende aufgeregter Hühner in Kisten nach ihr hackten. »Wenn ihr nicht aufhört, dreh' ich euch eigenhändig die Hälse um, dann kommt ihr auf den Bratspieß.« Das war nun wirklich zuviel! Das Schlimmste dabei war, daß sie an ihre Jugendzeit auf einer Geflügelfarm in Missouri erinnert wurde. Seitdem hatte sie einen Horror vor Hühnern. Ihre Mutter hatte ihr immer wieder erklärt, hier gehöre sie hin und hier werde sie auch bleiben, selbst wenn sie noch so sehr träume und hoffe. Um von dort wegzukommen, sei ein Wunder nötig, und Wunder, die gäbe es nun einmal nicht. Es war jedoch kein Wunder, daß Willie mit achtzehn Jahren die Schönheitskonkurrenz in der Gegend gewann; sie war einfach das schönste Mädchen weit und breit. Mit dem gewonnen Geld fuhr sie nach New York, um Schauspielerin und Tänzerin zu werden. Dort blieben Wunder aus. Offenbar hatte in New York jede zweite Frau diesen Wunsch. Willie ging also nach Westen. In Chicago geriet sie in schlechte Gesellschaft und mußte überhastet abreisen. Dies schadete ihr in Hollywood, wo ebenfalls kein Mangel an Künstlerinnen zu bemerken war. Das hieß also: Entweder zurück nach Missouri oder weiter nach Westen. Eines wußte Willie aber genau: Wenn es irgendwo mit Gewißheit keine Wunder gab, dann eben in Missouri. Sie begleitete einen elegant gekleideten Mann, der ihr -37-
versprach daß der Orient allem offen sei. Das hatte sich auch bewahrheitet: Große Löcher haben das so an sich. Wunder hatte sie auch in Shanghai keine erlebt, aber doch gewisse Erfolge verzeichnen können. Sie hatte sich im kleinen Kreis einen vielversprechenden Ruf erworben, es gab Menschen, die sie immer wieder hören wollten. Sie hatte ein, zwei Verehrer. Sie hatte Aus sichten. Das war nun alles vorbei. Statt der Aussichten hatte sie Erinnerungen. Und Hühnerfedern im Mund. Der Geruch war genau wie in Missouri. An der Rückseite des Frachtraums ging eine Tür auf. Indiana Jones trat heraus. Er hatte sich umgezogen. Nun trug er eine alte Lederjacke über einem Khakihemd, Arbeitshose und Arbeitsstiefel, einen grauen Hut mit herabgebogener Krempe, eine Ledertasche über der Schulter, an der Hüfte eine alte Armee-Pistolentasche. Er kam heran, den zusammengerollten Smoking in der einen Hand, in der anderen eine zusammengerollte Viehpeitsche. Er setzte sich zwischen Willie und Shorty, warf den Abendanzug auf den Boden und hängte die Peitsche an einen Kleiderhaken. »Und was stellen Sie dar, einen Löwenbändiger?« fragte Willie mit höhnischer Belustigung. Die Männer waren wie die Kinder. »Wenn ich schon so freundlich war, Herzchen, Sie mitkommen zu lassen, könnten Sie jetzt doch mal eine Weile den Mund halten, ja?« Er tätschelte lässig ihr Bein. Sie fing an, ihm auf die Nerven zu gehen. Sie nahm seine Hand von ihrem Schenkel. Der Kerl dachte offenkundig immer nur an das Eine, und hier war weder der Ort noch die Zeit, noch er der richtige Mann. Sie hob seine Smoking-Jacke auf. -38-
»Ich erfriere noch. Was heißt hier ›mitkommen lassen‹? Von dem Augenblick an, als Sie in den Nachtklub gekommen sind, haben Sie den Bück nicht von mir abwenden können.« Sie ging nach hinten, während sie sich in das Jackett wickelte. »Ach nein?« sagte Indy. Er lächelte, lehnte sich an eine Wand aus Hühnerkisten, schob den Hut über das Gesicht und schlief ein. Die Tür zur Kanzel öffnete sich einen Spalt. Der Kopilot starrte angestrengt in den Frachtraum. Er sah Willie weiter hinten auf einem Quastenkissen schlafen, zusammengerollt in Indys Abendanzug samt weißem Hemd; Indy schlief an Backbord, den Hut auf dem Gesicht, Hühnerfedern auf der Jacke; Shorty schlummerte friedlich neben ihm, angetan mit Leinenschuhen, Baseballmütze, wattierter Hose und zerfranster Kulijacke aus Baumwolle, den Kopf auf Indys Schulter. Der Kopilot blickte hinüber zum Piloten, der eben über Funk Anweisungen von seinem Arbeitgeber erhielt. Der Pilot sah zum Kopiloten hinüber und nickte. Der Kopilot ergriff einen großen Schraubenschlüssel und wog ihn in der Hand, während er Jones betrachtete. Nach kur zer Überlegung legte er den Schraubenschlüssel weg und zog ein Messer aus dem Gürtel. Als der Kopilot zur Tür hinausging, drehte Indiana sich herum. Der Kopilot wich zurück. Der Pilot fluchte auf Chinesisch und gab seinem Begleiter eine Pistole Kaliber 45. Der Kopilot betrachtete die Waffe und erkundigte sich, ob auch die Frau und das Kind dran glauben müßten. Der Pilot nickte. Der Kopilot hatte das Gefühl, das könnte schlechtes Karma bedeuten, und sagte das auch. Der Pilot widersprach heftigst. Man verwies gegenseitig auf die Ahnen. -39-
Schließlich ließ der Pilot sich seine Pistole zurückgeben, befahl dem Kopiloten, das Steuer zu übernehmen, und machte sich auf den Weg, um den Auftrag selbst auszuführen. Indiana schlief immer noch fest. Als der Pilot einen Schritt auf ihn zutrat, rollte ein Ei aus einer Kiste hoch oben im Stapel und fiel herunter - fünf Zentimeter tief auf ein Bündel von Stoffetzen, holperte Spitz- über Rundseite ein schräges Brett hinunter, kippte in ein genau ausbalanciertes Nest, kullerte zu einem schmalen Sims hinab, verharrte kurz und stürzte endlich ab. Ohne wachzuwerden, ohne einen Muskel mehr als nötig einzusetzen, streckte Indy die Hand aus und fing das Ei auf, bevor es am Boden zerschellte. Indiana Jones war nicht ohne Fehler, aber er hatte ein Gefühl für abstürzende Eier. Es war eine Tat, die den Piloten zum Einhalten brachte. Fassungslos und voller Angst vor diesem gefährlichen Zauberer wich er zwei Schritte zurück und lächelte den Kopiloten einfältig- hilflos an. Sie besprachen den Fall in Ruhe, sie erwogen Vorschläge. Sie hatten ihre Befehle. Trotzdem kamen sie zu dem Schluß, es sei besser, die Dinge den Göttern zu überlassen. Der Pilot betätigte den Hebel, mit dem die Treibstofftanks geleert wurden. Der Kopilot stattete sie beide mit Fallschirmen aus. Dann gingen sie leise durch die Maschine nach hinten. Willie erwachte verschlafen und sah den Kopiloten die Heckbucht betreten und die Vorhänge hinter sich zuziehen. Sie wälzte sich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen, als ihr auffiel, daß auch der Pilot aus der Kanzel kam, nach hinten ging und ebenfalls hinter dem Vorhang verschwand. Das kam ihr merkwürdig vor. So groß war das Flugzeug doch nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß es noch mehr Besatzungsmitglieder geben sollte. Hmm. Keine anderen Leute mehr. »Wer fliegt denn wohl die Maschine?« -40-
Sie stand auf, ging nach vorn und steckte den Kopf zur Kanzeltür hinein. Niemand flog die Maschine. Sie schrie auf und warf die Tür zu. »Niemand fliegt die Maschine!« Short Round, stets wachsam, war sofort wach. Indy, von den Nachwirkungen des Giftes noch immer betäubt, schlief weiter. Willie stürzte zum Heck. Sie riß den Vorhang auf. Da standen die beiden einzigen Besatzungsmitglieder mit umgeschnallten Fallschirmen an der offenen Frachttür. »O mein Gott! Nicht weggehen! Hilfe, Indiana! Aufwachen, der Pilot steigt aus!« Shorty rannte zu ihr. Mann! Kein Witz! Der Pilot ließ sie im Stich. Indy öffnete betäubt die Augen. »Sind wir schon da?« Willie war bei ihm und rüttelte ihn wach, schrie ihn an. »Niemand am Steuer... springen... Fallschirme! Tun Sie etwas!« Der Kerl mußte doch für irgend etwas zu gebrauchen sein. Was er da anhatte, war bestimmt eine Fliegerjacke. Er würde die alte Mühle steuern können. Indiana sprang auf und lief zum offenen Vorhang. Niemand da. Am klaren Himmel schwebten zwei geöffnete Fallschirme. Er stürzte zur Kanzel, gefolgt von Willie. Mit einem Blick hatte er die Situation erfaßt. Er ließ sich selbstsicher auf dem Pilotensitz nieder. Willie hatte vor Dankbarkeit Tränen in den Augen. Sie lachte und nickte. Es gab also doch einen Grund, warum dieser zweifelhafte Doktor existierte. Mit einem Seufzer der Erleichterung sagte sie: »Sie können fliegen?« Indy sah sich die Instrumente an, drehte an zwei Knöpfen, betätigte einen Schalter, griff nach dem Steuerknüppel. »Nein.« Und mit einem scharfsinnigen Unterton in der Stimme: »Sie etwa?« Willie wurde bleich. Sie spürte, wie sich ihr der Magen -41-
umdrehte. Indy grinste schief. »Das war nur Spaß, Herzchen. Ich habe alles unter Kontrolle. Höhenmesser: in Ordnung. Stabilisator: kein Problem. Fluggeschwindigkeit: okay. Treibstoff –« Eine lange Pause. Willie hatte seinen kleinen Witz noch nicht ganz überwunden und war deshalb nicht in der Stimmung für Humor. Aber Indys Schweigen hörte sich ohnehin nicht humorvoll an. »Treibstoff?« sagte Willie. »Treibstoff? Was ist mit dem Treibstoff?« Indiana stand langsam auf. Willie folgte seinem Blick zum Fenster hinaus. Der letzte Motor blieb spuckend stehen. Alle Propeller waren regungslos. Das Flugze ug senkte die Nase nach unten. »Wir haben ein Problem«, sagte Indiana. Er ging an Willie vorbei in den Frachtraum. »Shorty!« Short Round kam atemlos angelaufen. »Ich schon nachsehen, Indy. Keine Fallschirme mehr.« Vielleicht konnten sie sich Flügel wachsen lassen. Der Affengott Wo-Mai hatte den Seidenspinnern Flügel verliehen, damit sie Motten werden und ihrem irdischen Gefängnis entfliehen konnten. Indy begann in allen Spinden zu kramen. In der Kanzel wurde Willie jäh aus ihrer Erstarrung gerissen, als unmittelbar vor der Windschutzscheibe ein schneebedeckter Berggipfel auftauchte. »Indiana!« brüllte sie, weniger als Hilferuf denn als letzten menschlichen Kontakt vor der Vernichtung. Die Götter waren jedoch gut gelaunt. Das Flugzeug verfehlte den Berg knapp, stieß eine Nase voll Schnee vom höchsten Gipfel und überwand den Grat um Zentimeter. Willies Herz blieb beinahe stehen. Sie stürzte aus der Kanzel und sah Indy ein großes Bündel gelbes Segeltuch aus einem der Lagerbehälter ziehen. An der Seite war es beschriftet: -42-
RETTUNGSSCHLAUCHBOOT. »Sind Sie übergeschnappt?« kreischte sie ihn an. Er beachtete sie nicht. »Hilf mir mal, Shorty«, sagte er zu dem Jungen. Die beiden schleppten das Segeltuchbündel zur offenen Frachtluke, während Willie weiterbrüllte. »Sind Sie wahnsinnig? Ein Schlauchboot! Wir sinken nicht, wir stürzen ab!« »Kommen Sie her, verdammt!« befahl er. »Los, Shorty, halt dich fest an mir!« Short Round umklammerte Indys Hüften von hinten. Der Absturz würde toller werden als alles in dem Film ›Wings‹, den Shorty viermal gesehen hatte. Willie zögerte einen Augenblick, bevor sie entschied, daß sie doch nicht allein sterben wollte. »Wartet auf mich!« rief ein kleines Mädchen in ihr. Sie riß ihr goldenes Kleid an sich - für alle Fälle war es besser, etwas dabeizuhaben, was man tragen konnte - rannte zu den beiden und schlang die Arme um Indianas Hals, so daß sie und Shorty ihn beide von hinten umarmten. Indy umklammerte das zusammengefaltete Schlauchboot vor sich, während er den heranrasenden Berghang unter ihrem sinkenden Flugzeug beobachtete. Fünf Meter über dem Boden. Drei Meter, weiter Sinkflug. Zweieinhalb. Indy sprang mit aller Kraft hinaus und riß an der Aufblasleine. Short Round schloß die Augen in Erwartung des großen Fluges.
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Der heilige Stein Sie kippten aus der Luke. Während das Flugzeug führerlos über die Hänge sauste, blähte das Schlauchboot sich schlagartig dick auf und entfaltete die Wirkung einer Bremsklappe - ein riesiger, aufgeblähter Flugdrachen, von der brausenden Luft getragen, der die drei von Entsetzen erfüllten Seelen über der Ewigkeit baumeln ließ. Short Round legte insgeheim ein Versprechen bei Frau Wind ab, Feng-p'o, dem Himmelswesen, das dafür verantwortlich war, sie drei mit ihren Säcken voll wirbelnder Winde in der Luft zu halten. Hundert Meter von ihnen entfernt kam das Frachtflugzeug auf und explodierte in einer ungeheuren Feuerwolke von Gestein, Stahl und gegrillten Hühnern. Einen Augenblick danach glitt das Schlauchboot an eine Schneewehe, prallte ab, flog erneut, traf wieder auf und begann den natürlich bewachsenen Berghang hinabzurasen. Indiana hielt sich vorne fest, Willie und Shorty klammerten sich an die Verschnürung. Sie fegten einige Minuten lang den Berg hinab wie ein Bob und fuhren nun endlich schon unterhalb der Baumgrenze. Der Wald war tief verschneit. Willie hob für Sekundenbruchteile den Kopf, bevor sie sich dafür entschied, nicht mehr hinsehen zu wollen. Shorty war verängstigt und zugleich begeistert. Das entsprach genau der vereitelten Flucht in ›Eiskreaturen von der Venus‹. Aber Indy würde sie durchbringen. Short Round brauchte nicht hinzusehen, um das zu wissen. Indy war einmalig. Sie schnellten über einen schneebedeckten Baumstamm und erhoben sich wieder in die Luft, direkt auf einen großen Baum zu. Indy zerrte wild an der Außenschnur, warf sich auf die Seite, -44-
schaffte es irgendwie, das Schlauchboot so zu drehen, daß es an der schneeverwehten Seite des Stammes abprallte; und schon rutschten sie die nächste Böschung hinunter. Die Talfahrt ging weiter. Sie wurden erheblich langsamer, klatschten zuerst durch einen kleinen Bach und rutschten auf Laubboden dahin. Als sie mit nur noch geringer Geschwindigkeit in eine Lichtung einfuhren, endlich kurz vor dem Ende der Strapaze, nutzte Indy die Gelegenheit, die anderen erleichtert anzulächeln. »Indy, du bist der Größte«, sagte Short Round bewundernd. Sogar noch besser als Robin Hood. Indy strahlte Willie an. »Manchmal staune ich sogar über mich selbst.« »Kann ich mir denken«, sagte sie schwach. »Indy!« schrie Short Round. Indy drehte den Kopf, als sie durch Gebüsch krachten und wieder durch die Luft schwebten - über den Rand einer Steilwippe. Niemand von ihnen blickte hinunter. Sie fielen in einer sanften Parabelkurve, wahrscheinlich nicht solange, wie es für sie den Anschein hatte, und landeten schließlich klatschend auf einer breiten Wasserfläche. Wildwasser. Das Schlauchboot wurde auf der Stelle in die tosende Strömung gerissen, rammte Felsblöcke, rotierte über brausenden trudeln, wand sich durch enge Kanäle zwischen scharfkantigen Steinformationen. Sie hielten sich verzweifelt fest, keuchend und Luft ringend, als die Schnellen sie über Wasserfälle hinabrissen, gegen Steinriesen schleuderten, donnernde Kaskaden hinunterwarfen. Jedes Quentchen Kraft wurde dafür gebraucht, sich festzuhalten. Kein Gedanke an Steuern, an Lageveränderung, an Gebete oder Vorwürfe. Nur die Finger um die Schnüre -45-
klammern. Dann gab es einen weiten Satz nach vorne, bei dem jedem das Herz stillzustehen schien - und das Schlauchboot schien langsamer zu werden. Es trieb aus der Hauptströmung hinaus zu einem stillen Seitenarm, einer Art kleiner Flußbucht. Die drei mitgenommenen Passagiere blieben regungslos am Boden des Schlauchboots liegen. Short Round, zerschlagen und erschöpft, hob den Kopf ein wenig, um sich zu vergewissern, daß seinem Helden nichts zugestoßen war. »Indy?« Indiana hustete kurz. »Okay, Shorty. Mir fehlt nichts.« Willie stöhnte. Sie war, wie die anderen auch, bis auf die Haut durchnäßt, die Haare hingen wirr herab, ihre Kleidung tropfte. Sie durfte gar nicht daran denken, wie sie aussah. »Alles in Ordnung?« fragte Indiana. »Nein.« Sie schnitt eine Grimasse. »Ich bin für dieses Leben nicht geschaffen.« War aber nett, mich zu fragen, dachte sie. »Wo sind wir überhaupt?« Das Schlauchboot kam am Ufer sanft zum Stillstand - genauer gesagt, vor einem Paar schwarzer Beine am Ufer. Indy starrte mit zusammengekniffenen Augen zur Sonne hinauf, um festzustellen, wer zu den Beinen gehörte. »Indien«, flüsterte er. »Menschenkind«, entfuhr es Willie. »Indien? Woher wissen Sie, daß wir in -« Sie wälzte sich herum und starrte in das fremde, runzlige Gesicht eines alten Mannes, der nur aus Haut und Knochen bestand. Sie schnappte nach Luft. Der Mann trug ein zerfetztes Gewand, und um seinen Hals hing eine Kette aus fremdartigen Kugeln. Er sah aus wie ein Medizinmann. Ein unheimlicher Wind erhob sich heulend und umtobte siePlötzlich legte der alte Mann die Handflächen zusammen -46-
Willie zuckte zusammen - und hob die Hände an die Stirn. Willie und Short Round verfolgten fassungslos, wie Indiana den Gruß des Schamanen auf gleiche Weise erwiderte. Sie waren zu Fuß unterwegs, der Schamane und vier Männer mit Turbanen, gefolgt von Indy, der seine Viehpeitsche trug, Short Round mit Indys Tasche und Willie, die ihr Abendkleid und die hochhackigen Schuhe mitnahm. Sie gingen auf einem ausgetretenen, felsigen Pfad über öde, leicht geschwungene Hügel. Hier und dort wucherte verkümmertes Gebüsch, ab und zu tauchte ein Baum ohne Früchte auf. Die Luft roch staubig. Short Round lief eifrig hinter Indy her und brauchte drei Schritte für je zwei von diesem. Es war nicht leicht, den Fußstapfen eines solchen Mannes zu folgen, aber Short Round war der Aufgabe gewachsen, weil er Indy liebte. Indy hatte Freundschaft mit ihm geschlossen, als niemand ihm zur Seite gestanden, ihm vertraut, als er kein Vertrauen verdient hatte. Und Indy würde ihn nach Amerika mitnehmen. Jetzt waren sie auf dem Weg dorthin. Short Round konnte es kaum glauben. Amerika, wo jeder Mensch Schuhe und Hut trug, wo man in Autos fuhr, zu tanzen verstand, gut schoß, Witze riß, bei jedem Spiel sein Bestes gab, zu seinem Wort stand, großartig aussah, klug redete, fein aß, Risiken einging, die sich auszahlten - dahin ging Short Round. Er gedachte, Indy hartnäckig zu bewachen, bis sie dort waren. Wenn Indy dann keinen Leibwächter mehr brauchte, wollte Short Round nur noch Indys Sohn sein. Er konnte sich um Indy weiter kümmern, ohne jeden Tag zur Arbeit fahren zu müssen. Das einzige Problem bei diesem Plan war, daß man eine Mutter brauchen würde, wenn Indy Shortys Vater wurde. Wie Yin zu Yang gehörte. Wie Nick Charles Nora hatte, Fred Astaire seine Ginger Rogers. Robin Hood und Marian. Clark Gable und Jean Harlow. Hsienpo und Jing-t'ai. - Beim Gedanken an diese beneidenswerten und unsterblichen Paare warf Short Round sein -47-
Auge auf Willie und sah sie in einem neuen Licht. Für Indy war sie vielleicht gerade richtig. Hübsch genug war sie. Bis jetzt hatte sie sich gut gehalten. Als Mama mochte sie in Ordnung sein. Sie und Indy konnten ihn dann adoptieren, und sie würden zu dritt im Twentieth Century Limited-Fernzug leben und auf den Schienen nach New York hin- und zurückfahren. Das sollte ein schönes Leben werden. Short Round hielt es für angebracht, sie als Bewerberin ernsthaft zu prüfen. Inzwischen verspürte Willie enorme Erleichterung darüber, noch lebendig zu sein, wenn auch im großen trostlosen Nirgendwo. In der vergangenen Nacht hätte sie ebensogut mehrmals in einem großen trostlosen Nirgendwo tot sein können. Am Leben zu sein war unendlich viel besser. Sie fühlte den warmen Fels an ihren Fußsohlen, die heiße Sonne in ihrem Gesicht, die enge Verbundenheit mit ihrem eigenen Dasein. Sie fühlte sich hungrig. Ob Indy in seiner Tragetasche oder in der Jacke wohl etwas zu essen hatte? Sie ging schneller, um ihn einzuholen, und stellte fest, daß er mit dem Schamanen sprach. Eigentlich der Schamane mit ihm. »Mama okej enakan bala. Gena hitijey.« Indy beherrschte diesen Dialekt nicht gerade fließend, aber er verstand ihn. ›Ich habe es in einem Traum gesehen. Ich sah das Flugzeug am Fluß vom Himmel fallen. Ich sah es im Traum.‹ Der alte Mann sagte es immer wieder. Willie kam an sie heran und lauschte. »Was sagt er?« fragte sie. »Sie haben mich erwartet«, erwiderte Indy. Es schien ihm rätselhaft. »Was heißt das? Wie denn?« »Der alte Mann sah es in einem Traum.« -48-
»Traum«, bemerkte sie abfällig. »Er meint wohl Alptraum.« Indy kniff die Augen zusammen. »Er sagte, sie hätten am Fluß darauf gewartet, daß die Maschine abstürzt.« Eine verwirrende Behauptung. Willie schüttelte den Kopf. »Und wo war ich? Auch in dem Traum?« Indiana lächelte sie an. Diese Schauspielerinnen, dachte er. Er wußte aber nicht mehr als sie. Spekulationen schienen nicht viel Sinn zu haben. Also lief er eben weiter voran. Willie sprach weiter, um ihre aufkeimende Unruhe zu bekämpfen. »Das ist alles? Was für ein Ende hatte der Traum denn? Wie kommen wir hier wieder heraus? Wann essen wir? Ich komme um vor Hunger. Was wird aus mir?« Der felsige Boden ging allmählich in ausgedörrten Lehm über. Bald hüllte sie ein heißer Wind in Staubwirbel ein. Aus dem Lehm wurde eine dünne Kruste, rissig und unfruchtbar. Und schließlich erreichten sie am Fuß der verwüsteten Berge das Dorf. Mayapore. Wie der Boden ausgelaugt und armselig. Sie gingen auf einem ausgedörrten Weg durch den Ort. Er wirkte elend. Zerlumpte Dorfbewohner standen zu dritt oder viert in Gruppen und beobachteten die Fremden, als sie vorbeigeführt wurden. Die Gesichter drückten Hoffnungslosigkeit aus. Frauen zogen Eimer aus vertrockneten Brunnen und fanden nur Sand. Räudige Hunde liefen geduckt zwischen Hütten aus bröckelndem Lehm, grobem Verputz und Zweigen. Geduldig hockten Geier in vereinzelten dürren Bäumen. Dies war schlimmer als nur eine Dürre, das war eine Leichenwache. Indiana fiel auf, daß mehrere Dorfbewohner Short Round anstarrten und auf ihn zeigten. Ein paar hagere Frauen schienen zu weinen, vergossen aber keine Tränen. Ihre Körper waren zu ausgemergelt. Indy zog Shorty näher zu sich heran, denn die -49-
Blicke erweckten seine Sorge um den Jungen. Plötzlich begriff er den Grund: Es gab keine Kinder im Dorf. Short Round bemerkte es auch. Die Aufmerksamkeit, die man ihm zollte, erschreckte ihn. Er sorgte sich um Indianas Sicherheit, jetzt als sein Leibwächter. Er trat näher he ran, um seinen alten Freund im Auge zu behalten, während die Elendsgestalten sie mit den Augen verfolgten. Man führte sie in ein kleines Gebäude aus Stein. Am Boden lagen drei Strohsäcke. Da es keine Fenster gab, war es um eine Spur kühler als im Freien. »Schlaft jetzt«, sagte der Schamane. »Eure Reise hat euch müde gemacht. Später werden wir essen und reden. Aber zuerst schlaft ihr.« Er ließ sie allein, ohne noch ein Wort zu sagen. Indy dolmetschte für seine Begleiter. »Aber ich habe solchen Hunger«, wimmerte Willie. »Versuchen Sie, im Schlaf Lammkoteletts zu zählen«, empfahl Indy und legte sich auf den Boden. Bald schliefen sie alle. Wolken voller schwarzer Asche verdunkelten den blutroten Sonnenuntergang. Indiana, Willie und Short Round saßen verkrampft auf halb zerbrochenen Stühlen in einer Hütte mit Schilfdach, aber ohne Wände. Es gab nur Steinbogen, durch die der abendliche Wind hereinblies. Ein halbes Dutzend Stammesälteste saßen in ihren Silhouetten erkennbar auf dem Lehmboden, außerdem einige Männer und Frauen und in ihrer Mitte der Dorfhäuptling, ein uralter, weißhaariger Mann. Sein Gesicht war von der Qual des Schicksals seiner Stammesangehörigen gezeichnet. Der Häuptling erteilte Befehle. Drei Frauen huschten herein und stellten Holzschalen vor die Besucher. Die anderen bekamen nichts. Willie blickte erwartungsvoll. »Ich hoffe sehr, daß es jetzt Abendessen gibt.« -50-
»Estudai. Estudai«, sagte Indiana zu den Frauen. Danke. Während er es sagte, schöpften die Frauen die Speise in die Holzschüsseln. Es war ein grauer Brei mit gelbem Reis und einem Stück schimmliger Obstschale. Willie starrte das Essen verzweifelt an. »Das kann ich nicht essen.« »Das ist mehr, als diese Leute in einer ganzen Woche bekommen«, erklärte Indy. »Sie sind kurz vor dem Verhungern.« »Das sehe ich«, gab sie scharf zurück. »Ich begreife nur nicht, was es nützen soll, wenn ich ihnen das auch noch wegnehme. Noch dazu wird mir schon übel, wenn ich es nur sehe.« Sie hatte den Appetit ganz verloren. Wie konnte sie diesen armen Menschen die karge Mahlzeit wegnehmen? So schlimm war es auf der Farm in Missouri nie gewesen. Trotzdem.weckten diese ausgemergelten Gesichter unerfreuliche Erinnerungen. Willie wünschte sich weit fort. »Essen Sie!« befahl Indy. »Ich habe keinen Hunger.« Die Dorfältesten beobachteten sie. Indy setzte ein verbissenes Lächeln auf. »Sie beleidigen sie und bringen mich in Verlegenheit. Essen Sie!« Jones in Verlegenheit zu bringen, hätte ihr nicht so sehr viel ausgemacht, aber die Armut des Dorfes wollte sie nicht auch noch beleidigen. Sie aß. Sie aßen alle. Der Häuptling lächelte befriedigt. »Ruht euch hier aus, bevor ihr weiterzieht«, sagte er auf Englisch. »Dafür wären wir dankbar.« Indiana nickte. Der Häuptling sprach also Englisch. Die Briten mußten einmal in der Nähe gewesen sein. »Wir nicht ruhen«, erklärte Short Round mit seiner hohen Stimme. »Indy mich bringen nach Amerika. Wir jetzt gehen. -51-
Wir gehen Amerika.« Er wollte nur klarstellen, daß das hier die Hauptsache war und als solche verstanden wurde, bevor irgend jemand mit einer anderen Idee daherkam. »Wir gehen nach Amerika«, verbesserte Willie. Bis jetzt hatte sie einfach noch nicht gewagt, darüber nachzudenken, aber auf einmal schien das eine überaus gute Idee zu sein. Vielleicht nach »Amerika. Amerika.« Der Häuptling nickte, obwohl er nur ganz undeutlich begriff. »Reg dich ab, Kleiner«,sagte Indy zu Shorty und setzte ihm seine Mütze auf. Er wandte sich an den Häuptling. »Könnt ihr uns einen Führer nach Delhi mitgeben? Ich bin Professor und muß an meine Universität zurück.« »Ja. Sajnu wird euch begleiten.« »Danke.« Der Schamane ergriff das Wort. »Auf dem Weg nach Delhi besucht ihr Pankot.« Das hörte sich so an, als sei es schon beschlossene Sache, als berichte er nur von Dingen, die bereits feststanden. Indiana bemerkte den Wechsel im Tonfall. »Pankot liegt nicht auf dem Weg nach Delhi«, wandte er bedächtig ein. »Dort geht ihr zum Pankot-Palast«, fuhr der Schamane fort, als hätte Indy nichts gesagt. Indy versuchte es anders. »Ich dachte, der Palast steht seit 1857 leer.« »Nein«, widersprach der Schamane ruhig. »Es gibt einen neuen Maharadscha, und der Palast hat wieder das dunkle Licht. Es ist wie vor hundert Jahren. Dieser Ort ist es, der mein Dorf tötet.« Indy hatte Mühe zu folgen. »Ich verstehe nicht. Was ist hier geschehen?« Der Schamane sprach langsam und deutlich, als wolle er sich -52-
einem Kind verständlich machen. »Das Böse entsteht in Pankot. Dann zieht es wie die Monsunregen seine Dunkelheit über das ganze Land.« »Das Böse. Welches Böse?« fragte Indy. Er war sich bewußt, daß der Schamane zwei Ebenen zugleich ansprach, aber sie blieben nicht fest, sondern verschoben sich ständig ineinander. Indy kam es vor, als müsse er durch zerbrochenes Glas beobachten. Short Round gefiel die Wendung des Gesprächs ganz und gar nicht. »Schlechte Nachricht. Du hören auf Short Round, länger leben.« Vor allem mißfiel ihm das Interesse, das Indy für das Thema bekundete. Mit dem Bösen durfte man sich nicht einlassen. Das Böse scherte sich nicht darum, ob man zielsicher schießen oder schnell laufen konnte. Der Schamane sprach weiter. »Sie sind vom Palast gekommen und haben Sivalinga aus unserem Dorf geholt.« »Was geholt?« warf Willie ein. Auch sie war aufmerksam geworden. Hier entwickelte sich ein Drama, ganz wie ein düsteres Bühnenstück. Sie hatte das Gefühl, für eine der Rollen vorgesehen zu sein. »Einen Stein«, erwiderte Indy. »Einen heiligen Stein aus dem Schrein, der das Dorf schützt.« »Deshalb hat Krischna euch hergebracht.« Der Schamane nickte. Indy wollte das nicht auf sich beruhen lassen. »Nein. Wir sind nicht hergebracht worden. Unser Flugzeug ist abgestürzt.« Short Round stimmte dieser Erklärung zu. Er sagte: »Wumm!« und ließ die Finger einer Hand in die andere Handfläche hinabflattern, damit diese einfachen Menschen ihn leichter verstehen konnten. Indy setzte zu einer weiteren Erläuterung an. -53-
»Nach der Sabotage durch -« »Nein«, sagte der Schamane wie ein geduldiger Lehrer zu seinem begriffsstutzigen Schüler. »Wir beten zu Krischna, uns bei der Suche nach dem Stein zu helfen. Es war Krischna, der euch vom Himmel hat fallen lassen. Ihr werdet also zum PankotPalast gehen, Sivalinga finden und ihn uns zurückbringen.« Indiana wollte Einwände erheben. Dann sah er sich den traurigen, flehenden Häuptling ebenso an wie die hungernden Dorfbewohner und die gequälten Ältesten. Alle beobachteten ihn hilflos. Und er blickte wieder in die tiefgründigen, bannenden Augen des Schamanen. Es wurde dunkel. Sie standen alle auf. Der Häuptling ging voran zum Rand des Dorfes, begleitet von Dorfbewohnern, Ältesten und Gästen. Überall loderten Fackeln wie Furiengeister, Hunde heulten klagend. Die Sterne schienen weit fort zu sein. Sie näherten sich einem haushohen Felsblock, in den ein kleiner, kuppelförmiger Altar gehauen war. Shorty ging nah neben Indiana, verwirrt und ängstlich. »Indy, sie haben abstürzen lassen unser Flugzeug?« flüsterte er. »Damit du herkommen?« »Das ist nur Aberglaube, Shorty«, versicherte er dem Jungen. »Nur eine Gespenstergeschichte. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber.« Short Round war keineswegs beruhigt. Er kannte Gespenstergeschichten - Märchen von Bergdämonen und alten wandernden Geistern; Geschichten, die seine Brüder in der Nacht vor ihrem Verschwinden erzählt hatten; Geschichten, die er auf der Straße gehört hatte, nachdem seine ganze Familie verschwunden war, wohl selber entführt von Donnerkobolden; Geschichten aus den dunklen Gassen und den Winkeln von Bars; Geschichten, die nachts lebendig wurden, wenn die Geister hervorkrochen. Shorty sprach ein stummes Bittgebet an den Gott der -54-
Gespenstertür, der wandernde Geister daran hinderte, unsere Welt zu betreten... oder sie durchließ. Als die Gruppe die in den Stein gehauene Nische erreichte, vollführte der Schamane eine Geste der Anbetung. Short Round kletterte am Felsen hoch, um in den primitiven Schrein zu starren. Nur, um sich zu vergewissern, daß dort keine Geister lauerten, die Indy gefährlich werden konnten. Indiana zog ihn aber auf den Boden herunter und sah ihn mahnend an. »Sie haben den Sivalinga von hier weggenommen?« fragte Indy den Häuptling. »Ja.« Indiana sah sich die kleine Nische an. Sie war leer, aber eine Vertiefung in ihrem Boden zeigte die Kegelform des Steins an, der dort gelegen hatte. Die Form war ihm vertraut. »War der Stein sehr glatt?« »Ja.« Der Schamane nickte. »Er stammte aus dem Heiligen Fluß?« »Ja. Er wurde vor langer Zeit hierhergebracht, vor meines Vaters Vater.« »Mit drei Querlinien.« Indy sah ihn vor sich. »Ja, das ist richtig.« »Für die drei Stufen des Alls«, fuhr Indy fort. Die Illusion weltlicher Materie, die Wirklichkeit des transzendentalen Geistes die Einheit von Raum, Zeit und Stoff. Es war kraftvolle Mythologie, die vitale Talismane schuf. »Ich habe solche Steine gesehen. Aber warum sollte der Maharadscha diesen Heiligen Stein von hier fortnehmen?« Willie starrte über Indys Schulter in den leeren Schrein. Shorty hielt sich an ihrem Bein fest. Der Schamane sagte scharf: »Sie sagen, wir müssen zu ihrem bösen Gott beten. Wir antworten, daß wir das nicht tun werden.« -55-
Ein blitzendes Feuer flackerte unter dem Tränenfilm seiner Augen auf. Willie sagte leise: »Ich verstehe nicht, wie der Verlust des Steins das Dorf vernichten konnte.« Der Schamane wurde von seinen Gefühlen überwältigt. Er versuchte zu sprechen, fand aber die richtigen Worte auf Englisch nicht. Langsam berichtete er in seiner eigenen Sprache, um sein Herz ein wenig zu erleichtern. »Sive linge nathi unata...« Indy übersetzte leise für die anderen. ›Als der Heilige Stein genommen wurde, trockneten die Brunnen aus.Dann wurde der Fluß zu Sand.‹ Er sah den Schamanen an. »Idorajak?« sagte er. »Das hieß ›Dürre‹.« »Na!« rief der Schamane. »Gos Kolan maha polawa...« Wieder übersetzte Indiana die Hindisprache. ›Unsere Ernten wurden verschluckt von der Erde, und die Tiere legten sich auf den Boden und zerfielen zu Staub. In einer Nacht gab es auf den Feldern einen Brand. Die Männer gingen hinaus, um ihn zu löschen. Als sie zurückkamen, hörten sie die Frauen in der Dunkelheit weinen. Lamai. ‹ »Lamai«, wiederholte Willie, die aufmerksam zuhörte. »Die Kinder«, flüsterte Indy. »Er sagt, sie haben die Kinder gestohlen.« Der Schamane ging zum Rand des Fackelscheins und starrte hinaus in die Dunkelheit. Willie hätte am liebsten geweint. Short Round spürte, wie ihn eine Kälte überkam. Er trat näher an Indy heran. Indy fand keine Worte. Der Schamane seufzte tief, kam in den Lichtkreis zurück und sah Indy an. »Du wirst unsere Kinder finden, wenn du Sivalinga findest.« Indy mußte sich räuspern, bevor er sprechen konnte. »Es tut mir leid. Ich weiß aber nicht, wie ich euch helfen kann.« Er wollte es -56-
nicht wissen. Das Ganze hatte etwas Tödliches. Er kam sich vor wie am Rand eines Mahlstroms. Der Schamane und der Häuptling starrten gebannt in Indianas Augen. Sie weigerten sich, seine Ablehnung hinzunehmen. Ihre Augen waren die des Dorfes, die Seele eines sterbenden Stammes. Indy brachte weitere Einwände vor. »Die englischen Behörden, die hier zu bestimmen haben, sind die einzigen, die euch helfen können.« »Sie hören nicht auf uns«, sagte der Häuptling monoton. »Ich habe Freunde in Delhi und werde dafür sorgen, daß sie der Sache nachgehen.« »Nein, ihr werdet nach Pankot gehen«, erklärte der Schamane. Er wiederholte die Worte mehrmals in seiner eigenen Sprache. Mit jeder monotonen Wiederholung ließ Indys Widerstand weiter nach. Er spürte, daß sein Wille sich neu formte, wie die Ufer eines Stroms sich unter den reißenden Wassern des Monsuns unweigerlich verändern. Der Strom bleibt derselbe, aber sein Lauf liegt nun woanders. Der Schamane sprach weiter in der Sprache seines Volkes. »Was sagt er jetzt?« erkundigte sich Willie. Indy erwiderte heiser: »Er sagt, es sei Bestimmung, daß ich hierhergekommen bin. Er sagt, ich werde das Böse erkennen. Das Böse sieht mich hier bereits und weiß, daß ich komme. Das ist meine Bestimmung, und die Zukunft läßt sich nicht verändern. Er sagt, ich kann diese Zukunft nicht sehen. Es ist allein meine Reise.« Short Round und Willie staunten Indy von der Geschichte gebannt an. Indy starrte verwirrt auf den Schamanen. In den Augen des einen spiegelte sic h der jeweils andere. Die drei lagen in ihrer Hütte und versuchten zu schlafen. -57-
Vergeblich. Bilder suchten sie heim: Kinder, die verschwanden, Tiere, die sich in Staub verwandelten, absolute Leere; rote Flammen, schwarze Seelen. Indy hatte genügend dunkle Gegenden des Erdballs erforscht, um zu wissen, daß jeder Glaube seinen eigenen Einflußbereich hatte; jede Magie herrschte dort, wo sie entstanden war. Und hier war Magie am Werk und übte einen Einfluß auf ihn aus, den er bis jetzt nur schwer bestimmen konnte. Aber verdrängen konnte er beides nicht, sondern bestenfalls in den Schatten seines Halbschlafs damit ringen. Willie wollte nichts anderes als von hier fort sein. Sie haßte diese Gegend, den Schmutz, die hungrigen Menschen, die Spannung in der Luft. Es war wie vor einem Tornado zu Hause. Kurz bevor das Dach einstürzte. Sie hielt es hier nicht mehr aus. Short Round hatte ein schlechtes Gefühl, ein sehr schlechtes sogar. Diese Leute unterwarfen Indy einem Zauber und fesselten seinen Geist, so daß sein Körper folgen mußte. Short Round hatte solche Geschichten von Seeleuten gehört, die auf den Philippinen oder auf Haiti gewesen waren; die endeten selten gut. Er würde nun unaufhörlich wachsam sein müssen, um Indy vor inneren Bedrohungen ebenso zu schützen wie vor äußeren. Er würde mehr sein müssen als ein Leibwächter; er hatte auch ein Seelenwächter zu sein. Auch die Dame war nicht ungefährdet, wie er spürte. An ihrem Schatten nagten Geister. Er konnte sie aus den Augenwinkeln wahrnehmen; sie verschwanden nur, wenn er den Kopf drehte, um sie direkt zu sehen. Short Round würde also auch auf sie achtgeben müssen. Wer sollte sonst Indys Frau werden, sobald sie von diesem unheimlichen, verdorrten Ort entkommen waren? Er rief Huan-t'ien an, den Höchsten Herrn des Dunklen -58-
Himmels, der im Nordhimmel lebte und böse Geister verjagte. Erst wenn er das getan hatte, würde er schlafen können. Endlich schlief auch Indy. In einem Traum kam etwas zu ihm. Es kam aus der Dunkelheit herangestürmt. In dessen Innersten hauste Entsetzen; Zweige zerkratzten sein Gesicht. Der Atem dieses Etwas ging schwer unter dem vollen Mond. Der Wind stöhnte es vorwärts, es flog aus dem schwarzen Nichts der Nacht hinein in Indys gepeinigtes, schlafendes Gehirn... Er öffnete die Augen. Was war das? Er hatte etwas gehört das wußte er. Da rannte etwas, brach durch das Unterholz. Langsam setzte er sich auf und lauschte. Short Round und Willie schliefen gleich daneben. Aber irgend etwas Unheimliches war im Gange. Indy spürte es. Er stand auf, ging zur Tür der Hütte, trat hinaus. Der Wind wurde stärker. Der Mond glich einer ockerfarbenen Münze. Da: drüben links im Gebüsch ein Rascheln und Knacken. Indy drehte sich um. Es knisterte in den Zweigen. Plötzlich tauchte aus dem Unterholz ein Kind auf und rannte geradewegs auf ihn zu. Indy ging in die Hocke. Das Kind fiel bewußtlos in seine Arme. Es war ein Junge von sieben oder acht Jahren, völlig abgemagert, in ein paar Lumpen gekleidet. Sein Rücken trug die Spuren einer Peitsche. Indiana rief um Hilfe, trug das Kind in seine Hütte und legte es auf die Decke. Wenige Minuten danach hatten sich alle Dorfältesten um den Jungen versammelt. Ja, sagten sie, das sei ein Kind aus ihrem Dorf. Der Schamane drückte einen nassen Lappen über der Stirn des Jungen aus, träufelte Flüssigkeit in dessen Mund und sprach ein paar heilende Worte. Die Augenlider des Kindes zuckten und öffneten sich. Es starrte die vielen fremden und vertrauten Gesichter an, die zu ihm hinunterblickten - schaute sich um, bis -59-
es Indiana entdeckte. Der Arm des Jungen bewegte sich schwach, hob sich und griff nach Indiana und keinem anderen. Indy nahm die kleine Hand mit der seinen. Er konnte sehen, daß die dunkelhäutigen, zarten Finger völlig zerschunden waren; sie umklammerten etwas. Langsam erschlaffte die Faust des Kleinen. Die Finger ließen etwas in Indys Hand fallen. Der Junge versuchte zu flüstern. Indiana beugte sich tief hinunter , um zu lauschen, während sich die Lippen des Kindes bewegten. Es war nur ein Hauch. Seine Mutter kam hereingestürzt. Sie war rasch verständigt worden. Sie kniete nieder, nahm den Jungen in die Arme und preßte ihn schluchzend an sich. Willie und Short Round sahen mit großen Augen sprachlos zu. Indy richtete sich auf und betrachtete, was der Kleine ihm gegeben hatte. Es war ein kleines, zerfetztes Stück Stoff, abgerissen von einem alten Miniaturgemälde. Indiana erkannte es. »Sankara«, murmelte er.
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Der Pankot-Palast Die Morgendämmerung brach früh an. Indy ging mit raschen Schritten durch das Dorf und hörte sich fetzte Hinweise und Bitten der Dorfbewohner an, die neben ihm hertrabten, um Schritt zu halten. Am Dorfrand warteten zwei große Elefanten. Sajnu, ihr Führer, versuchte höflich, Willie zu einem der Tiere zu zerren. Sie wehrte sich höflich. »Verdammt noch mal, Willie, los jetzt! Wir müssen uns auf dm Weg machen!« Na gut, gut, er hat recht, dachte sie. Das ist wirklich albern. Wir müssen fort, und das sind gezähmte Tiere. Große, unberechenbare, gelegentlich in Wildheit ausbrechende Haustiere. Außerdem gibt es hier kein anderes Beförderungsmittel. Na gut. Sie hätte ihren Platz im Leben nicht erreicht, wenn sie ein Pflänzchen gewesen wäre. Plötzlich tauchte die Frage auf, was sie eigentlich erreicht hatte. Sie war in Mayapore in Indien. Darüber wollte sie ungern länger nachdenken. Sie atmete tief ein und ließ sich von Sajnu auf den Elefantenrücken »Brr! Ganz ruhig. Braver Elefant«, besänftigte sie ihn, stocksteif zwischen den Elefantenschultern sitzend, ihre Miene eine Mischung zwischen Würde und Entsetzen. Das goldene Kleid hielt sie immer noch in den Händen. Short Round stand neben dem zweiten Elefanten und sah Indy herankommen. Er lief mit strahlendem Gesicht auf den Professor zu. »Ich mit dir reiten, Indy?« »Nee, dort drüben wartet eine kleine Überraschung auf dich, Shorty.« Short Round lief um den großen Leitelefanten herum und sah, daß man ein Elefantenbaby heranführte. Genau seine Größe! Er -61-
wagte kaum an sein unfaßbares Glück zu glauben. Was für ein Abenteuer! Was für ein hübscher Rüssel! Was für ein liebes Tier! »O Mann!« schrie er und sprang, unterstützt vom zweiten Führer, hinauf. Er wußte genau, wie man das machte. Das hatte er von ›Tarzan‹ gelernt. Die Elefanten in diesem Film waren enge Freunde von Tarzan; für Short Round würden sie es auch sein. Jane war ebenfalls eine enge Freundin von Tarzan gewesen. Short Round bedachte, in welcher Beziehung Willie sich mit Jane vergleichen ließ, was Männer anging. Er hoffte, daß Willie mit Indy besser zurechtkam als mit Elefanten. Sajnu führte Willies Tier zu Short Round. Sie hatte ihre erste Angst überwunden, verrenkte sich und rutschte nun aber hin und her, vergeblich in ihrem Streben nach der richtigen Sitzhaltung. Als ihr Reittier neben dem von Shorty stand, wurden die Elefanten von beiden Führern aus dem Dorf geleitet. Willie unterbrach ihre Bemühungen lange genug, um die leidvollen Gesichter der Dorfbewohner wahrzunehmen. Manche Menschen weinten sogar, was Willie tief betroffen machte. »Das ist das erste Mal, daß jemand weint, wenn ich fortgehe«, vertraute sie Short Round an. »Sie nicht um dich weinen«, versicherte er. »Sie weinen, weil Elefanten weggehen.« Das mußte es sein. Die Elefanten waren großartig. »Kann sein«, gab Willie schmollend zu. »Sie kein Futter für sie haben. Darum sie geben Elefanten weg und verkaufen. Indy sagen.« Willie hörte den dritten Elefanten hinter sich und drehte sich ganz herum. Indy kam auf seinem Elefantenbullen angeschwankt. Die Stoßzähne des Tieres waren überaus lang. »Willie, rutschen Sie nicht dauernd herum«, rügte er. -62-
Short Round kicherte. »Lady, haben Gehirn verkehrt. Dort China, diese Richtung Pankot.« Pankot? dachte sie. Indiana rief zu Willies Führer hinunter: »Sajnu, imanadu.« Und Sajnu schrie zu Willie hinauf: »Aijo nona, oja pata nemei!« Dann brüllte er ihren Elefanten an. »Augenblick, Augenb lick, ich sitze noch nicht bequem«, rief sie. »Indiana, so kann ich nicht bis Delhi reiten.« »Wir reiten nicht nach Delhi«, sagte Indiana mit ruhiger Stimme. »Nicht nach Delhi!« kreischte sie. Panik ergriff sie. »He, Moment mal!« Sie blickte flehend auf die Dorfbewohner hinunter. »Kann mich nicht jemand nach Delhi bringen? Ich will nicht nach Pankot!« »Gut, gehen wir«, rief Indy zu den Führern hinunter. »Ich möchte vor morgen abend dort sein.« Sajnu führte Willies Elefanten. Das Ungeheuer setzte sich schwankend in Bewegung. Die Dorfbewohner winkten ihr freundlich nach, wünschten ihr viel Erfolg und dankten ihr für ihren Mut. »Indiana!« brüllte sie den Urheber dieser Verschwörung an. Verdammt, warum haben Sie es sich anders überlegt? Was hat Ihnen der Kleine gestern nacht gesagt?« Er beachtete sie überhaupt nicht. Die Elefanten trotteten inmitten von Schwärmen zerlumpter Dorfbewohner. In ihrer Mitte sah Willie den Häuptling und den alten Schamanen. Der Weise führte die aneinandergelegten Hände zur Stirn, als die Kolonne loszog. Sie kamen langsam, aber stetig voran. Mit jeder Stunde rückten die fernen Berge näher. Die Landschaft hier war karg, wenn auch bei weitem nicht so trostlos wie in der unmittelbaren -63-
Umgebung des Dorfs. Hohes Gras wuchs überall, gemischt mit kurzen verkrüppelten Bäumen. Ab und zu konnte man einen kleinen Vierbeiner davonhuschen sehen. Short Round machte bei seinem Elefanten unaufhörlich neue Entdeckungen. Die dünnen, wolligen Haare, die senkrecht auf seinem Schädel standen, waren stachlig wie bei einem Kugelfisch; die Haut war überall rauh, nur nicht an der Unterseite des Bauchs, der glatt war wie ein Kuheuter; und wenn er die Knochenwülste über den Brauen streichelte, gab der kleine Elefant einen hochzufriedenen, ulkigen Huplaut von sich. Er teilte Shorty mit, er heiße zufällig Big Short Round. Willie hatte sich mit ihrem Tier gewissermaßen geeinigt, dazu allerdings eine Sprache verwendet, die man nicht eben als vornehm bezeichnen konnte. Trotzdem waren sie zu einer Art gegenseitigem Einvernehmen gelangt. Der Elefant bewegte sich so, wie er wollte, und Willie zählte ihm aus Rache alle möglichen Verwendungszwecke seiner dereinst sterblichen Elefantenüberreste, zum Beispiel Leim oder Schmierseife, auf. Am frühen Nachmittag brannte die Sonne erbarmungslos hernieder. Sie stapften durch Gegenden, die zunehmend grüner wurden. Sie sahen viele Banyanbäume, Kletterfeigen, Laubboden, träge Flüsse. Und es wurde immer feuchter und schwüler. Willie blickte angewidert an sich hinunter. Sie trug immer noch Indys weites Smokinghemd, das inzwischen klebrig von Schweiß und verschmutzt von Laub und Staub war. Seine Hose schien an der Sitzfläche fast durchgescheuert zu sein. Die weiße Jacke hatte sie um die Taille gebunden. Wie konnte sie so tief gesunken sein? Womit hatte sie das eigentlich verdient? Sie betrachtete ihr zusammengeknülltes Quastenkleid. Noch gestern war sie eine echte Dame gewesen. Sie nahm sich plötzlich zusammen. Hör auf damit, Willie, hör endlich auf. Eine Dame zu sein ist ein Geisteszustand, und es -64-
gibt überhaupt keinen Grund, warum ich nicht auch hier auf diesem gottverlassenen Untier eine Dame sein kann. Sie zog ein Fläschchen französisches Parfüm aus der Innentasche ihres ehemals so schönen Kleids und begann sich hoheitsvoll hinter den Ohren damit zu betupfen. Es zeigte sich aber bald, daß sie nicht als einzige unter der Hitze litt. Sie blickte zwischen ihren Beinen auf das Tier hinunter und murmelte: »Ich glaube, du brauchst das nötiger als ich.« Sie beugte sich vor und betupfte den Elefanten hinter den Ohren mit dem Duftwasser. Sie mußte sich dazu weit hinabbeugen; der Geruch des Elefanten war überwältigend. Willie verzog das Gesicht, wandte sich ab und kippte den halben Inhalt der Flasche über den Rücken des Tiers. Der Elefant war aufgebracht. Er schwang den Rüssel über den Kopf, schnupperte kurz an dem fremden Duft und trompetete angewidert. Willie ärgerte sich. »Worüber beklagst du dich denn? Das ist sündteures Zeug!« Der Elefant stöhnte nur und trottete weiter. Indy döste im Verlauf des Ta ges immer wieder vor sich hin, während Short Round ein endloses Gespräch mit Big Short Round führte. Am späten Nachmittag veränderte sich die Landschaftsform erneut; sie gelangten in den niederen Dschungel. Die Umgebung hier war üppiggrün und dampfte. Das Pflanzendach hing dreißig Meter über ihnen, so dicht, daß kaum die Sonne hindurchfunkelte. Die Luft selbst schien eine goldgrüne Färbung anzunehmen. Riesige Gummibäume gab es zuhauf, Überwuchert mit Moosen und Lianen. Dazwischen standen überall exotische Obstbäume, Farne, Palmen und Weiden. Sie verfolgten einen Weg, den man aber nicht immer genau erkennen konnte. Immer wieder mußte einer der Führer einen -65-
herabgestürzten Ast wegräumen oder Ranken durchhacken. Und überall ertönten allerlei Geräusche. Willie hatte noch nie so viele unbekannte Laute gehört: Zirpen, Keckern, Knurren, Kreischen, Klackern. Manche jagten ihr Schauer über den Rücken. Sie fluchte halblaut und klammerte sich fester an ihren Elefanten, als ihr lieb war. Manchmal fiel es einfach sehr schwer eine Dame zu bleiben, sagt: sie sich. Leicht war es dagegen, ein kleiner Junge zu sein. Short Round nahm mit Augen und Ohren auf, was sich bot, als sei das alles Teil eines großen Spiels, eigens für ihn ausgedacht. Er hielt sich manchmal wie ein König, manchmal wie ein Hündchen - vergaß aber nie, in Abständen zu Indy hinüberzublicken. Seine Verantwortung als Leibwächter Nummer Eins verlangte stete Wachsamkeit. Für kurze Zeit donnerte und blitzte es, aber kein Regen fiel. Für Short Round war das ein schlechtes Zeichen. Es bedeutete, daß Lei-Kung, der Herr des Donners, und TienMu, die Mutter der Blitze, ohne Grund miteinander kämpften. Aus einem solchen Streit konnte nichts Gutes entstehen. LeiKung war furchtbar anzusehen: eulenschnabelig, mit Krallen an seinem blauen, aber sonst menschlichen Körper. Er verbarg sich mit Vorliebe in den Wolken und hieb, wenn jemand in die Nähe kam, mit einem Holzschlegel auf die Trommel. Tien-Mu erzeugte Blitze mit Hilfe von zwei Spiegeln, aber wenn sie sich ärgerte, richtete sie einen davon auf Lei-Kung, damit er sein Abbild sehe und entsetzt sei. Dann hieb er lauter auf die Trommel. Aber der Auseinandersetzung entsprang kein Regen, nur der trockene Zorn dieser beiden Alten. Short Round richtete ein Bittgebet an das Himmlische Ministerium für Donner und Wind und ersuchte darum, eine höhere Autorität möge eingreifen, wer immer das auch sei. Schließlich hörte der Streit auf. Short Round blieb jedoch wachsam. -66-
Als er einmal an einem überhängenden Zweig etwas entdeckte, stellte er sich schwankend auf den Rücken des Elefantenbabys und griff hinauf. Es war eine runde Frucht. Er pflückte sie vorn Zweig und ließ sich wieder auf sein Reittier fallen. Er hielt die Frucht geschickt zwischen den beiden ersten Fingern und dem Daumen und drehte ein paarmal rasch das Handgelenk. Ganz wie Lefty Grove, der Baseballspieler. »Du kommen mit mir nach Amerika, und wir kriegen Job in Zirkus«, erklärte er Big Short. »Du mögen?« Seitdem er den Charlie Chaplin-Film über den Zirkus gesehen hatte, wollte Short Round dort arbeiten. Der Rüssel des Kleinelefanten krümmte sich nach hinten, pflückte Short Round die Frucht aus der Hand und versenkte sie mit einem genießerischen Schmatzlaut im Maul. Short Round verstand das so, daß sein Elefant den Film auch gesehen hatte. Sie kamen an einen seichten Fluß. Sajnu rief zu Indy etwas hinauf, Indy nickte. Sajnu drehte sich um und führte die kleine Kolonne an dem breiten, knietiefen Gewässer entlang. Shortys Elefant kam an erster Stelle, dann Indys und schließlich Willies Tier. Dreißig Meter flußaufwärts hörte Shorty ein seltsames Geräusch und verfolgte es hinauf bis in die Baumwipfel. »Indy, schau!« rief er. Indy und Willie blickten hinauf und sahen Hunderte riesiger fliegender Geschöpfe am dunkelnden Himmel flattern. »Was für große Vögel«, sagte Willie. Sie fand sie interessant. Sajnu sagte etwas zu Indy. Der Professor nickte. »Das sind keine großen Vögel«, sagte er zu Willie. »Das sind Riesenfledermäuse.« Short Round krümmte sich zusammen. ›Dracula‹ hatte er zweimal gesehen, wußte also, was Fledermäuse bedeuten konnten. Willie schauderte ebenfalls und duckte sich unwillkürlich -67-
tiefer auf ihr Reittier. Leider brachte sie das wieder näher heran, als ihrer Nase dies behagte. Sie schnitt eine Grimasse und murmelte: »Schätzchen, diese Dschungelhitze tut dir gar nicht gut«, und schüttete den Rest des Parfüms über den Elefantenrücken. Die erfreuliche Wirkung zeigte sich augenblicklich. Es war der Duft von Zivilisation. Er rief die Erinnerung an Nachtlokale und reiche Gönner wach, an elegante Garderobe und Seidenkissen. Willie war plötzlich froh, am Leben zu sein, Riesenfledermäuse hin, Riesenfledermäuse her. und sie begann laut und fröhlich zu singen: »In old days a glimpse of stocking was looked on as something shocking; now, heaven knows, anything goes!« Indy war überrascht, sie hier draußen so singen zu hören. Er mußte lachen. Am liebsten hätte er mitgesungen, obwohl er kaum Liedertexte kannte und seine Summe alles andere als wohl. tönend war. Nichtsdestoweniger begann er hinauszubrüllen: »Oh, give me a home, where the buffalo roam, where the deer and the antelope play.« Short Round empfand das als unbeherrscht. Ein Gesangsspiel, bei dem jeder sein Lieblingslied so laut wie möglich sang. Auf der Stelle fiel er in den Gesang ein: »›Die goldne Sonne geht auf und scheint im grünen Wald, scheint in der ganzen Stadt Shanghai.‹« Und Willie sang noch lauter: »›Good authors, too, who once knew better words, now only use four- letter words writing prose, anything goes.‹« »›Where seldom is heard a discouraging word, and the skies are not cloudy all day.‹« »Die Stadt Shanghai, ich liebe die Stadt, ich liebe die Sonne.« »›The world has gone mad today, und good's bad today, and black's white today, and day's night today.« -68-
»Home, home on the range.« Dann sang Shorty bei Indy mit, weil er dieses Lied auch mochte: »Where the deer and the antelope play.« Aber er sang den Text auf chinesisch. Sie sangen alle, so laut sie konnten, durcheinander, wollten einander übertönen, wollten das unglaubliche Glück feiern, am Leben zu sein und in diesem Augenblick und an diesem Ort singen zu können. Für Willies Elefant war das zuviel des Guten. Zuerst dieser grauenhafte, fremdartige Gestank, nun dieses quälende Gekrächze ; beides zusammen war einfach unerträglich. Das Tier blieb plötzlich stehen, tauchte den Rüssel in den Fluß, den sie eben durchquerten, saugte ungefähr achtzig Liter Wasser ein krümmte den Rüssel über den Kopf nach hinten und dusch Willie mit einem kräftigen Strahl gründlich ab. Sie flog herunter und landete klatschend im Wasser. Short Round lachte unbändig und zeigte auf sie hinunter. »Sehr lustig!« rief er glucksend. »Sehr lustig, ganz naß!« Auch für Willie war das zuviel. Wie ein übermüdetes Kind, das Schläge bekam, weil es zu angestrengt gespielt hatte, wurde sie zwischen Wut und Tränen der Enttäuschung hin und her gerissen. Sie war naß und schmutzig und hungrig und am Ende ihrer Kraft. Genug war einfach genug. »In Shanghai bin ich glücklich gewesen«, zischte sie, ohne sich länger im Zaum zu halten. »Ich hatte ein kleines Haus mit Garten. Meine Freunde waren reich. Ich ging zu Festen und wurde in Limousinen gefahren. Ich hasse das Leben im Freien. Ich bin Sängerin, keine Naturfreundin! Ich könnte meine Stimme verlieren!« Short Rounds Augen wurden groß, während er sie beobachtete. »Dame wirklich zornig«, sagte er. Indiana blickte sich um, stellte fest, wie tief die Sonne stand, -69-
wie die Abenddämmerung vordrang, und kam zu einem Entschluß. »Ich glaube, hier schlagen wir am besten unser Lager auf.« Eigentlich waren sie ja alle ein bißchen erschöpft. Sonnenuntergang. Die drei Elefanten tauchten an einer tiefen Stelle im Fluß bis zur Brust ins Wasser. In ihrer Nähe watete Indy ohne Hemd und bespritzte die müden Tiere. Sajnu tat dasselbe von der anderen Seite. Short Round spielte lachend mit dem Elefantenbaby. Der Elefant wickelte den Rüssel um ihn, schwang ihn in die Luft und drehte ihn auf den Rücken. Shorty tauchte ins Wasser, und wenn er heraufkam, verabreichte ihm der Elefant eine Dusche. Die beiden paßten altersmäßig gut zueinander. Dreißig Meter flußaufwärts schwamm Willie gemächlich in Bucht. Sie tauchte zum kühlen Grund hinab, drehte sich langsam, erschlaffte, tauchte auf, strich sich die Haare aus den Augen, trieb auf dem Rücken dahin, summte zufrieden, beobachtete die Muster im Laub über sich. Sie brauchte das. Ihr Leben war innerhalb der letzten beiden Tage auf den Kopf gestellt worden. Alles hatte sich prächtig angelassen, bis dieser Kerl in den Nachtklub gekommen war und... Eigentlich war er ja wohl gar nicht so schlimm, dachte sie, falls man einen solchen Typen mochte, aber sie verspürte nicht das unwiderstehliche Bedürfnis, ihm in ihrem Leben einen besonderen Platz einzuräumen. Zum einen war er Akademiker, nach allen geltenden Regeln also schlecht bei Kasse. Zum zweiten hatte er sich offensichtlich zwar in sie verknallt, sagte aber nie ein nettes Wort, bemühte sich nie, ihr irgend etwas Gutes zu tun, zeigte nie Mitgefühl für sie und benahm sich ganz allgemein nie wie ein Gentleman. Ein durch und durch eigensüchtiger, herrischer Grobian. Zu was war er eigentlich nütze? -70-
Immerhin, er war nett zu dem Kleinen. Das war ein Punkt. Zu ihr war in ihrer Kindheit nie jemand nett gewesen, und es tat ihr wohl, wenn sie sah, daß der Junge gut behandelt wurde. Das ausgehungerte Kind gestern nacht im Dorf hatte ihn auch tief angerührt, das war zu sehen gewesen. Nun gut, er konnte mit Kindern umgehen. Was noch? Nun, er hatte ihr Kopf und Kragen gerettet, als im Nachtklub die Hölle losgebrochen war, und ein zweites Mal im Flugzeug. Allerdings sprach viel dafür, daß alle diese Dinge gar nicht geschehen wären, wenn er sie nicht ausgelöst hätte. Oder vielleicht doch. Darum ging es beim Karma; die Inder schienen kaum ein anderes Thema zu kennen. Die Chinesen freilich auch, jedenfalls bei manchen Abendgesellschaften, bei denen sie eingeladen war. Apropos Abendgesellschaften: Sie mußten von der nächsten mindestens tausend Meilen entfernt sein. ›When every night the set that's smart is intrudin' in nudist parties in Stud ios, anything goes.‹ Seine Augen, gewiß; das war das Beste an ihm. Sie fragte sich, wie sie, ganz aus der Nähe, wirklich aussehe mochten... Sie tauchte wieder unter, ließ sich vom kühlen Wasser erfrischen und die Verspannung in ihren Muskeln lösen. Nun ja, es würde sich schon alles finden. Das war immer so, wenn man nur nicht aufgab. Aber trotzdem: Tausend Meilen vom nächsten Paar Seidenstrümpfe entfernt. Indiana ging, angetan mit der tropfenden Hose, am Ufer entlang. Er wollte sich vergewissern, daß Willie nichts zugestoßen war. Nicht, daß er an eine Gefahr geglaubt hätte. Sie war eine Dame mit Courage, soviel stand fest. Sie hatte allerlei erlebt und sah am Ende vielleicht nicht immer blendend aus, aber sie stand alles durch. Sie war hier nur nicht in ihrem Element, das war alles. Sie war eine Großstadtpflanze. -71-
Er hätte sie nicht derartig unter Druck gesetzt, wenn er nicht geglaubt hätte, ihr das zumuten zu dürfen. Er fühlte sich manchmal geradezu gehalten, dies zu tun. Sie konnte einem so gründlich auf die Nerven fallen. Immerhin, man durfte das einem Menschen nicht verdenken, wenn er ganz offensichtlich litt. Die Frage war nur, ob sie das immer so lautstark zur Kenntnis geben mußte. Vielleicht lag das daran, daß sie Sängerin war. Auf jeden Fall stand fest, daß man sich hier draußen um sie kümmern mußte. Das arme Ding hatte sich offensichtlich Hals über Kopf in ihn verliebt. Aus diesem Grund hielt er es für angebracht, nach ihr zu sehen und sich zu vergewissern, daß sie nicht von Moskitos davongetragen wurde. Er stieß auf ihre trocknenden Kleidungsstücke an einem Ast, der tief über dem Wasser hing. Einen Augenblick später sah er Willie nicht weit davon entfernt schwimmen - gewissermaßen völlig unbehindert. Der Anblick ließ seinen Mund ein wenig trocken werden. »He, Willie«, rief er. »Ich glaube, Sie sollten jetzt lieber herauskommen. Sein plötzliches Auftauchen erschreckte sie, aber sie gewann ihre Fassung rasch zurück. Solche Vorfälle hatte sie hundertmal erlebt. »Splitternackt?« sagte sie gleichmütig. »Das möchten Sie wohl?« »Los, Zeit zum Abtrocknen.« »Geschenkt«, gab sie zurück. »Doktor Jones, wenn Sie versuchen, mich zu verführen, ist das ein sehr primitives Verfahren.« Man brauchte nur einmal anständig sein zu wollen, schon bekam man die Quittung. »Ich Sie verführen? Liebe Dame, ausgezogen haben Sie sich selbst.« Er zog mit größter Interesselosigkeit die Schultern hoch. »Ich bin nur herübergekommen, um Sie daran zu erinnern, daß man nie weiß, was da noch alles im Wasser schwimmt.« -72-
Obwohl sie mitten im Nirgendwo waren, vielleicht zehntausend Meilen von Cole Porter entfernt, stand für Willie fest, daß dies überaus vertrautes Terrain war. »Irgendwie fühle ich mich hier sicherer«, meinte sie lächelnd. »Wie Sie wollen«, sagte er mit einer Geste absoluter Gleichgültigkeit. Er drehte sich um und ging zum Lager zurück, ein ganz klein wenig beleidigt. Während sie trotz ihres weltstädtischen Pfiffs sich irgendwie darüber ärgerte, daß er nicht länger geblieben war. Die Nacht im Urwald fiel rasch ein. Das Lagerfeuer verbreitete warmes, orangerotes Licht, aber unmittelbar außerhalb des Feuerscheins waren die Schatten schwarz, verhüllend, unnachgiebig. Sajnu fütterte die Elefanten. Die anderen Führer unterhielten sich leise. Willie wand, in eine Decke gehüllt, am Feuer ihre noch immer nassen Sachen aus. In dieser Treibhausatmosphäre ging das mit dem Trocknen nicht so schnell. Sie ließ halb mit Absicht Wasser auf Indys Rücken tröpfeln, der mit Short Round Poker spielte. Dann trug sie alles zu einem niedrig hängenden Ast, um es über Nacht zum Trocknen aufzuhängen. Indiana warf ihr einen Blick zu, sagte aber nichts und spielte weiter. »Was du haben?« fragte Short Round ernsthaft. »Zwei Sechsen.« »Drei Asse. Ich gewinnen.« Der Junge grinste. »Noch zwei Spiele, ich haben dein ganzes Geld.« Shorty warf die Karten hin. Indy teilte aus. Willie, die ihre Kleidung auf dem Ast zusammenlegte, blickte kurz hinüber. »Wo haben Sie Ihren kleinen Leibwächter gefunden?« fragte »Ich habe ihn nicht gefunden, sondern eingefangen«, erwiderte Jones und griff nach seinen Karten. -73-
»Was?« sagte sie, während sie ein paar von den größeren Stücken anders aufhängte. »Seine Eltern kamen um, als Shanghai bombardiert wurde. Shorty ist seit seinem vierten Lebensjahr auf der Straße. Ich erwischte ihn, als er meine Tasche leeren wollte.« Willie griff nach dem letzten Kleidungsstück auf dem Ast unter ihr. Sie wickelte eine Riesenfledermaus aus. Sie stieß einen Schrei aus, bei dem die Köpfe aller herumfuhren, ausgenommen der von Indy, der nur zusammenzuckte. Sie sprang von der flügel- und krallenschlagenden, zischenden Fledermaus zurück, hinein in einen großen Farnwedel, wo sie sich einem bösartigen Pavian gegenübersah. Seine Schnauze war rosa- und dunkelrot. Er fauchte Willie ergrimmt an. Sie kreischte wieder, so daß der Pavian die Flucht ergriff. Sie stieß rückwärts an einen dunklen Felsbrocken, wo ein großer Leguan hockte und nach ihr schnappte. Short Round machte sich keine großen Sorgen mehr, nachdem die Fledermaus weggeflogen war, aber er bot erneut dem Gott der Gespenstertür einen Dollar (auf Kredit) an, ebenso Dr. van Helsing und allen anderen Beschützern vor Dracula. Willie hatte bedauerlicherweise keine derartigen Beschützer. Alles, was sie hatte, war, daß ihre schlimmsten Befürchtungen gegenüber Mutter Natur eingetroffen waren. Während ihres folgenden hysterischen Anfalls gab sich Indy aus Versehen eine vierte Karte. Short Round bemerkte es und begann sich zu ärgern. Willie suchte wie besessen die Umgebung des Lagers ab. In Abständen stieß sie Schreckenslaute aus. »Das Problem mit ihr ist der Lärm«, murrte Indy. Er versuchte sich auf seine Karten zu konzentrieren. »Ich nehmen zwei«, sagte Short Round gepreßt. -74-
Indy nickte. »Ich drei.« »He, du haben vier genommen«, protestierte Shorty. »Nein, ich habe nicht vier genommen.« Indy war empört. »Doktor Jones betrügen«, beschuldigte ihn Short Round. »Ich habe keine genommen, aber ich glaube, du hast eine geklaut«, gab Indy zurück. Willie stieß wieder einen schrillen Schrei aus, als es irgendwo raschelte. Sie trat mit dem Fuß nach einem leeren Gebüsch. »Du mir zehn Cents schulden«, sagte Shorty. »Du bezahlen. Gleich bezahlen.« Indy warf verärgert die Karten hin. »Ich mag nicht mehr spielen.« »Ich auch nicht.« »Und ich bringe dir nichts mehr bei.« »Mir egal. Du betrügen. Ich aufhören.« Er griff nach den Karten und stolzierte davon, wobei er Chinesisches vor sich hinmurmelte. Willie wich rückwärts bis zu Indiana zurück, der noch am Feuer saß. Sie starrte wild in alle Richtungen. »Wir sind völlig umzingelt!« stieß sie hervor. »Hier wimmelt es von Lebewesen.« Sie schauderte. »Deshalb spricht man vom Dschungel«, sagte er trocken. »Was lauert dort draußen noch?« flüsterte sie. Er sah sie an und lächelte. Willie. Ein komischer Name. Er ließ ihn auf der Zunge zergehen. »Willie. Willie. Ist das eine Abkürzung?« Sie wurde ein bißchen steif. Sie dachte nicht daran, sich lächerlich machen zu lassen. »Willie ist mein Bühnenname - Indiana.« Sie legte die Betonung auf ana. -75-
Short Round, der in der Nähe seines Elefanten schmollte, sprang Indy bei. »He, Lady, Sie Doktor Jones sagen.« Sie gab sich ein wenig zu vertraut für jemand, den Short Round noch nicht offiziell als Ziel für Indys Werbung anerkannt hatte. Willie und Indy lächelten. Er schnippte zehn Cents zu Shorty hinüber, um Frieden zu schließen, dann sah er Willie an. »Das ist mein Bühnenname.« Er drehte sich ein wenig herum. »Wie sind Sie eigentlich in Shanghai gelandet?« »Meine Gesangskarriere geriet unter die Räder der Wirtschaftskrise«, sagte sie dumpf. »Ein Kerl hat mir eingeredet, ein Mädchen könnte es im Orient zu etwas bringen.« Er breitete neben dem Feuer eine Decke aus und legte sich hin. »Show business, wie? Noch andere Ambitionen?« »Bis morgen am Leben zu bleiben«, sagte sie grollend. »Und danach?« Sie lächelte innerlich. »Ich werde mir einen gutaussehenden, unfaßbar reichen Prinzen anlachen.« »So einen würde ich auch gern ausgraben«, meinte er. »Vielleicht haben wir doch etwas gemeinsam.« »Wie?« »Ich mag meine Prinzen reich und tot und am besten schon seit zweitausend Jahren begraben. Reichtum und Ruhm. Sie wissen, was ich meine.« Er zog ein Stück Stoff aus der Tasche und faltete es vorsichtig auseinander. Es war der Fetzen, den ihm vergangene Nacht in Mayapore das Kind gegeben hatte. Willie saß neben ihm und starrte es an. »Schleppen Sie uns deshalb zu diesem verlassenen Palast? Um Reichtum und Ruhm zu finden?« Er zeigte ihr das altertümliche Stück. -76-
»Das gehört zu einem alten Manuskript. Dieses Piktogramm stellt Sankara dar, einen Priester. Es ist Hunderte von Jahren alt. Vorsichtig!« Sie griff danach, um es sich genauer anzusehen. Es war ein primitives Bild, gemalt in verblaßten Rot-, Gold- und Blautönen. Einfach faszinierend. Willie war angerührt von seiner Geschichte, seiner inneren Weisheit. Shorty kam ebenfalls herübergeschlendert, um es sich anzusehen. Sie begannen alle beide echtes Interesse zu zeigen, angeregt von Indys ehrfürchtigem Tonfall. Sogar das Elefantenbaby wurde aufmerksam, Es trottete herüber zu Willie und legte den Rüssel auf ihre Schulter. Sie zuckte heftig zusammen, dann schob sie den Rüssel unwillig weg und beugte sich wieder über das Piktogramm. »Ist das eine Art Schrift?« »Ja, Sanskrit«, sagte Indy. »Ein Teil der Legende von Sankara. Er besteigt den Kaiisa-Berg, wo er Shiwa trifft, den Hindugott.« Der Elefant hängte wieder seinen Rüssel über Willies Schulter; erneut streifte sie ihn ab. »Hör endlich auf«, fuhr sie ihn an. Zu Indy sagte sie: »Das ist Shiwa, wie? Was gibt er da dem Priester?« »Steine. Er beauftragte ihn, hinzugehen und das Böse zu bekämpfen. Um ihm zu helfen, gab er ihm fünf heilige Steine, die magische Eigenschaften besaßen.« Der Elefant stieß Willie wieder an. Ihre Geduld näherte sich rasch dem Ende. »Magische Steine. Mein Großvater lief sein ganzes Leben mit einem Kaninchen in der Rocktasche und Tauben auf den Ärmeln herum. Er machte viele Kinder glücklich und starb als armer Mann. Magische Steine. Reichtum und Ruhm. Gute Nacht, Doktor Jones.« Sie gab ihm den Stoff zurück und ging zum Rand der Lichtung, wo sie ihre Decke ausbreitete. -77-
»Wo gehen Sie hin?« fragte Indy. »Ich würde hier in der Nähe schlafen. Zur Sicherheit.« Er beobachtete sie mit gemischten Gefühlen. Sie begann ihm unter die Haut zu gehen. Er bemühte sich, sie nicht anzusehen, aber das machte alles nur noch schlimmer. Willie wollte seinen Blick ebenfalls nicht erwidern. Konnte er nicht ehrlich sein, was seine Gefühle anging, Himmel noch mal? Sie hatte einfach kein Vertrauen zu Männern, die nicht offen erkennen ließen, was sie wollten. »Doktor Jones, ich glaube, ich wäre weniger gefährdet, wenn ich mit einer Schlange schliefe.« In diesem Augenblick schob sich eine Riesenpython von dem Baum hinter ihr herab und schlängelte sich über ihre Schulter. Short Round war entsetzt. Bei Indy war es noch ärger. Indy hatte eine Heidenangst vor Schlangen. Er wußte nicht warum, und es kümmerte ihn auch nicht. Er wußte nur, daß von allen Wesen, die es je gegeben hatte, geben oder auch nicht geben mochte, Schlangen die einzigen waren, bei deren Anblick er Blut schwitzte, zu frösteln begann und am liebsten davonrannte. Willie dagegen glaubte, das sei immer noch das Elefantenbaby. Sie verlor die Geduld, griff hinter sich, ohne hinzusehen, packte die Schlange und schleuderte sie weg. »Aufhören, hab' ich gesagt!« Indy wich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Er schwitzte. Willie bückte sich, um ihre Decke glattzustreichen. Die Schlange glitt davon. »Ich hasse diesen Dschungel«, murmelte Willie. »Ich hasse diese Elefanten. Ich hasse diese Schlafgelegenheit.« In der Nähe huschte ein Bengaltiger ungesehen durch das Dickicht und verschwand. Indy setzte sich für einige Sekunden auf einen Felsblock und atmete mehrmals tief ein, dann stand er auf und begann Holz fürs Feuer nachzulegen. Viel Holz. -78-
Am nächsten Morgen brachen sie das Lager früh ab, um voranzukommen, bevor es heiß wurde. Tropenwinde rüttelten an den obersten Ranken, während die Elefanten durch das Unterholz stapften. Die Luft war erfüllt vom Geschrei der Tiere. Allerdings klang es nicht mehr so bedrohlich wie während der Nacht. Es erinnerte Willie an einen großen, schlecht geführten Zoo. Short Round führte wieder Gespräche mit Big Short Round, immer stärker davon überzeugt, daß der Geist seines verlorenen Bruders Tschu, der vom Rad der Seelenwanderung erfaßt worden war, ein Heim im Körper dieses großen Babys gefunden hatte. Zum einen war Tschu selbst rundlich gewesen, was zu einer Inkarnation als Elefant gut paßte, zum anderen hatte Tschu stets gute Laune gezeigt wie dieses Tier hier auch. Und schließlich war Tschu mit dem Kosenamen Buddha belegt worden, nicht allein seiner Rundlichkeit und guten Laune wegen, sondern auch wegen der beträchtlichen Größe seiner Ohrläppchen - auf die Ohrengröße des jungen Elefanten brauchte man nicht näher einzugehen. So besprach Short Round Dinge mit Big Short Round, die nur Tschu hätte verstehen und für wichtig halten können Familienangelegenheiten, Entschuldigungen für lange schwelende Auseinandersetzungen über derart wichtige Fragen wie die, ob Jimmy Foxx oder Lou Gehrig der bessere Schlußschlagmann sei - und zu Shortys großer Erleichterung konnte der Elefant ihn zu allen diesen Fragen beruhigen. Sie waren gerade bei einer neuen Debatte und erwogen, was sie in Amerika alles sehen würden, wenn sie gemeinsam zum Zirkus gingen, als sie über eine Anhöhe kamen und in der Ferne den Palast sahen. Aus prachtvollem, beinahe schillerndem weißen Alabaster ragte er am Bergkamm aus dem Dschungelteppich hervor wie eine perfekt geformte Perle auf einem Meer aus grüner Jade. -79-
»Indy, schau!« stieß Short Round hervor. »Das ist Pankot.« Er nickte. Sie starrten ihn alle eine ganze Minute lang stumm an, dann ritten sie weiter. Erst geraume Zeit nach Mittag erreichten sie die ersten Vorberge, die zum Palast hinaufreichten. Sie wollten gerade zum ersten niedrigen Paß ansetzen, als Sajnu die Ele fanten mit einem Befehl zum Stehen brachte und nach vorne lief. »Navath thana.« Seine Stimme klang angstvoll. Indy sprang von seinem Reittier und ging nach vorn zu dem Führer. Als er näherkam, sah er, daß Sajnu etwas anstarrte und immer wieder dieselben Worte hervorstieß. »Winasajak. Maha winasajak.« Eine Katastrophe, eine große Katastrophe. Indy tippte ihm auf die Schulter. Er rannte zu den anderen Führern zurück und redete stammelnd auf sie ein. Indy konnte jetzt erkennen, was ihn so aus der Fassung gebracht hatte. Es war eine kleine Statue, die den Weg bewachte, eine Göttin mit acht Armen. Eine bösartige Gottheit, die eine geschnitzte Halskette aus kleinen Menschenköpfen trug. An jeder ihrer Hände baumelte an den Haaren festgehalten ein weiterer Menschenkopf. Sie zeigte eine furchterregende Grimasse. Überdies war sie mit rituellen Gegenständen geschmückt: Laub, tote Vögel, Nagetiere, Schildkröten. Um die Hüften trug sie einen Gurt aus echten, abgehackten Menschenfingern. Indy kehrte zu der Gruppe zurück. Willie und Short Round stiegen eben ab. »Warum halten wir hier?« fragte Willie. »Was du ansehen, Indy?« wollte Short Round wissen. Vielleicht einen Schatz, den Tschao-pao entdecken konnte. -80-
Indy sprach jedoch mit den aufgeregten Führern. Sajnu schüttelte unablässig den Kopf und drehte die Elefanten herum. »Anej behe mahattaja«, sagte er immer wieder. Die Führer begannen die Elefanten mit schnellen Schritten wegzuführen. Willie erschrak. Sie lief ihnen ein paar Schritte nach und schrie: »Nein, nein, nein! Indy, sie stehlen unsere Reittiere!« »Von hier aus gehen wir zu Fuß«, sagte Indy. Es hatte keinen Zweck, Eingeborene zu zwingen, dorthin zu gehen, wohin sie nicht gehen wollten. Das verschlimmerte alles nur noch. »Nein!« sagte sie schmollend. Nach dem ganzen Ärger von gestern hatte sie sich eben an die großen, häßlichen Untiere gewöhnt. Short Round sah die Elefanten davonstapfen. Sein großer, rundlicher Freund drehte sich nach ihm um. »Elefantenbaby!« rief Shorty. Konnte es sein, daß nach all den Jahren sein geliebter Bruder Tschu zurückgekehrt war, nur um zwei Tage zu bleiben und dann wieder fortzugehen? Warte! Das ist nicht fair! Was wird aus dem Zirkus? Aber vielleicht war er nur zurückgekommen, um die Meinungsverschiedenheiten aus der Welt zu schaffen, die Jahre zuvor in Shanghai ungeklärt geblieben waren. Vielleicht war es jetzt, da alles friedlich beigelegt war, Zeit für Tschu, wieder zu gehen. Es fiel nur Round schwer, sich damit abzufinden oder es auch zu ergründen, aber so schien es nun einmal zu sein. Lächelte Tschu jetzt nicht sogar, als er Abschied nahm? Short Round winkte der verlorenen, wiedergefundenen Seele zu. Sein kleiner Freund trompetete, schwenkte die Ohren, wedelte mit dem Rüssel und trottete davon. Short Round gab sich große Mühe, nicht zu weinen. Indy ging zu dem Götterabbild zurück und betrachtete es gründlich. Short Round rief ihm zu: »Doktor Jones, was du ansehen?« -81-
Ein Schatz war nur ein schwacher Trost für einen zweimal verlorenen Bruder, aber immerhin ein Trost. »Nicht herkommen!« rief Indy. Er wollte nicht, daß die beiden das sahen, vor allem Short Round nicht. Es war ein bösartiges Totem, voll okkulter Macht. Bestenfalls konnte es grauenhafte Träume hervorrufen; schlimmstenfalls... Indy sah keinen Sinn darin, Short Round einer derartigen Scheußlichkeit auszusetzen - Willie übrigens auch nicht. Er fühlte auch ihr gegenüber einen gewissen Beschützerinstinkt. Er stand auf und kehrte zu seinen Freunden zurück. »Wir gehen zu Fuß weiter.« Am späten Nachmittag erreichten sie eine steingepflasterte Straße, die an einer hohen Steinmauer entlangführte. Willie humpelte ein paar Meter hinter den anderen her, die hochhackigen Schuhe in der Hand. Sie schwitzte, war zerzaust und murrte. »Von Gewehrsalven bedroht, aus einem Flugzeug gestürzt, fast ertrunken, von einem Leguan angefaucht, einer Fledermaus angefallen; ich rieche wie ein Elefant...« Plötzlich hatte sie aas Gefühl, keinen Schritt mehr tun zu können. Sie schrie die beiden von hinten an: »Ich sage euch, ich schaffe es nicht!« Indiana blieb stehen, ging zu Willie zurück, wollte eine Bemerkung machen - energisch, sarkastisch oder spitz - als sich wie bei der ersten Begegnung ihre Blicke trafen. Etwas, das er dort sah - verloren, ganz still hinter dem Lärm - ließ ihn schweigen. Und etwas, das sie sah, zumindest vorübergehend, brachte bisher Unbewußtes in ihr an die Oberfläche.. Wortlos hob er sie hoch und trug sie den Rest des Weges auf seinen Armen. Sie war überrascht und verwirrt, aber nicht unerfreut. »Sonst noch Klagen?« fragte Indiana. Sie lächelte schwach. -82-
»Ja. Wenn Ihnen das nur früher eingefallen wäre.« Es fühlte sich gar nicht so übel an. Short Round verdrehte die Augen. Er hatte das Clark Gable in ›Es geschah in einer Nacht‹ tun sehen. Im Film war es ihm albern erschienen, hier fand er es auch albern. Indy trug sie den ganzen Weg an der Mauer entlang, bis sie das große Eingangstor erreichten. Dort setzte er sie ab und glättete ihre Kragen. »Na, kein dauerhafter Schaden.« Er lächelte. Sie richtete sich auf, drehte sich herum und sah zum ersten Mal den Pankot-Palast aus der Nähe. Sie pfiff leise durch die Zähne. Er war großartig und riesenhaft. Ein ausgefallenes Gemisch von Mogul- und Radschput-Stil, spiegelte es die Strahlen der untergehenden Sonne mit einer blutigen, schillernden Färbung wider. Die drei Reisenden gingen langsam über eine Marmorbrücke zum Haupteingang.
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Überraschung im Schlafzimmer An beiden Seiten der Brücke standen Palastwachen. Bärtig, mit schwarzen Turbanen und Orden, Krummschwertern in ihren Gürteln, Lanzen in den Händen standen sie der Reihe nach stramm, als die drei Besucher vorbeigingen. Willie zuckte anfangs zusammen, genoß die Ehrenbezeigungen dann aber sichtlich. Ihre Haltung wurde straffer. Sie begann eine Anmut zu zeigen, die jemandem von ihrem Stande gemäß war. bedauerte lediglich, vor dem Eintreten nicht ihre Schuhe zu haben. Sie traten durch einen dunklen Torbogen in einen glitzernden Innenhof. Mauern aus Quarz und Marmor, Minarette aus Lapislazuli, vergoldete Bogenfenster... wie ein prachtvolles Mausoleum. Und ebenso verlassen. »Hallo?« rief Indy. Seine Stimme hallte von den dräuenden Mauern wider. Drei hünenhafte Radschput-Wachen erschienen lautlos auf der anderen Hofseite. Sie wirkten nicht so ehrerbietig wie der erste Trupp. »Na?« fragte Willie beschwichtigend. Die einzige Antwort war ihr eigenes Echo. Einige Augenblicke später stieg zwischen den Wachen ein hochgewachsener, streng aussehender Inder mit Brille die Marmorstufen des breiten Eingangs herunter. Er trug einen weißen Anzug. Er betrachtete höflich, aber argwöhnisch die zerzauste Schönheit in einem Männersmoking, die Schuhe und Kleid in den Händen hatte, den schmutzigen Chinesenjungen mit der amerikanischen Baseballmütze und den weißen Kerl mit den verkniffenen Augen und einer Viehpeitsche. Sein Name war Chattar Lal. Er trat mit typischer Beamtengeschäftigkeit hervor, um die -84-
Besucher genauer in Augenschein zu nehmen. Von der Nähe aus verbesserte sich ihr Aussehen auch nicht. »Ich würde sagen, Sie sehen wie Verirrte aus.« Er lächelte verächtlich. »Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, wo in der Welt Sie am richtigen Platz erscheinen würden.« Indiana zeigte sein feinstes amerikanisches Lächeln der Sorte Ich-bin-da-wo-ich- hingehöre-egal- wo-das-sein- mag. »Verirrt? Nein, wir haben uns nicht verirrt. Wir sind auf dem Weg nach Delhi. Das ist Miß Scott und das Mr. Round. Mein Name ist Indiana Jones.« Chattar Lal war entgeistert. »Doktor Jones? Der berühmte Archäologe?« Willie lästerte ohne Bitterkeit. »Schwer zu glauben, nicht?« Chattar Lal sprach weiter. »Ich erinnere mich, Ihren Namen das erste Mal gehört zu haben, als ich in Oxford studierte. Ich bin Chattar Lal, Premierminister seiner Hoheit des Maharadschas von Pankot.« Er verbeugte sich. »Willkommen im Pankot-Palast!« Er begleitete sie durch die Haupteingangshalle, durch Säle von Marmorsäulen, vorbei an das Auge verzaubernden Möbelstücken eingelegt mit Spiegel- und Halbedelsteinen, Elfenbeinbrunnen! herrlichen Gobelins. Willie betrachtete die üppige Pracht ehrfurchtsvoll. Im nächsten Korridor kamen sie an den chronologisch aufgereihten Porträts der Fürsten von Pankot vorbei. Die Gesichter waren unterschiedlich verlebt, elegant, bösartig, leer, sichtlich gealtert, ohne erkennbares Alter. Als sie an den Bildern vorbeigingen, flüsterte Willie Short Round zu: »Möchtest du dem in einer dunklen Gasse begegnen? Der da sieht ganz nett aus. Ich könnte mir vorstellen, mit so einem Prinzen verheiratet zu sein. Prinzessin Willie.« Vor ihnen befragte Chattar Lal Indy in einem Tonfall, der -85-
zwischen Neugier und Mißtrauen schwankte. »Der Flugzeugabsturz und Ihre Reise hierher klingen... höchst unglaublich.« Willie hörte das. »Sie hätten mal dabei sein sollen«, witzelte sie. Indy sagte ernsthaft: »Wir wären dankbar, wenn der Maharadscha uns für heute nacht aufnehmen würde. Wir ziehen morgen weiter.« Gleich nach einer kleinen heimlichen Besichtigung. »Ich bin nur der demütige Diener meines Herrn« - Chattar Lal senkte kurz den Kopf - »aber der Maharadscha hört in der Regel auf meinen Rat.« »Ist er das?« fragte Willie. Sie waren zum letzten Bild in der Reihe an der Wand gekommen. Willie blieb stehen und unverhohlener Enttäuschung auf den ungeheuer korpulenten, gealterten Radschput-Fürsten. »Ein junger Spring- ins-Feld ist er ja nicht unbedingt«, sagte sie seufzend. Nein, nein«, verbesserte Chattar Lal, »das ist Shafi Singh, der verstorbene Vater des jetzigen Maharadschas.« »Ah, gut.« Willies Miene hellte sich auf. »Und vielleicht ist der jetzige Maharadscha ein wenig jünger? Und schmäler?« Zwei Dienerinnen traten aus einer Nebentür und verbeugten sich. Chattar Lal nickte Willie zu. »Sie werden Sie jetzt zu Ihren Zimmern begleiten. Sie erhalten frische Kleidung. Heute abend speisen Sie mit Ihrer Hoheit.« »Speisen?« sagte Willie strahlend. »Mit einem Prinzen? He, ich werde doch nicht zur Abwechslung mal Glück haben?« Bis sie sich zufällig in einem Spiegel erblickte. »Aber seht mich bloß an! O mein Gott, ich muß mich herrichten!« Wenn man einen Prinzen angeln wollte, kam es entscheidend auf den Köder an. Sie eilte mit einer der Dienerinnen davon. -86-
Chattar Lal lächelte Indiana kühl an. »Um acht Uhr im Pavillon des Vergnügens, Doktor Jones.« Sie verbeugten sich voreinander, einer knapper als der andere. Über kunstvoll angelegten Gärten erhob sich eine ungewöhnliche goldene Kuppel. Die Nachtluft duftete nach Jasmin, Hyazinthen, Koriander und Rosen. Die Brise, in der die Fackelflammen tanzten, verwehten Klänge von Sitara, Trommel und Flöte. Der Pavillon des Vergnügens leuchtete. Reiche Hofminister und indische Kaufleute in ihren Radschput-Festgewändern spazierten auf den Wegen, tauschten Neuigkeiten aller Art aus und versprachen einander Belohnungen für Gunst bei Hofe und eingebildete Vorrechte. In dieses Netz von Palastintrigen schritt Indiana Jones mit seinem Leibwächter Short Round. Indy trug die gewohnte Berufskleidung: Tweedjacke, Fliege. runde Brille. Hose und Hemd waren von der Dienerschaft im Palast gereinigt worden. Er hatte beschlossen, seinen drei Tage alten Bart stehen zu lassen. Er wollte vor diesem seltsamen Premierminister hart und urwüchsig erscheinen. Außerdem sollte Willie nicht glauben, er wolle sie beeindrucken. Short Round war ebenfalls sauber, hatte sich allerdings geweigert, die Kleidung zu wechseln oder seine Mütze abzulegen. »Schau dich um, Shorty«, begann Indiana. »Möchtest du ein Tages so einen Besitz haben?« »Sicher«, sagte Short Round. »Falsch«, erwiderte Indy. »Gewiß, er ist schön, aber er stinkt nach Korruption. Riechst du es?« Short Round schnupperte. »Ich... glauben.« Die Luft hatte wirklich einen eigenartigen Duft wie von zu süßem Weihrauch. »Kluges Kind«, lobte Indy und nickte. Der Junge war schon benachteiligt genug, als daß man ihn auf diese Art von Reichtum begierig machen durfte. »Es sieht gut aus, das gebe ich zu, und -87-
ein Besuch hier kann sehr nett sein, aber hier leben möchtest du bestimmt nicht.« »Ich leben in Amerika«, bestätigte Short Round. »Nimm etwa die geschnitzte Sonnenuhr aus Elfenbein dort.« Er hätte sie am liebsten mitgenommen zur Universität - es war ein Paradebeispiel der Tamilen-Handwerkskunst -, aber darum ging es ihm hier nicht. »Sie ist ganz eindeutig aus einem anderen Reich gestohlen worden, damit man hier protzen kann.« Short Round nickte. »So wie bei uns. Finden neue Heim für Sachen.« Indy räusperte sich. »Ganz so habe ich es nicht gemeint, Shorty.« Short Round war vorübergehend verwirrt, glaubte darin aber zu erkennen, worauf Indy hinauswollte. »Ah, diese Mann nicht können lesen!« »Richtig«, sagte Indy. Er beschloß, es vorerst dabei zu belassen. »Sie können nicht lesen.« »Aber ich glauben, sie verstehen gut Zahlen«, erklärte Short Round. Wer so reich war, mußte immerhin Geld zählen können. Indy lächelte seinen Freund an. »Du hast gute Augen, Kleiner.« Sie ließen ihre guten Augen über die Porzellanfliesen wandern, die Jadefassaden, die geriffelten Säulen. Als die Schmarotzer und Schranzen hintereinander eintraten, erschien Chatter Lal. Bei sich hatte er einen britischen Kavalleriehauptmann in Ausgehuniform. Chattar Lal übernahm die Vorstellung. »Wir dürfen uns heute abend glücklich schätzen, so vie l, unerwartete Gäste zu haben. Das ist Captain Phillip Blumburtt.« Blumburtt verbeugte sich vor Shorty und Indiana. Er war das Inbild eines Gentleman, um die Sechzig, schnurrbärtig, beginnende Glatze, vier Orden an der Brust des Uniformrocks. -88-
Indy schüttelte den Kopf. »Hallo! Ich habe bei Sonnenuntergang Ihre Truppe einrücken sehen.« »Eine reine Routineinspektion«, versicherte der Captain allen Anwesenden. »Die Briten machen sich solche Gedanken um ihr Empire.« Chattar Lal versuchte herzlich zu wirken. »Sieht so aus, als hätten Sie hier selbst ein recht hübsches kleines Reich, um das Sie sich Gedanken machen müssen«, sagte Indy lächelnd. Während die vier Männer beieinanderstanden und den Baustil bewunderten, betrat Willie die Gärten auf einem anderen Weg. Indiana bewunderte auch ihren Bau. Sie sah hinreißend aus. Sie war gebadet und geschminkt, und man hatte ihr einen elfenbeinfarbenen Seidensari zur Verfügung gestellt, mit etwas europäisch geprägtem, tiefem V-Ausschnitt und Brokateinsäumung. Ihr Haar schmückte eine Tiara aus Brillanten und Perlen. Dazu trug sie goldene Reifen an den Ohren, eine mit Juwelen besetzte Halskette und auf dem Kopf einen hauchdünnen Seidenschleier. Die Verwandlung war vollständig. »Sie sehen aus wie eine Prinzessin«, sagte Indy. So weit sie sich zurückerinnern konnte, war dies die erste nette Bemerkung, die er zu ihr gemacht hatte. Sie wurde beinahe rot. Blumburtt und Lal machten ihr ähnliche Komplimente. Der Premierminister teilte mit, daß das Dinner bald beginnen werde, und ging vo raus zum Speisesaal. Willie wollte ihn begleiten, aber Indy hielt sie kurz zurück. »Lassen Sie sich die Gier nicht so anmerken«, riet er. »Man sieht, daß Ihnen das Wasser im Mund zusammenläuft.« »Ich komme mir wirklich vor wie im Himmel«, gestand sie »Ein echter Prinz, stellen Sie sich das vor. Das Höchste bisher war ein Herzog.« -89-
Sie gingen durch die Innengärten und betraten den Pavillon, Willie an Indys Arm. Ihre Augen leuchteten wie die eines Kindes bei der Weihnachtsbescherung. Short Round hielt sich einige Schritte zurück, nur um sie bewundern zu können. Wunderschön, vornehm, charmant, das ideale Paar. In diesem Augenblick waren sie seine Idealeltern und er ihr liebevoller Sohn. Er blieb stehen und sandte ein kurzes Gebet an seine liebsten Sterngottheiten - den Stern des Glücks, den Stern der Würden, den Stern der Langlebigkeit -und bat darum, diesen Augenblick in den Himmelsarchiven vermerken zu lassen, damit er später auf Wunsch wiederholt werden konnte. Nach dem Gebet holte er sie im Trab ein und ging im Gleichschritt. Sie betraten den Speisesaal. Mächtige Marmorsäulen trugen die Rokokodecke. An den Wänden tanzten Alabasterpferde im Halbrelief. Der Boden war aus Marmor und Ebenholz. Kristallüster erleuchteten mit Kerzenschein jeden Winkel. In der Mitte des Raums war ein langer, niedriger Tisch für zwanzig Personen mit massiv- goldenen Tellern und Bechern gedeckt. An der Tür standen regungslos Wachen, an denen Edelsteine glitzerten. Indy und sein Anhang traten ein. Abseits ließen Trommeln und Streichinstrumente eine exotische Melodie entstehen, zu der ein spärlich bekleidetes Mädchen sich ekstatisch im Kreis drehte. Indiana betrachtete sie von Kopf bis Fuß und lächelte anerkennend. »Ich hatte immer schon eine Schwäche für Volkstanz.« Willie nickte der Tänze rin halb verächtlich, halb aufmunternd zu. »Tanz nur weiter, Kleine. Sieh dir an, was mir das eingebracht hat.« Sie warf einen geringschätzigen Blick auf Jones und beschleunigte ihre Schritte, um den Premierminister einzuholen. »Ach, Mr. Lal«, sagte sie beiläufig, »wie spricht man eigentlich die Frau des Maharadschas an?« -90-
»Seine Hoheit hat sich noch keine Frau genommen«, erwiderte Chattar Lal. Willie strahlte. »Nein? Na, dann ist ihm die Richtige wohl noch nicht begegnet.« Während Willie die komplizierteren Stufen der Plauderei mit dem Premierminister bewältigte, schlenderte Indiana zu einer Wand, wo zahlreiche Bronzestatuen und außergewöhnliche religiöse Gegenstände zu sehen waren. Eine eigenartige Tonfigur erregte auf der Stelle seine Aufmerksamkeit. Er nahm sie hervor, um sie genauer zu betrachten, als Blumburtt herantrat. Der Offizier lächelte, als er die kleine, seltsame Puppe sah. »Reizend. Was ist das?« »Man nennt das eine Kyrta«, erklärte Indy. »Wie die Vodoopuppen in Westafrika. Die Kyrta stellt Ihren Feind dar und sie verleiht Ihnen absolute Macht über ihn.« »Das ist doch alles Gefasel«, knurrte Blumburtt. »Ihr Engländer glaubt, daß ihr Indien beherrscht«, sagte Indiana gleichmütig. »Das ist nicht der Fall. Die alten Götter haben immer noch die Macht.« Das hatte er gespürt, als er auf die kleine Statue am Weg zum Palast gestoßen war, und die Kyrtapuppe verstärkte den Eindruck noch. Blumburtt wirkte mürrisch. Indy stellte die Puppe zurück. Willie kam herbeigeeilt, ganz aufgeregt von ihrem Gespräch mit dem Premierminister. »Stellen Sie sich vor, der Maharadscha schwimmt geradezu in Geld!« Ihr Gesicht war gerötet. »Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, hierherzukommen.« Blumburtt sah sie mit zweifelnd hochgezogenen Brauen an. Indy lächelte nur. Auf dem Podium der Musiker dröhnte sonor eine Trommel. »Ich glaube, wir werden zum Essen gerufen«, sagte Captain -91-
Blumburtt mit einiger Erleichterung. »Endlich!« entfuhr es Willie. Blumburtt hatte es plötzlich sehr eilig, Abstand zu diesen Leuten zu gewinnen. Indiana bot Willie den Arm und führte sie zu Tisch. Während die Trommel weiter geschlagen wurde, nahmen die versammelten Gäste ihre Plätze auf Sitzkissen ein, die um den niedrigen Bankettisch verteilt waren. Nur die Kopfseite des Tisches blieb leer. Indiana wurde rechts davon placiert, neben Captain Blumburtt; Willie und Shorty standen ihnen gegenüber, auf der linken Seite des Ehrenplatzes. Chattar Lal schlenderte zur Ecke in Willies Nähe, klatschte zweimal in die Hände und sagte zuerst auf Hindi, dann in englischer Sprache: »Seine Erhabenste Hoheit, Bewahrer der Radschput-Tradition, der Maharadscha von Pankot, Zalim Singh.« Alle Augen richteten sich auf zwei kunstvoll gearbeitete, geschlossene Türflügel aus massivem Silber drei bis vier Meter hinter dem Premier. Schlagartig gingen die Türen auf. Der Maharadscha Zalim Singh trat heraus. Alle Anwesenden verbeugten sich tief. Indy sah Willie aus ihrer vorgebeugten Haltung aufblicken, sah, wie buchstäblich ihr Unterkiefer herunterklappte. Er blickte von ihrem Gesicht zu dem des eintretenden Monarchen. Zalim Singh war erst dreizehn Jahre alt. »Das ist der Maharadscha?« flüsterte sie. »Dieses Kind?« Nie waren menschliche Gesichtszüge stärker von Enttäuschung gezeichnet gewesen. »Vielleicht hat er eine Vorliebe für ältere Frauen«, meinte Indy. Zalim Singh schritt zur Schmalseite des Tischs. Er trug ein langes Gewand aus Gold- und Silberbrokat, übersät mit -92-
Brillanten, Rubinen, Smaragden und Perlen. Sein Turban war in gleicher Weise mit Edelsteinen besetzt, obenauf ein Diadem in Form einer zerfallenden Wasserfontäne. Überdies war er mit Ohr-, Finger- und Zehenringen geschmückt. Sein Gesicht besaß die zarte Weichheit vor dem Einsetzen der Pubertät: keine Fältchen, keine Behaarung, durch einen Hauch von Babyspeck noch ein wenig rundlich. Eigentlich sah er sehr feminin aus. Und sehr schön. Er sah sich herrisch in der Runde um... bis sein Blick auf Short Round fiel. Shorty verbeugte sich nicht. Short Round stand da mit seiner Baseballmütze, schob den Kaugummi in die andere Backe und funkelte feindselig den Jungen an, der sich wohl für etwas Besonderes hielt. Feinde von Natur aus. Indy schickte einen vernichtenden Blick über den Tisch zu Short Round. Er vernichtete Shorty nicht gerade, veranlaßte ihn aber doch, sich zu ve rbeugen. Aber er verbeugte sich für Indy, sagte er sich, nicht für diesen angeberischen Weichling. Der Maharadscha ließ sich endlich auf seinem Seidenkissen nieder. Auf sein Nicken nahmen auch die Gäste ihre Plätze am Boden ein und lehnten sich an die Kissen. Indy lächelte mitfühlend zu Willie hinüber, deren Träume, Monarchin zu werden, sich in Rauch aufgelöst hatten. »Kopf hoch«, sagte er tröstend. »Sie haben Ihren Prinzen verloren, aber das Essen ist auf dem Weg.« Es war genau das, was sie brauchte. Ihre Niedergeschlagenheit machte dem Hungergefühl Platz. »Ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht so ausgehungert gewesen«, sagte sie. Diener erschienen mit Silberplatten voll dampfender Speisen. Willie schloß kurz die Augen und genoß die Düfte, die ihr in die Nase stiegen. Als sie sie wieder öffnete, stand der erste Gang vor ihr: ein ganzes gebratenes Wildschwein. Pfeile durchbohrten -93-
den Rücken und den aufgedunsenen Bauch. An den Schäften hingen winzige, ungeborene Frischlinge, und eine Reihe gebratener Frischlingsbabys saugten an den gekochten Zitzen ihrer Mutter. Willie schnitt fassungslos eine Grimasse. »Mein Gott, das ist irgendwie abscheulich, nicht?« Indiana furchte die Stirn. Bestenfalls erschien ihm das merkwürdig, denn Hindus aßen kein Fleisch. Er warf einen Blick auf Blumburtt, der ebenso verwundert zu sein schien. Willie starrte auf ihren Teller. Der junge Maharadscha beugte sich zu Chattar Lal hinüber und flüsterte ihm etwas zu. Der Premierminister nickte und wandte sich an die Gäste. »Seine Hoheit wünscht, daß ich Seine Besucher willkommen heiße. Vor allem den berühmten Doktor Jones aus Amerika.« Indy neigte den Kopf ein wenig in Richtung des kleinen Prinzen. »Wir betrachten es als hohe Ehre, hiersein zu dürfen.« Ein kleiner, zahmer Affe sprang auf Short Rounds Schulter, stahl eine Blume vom Teller und keckerte fröhlich. Short Round kicherte. Der Affe nahm ihm die Mütze vom Kopf, worauf er sie zurückholte. Sie drückten sich die Hände, tauschten flüsternd Geheimnisse aus, spielten mit den Blütenblättern, kurz, sie benahmen sich wie übermütige Brüder bei einer Familienfeier. Willie starrte immer noch das gebratene Wildschwein an, garniert mit seinen Kindern. Indiana unterhielt sich mit Chattar Lal. »Eine Frage, Premierminister. Ich habe mir einige Kunstgegenstände des Maharadschas angesehen -« »Eine schöne Sammlung sehr alter Stücke, finden Sie nicht?« »Ich bin nicht sicher, ob wirklich alle Stücke so alt sind. Manche sind erst vor kurzer Zeit angefertigt worden, denke ich. -94-
Sie sehen aus wie Abbildungen, wie sie die Thugs zur Anbetung der Göttin Kali verwenden.« Bei der Erwähnung des Wortes ›Thug‹ wurde es am ganzen Tisch still. Alle Inder starrten Jones an, so, als sei ein Tabu verletzt oder ein unentschuldbarer Fauxpas begangen worden. Chattar Lal unternahm den Versuch, höflich zu bleiben, wirkte aber kühl. »Das ist nicht möglich, Doktor Jones.« »Nun, ich scheine mich zu erinnern, daß die Thugs in dieser Provinz, vielleicht sogar in dieser Gegend hier, besonders aktiv gewesen sind.« Er schien einen Nerv getroffen zu haben. Der ausgelösten Reaktion entnahm er, daß das ein Thema war, dem nachzugehen sich lohnen mochte. Blumburtt beteiligte sich nun am Gespräch. »Ach, die Thugs. Großartige Halunken. Erwürgten Reisende. Übrigens war das wirklich in dieser Provinz. Ein britischer Offizier machte der Sache ein Ende, ein Major -« »Sleeman«, warf Indiana ein. »Major William Sleeman.« »Ja genau, der war's«, bestätigte Blumburtt. »Er schleuste sich sogar in die Sekte ein und nahm die Anführer fest«, fuhr Indy fort. »1830, glaube ich. Mutiger Mann.« »Sie sind mit der Vergangenheit großartig vertraut«, sagte Chattar Lal mit erwachendem Interesse. »Das ist nun mal mein Beruf«, gab Indy zu verstehen. »Doktor Jones«, fuhr der Premierminister fort, »Sie wissen ganz genau, daß der Thugkult seit fast einem Jahrhundert tot ist.« Blumburtt nickte. »Aber natürlich. Die Thugs waren entartete Gestalten, die Kali mit Menschenopfern verehrten. Die britische Armee hat ihnen den Garaus gemacht.« Die Diener brachten eine zweite Platte und stellten sie auf den Tisch: dampfend heiße Boa constrictor, garniert mit gerösteten -95-
Ameisen. Einer der Diener schlitzte der riesigen Schlange den Bauch auf. Eine Masse kleiner, lebendiger Aale quoll heraus. Willie wurde bleich. Der Kaufmann neben ihr gluckste befriedigt. »Ah! Schlange Surprise!« »Wo ist die Überraschung?« Willie wirkte ernüchtert. Sie war entschieden weniger hungrig als zuvor. Indiana setzte sein Gespräch mit Chattar Lal fort. »Geschichten über die Thugs sterben wohl nur langsam aus. Vor allem dann, wenn es Anlässe für ihr Fortbestehen gab.« »Es gibt keine Geschichten mehr«, widersprach der Premier. »Na, ich weiß nicht.« Indy schüttelte freundlich den Kopf. »Wir kommen aus einem kleinen Dorf, und die Bewohner dort haben uns erzählt, daß der Pankot-Palast durch das Böse vergangener Zeiten wieder mächtig zu werden beginne.« »Das sind doch nur Schauermärchen«, erwiderte Lal verächtlich. »Als ich dann zum Palast kam«, fuhr Indy unbeirrt fort, »stieß ich auf einen kleinen Schrein. Er enthielt eine Statue der Göttin Kali, der Göttin von Tod, Zerstörung und Chaos.« Zalim Singh und sein erster Minister tauschten einen Blick aus, was Indiana nicht unbemerkt blieb. Chattar Lal faßte sich, bevor er antwortete. »Ah, ja. Wir haben dort als Kinder gespielt. Mein Vater warnte mich immer wieder, mir von Kali nicht mein Atman, oder wie Sie sagen, meine Seele nehmen zu lassen. Aber ich erinnere mich an nichts Böses. Ich entsinne mich nur an den Zauber der Kindheit. Und an die Liebe meiner Familie und der zahmen Tiere. Dorfgeschwätz, Doktor Jones. Alles nur Geschichten, um die Kinder zu erschrecken, Märchen. Sie fangen an, Captain Blumburtt Sorgen zu bereiten, fürchte ich.« Sein Gesicht war zur Maske erstarrt. »Keine Sorgen, Premierminister«, widersprach Blumb urtt -96-
jovial. »Er weckt nur mein Interesse.« Short Round spielte wieder mit seinem kleinen Affenfreund. Dieses unheimliche Gespräch gefiel ihm nicht. Er hoffte, daß Huan-t'ien, Höchster Herr des Dunklen Himmels, ein Auge auf das hatte, was hier unten gescha h. Aber so, als sei das Gespräch für Willie noch nicht schlimm genug - Menschenopfer, auch das noch! -, übertrafen die Speisen ihre ärgsten Befürchtungen. Und gerade als sie überlegte, ob sie eine der Blüten essen sollte, beugte sich ein Diener über ihre Schulter und legte einen fünfzehn Zentimeter langen, gerösteten schwarzen Käfer auf ihren Teller. Sie wimmerte leise, als sie sah, wie der fette Kaufmann neben ihr ein ähnlich glänzendes, groteskes Rieseninsekt auf seinem Teller ergriff, es in der Mitte aufknackte und den gallertartigen Inhalt auszusaugen begann. Willie wurde noch bleicher. Vor ihren Augen tanzten glitzernde Punkte. Der Kaufmann sah sie zweifelnd an. »Aber Sie essen ja nicht!« Sie lächelte schwach. »Ich hatte, äh, schon zum Mittagessen einen Käfergang.« Stets höflich bleiben, wenn man bei einem Maharadscha speist. Inzwischen ging das Gespräch oben am Tisch weiter. »Wissen Sie«, sagte Indiana, »die Dorfbewohner behaupteten außerdem, der Pankot-Palast hätte ihnen etwas weggenommen.« »Doktor Jones.« Chattar Lals Stimme war heiser geworden. »In unserem Land pflegt ein Gast seinen Gastgeber nicht zu beleidigen.« »Tut mir leid«, gab Jones zurück. »Ich dachte, wir unterhalten uns nur über Volksmärchen.« Er behielt einen unschuldigen Gesprächston bei, aber seine Unterstellungen waren für jene deutlich, die sie fürchteten. -97-
»Was soll denn gestohlen worden sein?« fragte Blumburtt im Amtston. Diebstahl - das war eine ganz andere Sache. Dergleichen fiel in seinen Zuständigkeitsbereich. »Ein heiliger Stein«, sagte Indiana. »Ha!« stieß der Premierminister hervor. »Da sehen Sie's, Captain - ein Stück Gestein!« Alle lachten unbehaglich. Willie hörte und sah nur, wie ein Dutzend Gäste diese grauenhaften Mammutkäfer aufknackten und das Innere schlürften. Sie beugte sich zu Short Round hinüber, der dem Affen Baseballsignale beibrachte. »Gib mir deine Mütze«, keuchte sie. »Wozu?« fragte er argwöhnisch. »Ich muß mich übergeben.« Ein Diener trat vor, um ihr Hilfe anzubieten. Willie lächelte ihn an, so gut es ging. Sie wollte sich nicht gehenlassen. »Hören Sie, haben Sie irgend etwas, Sie wissen schon, etwas Einfaches - vielleicht Suppe oder dergleichen?« Der Diener verbeugte sich, ging und kehrte im nächsten Augenblick mit einer zugedeckten Schüssel zurück. Er stellte sie vor ihr auf den Tisch und nahm den Deckel ab. Es war Suppe. Dem Geruch nach mit Huhn. Ein Dutzend Augäpfel schwammen darin. Der Kaufmann nickte anerkennend zu Willies Wahl. »Sieht köstlich aus!« rief er. An Willies Wangen liefen Tränen herab. Indiana setzte Chattar Lal noch immer unter Druck. »Ich hatte anfangs auch Zweifel. Dann ließ sich ein Zusammenhang herstellen zwischen dem heiligen Stein des Dorfes und der alten Legende von Sankaras Stein.« Chattar Lal fiel es offenbar schwer, seine Wut noch weiter zu -98-
bezähmen. »Doktor Jones, wir alle sind bösartigen Gerüchten hilflos ausgesetzt. Ich scheine mich zu entsinnen, daß man Sie in Honduras beschuldigt hat, Sie wären kein Archäologe, sondern ein Grabräuber.« »Die Zeitungen haben den Vorfall übertrieben«, sagte er achselzuckend. »Und hat nicht der Sultan von Madagaskar gedroht, Ihnen den Kopf abzuschneiden, wenn Sie sein Land noch einmal betreten?« fuhr Lal fort. Indy erinnerte sich an den Sultan sehr gut. »Es war nicht mein Kopf«, murmelte er. »Dann vielleicht Ihre Hände.« Am Funkeln in seinen Augen war erkennbar, daß der Premierminister genau wußte, welche Körperteile mit Abtrennung bedroht worden waren. »Nein, nicht meine Hände.« Indy war ein wenig verlegen geworden. »Es war mein... es war ein Mißverständ nis.« »Genau das, womit wir es hier zu tun haben, Doktor Jones.« Lal lehnte sich lächelnd zurück. »Ein Mißverständnis.« Der Maharadscha hustete plötzlich und ergriff zum ersten Mal das Wort. »Ich habe die schrecklichen Geschichten über den bösen Thugkult gehört.« Seine Worte brachten den ganzen Tisch zum Schweigen, als sei es eine große Überraschung, ihn zu irgendeinem Thema eine Meinung vertreten zu hören. »Ich dachte, die Geschichten sollten dazu dienen, Kinder zu erschrecken«, fuhr er fort. »Später erfuhr ich, daß es die Thugs früher wirklich gegeben hat und daß sie unbeschreibliche Dinge getan haben.« Er starrte Indiana an. »Ich schäme mich dessen, was hier vor so vielen Jahren geschehen ist. Wir bewahren diese Gegenstände - diese Puppen und Idole - auf als Mahnung, daß so etwas in meinem Reich nie wieder vorkommen wird.« Seine Stimme war am Ende lauter geworden; an seiner Oberlippe hatte -99-
sich Schweiß gebildet. Im Saal herrschte absolute Stille. »Sollte ich einen Verstoß begangen haben, so bitte ich um Entschuldigung«, sagte Indiana schließlich leise. Man atmete wieder. Diener entfernten die alten Platten und brachten neue. Die Unterhaltung ging weiter. Indy fühlte sich besser informiert und zugleich ahnungsloser, was die Vorgänge hier betraf. »Ah«, freute sich der Kaufmann neben Willie. »Die Nachspeise!« Short Rounds Affe kreischte plötzlich und hetzte durch ein offenes Fenster hinaus. Willie schloß die Augen. Sie wollte nicht hinsehen. Es würde zu arg sein. Sie hatte das nicht nötig. Sie hörte Bestecke klappern und die Gäste zugreifen. Schließlich siegte die Neugier im Verein mit dem Schwindelgefühl, das sie überfallen hatte. Sie öffnete die Augen. Doch schon war es zu spät. Es war unmöglich nicht zu sehen, was sie sah, und es war schlimmer als jede Vorstellung. Platten voll toter Affenschädel. Die Schädeldecken waren abgesägt worden und lagen wie kleine Deckel auf den finster blickenden Köpfen. Jede Platte lag auf einem kleinen Serviersockel, und die langen, weißen Affenhaare hingen von den kleinen Skalps herab. Short Round schaute sich entsetzt um. Sogar Indy und Captain Blumburtt wirkten ein wenig fassungslos. Willie sah in tiefer Bedrückung zu, als der Maharadscha und seine Gäste die Schädeldecken entfernten und goldene Löffel in das Innere tauchten. »Eisgekühltes Affenhirn!« Der Kaufmann neben ihr konnte sich in seinem Entzücken kaum zurückhalten. Willie vermochte kaum alles andere zurückzuhalten. Sie -100-
versuchte mit der Situation deshalb so ehrenhaft wie möglich fertigzuwerden und kippte ohnmächtig um. »Eine reichlich bizarre Speisenfolge, finden Sie nicht?« sagte Blumburtt zu Indiana, als sie den Pavillon verließen und durch die Gärten schlenderten. Short Round ging nebenher. Hunderte von Lampions beleuchteten die Umgebung. Der Geruch der Wasserpfeife vermischte sich mit den natürlichen Düften des Gartens. »Auch wenn sie uns vergraulen wollten - ein gläubiger Hindu rührt niemals Fleisch an.« Indiana nickte. »Man fragt sich, was das für Menschen sind.« »Hm. Ich glaube kaum, daß sie uns erschrecken wollten«, brummte Blumburtt. »Mag sein«, erwiderte Indy ausdruckslos. »Tja, ich muß gehen. Die Truppe für die Nacht verabschieden und so weiter. War schrecklich nett, Sie kennengelernt zu haben, Doktor.« »Ganz meinerseits, Captain.« Sie gaben sich noch einmal die Hände, ehe Blumburtt sich zurückzog. Indy blickte auf Shorty hinunter. »Na komm«, sagte er. »Wollen mal sehen, was wir herausfinden können.« Sie gingen zu den Küchenräumen. Indy glaubte fest daran, daß man mit der Dienerschaft reden mußte, wollte man wirklich etwas über ein Haus erfahren. Ein Dutzend Personen machte dort sauber, spülte Geschirr und räumte auf. Indy sprach mit dem Mann, der Chefkoch zu sein schien, aber der andere blieb stumm. Indy versuchte es mit einem anderen Dialekt. Keine Antwort. Er sprach ein paar andere Leute an, mit demselben Erfolg. Er sah auf einer Anrichte eine Schale mit Obst stehen, griff danach und fragte, ob er sich davon nehmen könne. -101-
Niemand schien es zu bekümmern. »Siehst du, Shorty, es ist genau so, wie ich immer sage: Wenn du über einen Haushalt etwas wissen willst, erkundigst du dich beim Personal.« Short Round gähnte. Indy machte es ihm nach. Ein junges Mädchen schien Indy zuzuzwinkern - jedenfalls kam es ihm so vor -, aber ein älterer Mann scheuchte sie sofort hinaus. Sie ging mit einer Bewegung, die Indy besonders gefiel, nämlich mit einem leichten Hüftschwenken, das ihn an eine gewisse Dame erinnerte, die in der letzten Zeit seine Gedanken nicht unerheblich beschäftigte. Er betrachtete die mürrische Dienerschaft bei ihrer Arbeit, warf einen Blick auf die Obstschale, sah Shorty an, der im Stehen einschlief. Er kam zu dem Schluß, daß sie alle ein bißchen Ruhe brauchten. Fünf Minuten später gingen sie durch einen Korridor voller Schatten zu ihrem Schlafzimmer. Short Round trug eine zugedeckte Platte und gähnte alle zehn Sekunden. Indy tätschelte seinen Kopf, nahm ihm die Platte ab und blieb an der Tür stehen. »Hm, ich glaube, ich sehe besser mal nach Willie«, sagte er zu dem Jungen. »Das du besser tun«, erwiderte Shorty. Er trat rückwärts in das Zimmer, während Indy weiterging, dann flüsterte er vernehmlich: »Du mir später erzählen, was gewesen.« Indy blieb stehen. »Hau ab«, befahl er. Shorty schloß die Tür. Aber er öffnete sie gleich darauf einen Spalt, nur um kurz zuzusehen. Das war immerhin der Beginn der großen Liebesszene, eines Zusammentreffens, das für Short Round von entscheidender Bedeutung werden konnte. Wie der große -102-
Baseballspieler Babe Ruth stand Indy im Begriff, einen Sieg zu erzielen - falls man ihm nicht ein Be in stellte. Aber eigentlich konnte nichts schiefgehen. Für Shorty stand immer deutlicher fest, daß Indy und Willie in Wahrheit das legendäre Liebespaar Hsienpo und Jing-t'ai waren, herabgestiegen vom Himmel. Ursprünglich waren sie in einer Umarmung gestorben und vom Jade-Kaiser in die Regenbogen geschickt worden. Hsienpo war das Rot, Jing-t'ai das Blau. Hatten Willies Augen nicht genau diese Blautönung? Gab es bei Indy nicht eben diese rötliche Färbung? Waren sie dann nicht ganz offenkundig zurückgekehrt, um sich auf der Erde erneut zu vereinen und Short Round als das violette Produkt ihres Zusammenseins zu sich zu nehmen? Short Round war überzeugt davon. Gab es in seinen braunen Augen nicht violette Pünktchen? Er konnte seine violett gefleckten Augen kaum noch offenhalten, so schläfrig war er. Das brachte ihn auf die Frage, ob Willie nicht wie der ›Schatten‹ die Macht besaß, die Gehirne der Menschen zu verwirren. Aber noch wollte Shorty nicht schlafen; wenigstens die erste scheue Begegnung dieses Märchenpaars wollte er miterleben. Indy legte die letzten Meter zu Willies Zimmerflucht zurück. Die Tür war geschlossen. Er wollte eben klopfen, als sie aufging. Willie stand vor ihm, noch im Prinzessinnengewand. Sie wirkte ein wenig erstaunt. »Ach, was für eine Überraschung!« sagte sie. »Ich habe etwas für Sie.« Indys Stimme klang ein wenig unterdrückt. Er versuchte sich weltmännisch zu geben, hatte sein Gesicht aber nicht ganz unter Kontrolle. »Sie haben nichts, was ich wollen könnte.« Sie sagte es, um ihn zu necken, wußte aber schon, während sie es aussprach, daß sie es nicht ernst meinte. »Gut«, sagte Indy und nickte. Sinnlos, dort zu bleiben, wo man nicht erwünscht war. Er drehte sich um und zog dabei unter dem -103-
Deckel der Platte einen Apfel heraus. Er biß hinein. Willie hörte das Knirschen. Sie riß ihm den Apfel aus der Hand und biß hinein. Noch nie hatte ein Apfel so gut geschmeckt. Sie schloß die Augen, genoß den süß-säuerlichen Geschmack, das feste Fruchtfleisch. Der siebte Himmel. Als sie die Augen öffnete, hatte er den Deckel abgenommen und hielt ihr die Platte an: Bananen, Apfelsinen, Granatäpfel, Feigen, Weintrauben. Willies Atem stockte. Sie trug das Tablett in ihr Zimmer, wohin er ihr folgte. Short Round lächelte weise und ging zu Bett. Jones war eigentlich doch nicht so übel, dachte Willie, wenn er nicht gar so eingebildet gewesen wäre. Er hatte ihr aber wirklich geholfen, und die Menschen schienen tatsächlich von ihm gehört zu haben, also war er vielleicht doch gewissermaßen berühmt; und nun dieses himmlische Essen, ja, im Grunde war er sogar reizend, und hier saßen sie, Tausende Meilen von einem Radio oder einem Auto entfernt... Sie stopfte Weintrauben in den Mund und lächelte ihn an. Er stand wie ein Zimmerkellner an der Tür. ›If driving fast cars you like, If low bars you like, If old hymns you like, If bare limbs you like...‹ Sie rollte ihre Ärmel hoch und schälte eine Banane. ›If Mae West you like, Or me undressed you like, Why, nobody will oppose...‹ Er erwiderte ihr Lächeln. Das arme, verzweifelte Ding. Offensichtlich war sie ganz wild auf ihn. Nun ja, ihm machte das nichts aus. Sie hatte alles, was eine Frau brauchte, und er für seinen Teil wollte kein Stockfisch sein. Er schob sich näher. »Sie sind ein netter Mann«, säuselte sie. »Sie könnten mein Palastsklave werden.« Mit jedem Tag sah sie besser aus. Wenn er sie so ansah, spürte er dieses seltsame, altbekannte Flattern. »Tragen Sie Ihren Schmuck auch im Bett, Prinzessin?« -104-
»Ja, und sonst nichts«, gab sie zurück. »Schockiert Sie das?« Anything goes. »Nein.« Er trat vor sie hin. »Mich schockiert nichts. Ich bin Wissenschaftler.« Er griff nach einem Apfel und biß hinein. »Und als Wissenschaftler betreiben Sie viel Forschung?« fragte sie. »Immer«, erwiderte er. »Ach, Sie meinen, was für Nachtcreme ich auflege, in welcher Lage ich am liebsten schlafe, wie ich morgens aussehe?« Das wurde ein bißchen anzüglich, dachte sie. Hoffentlich handelt er bald. Indy nickte, als könnte er Gedanken lesen. »Paarungsbräuche.« »Liebesrituale.« »Primitive Sexualsitten.« »Sie sind also Experte auf dem Gebiet«, sagte sie abschließend und löste seine Krawatte. Er sah immer besser aus. »Jahrelange praktische Erfahrung«, bestätigte er. »Liebe in den Tropen.« Sie küßten sich. Lange und zart, zunächst beherrscht, dann leidenschaftlicher. Sie holten Luft. »Ich kann es dir nicht verdenken, daß du wütend auf mich bist«, erklärte sie wie zur Entschuldigung. »Ich bin schon nicht ganz leicht.« »Ich habe Schlimmeres erlebt«, erwiderte er galant. »Du wirst nie etwas Besseres erlebt haben«, versprach sie. »Ich weiß nicht«, meinte er mit schiefem Lächeln, während er die Tür hinter sich schloß. »Als Wissenschaftler will ich die Versuchsergebnisse nicht vorwegnehmen. Ich sage dir morgen früh Bescheid.« -105-
Versuch! dachte sie empört. So, als wäre ich seine Laborratte oder sonst etwas! »Was!« zischte sie. Eine Geliebte wollte sie mit Vergnügen sein, aber keine Trophäe. Sie öffnete die Tür, die er eben geschlossen hatte. »Na, Sie eingebildeter Affe! So leicht bin ich nun auch nicht zu haben!« »Ich auch nicht«, sagte er, zunächst verblüfft, dann verärgert. »Das Problem bei Ihnen ist, daß Sie glauben, alles müßte immer nach Ihrem Kopf gehen, Willie.« Er stolzierte hinaus und ging zu seinem Zimmer gegenüber. »Sie sind einfach zu stolz, um zuzugeben, daß Sie wild auf mich sind, Doktor Jones.« Das war in Wahrheit sein Problem! Er mußte stets die Zügel in der Hand haben, und weil er leidenschaftlich in sie verliebt war, kam er sich verwundbar vor, als sei er ihrer Gnade ausgeliefert. Die wollte sie auch zeigen wenn er sich endlich wie ein Gentleman benahm. »Willie, wenn Sie mich brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden können.« Er stand unter der Tür seines Zimmers und bemühte sich, kühl zu erscheinen. Sie würde bald kommen. »Fünf Minuten«, prophezeite sie. »In fünf Minuten sind Sie wieder hier.« Er begehrte sie heftiger, als er zugeben wollte soviel stand fest. In dieser Verfassung würde er nicht lange durchhalten, der Arme. Indy gähnte bewußt auffällig: »Schätzchen, in fünf Minuten schlafe ich schon«, und schloß die Tür. »Fünf Minuten«, wiederholte sie. »Sie wissen es, und ich weiß es.« Indy öffnete seine Tür einen Spalt und spähte hinaus, klappte sie wieder zu. Willie warf ihre Tür knallend zu, das letzte Wort für sich behaltend. Indy stand in seinem Zimmer an die Tür gelehnt. Keine -106-
Schritte draußen, keine Bitten um Verzeihung. Ach, zum Teufel damit. Er ging zu seinem Bett und setzte sich. Er war wütend, und das aus gutem Grund. Willie marschierte weg von der Tür und setzte sich auf das Bett. Sie versank in der Daunenmatratze und murmelte Grimmiges vor sich hin. Er würde wiederkommen. So klug war er ja nun auch nicht, aber immerhin ein Mann - und sie war eine richtige Frau. Sie griff nach der Uhr am Bett und beschwor sie wütend. »Fünf Minuten.« Sie zog ihr Kleid aus. Indy zog die Jacke aus. Er funkelte böse die Uhr am Bett an. »Viereinhalb Minuten«, knurrte er. Einfach lächerlich. Sie war eine alberne Frau, das war ein alberner Palast, sie befanden sich in einer albernen Lage, und er fühlte sich einfach... bedrängt. Willie lief in ihrem üppig eingerichteten Zimmer herum. Sie blies Kerzen aus, drehte Lampen dunkler, blieb vor dem bodenlangen Spiegel stehen und begann sich herzurichten. Ihr Haar vertrug diese Feuchtigkeit einfach nicht. Konnte es daran gelegen haben? Wenn er nur nicht gar so abrupt hinausgestürmt wäre. Aber er würde wiederkommen. Indy blickte in seinen Kommodenspiegel. Was war an seine Äußeren auszusetzen? Doch wohl gar nichts. Freilich war sie eine schöne Frau, das ließ sich nicht bestreiten - aber das konnte doch kein Grund sein, von ihm zu erwarten, daß er angekrochen kam. Er ging zum Sofa und deckte Shorty richtig zu. Ach, noch einmal zwölf Jahre alt zu sein. An der Wand hingen Gemälde. Sie zeigten Radschput-Prinzen auf tänzelnden Pferden, Landschaften, Tänzerinnen. Tänzerinnen. Tänzerinnen. Willie lag auf ihrem Himmelbett und übte diverse -107-
verführerische Posen. In Abständen sah sie auf und blickte in süßer Überraschung auf den in ihrer Vorstellung bußfertigen Besucher. »Aber, Doktor Jones...« Oder: »Oh, Indiana...« Auf ihrer Uhr am Bett war es 22.18 Uhr. Indy lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Wie sollte er jetzt einschlafen können? Hielt sie ihn für einen Mann aus Stahl? Konnte irgendein Mann solche Qualen aushaken? Auf seiner Uhr am Be tt war es 22.21 Uhr. Willie griff nach ihrer Uhr, hielt sie ans Ohr, schüttelte sie. Tick, tock, tick. Sie trommelte mit den Fingern gereizt auf dem Bettpfosten. Konnten ihre Reize versagt haben? Verstand sie es nicht mehr, Männer zu fesseln? Wie konnte es sein, daß er jetzt nicht an ihrer Tür scharrte? Wie nur? Indy wäre gern aufgestanden, weigerte sich aber, es zu tun. Die Uhr neben ihm tickte. Er konnte länger warten als sie. Die Archäologie hatte ihm das Wartenkönnen beigebracht. Früher oder später würde sie es nicht mehr aushalten, würde nachgeben, sich erweichen lassen, zu ihm eilen. Er hoffte nur, es würde früher sein. Er blickte zur Tür. »Willie!« Er lächelte. Die Tür blieb zu. Er versuchte es mit anderen Tonfall. »Willie?« Nein. Er probierte es mit Lässigkeit. »Willie. Ach, hallo?« Die Tür blieb geschlossen. Short Round schlief weiter. In ihrem Zimmer probierte Willie neue Posen, neue Begrüßungen aus. »Jones. Doktor Jones. Ach, Indiana, hallo.« Indys Uhr zeigte 22.35 Uhr an. Er schleuderte sie auf den Boden und begann hin und her zu gehen. Willie rutschte zum Ende ihres Betts, streckte sich auf der Satindecke aus, die Arme an die Hüfte gestemmt. Sie glitt vom Bettende auf den Boden. -108-
Indy ging vor den Gemälden an der Wand auf und ab, die Prinzen zeigten, tänzelnde Pferde und Tänzerinnen, Tänzerinnen. Willie ging vor ihrer Gemäldereihe an der Wand hin und her und murmelte: »Nächtliche Betätigungen, Quatsch! Primitive Sexualsitten! ›Ich sage dir morgen früh Bescheid!‹« Auch Indy begann zu murmeln, während er hin und her lief. »Palastsklave. Ich soll ein eingebildeter Affe sein. Fünf Minuten.« Willie blieb stehen. Sie starrte sich im Spiegel an, fassungslos, enttäuscht, betroffen. »Ich kann es nicht glauben. Er kommt nicht.« Indy blieb stehen und starrte ins Leere. »Ich kann es nicht glauben. Sie kommt nicht. Ich kann es nicht glauben. Ich gehe nicht.« Hinter dem letzten Wandgemälde in der Reihe trat plötzlich ein schwarzgekleideter Mann hervor und legte eine Würgeschnur um Indianas Hals. Jones gelang es, die Garrotte mit einigen Fingern zu packen, aber trotzdem wurde ihm binnen Sekunden beinahe der Kehlkopf zerquetscht. Er rang erfolglos nach Luft und sank langsam auf die Knie. Seine Augen traten aus den Höhlen, als er auf die winzigen, grinsenden Totenschädel an den Enden der Todesschnur in den Fäusten des Mörders starrte. Mit einer letzten Gewaltanstrengung kippte Indiana nach vorn. Der Gegner flog über seinen Rücken auf den Boden. Der Mann riß ein Messer heraus, aber Indiana hieb ihm einen Blumentopf auf den Schädel. Der Dolch fiel klappernd auf den Boden. Short Round begann sich zu regen. Indy hörte ein Geräusch im Korridor und blickte zur Tür. Der Mann sprang ihn erneut an. Im Korridor stand Willie vor Indianas geschlossener Tür und rief: »Diese Nacht werden Sie nie vergessen! Es ist die Nacht, in der Sie mich verloren haben! Schlafen Sie gut, Doktor Jones! Angenehme Träume! Ich hätte Ihr größtes Abenteuer sein -109-
können!« Indy überschlug sich gemeinsam mit dem Angreifer. Sie rollten über die Fliesen. Short Round fuhr aus dem Schlaf empor. Als Indy schwankend aufstand, packte Shorty die Peitsche und warf sie ihm zu. Indy fing sie auf. Die Peitschenschnur wickelte sich um den Arm des Mörders, aber der Mann riß sich los und stürzte zur Tür. Indy ließ die Peitschenschnur ein zweites Mal sausen und erfaßte den Mann um den Hals. Der Angreifer zerrte mit einem heftigen Ruck daran, der Peitschenstiel wurde Indy aus der Hand gerissen und flog zum Deckenventilator hinauf. Die Peitsche wickelte sich um die Drehflügel wie Angelschnur um eine Rolle, so daß der Mörder wie eine dem Untergang geweihte Flunder langsam zur Decke hinaufgezogen wurde. Seine Zehen hoben sich vom Marmorboden. Er stieß einen kurzen, erstickten Schrei aus... seine Beine zuckten... und schon war er erhängt. »Shorty, stell den Ventilator ab!« rief Indy. »Ich kümmere mich um Willie.« Shorty drückte auf den Wandschalter. Der Ventilator kam zum Stillstand, als Indy hinausrannte. Er stürzte mit wild rollenden Augen in Willies Zimmer. Sie lag auf dem Bett. Ihr Herz schlug bis zum Hals. »Oh, Indy.« Er war doch gekommen. Ein Schatz. Vielleicht kam er mit der Uhr nicht so zurecht. Er hechtete auf das Bett. »Geh zärtlich mit mir um«, flüsterte sie. Er kroch weiter und starrte unter das Bett. Leer. Er stand auf begann wie ein Wilder das Zimmer zu durchsuchen. »Ich bin hier«, rief Willie. -110-
Indy suchte weiter. Willie zog die Bettvorhänge zurück. Seine Augen waren gewiß von der Liebe getrübt. Er konnte nicht klar sehen. Indy ging um das Bett herum und blieb vor der Tür stehen. »Niemand hier«, murmelte er. »Nein, ich bin hier«, flüsterte Willie und zog den letzten Vorhang zur Seite. Indy ging zum Spiegel. Willie sprang vom Bett und folgte ihm. Er spürte an der Blumenvase einen Luftzug, der von links kam. Der Mörder in seinem Zimmer war durch einen Geheimgang hereingekommen. In diesem Raum mußte es ebenfalls einen geben. Er ging zu einer der Säulen. Der Luftzug war hier stärker. Willie ging ihm nach. »Indy, du benimmst dich so merkwürdig.« Indy starrte die Säule an. Eine nackte Tänzerin war in den Stein gemeißelt. Er begann die Vorsprünge abzutasten: Schuhe, Schmuckstücke, Hüften, Busen. Willie hielt das für überaus merkwürdig. »He, hier bin ich.« Der Hebel befand sich in dem Busen. Plötzlich verschwand die ganze Säule mit einem knirschenden Quietschen in der Mauer und gab dabei den Eingang eines Tunnels frei. Indy trat hinein. Er zündete ein Streichholz an und las die Inschrift an der Wand. »›Folge den Fußstapfen Shiwas.‹« »Was heißt das?« flüsterte Willie aufgeregt. Sie war dicht hinter ihm. »›Verrate nicht...‹« Er verstummte, zog den kleinen Fetzen alten Stoffs aus der Tasche und verglich ihn mit der Wandinschrift. -111-
Shorty tauchte unter der Tür auf und eilte auf die Nische zu. Indy las die Sanskrit-Inschrift auf dem Stoff. »›Verrate nicht diese Wahrheit.‹« Er sah den Jungen an. »Shorty, hol unsere Sachen.« Während Indy in den Tunnel eindrang, stürmte Short Round zu ihrem Zimmer zurück.
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Der Tempel des Todes »Was ist da unten?« fragte Willie mit zitternder Stimme. »Das will ich eben feststellen. Sie warten hier. Wenn wir in einer Stunde nicht zurück sind, wecken Sie Captain Blumburtt und gehen uns nach.« Sie nickte. Short Round erschien mit Indys Tasche, Peitsche und Hut. Die beiden stiegen den Geheimgang hinunter. Shorty ging um die erste Biegung voran, um sicherzugehen, daß Indy nichts zustoßen konnte. Die Schatten wirkten aber sehr bedrohlich. »Doktor Jones, ich glaube, wir nicht sollten hier sein.« Indy packte ihn beim Kragen und stellte ihn hinter sich. »Bleib hinter mir, Shorty! Geh da, wo ich gehe. Und rühr nichts an!« Als Indy weiterging, bemerkte Short Round jedoch eine Seitentür, die Indy entgangen war. Short Round legte die Hand auf den Türknopf und zog fest daran. Die Tür brach entzwei und zwei Skelette stürzten auf ihn. Shorty setzte sich hart auf den Boden und schrie auf. Er hatte diese Figuren schon gesehen - in ›Die Mumie‹. Er hatte geglaubt, damals schon den Verantwortlichen klargemacht zu haben, daß er nie mit jemandem in dieser Verfassung zusammenstoßen wollte, schon gar nicht in einem dunklen Tunnel. Irgend jemand schien bemüht zu sein, ihm eine Lektion zu erteilen. Indy zog ihn hoch und schleppte ihn um die nächste Biegung. Hier kam hohltönender Wind auf und blies ihnen Hautfetzen in die Gesichter - Menschenhaut, wie es schien. Short Round zog sein Messer. »Ich gehen, wo du gehen. Ich nichts anrühren.« -113-
Mehr Hautlappen klatschten an ihre Gesichter. Shorty leierte eine Folge von chinesischen Gebeten, Flüchen und Gespensterbannsprüchen herunter. Hier ging es eher zu wie in ›Der Unsichtbare‹: zerfetzte Hüllen, die von einer leeren Wesenheit abfielen. Shorty war froh, daß er solche Geschöpfe schon früher gesehen hatte. So konnte ihm hier nichts geschehen. »Reg dich ab, Kleiner!« Indy lächelte grimmig. »Sie wollen uns nur erschrecken.« Sie gingen weiter. Der Tunnel war aus Stein - kühl, feucht, fest. Je weiter sie gingen, desto tiefer schien er in die Erde hinabzuführen und desto dunkler wurde es. Bald war es so finster, daß sie nichts mehr erkennen konnten. »Na gut, nun wird es richtig dunkel«, sagte Indy. »Bleib ganz nah bei mir.« Nach einigen Schritten nahm Shorty unter den Sohlen ein Knirschen wahr. »Ich auf etwas treten«, flüsterte er. »Ja, am Boden liegt etwas.« »Treten wie auf Glückskekse.« »Keine Glückskekse.« Ind y schüttelte den Kopf. Es bewegte sich, was es auch sein mochte. Er zündete ein Streichholz an. Sie schauten sich um. Vor ihnen befand sich eine Wand mit zwei Löchern. Aus einem der Löcher quoll klebriges Zeug nebst Millionen zuckender, krabbelnder Käfer. Der Käferschwarm ergoß sich auf den Boden und bedeckte ihn völlig. Ein lebender Teppich aus glänzenden Käfern, huschenden Schaben und wimmelnden Larven. Short Round blickte hinunter und sah einige der Insekten an seinen Beinen hochkrabbeln. »Kein Plätzchen.« Er schnitt eine Grimasse. Indy streifte die Käfer ab. Im selben Augenblick brannte das -114-
Streichholz bis zu seinen Fingern herunter und erlosch. »Au! Los!« schrie er und stieß seinen kleinen Freund vor sich her. Sie rannten, so schnell sie konnten, direkt in die nächste Kammer. Gleich hinter der Schwelle trat Shorty auf einen kleinen Knopf im Boden. Dieser löste den Mechanismus aus, der hinter ihnen eine schwere Steintür zuschlagen ließ. »Oh nein!« stieß Indy hervor. Er sprang zurück und versuchte sie aufzuhalten. Aber sie schloß sich. Als er sich umdrehte, sah er die Tür an der anderen Seite der Höhle herabgleiten. Das schwache Licht dahinter erlosch. Indy hetzte zum Portal, kam aber erneut zu spät. Er setzte sich auf den Boden, um seine Gedanken zu ordnen. »Du böse auf mich?« fragte Shorty mit schwacher Stimme in der Dunkelheit. Er kam sich vor wie ein Kleiner Donner - eines der gemeinsamen Kinder vom Herrn des Donners und der Mutter der Blitze, die durch Unerfahrenheit bei guter Absicht ständig Mißgeschicke erleben. »Indy, du böse auf mich?« »Nein«, murmelte Indiana. Leise fügte er hinzu: »Nicht direkt.« Eher böse auf sich selbst. Er hätte den Jungen nicht mit hierhernehmen dürfen. Es war zu gefährlich. »Ach, du nur wütend?« »Stimmt«, sagte Indy Und zündete ein Streichholz an. Er fand am Boden einen verölten Lappen und zündete ihn an. Menschliche Skelette lagen auf dem Boden verstreut. Shorty ging auf Indy zu. Indiana wollte aber verhindern, daß der Junge unabsichtlich noch auf einen weiteren Auslösemechanismus trat. »Bleib stehen«, sagte er warnend. »Komm, stell dich an die Wand.« Short Round gehorchte. Er preßte sich mit dem Rücken an einen Steinblock, der aus der Wand ragte. Aber der Block glitt in die Wand hinein und löste so wieder eine Vorrichtung aus. -115-
Von der Decke senkten sich spitze Dornen herab. »Auch das noch«, stöhnte Indiana. Im Licht des brennenden Lappens erschienen die Dornen wie flammende Höllenzähne. Short Round schrie Indy zornig an. »Du sagen, ich an Wand stellen, ich tun, was du sagen. Ich nicht schuld, nicht schuld!« Indy hörte aber nicht zu. Er schrie, so laut er konnte, zur Tür hinaus: »Willie, kommen Sie runter!« In ihrem Zimmer hörte Willie Indiana rufen. Sie zog ihr Kleid an und trat in den zugigen Tunnel. »Indy!« schrie sie. Keine Antwort. Sie holte eine kleine Öllampe vom Tisch und ging den Tunnel entlang. »Bestimmt werde ich wieder ganz schmutzig!« murmelte sie, als sie um die erste Biegung schritt. Die beiden Skelette zuckten ihr entgegen. »Indy!« kreischte sie. »Hier sind zwei To te!« »Hier werden gleich noch zwei Tote sein, wenn Sie sich nicht beeilen!« schrie er zurück. Sie lief vorbei an den widerlichen, klatschenden Hautfetzen, die steile Neigung hinab, in die tiefere Dunkelheit, den aufkommenden Wind. Er blies ihre Lampe aus. Dann kam der abscheuliche Gestank. »Uh, hier stinkt's!« stöhnte sie. »Willie, kommen Sie runter!« »Ich habe von euch beiden bald genug«, zischte sie. Was bildeten die sich ein! Sollte das nie ein Ende nehmen? »Willie!« Die Dornen an der Decke sanken herab, kamen immer näher. Sie sahen jetzt eher aus wie Schwertspitzen, rasiermesserscharf. »Ich komme ja schon!« rief sie. »Los, wir sind in Bedrängnis!« schrie er. Er sah Short Round -116-
an. »Gib mir dein Messer.« Er ließ sich den Dolch geben und kratzte verzweifelt in den Fugen des eingelassenen Steinblocks. »In welcher Bedrängnis?« rief sie. Nun schoben sich auch aus dem Boden spitze Dornen. »In schwerer.« »Indy?« Sie ging weiter. Der Geruch wurde übler, seine Summe lauter. »Es ist ernst«, versicherte er. »Warum die Eile?« »Das ist eine lange Geschichte. Schnell, sonst erfahren Sie sie nie.« »Mein Gott, was ist das?« Sie blieb stehen, als sie etwas unter den Sohlen spürte. »Der ganze Boden hier ist voll. Das knirscht und... dann wird es breiig. Indy, was ist das? Ich kann überhaupt nichts sehen.« - Sie zündete ein Streichholz an Überall Käfer. Krabbelnde Käfer mit schwarzen Panzern, langbeinige Gliederfüßler, aufgedunsene, durchsichtige Lebewesen, die Skorpionen glichen, Wurmartiges, das sich schlängelte, hüpfende Heuschrecken, blinde Höhlengeschöpfe... Ihr wurde so übel, daß sie noch nicht einmal schreien konnte. Sie würgte nur. »Indy, lassen Sie mich rein! Hier sind überall Käfer, Indy.« »Willie«, sagte Indy auf der anderen Seite der Steintür, die sie trennte, »hier sind keine Insekten.« »Machen Sie die Tür auf und lassen Sie mich rein«, flehte sie. »Machen Tür auf und uns rauslassen«, heulte Shorty. »Uns rauslassen, rauslassen!« »Lassen Sie mich rein, Indy, bitte«, rief sie schrill. »Gleich. Arbeite dran.« »Indy, sie sind in meinen Haaren.« Bauten sich dort Nester, bohrten sich hinein, spannen Netze, klackten mit ihren großen -117-
Scheren. »Willie, halten Sie den Mund und hören Sie zu! Es muß einen Auslösedrehhebel geben.« »Einen was?« »Einen Griff, der die Tür öffnet.« »O Gott, Indy. Sie sind in meinem Haar.« Kratzend, nagend. Die Dornenspitzen waren nun auf Kopfhöhe. »Machen Sie die Augen auf, Willie! Sehen Sie sich um! Irgendwo muß ein Hebel verborgen sein. Los, suchen Sie!« »Da sind zwei Löcher«, wimmerte sie. »Ich sehe zwei quadratische Löcher.« »Gut. Jetzt das richtige.« Sicher das Loch, aus dem der klebrige Brei und die Insekten kamen. Das Ganze war wohl ein Witz, nicht wahr? Zögernd streckte sie die Hand nach dem linken, vergleichsweise sauberen Loch aus. Freilich nicht unbedingt sauber, aber doch wenigstens nicht mit diesem widerlichen Schleim... Eine Hand griff durch das linke Loch und packte die ihre. Indys Hand. »Nein, nicht dieses Loch, das andere!« schrie er. »Das rechte Loch!« »Da drinnen wimmelt es. Ich kann nicht!« widersprach sie. »Doch, Sie können. Tasten Sie in dem Loch herum.« Los, Kleine. Ich brauche deine Hilfe. »Tun Sie's doch.« Angeber, ihr vorzuschreiben, was sie zu tun hatte. »Sie müssen es sofort tun!« brüllte er. Er war schon tief zusammengeduckt, die Dornen drückten in sein Fleisch. Willie schob die Hand in das Ekelzeug. »Mein Gott, es ist weich. Es bewegt sich. Es fühlt sich an wie -118-
eine Schüssel voll verfaulter Birnen.« »Willie, wir gehen hier zugrunde!« »Ich hab' ihn.« Sie fand einen Hebel und zerrte daran. Die Tür rollte zur Seite. Indy saß neben Shorty vor der Öffnung. Die Dornen zogen sich langsam zurück. Willie stürmte hinein und riß sich die Käfer aus den Haaren. Sie zitterte am ganzen Körper. Shorty lief zur anderen Tür, die nach oben glitt und rutschte am Boden über die Schwelle, ganz wie der berühmte Ty Cobb beim zweiten Baseball- Tor. Er wollte hinaus, bevor wieder etwas schiefgehen konnte. Willie stampfte mit den Füßen und schüttelte sich. »Schaffen Sie die weg! Sie sind überall, weg damit, ich hasse Käfer, sie sind in meinem Haar!« Als sie sich bückte, um sie auszukämmen, drückte sie wieder den Steinblock hinein, der den ganzen Ablauf nochmals auslöste. Die erste Tür begann sich zu schließen. Short Round rief hinter der zweiten Tür hervo r: »Ich nicht gewesen. Sie gewesen. Los, raus hier!« Er begann die beiden in seiner Muttersprache anzufeuern, als die andere Tür und die Dornen erneut herabsanken. Wie ein Trainer der kantonesischen Jugendliga schrie er auf Chinesisch: »Rutschen, Indy, rutschen!« Indy packte Willie. Sie rannten durch die Höhle. Er stieß sie unter der herabgleitenden Tür durch und hechtete hinaus, wobei er seinen Hut verlor. Dann griff er, bei einem Spielraum, der nur noch Zentimeter betrug, unter der absinkenden Tür durch, packte seinen Hut und riß ihn heraus, nur Sekunden, bevor die Tür auf den Boden krachte. -119-
Ohne Hut sollte man nicht auf Abenteuer gehen. Sie standen in einem großen, unheimlich beleuchteten Tunnel, durch den ein seltsamer, einzelner Windzug wehte, wie ein Trauermarsch heraufheulend aus dem innersten Erdkern. Das Licht kam von vorn, um eine Biegung des Tunnels. Rötliches Licht; dumpf, geisterhaft. Indy, Willie und Short Round gingen langsam zum Ende des Tunnels und starrten verblüfft auf den Anblick unter ihnen. Es war eine Höhle von ungeheurer Größe, jeder Quadratzentimeter darin behauen, wie aus dem Fels herausgeschlagen, mit einer kathedralenartigen Kuppeldecke, getragen von Steinsäulen in Reihen, gemeißelt zu einem gigantischen unterirdischen Tempel, einem Tempel des Todes. Steinbalkone hingen über dem Granitboden, gestützt von Säulen und Bogen, die zu dunklen Nebenkammern führten. Aus diesen Grotten strömten Hunderte von Gläubigen und betraten singend den Tempel. Sie sangen im Chor, als Antwort auf die seltsamen, einsamen Winde, die heulend aus den Tunnels in den oberen Stockwerken der Höhle drangen. Diese fremdartige Tunnelmusik erzeugte ihre eigene Harmonie, ihre eigene Dynamik, auf- und abschwellend in Tonhöhe und -stärke, aus allen mitschwingenden Höhlungen widerhallend. Und im Takt mit diesen Windstößen sangen die Gläubigen laut oder dissonant oder gedämpft oder schrill: »Gho-ram gho-ram gho-ram sundaram, gho-ram gho-ram gho-ram sundaram...« Riesenhafte Steinstatuen ragten über den Menschenmassen empor, Gestein in Gestalt von Elefanten, Löwen, Halbgöttern und Dämonen, reich verzierte Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier, manche dem schieren Wahnsinn entsprossen. Über den Balkonen loderten Fackeln und beleuchteten die Szene für die drei Zuschauer, die gebannt von ihrem winzigen Standplatz hoch über und hinter dem Schauplatz zusahen. Unter ihnen begann die geheimnisvolle Sekte sich vor einem riesigen Altar -120-
an der Rückseite des Tempels zu verbeugen. Von diesem Altar waren die Menschen durch eine Spalte im Boden getrennt. Die Spalte sah halb natürlich, halb gemeißelt und geformt aus. Aus ihr drang das matte, rote Licht, ihr entstiegen nach Schwefel stinkende Schwaden von Rauch und Dampf, bis sie von den stöhnenden, klagenden Winden durch irgendeinen anderen Tunnel hinausgeweht wurden. Der Altar selbst auf der anderen Seite der Spalte war in Rauch gehüllt, so daß man seine wahre Form nur ahnen konnte. Im Verlauf der Zeremonie traten Priester in langen Gewändern aus diesem Dunst. Sie trugen Kessel mit Weihrauch und reinigten die Luft um den Altar, als sie bis zum Rand der Spalte vortraten. Bald verflüchtigte sich der Rauch. Auf dem Altar wurde eine gigantische Steinstatue erkennbar, die halb in einer riesigen, in das Gestein gehauenen Kuppelnische stand. Es war Kali - die grauenhafte Beschützerin des Tempels, die bösartige, blutrünstige Göttin, Mittelpunkt all dieser Verehrung. Sie war mehr als sieben Meter hoch. In Stein gehauene Schlangen ringelten sich an ihren Beinen empor, um ihre Hüften hing ein Rock aus baumelnden Menschenarmen. Die Statue selbst besaß sechs Arme. Einer hielt ein Schwert, einer den abgetrennten Schädel eines geopferten Hünen an den Haaren, zwei stützten sie auf dem Altar, zwei ausgestreckte Arme ließen einen flachen Eisendrahtkorb an Ketten baumeln. Um ihre Schultern waren Halsketten aus Totenschädeln gelegt. Ihr Gesicht war grauenerregend, halb Maske, halb Totenkopf, eine abscheuliche Mißgeburt. Augen und Mund glühten im Widerschein geschmolzener Lava aus der Grube darunter, die ihre Steinkrallen schwärzte. Sie hatte keine Nase, nur ein mißgestaltetes Loch. Ihr Kopfschmuck war mit alten Zeichen übersät, die großes Unheil verkündeten. Die Priester blickten ehrfurchtsvoll zu der Gottheit hinauf. Die Gläubigen sangen lauter und leidenschaftlicher ihre -121-
Beschwörungen. Oben im Windtunnel fröstelte Willie. »Was geht hier vor?« flüsterte sie. Sie fühlte sich kalt, ausgelaugt, im Innersten aufgewühlt. »Eine Thug-Zeremonie«, sagte Indy. »Sie beten Kali an.« »Haben Sie das schon einmal gesehen?« »Seit hundert Jahren hat das niemand gesehen.« Er war aufgeregt und nervös. Was für eine unglaubliche Entdeckung! Eine ausgestorbene Religion, deren Rituale und Totems nun wieder so lebendig waren wie ehedem. Es war, als betrachte er die wiederauferstandenen Gebeine eines untergegangenen Stamms. Plötzlich hörten sie hinter dem Altar ein Heulen unmenschlich, aber nur allzu menschlich. »Baatschao; muz baatschao. Baatschao koi muzbaatschao.« »Was ist das?« murmelte Willie. »Scheint das Hauptereignis zu sein«, erwiderte Indy. »Er ruft: ›Rettet mich, bitte, rettet mich! ‹« Mit düsteren Mienen verfolgten sie das Schauspiel. Eine riesige Trommel erdröhnte dreimal. Der Gesang verstummte. Nur der Wind stöhnte unaufhörlich weiter. In seinem Widerhall trat eine neue Gestalt auf den Altar. Dies war der Hohepriester Mola Ram. Er trug ein schwarzes Gewand, seine Augen waren rot und eingesunken. Er hatte eine Halskette aus Zähnen um. Auf seinem Kopf trug er den oberen Schädelteil eines Büffels, dessen Hörner wie die des leibhaftigen Teufels hinausragten. Er trat an den Rand der Spalte vor die Menschenmenge. Auf der anderen Seite, dem Hohepriester gegenüber, sah Indy eine vertraute Gestalt sitzen. »Da«, sagte er leise zu Willie. »Unser Gastgeber, der -122-
Maharadscha.« »Wen starrt er da an?« fragte Willie. »Das scheint der Hohepriester zu sein.« Short Round kam er vor wie Frankensteins Monster. Mola Ram hob die Arme über den Kopf. Wieder erhob sich hinter dem Altar ein klagender Schrei, als dringe er aus Kalis Statue selbst. Rasch wurde der wahre Ursprung des Schreis deutlich. Priester zerrten einen sich wehrenden, zerlumpten Inder vor den Altar und fesselten ihn an den rechteckigen Eisenkorb, der knapp über dem Steinboden von Kalis Armen herabhing. Alle sahen schweigend zu. Mola Ram ging zu dem gefesselten Opfer. Der auf dem Rücken liegende Mann wand sich hilflos auf dem hängenden Gestell, Arme und Beine gespreizt. Er schrie. Mola Ram murmelte eine Beschwörungsformel. Der Mann schluchzte. Mola Ram streckte die Hand nach dem Gefesselten aus. Seine Hand durchbohrte die Brust des Opfers. Durchbohrte sie, sank in den Brustkorb... und riß das zuckende Herz des Inders heraus. Willie preßte die Hand auf den Mund. Short Round riß die Augen weit auf. »Er sein Herz herausgerissen. Er tot.« Kaiser Shao-sin hatte die Herzen von Weisen herausnehmen lassen, hieß es, um zu sehen, ob das Herz eines Weisen wirklich von sieben Löchern durchbohrt war. Das Herz dieses Mannes hatte jedoch keine Löcher, und dieser Priester war nicht Shao-sin. Short Round kam sich vo r, als wären sie in die Hölle gestürzt worden. Es gab zehn Höllen, beherrscht von den Jama-Königen. Auf verschiedenen Stufen konnte man in einem See aus Eis versenkt, an eine rotglühende Säule gebunden, in einem Teich von stinkendem Blut ertränkt, als Hungriger Dämon -123-
wiedererschaffen werden.... oh, es gab noch viele Qualen. Dies hier war gewiß die fünfte Hölle, wo man das Herz der toten Seele immer wieder herausriß. Short Round wollte hier nicht sein. Indy glaubte zwar nicht an die Hölle, aber an das, was er sah. Und was er nun sah, war unfaßbarer als jede Hölle, die er sich je hätte vorstellen können. Er starrte gebannt auf den Mann, der geopfert wurde. »Er lebt noch«, murmelte Indiana. In der Tat schrie der Mann noch immer, und sein blutiges Herz schlug gleichmäßig in Mola Rams Hand. Mola Ram hob das Herz über den Kopf. Wieder begannen die Gläubigen zu singen: »Jai ma Kali, jai ma Kali, jai ma Kali...« Das Opfer war lebendig und kreischte. Man sah keine Wunde an seiner Brust, nur eine rötliche Stelle, wo Mola Rams Hand eingedrungen war. Die Priester hängten Ketten an den Eisenrahmen und drehten ihn um, so daß der Mann mit dem Gesicht nach unten über einer schweren Steintür im Boden schwebte. Die Tür begann sich mit dumpfem Dröhnen zu öffnen. Darunter tat sich eine Grube auf wie am Boden der Spalte: brodelnde, blutrote Lava. Dann wurde der Eisenrahmen in die Grube hinabgesenkt. Das Opfer sah das Magma langsam heraufsteigen. Sein Herz schlug in Mola Rams Hand weiter. Die Menge sang monoton, der Wind heulte unablässig. Das waren die letzten Laute, die er auf dieser Welt hörte. Sein Gesicht begann zu rauchen und aufzuplatzen, als die Lava näher an seinem herabsinkenden Körper loderte. Sein Fleisch zischte, schälte sich ab, verkohlte. Er versuchte zu schreien, aber die giftigen Dämpfe erfüllten seine Lunge; die sengendheißen Gase verbrannten seine Kehle. -124-
Sein Haar ging in Flammen auf. Oben im Tunnel schloß Willie die Augen. Indy starrte voller Entsetzen hinunter. Short Round schaute, wandte sich ab, schaute wieder. Er flehte das Himmlische Ministerium für Feuer an, ihn von diesem höllischen Reich zu erlösen. Neben dem Altar hielt Mola Ram immer noch das Herz in die Höhe. Es schlug immer noch und tropfte von Blut. Es begann zu rauchen. Dann stand es plötzlich in Flammen. Und verschwand. Der eiserne Rahmen wurde aus der Tiefe von Priestern hochgezogen, die ein großes Rad neben dem Altar drehten. Das Metall glühte rot wie ein Brandstempel, aber von dem Opfer war nichts mehr zu sehen. Es war völlig in Rauch aufgegangen. Die Menge skandierte: »Jai ma Kali, jai ma Kali, gho-ram sundaram...« Der Wind tobte. Indy, Willie und Short Round starrten mit glasigen Augen auf die Szene. Mola Ram verschwand hinter dem Altar. Drei Priester traten aus den Schatten und trugen in Stoff ge wickelte Gegenstände zum Altar. Willie begann zu weinen. »Still«, flüsterte Indy, aber Short Round schien ebenfalls den Tränen nah zu sein und preßte Willie an sich. Die Priester wickelten sorgfältig drei kegelförmige Stücke von kristallinem Quarz aus und trugen sie zum Sockel der KaliStatue. Zwischen den Beinen der Statue war ein ungefähr ein Meter hoher Steinschädel angebracht, dessen Augen und Nase hohl waren. Die Priester führten die drei Kristalle vor dem Schädel zusammen. Die Kristalle begannen von innen heraus zu glühen. Die Priester führten die Steine auseinander und das Glühen hörte auf. Sie führten sie erneut zusammen und schoben sie in die drei Schädelhöhlungen, wo die Steine hell -125-
erleuchteten. Indiana sah mit wachsender Faszination zu. »Sie wußten, daß ihr Stein magisch war. Aber sie ahnten nicht, daß er zu den verschwundenen Sankara-Steinen gehörte.« »Warum leuchtet er im Dunkeln?« fragte Short Round zitternd. »Der Legende nach erglühen die Diamanten in den Steinen, wenn man diese zusammenführt.« Willie wischte sich die Augen und nahm sich zusammen. Sie lachte beinahe vor Erschöpfung und Anspannung. »Diamanten?« Ihr Interesse war erneut geweckt. Sie stieß Indy an. Die Sankara-Steine leuchteten grell und rissen alle hin, die im Netz ihrer glühenden Kraft gefangen waren. Die drei Priester verbeugten sich mehrmals vor den Kristallen und rutschten schließlich auf Knien rückwärts in die Dunkelheit hinter dem Altar. Die anderen Priester folgten ihnen. Dann zerstreute sich die ganze Menschenmenge. Innerhalb von wenigen Minuten war die Höhle wieder leer. Nur der Wind beklagte das Grauen. Indiana sah seine Freunde an. »Also gut, paßt auf. Ihr zwei wartet hier und verhaltet euch ganz still.« Short Round nickte. Er hatte es nicht eilig, näher dorthin zu kommen. Er gab Indy Peitsche und Schultertasche. Willie schien ihrer Sache nicht so sicher zu sein. »Halt, was machen Sie?« fragte sie scharf. Sie wollte nichts anderes, als von hier fortkommen. Indy blickte an der senkrechten Wand hinunter, die vom Ausgang des Windtunnels zum Steinboden tief unter ihnen steil abfiel. »Ich gehe da hinunter«, sagte er. »Da hinunter? Sind Sie verrückt geworden?« -126-
»Ich gehe nicht ohne die Steine.« Sie waren die Entdeckung des Jahrhunderts. Ihr Leuchten hatte ihn in den Bann gezogen. Er mußte sie haben. Sie war plötzlich wutentbrannt. »Sie verlieren Ihr Leben, wenn Sie hinter Ihrem verdammten Reichtum und Ruhm herjagen!« Er sah sie mit tiefer Rührung an. Es kümmerte sie zumindest, was aus ihm wurde. »Vielleicht, eines Tages«, sagte er mit einem Lächeln. »Heute noch nicht.« Heute würde er diese magischen Steine holen. Ohne ihre Antwort abzuwarten, stieg er vorsichtig aus der Tunnelmündung ab. Es gab im rauhen Gestein genug Stellen, wo Hände und Füße Halt finden konnten. Aufgrund seiner Geschicklichkeit gelang es Indy, zu einer der riesigen Stützsäulen an der Rückseite der Höhle hinüberzuklettern. Dort ließ er sich an der Säule hinunter und hielt sich an Steinkobras, herausgehauenen Löwen und Tänzerinnen fest. Nach langer Zeit gelangte er schließlich auf den Boden. Lautlos lief er durch die Höhle und blieb an der Bodenspalte stehen. Er blickte hinunter. Dort brodelte Feuer wie die flüssige Seele des Tempels. Der Rauch stieg ihm ätzend in Augen und Nase. Er mußte zurückweichen. Auf der anderen Seite stand die Statue Kalis, vor ihr befanden sich die drei Sankara-Steine. Für einen Sprung war die Entfernung zu groß. Indiana blickte nach links und rechts; auch einen Umweg gab es nicht. Dann bemerkte er auf der anderen Seite des Abgrunds zwei Säulen zu beiden Seiten des Altars, auf denen Steinelefanten standen. Indy entrollte seine Peitsche und ließ mit meisterlicher Präzision die Schnur fliegen. Die Viehpeitsche knallte. Das Ende der Schnur wickelte sich fest um den Stoßzahn des vorderen Elefanten. -127-
Indy zerrte am Peitschengriff, zog die Lederschnur straff, atmete tief ein - und rannte los. Am Rand des Abgrunds sprang er hoch. Die Peitschenschnur spannte sich, als er über der Spalte war. Er schwang hinaus und hinüber. Er landete in der Nähe der hochragenden Göttin auf den Füßen. Der Wind wehte stärker und grollte höhnend. Indy löste die Peitschenschnur vom Elefantenstoßzahn. Short Round winkte ihm vom Windtunnel hoch oben zu: Alles klar. Es war schwer, auf diese Entfernung Leibwächter zu sein, aber Shorty nahm seine Aufgabe auch hier ernst. Indy nickte und rollte die Peitsche wieder zusammen, um sie an seinem Gürtel zu verstauen. Er drehte sich nach dem Altar um, wo die drei Steine glühten. Indiana trat vorsichtig näher. Er bückte sich, um sie genaue r zu betrachten. Der mittlere Stein - der aus Mayapore gestohlen worden war - zeigte drei aufgemalte Linien. Sie schimmerten grell. Indy berührte den Stein. Er war nicht heiß. Vorsichtig hob er ihn an die Augen und blickte in das glühende Innere. Ein magischer Diamant funkelte im Inneren des Steins. Sein Licht war ätherisch und bannend. Wunderschön. Regenbogenlicht. Sternenlicht. Aber sobald man ihn auch nur kurze Zeit aus seiner Höhlung entfernte, verblaßte das Licht und erlosch. Indy hielt ihn wieder an die anderen. Erneut strahlten sie alle drei hell. Auseinander, dunkel; zusammen, hell. Er steckte die Steine ein. Im Beutel berührten sie einander alle. Es war wie eine winzige, kühle Sonne. Willie und Short Round verfolgten ängstlich, wie Indy die drei Sankara-Steine verstaute. Er zog die Schnur des Beutels zu. Das -128-
Licht war nicht mehr zu sehen. Auch Kali beobachtete ihn. Indiana wich zurück und starrte zu der furchtgebietenden Statue hinauf. Kali blickte auf den winzigen Sterblichen hinunter... und sprach. Indiana sprang zurück. Das dämonische Gesicht schien ihn auszulachen, erneut zu sprechen, zu murmeln, anzuklagen... Halt. Die Geräusche kamen hinter dem Altar hervor, sie drangen nicht aus dem Mund der Statue. Indy lachte über sich selbst - wenn auch nicht laut - und trat hinter den Altar, um zu sehen, woher das käme. Willie und Short Round erschraken, als Indy hinter dem Altar verschwand. »Ach, verdammt, wo geht er jetzt hin?« zischte sie. Sie blieb nun mal nicht gern allein. Der Wind stöhnte wieder. Der Ton in ihrem Tunnel begann aber ein wenig zu schwanken, in einer Reihe seltsamer Stakkatomodulationen seine Höhe zu verändern. Short Round drehte sich um und sah zwei Schattengestalten durch den Tunnel auf sie beide zukommen. Ihre Körper im Gang veränderten den Ton des Windes und erzeugten die seltsame Melodie. Short Round erstarrte. »Was –« begann Willie, dann sah sie es. Im nächsten Augenblick stürzten sich die beiden riesigen Thugwachen auf sie. Short Round riß noch rechtzeitig seinen Dolch heraus, um den einen Thug an der Hand zu verletzen. Der Mann stutzte überrascht und von Schmerzen gepeinigt. Der andere packte Willie. Sie hatte mit solchen Kerlen wie diesen schon gerauft, seitdem sie Lippenstift auflegte. Mit einer geübten Bewegung riß sie das Knie zwischen seine Beine hoch. Er stöhnte auf und sank in die Hocke. -129-
Der zweite Thug ging vorsichtig auf Short Round zu. Willie sprang ihm auf den Rücken, schlang die Arme um seinen Kopf und versuchte ihm die Augen auszukratzen. Er fuhr herum und hieb sie an die Wand. Sie sank auf den Boden und rang erst mal nach Atem. In diesem Augenblick stach Short Round dem Thug den Dolch ins Bein und sprang zurück. Er und der andere Angreifer umkreisten einander. Der zweite Thug kroch auf Willie zu. Als er noch einen Meter entfernt war, schaufelte sie eine Handvoll Erde hoch und schleuderte sie ihm ins Gesicht. Der Mann krallte wild in seine Augen, während Willie aufstand. »Lauf, Willie! Lauf!« schrie Short Round. Er hielt den anderen Thug immer noch auf Abstand. Willie lief zehn Meter den Tunnel hinauf, blieb stehen und drehte sich um. Shorty schwang den Dolch hin und her und hielt sich auf Abstand mit dem Mörder. Plötzlich schrie der Thug etwas auf Hindi, sprang Short Round an und riß ihn dabei nieder. Das Messer fiel zu Boden. Er packte Shorty am Fußknöchel und zerrte den zappelnden Jungen zu sich heran. Willie zögerte. Der zweite Thug raffte sich gerade auf, wobei er große Mühe hatte. »Lauf!« schrie Short Round. »Holen Hilfe!« Willie rannte durch den Tunnel zurück. Das Letzte, was sie sah, war Short Round, der am Hals hochgehoben wurde, bis seine kleinen Füße hilflos über dem Boden baumelten. Inzwischen betrat Indiana die dunkle Kammer hinter dem Altar. Deren einzige Beleuchtung rührte von zwei Quellen: Das rauchig-rote Licht vom Inferno im Tempel umströmte hier die gigantische Silhouette der Kali-Statue, und vor ihm drang außerdem ein schwach leuchtender Strahl gelblichen Lichts aus einem offenbar riesigen Loch im Boden herauf. Indy überquerte langsam eine schmale Steinbrücke, die zu dem Loch führte. Worüber sie sich spannte, verbarg die Dunkelheit. Schließlich -130-
erreichte er die andere Seite. Als er sich der großen Vertiefung näherte, hörte er Stimmen und Metall auf Gestein klirren. Der Boden lag ganz im Dunkeln. Er kroch ganz vorsichtig zu dem Abgrund, entschlossen, sofort die Flucht zu ergreifen, sollte es notwendig werden. Er erreichte den Rand und starrte hinunter. Er erblickte eine große, tiefe Grube. An der Seite führten konzentrische Pfade in zahlreiche enge Tunnels. In die Gänge hinein und aus ihnen heraus krochen abgemagerte Kinder, die Säcke mit Erdreich und Gestein schleppten. Andere hohläugige Kinder, zumeist angekettet, zerrten diese Säcke zu Loren auf Schienen, die kreuz und quer durch die Grube liefen. Dies war offensichtlich ein Bergwerk. Fackellicht warf unheimliche, tanzende Schatten auf die Wände. Hinter den fernsten Schienen in der großen Grube stürzte senkrecht ein Wasserstrom die Höhlenwand herab und füllte eine riesige Zisterne, die in einen glitzernd-dunklen Teich überfloß. Maschinen surrten; Auspuffdämpfe hingen schwer in der unbewegten Luft, schwarze Feuer brachen aus Schächten im Gestein, Funken sprühten aus Löchern, wo Eisen auf Stein knirschte. Kinder wimmerten oder waren stumm, je nach Veranlagung, aber alle sahen elend aus. Unbarmherzige Thug-Wachen hieben mit Peitschen auf sie ein oder traktierten sie erbarmungslos mit Fäusten, was manchen sogar Freude zu machen schien. Indy sah mehrere Kinder stolpern und stürzen, während sie sich abmühten, einen Sack voll Gestein auf eine der Loren zu hieven. Sie bekamen aber nur Tritte dafür. Ein Kind stand nicht mehr auf. Glückliche Seele, es hatte endlich den einzigen Ausweg aus dieser Hölle gefunden. Indiana schob sich um die Grube herum. Es war grauenhaft, eine Szene von solcher Entsetzlichkeit, daß sie jedem Verständnis spottete. Er wußte nicht, was er tun sollte. Das ging -131-
weit über das hinaus, was sogar mit den grausigsten Riten der heidnischsten vereinbar war. Er verschob den Beutel mit den Steinen auf seine r Schulter. Sie belasteten ihn, jetzt da sich ihm verschiedene Möglichkeiten des Handelns boten. Er konnte gehen, wenn er wollte, die Sankara-Steine in seinem Besitz, unbezahlbare Kleinodien, die man jahrhundertelang untersuchen und als Kostbarkeiten schätzen würde. Aber er konnte ein Kind klagen hören. Er blickte hinunter und sah einen hünenhaften, muskulösen Thug mit nackter Brust den elenden kleinen Sklaven mißhandeln. Unbändige Wut wallte in Indiana auf. Er ballte die Fäuste, knirschte mit den Zähnen. Der Thug schien den ungeheuren Druck von Indys Blick auf seinem Rücken zu spüren. Er hörte auf, das Kind zu schlagen, und starrte hinauf. Seine und Indys Blicke begegneten sich, hielten sich gegenseitig fest, rangen miteinander. Der Thug lächelte mit schlaffem Mund. Er genoß den Augenblick. Der brutale Koloß stand tief unter ihm. Indy konnte immer noch fliehen, wenn er das vorzog. Die Wahl fiel ihm nicht schwer. Er bückte sich, ergriff einen Steinbrocken, richtete sich auf, hob ihn über den Kopf und schleuderte ihn in das Bergwerk hinunter. Bis er unten ankam, mußte er eine schnelle Fahrt erreicht haben, aber der Thug fing ihn auf. Fing ihn einfach auf. Der Schwung drückte ihn ein wenig zusammen, dann richtete er sich auf und sah wieder zu Indy hinauf. Erneut begegneten sich ihre Blicke, erneut lächelte der Thug aber diesmal prägte er sich Indys Gesicht ein, jede kleine Einzelheit, damit er diesen winzigen Rebellen nicht vergaß, der es gewagt hatte, ihn zu ärgern. Indy erwiderte das Lächeln, obwohl er sich darüber im klaren -132-
war, daß er in der ersten Runde nicht gut abgeschnitten hatte. Das überraschte Sklavenkind blickte erschrocken zu ihm hinauf. Er nahm eine Siegerpose ein und zog seinen Hut vor den verwirrten Thug-Wachen, die herbeieilten, um zu sehen, was es gab. Das ist erst der Anfang, ihr Halunken, dachte er. Er machte sich auf die Suche nach einem Felsblock, als etwas Aufregendes geschah. Am Rand der Grube bröckelte der Boden ab. Es wurde eine kleine Geröllawine. Und wurde, weil der Zufall es so wollte, eine große. Binnen eines Augenblicks gab der ganze Boden nach, ja, dieser ganze Teil der Umrandung kam ins Rutschen, und Indy stürzte mit ihm ab. Schutt und Indiana kippten hinunter in das Bergwerksinnere, prallten ab von Wandsimsen und lockerem Erdreich, bis Indy sich in einem Haufen Geröll am Schachtboden wiederfand. Zerschlagen und mit Schnittwunden übersät, hob er den Kopf. Thug-Wachen umzingelten ihn. Sie wirkten viel größer und zorniger als noch Augenblicke zuvor. Er lächelte den Hünen an und schüttelte den Kopf. »Wie kann einer nur so häßlich sein!«
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...Traufe Die Wachen packten ihn, schlugen ihn nieder und schleppten ihn in eine kleine Zelle. Dort kettete man seine Handgelenke an die niedrige Decke. Die Handfesseln, die in sein Fleisch schnitten, weckten ihn noch so rechtzeitig, daß er die Gittertür zufallen sehen konnte. Als sie mit einem großen Schloß abgesperrt wurde, liefen drei andere Gefangene, die in der Ecke gekauert hatten, auf ihn zu. Zwei davon waren indische Kindersklaven, der dritte Short Round. Der Junge umarmte Indy unter Tränen. Wegen seiner Ketten konnte Indiana die Umarmung nicht erwidern. Er konnte hören, wie unter ihnen im Steinbruch Kinder ausgepeitscht wurden. Es war das grauenhafteste Geräusch, das er je gehört hatte. Er mußte hier heraus. Shorty trat zurück und begann mit einer Strafpredigt. »Du mir versprochen, nach Amerika mitnehmen. In Amerika das nicht passieren. Ich dir dauernd sagen: Du mehr auf mich hören, länger leben.« Es war nicht zu fassen! Indy, geschnappt wie ein Kleiner Donner! Indy nickte lächelnd. Er fragte sich, ob Shorty ihn mit Reden aus den Eisen würde befreien können. Wäre Willie hiergewesen, ihr hätte er es zugetraut. Short Round zeigte auf einen der Jungen. »Das Nainshuk aus dem Dorf. Er sprechen für Ausländer gut Englisch. Er sagen, sie ihn bringen her zu Arbeit in Bergwerk.« »Aber warum das?« fragte Indy. »Kinder sind so klein«, erwiderte Nainshuk. »Wir können in Tunnels arbeiten.« »Warum seid ihr zwei dann eingesperrt?« »Jetzt sind wir zu groß, um in die engen Tunnels zu -134-
kriechen...« Die Kehle des Jungen schnürte sich zu. Er verstummte. »Was man jetzt mit euch machen?« fragte Short Round mit angstvoll geweiteten Augen. »Ich bete zu Shiwa, mich sterben zu lassen«, stammelte Nainshuk, »aber ich sterbe nicht. Nun wird mich Kali ergreifen.« »Wie?« »Sie werden mich zwingen, das Blut von Kali zu trinken. Dann falle ich in den schwarzen Schlaf von Kali Ma.« »Was ist das?« fragte Indy. Der Junge starrte leer vor sich hin. »Wir werden wie sie. Wir sind am Leben, aber wie in einem Alptraum. Wenn du das Blut trinkst, wachst du nicht auf aus dem Alptraum Kali Ma.« Indy und Short Round sahen das Entsetzen, das im Gesicht des Jungen geschrieben stand. Shorty flüsterte den Namen des Gottes der Gespenstertür. Indy schwor im Namen dieser unschuldigen Kinder Rache. Plötzlich hörte er ein Klirren. Indy sah zwei Wachen die Zellentür aufsperren. Nainshuk und der zweite Junge schrien auf, rannten zur Rückwand der Zelle und zitterten im Dunkel wie gefangene Tiere, die das Unvermeidliche erwarten. Die Wachen waren aber nicht der Kinder wegen erschienen. Sie wollten Indy und Short Round holen. Sie lösten Indianas Ketten, trieben die beiden Freunde aus der Zelle, den Schlängelpfad entlang der Bergwerksgrube hinauf, durch einen langen, dunklen Tunnel. Am Ende des Tunnels öffnete sich eine dicke Holztür. Die Gefangenen wurden hineingestoßen. Sie stolperten in den Raum. Es war die Kammer des Hohepriesters Mola Ram. Der Ort war eine Galerie des Todes. Ritualstatuen und -135-
grauenhafte Ikonen bedeckten die Wände und starrten wie die Augen des Bösen herab. Das Gestein selbst schien mißgestaltet zu sein. Kleine Risse durchzogen den Boden. Roter Dampf quoll heraus und erfüllte die Höhle mit fauligem Gestank. Indy spürte ein Würgen im Hals. In einer Ecke war ein Eisenkessel bis zum Überquellen mit glühender Kohle und Räucherstäbchen gefüllt. Ein zwitterhafter Mann mit geschminkten Lippen, dünnen Armen, zarten Händen und einem vom Irrsinn gezeichneten Gesicht war dort beschäftigt. Er schaufelte die Kohlen um und summte ruhig vor sich hin. Auf der anderen Seite des Raumes stand die bizarrste Statue, die Indiana je gesehen hatte. Sie konnte nur einem Alptraum entsprungen sein. Es war die Verkörperung des Todes in Stein. Sie hatte doppelte Menschengröße. Ihr Kopf besaß die Form eines Totenschädels, der an der Rückseite aber viel zu groß war, mißgestaltet, ein Wasserkopf, der Unterkiefer in einer irren Grimasse viel zu weit aufgeklappt. In jeder Augenhöhle brannte eine Kerze, ebenso auf der Stirn. Der Körper war jedoch kein Skelett, sondern ein Frauenleib, aber ebenfalls verformt: Kein Hals, keine Arme, asymmetrische Brüste, Beine, die zu einem klumpigen Sockel zusammenschmolzen. Aus dem Steinschädel rann Wachs herab, aus den Augen in die Nasenhöhle, den hängenden Kiefer hinunter wie Speichel, über die verkürzten Schultern und die übergroßen Brüste Kerzenwachs, und, wie Indy jetzt sehen konnte, eben gerinnend: frisches Blut. Neben der Scheußlichkeit stand ein riesiger, bärtiger Thug und grinste irr. Er trug Armbänder aus Menschenhaar. Es war derselbe Bewacher, auf den Indy den Steinbrocken geworfen hatte, der Mann, der ihn hatte auffangen können. Nun war Indy sein Gefangener, und er gedachte sich zu revanchieren. -136-
Und in der Mitte des Raumes saß Mola Ram, die Beine gekreuzt, die Augen geschlossen. Für Indy war es die erste Gelegenheit, den Hohepriester aus der Nähe zu sehen. Er bot einen grauenhaften Anblick. Sein Kopfschmuck in Form eines Büffelschädels reichte über die Stirn herab. In dessen Mitte war ein menschlicher Schrumpfkopf befestigt. Mola Rams Gesicht war in schreckenerregenden, okkulten Mustern bemalt. Er hatte schlechte Zähne. Seine Augen waren eingefallen. Sein Schweiß roch nach verfaulendem Fleisch. Seine Augen öffneten sich. Er lächelte. »Ich bin Mola Ram. Sie sind dabei ertappt worden, als Sie versucht haben, die Sankara-Steine zu stehlen.« »Niemand ist vollkommen.« Indy lächelte ebenfalls. Die Steine begannen zu glühen. Er hatte sie vorher nicht bemerkt, aber da waren sie, am Sockel der Statue. Sie schienen als Antwort auf die Erregung des Hohepriesters aufzuleuchten. Mola Rams Augen trübten sich, während er gebannt auf die pulsierenden Kristalle starrte. »Zu Beginn waren es fünf Steine«, sagte er. »Im Lauf der Jahrhunderte wurden sie durch Kriege zerstreut oder von Dieben wie Ihnen gestohlen.« »Die Leute müssen besser gewesen sein als ich«, gab Indy bescheiden zurück. »Zwei fehlen euch immer noch.« »Nein, sie sind hier«, widersprach Mola Ram. »Irgendwo. Vor hundert Jahren, als die Briten diesen Tempel überfielen und mein Volk metzelten«, rief er, »verbarg ein treuer Priester die letzten beiden Steine hier unten in den Katakomben.« Indy begriff plötzlich die ganze Grauenhaftigkeit der Vorgänge. »Danach also laßt ihr die Sklaven schürfen, diese Kinder.« Wieder stieg grenzenlose Wut in ihm auf. »Sie graben nach Edelsteinen, um unsere Sache zu fördern«, -137-
bestätigte Mola Ram, »gewiß, und sie suchen auch nach den beiden letzten Steinen. Bald werden wir alle fünf Sankara-Steine haben. Dann sind die Thugs allmächtig.« »Man kann Ihnen jedenfalls nicht vorwerfen, Sie hätten keine blühende Phantasie«, höhnte Indy. »Sie glauben mir nicht?« Der Hohepriester sah Indiana an. »Sie werden es, Doktor Jones. Sie werden ein wahrer Gläubiger werden.« Er gab ein Zeichen. Die Wachen ließen einen eisernen Kragen um Indianas Hals zuschnappen, zerrten ihn zur Todesstatue und ketteten ihn an. Sein Rücken war an die Vorderseite der Statue gepreßt, die Ketten spannten sich von seinem Hals und den Handgelenken um die Statue zu deren Rückseite. Er konnte das Blut riechen, das die Kinnlade der Statue befleckte. Er hatte Angst. Diese fiebernde Luft, diese wahnsinnigen Priester - hier war alles möglich. Er nahm sich trotzdem vor, seine Angst nicht zu zeigen. Eine solche Befriedigung wollte er ihnen nicht verschaffen. Diese Fanatiker lebten von Angst, von Angst und Leiden. Er gedachte ihre Gelüste nicht zu befriedigen. Und er wollte Short Round keinen Anlaß zur Verzweiflung liefern. Der Junge stand immer noch zitternd am Eingang. Er wollte ein Beispiel für Short Round geben, wollte ihm zeigen, daß Würde über Besudelung triumphierte, sogar an einem so grauenvollen Ort wie diesem... wenn man ein Herz besaß, das stark genug war. Der Hüne trat vor Indy hin. Indy grinste wild. »Hallo. Ich hasse brutale Halunken.« Der Thug grinste ebenfalls. Er hatte Maulheldentum wie dieses oft erlebt. Er wußte, daß es nutzlos war. Die Tür ging auf. Der junge Maharadscha kam herein, gefolgt von dem jungen Nainshuk, der vorher mit Indiana in einer Zelle gewesen war. Das Kind wirkte jetzt anders, wie Indy feststellte. Es war so still wie ein Segelschiff in einer Flaute. In den Händen -138-
trug es einen Menschenschädel. Mola Ram wandte sich an Maharadscha Zalim Singh. »Eure Hoheit werden die Bekehrung dieses Diebs miterleben.« Der Maharadscha blieb mit einem Ausdruck der Besorgnis vor Indiana stehen. »Sie werden nicht leiden«, versicherte er. »Ich bin vor kurzem volljährig geworden und habe das Blut Kalis getrunken.« Indiana war deshalb kaum beruhigt. Er sah, wie Mola Ram den Totenschädel von Nainshuk entgegennahm. Es war ein lachender Schädel, noch mit zerfetzter Haut bedeckt, die Nase halb weggefault, die Augen fast herausgeschält. Die ledrige Zunge hing schief heraus. Mola Ram trug den Schädel zu Indy. Der Hüne packte Indy am Gesicht, drückte seinen Kopf nach hinten an die Brust der Todesstatue und zwang ihn, den Mund zu öffnen. Bevor Indiana wußte, wie ihm geschah, bevor er reagieren konnte, kippte der Hohepriester den grausigen Schädel nach vorn und schüttete Blut aus seinem Mund, das über die Lederzunge herabrann, in Indys Mund. Shorty kreischte auf. »Nicht trinken, Indy! Ausspucken!« Er rief mit all seinen inneren Kräften nach Huan-t'ien, dem Höchsten Herrn des Dunklen Himmels, daß er die bösen Winde aus diesem Raum vertreibe; er rief nach dem ›Schatten‹, der wußte, was in Herzen wie diesen lauerte; er rief nach schneller Erlösung. Er weinte. Indy war einen Augenblick lang ohne Orientierung. Er hatte Folterung erwartet, magische Sprüche, aber nichts zu trinken. Die sche ußliche Flüssigkeit würgte ihn, bevor er sie auf Mola Ram hinausspie. Der Hohepriester wich wutentbrannt zurück. Warmes Blut rann über sein Gesicht und seinen Mund, ehe er sich die Lippen leckte. Er sprach in Hindi zum Maharadscha. -139-
Zalim Singh zog eine kle ine Puppe aus der Tasche. Die Figur trug eine lange Hose und einen winzigen Schlapphut. Ihre Haut war heller als die der meisten Puppen hier; die sorgsam aufgemalten Gesichtszüge wirkten entschieden westlich. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Indiana Jones war zu erkennen. Der Maharadscha hielt die Puppe Indy vor das Gesicht, um sie ihm zu zeigen, dann fuhr er mit ihr über Indys Körper, wo sie Schweiß, Schmutz und Hautausdünstung aufnahm. Dann begann der Maharadscha die Puppe in die Flammen zu tauchen, die aus dem Eisenkessel in der Ecke schlugen, tauchte sie tief hinein und zog sie wieder heraus. Kaum tauchte die Puppe ins Feuer... da wurde Indy von Schmerzkrämpfen geschüttelt. Sein Körper schien in Flammen zu stehen, als lodere sein Gehirn. Er schrie mörderisch auf. »Doktor Jones!« rief Shorty klagend. Eine derartige Entsetzlichkeit mit ansehen zu müssen, zerriß dem Jungen beinahe das Herz. Er stieß eine Reihe chinesischer Flüche aus, rannte hin, versetzte dem Maharadscha heftige Tritte. Der kleine Monarch fiel hin und ihm entglitt die Puppe. Indy erschlaffte sogleich. Short Round hechtete nach Indys Peitsche, wurde aber von einem der Thugs zu Boden geworfen. Mola Ram erteilte Befehle, worauf der Hüne Indys Peitsche aufhob. Indiana wurde für einen Augenblick losgemacht, herumgedreht und neuerlich angekettet, mit dem Körper an die Statue gepreßt. Sein Kinn lag an der grauenerregenden, blutglitschigen Brust, sein Blick ging direkt auf das Fratzengesicht. Er spürte, wie ein kalter Laut in seiner Brust aufquoll. Nainshuk ging, um den Schädel neu mit Blut zu füllen. Mola Ram begann leiernd zu singen. Shorty raffte sich auf, stürzte sich auf seinen Bewacher und hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein, wurde aber rasch von einigen Priestern überwältigt und an -140-
der gegenüberliegenden Wand angekettet. Dann peitschte man die beiden aus. Zuerst Indy, während Shorty beim Zusehen weinte. Dann Shorty. »Laßt ihn in Ruhe, ihr Dreckskerle«, murmelte Indiana halb betäubt. Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Dafür würde er einen angemessenen Preis fordern. Sie ließen Short Round wirklich in Ruhe und hieben dafür wieder auf Indy ein. Die Lederschnur der Peitsche zerschnitt sein Hemd, riß ihm die Haut auf. Bald durchtränkte Blut die Hetzen von Stoff und Fleisch. Indy versuchte sein Denken auszuschalten. Er atmete tiefer, so daß die Kerzen in den Augen der Todesstatue erloschen. Das schien Mola Ram noch mehr zu erbosen. »Das wagst du nicht«, rief der Hohepriester. Nainshuk kam mit dem blutgefüllten Schädel zurück und gab ihn Mola Ram. Indy wurde wieder herumgedreht, so daß er die Statue erneut im Rücken hatte. Der Hüne zwängte Indys schlaffen, mißhandelten Mund auf und preßte seine Nasenflügel zusammen. Erneut schüttete Mola Ram das Blutelixier aus dem lachenden Schädel in Indianas Mund. »Erst werden die Briten niedergemetzelt«, sagte der Hohepriester währenddessen. »Dann überrennen wir die Moslems und zwingen ihren Allah, vor Kali niederzuknien. Schließlich wird der Hebräergott stürzen. Und endlich wird der Christengott besiegt werden und vergessen sein.« Das Blut war eingegossen. Der Hüne preßte Indys Mund zusammen. Indy würgte, spuckte, erstickte fast, hielt den Atem an und... schluckte endlich. »Bald wird Kali Ma die Welt beherrschen«, verkündete Mola Ram. Willie stolperte durch den Eingang zum Geheimtunnel in ihr -141-
Zimmer zurück. Sie war am ganzen Körper von Insekten bedeckt, die sich bei ihrer Flucht auf sie gestürzt hatten. Sie streifte sie ab, tat, was sie tun mußte, um sich zu retten. Und um Indy zu retten. Für einen Zusammenbruch blieb später noch Zeit - hoffentlich. Sie raffte sich mit letzter Kraft hoch, eilte zur Tür und stürmte hinaus. Sie flog durch die Korridore des verlassenen Palasts und suchte in den schwächer werdenden Schatten nach Hilfe. Die Morgendämmerung konnte nicht mehr weit sein. Im ersten Innenhof blieb sie keuchend stehen. Sie rief laut. Niemand antwortete. Verzweifelt ging sie durch den nächsten Korridor und versuchte ihr Schluchzen zu unterdrücken. Hier hingen Gemälde an den Wänden, die Porträts der MaharadschaAhnen. Sie schienen zu lauern, sie in dieser kalten, spätnächtlichen Stunde aus einer anderen Zeit zu bespitzeln. Mit langsamen Schritten bewältigte sie diesen unheimlichen Spießrutenlauf. An seinem Ende nahm sie aus dem Augenwinkel etwas wahr. Sie fuhr herum... eines der Gesichter! Ihr Atem stockte - es war ein Spiegel. Aber dann erschien ein Gesicht hinter ihr im Spiegel und bewegte sich erneut. Sie fuhr wieder herum, die Hand zum Schlag erhoben. Es war nur Chattar Lal, der Premierminister. »O mein Gott, haben Sie mich erschreckt!« stieß Willie erleichtert hervor. »Hören Sie, Sie müssen uns helfen. Wir haben da einen Tunnel entdeckt...« Sie griff nach seiner Schulter, teils, um sich festzuhalten, teils, um ihm die Dringlichkeit der Lage zu vermitteln. Captain Blumburtt kam in diesem Augenblick um die Ecke. Er nickte Willie höflich zu, sprach aber Chattar Lal an. »Jones ist nicht in seinem Zimmer.« Er wandte sich an Willie. »Miß Scott, meine Truppe zieht ab, wenn es hell wird, falls Sie wünschen, daß man Sie bis Delhi eskortiert.« Willie wurde bleich. »Nein, Sie dürfen nicht gehen! Es ist -142-
etwas Furchtbares passiert. Sie haben Short Round, und ich glaube, daß Indy -« »Was?« entfuhr es Blumburtt. Willie nickte erregt. »Wir haben einen Tunnel gefunden, der zu einem Tempel unter dem Palast führt! Bitte, kommen Sie mit, ich zeige Ihnen alles!« Die beiden Männer sahen einander zweifelnd an. Willie war empört, verzweifelt, ihrer Sinne kaum noch mächtig. Sie packte Blumburtts Arm und zerrte ihn mit. Chattar Lal begleitete sie. »Miß Scott, das ergibt doch alles keinen Sinn!« sagte er herablassend. Ihre Zähne begannen zu klappern. »Schnell. Ich fürchte, sie bringen die beiden um. Wir haben laienhafte Dinge dort unten gesehen - ein Menschenopfer. Man schleppte einen armen Mann heran, und dann griff ein anderer in seine Brust und riß ihm das Herz heraus.« Sie preßte eine Hand auf die Augen, um das Bild zu vertreiben. Die beiden Männer blickten einander noch skeptischer an. »Wer?« fragte Blumburtt überaus taktvoll. »Der Priester«, stieß sie hervor. »Sie haben Short Round fortgeschleppt, und Indy ist verschwunden. Ich weiß nicht, wo Indy ist. Unmittelbar unter meinem Schlafzimmer ist diese gigantische Kathedrale - ein Tempel des Todes. Dort unten findet ein Kult statt mit den heiligen Steinen, nach denen Indy suchte.« Chattar Lal lächelte nachsichtig. »Ich spüre in alledem die Wirkung des Opiumrauchens. Vielleicht hat Miß Scott die Angewohnheit in Shanghai erworben?« Sie verlor die Beherrschung. »Wovon reden Sie? Ich bin nicht rauschgiftsüchtig! Ich habe -143-
es gesehen! Ich zeige es Ihnen!« Sie zog sie in ihr Zimmer. »Da - sie ist noch da!« Sie zeigte auf die dunkle Öffnung in der Mauer. »Da, ich sagte es doch!« zischte sie triumphierend. Blumburtt ergriff eine Öllampe und hob sie hoch, um die Öffnung des Geheimgangs zu beleuchten... als plötzlich Indiana heraustrat. Er wischte sich einen der schwarzen Käfer von seiner Kleidung. Indy lächelte schwach. »Was wird hier gespielt, Verstecken?« Sie waren durch sein unerwartetes Auftauchen alle ein wenig verblüfft. Willies Schrecken verwandelte sich aber sofort in Erleichterung. Sie lief auf Indy zu und schlang die Arme um ihn, einem Zusammenbruch nah. »Oh, Indy, du warst plötzlich fort«, schluchzte sie. »Sag ihnen, was geschehen ist, mir wollen sie nicht glauben.« Sie bebte in seinen starken Armen. Er führte sie zum Bett und setzte sich zu ihr. Körperlich und seelisch erschöpft, überließ sie ihm widerspruchslos sich und alles Handeln. »Es ist schon gut«, flüsterte er in ihr Haar. »Jetzt kann dir nichts mehr passieren.« »Sie halten mich für geisteskrank«, stieß sie hervor, immer noch von Schluchzern geschüttelt. »Sag ihnen, daß ich es nicht bin, Indy! Bitte, hilf mir!« Die furchtbaren Ereignisse der vergangenen Nacht hatten ihren Tribut gefordert. Willie schluchzte an Indianas Brust. Sie war außer sich und schien untröstlich zu sein. Indy drückte sie auf die Satindecke nieder, streichelte ihre Wange und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. »He, ich dachte, dich kann nichts umwerfen. Willie?« Er wischte ihr die Tränen ab. Sie hielt seine Hand umklammert. -144-
»Was?« flüsterte sie. Nun, da er hier war und sie in Sicherheit, durfte sie sich gehenlassen. »Du mußt jetzt schlafen.« »Ich will nach Hause«, erwiderte sie und schloß die Augen. Die Matratze fühlte sich so weich an, seine Stimme klang so tief, seine Hand war so fest... »Ich kann es dir nicht verdenken«, murmelte er beruhigend. »Erholsame Ferien waren das bestimmt nicht.« Sie lächelte unwillkürlich, während er ihre Wange weiterstreichelte. Sie fühlte sich mühelos in Schlaf versinken. Es war beinahe... ein Wunder. Indy bewahrte sie vor allem Bösen. Sie hatte noch nie ein solches Gefühl des Wohlergehens, der ungestörten Friedlichkeit erlebt. Es war, als schwebe sie auf dem Klang seiner Stimme sanft hinab wie ein verzaubertes Kind. Sie fühlte sich eingehüllt in die Sicherheit seiner Nähe. Sie fühlte sich selig. Von Frieden erfüllt. Verzaubert. Indiana stand auf. Er trat zu Blumburtt und Chattar Lal in den Korridor vor Willies Zimmer. Der Premier ging voran zur Veranda. Über den Berggipfeln wurde es hell. Orangerote Strahlen erhellten die tiefhängenden Wolken. Die Luft war frisch und parkte für den neuen Tag. Im Tal unter ihnen konnten sie die Kavallerietruppen sehen, die ihre Pferde und Lastwagen bereitmachten. Indy atmete die frische Morgenluft tief ein. »Ich bin mein Leben lang in Höhlen und Tunnels herumgekrochen.« Er schüttelte den Kopf, als wolle er sich selbst ermahnen. »Ich hätte jemand wie Willie nicht mitnehmen dürfen.« Blumburtt nickte, als habe er die ganze Zeit so etwas erwartet. -145-
»Miß Scott geriet in Panik?« »Als sie die Insekten sah, wurde sie ohnmächtig«, gab Indy achselzuckend zurück. »Ich trug sie in ihr Zimmer zurück. Als ich wieder in den Tunnel ging, um mich genauer umzusehen, schlief sie fest.« »Und hatte vermutlich Alpträume«, meinte Chattar Lal. Indy sah den Premierminister an und nickte. »Alpträume, ja«, sagte er mit vollem Verständnis. »Das arme Kind.« Indy nickte. »Dann muß sie aus dem Schlaf hochgefahren sein, ohne zu wissen, daß sie träumte, und rannte hinaus.« Blumburtt blinzelte in die Sonne, die sanft über seinem kleinen Winkel des Britischen Empire aufging. »Haben Sie in dem Tunnel etwas entdeckt, Doktor Jones?« Indiana starrte ebenfalls in die Sonne, aber für ihn ging sie nun über einem anderen Teil des Universums auf. »Nichts«, erwiderte er. »Ein blinder Gang. Der Tunnel ist seit vielen Jahren nicht mehr benutzt worden.« Tief unter ihnen schrie ein Feldwebel herauf, daß die Einheiten abmarschbereit seien. Blumburtt winkte zur Bestätigung. »Nun, Premierminister«, sagte der Captain, »mein Bericht wird festhalten, daß wir in Pankot nichts Ungewöhnliches gefunden haben.« Chattar Lal bekundete seine Achtung vor der weisen Entscheidung der Krone durch eine Verbeugung. »Ich bin sicher, der Maharadscha wird erfreut sein, Captain.« Blumburtt wandte sich ein letztes Mal an Indy. »Wie ich vorhin schon sagte, Doktor Jones, es wäre uns ein Vergnügen, Sie nach Delhi zu eskortieren.« Indiana lächelte friedvoll. »Danke, aber ich glaube, Willie ist noch nicht reisefähig.« -146-
Im Tal wirbelte Staub auf, als die britischen Einheiten über den niedrigsten Bergpaß abzogen: Infanterie, Kavallerie, Nachschubfahrzeuge. Captain Blumburtt fuhr in einem offenen Wagen voran. Den Schluß machte eine schottische Militärkapelle mit Trommeln und Pfeifen, die einen langsamen Marsch spielte. Kurze Zeit später schlängelten sich die Marschkolonnen auf der anderen Seite des Berges hinab und überließen den Palast von Pankot sich selbst. Willie erwachte durch die getragene Melodie der verklingenden Dudelsäcke aus ihrem Halbschlaf. Sie wußte nicht recht, ob sie träumte oder nicht, so fern und unheimlich klang die Musik. Durch die Moskitonetze um das ganze Bett sah sie die Tür zu ihrem Zimmer aufgehen. Da die Vorhänge noch zugezogen waren, herrschte noch Halbdunkel, aber sie konnte Indianas Gestalt leise herankommen sehen. Sie lächelte. Endlich kam er zu ihr. Sie drehte sich ein wenig herum, als er sich auf die Bettkante setzte. Er blieb in dieser Haltung, mit dem Rücken zu ihr, die Schultern herabgesunken. Der Arme. Er mußte völlig erschöpft sein. Sie blickte durch das feingewebte Netz auf seinen Hinterkopf, seine zerzausten Haare. »Indy? Hast du mit ihnen gesprochen?« »Ja«, sagte er. »Sie glauben mir also jetzt«, ergänzte sie. »Ja, sie glauben dir«, wiederholte er. Seine Stimme klang seltsam monoton. Er muß erschöpfter sein, als ich dachte, ging es ihr durch den Kopf. Jetzt muß ich zart mit ihm umgehen. »Dann werden sie die Soldaten in den Tempel -147-
hinunterschicken«, sagte sie laut. Er sagte gar nichts. Sie hoffte, daß er nicht im Sitzen eingeschlafen war, obwohl sie es hätte verstehen können. Sie würde ihn zu sich hinunterziehen, wo er hingehörte. »Gestern nacht, als sie dich töten wollten, stand ich Todesängste um dich aus«, gestand sie. »Nein, sie werden mich nicht töten.« Sie legte die Hand auf seinen Rücken. Er fühlte sich feucht an, durch sein Hemd, durch das Moskitonetz. Sie lächelte mit zärtlichem Vorwurf. »Weißt du, seit ich dich kenne, hast du mir nichts als Probleme gebracht. Aber ich muß zugeben, ich würde dich vermissen, wenn es dich nicht mehr gäbe.« Indiana begann sich langsam umzudrehen. »Du wirst mich nicht verlieren, Willie.« Sie zog ihre Hand zurück. Ihre Finger waren voll Blut. Sein Gesicht drehte sich herum, bis es sie geradewegs anstarrte. Das Netz hing zwischen ihnen, ein dünner Schleier, aber trotzdem konnte sie die Veränderung in seinen Augen erkennen. Seine Augen, sonst so scharf, gesprenkelt mit kupferglänzendem Gold, kristallklar - seine Augen hatten eine unbeschreibliche Veränderung durchgemacht. Sie wirkten undurchsichtig. Trübe. Ihr wurde kalt. Sie fühlte sich tief in ihrem Innern elend. Sie schauderte. Sie hatte ihn verloren. Im Tempel begann das Morgenritual. Ein Meer gespenstischer Gesichter schwankte im monotonen Heulen der Winde in der unterirdischen Kathedrale. Der Opfergesang schwoll langsam, organisch an, indem er sich vom eigenen Grollen und Heulen nährte. Zwischen den Gläubigen saß der junge Maharadscha auf einem niedrigen Podium am Rand der Erdspalte und starrte über -148-
den rauchenden Abgrund hinweg auf den Altar von Kali Ma. »Jai ma Kali, jai ma Kali...« Erneut glühten die drei Sankara-Steine magisch zu Füßen der Todesgöttin. Mola Ram tauchte plötzlich aus den wirbelnden Dämpfen um den Altar auf. Auc h er sang. »Jai ma Kali, jai ma Kali...« Altardienerinnen erschienen aus Nebenkammern, in wallende, rote Gewänder gehüllt. Sie gingen an der Reihe schwarzgekleideter Priester vorbei und malten Linien auf ihre Stirnen, während Mola Ram die Versammlung in Sanskrit ansprach. Chattar Lal, ebenfalls in einem langen Gewand, stand neben Indiana links vom Altar. Ein Altardiener malte die Ritualzeichen auf Lals Stirn. Indiana starrte leer in die zuckenden Flammen, die aus dem Abgrund lohten. Er durchlebte nun einen Alptraum. Strömende Flammen am Boden des Abgrunds huschten über die Oberfläche, sprangen gekrümmt hoch, verwandelten sich in schwarze Vögel, die im Irrsinn flatterten und nach Plätzen suchten, wo sie landen konnten. Immer höher flogen sie, klatschten gegeneinander und an die Steinwände, stürzten kreischend aus dem Abgrund herauf... und in seinen Kopf. Dort war kein Gehirn mehr, nur eine riesige, schattengefüllte Höhle, durchflattert von den Riesenvögeln. Sie schienen nirgends landen zu können und klatschten unentwegt ihre Flügel an die Innenwand seines Schädels. Schatten wisperten in dieser endlosen Mitternacht. Irgendwo flackerte eine Kerze. Er bewegte sich, ohne sich zu bewegen, zurück in der Zeit, im Raum, eine Stunde, ein Verlies, einen Blutdurst, ein Lied der Finsternis, flog durch dunkle Tunnels, in denen Tod aufblitzte, schmerzerhellt und grabbeschwert, kam heraus in Willies Kammer, strömte aus der steinernen Wunde. Was wird hier -149-
gespielt, Verstecken? Willie war da, die Zauberin, wand ihre Fühler um seinen Rücken; ihre Finger waren flammende Krallen, die seine Haut zerfleischten. Oh, Indy, du bist entkommen, sagte sie, erzähl, was geschehen ist, sie wollen mir nicht glauben. Ihr Haar loderte, ihr Mund war eine verräterische Höhle ohne Boden, ihre Zunge ein Salamander, ihre Augen waren eisige Spiegel, die das Antlitz seiner eigenen dunklen Seele zeigten. Er ging zu ihrem Bett. Ihr flammendes Haar besprühte seine Wange. Die Vögel in seinem Kopf flatterten wild, wetzten ihre warfen Schnäbel am Inneren seines Schädels. Es ist schon gut, jetzt kann dir nichts mehr passieren. Sie halten mich für geisteskrank, sag ihnen, daß ich es nicht bin, Indy, bitte, hilf mir. Ihre Salamanderzunge peitschte hinaus, als sie ihren Kopf zu seinem Körper hinunterbeugte. Ihre Schluchzer übertönten die Bißgeräusche; die Echse riß große Fetzen aus seinem Fleisch, öffnete seinen Brustkorb. Er legte sie auf die Überdecke, he, ich dachte, dich wirft nichts um, Willie, Tränen strömten über ihre Wangen, Tränen aus Blut, er berührte sie, und sie wurden zu Lava, brannten seine Finger weg bis auf die Knochen, weiße Knochen, klaffend im Dunkelwind. Was? flüsterte sie. Du mußt jetzt schlafen. Die Schlange in ihrem Mund hatte sich durchgefressen zu seinen Rippen, zerknackte sein Brustbein. Ich möchte nach Hause, sagte die Schlange. Ihr Zuhause war in seiner Brust. Ich kann es dir nicht verdenken, erholsame Ferien waren das nicht. Die Schlange glitt in seine Brust, rollte sich zusammen, schlief. -150-
Die Zauberin schlief. Die Vögel flatterten. Er trat zu Blumburtt und Chattar Lal auf die Veranda. Blumburtt hatte kein Gesicht. Die Sonne brach in blutigem Nebel über den Gipfeln hervor. Lal sprach, aber die Worte kamen aus Indys Mund, eine Gasblase. Ich bin mein Leben lang in Höhlen und Tunnels herumgekrochen, ich hätte jemand wie Willie nicht mitnehmen sollen. Der gesichtslose Captain nickte. Als sie die Insekten sah, wurde sie ohnmächtig, ich trug sie in ihr Zimmer zurück, als ich wieder in den Tunnel ging, um mich weiter umzusehen, schlief sie fest. Die Schlange in seiner Brust veränderte die Lage, rollte sich wieder zusammen, verfiel erneut in unruhigen Schlaf. Und während sie schlief, hatte sie sicherlich Alpträume. Alpträume. Ja. Das arme Kind. Zwei der lichtlosen Vögel gerieten aneinander, kämpften, stürzten auf den Boden seines Schädels, lagen dort flatternd auf dem Rücken, verwundet, entsetzt. Haben Sie in dem Tunnel etwas entdeckt, Doktor Jones? Nichts. Nur ein blinder Gang. Verlassen. Die verlassenen Höhlungen in seinem Schädel hallten; die Echos zerbrochener Federn, am Stein scharrend. Leer, verdunkelt' Die Vögel waren fort. Aber ich glaube, Willie ist noch nicht reisefähig. Er kehrte in ihr Zimmer zurück. Sie schlief noch, die Zauberin, in ihrem Bett zusammengerollt. -151-
Die Schlange in seiner Brust regte sich. Die Zauberin wurde wach. Er setzte sich zu ihr. Er saß abgewandt, damit sie nicht das zerfetzte Fleisch seiner Brust, nicht die Öffnung sehen konnte, durch die das Reptil hineingekrochen war, um an seinem Herzen zu liegen. Indy? Ja. Sie glauben mir also jetzt. Ja, sie glauben dir. Du läßt uns keinen Zweifel. Zauberin mit flammendem Haar, du wirst sterben, bevor ich zulasse, daß du das Untier in meiner Brust weckst. Ich dachte, sie würden dich töten. Nein, sie werden mich nicht töten. Sie fuhr mit ihren Krallen an seinem Rücken herab, zerfetzte die Haut, zog Blut heraus. Du wirst mich nicht verlieren. Er drehte sich um, starrte in ihre Spiegelaugen, sah sich selbst: Mann aus Rauch, durchtränkt von Entsetzen, blutend, bemüht, die Schlange ruhig zu halten, auf Echos in der Dunkelheit lauschend, wartend auf den zersprungenen Schrei. Die Schlange verdrehte sich. Aus der Feme kam ein Flattern. Indiana starrte weiter in die lohenden Flammen des Abgrunds, während Mola Ram sprach. Chattar Lal übersetzte für Indiana die Rede des Hohepriesters. »Mola Ram berichtet den Gläubigen von unserem Sieg. Er sagt, die Briten haben den Palast verlassen, was die neue Macht von Kali Ma beweist.« Indy nickte hypnotisiert. »Ja, ich verstehe.« Er verstand gut. Mola Ram beendete seine Rede. Wieder erhob sich leiernder Gesang. Der Wind heulte. Die Schwefeldämpfe quollen empor -152-
und verdünnten sich. Indiana wiegte sich auf den Absätzen und starrte zu dem göttlich inspirierten Götzenbild hinauf. Unter dem Tempel gruben im Dunkel des Bergwerks Kinder mit blutenden Fingern in der Erde, während fette Wachen Müßiggänger oder jene, die zu krank waren, um weiterzuarbeiten, mit Ledergurten peitschten. Manchmal stürzte die Erde ein, wobei Kinder lebendig begraben oder vom Geröll zerquetscht oder verstümmelt oder erstickt wurden. Short Round arbeitete nun auch dort. Er schwitzte neben den anderen, den verlorenen Kindern, krallte seine Finger ins Gestein, suchte die beiden letzten Sankara-Steine. An den Fußknöcheln angekettet, plagten sie sic h ab und beteten um den Tod; sie, die dem Untergang geweiht waren. Short Round und fünf andere gruben einen neuen Tunnel. Die Endgültigkeit der Dinge begann ihm klarzuwerden. Die Last dieses Wissens - die Qual für den Rest des kurzen Lebens von Short Round - traf ihn mit voller Wucht und warf ihn in den Staub. Was konnte das alles bedeuten? Was war mit Indy geschehen? Auf Indy konnte er sich nicht mehr verlassen. Indy hatte den bösen Trunk geschluckt, durch den aus Dr. Jones ein ganz anderer, grausamer Mens ch geworden war. Indy war dahin. Shorty flehte das Himmlische Ministerium der Zeit an, die Länge seines Aufenthalts an diesem Ort zu verkürzen. Er saß, den Tränen nah, auf dem Boden, griff nach einer Handvoll Erde, ließ sie durch die Finger rieseln. »Ausgeschieden«, flüsterte er. Er saß noch nicht lange, als schon eine Lederschnur seinen Rücken traf. Nur der plötzliche Schreck verhinderte, daß er vor Schmerzen aufschrie. Der Aufseher ging weiter. Shorty machte sich wieder an die Arbeit. -153-
Er und zwei andere Kinder stemmten sich gegen einen großen Felsbrocken in der Wand, der dem künftigen Tunnel den Weg versperrte. Sie zerrten, sie hebelten; endlich gab er nach. Er lockerte sich, rollte einen kurzen Abhang hinunter - und Short Round stieß unwillkürlich einen Schrei aus. Sie hatten eine Ader geschmolzener Lava freigelegt. Aufgestaut, kaum in Bewegung, zischte sie wie eine argwöhnische Kobra. Die Kinder schrien und zeigten darauf, bis der Aufseher kam. Er peitschte sie unbarmherzig, weil sie so dumm und laut waren. Seine Augen spiegelten das glühende Gift der nahen Lava. Plötzlich spie die dünne Spalte eine kleine Dampfwolke. Sie übersprühte die Beine des Aufsehers mit fein verteilter Lava. Er kreischte, stürzte zu Boden und versuchte das schmelzende Erz von seiner Haut zu kratzen. Der Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte den Tunnel. Während die Kinder ihn beobachteten, geschah etwas sehr Merkwürdiges. Sein Gesicht entspannte sich auf einmal und verlor seinen harten, kantigen Ausdruck. Seine Augen, die noch kurz zuvor die Blutfarbtöne in der Lava widergespiegelt hatten, trübten sich mit menschlicher Schwachheit und schienen lebendig zu werden, sich zu erinnern. Er hörte auf zu stöhnen. Sein Blick richtete sich auf Short Round. Der Mann wirkte beinahe dankbar. Er schien den Tränen nahe zu sein, so als erkenne er, daß er nur einen Alptraum erlebt hatte und wieder wach geworden war. Er flehte Short Round um Vergebung an - zuerst in Hindi, dann auf Englisch. Plötzlich erschienen andere Wachen. Sie packten ihren hingestürzten Kameraden und zerrten ihn aus dem Tunnel. Er wehrte sich und versuchte sich zu befreien. Wollte wach bleiben. Er wollte nicht in den Alptraum von Kali zurückkehren. -154-
Short Round begann allmählich alles zu begreifen, als die Aufseher, deren Seele versklavt worden war, ihren armseligen Kameraden fortschleiften. »Das Feuer«, flüsterte Short Round vor sich hin. »Das Feuer ihn aufwecken! Ich kann sorgen, daß Doktor Jones -« Bevor er den Satz noch ausgesprochen hatte, hob er einen schweren Felsbrocken hoch. Die anderen Kinder beobachteten ihn angstvoll. Sie fürchteten, er könnte ihn dem letzten Aufseher, der eben verschwand, nachschleudern und damit allen weitere Peitschenhiebe eintragen. Er warf ihn aber nicht dem Aufseher nach, sondern hieb ihn auf die Fußketten, die ihn an die anderen Kinder fesselten. Das Knöcheleisen mußte rostig sein, sagte er sich. Sehr viele Schläge würde es nicht aushallen können. Keiner der Aufseher rechnete damit, daß eines der Kinder ernsthaft versuchen würde, die Flucht zu ergreifen. Wohin hätten sie gehen sollen? Short Round lächelte grimmig bei dieser neuen Erkenntnis. Wissen war Macht, hatte Dr. Jones ihm immer wieder eingeschärft. Mit dieser Macht würde er Dr. Jones befreien. Immer wieder ließ er den Felsbrocken auf seine rostigen Fesseln niedersausen, während die anderen Kinder ihn nervös anstarrten. Short Round war zur Flucht entschlossen. Und er hatte, wovon die Aufseher nichts ahnten, ein Ziel. Der Wind heulte an der Höhlendecke und gesellte sich zum atonalen Sprechgesang der im Tempel versammelten Menschenmenge. Mola Rams hohe Stimme schwang sich über den Chor hinaus. Der Maharadscha saß gebannt auf seinem Podest, umgeben von Rauch und Lärm. Chattar Lal stand noch immer neben Indiana. »Verstehst du, was er uns sagt?« fragte er den Neubekehrten. Indiana nickte dumpf. »Kali Ma beschützt uns. Wir sind ihre -155-
Kinder. Wir schwören Treue und verehren sie mit Opfern von Fleisch und Blut.« Chattar Lal wirkte zufrieden. Sein Schüler entwickelte sich sehr rasch. Ein Schrei hinderte ihn jedoch an der Antwort herzzerreißend, voller Entsetzen, aus den rauchverhüllten Schatten aufsteigend. Indiana sah unbewegt zu, als man Willie herauszerrte. Sie trug jetzt Rock und Oberteil eines Radschput-Mädchens, geschmückt mit Juwelen und Blumen. Sie wurde von zwei Priestern festgehalten, während sie aufheulte, sich losreißen wollte, schweißüberströmt, weinend, fluchend, spuckend. Sie ahnte, welches Schicksal sie erwartete. Als man sie vor die Statue Kalis schleppte, entdeckte sie Indiana. »Indy! Hilf mir! Um Gottes willen, was ist mit dir?« Indy starrte sie gleichgültig an, während man ihre Handgelenke an den quadratischen Eisenrahmen kettete, der von den starken, unermüdlichen Armen der grausigen Steingöttin herabhing. Die Zauberin zischte ihn an, Indy, hilf mir, um Gottes willen, was ist mit dir, aber er konnte über ihren Verrat nur lächeln. Alles war jetzt rot, aber im Negativ, so daß hell erschien, was dunkel war, dunkel, was hell; aber alles rot. Außer der Zauberin. Sie war schwarz. Schwarz und laut summend, als bestehe sie aus zehntausend Hornissen. Sssssssshhh, kreischte sie ihn an. Psssst, dachte er, du weckst die Schlange. Aber Kali war ja hier. Kalis Inspiration allein würde das Summen zum Schweigen, die Schlange in seiner Brust zur Ruhe bringen. Nur durch Qual und Folter und Opfer für Kali Ma würde das Summen aufhören, die Schlange schlafen. -156-
Indy blickte auf seine Füße hinunter. Eine lebendige Boa constrictor glitt über den Steinboden, unterwegs zu einem dunklen Ort. Indy bückte sich, hob sie auf und streichelte ihren Kopf. Sie waren jetzt Seelengeschwister. Er hielt die Schlange an seine Brust, dorthin, wo ihre Schwester schlief- hielt sie so, daß Willie seine neue Familie sehen konnte. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. »Indy«, flehte sie. »Laß nicht zu, daß sie mir das antun. Laß das nicht zu!« Aber er rührte keinen Finger, um ihr zu helfen. Er streichelte nur immer diese verdammte Schlange. Sie mußte sterben. Sie mußte auf grauenhafte Weise sterben. Unter Qualen. Allein. Auf irgendeine Weise hatten sie ihn in ihre Gewalt gebracht, das konnte sie deutlich erkennen. Aber auf welche Weise? Er war immer schon so arrogant gewesen, aber sie hatte das ganz nett gefunden - wenigstens manchmal. Konnte Arroganz diese... Besessenheit erklären? Ja, besessen, so sah er aus. Oder vielleicht war dies nur der letzte Akt einer mächtigen Verführung, einer Verlockung durch Reichtum und Ruhm, die er immer gesucht hatte. Verlockung konnte sie verstehen - die Diamanten waren gewiß verlockend genug -, aber das schien doch wohl zu weit zu gehen. Magie? Sie wußte es nicht und wollte es nicht wissen. Sie wußte nur, daß sie sterben mußte, und sie wußte nicht, warum, und wollte es nicht wissen; sie haßte ihn dafür und hatte Angst. Die Priester fesselten ihre Füße an den Korb. »Hört auf, ihr tut mir weh!« kreischte sie. »Du gottverdammter, lausiger Dreckaffe!« Vor Zorn stand ihr -157-
Schaum auf den Lippen, dann verlegte sie sich wieder aufs Flehen. »Seid doch nett, Leute. Macht schon.« Und als das keine Wirkung hatte, wieder der Hilfeschrei: »Indy!« Mola Ram ging um sie herum, als die Vorderseite des Rahmens zugeklappt wurde und sie mit gespreizten Armen und Beinen in dem dünnen Korb eingeklemmt war. Indiana wandte den Blick von ihr ab und betrachtete liebevoll das Gesicht der monströsen Göttin über ihnen. Er ließ seine Schlange auf den Boden fallen. Sie kroch in eine Ecke. Die Priester rissen Willies Halsketten herunter. »Ihr habt vielleicht Nerven!« brüllte sie. »Ich habe gleich gewußt, daß ihr ganz billige Saukerle seid! Ihr hebt euch das Flitterzeug für eine auf, die - na, so gut wie ich wird sie nie damit aussehen!« Sie war trotzig geworden, verächtlich. Mola Ram trat vor sie hin. Er schien ihr Aufbegehren zu genießen. Er verbeugte sich knapp, dann hob er die Hand bedrohlich zu ihrem Herzen. Eisige Kälte durchströmte sie, als sie die Finger des Hohepriesters auf ihre Brust zukommen sah. Das hatte sie schon einmal erlebt; das Entsetzen der Erinnerung lahmte sie. Ihre Knie waren wie Gummi. Hätten nicht Ketten und Eisendraht sie festgehalten, sie wäre zu Boden gestürzt. Ihre ganze innere Kühnheit schrumpfte angesichts der näherkommenden Hand zu nichts zusammen. Sie begann zu flehen. »Warte. Noch nicht. Bitte. Ich bin zu allem bereit. Ich kenne viele Politiker und wichtige Indus trielle. Ich war zum Abendessen bei Tschiang Kaischek eingeladen. Ich kenne Leute, die für AI Capone arbeiten.« Ein surrealer Gedanke überfiel sie, und sie lachte grell. »Hast du vielleicht einen Vetter, der Frank Nitti heißt? Er lebt in Chicago. Du könntest tatsächlich sein Bruder sein.« Mola Ram verzog höhnisch den Mund. Er führte die Hand immer näher heran. Sie spürte seine eisigen Finger am Stoff -158-
über ihrer Brust. Sie spürte einen grauenhaften Druck, als dringe ein Finger in einen Kehlkopf oder ein Daumen in ein Auge. Übelkeit erregender Druck, unbarmherzig, unaufhaltsam. Sie wurde ohnmächtig. Im halbdunklen Tunnel schlug Short Round gleichmäßig zu, Stein auf Eisen, bemüht, seine Fessel zu durchtrennen. Genau das hatte er in ›Ich floh als Kettensträfling‹ gesehen, nur fiel dies jetzt schwerer als damals das Zusehen. Sein Arm wurde müde, seine Verzweiflung gewann die Oberhand. Was sollten Indy und Willie ohne ihn anfangen? Was, wenn das Rad der Seelenwanderung sie im nächsten Leben trennte? Das mochte sehr wohl sein, denn die Drehung des Rades konnte niemand voraussagen. Die anderen Kinder beobachteten ihn. Er hätte gegen Hilfe nichts einzuwenden gehabt, aber sie sahen so unheimlich aus, wie sie vor ihm standen - wie Gespenster oder Schlimmeres -, daß er zu dem Schluß kam, es sei das Beste, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Er ließ den müden Arm noch einmal hinabsausen, hieb den Felsbrocken auf das Eisen. Und die Klammer brach. Ganz einfach so. Er war frei. Die anderen Kinder starrten ihn dumpf an, staunend, ungläubig, mit unerwartetem neuem Glauben. Hier war Freiheit, inmitten der Gefangenschaft. Short Round spähte verstohlen in alle Richtungen. Er schien sich keine Sekunde zu früh befreit zu haben. An der Tunnelmündung näherte sich ein Aufseher. In den von Fackeln geworfenen Schatten wagte Short Round es. Er sprang kopfüber nach vorn, rollte durch den Tunnel zu einer Lore voll Gesteinsbrocken, die von zwei Sklaven die Schienen entlanggeschoben wurde. Der Aufseher stapfte ahnungslos vorbei. Verdeckt durch die Lore, erreichte Short Round geduckt das Ende des Tunnels und verließ das Bergwerk. -159-
Die anderen Kinder sahen ihm bei seiner Flucht nach, aber sie verhielten sich still. Oben im Tempel erwachte Willie aus ihrer Ohnmacht und sah Mola Ram davongehen. Er hatte ihr nicht das Herz herausgerissen, sondern nur mit ihr gespielt! Tränen der Hoffnung traten ihr in die Augen. Vielleicht war noch nicht alles verloren. Sie wand sich verzweifelt, um ihre Fesseln zu zerbrechen, zog und zerrte an ihren Handgelenken - und lieber Gott, ja, es geschah: Mit all dem glitschigen Schweiß gelang es ihr, ein schmales Handgelenk aus der Handfessel zu ziehen, die sie am Opferrahmen festgehalten hatte. Sie streckte den befreiten linken Arm flehend nach Indiana aus. »Indy, hilf uns! Komm zu dir. Du bist keiner von denen. Bitte! Bitte, komm zu mir zurück. Bitte, komm zu mir zurück!« Indy trat an ihren Käfig, streckte langsam den Arm aus und ergriff ihre Hand mit der seinen. Sie umklammerte seine Finger. Er hob ihre Hand an die Lippen und küßte sie. Sie blickten einander tief in die Augen. Ja, ja, dachte Willie, er ist zu mir gekommen. Er hob ihre Hand zurück an den Eisenrahmen, schob die Fessel um ihr Handgelenk, klappte sie zu und sperrte die Käfigtür ab. Dann warf er Mola Ram einen vielsagenden Blick zu. Der Hohepriester lächelte, nickte und verfiel wieder in seinen Sprechgesang. war fassungslos. »Nein. Was tust du? Bist du wahnsinnig?« Er starrte sie nur an, wie aus weiter Ferne. Sie spuckte ihm ins Gesicht. Noch nie hatte sie einen Menschen so gehaßt. Sie gedachte nicht mehr zu flehen. Sie hoffte nur, er werde in der Hölle schmoren. Die Zauberdämonin spie ihn an. Aus ihrem schwarzen Mund -160-
sprühten Funken und Flammen. Das Summen war ungeheuer laut geworden. Es übertönte beinahe das Flattern, das zurückgekehrt war. Der Speichel brannte wie Feuer, er zischte im Fleisch feines Gesichts, zischte mit der Schlange in seiner Brust, die jetzt wach war und sich entrollte... Aber Kali würde sie zur Ruhe bringen. Wenn er sich nur selbst Kali hingab, sich in Kali verlor, das summende, flatternde Zischen durch das beschwichtigende Herunterleiern des Namens Kali Ma übertönte. Ruhig, innerlich leer, wischte er ihren Speichel von seinem Gesicht und fiel in den rauschhaften Chor ein: »Mola Ram, Sunda Ram, jai ma Kali, jai ma Kali...« Ghattar Lal und Mola Ram tauschten einen zufriedenen Blick. Sie freuten sich über den Anblick des kaltblütigen Verrats. Der Sprechgesang wurde lauter. Der Wind fegte mit schreckenerregendem Geheul weiter. Short Round rannte den nächsten Tunnel hinauf und preßte sich keuchend an die Wand. Er spähte um die Ecke. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getrogen. Das war eine der Aufbewahrungshöhlen. Dort am Boden in einer Ecke lagen Indys Peitsche, Hut und Tasche. Er lief hinein und riß die Gegenstände an sich. Den Hut setzte er auf, die Viehpeitsche kam an den Gürtel, die Tasche schwang er über die Schulter... und kam sich bei Gott wie ein Kleiner Indiana Jones vor. Er richtete sich gerade auf und marschierte hocherhobenen Hauptes in den benachbarten Tunnel. Dort entdeckten ihn zwei Aufseher, die sofort hinter ihm herhetzten. Nun kam er sich wirklich vor wie Indiana Jones. Er stürzte hinaus in den Schachtbereich, lief, so schnell er konnte, wich den Aufsehern aus, ließ seine schwerfälligen Verfolger zurück -161-
und erreichte schließlich den nächsten Schacht. Vorsichtig kroch er durch einen Zugangstunnel und spähte nach hinten in die Hauptgrube. In zwanzig Meter Entfernung sah er eine hohe Holzleiter an der Wand lehnen. Die Holme berührten einen Sims vor einer Vielzahl von Gängen. Auf beiden Seiten der Leiter durchbohrten weitere Tunnels die Felswand. Aus dem untersten kam ein Kind heraus, das einen Sack voll Gestein schleppte. Es trat auf die Leiter hinaus und trug seine Last hinunter. Als der Junge den Boden erreichte, brach er vor Erschöpfung beinahe zusammen. Dann erschrak er zu Tode, als er Short Round in wildem Tempo auf sich zurennen sah. Shorty bedeutete ihm mit einer Geste stillzusein. Der Junge starrte Short Round fassungslos an, als der Flüchtling die Leiter hinaufkletterte. Ganz wie James Cagney in der letzten Szene von ›Public Enemy‹. Short Round hoffte nur, daß das nicht auch seine letzte Szene sein würde. Er war schon ziemlich weit oben, als ein Aufseher ihn bemerkte. Der Bewacher stieg hinter ihm die Leiter hinauf. Sieben Meter von der Wand hinaus, an der die Leiter lehnte, hing ein Seil frei vom Sims herab. Es kam aus einem kleinen Loch in der dortigen Decke. Schmutzige Gesichter starrten Short Round aus allen Winkeln und Gängen an, als er das Ende der Leiter erreichte. Der Aufseher war kaum drei Meter hinter ihm. Shorty stieg von der Leiter in den obersten Tunnel...dann nahm er Anlauf, kam zurückgerannt, sprang auf die Leiter und stieß sich mit ihr von der Wand ab. Er hielt sich eisern fest - wie der Aufseher einige Sprossen unter ihm -, als die Leiter in sanftem Bogen von der Wand hinauskippte in die offene Grube. Sicherer Selbstmord. So dachten jedenfalls die Kinder, die den Vorgängen wie gebannt folgten. Sie wünschten dem flüchtenden Jungen alles Glück. -162-
Als die oberen Sprossen der Leiter am unteren Ende des herabhängenden Seils vorbeischwangen, griff Short Round danach. Die Leiter mit dem Thug kippte weiter und krachte donnernd tief unten auf den Boden. Short Round dagegen baumelte einige Sekunden lang hilflos im Leeren, dann kletterte er am Seil empor und durch die Deckenöffnung in die Kammer darüber. Er rollte ein paar Meter über den Boden und blieb liegen. Hier war es leer und still, aber nebenan konnte er das gedämpfte Murmeln von tausend hypnotisierten Stimmen hören. Und es klang beunruhigend. Er stand auf, ging zur Tür an der anderen Seite und drückte sie einen Spalt auf. Rotes Licht umflackerte die schwarze Statue Kalis. Sein Widerschein drang bis in den kleinen Raum hinter dem Altar im Tempel des Todes. Im Tempel klirrten Ketten und knirschten Zahnräder, als der Opferrahmen hochgehievt, dann gekippt, hochgestellt und auf die andere Seite gedreht wurde, bis Willie, auf dem Eisenrahmen ausgestreckt, in die brodelnde Lavagrube hinabstarrte. In ihren eigenen Tod hinein. Wie qualvoll würde er sein, wie sinnlos. Wie einsam, das war das Schlimmste. Immer wieder sah sie sich in den schimmernden Wölbungen der roten Blasen tief unten gespiegelt, die ihr Abbild herstellten, das Licht brachen, sich verzerrten, bis sie endlich platzten. Spiegelungen ihres Lebens: verzerrt, überhitzt, nun kurz vor der Explosion, wie ein Tropfen Wasser in einem Faß voll Säure. Sie hätte gern eine neue Gelegenheit gehabt und alles anders gemacht. Aber ein nächstes Mal würde es nicht geben. Sie glaubte nicht an Karma oder Reinkarnation, nicht an den Himmel oder an Wunder. Jetzt hätte es ein Wunder gebraucht, um sie zu retten. -163-
Sie hielt den Atem an. Sie hoffte, das Bewußtsein zu verlieren, bevor es zu qualvoll wurde. Mola Ram gab Anweisung an den Henker, der langsam das riesige Holzrad drehte, mit dem der Korb hinabgesenkt wurde. Die Menge sang. Willie kreischte. Indy drehte den Kopf, um zuzusehen. Die Zauberin hing in ihrer wahren Form über der Grube, in der eines riesigen Raben. Sie schwebte auf den heißen Luftströmungen über dem Feuerloch. Jetzt flatterte sie nicht mehr, wie vorher im Inneren seines Schädels. Sie schwebte nur, lächelnd, leise summend, wissend. Sie kannte das Entsetzen. Die Leere seines Schädels. Das Gift in seiner Brust. Sie wußte. Sie wußte alles. Sie mußte sterben. Mola Ram fiel nun in den Chor ein, dessen Gesang immer wilder wurde. Auch Indiana schloß sich dem Geheul an. Willie hing im Eisenrahmen und sah das kochende Magma ihrem Körper näherkommen, als sie Zentimeter um Zentimeter tiefer hinabsank in die Opfergrube. In das Feuer.
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Ausbruch in die Freiheit Short Round spähte hinter dem Altar hervor in den höhlenartigen Tempel und sah, wie man Willie hinabließ. Und dort am Kraterrand stand Indiana und sah gleichgültig zu, wie sie verschwand. Shorty flüsterte: »Indy, nein.« Der Gesang war so laut, daß er fast nicht denken konnte. Aber er wußte, was er zu tun hatte. Er mußte für Indy einspringen. Er mußte Indy aufwecken. Er mußte Willie heraushole n. Er mußte nach Amerika, und das war ganz und gar kein Witz. Aber alles der Reihe nach. Er versprach den drei Sterngottheiten als Dank für den Erfolg bei diesem Vorhaben für ewig einen Schrein in seinem Herzen. Er versprach Lou Gehrig, nie mehr an seinem Wurfrekord zu zweifeln, und sollte sein Bruder Tschu in Gestalt einer ganzen Herde von Elefantenbabys zurückkommen. Er legte Indys Sachen im Schatten eines Torbogens auf den Boden. Er drehte den Schirm seiner Baseballmütze nach hinten, denn jetzt galt es zu handeln. Und er sprang hinaus auf den Altar. Er winkte Indy zu. Chattar Lal jedoch sah ihn als erster. Der Premierminister rief zwei Wachen zu, den Jungen zu packen, aber Shorty war für sie zu schnell. Als die Wachen ihn zu ergreifen versuchten, schoß er vom Altar auf Indiana zu. Einer der Priester griff ein und packte Short Round am Arm. Shorty biß in seine Hand, worauf der Priester ihn losließ. Ein anderer trat Short Round in den Weg. Der Junge traf ihn mit einem Tritt am Schienbein und huschte an ihm vorbei. Im nächsten Augenblick hatte er Indy erreicht. Er hob den Kopf und lächelte ihn hoffnungsvoll an. Vielleicht war der gute Doktor schon wach und verstellte sich nur in raffinierter Weise, -165-
um diese Narren zu übertölpeln. Indy schlug Short Round mit dem Handrücken brutal ins Gesicht. Der Junge stürzte zu Boden und verlor die Mütze. Seine Augen standen voller Tränen. »Wach auf, Doktor Jones.« Aus dem Mundwinkel Short Rounds rann Blut, als er seinen Helden ungläubig und tief empört anstarrte. Aber nur für einen Augenblick. Er bestärkte Shorty nur in dem, was er sich vorgenommen hatte. Es würde ihm schwerfallen, aber was war in diesem Leben nicht schwer? Chattar Lal hatte die ganzen Vorgänge mit offenkundiger Freude verfolgt. Der große Indiana Jones war jetzt ein Bekehrter, ein gläubiger Anhänger. Befriedigung erfüllte die Augen des Premiers, als er zusah, wie einer der Thugs das ärgerliche Kind verfolgte und wie Willie ihrem endgültigen Untergang entgegenschwebte. Willie versuchte immer noch den Atem anzuha lten, während das Eisengestell hinabsank, aber es hatte keinen Zweck. Es war unglaublich heiß, unermeßlich grell. Hitzewellen schlugen ihrem Gesicht entgegen, die ätzenden Dämpfe brannten in ihren Augen, ihrer Lunge, an ihrer Haut. Sie würde sterben. Es war einsam. Und erschreckend. Sie versuchte an ein Gebet zu denken, aber es ging nicht. Sie versuchte sich von der sengenden Qual abzuwenden, aber sie konnte sich nicht bewegen. Und immer tiefer sank sie hinab. Inzwischen erreichte Short Round die Mauer, wo er eine flammende Fackel aus der Halterung riß und herumfuhr. Der Feuerbrand zischte am Gesicht des Thugs vorbei. Der Mann zuckte zurück. Shorty rannte auf den Henker zu und schwang die Fackel, worauf dieser vom Rad zurückwich. Willie hing unbeweglich in der Luft. Mola Ram nahm diese Dinge nicht so gleichmütig hin, wie das -166-
Chattar Lal zu tun schien. Das kleine Ungeheuer entweihte die Riten der Kali und mußte bestraft werden. »Fangt ihn! Tötet ihn!« schrie der Hohepriester aufgebracht in der Hindisprache. Zwei andere Wachen rannten Short Round nach, der wieder geradewegs auf Indy zulief. »Indy, wach auf!« schrie er. Keine Reaktion. In der letzten Sekunde wirbelte er herum und trieb die beiden Verfolger mit der lodernden Fackel zurück. In diesem Augenblick packte Indy ihn von hinten und begann ihn zu erdrosseln. Indy hielt Shorty am Hals fest, hob ihn hoch und drehte ihn in der Luft herum, bis sie einander auf Armlänge ins Gesicht starrten. Short Round rang nach Atem und verfärbte sich blau, als Indiana ihn zu Tode würgte. Die Schlange in seiner Brust zischte und rasselte, erbost über die plötzliche Störung. Sie hatte den Angriff des Kleindämonen erfühlt, bevor Indy ihn auch nur gesehen hatte. Bis der Dämon mit der Fackel herankam, war Indy bereit, war die Schlange bereit. Bereit, zuzustoßen. Indy, wach auf! kreischte das Dämonenkind, die Wörter eingeätzt in die Flammen seiner Fackel. Die Schlange zuckte zurück. Der Dämon war vielgestaltig. Er verwandelte sich in einen rubinroten Blutklumpen, aufgebläht, bebend und dampfend in der kalten Höhlenluft, nach dem Saft des Todes riechend. Wirbelnd, flackernd... Indy packte es, das klumpige Dämonenkind. Packte und würgte es, versuchte den dunklen, quellenden Klumpen in eine angenehmere Form zu quetschen, etwas in der Form von Kali, etwas von der Größe seiner Faust. Pressend, bildend, gestaltend, drehte er das Ding in seinen Händen, drehte es herum, ganz herum, bis es ihn ansah, seine grauenhaften Augen aus der Gallertmasse quollen, es sein Feuer schwenkte, er sein Kreischen vor sich hatte, das nach der -167-
Schlange rief. Mit letztem Atem krächzte der Junge: »Indy, ich liebe dich«, rief den Namen des Verwalters im Himmlischen Ministerium für Teufelsaustreibung an und stieß Indy die flammende Fackel in den Körper. Indiana stürzte zu Boden, während das Feuer sein Fleisch versengte. Er schrie vor Schmerzen und ließ Short Round los. Feuer füllte seinen Kopf, tobte durch die leeren Höhlen. Die Schlange kreischte, entrollte sich, wand sich in Zuckungen. Das Dämonenkind schrie sie an. Sie gellte zurück, zornig vor neuer Erinnerung. Short Round preßte die Fackel an Indianas Seite, bis endlich ein Thug ihn packte und die Fackel wegschlug. Indiana wand sich am Boden vor Schmerzen. Das Licht war blendend. Der Gesang schwoll zum Crescendo an. Der Henker kehrte an sein Rad zurück und begann Willie weiter in die Grube hinabzulassen. Chattar Lal lächelte. Mola Ram pries Kali. Der Thug zog ein Messer und hob es an Short Rounds Kehle. »Halt!« rief Indiana und stand auf. »Er gehört mir.« Indy nahm Shorty dem Mörder ab, trug ihn einige Schritte weit, hob ihn hoch und hielt ihn hinaus über den Krater. Short Round starrte voller Entsetzen in den brodelnden Schmelzofen hinab, dann, zum letzten Mal, in Indys Augen. Indy zwinkerte ihm zu. »Ich bin in Ordnung«, flüsterte er. »Bereit?« Shorty blinzelte zurück. Indy warf Short Round zu einer freien Stelle, fuhr herum und schlug den ersten Priester mit einem Fausthieb ins Gesicht nieder. Den zweiten fällte er mit einem Magenschwinger. Gleichzeitig stürzte sich ein dritter Priester auf ihn. Shorty packte den Gürtel des Mannes, warf sich auf den Rücken und -168-
schleuderte den Mann über sich hinweg, wo er mit dem Kopf auftraf. Die Menge auf der anderen Seite der Erdspalte war völlig in der Verzückung des Rituals versunken, so daß niemand wahrnahm, was rund um die steinerne Göttin vorging. Chattar Lal erkannte das, und als der Kampf so richtig entbrannte, verschwand er hinter dem Altar. Zwei Priester stürzten sich auf Indy, aber Short Round warf sich vor einen der beiden hin, so daß sie unweigerlich zusammenprallten. Indy schleuderte den nächsten Gegner auf den Henker. Beide flogen von der Plattform. Dabei löste der Henker unwillkürlich die Handbremse des Eisenkäfigs, der nun mit Willie in die Grube hinabzusausen begann. Indy sprang auf die Plattform und zog die Bremse an. Wieder war Willies Sturz in den Tod aufgehalten. Mola Ram wurde immer unruhiger. Er bewegte sich in aller Ruhe durch das Getümmel auf die Sankara-Steine auf dem Altar zu. Der nächste Priester stürzte sich mit schwingendem Weihrauchgefäß auf Indy. Jones duckte sich und stand unter dem Priester auf. Der eigene Schwung schleuderte ihn in die Spalte. Ein Aufzischen, ein Lichtblitz - der Priester war nicht mehr. Short Round stand mit dem Rücken an der Wand und wehrte mehrere Wachen ab, in der einen Hand ein Messer, in der anderen eine Fackel. Der Henker kroch zu seinem Rad und begann Willie wieder hinabzusenken. Sie war jetzt nur noch wenige Meter von den Dämpfen der brodelnden Lava entfernt. Die Hitze war so stark, daß ihre Kleidung zu schwelen begann; ihre Wimpern fingen an zu verkohlen. Ihr Bewußtsein erreichte die Grenze aller Kräfte; ihre Lebensgeister schienen zu schwinden. Zufallsbilder schossen durch ihr überhitztes Gehirn; uralte Erinnerungen, silbern schimmernde Gefühle. Der letzte Gedanke, bevor sie -169-
ganz das Bewußtsein verlor, war: In golden days a glimpse of... Indy hieb den Henker erneut von der Plattform. Als er den Käfig aus der Grube heraufdrehte, griff ihn ein Priester mit einer Stange an. Er packte die Stange und schleuderte den Priester in den Krater hinein. Er wehrte einen Thug mit der Stange ab und schlug ihn dadurch bewußtlos. Schließlich gelangte er in die Nähe des Altars, wo Mola Ram sich über die Steine beugte. Indy hieb die Stange so hart auf Rams Rücken, daß sie zerbrach. Mola Ram stürzte nach vorn. Indy schwenkte die halbe Stange, um Ram den Rest zu geben, als der Hohepriester den Kopf hob und lächelte... im nächsten Augenblick war er durch eine geheime Falltür im Sockel des Altars verschwunden. Indy fluchte, warf die abgebrochene Stange weg, hetzte zum Rad zurück und begann den Käfig hochzudrehen, in dem Willies bewußtloser Körper lag. Die Kleidung schwelte immer noch. Hinter ihm tauchte Chattar Lal mit erhobenem Dolch auf. »Indy, Vorsicht!« schrie Short Round, der nach wie vor seine Fackel schwang. Indy drehte sich rechtzeitig um, um dem zustoßenden Dolch auszuweichen. Die beiden Männer rangen neben dem Rad miteinander. Unten glitt der Rahmen knarrend tiefer. Die Bremse war zwar angezogen, gab aber allmählich nach. Inzwischen konnte die Gemeinde jenseits der Erdspalte erkennen, daß nicht alles mit rechten Dingen zuging. Sie hörten mit dem Gesang auf und begannen in zunehmender Panik auseinanderzulaufen. Der kleine Maharadscha suchte als einer der ersten das Weite, umgeben von seinen Leibwächtern. Indy befreite sich von Chattar Lal und vermochte das Rad zum Stillstand zu bringen. Lal griff ihn erneut an. Indy wehrte den Dolch ab, hieb Lal dabei gegen das Rad und schlug ihn bewußtlos. -170-
Das Rad drehte sich. Chattar Lal wurde von den Speichen mitgerissen. Die Zahnräder zermalmten ihm halb das Bein, aber er konnte sich befreien und davonkriechen. Shorty sprang auf die Plattform und wehrte den letzten Thug ab, während Indy erneut die Bremse anzog, obwohl sie sich so anfühlte, als wolle sie nicht lange halten. Er stand auf, aber der Thug rannte davon. Indy und Shorty versuchten verzweifelt das Rad zu drehen und den Käfig hoch zuziehen. Als der Eisenrahmen oberhalb der Grube angelangt war und in Bodenhöhe schwebte, blieb Short Round am Rad stehen und hielt es mit aller Kraft fest, während Indy zum Kraterrand lief und den Korb über festen Boden zog. »Laß ein bißchen nach«, schrie er Shorty zu. Short Round drehte das Rad ein wenig, der Käfig sank auf den Boden herab. Indy löste Willies Fesseln und starrte sie sorgenvoll an. »Willie, Willie! Wach auf, Willie!« An die Einzelheiten seines Alptraums konnte er sich kaum erinnern, nur an ein Gefühl tiefsten Entsetzens und an ein paar flüchtige Bilder: riesige Aasvögel, hungrige Schlangen - pfui Teufel, Schlangen! - an ein Dämonenkind, das Shorty war und doch nicht war, und an Willie als bösartige Zauberin, die seine Seele verschlingen wollte. Und er hatte versucht, sie zu töten, hatte gelacht, als sie zu Kalis Vergnügen in den Krater versenkt worden war. Dem Himmel sei Dank, daß es vorbei war. Vorbei, wach, wieder unter den Lebenden. Willie stöhnte, bewegte den Kopf, ihre Lider zuckten. »Willie!« sagte er glücklich. Sie öffnete die Augen, sah ihn über sich und... schlug ihm ins Gesicht. Jedenfalls versuchte sie es. Ihre Hand war jedoch so schwach, daß sie kaum seine Wange streifte. Trotzdem zuckte Shorty zusammen. Indy grinste nur. -171-
»Willie, ich bin's. Ich bin wieder da. Ich bin wieder da, Willie!« Und dann sang er: »›Home, home on the range, where the deer and the antelope play.‹« Willie war in ihrem ganzen Leben noch nie so froh gewesen, jemanden derart schlecht singen zu hören. Während die frische Luft und die mißtönende Stimme sie wiederbelebten, weinte und hustete und lachte sie, alles auf einmal. Sie sah Chattar Lal mit dem Dolch nicht, bis es beinahe zu spät war. »Vorsicht!« stieß sie hervor. Indy wirbelte herum. Er ließ sich nach rückwärts fallen und schlug Lal den Dolch aus der. Hand. Lal stürzte sich sofo rt auf ihn. Sie rollten über den Boden. Willie war zu schwach, um sich zu bewegen. Shorty blieb auf seinem Posten am Rad. Die beiden Männer gerieten an den Kraterrand, rollten wieder zurück. Sie sprangen auf, Indy stand zwischen Lal und der Grube. Willie schob sich von ihnen fort in Richtung Rad. Lal begann in der Hindisprache klagend zu singen: »Verrat, Verrat, du hast Kali Ma verraten. Kali Ma wird dich vernichten.« Dann stürzte er vorwärts. Mit der Kraft des Wahnsinns flog er Indiana entgegen, entschlossen, ihn mit sich in den Untergang zu reißen. Beide stürzten auf den Opferkäfig. Durch den starken Schwung glitt das Gestell über den Boden, schwang hinaus über den Krater und baumelte über der glühenden Lava. Indy löste sich aus Lals Griff, sprang von dem Rahmen ab, prallte an die Innenkante des Schachts, hielt sich über dem Abgrund fest, während Willie mit neu erwachender Kraft die Bremse löste. Das Holzrad surrte beim Drehen, und der Käfig sank blitzschnell hinab. -172-
Stürzte und tauchte mit Chattar Lal als Ladung in die Glut. Schmelzlava spritzte klatschend empor. Für Willies Ohren süße Rache. Indy schaute hinunter. Chattar Lals Körper explodierte blitzschnell in den Flammen. Das Fleisch war in einem Augenblick verglüht, für einen Sekundenbruchteil sah man das Skelett, dann war alles von der Glut verzehrt und verschwunden. Indiana zog sich hinauf auf sicheren Boden. Willie setzte sich auf. Shorty lief zu ihnen hinüber. Sie kauerten kurze Zeit beieinander, still, die Arme umeinander geschlungen. Zufrieden, sich auszuruhen zu können, zusammenzusein, zu leben. Der Tempel war nun leer und stumm, abgesehen von den bewußtlosen Priestern am Boden und dem Zischen der Lavabrände. Indy ging zu den drei Sankara-Steinen am Sockel des Altars. Sie glühten nicht mehr. Shorty brachte ihm seine Sachen: Hut, Peitsche. Tasche, Hemd. Indy legte die Steine in seine Tasche, nahm die Tasche auf die Schulter und steckte die Peitsche an den Gürtel. Schließlich zog er das Hemd über den von Blutstriemen gezeichneten Rücken. Dann ging er zu der Stelle, wo Short Rounds Mütze am Boden lag. Er hob sie auf, klopfte den Staub ab und setzte sie Short Round feierlich auf. Dann setzte er seinen Hut auf. Mit der Welt war wieder alles in Ordnung. Shorty grinste seinen alten Freund an. »Indy, mein Freund.« Gleichgültig, was noch geschehen mochte, das blieb und würde immer bleiben wie die Sterne. Willie fand die Kraft wieder, auf den Beinen zu stehen, und kam zu ihnen. »Indy, du mußt uns hier herausholen.« Indy schaute sich an diesem Ort des Bösen um, hörte das ferne -173-
Grollen voller Gesteinsloren, die Folterungen im Dunkeln, das Wimmern Unschuldiger... »Gut. Uns alle«, murmelte er. Sie gingen zu dem Raum hinter dem Altar. Im Bergwerk hatte unterdessen etwas Erstaunliches begonnen. Die Kinder hatten das Antlitz der Freiheit gesehen. Dutzende von Kindern waren Augenzeugen von Short Rounds wundersamer Flucht gewesen. Die Geschichte hatte sich rasch verbreitet. Einer war entkommen. Einer war entkommen. Man konnte entkommen. Ihre Arbeit ging schneller voran. Sie beobachteten die Aufseher unter gesenkten Lidern, statt die Köpfe tief zu senken. Sie scharrten mit den Füßen aus Trotz oder Unentschlossenheit, nicht aus Erschöpfung. Manche zählten sogar ab, wie viele von ihnen der Zahl der Aufseher gegenüberstanden. Nachdem Mola Ram bei dem Kampf am Altar geflüchtet war, hastete er zum Bergwerk hinunter. Er berichtete den Oberaufsehern, was sich abspielte. Er schickte einige Wachen zurück zum Tempel, damit sie in den Kampf eingriffen; die anderen wies er an, auf die drei Ungläubigen zu achten, die vielleicht durch das Bergwerk zu flüchten versuchten. Er warnte aber keinen vor der Gefahr eines Sklavenaufstands. Fünf zusammengekettete Kinder stapften mühsam durch einen dunklen Tunnel zu einer unbeladenen Lore. Das kleine Mädchen am Schluß der Reihe fiel hin. Der Aufseher an der Tunnelmündung betrachtete das als offenkundige Faulheit und stürmte wütend hinein, riß sie hoch und hob seinen Lederriemen, um sie zu prügeln. Als er den Arm in die Höhe gerissen hatte, sah er Indy aus einem Schatten heraustreten. Indy hieb die Faust an das Kinn des Aufsehers, der -174-
sofort zusammenbrach und liegenblieb. Short Round nahm den Schlüssel vom Gürtel des Aufsehers und schloß rasch die Fußeisen der Kinder auf, die stumm und staunend zusahen. Als sie frei waren, zeigte Indy ihnen, wie sie den Aufseher an die Lore ketten konnten. So begann es. Die fünf Kinder überfielen in einem anderen Tunnel einen weiteren Bewacher. Der Mann war so überrascht, daß er nicht einmal aufschreien konnte, bevor er mit Steinbrocken bewußtlos geschlagen war. Fünf weitere Kinder waren befreit. Schon waren es zehn. Es lief ab wie eine Kettenreaktion. Dutzende von Kindern streiften nach Gutdünken durch die Tunnels, bevor die übrigen Aufseher auch nur ahnten, was sich abspielte. Dann brach das Getümmel los. Man schlug Alarm. Aufseher versuchten angekettete Kinder in eine große Zelle zu treiben. Indy hielt viele davon auf. Er schlug einen mit der Peitsche nieder, und die befreiten Kinder hieben auf den Mann mit Steinen ein, oder er fällte einen Gegner mit der Faust, so daß Willie oder Shorty ihm die Schlüssel abnehmen konnten. Mit jedem Aufseher, der ausfiel, wurden weitere Kinder befreit. Das Ganze griff um sich wie eine Epidemie. Wachen ergriffen die Flucht. Willie schlug sie mit Spatenhieben nieder, Shorty riß sie mit Ketten zu Boden, Gruppen befreiter Sklaven stießen sie von Simsen und Leitern. Auf die Köpfe fliehender Aufseher wurden körbeweise Felsbrocken gekippt. Schließlich befanden sich die Wachen ihren ehemaligen Gefangenen gegenüber in der Minderzahl. Sie hatten keine Chance. -175-
Als alle frei und die Aufseher vertrieben waren, standen die Kinder in einer großen Menge beieinander und schauten sich begeistert und nicht wenig erstaunt um. Short Round stand vor ihnen: Er war die wahre Inspiration für diesen Aufstand. »Kommt, folgt mir!« rief er und führte sie zum Ausgang. Sie jubelten. Ein Kinderkreuzzug. Indy und Willie folgten ihnen. Unterwegs begegnete man vereinzelten Aufsehern - einige versuchten sie aufzuhalten, andere flohen -, aber die Kinder stürmten über sie hinweg und überwältigten jede Gegenwehr allein durch ihre Zahl und ihren Schwung. Hinauf den Schlängelpfad marschierten sie, endlich als ihre eigenen Herren. Durch den letzten Tunnel, hinauf zum obersten Schacht, in den Raum hinter dem Altar... Hinein in den Tempel. Er stand jetzt leer. Nur der Wind summte seine einsame Melodie, nur Kali stand noch Wache. Indy, Willie und einige der größeren Kinder rissen eine lange Holztafel vom Altar herunter, in die zahlreiche furchterregende Darstellungen Kalis und ihrer Grausamkeiten eingeschnitzt waren. Als sie auf den Boden gestürzt war, trug man sie zum Rand der Erdspalte, die den Palast vom Rest des Tempels trennte, das letzte Hindernis zur Freiheit. Sie stellten die Tafe l an einem Ende fest auf die Kante, stemmten sie hoch, als wollten sie einen Fahnenmast aufrichten, und ließen sie über dem Erdriß herabsinken, bis das andere Ende an der gegenüberliegenden Seite auflag. Sie bildete einen schmalen Steg über der wallenden Lava. Immer mehr Kinder trafen ein. Die Altarseite war bereits überfüllt, so daß manche Kinder vor dem Abgrund um ihr Gleichgewicht rangen. -176-
Indy begann sie über das Brett zur anderen Seite zu schleusen. Unter ihnen brodelte Feuer. In Abständen spritzte flüssige Lava in die Höhe. Keines der Kinder stockte jedoch. Eines nach dem anderen liefen sie auf die andere Seite des Tempels, zum Palast, der Freiheit entgegen. Nach einer Weile bemerkte Indy jedoch, daß das Holz infolge der aufsteigenden starken Hitze zu rauchen begann. Die Kinder, die jetzt hinüberliefen, schrien auf, weil das heiße, ausgetrocknete Holz ihre nackten Füße versengte. Indy schickte sie immer schneller hinüber. Das Holz schwelte zunehmend stärker, sein weißer Rauch wurde jetzt schon schwarz. Schließlich ging das Holz an zwei Stellen in Flammen auf. Indy trieb die letzten Kinder an und schrie zur Eile mahnend, als sie über die Flammen sprangen. Der Steg brach, während das letzte Kind sich auf die andere Seite rettete. Als Shorty hinaustrat, brannte er völlig durch und stürzte lodernd in die Spalte. Indy und Willie packte ihn im letzten Augenblick am Kragen und zerrten ihn vom Abgrund zurück. Auf der anderen Seite drehten sich einige Kinder um und wollten auf ihre Retter warten. »Lauft! Lauft!« schrie Indy hinüber. Sie machten sich auf den Weg. Hinaus zum Hinterausgang des Tempels, über hundert gewundene Treppen empor, durch eine Vielzahl von Geheimgängen und geheimer Ausgänge in den Palast. Kinder zu Hunderten rannten durch die Palastkorridore, das Lächeln der Freiheit auf den Gesichtern. Sie durchquerten Höfe und Brücken, liefen durch Hallen und Portale und Einfahrten und Tore. Dann hinaus auf die offene Straße, den Dschungel, die Bergpässe. -177-
Sie waren frei. »Was machen wir jetzt?« fragte Shorty, als das letzte befreite Kind den Tempel verlassen hatte. »Wir nehmen den langen Weg«, schlug Indy vor. Wie immer improvisierend. Sie gingen zurück in den kleinen Raum hinter dem Altar und hinauf zur Öffnung über dem Bergwerk. Indy starrte auf eine der kleinen, leeren Loren, die unbeaufsichtigt auf den Schienen standen. »Die Gleise müssen aus dem Bergwerk hinausführen«, meinte er nachdenklich. Er trat vor zu einem Weg, der in einer Spirale hinunterführte. »Wo gehst du hin?« fragte Willie argwöhnisch. »Ein Fahrzeug besorgen.« Ungefähr die Hälfte der Loren rollte mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf den Schienen dahin, gezogen von unterirdischen Kabeln. Manche waren vollgefüllt mit Gesteinsbrocken, andere leer. Indy hatte es auf eine leere abgesehen. Als die Lore in die zentrale Station rollte, lief Indiana daneben her, hielt sich an ihr fest und versuchte sie aufzuhalten. Er wurde mitgeschleift, aber plötzlich kam das Fahrzeug scheinbar von selbst zum Stillstand. Es hielt nicht von selbst. Indy blieb wie angewurzelt stehen und hob den Kopf. Ein riesenhafter Aufseher hatte die Lore mit dem Arm aufgehalten. Ein echter Riese. Der Hüne, mit dem er schon zweimal aneinandergeraten war. Beide Male war er nicht sonderlich gut weggekommen. Nun gut, dann hatte er eben eine Rechnung zu begleichen. Indy wollte mit der Faust zuschlagen, überlegte es sich aber anders. Statt dessen suchte er sich ein Brett und hieb es dem -178-
Aufseher auf den Schädel. Das Brett zersplitterte. Der Hüne rührte sich nicht. Das sah ernst aus. Indy riß einen Vorschlaghammer aus der Lore und traf den Riesen damit links am Brustkorb. Der Kerl lächelte nur, rülpste, riß Indy den Hammer aus der Hand und warf ihn beiseite. Dann wickelte er den linken Arm um Indys Hüften und rammte seine Faust in Indys Bauch. Indy kippte um. Er sprang aber sofort wieder hoch und versetzte dem Riesen einen Tritt ins Gesicht, aber der Koloß wankte kaum. Die Sache wurde mehr als mulmig. Der Hüne packte Indy erneut, hieb ihm die Faust zweimal auf die Brust, einmal auf die Kehle, schleifte seinen Kopf an der Innenseite der Lore entlang und stemmte den Bedauernswerten in die Luft. Shorty traf den Riesen mit Indys Peitsche, die auf den Boden gefallen war. Es gab einen Knall, dann einen Aufschrei. Der Thug ließ Indy in die Lore fallen. Shorty schlug wieder mit der Peitsche auf ihn ein, aber der Aufseher packte ihn und schleuderte ihn weit weg. Die Lore setzte sich in Bewegung, von seinem Kabel eine lange Steigung hinaufgezogen. Der Riese sprang ins Fahrzeug. Im nächsten Augenblick schlugen die beiden Männer, während sie den Berg hinauffuhren, aufeinander ein. Willie folgte dem Fahrzeug eine Strecke lang, verfolgte den Kampf, schleuderte, wenn die Wurfbahn frei war, Felsbrocken auf den Hünen oder suchte nach einer leeren, freilaufenden Lore auf Schienen, die nicht plötzlich aufhörten. Indy hatte am Hals des Aufsehers eine empfindliche Stelle entdeckt und tat sein Bestes, um sie mit einer Eisenstange zu bearbeiten. Aber jedesmal, wenn er seinen Vorteil zu nutzen versuchte, durchzuckten grauenhafte Schmerzen seinen Körper, so daß er den Fausthieben des Gegners erneut wehrlos ausgesetzt war. -179-
»Was ist mit ihm?« schrie Willie Short Round zu. Short Round erkannte das Problem. Er zeigte nach oben. Dort, auf dem nächsthöheren Sims, stand der Maharadscha. Er stieß seine Turbannadel in die Indiana Jones-Puppe. Die Lore erreichte das Ende des Hangs und kippte ihre Ladung zur Seite. Indy und der Riese wurden zusammen mit einem Haufen Geröll auf ein laufendes Transportband abgeladen. Der Riese ergriff einen Spaten. Indy hob einen Pickel, um den Schlag abzuwehren, ließ ihn aber mit schmerzverzerrtem Gesicht fallen, als neue Qual in ihm hochflutete. Er rollte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite, um vom herabsausenden Spaten nicht erschlagen zu werden. Auf dem Sims hoch über den beiden stieß der Maharadscha wieder die Nadel in das Gesicht der kleinen Figur. Willie fand ein leeres Fahrzeug, das zu einem der Ausgangstunnels zu rollen schien. »Ich hab' eins, Indy, ich hab' eins! Jetzt können wir heimfahren!« Indy hörte aber nicht zu. Er wich abwechselnd Faustschlägen aus oder hieb einen Benzinkanister an den Schädel des Gegners. Inzwischen war Shorty zu einem schmalen Wasserfall gelangt, der von jener Höhe herabstürzte, wo der Maharadscha stand. Das Wasser strömte auf ein Schaufelrad mit Eimern, das dazu konstruiert war, volle Wassereimer zum obersten Schacht hinaufzubefördern. Shorty sprang unten auf einen vollen Eimer, fuhr damit hinauf und sprang ab. Er rannte den Sims entlang und war Augenblicke später im Zweikampf mit dem Maharadscha, dessen Puppe über den Boden wegrollte. Indiana rang mit dem Hünen und rollte über das Transportband. Er konnte jetzt das Ende der Anlage erkennen, ein riesiges Eisenrad, das alle Steine und Felsbrocken zermalmte, die unter die Maschine gerieten. Das Transportband versorgte das Brechwerk ununterbrochen; es war unersättlich. -180-
Willie schleuderte Steine auf den Hünen. Der Riese schlug auf Indy ein und erwiderte manchmal die Wurfgeschosse. Indy trat nach dem Hünen oder hieb mit dem Benzinkanister auf ihn ein, während Short Round mit dem Maharadscha um Tod und Leben rang. Mit jeder Sekunde wurde Indy näher an den Rachen des Brechwerks herangetragen. Shorty packte den Maharadscha an der Kehle. Der Maharadscha stieß die Turbannadel tief in Short Rounds Bein. Shortys Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen. Er rollte davon und hielt sein Bein umklammert. Der Fürst verstand vom Kampf Mann gegen Mann mehr, als man ihm ansah. Das machte aber nichts, denn auch Short Round war kein Neuling. Der Riese packte Indys Hemd, aber der Ärmel riß ab. Als er das Gleichgewicht verlor und taumelte, wurde die Schärpe des Hünen von der Eisenrolle erfaßt. Er versuchte verzweifelt, dem erbarmungslosen Zug durch Kriechen zu entkommen, aber er war eingeklemmt. Er schrie gellend, als sein Körper mit den Füßen voran in das Brechwerk gezogen und zermalmt wurde. Auf der anderen Seite kam blutiges, kleingemahlenes Geröll heraus. Oben auf dem Sims taumelte Short Round zu einer Wand und ergriff eine Fackel. Er drehte sich herum, als Zalim Singh sich mit einem Messer auf ihn stürzte. Shorty duckte sich geschwind und streckte den Arm hinaus. Der Maharadscha prallte gegen die lodernde Fackel. Er schrie auf und stürzte zu Boden. Short Round warf Erde auf eine brennende Stelle seiner Kleidung und wollte sich erneut auf den jungen Monarchen stürzen... aber es war nicht mehr notwendig. Der Maharadscha schien wie aus einem schlechten Traum erwacht zu sein. So war es in der Tat. Short Round saß vor ihm. Er kannte diese Verwandlung nun schon. -181-
»Es war der schwarze Alptraum Kalis«, erklärte er Zalim Singh. Short Round wußte, wie der ›Schatten‹, was an Bösem in den Herzen mancher Menschen lauerte, Jugendliche eingeschlossen. Inzwischen war Indy zu einem Laufgang über dem Transportband hinaufgesprungen, der dorthin führte, wo Willie mit der leeren Lore wartete. Allerdings lief die Zeit ab. Mola Ram erschien mit Verstärkung. Binnen Sekunden umstellten sie das Gelände. »Komm hier runter, Shorty!« schrie Willie. »Ich hab' ein Fahrzeug!« Ein Thug stürzte sich auf sie. Sie riß den eisernen Bremshebel von der Lore und schlug ihm damit den Schädel ein, dann wehrte sie einen zweiten Angreifer ab, der vorsichtiger zu Werke ging. Short Round hangelte sich am Felsvorsprung herab. Der Maharadscha beugte sich hinüber, um ihn zu verabschieden. »Bitte, hör zu. Ihr müßt den linken Tunnel nehmen, damit ihr hinauskommt«, rief er warnend. Shorty starrte ihn einen Augenblick unsicher an, dann begriff er, daß er die Wahrheit sagte. »Danke.« Er kletterte hinunter. Indy war in Schwierigkeiten. Drei Aufseher sprangen auf den Laufgang hinunter und trieben ihn zurück. Er hetzte eine kurze Leiter hinauf, stieß sie weg, rannte zu einem parallel laufenden Sims. Jetzt eröffneten die Wachen das Feuer aus Pistolen. Indy suchte Deckung hinter einem Karren und schob ihn zum nächsten Laufgang. Willie begann ihre Lore das Gleis hinunterzuschieben und kletterte hinein. Der Thug, der sie beobachtet hatte, sah seine Gelegenheit gekommen und packte sie am Bein. Short Round war aber schon zur Stelle. Er hob einen Stein auf, der genau die richtige Größe hatte, stellte sich in Positur, vergewisserte sich noch einmal, schrie: »Lefty Grove!« und warf einen genau berechneten Ball, der den Aufseher hinter -182-
dem Ohr traf. Der Mann brach zusammen. Ein anderer Thug packte Shorty von hinten, während Willies Lore schneller zu rollen begann. Shorty entwand sich seinem Gegner und versetzte ihm einen Karatetritt in den Bauch. Ein Priester mit fratzenhaft verzerrtem Gesicht verfolgte Willies Fahrzeug. Shorty stürzte herbei, um den Mann abzufangen, rollte sich zusammen und warf sich ihm so in den Weg, daß sie in verschiedene Richtungen flogen. Short Round war sofort wieder auf den Beinen. Er jagte der Lore fünfzehn, zwanzig Meter weit nach und konnte endlich aufspringen, gerade als sie sehr schnell zu rollen begann. Willie half ihm herein. Sie schauten sich hastig um, bis sie Indiana entdeckten, der oben in den Laufgängen und Stützgerüsten noch immer seinen Verfolgern auswich. »Indy, komm, schnell!« brüllten sie gemeinsam. Indy schaute zu ihnen hinunter, sah, wo er sich im Verhältnis zu ihnen befand, sah, wohin sie fuhren: in einen großen Ausgangstunnel an der Vorderseite des Bergwerks. Er rannte wie ein Wilder, sprang von Sims zu Leiter zu Laufgang zu Tragbalken. Von allen Seiten wurde jetzt auf ihn geschossen. Holz- und Steinsplitter schwirrten. Mola Ram stand an einer erhöhten Stelle, schrie Befehle und zeigte erregt auf die Flüchtenden. »Sie entkommen! Tötet sie!« befahl er auf Hindi, worauf die Wachen ihre Bemühungen verdoppelten. Indy erreichte das Ende des Gerüsts. Hinter, unter und über ihm sah er Verfolger. Er sprang ins Halbdunkel und packte einen Flaschenzug, der ihn mit schwindelerregender Geschwindigkeit an einem Kabel hinabsausen ließ, das sich der dahinfegenden Lore entgegenspannte. -183-
»Folgt ihnen! Tötet sie!« wütete Mola Ram. Geschosse pfiffen. Die Lore raste dem Tunnel entgegen, Indy segelte auf die Lore zu. Als er ein paar Meter seitlich über ihr war, ließ er los und flog in weitem Bogen in die Lore. Sie jubelten und blieben tief geduckt, um nicht von den Schüssen getroffen zu werden. Indy entdeckte unten in der Lore einen bewußtlosen Aufseher. Er nahm ihm die Pistole ab und kippte den Mann hinaus, als die Lore in die Dunkelheit des Tunnels raste. Plötzlich herrschte undurchdringliche Dunkelheit. Es fielen keine Schüsse mehr. Sie rasten am Boden der Lore das Gleis hinunter. Und sie würden es schaffen. Im Bergwerk sah Mola Ram die Lore den ersten Teil der Strecke entlangrasen, die ins Freie fü hrte, und verschwinden. Wut trübte seinen Blick. Er flüsterte seinem Adjutanten zu: »Sie haben die Sankara-Steine gestohlen. Sie müssen aufgehalten werden.«
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Mit Ach und Krach... Brennende Fackeln beleuchteten den Weg der dahinsausenden Lore Indy sah die Schienen plötzlich in zwei Richtungen auseinandergehen. Ein Gleis führte zurück ins Bergwerk, das andere geradeaus. Er griff nach einer Schaufel am Boden der Lore und schwang sie gerade noch rechtzeitig an der Seite hinaus, um einen Weichenhebel an ihrem Gleis mit einem Knall umzustellen, so daß sie auf die Ausfahrtsschienen sausten. Diese Strecke führte bald in eine andere Höhle und verzweigte sich erneut. Bevor sie noch etwas unternehmen konnten, fegten sie auf dem nach rechts führenden Gleis in einen Tunne l. Short Round drehte besorgt den Kopf. »Nein, Indy, große Fehler. Linke Tunnel.« Aber es war zu spät. Sie konnten nichts anderes tun, als sich festhalten, während die Lore in die Dunkelheit der hallenden Höhlen raste. Es ging lange Zeit hinab und nur kurz hinauf. Indiana hatte das Gefühl, daß sie noch tiefer in den Berg eindrangen. Wenn er in den weiten Kurven den Kopf über den Rand hinausstreckte, pfiff ihm der Wind ins Gesicht. Das Fahrzeug wurde noch schneller. Willie kauerte am Boden und versuchte tief Luft zu holen. Short Round hatte Berg- und Talbahnen in mehreren Filmen gesehen, aber hinter dieser hier blieben alle weit zurück, außer vielleicht die Bahn am Ende von ›King Kong‹, wenn der Riesenaffe sie entgleisen ließ. Short Round hatte aber keine Angst vor Affen, egal, wie groß sie waren. Er war ja im Jahr des Affen geboren, und das nahm er nun als Vorzeichen dafür, daß die Fahrt gut enden werde. Im Inneren des Bergwerks organisierte Mola Ram die Verfolgung. Wachen mit Khyberflinten bestiegen zwei Fahrzeuge und machten sich auf den Weg in den Tunnel, wo die Ungläubigen verschwunden waren. Einen dritten Wagen, der ebenfalls die Fahrt antreten wollte. -185-
hielt Mola Ram jedoch auf. Er hatte einen besseren Plan für die Vernichtung der Diebe, einen Plan, der keine weiteren Verluste treuer Wachen im Kampf auf Schienen vorsah. Entschlossen ging er zur großen Nachbarhöhle, wo der Hauptwasserfall in den schwarzen Kristall des unterirdischen Sees stürzte. Indy brachte den Bremshebel, den Willie beim Kampf herunterge rissen hatte, wieder an der Vorderseite des Fahrzeugs an und betätigte ihn mit unterschiedlicher Kraftanwendung, während sie dahinrasten, bemüht, ihre Geschwindigkeit zu mäßigen. Trotzdem nahmen sie die eine oder andere Kurve gerade noch auf zwei Rädern. Indy duckte sich tief, um den Schwerpunkt zu verlagern, damit sie nicht entgleisten. Short Round, der mit Schwierigkeiten rechnete, spähte hinten hinaus. Er hatte sich sein halbes Leben lang als Dieb betätigt, und es war ihm zur zweiten Natur geworden, immer über die Schulter zu schielen, wenn er mit der Beute floh. Willie saß tief unten. Sie konnte die Querbalken der Tunnelabstützung über ihnen vorbeirasen sehen. Mit jeder Kurve schienen sie tiefer auf die Lore herabzusinken, denn der Tunnel wurde niedriger. Sie wollte das gerade erwähnen, als schlagartig das Fahrzeug hinabsauste. Willie empfand es als senkrechten Sturz, obwohl es vermutlich nur ein steiles Gefä lle war. Sie wurden alle drei nach hinten geworfen. Willies Magen blieb irgendwo oben zurück. Der Wagen stellte sich wieder waagrecht. Indy kehrte an den Bremshebel zurück, Shorty auf seinen Posten als Ausguck, wo seine Bemühungen bald belohnt wurden. Ein Schuß krachte. Short Round sah weit hinter ihnen den ersten Verfolgerwagen durch eine Kurve rasen. Auf der Geraden begannen die Thugs zu feuern. -186-
Ununterbrochen heulten Querschläger von der Rückwand ihrer Lore. Sie duckten sich bis zur nächsten Kurve tief hinab. Plötzlich schrie Indy aus voller Lunge, um das Rattern der Räder zu übertönen: »Shorty, komm her und übernimm die Bremse!« »Alles klar verstanden, Indy!« Shorty eilte nach vorn, um den heftig vibrierenden Hebel von Indy zu übernehmen. Indiana schob sich nach hinten. »Langsam in den Kurven«, schrie er, »sonst fliegen wir vom Gleis!« »Alles klar ve rstanden, Indy!« rief der Junge. Er umklammerte den Hebel mit aller Kraft und grinste über das ganze Gesicht. Während der Mut sie wieder zu verlassen begann, begriff Willie, daß diese Katastrophe den Vorstellungen entsprach, die Short Round sich von einem lohnenden Zeitvertreib machte. In Panik und Zorn schrie sie zu ihm hinauf: »Hoffentlich kannst du das besser als Autofahren!« Sein Grinsen wurde noch wilder. »Wir Sie können hier aussteigen lassen, Lady!« Noch war sie nicht seine Mutter. Willie schloß die Augen und zählte bis zehn. Bei allen Göttern, aus diesem Kind wurde ein zweiter Indiana Jones. Mola Ram schickte einen Trupp zum Wasserfall, genauer, zu der riesigen Zisterne, die den Überlauf vom Wasserfall aufnahm. Wie ein riesiger, runder Eisenkessel stand sie auf Holz- und Felsstützen, die sie an ihrem Platz festhielten. Mola Ram ließ von seinen Leuten Vorschlaghämmer holen. Der erste Verfolgerwagen holte gegenüber den Flüchtlingen auf. Indy, Willie und Shorty mußten immer wieder in die Lore hinabtauche n, als das Abfeuern von Flintenkugeln die Wände des Tunnels um sie herum erhellte. In Abständen schoß Short Round hoch, um an einer Kurve zu bremsen, während Indy bei dieser Gelegenheit seine Schußwaffe abfeuerte. Da er aber nur sechs Patronen hatte, mußte er mit seiner Munition sparsam umgehen. -187-
Er traf sogar einen der Schützen, der aber sofort durch einen anderen ersetzt wurde. Sie schienen die Verfolger nicht abschütteln zu können, ja, sie kamen sogar näher heran. An der nächsten scharfen Kurve zerrte Sho rt Round mit aller Macht am Bremshebel. Der Bremsbelag an der Metallfelge kreischte, so daß Funken wie ein Kometenschweif sprühten. Die Decke wurde ebenfalls wieder niedriger. Die Stützbalken rasten so dicht über ihren Köpfen dahin, daß Indy kaum über die Oberkante der Lore blicken konnte, um zu schießen. Seine letzte Kugel bohrte sich in einen Balken. Einer der Thugs richtete sich auf, um zu zielen, und starb als Held für seine Sache. Sein Kopf krachte an einen heranrasenden Balken. Der Mann flog in zwei verschiedenen Richtungen aus dem Fahrzeug. Der Verfolgerwagen war dadurch weniger schwer beladen und beschleunigte. Indy duckte sich tief. Seine und Willies Knie berührten sich. »Alles runter«, schrie er. »Runter. Sie kommen.« Mola Rams Männer hieben mit ihren schweren Hämmern rhythmisch auf die Keile unter der riesigen, wassergefüllten Zisterne ein. Ein Gewicht von mehreren Tonnen drückte herab und hielt die Stützen an ihrem Platz. Mola Ram machte sich aber keine Sorgen. Mit jedem Schlag würden sie um einen Millimeter nachgeben, bis sie endlich ganz herausfielen. Dann würde die Zisterne umkippen und auslaufen. »Schneller«, befahl er. Der Takt der Hammerschläge beschleunigte sich. Indy brüllte Short Round an. »Laß die Bremse!« »Was!« schrie der Junge. Sie rasten jetzt schon mit überhöhtem Tempo dahin wie ein Eisenbahnzug in den Stummfilmen. »Laß los! Unsere einzige Chance ist, schneller zu sein als sie!« »Und die Kurven?« fragte Willie. -188-
»Zum Teufel mit den Kurven.« Er zog Short Rounds Hände von der Bremse. Als sie durch die Kurve rasten, hoben sie ab und fielen endlich mit donnerndem Krachen auf die Schienen zurück. »Wir fahren zu schnell!« schrie Willie. Die Verfolger im Fahrzeug hinter ihnen wurden hin- und hergeworfen. Ihre Lore kippte beinahe um. Indys Wage n ging auf zwei Rädern in die nächste Kurve. »Auf die andere Seite!« Sie preßten sich zu dritt tief geduckt an die Innenwand, während das Fahrzeug weiterbrauste. Der Verfolgerwagen dahinter nahm die Kurve ebenfalls mit voller Geschwindigkeit. Die Insassen waren jedoch schwerer große Männer, schwere Waffen. Die Lore entgleiste. Der Wagen flog seitwärts vom Gleis. Die Köpfe der Insassen ragten wie ängstliche Nestlinge über den Rand. Lange dauerte die Ängstlichkeit nicht. Sie krachten mit einer Explosion an die Tunnelwand, daß die ganze Höhle erschüttert wurde. Indys Lore schoß davon. Der zweite Verfolgerwagen wurde von einem Hagel an Wrackteilen überschüttet. Der Fahrer zog lieber die Bremse, um das Schicksal des ersten Fahrzeugs nicht teilen zu müssen. Indy grinste jungenhaft. »Einer abgeschossen, bleibt uns noch einer.« Mola Rams Leute hämmerten weiter auf die Stützen unter der mächtigen Zisterne ein. Schließlich begann einer der Querblöcke zu splittern und zerbrach unter den nachfolgenden Hieben. Hoch über den Arbeitern begann sich die Zisterne ein wenig zu neigen. Wasser schwappte über den Rand und begann im Inneren zu wogen, als der riesige Tank in die neue, ein wenig schräge Lage kippte. Indiana hob einen Schwellenbalken vom Lorenboden. Er -189-
lehnte ihn an die Rückwand und kippte ihn nach der nächsten Gewehrsalve über die Kante hinaus auf die Schienen. Er polterte sekundenlang über das Gleis, lang genug, daß die Verfolger ihn erkennen und aufschreien konnten, bevor sie dagegenprallten. Es machte ihnen aber kaum etwas aus. Die Schwelle wurde nur ein Stück mitgerissen, überschlug sich und prallte zur Seite wie ein großes, nutzloses Streichholz. Die Thugs jubelten. Indy preßte die Lippen zusammen. »Sonst irgendwelche Vorschläge?« sagte Willie dumpf. Sie hatte eigentlich beschlossen, nicht mehr damit zu rechnen, daß sie hier lebendig herauskommen würde. Vielleicht erlebte sie doch noch eine freudige Überraschung. Sie selbst schien ohnehin nicht viel dazu beitragen zu können. »Ja. Abkürzung«, erwiderte Indy. Er hieb erneut auf einen Weichenhebel am Gleis ein. Der Wagen fetzte in einen Nebentunnel. Augenblicke später schoß das Verfolgerfahrzeug in eine andere Richtung davon und verschwand. »Böse sein fort«, stellte Short Round ein wenig argwöhnisch fest. »Wohin sie gehen?« So einfach konnte das wohl nicht sein. Das war es nicht. Der Verfolgerwagen tauchte aus einem anderen Tunnel schlagartig wieder auf - direkt neben ihnen auf einem Nachbargleis. Einer der Thugs feuerte aus nächster Nähe auf sie, verfehlte aber infolge der heftigen Schwankungen. Indy packte den Flintenlauf und riß dem Gegner das Gewehr aus der Hand. Er ließ es herumsausen und traf einen der Thugs am Kiefer. Ein dritter packte Shorty am Arm. »Indy, Hilfe!« Indy ergriff den anderen Arm. Die beiden Männer begannen ein Tauziehen um den Jungen, während Willie auf die anderen mit der Khyberflinte einhieb. Indy gewann das Tauziehen. Shorty stürzte in ihre Lore zurück und fiel auf den Boden. Im selben Augenblick sprang einer der Verfolger herüber. Er schlang von hinten den Arm um Indy. -190-
Indiana fuhr herum, beugte sich nach hinten und drückte den Thug an die vorbeirasende Felswand. Der Mann war davon so betäubt, daß Indy den Griff lösen konnte. Er wirbelte geduckt herum und ließ die Fäuste fliegen, als er hochschne llte. Der Gegner kippte über die Rückwand hinaus. Indy drehte sich, um Willie beizustehen, die mit dem Gewehrkolben eben einen weiteren Thug niedergeschlagen hatte. Bevor er jedoch einen Schritt auf sie zutun konnte, kletterte der Thug, den er eben hinausgekippt hatte, über die Rückwand wieder herein und schlug Indy einen Felsbrocken auf den Kopf. Indiana ging zu Boden. Willie war sofort zur Stelle. Sie zielte und traf den Mann mit einem rechten Haken im Gesicht. Er flog hinaus und blieb auf dem Gleis liege n. Schließlich hatte sie die Zeit in Shanghai nicht hinter sich gebracht, ohne irgend etwas zu lernen. Indy stand benommen auf. »Mein Fehler.« Er lächelte. Willie gab ihm seinen Hut. In der Lore daneben griffen die Verfolger nach ihren Gewehren. Sie waren während der letzten Auseinandersetzung gut fünf Meter zurückgefallen. »Ducken!« schrie Indy. Er sah etwas Nützliches. Er packte eine Schaufel und hieb damit wuchtig auf den Hebel einer Kippvorrichtung an der Tunneldecke, dann warf er sich zu Boden. Eine Lawine von Gestein, Erde und Kies ergoß sich über die beiden Fahrzeuge, wobei der Verfolgerwagen den größten Anteil abbekam. Ein Thug wurde zermalmt, dann entgleiste die Lore durch den Schutt auf den Schienen. Sie überschlug sich in einer Staubwolke, während Indys Fahrzeug mit seinen verdreckten, durchgerüttelten Insassen weiterraste. Die Lore brauste in einen Tunnel voller Stalaktiten hinein. -191-
Indy hob den Kopf, hatte aber kaum noch Zeit für den Schrei: »Ducken!« Das Fahrzeug schoß durch die Felsausläufer, riß Spitzen ab, die zu tief herabhingen, und jagte mit nur geringem Geschwindigkeitsverlust wieder hinaus. Diesmal hob Willie den Kopf. Wieder blieb ihr nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen. Zehn Meter vor ihnen entdeckte sie eine Lücke im Gleis. Sie erreichten die Schienenunterbrechung mit einem Tempo von fast hundert Stundenkilometern. Das Gute bei der Sache war, daß dahinter der Boden um eineinhalb Meter absank. Der Wagen flog über die Kante, stürzte hinab, landete mit einem ungeheuren Krachen auf dem unteren Schienenteil... und rollte weiter. Willie kicherte leise. Anything goes. Und immer noch schlugen die mächtigen Schmiedehämmer zu. Zwei der Felsstützen gaben schon nach, dann eine dritte. Geradezu wie in Zeitlupe begann sich das riesige Gefäß zur Seite zu neigen. Dann erschallten die Rufe der Aufseher, die sich schleunigst in Sicherheit brachten. Auf einem etwas entfernten, erhöhten Felsvorsprung stand Mola Ram und überblickte die Ereignisse. Der Lärm war ohrenbetäubend - wie wenn die Erde selbst sich aus den Angeln heben wollte -, als das mächtige Becken der Zisterne zu rollen begann, sich überschlug und schließlich berstend auf der Seite liegenblieb. Mit unheimlichem Grollen stürzten Unmassen von Wasser in den Höhlenraum und ergossen sich in einer stetig anwachsenden Riesenwelle in die Tunnels des Bergwerks. Die neue Schienenstrecke verlief geradeaus, der Tunnel war hoch. -192-
Indy lächelte mit einer Lässigkeit, die Willie gleichzeitig liebte und haßte. »Bremse, Shorty, bremse!« rief er. Short Round bedauerte ein wenig, daß die Fahrt schon zu Ende sein sollte, hielt Wiederholungen aber für möglich. Er zog die Bremse lässig an. Sie funktionierte nicht. Er zerrte fester. Und hatte den Hebel in der Hand. »O je. Große Fehler«, sagte er, die Augen weit aufgerissen. Willie nickte nur. »Lag ja nahe.« Es lag auch nahe, daß sie gerade auf ein langes, sanftes Gefalle gerieten, wo es nur noch nach unten zu gehen schien. Natürlich wurden sie noch schneller. Indy beugte sich vorne hinaus, um unter die Lore zu blicken. Die ganze Bremsvorrichtung hing lose herab. Indiana zog sich wieder hinein. Die drei starrten einander an. Jeder wußte, was zu geschehen hatte. Sie hatten gemeinsam viel durchgemacht. Hier blieb ein halber Augenblick, sich daran zu erinnern. Willie dachte: Indiana Jones, du bist einer, auf den man sich verlassen kann. Hätte ich dich nur anderswo kennengelernt. Indy dachte: Hoffentlich bleibt ihr beiden zusammen, denn eine große Hilfe bin ich für keinen von euch gewesen. Shorty dache: Wenn diese Lady der letzte Schatz ist, den Tschao-pao entdeckt hat, bevor er mich in diesem Leben verläßt, muß sie ein sehr wertvoller Schatz sein. Ich behalte sie lieber. Willie und Shorty drückten Indys Hände, dann kletterte er über die Vorderwand hinaus. Mit rückwärts gewandtem Gesicht ließ er sich hinunter. Willie und Short Round hielten ihn an Armen und Jacke fest, damit er einen besseren Halt hatte. Als sein Gesäß nur noch Zentimeter -193-
vom Boden entfernt war, schwang er ein Bein unter den Wagen und versuchte nach dem Bremsbelag zu treten. Der Boden war nur knapp unter ihm. Seine Füße kippten kurz herunter, er polterte dahin, stets in Gefahr, unter die Eisenräder gerissen zu werden, konnte sich aber festhalten. Es gelang ihm, ein Bein am Chassis einzustemmen, mit dem anderen fand er den Bremsbelag. Langsam und mit wachsender Kraft begann er Druck mit dem Fuß auszuüben. Der Belag preßte sich an die rotierende Scheibe. »Wir fahren zu schnell«, stellte Willie mit einem irren Grinsen fest. Sie schwitzte. Ihre Hände verkrampften sich, hielten Indy aber mit aller Macht fest. Dann hob sie den Kopf. Ein letztes Mal bot sich Anlaß. aufzulachen. Der Tunnel hörte auf. Das Gleis endete an einer nicht sehr weit entfernten Felswand. Shorty sah es ebenfalls. »Es sein aus!« schrie er. So hatte die Fahrt ganz und gar nicht zu Ende gehen sollen. Indiana blickte hinter sich. Kein Zweifel, sie rasten mit Höchstgeschwindigkeit einer Wand von der Größe eines Berge entgegen, und das erste, was dort aufprallte, würde Indiana Jones sein. Er trat mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, auf den Bremsbelag. Der Belag kreischte auf dem mißhandelten Eisen Funken schossen wie Feuerwerksraketen empor. Indianas' Schuhsohle wurde immer heißer, aber er verschloß sein Denken vor dem Schmerz und konzentrierte sich allein auf die Kraft, die sein Bein ausüben konnte, vergeudete keine Energie für Gedanken an die Felswand. Die Wand rückte näher. Aber nicht mehr ganz so schnell. Indy stöhnte vor Anstrengung; der Bremsbelag begann zu rauchen. Die Wand -194-
schob sich heran. Indy stemmte sich mit dem ganzen Körper gegen den Bremsbelag. Der Wagen wurde langsamer. Indy drückte dagegen. Die Lore wurde langsamer, bis sie die letzten Meter ruhig hinabrollte, sanft zum Stillstand kam und nur noch Indianas Rücken an die Wand drückte. Er stand auf, hinkte einige Schritte davon. Sein Stiefel rauchte. »Wasser«, krächzte er. Die anderen stiegen aus, standen zitternd da und lächelten unsicher. Sie konnten sehen, daß der Tunnel nach links weiterführte, diesmal ohne Schienen. Sie gingen zu Fuß weiter. Keiner sprach. Sie hatten alle noch nicht verdaut, was eben geschehen war. Bald erhob sich ein Wind und wurde rasch stärker. Dann hallte von hinten ein seltsam grollendes Geräusch durch den Tunnel. Die Wände schienen zu beben. Der Eindruck war... besorgniserregend. Sie tauschten unsichere Blicke aus, gingen achselzuckend mit ein wenig schnelleren Schritten weiter. Vor allem der Wind beunruhigte Indy. So tief unter der Erde durfte es derart starken Wind eigentlich nicht geben. Der Lärm wurde lauter. Sie blickten nach hinten. Nichts. »Indy?« fragte Willie. Er war seiner Sache nicht sicher, griff aber nach Willies Hand. Sie begannen zu laufen. Das Grollen nahm an Stärke zu. Von der Decke rieselte Kies. Der Boden schien zu schwanken. Short Round fühlte sich an einen Vulkanfilm erinnert, an den er jetzt weniger gern dachte. Er fragte sich, ob der Herr des Donners aus irgendeinem Grunde mißgelaunt sein mochte. -195-
Sie rannten. Rannten, so schnell sie konnten, obwohl sie nicht wußten, warum. Noch nicht. Der Lärm war ohrenbetäubend geworden. Willie schaute sich wieder um. Plötzlich verlangsamte sie ihren Lauf und blieb stehen. Wie angewurzelt, mitten im Schritt, gelähmt von Unglauben und Furcht: Der Untergang. Heran nahte eine riesige Wand aus Wasser, die weit hinter ihnen in die Gegenböschung eines Seitentunnels krachte. Willie flüsterte: »O Scheiße!« Short Round und Indiana blieben stehen, um festzustellen, was Willie aufhielt. Was sie sahen, war eine gigantische Flutwelle, die sich mit ungeheurer Geschwindigkeit näherte und sie bald verschlingen mußte. Sie standen einen Augenblick nur da und rissen die Augen auf. Dann packte Indy das Mädchen, und sie hetzten los. Die Flutwelle peitschte wild vorwärts und dröhnte mit jeder Sekunde näher heran. An der schäumenden Vorderseite trug sie den Schutt aus hundert Tunnels vor sich her: Felsblöcke, Äste, Tiere. Sie würden es nicht schaffen. Oder vielleicht im allerletzten Augenblick doch, in dem kleinen Seitentunnel vor ihnen... »Da!« schrie Indy, um den Lärm zu übertönen. »Springt!« Sie sprangen zum Loch. Short Round hechtete als erster hinein, als beende er einen Siegeslauf. Indy stieß Willie hindurch und folgte ihr - in eben dem Augenblick, als die Flutwelle in den Hauptschacht hineinschoß. Dieser schmale Nebentunnel fiel steil ab. Sie rutschten hinunter, übergossen von der kleinen Nebenströmung, die von der Wasserwelle hineingeschleudert worden war. Sie kugelten die Röhre hinab zu einem größeren Tunnel. Shorty schien begeistert zu sein. -196-
»Das prima. Wartet, ich noch einmal machen.« Indy packte ihn aber am Kragen, bevor er einen Schritt tun konnte, und drehte ihn in die andere Richtung. Wo haben die Kinder das nur her? dachte er. Das Brausen der Flutwelle verklang, während sie Luft schöpften. Willie wagte daran zu glauben, daß sie tatsächlich Licht sehen konnte, ja, am Ende des Tunnels. Sie wollte gerade davon sprechen, als es hinter ihnen wie eine neue Explosion krachte. Sie drehten sich um und sahen einen anderen Arm derselben Welle in ihrem Tunnel mit erschreckender Gewalt herandonnern. Sie schrien gleichzeitig auf und begannen mit aller Kraft in die Richtung des Tageslichts zu laufen. Die hochragende Wasserwand jagte unbarmherzig hinter ihnen her. Sie rasten zum Ende des Tunnels. Die ersten Wasserzungen leckten nach ihnen. Sie stürmten hinaus ins Sonnenlicht... Und standen schwankend am Abgrund. Der Tunnel endete mitten an einer Steilklippe. Sie starrten auf einen senkrechten Absturz von hundert Metern in eine Schlucht. Mit rudernden Armen, um ihr Gleichgewicht zu halten, standen sie eine Ewigkeit dort. Dann hob Indy das Mädchen auf einen schmalen Sims neben der Tunnelöffnung und stieß Short Round hinterher. Er selbst sprang auf die andere Seite - gerade in der Sekunde, als die Flutwelle zwischen ihnen aus dem Felsloch brach. Voran der Schutt. Hinaus flogen Schwellenbalken und Fässer und alles andere, was das Wasser mitgerissen hatte. Sogar eine Lore schoß vorbei. Im brausenden Wasser wurde alles durcheinandergewirbelt. Es war eine riesige Fontäne, die aus diesem und aus vielen anderen Tunnels in der Felswand sprühte. Short Round und Willie hielten auf ihren schmalen Felsbändern mit Mühe das Gleichgewicht, Indy hielt sich auf seinem, auf der anderen Seite des sprudelnden Wasserspeiers. -197-
Willie blickte kurz hinunter, wurde aber vom Schwindelgefühl beinahe hinuntergerissen. Wasser donnerte in die Schlucht hinab. Krokodile schwammen im flachen Flußbett dort unten, zornig, da die in ihrem Nachmittagsschlaf gestört wurden. Indy blickte sich um. Die Schlucht hatte eine Breite von etwa hundert Metern. Auf der anderen Seite ragten schroffe Felsen empor zu einem ebenen Hochplateau. Soweit Indy das von seinem Platz aus erkennen konnte, schien dort der Heimweg zu verlaufen. Dann sah er eine Brücke. Es war eine dünne Seilbrücke, die zwischen den beiden Plateaus hin- und herschwang. Auf dieser Seite begann sie ungefähr sieben Meter oberhalb und noch einmal sieben Meter seitwärts der Stelle, wo Willie und Shorty sich an die Felsen klammerten. Indiana schrie zu ihnen über die dröhnende Fontäne hinüber. »Willie, zur Brücke!« Er zeigte nach oben. Sie schaute hinauf. Wandte den Blick ab. Sollte das denn nie ein Ende nehmen? »Nichts dabei«, munterte Short Round sie auf. »Mir folgen.« Er schob sich auf dem schmalen Felsband zu dem Gesteinsvorsprung unmittelbar unter der Brücke. Willie folgte ihm widerstrebend. Als sie unter der Brücke standen, kletterten sie an der Felswand hinauf. Felsklettern ist eine Betätigung, bei der Zwölfjährige sich bekanntermaßen hervortun. Das zeigte sich hier ganz deutlich. Short Round kletterte wie eine Bergziege, fand Vertiefungen und Griffe, die all diese Jahrhunderte hindurch nur auf ihn gewartet zu haben schienen. Willie konnte es ihm fast in jeder Beziehung gleichtun. Immerhin war sie Tänzerin. Doch es ging überdies um ihr Leben. Und sie wäre nicht so weit gekommen, wie sie es geschafft hatte, ohne leichtfüßig zu sein. Aus diesen Gründen blieb sie nicht allzuweit hinter Shorty zurück. -198-
Indiana hatte ein wenig größere Schwierigkeiten. Zum einen war sein Fuß von der Abbremsung der rasenden Bergwerkslore noch stark lädiert, zum anderen mußte er die Felswand hinaufklettern und dabei mehrere Wasserfontänen zwischen sich und der Brücke umgehen. Der Fels war hier naß, glitschig und überaus gefährlich. Er hielt sich am kargen Grasbewuchs fest und schob sich Zentimeter um Zentimeter im Krebsgang vorwärts. Da der eine Fuß gefühllos blieb, war sein Unternehmen entschieden erschwert. Willie und Short Round zogen sich am Ende der Brücke hinauf Hinter ihnen in der Klippe führte ein dunkler Tunnel in das Bergwerk zurück. Vor ihnen war die Seilbrücke eher ein Hohn als eine Hoffnung. Sie überspannte die Schlucht wie die letzten Fäden eines Spinnengewebes im Altweibersommer. Sie war mindestens hundert Jahre alt, und sie war schon damals nicht von Armeepionieren gebaut worden. Eine Brücke, die von Hunderten wurmzernagter, angefaulter Holzbrettchen zusammengehalten wurde. Dazwischen gab es Hunderte leerer Stellen, wo einmal Bretter gewesen waren. Entlang diesem Laufgang verbanden senkrechte Stricke den Boden mit zwei dünnen oberen Seilen, die als zerbrechlicher Handlauf über die Schlucht führten. Willie zauderte. Short Round dagegen hatte, wie man sich erinnern wird, viel Erfahrung bei Hetzjagden über den Dächern von Shanghai, ganz zu schweigen vom Hinüberhanteln an Wäscheleinen zwischen Dachfenstern, um Verfolgern zu entgehen. Der Anblick, der sich ihnen bot, erschreckte ihn deshalb weniger. Er trat vorsichtig auf die Brücke hinaus. Sie hielt. Er drehte sich um und lächelte Willie an. »Geht ganz leicht! Kinderspiel!« -199-
Plötzlich brach das Brett unter ihm. Eigentlich zerfiel es sogar. Hätte Willie nicht mit einer solchen Möglichkeit gerechnet, wäre der Junge in den Abgrund gestürzt. Sie packte ihn am Kragen und riß ihn gerade noch zurück. Er sah ein wenig blaß aus und war nicht mehr ganz so selbstsicher. Trotzdem blieb kein anderer Weg als der nach vorn. Wieder trat er auf den schwankenden Boden und konzentrierte sich sehr stark darauf, mehr Yin als Yang zu sein. Diesmal hielten die Holzbrettchen. Nachdem Willie die Alternativen erwogen hatte, folgte sie ihm. Sie versuchte sich einzubilden, dies sei eine Solovorstellung für einen großen Theaterproduzenten. Es durfte keine Fehler geben, keinen neuerlichen Anfang. Vorsichtig, Schritt für Schritt, schoben sie sich über dem Steg vorwärts und ließen behutsam fehlende oder offen-verfaulte Bretter aus. Sie mußten sich an den Handgelenken festhalten, weil die Brücke im Wind nicht nur stark hin- und herschwankte, sondern auch unter ihren Schritten auf- und abwippte. Short Round flehte Feng-p'o, Frau Wind, an, sich an einen anderen Ort zu verfügen. Es war der längste und zugleich mühsamste Weg, den Willie je gegangen war. Hinter ihnen zog Indy sich endlich von unterhalb der Brücke hinauf. Fast schon in Freiheit. Er blieb nur kurze Zeit stehen, um Atem zu holen. Willie und Short Round waren, wie er sehen konnte, auf halbem Weg nach drüben. Bei jedem Schritt schwankten sie. Vielleicht sollte er hier warten, bis sie drüben waren, damit sein zusätzliches Gewic ht das Schaukeln nicht noch verstärkte. Hinter sich hörte er Schritte. Er huschte neben die Tunnelöffnung und nahm die Peitsche vom Gürtel. Mit einem Mal stürmten zwei Thugs heraus. Indy ließ die Peitsche knallen und erfaßte den ersten Thug um -200-
den Hals. Der Mann stürzte zu Boden und riß den zweiten mit. Als der erste aufzustehen versuchte, traf Indy ihn mit einem Tritt an den Kopf. Der zweite Mann sprang auf und schwang sein Schwert. Indy duckte sich. Beim Hochschnellen hieb er die Faust in den Bauch des Mannes. Der Thug krümmte sich vor Schmerz zusammen, während Indy nach dem Schwert des Bewußtlosen hechtete. Indiana mußte sich im nächsten Augenblick zur Seite rollen, um der herabstoßenden Klinge des Thug zu entgehen, der sich erholt hatte. Er sprang auf. Die beiden Männer standen einander duellbereit gegenüber. Indy begriff plötzlich, daß er diese Art Schwert überhaupt nicht kannte. Er wog die flache, gebogene Klinge in der Hand, hielt sie waagrecht und senkrecht, drehte sie herum, um sich mit ihr vertraut zu machen, als auch schon der wütende Thug einen Schrei ausstieß und attackierte. Indy kam schnell zu dem Schluß, daß Brüllen hier wohl dazugehörte, ließ einen eigenen lautstarken, unartikulierten Schrei hören und hob das Krummschwert, um den ersten Hieb des Angreifers abzuwehren. Das Duell war im Gange. Bei jedem klirrenden Zusammenprall der Klingen stoben Funken, während der ThugKämpfer zustieß und fintierte und immer wieder zustieß. Indy reagierte eher mit Abwehr und Fuchteln und schließlich mit Abwehr und Anspringen. Er hechtete durch die Luft und packte seinen Gegner um die Hüften. Sie rollten eng umschlungen auf dem Felsenabhang umher. Indy war oben, als sie in einem Gestrüpp zum Stillstand kamen. Er zog dem Gegner eins mit dem eisernen Schwertknauf über, und der Kampf war vorbei. Er stand auf und lief mit dem Säbel in der Hand zur Brücke zurück. Willie und Shorty waren fast schon auf der anderen Seite angekommen. Indiana trat hinaus auf die zerbrechliche -201-
Konstruktion. Er ging schnell und hielt sich an den Seitenseilen fest. Jeweils nach einigen Schritten brach sein Stiefel durch, und er mußte sich an den Spannseilen abfangen. Aus diesem Grund blickte er fast die ganze Zeit nach unten, um die brüchigen Holzplatten auszulassen. Als er sich der Brückenmitte näherte, hörte er vor sich Geschrei. Er hob den Kopf und sah am vorderen Ende der Brücke Tempelwachen auftauchen. Willie und Short Round wurden sofort, als sie festen Boden betraten, gepackt. Sie wehrten sich erfolglos. Es waren zu viele Gegner. Indy blieb unentschlossen stehen. Plötzlich schrie Willie: »Indy, hinter dir!« Indy drehte sich um. Auch aus dem Tunnel hinter ihm stürmten Wachen. Er drehte sich nach vorn. Zwei von den Kerlen, die Willie und Shorty gefangengenommen hatten, traten vor ihm auf die Brücke hinaus. Indiana stand hilflos in der Mitte der schwankenden Brücke. Von beiden Seiten näherten sich Wachen. Es gab nichts als die Felsschlucht voller Krokodile unter ihm und den strahlenden Himmel über ihm. Nun, beinahe aussichtslos. Dies war eine echte Aufgabe für Indiana Jones. Der Wind heulte auf wie ein böses Omen. Mola Kam, der Hohepriester, tauchte am anderen Brückenende auf. Er stand da seinen Priesterroben und zeigte das Lächeln eines Mannes, der alle Trümpfe in der Hand hält. Neben ihm wurden Willie und Short Round von Wachen festgehalten. Indy taumelte im böigen Wind. Er hielt sich an den Seilen fest und schrie Ram zu: »Laßt meine Freunde frei!« Mola Ram brüllte seine Männer in der Hindisprache an. Sie gingen von beiden Seiten über die Brücke auf ihn zu. »Das ist weit genug!« rief Indiana. -202-
»Sie sind nicht in einer Lage, die es Ihnen gestatten würde Befehle zu erteilen, Doktor Jones«, erklärte der Hohepriester. Indy zeigte auf seine Schultertasche. »Wenn Sie die Steine wollen, lassen Sie sie frei und rufen Sie Ihre Leute zurück! Oder ich lasse die Steine fallen.« »Tun Sie das, Doktor Jones!« erwiderte Mola Ram. »Man wird sie leicht finden. Aber Sie nicht!« Er rief seinen Männern ein Wort zu: »Yanna!« und ließ die Hand hinabsausen. Sie traten auf der Brücke vor und näherten sich dem Wahnsinnigen in der Mitte. Warum kann nichts einfach sein? fragte sich Indy. Ohne weitere Überlegung schwang er das Schwert, das er mitgenommen hatte, und zerschnitt eines der unteren Spannseile halb. Die Brücke schwankte ziemlich. Das teilweise zertrennte Seil zerfranste unter der Spannung zunehmend. Die Wachen blieben stehen. Mola Ram nickte anerkennend. »Eindrucksvoll, Doktor Jones«, beglückwünschte er seinen Gegner. »Aber ich glaube Ihnen nicht, daß Sie sich selbst das Leben nehmen wollen.« Er machte wieder eine Handbewegung. Seine Männer traten zwar vor, aber diesmal zögernder, und gingen von beiden Seiten auf Indy zu. Indy ließ die Klinge wieder hinuntersausen, diesmal auf das gegenüberliegende Spannseil. Auch dieses wurde halb zertrenn und begann sich langsam aufzulösen. Die Brücke schwankte nun noch heftiger. Die Wachen blieben stehen und wurden wie Indy vom Wind hin- und hergeschaukelt. Mola Ram verging das Lächeln. Er stieß Willie und Short Round auf die Brücke hinaus und folgte ihnen, wobei er ein Dolch in der Hand hielt und fest an Willies Rücken drückte. »Ihre Freunde sterben mit Ihnen!« brüllte er. Indiana blickte auf die Wachen vor und hinter sich. Er blickte -203-
auf Willie und Short Round, die drei Meter weit auf der Brücke standen, Mola Ram mit entschlossener Miene hinter ihnen. Indy blickte auf die Landschaft, schaute zum Himmel hinauf. Und er schrie mit einer Stimme, die keinen Zweifel aufkommen lassen sollte, allen zu: »Dann werden wir wohl alle einen tie fen Sturz tun!« Indys Augen trafen die von Short Round. Vieles wurde bei dieser Begegnung angerührt: Erinnerungen, Bedauern, Versprechungen, Dank und eine ganz deutliche Botschaft: Das ist keineswegs ein Spaß. Willie sah es auch. Sie blickte wehmütig auf Indy. Es hätte anders kommen können, Freund. Sie blickte angstvoll auf Short Round... und bemerkte, daß er heimlich seinen Fuß um ein lockeres Seil wickelte. Halb gelähmt, aber auch erregt, tat Willie es ihm insgeheim nach und schlang auch einen Arm um eines der Seile. Mola Roms priesterliche Wut kannte keine Grenzen. »Gib mir die Steine!« »Mola Ram« rief Indiana, »Sie werden Kali begegnen - in der Hölle!« Er ließ trotzig das Schwert hinabsausen. Es pfiff durch die Luft und durchschnitt an einer Seite der Brücke das obere und untere Spannseil. Zwei Wachen stürzten sofort hinunter und kreischten, bis sie den Tod fanden. Die anderen flohen in Panik. Freilich nicht genug, denn Indy hieb sein Schwert auf der anderen Seite und teilte die Brücke in zwei Hälften. Die beiden Hälften trennten sich, schienen einen langen, schier endlosen Augenblick in der Luft zu schweben... und fielen auseinander. Die Thugs stießen gräßliche Schreie aus, als sie hundert Meter tief ins Tal stürzten. Alle versuchten verzweifelt, sich an den Resten der Seilbrücke festzuklammern, die an die Felswände -204-
zurückfiel. Nur wenigen gelang es. Auf der Seite, wo Indy sich festhielt, stürzten beim ersten Ruck drei Wachen ab. Bis die Brücke schließlich an die Felswand krachte, von der sie nun herabbaumelte, waren nur sechs Menschen übriggeblieben: Mola Ram oben, knapp unter dem Klippenrand, wo die Brücke befestigt war; unter ihm ein Thug; Willie, Short Round; ein zweiter Thug und ganz unten über einem Felsvorsprung im Leeren baumelnd, Indiana. Willie und Shorty klammerten sich an die Seile der nun senkrecht hängenden Brücke. Einige Sekunden lang rührte sich keiner von ihnen, bis sie begriffen hatten, daß sie noch lebten, daß sie sanft schwankend an den Seilen hingen, von denen keiner wußte, ob sie halten oder reißen würden. Dann begann Mola Ram hinaufzuklettern. Er kam bis fast zur Verankerung der Strickleiter, als er nach einer verfaulten Sprosse griff, die sich auflöste und zerbrach. Er rutschte drei Meter hinunter und kam zwischen Willie und Short Round zum Stillstand. Dabei stieß er einen von den Thugs herunter, der an ihnen vorbei in die Tiefe stürzte. Die Leiter schwang hin und her. Niemand bewegte sich. Dann begann Indy zu klettern. Er kletterte vorbei an dem Thug, der Augen und Fäuste fest verschlossen hielt. Er griff nach Mola Rams Beinen und versuchte den Fanatiker in den Tod zu reißen. Ram trat ihm ins Gesicht und kletterte wieder nach oben. Indy folgte ihm und packte wieder seinen Fuß. Er zerrte ruckartig daran. Mola Ram verlor den Halt und stürzte zu Indy hinunter. Sie umklammerten einander und die Stricke, vor Haß beinahe von Sinnen. Dort kämpften sie. Indy rammte den Kopf gegen das Kinn des Hohepriesters. Ram stieß Indy sein Knie in den Körper, bog mit dem Ellenbogen seinen Hals zurück und griff nach seiner Brust. -205-
Von oben kreischte Willie: »O mein Gott! Indy, laß ihn nicht an dein Herz!« Indy war plötzlich von eisigem Schrecken erfüllt. Er blickte hinunter und sah, daß Mola Rams Hand in seinen Brustkorb eindrang - wie er es schon einmal bei dem Menschenopfer gesehen hatte. Er umklammerte Rams Handgelenk und hielt verzweifelt die bohrende Hand fest, aber langsam und teuflisch schoben sich die Finger des Zauberers durch Indys Haut - in seinen Körper. Es war ein eisiges, Übelkeit erregendes Gefühl. Eigentlich nicht sonderlich schmerzhaft, aber eine Verletzung seiner innersten Seele. Es war raubgierig, abscheulich, grauenhaft. Auf seine Stirn traten Schweißtropfen, vor seinen Augen tanzten schillernde Punkte. Er drohte das Bewußtsein zu verlieren und abzustürzen. Sein Selbsterhaltungstrieb war freilich zu stark. Er behielt doch die Nerven und zwang Rams Krallen, von seinem Herzen zu lassen, drängte sie aus seinem Brustkorb hinaus und stieß die Hand zurück gegen Rams Gesicht. Der Hohepriester kletterte wutentbrannt in die Höhe, während Indy sich einen Augenblick lang erholte. Ram stieg aber nur ungefähr einen Meter weit, bis zu seinem letzten Thug. Er schlang den Arm um den Hals des Mannes, riß ihn von den Stricken und stieß ihn hinab auf Indiana, um den Gegner von der baumelnden Leiter zu stürzen. Willie und Shorty, die weiter oben hingen, schrien im Chor: »Indy, Vorsicht!« Der herabstürzende Thug traf ihn genau auf den Schultern. Indy hielt sich verzweifelt fest. Der hilflose Mann prallte ab, überschlug sich und fiel mit einem gräßlichen Schrei in die Tiefe. Mola Ram lachte. Auf der anderen Seite der Schlucht wurde es laut. Indy blickte -206-
hinüber und sah ein Dutzend Wachen aus dem Tunnel hervorstürmen. Ohne Brücke saßen sie dort fest. Mola Rams Stimme tönte über den Abgrund zu seinen Leuten: »Tötet sie! Erschießt sie!« Die Wachen liefen einen Pfad hinauf zu einem kleinen Baumhain auf einem Hochplateau darüber, wo der Übergang gewesen war Sie griffen nach Pfeilen und Bogen und nahmen Aufstellung. Indy zog sich höher und bekam den Saum der Robe von Mola Ram zu fassen. Ringsum begannen Pfeile aufzuschlagen. Einer bohrte sich in die Sprosse, an der er hing, und streifte dabei seine Hand. Er mußte Ram loslassen. Mola Ram benützte die Gelegenheit, noch einige Stufen höher zu steigen. Diesmal waren Willie und Short Round jedoch gewappnet. Sie traten ihm auf die Hände, als er das Brett erreicht wo sie standen. Er rutschte ab und stürzte. Stürzte auf Indy und riß auch ihn los. Die beiden fielen etwa drei Meter hinab, bevor sie eine der untersten Sprossen zu fassen bekamen. Indy hielt sich nur mit den Händen fest. Ram verlor keine Zeit mehr damit, den Ungläubigen zu bekämpfen. Die Priesterpflichten hatten ihn nicht auf solche akrobatischen Anstrengungen vorbereitet; er begann zu ermüden. Er wollte nur noch entkommen. Er stieß sich von Indys Kopf ab und begann erneut mit dem Aufstieg. Shorty gelangte endlich ganz hinauf. Er stemmte sich auf den felsigen Boden, drehte sich um und half Willie herauf. Sie blieben sekundenlang keuchend liegen und preßten sich auf die Erde, während Pfeile sie umschwirrten. Zum Glück waren alle Wachen auf dieser Seite der Schlucht abgestürzt, so daß sie -207-
zumindest vorerst nur die Sorge hatten, den Pfeilen auszuweichen. Das war bei Indiana jedoch anders. Er begann die Strickleiter wieder hinaufzusteigen, als seine verwundete Hand einen Krampf erlitt. Er hakte sich mit einem Ellenbogen über eine Sprosse und schwankte sekundenlang im Wind. Was für eine Art, sich sein Geld zu verdienen. Indy sank der Mut. Auf der anderen Seite der Schlucht konnte er das Dutzend Bogenschützen Pfeilsalven auf ihn abfeuern sehen. Er blickte hinunter. Der aufgeriebene Strick gab wieder eine Holzplatte frei, die sich im Wind wie ein zerbrochener Propeller drehte. Sie brauchte lange, bis sie in Spiralen bis zu Boden der Schlucht hinabgelangte. Entschlossen kletterte Indiana weiter. Mola Kam kam oben an. Er griff mit der Hand über die Randkante hinauf und suchte nach einer Stelle, wo er sich festhalten konnte... und Willie hieb ihm den scharfkantigen Stein, den sie hatte finden können, auf die Finger. Der Hohepriester schrie vor Schmerzen auf und rutscht ohne Halt an den Stricken hinunter, bis ihn erneut Indys breite Gestalt aufhielt. Sie umklammerten sich, boxten und rangen miteinander und drehten sich im Wind. Auf dem Klippenrand über ihnen beobachteten Willie und Short Round, ohne eingreifen zu können, die Kämpfenden. Rechts von sich hörte Short Round ein Geräusch. Er spannte die Muskeln zu Kampf oder Flucht an. »Willie, da!« schrie er. Sie folgte seinem Blick. Pferde galoppierten durch einen engen Paß auf sie zu. Die britische Kavallerie kehrte zurück. »Na los, beeilt euch! Es wird langsam Zeit!« fauchte sie. Captain Blumburtt und die ersten Kavalleristen zügelten ihre Pferde und sprangen ab. Ein Pfeilregen zwang alle, Deckung zu suchen , aber sie richteten sofort ihre langen Gewehre auf die -208-
Thugs gegenüber und erwiderten das Feuer. Willie und Short Round robbten zurück zum Rand des Abgrunds, um zu sehen, ob sie Indy Hilfe leisten konnten. Indy und der Priester befanden sich nun ohne Zweifel in einem Kampf auf Leben und Tod. Sie schienen weder auf die Pfeilsalven noch auf die Gefahr durch die baumelnden Seile zu achten. Jedem ging es nur noch darum, den anderen zu vernichten. Indy schlug mit der Faust zu, Ram versuchte ihm ein Auge auszustoßen. Die Tasche mit den Steinen an Indys Schulter riß ab. Er hielt sie am Riemen fest, aber Mola Ram, dem sein Schatz wieder einfiel, ergriff die Tasche. »Nein, die Steine gehören mir!« zischte der Hohepriester. »Du hast Shiwa verraten«, fauchte ihn Indy an. Nur Zentimeter von Mola Rams Gesicht entfernt, begann er Sankaras Warnung in Hindi zu intonieren, immer wieder: »Shiwe ke wishwas kate ho. Wishwas kate ho. Wishwas kate ho.« Dann geschah etwas ganz Merkwürdiges. Als Indy die magischen Worte wiederholte, begannen die Steine durch die Tasche hindurchzuleuchten. Sie waren von schmerzhafter Helligkeit, sie durchsengten den Beutel und die Tasche. Sie begannen hinabzufallen. Verzweifelt griff Mola Ram nach ihnen. Indy sang weiter: »Wischnu kate ho. Wishwas kate ho.« Ram fing einen der Steine auf, aber er glühte nun unglaublich heiß und verbrannte ihm die Hand. Er ließ ihn fallen und öffnete auch die andere Hand. Indy erhaschte den strahlenden Stein mitten in der Luft, als Ram ihn freigab. Aber in Indianas Hand fühlte er sich kühl an. Kurz schien die Zeit stillzustehen, als ihre Blicke sich noch einmal begegneten. Indiana hatte den Eindruck, als sei Mola Ram eben aus einem Alptraum erwacht. Obwohl es ein -209-
Alptraum war, an den Indy sich nur undeutlich entsann, würden seine Bilder ihn für immer heimsuchen. Er verspürte eine Aufwallung des Mitgefühls für Mola Ram, der am Rand des Bewußtseins in beiden Welten stand, ohne Zukunft, die Erinnerungen an seine Vergangenheit durchtränkt von Grauen. Der Hohepriester kippte nach rückwärts. Seine Hand war schwer verbrannt. Seine Füße durchbrachen die zersplitternde Sprosse, auf der er balanciert hatte. Er überschlug sich und schwebte in seinen Gewändern hinab wie ein entfliehender Flugdrachen, bis er endlich in den schroffen Felsen am Boden zerschellte. Die Krokodile zerfleischten seinen leblosen Körper rasch. Ihr Hunger wußte nichts von seinen Greueltaten. Zwei der Sankara-Steine fielen in das seichte Wasser, versanken in der schmutzigen Strömung und wurden flußabwärts getragen... irgendwohin. Nun gab es nur noch einen. Indy steckte den letzten Sankara-Stein, der wieder dunkel geworden war, in seine Hosentasche. Er stieg die herabbaumelnde Brücke hinauf, bis ihn Willie, Short Round und Blumburtt über den Rand zogen. Auf der anderen Seite der Schlucht strömten britische Soldaten aus den Tunnels, um die verbleibenden Thug-Wachen auf jener Seite zu überwältigen. Hinter ihnen kam der junge Maharadscha heraus. Er sah Short Round bei Indy stehen. Er verbeugte sich von der anderen Seite her, um Shorty dafür zu danken, daß er ihn vor den schwarzen Alpträumen seiner eigenen Seele gerettet hatte. Short Round winkte dem Maharadscha und dankte ihm damit, daß er die Truppen zurückgeholt hatte. Der Prinz wäre offenkundig beim Baseball der ideale Ersatzmann gewesen. Willie stand am Rand des Abgrunds und blickte auf den tief unten liegenden Fluß hinunter. »Mola Ram hat wohl bekommen, was er wollte.« -210-
»Nicht ganz«, sagte Indy. Er zog den begehrten Stein aus der Tasche. »Der letzte Sankara-Stein.« Willie griff vorsichtig danach. Sie hielt ihn an die Sonne. Er funkelte und blitzte von tief innen heraus wie ein Geschöpf der Erde mit einem geheimen Herzen. Einen Augenblick lang hatten sie alle Teil an seinem Geheimnis. Sie erholten sich ein paar Tage im Palast. Die Truppen holten viele der Kinder zurück, die sich noch in den nahen Wäldern verbargen, gaben ihnen zu essen und versorgten ihre Verletzungen. Als alle kräftig genug für die Reise waren, beorderte Blumburtt eine Abteilung Soldaten für Willie, Indy und Shorty, die die Kinder nach Hause bringen sollten. Short Round fühlte sich wie der König der Kinder. Er war viel bei ihnen und zeigte sich väterlich, lehrreich und verantwortlich. Er brachte ihnen bei, nie zu stehlen, wie Mola Ram sie gestohlen hatte. Er wies sie an, die Sterne des Glücks, der Würden und der Langlebigkeit stets in der Nähe ihrer Herzen zu bewahren. Er brachte ihnen das Baseballspiel bei- mit Stöcken und Früchten Er lehrte sie, Mumien von Draculas zu unterscheiden, eine Münze zu werfen und hart aufzutreten, aber doch nett zu sein. Er schickte sie zu Willie, damit sie ihnen beibrachte, wie man die Seele der Männer verwirrt. Er lehrte sie die Namen aller wichtigen Gottheiten, die stets auf seine Gebete hörten, - allerdings hatte Short Round inzwischen so viele Versprechungen an so viele Götter ausgesprochen, daß er bezweifelte, ob in Zukunft noch einer von ihnen auf ihn hören würde. Aber Indy hatte auf ihn gehört. Indy war hier. Und Indy würde ihn nach Amerika mitnehmen. Willie verbrachte die Zeit wie benommen. Sie hatte dergleichen nie zuvor durchgemacht. Nun, da es vorbei war, -211-
konnte sie nicht recht glauben, daß sie es wirklich überstanden hatte. Sie berührte immer wieder die Bäume, berührte Short Round und Indiana, um sich zu vergewissern, daß das Wirklichkeit war und kein Traum. Es so recht zu glauben fiel ihr noch immer ein wenig schwer. Indy ärgerte sich ein bißchen darüber, zwei der Sankara-Steine verloren zu haben - er hatte sie in den Händen gehalten! - aber wenigstens hatte er einen. Der Stein gehörte ihm, zumindest vorübergehend. Außerdem waren die Kinder befreit; das war die Hauptsache. Und die Thugs gab es nicht mehr. Zwei Tage später setzten die Soldaten eine große Gruppe von Kindern vor Mayapore ab und begleiteten die übrigen zu anderen Dörfern in der Umgebung. Indiana und seine Begleiter gingen auf der Landstraße zurück nach Mayapore, gefolgt von den Kindern des Ortes. Sie waren erstaunt, die Landschaft zu sehen. Was vorher unfruchtbar gewesen, wurde neu geboren. Neben Bächen, die klar und funkelnd strömten, wuchsen nun Bäume. Blumen begannen zu blühen. Die Berge waren nicht mehr braun, sondern grün. Auf den Feldern arbeiteten Bauern. Im Ort selbst bauten die Bewohner ihre einfachen Gebäude wieder auf. An den Wänden hing Handwerkskunst. Die Dorfbewohner waren mit einer Freude am Werk, die sich auf das ganze Land ausbreitete. Freudenschreie wurden laut, als die Dorfbewohner ihre Kinder erblickten. Sie ließen fallen, was sie in Händen hielten, und liefen hinaus zu den Kindern, die ihnen entgegenstürmten. Es gab Tränen und Gelächter und vielerlei gute Nachrichten. Der Schamane ging auf Indiana zu, führte die Hände an die Stirn und verbeugte sich. Die drei Reisenden erwiderten seinen Gruß. -212-
Tief bewegt sprach er Indy an. »Wir wußten, daß ihr zurückkommt, als das Leben in unser Dorf zurückkehrte.« Er wies auf die Landschaft. Willie nickte. »Ich habe nie vorher ein Wunder erlebt.« Aber dies war ein Wunder, ohne jeden Zweifel. Sie lächelte strahlend. Wunder konnten nicht nur geschehen, sie geschahen manchmal auch. Der Schamane lächelte. »Jetzt seht ihr den Zauber des ›Steins ‹, den ihr mitgebracht habt.« Indy zog den Stein aus der Tasche, wickelte ihn aus dem kleben Stück Sankara-Stoff, das noch in seinem Besitz war. »Ja, ich habe seine Macht gesehen.« Der Schamane nahm den Stein ehrfürchtig von Indy entgegen und verbeugte sich erneut, dann ging er mit den anderen Dorfältesten zum heiligen Schrein. Willie, Indy und Shorty blieben im Hintergrund. Der Schamane kniete vor dem kleinen Altar nieder, legte den Stein in seine Nische und sang: »Om siwaja nama om...« Indy und Willie gingen davon. »Sie hätten ihn behalten können«, sagte sie. »Wozu? Sie würden ihn nur in ein Museum tun, wo er wie andere Steine Staubfänger wäre.« »Sie hätten Reichtum und Ruhm damit erworben.« Indy zog die Schultern hoch, dann grinste er listig. »Na, der Weg nach Delhi ist weit. Da kann noch alles mögliche passieren.« Sie sah ihn an, als sei er wahnsinnig geworden. »O nein. Nein, danke. Keine Abenteuer mehr für mich, Doktor Jones.« »Aber Schätzchen, nach all dem Spaß, den wir gehabt haben...« In ihr wallte eine rote Flut des Zorns hoch. War der Kerl völlig -213-
übergeschnappt? Sie waren am Leben - übrigens ganz zufä llig! Reichte ihm das nicht? Sie konnte sich vor Empörung kaum fassen. »Wenn Sie glauben, ich ginge mit Ihnen nach Delhi oder sonstwohin, nach all den Schwierigkeiten, in die Sie mich gebracht haben, dann schminken Sie sich das ab, Freundchen« fing sie an und kam in Fahrt. »Ich fahre heim nach Missouri wo man nie Schlangen vorgesetzt bekommt, bevor sie einem nicht das Herz aus dem Leib reißen und einen in heiße Krater versenken. Ich stelle mir unter Spaß etwas anderes vor! Nichts mehr von ›Anything Goes!‹ Nichts mehr von -« Sie verstummte, bevor ihr der Schaum vor den Mund zu treten drohte. Sie drehte sich um und ging auf einen Dorfbewohner zu, der ein Bündel auf dem Rücken trug. »Verzeihung, Sir?« rief sie. »Ich brauche einen Führer nach Delhi. Ich kann wirklich sehr gut auf einem Elefanten reiten.« Die Peitsche knallte, die Schnur wickelte sich um Willies Taille. Indy zog sie sanft, aber unerbittlich in seine Arme. Sie wehrte sich nur kurz. Es hatte keinen Sinn, gegen das Karma anzukämpfen. Diese Umarmung war vorherbestimmt gewesen, seitdem er den Klub betreten und ihrer beider Augen den Bund besiegelt hatten. Sie küßten sich. Es war ein zärtlicher, froher Kuß, freigebig wie der Sommerregen. Wasser regnete prasselnd auf sie herab. Sie fuhren auseinander und blickten nach oben. Short Round saß auf dem Rücken seines Elefantenbabys. Das Tier besprühte sie fröhlich mit seinem Rüssel. Short Round lachte. Indy und Willie lachten. Selbst der kleine Elefant lachte. »Sehr lustig«, meinte Short Round. »Sehr lustig, großer Spaß« Sie gelangten schließlich alle drei nach Amerika. Aber das eine andere Geschichte.
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