Bibliothek der phantastischen Abenteuer Herausgegeben von V. C. Harksen
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Bibliothek der phantastischen Abenteuer Herausgegeben von V. C. Harksen
Über dieses Buch Bei seinen Forschungen stößt der 58jährige Nicholas Fenton, Geschichtsprofessor in Cambridge, auf die seltsame Geschichte eines Mordfalls – im Jahre 1675 wurde Lady Lydia Fenton, die Gattin des jungen Baronets Sir Nicholas Fenton, vergiftet, ohne daß der Täter je überführt wurde. Besessen vom Rätsel dieses Geheimnisses, erklärt sich Fenton sogar bereit, seine Seele dem Teufel zu verpfänden, wenn dieser ihn als Sir Nick ins alte London versetzt. Der Teufel geht auf den Handel ein, warnt ihn aber vor Sir Nicks gelegentlichen Wutanfällen, in denen dieser jede Beherrschung verliert und auch sein Gedächtnis aussetzt. Professor Fenton glaubt damit fertig zu werden. Der Mord geschah am 10. Juni 1675. Fenton hat sich den 10. Mai desselben Jahres als Tag seiner Verwandlung ausgesucht, er glaubt, daß vier Wochen zur Klärung des Rätsels genügen werden. Als junger, wohlhabender, gutmütiger, aber auch jähzorniger Adliger findet Fenton sich wieder. Da er sich ausbedungen hat, seine Erinnerung und das Wissen seiner eigenen Zeit nicht zu verlieren, findet er sich schnell in der ungewohnten Umgebung zurecht. In seinem Haus leben seine Gattin, die schöne Lady Lydia, deren Cousine Meg, seine Geliebte, und unter den Dienstboten die rothaarige und bösartige Köchin Kitty, mit der Sir Nick offenbar auch ein Techtelmechtel gehabt hat. »Der Teufel in Samt« ist die Geschichte eines faustischen Pakts mit dem Teufel, den der alternde Professor jedoch nicht aus Gier nach Geld, Macht oder Lust abschließt, sondern aus reinem Wissensdurst. Auch wenn am Ende letztlich doch der Teufel gewinnt und Professor Fenton selbst der ahnungslose Mörder ist, dem die Hinrichtung droht, hat Fenton doch Jugend,
Liebe und Abenteuer gegen sein verstaubtes Gelehrtendasein eingetauscht und den Handel nicht bereut. Carr schildert mit vielen fesselnden Einzelheiten das Leben im London der Restauration, als König Charles der Zweite schon ein älterer und desillusionierter Monarch ist. Sein Sir Nick, der »bold bad baronet« so vieler englischer Historien, ist alles andere als ein Engel, aber doch weit mehr als der »Teufel in Samt«, für den seine Zeitgenossen ihn halten. Als Kavalier zwischen drei Frauen, Gattin, Mätresse und Magd, als Degenfechter, Raufbold und Königstreuer ist er eine ebenso faszinierende wie schillernde Gestalt, deren Gegensatz zu dem in Sir Nicks Körper versetzten Professor Fenton von Carr auf das spannendste dargestellt wird. Über den Autor John Dickson Carr, der auch unter den Pseudonym Carter Dickson und Roger Fairbairn schrieb, wurde 1906 in Amerika geboren. Nach einer unsteten Jugend heiratete er 1931 eine Engländerin, wurde Vater dreier Kinder und etablierte sich als freier Schriftsteller. Er verfaßte rund fünfzig Romane, einige Kurzgeschichten und eine Vielzahl von Hörspielen. So wie er selbst abwechselnd in England und den USA lebte, spielen auch seine Bücher überwiegend an diesen Schauplätzen, teilweise auch in Frankreich, wo er in seiner Jugend einige Zeit lebte. Er starb 1977. Carr ist berühmt durch seine Kriminalromane im klassischen Stil, in denen vielfach übernatürliche Elemente eine Rolle spielen, wobei das Magische manchmal natürliche Ursachen hat, oft aber auch ein Hauch des Unheimlichen zurückbleibt und nicht alles eine greifbare Erklärung findet.
John Dickson Carr Der Teufel in Samt Roman Aus dem Amerikanischen von Maria Meinert
Fischer Taschenbuch Verlag
Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Januar 1989 Die englische Originalausgabe erschien 1951 unter dem Titel ›The Devil in Velvet‹ bei Hamish Hamilton, London © 1951 Hamish Hamilton, London Für die deutsche Ausgabe: © 1989 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main Scan by Brrazo 08/2005 Umschlaggestaltung: Die Titelillustration von Claus-Dietrich Hentschel, Konstanz, zeigt einen Ausschnitt seines Acrylbildes ›Orpheus I I‹ (1969, 76x96 cm); die Typographie besorgte Manfred Walch, Frankfurt am Main Satz: Fotosatz Otto Gutfreund, Darmstadt Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-22745-3
Die Hauptpersonen Nicholas Fenton, zugleich Sir Nicholas Fenton, Baronet (Sir Nick)
Geschichtsprofessor in Cambridge, zugleich ein junger Adliger des späten 17. Jahrhunderts
Mary Grenville, zugleich Magdalen (Meg) York
Professor Fentons junge Freundin, zugleich Sir Nicks Geliebte
Lady Lydia Fenton
Sir Nicks Gattin
Judith Pamphlin
ihre Kammerfrau, eine fanatische Puritanerin
Kitty Softcover
Sir Nicks rothaarige Köchin
Giles Collins
Sir Nicks Schreiber und vertrauter Diener
Lord George Harwell
Sir Nicks bester Freund
Mylord Shaftesbury
ein intriganter Politiker, Sir Nicks Erzfeind
Jonathan Reeve, Graf von Lowestoft
ein heruntergekommener und entrechteter alter Kavalier
Captain Duroc
ein angeblicher französischer Offizier, ein Verräter und Verbrecher
Charles II.
König von England
Der Teufel
Verlierer und Gewinner
I Mitten in der Nacht wurde er wach. Irgend etwas hatte seinen Schlummer verscheucht. Vielleicht die schwüle, stickige Luft hinter den geschlossenen Bettvorhängen. In seiner Benommenheit konnte er sich allerdings nicht erinnern, die Vorhänge dieses dreihundert Jahre alten Bettes zugezogen zu haben. Dann fiel ihm ein, daß er am Abend ein ziemlich starkes Schlafmittel geschluckt hatte. Daher vielleicht diese Vergeßlichkeit. Sein Gedächtnis, das er im Dunkeln anzuregen versuchte, schenkte ihm nur Bilder hinter dichten, wogenden Gazeschleiern. Wenn er sich bemühte, Worte heraufzubeschwören, so glichen sie lautlos aufsteigenden Rauchwölkchen. Wie ein Rauchschwaden wirkte auch die kleine Rede, die er jetzt hielt. »Mein Name ist Nicholas Fenton«, sagte er sich, um Klarheit zu gewinnen. »Ich bin Geschichtsprofessor am Paracelsus-College, Cambridge. In diesem Jahr des Heils bin ich achtundfünfzig Jahre alt.« Erstaunt wurde er sich bewußt, daß er diese Worte im leisen Flüsterton geäußert hatte, und sein Gedächtnis belohnte ihn kurz mit einer verschwommenen Vision des gestrigen Abends. Ja, dieser gestrige Abend … Er hatte unten im Salon gesessen, in dem Haus, das er kürzlich für die Dauer des Sommers gemietet hatte, da »niemand« sich um diese Zeit in London aufhalten würde. Ihm gegenüber auf den Brokatkissen eines Sofas saß Mary, 9
die zum Zeichen, daß es sich nur um einen kurzen Besuch handelte, ihren Glockenhut aufbehalten hatte. Sie hielt ein Glas Whisky in der Hand. Mary war natürlich bedeutend jünger als er selbst und sehr hübsch. »Mary«, sagte er, »ich habe dem Teufel meine Seele verkauft.« Nicholas Fenton wußte, daß sie nicht lachen, ja, nicht einmal lächeln würde. Sie nickte einfach mit ernster Miene. »Wirklich?« fragte sie. »Und wie sah der Teufel aus, Professor Fenton?« »Ich kann mich nicht genau daran erinnern«, erwiderte er. »Er schien dauernd eine andere Gestalt anzunehmen. Das Licht war trübe; er saß da drüben in dem Sessel, und meine schlechten Augen…« Mary beugte sich vor. Ihre Augen hätte er in seinen jüngeren Tagen als verschleiert bezeichnet: sie waren von unergründlichem Grau, das sich bisweilen fast ins Schwarz verdunkelte, als huschte ein Schatten über ihr junges Gesicht. »Haben Sie Ihre Seele tatsächlich verkauft, Professor Fenton?« »Genaugenommen, nicht«, versetzte er mit einem kaum hörbaren ironischen Lachen, »Zunächst einmal kann ich nicht so recht an die Existenz des Teufels glauben. Vielleicht war es nur ein guter Freund, der mir einen Schabernack spielte. Parkinson vom Caius-College wäre es zum Beispiel ohne weiteres zuzutrauen. Ferner …« »Ferner?« drängte Mary. »Mit Ausnahme von Dr. Faust«, erwiderte Fenton nachdenklich, »hat der Teufel immer ein zu leichtes Spiel mit seinen Gegnern gehabt.« »Inwiefern?« 10
»Seine Opfer sind immer Einfaltspinsel, denen gegenüber er mit falschen Würfeln spielt. Er ist noch nie einem Mann von Geist begegnet. Wenn ich tatsächlich einen Pakt mit ihm gemacht habe, dann ist der Teufel in eine Falle geraten.« Er hatte ihr zulächeln wollen, um anzudeuten, daß sie ihn nicht allzu ernst nehmen dürfe. Woraufhin – so kam es jedenfalls dem halbbetäubten Mann vor, der jetzt hinter zugezogenen Bettvorhängen lag – die Szene im Salon traumartigen Charakter annahm. Was Mary in der Hand gehalten hatte, war kein gewöhnliches Trinkglas. Es schien ein silberner, blankpolierter Humpen zu sein. Als sie diesen Humpen an die Lippen setzte, funkelte und blitzte das Licht auf seiner Oberfläche, daß Fenton von dem Glanz fast geblendet wurde. Licht, sagt man, ist kalt. Doch dieser Strahl, der Fenton traf, besaß spürbare Hitze. Und hatte er nicht in der einen Ecke des Zimmers eine kurze, rasche Bewegung – wie von einem Besucher –wahrgenommen? Nein; es konnte nur eine Illusion gewesen sein. Mary hielt ein gewöhnliches Trinkglas in der Hand. »Um was für eine Gabe haben Sie den Teufel gebeten? Daß Sie wieder jung sein möchten, wie Faust?« »Nein. Das interessiert mich nicht.« Diese Behauptung war nur zu einem Teil wahr. Fenton glaubte sich jung wie eh und je. »War es dann … was dumme Leute als Ihre fixe Idee bezeichnet haben?« »In gewissem Sinne, ja. Ich bat darum, an einen gewissen Tag im dritten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts versetzt zu werden.« 11
»Oh, das sieht Ihnen ähnlich«, flüsterte Mary. Fenton wünschte, daß sie nicht so dasitzen und ihn mit solch ernsten, aufmerksamen Blicken betrachten möchte. Manchmal konnte er nicht verstehen, was sie an der Unterhaltung eines ältlichen Kauzes interessant fand. »Sie sind der einzige Historiker«, fuhr Mary fort, »der mit allen Einzelheiten genügend vertraut ist, um den Sprung zu wagen. Und dennoch«, setzte sie plötzlich hinzu, »verstehe ich dies nicht.« »Ich verstehe es selber nicht. Aber wenn der Teufel sich an den Pakt hält…« »Sie haben mich falsch verstanden. Ich meine, Sie müssen sich früher schon oft gewünscht haben, in die Vergangenheit versetzt zu werden, nicht wahr?« »Oh, ja. ›Gewünscht‹ ist nicht der richtige Ausdruck«, flüsterte Fenton und spürte, wie ihm ein eisiger Schauer den Rücken hinabrieselte. »Gesehnt habe ich mich danach! Wie andere Männer vom Verlangen nach Geld, nach Frauen, nach gesellschaftlicher Stellung gequält werden, so hat mich dieser Wunsch geplagt. Aber ich dachte, es sei nur eine abstrakte Neugierde.« »Warum wollen Sie denn diesen Wunsch auf einmal in die Tat umsetzen?« »Erstens hat sich meine Neugierde bis ins Unerträgliche gesteigert. Zweitens habe ich eine Aufgabe. Drittens wußte ich nicht, daß es so leicht ist, den Teufel herbeizupfeifen.« Mary schien sich nur für einen dieser Punkte zu interessieren. »Aufgabe, Professor Fenton? Was für eine Aufgabe?« Fenton zögerte. Er berührte den Kneifer, der 12
auf der Nase seines milden Gelehrtengesichts saß, und strich sich mechanisch über den hohen, gewölbten Schädel, auf dem die letzten Strähnen seines rötlichen Haares zurückgebürstet waren. Er war ein sehr hagerer Mann, mittelgroß, und hielt sich vom vielen Lesen etwas gebückt. Bei näherer Überlegung wußte Fenton gut, daß er zu schwach war, um sich wie ein Schwimmer in die dunklen Wasser der Vergangenheit zu stürzen, voller unbekannter Strömungen. Aber er beschloß, sich darüber weiter keine Gedanken zu machen. »In diesem Haus«, entgegnete er, »starb am 10. Juni des Jahres 1675 eine gewisse Person an Vergiftung. Es war ein langsamer, brutaler Mord.« »Oh«, rief Mary und stellte ihr Glas auf einen Nebentisch, »haben Sie authentische Beweise dafür?« »Ja. Ich habe sogar Bildnisse – Stiche im Folioformat – von allen Personen jenes Haushalts. Ich könnte jede von ihnen erkennen, wenn sie diesen Raum beträte.« »Mord.« Mary wiederholte das Wort ganz langsam. »Und wer waren diese Leute?« »Drei von ihnen waren Frauen, und alle schön. Nicht«, fügte Fenton hastig hinzu, »daß dies meinen Entschluß in irgendeiner Weise beeinflußt hätte.« Plötzlich richtete er sich auf. »Haben Sie es auch gehört, dieses merkwürdige, leise Lachen vom Bücherschrank her?« »Nein.« Unter Marys Hut lugten an jeder Seite ein paar Strähnen ihres kurzgeschnittenen schwarzen Haares hervor und hoben sich glänzend von dem milchweißen Teint ihres
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Gesichts ab. Fenton hatte den Eindruck, als sei ein harter Ausdruck in ihre Augen getreten. »Außerdem«, fuhr er rasch fort, »war da auch noch der Eigentümer des Hauses. Hm – seltsamerweise trug er denselben Namen wie ich. Nicholas Fenton.« »Einer Ihrer Vorfahren?« »Nein. Er war überhaupt nicht mit mir verwandt. Ich bin der Spur sorgfältig nachgegangen. Sir Nicholas Fenton war ein Baronet. Seine Linie starb in der zweiten Hälfte des nächsten Jahrhunderts aus. Mary, wer hatte diesen Mord wohl begangen?« »Das wissen Sie also nicht?« fragte Mary ungläubig. »Nein! Nein! Nein!« »Bitte, Professor Fenton! Sie dürfen sich nicht so erregen. Ihre Stimme…« »Ich bitte Sie um Verzeihung.« Fenton gewann seine Selbstbeherrschung wieder, obgleich ihn abermals ein kalter Schauer durchfuhr. »Der Grund, warum ich es nicht weiß«, fuhr er in seinem üblichen milden Ton fort, »liegt darin, daß drei Bogen von Giles Collins' handschriftlichem Bericht fehlen. Irgend jemand wurde verhaftet, vor Gericht gebracht und nach einem freiwillig abgelegten Bekenntnis hingerichtet. Aber die Seiten, die den Bericht darüber enthielten, sind entweder verlorengegangen oder gestohlen worden.« »Aber sicherlich«, protestierte Mary, »muß es noch einen anderen Bericht über diesen Mord geben außer dem von Giles Collins.«
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»Das hatte ich auch angenommen. Neun Jahre lang – ja, ganze neun Jahre! – habe ich die Bibliotheken durchsucht und in den Zeitungen annonciert, um irgendein Buch oder eine Broschüre, ja, sogar das Plakat zu entdecken, das gewöhnlich zur Zeit einer Hinrichtung erschien. Aber ohne Erfolg.« »Neun Jahre«, flüsterte Mary. »Und Sie haben mir nie etwas davon gesagt.« Ihr Gesicht schien sich auf geheimnisvolle Art zu verändern. »Drei Frauen sind darin verwickelt, wie Sie sagten. Ich möchte wohl annehmen, daß Ihr ›Sir Nicholas‹ in eine davon heftig verliebt war. Stimmt's?« »Nun … ja.« Wie hatte das Kind dies nur erraten? Mary war fünfundzwanzig Jahre alt, aber er betrachtete sie immer noch als Kind, denn sie war die Tochter seines alten Freundes, Dr. Greenville. »Gott oder vielmehr der Teufel steh mir bei, aber ich habe alles getan, was in meiner Macht stand! Ich habe sogar an einem Kursus in Kriminologie und Gerichtsmedizin teilgenommen, da es sich um einen Giftmord handelte. Ich glaube, den Namen des Mörders erraten zu können.« Seine Stimme wurde lauter. »Aber ich habe keine Beweise.« »Und daher«, erklärte Mary, die hübschen Achseln zuckend, »sind Sie jetzt so verzweifelt, daß Sie unbedingt in die Vergangenheit zurückkehren und die Wahrheit herausfinden müssen, ja?« »Ich habe auch eine Aufgabe, bedenken Sie das. Vielleicht bin ich in der Lage, den Mord zu verhindern.« Eine Weile herrschte tiefes Schweigen. 15
»Den Mord verhindern?« wiederholte Mary dann. »Ja.« »Aber das ist doch unmöglich! Er ist bereits geschehen – ein Teil des Geschichtsstromes. Sie können doch nicht ändern, was …« »Darauf hat man mich aufmerksam gemacht«, erwähnte er trocken. »Dennoch bin ich nicht ganz überzeugt davon.« »Hat Seine Majestät der Teufel Ihnen das gesagt? Wie lauteten seine Worte?« Wie unsagbar schwierig war es gewesen, Mary eine Unterhaltung zu beschreiben, die ihm so normal, so ungezwungen erschienen war wie die zweier Männer im Rauchzimmer eines Klubs! Denn der Teufel hatte ihm kaum eine Stunde vor Marys Ankunft einen ruhigen Besuch abgestattet. Ohne die häufig beschriebenen geisterhaften Begleiterscheinungen hatte er in dem mit Gobelin bespannten Sessel am anderen Ende des Salons Platz genommen. Was Fenton Mary erzählt hatte, stimmte durchaus. Da das Licht trübe war, sah Fenton nur den vagen, sich ständig verändernden Umriß und hörte lautlose Worte. »Ja, Professor Fenton«, hatte sein Besucher liebenswürdig in einer leicht archaisch gefärbten Sprache gesagt, »ich glaube, ich kann diese Angelegenheit zu Eurer Zufriedenheit arrangieren. Andere vor Euch haben dieselbe Bitte gehabt. Wie war doch noch das Datum, das Ihr erwähntet…?« »Es war der 10. Mai des Jahres 1675. Gerade einen Monat vor dem Mord.« 16
»Ach ja. Ich werde es mir notieren.« Nachdenklich fuhr der Besucher fort: »Es war damals eine wilde, blutdürstige Zeit, wenn ich mich recht erinnere. Aber die Damen!« Er schmatzte hörbar mit den Lippen. »Mein lieber Herr, die Damen!« Fenton erwiderte nichts darauf. »Es ist höchst peinlich«, fuhr der Besucher in unglücklichem Ton fort, »daß zwei Gentlemen über geschäftliche Angelegenheiten reden müssen. Aber Ihr kennt meine Bedingungen und meinen – hm – Preis. Kommt! Können wir nicht gleich einen Pakt abschließen?« Fenton lächelte. Er hatte keine sehr hohe Meinung von der Intelligenz seines Besuchers. Von seiner Macht, ja. Aber nicht von seiner Intelligenz. »Nicht so eilig, Sir«, protestierte Fenton in sanftem Ton und strich sich über das dünne Haar. »Ehe wir irgendeinen Pakt miteinander machen, möchte ich, daß Ihr Euch meine Bedingungen anhört.« »Eure Bedingungen?« Aus dem Gobelinsessel schien sich eine Woge solcher Arroganz in Fentons Richtung zu wälzen, daß sie das Zimmer, ja, das ganze Haus bedrohte. Fenton, der bis dahin keinerlei Furcht gespürt hatte, wurde von Angst gepackt. Aber die Woge verlief sich, und es blieb nur gelangweilte Höflichkeit zurück. »Laßt uns Eure Bedingungen hören«, gähnte der Besucher. »Zunächst einmal möchte ich als Sir Nicholas Fenton in die Vergangenheit zurückkehren.« »Selbstverständlich.« Der Besucher schien überrascht. »Gewährt!« 17
»Da ich nicht sehr viel über Sir Nicholas ausfindig machen kann, muß ich weitere Bedingungen stellen. Er war ein Baronet, ja. Aber wie Ihr wohl wißt, wurde der Titel eines Baronets in jenen Tagen oft von den merkwürdigsten Käuzen getragen.« »Stimmt, stimmt! Aber…« »Ich muß ein wohlhabender Mann von edlem Blut sein«, fuhr Fenton fort. »Ferner muß ich jung sein und darf zu keiner Zeit von körperlichen noch geistigen Krankheiten befallen werden und keinerlei Verunstaltung erdulden. Auch dürft Ihr keine Verhältnisse schaffen, die mich der erwähnten Vorteile berauben könnten.« Eine Sekunde lang glaubte Fenton, zu weit gegangen zu sein. Aus dem Sessel flutete eine Woge kindlichen Zornes, als würde ein kleiner Junge mit dem Fuß auf den Boden stampfen. »Ich weig –« Es entstand eine mürrische Pause. »Na, schön. Gewährt.« »Besten Dank. Nun ist mir zu Ohren gekommen, Sir, daß einer Eurer beliebtesten Scherze darin besteht, mit Daten und Uhren zu jonglieren. Wenn ich Euch also den 10. Mai 1675 als Datum nenne, so ist das der Zeitpunkt, den ich meine. Auch dürfen die Tatsachen nicht geändert werden. Ihr werdet mich, zum Beispiel, für diesen Mord nicht ins Gefängnis werfen und an den Galgen bringen lassen. Ich werde, genauso wie Sir Nicholas, eines natürlichen Todes sterben. Gewährt?« Obgleich sich der kindliche Zorn gelegt hatte, blieb doch ein gewisser Ärger zurück.
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»Gewährt, Professor Fenton. Das wäre nun wohl alles, nicht wahr?« »Nur noch eins«, bat Fenton, der vor Aufregung schwitzte. »Obgleich ich die äußere Gestalt von Sir Nicholas annehme, muß ich doch meinen eigenen Verstand, meine eigenen Kenntnisse, ebenso mein Gedächtnis und meine Erfahrung beibehalten.« »Einen Augenblick, bitte«, unterbrach ihn sein Besucher. »Hier, fürchte ich, kann ich Euch nicht vollständig akkommodieren. Wie Ihr bemerkt, verfahre ich ehrlich mit Euch.« »Vielleicht habt Ihr die Güte, Euch zu erklären.« »Im wesentlichen«, schnurrte der Besucher, »seid Ihr ein guter, freundlicher Mann. Deshalb möchte ich auch Eure See – Eure Gesellschaft haben. Nun, Sir Nicholas, das will ich gestehen, war Euch im Grunde seines Herzens sehr ähnlich. Er war gutmütig, großzügig und leicht zu Mitgefühl gerührt. Aber als Kind seiner Zeit war er ungeschliffener, besaß er ein ganz anderes Temperament und neigte zu heftigen Wutanfällen.« »Ich verstehe immer noch nicht ganz.« »Zorn«, erklärte der Besucher, »ist die stärkste aller Gemütsbewegungen. Nun, wenn Ihr – Professor Fenton in der Gestalt von Sir Nicholas – in leidenschaftliche Erregung geraten solltet, dann würde Sir Nicholas für die Dauer des Wutanfalls von Eurem Verstand Besitz ergreifen. Doch erkläre ich Euch feierlichst und als Teil unseres Paktes, daß seine Wutanfälle nie länger als zehn
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Minuten dauerten. Wenn Ihr damit einverstanden seid, akzeptiere ich Eure Bedingung. Was meint Ihr?« Fenton, dem abermals der Schweiß auf der Stirn ausbrach, überlegte scharf, ob der Vorschlag einen Haken haben könnte. Doch er fand keinen. Während eines Wutanfalls von zehn Minuten, das gab er zu, konnte man großen Schaden anrichten. Aber seine anderen, bereits akzeptierten Bedingungen schützten ihn ja vor jeglichem Harm. Sie waren wie schwere, nach langer Überlegung eingehämmerte Nägel, die die Tür gegen den Teufel verschlossen. Außerdem: er sollte in heftige Wut geraten? Er, Nicholas Fenton? Eine Unverschämtheit! »Nun?« fragte der Besucher in schmeichelndem Ton. »Einverstanden?« »Einverstanden!« erwiderte Fenton barsch. »Prächtig! Dann brauchen wir nur noch den Pakt zu besiegeln.« »Hm – ich überlege gerade«, begann Fenton, setzte aber hastig hinzu: »Nein, nein! Keine weitere Bedingung! Ich wollte bloß eine Frage stellen.« »Mein lieber Freund!« gurrte der Besucher. »Fragt nur immerzu.« »Es verstieße sicherlich gegen die Regeln, wenn ich den Lauf der Geschichte ändern würde. Vielleicht liegt es sogar außerhalb Eures Machtbereichs, mir diese Möglichkeit zu geben?« Die Woge, die jetzt auf ihn zuströmte, ließ auf kindliches Vergnügen schließen. »Die Geschichte könntet Ihr überhaupt nicht ändern«, erklärte der Besucher einfach. 20
»Wollt Ihr allen Ernstes behaupten«, beharrte Fenton, »daß ich mit allen Hilfsmitteln des zwanzigsten Jahrhunderts, mit eingehendster Kenntnis aller geschichtlichen Daten nicht den politischen Ereignissen eine andere Wendung geben könnte?« »Oh, Ihr könnt vielleicht hier und da ein paar unwesentliche Einzelheiten ändern«, gab der Besucher zu. »Besonders in häuslichen Angelegenheiten. Aber was Ihr auch tun würdet, das Endergebnis wäre genau dasselbe. Es steht Euch indes völlig frei«, setzte er höflich hinzu, »Euch zu versuchen.« »Das werde ich tun!« Damit war der Teufel gegangen, ebenso unzeremoniell, wie er gekommen war. Nicholas Fenton hatte Zeit genug, um sich hinzusetzen und seine Nerven mit einer Pfeife Tabak zu besänftigen, ehe Mary erschien. Als er Mary diese Unterhaltung in allen Einzelheiten mitgeteilt hatte, schwieg sie eine ganze Weile. »Dann haben Sie Ihre Seele also doch verkauft«, sagte sie schließlich, und es war eher eine Feststellung als eine Frage. »Meine liebe Mary! Hoffentlich nicht.« »Aber gewiß!« Fenton fühlte sich ein wenig beschämt. Es kam ihm vor, als sei seine Taktik unfair gewesen, selbst gegen den Vater alles Bösen. »Tatsächlich«, begann er zögernd, »hatte ich sozusagen … hm … noch einen Trumpf in Reserve, mit dem ich ihn letzten Endes schlagen werde. Nein, fragen Sie bitte nicht danach.« Unvermittelt erhob sich Mary.
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»Ich muß gehen«, erklärte sie. »Es ist schon spät, Professor Fenton.« Fenton fühlte auf einmal Gewissensbisse. Er durfte das Kind nicht nach zehn Uhr bei sich behalten, sonst würden sich ihre Eltern beunruhigen. Er begleitete sie zur Haustür. »Was halten Sie von meinem Plan?« fragte er. »Vor einer Weile schienen Sie ihn zu billigen.« »Ja«, flüsterte Mary. »Das tue ich auch jetzt noch!« »Na, und?« »Sie sehen den Teufel«, entgegnete sie, »als eine Kombination des liebenswürdigen Philosophen und des grausamen, naiven kleinen Jungen: ich meine, genau wie eine Person des späteren siebzehnten Jahrhunderts.« Damit rannte sie die wenigen niedrigen Stufen zur Pall Mall hinunter und ließ Fenton in der feuchten, regnerischen Nacht an der offenen Tür zurück. Sein altes Rheuma begann ihn zu quälen. Er schloß rasch die Tür und kehrte in den trüben Salon zurück. Sollte er jetzt zu Bett gehen? Fenton wußte, daß er nicht schlafen könnte. Aber damit hatte er gerechnet. Er hatte sich ein starkes Schlafmittel besorgt. Sorgfältig goß er sich das eine Glas Whisky ein, das er sich jeden Tag gestattete. Dem Whisky fügte er eine reichliche Dosis des Mittels bei. Er nahm in einem bequemen Sessel Platz, lehnte sich behaglich zurück und trank die Mischung. Die Wirkung machte sich sehr rasch bemerkbar. Die Umrisse begannen zu verschwimmen. Und das war alles, worauf er sich besinnen konnte, als er mitten in der Nacht – es mochte auch früh am Morgen sein – hinter den zugezogenen, ihn halb erstickenden Bettvor22
hängen wach wurde. »Seltsam!« murmelte er vor sich hin. »Was für ein merkwürdiger Traum! Ich muß das Mittel viel früher am Abend getrunken haben, als ich mich jetzt erinnern kann.« Mechanisch strich er sich über den Kopf. Seine Hand erreichte den Nacken, hielt inne, tastete sich wieder zurück und verharrte völlig regungslos. Selbst seine letzten, über den Schädel gebürsteten Haarsträhnen waren jetzt verschwunden. Er war geschoren wie ein Zuchthäusler. Jedoch nicht ganz kahlgeschoren. Kurze, borstige Stoppeln bedeckten den ganzen Kopf. Fenton richtete sich kerzengerade im Bett auf und stellte fest, daß er zum ersten Male seit sehr vielen Jahren seinen Pyjama nicht angezogenen hatte, daß er gar nichts trug. »Nanu!« sagte er leise. Er rollte auf die linke Seite – die Bettlaken erschienen ihm merkwürdig rauh und grob – und kam mit den Bettvorhängen in Berührung. Er schlug die Bettdecken zurück, schob die Leinen vorhänge beiseite, daß die Holzringe klapperten, und schwang die Füße über die Bettkante. Er mußte seinen Kneifer auf dem Nachttisch finden und sich dann am Tisch vorbeitasten, bis er den Lichtschalter an der Tür erreichte. Statt dessen machte er eine seltsame Bewegung. Mechanisch fühlte er am Bettrand entlang, bis er auf etwas stieß, was sein Unterbewußtsein an dieser Stelle vermutete: ein lockeres, langes Gewand aus wattierter Seide mit Pelzbesatz an Kragen und Ärmeln. Der Schlafrock, ja. Unwillkürlich zog er ihn an und machte dabei eine Entdeckung, die ihn aufrüttelte. Seine ganze Figur, bis 23
dahin lang und hager, war jetzt völlig verändert. Er hatte einen gewölbten Brustkasten, starke, muskulöse Arme, aber einen flachen Bauch. Doch seine Beine waren nicht lang genug, um den Boden zu erreichen. Der Kehle von Nicholas Fenton, Professor der Geschichte an der Universität Cambridge, entrangen sich rein tierische Laute, die tiefer und kräftiger klangen als sein gewöhnlicher heller, feiner Bariton. Er wußte nicht einmal, ob er gesprochen hatte oder ein anderer. Eine wilde Panik bemächtigte sich seiner. Er fürchtete sich vor der Dunkelheit, vor sich selber, vor unbekannten Urgewalten. Er hätte schreien mögen. In Schweiß gebadet saß er da, während seine Beine grotesk über dem Boden baumelten wie über einem Abgrund. »Spring!« schien eine gewaltige Stimme zu rufen. »Hurer, Wüstling, Spielteufel, spring!« Fenton sprang und stieß hart mit den Füßen auf. »Wo bin ich?« rief er zurück. Und dann: »Wer bin ich?« Niemand antwortete ihm. Alle Vorhänge mußten dicht vor den Scheiben hängen, so intensiv war die Dunkelheit. Fenton schwankte ein wenig. Sein nackter rechter Fuß berührte einen Gegenstand, der sich wie ein alter Pantoffel aus sehr hartem Leder anfühlte. Er tastete weiter und entdeckte einen zweiten; er zog das Paar an. Der ganze Raum war von einem unangenehmen, durch die Schwüle verstärkten Geruch durchdrungen. Was wollte er doch noch suchen? Ach ja, seinen Kneifer und den Lichtschalter. Wenn aber… 24
Er klammerte sich zur Orientierung an den Bettvorhang und tastete sich nach dem Kopfende. Ja, dort stand irgendein Tisch an der Wand. Er streckte die Hand aus und berührte menschliches Haar. Diesmal drängte es ihn nicht, laut aufzuschreien. Er wußte natürlich, was er berührt hatte. Es war die große Perücke mit ihren schweren, langen Locken. Sie ruhte auf dem hohen Perückenstock, bereit für die Morgentoilette. Fenton nickte vor sich hin. Wenn die Perücke da war, mußte auch noch etwas anderes vorhanden sein. Seine Finger glitten zur rechten Seite und stießen auf ein großes, mehrfach gefaltetes Seidentuch. Einem Impuls folgend, nahm er es rasch an sich, schüttelte es auf und band es sich – mit überraschender Geschicklichkeit im Hinblick auf seine zitternden Hände – in Form eines flachen Turbans um den Kopf. Seine intensiven Studien hatten ihn gelehrt, daß jeder Mann von Stand auf diese Weise seinen geschorenen Kopf verhüllte, wenn er en deshabille im Haus herumschlenderte. Obgleich er sorgfältig über den Tisch tastete, konnte er seinen Kneifer nicht finden. Indem er vorsichtig an dem Tisch entlangging, kam er zu der schlecht in den Rahmen passenden Tür. Daneben an der Wand war kein Lichtschalter. An der Tür selbst entdeckte er nicht einmal einen Porzellanknopf; nur eine hölzerne Klinke, die wie eine Klaue geformt war. Auf dem Tisch hatte eine Kerze in einem Halter gestanden. Aber es war kein Streichholz … vielmehr, keine Zunderbüchse vorhanden. Er konnte unmöglich bis zum Morgen hier in der Dunkelheit weilen. Wenn das, was er 25
vermutete, aber nicht recht glauben konnte, eingetreten war, mußte noch jemand anders im Hause sein. Jemand anders. Gesichter tauchten vor seinem geistigen Auge auf… Professor Fenton hob die Klinke und stieß die Tür auf. Wieder umfing ihn Dunkelheit. Sein Schlafzimmer lag hinten im Hause, und er mußte daher jetzt am Ende des oberen Flurs stehen, zu dessen beiden Seiten sich kleine Schlafzimmer befanden. Auf der linken Seite zeigte sich ein dünner gelber Lichtstreifen an einer Türschwelle. Fenton schritt, allerdings auf zitternden Beinen, den Gang hinunter, der von demselben unangenehmen Geruch erfüllt war wie sein Zimmer. Als er die Tür mit dem Lichtschein erreichte, klopfte er nicht erst an, sondern hob die Klinke und öffnete die Tür ein wenig. An der Wand gegenüber stand eine Art Ankleidetisch. Eine einzige Kerze, die in einem bemalten Porzellanhalter steckte, warf nur einen trüben Schimmer, der auf den Goldblattrahmen eines Spiegels fiel. Jemand saß in einem Eichensessel vor diesem Spiegel, und zwar mit dem Rücken zu ihm gewandt. Aber er konnte wenig erkennen, da die schmale Rücklehne des Stuhls – aus gelbem Gewebe mit Reihen von winzigen runden Löchern – ihm sogar das Spiegelbild verdeckte. Er wußte nur, daß es eine Frau war, da ihr langes schwarzes Haar ganz heruntergelassen und zu beiden Seiten der Lehne sichtbar war. Halt! Es war, als hätte sie ihn erwartet. Bei dem Knarren der sich öffnenden Tür fuhr sie nicht zusammen. Während einer Sekunde fürchtete er 26
sich, ihr Gesicht zu sehen. Die letzte Schranke würde sich dann schließen zwischen seinem eigenen Leben und einem Dasein, das mehr als 250 Jahre zurücklag. Doch die Frau ließ ihm keine Zeit. Sie erhob sich, schob den Stuhl ganz zur Seite und drehte sich um, so daß sie ihm gegenüberstand. Sekundenlang vermochte er sie nur bestürzt anzustarren. »Mary!« rief er dann.
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II »Nick«, antwortete die Frau, und ein seltsamer Ton lag in diesem einen Wort. Der Klang seiner eigenen Stimme raubte ihm alle Kraft. Er konnte die Frau nur anstarren. Mary Grenville hatte ihn nie in ihrem Leben Nick genannt. Und doch war es ihre Stimme – trotz der merkwürdigen Modulation. Trotz anderer Unterschiede – von feinen bis zu … nun, schockierenden – spürte er, daß es Mary war. Da er sie stets weit überragt hatte, brachte es ihn ziemlich aus der Fassung, daß sie jetzt nur um einen halben Kopf kleiner war als er. Nein, halt! Seine eigene Größe mußte nun etwa ein Meter siebenundsechzig sein, und sie war kein Kind! In keiner Beziehung! Professor Fenton war bestürzt, daß er die offensichtlichen Merkmale wahrnahm, die darauf hindeuteten, daß sie kein Kind mehr war. Sie stand da in einem üppigen, tief ausgeschnittenen Neglige aus gelber Seide, dessen Kragen und sehr lose Ärmel mit weißem Pelz verbrämt waren. Sie hatte es nachlässig, aber eng um ihren Körper gezogen. In dem trüben Kerzenlicht schien es, als huschten rauchfarbige Schatten über ihre sehr weiße Haut. Auf einmal glaubte er alles zu verstehen. »Mary!« sagte er in seiner üblichen modernen Ausdrucksweise. »Sie sind auch zurückversetzt worden! Die gestrige Unterhaltung habe ich nicht geträumt. Nicht aus Höflichkeit brachten Sie mir Verständnis entgegen!«
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Doch seine Worte waren nicht richtig gewählt. Die ganze Koketterie, das einschmeichelnde Wesen dieser Frau waren im Nu verschwunden. Mit Furcht in den Augen wich sie zurück. »Nick!« stieß sie hervor, als bäte sie ihn, nicht zu scherzen. »Was für ein Kauderwelsch redet Ihr? Macht Eure Aufwartung nur einer anderen, wenn Ihr völlig von Sinnen seid!« Fenton richtete sich langsam auf und machte eine tiefere und höflichere Verbeugung vor ihr, als Sir Nicholas Fenton es getan hätte. »Wenn es Euch nicht allzusehr vexiert«, sagte er sanft, »möchte ich mich wohl mit Verlaub erklären, Madam.« Doch offenbar hatte er immer noch nicht den richtigen Ton getroffen. Die Frau atmete keuchend und spie ihn beinahe an. »Verrückt!« fauchte sie. »Diese irrsinnige Lust nach Wein und Huren hat Euch den Verstand geraubt. Mylord Rochester ist's genauso ergangen.« Ich muß ein wahrer Teufelskerl sein, dachte Professor Fenton voller Unruhe. Aber endlich hatte er die richtige Taktik erraten. »Haltet Euer Maul!« brüllte er sie plötzlich an. »Potz Blitz! Müßt Ihr kreischen wie eine Dirne, die man auf einem Karren ausgestellt hat!« Die winzige Flamme der Kerze flackerte unstet inmitten der lastenden, wogenden Schatten. Die Frau schüttelte das lange, seidige schwarze Haar zurück und richtete sich auf. Ihre ganze Haltung wurde schmachtend, demütig, und immer bereite Tränen traten ihr in die Augen. »Nein, nein, verzeiht mir«, flehte sie mit weicher Stimme, obwohl er wußte, daß eine Tigerkatze in ihrer 29
weißen Haut steckte. »Ich war ganz von Sinnen, weil Ihr mich in eine Kammer gebettet habt, die dem Gemach Eurer Frau gegenüberliegt… Liebster, ich weiß kaum noch, was ich gesagt habe.« »Hört Ihr auf mich?« schrie Fenton, der sich in seiner neuen Rolle gut gefiel. »Bin ich trunken? Wagt Ihr, so etwas zu behaupten? Oder gar verrückt?« »Liebster, Teuerster, ich habe doch mein Unrecht eingestanden!« »Und ich gestehe meinerseits, daß ich keinen sehr bewundernswerten Lebenswandel geführt habe. Na, das läßt sich ändern. Aber laßt uns der Komödie halber simulieren« – hier lachte er laut –, »daß wir ganz von vorn anfangen, daß wir uns nie begegnet sind und einander nicht kennen. – Wer seid Ihr?« Ihre langen Augenwimpern hoben sich in kurzer Verwunderung und senkten sich dann wieder. Ein süßer, verstohlener Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Wenn Ihr mich nicht kennt, Sir«, entgegnete sie, mit leichter Betonung des »Ihr« und »kennt«, »meiner Treu, dann kennt mich kein Mann auf Erden!« »Daß Euch die Pest! Wie ist Euer Name?« »Ich heiße Magdalen York, die Ihr Meg zu nennen geruht. Und wer ist ›Mary‹?« Magdalen York. In Giles Collins' Manuskript war »Madam Magdalen York« ziemlich häufig erwähnt. Das Wort »Madam« bedeutete nicht unbedingt, daß sie verheiratet war, sondern bezeichnete nur eine Dame von Stand. Aber diese Frau ähnelte ihrem zeitgenössischen Bildnis kaum. Wahrscheinlich war es die Schuld des Graveurs. Sie war … 30
»Sir Nick«, flüsterte die Frau, die sich Meg nannte, in sanftem Schmeichelton. Sie schwebte näher an ihn heran, offenbar im Zweifel, ob sie die Arme um seinen Hals schlingen oder sich von ihm fernhalten solle. Als sie so vom Ankleidetisch hinwegglitt, sah Fenton sein neues Gesicht zum ersten Male im Spiegel. Mit langen Schritten trat er vor, hob den Kerzenhalter in die Höhe und betrachtete sich aus der Nähe. »Sapperlot!« stieß er hervor. Diesmal hatte der Graveur gute Arbeit geleistet. Aus dem trüben Glas blickte ihm unter einem enggewundenen Kopfputz aus weißgestreifter mattbrauner Seide ein dunkelbraunes, aber nicht unschönes Gesicht mit einer langen Nase und einer dünnen schwarzen Schnurrbartlinie über einem gutmütigen Mund entgegen. »Sir Nick Fenton, geboren am 29. Dezember 1649, gestorben …« Du liebe Güte, er konnte ja nicht mehr als sechsundzwanzig Jahre alt sein! Nur ein Jahr älter als Mar … als diese Meg. Neue, erregende Gedanken schlichen sich Professor Fenton in Gestalt von Sir Nick in den Sinn. Unter dem braunen Schlafrock, der mit scharlachroten, silberumrandeten Mohnblüten besetzt war, straffte sich sein sehniger Körper. »Ei, ei«, ertönte Megs lockende Stimme hinter seiner Schulter. »Ihr wollt doch nicht schon wieder Wahnsinn simulieren?« »Aber nein. Ich wollte nur sehen«-und er fuhr sich mit der Hand über das Kinn –, »ob ich schlecht rasiert sei.« »Als ob mir das einen roten Heller ausmachte!« Ihre Stimme nahm einen anderen Tonfall an. »Lieb Herz, Ihr wollt doch nicht wirklich … Euren Lebenswandel ändern?« 31
»Wäre es Euch nicht nach dem Sinn?« Er stellte die Kerze auf den Tisch und drehte sich um, so daß er ihr gegenüberstand und das matte Licht voll auf Meg York fiel. »Was andere Frauen angeht, sicherlich!« Ihr Gesicht war ein wenig gerötet, und ihre Stimme klang jetzt ernst, aber weich. »Ich habe Euch in den letzten beiden Jahren geliebt – ganz über alle Maßen geliebt! Ihr werdet mich doch nicht verlassen?« »Könnte ich das?« »Nu-un! Ich meine nur so …«, murmelte Meg. Während sie wie geistesabwesend zu Boden starrte, ließ sie ihr gelbes Neglige auseinanderfallen. Darunter trug sie nicht einmal ein Hemd. Wie ein Würger bemächtigte sich Fentons ein brennendes Verlangen. Die Anziehungskraft, die von ihrem Körper ausging, machte ihn schwindeln. »So geht das nicht weiter«, dachte der Professor von Cambridge. Der Sessel mit der hohen Lehne stand hinter ihm. Mit so viel Würde, wie er aufzubringen vermochte, ging er darauf zu und ließ sich hineinfallen. Er hatte nicht mit seiner kürzeren Statur gerechnet und stieß infolgedessen unerwartet hart auf. Während der ganzen Zeit beobachtete Meg ihn durch halbgeschlossene Lider mit einem heimlichen Lächeln. »Ihrem tugendsam gewordener Weiberheld?« murmelte sie. »Oh, pfui!« Dann verschwand ihr Lächeln, obgleich die Röte auf ihren Wangen blieb. »Wie ich Euch schon sagte«, bemerkte sie, »war ich so ungemein vexiert, weil Ihr mich gegenüber dem Zimmer 32
Eurer Frau untergebracht habt, was einen tosenden Skandal heraufbeschwört, falls wir entdeckt werden. Ich hätte Euch umbringen können! Aber ich hab's vergessen. Alles hab' ich vergessen. Warum sollten wir uns darum kümmern, was sie denkt?« »In der Tat, warum?« fragte er mit heiserer Stimme. Fentons Nerven zuckten wie ein Fisch an der Leine. Er sprang auf, und Meg streckte ihm ihre Arme entgegen. Aber er berührte die Frau nicht – jedenfalls nicht jetzt. Mit halbverglasten Augen warf sie einen Blick über ihre Schulter. »Die Tür«, flüsterte sie. »Dummkopf, Ihr habt vergessen, die Tür zu schließen! – Horcht! Habt Ihr das vernommen?« »Ein Geräusch!… Was macht's schon?… Ich …« »Habt Ihr das Kratzen einer Zunderbüchse noch nie gehört?« forschte sie. Ihre Stimme war von Wut erfüllt, und sie stampfte heftig mit dem Fuß auf. »Meine teuerste Base, Eure Gemahlin, wird hier im Zimmer sein, ehe Ihr bis zehn zählen könnt. Bitte, setzt Euch doch!« Später hatte Professor Fenton die vage Vorstellung, daß er Worte –Flüche des siebzehnten Jahrhunderts – gemurmelt hatte, die ihm, wie er glaubte, bisher unbekannt gewesen waren. Einen Augenblick glaubte er, daß Sir Nick von ihm Besitz ergreife, da sich sein Erinnerungsvermögen umnebelte. Aber er setzte sich hin, und Sir Nick verschwand. Er versuchte, sich auf rein theoretische Dinge zu konzentrieren. Wenn Meg ihre Zähne zeigte, waren sie so ebenmäßig und weiß wie die eines Hundes, obwohl nur 33
die wenigsten Menschen dieser Zeit sich die Mühe machten, die Zähne gelegentlich mit einem Seifenstäbchen zu säubern. Zweifellos lag es am Kauen der groben Nahrung. Aber es ließ sich nicht leugnen, daß Megs Körper rein und weiß war in einem Zeitalter, wo… halt! Dies brachte seine Gedanken nur wieder zum Ausgangspunkt zurück. Klack! Eine Türklinke auf der anderen Seite des Flurs schnappte ein. Er sah den Schimmer einer Kerze und hörte das Rauschen von Taft, als jemand das Zimmer betrat. »Teuerste Lydia!« säuselte Meg mit Augen voll kindlicher Unschuld, das Neglige wieder züchtig verschlossen. »Dies ist also die Frau«, überlegte Fenton, der es nicht wagte, einen Blick über seine Schulter zu werfen, »die ich neun Jahre lang – hm – platonisch geliebt habe.« Schließlich faßte er genügend Mut und sah sich um. Lydia, Lady Fenton, erschien in vollem Staat, wie für einen Hofball. Ihr himmelblau und rosa gefärbtes Taftkleid war ärmellos, das pralle, tiefausgeschnittene Mieder herzförmig und mit venezianischer Spitze besetzt, die Taille schlank und der bis zu den Füßen reichende Rock nur ein wenig abstehend. Ihr weiches, hellbraunes Haar lag glatt auf ihrem Kopf, bedeckte auch die Ohren und war an den Seiten in vereinzelten Locken frisiert. Lydia besaß eine hübsche Figur. Sie war nicht so groß wie Meg, und Fenton wußte, daß der lange Rock hohe Absätze verbarg. Lydia Fenton wäre außergewöhnlich hübsch gewesen – wenn ihr Aussehen nicht durch einen Umstand beeinträchtigt gewesen wäre.
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Ihre Arme, Schultern und Brust waren mit einem groben weißen Puder beschmiert. Primitive Kosmetika hatten ihr Gesicht in eine weiß-rote, wie Email wirkende Maske verwandelt. Von dem leichenblassen Grund hoben sich die rotgemalten Wangen und schar-lachfarbenen Lippen scharf ab. Sie trug zwei Schönheitspflästerchen, neben dem linken Auge und im Mundwinkel: winzige schwarze Papierstückchen, die in Form von Herzen und Diamanten geschnitten waren. Diese Aufmachung hatte etwas Gespenstisches. Die Gesichtspaste für eine verlebte Frau von Siebzig war auf das Gesicht eines einundzwanzigjährigen Mädchens geschminkt worden, so daß man den Eindruck hatte, eine alte Wachsfigur sei von ihrem Postament hinabgestiegen. »Teuerste Base«, wiederholte Meg. Mit etwas unsteten Schritten trat Lydia an den Kaminsims zu ihrer Linken, auf den sie ihre Kerze stellte. Sie hatte schöne blaue Augen. Trotz der Maske konnte man erkennen, daß sie geweint hatte. Auf einmal tat Fenton etwas Seltsames. Mit einer Hand hob er den hohen, schweren Eichenstuhl auf und ließ ihn krachend zu Boden fallen. »Unser gnädigster Herrscher, Charles der Zweite«, deklamierte er wie in einer Trance. »Von Gottes Gnaden König von England, Schottland und Irland, Verteidiger des Glaubens. Und« – der Trancezustand wich – »er schläft jetzt im Whitehall-Palast.«
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»Oder auch woanders«, meinte Meg kichernd und zuckte erstaunt die Achseln. »Was macht's schon?« Lydia beachtete Meg überhaupt nicht. »Sir«, wandte sie sich mit leiser, süßer Stimme an Fenton. »Ihr werdet zugeben müssen, daß ich viel ertragen habe. Aber daß Ihr und diese Kreatur drei Schritt von meiner Tür entfernt…« »Oh, welche Gemeinheit!« Meg zitterte vorgespielter Empörung. »Schöne Base, Ihr denkt doch sicherlich nicht, daß Nick und ich…« Immer noch vermied es Lydia, sie anzusehen. Vielleicht war es dieser Umstand, der Megs Redefluß unterbrach. Vielleicht aber auch das Verhalten von Professor Fenton, der sich tief vor Lydia verneigte und ihre Hand zum Kuß an den Mund hob. »Mylady«, sagte er sanft, »ich bin mir meiner Schwächen und meiner Grausamkeit Euch gegenüber nicht ganz unbewußt. Darf ich Euch auf den Knien um Verzeihung bitten?« Als er sich wieder erhoben hatte, fuhr er fort: »Ich bin nicht der ungehobelte, geistlose Mensch, den Ihr in mir vermuten müßt. Mit Verlaub werde ich mein Betragen ändern.« In Lydias blaue Augen trat ein Ausdruck, der ihn fast körperlich schmerzte, so mitleiderregend war er. »Ihr bittet mich um Verzeihung?« flüsterte sie. »Ich bitte Euch darum von ganzem Herzen.« Dann malte sich ein flüchtiges Entsetzen in ihren Augen. »Ihr schwört es mir?« bettelte sie. »Es ist kein Schabernack, den Ihr mir spielt?« 36
»Ich schwöre es bei der ritterlichen Ehre, die mir geblieben ist.« »Dann trennt Euch von ihr«, bat Lydia und umklammerte seine Hand. »Erlaubt ihr nicht, unter diesem Dach zu weilen. Nicht eine Nacht, nicht eine Stunde mehr. Herzliebster, ich flehe Euch an! Sie wird Euch vernichten; ich weiß es! Sie wird …« Blitzschnell nahm Meg einen Handspiegel vom Tisch und schleuderte ihn nach Lydia. Er traf weder Lydia noch Fenton, sondern segelte durch die offene Tür und zerbrach klirrend im Flur. Meine Güte, dachte Professor Fenton von Cambridge, diese Menschen haben keine Hemmungen. Obwohl er sich zu beherrschen suchte, spürte er, wie ihm die Adern am Hals vor Zorn schwollen. »Kanaille!« kreischte Meg. »Hure!« keifte Lydia. »Molkengesicht!« »Brander!« »Brander, wie?« wiederholte Meg, der bei dieser tödlichen Beleidigung der kalte Schweiß ausbrach. Ohne auf den Sitz ihres Negliges zu achten, wirbelte sie herum und deutete auf die unordentlich über den Ankleidetisch verstreuten Tücher und Salben, mit deren Hilfe sie ihr Make-up entfernt hatte. »Und bin ich es etwa, die die Franzosenkrankheit hat«, fragte sie, wieder herumwirbelnd, »so daß ich mein Gesicht nur unter einer dicken Puderschicht zu zeigen wage? Pah! Oder ist es die anscheinend unschuldige, die tugendhafte 37
Gemahlin – Enkelin eines verurteilten und gehängten Königsmörders –, die in Wirklichkeit eine Gefahr für die Männer ist, weil sie …« Abermals hielt Meg inne. Fenton fühlte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg. Es wurde ihm ganz schwarz vor den Augen, und er war seiner selbst nicht mehr mächtig. Mit beiden Händen wirbelte er den schweren Stuhl in der Luft herum, als sei er aus Sperrholz gemacht, um ihn Meg York auf den Kopf zu schmettern. Meg, zum ersten Male wirklich in Angst und Schrecken, wich schreiend zurück und fiel auf Hände und Knie, wobei sie ihr Gesicht hinter dem langen, vornüberfliegenden Haar verbarg. Mit ihren Fingern krallte sie sich in den hellen Teppich, daß der Staub aufwirbelte. Daß sie mit dem Leben davonkam, lag einmal daran, daß Sir Nick zu sehr nach ihr lüstete und daher zauderte, sie zu töten; und zum anderen, daß Professor Fenton, der sich gleichsam abmühte, den Deckel eines Sarges zu schließen, spürte, wie der Kampf nachließ und der Deckel zuklappte. Fentons Arme und Beine zitterten, als er den Stuhl zu Boden senkte. Der Ekel stieg ihm in die Kehle. Als ihm sein eigenes bleiches Gesicht mit den schwarzen, geschweiften Augenbrauen und dem dünnen Schnurrbart aus dem Spiegel entgegenstarrte, erkannte er sich nicht und blickte sich wild nach einem anderen um. Allmählich wurde er ruhiger. »Hoffentlich habe ich Euch nicht erschreckt, Madam«, sagte er heiser – zu Lydia, nicht zu Meg. »Ein wenig«, gab Lydia zur Antwort. »Aber nicht so sehr, wie Ihr annehmt. Ihr werdet sie nun doch wohl 38
fortschicken?« Hinter Fentons Rücken ertönte ein höhnisches Kichern. Meg, die immer noch zwischen Tisch und Bettrand am Boden hockte, blickte ihn durch den Vorhang ihres langen schwarzen Haares an. Sie kniff die Augen zusammen und lachte mit geschlossenen Lippen. Er wußte, daß, von einem angsterfüllten Augenblick abgesehen, dieses Teufelsweib einen königlichen Spaß an dem ganzen Vorfall gehabt hatte. Fenton schritt auf die Tür zu. »Es soll geschehen, wie Ihr es wünscht«, versprach er Lydia und preßte seine Hand auf ihre nackte Schulter. »Indessen- nicht heute nacht. Diese Nacht, teures Weib, schlafe ich allein, da ich nachdenken muß. Und vor allem«, sagte er barsch, als er sich in der Tür umwandte, »wünsche ich Euch allen beiden angenehme Ruhe!« Er schlug die Tür hinter sich zu, schlurfte einige Schritte in Richtung seines eigenen Schlafzimmers, legte dann den Kopf gegen die Wandtäfelung und versuchte, eine Weile nachzudenken. Hatte wohl je ein Mann, so fragte er sich, mit einem so furchtbaren Problem zu ringen gehabt? Zweimal in dieser Nacht hatte Sir Nick beinahe – beinahe aber nicht ganz – die Herrschaft über ihn gewonnen. Und nicht allein im Zorn. Der Teufel hatte so obenhin von Zorn gesprochen. Körperliches Verlangen, das irgendwie vage mit Zorn verknüpft zu sein schien und genauso machtvoll sein konnte, hatte der Teufel – der in Zukunft nicht unterschätzt werden durfte – jedoch nicht erwähnt. Aber körperliches Verlangen trat von selbst in Erscheinung, wenn man sich strotzende Gesundheit und das Alter von sechsundzwanzig Jahren ausbedungen hatte.
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Er begann allmählich, Sir Nicks Charakter ein wenig zu verstehen. Sir Nick begehrte Meg York und würde sie niemals vertreiben oder zu Schaden kommen lassen. Aber Sir Nick liebte seine Frau ebenfalls. Konnte ein Mann im gesetzten Alter diese Gelüste beherrschen? Aber Achtundfünfzig war eigentlich noch kein Alter; hatte er überhaupt den Wunsch, diese Regungen zu unterdrücken? Es dämmerte Fenton mit Entsetzen, daß er im Innersten Sir Nicks Gefühle teilte. Dabei hatte er versprochen, Meg am nächsten Tag den Laufpaß zu geben. Doch dies war nicht das eigentliche Problem. Nein, bei weitem nicht! Das eigentliche Problem, das er aus dem säuberlich geschriebenen Manuskript von Giles Collins herausgeschält hatte, war folgendes: Wenn er es nicht verhindern konnte, würde Lydia genau nach einem Monat an Vergiftung sterben. Und die Person, die er auf Grund gewisser Einzelheiten des Manuskripts seit langem als Mörderin in Verdacht hatte, war Meg York. In seinen knirschenden Lederpantoffeln stolperte Fenton in sein Schlafzimmer.
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III Als Fenton am nächsten Morgen erwachte, hatte er nicht das Gefühl, geträumt zu haben. Er wußte sehr wohl, wo er sich befand. Ein schwacher morgendlicher Schimmer drang durch die Bettvorhänge aus ungebleichtem Linnen, die abermals fest zugezogen waren. Fenton hatte sich selten so glücklich, so übermütig und so erfrischt gefühlt. Er straffte seine Muskeln unter dem verwickelten Schlafrock und sog die Luft tief in die Lungen. Ja, es war erstaunlich, daß ein Mann sich so frisch fühlte im Alter von achtundf… nein, sechsundzwanzig Jahren. Besser noch! Seine gestrigen Sorgen erschienen ihm jetzt leicht. Meg aus dem Haus jagen und Lydias Leben retten – die einfachste Sache auf der Welt! Selbst wenn Meg keine Schuld trug, war es gut, wenn man sie loswurde. »Die Welt, das Fleisch und der Teufel«, sann er laut, »ich habe sie alle drei herausgefordert.« Professor Fenton lächelte. »Ich besitze beides: die Weisheit des Alters und die Kraft der Jugend – eine gute Kombination, um mit allen dreien fertig zu werden.« Wie auf ein Signal hin wurden im nächsten Augenblick beide Vorhänge zu seiner Linken weit aufgezogen. In der Öffnung stand ein hagerer, nicht sehr großer Mann in schlichter, dunkler Kleidung von guter Qualität. Er trug Kniehosen und seidene Strümpfe. Eine blitzartige Erinnerung an die alten Stahlstiche verriet Fenton sofort, daß es Giles Collins war, Sir Nicks Diener und Schreiber in einer Person. Sein feuerrotes Haar stand kerzengerade in die Höhe. Er hatte ein langes, mageres Puritanergesicht, 41
aber lüsterne Augen und einen sinnlichen Mund. Seine angeborene Frechheit verleitete ihn dazu, seinem Herrn zu widersprechen, wobei er sehr weit ging. Aber wie Fenton aus anderen Quellen als Giles' eigenen Aufzeichnungen wußte, war er der treueste Diener, den man sich denken konnte. »Einen schönen guten Morgen, mein Herr und Gebieter«, sagte er unterwürfig. Fenton rollte auf die Seite und ließ sich die Phrasen und den Akzent, die er gebrauchen mußte, durch den Kopf gehen. »Heda, du verwünschter Spitzbube«, brummte er. »Gehst schon so früh deinen Geschäften nach?« »Ja, freilich. Und Euren ebenfalls. Wie ich sehe, wart Ihr gestern abend wieder benebelt. Nanu! Könnt Ihr denn nicht ein properes Nachtgewand anlegen, selbst wenn ich es für Euch zurechtlege?« »Es ist verdammt lästig.« »Wahr, in mancher Beziehung wahr!« pflichtete ihm Giles weise bei, während ein lüsternes Lächeln um seinen Mund spielte. »Ah, diese Damen! Wenn Madam York dies macht« – seine Beschreibung war drastischer, als sich hier wiedergeben läßt –, »oder wenn Madam York jenes macht…« »Halt dein Maul, verdammt noch mal!« Der rotköpfige Giles schrumpfte zusammen wie eine gestochene Blase und blickte tiefverletzt drein. »Na, na«, knurrte Fenton, »hab's nicht böse gemeint.« »Und ich will Euch doch nur gute Dienste leisten, Sir!« sagte Giles. »Und dieses Frauenzimmer, diese Magdalen York, sie soll das Haus verlassen, sobald wir eine 42
Glaskutsche holen können. Wohin sie geht, steht in ihrem Belieben. Ich bin mit ihr fertig. Verstanden?« Fenton brach ab, weil Giles, das lange Gesicht zur Seite geneigt, ihn mit einem Blick betrachtete, in dem weder Unterwürfigkeit, Zustimmung noch Frechheit lagen. »Was zwackt dich nun, Giles?« »Nichts für ungut, bester Herr«, erwiderte Giles. »Es ist nur, daß ich dieselben Worte schon so oft von Euch gehört habe.« Fenton richtete sich kerzengerade im Bett auf. Leise trat Giles an den Tisch zu Häupten des Bettes. Auf diesem stand jetzt ein schweres silbernes Tablett mit einem fast ebenso schweren silbernen Becher, der dampfend heiße Schokolade enthielt. Geschickt hob Giles das Tablett auf und ließ es auf Fentons Schoß gleiten. Ebenso geschickt und rasch zog er die anderen Bettvorhänge auf und befestigte sie alle mit einer Schlinge an den Bettpfosten. Fenton blickte sich verstohlen im Zimmer um. Ein grauer, bedeckter Himmel zeigte sich hinter den beiden Fenstern. Vom Bett aus waren nur windbewegte Baumwipfel zu sehen. Die Vorhänge aus schwerem mattweißem, mit roten Fäden durchwehtem Brokat waren alle zurückgezogen und mit Schlingen befestigt. Auf dem Boden lag ein Teppich in so bunten Farben und verschlungenen orientalischen Mustern, daß Fenton die Augen schloß. Das Mobiliar bestand aus düsterer, harter, unnachgiebiger Eiche. Die niedrige Decke und die braungetäfelten Wände wirkten bedrückend. Er zog eine Grimasse, als er seine Schokolade trank. Sie war körnig und viel zu süß; aber ein junger Gaumen kann alles vertragen. Giles beobachtete ihn scharf. 43
»Herr, Ihr müßt Euch sputen!« stöhnte der DienerSchreiber, die Hände ringend. »Die Stunde ist vorgerückt…« »Wie spät?« »Nach acht. Und Lord George wird bald hier sein.« »Nennst du das spät?« fragte Fenton, während er ein Gähnen vortäuschte. »Nun mal rasch Rede und Antwort gestanden, Rotkopf: was für einen Tag haben wir heute? Und was für einen Monat? Und wo wir schon mal dabei sind, potz Geck, was für ein Jahr?« Giles warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, unterdrückte jedoch eine unverschämte Bemerkung und setzte ihn davon in Kenntnis, daß es Dienstag, der zehnte Mai im Jahre des Herrn 1675 sei. Dann war der gestrige Abend, dachte Fenton, ein Teil dieses Tages. Natürlich nach Mitternacht! Der Teufel hielt seinen Pakt genau ein. Und Lord George mußte natürlich George Harwell, der zweite Sohn des Grafen von Bristol, sein. Er war Sir Nicks engster Freund und Zechkumpan. »Eure Kleider, guter Herr!« sagte Giles, der von einem Stuhl zum anderen flog, auf denen die verschiedenen Kleidungsstücke ausgelegt waren. »Schlicht, doch mit einem farbigen Einschlag zum Zeichen Eures vornehmen Standes? Rock und Hose aus schwarzem Samt, schwarze Strümpfe und Euren ClemensHornn-Degen?« Verdrießlich blieb Giles neben einem hohen Stuhl stehen, über dem ein schmales ledernes Degengehenk mit silberner Schnalle lag.
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»Wird wohl ein Blutvergießen geben heute«, setzte er hinzu. »Ich fürchte, Ihr geht manchmal zu weit.« »Blutvergießen?« rief Fenton. »Zu weit gehen?« Davon hatte im Manuskript nichts gestanden. Vielleicht war es nicht geschehen oder aus Zartgefühl unterdrückt. »Seid Ihr mit meiner Wahl einverstanden, Herr?« Fenton betrachtete die Kleidungsstücke. Von zahlreichen Bildern her wußte er genau, wie sie aussahen, wenn sie getragen wurden. Aber er hatte keine Ahnung, wie er sie anlegen sollte. Also erteilte er den einzig möglichen Befehl, der zugleich der passende Befehl dieser Zeit war. »Kleide mich an!« gebot er und kam sich recht albern vor. dies führte ihn an einen Tisch, der zwischen dem linken Fenster und der Wand stand und Megs Ankleidetisch ähnelte. Der Diener hatte verschiedene Dinge darauf angeordnet: eine riesige silberne Waschschale, eine enorme Kanne mit heißem Wasser, ein sehr großes Rasiermesser mit gerader Klinge, das auf einem geölten Wetzschiefer lag – Fenton scheute ein wenig davor zurück –, mehrere stark parfümierte Seifen in Näpfen und erwärmte Tücher. Am Tisch stand ein gerundeter Stuhl mit einem tiefen Kissen. Auf Giles' breite, einladende Geste hin nahm Fenton darauf Platz. Geschickt wickelte Giles Fentons Kopfputz los. Höchst würdevoll, ohne einen Tropfen Wasser zu verspritzen, wusch er Fentons Hände – jede bis zu einer Stelle, die etwa fünf Zentimeter oberhalb des Handgelenkes lagund trocknete sie mit großer Sorgfalt.
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»Nun, das ist eine gute Leistung!« meinte der Professor, wobei er seine rechte Hand aus dem Ärmel schob und einer genauen Inspektion unterzog. »Fürwahr, eine bewundernswerte Leistung, so weit sie reicht. Reicht sie aber, so fragt man sich, weit genug? Wie, wenn ich gesonnen wäre, mir ein Bad bereiten zu lassen?« Giles' rote Augenbrauen schossen in die Höhe, so daß sie zwei Halbkreise formten. »Guter Herr?« sagte er. »Ich habe es aus guter Quelle«, erwiderte Fenton sinnend, »daß Königin Catherine von Braganza, als sie vor einer Dekade unseren König heiratete, in einem ihrer Gemächer im Whitehall-Palast eine große Badewanne aufstellen ließ mit einer Pumpe, die das Wasser hinaufschaffte.« »Wir haben auch eine Badewanne«, bemerkte Giles beleidigt. »Und wohl ein halbes dutzendmal im Jahr, soviel ich weiß, muß Big Tom sie aus dem Keller heraufholen, weil Mylady Fenton oder Madam York ein solches Gezeter machen.« »Wogegen du gemäßigter sein würdest, nicht wahr?« »Ich sage nichts dazu«, erklärte Giles. Während dieser Unterhaltung hatten die Finger seiner rechten Hand in einem Seifenschälchen gearbeitet und einen duftenden Rasierschaum hervorgezaubert. Dann fuhr er fort: »Aber die Damen unseres Hauses bringen es fertig, sich ohne ein ungeheuer großes Faß und zahllose Eimer frischen Wassers aus der Pumpe zu waschen. Ihr Verlangen, Hals, Arme und Schultern zu säubern, dünkt mich ganz natürlich, da diese in öffentlichen Plätzen wie 46
Ballsälen und Spielhäusern zur Schau gestellt werden. Doch bei Gelegenheit waschen sie sich von oben bis unten.« Hier blinzelte er lüstern mit einem Auge, aber so ungekünstelt und heiter, daß selbst dieser Blick nicht unangenehm wirkte. »Giles«, sagte sein Herr, »du bist ein lüsterner alter Kerl.« »Alt oder jung, wer ist es denn nicht?« entgegnete Giles. »Etwas anderes zu simulieren, wäre Heuchelei, die in der Heiligen Schrift unzählige Male verurteilt wird.« Mit der linken Hand legte Giles ein warmes Tuch sanft um Fentons Hals und schob dessen Kopf so weit zurück, daß sein Nacken wie in einem Schraubstock auf der runden Rückenlehne des Stuhles ruhte. Nun seifte Giles seinen Herrn geschickt ein. »Um bei dem Thema zu bleiben …«, bemerkte Giles. »Potz Geck! Hörst du überhaupt nicht damit auf?« »Sir Nick, Ihr flucht zuviel. Den Kopf zurück, bitte.« Fentons Kopf wurde abermals zurückgeschoben, und sein Nacken erlitt Höllenqualen. »Nun, Frauen im allgemeinen, von der hochgestellten Madam Carwell – diese französische Sirene, die Seine Majestät umgarnt – bis zur niedrigen Mistreß Kitty, unserer Köchin, auf die ihr selbst so oft Euer lüsternes Auge geworfen habt…« »Was?« »Den Mund bitte schließen, guter Herr, sonst dringt der Schaum ein; so ist's gut. Frauen, sage ich immer, müssen ihren Körper duftender und reinlicher halten als wir armen Teufel, die sie durch ihre Schmeicheleien so plagen und 47
ködern, daß sie infolge ihres eigenen Benehmens des öfteren unbekleidet sind.« »Vorsichtig mit dem Rasiermesser, Frechdachs! Ich könnte ebensogut mit einem zweihändigen Schwert rasiert werden!« »Seid unbesorgt«, murmelte Giles. »Es wird federleicht sein.« Und so war es auch. Fenton spürte das Messer kaum, selbst nicht am Nacken und am Kiefer. »Was Männer anbelangt«, fuhr Giles fort, »so ziemt es sich, besonders für Standespersonen, daß sie gelegentlich ihren ganzen Körper waschen. Auch sollten die Fenster eines Hauses häufig geöffnet werden, um die nächtlichen Gerüche zu entfernen.« »Potz Blitz!« rief Fenton heftig und richtete sich so unvermittelt auf, daß nur Giles' Geschicklichkeit verhinderte, daß ihm die Kehle durchschnitten wurde. »Warum ist dann aber ein so widerlicher Gestank in diesem Hause?« Giles wischte den Schaum mit dem Nackentuch ab und zuckte wie ein Franzose die Achseln. »Nun, mein Herr, als wenn das meine Schuld wäre und nicht die Eure…« »Meine Schuld? Wieso?« Diesmal zuckte Giles die Achseln, daß sie fast bis zu den Ohren reichten. »Unser Keller ist zur Hälfte mit Kloakenwasser angefüllt, und man weiß nicht, wohin damit.« Giles blickte traurig drein. »Und Ihr seid ein Parlamentsmitglied, ein 48
Königstreuer und der glühendste Anhänger der Hofpartei. Wohl ein halbes hundertmal habt Ihr geschworen und dabei mit der Faust auf den Tisch geschlagen, daß Ihr Euren Mund öffnen und gemeinsame Sache mit Sir John Gilead machen wolltet, um ein Rohr bis zum Hauptabzugskanal legen zu lassen. Doch immer habt Ihr es wieder vergessen.« »Diesmal aber nicht, das kann ich dir versichern«, gelobte Fenton und ließ seinen Nacken noch einmal zurücksinken, um die Qual der Stuhllehne und die letzte Rasur über sich ergehen zu lassen. »Allerdings«, murmelte Giles, »steht uns ein dritter Weg offen.« »So?« »Gewiß, wir könnten alles in die Straße pumpen lassen, wie Sir Francis North es getan hat. Aber ich fürchte, das würde unsere Nachbarn arg vexieren.« »Ei ja«, meinte Fenton. »Roger North erzählt die Anekdote in seiner Biographie von« – er korrigierte sich rasch –, »Mr. North erzählt es jedem, der es hören will, wenn er ein paar Halbe in der Teufelsschenke innerhalb von Temple Bar geschmettert hat.« Das Rasiermesser hielt inne. Fenton spürte, daß alle Keckheit und Schwatzhaftigkeit von Giles abgefallen waren, daß sich eine leise Furcht seiner bemächtigt hatte. »Aber sicherlich«, warf Giles rasch ein, »würdet Ihr keinen Becher Wein in der Teufelsschenke trinken? So dicht beim ›Königshaupt‹ an der Ecke von Chancery Lane?« 49
»Und warum etwa nicht?« Hier machte Fenton, ohne es zu wissen, seinen ersten großen Schnitzer. Fenton, so eifrig darauf bedacht, sich nicht in Kleinigkeiten zu verraten, hatte einen wichtigen Punkt unbemerkt gelassen. Er hatte gewußt, daß Sir Nick ein Parlamentsmitglied und ein Anhänger der Hofpartei war. Es hatte ihn in hohem Maße gefreut, da er für diese Ära denselben politischen Standpunkt vertrat. Doch im Augenblick verband er diese Tatsachen nicht mit der Schenke »Königshaupt«. Dieser Name spielte auf die Enthauptung von König Charles dem Ersten im Jahre 1649 an. Die Hinrichtung erfolgte auf Betreiben von Cromwell. Der frostige graue Himmel schien auf einen frostigen, übelriechenden Raum herabzupressen. »Nun beugt Euren Kopf nach vorn über das Waschbecken«, sagte Giles, »damit ich Euer Gesicht waschen kann.« Zwanzig Minuten später stand Fenton, völlig angekleidet, vor einem langen Spiegel und betrachtete sein Ebenbild mit ungläubigem Staunen. Die glänzende schwarze Perücke, deren Locken ihm über die Schultern fielen, hätte über dem Gesicht des Professors mit seinem Kneifer recht lächerlich gewirkt. Doch als Rahmen für das breite, dunkelbraune Gesicht Sir Nicks mit seinen finsteren grauen Augen und seinem dünngezeichneten Schnurrbart paßte sie ausgezeichnet. Der schwarze Samtrock war ziemlich lang – er reichte fast bis zu den Knien –, aber bequem. Obgleich er lose herabhing und nie geschlossen getragen wurde, hatte er eine kurze Reihe silberner Knöpfe auf der rechten Seite. 50
Fenton hatte von Giles keine Juwelen bekommen, wofür er sehr dankbar war. Am Halse trug er nur ein kurzes Spitzenjabot über einer langen, schwarzen, rotgeschlitzten Seidenweste. Dann kamen Kniehosen aus schwarzem Samt und schwarze Strümpfe. Nur die Schuhe fehlten noch. Unwillkürlich fiel seine Hand auf den Degengriff, der an seiner linken Hüfte ein gutes Stück unter dem Rock hervorragte. Ebenso mechanisch glitten seine Hände unter die ziemlich lange Weste und schoben das Koppel eine Idee nach rechts. Hinter der linken Hüfte hingen von diesem Koppel zwei dünne Ketten, die die Scheide stützten und neigten. Und da die Scheide nur aus dünnsten, zusammengeleimten und mit Chagrinleder bedeckten Holzstreifen bestand, war sie so leicht, daß sie dem Duellanten nie hinderlich war. »Clemens Hornn«, sagte Fenton, ohne sich bewußt zu sein, daß er laut gesprochen hatte. »Der größte Degenmacher Englands in alten Zeiten.« Seine rechte Hand schloß sich um den festen, aus Draht geflochtenen Griff. Er trat vom Spiegel zurück und zog das Rapier. Die Klinge glitzerte schwach. Es war keins der schönen, altmodischen Kavalier-Rapiere mit Bechergriff und langen Stichblattzapfen. Diese hatten eine viel zu lange und schwer zu handhabende Klinge. Man hatte inzwischen entdeckt, daß der altmodische Hieb von der Schulter aus nichts gegen den blitzschnellen Stoß mit der Spitze vermochte. Fentons Degen war immer noch ein Rapier, wenn auch im Übergangsstadium zum Stoßdegen. Sein Stichblatt glänzte wie eine aus Stahl geschnitzte, sich schließende 51
Blume. Die kurzen, gebogenen Stichblattzapfen dienten nur als Ornament. Er war kürzer als die alten Degen – die Kanten stumpf und etwa zwölf Millimeter breit, unten schmaler werdend bis zur mörderischen Spitze –, aber leichter und viel tödlicher… eine schöne alte Waffe, die den Anforderungen der Zeit völlig entsprach. Von dem Augenblick an, wo er den Stahl berührte, spürte Fenton, wie ihn ein Gefühl von Stolz und Vergnügen, von Sicherheit und Macht durchdrang, was ihn sehr in Erstaunen versetzte, denn er war gewiß kein Degenfechter. Allerdings war er in seinen jüngeren Jahren ein sehr tüchtiger Florettfechter gewesen. Aber jetzt konnte er nur darüber lachen. Das Florett war ein Spielzeug. Ein Florettfechter konnte sich nicht zwanzig Sekunden gegen einen Degenfechter behaupten. Andererseits … In meiner kleinen Plauderei mit dem Teufel, dachte er bei sich, war von einem Duell nicht die Rede gewesen. Ich kann nicht vor meiner Zeit sterben; stimmt. Ich kann nicht von einer Krankheit befallen werden; stimmt. Wie steht's aber mit einem bösartigen Degenhieb? »Eure Schuhe, guter Herr«, unterbrach ihn Giles Collins' Stimme, die wie ein Rapier in Fentons Gedanken stieß, daß ihm der Degen beinahe aus der Hand gefallen wäre. »Wenn Ihr die Güte haben wollt, Platz zu nehmen«, sagte er, »werde ich sie Euch anziehen. Ich sehe, Ihr übt Euren geheimen Ausfall.« Plötzlich erblickte Fenton sein Ebenbild im Spiegel: die Oberlippe war zurückgezogen und zeigte die weißen Zähne 52
wie bei einem bissigen Hund. Die Locken seiner Perücke waren ein wenig nach vorn gerutscht. Er stand seitlich zum Spiegel, der rechte Fuß mit gebeugtem Knie vorgestreckt, der linke Fuß zur Seite und ein wenig rückwärts, sich an das rechte Bein heranschiebend. Das Rapier hielt er in einer unherkömmlichen Parade. Fenton kam wieder zu sich und lachte ein wenig zu laut. »Es ist kein ›geheimer‹ Ausfall«, informierte ihn Giles trocken, »obwohl alle Raufbolde es annehmen. Achtet darauf, wie sich Euer linker Fuß dem rechten nähert. Eure Parade ist viel zu dicht am Körper. Oho! Ich kenne mich aus.« »Ach, ich bin kein Fechter«, sagte Fenton achtlos, während er den Degen wieder in die Scheide steckte. Abermals warf Giles ihm jenen merkwürdigen, rätselhaften Blick zu und war im Begriff, etwas zu sagen, als Fenton ihn zum Schweigen brachte. »Ich habe viel Wichtiges zu erledigen«, sagte er, und sein rauher, barscher Ton traf den Diener wie ein Schlag. »Ist Lord George Harwell schon da?« »Nein, Sir, ich glaube nicht«, erwiderte Giles, während er seinem Herrn die Schuhe anzog. »Na, wenn er kommen sollte, muß er eben warten. Du kannst einen Gang für mich besorgen. Richte der gnädigen Frau eine Empfehlung von mir aus und …« Giles' dunkle Augen weiteten sich. »Eurer Gemahlin?« »Hast du keine Ohren?« fragte Fenton. »Gewiß doch. Ich dachte nur …« »Frag sie«, fuhr Fenton fort, eingedenk der geltenden Regeln, »ob sie mir hier so bald wie möglich ihre 53
Aufwartung machen will, falls es ihr keine zu große Mühe verursacht.« Der Ehemann mußte stets die Frau zu sich kommen lassen und niemals in der Öffentlichkeit zu ihr gehen. »Ich fliege«, murmelte Giles und versuchte, einen lüsternen Blick zu unterdrücken. Als er sich umwandte, spürte Fenton ein heftiges Verlangen, ihm einen kräftigen Tritt in den Allerwertesten zu versetzen, doch er wußte, daß Giles trotz seines Alters, das irgendwo zwischen fünfzig und siebzig lag, viel zu behende war, um sich schnappen zu lassen. »Ah«, murmelte der Diener, »wenn ich mich erdreisten darf…?« »Was gibt's denn nun?« »Sollte ich durch einen unglücklichen Zufall Madam York begegnen …« »Dann soll sie sich zum Teufel scheren!« Die Tür schloß sich. Fenton ging unruhig im Zimmer auf und ab. Er war sich bewußt, daß er durch diese Aufforderung an Lydia Gefühlsströme in Bewegung setzte, die ihn gestern nacht beinahe überschwemmt hätten. Aber jeder Augenblick dieses Morgens hatte ihn kühner gemacht; das lag wohl an seinem neuen Alter und der Verwandlung seines Äußeren. Er mußte ja zu Lydia eine gewisse Zuneigung verspüren, nachdem er neun Jahre lang versucht hatte, sich vorzustellen, wie sie in Wirklichkeit aussah. Aber dies – das redete er sich jedenfalls ein – war jetzt nicht von Bedeutung. Er preßte die Hände an den Kopf und 54
dachte an die Gerichtsmedizin, die er so eifrig studiert hatte. Wäre er in der vergangenen Nacht nicht übermäßig erregt gewesen, hätte er erkannt, warum Lydia sich so stark geschminkt und einen so unsteten Gang gehabt hatte. Auf zierlichen Absätzen trippelnde Füße kamen rasch über die nackten Dielen des Flurs. Dann wurde leise an die Tür geklopft. »Tretet ein!« rief Fenton. Es war Giles, der die Tür öffnete. Doch es wirbelten so viele Gefühlsströme in das Zimmer, daß Fenton ihn nicht einmal bemerkte. Im nächsten Augenblick trat Lydia zögernd über die Schwelle. »Mein Gott!« rief Fenton unwillkürlich und starrte sie so lange unumwunden an, daß ihr unbehaglich zumute wurde und ihr das Blut in die Wangen schoß. Lydia trug heute ein hellbraunes, in der Taille gerafftes Hauskleid mit winzigen Rüschen am Hals und an den Ärmeln. Sie schien keine entstellenden Kosmetika aufgetragen zu haben. Ihr frisches, von lichtbraunem Haar umrahmtes Gesicht wirkte im Augenblick nicht mehr krank oder erschöpft, weil es rosig angehaucht war. Sie hatte blaue, weit auseinanderstehende Augen, eine kurze Nase, einen vollen Mund und ein rundes Kinn. Sie war kein Schönheitstyp à la mode, da es ihr an einer gewissen Kühnheit fehlte. Aber um Fenton war es geschehen. Da Lydia niedrige Absätze trug, erschien sie noch kleiner. »Findet Ihr mich«, murmelte sie mit gesenkten Augen und schien nach einem passenden Wort zu suchen, »gefällig?« »Gefällig?« wiederholte Fenton. 55
Er trat dicht an sie heran, hob ihre Hand, küßte sie und preßte sie an seine Wange. »Gestern nacht«, stammelte sie, »habt Ihr mir auch einen Handkuß gegeben. Das habt Ihr nicht getan seit…« Sie brach ab. Jetzt, als er dicht vor ihr stand, konnte er den dünn aufgetragenen Puder sehen – hoch oben auf der Stirn beim Haaransatz und auf einer Wange. Wahrscheinlich erstreckte sich der Belag auch auf Arme und Schultern. Wenn er sie dazu überreden konnte, sich niederzulegen, konnte er selbst bei dem schlechten Licht Klarheit gewinnen. »Mylady«, sagte er sanft, »wollt Ihr die Güte haben, Euch auf das Bett zu legen?« Im selben Augenblick verriet ihm ein sechster Sinn die Anwesenheit von Giles Collins. Er stand neben dem Ankleidetisch und hatte die roten Augenbrauen fast bis zum Haaransatz emporgezogen, während sein Mund sich zu einem entzückten Pfeifen spitzte. »Affe! Laus!« brüllte Fenton, während er sich nach einem Wurfgeschoß umsah. »Ich werde dich an den Pranger bringen! Fort mit dir! Raus!« Dieses Mal bot sich Fenton wiederum die Gelegenheit, einen gewaltigen Tritt auszuteilen, da Giles am Bett vorbei mußte. Aber es gelang Giles, diesem aus dem Wege zu gehen. »Giles«, sagte er knurrend und halb versöhnlich zu dem boshaft grinsenden Gesicht vor der Tür. »Guter Herr?« »Sorg dafür, daß uns keiner stört.« 56
»Ich selbst werde Wache halten, Sir Nick.« Und Giles hakte die Tür ein, die weder Schloß noch Riegel hatte. Fenton kehrte wieder ans Bett zurück. Lydia hatte sich inzwischen gehorsam, wenn auch leicht zitternd, hingelegt, und Fenton setzte sich auf den Bettrand. »Mylady …«, begann er sanft. »Kannst du denn nicht ein bißchen zärtlich sein?« flüsterte sie, ohne die Augen aufzuschlagen. »Nenne mich doch Lydia! Oder« – sie zauderte, da sie kaum den Mut besaß, diesen Vorschlag zu machen –, »oder sogar… liebes Herz?« Fenton spürte einen Stich im Herzen, nicht wegen ihrer Naivität, sondern wegen ihrer Hingebung an den Mann, den sie in ihm vermutete. »Liebes Herz«, sagte er und ergriff ihre Hand, wobei er verstohlen den Puls fühlte, »denkst du noch manchmal an früher? Als ich mit siebzehn Jahren im Paracelsus-College die Würde eines magister artium erlangte und Arzneikunde studieren wollte, was mein Vater aber für unter meiner Würde hielt?« Sie nickte. Fenton, dem dies alles aus Giles' Manuskript bekannt war, besaß keine Uhr, aber er brauchte auch keine, um zu entdecken, daß ihr Pulsschlag schwach, schnell und unregelmäßig war. Als er sachte ihre Wange berührte, fand er sie kalt und ein wenig feucht und klebrig. »Nun«, fuhr er fort, »ich will dir verraten, daß ich dieses Studium in aller Heimlichkeit betrieben habe. Ich kann dich heilen. Kannst du mir dein Vertrauen schenken?«
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Die blauen Augen weiteten sich vor Staunen. »Wem sonst wohl?« fragte sie. »Bist du nicht mein Mann? Und … bin ich dir nicht zugetan?« Aus ihrer Stimme klang solche Verwunderung, daß Fenton mit den Zähnen knirschte. »Dann«, sagte er lächelnd, »wird's nicht mehr lange dauern.« Er sprang säbelklirrend auf die Füße und eilte zum Ankleidetisch, wo er den Zipfel eines sauberen Handtuchs in das lauwarme Wasser der Kanne tauchte. »Und nun, Lydia«, fuhr er fort, indem er mit dem angefeuchteten Tuch vorsichtig den Puder aus ihrem Gesicht wischte, »brauchen wir nur noch …« »Nein! Das gestatte ich nicht. Niemals!« Sobald das Tuch ihre Stirn berührte, kehrte sich Lydia, heftig den Kopf schüttelnd, zur Wand. Aber Fenton hatte bereits gesehen, was er erwartet hatte: einen Hautausschlag auf der Stirn. Dieselbe Erscheinung zeigte sich unter dem Puderfleck auf der Wange. Sachte betastete er ihre Waden. Beide waren ein wenig geschwollen und mußten sehr schmerzhaft sein. Nur eine zähe Ausdauer und ein leidenschaftliches Verlangen – wonach, das wußte er allerdings nicht- erzeugten in dieser einundzwanzigjähngen Frau den Glauben, daß sie gesund sei. »Lydia!« rief er in scharfem Ton. Mit einem Schwung drehte sie sich zu ihm um. Halb gegen das Kissen, halb gegen die Wand gelehnt, löste sie mit behenden Fingern die Schleife ihres Mieders, wodurch die ganze obere Hälfte ihres Gewandes auseinanderzufallen schien. Geschmeidig befreite sie Arme und Schultern. Ein 58
hochgeschlossenes seidenes Untergewand, das ihr dabei hinderlich war, zerriß sie kurzerhand, so daß sie schließlich mit völlig entblößtem Oberkörper dalag. Sie entriß Fenton das Tuch und begann, hastig den Puder von Schultern, Armen und Seiten zu entfernen. »Nun kannst du mich in meiner ganzen Schmach sehen!« rief Lydia. Obwohl es nur derselbe schwache, ekzemartige Ausschlag war traten ihr Tränen in die Augen. »Kann ich mich in der Öffentlichkeit sehen lassen, ohne daß man mich verhöhnt? Bist du nicht entsetzt?« »Nicht im geringsten«, erwiderte er lächelnd und zwang sie, ihn anzusehen. Doch schluchzend kehrte sie sich wieder von ihm ab. »Gestern nacht«, murmelte sie, »als diese Kreatur – oh, abscheulich! – andeutete, ich hatte die Franzosenkrankheit, hätte ich vor Schmach sterben können. Oh, sie hat es schon öfter gesagt. Aber wie hätte ich mir diese Krankheit holen können? Gott ist mein Zeuge, daß ich niemals … Aber die Angst will nicht weichen.« »Lydia!« sagte er scharf. Er legte ihr die Hände auf die bloßen Schultern und zog sie fast in eine sitzende Stellung. »Du hast gesagt, du habest Vertrauen zu mir. Nun sieh mich mal an.« Obgleich er seine Hände fallen ließ, sank sie nicht in die Kissen zurück. Doch ihr Gesicht wollte sie ihm noch immer nicht zuwenden. »Du hast nicht die Krankheit, die du vermutest. Überhaupt keine auf natürlichen Ursachen beruhende Krankheit. Ich kann dich in einem Tage oder noch eher heilen.« Fenton lachte. »Nun will ich dir beweisen, daß ich 59
die Symptome kenne. Leidest du nicht manchmal unter heftigem Durst?« »Ich – ich habe so viel Gerstensaft getrunken, daß ich beinahe platze. Aber woher weißt du das denn?« »Und hast du nicht auch häufig«, fragte er, indem er ihre Waden berührte, »an dieser Stelle Schmerzen?« Lydia blickte ihn an. Ihr Ausdruck grenzte fast an Ehrfurcht. »Und wenn du getrunken und gegessen hast – sagen wir mal, eine Viertelstunde später –, verspürst du da nicht gelegentlich starke Magenschmerzen mit heftigem Brechreiz?« »O ja! Fürwahr, dir scheinen alle Anzeichen vertraut zu sein. Aber was …?« Er fürchtete sich, ihre Frage zu beantworten, aber es blieb ihm keine Wahl. »Lydia, irgend jemand versucht, dich ganz langsam mit Arsenik zu vergiften.«
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IV Seine Furcht war begründet. Für Lydia, wie für die meisten anderen Menschen, hatte schon das Wort »Gift« einen schaurigen, mysteriösen Klang. Es verging eine geraume Weile, bis Fenton sie wieder beruhigen konnte. »Dann werde ich nicht… sterben?« »Aber nein! Fühlst du dich wie eine todkranke Frau?« »Behüte! Nein!« Nach einer Pause setzte sie hinzu: »Nur ein wenig indisponiert, weiter nichts.« »Das kommt daher, weil der Giftmischer dir zu geringe Dosen in zu großen Zwischenräumen verabfolgt hat. Wenn du nur den Trank nimmst, den ich dir verschreibe, hast du nichts zu befürchten.« Lydia fuhr sich mit der Hand an die Stirn. »Und diese – diese Pusteln …?« »Werden vollständig verschwinden. Es sind die Symptome einer Arsenvergiftung.« »Aber wer könnte denn danach trachten …?« »Davon sprechen wir ein anderes Mal«, sagte er. »Zuerst müssen wir dich kurieren.« Lydia, die sich im Überschwang der Freude und Erleichterung über eine so nebensächliche Person wie einen Mörder nicht den Kopf zerbrechen konnte, war völlig in den Anblick ihres Mannes versunken, und ihr ganzes Wesen beruhigte sich. Fenton versuchte, ihr in möglichst einfachen Worten das Gift und seine Wirkung zu erklären, obwohl er wußte, daß sie es nicht verstehen würde; selbst 61
die Akademie der Wissenschaften würde es nicht verstehen. In der vergangenen Nacht hatte er bemerkt, daß Lydia eine sehr hübsche Figur hatte. In ihrem gegenwärtigen Bekleidungszustand trat diese Tatsache deutlich in Erscheinung. »Diese Ammenmärchen«, sagte er, »von dem Blut einer Fledermaus, den Eingeweiden einer Kröte und anderen ekelhaften, aber völlig unschädlichen Substanzen erschienen allmählich lächerlich im Licht… im Licht…« Er hielt inne. »Verzeihung, was sagte ich doch noch?« »Liebster«, versicherte ihm Lydia zärtlich, obwohl ein wenig rot im Gesicht, »du hattest nur Augen für …« »Ja, fürwahr. Wahrhaftig. Ganz in Gedanken …« Fenton glitt vom Bettrand herunter. »Ich empfinde es aber nicht als unangenehm«, sagte Lydia. Fenton machte eine letzte Anstrengung, väterlich zu sein. Er trat zum Kopfende des Bettes, beugte sich zu Lydia herab und küßte sie leicht auf die Lippen. Dann aber war es vorbei mit aller Selbstbeherrschung. Lydias Arme umschlangen leidenschaftlich seinen Hals oder vielmehr die vermaledeite Perücke. Er bog ihren Kopf zurück und küßte sie auf eine Weise, die sich wohl als innig bezeichnen ließ. »Nick«, murmelte sie nach einer Weile dicht an seinem Mund. »Ja – ja?« »Als du mir zuerst gebotest, mich niederzulegen, habe ich dieselben Gedanken gehabt wie Giles. Dann überlegte ich mir: hier?… so öffentlich?… wo so viele Leute in der Nähe sind?…« 62
»Ich weiß.« »Soll unser wahres Rendezvous heute abend stattfinden?« Das war Unsinn – völliger Unsinn für eine Frau, die noch unter Vergiftungserscheinungen litt. Aber Fenton war auf dem besten Wege, den Kopf zu verlieren. »Heute abend, Lydia, bist du vielleicht nicht in der richtigen Stimmung für so etwas.« »Ich könnte dich lieben«, murmelte sie, »selbst wenn ich im Sterben läge. Liege ich etwa im Sterben?« »Nein! In Dreiteufelsnamen nein!« »Werde ich dann heute nacht deine Gesellschaft haben?« »Ja!« Er schloß sie fest in die Arme. Und – so will es die Natur nun einmal – Lydias Haut erschien ihm nicht mehr im geringsten kalt oder klamm. Der Kuß hatte einen solchen Grad von Leidenschaftlichkeit erreicht, daß beide es für töricht und überflüssig hielten, das Rendezvous zu verschieben. Giles war indessen eifrig bemüht, die Stellung im Flur zu halten, doch gerade in diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und Meg fegte ins Zimmer. In Sir Nick brachen unmittelbar die alten Gefühle für sie durch. Fenton, wenn auch ein wenig aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht, kannte eine andere Empfindung. Es war der Zorn, der sein Augenlicht langsam verdunkelte. Nach einem kurzen Blick hinter die zurückgebundenen Bettvorhänge wandte Meg den Kopf zur Seite und schritt langsam durch das Zimmer zu den Fenstern, um zu überlegen, wie sie mit dieser Situation fertig werden sollte. Ihre Arme zitterten ein wenig. Lydia selbst spürte nicht die 63
geringste Verlegenheit. Schon ehe Meg ihr einen Blick zuwarf, war es ihr gelungen, die Bettdecken so zu ordnen, daß sie noch weniger bekleidet zu sein schien, als es in Wirklichkeit der Fall war. »Ihr wollt uns also beehren, Madam?« fragte Fenton in recht bissigem Ton. »Meiner Treu, Ihr habt's erraten«, erwiderte Meg kühl. Die stolze Gestalt am Fenster wandte sich den beiden zu. Meg trug einen schwarzen Strohhut mit sehr breiter Krempe, die sie zwang, den Kopf hochzuhalten. Auf dieser nach hinten leicht aufgebogenen Krempe lag eine einzige goldene Feder. Noch nie hatte sich ihr schattenhaft weißer Teint so lebhaft von dem glänzendschwarzen Haar abgehoben. Trotz des warmen Wetters trug sie einen kurzen schwarzen Pelzüberwurf, der ihr nur bis zum Ellbogen reichte. Er war nicht geschlossen und ließ ein sehr tief ausgeschnittenes Miedersehen. Ihr an der rechten Hüfte befestigtes Handtäschchen war mit Gold bestäubt und mit einem Kreis von Rubinen verziert. Beide Hände steckten in einem schwarzen Pelzmuff, wie es die Mode vorschrieb. »Nick, Verehrtester«, sagte Meg von oben herab, »ich habe mir Eure Karosse für heute morgen bestellt. Ich weiß, Ihr werdet mir das nicht abschlagen.« »Meint Ihr, Madam?« Meg hatte offenbar beschlossen, so zu tun, als ob Lydia gar nicht existierte. Lydia gab ebenfalls vor, uninteressiert zu sein. Sie blickte mit verträumten Augen und einem leisen Lächeln vor sich hin. Doch Meg konnte es sich nicht 64
versagen – es ging wider die menschliche Natur-, einen kurzen wütenden Blick auf sie zu werfen. »Ich möchte wohl«, fuhr sie ungezwungen fort, »zur Neuen Börse fahren, um dort in den Arkaden zu spazieren und vielleicht ein paar Bagatellen zu kaufen. Liebster, ich bin ja so verschwenderisch. Doch werden zwanzig Guineen für heute genügen, denke ich.« »Seid Ihr sicher, Madam?« Sie warf ihm einen raschen Blick zu und sah, daß er mit gemessenen, drohenden Schritten auf sie zukam. Mit gespielter Heiterkeit ging sie vom Fenster weg und am Ankleidetisch vorbei auf die linke Wand zu. Mit zornumwölkter Stirn und zähneknirschend stellte er sich vor sie hin. Hilflos spürte er einen schweren Druck auf seiner Brust; er konnte kaum atmen. Es war, als stülpte sich die schwarze Haube des Henkers über seinen Kopf. Sein Verstand verwirrte sich. Er kämpfte dagegen an, aber… »Oh, pfui!« rief Meg, etwas ängstlich lachend. »Ihr seid doch gewiß nicht eifersüchtig auf diese armseligen Laffen in der Neuen Börse mit ihren flachsfarbenen Perücken, die mir mit verliebten Blicken folgen. Dem einen reiche ich – so – meine Mantille zum Halten, einem anderen – so – meinen Muff und einem dritten …« Meg brach ab. Sie hatte keine Zeit zu schreien oder sich zu rühren. Mit leisem Zischen wurde das Rapier aus der Scheide gerissen und glänzte matt in der trüben Beleuchtung. Seine Spitze ruhte auf Megs Körper, genau über der Mitte ihres Mieders. Eine Haaresbreite weniger, und die Spitze hätte sie nicht 65
berührt; eine Haaresbreite mehr, und sie hätte ihre Haut geritzt. »Ehe wir von etwas anderem sprechen«, ertönte eine heisere Stimme, »wollt Ihr gefälligst den Dolch fallen lassen, den Ihr in Eurem Muff tragt.« »Dolch?« flüsterte Meg und hob die langen schwarzen Wimpern. »Der Griff ragt über Eure Hand hinaus, und Euer Daumen ruht auf der Klinge: er ist beim besten Willen nicht zu übersehen.« »Oh, scheußlich! Wenn ich bedenke …« »Entweder laßt Ihr den Dolch fallen oder ich steche zu. Ruhig Blut, Madam. Ihr könnt selbst wählen.« Sir Nick würde nicht davor zurückschrecken. Das mußte Meg erkannt haben; denn sie ließ ihre grauen Augen umherwandern. Sir Nicks Daumen und Zeigefinger umschlossen den Degengriff fester, um die Spitze durch ihren Körper zu treiben, wahrend Fenton sich krampfhaft bemühte, den Arm zurückzuhalten. Mit kühler und etwas verächtlicher Miene zog Meg die rechte Hand aus dem Muff, und ein zierlicher venezianischer Dolch fiel klirrend auf den Fußboden neben dem Teppich. »Verbindlichsten Dank«, sagte der Mann in der Perücke, der in allen seinen Bewegungen so rasch und wendig war wie eine Katze, und senkte die Degenspitze. Dann bückte er sich, hob den Dolch auf und schleuderte ihn ans andere Ende des Zimmers. Während er sich aufrichtete, ließ er das Rapier wieder in die Scheide gleiten. »Und nun verratet mir
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einmal«, sagte er mit einem Blick auf die im Bett liegende Lydia, »wen von uns beiden Ihr zu erdolchen gedachtet.« Meg legte ein Erstaunen an den Tag, das nicht geheuchelt war. »Nun, die Tochter des Rundkopfs. Wen denn sonst?« erwiderte sie und deutete auf das Bett. »Habe ich sie nicht in dieses Zimmer huschen sehen? Konnte ich mir nicht vorstellen, was hier vor sich ging? Manche Tat ist in meinen Augen kein Verbrechen.« »Gott steh uns bei! Darin habt Ihr nicht so ganz unrecht.« Seine Stimme wurde sanfter. »Aber unternehmt nichts gegen meine Frau, Meg, und auch nichts gegen mich. Oder es wird Euch bitterlich gereuen. In der vergangenen Nacht habt Ihr eine niederträchtige Unwahrheit über meine Frau geäußert…« Meg zuckte die Achseln und blickte verdutzt drein. »Wenn sie meinen Zwecken diente, warum nicht?« fragte sie. »Ich tue, was mir gefällt.« »Wirklich? – Giles!« Mit schreckensbleicher Miene, aus der aller Schabernack gewichen war, schlüpfte Giles ins Zimmer. »Zu dienen, gnädiger Herr?« »Sorg dafür, daß Madam York das Geld bekommt, das sie verlangt.« Dann wandte er sich wieder an Meg. »Die Kutsche dürft Ihr benutzen, aber Ihr müßt sie zurückschicken. – Halt, einen Augenblick, Madam, ein Punkt wäre noch zu erwähnen.« Seine Finger krochen wieder zum Degengriff. »George Harwell und ich gehen zum Strand. Wenn ich Euch bei meiner Rückkehr hier noch vorfinde, wenn Ihr nicht mit all Euren Habseligkeiten für 67
immer verschwunden seid, werde ich den Friedensrichter holen und Euch in den Kerker werfen lassen.« Meg hob den Kopf unter dem schlappen Hutrand. »Und auf Grund welcher Anklage, bitte?« »Das werdet Ihr noch früh genug erfahren. Aber es ist eine Sache, die Euch an den Galgen bringt, dessen kann ich Euch versichern. Nun geht!« »Für immer? Das ist nicht Euer Ernst!« Er hatte den Degen halb aus der Scheide gezogen. Meg starrte in sein finsteres, gedunsenes Gesicht und wich gegen die Wand zurück. »Ich gebe Euch eine Minute«, sagte er, »und dann seid Ihr verschwunden.« Meg ließ den schwarzen Pelzumhang von den Schultern gleiten und drapierte ihn über den Muff. Ihre glänzendweißen Schultern hoben sich aus den schwarzen Rüschen des scharlachrot und schwarz gestreiften Mieders. Während sie ihren Hut zurechtschob, schloß sie ein wenig die Augen und lächelte wieder, ohne die Lippen zu öffnen. Eine leichte Bewegung konnte verführen, eine Erinnerung wecken … »Ist Euch bekannt«, fragte Meg, »daß Captain Duroc, der zum persönlichen Gefolge des französischen Königs gehört, schon eine Wohnung für mich in der Chancery Lane genommen hat? Die schönsten Räumlichkeiten in London? Und mich auf den Knien gebeten hat, wie sich das für einen Mann von Stand geziemt, mich von ihm unterhalten zu lassen?«
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»Ich wünsche Captain Duroc recht viel Vergnügen mit Euch.« »Nick!« schrie sie, als sie spürte, daß er seine Worte wirklich ernst meinte. »Eine halbe Minute ist um!« »Wenn Ihr mich unbedingt fortjagen wollt«, erklärte Meg in kühlem Ton, »so bin ich die letzte, die dagegen protestiert. Aber – heute schon?« Ihre Stimme wurde weicher. »Meiner Treu, ich benötige allein einen Tag, um meine Habe zusammenzupacken. Sir, wollt Ihr mich nicht noch eine Nacht unter Eurem Dache weilen lassen?« »Ich… ich… nun! Eine weitere Nacht, das möcht' ich wohl schwören, wird keinen Schaden stiften.« Hier richtete sich Lydia, die sich inzwischen in Fentons Schlafrock gehüllt hatte, kerzengerade im Bett auf. In ihrem Gesicht war ein neuer Ausdruck. »Und eins will ich Euch noch sagen«, fügte Meg hinzu, wobei ihr die Tränen über die Wangen liefen – Tränen, die man sogar für echt halten konnte. »Selbst wenn Ihr mich fortschickt, zu Captain Duroc oder einem anderen, so werden wir doch wieder zusammenkommen. In irgendeiner Weise gehören wir zusammen, auf Leben und Tod.« Es folgte eine tiefe Stille,, während der Wind an den Fensterscheiben rüttelte und in den Baumkronen wühlte. Unerwartet änderte sich Sir Nicks Stimme. »Mary!« sagte diese Stimme. »Ist es möglich, daß –»So gewann Fenton, der wieder den Sargdeckel über einen grausigen Inhalt hinunterzwang, abermals die Herrschaft und behielt sie auch. Er sah mit seinen eigenen Augen und 69
mit seinem eigenen Verstand. Doch im Augenblick durfte er nicht lockerlassen. Diese Frau Meg – selbst wenn es Mary wäre, was er anzweifelte – , mußte das Haus morgen verlassen; sonst würde ihr Einfluß alles vernichten. »Eure Zeit ist um«, mahnte er schroff. »Nun geht!« Er rasselte ein wenig mit dem Degen. Meg, die offenbar zu dem Schluß gelangte, daß weiteres Reden zu gefährlich sei, stürzte an ihm vorbei. Mitten im Zimmer blieb sie stehen und richtete sich auf, während sie sich den Pelzbehang um den Hals legte und ihren Hut mit der goldenen Feder von neuem zurechtschob. Sie war im Begriff, etwas zu sagen, überlegte es sich aber anders. Würdevoll und mit einem gewaltigen Rauschen von steifen Unterröcken fegte sie aus dem Zimmer. Nur jemand in der trüben Passage draußen hätte ihren veränderten Gesichtsausdruck und ihr verhaltenes Lächeln sehen können. Obwohl er ein wenig schwankte, blieb Fenton fest auf seinen Füßen stehen. Zweimal hatte er Sir Nick besiegt. Was aber würde geschehen, wenn die andere Seele an Macht gewann? Mechanisch ließ Fenton das Schwert wieder in die Scheide gleiten. Er war völlig in Schweiß gebadet und von dem Ringen erschöpft. Hinzu kam die Anstrengung, die ihm seine Rolle auferlegte. Mit möglichst festen Schritten ging er auf Lydia zu. »Lydia«, sagte er demütig, »du mußt mir verzeihen, daß ich dich vergessen habe, während ich mich mit… deiner Base beschäftigte.« Lydia betrachtete ihn mit anbetenden Blicken, was ihn sehr in Verlegenheit setzte. 70
»Daß du mich vergessen hast?« wiederholte sie. »Liebes Herz, bei der Gelegenheit hast du doch gerade an mich gedacht!« Ihre breiten, feuchten Lippen zitterten. »Wird sie diesmal gehen, diese Kreatur? Bestehst du wirklich und wahrhaftig darauf?« »Sie wird gehen«, antwortete Fenton mit ruhiger Überzeugung. Selbst Giles, der seine schreckliche Furcht abgelegt hatte, aber dennoch ernst und schweigsam blieb, spürte diese feste Überzeugung in einem Mann, dessen Launen er nicht verstehen konnte. »Nun müssen wir deine Krankheit studieren …« »Welch ein Aufheben«, rief Lydia, »über eine solche Bagatelle!« Aber es war keine Bagatelle. Wenn er nicht den Lauf der Geschichte zu ändern vermochte, würde diese Frau in knapp einem Monat an einer großen Dosis von Arsenik sterben. Seine eigene Frau – oder war sie nicht seine Frau? Ja, aber natürlich! Sonst hätte die ganze Tragikomödie weder Sinn noch Verstand. Sein heftiges Verlangen, sie zu beschützen, legte sich wie ein schirmender Schild um sie. »Nun besinne dich, Lydia. Wann hast du zum erstenmal unter diesen starken Magenschmerzen mit anschließendem Erbrechen gelitten? Sollen wir sagen, vor etwa drei Wochen?« Lydia zählte langsam an den Fingern nach. »Stimmt! Bis auf einen Tag!« »Was nimmst du gewöhnlich an Essen und Trinken zu dir?«
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»Als ich zum erstenmal nach dem Essen Schmerzen hatte, begab ich mich eilends auf mein Zimmer und verriegelte die Tür. Später duldete ich nicht einmal die Gegenwart meiner Kammerzofe, wenn es mir schlecht erging. Es sollte niemand darum wissen«, flüsterte Lydia. »Ich hielt alles geheim.« »Aber nach den ersten Schmerzen …?« »Habe ich mich nicht mehr unten zu Tische gesetzt. Ich konnte nur noch eine Schale mit Sektmolke zu mir nehmen, die mir meine Kammerzofe pünktlich jeden Mittag heraufbrachte. Selbst nach der Sektmolke mußte ich mich häufig vor Schmerzen krümmen. Oh, es war schauderhaft!« Zum erstenmal spiegelten sich Schmerz und Einsamkeit in Lydias Zügen. »Lydia, worauf hast du diese Unpäßlichkeit zurückgeführt?« Sie blickte vage drein. »Oh … ich dachte, es sei der Tod. Dauernd sterben Menschen, und wer kann sagen, warum?« Lydia zögerte und schien mit sich zu ringen. »Nein, Gott möge mir verzeihen, ich will es nicht ableugnen, sondern die volle Wahrheit sprechen. Fürwahr, einige Male habe ich tatsächlich an Gift gedacht. Aber ich nahm an, du stecktest dahinter, liebes Herz, und daher, mein Gemahl, konnte ich nichts sagen.« Fenton ballte die Hände und wandte sich ab. Lydia legte sein Verhalten falsch aus und rief verzweifelt: »Gott möge mir verzeihen! Was habe ich nur 72
getan? Nick, Nick!« Sie hämmerte mit ihren zarten Händen auf die Bettdecke. »Ich schwör's, ich habe nur ein paarmal diesen Verdacht gehegt, als ich unter Vapeurs litt und töricht war. Nun aber weiß ich, daß dem nicht so ist. Oh, ich habe dir schon so viel Leids getan!« Mit einem beruhigenden Lächeln wandte er sich ihr wieder zu. »Du hast mir Leids getan?« fragte er, während er sie leicht auf die Lippen küßte. »Das wirst du mir tun, wenn du meinen Fragen ausweichst. Hast du während deiner Unpäßlichkeit außer dieser täglichen Sektmolke noch irgend etwas anderes gegessen oder getrunken?« Lydia dachte nach. »Nur den Gerstentrank. Aber der ist in einer großen Glasflasche, aus der alle trinken.« »Und wie wird diese Sektmolke zubereitet?« »Vier Eier werden kräftig in einer Schale geschlagen und dann in eine andere Schale gegossen, die ein Viertelliter Milch und vier Stücke Hutzucker enthält. Dann wird eine halbe Flasche Sekt hinzugefügt. Sonst nichts.« Von Zorn erfüllt, bückte sich Fenton und hob Megs Dolch vom Boden. Eine Zeitlang wägte er ihn in seiner Hand. »Giles!« »Zu dienen, gnädiger Herr?« »Ich glaube, du kennst unser ›Geheimnis‹, nicht wahr?« »Ihr geruhtet, es mir zu enthüllen, Sir, als Ihr gestern die Entdeckung machtet, daß …« »Schon gut!« sagte Fenton. »Du wirst jetzt das Küchenpersonal versammeln, und zwar alle, die mit der 73
Zubereitung dieser Sektmolke etwas zu tun haben oder auf dem Wege nach oben damit in Berührung gekommen sein mochten. Versammele sie in – in meinem Studierzimmer.« Giles verneigte sich, immer noch gesetzt und ohne jede Spur von Dreistigkeit. »Sag ihnen«, fuhr Fenton fort, »daß ihre Gebieterin mit Arsenik vergiftet worden ist und ich bald erscheinen werde. Zweifellos wird es ein großes Geheul und Gekreische geben …« »Geheul und Gekreische?« echote Giles. »Bei Gott, Sir! Es wird mehr Lärm geben als im Schauspielhaus, wenn beim Auftreten der Hexen die Trompeten schmettern. Dieser Bagage«, setzte der oberste Diener hinzu, »muß tüchtig das Fell gegerbt werden mit einer guten Neunschwänzigen Katze. Aber ich werde sie mir schon vorknöpfen. Seid ohne Sorge!« Die Tür schloß sich hinter ihm, ehe Fenton Einspruch erheben konnte. Lydia, die Giles offenbar kein großes Vertrauen schenkte, kniete immer noch Fenton gegenüber auf der Bettkante, aber ihre blauen Augen lachten jetzt. »Ich wußte es ja!« meinte sie. »Oh, ich war dessen sicher, als wir genau vor«, hier schaute sie ihm in die Augen, »drei Jahren, einem Monat und vier Tagen heirateten.« »Was wußtest du, mein Lieb?« »Komm hierher, ich will dir ein Geheimnis ins Ohr flüstern. Nein, näher! Viel näher!«
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Gehorsam lüftete Fenton das Haar seiner Perücke. Im nächsten Augenblick spielte Lydia einen solchen Schabernack mit seinem Ohr, daß er aufsprang, obwohl die Attacke nicht allzu unangenehm war. »Ein niedriger Trick«, schalt Fenton, obwohl er sich das Lachen nicht verbeißen konnte. Zum Spaß drohte er ihr mit dem Dolch, den er immer noch in der Rechten hielt. »Und wo hast du den gelernt?« »Du selbst hast ihn mich doch gelehrt«, erwiderte Lydia ein wenig erstaunt. »Ich kenne hundert davon. Aber jetzt spreche ich im Ernst.« Ihre Augen nahmen einen nachdenklichen Ausdruck an, und ihre Stimme wurde feierlich. »Nick, ich möchte dir heute etwas sagen, weil du jetzt so verwandelt bist, Nick, ich – ich habe vor unserer Heirat mit meinem Vater über dich gesprochen. Er haßte dich, das gebe ich zu. Weißt du, was ich über dich gesagt habe?« »Nein, Lydia! Ich möchte lieber, daß du …« Doch Lydia sprach frei und stolz heraus, ohne zu spüren, wie grotesk ihre Worte klingen mußten. »›Sanft wie ein Diener Gottes‹, sagte ich, ›doch kühn und beherzt wie einer von Cromwells Eisernen Dragonern.‹« Es entstand eine Pause. Und abermals hämmerte die schwarze Seele scharf gegen den Sargdeckel. Ein größeres Pech hätte dieses unglückliche Liebespaar nicht befallen können. Denn in dem Bürgerkrieg vor mehr als dreißig Jahren, in dem Kavaliere, die Anhänger des Königs, gegen die Rundköpfe Cromwells kämpften, hatte 75
es keinen leidenschaftlicheren Royali-sten gegeben als Sir Nicks Großvater und dann seinen Vater. Und Professor Fenton war ein ebenso draufgängerischer Royalist wie seine alten Namensvettern. Jedesmal, wenn er mit einem Kollegen diskutierte, der Rundkopf-Ansichten vertrat, erhitzte er sich. »Solcher Komplimente bin ich nicht würdig«, bemerkte eine allzu höfliche Stimme. »Wenn du wenigstens gesagt hättest: ›So kühn und beherzt wie ein Kavalier …‹« Furcht trat plötzlich in Lydias Augen. »Nein, nicht weiter!« bettelte sie, während sie ihr Gesicht mit den Händen verhüllte. »Oh, Gott verzeihe mir! Noch ein Wort, und alles ist wieder ruiniert!« »Wieso, Mylady!« Erschöpft ließ sich Lydia in die Kissen fallen, wobei sie den rechten Arm ausstreckte und den Kopf darauflegte. Es war, als wäre sie halb gestorben. »Nick«, sprach sie mit gedämpfter Stimme, »warum hast du den Wunsch gehabt, mich zu heiraten?« »Weil ich dich liebte.« »Das hatte ich geglaubt und gehofft. Und doch braucht in diesem siechen Hause nur ein kurzes Wort zu fallen über jemanden, den zu lieben, zu ehren und zu bewundern ich aufgezogen bin, und im selben Augenblick ergehst du dich in höhnischen Sticheleien. Selbst der große Oliver …» »Der große Oliver«, flüsterte er, während seine Linke den unteren Bettpfosten und seine Rechte den Griff des Dolches umklammerte. »Meinst du etwa – Cromwell?«
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Er sprach den Namen mit einer so zermalmenden Feindseligkeit aus, als konzentrierte sich sein ganzer Haß auf dieses eine Wort. »Ich bin in dem Jahr geboren«, sagte Sir Nick, »als deine verehrten Rundköpfe König Charles dem Ersten das Haupt abschlugen. An jenem Januartag, so hat man mir erzählt, schneite es ein wenig, aber man hatte das Schafott vor dem Fenster des Bankettsaals vom Schnee gesäubert. Der König ging zu Fuß vom St.-James-Palast durch den Park, dann durch die Passage im Holbein Gate und die langen Räume des Whitehall-Palastes bis zu dem Fenster, vor dem das Schafott stand. Dort hat man ihn dann enthauptet.« Sir Nick – es mag auch Fenton selbst gewesen sein –, schöpfte tief Atem. »Nie ist ein Mann so tapfer gestorben. Nie ist ein Mann so wahrhaft königlich einhergeschritten, obgleich sie ihn anspien und ihm Tabakrauch ins Gesicht bliesen.« Sir Nick wirbelte herum und stieß den Dolch bis zum Heft in den Bettpfosten, so haarscharf, daß kein Holzstückchen absplitterte. »Tod und Verdammnis über die Rundköpfe und ihre ganze Brut!« Lydia fuhr in die Höhe, wobei ihr der Schlafrock von den Schultern glitt. Im Grunde ihres Herzens hatte sie kein besonderes Interesse für Politik. »Hast du mich geheiratet«, erkundigte sie sich, »weil du dich in der Schenke zum Windhund gerühmt hattest, daß du ›die Rundkopf-Maid zähmen‹ würdest?« »Nein.« »So ist es mir aber zu Ohren gekommen, Nick.« »Dann, in Gottes Namen, glaub doch, was du willst!« 77
»Nun, du hast sie nicht gezähmt«, bemerkte Lydia unsicher. »Mein Großvater war ein Königsmörder, wie Meg, deine Geliebte, gestern nacht betonte. Ich war ein junges Ding zur Zeit der Restauration, und man nahm mich nicht mit, um zu sehen, wie er gehenkt, gereckt und gevierteilt wurde und man seine Eingeweide ins Feuer warf. Aber wie ich vernommen habe, ist auch er tapfer gestorben. Deinetwegen habe ich mich von meiner Familie losgesagt, Nick. Das ist indessen von geringer Bedeutung! Aber warum und zu welchem Zweck soll ich denn leben, wenn du nichts mehr für mich empfindest?« Dies muß aufhören, dachte Fenton verzweifelt. So geht es nicht weiter. Er war neben dem Bett auf die Knie gesunken und umklammerte mit den Händen die Bettkante. Er wußte, daß er Sir Nick besiegen konnte, weil er noch auf den Kampf eingestellt war und für Lydia eine tiefe Zuneigung empfand. Es war ein kurzer, aber dafür um so härterer Kampf. Einmal, so schien es ihm, hob sich ein dürrer Arm aus dem Sarg und griff ihm direkt ans Herz. »Hilf mir, Lydia«, sagte er und streckte die Hände nach ihr aus. »Hilf mir!« Obwohl sie diese Bitte nicht verstand, preßte sie seine Hände an die Brust und sah mit Freuden, daß der warme Schimmer wieder in seine Augen zurückkehrte. »Lydia«, ließ sich Fentons keuchende Stimme hören, »es gibt gewisse Dinge, die ich nicht erklären kann. Wenn du dir vorstellen könntest… ach nein, lieber nicht. Aber manchmal bin ich nicht Herr über mich selbst, auch wenn 78
ich keinen Tropfen Wein oder Schnaps getrunken habe. Bleibe bei mir …« »Wünsche ich mir etwas anderes?« »…und rufe mir zu: ›Geh zurück!! Geh zurück!‹, wenn dieser sinnlose Zorn mich wieder packt. Es wird nicht wieder vorkommen, ich schwör's, wenn du da bist. Und merke dir dies, teuerstes Herz«, fügte er sanft hinzu, »was haben wir beide, du und ich, mit den alten Händeln unserer Großväter zu tun? Sie sind wie weggeblasen. Selbst ihre Degen und Pistolen haben sich geändert. Ein Rundkopf wird ebenso respektiert wie ein Angehöriger der englischen Staatskirche. Und also sage ich sogar von Oliver: möge seine standhafte alte Seele in Frieden ruhen.« »Dann – mit Gott für König Charles!« flüsterte Lydia leidenschaftlich und warf sich Fenton schluchzend an die Brust. Danach herrschte, wenn auch nicht Einverständnis, so doch Frieden. »Wenn ich noch eine Frage stellen dürfte«, sagte Lydia. »Nein, es ist keine, die deinen Zorn erregt. Warum mischst du dich eigentlich in diese sogenannte Politik, die ich nicht verstehe und von der die Männer soviel Geschrei machen?« Fenton streichelte ihr weiches, hellbraunes Haar. »Tue ich das? Ich hatte es ganz vergessen«, erwiderte er zerstreut und spürte, wie Lydia stutzte. »Nun«, fügte er hinzu, »wenn ich mich einmenge, so geschieht es, weil dieselbe alte Tragödie sich wiederholt.« »Inwiefern?« »Als der Sohn des alten Monarchen – König Charles der Zweite – aus der Verbannung zurückkehrte, um seine Herr79
schaft anzutreten, ging eine Zeitlang alles gut. Nach und nach aber zeigte das Parlament seine Krallen. Genau wie unter Charles dem Ersten, ging es um Geld und Religion. ›Keine Papisterei! Keine Papisterei!‹ lautete der große Schrei.« »Still!« sagte Lydia flüsternd und blickte ängstlich über ihre Schulter. »Wer kann wissen, ob nicht ein Papist in Hörweite ist?« Das Lächeln, das über Fentons Gesicht glitt, entging ihr. »Dann will ich leise reden, aber doch meine Ansicht äußern. Soll ich kein Vertrauen haben zu diesen Männern – es wäre mir lieber, wenn du sie Katholiken hießest –, die Gold und Lebensblut spendeten, um den Vater des Königs zu schützen? Die mit heiterer Miene ihre Häuser in Flammen aufgehen sahen, wenn sie nur dem Helm eines Rundkopfs eins auswischen konnten? Wenn ich nicht zufällig zur anglikanischen Kirche gehörte, könnte ich ebenfalls ein Katholik sein.« »Nun, mein Herr und Gebieter, jetzt hat's Euch wieder erwischt!« plapperte Lydia und preßte ihn fest an sich. »Geht zurück!« rief sie. »Geht zurück!« »Sieh mir ins Auge, süßes Mädchen, und sage mir, ob ich nicht Herr meiner selbst bin.« »Fürwahr, du – du scheinst dich in der Gewalt zu haben. Aber darf ich etwas sagen?« »Das sei dir gestattet. Von ganzem Herzen.« »Der König, dieser Arme«, meinte Lydia, »ist ein Schwächling …«
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Wiederum sah sie nicht das breite Lächeln, das über Fentons Gesicht huschte. »Und läßt sich leicht«, beharrte Lydia, »von lüsternen Frauen leiten. Königin Catherine von Braganza ist eine Papistin. Die Frau, die den König am meisten beherrscht – nenne man sie Louise de Keroualle, Madam Carwell oder Herzogin von Portsmouth –, ist eine französische Papistin und Spionin. Des Königs Bruder, so geht das Gerücht, ist auch ein Papist geworden. Steckt nichts Böses hinter alledem?« Fenton hob mit dem Finger ihr Kinn hoch. »Da dir so viel bekannt ist, weißt du auch, was die sogenannten Freunde des Königs – der Rat an seinem eigenen Tisch – kürzlich getan haben?« »Nick, ich verstehe nicht viel von der Politik. Nur du und ich …« »Sie sind von ihm abgesprungen, Lydia, oder drauf und dran, es zu tun. Mylord Shaftesbury, der kleine Mann mit dem Abszeß in der Seite, desertierte vor zwei Jahren, obwohl er immer noch am Ratstisch sitzt, weil er sich für zu mächtig hält, um entlassen zu werden. Seine Gnaden, der Herzog von Buckingham, ein fähiger Mann trotz mancher Torheiten, ist ebenfalls abtrünnig geworden. Es gibt noch andere Mitglieder des Hochadels, die ›Nieder mit den Papisten‹ kreischen, aber es sind keine großen Geister. Shaftesbury und Buckingham haben den Green-RibbonKlub gegründet, der ein grünes Band als Rosette trägt und in der Schenke zum ›Königshaupt‹ tagt. Ihre Partei kannst du nach Belieben die Oppositionspartei oder die Landpartei 81
oder die Verräterpartei nennen. Aber sie greifen nicht offen an wie die alten Rundköpfe. Nein, beileibe nicht! Sie halten es mit anderen Methoden: sie bedienen sich der Flüsterkampagne, um London innerhalb von vierundzwanzig Stunden mit Gerüchten zu überschwemmen; sie verteilen Flugschriften und beschäftigen Aufwiegler, und für den, der anderer Meinung ist, existiert das kleine Messer. Methoden, die ein rechtschaffener Mann als niedrig und gemein bezeichnen würde. Noch eins will ich dir sagen, und dann bin ich fertig. Wir befinden uns in einer Ruhepause vor der größten politischen Schlacht aller Zeiten. Drei weitere Jahre, und dann …« Es klopfte leise an die Tür, und Giles erschien im Zimmer. »Das Viehzeug ist eingepfercht, Sir«, meldete Giles mit einem kleinen bösen Zug um den Mund, der verriet, daß er Macht gekostet und genossen hatte. »Sie erwarten Eure Gnaden im Studierzimmer.« »Sind sie ruhig, Giles?« »Jetzt außerordentlich, Sir.« Lydia hatte sich ans Kopfende des Bettes verzogen, wo sie im Schutz der zurückgebundenen Bettvorhänge in die Ärmel ihres Kleides schlüpfte und ihr Mieder in Ordnung brachte, während sie Fenton verliebt ansah. Eine von Lydias Bemerkungen wollte ihm nicht aus dem Sinn, sondern drehte sich wie ein Messer in seinem Herzen um. »Sanft wie ein Diener Gottes, doch kühn und beherzt wie ein Eiserner Dragoner.« »Oh, Gott«, betete er im stillen, »wenn ein vertrockneter alter Kauz im Körper eines Jünglings diesen Erwartungen 82
nur gerecht werden könnte!« Aber er wußte, daß es aussichtslos war. »Wenn Ihr mit Eurer Toilette fertig seid«, sagte er zu Lydia, »schlage ich vor, daß Ihr in Euer Gemach zurückkehrt. Erwähntet Ihr nicht, es sei ein Riegel innen an der Tür?« »Ja, ein starker Riegel aus Holz. Aber …« »Riegelt Euch ein und öffnet niemandem die Tür, außer wenn Ihr meine Stimme hört. Heute sollt Ihr fasten und nur solche Getränke zu Euch nehmen, die ich verordne.« In Giles' Zügen zeigte sich Furcht. »Aber nein, Sir«, spöttelte er, jedoch nicht überzeugend, »Ihr denkt doch nicht etwa …« »Doch, ich denke, Naseweis. Ein Monstrum lebt in diesem Hause, ekelhafter und tödlicher als ein Keller mit Kloakenwässern. Ich werde es aufspüren – unverzüglich.«
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V Der Flur hatte nur zwei Fenster: eins am entlegenen Ende und eins ein wenig zur Rechten über dem Treppenabsatz. Als Giles ihm mit einem Bückling die Tür öffnete, dachte Fenton an eine neue Schwierigkeit. »Hm- Giles!« »Zu dienen, Ihro Gnaden«, erwiderte Giles mit einem kecken Ausdruck in seinem runzeligen Gesicht. »In deinem Manuskr … ahem, ich meine, es fällt mir gerade ein«, korrigierte sich Fenton, »daß du heute morgen eine gewisse Mistreß Kitty erwähnt hast…?« »Kitty Softcover, die Köchin?« »Ha, ganz recht! So lautet der Name!« »Ferner habe ich gesagt«, fügte der unbarmherzige Giles hinzu, »daß Euer eigenes lüsternes Auge oft auf ihr geruht hat.« »Nun, ich möchte gern eins wissen, was diese Kitty angeht… sind wir … haben wir …?« »Herrje, wie kann ich das wissen?« fragte Giles mit geschürzten Lippen und einem frommen Augenaufschlag. »Wenn Ihr Euch selber im unklaren seid, dann weiß es nur der liebe Gott. Doch will es mich dünken, Ihro Gnaden, daß Ihr Euch eine erstaunlich delikate Ausdrucksweise angeeignet habt. Ich sagte nur« – ein boshaftes Lächeln breitete sich wieder auf seinem Gesicht aus – »daß Ihr sie oft mit geilen Blicken betrachtet habt – was, mit Verlaub gesagt, so deutlich war wie ein Buch mit großen Buchstaben. Na, ich werde sie Euch alle im Studierzimmer präsentieren.« Giles schien es durchaus nicht merkwürdig 84
zu finden, daß er den Herrn des Hauses mit dessen eigenem Gesinde bekannt machen mußte. Das, so überlegte Fenton, war ganz natürlich. Ein Mann von Stand ließ sich zu der Zeit nicht herab, sich die Namen oder Gesichter der unteren Dienstboten einzuprägen, falls nicht ein besonderer Grund dafür vorlag. Als sie die Treppe zur unteren Halle hinabstiegen, mußte Fenton unwillkürlich staunen über die Veränderung, die hier vor sich gegangen war, seitdem er das Haus gemietet hatte. Die Wände waren jetzt bis zur Decke mit schwarzer Eiche getäfelt und mit silbernen Leuchtern geschmückt. An einer Wand stand eine geschnitzte Truhe. Und die große Haustür stand weit offen. Obgleich Fenton darauf gefaßt war, konnte er sich dennoch des Staunens nicht erwehren, als er entdeckte, daß Pall Mall eine kleine, schattige Gasse war. Eine Reihe von Linden stand vor seiner eigenen Haustür, und süße Düfte strömten in die Halle. Er war sich bewußt, daß Madam Eleanor Gwynn, eine Maitresse des Königs, zu seinen Nachbarn zählte. »Wenn es Euch beliebt, Sir …«, murmelte Giles. »Halt, einen Augenblick! Ist Lord George schon da?« »Bereits seit einer Stunde, Sir.« »Hat er dich gehänselt? Hat er sich über mich lustig gemacht?« »Nein, Sir. Er ist in den Ställen und ganz zufrieden. Er sagte nur … falls Eure Ohren nicht zu delikat sind?« »Daß dich die Pest! Du frecher Galgenstrick!« brüllte Fenton, wobei er Sir Nick so naturgetreu nachahmte, daß 85
Giles, wie von einem Schlag getroffen, zurücksprang. »Was hat er gesagt? Raus mit der Sprache!« »Nun! ›Wenn Nick nur eine im Bett hat und nicht zwei‹, sagte Seine Lordschaft, »warum hält er sich dann so mordsmäßig lange dabei auf?‹« »Aber heute morgen…» »Ich erwiderte«, hänselte Giles, »daß Ihr als alter Schlemmer und Tellerheld oft gern mehrere Male vom selben Gericht nähmet. ›Ei ja‹, sprach er, ›das leuchtet mir wohl ein, stört ihn nur ja nicht.‹« Fenton blickte wieder ins Freie und sah den Türhüter regungslos auf seinem Posten rechts neben der Haustür stehen. Er trug einen beschlagenen Stab und machte einen unnahbaren Eindruck. Erwünschte Besucher ließ er ein, unerwünschte wies er ab, wodurch das ständige Öffnen und Schließen der Haustür und eine unnötige Belästigung der Hausbewohner vermieden wurde. Fenton hatte dies immer als eine ausgezeichnete alte Sitte betrachtet, die seiner Ansicht nach hätte beibehalten werden sollen. »Sir, Sir!« flehte Giles, der hinten in der Halle eine Tür öffnete. »Wenn Ihr nur einzutreten geruhen wolltet!« Fenton trat ein. Das Studierzimmer war zwar klein, aber mit zahlreichen in Kalbsleder gebundenen Büchern – von Folianten bis zu Oktavbänden – ausgestattet. Gegenüber der Tür stand im rechten Winkel zu einem der Fenster ein flacher Schreibtisch aus schwerem, dunklem, poliertem Holz; die übrigen Möbelstücke waren aus Eiche. Ein schöner
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Teppich, ein Glanzstück der Ostindischen Gesellschaft, zierte den Boden. Von einem Haken neben der Tür nahm Giles gelassen eine mittelgroße Peitsche mit neun Lederriemen, die Stahlkugeln an den Enden hatten. Die Katze war ein gesetzliches Mittel zur Bestrafung, wenn sie auch nur bei Verdacht auf ein ernstliches Vergehen benutzt werden durfte. »Ich werde sie Euch der Reihe nach nennen, Sir«, sagte Giles und deutete auf den Halbkreis, der aus einem Mann und drei Frauen bestand. Er senkte die Peitsche und wies mit dem Griff auf den Mann an der äußersten Linken. »Das ist Big Tom, der Aufwäscher«, sagte er. Big Tom, ein sehr großer und breiter Mann, trat von einem Fuß auf den anderen, als ob er auf diese Weise den Teppich weniger beschmutzte. Sein Gesicht unter einem struppigen Haarschopf war schmierig; ebenso sein Flanellhemd, sein Ochsenlederwams und seine Lederschürze. Der Mann verrichtete offenbar alle groben Arbeiten. Während er auf Giles geringschätzig herabsah, betrachtete er Fenton mit tiefster Verehrung. Er nickte mit dem Kopf, berührte seine Stirnlocke und ließ nur ein gurgelndes Geräusch hören. Die Peitsche bewegte sich nach rechts auf die nächste Person zu. »Nan Curtis, die Küchenmagd«, erklärte Giles. Nan Curtis war, obwohl noch nicht alt, über die Maßen korpulent und hatte ein rundes, rosiges Gesicht, aus dem jetzt alle Farbe gewichen war. Sie trug ein Häubchen und war, abgesehen von einigen Rußflecken, einigermaßen sauber.
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Als Giles auf sie zeigte, schluchzte sie laut auf und weinte dann leise weiter. Jedesmal wenn sich die Peitsche bewegte, schien ein heftiger Sturm unterdrückter Furcht und Wut gegen die bücherschweren Wände zu schlagen. »Neben ihr steht Judith Pamphlin«, sagte Giles. »Die Kammerzofe unserer gnädigen Frau.« Fenton studierte die Kammerzofe, während er an Lydia dachte. Judith Pamphlin war eine große, dürre Jungfer mit scharfen Zügen, etwa Ende Vierzig. Ihr schütteres Haar lag in kleinen Locken dicht am Kopf. Sie trug ein knappanliegendes Kleid aus grauer Wolle und stand mit gefalteten Händen kerzengerade da. Nein, Lydia mochte sie sicher nicht. Und doch … »Und hier«, ließ sich Giles hören, der inzwischen die Peitsche wieder bewegt hatte, »haben wir Kitty Softcover, die Köchin.« Fenton blickte sie mit gelassenen, ruhigen und kalt abschätzenden Blicken an. Kitty schien von allen die demütigste zu sein. Sie war klein, rundlich und vielleicht neunzehn Jahre alt. Ihre Bluse aus rauhem Leinen und ihr grauer Wollrock waren durch die Arbeit an Herd und Bratenwender sehr mitgenommen. Mitten auf der Nase hatte sie einen Rußfleck. Was Fenton zuerst in die Augen sprang, war ihr Haar. Es war dick und schwer und von jenem tiefen Dunkelrot, in dem tausend Glanzlichter sprühen. Die Flammen der Kerzen, die in einem dreiarmigen Leuchter brannten, ließen es aufleuchten. Sie hob den Kopf und blickte Fenton aus dunkelblauen Augen an, die fast schwarz wirkten. Es 88
waren große Augen – eigentlich zu große Augen für das kleine, dreiste Gesicht und das überkecke Näschen. Es war der Blick einer Frau, die auf vertrautem Fuß mit ihm gestanden hatte. Kitty war die einzige, die sprach. »Gnädiger Herr, Ihr werdet mir doch nichts zuleide tun?« fragte sie demütig mit heller Stimme, aber mit einem so starken Akzent, daß Fenton sie kaum verstand. Er ignorierte sie und wandte sich an die übrigen. »Ihr wißt alle, daß eure Herrin langsam getötet wird mit einem Gift, das man Arsenik nennt. Vermutlich hat sie es in einer Schale Sektmolke zu sich genommen, die jeden Tag in der Küche zubereitet und dann nach oben getragen wird. Schleichende Vergiftung beruht nicht auf einem Versehen. Wer hat diese Sektmolke zubereitet?« »Sir, das war ich«, erwiderte Kitty. Wiederum warf sie ihm diesen vielsagenden, wissenden Blick zu. »Hast du sie immer zubereitet?« »Immer«, bestätigte Kitty. Langsam drehte sie ihr Kinn zur Seite. »Aber viele gehen in der Küche ein und aus, und alle können schwören, daß ich nichts damit zu tun hatte.« »Wer hat die Sektmolke zu Mylady getragen?« Sein Blick fiel auf die strengen Züge von Judith Pamphlin, die jetzt die Arme eng über der flachen Brust verschränkt hielt. Die Lippen hatte sie zu einer weißen Linie zusammengepreßt und schien mit sich zu ringen, ob sie eine Antwort geben solle oder nicht. Als sie endlich sprach, geschah es mit herabgezogenen Mundwinkeln. »Ich habe sie hinaufgetragen.«
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»Judith Pamphlin«, fragte Fenton, »wie lange seid Ihr schon Kammerzofe bei meiner Frau?« »Ich war ihre Dienerin, lange bevor sie das Unglück hatte, Euch zu heiraten«, erwiderte Judith mit näselndem Singsang, während sie ihm unverwandt in die Augen blickte. »Wenn Ihr abends zuviel gebechert hattet und nicht ganz bei Sinnen wart, habe ich gehört, wie Ihr sie Rundkopf-Kanaille, Gezücht eines Königsmörders genannt habt.« Fenton blickte sie fest an. »Giles, gib mir die Peitsche«, sagte er gelassen. Giles reichte sie ihm. Fentons Blick war kühler, beständiger als ihr eigener. Dies war nicht Sir Nicks Art. Er hätte wie ein Löwe gebrüllt und auf sie losgeschlagen – eine Taktik, mit der eine entschlossene Frau fertig geworden wäre. Fenton bändigte langsam ihren Geist und ihren Willen, weil sein Geist und sein Wille ihr überlegen waren. Sekunden schienen sich in Ewigkeiten zu verwandeln, während dieser kalte Blick auf ihr ruhte. Dann sah Fenton, daß sich Judith Pamphlins Augenlider allmählich senkten. Nicht weit von seiner Rechten hatte er einen hohen, schweren Stuhl bemerkt. Sobald er das Flattern ihrer Augenlider wahrnahm, hob er die Neunschwänzige Katze hoch empor und ließ sie mit aller Wucht darauf niedersausen, so daß die Riemen zischten und die Stahlspitzen rasselten und knallten. Sie zerfetzten das Holz, wie sie Fleisch zerfetzt hätten. Der schwere Stuhl sprang in die Höhe und barst. »Frauenzimmer«, sagte Fenton, »nie wieder werdet Ihr so mit mir reden.« Schweigen. Giles Collins war kreideweiß. »Nein«, murmelte Judith. »Ich… ich glaube nicht.« 90
»Wie nennt Ihr mich?« »Gnädiger Herr.« Ein Zittern erfaßte alle außer dem phlegmatischen Big Tom. »Gut«, sagte Fenton mit derselben ausdruckslosen Stimme und gab Giles die Peitsche zurück. »Wart Ihr jemals anwesend, wenn die Sektmolke in der Küche zubereitet wurde?« »Ich habe kein einziges Mal dabei gefehlt«, erwiderte Judith Pamphlin, kerzengerade, doch besiegt. Ihre harte Stimme hatte einen zittrigen Klang. »Warum? Habt Ihr Gift vermutet?« »Nein, nicht Gift. Aber diese Schlampe« – Judith streckte blitzschnell ihren langen, dürren Arm nach Kitty aus – , »ist lüstern und diebisch, seit ihre Brüste schwollen. Sie liebäugelt mit allen Männern und beschwatzt sie, für sie zu stehlen.« Judiths Stimme wurde lauter. »Der Herr lasset Gerechtigkeit walten und verdammet sie zu immerwährendem Höllenfeuer, das …« »Hört auf mit diesem Puritaner-Geplärr.« Judith Pamphlin verschränkte fest ihre Arme und schwieg. Kitty, das sah er mit flüchtigem Blick, heuchelte nicht länger Demut und Bescheidenheit. Ihre schmalen, runden Schultern waren geduckt, und voller Haß richteten sich ihre zu großen Augen auf Judith. Die kleine, dicke Oberlippe war zurückgeschoben. »Dieses Arsenik«, fuhr Fenton fort, »ist ein weißes Pulver oder« – hier dachte er daran, wie es wohl in diesem Zeitalter ausgesehen hatte –, »ein kleiner weißer Brocken von einem größeren Stück. Judith, hätte die Köchin so etwas unbemerkt in die Sektmolke tun können?« 91
Obwohl Judith Kitty bis aufs Blut haßte, blieb sie eisern gerecht und stieß nur ein Wort zwischen ihren Lippen hervor. »Nein«, sagte sie. »Seid Ihr dessen sicher?« »Es wäre mir nicht entgangen.« »Wenn Ihr nach oben gingt, um die Schale zu Eurer Herrin zu tragen, hat Euch da niemand Einhalt geboten oder versucht, Eure Aufmerksamkeit abzulenken, um das Gift in die Molke zu schütten?« »Es ist mir niemand begegnet. Niemals.« »Dann laßt Euch gesagt sein, daß ich Vertrauen zu Euch habe und Euch für treu halte. Ein Wort unter vier Augen mit Euch!« Fenton schritt auf die Tür des Studierzimmers zu und öffnete sie halb. Judith Pamphlin, die mit dem Rücken zum Schreibtisch gestanden hatte – was für eine Rolle spielte dieser Schreibtisch in Giles Collins' Bericht! – , warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Dann durchquerte sie das Zimmer. »Geht mir voran«, sagte Fenton schroff, als sie an der Tür stehenblieb. Die Frau zögerte eine Weile. Dann neigte sie gehorsam den Kopf und marschierte hinaus. Fenton folgte ihr in die trübe Halle. »Geht rasch in die Küche«, befahl er leise, »und bereitet folgendes zu. Nehmt einen Suppenlöffel voll Senfpulver. Ist Senfpulver vorhanden?« Judith nickte nur, ohne zu sprechen. »Und schüttet es in ein Glas warmes Wasser. Gebt der gnädigen Frau diese Arznei zu trinken. Habt Ihr« – hier versagte sein ungeheures Gedächtnis für Einzelheiten –, »habt Ihr Olivenöl?« 92
Judith nickte. »Dann vermischt dies zu gleichen Teilen mit dem Saft von chinesischen Orangen und verabreicht es ebenfalls. Dazu Gerstensaft in reichlichen Mengen. Heiße Ziegelsteine zu Füßen. Dies alles müßte helfen. Sollte Eure Herrin nachher geschwächt sein, heiße Tücher auf den Magen und« – halt, Morphium gab es wohl noch nicht! – »ist Opiumtinktur vorhanden?« Sie nickte. »Eine starke Dosis Opiumtinktur in Wasser, um sie für ein paar Stunden einzuschläfern. Am Spätnachmittag wird sie dann ein neuer Mensch sein. Nun sputet Euch! Stellt alles, was sofort vonnöten ist, auf ein Tablett. Dann erscheint wieder hier und klopft an die Tür.« Judith nickte und wandte sich zum Gehen. »Halt! Einen Augenblick noch!« »Zu dienen, gnädiger Herr.« »Ich halte Euch für ehrlich und treu. Eine schuldige Frau hätte es nicht gewagt, so zu sprechen wie Ihr. Warum aber mag Eure Herrin Euch nicht? Weshalb rennt sie davon und sperrt Euch aus, wenn sie krank ist?« Hinter der Maske ihres starren Gesichts regte sich unerwartet eine schwache Empfindung. Judith Pamphlin berührte ihre Wange. »Weil ich abstoßend bin, obwohl mich Gott der Herr so geschaffen hat. Weil ich ihr helfen möchte und sie sehr wohl weiß, daß ich Euch hasse. Weil ich ihr wie in ihrer Kindheit den Willen Gottes kundtun möchte …« »Noch einmal, Frauenzimmer: hört auf mit diesem Puritanergewäsch!« 93
»Ich kenne den Willen des Herrn!« »Paßt gut auf: Sagt nur ein einziges Wort von Eurem Unsinn zu meiner Frau, und es ist um Euch geschehen. Ich werde Euch nicht peitschen lassen; denn Ihr fürchtet die Katze nicht.« Er kannte sie, und sie spürte das; sie wich seinem Blick aus. »Nein, ich werde Euch auf die Straße setzen, und sie wird dann sterben.« »In mancher Beziehung«, sagte Judith Pamphlin, die wieder einmal geschlagen war, »seid Ihr nicht übel.« Mit seltsam krächzender Stimme, die einigen Respekt verriet, fügte sie hinzu: »Gnädiger Herr.« Dann marschierte sie kerzengerade auf eine kleine Treppe zu, die unter der Haupttreppe nach unten führte. Lange stand Fenton regungslos da und blickte durch die Haustür auf die Reihe der Linden. Gefahren, die Lydia bedrohten, machten ihn nicht zornig, sondern nur erbarmungslos. Obgleich er gegen die Geschichte und den Teufel zugleich ankämpfte, schwor er sich, daß sie nicht sterben sollte. Wer also war dieser Unheilstifter? Trotz Judiths Aussage war Kitty Softcover die Hauptverdachtsperson. Ohne jeden Zweifel war Kitty Sir Nicks neueste Eroberung. Fenton hatte aber nicht das geringste für sie übrig. Trotz aller ihrer körperlichen Reize, ihrer großen, schmachtenden Augen und ihres prachtvollen Haares spürte er, daß Kitty so kalt wie ein Fisch und so diebisch wie eine Elster war. Man brauchte Kitty zum Beispiel nur mit Meg York zu vergleichen. Was für ein Unterschied zwischen diesem 94
rothaarigen Dummkopf und der klugen, attraktiven Meg! – Nanu, warum zog er solche Vergleiche? Allerdings hatte er zuerst Meg in Verdacht gehabt. Aber diesen Eindruck hatte er allein aus der Lektüre, des Berichts von Giles Collins gewonnen. Jetzt, wo er die meisten dieser Personen gesehen und sich ein Urteil über sie gebildet hatte, war er, was Meg betraf, zu einem anderen Schluß gelangt. Natürlich war Meg durchaus imstande, einen Mord zu begehen. Doch sie würde nur in einer plötzlichen Aufwallung töten – rasch, ehe der Zorn verflogen war. Sie würde entweder genug Arsenik verwenden, um zehn Personen umzubringen, oder überhaupt keines. Und darin war sie genau wie Sir Nick. Doch irgend jemand … Fenton zögerte. Es gab eine Möglichkeit, den Täter herauszufinden. Er konnte ein gewisses Experiment machen. Immer noch entschlossen, gegen die Geschichte und den Teufel anzugehen, schob er seine Perücke zurecht und kehrte ins Studierzimmer zurück. Alle standen noch an derselben Stelle. Nur die Flammen der Wachslichter flackerten unruhig hin und her in dem Luftzug der sich schließenden Tür. »Es hat den Anschein«, sagte Fenton, »als ob Mistreß Pamphlin vom Verdacht gereinigt sei. Es bleiben also nur noch drei übrig.« Nan Curtis, die allzu korpulente Küchenmagd, legte die Hände an ihr Häubchen, als wäre sie von Zahnschmerzen geplagt, und dicke Tränen rollten ihr über die Wangen.
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»Oh, wir Unglücksraben!« rief sie, so daß Fenton unwillkürlich Mitleid mit ihr empfand. »Es ist um uns geschehen, Tom! Tom, es ist aus mit uns!« »Nein!« brummte Tom in tiefem Baß und redete weiter in einem so unverständlichen Dialekt, daß Fenton Giles' Dienste als Übersetzer in Anspruch nehmen mußte. »Nun, Sir«, sagte Giles lächelnd und rasselte mit der Peitsche, »er ist voller Bewunderung für Euch, und seiner Rede Sinn ist: ›Ihm oder den Seinen ein Leids antun? Ihm, dem besten Degenfechter in ganz England?‹« Fenton war betroffen. Es wird mir immer klarer, dachte er, daß ich für meine Säbelfechterei bekannt bin. Wenn sie nur die jämmerliche Wahrheit wüßten! »Danke, Tom«, sagte er höflich. »Ich wollte, es wäre so.« Während dieser ganzen Zeit beobachtete ihn Kitty ungezwungen und schien ein wenig verwundert, als sähe sie einen ganz anderen Mann vor sich. »Ach, bitte, Sir«, flehte sie mit schmeichelnden Blicken und lächelndem Mund, »Mistreß Pamphlin, sagt Ihr, ist vom Verdacht befreit. Nun! Bin ich es nicht auch? Ei, habt Ihr nicht gehört, wie sie sagte, ich hätte kein Gift hineingetan?« Ihre Stimme sank zu einem intimen Geflüster herab, als sie im Rotwelsch sagte: »Gebt uns einen Wink, reicher Geck.« Dann mit lauter Stimme: »Bin ich nicht auch vom Verdacht befreit?« Fenton maß sie kühl von Kopf zu Fuß. »Das, mein gutes Mädchen, hängt von Judiths Sehstärke und deiner eigenen Kühnheit ab. Immerhin! Nehmen wir
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der Einfachheit halber an, daß ihr alle unschuldig seid. Aus dem Wege, Mädchen!« Kitty knirschte mit den Zähnen. Ohne weiter auf sie zu achten, trat Fenton an den polierten Schreibtisch am Fenster. So viele Jahre hindurch hatte er Giles' Manuskript studiert, daß er es auswendig wußte. Im Geist sah er die verschnörkelten Buchstaben des Manuskripts vor sich: »…Montag, den 9. Mai. Wie ich mich entsinne, entdeckte Sir Nicholas im Schreibtisch seines Studierzimmers ein Papier-Päckchen. Es stand darauf geschrieben in geübter Hand: ›Arsenik, Tödliches Gift.‹ Darunter befand sich ein Zeichen oder Dessin in blauer Tinte. Sir Nicholas, der drob baß erstaunt war, beorderte mich in seine Gegenwart und fragte: ›Wie kommt dies hierher?‹ Ich antwortete, ich weiß es nicht. Wie aber, so sagte er, deutest du dies Zeichen hier? Nun, Sir, sprach ich, es bedarf keines Zweifels, dies ist das Straßenschild, das über der Thüre eines Apothekers hängt…« Fenton verscheuchte die Erinnerung an das Manuskript und blickte auf den Schreibtisch hinab. Er hatte nur eine Schublade unter der flachen Platte. Irgend jemand hatte ein »Papierpäckchen« hineingelegt. Fenton zog die quietschende Schublade auf. Ja, es war noch vorhanden. Dickes, weißliches Papier, ein wenig zerknittert, etwa acht Zentimeter breit, der Länge nach gefaltet und an beiden Enden umgebogen. Auch ziemlich schwer. Er berührte es und stellte fest, daß es sich doch um ein Pulver handelte. Er wandte sich um und öffnete das Päckchen behutsam. »Hier ist Arsenik«, sagte er. »Das Gift, das benutzt wurde. Wem von euch kommt es bekannt vor?« 97
Big Tom schüttelte knurrend den Kopf. Nan Curtis begann nach einem raschen Blick voll unersättlicher Neugierde wieder zu schluchzen. Kitty, die sich in den Schatten des hohen Schrankes zurückgezogen hatte, murmelte ein paar Worte mit so leiser Stimme, daß Fenton sie beinahe nicht gehört hätte. »Sei vorsichtig, reicher Geck!« flüsterte sie im Rotwelsch. »Du schwätzest viel zuviel!« »Nun sag mir eines«, wandte sich Fenton an Nan Curtis, »werden diese Zutaten für die Sektmolke von Mylady einem allgemeinen Hausvorrat entnommen, oder werden sie getrennt aufbewahrt?« »Nein, Sir«, schluchzte Nan, nachdem sie sich die Frage eine Weile überlegt hatte, »sie werden alle getrennt aufbewahrt, jede für sich.« »Das ist ja trefflich«, erklärte Fenton. »Daraus läßt sich vieles erklären! Wie lautet die Antwort, Giles?« »Nun, Sir«, erwiderte der, »das ist doch höchst einfach.« »Inwiefern?« »Sir, wir haben gehört, daß kein Gift von… von diesem armen Wesen in die Schale getan wurde. Ferner haben wir gehört, daß keiner die Schale berührt hat, als sie nach oben getragen wurde. Dann war das Gift wahrscheinlich schon in einer der Zutaten, ehe die Molke zubereitet wurde.« »Richtig, mein guter Giles!« Fenton wandte sich den drei anderen zu. »Nun, wenn es sich so verhält, können die Dinge auf einfache Weise geklärt werden. Wir steigen alle in die Küche hinab und bereiten eine Sektmolke genauso
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zu, wie es für Mylady geschehen ist. Und dann sollt ihr alle davon trinken.« Es folgte eine Totenstille, in der nicht einmal das Scharren eines Fußes zu hören war. Nur der Wind rüttelte an den Fenstern. Als allmählich die Bedeutung dieser Worte klar wurde, änderten sich die Gesichtszüge der drei Personen. »Ei gut!« brüllte Big Tom plötzlich und brummelte etwas, was offenbar seine Billigung zum Ausdruck brachte. Nan Curtis fiel auf die Knie. »Ach, gnädiger Herr, wollt Ihr uns alle töten, die wir nichts weiter sind als Eure armen Diener?« »Euch töten?« widerholte Fenton. »Ist mein Weib etwa tot?« Vor ihren Augen faltete er das Päckchen mit dem Arsenik wieder zusammen und steckte es tief in die rechte Tasche seines Rockes. »Ihr werdet nur einen Tag unter Krämpfen leiden«, sagte er. »Wenn die Dosis stark genug sein sollte, werdet Ihr vielleicht das Gefühl haben, es brenne ein Feuer in Eurem Bauch, das nicht gelöscht werden kann. Das gehört mit zur Probe. Sollte jemand davor zurückschrecken und sich weigern, von der Molke zu trinken …« Nach einer eindrucksvollen Pause fuhr er fort: »Es könnte auch sein, daß sich kein Gift in der Schale befindet, daß ich aber, wenn ich jemanden entdecke, der zu trinken zaudert« – hier klopfte er auf seine Tasche – »genug von diesem Arsenik in die Schale zaubere, um den Tod herbeizuführen, so daß nur der Schuldige leidet und die
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Unschuldigen nicht zu Schaden kommen. Jedenfalls, wenn einer sich weigert zu trinken …« »Ich weigere mich«, erklärte Kitty. Abermals betrachtete Fenton sie mißbilligend vom Kopf bis zum Fuß. »Wirklich? Dann müssen wir's auf die andere Art versuchen.« Kitty öffnete den Mund. Sie stand mit dem Rücken gegen den Schrank. Beide Arme hatte sie ausgestreckt und umklammerte mit jeder Hand den Kopf eines Satyrs. »Wenn Ihr die Katze meint…« »Keineswegs. Wir müssen dich vor jeden Friedensrichter schleifen, bis wir einen finden, der dich kennt. Ich möchte wetten, daß du etwas auf dem Kerbholz hast, was dich an den Galgen bringt. Du bist ein hübsches Weibsstück, überreif für deine neunzehn Jahre. Warum hockst du hier über einem heißen Feuer in einem finsteren Loch, wenn nicht aus Gründen der Sicherheit?« Kittys Augen verwandelten sich in häßliche Schlitze. »Hüte deine Zunge, Lügner!« sagte sie leise. Dann laut: »Ich eine Diebin? Wie solltet Ihr das wissen!« »Ich sollte das nicht wissen? Na, na! Es war dir doch wohl ein Pläsier, dem hohlköpfigen Sir Nick Fenton süßen Unsinn ins Ohr zu plappern? Jawohl, mir selbst! Alles so naiv, ja? Und dann hast du dir eins ins Fäustchen gelacht, weil du ihn gefoppt zu haben glaubtest.« »Was ich von Euch erzählen könnte …!« »Dann sag es nur. Aber zunächst mußt du wählen. Die Sektmolke – oder den Friedensrichter?«
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In diesem Augenblick hörten sie ein lautes Klopfen an der Tür des Studierzimmers. Unmittelbar darauf wurde sie aufgestoßen. »Nun, da hört doch alles auf!« verkündete eine muntere, herzhafte, ungezwungene Stimme. »Ich habe dich in jedem Winkel dieses Hauses gesucht, nur nicht in einem Raum, der Bücher enthält. Ich betrachte es als eine hohe Gunst, Nick – so wahr ich hier stehe –, daß du endlich aufgehört hast, dich mit deiner Frau zu amüsieren, und in die Kleider gestiegen bist, um mich zu begrüßen. Unsere Verabredung war für Punkt halb neun. Erinnerst du dich noch? Und jetzt ist es …« Hier brach die Stimme auf einmal ab. Ins Zimmer strömte ein kräftiger Stallgeruch, vermischt mit dem Aroma eines schweren Weißweins. Fenton drehte sich um und mußte schmunzeln. Der Graveur hatte es mit seinen Stichen am allerleichtesten für ihn gemacht, Lord George Harwell zu erkennen. Ein breitkrempiger, niedriger Biberfellhut mit einem goldenen Band saß verwegen auf Georges langer flachsfarbener Perücke. Er hatte ein Paar kecke braune Augen, die lustig blinzelten, eine ziemlich große Nase über einem dünnen blonden Schnurrbart und einen breit lächelnden Mund. George war etwa fünf Zentimeter größer als Fenton, aber ein wenig korpulent. Wie Giles in seinem Manuskript erwähnt hatte, behinderte ihn dies in der Fechtkunst, auf die er sich gut verstand. In seinem Anzug aus purpurnem Samt mit Rüschen an den Handgelenken, einem feinen Spitzenjabot am Hals und den zahlreichen Juwelen, die an seinen Fingern glitzerten, bot er ein prächtiges Bild.
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Aber er spürte, daß hier etwas nicht stimmte. Stirnrunzelnd versuchte er, der Sache auf den Grund zu kommen, was ihm jedoch nicht gelang. Fenton und er bedienten sich der üblichen freundschaftlichen Begrüßungsformeln. »George!« rief Fenton mit aufrichtiger Herzlichkeit. »Möge deine Seele so tief in der Erde modern wie Olivers!« »Nick!« rief George im selben Ton. »Möge die Pest über dich kommen und jeder Doktor in der Welt tot sein!« Beim Austausch dieser Liebenswürdigkeiten hatte George fleißig seine Schuhe an der Türkante vom Stalldünger gesäubert. »Ei, stört euch nicht an meinen Manieren!« empfahl er der Allgemeinheit, während er versuchte, eine tragische Miene aufzusetzen. »Seit meiner Taufe bin ich ein ruinierter Mann. Es ist kein Scherz, behüte! Tausendmal hab' ich die Geschichte erzählt…« Er hielt inne, und seine aufmerksamen Augen fielen auf die Neunschwänzige Katze. »Das ist's also«, murmelte er und schnalzte mit den Fingern – eine Bewegung, die die Diamanten, Rubine und Smaragde in den silbernen Fassungen seiner Ringe in wechselnden Regenbogenfarben sprühen und funkeln ließ. Kitty, die sich wieder in eine schöne Frau verwandelt hatte, konnte ihren Blick nicht davon lösen. »Hier ist ein Gerichtshof mit Richter und Geschworenen; hier findet ein Verhör statt«, sagte George hastig. Sein Degen mit einem Stichblatt aus Silberfiligran und einem polierten Silbergriff klirrte ungeschickt gegen die Tür, als er sich umdrehte.
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»Nick, ich werde dich verlassen. So etwas läßt sich wohl nicht vermeiden, aber ich mag's nicht. Nun, der Stall…« Flüchtig sah Fenton, wie Judith Pamphlin mit einem großen beladenen Tablett die Treppe hinaufging. »Geh nicht fort, George. Die Sache ist für den Augenblick erledigt. Giles!« »Sir?» »Sorge dafür, daß alle in diesem Raum bleiben«, Fenton nickte zu der Gruppe, »bis ich wiederkomme. Sie brauchen nicht zu stehen; gib ihnen Stühle. Aber niemand soll sich nach unten begeben, damit nichts angerührt wird. Lord George und ich haben eine wichtige Angelegenheit zu besprechen, aber es wird nicht lange währen.« George strahlte über sein ganzes rosiges Gesicht, als er sah, daß die Prügelstrafe, die eine Frau mit zwanzig Hieben fast töten konnte, hinausgeschoben war. »Potz Blitz! Das ist aber ein feines Mädchen!« rief er aus und nickte mit seinem breitkrempigen Hut und seiner flachsfarbigen Perücke Kitty zu. »Wie steht's, mein Schatz?« »Besser, seitdem Eure Lordschaft von mir Notiz genommen haben, Mylord«, erwiderte Kitty holdselig mit einem tiefen Knicks. »Hah!« rief George entzückt. »Nick, sie besitzt auch Witz. Wie?« »Mag sein.« »Aber hör mal, Nick! Diese »wichtige Angelegenheit'. In deinem Brief warst du so verwünscht mysterieux – wie
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die Franzosen sagen, der Teufel hole sie –, daß ich kein Wort davon verstanden habe.« Fenton holte das Päckchen mit dem Gift aus der Tasche und reichte es ihm. »Dies fand ich in meinem Schreibtisch, wo es ohne mein Wissen versteckt war. Lies die Aufschrift.« »Gift!« las George, während er zurückwich und das Päckchen so hielt, als ob es ihm die Finger verbrenne. »Hier, rasch, nimm es zurück!« Fenton nahm es wieder an sich. Obwohl George sich stets Hals über Kopf in jedes Gefecht stürzte, wobei er unter Tränen behauptete, daß er ein friedlicher Mann sei, jagte ihm die unmittelbare Nähe von Arsenik die Farbe aus den Wangen. »Glaubst du«, fragte er ängstlich, »daß es meine Hand schon infiziert hat? Wird sie anschwellen und schwarz werden? Nein, allen Ernstes! Was meinst du?« »Sei ohne Sorge, es hat keinen Schaden angerichtet. Sieh nur, ich fasse es ja auch an. Nun, hast du das Zeichen in blauer Tinte unter der Aufschrift bemerkt?« »Ich … wenn ich gestehen soll…« »Nun, ich konnte es mir nicht erklären, bis Giles Collins mir auf die Sprünge half. Er sagte, es sei das Straßenschild über der Tür eines Apothekers.« »Was sagst du da?« »Es ist das Zeichen eines Mörsers mit einer Mörserkeule darüber. Wahrscheinlich das Schild der Apotheke ›Zum Blauen Mörser.‹« 104
»Und weißt du, wo die ist?« »Jawohl«, erwiderte Fenton und zitierte aus dem Manuskript: »In der Totenmannsgasse, die vom Strand abbiegt, beim ›Kopf des Wilden Mannes‹. Wir werden uns dorthin begeben, um zu erfahren, wer das Gift gekauft hat.« »Oh, schlau!« nickte George, der sich nie durch einen hohen Grad von Intelligenz ausgezeichnet hatte. »Schlau wie ein Advokat in Westminster Hall! Sollen wir gleich aufbrechen?« »Ja, aber zunächst muß ich nach oben gehen und mich meiner Frau präsentieren …« George traten die Augen aus dem Kopf. »Alle Wetter, Nick! Doch nicht schon wieder?« »Deine Denkweise, alter Freund, ist ekelhaft. Lydia muß meine Stimme hören, damit sie Judith Pamphlin die Tür öffnet. Dann …« Fenton hielt inne. Ohne es sich erklären zu können, wurde er plötzlich von einer bangen Ahnung erfaßt. »Zum ›Blauen Mörser‹«, fügte er hinzu, »in der Totenmannsgasse!«
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VI Knarrend und kreischend schwangen die Aushängeschilder in dem heftigen Wind, der den Strand von Charing Cross her hinunterwehte. Sie klapperten und quietschten über den Häuptern der Passanten und prallten mit großem Krach aufeinander. Sie mochten alt oder schmutzig sein, diese Schilder, aber wenn die Sonne hervorkroch, glänzten ihre primitiven Bilder in leuchtenden Farben. Hier klaffte ein roter Mund in einem Gesicht von der Farbe eines neuen Schornsteinaufsatzes. Dort tänzelte eine grüne Wassernixe über der Tür einer Garküche. Augen, Hundeköpfe, Fische sprangen auf und ab und blitzten in Rot, Purpur und Gold, während Wind und Ruß miteinander fochten. Doch der Lärm der Schilder war kaum größer als der Lärm des Straßenverkehrs. In den Strand, einst eine vornehme Allee, in der die Stadthäuser der Adligen mit der Rückseite nach der rauchigglitzernden Themse standen, waren Handel und Wandel bereits eingedrungen, bevor das Große Feuer vor neun Jahren Cheapside und Eastcheap einäscherte. Hier, wo die Gosse oder der Kloakengraben in der Mitte der Straße üble Dünste aufsteigen ließ, krachten eisenbereifte Räder über das Kopfpflaster, begleitet von den Flüchen der Kutscher. Höker schrien ihre Waren aus. Rastelbinder riefen die Leute herbei, indem sie auf einem Messingkessel herumtrommelten. Sie wurden übertönt durch die Rufe der Lehrlinge, die sich über die unteren Hälften der zweiteiligen Ladentüren lehnten oder vor den 106
Läden auf und ab gingen. »Tuch, Sir! Wie Samt; faßt es nur an!« »Lilienweißer Essig! Lilienweißer Essig!« »Habt ihr einen Messingtopf, einen Eisentopf, einen Kochtiegel oder eine Bratpfanne, die ausgebessert werden müssen?« »Und ein schöneres Bordell«, schrie Lord George Harwell seinem Gefährten ins Ohr, »hab' ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen! Mit Mutter Cresswells Haus überhaupt nicht zu vergleichen; pfui!« »Hm – besser?« »Ein wahrer Venustempel, meiner Treu! Ich kann dir sagen… Zum Teufel, Nick, nimm dich doch in acht! Du kommst mir noch unter die Räder oder fällst in die Gosse! Zurück!« George hatte dauernd auf Fenton aufpassen müssen, seitdem sie in östlicher Richtung die Pall Mall entlanggewandert waren. Die Augen seines Gefährten waren glasig und halb geschlossen. Er drehte sich beim Gehen ständig nach allen Seiten um. Wenn sein Blick auf etwas fiel, was ihm ein wenig bekannt vorkam, bewegte er schweigend die Lippen, als spräche er den Namen vor sich hin. George wurde allmählich ganz nervös. Als sie sich der Reiterstatue Charles' des Ersten näherten, legte er seinem Gefährten die Hand auf den Arm. »Schockschwerenot!« stieß er nach tiefer Überlegung hervor. »Du kannst doch unmöglich so viel Rotwein in dich hineingeschlaucht haben, ehe du von zu Hause fortgingst. Ich habe dich doch gesehen.«
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Fenton tat die Bemerkung mit einer heftigen Geste ab und deutete mit dem Finger. »Dort an der Nordseite«, sagte er, »sind wohl die königlichen Marställe, wo die Soldaten einquartiert sind?« »Ja. Du tust ja so, als ob du nie den Zapfenstreich von dort gehört hättest!« »Und nach Süden zu«, sagte Fenton, indem er sich vollständig umdrehte, »ist die King Street. Zur Linken …« Seine Hand deutete auf einen Haufen alter, schmutziger Backsteingebäude, die von wehendem Rauch und dem grauen Himmel halb verdunkelt waren und sich eine halbe Meile lang zwischen der King Street und dem Flußufer dahinzogen. »Whitehall-Palast«, sagte Fenton. Seine Hand fegte nach der anderen Seite. »Diese Eisengitter und Hecken zur Rechten verbergen den Privatgarten des Königs, und dahinter erstreckt sich der St.-James-Park.« Fenton starrte immer noch die King Street hinab auf einen viereckigen Turm aus roten, blauen und gelben Ziegelsteinen mit einem sich drehenden Wetterhahn an jeder Ecke. Der Turm stand genau mitten in der Straße und hatte einen großen Torbogen für einen Durchgang nach Westminster. »Das ist das Holbein-Tor«, sagte Fenton. »Und dahinten nach Südwesten: das muß ein Eingang zu Spring Gardens sein.« Bei diesen Worten legte sich Georges Nervosität, und er begann zu schmunzeln. Wenn Nick vorgab, Spring Gardens, den großen Lustgarten, nicht zu kennen – und ein flotter Geselle konnte dort immer Liebe finden, potz Geck! 108
–, dann hatte Nick keinen Wahnsinnsanfall, sondern war einfach total betrunken. George brüllte vor Lachen. »Spotte meiner nicht, ich bitte dich«, sagte Fenton unerwartet. Sein Gesicht war so bleich, daß George offenen Mundes stehenblieb. Fenton netzte sich die Lippen. Nach einem Blick auf die östlich gelegene Neue Börse und die Einfahrt zum Strand kehrte er wieder um. Neben der Statue bückte er sich und nahm eine Handvoll Staub und Erde vom Boden, die er langsam durch die Finger rieseln ließ. »Ich bin hier«, sagte er leise. Aber George hatte dies alles vergessen, als sie sich durch das Menschengewühl auf der Nordseite des Strand drängten. Voller Seligkeit wollte er gerade den Traum aller Bordelle beschreiben, als Fenton, der sich immer noch umblickte, beinahe unter die Räder eines Leichenwagens geriet und zurückgerissen werden mußte. »Nun hör mal zu, Nick«, riet George, der nicht zornig, sondern sehr beunruhigt war. »Ich frage keinen Pfifferling danach, wenn ein Mann zu tief in der Becher guckt. Spaß muß sein. Aber…« »Ich bitte dich um Entschuldigung«, sagte Fenton, der sich bemühte, sich den Ruß aus den Augen zu reiben. »Mein Kopf ist jetzt wieder klar.« »Gut! Dann wirst du jetzt nicht mehr starren und glotzen. Sonst…« »Falle ich in den Kloakengraben, ja?« »Darum ist mir nicht so bange. Aber hier treibt sich eine rauhe Bande herum. Dieses Lumpengesindel, diese Bettler,
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die sich krank stellen, diese Landstreicher, ja selbst die Lastenträger, sie alle…« Georges Stimme wurde übertönt von dem Horn eines Schweinestechers. Einer der zahlreichen jungen Schuhputzer, die mit ihrer Mischung aus Ruß und ranzigem Öl in den Gassen herumlungerten, sah, in welchem Zustand sich Georges Schuhe befanden, und stürzte auf ihn los. Mit einem wohlgezielten Faustschlag entledigte sich George dieser Person. »Sie halten einen für einen Tölpel vom Lande, der zum ersten Male in die Stadt gekommen ist. Oder für einen Mußjöh – so nennen sie einen Franzosen! –, und das ist noch schlimmer. Sie spielen dir einen Schabernack; sie bewerfen dich mit Widderhörnern oder Schmutz aus dem Kanal; sie schwirren um dich herum wie Hornissen. Dann packt dich die Wut; du ziehst den Degen, und schon ist die Hölle los.« »Ich werde vorsichtig sein, George.« Schwapp! schlug ihm eine Degenscheide in die Kniekehle. Die Hälfte dieser Menschen schien Degen zu tragen. Und wenn man nicht höllisch aufpaßte, stolperte man darüber oder bekam einen Stoß. Fenton, der sich immer noch bemühte, seine Augen vor Ruß und seine Nase vor dem Kanalgeruch zu schützen, wachte aus seinen Träumereien auf und blickte um sich. Ergriff nach seinem Hut, aber der saß fest. Ihre Hüte waren mit langen goldenen Nadeln an den Perücken befestigt, sonst wären sie längst fortgeflogen. Wieder einmal drang ein Sonnenstrahl durch den Dunst. Fenton beobachtete, wie ein Stutzer unter dem Hohngelächter des Lumpengesindels in einer 110
Sänfte getragen wurde. Er sah solide Bürger in Kamelottmänteln, Wollstrümpfen und Schnallenschuhen einherschreiten. Hier, das wußte er, würde er keinen reichen Kaufleuten mit goldenen Ketten und gewichtigen Pelzroben begegnen. Sie gehörten zur entlegenen City, wo nach dem Großen Feuer Backsteinhäuser anstelle der alten Holzbauten errichtet wurden. Unwillkürlich blickte er zu den alten Häusern mit ihren verschmutzten Fachwerkgiebeln hinüber, die weit in die Straße hineinragten. In einem der Häuser wurde ein Fensterflügel aufgestoßen, und nach einer Weile der andere. Eine gähnende, unfrisierte Schlampe erschien in ziemlich unbekleidetem Zustand am Fenster. Interesselos blickte sie auf die Straße hinab, während sie sich mit einer Hand kratzte und in der anderen einen Krug mit Dünnbier hielt. »Ich hab's!« stieß George, der tief in Gedanken versunken gewesen war und jetzt Fentons Blick folgte, plötzlich hervor. »Nun fällt's mir wieder ein.« »Wovon sprichst du?« »Menschenskind, vom Venustempel! Ich wollte dir doch erzählen…« »Apropos Venus, George«, unterbrach ihn Fenton, der sich all seiner Probleme wieder bewußt wurde, »was würdest du sagen, wenn ich mich entschlossen hätte, allen Frauen außer Lydia abzuschwören?« »Wie, bitte?« »Was würdest du dazu sagen?«
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George rollte seine braunen Augen und warf sich in die an Umfang zunehmende Brust. Das Glitzern seiner Ringe spiegelte sich in den Augen der Vagabunden, die an den Hauswänden lehnten. »Nun«, meinte George, »dann würde ich mich höflich nach Meg Yorks Befinden erkundigen.« »Ja, Meg. Sie wird morgen mein Haus verlassen.« George blickte seltsam drein. »Meg – geht fort? Wohin denn?« »Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, daß sie von einem gewissen Captain Duroc unterhalten werden soll, über den mir nichts bekannt ist.« »Tatsächlich?« murmelte George, und seine linke Hand fiel auf den Degengriff. »Die Frage, die ich … halt! Wir müssen fast am Ziel sein.« Fenton blieb plötzlich in dem Gedränge stehen. Beinahe riß ihm das Schmalzfaß eines vorübereilenden Lastträgers den Kopf von den Schultern. Der Lärm war immer noch so groß, daß er gezwungen war zu schreien, wie er und George es die ganze Zeit hindurch getan hatten. »Wir müssen ganz in der Nähe sein, wenn wir nicht schon daran vorbeigelaufen sind. Achte du auf die linke Seite der Straße, während ich die rechte in Augenschein nehme. Die Totenmannsgasse biegt beim ›Kopf des Wilden Mannes‹ ab. Das ist wohl ein Wirtshaus.« »Wirtshaus!« sagte George und spuckte verächtlich aufs Pflaster. »Es ist ein Tabakladen. Er liegt ja vor uns. Siehst du nicht das Schild?« Das Schild war mit einem langen, gräßlichen braunen Gesicht bemalt – wahrscheinlich des Künstlers Vorstellung 112
von einem Indianer –, in dem zwei Reihen raubtierartiger Zähne eine lange Tonpfeife umklammert hielten. Die Totenmannsgasse hatte, wie so viele andere Gassen und Gäßchen, die vom Strand abbogen, am Eingang einen etwa drei Meter hohen und fast ebenso breiten Torbogen, dessen mit glatten Steinen gepflasterter Tunnel ungefähr sieben Meter lang war und über sich ein kleines Haus trug. George schien über etwas nachzusinnen. »He, diese Feuereimer!« sagte er obenhin, aber mit einem verschlagenen Blick auf seinen Gefährten. »Wie kommen die bloß hierher? Was meinst du wohl?« »Nanu, George! Dein Verstand ist wohl umnebelt.« »Mein Verstand? Bei Gott!« »Nun«, sagte Fenton ungezwungen, »seit dem Feuer sind doch wer weiß wie viele königliche Edikte erlassen worden, wonach jeder Kaufmann einen Feuereimer im Laden aufstellen muß. Erinnerst du dich nicht, George?« »Ich … ich …« »Aber in engen, vollgestopften Läden sind diese Feuereimer verteufelt lästig, fürwahr! Sie kippen leicht um und durchnässen die Waren, nicht selten auch den Kunden. Also stellt man sie stillschweigend woandershin.« »Bei Gott, du bist doch Nick Fenton!« Sein Gefährte tat erstaunt. »Hast du das etwa angezweifelt?« »Ei nun, nicht gerade angezweifelt; aber …« George ließ den Satz unvollendet. Er fuchtelte mit den Händen, daß die Rüschen flatterten. Wenn er etwas nicht verstand, ließ er 113
das Thema rasch fallen. »Also, Nick, was Meg York angeht…« »Ich kann dir nur sagen, daß sie morgen mein Haus verläßt. Allerdings habe ich vorhin eins noch vergessen. Sie erwähnte, daß dieser Captain Duroc ihr eine Wohnung in Chancery Lane besorgt habe. Wenn du das Verlangen hast, sie auszuhalten …« »Sie aushalten?»schrie George in tiefster Empörung. »Ich möchte sie ehelichen!« »Was, du willst sie ehelichen – Meg?« »Und warum nicht?« Wiederum warf sich George in die Brust. »Meg ist eine Dame von Stand, verwandt mit deiner eigenen Frau. Sie braucht keine Mitgift. Ich habe genug Münze.« Hier wurde George ein wenig verlegen. »Certes, ich weiß um ihre Beziehungen zu dir…« Zum Glück oder zum Unglück, dachte Fenton, weiß ich nichts darüber. »Aber nenne mir eine einzige hochgeborene Dame«, fuhr George herausfordernd fort, »mit Ausnahme von Königin Catherine und Lady Temple und – und certes Lydia, die nicht von einem flotten Burschen ein dutzendmal mit ins Bett genommen worden ist! Das ist nun mal so Sitte. Und ich bin ein Mann, der mit der Zeit geht.« Bei diesen Worten trat George unruhig von einem Fuß auf den anderen und starrte auf den schmutzigen Boden des Tunnels. »Nick«, platzte er heraus, »denkst du, daß sie mich haben will?« »Oh, daran zweifle ich nicht. Ich frage mich nur, ob es ratsam ist.« Fenton war seiner eigenen Gefühle nicht 114
sicher. »Gott im Himmel!« fuhr er fort. »Zweimal innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden stand ich im Begriff, dies verdammte Frauenzimmer zu töten: einmal
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Dies bereitete George ein ungeheures Vergnügen. »Macht nichts, alter Freund!« schmunzelte er. »Das ist nur des Lieblings ergötzliche Laune.« »Zweifellos. Doch magst du es nicht so ergötzlich finden, George, wenn sie dir einen Dolch durch die Rippen jagt oder… oder dir heißen Glühwein mit Arsenik vorsetzt.« »Arsenik«, rief er und schien vor dem Wort zurückzuschrecken. »Potztausend, darum sind wir ja hier! Ich hatte es ganz vergessen.« Er warf rasch einen Blick auf seine rechte Hand, um zu sehen, ob sie schon geschwollen und schwarz geworden sei. Mit Erleichterung stellte er fest, daß es nicht der Fall war. Die Totenmannsgasse war nicht mehr als vier Meter breit. Auf der rechten Seite befand sich eine hohe, dunkle, fensterlose Ziegelwand. Zehn Meter weiter bog sie in eine andere Gasse ein, die durch ein verschlossenes, mit Spitzen versehenes Eisengitter verbarrikadiert war. Auf der linken Seite zog sich die lange, offene Fassade einer Heu- und Getreidehandlung hin. Davor standen ein Karren und eine lange steinerne Tränke. Es war eine Anzahl von Läden vorhanden, doch die beiden Freunde sahen nur einen: eine blaue Tür und das Schild mit dem blauen Mörser. George wandte sich an seinen Gefährten. »Was hat dies alles überhaupt für einen Sinn?« fragte er, und seine Stirn unter der flachsenen Perücke rötete sich vor Zorn. »Niemand ist vergiftet in deinem Haus, Nick, oder die Obrigkeit hätte sich längst eingemischt. Du kannst nicht behaupten, daß Meg …« Das ernste Gesicht seines Gefährten brachte ihn zum Schweigen. 116
»Ich weiß es nicht«, sagte Fenton unglücklich. »Eine ganze Zeit lang habe ich es geglaubt, das will ich ganz offen zugeben. Heute jedoch sind mir immer und immer wieder Zweifel gekommen. Wer bin ich, daß ich sagen könnte: ›Diese Person würde dies tun‹, oder: ›Jene Person würde das tun?‹ George, ich weiß es einfach nicht.« »Ich werde es ausfindig machen …« »Nein! Überlaß das Reden bitte mir.« Fenton stieß die blaue Tür auf, und sie traten in einen kleinen, nicht allzu sauberen Raum. Er hatte ein ziemlich großes Fenster mit bleigefaßten Butzenscheiben. Durch das buckelige Glas fiel ein etwas grünliches Licht auf den dunkelgebeizten Eichentresen mit der trüben Messingwaage. Der Apotheker, ein kleiner, verrunzelter Mann, der sein eisengraues Haar unter einem schwarzen Käppchen trug, stand hinter dem Tresen und las in einem aufgeschlagenen Buch. Als seine Besucher eintraten, blickte er sie durch seine länglichen, stahlgefaßten Brillengläser an »Einen schönen guten Tag, die Herren«, begrüßte er sie mit einer Stimme, die wie ein Straßenschild knarrte, während er sich tief, aber ohne Unterwürfigkeit verbeugte. »Und womit kann ich Euch dienen?« Der Apotheker, Magister William Wynnel, war im Grunde ein fröhlicher, rühriger, lebhafter Mann. Aber sein Beruf hatte ihm ein gesetztes, strenges Aussehen verliehen. Er betrachtete die Besucher mit gespitzten Lippen und einem traurig-ernsthaften Blick, als sei die Last seiner Gelehrsamkeit zu schwer für ihn. »Magister Apotheker, mein Name ist Fenton.« 117
»Habe ich die Ehre«, erwiderte der andere, sich abermals verneigend, »mit Sir Nicholas Fenton zu reden?« »Wenn Ihr es eine Ehre zu nennen beliebt, ja, ich bin Nicholas Fenton.« Der alte Apotheker war hocherfreut, daß ihm eine so höfliche Behandlung widerfuhr, wie sie ihm nach seinem Dafürhalten auch zukam. »Ihr seid zu gnädig, Sir Nicholas! Und was führt Euch zu mir, wenn ich fragen darf?« Fenton griff in seine große rechte Tasche. Über dem Päckchen mit Arsenik lag die kleine, aber schwere Geldbörse mit der Zugschnur, die er sich von Giles hatte geben lassen, ehe er von zu Hause fortging. »Ich möchte Wissen kaufen«, entgegnete er. Er öffnete den Geldsack und schüttete einen Teil des Inhalts aus. Gold- und Silbermünzen rollten klirrend über den Ladentisch. Der kleine William Wynnel richtete sich würdevoll auf. »Sir«, bemerkte er, »ich bin Drogist und Apotheker, ein Metier, das gelernt sein will und fast an das des Chirurgen oder Doktors der Medizin heranreicht. Steckt bitte das Geld weg, bis wir in Erfahrung gebracht haben, ob ich … das Wissen, wonach Euch verlangt, besitze.« Ein Schweigen folgte diesen Worten. George wollte gerade den Mund öffnen, um den Apotheker anzubrüllen. Doch ein Zeichen, das Fenton ihm unterhalb des Tresens gab, hinderte ihn daran. Fenton hatte einen ganz bestimmten Zweck im Auge. »Eure Worte sind berechtigt«, gab er zu und fegte die Münzen wieder in die Geldkatze. »Und 118
Euer Tadel ebenfalls. Ich bitte Euch um Verzeihung.« George und der Apotheker starrten ihn an. Die höfliche Entschuldigung eines Adligen, dessen Vorfahren bis in die Zeit vor Edward III. zurückgingen, erschien so leutselig, daß der Apotheker völliges Vertrauen gewonnen hatte. Er hätte jetzt jedes Geheimnis enthüllt. »Zunächst einmal«, fuhr Fenton fort, während er die Geldkatze wieder in seiner Tasche verschwinden ließ und ungezwungen das Päckchen Arsenik herauszog, »nehme ich an, daß Ihr dies verkauft habt. Habe ich recht?« Magister Wynnel nahm das Päckchen in die Hand, um es genauer zu betrachten. »Nun, freilich«, entgegnete er prompt. »Hätte ich die Tatsache zu verbergen gewünscht, so hätte ich nicht mein Zeichen so deutlich darauf vermerkt. Denn es verstößt nicht gegen das Gesetz, Arsenik zu verkaufen. Fast alle unsere Häuser sind ja mit Ungeziefer behaftet: Ratten, Mäuse, große und kleine Insekten, die man vertilgen muß. Es ist dem Apotheker überlassen, mit Hilfe seines Urteilsvermögens und geschickter Fragen die Ehrlichkeit des Käufers zu ermessen.« Damit hatte er recht. Dennoch trat in seine Augen ein unruhiger, ängstlicher Ausdruck. »Aber ich hoffe«, sagte er, »daß sich kein … kein … Unglücksfall zugetragen hat.« »Keineswegs«, versicherte ihm Fenton lächelnd. »Ich gehe der Sache nur auf den Grund, um meinen Haushalt Vorsicht und Sparsamkeit zu lehren.«
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Ein leiser, halberstickter Seufzer der Erleichterung wurde hörbar. Die gespitzten Lippen und das wichtige Gehabe des Apothekers waren wie weggeblasen. Er war jetzt ein dienstbeflissener, lebhafter, entgegenkommender kleiner Mann, dessen Augen hinter den Brillengläsern funkelten. »Könnt Ihr Euch«, fragte Fenton,«auf das Datum besinnen, an dem das Gift gekauft wurde?« »Mich besinnen? Nein, Sir, aber ich kann es Euch unverzüglich sagen!« Er stürzte sich auf das aufgeschlagen vor ihm liegende Buch, blätterte rasch ein paar Seiten um und deutete mit dem Finger auf einen Eintrag. »Das Datum«, erklärte Magister Wynnel, »war der 16. April. Also vor gut drei Wochen.« »Könntet Ihr vielleicht auch feststellen … obzwar es an ein Wunder grenzen würde… wieviel Arsenik aus dem Päckchen verschwunden ist?« »Ein Wunder? Aber nein, Sir Nicholas! Hier!« Er flog zu der alten Messingwaage, wo er das Päckchen in eine Waagschale und einen sehr leichten Kieselstein in die andere legte. »Dies ist keine gute Waage«, meinte er. »Aber ich bin zu arm, um… Na, es sind etwa drei oder vier Gran daraus verschwunden.« »Und wie hoch war die ursprüngliche Menge, die Ihr dispensiert habt?«
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»Das steht in meinem Buch. Einhundertunddreißig Gran.« Die fehlende Menge, über drei Wochen verteilt, entsprach genau Lydias Symptomen. »Der Teufel hole diesen ganzen Kram!« platzte George heraus. »Was wir wissen wollen –« »Pst!« flüsterte Fenton mit einem warnenden Blick und wandte sich wieder dem Apotheker zu. »Und der Name des Käufers, wie steht's damit?« »Damit kann ich nicht dienen, Sir. Sie wollte keinen Namen nennen.« Als Lord George das ominöse Wort sie vernahm, war es ihm, als habe sich eine Schlinge um seinen Hals gelegt. »Sie gehört aber zu Eurem Haushalt«, sagte der Apotheker zu Fenton. »Das nehme ich jedenfalls an.« »Könnt Ihr sie beschreiben?« »Das Mädchen legte ein gutes, demütiges, bescheidenes Benehmen an den Tag. Sie war vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Sie trug einen Schal um die Schultern und Holzschuhe an den Füßen. Ach ja, und sie hatte auffallendes dunkelrotes Haar, das in der Sonne aufleuchtete. Ich konnte sofort sehen, daß sie ehrlich und tugendhaft war.« »Kitty«, flüsterte George und trommelte leise auf dem Tresen. »Hörst du, Nick? Deine Köchin.« Fenton verzog keine Miene. »Aber gewiß habt Ihr doch«, meinte er, »einige Fragen an sie gerichtet, Herr Apotheker: wie sie hierhergekommen ist, wer sie geschickt hat und so weiter.« 121
»Freilich, Sir Nicholas!« bestätigte der Apotheker und lehnte sich, listig blinzelnd, über den Tresen. »Sie sagte zu mir, sie möchte gern Arsenik kaufen, und zwar ›so viel, wie in den größten Beutel geht‹.« Erregt und dramatisch schilderte der Apotheker die Szene. »›Nun, meine Liebe‹, sagte ich schmeichelnd, ›wozu möchtet Ihr das denn haben?‹ Sie erwiderte, es sei für die Ratten, sehr große Ratten, von denen es in der Küche des Hauses, wo sie eine arme Dienstmagd sei, nur so wimmele; sie verschlängen die Lebensmittel, zernagten das Holzwerk und flößten ihr große Angst ein.« »Bitte, erzählt nur weiter.« »›Dann sagt mir, meine Teuerste‹, sprach ich wie ein Vater, ›bei wem steht Ihr in Diensten?‹ Sie erwiderte, daß Sir Nicholas und Lady Fenton ihre Herrschaft sei. Certes, Sir Nicholas, ich hatte schon viel von Euch gehört wegen Eures Deg … Eures hohen Ansehens im Unterhaus. ›Wer hat Euch geheißen, Gift zu besorgen?' fragte ich. ›Nun‹, entgegnete sie, ›meine Gebieterin.‹« »Lydia?« murmelte George voller Staunen und starrte seinen Gefährten ratlos an. Fenton blieb die Ruhe selbst. »›Nun, meine Teuerstem sagte ich, ›noch eine letzte Frage. Wie sieht Eure Herrin aus? Beschreibt sie mir einmal.‹« »Magister Apotheker, seid Ihr mit Mylady Fenton bekannt?« Der kleine Mann spreizte die Hände. »Sir, Sir, genieße ich eine solche Ehre? Nein, die Falle lag woanders: nicht in dem, was sie sagte, sondern darin, wie sie es vorbrachte. Würde sie stammeln oder frisch und unbefangen sprechen? Würden ihre Augen unstet hin und 122
her wandern oder offen meinem Blick begegnen? Ah, ihr Verhalten stellte mich zufrieden!« »Und wie hat sie Mylady Fenton beschrieben?« »Nun, Sir, die Beschreibung entsprach ganz meinen Erwartungen: groß, eine Fülle von glänzendem schwarzem Haar, graue Augen, die oft die Farbe wechseln, und eine milchigweiße Haut.« Das Schweigen, das diesen Worten folgte, schien unerträglich lang. »Das ist nicht Lydia«, murmelte George mit leiser, halberstickter Stimme. »Das ist… das ist…« »Sei still, George! – Herr Apotheker, hat das Mädchen zufällig den Vornamen dieser Dame erwähnt?« »Nein, Sir, sie… doch halt!« murmelte der Apotheker und schnalzte mit der Zunge. »Ei, der Daus, das hatte ich ja ganz vergessen! ›Wenn Ihr mir keinen Glauben schenkt‹, sagte sie und zupfte züchtig an den Knöpfen meines Rockes, wobei ich – hm! ›Wenn Ihr mir keinen Glauben schenkt, so will ich Euch verraten, daß der Vorname der wahren Gebieterin meines Herrn im Augenblick Magdalen oder Meg ist.‹« Fenton senkte den Kopf. Links von ihm auf dem Ladentisch lag der dicke Spazierstock des Apothekers aus gedrechselter, geschnitzter Eiche. In Gedanken versunken, hob Fenton ihn auf und hielt ihn abwägend in der Hand. Nun, er hatte das meiste erwartet. Es stand in Giles' Bericht. Aber er war gezwungen gewesen, es nachzuprüfen, da Megs Name an dieser Stelle nicht erwähnt war. Er war nur versteckt angedeutet, und zwar in einer so verworrenen und rätselhaften Weise, daß nur ein langes, 123
konzentriertes Studium die verborgene Bedeutung zutage fördern konnte. Aber es standen, wie Fenton allmählich entdeckte, so viele, viele wichtige Dinge nicht im Manuskript! Der Bericht war eigentlich ziemlich nutzlos, mit Ausnahme von … In diesem Augenblick explodierte der Laden gewissermaßen. »Lügner!« brüllte George plötzlich. »Infamer Lügner! Schurke! Hundsfott!« George stürzte sich mit kräftiger Faust über den Tresen hinweg auf den Apotheker. Die Waage kippte um und fiel klirrend zu Boden. »George! Gemach! Sachte!« Doch George versuchte in seiner Raserei, dem Apotheker noch mehr Angst einzujagen, und zwar mit einer Lüge. »Ein Mord ist geschehen«, rief er, »und Euch wird man auch verhaften. Ihr werdet ins Newgate-Gefängnis wandern, und ich werde Euch am Galgen baumeln sehen. Ich werde beobachten, wie der Karren unter Euch weggezogen wird …« Scharf schnitten dann die Worte durch die Luft: »Tod und Verdammnis, George! Schweig!« Lord George Harwell blieb wie angewurzelt stehen, die linke Hand in der Luft, die rechte auf seinem Degenknauf. Zum ersten Male an diesem Tag kamen ihm Nicks Ton und Gehaben vertraut vor. Die zickzackförmigen Adern an Sir Nicks Schläfen traten wie blaue Stricke hervor. Sein Gesicht war düsterer geworden, und er begann zu lächeln. Seine Hände umklammerten den schweren Eichenknüppel fest und immer fester. 124
Doch George, der abergläubischer oder vielleicht empfindsamer war, als er schien, hatte den Eindruck, irgendein unsichtbares Wesen steige auf Nicks Schultern und zwinge ihn, den Stock fallen zu lassen. Aber Nick wollte anscheinend nicht nachgeben. »Vorsichtig, Nick!« rief George. »Wenn du in diese Stimmung gerätst…« Der kleine Apotheker war inzwischen eilig zur Tür getrippelt, um seine Besucher loszuwerden, und blickte aus dem großen Fenster zu seiner Linken. Dieses Fenster war wegen seines buckeligen Glases für die anderen fast undurchsichtig. Meister Wynnel ging dicht heran und blickte erst nach links und dann nach rechts. Und er zitterte mehr als je zuvor. »Sir Nicholas…«, begann er. Dann wandte er sich um und schreckte zurück vor dem Gesicht, das ihm entgegenstarrte. »Na, na, Mann!« sagte Sir Nick mit leiser, knurrender Stimme, der er mit aller Gewalt einen freundlichen Ton zu verleihen suchte. Mit zitternder Hand griff er in die Tasche. »Hier sind ein paar Guineen für Euch. Nehmt sie!« Es war weit mehr, als der Apotheker in einem ganzen Monat auch nur im Traum verdienen konnte. »Da ich weiß, daß sie Euch ein Loch in die Tasche brennen«, sagte Meister Wynnel, »will ich sie nehmen. Aber, Sir, Ihr dürft dieses Haus noch nicht verlassen.« »Nicht das Haus verlassen? Weshalb denn nicht?«
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»Herren, die bei Hofe verkehren, wissen vielleicht nicht, daß in der Nähe der Fleet Street, dicht beim Temple, ein verworfener Bezirk liegt, den man Alsatia nennt.« »Wirklich?« murmelte Sir Nick zähneknirschend. »Dieses Alsatia ist eine rechtliche Zufluchtsstätte für Verbrecher, ein Asyl selbst für diejenigen, die die schändlichsten Taten begangen haben. Der schlimmste unter ihnen, ein gedungener Räuber und Mörder, wird Bully oder Bullenbeißer genannt, da …« George schoß ans Fenster und preßte seine Nase gegen die Scheiben. »Der Schurke zur Linken«, plapperte der Apotheker, »hat sich bis zu den Läden am Ende der Gasse zurückgezogen. Ich kann ihn jetzt nicht sehen. Aber der andere Mann rechts vom Torweg, der zum Strand führt…« »Ich sehe ihn«, rief George. Der Mann lehnte mit der rechten Schulter gegen die alte dunkle Backsteinwand des Torbogens – nachlässig, mit verschränkten Armen. Sein Gesicht war zu einem höhnischen Grinsen verzogen. Er war mager und sehr groß. Sein zerlumpter Rock lag eng am Körper an und war bis zum Hals mit Zinnknöpfen geschlossen. In einer alten Scheide trug er einen neuen Degen – das stählerne Stichblatt glitzerte in einem Sonnenstrahl –, den irgend jemand für ihn gekauft hatte. Die Krempe seines breiten, niedrigen Hutes war zerfetzt, aber an der Seite des Hutes war eine grüne Rosette befestigt. Er war ein lauter Prahler, ohne Furcht oder Mitleid, der Schrecken aller ehrbaren Männer – Bully von Alsatia in eigener Person. 126
VII »Nehmt mir meinen Vorschlag nicht übel«, bettelte der Apotheker von neuem. »Diese Bullenbeißer verlassen ihr Asyl nur dann, wenn sie gegen Bezahlung zu töten beabsichtigen. Es ist ganz natürlich, daß sie geschickter mit dem Degen umzugehen verstehen als Leute, die in vornehmer Umgebung aufgewachsen sind …« »An seinem Hut«, bemerkte George, »trägt er ein grünes Band.« Mit kräftigem Arm schob Sir Nick den Apotheker beiseite, trat ans Fenster und blickte auf die Stelle, die George angab. »Der Green-Ribbon-Klub«, sagte er. »Mylord Shaftesbury. Seine Gnaden, der Herzog von Bucks …« Und mit splitterndem Krachen zerbrach er den Stock, daß es klang, als sei ein Deckenbalken geborsten. Auf seinem vor Zorn geschwollenen Gesicht lag etwas wie religiöse Ekstase. Wenn irgendeine unsichtbare Erscheinung versucht hatte, ihn zurückzuhalten, so war sie jetzt in alle Winde vertrieben. Doch sein Verhalten strahlte Ruhe und Energie aus. »George«, sagte er, »bleib du hier und verhalte dich ruhig. Ich werde Freund Langbein da oben am Bogen attackieren und ihn die Straße immer weiter hinunterlocken, bis ich beide Schurken zusammen bekämpfen kann. Eine solche Gelegenheit bietet sich so leicht nicht wieder.« Aber das war zuviel für George, der gellend erwiderte: »Hierbleiben? Mich ruhig verhallen? Bei Gott, Nick Fenton, wofür hältst du mich? Hast du das Gefecht 127
vergessen – es ist kaum acht Monate her –, als wir Rücken an Rücken standen und …« »Ich – ich …« »Donnerwetter! In deinen Augen bin ich wohl zu fett und langsam geworden, wie?« »Nein, nein – ich würde dich nicht so beleidigen.« Plötzlich schnitt Sir Nick eine Grimasse, die er selbst für ein angenehmes Grinsen hielt. »Dann willst du mir also beistehen, alter Freund? Gut! Es sei drum! Aber weg mit den Rüschen, Mann! Stopf sie in den Ärmel. Recht so! Sonst verwickeln sie sich in das Stichblatt, und dann ist's um dich geschehen. Nimm dich in acht, daß der silberne Griff nicht in deiner Hand ausgleitet oder sich dreht. Bist du bereit?« »Ja.« Sir Nick zog mit der rechten Hand das Rapier ein wenig aus der Scheide, schüttelte es, um sich zu überzeugen, daß es locker war, und ließ es zurückgleiten. Dann rückte er sein Degengehenk etwas zurecht. »Ich möchte mir aber Freund Langbein mit dem grünen Band vorknöpfen. Nimm du den anderen«, sagte er scharf. »Also los!« Sir Nick öffnete leise die Tür und ging mit langsamen, ruhigen Schritten hinaus. George folgte ihm und wandte sich an den Butzenscheiben vorbei nach links. »Oh, Herr!« stöhnte der Apotheker. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen und tanzte vor Qual in dem kleinen Laden herum – eine groteske Figur in seiner langen schwarzen Robe und der 128
schwarzen Kappe. Meister Wynnel war der ernsthafteste, ehrbarste Bürger in dieser Gasse und überhaupt in der ganzen Umgebung. Durfte er da hinauseilen, um einem ordinären Streit zuzuschauen? Obgleich er so viel über Sir Nicholas Fenton gehört hatte, war es ihm nie vergönnt gewesen, ihn bei einem Degengefecht zu beobachten. Und dabei hätte er fast sein Leben darum gegeben. Die menschliche Natur trug natürlich den Sieg davon. »Oh, Gott!« rief der Apotheker und schoß in gebückter Haltung aus dem Laden. Wenn er sich hinter die Pferdetränke vor dem Laden des Heuhändlers duckte, konnte er unbemerkt zu der Stelle hinübersehen, wo Sir Nick und Freund Langbein aneinandergeraten mußten. Sir Nick ging inzwischen langsam auf den Torweg zu, und Freund Langbein, der immer noch lässig an der Wand lehnte und an einem Strohhalm kaute, machte eine plötzliche Bewegung. Der Mann war so geschmeidig wie ein Panther. Ein riesiger Seitensprung brachte ihn mitten vor den Torbogen, den er somit verbarrikadierte, und eine braune Staubwolke umhüllte seine Beine. Sir Nick blieb zwei Meter vor ihm stehen. Wenn er einen Blick nach rechts geworfen hätte, so hätte er die glitzernden Brillengläser und die schwarze Kappe des Apothekers gesehen, der hinter der Tränke verborgen war. Vom anderen Ende der Gasse bei dem mit Eisenspitzen versehenen Tor ertönte ein rasches Klirren von Degenklingen. Doch niemand blickte hin, niemand drehte sich um. Nun, ein Narr, dachte der wie Espenlaub zitternde Apotheker, ein Narr, der die große Spanne von Bullys langen Beinen in den enganliegenden Lumpen sähe, würde zwanzig Schilling gegen 129
einen Penny wetten, daß Sir Nick den kürzeren zieht. Aber … Aus der Nähe betrachtet, hatte Freund Langbein ein langes, geflecktes Gesicht, das mit schwarzen Bartstoppeln bedeckt war und einen noch höhnischeren Ausdruck trug. Seine Augen unter dem zerfetzten Hut waren entzündet, aber scharf. »Möchtet Ihr hier passieren, kleiner Hofschranze?« rief er laut. »Ja«, entgegnete Sir Nick, »meinen Degen werde ich durch deine verfaulten Gedärme passieren lassen. Wer bist du überhaupt, du Gossengezücht?« Freund Langbein spuckte den Strohhalm aus. Sir Nicks verächtliche Worte hatten ihn wie eine Ohrfeige getroffen. »Führer der Raufbolde bin ich!«, rief er und schlug sich in verletztem Stolz mit der rechten Faust auf die Brust. »Ich kann ein rennendes Huhn am Hals aufspießen und bin hier«, setzte er höhnisch hinzu, »um mit Euch genauso zu verfahren, kleiner Mann.« »Zieh!« fauchte Sir Nick. »Zieh, und dann wollen wir sehen, was passiert!« Beide Klingen flitzten im selben Augenblick aus der Scheide. Ein dünner Sonnenstrahl ließ sie kurz aufleuchten. Langbein machte einen kleinen Hopser nach links und einen nach rechts, als wollte er seinen Gegner umkreisen, um ihm von der Seite beizukommen. Aber auf dem eingeengten Platz wagte er das Risiko nicht. Sir Nick hatte Paradestellung eingenommen: den Körper seitwärts zum Gegner, den rechten Fuß mit leicht gebeugtem Knie vorgestellt, den linken Fuß rechtwinklig zurück. 130
Aber wiederum schien er den Degen – obwohl dieser direkt auf Langbein gerichtet war – zu dicht an seinen Körper zu halten. »Nein, nein«, murmelte der Apotheker. »Nicht doch!« Langbein bemerkte es ebenfalls. Er nahm dieselbe Paradestellung ein. Aber die Klingen berührten sich nicht. Sir Nicks Degen blieb regungslos. Bully von Alsatia streckte mit schlangenartiger Bewegung seinen langen Arm vor, tastete mit der Spitze, tastete abermals, zog zurück und drängte sich allmählich näher heran … Dann auf einmal machte Bully mit der ganzen Länge seines Arms einen Terzausfall nach der rechten Brustseite seines Gegners. Es ertönte ein scharfes Klicken, als Sir Nick in horizontaler Bewegung seine Hand fünfzehn Zentimeter nach rechts riß und parierte. Trotz seiner Behendigkeit konnte Langbein nicht rasch genug den rechten Fuß wieder in Paradestellung bringen, bevor Sir Nick einen Quart-Halbstoß ausführte. Die Spitze traf den Gegner ganz in der Nähe des Herzens, und es floß etwas Blut. Aber es war eine oberflächliche Wunde, die Langbeins Wut nur noch steigerte. »Der Henker hole Euch!« schrie Langbein und machte ebenfalls einen Quartstoß nach der linken Brust seines Gegners. Sir Nicks Hand fegte über die eigene Brust hinweg nach links. Klick! Und der Stoß war abgewehrt, aber so dicht am Körper, daß die Klingen zischend aneinanderglitten. Noch zweimal schossen die Klingen vor und klirrten zusammen, so daß Magister Wynnel eine Gänsehaut bekam. Dann wurde ihm ein erschreckender Anblick zuteil. Er sah einen besonderen Ausfall, einen Geheimtrick, der in der damaligen Zeit noch nicht allgemein bekannt war. 131
Wenn man nämlich den im rechten Winkel stehenden linken Fuß dicht an den rechten heranzieht, wie Sir Nick es jetzt tat, kann man beim Vorwärtsgehen einen unglaublich langen Ausfall mit dem Bein machen. Arm und Degen bilden eine gerade Linie und haben eine bedeutend längere Reichweite. Wie eine zubeißende Schlange schoß Sir Nick Fenton vor und machte einen vollen Ausfall, die Degenspitze direkt auf den Bauch seines Gegners gerichtet. »Ha!« rief der Apotheker und machte eine so heftige Kopfbewegung, daß seine Brille in das Wasser der Pferdetränke fiel. Nur Langbeins Geschmeidigkeit rettete ihm das Leben. Er machte einen gewaltigen Luftsprung nach hinten und landete volle zwei Meter weiter im Tunnel. Langsam und unerbittlich folgte ihm Sir Nick, um zu töten oder getötet zu werden. Bully war taumelnd, aber immer noch kampfeswütig neben der doppelten Reihe roter Feuereimer gelandet. Er ging noch weiter zurück, blieb aber stehen, als er Sir Nick mit geblähten Nüstern und fletschenden Zähnen im grauen Licht des Torbogens auf sich zukommen sah. »Stillgestanden!« rief Sir Nick, das Wort in die Länge ziehend. »Stillgestanden, Führer der Raufbolde. Oder bist du es doch nicht?« Sir Nick keuchte. Seine an dem Hut festgesteckte Perücke belästigte ihn. Sie hatte sich über ein Auge geschoben, und er faßte mit der Hand danach.
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Langbein stand in Paradestellung. Unauffällig kroch seine linke Hand in die Tasche, in der er vorsorglich eine Handvoll Kies, mit Sand und Staub vermengt, trug. »Macht Euch nicht so mausig!« brüllte Langbein. »Wenn Eure Eingeweide erst durchlöchert sind …« Seine linke Hand mußte den Kies direkt in Sir Nicks Augen schleudern, und zwar eine Sekunde, bevor er seinen Ausfall machte. Doch mußte er niedrig werfen, nicht hoch, damit der Wind den Sand nicht in seine eigenen Augen blies. Es war zu der Zeit ein ziemlich fairer Trick. »Wenn Eure Eingeweide durchlöchert sind«, schrie er, »werdet Ihr wissen, wer Herr ist!« Staub und Kies spritzten aus seiner linken Hand. Sir Nick, dessen linker Daumen bereits unter der Perücke steckte, während seine Finger sie von oben griffen, riß die Perücke nach vorn. Der breitrandige Hut bildete einen Schild für sein Gesicht. In der nächsten Sekunde schleuderte er Hut und Perücke in die Luft – gerade als Langbein einen vollen Sekondstoß nach dem rechten Oberschenkel seines Gegners machte. Sir Nicks Rapier sauste von oben herab, und die beiden Klingen klirrten zusammen, als er den Stoß parierte und Langbeins Degen zur Seite schlug. Noch ehe Langbein wieder zur Paradestellung zurückspringen konnte, schoß Sir Nicks Degenspitze vor und in einem schrägen Winkel nach oben. Die Spitze drang Langbein, dessen Kopf ein wenig zurückgelehnt war, unterhalb des Kinns in die Kehle, dann hinter den Zähnen durch den Gaumen hindurch und 133
schließlich ins Gehirn. Im nächsten Augenblick zerrte Nick mit beiden Händen an dem Degen, um ihn zu lockern und herauszuziehen. Es gelang ihm schließlich. Das Blut schoß aus der Wunde und strömte ihm über Hände und Ärmelaufschläge. Eine halbe Sekunde lang stand Langbein noch, kaum schwankend, aufrecht. Eine dünne Schicht von Blut legte sich über seine Augen, so daß sie erloschen. Blut stürzte ihm aus der Nase und schäumte über seine Lippen. Langbein schlug der Länge nach hin und fiel mit dem Gesicht nach unten über die Doppelreihe rotlederner Feuereimer. Die meisten davon schwappten über, hielten aber quietschend sein Gewicht, zwei fielen um, und das stinkende, mit Blut vermischte Wasser bildete eine Pfütze im Staub. Sir Nick blickte auf seinen Gegner hinab, während er sich mit dem Samtärmel den Schweiß aus der Stirn wischte. Etwas weiter entfernt lag seine staubige Perücke mit Hut auf der Erde. Ein plötzlicher Lärm ließ ihn aus seinen Gedanken, die sich noch mit der Abwehr gegen den Sand beschäftigten, auffahren. Er raste aus dem Tunnel und die Gasse hinab. Er kam an dem schwatzenden Apotheker vorbei, der aller Vorsicht zum Trotz aus seinem Versteck herausgekrochen war. George befand sich in Schwierigkeiten. Sein keuchender Atem war weithin vernehmbar. Er stand mit dem Rücken zu dem mit Eisenspitzen besetzten Tor an der Biegung. Sein Gegner – der zweite Bully von Alsatia – hatte Sir Nick den Rücken zugekehrt und bedrängte George hart. Sie waren beide bis zu den Hüften 134
in eine dünne Staubwolke eingehüllt. Sir Nick blieb stehen und maß die Entfernung mit den Augen. Dann stieß er zu. Die Spitze traf den Mann ein paar Zentimeter unterhalb des linken Schulterblattes Er zuckte zusammen wie ein Fisch am Angelhaken, nahm aber sofort wieder Paradestellung gegen George ein. »Senk deinen Degen!« befahl Sir Nick. »Senke ihn, oder du bist ein Kind des Todes. George, senk deinen Degen ebenfalls, aber erst nach ihm.« Langsam ließ Bully der Zweite die Hand mit dem Degen sinken. Als Sir Nick diesen Degen sah, wuchsen seine Freundschaft und Bewunderung für George in demselben Maße wie seine finstere Rachsucht gegen Bully. Es war eine ganz altmodische Klinge, länger und bedeutend schwerer als Georges, mit zwei geschärften Schneiden und einer Spitze. Als Gegner damit fertig zu werden war Kinderspiel, wenn man die nötigen Kenntnisse besaß. Aber George, der nur im zeitgenössischen Degenfechten bewandert war, hatte trotz seines Putzes, seiner hohen Absätze und seiner Korpulenz wie ein Berserker gefochten und seinen Gegner drei Minuten – eine ungeheuer lange Zeit! – in Schach gehalten. Über Bullys Schultern hinweg konnte Sir Nick Georges bleiches, schweißtriefendes Gesicht sehen. George keuchte so sehr, daß er nicht sprechen konnte. »Ich bin Nick Fenton«, sagte Sir Nick und drehte die Degenspitze in Bullys Rücken, so daß den Mann eine Gänsehaut überlief. »Du kennst mich ja wohl, nicht wahr?«
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»Ich kenne dich«, fauchte er, während er ebenso wie Sir Nick das verächtliche Du gebrauchte, »als Hurenjäger und Schweinehund, der sich eine papistische Dirne hält…« »Ich gehe jetzt fünf lange Schritte zurück, du Spitzbube. Dann dreh dich um und fechte!« »Und der Herr schenke mir den Sieg über den Philister!« Sir Nick stampfte fest mit den Hacken auf, damit alle die fünf Schritte hören konnten. Bully der Zweite, ein vierschrötiger Mann von Sir Nicks Größe, wirbelte herum. Sein fettiges graues Haar reichte ihm bis halb über die Ohren. Durch die Narbe einer alten Schwertwunde stand eines seiner Augen schräg. Er hatte eine sehr schlechtsitzende obere Prothese, die wie eine Reihe übler Grabsteine wirkte. »Bist ein Puritaner, Narbengesicht?« erkundigte sich Sir Nick höflich. »Wie alle Schurken und Spitzbuben von Alsatia?« »Als du noch in den Windeln lagst vor fünfundzwanzig Jahren, gehörte ich zu Cromwells mächtiger neuer Armee. Wenn der Herr es für richtig befunden hat, mich unter einem unrechtmäßigen König mit Unglück zu schlagen …« »Nun, wer hat je gehört«, sagte Sir Nick lachend, »daß ein Rundkopf mit einem Degen umgehen kann?« Wutentbrannt ging Narbengesicht zum Angriff über. Es war eigentlich gar kein Kampf. Sir Nick spielte nur mit ihm und lachte ihn aus. Narbengesicht versuchte, im neuen Stil zu fechten, und hielt den Körper in seitlicher Stellung. Aber immer wenn er heftig nach Sir Nicks Brust stieß, wurde seine Klinge verächtlich zur Seite geschlagen oder 136
spielend beiseite geschoben, was ihn maßlos in Wut brachte. Immer wieder stieß er ins Leere. Mit einer behenden Bewegung ritzte Sir Nick die Nase seines Gegners, so daß ein einziger Tropfen Blut hervorquoll. Narbengesicht holte zu einem altmodischen Hieb weit mit dem Arm aus und ließ die ganze rechte Seite seines Körpers ungeschützt. Im selben Augenblick machte Sir Nick einen vollen Ausfall. Die Spitze drang in die Achselhöhle, bewegte sich etwas nach links und stieß auf einen Teil der Wirbelsäule. Narbengesicht wurde zurückgeschleudert und fast umgeworfen, erlangte jedoch das Gleichgewicht wieder, als das Rapier herausgezogen wurde. Eine halbe Sekunde stand er regungslos da. Obwohl er den rechten Arm wahrscheinlich nicht heben konnte, umklammerten seine Finger krampfhaft den Degen. »Nimm dich in acht vor dem Kerl hinter dir!« rief er und streckte die linke Hand aus – ein uralter, unter Duellanten gebräuchlicher Trick. Beim Sprechen flogen ihm seine falschen Zähne aus dem Mund und landeten, ohne zu zerbrechen, im wirbelnden Staub. Sir Nick, ausnahmsweise nicht auf der Hut, blickte über die rechte Schulter. Diesen Augenblick nahm sein Gegner wahr, rannte links an Sir Nick vorbei und eilte wie ein geflügelter Gott auf den Tunnel zu. Blutstropfen spritzten überall auf den Boden. Sir Nick jagte sofort mit mächtigen Schritten hinter ihm her und versuchte, ihm den Degen in den Rücken zu stoßen. Aber Freund Narbengesicht, der zu beten schien, besaß ein unmenschliches Tempo. Er stürzte durch den Bogen in den Tunnel, dann an seinem toten Gefährten vorbei, ohne in der Blutlache auszurutschen, da sie bereits 137
eingetrocknet war. Er erreichte den belebten Strand und entkam tatsächlich durch ein Wunder. Unter normalen Umständen wäre es schwierig, ja, fast unmöglich gewesen, die Straße zu überqueren. Aber ein schwerer Brauereiwagen, von zwei flandrischen Mähren gezogen, hatte sich in einen in dieselbe Richtung rollenden Gemüsekarren festgefahren. Die Kutscher fluchten und bearbeiteten sich gegenseitig mit ihren Peitschen. Ein langer, mit schweren Gerstensäcken beladener Wagen und zwei Sänften – die Sänftenträger schienen höchst amüsiert – blieben kurz stehen, um die Prügelei zu beobachten. Dadurch gelang es Narbengesicht, auf die andere Seite zu kommen, gerade als sich die Räder mit einem gewaltigen Krach voneinander lösten. Die Fahrzeuge rollten wieder ungehindert weiter, als Sir Nick folgen wollte, und er mußte zurückbleiben. George hatte sich inzwischen an die Backsteinmauer gesetzt, um wieder zu Atem zu kommen. Doch als die beiden anderen die Gasse hinaufrannten, sprang er, federnd wie ein Gummiball, auf die Füße. Er hob Narbengesichts Zähne auf und steckte sie, offenbar als ein Souvenir, in die Tasche. Dann rannte er den anderen mit unerwarteter Behendigkeit nach. Als er durch den Bogengang stürzte, hielt er nur inne, um dem toten Mann den Hut mit der grünen Rosette vom Kopf zu reißen und ihn zerknüllt in dieselbe große Tasche zu stopfen. Sir Nicks staubige Perücke mit dem daran befestigten Hut hob er ebenfalls auf und bürstete beides ab, als er durch den Bogen auf die Straße trat. Dort fand er seinen Freund, der stampfend und tobend vor einer endlosen Kette von Fahrzeugen stand. 138
»Dieser verwünschte Hund«, würgte Sir Nick hervor, »ist mir entronnen. Wie kann ich ihn jetzt nur finden?« »Unmöglich, Nick!« Während er seinem Gefährten die Perücke mir nichts, dir nichts über den Kopf stülpte, versuchte George, ihn zu beruhigen. »Nick«, sagte er, »da drüben sind Dutzende von winkligen Gassen und Gäßchen – hörst du zu, Nick? –, durch die er nach Alsatia zurückschlüpfen kann. Dort angelangt, ist der Schurke in Sicherheit.« »Weil es ein Asyl ist?« »Mehr als das, Nick. Potztausend! Keine Bürgerwehrtruppe – nicht einmal eine Kompanie Soldaten mit Steinschloßgewehren – darf sich dort hineinwagen!« »Aber hier ist einer, der's riskiert!« »Nein, Nick«, sagte George in aller Ruhe, »das lasse ich nicht zu.« »Und wie willst du es verhindern?« »So!« sagte George. Mit diesen Worten trat er hinter seinen Freund und umschloß ihn wie ein Ringer mit seinen Armen. »Laß mich los! Kruzitürken!« Sir Nick versuchte, sich aus dem Griff zu lösen, aber es gelang ihm nicht. Als sie auf dem Pflaster herumwirbelten und ab und zu gegen die Häuserwand prallten, bekundete niemand das geringste Interesse für diese Balgerei. Mindestens ein Bettler sah die dicke, von Sir Nicks schwerer Geldkatze verursachte Ausbuchtung in seiner Tasche. Unter gewöhnlichen Umständen hätte er die Tasche mit dem Messer so leicht aufschlitzen können, daß 139
der Geldsack unbemerkt in seine Hand gefallen wäre. Aber selbst dieser Geldgierige hielt sich zurück; nicht einmal die Straßenjungen mucksten sich. Wenn sie einen Mann von Stand mit blutigem Schwert und blutbefleckten Händen sahen, der schweigend und grimmig mit einem Standesgenossen rang, dann war das eine ernste Angelegenheit. Die Hand des Henkers war zu deutlich spürbar. Ein Schutzmann sah es und verschwand sofort. Nur ein Friedensrichter – dies waren meist strenge, unbeugsame Männer – hätte sich einzumischen gewagt. »Nein!« keuchte George. »Bei Gott, Nick, ich halte dich fest, bis sich dein Mütchen gekühlt hat und die Vapeurs verschwunden sind!« »Meinst du?« keuchte Sir Nick und riß einen Arm los. Doch George umklammerte ihn sofort wieder. Gemeinsam gerieten sie in die gefährliche Nähe der krachenden Räder, taumelten zurück, kehrten wieder um, bis Sir Nick mit dem linken Bein gegen etwas stieß. Das einzige Wesen, das sich in ihre Nähe gewagt hatte, war ein sehr junger, in Lumpen gehüllter Schuhputzer, der sein flaches Blechgefäß mit der Mischung aus Ruß und ranzigem Öl vor sich hertrug. Sir Nicks Knie schleuderte ihn zu Boden, so daß die Ruß- und Ölmischung über den Straßenrand in die Gosse floß. »Na, na«, sagte Sir Nick sanft. Seine Arme wurden schlaff. George, der ihn herumschwang, sah, daß er von Gewissensbissen gepeinigt war. »Ich hab's nicht bös gemeint. Wahrhaftig, ich hab's nicht bös gemeint.«
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George ließ ihn gänzlich los, und Sir Nick kniete nieder, um dem erschrockenen, schwarzgesichtigen Knirps auf die Beine zu helfen. »Hier – hier ist etwas Geld. Da, nimm eine Handvoll. Es gehört dir.« Er drückte dem Jungen die Münzen in die Hand und richtete sich langsam wieder auf. Mit schwankenden Knien torkelte er davon und lehnte sich mit dem Rücken an eine Wand. Mit einem Arm verdeckte er die Augen und verharrte so eine ganze Weile. Dann ließ er den Arm wieder sinken. »Hm – George«, sagte er. Lord George Harwell fuhr so zusammen, daß er fast in die Höhe sprang, und eine abergläubische Furcht durchrieselte ihn. Es war eine andere Stimme, eine gänzlich andere Stimme als die des alten Nick. Nein, halt! Es war dieselbe ernste, höfliche, freundliche Stimme – in Nicks Tonfall, aber an die eines älteren Philosophen erinnernd –, die ihn schon den ganzen Tag verblüfft hatte, bis sie sich im Apothekerladen auf einmal änderte. »Wie kommen wir plötzlich hierher?« fragte die Stimme. »Wie ich mich entsinne, habe ich mich im Apothekerladen ein klein wenig echauffiert über dich – über irgendeine Bagatelle –, und seitdem kann ich mich an nichts mehr erinnern.« Professor Fenton öffnete die Augen und blickte umher. Er fühlte sich schwach, als hätte er ein böses Erlebnis hinter sich. George hätte brennend gern gebetet. Aber ihm fiel nur das Gebet für die Sterbenden ein, und das schien hier nicht am Platz zu sein.
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»Ei nun!« rief er mit erheuchelter Herzlichkeit. »Es sind knapp zehn Minuten seitdem verstrichen.« »Zehn Minuten!« wiederholte Fenton. Sein wandernder Blick flog zu den überhängenden Giebeln auf der anderen Straßenseite. Wie vorher, waren die beiden Flügel eines Fensters geöffnet. Die hübsche, zerzauste Schlampe stützte jetzt müßig beide Ellbogen auf den Fenstersims und hatte noch nicht einmal ihren Krug Bier geleert. »Nun«, berichtete George in besänftigendem Ton, »du hast nur einen Mann getötet und einen anderen verwundet. – Ei, sieh mich nicht so an! Auch brauchst du nicht so auf deine Hände zu starren! Du wirst nicht in Haft genommen. Wenn ein Büttel Langbeins Leiche findet, wird er dankbar sein, daß jemand ihnen die Kosten des Aufknüpfens erspart hat. Freund Langbein kam aus Alsatia; sein Leben war seit langem verwirkt.« »Aber…« »Was du am allernötigsten brauchst, Nick, ist leibliche Nahrung«, erklärte George in herzhaftem Ton. »Potz Blitz! Komm! Keine zehn Meter von hier ist ein Speisehaus, der ›Fette Kapaun‹, wo man gut ißt. Hier, nimm meinen Arm; du bist ganz schlapp, Mann, und ich werde dir unterwegs alles erzählen.« »Ja, auf jeden Fall! Aber …« George, der zufällig nach rechts blickte, blieb unvermittelt stehen. »Sieh mal, hier kommt deine eigene Kutsche, und drin sitzt Meg York, die lächelnd ans Fenster klopft. Nick, Nick« – seine Stimme begann zu zittern – 142
»was meinst du? Darf ich ihr wohl unter die Augen treten?«
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VIII Die Räumlichkeiten des »Fetten Kapauns« waren zwar ziemlich groß, aber qualmig und düster. Nur die rotglühenden Kohlen in dem riesigen, aus Eisen und Ziegelsteinen erbauten Kamin im Hintergrund verbreiteten etwas Helligkeit. Die lastende Hitze strömte an feuchten Wänden vorbei zum Fenster hinaus. »Finster ist's in der Hölle«, sagte Fenton vor sich hin, als George an einem der langen schwarzen Tische einen Stuhl herauszog. Es wäre, dachte er, ein wunderbarer Platz für ein Treffen mit dem Teufel. Würde er aber dem Teufel noch einmal begegnen? »Nehmt Platz und laßt's Euch wohl sein, meine Herren!« sagte der Wirt, ein fetter Mann mit aufgerollten Ärmeln und einem breiten Gürtel um die Hüften. »Und womit darf ich Euren Gaumen kitzeln?« »Für mich«, erwiderte George, »einen guten Kapaun und, sagen wir, vier Tauben.« Er warf dem Wirt einen finsteren Blick zu. »Es sind doch wohl fette, zarte Tauben, die auf der Zunge zergehen, wie?« »Sir«, entgegnete der Wirt hochnäsig, »eine andere Sorte findet Ihr bei uns nicht.« »Und für diesen Herrn«, fuhr George fort, der sah, daß Nick in Gedanken versunken auf den Tisch starrte, »ha! ich hab's! Eine große Fleischpastete mit kräftiger Sauce und einen feinen Rostbraten. Für jeden von uns eine Kanone von Eurem besten Kanariensekt.« 144
Fenton kam allmählich wieder in gute Laune, seitdem Megs Kutsche schwerfällig zum Stehen gebracht worden war. Die Unterhaltung mit Meg vor wenigen Minuten hatte manches in einem neuen und gefährlicheren Licht erscheinen lassen. Sollte er denn niemals zur Ruhe kommen, fragte er sich, ohne von allen Seiten bedrängt zu werden? Seine Gedanken wanderten zum Strand zurück, wo er und George auf Megs Geheiß in die Kutsche geklettert waren. »Zu Fuß gehen, das ist so unangenehm!« hatte Meg gesagt. »Wie, Ihr geht nur ein paar Schritte? Ei, dann müßt Ihr Euch eine Weile zu mir setzen und einen fröhlichen Diskurs halten.« Die Kutsche hatte mannshohe Räder, und ihre riesige Karosserie hing an dicken Ledergurten. Sie wurde von zwei schweren braunen Pferden gezogen. Bis zu ihrem spitz zulaufenden Dach war sie mit hellgoldener Farbe bemalt, und unter den Glasfenstern prangte Sir Nicks Wappen mit vier Wappenfeldern. »Meine Gnädigste«, murmelte George, dessen Gesicht in der Gegenwart seiner Angebeteten hochrot angelaufen war. »Es liegt mir fern, mich … mich aufzudrängen …» Woraufhin er beim Einsteigen über die eigenen Beine stolperte und zu seiner großen Verlegenheit gerade Meg gegenüber in die weinroten Polster sank. »George!« sagte sie mit liebkosender Stimme. »Könntet Ihr Euch jemals aufdrängen?« Fenton sprang leichten Fußes in die Kutsche und ließ sich in die am weitesten von Meg entfernte Ecke fallen. Meg machte den Eindruck einer feinen Dame, die einen anstrengenden Vormittag in den Läden hinter sich hat. 145
Ihren Pelzumhang, Muff und Hut hatte sie neben sich auf den Sitz gelegt. Ihr Oberkörper in dem tiefausgeschnittenen Mieder zeigte eine abgespannte Haltung. Und doch schien ein heimliches Feuer in ihr zu schwelen. Fenton wußte, weshalb, und fühlte sich beunruhigt. Ihre Augen glitten öfter verstohlen zu ihm hinüber, um sich rasch wieder abzuwenden, als interessierte er sie nicht. »Diese Neue Börse«, sagte sie gelangweilt, »genießt einen besseren Ruf als die Qualität der Waren, die dort angeboten werden.« Fenton hatte versucht, seine blutbefleckten Hände zu verbergen, indem er sie in die Tasche steckte. Doch Meg hatte sie bereits gesehen, wie ihr nichts an seiner Person entging. Plötzlich beugte sie sich vor. »Pfui, Ihr habt wieder gefochten!« sagte sie und schreckte halb in Ekel, halb in Furcht vor ihm zurück. Die Furcht war zwar echt genug, aber jeder hätte sehen können, welch heftige Freude, welch leidenschaftlicher Stolz sich darunter verbargen. »Aber leider Gottes habt Ihr gewonnen – wie unhöflich! Eines Tages wird man Euch noch töten, und dann werde ich – oh, so schrecklich fidel sein!« »Aber nein, nicht doch! Potzteufel!« protestierte George, der puterrot im Gesicht war. »Liebster George, kennt Ihr überhaupt den Unterschied zwischen Leben und Tod?« Fenton warf sich in Positur. »George«, sagte er, »sie macht nur einen schwachen Versuch, dich zu verspotten. Aber es gelingt ihr natürlich nicht.« Meg lehnte sich blitzschnell zu Fenton hinüber. »Ei, Ihr und Eure spitze Zunge …!« 146
»Möchtet Ihr bei meiner Beerdigung tanzen, Meg?« »Allerdings. Und singen würde ich auch. Genauso wie einst…« Meg brach ab. Sie ließ sich ins Polster zurückfallen, und ihr Blick schweifte in die Ferne. »Nick«, sagte sie nach einer Weile, »denkt Ihr überhaupt nicht mehr zurück?« »Woran?« »An die Zeit – es sind noch keine zwei Jahre her –, als wir ein Haus in Epsom hatten? Deine Freunde pflegten sich dort zu versammeln: George – verzeiht mir, George! – und Mylord Rochester und der beleibte alte Herr, den wir auf sein Geheiß ›Mr. Reeve‹ nannten. Er war schon ein Freund deines Vaters gewesen. Und alle wart ihr leidenschaftliche Royalisten, Söhne und Enkel derer, die immer mit dabei waren, seitdem die königliche Standarte in Oxford gehißt wurde.« Echte Tränen zitterten jetzt auf Megs Wimpern. »Nick, Nick, ich will kein Wort gegen Lydia sagen. Aber mein Vater und Großvater waren keine scheinheiligen Puritaner wie ihre Vorfahren. Mein Vater, der Bruder von Lydias Vater, war Captain Charles York. Selbst als die Royalisten geschlagen waren, und noch lange nachher, gab es viele, die weder ins Ausland fliehen noch Oliver als LordProtektor anerkennen wollten. Sie hatten keine Hoffnung, wollten aber nicht nachgeben. Immer wenn sie einen Eisernen Dragoner sahen, stürzten sie auf ihn los, und die Schwerter klirrten, bis einer von ihnen tot liegenblieb. Bald waren sie alle tot. Auch Captain York.«
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Meg hatte sich zitternd aufgerichtet, und ihre Augen blickten verträumt in die Ferne. Fenton begann zu sprechen, hielt aber sofort wieder inne. »Und erinnert Ihr Euch an Epsom, Nick? Gewiß entsinnt Ihr Euch! Das kleine Speisezimmer mit Euren Freunden?« Meg hatte ihren Tränen keinen freien Lauf gelassen; sie war zu stolz. »Ich stand auf einem Stuhl und mit einem Fuß auf dem Tisch; ei ja, und meine Röcke bauschten sich hoch über meinem Knie; in meiner Hand hielt ich eine Zither. Aber ich sang keine schlüpfrigen Lieder, Nick. Ich sang die alten Kavalierlieder, die euch allen die Glut in die Wangen trieben. Ich werd's Euch noch mal vormachen!« Meg, die von innen heraus glühte, setzte sich kerzengerade hin und warf nachlässig den Kopf zurück – den Kopf mit der Ponyfrisur und den glänzenden schwarzen Locken, die fast bis zur Schulter reichten. Echte Farbe flammte in ihren Wangen. Mund und Augen brachten jedes Gefühl – von bitterer Verachtung bis zu stolzem Triumph – zum Ausdruck, während sie den Vers sang und ihre rechte Hand über imaginäre Saiten strich: »Ja, huldigt dem Unstern! Nennt Oliver Herrn! Schleicht zitternd und kriechend durchs Land! Sind Küraß und Schwert, die einst so begehrt, jetzt tief versteckt in der Wand? Verschwunden die Becher der edlen Zecher, die Krone in Gold und Kot? Kameraden, den Toten 148
sei der Trinkspruch geboten: Gott sende Cromwell den Tod!« Es gab noch andere Verse, doch Meg konnte sie nicht alle singen. Die fieberhafte Begeisterung verließ sie. Sie sank in die Polster zurück und hielt die Hände vors Gesicht. George betrachtete sie gebannt, mit unverhohlener Bewunderung und Verehrung. »Was für eine Frau seid Ihr doch, meine Teuerste! Und was für eine Schauspielerin ist an Euch verlorengegangen!« »Du vergißt ganz«, sagte Fenton höflich, »daß sie ja eine ist.« »Wenn irgendein anderer Mann das gesagt hätte …!« »Oh, ihre Gefühle als Royalistin sind schon echt. Charles York war ein guter, tapferer Mann. Möge ihm die Erde leicht werden!« Nüchtern und kühl prüfte Fenton die Situation. »Glaubst du etwa, ich spürte ihre Reize nicht? Brenne ich nicht darauf, sie trotz der gaffenden Menge um uns herum in die Arme zu schließen?« Hier zitterten Megs Finger ein wenig. »Aber siehst du denn nicht, George, wie sie durch ihre Finger hindurch beobachtet, was für einen Eindruck sie auf uns gemacht hat?« Meg nahm die Hände vom Gesicht und blickte ihn haßerfüllt durch Tränen an. »Ich fahre jetzt«, erklärte sie mit fester Stimme, »zu Mr. Plovers großem Laden in Cheapside, ›Das leichtfertige Mädchen‹ genannt. Wollt Ihr vielleicht die Güte haben und diese Kutsche verlassen?« 149
Fenton schenkte ihren Worten keine Beachtung. »Wenn Ihr nur ein leichtfertiges Mädchen wäret…«, er zauderte. »Nun! Ihr entzündet und verwirrt tatsächlich die Herzen der Männer. George zum Beispiel hat eine Frage, die er gern an Euch richten möchte …« »Nick!« flüsterte George, den eine quälende Angst befiel, als er Meg die entscheidende Frage stellen sollte. »Pst! Jetzt nicht!« »Eine Frage?« erkundigte sich Meg in ehrlicher Überraschung. »Nein, pst! Nick!« »Na, lassen wir's. Es bedarf noch der Überlegung.« Fenton ließ eine kleine Pause eintreten und fuhr dann fort: »Meg, habt Ihr Kitty zum ›Blauen Mörser‹ in der Totenmannsgasse geschickt, um Arsenik zu kaufen?« Megs Erstaunen war so groß, daß Fenton hätte schwören können, es sei echt. »Arsenik? Gift?« sagte Meg. »Und vermutlich, um Euch zu töten? Denkt alles andere von mir, aber das nicht! Und diese – diese Kitty!« Wieder stieg flammende Röte in ihre Wangen. »Muß ich noch auf eine andere eifersüchtig sein? Wie lautet ihr Name? Kitty wer?« »Kitty Softcover. Sie ist Köchin in unserem eigenen Hause.« Meg zuckte voller Abscheu die Achseln. »Ich sollte aus einer Kochmagd eine confidente machen? Das traut Ihr mir zu? Ich habe diese Kreatur überhaupt noch nie gesehen!« Um Megs Lippen huschte das verschwiegene Lächeln, das er so gut kannte. »Glaubt Ihr gar, daß wir unter einer Decke stecken?« »Was sonst?« 150
»Ich habe viele Laster, wie Euch glücklicherweise bekannt ist. Aber ich interessiere mich nur für Männer!« »Daran, muß ich gestehen«, sagte er ironisch, »hatte ich nicht gedacht. Doch verzeiht mir, daß ich Euch an den Besitz Eurer vielen Juwelen erinnere. Diese Mädchen …« »Ihr mögt sie wohl gern, nicht wahr?« »Nein. Ich verabscheue sie ebenso wie Ihr. Aber sie ist diebisch und liebt glitzernde Steine über alles. Habt Ihr ihr vielleicht einen funkelnden Ring oder ein Armband gegeben …?« »Und meinen Hals in die Schlinge gelegt? Pfui!« »Doch hat diese Magd dem Apotheker eine Beschreibung der Dame gegeben, die sie geschickt hatte, und diese Beschreibung paßt haargenau auf Euch.« Meg blickte ihn merkwürdig an. »Ei, was für ein Dummkopf ist doch der kundigste Mann«, meinte sie. »Würde irgendeine Frau, die Gift kaufen soll, die Person beschreiben, die sie geschickt hat? Würde sie nicht eher den Verdacht auf eine Unschuldige lenken? Ich hoffe, daß diese Kreatur – nein, ich will ihren Namen nicht aussprechen – eine gehörige Tracht Prügel erhält.« Tiefes Schweigen folgte diesen Worten. »George«, sagte Fenton schließlich, »Madam York ist durchaus im Recht. Sie stempelt uns beide zu Trotteln. Wir trollen uns am besten.« George öffnete den Wagenschlag, kletterte unbeholfen auf das Trittbrett und sprang hinunter. Eine Gruppe von Gaffern sah ihm schweigend zu. Selbst die prunkvollsten 151
Kutschen wurden nie angehalten noch ihre Fenster mit Steinen zertrümmert, wenn eine hübsche Dame darin saß. Die Menge stand nur mit lüsternen Blicken herum, die der Dame selten mißfielen. Abermals hingen echte Tränen an Megs Wimpern. »Jetzt heißt es wirklich Abschied nehmen, Nick«, sagte sie. »Ich log, als ich sagte, ich brauchte noch eine Nacht, um meine Sachen zu packen. Früh am Abend werde ich dein Haus verlassen haben.« »Und ich werde nie den Gedanken aufgeben«, erwiderte Fenton, »daß Ihr Mary Grenville seid.« Er neigte sich zu ihr, um ihre Hand zu küssen, und küßte sie statt dessen unwillkürlich auf die Lippen. Sein Knie glitt auf dem Samtpolster aus, und er fiel gegen sie. Ehe er sich ihren Armen entziehen und wieder auf die Beine kommen konnte, hatte sich eine große Verwirrung seiner bemächtigt. Aber es gelang ihm, vom Trittbrett auf den Boden zu springen. »Solltest du mich je brauchen – und das wirst du«, flüsterte Meg, sich aus dem Fenster lehnend, »dann wirst du hören, wo ich zu finden bin. Denn wir sind miteinander verbunden, du und ich!« Fenton gab dem Kutscher ein Zeichen, während George brüllend die Müßiggänger zurückhielt. Der Kutscher knallte wiederholt mit der Peitsche. Das riesige Gefährt schwankte und setzte sich in Bewegung. Fenton und George tauchten in der Menge unter. »Nick«, brummte George, den Blick auf die Pflastersteine geheftet, »sie liebt dich.«
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»Nein! Hör mir zu. Du kennst Meg nicht. Hüte dich vor ihrem Temperament. Gib ihr Geld, behänge sie mit Juwelen, Kleidern und Tand. Dann wird sie auch dich lieben.« George kehrte ihm ein Gesicht zu, in dem Hoffnung und Zweifel miteinander kämpften. »Wahrhaftig? Glaubst du das?« »Ich … bin dessen sicher. Außerdem will mir dieser Captain Duroc nicht so recht gefallen. Wie mir jetzt wieder in den Sinn kommt, heißt es von ihm, er gehöre zum ›Gefolge des französischen Königs‹.« Hier glitt Georges linke Hand sachte an den Degengriff. »Bei dir«, fuhr Fenton fort, »wird sie in guten Händen sein. Aber Eile tut not, George! Sie verläßt mein Haus eher, als ich dachte, und zwar heute abend schon. Du mußt an Ort und Stelle sein und deinen ganzen Mut aufbieten. Du darfst nicht stammeln, sondern mußt frisch von der Leber weg sprechen. Sonst verlierst du sie. Bringst du das fertig, Mann? Willst du es versuchen?« George zauderte ein wenig. Dann gelobte er es mit entschlossener Miene. »Gut! Nun erzähle mir bitte, was in der Totenmannsgasse passiert ist, als ich … mein Gedächtnis verlor.« George gab ihm eine kurze, aber klare Schilderung. Im Nu hatte Fenton das ganze Geschehen analysiert und alle Umstände richtig geordnet. Er erkannte, daß er in der schlimmsten Gefahr schwebte. Sie waren also in dem Laden des Apothekers gewesen: schön und gut. Der Apotheker erwähnt Kittys Beschrei153
bung von Meg. George tobt und bedroht den Apotheker stürmisch, woraufhin er, Fenton – der kurz vorher mit den Dienern kühl und besonnen geblieben war – , wegen des armen George in Zorn ausbricht. In diesem Augenblick packt ihn Sir Nick und hat ihn völlig in der Gewalt, als er aus dem Fenster blickt und das grüne Band von Mylord Shaftes-burys Partei sieht. Aber die eigentliche Erklärung, das wußte er, lag tiefer. Nicht gegen George richtete sich in Wirklichkeit sein Zorn. Die Anklage gegen Meg hatte ihn erregt und ließ Sir Nick einschlüpfen. Alle beide mußten sie mehr für Meg empfinden – selbst wenn es nur Lust war – , als jeder von ihnen ahnte. Doch die Sache lag noch schlimmer, und Fenton schauderte bei dem Gedanken. Bisher hatte Fenton es jedesmal gespürt, wenn Sir Nick im Anzug war, und sich auf das Ringen mit dem Sargdeckel und dem gruseligen Inhalt eingestellt. Diesmal aber hatte er überhaupt nichts davon bemerkt. Im Apothekerladen hatte er nur ein leichtes Aufbrausen gespürt. Er konnte sich noch gut erinnern, daß er aus dem Fenster blickte und das grüne Band sah … dann Leere. Nie zuvor hatte er sein Gedächtnis verloren. Allerdings war es kein vollständiger Verlust. Es tauchten vage Erinnerungen auf an Degengeklirr, an einen sehr langen, dünnen Mann und an jemanden, der rief: ›Nimm dich in acht vor dem Kerl hinter dir!‹ Dennoch … Seine Befürchtungen mußten richtig sein. Sir Nick wurde allmählich mächtiger. 154
Nein! protestierte Fentons Verstand. Wenn sich dieser tote Idiot dauernd in seine Knochen schlich, vielleicht gar noch länger als die erwähnten zehn Minuten, so würde das dem Teufel einen diebischen Spaß bereiten. Nein, und abermals nein! Nach kühler Überlegung kam er zu dem Schluß, daß er sich Sir Nicks erwehren konnte, wenn er immer und ewig auf der Hut war. Und das nahm er sich fest vor. Er war fast wieder in heiterer Stimmung, als er George in den »Fetten Kapaun« folgte. Die Stunde des Mittagessens war längst vorüber. An den langen Tafeln saßen sehr wenige Gäste, die sich wie Geister von der Glut des Kohlenfeuers abzeichneten. In der trüben Beleuchtung achtete niemand auf Fentons blutbefleckte Hände. »George«, sagte Fenton, als das Mahl bestellt war und beide eine Weile nachdenklich am Tisch gesessen hatten, »ich habe ganz vergessen, dir zu danken …« »Pah!« erwiderte George barsch. »Nicht zu wissen, daß man heutzutage einen Hieb von der Schulter nicht pariert, sondern einfach zustößt, wenn der Gegner den Arm hebt«, beharrte Fenton, »und dennoch einen Bully von Alsatia drei Minuten lang in Schach zu halten …!« »Papperlapapp!« knurrte George. »Sie hatten's nicht auf mich abgesehen. Du warst ihre Beute.« »Das denke ich auch. Diese Raufbolde schleichen sich aus ihrem Asyl, um gegen Bezahlung zu töten. Wer hat sie auf mich gehetzt?« George blickte ihn überrascht an. »Nun, bist du noch darüber im Zweifel? Mylord Shaftesbury natürlich.« 155
Alle Warnungen und Prophezeiungen, die Giles Collins heute morgen kopfschüttelnd geäußert hatte, kamen Fenton jetzt wieder in den Sinn: »Ihr wollt doch nicht etwa einen Becher Wein im Wirtshaus zum ›Teufel‹ trinken, das so nahe beim ›Königshaupt‹ liegt?« Diese Schenke war natürlich der Treffpunkt des Green-Ribbon-Klubs. Und vor allem Giles' ominöse Worte: »Es wird wohl ein Blutvergießen heute geben.« Giles hatte ihn tatsächlich wie für ein Duell gekleidet: ohne hindernde Spitzenkrausen, ja selbst ohne Ring an der Degenhand. Doch Fenton saß hier im Speisehaus und biß sich verdutzt auf die Lippen. »Zugegeben«, sagte er mit finsterer Miene, »ich hasse Mylord Shaftesbury. Aber er ist immerhin ein Mann von gewaltigem Ruf. Er war Schatzkanzler, ehe er zum vierten Male seine Partei wechselte und sich gegen den König kehrte. Warum hat er denn mich gerade zu seinem Opfer gewählt?« Die Farbe wich aus Georges Gesicht, als er sich langsam seinem Gefährten zuwandte. »Gott steh uns bei«, betete George, und dann schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Ich hatte geglaubt, deine bösen Säfte hätten dich verlassen und dein Koller sei verschwunden. Nick, Nick! Nun, ein guter Doktor der Arzneikunde könnte…« »Ich brauche keinen, George. Sag mir lieber: warum sollte dieser kleine alte Mann einen Groll gegen mich hegen?«
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George faßte sich in Geduld und sprach zu Fenton wie zu einem Kinde. »Kannst du dich denn gar nicht entsinnen, Nick?« »Überhaupt nicht.« »Das Parlament wurde vertagt…« »Im November letzten Jahres«, stimmte Fenton zu. »Und ist noch nicht wieder einberufen.« »Gut! Vortrefflich!« George nickte mit strahlenden Augen. »Ich werde dich noch kurieren, guter Freund. Im November lagen sich das Oberhaus und das Unterhaus dermaßen in den Haaren, daß beide Häuser gemeinsam in der ›Gemalten Kammern‹ tagten, die ja ein gemeinschaftlicher Raum für beide ist…« »Der Teufel hol dich! Das ist mir bekannt. Ich möchte wissen, warum Mylord Shaftesbury …« George, ein wenig eingeschüchtert, hielt Rückschau: »An jenem Abend saß ich in der öffentlichen Galerie der ›Gemalten Kammer‹. Ich kann nicht sagen, warum ich dort war, da ich keinen Kopf für Politik habe. Doch es fällt mir wieder ein. Ich ging hin, weil ich hörte, daß diffizile Punkte zur Verhandlung kämen und es daher hoch hergehen würde.« »Ja?« »Jack Ravenscroft und ich schlossen eine Wette ab, ob die Kerzen wohl erlöschen würden, ehe die Reden zu Ende waren. Die Feuer in beiden Kaminen loderten hell und warm. Mylord Shaftesbury saß bequem in einem Stuhl neben dem einen Feuer. Seine Majestät war ebenfalls anwesend.« 157
»König Charles? Warum?« »Das kann ich nicht sagen. Aber er saß am anderen Kamin. Du mußt dich doch erinnern.« »Ich… ich … nein.« »Weißt du nicht mehr, wie du dich von deinem Platz erhobst und mit dem Finger auf Mylord Shaftesbury zeigtest? Wie du eine geistreiche Rede gegen ihn hieltest, die ihn bis aufs Blut geißelte?« Bei diesen Worten durchrieselte Fenton ein kalter Schauer. In der Tiefe des verrußten Speisehauses glühte das Feuer. Man hatte schon längst Georges Kapaun und Tauben auf den Bratspieß gesteckt. Ein Junge, der Bratspießdreher, sein Gesicht hinter einem feuchten Tuch verbergend, begoß das Fleisch mit einer Schöpfkelle. Fleischkeulen, die an eisernen Armen und Ketten hingen, wurden vom Feuer weggedreht. »Nein!« flüsterte Fenton. »Nein! Mylord Halifax wird das in späteren Jahren besorgen. Aber ich nicht! Nicht ich!« George hatte nur die letzten Worte verstanden. »Du nicht? Potz Geck! Aber ich war doch dabei! Ich habe dich gehört. Alle starrten dich offenen Mundes an in dieser Finsternis, die nur von Feuerschein und trübem Kerzenlicht erhellt war. Du zügeltest deine Leidenschaft wie ein Reiter sein Pferd. ›Da sitzt er, Lords und Gentlemen. Mylord Wendehals nennen ihn manche …‹« »Und … und was habe ich sonst noch gesagt?« »Zum Teufel! Bringe mich nicht in Verwirrung!« fauchte George und runzelte die Stirn. »An den Anfang entsinne ich mich und an das Ende. Doch …« Plötzlich kniff er die Augen zusammen und warf seinem Gefährten 158
einen verschlagenen Blick zu. »Hast du die Wahrheit gesprochen, Nick, als du auf Mylord Shaftesburys Vergangenheit anspieltest?« »Seine Vergangenheit? Inwiefern?« Da Nick anscheinend benebelt war, versuchte George, ihm Fallen zu stellen, um seinen Geisteszustand zu prüfen. »Du erwähntest, daß Mylord Shaftesbury in seiner Jugend und zu Anfang der Großen Rebellion ein höchst eifriger Royalist gewesen sei und im Heere Charles des Ersten tapfer gefochten habe, bis…« Fenton richtete sich auf. »Bis«, ergänzte er, »der Mann es in der Luft roch, daß das Glück des Königs eine Wendung nehmen und sein Stern untergehen würde. Gerade vor der Schlacht bei Naseby desertierte er und ging in das Lager der Rundköpfe. Er wurde der glühendste, der frömmste, der eifrigste Psalmensinger …« »Und bei Abbotsbury?« drängte George mit heiserer Stimme. »Bei Abbotsbury«, sagte Fenton, »war er ein so hitziger Rundkopf, daß er eine Besatzung, die im Hause eines Royalisten gefangengenommen wurde, bei lebendigem Leibe verbrennen wollte.« Als der Bratspießwender das Geflügel begoß, fielen einige Tropfen Fett zischend auf die glühenden Kohlen, die aufflackerten und das Speisehaus mit einem rötlichen Lichtschein erhellten. »Aber er hatte immer einen guten Riecher«, fuhr Fenton kühl und besonnen fort. »Bei der Restauration war er auf einmal wieder ein Royalist und stand katzbuckelnd und lächelnd – 159
denn manchmal ist er ein fröhlicher Geselle – unter den Bevollmächtigten, die König Charles den Zweiten willkommen hießen.« Abermals zischten die Fettropfen ins Feuer. »Und du weißt ja wohl«, meinte Fenton, »wie sein Glück ins Unermeßliche wuchs. Da er ein eifriger Anhänger des neuen Königs war, wurde er mit Titeln und Gunst überhäuft. Doch er roch wieder Lunte. Dies wachsende Geschrei ›Nieder mit den Papisten‹ würde – so dachte Mylord – einen Sturm auslösen, der den König fortblies. Also wurde er wieder abtrünnig.« Bisher hatte Fenton kühl und ohne Erregung Tatsachen zitiert. Jetzt aber ahmte er zum ersten Male nach, was er heute beobachtet hatte. Er wandte den Kopf zur Seite und spuckte auf den Fußboden. George aber sprudelte vor Erregung. »Dein Gedächtnis ist wieder da!« wiederholte er dauernd und zupfte Fenton am Ärmel. »Nick, du bist nicht wahnsinnig. Du kannst mich nicht beschwindeln! Du warst betrunken, als du so vor dem Oberhaus und Unterhaus sprachst. Und so war's auch heute, wenn du es auch abgestritten hast. Meiner Treu, hab' ich doch erlebt, wie du fünf Wochen hintereinander gepichelt hast und dich am Ende auf nichts mehr besinnen konntest.« Es war die einfachste Lösung. Fentons ironisches Lächeln deutete Zustimmung an. »Und gegen Mylord und seine wider den Hof gerichtete Partei«, fuhr George fort und schüttelte unsicher den Kopf, »stelltest du sechs Punkte auf. Dies war der politische 160
Kern, der über meinen Horizont ging. Aber das Ende deiner Rede! Ei, das kann ich wörtlich wiederholen!« George sprang auf die Füße. Seine in der rötlich erhellten Finsternis ausgestreckte Hand schien auf einen als Geist anwesenden Shaftesbury zu deuten. »Viermal Überläufer, viermal Verräter. Dreimal verheiratet, dreimal befördert. Zweimal geadelt, zweimal entadelt. Einmal tot, bald verdammt. Und hier ist das Schwert, das ihm dazu verhelfen möchte!« George nahm wieder Platz und schien völlig bei dieser Szene zu weilen. »Bei Gott, Nick! Das Geschrei, das sich auf beiden Seiten erhob, wollte schier das Gold von der Decke sprengen. Während der ganzen Zeit saß Mylord Shaftesbury still im Sessel am Kamin und spielte mit seinem Spitzentüchlein. Nur einmal wandte er dir sein Gesicht zu. Göttliche Ruhe spiegelte sich darauf. Einmal nur sprach er – mit Mylord Essex. ›Dieser Bursche mißfällt mir‹, sagte Mylord – so wurde mir später berichtet –, lässig wie ein Weibsbild nach einem ausgedehnten Schäferstündchen, ›sorgt dafür, daß ihm eine Lehre zuteil wird«.« »Eine Lehre«, wiederholte Fenton langsam. »Ja, eine Lehre«, sagte George lächelnd. »Und wie du dich erinnern wirst, wurde sie dir bereits drei Abende später zuteil. Da saßest du hoch zu Roß und rittest nach einem Zechgelage allein durch die einsamsten Felder nach Haus. Plötzlich schossen aus dem Hinterhalt drei flinke Burschen auf dich zu und rissen dich aus dem Sattel.« Fentons auf dem Tisch liegende Hand ballte sich langsam zur Faust. 161
»Wenn ich nicht irre«, fuhr George fort, »hatten sie nicht die Absicht, dich zu töten. Sie wollten dir nur die Nase aufschlitzen und dir eine tüchtige Tracht Prügel mit ihren Keulen verabreichen, wie ein großer Lord es üblicherweise anzuordnen beliebt.« »Ha, wie ich Mylord Shaftesburys Zurückhaltung bewundere!« »Bewundere deine eigene«, riet ihm George trocken. »Einer der Schurken wurde am nächsten Morgen in einem Graben gefunden, halbtot von einem Schlag auf den Schädel mit seiner eigenen Keule. Dem zweiten gelang es, mit einem Degenhieb durch den Bauch zur Schenke zurückzukriechen. Der dritte entkam.« »Ja, ich entsinne mich«, log Fenton. »Heraus mit der Sprache, alter Freund!« drängte George und rückte dichter an ihn heran. »Du kannst mir dein Vertrauen schenken. Viele haben sich gewundert, warum du keine Rache genommen hast. Monatelang hast du nur grübelnd und trinkend zu Hause gesessen. Wenn du das Haus verließest, so geschah es nur, um ein wenig in der Mall zu reiten oder Meg York deine Aufwartung zu machen, die damals in der King Street wohnte, ehe du sie zu dir ins Haus nahmst. Manche behaupteten, Meg habe dich umgarnt. Andere wieder meinten, du habest Angst…« »Haben sie das wirklich angenommen?« fragte Fenton in merkwürdigem Ton. George warf ihm rasch einen besorgten Blick zu. Doch Fenton lächelte ihn so freundlich an, daß er sich wieder beruhigte. Fenton selbst wußte, daß
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er bei klarem Verstande war – ohne jegliche Spur von Sir Nick. »Ah«, seufzte George erleichtert, »hier kommt unser Essen!« Der Wirt kam in Begleitung eines kleineren Mannes herbei. Sie trugen das dampfende Fleisch auf gewaltigen Platten. George schlug die linke Seite seines Rockes zurück und holte aus einer unter seinem linken Arm befestigten Scheide einen einschneidigen Dolch hervor, der zum Essen diente. »Nein, ich zahle die Zeche!« erklärte er energisch, als Fenton in die Tasche griff. »Du wirfst das Gold mit vollen Händen hinaus, mein Lieber. Laß es gut sein. Zum Wohl!« Wenn man eine »Kanne« Wein bestellte, entdeckte Fenton, so erhielt man ein reichliches Liter. Und wenn man einmal seinen Dolch vergessen hatte, lieferte das Speisehaus auch ein Messer. Fenton hob die Kanne mit Kanariensekt zum Mund und tat einen tiefen Zug. Es wurde ihm fast übel. Der bräunliche Weißwein war schwer, berauschend und so übermäßig süß, daß sein Gaumen den Weingeschmack kaum wahrnahm. Aber was ihn besonders faszinierte, war die Blitzgeschwindigkeit, mit der George einen Kapaun verzehrte. Er benutzte nur seinen Dolch und warf die Knochen in eine Kiste, die am Boden stand. Nachdem er den Kapaun verschlungen hatte, spießte er eine fette Taube auf die Platte, zerschnitt sie in vier Teile und verzehrte der Reihe nach jedes Viertel mit Knochen und allem Drum und Dran. »Na also«, rief sich Fenton im stillen zu, »nun bist du hier; dies ist dein Jahrhundert; lang zu!« Damit stieß er sein Messer tief in die Fleischpastete, die, wie zu erwarten war, einen riesigen Umfang hatte. 163
Seine neuen Zähne, so stark wie die eines Hundes, zerrissen die mageren, aber sehr zähen Fleischstücke spielend. Bei der fetten, suppenartigen Sauce hatte er das Gefühl, er müsse sich übergeben. Bald legte er Messer und Gabel hin und erwog den Plan, der ihm durch den Kopf ging. »Hm – George!« Irgendein Urlaut drang aus den knirschend kauenden, aufgeblasenen Wangen. Georges Gesicht war ganz rot, und seine Augen strahlten vor Vergnügen über diese kulinarischen Genüsse. »Gibt es eigentlich festgesetzte Zeiten, wo Mylord Shaftesbury im ›Königshaupt‹ zu finden ist?« fragte Fenton leichthin. Als George das letzte Viertel der letzten Taube verschlungen hatte, spülte er es mit einem halben Liter Kanariensekt hinunter. »Nun, was das angeht«, sagte er und faßte sich hinten unter den Rock, um seine fettigen Hände an der Seidenweste abzuwischen, »so ist Mylord an den meisten Nachmittagen dort zu finden. Nur nicht, wenn das Oberhaus oder der Rat Seiner Majestät tagt. Ha, fast hätt' ich's vergessen. Mylord ist stets am Dienstag«, setzte er hinzu, ohne daran zu denken, daß dies ein Dienstag war, »von ein Uhr bis Mitternacht im ›Königshaupt‹. Er …« Fenton erhob sich. Entsetzen malte sich in Georges Augen, als er erriet, was in Fenton vorging. »Ich möchte wohl«, erklärte Fenton, »dem ›Königshaupt‹ jetzt einen Besuch abstatten.«
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IX Die über Temple Bar an Pfählen aufgespießten Totenköpfe waren keine Häupter von Verrätern. Es waren nur die Köpfe unbekannter Männer, deren Leichen aus dem Fluß gefischt oder in Feldern und Gassen gefunden worden waren. Wenn keiner die Leichen identifizieren konnte, schnitt man ihnen die Köpfe ab, pökelte sie in einer Lake von Essig und Fenchelsamen und steckte sie hoch auf Stangen, damit jemand sie vielleicht erkenne. Aber wenn sie so über dem schwarzgrauen Gemäuer von Temple Bar im Winde hin und her schwangen, boten sie mit ihren starren, glasigen Augen den Besuchern der City nicht gerade einen warmen Willkommensgruß. Temple Bar, ein Tor zwischen Strand und Fleet Street, durch dessen Bogen die Räder der Fahrzeuge mit großem Krach rollten, hatte zu beiden Seiten Passagen für Fußgänger. Gerade jenseits des Tores, an der Ecke von Fleet Street und Chancery Lane, stand das Wirtshaus »Königshaupt« mit seinen schwarzen Balken und seinem hoch über der Straße liegenden Balkon. »Nun, ich will's darauf ankommen lassen«, erklärte Lord George Harwell mutig. »Aber, Nick, was Mylord Shaftesbury angeht…« Am Eingang zur Fleet Street blieb Fenton stehen, um die Gegend zu betrachten. Doch George in seiner Beharrlichkeit ließ sich nicht abweisen. »Potz Geck! Was willst du gegen ihn unternehmen?« »Allerlei.« »Aber wie?« 165
»Mylord Shaftesbury«, erwiderte Fenton, »wollte mir gnädigst eine Lehre erteilen. Gut! Nun wollen wir mal sehen, wie Mylord selber sich eine Lehre schmecken läßt.« »Nick, du darfst ihn aber nicht fordern! Er ist ein vornehmer Lord …« »Das ist dein Vater auch.« »Stimmt, stimmt. Aber der alte Filz kommt selten nach London. Er ist ein unbedeutender Mann. Mylord Shaftesbury, abgesehen von seiner Kraft und seinem ungewöhnlichen Feuer …« »Hat er Kraft? Hat er Feuer?« »Wenn er sie zu zeigen geruht, ei, gewiß! Laß dich warnen, Nick! Außerdem ist er ein älterer Mann, und seine Säfte sind voller Gift von dem Loch in seiner Seite. Er würde über eine Herausforderung lachen. Nun will ich dir noch den allerbesten Grund nennen, warum du ihn jetzt nicht attackieren kannst!« George deutete mit dem Finger auf das obere Stockwerk des Wirtshauses. »Er ist von fünfzig Degen umringt. Im Hause wimmelt es schon von Dolchen, glaube ich. Man wird dich nicht einmal in seine Nähe lassen.« »Keine Sorge! Wir werden schon in seine Nähe gelangen.« Die Sonne schien jetzt strahlend von Himmel, und der Wind hatte sich gelegt. Aus den unzähligen, in Dunst gehüllten Schornsteinen auf den schrägen Dächern strömte schwarzer Rauch kerzengerade in die Höhe und ließ einen schweren Regen von Ruß fallen. »Nun über die Straße«, sagte Fenton zu George, »solange sie frei ist. 166
Vorsicht – da ist der Scherenschleifer mit seinem Rad. So – jetzt rüber!« Sie standen dann bei dem Gitterfenster, ein paar Schritte von der Tür des »Königshaupts« entfernt. »Zum letztenmal, Nick«, schrie George, »du kannst ihm nicht mit dem Degen zu Leibe rücken.« »Degen?« wiederholte Fenton. »Wer spricht denn von Degen? Ich habe nicht die Absicht, ihn zu zücken.« »Du wolltest ihm doch – eine Lektion erteilen!« »Allerdings. Bis ihm das Maul gestopft ist. Halt – die Trophäen!« »Was für Trophäen?« »Der Hut mit der grünen Bandschleife und das künstliche Gebiß. Du erzähltest mir doch, daß du sie mitgenommen hättest. Gib sie mir, bitte.« George händigte sie ihm aus, und sein Gefährte stopfte beides in die linke Rocktasche. Obgleich Fentons Gesicht unter der Bräune ein wenig blaß war, so blickten seine Augen doch leidenschaftslos wie die eines kalt urteilenden Richters. »Kann ich«, sagte er, »obwohl ich selbst ein renommierender Lüstling bin, über Mylord Shaftesbury urteilen? Ja, ich glaube wohl. Denn ich kann einem Manne alles verzeihen, nur eins nicht: Treulosigkeit und Verrat. Und dieser aufgeblasene Bursche hat viermal sein Mäntelchen gewechselt.« »Nick, Nick, das ist doch allgemein Sitte!« »Bei mir nicht!« 167
»Nick, um Gottes willen!« Fenton stieß die Tür auf. George folgte ihm mit gesenktem Kopf, als wollte er damit durch die Wand rennen. In dem Tohuwabohu, das sie umgab, erkannte zunächst niemand Sir Nick Fenton. Es war ein großer Raum mit rauchgeschwärzten Wänden. In der Mitte der rechten Wand führte eine mit Geländer versehene Treppe nach oben. Lange schwarze Bänke, lange schwarze Tische, kleine Tische, kurze Bänke, Stühle und Schemel standen bunt durcheinander. Der Dunst von Bier, Wein und Spirituosen war fast sichtbar. Hüte und Perücken nickten über ledernen Trinkgefäßen, Zinnkrügen, Flaschen und Tassen. Manche Gäste spielten Karten, erhoben sich dabei halb von ihren Plätzen, als wollten sie sich gegenseitig an die Kehlen springen. Unter der Treppe ertönte das Klappern eines Würfelbechers. Viele rauchten aus langen, geschweiften Tonpfeifen einen groben Tabak, der dicken Qualm verbreitete. »Hier sitzt nur das Kroppzeug der Partei«, sagte Fenton. »Wir wollen gleich nach oben gehen.« Doch George zupfte ihn am Ärmel. »Sieh mal!« murmelte er mit vor Staunen geweiteten Augen. »Da drüben, gerade links von der Tür!« Links von der Eingangstür saß, seitwärts zu ihnen gewandt, ein alter, sehr dicker Mann in schäbiger Kleidung an einem kleinen Tisch. Er hatte einen Bauch wie Bacchus, und seine gichtgeschwollenen Beine steckten in Schuhen mit breiten Schnallen. Sein Schädel war kahl bis auf einen Kranz von weißem Haar, das sehr gepflegt war und wie bei den alten Kavalieren bis auf die Schultern herabhing. 168
Von seiner linken Hüfte hing an drei altersgeschwärzten Lederriemen – Fentons Herz hüpfte vor Freude – ein alter Kavalierdegen mit Bechergriff. Und vor ihm auf dem Tisch… »Das ist eine Zither«, flüsterte George Fenton ins Ohr. »Potz Blitz! Meg hat vorhin noch davon gesprochen. Der alte Herr ist…« Nun, dachte Fenton, diese altmodischen Zithern gab es in meiner Jugend auch noch. Ich könnte sogar eine Melodie darauf spielen. »Verehrter Herr«, sagte er laut. Der alte Mann zuckte zusammen. Plötzlich kam Leben in sein breites, vom Trunk verfärbtes Gesicht. Seine Augen verloren den trüben Schimmer, und sein Gesicht erstrahlte in einem Lächeln, das vielleicht sogar Mylord Shaftesburys Herz erwärmt hätte. Und seine geschwollenen Finger glitten über die Saiten der Zither und zupften eine Melodie, die in dem Stimmengewirr kaum einen Meter weit zu hören war. »Stoßt an auf das Wohl Seiner Majestät! Vivat hoch und heisa juchhei! Auf daß seinen Feinden es schlecht ergeht! Vivat hoch und heisa juchhei!« Diese Worte kamen Fenton in den Sinn, und abermals klopfte sein Herz vor Freude bei dem Gedanken an Dinge, die er nie gesehen, aber lange verehrt hatte. Es war das Lied der Restauration. »Du erinnerst dich ja wohl noch an ›Mr. Reeve‹«, sagte George in jovialem Ton zu Fenton. »Und wie oft er in dein Haus in Epsom kam, als Meg dort war? Mr. Reeve«, fügte 169
George mit Bitterkeit hinzu, »gehört auch zu denen, die ihr Tafelgeschirr einschmolzen und das Gold für den verstorbenen König opferten. Unter Oliver wurden seine Güter verkauft, und selbst der Adelstitel wurde ihm gestohlen…« »Und wer nichts von diesem Trinkspruch hält, dem wünsch' ich weder Leben noch Geld, nicht mal 'nen Strick zum …» Bei Georges Worten verstummte die Zither allmählich. Mr. Reeves Gesicht wurde ausdruckslos. Er sprach mit gebrochener, aber immer noch kräftiger Stimme. »Ach, lassen wir das«, protestierte er sanft, als seien ihm diese alten Geschichten zuwider. Fenton zögerte, eine Frage zu stellen, weil er die Antwort kannte und fürchtete. Aber er konnte es sich nicht versagen. »Eure Güter und Euer Titel, Sir: wurden sie Euch bei der Restauration nicht zurückgegeben? Hat man Euch nicht entschädigt?« »Mein lieber Junge, das ist schon fünfzehn Jahre her!« »Aber, Sir, habt Ihr denn nicht mit dem neuen König gesprochen und Eure Petition eingereicht wie alle anderen?« »Nu-un«, sagte Mr. Reeve mit einer schüchternen Geste, »ich bin allerdings nach Whitehall gegangen. Aber so viele scharten sich um den König! Und zweifellos mit besseren Ansprüchen als ich. Und dann waren alle die anwesend, die wir die selbstsicheren jungen Mannen nannten – so geschniegelt und gestriegelt, daß ich mich schämte.«
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Mr. Reeve schüttelte den Kopf, so daß die weißen Locken auf den Schultern seines zerschlissenen Rockes zitterten. »Ich muß Euch gestehen«, bekannte er, »daß ich dieselben Sachen trug wie jetzt. Ich habe nun achtzig Jahre auf dem Buckel, und schon damals war ich ein alter, heruntergekommener Kavalier ohne Geld und ohne Kleider. Hätte ich mich Seiner Majestät genähert, würden sie mich verhöhnt haben. Also schlich ich mich davon – wie ich es nie auf dem Schlachtfeld getan habe –, ohne meine Petition präsentiert zu haben.« »Und seid Ihr niemals wieder am Hof gewesen?« Ein schlauer, durchdringender Blick trat in Mr. Reeves Augen, als er schmunzelnd sagte: »Kommt, ich werde Euch mit gleicher Münze heimzahlen. Wie ich höre, seid Ihr einer der hitzigsten Anhänger der Hofpartei. Kennt Ihr Seine Majestät?« Zwei Zeilen in Giles' Manuskript kamen Fenton zu Hilfe. »Ich … ich bin ihm im Park begegnet und habe vor ihm eine Verbeugung gemacht. Er hat den Gruß aufs höflichste erwidert.« »Aber Ihr habt nicht mit ihm gesprochen?« »Ich … glaube nicht.« »Erst vor einigen Monaten, so höre ich, habt Ihr jedermann in Erstaunen gesetzt durch eine Rede im Parlament, die Mylord Shaftesbury großen Schaden zufügte. Nun! Seid Ihr am nächsten Tage etwa nach Whitehall gegangen, um von Seiner Majestät ein Wort des Lobes zu ernten?« »Nein!« erwiderte Fenton instinktiv. Er wußte nicht, ob es stimmte, hatte aber das Gefühl, Sir Nick hätte es nicht 171
getan. Er selbst wäre jedenfalls nicht hingegangen. »Und weshalb nicht?« »Das kann ich nicht sagen«, erwiderte Fenton ganz ehrlich. »Nun, dann will ich's Euch sagen«, erklärte Mr. Reeve. »Es lag an Eurem grimmigen Stolz. Ihr wolltet beim König nicht den Eindruck erwecken, als hättet Ihr es getan, um eine Sprosse höher zu klettern auf der schmierigen Leiter, die sie alle erklimmen. Eher würdet Ihr Seiner Majestät selber den Rücken kehren. Habe ich recht?« Fenton, der sich eine kurze Bank herangezogen und sich zu dem alten Kavalier gesetzt hatte, schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht; ich kann's nicht sagen.« »Nun!« meinte Mr. Reeve grimmig. »Es gibt eben gewisse Dinge, die ein Mann nicht tun kann, selbst wenn er weiß, daß er im Recht ist. Besteht zwischen Euch und mir nicht eine große Ähnlichkeit?« Fentons Hand, die verstohlen zur Geldtasche greifen wollte, hielt auf halbem Wege inne. »Einen Augenblick, bitte«, mischte sich George ein, der krebsrot im Gesicht war. »Ich möchte nicht unhöflich sein. Doch warum seid Ihr hier? Sicherlich seid Ihr kein Sp…« George brach verlegen ab. »Nanu!« schmunzelte Mr. Reeve. »Könnt Ihr ein ehrliches Wort wie Spion nicht in den Mund nehmen? Ich bin einer – auf meine bescheidene Art. Ich sammle hie und da ein Krümchen für Mr. Chiffinch oder gar Sir Robert Southwell, die beide zur nächsten Umgebung des Königs gehören. Ich verabscheue diese Green-Ribbon-Brut,
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obwohl sie die gesegnete Staatskirche wie ehrliche Männer preisen. Nicht wahr, mein junger Freund?« Während des ganzen Gesprächs hatte Fenton seltsamerweise an Lydia gedacht. In den Schwaden des Tabakrauchs sah er sie, die Puritanerin auf Grund ihrer Erziehung, aber nicht aus dem Gefühl heraus. Er mußte daran denken, wie sehr Lydia den Mann liebte, für den sie ihn hielt; und er war gar nicht dieser Mann. Er erinnerte sich an das aufrichtige Gebet, das er am Morgen gesprochen hatte, als er Lydia zum erstenmal verließ. »O Herr«, hatte er gebetet, »wenn doch ein alter steifer Kauz in der Gestalt eines jungen Menschen sich dieser Liebe würdig erweisen könnte!« Nun, er würde es versuchen. »Ich fürchte, unsere Unterhaltung muß enden«, sagte er. »Aber wollt Ihr mir einen Dienst erweisen, Mr. Reeve? Dann leiht mir Eure Zither für eine kleine Weile.« »Die Zither? Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Mr. Reeve und schob sie über den Tisch. Sie war etwa einen Meter lang und hatte viele glänzende Saiten. »Aber zu welchem Zweck?« »Ich gehe nach oben zum Rat des Green-RibbonKlubs.« Der alte Herr zeigte keine Überraschung, als Fenton aufstand, die Zither unter dem linken Arm. »Oh, Ihr werdet es schon wagen«, brummte er, nachdem er einen Blick in Fentons Augen und einen auf das getrocknete Blut an seinen Händen geworfen hatte. »Und ich glaube, aus reinem Pläsier werde ich mit Euch gehen.« 173
»Nein, sachte!« rief George. »Ihr verliert ja Euren Platz als… als…« »Pah!« höhnte die schnaufende Stimme. Mit ungeheurer Anstrengung stellte sich Mr. Reeve auf seine geschwollenen Beine, schwankte ein wenig und stand dann fest. Seine Gestalt war fast so rund wie ein Ballon. Zärtlich klopfte er auf seinen Kavalierdegen. »Ich bin etwas schwach in den Beinen für eine Degenfechterei«, meinte er schmunzelnd. »Aber ich weiß noch ein paar Tricks, die den ersten Mann in Spitzenpantalons erwarten, der sich mit diesen Waffen einläßt.« »Folgt mir, wenn Ihr wollt«, entgegnete Fenton. Im Gänsemarsch bewegten sie sich auf die Treppe zu: Fenton voran, dann George und zum Schluß Mr. Reeve. Am Fuße der Treppe sprang ihnen ein Zapfkellner mit dem dichten schwarzen Haarwuchs eines Wilden in den Weg. »Bedaure, Sir. Ihr könnt nicht hinauf.« Fenton blickte ihn mit gefährlich blitzenden Augen an. »Ich bin Sir Nicholas Fenton«, sagte er und sah, wie bei dem Namen die Furcht in den Augen des Zapfkellners aufsprang. »Ihr werdet bei guter Gesundheit bleiben, wenn Ihr beiseite tretet.« Der Zapfkellner wich zurück, hob jedoch den Kopf, als wolle er etwas nach oben rufen. Fentons rechte, von der Zither verborgene Hand fuhr nach dem Degengriff, und die Klinge sprang ein Stück heraus. Der Zapfkellner sah, daß es Fenton mit seiner Drohung ernst war. »Ich werde meinen Mund halten, Sir«, flüsterte er. 174
Ungezwungen gingen die drei nach oben; Mr. Reeve keuchte allerdings etwas und zog seine geschwollenen Beine nach. Die Wand war zu ihrer Rechten. Fenton, der den Kopf ein wenig zur Seite gewandt hatte, hielt die Zither so, daß sie weithin sichtbar war. Die jetzt brüllende Menge im unteren Raum schwankte zwischen teilweiser und gänzlicher Betrunkenheit. Mehr als achtzig Augenpaare richteten sich neidisch auf die Treppe. Aber sie sahen nur ein Musikinstrument für die Unterhaltung der Großen und wandten sich ohne weiteres Interesse wieder Pfeife, Krug und Karte zu. Normalerweise fand man im oberen Stockwerk eines Wirtshauses nur private Gasträume. Aber das »Königshaupt« hatte, wie Fenton entdeckte, als sein Kopf über die Höhe des Fußbodens ragte, nur einen einzigen langen Raum, der der unteren Schankstube entsprach. Seine Decke wurde von schwarzen Säulen mit Galgenarmen getragen. Das Licht drang nur mit Mühe durch die rußigen Scheiben der Gitterfenster. Etwa dreißig Herren und einige edle Lords saßen in ernster Beratung beisammen. Abgesehen von dem Rauch, der von unten her nach oben zog, war hier die Luft nicht verqualmt; es brannten nur ein paar Pfeifen. Die glanzvolle Pracht der Röcke, Westen und goldenen Kniebänder und die größeren und besser gelockten Perücken unter den breiten Hüten zeigten an, daß hier Männer von Rang oder zumindest Männer von Wohlstand saßen. Er herrschte fast gänzliche Stille. Obgleich sie die Schritte auf der Treppe hören mußten, gaben sie in recht 175
affektierter Weise vor, nichts bemerkt zu haben, und schienen sich nur für ihr eigenes Geflüster zu interessieren. Das Treppengeländer lief hier oben parallel zu der entfernten Schmalseite des Raumes. Dort stand ein langer Tisch, der einem Beratungstisch glich, und daran saßen nur zwei Männer mit dein Gesicht zum Geländer. Ich kenne dich, dachte Fenton. Nur zu gut kenne ich dich aus deinen Porträts. Wollen mal sehen, ob du auf Sticheleien reagierst, wie es heißt. Links hinter dem hohen Tisch saß Mylord Shaftesbury. Er hielt den Kopf mit der ungeheuren flachsenen Perücke gesenkt, so daß sein Gesicht nicht zu sehen war. Er hatte ein kleines Weinglas vor sich stehen. Einige der aufgesteckten Köpfe über Temple Bar waren der Fleet Street zugekehrt, und einer stierte über Mylords linker Schulter zum Fenster herein. Rechts saß der große, untersetzte, rotgesichtige George Villiers, der zweite Herzog von Buckingham, der auf Ende Vierzig zuschritt und nicht mehr viel Sinn hatte für Streitigkeiten und Degenfechterei. Für ihn war die Politik, wie so vieles andere, nur ein Spielzeug. Er trug weinfarbene Seide. Seine braune Perücke war reich gewellt und gelockt. Ein Literkrug stand vor ihm auf dem Tisch. Fenton ging ein Stück weit am Treppengeländer entlang, lehnte sich nachlässig mit dem Rücken dagegen und hob die Zither an die Brust. George und Mr. Reeve stellten sich rechts von ihm auf. Immer noch rührte sich keiner, und niemand blickte auf. Fentons Finger glitten mit einem schnarrenden Ton über die Saiten. Er versuchte, eine 176
Melodie zu zupfen, und jeder Ton drang allen laut, klar und mißtönend in die Ohren. »Stoßt an auf das Wohl Seiner Majestät! Vivat hoch und heisa juchhei! Auf daß seinen Feinden es schlecht ergeht! Vivat hoch und heisa juchhei!…« Er war außer Übung und spielte so ungeschickt, daß Minuten verstrichen, ehe man die Melodie erkannte. Der erste, der plötzlich daraus klug wurde, war Mylord Shaftesbury selbst, und zwar gerade, als er sein Weinglas zum Munde führen wollte. Er stellte es leise wieder auf den Tisch und schob es von sich. Alle Bewegung erstarrte. Ein Weinkrug fiel klirrend zu Boden. Seine Gnaden von Bucks ergriffen als erster das Wort. »Sir Nicholas«, begann er in seiner tönenden, nicht unfreundlichen Stimme, »wenn Ihr gekommen seid, um Euch einer Gesellschaft guter Patrioten anzuschließen – nun, so macht's Euch bequem und seid willkommen! Aber…« Perücken neigten sich zueinander, und Bucks, wie man den Herzog von Buckingham allgemein nannte, sprach nun in schärferem Ton: »Mylord Shaftesbury wünscht zu wissen, warum Ihr hier seid.« Fenton erwiderte in der gewaltigen Stimme, die Sir Nick in der »Gemalten Kammer« gebraucht hatte: »Dann soll Mylord die Frage selber stellen.« Shaftesbury blickte auf. Bei oberflächlicher Betrachtung schien sein Gesicht fröhlich zu sein trotz einer gewissen Schärfe, bedingt durch die lange Nase, das spitze Kinn und die großen hungrigen 177
Augen. Nach den Begriffen jener Zeit galt er als alter Mann; er war vierundfünfzig. Er besaß viel Charme. Mit seiner beredten Zunge und seiner Schlauheit hatte er drei Frauen gewonnen, die er nur aus politischen Gründen heiratete. Stets trug er eine undurchdringliche Miene zur Schau. Im Augenblick hielt er ein Spitzentüchlein in der Hand, das er in die Luft warf und wieder fing. Dies wiederholte er zwei- oder dreimal, als suchte er in seinem Gedächtnis nach einem Namen, der ihm nicht geläufig war. »Hm … Sir Nicholas Fenton?« »Mylord… Shaftesbury?« Ein Knarren ging plötzlich durch den ganzen Raum, als würden Stühle und Bänke ein wenig zurückgeschoben, als hätten sich Beinmuskeln gestrafft. Mylord hatte den ersten Pfeil geworfen, und der war ihm direkt wieder ins Gesicht geflogen. Aber er schien nichts zu bemerken und spielte weiterhin mit seinem Taschentuch. »Nun, Sir Nicholas«, sagte er mit einem nachsichtigen Blick, »Ihr seid, wie es scheint, ein hoffnungsvoller und, soweit ich sehen kann, sehr ingeniöser junger Mann. Was kann ich für Euch tun?« »Zunächst, Mylord, möchte ich Euch über Eure zweite Lektion Bericht erstatten.« »Ich verstehe nicht ganz.« »Bei Eurer ersten Lektion, wo Ihr mir in einem einsamen Feld drei Spitzbuben auf den Hals jagtet, blieben zwei von ihnen, furcht' ich, auf der Strecke, während der dritte entkam. Ich habe die Sache damals weiter nicht 178
beachtet. Aber jetzt…« Fenton reichte George die Zither, der sie an Mr. Reeve weitergab, und zog aus seiner linken Tasche einen zerknüllten Hut mit einem grünen Band. Er glättete ihn mit der Hand. »Dieser Hut«, begann er von neuem, während er ihn mit einem Ruck über die Perücken schleuderte, so daß er vor Lord Shaftesbury auf dem Tisch landete, »gehörte dem ersten Bully von Alsatia, den Ihr am Vormittag auf mich gehetzt habt. Der Mann liegt jetzt, mit einem Degenstich vom Hals bis zum Gehirn, auf ein paar Feuereimern.« Mylord warf nur sein Taschentuch in die Höhe und fing es wieder. »Und diese falschen Zähne hier«, fuhr Fenton fort. Unter den aufmerksamen Blicken aller zog er die falschen Zähne aus der Tasche, die jetzt noch abstoßender aussahen als vorher. Er warf sie zu Mylord Shaftesbury hinüber. Sie landeten jedoch, in tausend Stücke zerbrechend, auf dem Tisch eines anderen Lords, der entsetzt auf die Füße sprang. »Sie wurden von dem zweiten Verbrecher getragen«, bemerkte Fenton, »mit dem sich mein Freund hier, Lord George Harwell, befaßte. Diesem Schurken habe ich einen Hieb versetzt, der ihm hoffentlich den Garaus machen wird.« Mit veränderter Stimme fügte er hinzu. »Mylord, Eure Aufmerksamkeiten werden mir allmählich lästig.« Shaftesbury zog die Augenbrauen hoch. »Meine Aufmerksamkeiten!« fragte er leise. »Ich fürchte, da schmeichelt Ihr Euch zu sehr. Und selbst, wenn
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dem so wäre! Wollt Ihr, ein bescheidener Baronet, auf Rache gegen mich sinnen?« »Nein, Mylord. Ich bin hier nur, um Euch etwas über die Zukunft zu erzählen.« Ein höhnisches Lächeln erschien auf allen Gesichtern, das jedoch seltsamerweise bald erstarb. »Ei der Daus! Könnt Ihr weissagen?« wollten seine Gnaden der Herzog von Bucks wissen, der sich interessiert vorbeugte. Doch Shaftesbury brachte ihn mit einer kurzen Geste zum Schweigen. »Ein Wahrsager also?« spottete er. »Bitte, sprecht!« »Seine Majestät, Mylord, ist der Vater seines Volkes oder zumindest einer großen Zahl davon. Von seinen illegitimen Kindern wimmelt es nur so. Aber er hat keine legitimen Kinder, weil Königin Catherine keine gebären kann. Nichts auf der Welt kann ihn dazu bewegen, sich von ihr scheiden zu lassen. Sein Erbe ist daher sein Bruder, der Herzog von York. Und der Herzog von York, so heißt es, ist katholisch geworden. Euer erster Schritt wird sein, Seine Gnaden den Herzog von York durch eine Parlamentsakte vom Thron auszuschließen. Euer nächster Schritt wird sein, König Charles selbst zu vertreiben, hauptsächlich durch Euer Losungswort…« »Nieder mit den Papisten!« schrie einer der Lords und schlug mit seinem Krug auf den Tisch. Andere griffen diesen Ruf auf, und er drang bis unten in das Schankzimmer, wo ein donnerähnliches Getöse von »Nieder mit den Papisten! Nieder mit den Papisten!« an die 180
Wände schlug und sie fast zum Bersten brachte. Zapfkellner rannten die Treppe auf und ab, um mehr Getränke für die Großen herbeizuschaffen. Bucks schluckte in einem Zug über ein halbes Liter Wein. Mylord Shaftesbury wartete selbstgefällig, bis der Lärm sich legte. Fenton lehnte sich inzwischen nachlässig an das ziemlich niedrige Treppengeländer. Auf seinen Zügen lag ein heiteres, zuversichtliches Lächeln. Der Führer der Grünbebänderten sprach ironisch: »Ihr erzählt uns also die Geschichte von Vater Adam und Mutter Eva.« »Halt! Es geht noch weiter.« Fenton richtete sich auf. »In einigen Jahren, Mylord, werdet Ihr in diesem Lande zu ungeheurer Macht gelangen. Ihr werdet in die Geschichte eingehen« – hier leuchteten Mylords Augen unter den gesenkten Lidern befriedigt auf – »als der erste große Parteiführer, als der Vater der Wahlkampagnen-Beredsamkeit und der ›Flüsterkampagne‹, der die mobile Partei, die wankelmütige Masse‹, in den gefürchteten Mob verwandelte. Hört zu, es kommt noch mehr! In drei Jahren wird ein gemeiner Lügner auftreten mit dem falschen Gerücht von einer ›papistischen Verschwörung‹, und Ihr werdet dies benutzen, um die Stadt in Angst und Schrecken zu versetzen. Blut wird in Strömen fließen, Flammen werden aufsteigen, und viele Morde werden von dem Henker begangen. Und am Ende …« Bei diesen Worten schmunzelte Mylord Shaftesbury. Sanft schwenkte er das Spitzentüchlein hin und her. »Und am Ende?« fragte er. 181
Fentons Stimme ertönte wie Sir Nicks in der »Gemalten Kammer.« »Am Ende werdet Ihr versagen«, entgegnete er. »Der König wird Euch – nachdem er Euch genug Spielraum gegeben hat, um ins Verderben zu rennen – zunächst überlisten und dann in seiner Faust zermalmen.« Ein heiseres Gelächter, das an einem Tisch erschallte, wurde von Mylord mit einer leichten Geste unterdrückt. Er schien – beinahe – ungerührt. »Dies sind alles Hirngespinste«, wandte er ein. »›Einige Jahre‹! Warum nicht fünfzig? Oder gar hundert? Könnt Ihr nichts voraussagen, was in etwas näherer Zukunft liegt?« »Wahrlich, Mylord, das kann ich. Was meint Ihr zu … neun Tagen?« »Na, das ist schon besser! Nun?« Wieder lehnte sich Fenton mit dem Rücken ans Geländer. »Im Augenblick, Mylord, gehört Ihr zum Rat Seiner Majestät, dem höchsten und geheimsten im Land. Ihr haltet Euch für zu mächtig, um daraus entlassen zu werden. Aber in genau neun Tagen – neun Tage, Mylords und Gentlemen! – wird man Euch aus dem Rat entlassen, wie man einen Hund mit einem Fußtritt vom Stuhl befördert, und Euch aus London jagen!« Bei diesen Worten entstand ein Aufruhr, und dreißig Paar Augen wurden von Sekunde zu Sekunde drohender. Der alte Mr. Reeve faßte mit der Rechten nach seinem Degengriff. Doch Mylords leiseste Geste hielt sie immer noch im Zaum. »Nun, möchtet Ihr wohl eine Wette darauf eingehen, Sir Nicholas?« 182
»Ich wette um mein Leben«, erklärte Fenton. »Wenn Ihr am 19. Mai nicht entlassen werdet, verspreche ich, allein und unbewaffnet auf irgendein beliebiges Feld außerhalb Londons zu gehen, das Ihr zu nennen geruhen wollt. Merkt Euch das Datum: der 19. Mai.« »Sorgt dafür, daß es notiert wird, guter Bucks.« »Und dann«, schleuderte ihm Fenton ins Gesicht, »wenn Ihr Euren Kampf gegen den König verloren habt, werdet Ihr wahrlich alt und geistig zerrüttet sein. Ihr werdet Euren dürren Arm schütteln und rufen: ›Ich habe zehntausend flotte Kerle zu meiner Verfügung.‹ Aber es wird niemand auf Euch hören. Ihr werdet allein sein, ohne Freunde und aller Macht beraubt.« Tödliches Schweigen. Denn alle hatten einen Blick auf Mylords Gesicht geworfen. »Aller Macht beraubt!« Außer Fenton und Mylord Shaftesbury konnte keiner im Raum die Bedeutung dieser Worte ermessen. Mylord Shaftesbury, obwohl von durchaus echtem Haß gegen die katholische Kirche erfüllt, verlangte nach Macht, grenzenloser Macht. Und um diese zu erlangen, scheute er vor keiner Handlung zurück, mochte es sich um eine kleine Lüge oder um Massenmord handeln. Plötzlich erhob er sich hinter seinem Tisch und schlug mit dem Spitzentüchlein auf die Kante. Gelassen, als wollte er seinen grünen Rock zurechtzupfen, wandte er sich zur Seite. Doch durch die Fensterscheiben hindurch sah er den abgetrennten Kopf, der ihm von der Stange über Temple Bar ins Gesicht grinste. Die ganze Zeit über hatte dieser, 183
leicht hin und her schwankend, in den Raum gestiert. Mylord Shaftesbury drehte sich rasch wieder um und setzte sich hin. »Nun, Sir Nicholas«, meinte er mit einem fröhlichen Lachen, »Ihr habt in der Tat großes Zutrauen zu Eurer Wahrsagekunst…« »Nein, Mylord!« sagte Fenton rasch. »Ich bin kein Wahrsager. Meine Fähigkeit, die Ereignisse vorauszusagen, beruht auf einer natürlichen Ursache, auf mir bekannten Tatsachen.« »Ich möchte Euch nun gern«, sagte Mylord, »mit allen meinen guten Freunden hier bekannt machen. Leider ist das nicht möglich. Aber einer ist sicherlich darunter, dem ich Euch vorstellen muß!« Sofort neigte sich Bucks' Perücke zu Shaftesbury hinüber. Bucks flüsterte ihm etwas zu und schüttelte protestierend den Kopf. Andere Perücken krochen zum erhöhten Tisch, und es begann ein großes Geflüster. Einmal schnappte Fenton zwei Worte auf: »Keinen Krawall.« Und eine andere Stimme stieß ihre Zischlaute so kräftig hervor, daß die Lauscher verstehen konnten, was gesagt wurde. »Daß Euch die Pest! Ihr spielt Eueren Trumpf zu früh aus!« »Sei vorsichtig«, murmelte George und stieß Fenton seinen linken Ellbogen in die Rippen. »Ei ja«, brummte Mr. Reeve. »Es wird hier noch ein Blutbad geben!« 184
Fenton, der seinem Gegner die versprochene Lektion erteilt hatte, wartete gelassen ab. Doch Mylord Shaftesbury hörte nicht auf die Einwendungen der anderen. Er flüsterte ihnen etwas zu, was sie zu befriedigen schien, und sie schlichen sich auf leisen Sohlen an ihre Tische zurück. »Also nun!« rief Mylord und deutete auf einen runden Tisch zu Fentons Linken. Mit einer energischen Handbewegung veranlaßte er einen der Männer, aufzustehen. Es erhob sich die seltsamste Figur, die Fenton je gesehen hatte. Der Mann war noch größer und hagerer als Freund Langbein in der Totenmannsgasse. Doch damit hörte alle Ähnlichkeit auf. Er trug eine enorme Perücke, größer als alle anderen im Raum, noch dazu mit Gold bestäubt: eine Mode, die König Ludwig XIV. eingeführt hatte. Sein langes Gesicht war entweder sehr blaß oder stark gepudert, und auf jeder Wange lag unverkennbar ein Tüpfelchen Rouge. Er trug einen weißen, mit goldenen Lilien verzierten Rock, eine dunkelblaue Weste mit Goldknöpfen, weiße enganliegende Kniehosen, rote Strümpfe und weiße Schuhe mit hohen roten Absätzen. Doch niemand im Raum, Fenton selbst nicht ausgenommen, ließ sich durch das Äußere täuschen. Viele der tapfersten Degen, die sich verzweifelt bemühten, die Mode mitzumachen, äfften das weibische Gebaren einiger kleiner Lords oder Schauspieler nach. Aber in diesem maskulinen Zeitalter war es meistens nur Mache. Hinter allem lauerte ein tödlicher Degenarm. In der Pracht steckte oft ein so männliches Wesen wie König Charles selbst. 185
Mylord Shaftesburys säuselnde Stimme ließ sich vernehmen. »Darf ich Euch bekannt machen«, sagte er, »mit Captain Duroc, vordem persönlicher Begleiter des französischen Königs.« »Tod und Verdammnis!« flüsterte George. Seine rechte Hand ließ den Degengriff los und schlüpfte links unter den Rock, wo der Dolch unter seinem Arm in der Scheide hing. »Ruhig Blut!« mahnte Fenton und wandte sich nach links, um Captain Duroc gegenüberzutreten, von dem er so viel gehört hatte. Captain Duroc kam in seiner weißen Pracht langsam auf ihn zu. Seine harte, langfingerige linke Hand ruhte leicht auf dem goldenen Knopf eines Degens, der nach französischer Sitte an einem Degengehenk befestigt war, das unter dem Rock von der rechten Schulter bis zur linken Hüfte reichte. Immer noch herrschte tiefes Schweigen, während die Zuschauer mit aufmerksamen, amüsierten Blicken die Szene verfolgten. Manche blieben sitzen, viele standen auf, und andere blickten über die Schulter ihrer Gefährten. Captain Duroc blieb in zwei Meter Entfernung vor Fenton stehen. »Monsieur!« sagte er fast zärtlich. Ein Lächeln erhellte seine dunklen, schwimmenden Augen. Er legte einen Arm über die Brust und machte eine tiefe Verbeugung, so daß einige Goldstäubchen von seiner Perücke rieselten. Fenton erwiderte die Verbeugung mit ernstem Gesicht, ohne zu sprechen. »Ach«, sagte Captain Duroc, der sich, die Hand auf dem Herzen, wie ein Schauspieler aufrichtete, »es ist sehr 186
bedauerlich, daß wir beide verschiedener Meinung sein müssen, nicht wahr?« Du bist kein Franzose, dachte Fenton. Deine Aussprache ist fürchterlich. Du bist wahrscheinlich irgendein Bastardprodukt aus Mitteleuropa. »Aber es darf hier keinen Krawall geben«, fuhr Captain Duroc mit schockiertem Blick fort. »Nein, nein, nein, nein! Nur die kleine Beleidigung, die Wahl der Sekundanten, des Ortes, der Stunde … heute, morgen? Wann Sie wollen. Tout à fait comme il faut, n'est-ce-pas?« Captain Duroc kam ein wenig näher. »Helas!« hauchte er. »Nun zu dem Streit. Er darf nicht sein von politischer Natur. Nein, nein, nein!« Durocs schwimmende Augen wurden pfiffig. »Wir werden sein wie Ritter aus alter Zeit, ja? Ich nun stelle eine Frage!« Hier stieß er seine lange Nase Fenton fast ins Gesicht. Das Rouge leuchtete förmlich auf seinen Wangen. »Wer ist die Schönste im ganzen Land?« fragte Duroc. »Schnell! Wer ist es?« »Meine Frau!« entgegnete Fenton hitzig. Diese Antwort löste einen Sturm von Gelächter aus. In den Ohren dieser Generation – das wurde ihm sofort klar – mußte sie höchst töricht klingen. Die Green-RibbonLeute schrien und hämmerten mit ihren Krügen auf die Tische und riefen: »Bravo!« oder hoben die Krüge, als wollten sie einen Toast ausbringen. Captain Duroc, der einen meisterhaften Komödienschauspieler abgegeben hätte, wandte sich langsam seinem Publikum zu, zog die Schultern bis zum Hals an und 187
spreizte die Hände, während seine Augen kummervoll dreinblickten. »Tiens«, schien er zu sagen, »was kann ich mit einem solchen Mann anfangen?« Fentons Wangen brannten. »Ruhe bewahren!« mahnte ihn eine innere Stimme. »Ruhe bewahren!« Und er faßte sich wieder. Er hatte sich natürlich wie ein Narr benommen. In dem seltsamen Blick, den ihm der Captain zuwarf, lagen Amüsement und Verachtung. Dieser große Pseudofranzose mit seinem gemalten Gesicht und dem affektierten Wesen glaubte offenbar, er könne einen Gegner in zwei oder drei Gängen erledigen. In kaltblütiger Weise, mit einem Anflug von Komik, arrangierte er ein Duell, das den kostbaren Green-Ribbon-Klub nicht mit einbeziehen sollte. Wiederum machte Captain Duroc eine dramatische Wendung. »Monsieur«, sagte er traurig, »ich bedaure sehr, aber hier gehen unsere Meinungen auseinander. Denn die schönste Dame, vous comprenez, ist die reizende Madam Meg York …« »Laß mich vorbei!« ertönte Georges keuchende, heisere Stimme. »Einmalige Gelegenheit; genug!« George hätte sich nicht lange mit formellen Dingen, wie Degenziehen, aufgehalten, sondern wäre ihm gleich mit dem Dolch an die Kehle gesprungen, wenn Fenton es gestattet hätte – und vielleicht wäre es am besten gewesen. »Und nun«, verkündete der Captain, »muß ich Ihnen die Beleidigung verabfolgen. Aber ich will Ihnen nicht wehe
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tun; nein, nein, nein!« Wieder blickte er schockiert drein, wobei er tausend Grimassen schnitt. Er krümmte seinen hageren Körper und stellte sich auf die Spitzen seiner weißen Schuhe mit den roten Absätzen. Dann streckte er den Arm aus und gab Fenton einen Nasenstüber. »Voilà!« sagte er. Die Geste wirkte so grotesk und lächerlich, daß der ganze Raum wieder vor Lachen brüllte. Tränen strömten aus Green-Ribbon-Augen und flossen über Green-RibbonWangen. Captain Duroc, der sehr mit sich zufrieden war, lehnte sich gelassen an das Treppengeländer. »Dies ist also die Beleidigung?« fragte Fenton mit lauter Stimme. »Mais naturellement, mon ami!« Fentons Körper drehte sich um seine eigene Achse, und seine flache rechte Hand klatschte auf Durocs linke Wange mit einem Geräusch, als prallte eine Musketenkugel auf eine dicke Lederscheibe. Captain Duroc taumelte über das Geländer und fiel mit einem gewaltigen Aufprall der ganzen Länge nach auf die Treppe. Die Perücke wurde ihm vom Kopf geschleudert. Er schrie einmal auf, ehe er in einem Wirbel von Degen, Beinen, Armen und Spitzenkrausen zum Fuß der Treppe rollte, wo er unbeweglich liegenblieb. Ein Mitglied der Grünen Meuterer stürzte in einem weiten Bogen um Fenton herum ans Geländer. In der Tiefe beugten sich ein Zapfkellner und verschiedene andere über Captain Duroc. »Ist was passiert?« ertönte ein Ruf von oben. »Kann's nicht sagen, Sir«, rief der Zapfkellner gellend zurück, so daß alle es oben hören konnten. »Es gefällt mir aber nicht. Das 189
linke Bein ist gebrochen, wie mich deucht. Drei Häuser weiter wohnt ein Bader, der gleichzeitig Wundarzt ist. Sollen wir den herbeiholen?« Der Mann an der Treppe blickte Shaftesbury fragend an, der bejahend nickte. Die Zustimmung wurde nach unten gebrüllt. »Zieht Euren Degen, alle beide!« flüsterte Mr. Reeve mit scharfer Stimme. »Und dann zur Treppe! Diese Memmen werden Euch nicht hindern.« Durch Ruß verdunkeltes Sonnenlicht fiel auf die Klingen, als die drei Männer die kurze Entfernung zum Treppenkopf zurücklegten. Mr. Reeve hob seine Stimme, damit alle ihn hören konnten: »George, Ihr geht als erster nach unten. Dolch in der Linken, Mann, und zugestochen, wenn einer Euch wehrt! Ich gehe zwischen Euch und singe ein Lied für die Verräter und Gimpel! Nick, Ihr bildet die Nachhut. Der erste, der Nick Fenton attackiert, ist ein toter Mann. Das wissen sie alle!« Mit dröhnenden Schritten ging George die Treppe hinunter, den Degen in der Rechten, den Dolch in der Linken. Mr. Reeves Hand zupfte die Saiten und sang mit heiserer Stimme: »Stoßt an auf das Wohl Seiner Majestät…« Einer der Lords zog blitzschnell seinen Degen. Fenton, der oben an der Treppe stand, sprang herum, um sich zu stellen. Ein seltsames Triumphgefühl schoß ihm heiß durch die Adern, weil er jetzt auf sich allein angewiesen war. Sir Nick war nicht präsent, um ihn zu unterstützen. Ihm standen nur die Kenntnisse des Florettfechters zur
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Verfügung, aber er beabsichtigte, vollen Gebrauch davon zu machen. »Auf daß seinen Feinden es schlecht ergeht…« Am erhöhten Tisch nippte Mylord Shaftesbury delikat an seinem Gläschen Wein. »Na«, fragte er mit trockenem Sarkasmus, »kann wohl irgendein Mensch tatsächlich die Zukunft weissagen?« »Ach nein, das ist töricht«, brummte Bucks, die Augen auf die Treppe gerichtet. »Aber wäre ich nur zehn Jahre jünger …« »Auf ihn, Mylord!« rief eine Stimme aufmunternd Fentons Angreifer zu. Der Lord tanzte zur Seite, Arm und Klinge ausgestreckt – und blieb dann wie angewurzelt stehen, volle vier Meter von Fentons noch blutverkrusteter Klinge entfernt. Langsam senkte Mylord den Degen. »Und wer nichts von diesem Trinkspruch hält…« »Solche Hirngespinste«, murmelte Shaftesbury, »könnten, wie ich schon bemerkte, von jedem geäußert werden. Aber die Anspielung auf meine Entlassung aus dem Rat! Ich glaube, dieser Fenton genießt das Vertrauen des Königs weit mehr, als ich angenommen hatte.« »Dem wünsch' ich weder Leben noch Geld…« Inzwischen war Fenton, immer noch auf der Hut, rückwärts die Treppe hinuntergegangen. »Platz da!« bellte George von unten her. »Öffnet die Tür!« »Nicht mal 'nen Strick, sich zu hängen …« 191
Beide Flügel der Haustür flogen krachend zur Seite. »Wenn ich einen Mann nicht ausstehen kann«, murmelte Mylord Shaftesbury, »so lebt er gewöhnlich nicht lange. Ein drittes Mal wird er mir nicht entkommen.« »Vivat hoch und heisa juchhei… heisa juchhei!« Und so verließen erhobenen Hauptes und stolzen Herzens drei königstreue Männer das Wirtshaus zum »Königshaupt«.
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X Wenn Fenton später Rückschau hielt, so schien es ihm, als sei der Monat, den er jetzt durchlebte, die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen. Im Mittelpunkt stand seine Liebe zu Lydia, die fast an Verehrung grenzte. Er hatte beobachtet, wie sie sich in wenigen Wochen aus einer halbkranken in eine glückliche, lachende, kräftige Frau verwandelte. Und aus irgendeinem geheimnisvollen Grunde betete sie ihn an. Sein Glück wurde allerdings durch einen Gedanken getrübt – den Gedanken an den gefürchteten 10. Juni, an dem Lydia nach den Aufzeichnungen sterben mußte. Jedesmal, wenn die Furcht vor diesem Tag an ihm nagte, schwor er, daß er Lydias Tod verhindern würde. Auch gab es in diesem angenehmen Dasein, von dem wir noch hören werden, einige häßliche Vorfälle, die ihn wie Dolchstiche trafen. Der erste ereignete sich noch an demselben Abend, nachdem er mit George und Mr. Reeve den Green-Ribbon-Klub im Wirtshaus zum »Königshaupt« verlassen hatte. George hatte darauf bestanden, daß sie noch einen Becher Wein trinken müßten, um ihren Triumph zu feiern. »Außerdem mußt du dich etwas herausputzen«, erklärte er mit einiger Berechtigung. »Mit solchen Händen und solchen Ärmeln kannst du doch nicht nach Hause gehen! Im Wirtshaus zum ›Teufel‹ wirst du sicherlich eine Schale mit Wasser finden!«
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»Ein Becher Wein, mit Verstand getrunken«, versicherte ihm Mr. Reeve würdevoll, »ist allemal gut für die Verdauung.« Also tranken sie ein paar Becher im »Teufel«, wo Fenton sich so gut säuberte, wie es eben ging. Dann zogen sie ein Häuschen weiter zu dem berühmten »Schwan« in Charing Cross. Dort nahmen sie Platz auf hölzernen Ruhebänken mit hohen Rückenlehnen, und mitten im Lärm und Gestank des Wirtshauses begannen George und Mr. Reeve eine recht zünftige Zecherei. George schwor – und das mindestens sechsmal-, daß er nach dem nächsten Krug Fenton nach Hause begleiten und Meg bitten würde, ihn zu heiraten. Das Ergebnis des Gelages war nicht schwer zu erraten. Die beiden sanken nach einer Weile unter den Tisch – eine bequeme Sitte zu der Zeit. Fenton zahlte die Zeche, und mit Hilfe zweier Zapfkellner gelang es ihm, die Betrunkenen in je eine Sänfte zu zwängen. Dann schickte er die zwei Sänften in verschiedene Richtungen davon. Jeder voran lief ein Fackelträger. Es war noch nicht einmal dunkel und somit die von Wegelagerern drohende Gefahr nicht sehr groß. Hinterher legte Fenton die kurze Entfernung zu seinem eigenen Haus zu Fuß zurück. Der stattliche Portier mit seinem Amtsstab stand kerzengerade an der Tür. »Eine Frage noch … hm …« »Sir«, erwiderte der Portier, »ich heiße Sam.« Dann packte er rasch mit allen Neuigkeiten aus. »Madam York ist vor knapp einer Stunde mit schwerem Gepäck in einer fremden Kutsche fortgefahren. Und es freut mich, berichten zu können, daß Ihre Gnaden, Eure Gemahlin, 194
wohlauf sind und ihre Gesundheit sich ständig bessert. Ein dutzendmal in der Stunde schickt sie Mrs. Pamphlin aus, Euch zu suchen.« »Gott sei gelobt«, sagte Fenton langsam und spürte, wie sein Herz klopfte. Sam verneigte sich. »Mich … hm … verlangte es zu wissen«, stieß Fenton schließlich hervor, »wie viele Briefe heute von hier abgeschickt wurden. Aber das ist nicht mehr wichtig, da ich jetzt weiß …« »Sir, vier Briefe im ganzen«, erwiderte Sam, nachdem er ausgerechnet hatte, wie viele Male er einen Dienstmann suchen mußte. »Einer von der gnädigen Frau an Mrs. Wheeler, die Damenschneiderin im Hause ›La Belle France‹. Einer von Madam York an einen Captain Duroc in der Chancery Lane. Einer von Mr. Giles an seinen Bruder in der Nähe von Aldgate Pump. Einer – hm! – von der Köchin Kitty …« »Kitty! Kann sie überhaupt lesen oder schreiben?« »Man hätte es nicht erwartet«, erklärte der stattliche Sam stirnrunzelnd. »Es war so schlecht geschrieben, daß ich die Adresse nicht entziffern konnte. Ich gab einem Dienstmann Sixpence und habe ihn damit losgeschickt.« »Das konnte aber nicht am Nachmittag gewesen sein! Das Mädchen war – das hoffe ich wenigstens – unter Bewachung in meinem Studierzimmer…« »Nein, Sir, alle Briefe wurden frühmorgens abgeschickt.« Ist ja unwichtig, dachte Fenton, und als Sam ihm würdevoll die Tür öffnete, stürzte er durch die ekelhaft 195
riechende untere Halle, dann die Treppe hinauf und den Flur entlang zu Lydias Zimmer. Die Wachskerzen flackerten, als er die Tür aufstieß. Über der Holztäfelung hingen Gobelins, die fast jeden Zoll der Wände bedeckten. Das schwere Bett hatte vergoldete Liebesgötter an jedem Pfosten. Lydia saß in einem tief dekolletierten Abendkleid auf einem gradlehnigen Stuhl neben einem fünfarmigen goldenen Kerzenleuchter und hatte ein Buch im Schoß. Wenn sie auch bei ihrer Genesungskur ziemlich viel durchgemacht hatte, wie aus der Blässe der Wangen und den dunklen Schatten unter den blauen Augen zu ersehen war, so war sie dennoch Lydia. Sie streckte ihm beide Arme entgegen, und er hielt sie fest umschlungen, Wange an Wange. »Mein liebes Herz«, sagte er, als Lydia sich zurücklehnte, um ihn forschend anzublicken, »hoffentlich habe ich dich mit meiner Kur nicht noch kränker gemacht.« »Pfui!« sagte Lydia. Ihre rosa Lippen bebten, und sie machte den Versuch, ein wenig zu lächeln. »Es war nicht schlimm! Obgleich manchmal etwas unbehaglich, das gebe ich zu, besonders…« Hier hielt sie verlegen inne. Dann fiel ihr Blick auf seinen etwas mitgenommenen rechten Ärmel. »Oh, Nick, hast du …?« »Und wenn schon, Lydia, so bin ich doch unversehrt wieder zu dir zurückgekehrt.« »Oh, ich bin nicht ungehalten. Ich – ich bin sogar stolz. Aber ich hatte nicht angenommen …« Ihre Stimme erstarb, als sei sie von Entsetzen gepackt.
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Am anderen Ende des Zimmers, den hageren, steifen Rücken ihnen zugekehrt, stand Mrs. Judith Pamphlin und hielt einen Teller in die Höhe, um ihn zu polieren. Lydias Schultern zitterten ein wenig. Nachdem sie einen verstohlenen Blick auf Judith geworfen hatte, preßte sie ihre Lippen auf Fentons Wange, schob seine Perücke beiseite und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich werde doch heute nacht deine Gesellschaft haben, nicht wahr?« »Ja, und jede Nacht!« sagte er laut und küßte sie so, daß sie ihm ihre Lippen öffnete. Er dachte bei sich: Hat sie etwa immer noch Angst vor ihrer puritanischen Kinderfrau? Er setzte sich in Positur. »Mistreß Pamphlin«, sagte er mit kalter Stimme, die sie wie ein Peitschenschlag traf, »dreht Euch um und seht mich an.« Mrs. Pamphlin stellte den Teller auf eine Spiegelkonsole und wandte sich langsam um. Ihre Lippen waren fest zusammengepreßt. »Ich habe Euch«, sagte Fenton, »vor den üblen Folgen gewarnt, die Eurer harren, wenn Ihr noch ein einziges Wort von Eurem puritanischen Geplärre zu meiner Frau sagt. Habt Ihr das etwa getan?« »Nein, nein!« rief Lydia. »Ich habe mich schon im stillen darüber gewundert. Im tiefsten Herzen ist sie, glaube ich, ganz freundlich.« »Dann habt Ihr wohl daran gedacht«, sagte er zu der starren Mrs. Pamphlin. »Denkt daran, daß Ihr sie künftig damit verschont. Nun könnt Ihr gehen.« 197
Mrs. Pamphlin marschierte aus dem Zimmer und machte die Tür hinter sich zu. »Liebes Kind«, sagte Fenton sanft, »du darfst dich nicht von diesen Leuten mit ihren verderblichen Torheiten in Angst und Schrecken jagen lassen! Ich – ich habe jetzt eine wichtige Affäre zu erledigen. Es handelt sich um die Dienstboten …« »Ja, ich weiß. Nick, mein teuerster Gemahl, ich …« »Aber ich werde so bald wie möglich wieder bei dir sein und dich nicht mehr verlassen!« Immerhin verging eine Weile, bevor er, von Lydias Liebe erwärmt, das Zimmer verließ. Er eilte die Treppe hinunter zum Studierzimmer. Dort brannten immer noch die drei Kerzen in dem silbernen Kandelaber auf dem dunklen, geschnitzten Schrank mit den Satyrköpfen. Im übrigen war aber eine Veränderung mit dem Raum vorgegangen. Big Tom lag jetzt der Länge nach vor dem leeren Kamin, heftig schnarchend. Nan Curtis, die dralle Küchenmagd, schlummerte, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, in einem Sessel. Aber die Atmosphäre in der Nähe des Schrankes, wo Giles und Kitty Softcover standen, schien mit mörderischem Haß geladen zu sein. »Ich muß um Entschuldigung bitten«, sagte Fenton, »weil ich länger fortgeblieben bin, als ich dachte. Giles, ist alles glatt gegangen?« Giles ließ mit einem harten Ausdruck in seinem blassen Gesicht die Neunschwänzige Katze rasseln. 198
»Sir«, entgegnete er, »sie verlangten zu essen und zu trinken, und da habe ich es mir obgelegen sein lassen, kaltes Fleisch und Bier zu bestellen.« »Gut! Habt ihr irgendwelche Beschwerden vorzubringen?« Er blickte sie der Reihe nach an. Nan Curtis, die bei seinen ersten Worten bereits aus dem Schlummer aufgeschreckt war, versetzte Big Tom einen ermunternden Tritt mit ihrer Filzpantine, und beide sprangen auf. Kitty lehnte mit zusammengekniffenen Augen und verschränkten Armen an dem schwarzen Schrank. Ihr von Groll erfüllter Busen hob und senkte sich langsam. Das Kerzenlicht ließ ihr rotes Haar aufleuchten und warf die Schatten der langen Wimpern auf ihre Wangen. »Ich hab' eine Beschwerde«, sagte sie schnippisch. Wiederum maß Fenton sie von Kopf bis Fuß und wunderte sich im stillen, warum er eine so tiefe Abneigung gegen sie empfand. »Dieses versoffene Luder«, sagte sie und nickte scharf zu Giles hinüber, »hat sich mir genähert. Er nahm seine Hand, so …« Sie griff nach dem Saum ihres Rockes, aber Giles schnitt ihr scharf das Wort ab. »Was das Mädchen sagt«, warf er dazwischen, »stimmt. Sie hat jedoch eine Bemerkung über Euch gemacht, Sir, die ich Euch mit Verlaub unter vier Augen wiederholen will.« »Giles«, sagte Fenton, »sollte dies noch einmal vorkommen, wäre ich gezwungen, dich zu bestrafen.« Kitty kreischte halb ungläubig, halb zornig: »Du willst ihn also nicht bestrafen?« 199
Trotz ihrer verworrenen Aussprache hatte Fenton jetzt deutlich gehört, daß sie ihn vor allen Anwesenden mit »du« angeredet hatte. »Über die Bestrafungen werden wir noch reden, Frauenzimmer.« Fenton zog die Geldkatze aus seiner Tasche und warf sie Giles zu, der sie geschickt auffing. Dann zog er aus derselben Tasche das Päckchen Arsenik. »Du warst es, die dies Gift gekauft hat – hundertundvierunddreißig Gran! Nein«, fügte er abgespannt hinzu, »du brauchst deinen Kopf nicht anzustrengen, um es abzuleugnen. Ich war nämlich im ›Blauen Mörser‹. Nun sag mir eins: wer hat dich hingeschickt, um es zu kaufen?« Es folgte ein langes Schweigen, während Kitty ihn immer noch eingehend mit zusammengekniffenen Augen betrachtete. »Du hast's nicht entdeckt«, sagte sie schließlich achselzuckend. »Wer kann's dann sagen?« »Ich kann es sagen«, entgegnete Fenton mit vernichtender Ruhe. »Giles! Wir führen jetzt aus, was ich bestimmt habe. Geleite diese Leute nach unten in die Küche, wo uns Kitty eine Schale Sektmolke bereiten wird. Das Gift steckt bereits in einer der Zutaten. Und dann soll die Sektmolke von allen getrunken werden.« Dieses Mal protestierte Kitty nicht. Ihr kleiner Mund mit der geraden Unterlippe und der herzförmig geschwungenen Oberlippe verzog sich zu einer höhnischen Grimasse. Fenton wußte, daß er am Vormittag, als ihn die Angst um Lydia zur Raserei trieb, allen denen gegenüber zu streng gewesen war, die er für treue Dienstboten hielt. »Fürchtet euch nicht«, sagte er zu ihnen, indem er sie der Reihe nach anblickte. »Euch wird kein Leid 200
geschehen.« Giles stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm den Kandelaber mit den brennenden Kerzen vom Schrank. Nan Curtis ging zuerst hinaus, dann folgte Big Tom, der zum Gruß die Hand an die Stirn legte, und zum Schluß Kitty mit ausdruckslosem Gesicht. Giles' Leuchter übergroß sie alle mit einem goldenen Schimmer. »Halt!« rief Fenton, als Giles ihm die Küchentreppe hinableuchten wollte. Er hatte eilige Schritte auf der oberen Treppe gehört, und dann sah er Lydia in ihrem Abendkleid, umrahmt von dem goldenen Glanz der Kerzen. »Nick, ich möchte mit Euch gehen«, bat sie. »Ich habe einen Grund dafür, wahrhaftig!« Fentons Nase hatte bereits den üblen Geruch, der von unten heraufzog, wahrgenommen. Er fragte sich im stillen, ob er es selbst wohl aushalten könne. »Ihr könnt nicht nach unten gehen! Außerdem bedürft Ihr der Ruhe. Laßt Giles Euch wieder in Euer Zimmer leuchten!« »Wie Ihr wollt«, sagte Lydia und wandte sich ab. »Giles, gib mir die Peitsche und begleite Mylady auf ihr Zimmer. Wenn du zurückkommst, bring irgendeine Uhr mit.« Als das Klappern der Absätze verhallte, tastete sich Fenton die Küchentreppe hinunter. Der Gestank war überwältigend. In der Tiefe entdeckte er den Schimmer von Unschlittlampen mit schwimmenden Dochten – Wachskerzen waren für die Dienstboten viel zu teuer – und die rote Glut eines noch nicht erloschenen Kohlenfeuers. Die Wand zu seiner Rechten bestand aus rohen Ziegelsteinen, 201
während die zu seiner Linken mit schmutziger Tünche bedeckt war. Plötzlich schrak er zusammen, und sein Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf. Irgend jemand, der an der rechten Wand gelauert hatte, jemand, der noch unsichtbar war, drängte sich an ihn heran. Arme umschlangen ihn, und kleine, kalte Lippen preßten sich an seinen Hals. »Ich weiß, du hast nur Theater gespielt«, flüsterte Kittys Stimme sehr leise, mit heimlichem Frohlocken. Fenton warf sie von sich und schleuderte sie gegen die getünchte Wand zu seiner Linken. Der Aufprall verursachte kein Geräusch; es rieselte nur ein wenig alter Mörtel hinab. »Ich lasse mich gern schlagen; ich lasse mich gern peitschen, nicht wahr?« flüsterte sie, und ihre sehr großen Augen glitzerten unschuldsvoll. Sie deutete auf die mit Stahlspitzen versehenen Riemen der Peitsche in Fentons Hand. »Aber nicht mit dem Ding!« Fenton stand im Begriff, sie anzubrüllen und nach unten zu beordern, doch ihr Geflüster hielt ihn davon ab. »Das war ein ulkiger Trick, nicht wahr, als du die Brander-Meg gegenüber deiner Frau einquartiertest, so daß jede mit Luchsaugen über die andere wachte und sie uns beide darüber vergaßen.« Hier lag also die Erklärung für Sir Nicks merkwürdiges Verhalten. Aber was in aller Welt konnte Sir Nick bloß zu dieser… dieser Schneppe hingezogen haben? »Sieh mal her!« unterbrach Kittys Geflüster seine Gedanken. Fenton wagte nicht, sich zu rühren, aus Angst, 202
er könne weitere Informationen verpassen. Sie standen ungefähr auf halber Höhe der Treppe. Die schwachen gelben Talglampen und die rotglühenden Kohlen warfen ihren Lichtschimmer zu ihnen empor. Abermals schlängelte sich Kitty an ihn heran, diesmal aber mit gesenktem Gesicht. »Sieh her«, fuhr sie fort, »wie dicht ich das Geschenk, das du mir gabst, am Körper trage.« Sie beugte sich vor und deutete mit dem Finger in den Ausschnitt ihrer groben Bluse. An einem schmutzigen, um ihren Hals geschlungenen Band baumelte zwischen ihren Brüsten ein mit drei Reihen sehr schöner Diamanten besetzter Ring in Form einer Schlange, deren Windungen boshaft glitzerten. »Ich soll dir den gegeben haben?« »Natürlich. Wer sonst?« Sie hatte sich direkt vor ihn hingestellt. Fenton gab ihr keinen Schubs, obwohl seine Armmuskeln sich schon spannten. Kitty selbst rutschte mit ihren Filzpantinen aus, fiel mit lautem Aufschrei hintenüber und rollte dann schwerfällig bis zum Fuß der Treppe, wo sie unversehrt landete und wütend nach oben blickte. Ein schallendes Gelächter, das von Big Toms Baß beherrscht wurde, ertönte in der Küche. Die Treppe hinunterzufallen galt als ausgezeichneter Scherz. Das Gelächter verstummte sofort, als Fenton erschien. Kitty stand auf und sprang leichtfüßig davon. Sie warf ihm einen seltsamen, aber triumphierenden Blick zu.
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Die Küche war kein unterirdischer Raum, wie er erwartet hatte. Zwei staubige, mit schweren Eisenstangen verbarrikadierte Fenster gingen auf einen Hintergarten. Man konnte die Ställe erkennen. Der ungeheure Kamin glich dem, den er im Speisehaus gesehen hatte. Töpfe und Kessel hingen dicht daneben. Ratten waren auch vorhanden. Fenton hörte sie rascheln. Ein langer, von einem zerfransten, abgelegten Gobelinstück bedeckter Tisch diente dem Personal als Eßtisch. An einer Wand befand sich eine hohe eichene Anrichte, auf der die trüben Unschlittlampen standen. Die Regale enthielten Schüsseln und Tassen, meistens aus Steingut; manche waren auch glasiert oder sogar aus Porzellan. Big Tom sprang plötzlich mit einem schweren Feuerhaken in der Hand an eine Ecke der Anrichte, und ein unbeschreibliches Geräusch ertönte. Triumphierend hielt er eine tote oder sterbende Ratte in die Höhe, mit der er seine Stirn berührte. »Bravo!« würgte Fenton hervor. Zufrieden ging Big Tom zu einem halbhohen Brett, unter dem sich ein Abfallhaufen türmte. Darüber befand sich eine trichterförmige Vertiefung mit einem Abflußrohr, das einen Umfang wie ein Schornsteinaufsatz hatte. Big Tom war im Begriff, die tote Ratte auf den Abfallhaufen zu werfen, besann sich aber und ließ sie statt dessen in den Abfluß gleiten. Aus einem großen Eimer goß er etwas Wasser nach. Nan Curtis nickte ihm beifällig zu. »Nun«, rief Fenton, »laßt Kitty die Sektmolke zubereiten, wie es immer geschehen ist. Nan!« »Gnädiger Herr?« 204
»Du sollst sie dabei beobachten. Stell dich neben sie und paß auf, daß alles genauso gemacht wird wie vorher.« Kitty, die ihren Kopf mit dem prachtvollen Haar hoch trug, benahm sich mit einer verächtlichen Unbefangenheit. Sie trat an die Anrichte und holte sich eine Schale mit Eiern, die sie auf den Eßtisch stellte. Dann nahm sie eine kleinere irdene Schüssel, ein Messer und eine Gabel aus der Schublade. Während Nan Curtis aufmerksam dabeistand, öffnete Kitty vier Eier und begann sie mit der Gabel zu schlagen. Schritte wurden auf der Treppe hörbar, und Giles erschien im Türrahmen mit neuen Sorgenfalten im Gesicht und einer großen Uhr im Arm. Hinter ihm tauchte Lydia auf, die ihm über die Schulter blickte, ohne jedoch die Treppe ganz hinabzusteigen. »Sir, Sir«, stöhnte Giles, »Eure Gemahlin hat mir eingeredet, daß Euer Wunsch, sie nicht in der Küche zu haben, sich nicht auf die Treppe beziehe.« Lydia, die den dreiarmigen Leuchter in die Höhe hielt, blickte Fenton so treuherzig an, daß er nachgab. »Gut«, sagte er, obwohl er ihre Anwesenheit ganz und gar nicht schätzte. »Ach, ja!« rief Lydia. Während sich Lydia geruhsam auf der zweituntersten Stufe niederließ, ging Giles in die Küche und stellte seine Uhr auf die Anrichte, wo jeder sie sehen konnte. »Mr. Giles?« murmelte Kitty, die inzwischen die Eier zu einer gelben Flüssigkeit geschlagen hatte.
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Giles nahm sein Schlüsselbund und schloß einen Schrank auf, in dem das von der Herrschaft benutzte Porzellan auf Regalen stand. Er holte eine Porzellantrinkschale heraus, die mehr als ein halbes Liter faßte, und stellte sie auf den Tisch. Dann eilte er auf eine Tür zu, die wahrscheinlich zum Weinkeller führte. »Milch!« rief Nan Curtis und holte mit zitternden Händen einen irdenen Krug von der Anrichte, dessen Inhalt durch eine umgestülpte Schüssel vor Fliegen und Insekten geschützt war. »Sie ist heute morgen frisch aus der Milchkammer geholt«, versicherte Nan. »Doch wenn sie sauer geworden sein sollte …« Ehe sie sich ihrer Handlung bewußt wurde, hatte sie den Krug an den Mund gesetzt und den Inhalt probiert. »Gut! Sie ist noch süß«, sagte sie mit zitternder Stimme. Blitzartig wurde sie sich darüber klar, was sie getan hatte. Sie blickte entsetzt auf den Krug und dann auf ihre Hand, als ob sie, wie George, befürchte, daß sie vor ihren Augen schwarz anlaufe. »Es kann dir nicht schaden«, versicherte ihr Fenton. »Du hast nur einen kleinen Schluck getrunken.« Bestürzung lief durch den heißen Raum. Die Luft dieser Küche war wohl mit ekelhaften Gerüchen geschwängert, aber noch ausgeprägter war die Gegenwart des Bösen. Und all das Böse war verkörpert in der kleinen Person von Kitty Softcover. Unbekümmert goß Kitty die flüssigen Eier in die hellbemalte Porzellanschale. Dann fügte sie die Milch hinzu und verrührte die Mischung. Giles, der inzwischen mit einer Literflasche Sekt zurückgekehrt war, öffnete diese mit einem Korkzieher und stellte sie auf den Tisch. 206
Aus einer zerknitterten, aber prallen Papiertüte nahm Kitty vier Stückchen Hutzucker und warf sie in die Schale. Dann goß sie nach Augenmaß ein Viertelliter Sekt hinzu. »Hier ist die Sektmolke«, sagte sie schnippisch. »Nun trinkt davon!« Mit diesen Worten trat sie zurück. Das Pendel der großen Uhr tickte laut, aber so langsam, daß die Zeit stillzustehen schien. Fentons nächster Schritt war so unerwartet, daß alle zurückscheuten und Lydia die Hand auf den Mund preßte. Er warf Giles die schwere Neunschwänzige Katze zu. Dann hob er mit beiden Händen die bunte Trinkschale auf, setzte sie an den Mund und nahm einen tüchtigen Schluck. Aus seiner Hosentasche zog er das blutbefleckte Taschentuch, mit dem er sich im Wirtshaus zum »Teufel« gesäubert hatte, und wischte sich den Mund ab. »Ich verlange von keinem meiner Dienstboten etwas, was ich nicht selber tun würde«, erklärte er. Sie starrten sich gegenseitig an. Ein solcher Gebieter verwirrte sie nur. Seltsamerweise war es wieder einmal Big Tom, der zuerst verstand. »Gut!« brummte er und zog seine Hosen in die Höhe. Dann griff er nach der Schale. »Nein!« gebot Fenton scharf. »Zurücktreten!« Big Tom gehorchte verdutzt. »Keine andere Person soll davon trinken außer einer.« Er machte eine so gebieterische Geste, daß Kitty zum Tisch rannte. »Los, du Schlampe, trink, wie ich es getan habe!« befahl er. Kitty zögerte. Ihre weitaufgerissen Augen blickten 207
forschend in sein Gesicht. Plötzlich hob sie die Schale, nahm ebenfalls einen tüchtigen Schluck und setzte sie wieder hin. Dann trat sie mit verschränkten Armen an die Vorrichtung, die man im Notfall als Küchenausguß bezeichnen konnte. Dann ist der Trank also nicht vergiftet, dachte Fenton, oder etwa doch? Tick! machte das langsame, schwere Pendel, und nach einer unendlich langen Zeit tack! Fenton war durch den Tisch von Kitty getrennt. Giles stand nicht weit von ihr. Sein Gesicht unter dem hochstehenden roten Haar war fast grün. Fenton wagte es nicht, Lydia anzusehen. »Ich fürchte«, sagte er, »wir müssen etwa fünfzehn Minuten warten, bis sich etwaige Schmerzen zeigen.« Lachend fügte er hinzu: »Nanu, sind euch allen die Kinnbacken gelähmt? So schlimm ist die Sache nicht! Irgend jemand kann doch sicher eine lustige Geschichte erzählen und uns dadurch ablenken, wie?« Big Tom, der sein Schüreisen stets bereithielt, machte wieder einen kolossalen Sprung und tötete eine Ratte. Alle fuhren erschreckt zusammen, und Big Tom schien überrascht und verletzt, als sie ihn wütend anblickten. Nur Lydia lächelte ihm anerkennend zu. Er warf die Ratte in das Abflußrohr hinter Kitty, die sich nicht einmal umblickte. Tick. Eine Pause, die sich dehnte wie ein Gummiband. Tack. Fenton prüfte in Gedanken noch einmal das Beweismaterial. In dieser Schale – davon war er felsenfest überzeugt – , befand sich Arsenik. Judith Pamphlin, die er nicht schätzte, der er aber Vertrauen schenkte, hatte geschworen, daß sie jeden Tag die Zubereitung der Molke überwacht und sie 208
dann zu Lydia hinaufgetragen habe, ohne angehalten oder abgelenkt worden zu sein. Also gut. Dann mußte das Gift unbedingt in einer der Ingredienzen sein, da sich keiner heute daran zu schaffen gemacht hatte. Es sei denn, der Giftmischer habe ein paar Tage ausgesetzt, wie es auch schon vorgekommen war … Fenton ließ seine Augen durch den Raum schweifen. Er blickte zur Uhr auf der Anrichte, auf das Geschirr und die langen Holzlöffel. Ein unbestimmtes Gefühl nagte an ihm, ein Gefühl, daß bei der Zubereitung der Sektmolke etwas unterlassen oder unbemerkt geblieben war. Tick. Und wieder dehnte sich das Gummiband bis zum Tack. Wohl ein dutzendmal wurde er von rein imaginären Schmerzen gefoltert. Noch einmal wanderte sein Blick zur Uhr. Vierzehn Minuten. Dann plötzlich kam ihm ein Geistesblitz; es war, als habe der talggetränkte Zapfen einer Zunderbüchse über seinen Verstand gekratzt. »Ha, ich hab's!« rief er laut. »Daran hat's gelegen!« Er eilte zur Anrichte und holte sich einen der langen Löffel, mit dem er die gelblichweiße Mischung in der Schale gründlich umrührte. Dann blickte er zu Kitty hinüber. »Komm hierher!« Kitty näherte sich dem Tisch wie hypnotisiert. »Nun trink davon!« gebot Fenton. »Nein, du erst!« »Trink, potz Geck und kein Ende! Bis zur Neige!« »Ich will aber nicht!« Fentons rechte Hand fegte zum Degengriff. Zum erstenmal erbleichte Kitty. »Ich werde trinken«, murmelte sie. 209
Fenton trat zurück. Kitty umfaßte die Schale mit beiden Händen und hob sie langsam an die Lippen. Im Handumdrehen machte sie eine halbe Wendung, rannte ein paar Schritte und goß den Inhalt in den Ausguß, wobei die Porzellanschale zerbrach. Kitty stand mit dem Rücken zu den anderen und beugte sich noch weiter vor. »Giles, gib ihr einen Hieb mit der Peitsche!« Die Riemen mit den Stahlspitzen zischten. Fenton empfand keine Skrupel, als sie Kittys Körper trafen. Kleine rote Flecke und Rinnsale zeigten sich auf der Rückseite von Kittys Bluse, bis ihr dickes Haar herabfiel und sie verdeckte. Sie sank mit dem Gesicht nach unten gegen den Abfallhaufen unter dem Ausguß. »Es genügt!« sagte Fenton gelassen. »Bis wir entscheiden, was geschehen soll.« Er trat an die Anrichte und zog die zerknitterte Papiertüte hervor, aus der Kitty den Zucker genommen hatte. Er öffnete sie, und etwa fünfzehn Stückchen Hutzucker fielen auf den Tisch. »Hier steckt das einfache Geheimnis«, sagte er. »Und ich Trottel habe es nicht gemerkt! Ich habe euch gesagt, daß Arsenik ein weißes Pulver ist, ohne jeglichen Geschmack und Geruch. Verstehst du, worauf ich hinauswill, Giles?« »Fürwahr, Sir! Aber…« »Man braucht nur mit wenig Wasser eine dicke Arseniklösung zu bereiten«, fuhr Fenton voller Abscheu fort, »und den Zucker hineinzutauchen, ganz kurz, damit er nicht schmilzt. Das Arsenik wird dann absorbiert, und wenn ein weißer Überzug bleibt, nun, so läßt er sich nicht von der Farbe des Zuckers unterscheiden.« Er konnte die abergläubische Furcht vor Gift in den Augen der Umstehenden 210
lesen, als sie langsam zurückwichen. »Ihr alle habt Kitty bei ihren Verrichtungen beobachtet«, fügte er hinzu. »Als sie die Mischung umrührte – entsinnt ihr euch noch? –, waren nur Milch und Eier in der Schale. Sie hatte noch nicht die vergifteten Zuckerklümpchen hineingeworfen. Später hat sie die Sektmolke nicht mehr umgerührt. Daher…« »Halt, ich hab's!« rief Giles. »Die Zuckerstücke sinken auf den Grund und lassen das Gift noch nicht sofort ausströmen. Ich erinnere mich jetzt: Ihr und das Mädchen habt sofort getrunken, und zwar von der oberen Schicht. Deshalb wurde kein Schaden angerichtet. Das wußte das Mädchen ganz gut.« Fenton nickte. »Giles«, sagte er während er den Zucker wieder in das Papier wickelte, »ich lasse dies in deiner Obhut. Bewahre es gut auf. Ein Dutzend Stücke, auf einmal genommen, könnten sehr wohl den Tod herbeiführen. Hier, nimm es.« »Sir, ich …«, begann Giles, als er zögernd das Päckchen mit dem Zucker in Empfang nahm. Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Nun, Sir«, platzte er heraus, »dies ist eine Sache für den Friedensrichter, dies bedeutet den Galgen in Tyburn!« Kitty, die trotz ihrer Schmerzen immer noch nicht geduckt war, richtete sich mühsam wieder auf und drehte sich um. »So, einem Amtskehr wollt ihr mich übergeben, wie?« schrie sie, einen Ausdruck für Friedensrichter aus der Gaunersprache wählend. »Was ich nicht alles einem Amtskehr erzählen könnte …!« Giles wollte wieder die Peitsche heben. Doch Fentons Hand hielt ihn zurück. Kitty hatte keinen Blick für Fenton oder Giles. Sie blickte 211
unverwandt auf Lydia, und nackter Haß sprach aus ihren Augen. Lydia, eine Frau ihrer Zeit und ihrer Generation, hatte sich nicht weiter aufgeregt über das, was sie sah, hörte oder sogar roch. Jetzt hob sie den Kopf, die Wangen ein wenig gerötet und die Augenlider gesenkt. Sie war durchaus keine herrische Natur und wünschte es auch nicht zu sein. Gegen Kitty hegte sie keinen besonderen Groll wegen des Vergiftungsversuchs. So etwas kam vor; das war nun mal der Lauf der Dinge. Nein, in den Augen unter den gesenkten Lidern lag etwas anderes: eine schaudernde Abneigung gegen die Rivalin. »Wenn du den Diamantring meinst«, sagte sie mit kalter Stimme zu Kitty, »den du mir gestohlen hast…« »Gestohlen?« schrie Kitty. »Euer Mann …« »Du lügst; denn ich habe gesehen, wie du ihn stahlst. Und wahrlich, er gehört mir, da mein Name darin eingraviert ist. Aber, bitte, behalte den Ring. Ich möchte ihn nicht wieder tragen. Selbst ein Ring kann … besudelt werden.« Bei diesen Worten warf Lydia ihrem Mann einen fast anbetungsvollen Blick zu. Fenton war erstaunt. »Teuerster Gemahl«, sagte sie, »ich habe gesprochen, weil ich dazu gezwungen war. Nun macht mit ihr, was Ihr wollt.« Die anderen Dienstboten starrten Kitty haßerfüllt an. Giles nahm den Griff der Peitsche fester in die Hand. Big Tom betrachtete den schweren Feuerhaken und klopfte sich damit auf die Handfläche. Kitty sah sie blitzschnell der Reihe nach an. 212
»Gib ihr…«, begann Fenton und brach angewidert ab. Wie konnte er wissen, was Sir Nick angestellt hatte? »Gib ihr… nein, verdammt noch mal! Ich … ich kann eine Frau nicht peitschen lassen. Laß es gut sein!« »Sir«, sagte Giles, »nicht weit von hier wohnt ein strenger, redlicher Richter namens …« Fenton wehrte ab. »Nein, ich will keinen aufsehenerregenden Skandal, auch keine von euren schmutzigen Galgenszenen. Ob die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt oder nicht, schließlich ist niemand gestorben. Gib ihr… gib ihr ein paar Goldstücke, und setze sie innerhalb einer Stunde auf die Straße. Sie hat einen wertvollen Ring, den sie auf den Wunsch meiner Frau behalten mag. Aber sie darf nicht zurückkehren. Wir haben ja wohl Hunde, nicht wahr?« »Vier Doggen, Sir, die auf den Mann dressiert sind. Whiteboy, der Terrier, hat Räude und kann heute abend keine Ratten jagen.« »Das genügt. Sollte sie versuchen, wieder ins Haus zu gelangen, hetzt die Hunde auf sie. Das wäre alles. Ich wünsche euch gute Nacht.« Er hob den silbernen Kerzenleuchter von der Stufe und leuchtete Lydia die Treppe hinauf. Die vier in der Küche waren sprachlos vor Staunen. Fenton, der in der einen Hand das Licht trug und die andere um Lydia geschlungen hatte, wurde von tausend Qualen heimgesucht. »Ich hätte alles drum gegeben«, gestand er unglücklich, »wenn ich dir diese Szene da unten hätte ersparen können.« Er spürte, wie sie ihn erstaunt ansah. 213
»Aber Nick!« Sie senkte die Stimme zu einem Geflüster. »Da unten habe ich dich gerade aufs höchste bewundert. In einer halben Stunde bist du diesem Giftgeheimnis auf die Spur gekommen. Und – und kein Hausherr in London wäre so milde bei der Bestrafung gewesen.« »Lydia, dieser Ring… ich …« »Still! Ich denke nicht mehr daran.« »Aber ich kann es nicht erklären. Es war nicht mein eigentliches Ich…« »Und bin ich mir dessen nicht bewußt? Ich kenne dich …« Lydia brach ab und grübelte. »Oder kenne ich dich etwa nicht? Seltsam! Doch der eine Nick, den ich bis zum Wahnsinn liebe, ist der, dem ich gestern abend und heute morgen und an diesem Abend begegnet bin. Du bist so … ach, nein, ich kann's nicht sagen.« »Es bedarf auch keiner Worte.« Lydia blickte sich verstohlen im Flur um, als sie vor ihrer Tür standen. Es war, als halte sie Ausschau nach einer lauernden Judith Pamphlin. »Nick«, flüsterte sie, »ich brauche doch heute abend keine Zofe, nicht wahr? Dieses Gewand ist ganz leicht aufzumachen, und das übrige … nun!« Lydia errötete heftig, aber ihre Augen strahlten, als sie hastig fortfuhr: »Nick, Nick, müssen wir unbedingt erst noch zu Abend essen?« »Nein! Nein! Nein!« Und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß. Im Hause erloschen bald alle Lichter. Lydia und Fenton konnten ihre Leidenschaft nicht länger eindämmen. Sie verbrachten eine maßlos wilde, ungestüme 214
Nacht. Einmal kam Fenton flüchtig der Gedanke, daß dieses Puritanergeschöpf mehr Erfahrung besaß als die meisten anderen Frauen. Ganz kurz verwünschte er seine zweite Seele, die an Meg hing, aber bald vom Gefühl für Lydia überschwemmt wurde. Im Morgengrauen, als beide gerade in einen erschöpften Schlaf sinken wollten, umklammerte Lydia ihn leidenschaftlich und brach in heftiges Schluchzen aus. Er schwieg, und bald darauf war sie eingeschlummert. Nach einer Weile schlief er ebenfalls ein. Draußen in dem Rankenwerk zirpten die Vögel. In das Grau des Himmels mischte sich ein geisterhaftes Weiß. Und so glitten die beiden Menschen aus dieser Nacht in eine von Glück erfüllte Zeit.
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XI In den ersten vierzehn Tagen seines neuen Lebens, während sich das Grün der Blätter in der warmen Maisonne vertiefte, lernte Fenton so mancherlei. Er lernte, die Speisen dieses Jahrhunderts zu essen, hauptsächlich Fleisch mit dicken, fetten Saucen, die er dank seiner jugendlichen Verdauung genießen konnte. Kartoffeln, Eier, Fisch und guten Käse gab es in Massen. Niemand, stellte er mit Vergnügen fest, plagte einen, aus Gesundheitsgründen Gemüse zu essen. Also strich er es von seinem Speisezettel. Er lernte es, zunächst einmal ein Liter des schwersten Weines zu trinken, ohne einen Rausch zu bekommen oder auffällig zu lallen. George Harwell staunte über seine Nüchternheit und verwünschte ihn als einen Tugendbold. Das Tabakrauchen war leichter. Obwohl der Rauch aus einem Tonkopf beißender ist, so war der Virginiatabak doch besser, als er erwartet hatte. Er kroch den langen Stiel herauf und wirkte beruhigend, ohne den Gaumen zu ätzen. Big Tom konstruierte je eine Zahnbürste für ihn und Lydia nach einem Muster, das Fenton auf ein Stück Papier zeichnete und sechsmal sorgfältig erklärte. Aber dies kam erst später. Es muß leider gesagt werden, daß seine offizielle Anordnung im Haushalt Tumult und beinahe einen Aufruhr verursachte. Dieser Tumult brach am 13. Mai aus, einen Tag nachdem er Sir John Gilead aufgesucht hatte, um mit ihm über den halb mit Kloakenwasser angefüllten Keller zu 216
reden. George, der am Abend zuvor zum Essen erschienen war, erklärte ihm die Sache. »Mein Güte!« rief George. »Wo steckt denn da die Schwierigkeit? Eine kleine Bestechung. Weiter nichts.« Fenton, mehr Historiker als Haushaltungsvorstand, wollte sich gewisse Dinge bestätigen lassen, die ihm von seinen Studien her bekannt waren. »Ich muß also jeden bestechen?« »Nicht die Ladenbesitzer oder Händler, meiner Treu! Aber wenn es sich um eine Gunst, eine höhere Stellung oder eine Arbeit handelt, die einem Verwaltungsbüro unterliegt, na, dann laß deinen Geldsack auf den Tisch plumpsen, und damit basta!« »Mit anderen Worten also: ein ganz anständiger Brauch, wie?« »Für alle, die nicht gar zu gewissenhaft sind, ja.« George zuckte die Achseln. »Mein Vater… hm! Wir wollen lieber keine Namen nennen. Jedenfalls werde ich dir verraten, wie man mit Sir John Gilead redet.« Sir John Gileads Büro lag im Schatzamt auf der Westseite der King Street. Von dem kleinen, nach hinten liegenden Raum hatte Fenton einen Blick auf ein Haus mit roten Ziegelwänden und weißgestrichenem, abgeflachtem Spitzdach, das sich lebhaft von dem hellen Grün in St.James-Park abhob. Dort wohnte Mylord Schatzkanzler, der Graf von Danby. Fenton erfuhr zu seiner Überraschung, daß sowohl Sir Nicks Vater als auch Sir Nick selbst eng mit dem Schatzkanzler befreundet waren, der ein Finanzgenie und selbst ein Meister in der Bestechungskunst war, 217
wenn es galt, Parlamentsmitglieder für die Hofpartei zu gewinnen. Hierdurch erklärte sich zweifellos die große Höflichkeit, mit der Sir John Gilead Fenton willkommen hieß und ihm zuhörte. »Und das ist mein Problem«, schloß Fenton und nahm aus einem großen Lederkoffer am Boden einen mit Goldstücken gefüllten und oben fest zugeschnürten Segeltuchsack, der weit mehr Geld enthielt, als sein Projekt erforderte. Gleichgültig legte er den Sack auf den Tisch. »Hm!« sagte Sir John und legte gewichtig einen Finger an seine Lippe. »Da fällt mir tatsächlich ein guter Plan ein.« Es skizzierte dann einen Plan, wonach ein Rohr unter Fentons Hintergarten und der tiefliegenden Gartenmauer hergeleitet werden sollte, so daß das Kloakenwasser unter den zur Mall führenden Terrassen »absickern« würde. »Potz Geck!« rief Fenton, der sich den Ausdruck von George angeeignet hatte. »Dies erscheint mir nicht gerade zweckmäßig. Der Gestank wird allen in die Nase steigen, besonders Seiner Majestät, wenn er in seinem eigenen Park promeniert. Und was passiert, wenn das Wasser die Mall erreichen sollte?« »Zweifellos ergeben sich Schwierigkeiten.« »Was haltet Ihr von meinem ersten Plan, eine dreihundert Meter lange Leitung zu einem Hauptabzugskanal zu legen?« »Das wäre kostspielig, mein lieber Herr. Sehr kostspielig.« Fenton langte abermals in den Koffer am Boden, holte einen zweiten Segeltuchsack hervor, der noch etwas
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größer war als der erste, und legte ihn ebenfalls auf den Tisch. »Hm!« meinte Sir John, scheinbar ohne davon Kenntnis zu nehmen. »Nun, mein Herr«, fügte er nach einer Weile hinzu, »nach reiflicher Erwägung bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß sich die Sache machen läßt.« Er erhob sich und strahlte Fenton durch seine Brillengläser an. »Und für einen Freund von Mylord Danby, dem obersten Minister des Königs, soll die Sache unverzüglich in Angriff genommen werden.« Und so geschah es; gleich am nächsten Morgen. Am selben Morgen kehrte Fenton in seinem braunen, mit scharlachrotem Mohn bestickten Schlafrock ziemlich früh aus Lydias Zimmer in sein eigenes Gemach zurück. Sein Gang war federnd; seine Augen strahlten, und aus seiner Haltung sprach feste Zuversicht. »He, Frechdachs!« bellte er Giles an, wobei er allerdings lächelte. »Vom heutigen Tage an weht ein frischer Wind durch dieses alte Gemäuer.« »Wollt Ihr, daß ich die Betten umstelle, Sir? Es wäre doch bequemer, wenn …« Fenton brachte ihn zum Schweigen und erklärte, daß er, Giles, ausgehen müsse, um die beste Badewanne zu kaufen, die für Geld zu haben sei, selbst wenn sie eigens angefertigt werden müsse. Sie sollte groß und nach Möglichkeit mit Porzellan ausgeschlagen sein. Dann sollte sie in diesem Stockwerk installiert werden, und zwar in einem Raum, aus dem sämtliche Möbel außer ein paar
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Stühlen zu entfernen seien und der künftighin schlichtweg als Badezimmer bezeichnet werde. Giles machte gewisse Bemerkungen, und Fenton warf ihm einen schweren Reitstiefel an den Kopf. Aber das war noch nicht alles. In einem Nebenraum der Küche sollte auch eine Badewanne für die Dienstboten aufgestellt werden. Nur ein Bad in der Woche sei erforderlich. Dies verursachte eine wahre Revolte unter der Dienerschaft, zu der sechs Personen gehörten, die er noch nie gesehen hatte. Er konnte nicht verstehen, warum sie sich so heftig sträubten. Zweimal schickte er Giles als Abgesandten zu ihnen, um nach ihren Gründen zu fragen. »Sir, sie sagen, es sei ein unsauberer Brauch.« »Unsauber?« »Ich kann nur wiederholen, was sie gesagt haben, Sir.« Durch einen Gegenzug brach Fenton ihren Widerstand. Ein guter Hausherr bewilligte seinen niedrigeren Dienstboten jährlich einen Mantel, einen Anzug oder ein Kleid. Fenton bot ihnen nun zwei Anzüge im Jahr und außerdem einen Sonntagsanzug. Die Dienstboten, die diesen neuen Sir Nick verehrten, weil er nicht duldete, daß sie mißhandelt wurden, gaben ihre Zustimmung jedoch nur unter gewissen Bedingungen. »Sir«, meldete Giles, »unter Ächzen und Stöhnen haben sie sich dazu bereit erklärt, ein Bad zu nehmen, aber nur einmal im Monat. Euch zu Gefallen wollen sie hingegen jede Woche die Unterwäsche wechseln und das saubere Linnen anziehen, das Ihr ihnen versprochen habt.« 220
»Topp!« sagte Fenton sofort, und so wurde die Angelegenheit geregelt, ohne daß selbst die Nachbarn etwas davon erfuhren. Denn Sir Nick hatte wenige Freunde, da die meisten ihn für einen griesgrämigen, blutrünstigen Kerl hielten. Das Bad im oberen Stock wurde als erstes eingerichtet. Da es nicht möglich war, eine Pumpe zu installieren, schleppte Big Tom täglich eimerweise das heiße Wasser nach oben. Und wie stellte sich Lydia dazu? Die Vorstellung eines täglichen Bades brachte sogar sie zunächst ein wenig aus der Fassung. Fenton war sich bewußt, daß er – allerdings mit der äußersten Vorsicht – die unsinnigen Ideen ausrotten mußte, die man ihr durch ihre Erziehung eingepflanzt hatte. Mit Hilfe seiner Kenntnisse von lateinischen sowie französischen Autoren des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts machte er sie darauf aufmerksam, daß ein Bad nicht nur den Zwecken der Reinlichkeit zu dienen brauche, wenn zwei Personen es teilten. Sie war im Glauben erzogen, daß zu vieles Waschen der Gesundheit nicht zuträglich, sondern ebenso schädlich wie die Nachtluft sei, und außerdem eine Sünde, da es den Körper enthüllte. Aber als Fenton ihr gewisse Dinge erklärte, änderten sich ihre Gefühle im Handumdrehen. Er war jetzt geradezu vernarrt in sie und hatte auch alle Ursache dazu. Es schien ihm, als sei eine Ewigkeit vergangen seit der Nacht ihrer ersten Begegnung, als sie mit ihrem von Schminke entstellten Gesicht und glanzlosen Augen vor ihn hintrat. Tag für Tag konnte er die Veränderung beobachten, die mit ihr vorging. Ihre Augen waren 221
jetzt strahlend blau und funkelten vor Heiterkeit. Ihr hellbraunes Haar wurde weicher, üppiger und glänzender, seitdem das Arsenik aus den Haarwurzeln verschwunden war. Ihre blasse Haut hatte die rosaweiße Tönung angenommen, die von strotzender Gesundheit zeugt. Ihr ganzes Wesen hatte sich verwandelt. An einem klaren blauen Nachmittag, als die Linden in der Pall Mall in üppigem Blätterschmuck prangten, ritten Lord George Harwell und Mr. Reeve auf guten Pferden bei Fentons Haus vor. Sobald die Tiere in den Stall gebracht waren, führte Fenton seine Gäste in das lange, dunkle Speisezimmer, wo viele auf Holz gemalte Bilder von Nicks Vorfahren hingen. Eines der schönsten war ein Porträt von Sir Nicks Vater, dessen Küraß und Schwert darunter aufgehängt waren. Fenton nahm an, daß es dem alten Kavalier gefallen werde, und darin hatte er sich nicht getäuscht. Mr. Reeve stand ehrerbietig davor und nahm seinen breitkrempigen Hut ab. George, der sich einen Stuhl an der langen Tafel hervorzog und Platz nahm, kam sofort zur Sache. »Nick«, fragte er, »weißt du, was für einen Tag wir heute haben?« Fenton wußte es sehr wohl. Das Datum jedes Tages notierte er in einem Buch, das er in der Schublade seines Schreibtisches verschlossen hielt. Obgleich er hoffte, daß durch Kittys Entlassung Lydia allen Gefahren entronnen sei, spürte er im Herzen, daß dies eine Illusion war. »Heute haben wir«, entgegnete er, »den 19. Mai.« »Hast recht!« stimmte George zu und klopfte mit der Hand auf den Tisch. »Heute morgen wurde Mylord Shaftesbury schmachvoll aus dem Rat Seiner Majestät 222
entlassen und aus London beordert. Genau, wie du es prophezeit hast.« Fenton blickte auf den polierten Tisch hinab. »Na und?« sagte er. »Die Nachricht«, erwiderte George, »ging wie ein Lauffeuer durch alle Wirtschaften und Kaffeehäuser. Nick, hörst du nicht das Zungengedresche derer, die das grüne Band tragen?« »Ich kann's mir vorstellen. Aber worauf willst du hinaus?« Zögernd senkte George den Kopf, wobei die gelbe Feder auf seinem roten Hut auf und ab wippte. »Nick, du gehst so selten in Gesellschaft. Wer sieht dich je beim Hofball in Whitehall oder in einem der anderen großen Häuser? Wer trifft dich woanders als in einer stinkigen Kneipe oder über den Büchern in deinem Studierzimmer? Und doch bist du ein so wunderbarer Degenfechter. Und doch erscheinst du plötzlich im letzten November als Redner und fesselst das Parlament wie ein Schauspieler sein Publikum. Und doch sagst du haargenau auf den Tag die Zukunft voraus!« »Ich wiederhole, George, wozu dies alles?« George würgte verlegen, während ihm unter seiner Perücke der Schweiß ausbrach. »Manche Narren nennen dich einen finsteren Hund, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat…« Fenton blickte ihn seltsam an. »Nun wollen wir mal offen reden«, schlug George vor. »Wenn man auch arme verrückte Geschöpfe henkt, weil das Gesetz es noch verlangt, so wissen verständige Leute doch, daß dieser Geister- und Hexenspuk ein törichtes Hirngespinst unserer Altvordern ist.« 223
»Ja, und selbst wenn dem so ist?« »Potz Geck! Die Sache liegt doch klar auf der Hand! Nick, du steckst eben tief im Vertrauen Seiner Majestät. Es ist ganz natürlich, daß du es vorher wußtest.« »George, das ist nicht wahr.« George warf ihm einen flüchtigen Blick zu und spielte mit seinem Reithandschuh. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Manche behaupten«, murmelte er, »daß ein unterirdischer Tunnel von deinem Haus zum WhitehallPalast führt und dies der Grund ist, warum man dich dort nicht sieht.« George hielt inne und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Nick, verzeihe mir, ich will nicht spionieren.« »Es gibt auch nichts zu spionieren, alter Freund. Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, daß ich nie ein Wort mit Seiner Majestät gewechselt habe, und ich bin ebensowenig fähig, die Zukunft zu weissagen, wie du selber!« »Na, wenn du das sagst«, entgegnete George erleichtert, »glaube ich es dir. Und damit basta! Außerdem kann dir jetzt, wo Mylord Shaftesbury von London fort ist, noch keine Gefahr drohen …« »Gefahr? Was für eine Gefahr?« »Potz Geck! Meine vermaledeite schwatzhafte Zunge! Na, meinetwegen. Ich will's dir sagen. Entsinnst du dich noch deiner anderen Prophezeiungen im Green-RibbonKlub?« »Es war irgendein Unsinn. Ich hab's vergessen.« »Die anderen aber nicht, Nick. Sie behaupten, du habest prophezeit, daß die Papisten bald einen großen, blutigen 224
Aufstand machen, uns die Kehlen abschneiden und London in Brand stecken würden.« Fenton stand langsam auf. Zuerst tobte und fluchte er. Dann ging er im Zimmer auf und ab, um Sir Nicks Drängen, die Oberhand zu gewinnen, im Keim zu ersticken. »Solche Worte habe ich nicht gesprochen«, erklärte er schließlich in ruhigem Ton. »Die anderen behaupten ja genau das Gegenteil von dem, was ich gesagt habe. Ich habe von einer Verschwörung gegen unschuldige Katholiken geredet, von denen viele eines blutigen Todes sterben würden.« Der alte Mr. Reeve wandte zum erstenmal den Blick von dem Porträt und dem darunterhängenden Küraß ab. Sein aufgedunsenes Trinkergesicht wirkte unter dem weißen Haar grotesk. »Ich kann das bezeugen«, erklärte er. »Ebenfalls Lord George Harwell. Aber wer von den anderen?« Er setzte sich auf einen Stuhl und richtete seine listigen alten Augen auf Fenton. Seine lange Degenscheide rasselte auf dem Fußboden. »Diese Nachrichten, die George Harwell brachte, stammen zum größten Teil von mir. Ich bin ein Horcher, wie man sagt, ein gedungener Spion, der jetzt allerdings von Mylord Shaftesburys Partei enthüllt dasteht. Aber habt Ihr, mein junger Freund, schon mal über die Bedeutung dieser Dinge nachgedacht?« »Nein, ich …« Die entzündeten Augen waren immer noch mit sanftem, aber durchdringendem Ausdruck auf Fenton gerichtet. »Als 225
Ihr in dem Raum da oben Mylord Shaftesburys Schicksal und Absichten aufdecktet«, fuhr Mr. Reeve fort, »waren alle über die Maßen vexiert, und ihre Gedanken gerieten in Verwirrung. Sie erinnern sich gut an den 19. Mai, da Ihr dieses Datum Mylord so oft unter die Nase gerieben habt. Aber woran können sie sich sonst erinnern? Selbst der ehrlichste Mann ist im benebelten Zustand seiner Sache nicht sicher. Kurz gesagt, sie haben eben das gehört, was Mylord Shaftesbury ihnen eingeredet hat. Und wenn Ihr, wie er behauptet, einen blutigen Papistenaufstand prophezeit habt – nun, dann liegt's auf der Hand, daß Ihr selbst darin verwickelt seid, vielleicht gar als ein Führer von Meuchelmördern. Weshalb sollte nicht auch Seine Majestät in den Plan eingeweiht sein? Mein guter Freund, wenn Mylord Shaftesbury schon stark genug wäre – ich bin überzeugt, daß dies nicht der Fall ist –, dann hättet Ihr einen Bürgerkrieg heraufbeschworen!« Fenton ging immer noch unruhig im Zimmer auf und ab. »Das ist doch nicht Euer Ernst?« bemerkte er ironisch. Mr. Reeves Bacchusgesicht zeigte einen Ausdruck verdutzten Unwillens. »Sir Nicholas«, sagte er, »merkt Ihr denn nicht, welches Verbrechen man Euch aufhalsen will?« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Hochverrat! Wollt Ihr Euch den Tower von innen besehen?« Fenton blieb stehen und wandte sich ihm zu. »Ich – ich bin mir der Gefahr nicht unbewußt«, protestierte er. »Aber Eure Nachricht kommt so plötzlich und ist so beunruhigend, daß … daß …« 226
»Nun, das klingt schon besser! Man hätte denken können, Ihr kümmertet Euch keinen Pfifferling darum.« »Was soll ich aber tun?« »Nun, folgendes«, sagte Mr. Reeve lächelnd und trommelte leise mit den Fingern auf den Tisch. »Wenn Ihr uns heute die Wahrheit gesagt habt, ist die Sache ganz einfach. Ersucht um eine Privataudienz bei Seiner Majestät, was durchaus keine Schwierigkeiten bietet…« Hier hielt er etwas verlegen inne, weil er nie in seinem eigenen Interesse davon Gebrauch gemacht hatte. Doch er setzte sich rasch darüber hinweg. »Sagt dem König, falls er es nicht schon weiß, daß Ihr nur Euren Verstand gebraucht und durch einen Zufall das richtige Datum getroffen habt. Erklärt ihm, daß Mylord Shaftesbury Euch zweimal Raufbolde auf den Hals gehetzt hat und Ihr seiner Aufmerksamkeiten überdrüssig geworden seid. Sagt Seiner Majestät genau, was Ihr in Wirklichkeit geäußert habt, als Ihr Eure übergeschnappten Prophezeiungen verkündetet, um Mylord gleichsam mit einem ungeheuren Schreckgespenst in Angst zu versetzen. Vor allem …« George konnte nicht länger an sich halten. »Vor allem«, platzte er heraus, »warum du die kühne Behauptung aufstelltest, daß dieses ›papistische Komplott‹ in drei Jahren geschmiedet würde. Die Green-RibbonLeute behaupten, du habest ›in drei Monaten‹ gesagt. Du mußt erklären, es sei alles erlogen.« Mit einer stattlichen Geste brachte ihn Mr. Reeve zum Schweigen. 227
»Das ist alles, was Ihr zu tun habt«, sagte Mr. Reeve lächelnd. »Seine Majestät muß Euch gut gesonnen sein. Er war, wie ich höre, in der ›Gemalten Kammer‹, als Ihr gegen Shaftesbury gewettert habt. Erzählt ihm alles, und er wird über die anderen lachen … wenn ihm überhaupt nach Lachen zumute ist.« Eine geraume Weile stand Fenton mit festgeschlossenen Augen regungslos da, während seine Hände die hohe Lehne eines Stuhles umklammert hielten. So viele Gedanken stürmten ihm durch den Kopf, daß er ganz verwirrt war. Doch über eines war er sich im klaren. Er machte die Augen auf. »Sir«, wandte er sich an Mr. Reeve. »Dies ist ein Ding der Unmöglichkeit.« »Wieso?« »Das wage ich nicht zu erklären.« »Wiederum muß ich Euch leise daran erinnern: möchtet Ihr im Tower schmachten?« »Ja! Lieber als im Irrenhaus unter jaulenden Wahnsinnigen! Dort würden sie mich nämlich hinbringen. Außerdem …« »Wir hören, Sir Nick.« »Mein ganzes Leben lang habe ich mich mit Leib und Seele dem Studium der Geschichte gewidmet – so seltsam es in Euren Ohren klingen mag. Mir selbst erscheint es merkwürdig. Aber ich will nicht darüber spotten oder meinen Spaß damit treiben.« »Sir Nick, was für ein wirres Zeug schwatzt Ihr da?« 228
»Jedes Wort, das ich zu Shaftesbury sagte, ist wahr. Ich prophezeie nicht; ich weiß es. Wollt Ihr das genaue Datum hören, an dem der König die erste Nachricht von der mythischen ›Papistenverschwörung‹ erhält? Nun, ich will's Euch sagen: es ist der 13. August 1678.« George sprang auf die Füße; Furcht und Schrecken malten sich in seinem Antlitz. Doch der alte Mr. Reeve saß ruhig wie ein geduldiger Schulmeister da und zupfte an dem schmalen Büschel seines weißen Spitzbartes. Selbst seine rauhe, gesprungene Stimme blieb leise, als er sagte: »Als Ihr mir vor einer Weile gütigst das Porträt zeigtet, habt Ihr wohl nicht angenommen, daß ich es erkennen würde. Ihr glaubtet sicher, ich würde nur einen alten Kavalier wie meinesgleichen darin sehen, wie?« »Nun!« log Fenton, der spürte, daß sein Verstand jetzt von einer anderen Seite her auf die Probe gestellt wurde. »Ich erinnere mich, daß Ihr ein Freund meines Vaters wart. Doch als wir uns an jenem Abend im Wirtshaus zum ›Königshaupt‹ begegneten, schient Ihr mich nicht zu kennen.« Mr. Reeves Augenlider senkten sich. »Euch nicht zu kennen?« wiederholte er, und sein Blick wanderte in die Ferne. »Mein Junge, ich ritt Seite an Seite mit Eurem Vater in der Schlacht von Naseby. Prinz Rupert führe uns. Wir zerschlugen die feindliche Linie wie der Blitz einen morschen Baum … Aber das sind alte Geschichten«, fuhr er fort, »und letzten Endes haben wir die Schlacht verloren. Mein Junge, ich sah, wie das Schwert Eures Vaters, das dort an der Wand hängt, einen Hummerschwanzhelm spaltete. Am Abend, als alles vorüber war, schlichen wir zusammen abseits der 229
Lagerfeuer umher und sahen, wie die Rundköpfe unseren Marketenderinnen die Nasen aufschlitzten …« Wiederum hielt er mit einem Ruck inne. »Genug davon! Aber sollte ich etwa kein Interesse für den Sohn meines Freundes haben? Was für eine seltsame Krankheit Euch befallen hat, weiß ich nicht. Aber wenn Ihr Euch nicht selber helfen wollt, werde ich es tun, das schwöre ich!« Jetzt verlor George vollständig den Kopf. »Ihr?« rief er mit einem verächtlichen Blick auf die geflickte, armselige Kleidung des alten Mannes. »Ihr verbrauchter Säufer? Soldat und dennoch Spion? Wie könnt Ihr jemandem helfen?« Dieser Ausbruch verletzte Mr. Reeve so, daß er seine übliche Zurückhaltung vergaß. Langsam schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Ich bin der Graf von Lowestoft«, sagte er, und seine Stimme klang mit schrecklicher Klarheit durch den stillen Raum. Er bückte sich nach seinem uralten Hut und richtete sich wieder auf. »Es ist mein angestammter Titel seit zwölf Generationen. Schurken mögen meinen Titel und meinen Besitz geraubt haben. Dennoch gehören sie mir.« Seine starke Stimme stockte und stammelte. »Ich fürchte sehr, mein junger Herr, daß alles andere, was Ihr sagtet, wahr ist. Aber es gibt noch einige, die sich an mich erinnern.« Wiederum tastete er in dem tiefen Schweigen, das diesen Worten folgte, nach seinem Hut und fand ihn schließlich. Und jetzt passierte etwas, was den alten Mann entsetzte: Die Tränen traten ihm in die Augen und drohten die 230
Wangen hinabzurollen. »Mit Verlaub«, sagte er und wandte hastig den Kopf zur Seite. »Ich muß Abschied nehmen.« Fenton legte den Arm um seine Schultern und klopfte ihm verlegen auf den Rücken. »Mylord«, sagte er mit so tiefer Höflichkeit, daß dem alten Mann fast wieder die Tränen kamen, »gestattet mir, Euch hinauszubegleiten. Die Sache mit Eurem Titel und Besitz soll geregelt werden, das verspreche ich Euch! Ob durch das Gesetz oder das Schwert- sie wird ins reine gebracht!« »Ach nein, bemüht Euch nicht. Ich bitte Euch! Doch ist es die Wahrheit, daß ich Euch helfen kann. Ich selbst gehe nie an den Hof. Aber ich habe Freunde, die Söhne und Enkel von Freunden. Sie sagen mir alles, was vom Parlament bis zum Ratszimmer geflüstert wird. Ihr sollt alles hören, damit Ihr auf der Hut sein könnt.« George, der wohl wußte, daß der alte Bacchus ein Mann von Rang gewesen war, und ganz unüberlegt seine Worte herausgesprudelt hatte, wurde jetzt arg von Gewissensbissen geplagt. »Halt!« rief er. »Ich wollte Euch nicht verletzen!« »Und glaubt Ihr denn«, sagte der Achtzigjährige, der inzwischen seine Tränen gemeistert hatte und wieder lächelte, »ich hätte das nicht gewußt? Ihr seid jung, mein Freund, und verachtet alles Schwache. Ei ja, ich will dennoch mit Euch reiten. Laßt mich nur ein wenig vorgehen. Es fällt mir manchmal etwas schwer, in den Sattel zu kommen, und dessen soll nur ein Stalljunge 231
Zeuge sein.« Mit einem »Gott sei mit Euch« stapfte Jonathan Reeve, Graf von Lowestoft, Vicomte Stowe, schwerfällig aus dem Zimmer, wieder den Tränen nahe, aber so stolz, als ob er zu einem Treffen mit Prinz Rupert eilte. Fenton hielt den schuldbewußten und ganz zerknirschten George mit einer heftigen Geste zurück. »Und wer bist du«, fragte Fenton, »daß du dir das Recht anmaßt, jemand einen verbrauchten Säufer zu nennen?« »Nick, ich habe wild dahergeredet… in deinem eigenen Interesse, weil du die Gefahren nicht sehen wolltest und wie ein Tollhäusler sprachst!« »Na schön, lassen wir die Sache ruhen«, entgegnete Fenton. »Aber neulich bei unserer Zecherei im ›Schwan‹ hast du geschworen, Meg aufzusuchen und sie mit honigsüßen Worten zu entführen.« »Nick, ich wollte mir nur Mut antrinken und bin dabei einen Schritt zu weit gegangen.« Fenton biß sich auf die Lippe. »Ich … die Sache ist nicht von Wichtigkeit… aber hast du dich seitdem mit ihr in Verbindung gesetzt?« »Ei ja, am nächsten Tag. Hab's ganz vergessen, dir zu sagen. Du erinnerst dich wohl noch an diese Memme, diesen bemalten Riesen, diesen Schmarotzer, Captain Duroc, dem du eine solche Ohrfeige versetztest, daß er über das Geländer sauste und die Treppe hinunterfiel. Nun, der Zapfkellner hatte recht. Der Mann hatte sich in der Tat das linke Bein gebrochen und liegt seitdem immer noch bei 232
dem Wundarzt in Brettern und Verbänden, tobend und fluchend, aber noch nicht geheilt.« »Und Meg?« »Meg sitzt allein in seiner Wohnung – eine feine Wohnung, wie ich höre, mit einer Madam Soundso als Anstandsdame – und freut sich ihres Lebens. Ich schickte ihr ein paar Zeilen und bat, ja, flehte um eine Unterredung. Sie aber erwiderte, daß sie nur einen Mann zu empfangen bereit sei…« »Captain Duroc?« »Nein, dich«, knurrte George, und seine Miene verfinsterte sich. Wenn er nicht eine so ehrliche Haut gewesen wäre, dachte Fenton, hätte George ihn vielleicht gehaßt. »Ich werde nicht mehr um sie herumscharwenzeln«, fuhr George fort. »Es sind tausend leichte Mädchen zu haben, wenn man ihnen ein hübsches Haus mietet und ein paar Kleider schenkt. Aber, Nick, Nick! Laß dir einen Rat geben!« »Ich bin begierig, ihn zu hören, George.« »Du bist so übermäßig verliebt in Lydia! Du verbringst so viel Zeit mit ihr im Bett, daß es ein wahres Wunder ist, daß du noch die Kraft hast, ein Messer bei Tisch zu halten. Ich will nichts gegen Lydia sagen, aber hüte dich vor deinen Feinden. Mylord Shaftesbury wird die Stadt verlassen, aber nicht für immer. Du verlierst mitunter deinen Verstand, wie ich soeben mit meinen eigenen Ohren gehört habe. Sieh zu, daß du nicht auch dein Geschick im Degenfechten einbüßt.« Und George stapfte schnaubend davon. »Dein Geschick im Degenfechten.« 233
Fenton war sich der lauernden Gefahren durchaus bewußt, und ein Gedanke spukte ihm dauernd im Kopf herum: er war es nicht gewohnt, mit einem richtigen Degen umzugehen. Früher oder später mußte er kämpfen. Wie lange würde ihm seine allerdings gründliche Erfahrung mit einem federleichten Florett gegen eine schwerere, von geschickter Hand geführte Waffe helfen? Das mußte er ausprobieren. Daher ließ er sich am selben Abend, als er an der Mauer seines Hintergartens stand und auf den Park hinausblickte, Giles Collins herbeiholen. Wenn ich mich nicht darauf verstehe, dachte Fenton, muß ich es irgendwie lernen. Irgendwie! Der Garten war sehr breit und lang und hatte kurzgeschnittene Rasenflächen. Von den Stallungen war er durch hohe Eibenhecken getrennt. Ein schattiger Pfad führte draußen an der Mauer entlang, und von dort senkten sich grasbedeckte Terrassen zu dem rötlichgelben Fahrweg der Mall. »Ihr wünschtet mich zu sehen, Sir?« ertönte Giles' Stimme hinter ihm. Fenton fuhr leicht zusammen und drehte sich um. »Aus gewissen Bemerkungen, die du geäußert hast, Rotkopf«, sagte Fenton, »möchte ich wohl schließen, daß du ein guter Degenfechter bist oder warst. Stimmt's?« »Sir, ich zählte mich – und tue es auch heute noch – zu den besten Fechtmeistern.« »Das ist gut. Denn ich habe im Sinn, mir ein wenig Übung zu verschaffen…« 234
In Giles' Augen erschien ein freudiges Leuchten, das aber sehr bald wieder erlosch. »Sir, das hat schon mancher erwogen. Aber es läßt sich schlecht durchführen. Wenn man große Korke auf die Degen steckt, so fliegen diese beim Fechten ab oder werden von der Spitze durchbohrt. Macht man die Spitze stumpf, indem man sie mit recht viel weichem Material umwickelt und dieses festleimt, dann wird das Spiel schlecht und schwerfällig. Ein hölzerner Degen …« »Was meinst du zu einem Brustharnisch?« erkundigte sich Fenton. »Brustharnisch?« »Ja! Es sind doch gewiß noch viele alte Brustharnische in der Rumpelkammer vorhanden. Allerdings dürfen wir nur auf die Fläche zwischen Schultern und Taille stoßen, doch …« »Bei Gott, Sir, hört auf damit!« rief Giles ein wenig erregt. »Ganz abgesehen davon, daß die Spitze sich abstumpfen oder der Degen an der Stahlplatte gar zerbrechen könnte …« »Dann schleifen wir eine neue Spitze oder kaufen eine neue Klinge!« »Nein, Sir, das ist nicht das Schlimmste. Die Klinge kann beim Auftreffen abrutschen. Selbst wenn wir eine Halsberge tragen« – hier fuhr sich Giles nervös mit dem Finger über die Kehle –, »mag die Spitze nach oben in die Kehle oder ins Gesicht dringen. Oder in den Arm. Oder« – hier zogen sich seine Mundwinkel melancholisch herab – »gar nach unten, mit dem allerunseligsten Resultat.« 235
»Giles, ich befehle dir, hol die Brustharnische! Ich habe hier meinen Clemens-Hornn-Degen; wähle du dir von meinen Klingen irgendeine, die dir gefällt.« Giles zögerte ein wenig, dann aber verbeugte er sich und eilte davon. Sie entdeckten bald mehrere leidlich saubere und polierte Brustharnische, die ihnen paßten. Unter dem allmählich verblassenden gelben Abendhimmel stand Giles mit dem Rücken zu der hohen, dichten Hecke, die den Stallhof einfriedete. Die glänzende Brustplatte wirkte auf Giles' dunkler Kleidung reichlich grotesk. Er hatte eine ebenso lange und schwere Klinge gewählt wie Fenton, nur besaß seine Klinge ein rundes, gewölbtes Stichblatt aus feingeschmiedetem Stahl. Der kurzgeschnittene Rasen unter ihren Füßen war fest. Kein Laut war zu hören, nicht einmal vom Stallhof her. Auf einmal ertönte Giles' Stimme, mit einem seltsam scharfen Klang, den Fenton noch nie darin vernommen hatte. »Sir, ich möchte Euch warnen. Von dem Augenblick an, wo wir fechten, sind wir nicht mehr Herr und Diener. Ich werde unbarmherzig zustoßen, sooft ich kann.« Fenton spürte eine große Trockenheit in der Kehle, und sein Herz schlug heftiger als in dem Augenblick, wo er Mylord Shaftesbury gegenüberstand. »Topp!« sagte er. Es gab noch keinen formalen Fechtgruß mit Kreuzen der Klingen. Die Kämpfer gingen mit tastenden Degen aufeinander zu. Giles, der sehr rasch auf den Füßen war, machte sofort einen Ausfall, und zwar eine niedrige Terz. Als Fenton die Klinge dicht an seinem Stichblatt abfing und mit der Hand nach links fegte, gab er seinem 236
Handgelenk ganz mechanisch eine kleine Wendung, um Giles' Klinge weiter fortzuschlagen. Dann kam Fentons Gegenstoß, eine Quart, in die Herzgegend. Die Spitze traf mit dumpfen Laut auf Stahl, und zwar genau auf den Punkt, den er gewählt hatte. Gleichzeitig bog sich seine Klinge und glitt seitwärts ab, ohne jedoch Giles' Arm zu berühren. Fenton hatte kaum Zeit, den Gegenstoß zu parieren. Nicht übel, dachte er. Gar nicht übel. Ruhig Blut! Auf Giles' Harnisch hatte er in Gedanken eine Reihe von Punkten gemalt, die zusammen die Gestalt eines X abgaben. Er kämpfte in vorschriftsmäßigem Stil, nicht so nahe am Gegner wie Sir Nick. Er holte tief Atem und ging zum Angriff über. Fünfzehn Minuten später, als das Licht so trübe geworden war, daß das Spiel gefährlich wurde, senkten beide den Degen und setzten sich hin. Sie hatten in kurzen, scharfen Gängen gefochten mit kleinen Atempausen dazwischen. Aber Giles war sehr blaß und keuchte; neue Linien schienen sich tief in sein Gesicht geschnitten zu haben. Fenton war zwar nicht sehr außer Atem, aber vor Staunen so benommen, daß sich alles – das Gras, der ganze Garten – langsam um ihn zu drehen schien. Er konnte es immer noch nicht fassen. Giles Collins, ein höchst geschickter und gefährlicher Degenfechter, hatte nicht ein einziges Mal seinen Harnisch berührt, während er selbst mehr als die Hälfte der Punkte seines X haargenau getroffen hatte.
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Das war phantastisch! In Gedanken hörte er immer noch den scharfen oder gleitenden Aufprall seiner Spitze. Dann fiel sein Blick auf Giles. »Giles, Giles!« rief er voller Reue, als er Giles' Verfassung sah. »Ich habe ganz vergessen, daß du kein junger Mann mehr bist. Du mußt dich sofort auf dein Bett legen!« »Pah!« erwiderte Giles höhnisch. Er hatte sich auf den Ellbogen gestützt, um wieder zu Atem zu kommen. »Sorgt nur für Euch selbst! Ihr habt bei mir kein Unheil angerichtet.« Fentons Gedanken bewegten sich im Kreise, wie sein Degen so oft den seines Gegners umkreist hatte. »Giles«, stammelte er, »ich bedaure, daß mein Fechten heute nicht so … nicht so …« »Hört mir zu, Sir Nick Fenton«, sagte Giles und hob den Zeigefinger. »Ich bin kein Schmeichler, wie Ihr bezeugen könnt, eher eine Wespe, die Euch sticht, wie Euer Vater es wünschte. Aber, Sir! Heute wart Ihr so behende auf den Füßen wie je zuvor. Euer Auge war vielleicht nicht ganz so akkurat wie sonst. Aber in meinem ganzen Leben habe ich kein so gutes oder so tödliches Fechten gesehen!« »Was sagst du da?« Wieder deutete Giles mit dem Finger auf ihn. Stolz leuchtete in seinen Augen. »Noch eins will ich Euch sagen. Ich möchte tausend Guineen wetten, wenn ich sie hätte, daß kein Mann in London es zwanzig Sekunden lang mit Euch aufnehmen kann! Nun genug des Lobes, Säufer und Sünder!« 238
»Giles, du mußt dich ausruhen. Kümmere dich nicht um diesen alten Rüstungskram, sondern geh zu Bett.« Giles erhob sich mit steifen Gliedern und ging schwankend von dannen. Fenton begab sich, den Degen immer noch in der Hand, langsamen Schrittes zu der niedrigen Backsteinmauer am Ende des Gartens. Ein einziger gelber Streifen lag tief und trübe am Himmel. Und plötzlich wurde er sich darüber klar, wie falsch seine Auffassung gewesen war. Im gegenwärtigen Jahr, 1675, befand sich die Fechtkunst noch in ihren Anfangsstadien. Erst hundertzwanzig Jahre später, gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, würde sie beinahe Vollkommenheit erreichen. Die jetzigen Paraden bestanden aus einfachen Schlägen, obgleich Sir Nick darin geschickter gewesen sein mußte. Die Hiebe zeigten wenig Raffinesse und waren meistens leicht zu parieren. Die Finten waren kindisch und sofort zu erraten. Diese Leute hatten noch nie etwas von einer Gelenkdrehung beim Parieren gehört und kannten nicht viele Kniffe außer einigen unredlichen Tricks. In ihrer Abwehrstellung waren sie zu exponiert. Er dagegen hatte eine über dreißigjährige Erfahrung im Florettfechten hinter sich, dazu den geschmeidigen und kräftigen Körper eines jungen Mannes. Manche Autoritäten bezeichneten das Florett wegen seiner Leichtigkeit als wertlos. Aber andere wiesen darauf hin, daß lange Übung am meisten zähle; daß jeder gründlich erlernte und geschickt ausgeführte Stoß – die ganze Fechtkunst – den Duelldegen überbiete. 239
Und sie hatten recht. Was Fenton als die größte Gefahr für sich betrachtet hatte, war in Wirklichkeit seine größte Stärke. Er war ein besserer Degenfechter als Sir Nick. Fenton atmete in tiefen Zügen die würzige Luft ein. Alle Verwirrung fiel von ihm ab. Seit einiger Zeit hatte sich Sir Nick völlig ruhig verhalten, nicht einmal mit dem Deckel seines Sarges geklappert. Doch um seine Lippen spielte ein merkwürdiges Lächeln, das ganz, ganz schwach dem mörderischen Lächeln Sir Nicks ähnelte. »Wer mich jetzt angreift«, sagte er laut, »ist mir ausgeliefert!«
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XII Wieder einmal schlug der Feind zu – zweimal innerhalb von zehn Tagen. Der erste Angriff begann so sanft, bei so heiterem Spiel mit Lydia, daß Fenton zunächst gar nicht merkte, was gespielt wurde. Oft erinnerte er sich lachend an Georges bittere Worte: »Du bist vernarrt in Lydia. Du bist übermäßig verliebt in sie.« Nun, warum auch nicht? Er war immer bei ihr, und Judith Pamphlin hielt Wache, wenn er in seinem Studierzimmer saß oder allein im Park spazierenging, wo er manchmal bis zu den Elendsvierteln von Westminster vordrang. Als die vier Doggen ihn zuerst sahen, zauderten sie. Aber sobald sie seine Stimme hörten, ihn beschnüffelt hatten und er ihnen die Hand zum Lecken entgegenstreckte, verschwand alles Mißtrauen mit einem Schlage. Die Tiere sausten auf ihn zu, sprangen an ihm in die Höhe, um sein Gesicht zu lecken, und warfen ihn beinahe um. Dann rasten sie um ihn herum, wobei sie sämtliche Möbel in Gefahr brachten, kauerten sich nieder und winselten vor Freude. Es waren die regelrechten alten englischen Doggen, die Kampfhunde, die die Familie beschützten. Im Gegensatz zu ihren langen, schweren Leibern hatten sie feingeformte Beine. Ihre herunterhängenden Ohrlappen zuckten bei dem leisesten Geräusch. Ihre Augen waren wachsam, und hinter den hängenden Wammen verbargen sich mörderische Zähne. Die größte unter ihnen reichte Fenton fast bis an die Hüfte. In der Farbe waren sie hellbraun oder scheckig. Sie hießen Donner, Löwe, Vielfraß und Nacktarsch. Der geströmte Donner, der größte 241
und mächtigste unter diesen Hunden, schloß sich am engsten an Fenton an. Es war gut, Donner zur Seite zu haben, aber es bedurfte der geistreichsten Schliche, um ihn aus dem Zimmer zu bekommen. »Lieb Herz«, pflegte Lydia zu sagen, »du vergißt doch wohl nicht, daß sie auf den Mann trainiert sind? Wenn du mit jemandem sprichst, faß nie mit der Rechten an den Degengriff. Sonst –« Und sie brach achselzuckend ab. Er wachte ständig über Lydia, war stets in ihrer Nähe, besonders wenn sie ihre Mahlzeiten zu Hause in dem langen Speisezimmer einnahmen, in dem abends das viele Silber wie leuchtendes Schnitzwerk glänzte. Obwohl Lydia diese Fürsorge beglückte nach der Vernachlässigung und Brutalität, die ihr von Sir Nick zuteil geworden waren, legte sie doch einmal einen milden Protest ein. Bei jedem Gang, der ihr vorgesetzt wurde, aß Fenton die obere Hälfte ab, wobei er an die Wirkung eines jeden damals bekannten Giftes dachte. »Lieb Herz«, sagte Lydia, »ich habe Geschichten aus alten Zeiten gelesen, von Königen, die Vorkoster an ihren Tischen hatten. Es ist kein Wunder, daß sie jetzt verschwunden sind. Der König auf seinem goldenen Thron muß beinahe vor Hunger umgekommen sein, ehe er einen Mundvoll zu essen bekam, der dann wirklich so kalt war wie ein Almosen.« Der 10. Juni rückte immer näher heran, und dieser Gedanke beschäftigte Fenton so stark, daß er nur langsam antwortete. »Es muß sein, mein liebes Kind.«
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»Aber wer würde es wagen? Wo du so … so …« Lydia war im Begriff, zu sagen: »so sehr verändert bist.« Aber sie sprach es nicht aus. Die Doggen schnüffelten im Zimmer herum mit Ausnahme von Donner, der in seiner vollen Länge vor Fentons Füßen ausgestreckt lag und schlief. »Und wo droht Gefahr von außen?« fragte Lydia. »Nachts ist das Haus wie eine Festung verbarrikadiert, und die Hunde sind draußen. Vielleicht von … von …?« Sie wollte »Kitty« sagen, brachte es aber nicht fertig, den verhaßten Namen auszusprechen. »Bedeutet es dir in der Tat so viel«, fragte sie leise, »was mit mir geschieht?« »Viel, Lydia. Mein Gott, zu viel!« Oft ritten sie zusammen aufs Land hinaus, durch die Felder zu den Hügeln von Hampstead oder Highgate. Da oben konnten sie in einem gemütlichen Gasthaus, wo es Käselaibe gab, fast so groß wie Bierfässer, essen und trinken ohne Angst, vergiftet zu werden. Später ritten sie dann in zärtlicher Stimmung durch die duftende Mainacht. Lydia stimmte manchmal leise ein Lied an; einmal sang sie sogar zu Fentons Erstaunen einen Vers aus einem Kavalierlied. »Ja, huldigt dem Unstern! Nennt Oliver Herrn …!« Aber sie warf Fenton dabei mit gesenkten Augenlidern einen Seitenblick zu, um zu sehen, ob ihn dies an Meg erinnerte. Wenn sie sich bloß diesen verhaßtesten aller Namen hätte aus dem Sinn schlagen können, sie wäre restlos glücklich gewesen. Fenton hatte Meg vergessen – beinahe.
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An einem Spätnachmittag nahm er Lydia mit ins Theater. Er wählte das Duke's House, das vor kurzem von Lincoln's Inn Field in ein neues Gebäude nach Dorset Gardens, Whitefriars, verlegt worden war. Er brauchte Lydia nicht durch die lärmende, rußige Innenstadt zu führen. Sie würden auf der Themse fahren – der angenehmste Beförderungsweg, wenn man Zeit und auch das nötige Kleingeld hatte. Lydia war so begeistert, daß sie unbedingt ihr allerbestes Kleid anziehen mußte. Mit geröteten Wangen und funkelnden Augen stand sie vorm Spiegel, während Judith Pamphlin, bleich vor Wut, ihr dabei half. Denn Judith wußte, daß ihre Herrin beabsichtige, ein Schauspielhaus zu besuchen, was in ihren Augen eine Sünde war. Fenton, der Lydia beim Ankleiden zusah, lehnte lässig an der Wand. Judith hätte ihn ermorden können, ohne den geringsten Gewissensbiß zu spüren. Sie und Fenton personifizierten Rundkopf und Kavalier – einen größeren Unterschied zwischen zwei Menschen konnte es nicht geben. Schon längst hätte Fenton sie entlassen, wenn sie nicht eine so große Anhänglichkeit für Lydia besessen hätte. Als er dem Kompromiß der Diener auf ein Bad im Monat zustimmte, wußte er, daß sie nicht damit einverstanden sein würde. Und so war es auch. Daraufhin hatte er Big Tom befohlen, die Dienstboten als Zuschauer zu versammeln, dann Judith auszuziehen und sie unter die Pumpe zu halten, bis sie gründlich abgespült war. Judith hatte dann rasch nachgegeben. 244
Aber jetzt, wo Fenton ihre Herrin auch noch ins Schauspielhaus mitnahm, konnte sie sich nicht länger beherrschen. »Dieser Hitzkopf«, sagte sie zu Lydia in barschem Ton, wobei sie auf Fenton deutete, »führt Euch immer tiefer in den Abgrund der Lust.« Vor drei Wochen hätte Lydia besänftigende Worte gemurmelt. Jetzt wirbelte sie herum. »Lust«, entgegnete sie in stolzem, aber sanftem Ton, »ist etwas ganz Ausgezeichnetes. Bin ich nicht seine angetraute Frau?« Judith hob warnend den Zeigefinger. »Ob angetraut oder nicht, Fleischeslust um des Vergnügens willen ist in den Augen des Herrn …« »Schweigt!« sagte Fenton ruhig. Er hakte die Daumen in das Degengehenk unter seiner seidenen Weste und ging langsam auf sie zu. »Mrs. Pamphlin«, fuhr er fort, »vor einiger Zeit hieß ich Euch, mit dem puritanischen Geplärre aufzuhören. Jetzt habt Ihr wieder begonnen. Verlaßt diesen Raum. Ihr werdet niemals wieder meiner Frau aufwarten.« Judith Pamphlin öffnete den Mund, um etwas zu sagen. »Geht!« sagte Fenton. Als sie sich zum Gehen anschickte, sah Fenton in ihren Augen, daß alle ihre Gedanken auf einen Punkt gerichtet waren: Rache gegen ihn. Fenton mußte scharf auf der Hut sein vor neuen Mördern, die sich an ihn heranschlichen. »Es ist seltsam«, murmelte Lydia, als die Tür sich geschlossen hatte, erstaunt und zugleich ein wenig amüsiert. »Aber ich spüre überhaupt keine Gewissens245
bisse.« Unvermittelt drehte sie sich um und machte einen Knicks vor Fenton. »Hm – erregt dieses Gewand dein Mißfallen?« setzte sie hinzu, und ein sehr ernster Ausdruck trat in ihre Augen. »Sollte dem so sein, werde ich es – ich schwör's –, in tausend Fetzen schneiden!« »Alles an dir gefällt mir, Lydia.« Seine Stimme zitterte vor leidenschaftlichem Ernst. »Was du sagst, was du tust, was du denkst, was du bist! Ich … Nun, um auf deine Kleider zurückzukommen …« »Ja?« »Ich möchte, daß du dir so viele bestellst, wie das Haus fassen kann. Auch Juwelen, Geschmeide, Uhren – alles, was dein Herz begehrt! Wenn du das nächste Mal einkaufen gehst bei deiner Mrs. … na, wie heißt sie doch noch gleich?… Mrs. Wheebler in Covent Garden …« Lydia wandte den Kopf zur Seite, und ein leichter Schauer überrieselte sie. »Seit mehr als vierzehn Tagen«, entgegnete sie mit demselben leidenschaftlichen Ernst wie er, »habe ich nichts mehr bei Mrs. Wheebler gekauft. Ich gehe in die Neue Börse oder zu Madame Beautemps in Southampton Street. Ihr Laden heißt ›La Belle Poitrine‹. Ich – ich fürchtete, Mrs. Wheebler sei zu teuer.« »Mach dir keine Sorgen wegen der Kosten«, sagte Fenton lächelnd. »Darf ich dich daran erinnern, Liebste, daß die Aufführung am Nachmittag und nicht am Abend stattfindet und wir uns daher sputen müssen?« 246
Die Whitehall-Treppen, die zum Flußufer hinabführten, waren dem Publikum zugänglich, ebenso wie die zahlreichen anderen Treppen, von denen aus man zu so vielen Plätzen an der Themse fahren konnte. Fenton führte Lydia die eichenen, am unteren Ende fast verfaulten Stufen hinunter und half ihr in ein Boot, in dessen Heck ein beleibter, jovialer Fährmann mit langen Rudern saß. »Es ist nicht gerade ein heller Tag, aber auch kein düsterer«, verkündete der Bootsmann heiter. »Ich werde Euch weit zur Flußmitte hinausrudern, um Euch vor den Rußflocken zu bewahren. Ihr sollt eine schöne Fahrt haben. Und wohin, wenn ich fragen darf?« »Whitefriars-Treppe.« Die bräunlichgraue Themse mit ihrem trübe glitzernden Wasser war von kleinen Fahrzeugen belebt. Manche trugen weißliche Segel. Es wehte eine leichte, kühle, reine Brise, die Lydias breiten Hut kaum bewegte. Zu ihrer Linken lagen die schweren steinernen Wassertore der Stadthäuser, die den Adligen gehörten. Weiter flußabwärts sahen sie die Schlammufer vor dem hohen, halb von Rauch verhüllten Häusergewirr des Strandes und der City. Als sie Duke's House in Dorset Gardens erreichten, nahm Fenton eine Seitenloge, die nichts weiter war als eine winzige, mit vier nackten Pfosten abgegrenzte Nische an einer Backsteinwand. Doch die Bühne war ziemlich groß und mit beweglichen Kulissen sehr gut ausgestattet. Wie alle Damen von Rang und Ansehen, hatte Lydia sofort beim Betreten des Schauspielhauses ihre dunkle Halbmaske angelegt. Es war das einzige, was ihr von der 247
Welt des Theaters bekannt war, und die Maske schien sie zu fesseln. »Gibt's wohl etwas zu lachen?« flüsterte sie eifrig, als sie Platz nahmen, und zupfte Fenton am Ärmel. »Werden wir sehr viel Spaß haben?« In dem kleinen, gefüllten, übelriechenden Theater verliehen viele trübe Kerzen der überladenen Szenerie eine gewisse erhabene Pracht. »Nein, mein Schatz«, erwiderte Fenton. »Heute wird Mr. John Drydens gereimte Tragödie Aurungzeb gegeben. Du hast doch sicherlich gehört, daß der berühmte Dryden kürzlich heftig attackiert worden ist, und zwar in einer Komödie, die Seine Gnaden von Bucks« – der ganze Green-Ribbon-Klub erstand vor seinen Augen – »geschrieben haben, um ihn lächerlich zu machen.« »Ich bin so unwissend«, murmelte Lydia, während sie ihren Umhang löste und über die Stuhllehne warf. Bis dahin hatten die Stutzer, die zu beiden Seiten der Bühne auf Stühlen saßen, gelangweilt ihre Perücken gekämmt oder sich gegenseitig witzige Bemerkungen zugerufen, um die Parterrebesucher zu beeindrucken. Aber jetzt wurden sie auf einmal wach, und ein Dutzend goldene Lorgnetten richteten sich wie gebannt auf Lydia. Männer und Frauen erhoben sich in den Seitenlogen, im Parterre und in der Galerie, um sie besser zu sehen. Die Masken gaben den Frauen in der trüben Beleuchtung ein unheimliches Aussehen. Ein betrunkener Mann in der Galerie pries Lydias Vorzüge in aufrichtigen, aber fast ans Obszöne grenzenden Worten. Dies gefiel ihr. Trotz ihrer Verwirrung lächelte sie unverhüllt. Ein Beifallsgemurmel 248
erhob sich für diese Herablassung einer Dame, die unverkennbar von Stand war. »Nun sieh mal einer an«, spottete Fenton, »wie alle meine Meinung teilen. Ich bin im höchsten Grade eifersüchtig.« »Ach, sei still!« rief Lydia. Dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Du machst dich über mich lustig. Bitte, tue das nicht. Ich habe es nicht gern. Was wolltest du noch von diesem Theaterstück sagen?« »Nun, darüber ist nicht viel zu sagen. Dies ist Mr. Drydens Antwort auf die Farce Seiner Gnaden von Bucks Wohlgemerkt, besteht sie nicht aus schlagfertigen Erwiderungen. Mr. Dryden will nur zeigen, daß er eine Bestleistung hervorbringen kann. Horch! Der Prolog beginnt!« Die führende Rolle hatte Mr. Betterton inne, der mit den Gefühlen seines Publikums spielte wie ein erstklassiger Degenfechter mit einem Neuling. Er fesselte die Zuschauer derart, daß man hören konnte, wie sich hin und wieder ein Stutzer die Perücke kämmte oder eine Dame an ihrer Parfümkugel roch. Am Ende der Vorstellung verhielt sich das Haus mehrere Sekunden lang schweigend. Den meisten liefen die Tränen über die Wangen. Dann brach ein tosender Beifall aus, der die Wände zu sprengen drohte. Fenton hatte das Stück bereits gelesen. Die Tragödie an sich hatte ihn ziemlich kaltgelassen, aber die machtvollen Worte hatten ihn gepackt: Lydia schluchzte, als sie sich durch das Menschengewühl an die frische Luft drängten. Fenton hatte Mühe, sie zu besänftigen. 249
Da sie an der Anlegestelle wegen des großen Andrangs lange warten mußten, hatte sich die Dunkelheit bereits herabgesenkt, als sie endlich zur Whitehall-Treppe zurückgerudert wurden. Der Halbmond war inzwischen aufgegangen, und in seinem Licht sahen sie die Silhouetten der zahlreichen, mit Schornsteinen gespickten hohen und spitzen Dächer des Whitehall-Palastes. Eine frische Brise sprang auf, und Fenton legte Lydia den Umhang fester um die Schultern. Die Flut hatte inzwischen ihren Höhepunkt erreicht. Weit hinter ihnen schäumten und tosten die Wassermassen zwischen den Pfeilern der London Bridge. »Lieb Herz«, sagte Lydia in einem Tonfall, der ihm vertraut war. Sie spielte mit ihrer Maske, die sie schon vor langem abgenommen hatte. »Was möchtest du gern, Liebling?« fragte er. »Würdest du mich noch zu einem anderen Platz begleiten, Nick, wenn ich den Wunsch hätte? Ich habe schon so oft davon gehört, bin aber noch nie dagewesen. Der Name ist Spring Gardens.« Fenton lehnte sich zurück und blickte sie an. »Du hast davon gehört, sagst du?« »Oh, ja!« »Nun, Spring Gardens ist ein ungeheuer großer, von einer hohen, dichten Hecke umgebener Lustgarten am Rande des Parks. Im Innern findest du viele andere Hecken und Lauben und verschlungene Pfade unter dunklen Bäumen – ein toller Irrgarten. Er ist höchst diskret beleuchtet und in manchen Teilen überhaupt nicht.« »Lieber Nick, ich …«
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»Du kannst dort auch Erfrischungen zu dir nehmen und einem Musiktrio lauschen. Aber in der Hauptsache, Lydia, ist es ein Tummelplatz für junge Stutzer: sie verfolgen dort maskierte Nymphen, die beschwingt dahineilen und doch nicht unwillig sind, sich in einem lauschigen Winkel fangen und verführen zu lassen.« »Ich werde auch eine Maske tragen«, erklärte Lydia unschuldsvoll, »und dazu mein allerältestes Kleid.« Fenton betrachtete sie mit gespielter Strenge. »Du bist mir ja ein schönes Frauenzimmer!« sagte er. »Hure! Dirne! Pfui!« Lydia warf den Kopf in den Nacken und blickte zur Seite. »Nein: Soll ich dir sagen, was du bist?« fragte Fenton lächelnd. »Du bist eine höchst respektable Frau, die das Verlangen hat, einmal die Rolle einer leichtfertigen Dirne zu spielen. Würde in Spring Gardens jemand vermuten, daß dein Verfolger dein eigener Mann ist?« »Oh!« rief Lydia mit offenem Munde. »Woher wußtest du das…?« »Nun, weil viele Frauen denselben Wunsch hegen, ohne es einzugestehen.« »Willst du mich morgen abend dorthin führen, wenn das Wetter schön ist?« »Siehst du den Stern da oben?« fragte er, auf den Himmel deutend. »Auch dorthin würde ich mit dir gehen, wenn du es wünschtest und ich die Möglichkeit besäße. Deine Bitte ist leicht zu erfüllen. Also, auf nach Spring Gardens!« 251
Und so beschwor Lydia, ohne es zu wissen, ein böses Unheil herauf. »Ich werde wirklich mein ältestes Gewand anziehen«, wiederholte sie tugendhaft. Selbstverständlich tat sie nichts dergleichen, sondern ging am nächsten Tag aus, um sich ein neues zu kaufen. Um zehn Uhr abends ging Fenton, nachdem Giles ihn angekleidet hatte, durch den oberen Korridor, der durch einige Wandleuchter trübe erhellt war. Er trug, wie üblich, einen losen, bequemen, dunkelfarbigen Samtanzug und nach seinen Wünschen angefertigte Schuhe. Giles war immer wieder von neuem entsetzt, weil er auf Ringe mit kostbaren Juwelen, diamantene Westenknöpfe und anderen Zierat verzichtete. Zur selben Zeit lief Lydia aus ihrem Schlafzimmer und eilte auf die Treppe zu. Lydia trug wohl eine Maske, aber keinen Hut. Ihr Kleid, himmelblau und silber gestreift und mit winzigen Röschen verziert, hatte keine Achselbänder und war so geschnitten, daß Fenton sich im stillen wunderte, auf welche magische Weise es an ihrer Figur haftenblieb. Neben ihr ging ihre neue Zofe, Bet, die ein scharlachrotes, dunkelblau gefüttertes Cape in der Hand trug. »Fürwahr«, erklärte Lydia, als sie Fenton sah, »dies ist mein ältestes Kleid.« Obgleich er in fröhlicher Stimmung war, da er beim Abendessen ein Liter Malvasier getrunken hatte, war sein Herz voller Zweifel. Auch spürte er, wie die Eifersucht an ihm nagte. Auf wen? Auf irgend jemanden.
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»In der Theorie«, meinte er, »gibt dieser Spaß keinen Anlaß zu Mißtrauen. Aber wenn ich dich unter diesen wilden Gesellen loslasse, um dich zu verfolgen …« Lydia rannte auf ihn zu, während Bet das große scharlachrote Cape an ihrem Hals befestigte. »Du hast mir aber doch gestattet«, protestierte sie, »heute allein in der Kutsche auszufahren.« »Das war etwas anderes. Da waren Whip und Harry bei dir.« Whip war der breitschultrige Kutscher und Harry einer der Diener, ein leidlicher Degenfechter, der jeden Tag mit Fenton übte. »Wenn ich dich nun in dieser Horde verlieren sollte?« erkundigte sich Fenton. »Wenn dich irgendein behender Bursche fassen sollte? Was dann?« »Wenn's weiter nichts ist«, meinte Lydia gelassen. Sie schlug die linke Hälfte ihres Capes zurück, und in dem wattierten Futter befand sich eine kleine Tasche mit einer gamsledernen Scheide, in der ein dünner, leichter Dolch mit goldenem Griff und rasiermesserscharfen Schneiden steckte. »Wenn irgend jemand außer dir mich anrühren sollte«, erklärte Lydia einfach, »würde ich nicht versuchen, ihn zu töten. Denn ich glaube, das brächte ich nicht übers Herz. Aber auf Monate, vielleicht auch Jahre hinaus würde er es bedauern, mich je gesehen zu haben.« Unter der Maske weiteten sich ihre Augen vor Staunen. »Liebling, wußtest du das nicht?« Lydia verstand nicht, warum er sie so heftig küßte.
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»Ich bin ein kläglicher Narr!« rief er lachend. »Worauf warten wir noch?« Als sie die Treppe hinabeilten, blickte Fenton zurück und sah am entlegenen Ende des Korridors Judith Pamphlin, die regungslos mit verschränkten Armen in der Dunkelheit stand und sie beobachtete. Nicht lange nachdem sie fort waren, kam ein Dienstmann die Pall Mall entlang und erkundigte sich bei jedem Portier nach Sir Nicholas Fentons Haus. Als er bei Sam anlangte, schnippte dieser mit den Fingern, woraufhin der Dienstmann ihm einen zerknitterten Brief aushändigte und dafür Sixpence empfing. Sam rief Giles herbei, der den Brief unter eine der Wandkerzen in der Halle hielt. Auf dem Umschlag stand in sauberer Handschrift: »An Sir Nick Fenton, der in der Pall Mall wohnt.« Auf der anderen Seite trug er ein Siegel, unter dem »Jonathan Reeve, Esq.« zu lesen war. Giles biß sich unschlüssig auf die Unterlippe. Dann erbrach er das Siegel und las den Inhalt. Seine Züge verschärften sich, und er wurde ein wenig blaß. Eine Weile stand er regungslos da, in Gedanken versunken. Dann eilte er fort. Inzwischen hatten Lydia und Fenton das hohe, halb in der Hecke versteckte Eisengatter des Haupteinganges zu Spring Gardens entdeckt. Unmittelbar beim Tor befand sich ein kleiner freier Platz. Dahinter erhob sich eine zweite Hecke mit verschiedenen Eingängen, die tiefer in das Waldland führten. Der Mond schien nur schwach und die Beleuchtung war spärlich. Sie bestand aus kleinen Papierlaternen mit einer Kerze oder aus Pechfackeln und 254
reichte eben aus, um die Menschen am Stolpern zu hindern. Zuerst schien eine tiefe Stille in den Gärten zu herrschen. Selbst die Streichkapelle spielte nicht. Nach und nach drangen aber leise Geräusche an ihre Ohren: ein schwaches Flüstern, ein rasches Trappeln von Füßen, das Knacken eines Zweiges, das leise, zitternde Lachen eines Mädchens. Das Herz klopfte Fenton zum Zerspringen, und er küßte Lydia voller Leidenschaft, bis sie sich sanft von ihm löste. »Sieh her, ich werde nicht stolpern«, flüsterte sie, während sie ihm ihre Schuhe zeigte, die zwar klein und silbrig, aber doch recht fest waren und flache Absätze hatten. »Nun werde ich laufen. Zähle du langsam bis fünf; dann folge mir.« »Wenn ich dich aber …« »Ich werde niemals weit von dir entfernt sein, wenn du mich auch nicht siehst. Also los!« Und Lydia eilte davon. Ihr scharlachrotes Cape bauschte sich, und sie hielt mit zierlichen Fingern ihr himmelblaues Kleid mit den silbernen Streifen empor. Sie rannte nicht in eine der vor ihnen liegenden Öffnungen, wie er angenommen hatte, sondern bis zum abgelegensten Ende der inneren Hecke, um deren Biegung sie verschwand. »Eins.« Fenton hatte langsam für sich zu zählen begonnen. »Zwei…« Er kam gar nicht auf den Gedanken, sich vorzustellen, wie grotesk Professor Fenton von Cambridge diese Situation gefunden hätte. Er war jetzt eben ein junger Mann und hatte sich an diesen Zustand gewöhnt. Die alte 255
Welt schien langsam zurückzuweichen … Sein Ohr war auf jedes Geräusch eingestellt. Bei »drei« konnte er noch ihre Schritte auf dem Gras hören. Er raffte die Falten seines leichten Mantels zusammen und hielt die Scheide seines Degens fest, damit sie ihm beim Laufen nicht hinderlich war. »Fünf!« rief er laut und rannte hinter ihr her. Als er um die Biegung sauste, zeigte ihm ein schwacher Lichtschein einen schmalen Graspfad, der auf einige Entfernung hin in gerader Richtung verlief. Er hielt sich an diesen Pfad und suchte eifrig nach einer Öffnung in der Hecke. Schließlich entdeckte er einen niedrigen Bogengang, der zu einer »Laube« führte. Das Blätterdach war hier so dicht, daß kein einziger Mondstrahl hindurchdrang. Der Boden war zunächst mit Kies und dann mit Gras bedeckt. Aus einem abgelegenen Winkel ertönte das Flüstern von zwei Stimmen, und was Fenton vernahm, trieb ihn hastig aus der Laube. Abgesehen davon, hätte er Lydias Schritte auf dem Kies hören müssen, hätte sie diesen Weg gewählt. Also rannte er weiter, bis er eine weitere Öffnung in der Hecke fand. Diese führte zu einem verwirrenden Platz, wo drei Wege zwischen hohen, von duftenden Blumen überrankten Mauern abzweigten. Er stürzte den ersten entlang und landete vor einem vernagelten Tor. Dann wählte er den zweiten und gelangte irgendwie auf den dritten. Auf diesem Weg blieb er stehen. Es fiel ihm plötzlich ein, daß ja alle roten Farben im Dunkeln oder im Halbdunkel praktisch unsichtbar sind. Vielleicht war Lydia schon öfter an ihm vorbeigekommen. »Lydia!« rief er. »Darf ich's nicht sein?« fragte eine weiche weibliche Stimme so dicht in seiner Nähe, daß er zurücksprang. Eine Hand, die 256
offenbar nicht abgeneigt schien, verfolgt zu werden, streckte sich aus und berührte ihn am Ärmel. Leise »Lydia« rufend, jagte er, von einem spöttischen Gekicher verfolgt, in eine andere Richtung und kam wieder auf den Hauptweg. Es war aussichtslos. Wenn es ein regelrechter Irrgarten gewesen wäre, hätte er seinen Verstand gebrauchen können. Aber hier herrschte ein wirres Durcheinander. Gedämpfte Schritte eilten auf ihn zu, und in dem unsteten Mondlicht sah er ein Mädchen in weißer Maske und einem kurzen, weißgeblümten Musselinkleid, ungestüm verfolgt von einem Stutzer mit Perücke, der die Maske eines Satyrs trug. Sie flitzten vorbei wie Gestalten aus einem Feenland. Der Satyr grinste kameradschaftlich und ermutigend, während er Fenton zuflüsterte: »Niemals tragt einen Degen, zum Henker!« Kurz darauf erhaschte er einen flüchtigen Blick von Lydia. Er war in eine andere Seitenöffnung eingebogen, durchaus entschlossen, alle der Reihe nach zu erforschen. Der Weg teilte sich in zwei Pfade. Der Instinkt sagte ihm, daß der Pfad zur Rechten entweder eine Sackgasse war oder zu einer Laube führte. Aber am Ende des schmalen Grasweges zur Linken konnte er im matten Schein der Fackel eine dichte, kreisförmige Hecke erkennen, die nach dieser Seite hin einen hohen Bogeneingang hatte. Eine Gestalt huschte an der Hecke entlang und dann in den Bogengang. Im Schein einer Fackel sah Fenton einen scharlachroten Umhang und silberne Schuhe aufblitzen. Lydia! Sie lugte nach rechts und links, auf dem Sprung, 257
ihre Flucht fortzusetzen. Fenton stolperte beinahe über einen Zwergbaum und glitt dann rasch und geräuschlos zu der runden Hecke, die vier Bogeneingänge nach allen Himmelsrichtungen hatte. In der Mitte lag eine muldenförmige, mit weichem Gras bedeckte Vertiefung. Eine einzige Fackel tauchte das Innere in ein mysteriöses Halbdunkel. Er sah Lydia mit hochgezogener Kapuze. Sie schien unschlüssig, welchen Weg sie wählen solle. Sein Blut war aus mehr als einem Grunde in Wallung geraten, und er gedachte Lydia mit einem derben Stoß zu Boden zu werfen – was sie nicht im geringsten beanstandet hätte; Frauen waren an rauhe Behandlung gewöhnt. Statt dessen schlich er sich an sie heran, hob sie mit beiden Armen auf und rannte mit ihr durch die muldenförmige Vertiefung, um sie auf dem sanft ansteigenden Abhang niederzulegen. Während er sie mit einem Arm und einer Schulter fest am Boden hielt, schob er mit der anderen Hand Kapuze und Maske zurück. »Dachtest du etwa …«, begann er und verstummte. Denn er blickte in die grauen Augen und auf den lächelnden Mund seiner Freundin, Meg York.
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XIII Aus Gründen der Bequemlichkeit zog Meg ihr Cape aus und legte sich auf die dunkelblaue Innenseite. Ihr dickes, glattes schwarzes Haar war durch das Zurückschieben der Kapuze in Unordnung geraten. Fenton sah – und verwünschte gleichzeitig diese treulosen Gedanken –, daß Megs Schultern und Brüste voller waren als Lydias, obwohl ihre Figur schlanker war. Ihr dunkles Haar hob sich scharf von der weißen Haut ab. Warum in aller Welt packte ihn jedesmal, wenn er Meg begegnete, eine Art Wahnsinnstaumel? »Ei der Daus«, flüsterte sie, während sie sich dichter an ihn herankuschelte, »haltet Ihr meine kleine Fopperei für so klug? Na, dann will ich Euch mein Geheimnis verraten. Ich war heute in einem großen Laden, ›La Belle Poitrine‹, als die reizende Lydia hereinkam. Ich hörte ihr lautes Bühnengeflüster: ›Ich muß das Kleid heute noch haben. Es ist für Spring Gardens heute abend.‹ Nun, so brauchte ich nur Kleid und Umhang nachzuahmen und mein Haar zu bedecken.« Fenton warf rasch einen Blick um sich. Noch niemals in seinem Leben hatte er eine so starke Versuchung empfunden. Und da er keinen Widerstand, nur Ermutigung bekam, ließ er alle Skrupel zum Teufel fahren. »Verdammt«, sagte er sich. »Ich will sie besitzen, und wenn sie unter einer Decke von Dornen läge!« Seine Lippen preßten sich auf Megs feuchten Mund, und seine Arme umschlossen sie fester. Plötzlich schien ihr 259
etwas einzufallen. Sie schob seinen Kopf mit beiden Händen zurück, und ihre grauen Augen blickten ihn fest an. »Nein«, sagte sie, obgleich er die Glut ihrer Leidenschaft spürte, »diese Lichtung ist zu öffentlich. Ich werde Euch in eine Laube führen, die ich kenne. Aber zuerst möchte ich eine Frage an Euch richten.« Haß stieg in ihr auf. »Bist du zufrieden mit meiner reizenden Base Lydia?« Das alte Problem tauchte wieder auf. »Und ich habe eine Frage an dich«, entgegnete er. »Bist du Mary Grenville?« »Natürlich«, antwortete sie in der Ausdrucksweise des zwanzigsten Jahrhunderts. Auf einen Ellbogen gestützt, starrte Fenton sie an. »Aber ach, du meine Güte!« fuhr Meg fort. »Ein paarmal hast du mich arg in die Enge getrieben. Und warum warst du so gemein zu mir? Du hast mich sogar aus dem Haus geworfen, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen und dir ein paar Andeutungen zu machen.« Fenton hatte vorübergehend den Eindruck, als fließe alles zusammen – Hecken, Gras und das aufreizende Lächeln, das um Megs geschweifte Lippen spielte. Es war, als habe sich ein riesiges Auge geöffnet und ihm mit einem gewaltigen Zwinkern eine feuchte, moderne Londoner Straße und ein ernsthaftes Mädchen in einem Glockenhut gezeigt. »Wenn ich dich schlecht behandelt habe«, erwiderte er, »so geschah es, weil Sir Nick meistens die Oberhand hatte. Mein zweites Ich sozusagen. Warum hast du nicht frei von 260
der Leber weg geredet, als ich dich bei unserer ersten Begegnung ›Mary‹ nannte?« Er hörte ihren leisen Seufzer. »Hätte ich's nur getan. Mein Gott, hätte ich's nur getan! Aber ich war meiner nicht sicher. Erinnerst du dich noch, wie ich dir bei deinem Lexikon der Sprache des siebzehnten Jahrhunderts half? Aber ich war unsicher. Ich habe zu lange gezaudert.« »Ich verstehe dies alles nicht«, rief der verwirrte Fenton. »Hör mal, du hattest ja nicht einmal die Stiche, die mir so sehr geholfen haben. Wie konntest du dich hier nur zurechtfinden?« Meg preßte ihre Wange dicht an die seine. »Hör zu«, flüsterte sie heftig, »darüber darfst du mich nicht befragen. Noch nicht! Später, vielleicht bald, wirst du es erfahren. Du wirst erfahren, daß mein Charakter – meine Seele, wenn du so willst – sich nicht geändert hat. Aber ich war verschwiegen, und niemand merkte, daß ich nicht Meg war. Doch nun kehren wir am besten zu einem lieblicheren Zeitalter zurück.« Das Riesenauge schloß sich wieder, und das zwanzigste Jahrhundert verschwand in weiter Ferne. Die Wirklichkeit trat in den Vordergrund: die sanfte Luft, der Mond über Spring Gardens, die Hecken, das Gras. Mit Megs Zügen ging eine leise Veränderung vor sich. Ihr Lächeln war nicht mehr verschlagen; es wurde zärtlich. »Nick, ich habe dir diesen Possen hauptsächlich gespielt, um dir dies zu geben.« Während sie ein wenig von ihm abrückte, schlug sie ihr Kleid bis über die Knie zurück – durch Unterröcke war sie
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nicht behindert – und zog aus ihrem Strumpfband ein kleines zusammengefaltetes Stück Papier. Von dem Augenblick an, da sie in dieses Zeitalter zurückkehrten, waren Megs Bewegungen rascher und ihre Augen strahlender geworden. Fenton erging es genauso. »Hier«, sagte sie, »sind die Namen der beiden Häuser, wo du mich finden kannst.« »Zwei Häuser?« »Pah! Du wirst mich nicht oft im ersten finden. Es ist die Wohnung eines französischen Hauptmanns namens Durocein widerlicher Kerl. Erst heute haben sie ihn nach Hause gebracht – auf Krücken und mit dick verbundenem Bein. Und trotzdem – oh, pfui – bekam dieses Monstrum amouröse Anwandlungen! Wenn du gesehen hättest, wie ich ihm entwischte, wärst du vor Lachen geplatzt!« »Und die andere Wohnung?« »Das«, flüsterte Meg verzückt, »ist mein eigenes kleines Haus. Niemand weiß, daß ich mich dort aufhalte. Niemand kann mich dort finden und stören. Es liegt nicht gerade in einer feinen Gegend – um so besser. Niemand wird mich aufsuchen außer… wirst du bald kommen und mir deine Aufwartung machen? Recht bald?« »Bei Gott, ich schwör's!« »Das Haus – oder vielmehr das eine Stockwerk, das ich bewohne; alles andere steht leer – wird von einer alten Frau namens Calpurnia in Ordnung gehalten. Sag ihr deinen Namen, dann wird sie dich einlassen.« Megs Ton änderte 262
sich. »Du wirst doch nicht grob zu mir sein? Oder mich gar mißhandeln?« »Ganz im Gegenteil.« In dem Moment hätte Fenton jeder Frau alles versprochen. Dennoch wußte er in seinem Sinnenrausch, daß er die Wahrheit gesprochen hatte. »Du sprachst«, sagte Fenton, »von einer Laube …?« »Ja, ja, ja!« Dann besann sich Meg wieder. »Halt, du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Befriedigt dich meine Base Lydia ganz und in jeder Hinsicht? Rasch noch einen Kuß, bevor du antwortest!« Sie schmiegte sich an ihn. Aber in den nächsten Augenblicken verwandelte sich dieses Schäferidyll in ein kleines Chaos. Fenton, der bemerkte, daß das bläulichgelbe Licht der Fackel plötzlich durch einen Schatten verdunkelt wurde, wandte den Kopf, auf dem die Perücke recht schief saß, und sah im Bogengang zu seiner Linken ein paar Gestalten stehen. Meg hob ebenfalls den Kopf. Groß und hager – der flache Hut und die goldbestäubte Perücke berührten fast die Spitze des Bogens – stand dort im Gange ein leichenblasser Mann in Weiß mit Krücken unter den Armen und einem bandagierten, steif nach hinten gestreckten Bein. Unmittelbar vor ihm, immer noch in Maske und Cape, aber mit giftig zusammengepreßten Lippen unter der kurzen Nase, stand Lydia. Meg sprang auf und ließ den Umhang am Boden liegen. Fenton blieb aus einer gewissen Befangenheit heraus sitzen, was er später bereute. Lydia bewegte sich in dem trüben Licht mit blitzartiger Geschwindigkeit. Ihre Hand glitt unter das Cape zu der 263
dünnen Scheide mit dem doppelschneidigen goldenen Dolch. Sie zog ihn heraus und stürzte sich auf Meg. »Ich kann ebensogut einen Dolch gebrauchen wie Ihr«, flüsterte sie. In diesem Augenblick begann das Orchester, ein aus Spinett, Viola und Baßviola zusammengesetztes Trio, eine träumerische Melodie zu spielen. Das Trio mochte vielleicht in gerader Linie keine zehn Meter von ihnen entfernt gewesen sein. Aber wo gab es hier schon eine gerade Linie? »Kanaille!« kreischte Lydia. Der Dolch glitzerte kurz, als er gezückt wurde. Wenn das Licht besser gewesen wäre, hätte es einen Mord gegeben. So wurden nur Silberstreifen und rosa Röschen aufgeschlitzt. Meg wich schreiend zurück. Lydia, selbst ganz entsetzt, schleuderte den Dolch fort und fuhr mit bloßen Händen auf Meg los. Lydia war die kleinere, obwohl keine von beiden als groß bezeichnet werden konnte. Meg rannte mit gesenktem Kopf, wie ein angreifender Stier, auf Lydia zu und versetzte ihr einen kräftigen Stoß. Die taumelnde Lydia blieb mit ihrem Schuh im eigenen Kleid hängen und fiel hin. Meg lief mit katzenartiger Geschmeidigkeit durch den Bogen, wo Captain Duroc mit seinen Krücken auf einem Bein stand. Lydia sprang auf die Füße, griff nach dem goldenen Dolch und stürzte ihr nach. Doch Captain Duroc, allerdings etwas schwankend, versperrte ihr den Weg mit den Krücken. »Madame«, flehte er mit weitaufgerissenen, schwimmenden Augen und unter Aufbietung seiner ganzen 264
Komödiantenhöflichkeit, »Je vous implore! Zwei Damen! Nein, nein!« Lydia maß ihn von Kopf zu Füßen. »Ich will eine Dirne sein«, sagte sie in fast säuselndem Ton, »wenn Ihr nicht die bemalte Memme seid, mit der mein Mann neulich Schindluder gespielt hat.« Mit diesen Worten hob Lydia ihr Kleid vorne hoch und versetzte ihm einen so heftigen Tritt in die untere Magengegend, daß Duroc mit einem Schmerzensschrei rückwärts in die äußere Hecke fiel. Die Krücken entglitten ihm. Fenton, der von dem engen Kontakt mit Meg noch ziemlich erregt war, mußte sich in irgendeiner Form Ablenkung verschaffen. Er verließ daher die Lichtung und schritt auf Captain Duroc zu. »Sir«, begann er mit noch zitternder Stimme, »wollen Sie mir gütigst gestatten, Ihnen beim Aufstehen behilflich zu sein, wenn wir auch Feinde sind und miteinander kämpfen müssen, sobald Ihr Bein geheilt ist?« Duroc spie ihn an – Duroc, der so berühmt war für seine guten Manieren. Dann ließ er sich ganz verkrümmt wieder in die dichte Hecke fallen. Sein Gesicht erschien im Licht der bläulichen Fackel kalkweiß. »Monsieur«, erwiderte er kalt, »Sie existieren nicht für mich. Sie haben mich, ausgerechnet mich, zum Narren gemacht. So etwas bleibt nicht ungestraft. Ich kenne Sie nicht. Gehen Sie, Sie Tor, bis ich Sie töte.« »Dann möchte ich Ihnen noch einen guten Rat geben«, sagte Fenton schroff, der danach lechzte, dem anderen an die Kehle zu springen. »Ich bitte Sie, eine edle Nation nicht zu entehren, indem Sie als Franzose posieren. Ihr Akzent, 265
Sir, ist geradezu furchtbar.« Mit einem ironischen Lächeln wandte sich Fenton wieder der Lichtung zu. Er war nicht allein. In den anderen drei in die Hecke geschnittenen Bogen – ihm gegenüber, rechts und links – standen jetzt völlig regungslos drei Männer. Alle trugen Mäntel, aber jeder hatte die Degenscheide frei – die Klinge etwa fünfzehn Zentimeter gezogen. Sie standen gerade innerhalb der Bogen und beobachteten ihn. Breitkrempige Hüte verdeckten ihre Gesichter. Aber an jedem Hut steckte eine große grüne Rosette. Fenton fühlte sich glücklich und stark. »Willkommen, meine Herren!« sagte er und bemühte sich, seine Stimme dem Flüsterton von Spring Gardens anzupassen. Sofort löste er seinen Mantel von der linken Schulter und warf ihn beiseite. »Aber findet Ihr nicht auch, daß es Mylord Shaftesbury an originellen Einfällen gebricht? Er wiederholt sich zu oft.« Der Mann ihm gegenüber sprach überhaupt nicht. Er stieß nur ein helles, kicherndes Lachen aus, das sehr unangenehm klang. »Sir«, erwiderte der Mann zu seiner Linken, der, wie es Fenton schien, einen sehr kurzen Bart und einen Schnurrbart hatte, »Mylord Shaftesbury ist nicht in London. Er weiß nichts hiervon.« »Nein, nein!« spottete Fenton. »Natürlich nicht!« »Schlagt Euch die Idee aus dem Kopf«, rief der dritte Mann zu seiner Rechten, »daß wir von jemandem gedungen sind. Wir sind rechtschaffene Patrioten und Ehrenmänner, die der Ansicht sind, daß Ihr ein Verräter 266
und daher besser tot seid!« Alle drei hatten inzwischen den Umhang über die linke Schulter zurückgeschlagen. Jeder kam langsam aus seinem Bogen heraus und schritt über den Abhang zu dem flachen mittleren Platz der Mulde: eine gute Kampfarena, ungefähr fünf Meter im Durchmesser. »Rechtschaffene Männer?« sagte Fenton leise. »Das freut mich. Dann werdet Ihr ehrlich mit mir kämpfen, daß heißt: einzeln und nicht drei zu gleicher Zeit, wie?« Der Mann zu seiner Rechten hatte eine junge, zittrige, nervöse Stimme. »Wir möchten nur unser Ziel erreichen, weiter nichts«, sagte er. »Nur ein Einfaltspinsel läßt sich auf einen Einzelkampf mit dem Teufel in Samt ein!« »Was sagt Ihr da?« »Nun, so nennt man Euch. Habt Ihr je etwas anderes getragen als Samt?« fragte der bärtige Mann zur Linken mit heiserer Stimme. »Aber Ihr seid ein Papist, ein Verschwörer und ein Spion. Wollt Ihr das abstreiten?« »Ja!« »Dennoch werdet Ihr sterben. Selbst wenn Ihr der Teufel in eigener Gestalt wäret…« Fenton riß seinen Degen heraus und sprang auf den ebenen Kampfplatz. »Nun«, sagte er in freundlichem Ton, »dann sollt ihr alle drei heute abend in der Hölle speisen. Zieht!« In diesem Augenblick dachte er oder sein zweites Ich: Hier habe ich eine gute Chance. Wenn ich flink genug bin, trägt mich ein Sprung auf die linke Seite des Mannes zu meiner Rechten. 267
Bevor er meinen Hieb parieren kann, ist meine Degenspitze in seinem Körper. Ich packe ihn mit der linken Hand und benutze ihn, um den Arm des zweiten Mannes abzuhalten, während ich rasch nach dessen Herzen ziele. Das ist im Nu geschehen. Den dritten Mann erledige ich dann in Ruhe … Drei feindliche Degen wurden gezückt, ohne jedoch in dem grünlichen Licht zu glänzen. Fenton machte einen kurzen Sprung nach rechts. Zur selben Zeit… Drei gezückte Degen verharrten regungslos. Drei breite Hüte mit der Grünbandrosette drehten sich um, als blickten sie auf etwas hinter Fentons Rücken. Die Handlung war zu spontan, zu rasch, um den Verdacht zu erregen, daß es ein geplanter Trick sei. Fenton warf einen Blick über die Schulter: unter dem vierten Bogen war Big Tom. Mit seinen mächtigen Schultern stand er wie angewurzelt da und hielt an zwei Doppelleinen die vier Doggen zurück: Vielfraß und Nacktarsch mit der Linken und Donner und Löwe mit der Rechten. Ihre sehnigen Muskeln schienen sich zu straffen; ihre Köpfe saßen auf schweren Schultern; ein leises, gurgelndes Knurren drang aus ihren Kehlen, während ein Zittern über ihr Fell lief. Der Mann, der Fenton gegenüberstand, ließ wieder sein dünnes Kichern hören und kehrte langsam über den kleinen Hang zu seinem Bogen zurück. Mit unsteten Fingern versuchte er, den Degen wieder in die Scheide zu stecken. Fenton ließ seine Klinge ebenfalls unauffällig in die Scheide gleiten. Der Kicherer war ihm nicht sehr sympathisch. »Tom!« rief er. »Ja, Sir?« 268
»Wenn ich das Signal gebe, Donner und Löwe loszulassen, kannst du dann die beiden anderen festhalten?« »Ja, Sir!« Fenton zeigte mit dem Finger direkt auf den Kicherer. »Der da drüben!« rief er. Dann zog er rasch seinen Degen aus der Scheide. »Donner! Löwe! Faßt!« Die zwei Doggen schossen wie ein Blitz über den Rasen: eine geströmte und eine lohfarbene Gestalt. Donners fauchendes Knurren wetteiferte mit der süßen, unermüdlichen Melodie der Kapelle. »Tom«, sagte Fenton, während er rasch seinen Umhang und Megs Cape vom Boden aufhob, »ich glaube, wir machen uns am besten aus dem Staube. Sonst gibt's womöglich einen öffentlichen Skandal, und wir werden vor den Richter geschleift. Wir …« Er hielt inne. Der Kicherer hatte bereits kehrtgemacht und sich in die Dunkelheit gestürzt, als Fenton auf ihn zeigte. Auch die anderen beiden Männer hatten klugerweise das Weite gesucht. Der Kicherer wurde einzig und allein durch die Dunkelheit vor der Vernichtung bewahrt; denn im Dunkeln konnten die Doggen nicht gut sehen, und ihr Geruchssinn wurde durch den überwältigenden Duft von Blumen und Bäumen gestört. Einer der Hunde knurrte und stolperte über Steine. Ein künstlicher Baum fiel um. Dann wurden die Laute hörbar, die andeuteten, daß ihr Opfer in Sicht war.
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»Tom«, sagte Fenton, »ich befürchte sehr, daß sie sich dem Musiktrio nähern. Diese Musik …« Die Musik schien nicht einfach aufzuhören, sondern vielmehr zu explodieren. Es gab einen lauten Krach, als das Spinett mit schrillenden Saiten umfiel. Die Viola kreischte wie ein gestochenes Schwein, während ein wildes Geschrei in italienischer Sprache ausbrach. Die Baßviola – ein viel kleineres Instrument als heutzutage, schön bemalt und mit einer Schnecke in Form eines Männergesichts – diese Baßviola flog senkrecht in die Luft. »Donner! Löwe! Hierher!« Dreimal brüllte Fenton mit der ganzen Kraft seiner Lungen. Es entstand eine Pause. Im ganzen Waldland – als sei Spring Gardens ein empfindendes Wesen geworden –, ertönte leises Gelächter, das über die Pfade schallte und dann erstarb. Die Doggen trotteten langsam zur Lichtung zurück. Obwohl jeder von ihnen Blut an seiner Wamme hatte, wußte Fenton, daß sie keinen großen Schaden angerichtet hatten. Sie waren niedergeschlagen und schlichen fast schuldbewußt einher. Donner und Löwe hatten offenbar das Gefühl, daß sie etwas falsch gemacht hatten; sie hatten nicht getötet; oder waren sie ungehorsam gewesen? Fenton tröstete sie mit ein paar freundlichen Worten. »Schnell!« sagte er zu Big Tom. »Wir müssen versuchen, meine Frau zu finden!« Big Tom, dem die beiden anderen Hunde, Vielfraß und Nacktarsch, viel zu schaffen gemacht hatten, fand die vier Tiere jetzt gehorsam. 270
Er führte sie aus der Lichtung und ließ sie aufs Geratewohl nach rechts laufen. Fenton, der ihnen nacheilte, stand plötzlich Captain Duroc gegenüber, der sich mit Hilfe der Hecke und seines gesunden Beines wieder aufgerichtet hatte und sich nun auf die Krücken stützte. Die Fackel brannte wie eine Totenkerze neben ihm. »Ich Ihnen wünsche eine gute Nacht«, bemerkte Duroc höhnisch. »Wir haben mehr untereinander ins reine zu bringen als ein gebrochenes Bein. Da ist auch eine Dame, Madam York. Sie …« »Zieht einen anderen vor?« fragte Fenton aalglatt. »Wie überaus töricht von ihr! Gute Nacht!« Er rannte Big Tom und den Doggen nach. Der Blick in Durocs Augen hatte ihm verraten, daß es kein leichtes Duell sein würde, das ihm bevorstand. Plötzlich blieb er stehen, um sich zu orientieren. Die hohe, dichte Hecke zu seiner Linken war der äußere Rand des Labyrinths. »Tom«, meinte er, »die Doggen könnten uns ein Loch in diese Hecke reißen, und wir wären im Handumdrehen draußen. Wenn meine Frau nur …« In diesem Augenblick sah er Lydia, die sich auch an die äußere Hecke hielt und auf sie zulief. Sie war ganz atemlos und hochrot im Gesicht von der Anstrengung, trug aber eine unbekümmerte, fast lächelnde Miene zur Schau. Er hatte vollständig vergessen, daß Megs Cape über seinem linken Arm hing. Wenn Lydia es gesehen hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Auf Fentons Befehl rissen die Hunde ein großes Loch in die Hecke, so daß die anderen beinahe aufrecht hindurchgehen konnten. 271
»Potzblitz!« rief Fenton. »Da wären wir ja praktisch am Ausgangspunkt angelangt. Hier beginnt die Pall Mall. Ich dachte, wir wären irgendwo im Park herausgekommen. Du nicht auch, Lydia?« »Oh, wir sind gleich zu Hause«, murmelte sie. Blaß und verstört öffnete Giles ihnen die Haustür. In der Halle brannten sämtliche Wandkerzen. »Gott sei Dank, daß Ihr sicher heimgekehrt seid, Sir«, sagte Giles erleichtert. »Mr. Reeve, der ja versprochen hatte, Euch stets zu warnen, wenn Gefahr im Anzug ist, schickte einen Brief. Ich bitte Euch untertänigst um Verzeihung, aber ich habe ihn geöffnet. Es stand darin, daß drei Gentlemen in Spring Gardens über Euch herfallen würden. Mr. Reeve wußte nicht, wo und wann.« Giles fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich hielt es für ratsam, Big Tom mit den Doggen zu Euch zu schicken.« Lydia war inzwischen ohne weitere Bemerkung auf ihr Zimmer gegangen. Big Tom brachte die Hunde nach unten, um sie für die Nacht ins Freie zu lassen. »Waren die Namen dieser ›Gentlemen‹ im Brief erwähnt?« erkundigte sich Fenton in scharfem Ton. »Nein, Sir. Er enthielt nur eine Andeutung…« Giles ließ den Satz unvollendet. »Sir, ich habe den Brief nicht bei mir. Es hat Zeit bis morgen.« Fenton gab ihm recht. Betroffen entdeckte er Megs Cape über seinem Arm. Die Situation wurde immer schlimmer. »Du hast deine Sache gut gemacht, Rotkopf«, lobte er und erstattete kurz Bericht über den Vorfall. Danach bat er 272
Giles hastig, das Cape fortzuschaffen, und ging zögernd nach oben. Obgleich er sich bemühte, eine Entschuldigung zu formulieren, gelang es ihm nicht. Lydias Tür war geschlossen. Er klopfte an, was er sehr selten tat, und wurde gebeten, einzutreten. Eine einzige Kerze brannte im Zimmer, und Lydia, die Kleid und Haare wieder in Ordnung gebracht hatte, stand vor dem Spiegel. Abermals versuchte Fenton, die richtigen Worte zu finden. Er würgte und würgte und brachte schließlich nur die Frage hervor, ob sie etwas zu essen oder zu trinken wünsche. »Danke für die Nachfrage«, sagte Lydia in kühlem Ton und drehte sich um. »Aber wir müssen sicherlich lange bei Tisch verweilen, ehe unser Gast ankommt.« »Was für ein Gast?« »Nun«, meinte Lydia, überrascht die Augenbrauen hochziehend, »wer denn anders als deine süße Meg? Was? Nicht auf Meg warten? Wie zärtlich du ihr Cape an deine Brust preßtest!« Ihre Stimme nahm einen wilderen Klang an. »Was hast du mir doch für einen listigen Streich gespielt! Mich einfach in diese vulgären Anlagen von Spring Gardens zu locken, wo ich gar kein Verlangen danach hatte! Ich darf wohl meinen eigenen Augen nicht mehr trauen, wie? Aber fürwahr! Sie lag auf dem Rücken, und du warst im Begriff…« »Lydia! Du benimmst dich wie ein Kind.« Aus Lydias Gesicht wich langsam die Farbe, so daß ihre Augen ungeheuer groß wirkten.
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Dann begann sie zu reden, und es war wie die Entladung sämtlicher Geschütze einer Breitseite. Wenn Fenton bisher Anzeichen ihrer heftigen Besitzgier und Eifersucht bemerkt hatte, war er entweder amüsiert gewesen oder hatte sich gar geschmeichelt gefühlt. Er hatte sich eben wie ein neubackener Ehemann in der vierten Woche des Flittermonats benommen, der er gewissermaßen ja auch war. Später werden die Männer schlauer, und so erging es ihm jetzt. Es war eine böse Gardinenpredigt, und sie dauerte eine halbe Stunde. Lydia sezierte Megs Charakter und gleichzeitig seinen eigenen. Jede vornehme Dame hatte ein ausgedehntes Vokabular von derben Ausdrücken und gebrauchte es auch, sogar ganz ungezwungen, in der Öffentlichkeit. Lydias Stimme wurde laut, als sie Kitty und Fenton zerfleischte und deren Beziehungen beschrieb, wie sie sich diese vorstellte. Als er angewidert protestierte, verlangte sie zitternd zu wissen, ob er sich denn nicht bewußt sei, daß er ihren Diamantring gestohlen habe, um ihn der Schlampe zu schenken? Je mehr sie tobte, desto phantastischer wurden die Anklagen, die sie ihm ins Gesicht schleuderte. Es gab keine Handlungsweise – vom Geiz bis zum Mord –, deren sie ihn nicht bezichtigte. Da sie selbst aufs tiefste verletzt war, trieb sie ein Impuls dazu, ebenfalls zu verletzen und immer wieder zu verletzen. Einmal stürzte sie sich sogar mit dem goldenen Dolch auf ihn und stach blindlings zu. Er mußte ihr fast das Handgelenk brechen, ehe sie von ihm abließ. Und Fenton … Er hatte eine schwierigere Aufgabe. Er bemühte sich zwar, das Schweigen zu wahren, aber er geriet allmählich 274
auch in Zorn, und damit nahm Sir Nick von ihm Besitz. Die fleischlose Hand packte ihn; die dürren Gebeine klapperten in dem morschen Sarg. Fenton preßte sich die Hand auf die Augen und wehrte sich mit aller Gewalt dagegen. Wenn Sir Nick jetzt die Oberhand gewinnen sollte, waren die Folgen nicht auszumalen. Doch allmählich verschwand die Dunkelheit, die sich auf ihn herabzusenken drohte, und er wußte, daß er wieder den Sieg davongetragen hatte. Aber er mußte unbedingt den Raum verlassen. Gemessenen Schrittes ging er zur Tür und schlug sie hinter sich zu, was die Wirkung seines Verhaltens ein wenig beeinträchtigte. Er hörte, wie Lydia sofort hinzusprang und den Riegel vorschob. Das Haus lag völlig im Dunkeln. Fenton fiel taumelnd gegen die Wand und tastete sich daran entlang. Sobald er etwas ruhiger geworden war, rief er nach Giles, der bald darauf aus der Dunkelheit auftauchte, in jeder Hand eine Kerze. »Was gibt's denn, Sir? Wieder ein neuer …?« Giles brach ab. »Zünde die Kerzen in meinem Studierzimmer an, guter Freund. Dann hole eine Karaffe unseres besten Kanariensekts. Nein, halt: unseres besten Brandys.« »Sir! Dürfte ich vielleicht…« Fenton warf ihm einen einzigen Blick zu, und Giles verschwand, ohne ein Wort zu sagen. Fenton wischte sich den Schweiß von der Stirn, und nach einer Weile fühlte er sich besser. Die Tür zu seinem 275
Studierzimmer war offen. Auf dem großen, polierten Schreibtisch inmitten der mit Büchern bedeckten Wände brannte flackernd eine Kerze in einem silbernen Halter. Fenton setzte sich in den Schreibtischsessel. »Ich liebe sie«, sagte er laut zu der Kerzenflamme. »Es war meine Schuld. Das gebe ich zu. Und auf irgendeine Weise muß ich sie wieder in gute Laune versetzen. Dennoch …« In Gedanken sah er Meg York vor sich. Er konnte ihr nicht widerstehen, daß wußte er jetzt. Aber warum nur? Wegen ihrer verlockenden körperlichen Reize? Ja; aber die besaß Lydia auch. Allerdings hatte er Meg nie in dem Sinne gekannt, wie er Lydia kannte. Sie mußte aber wahnsinnig aufreizend sein, wenn sie die Puritanerin noch übertraf. Oder lag es an ihrer Leidenschaft, ihrem geheimnisvollen Wesen, ihrer äußersten Unbekümmertheit in allen ihren Handlungen – ein Sprühteufel, wie ihn viele Männer gesucht und manche gefunden haben? Aber jetzt gab es noch etwas anderes, das sie zueinandertrieb. Meg war Mary Grenville. Er hatte ihr Gesicht gesehen, ihre Stimme gehört, die durch die Spracheigentümlichkeiten dieses Zeitalters so sehr verändert war wie ihre äußere Erscheinung durch Frisur und Kostüm. In seinem früheren Dasein hatte er Ma – nein, es war besser, sie Meg zu nennen – nie in einer solchen Haartracht gesehen. Auch hatte er nie besonders auf ihre Figur geachtet. Sie war ein Wandergenosse in einem anderen Jahrhundert. Bei all ihrem Schneid mußte sie sich oft recht einsam und verängstigt fühlen. Dann war sie die Tochter seines alten Freundes … Fenton schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich darf sie nicht wiedersehen!« sagte er laut. In seiner Tasche ruhte 276
das Stück Papier, worauf Meg ihre beiden Adressen notiert hatte. Er holte es hervor und streckte die Hand aus, um es an der Kerzenflamme zu verbrennen, hielt aber plötzlich inne. »Wie ist Mary Grenville Meg York geworden?« fragte er sich plötzlich. »Warum ist sie hier? Allen meinen Fragen ist sie ausgewichen, oder sie hat mich auf später vertröstet. Aber die Antworten auf diese Fragen muß ich haben!« Aus diesem Grunde – das redete er sich jedenfalls ein –, trat er an einen der Bücherschränke, nahm einen Band heraus und legte das Stück Papier zwischen die Blätter. Er stellte das Buch zurück an seinen Platz und saß bereits wieder im Sessel, als Giles eintrat. Giles trug ein Tablett mit einer Kerze, einer Glaskaraffe Brandy, der im Licht wie Bernstein schillerte, und einem gewölbten Glas. Man trank Brandy unverdünnt. Alle – von den Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften bis zum gemeinsten Mann auf der Straße – wußten, daß Wasser für den Menschen ungenießbar war. Man ließ es den Tieren. Giles blieb noch eine Weile unschlüssig stehen und schnitt merkwürdige Grimassen. »Na«, sagte er schließlich, »wenn Ihr die Absicht habt…« »Vielen Dank. Aber ich brauche keinen Rat. Ich werde mich nicht die ganze Nacht betrinken, geschweige denn eine ganze Woche.« Sobald Giles fort war, goß sich Fenton fast ein ganzes Glas ein. Nach einigen tiefen Zügen begann der Brandy seinen Kummer abzustumpfen.
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Morgen würde er sich irgendwie wieder mit Lydia aussöhnen. Niemals, bei Gott, würde er ihr untreu werden! Und dieses Schreckgespenst der Vergiftung? Das war es, was er fürchtete, schrecklich fürchtete. Aber es konnte nichts passieren. Er ließ Lydia zu scharf bewachen. In Gedanken sah er wieder die Daten seines Lebens als Sir Nicholas Fenton: Geboren am 25. Dezember 1649; gestorben am 10. August 1714. Er und Lydia würden das Schauspiel dieser Zeit abrollen sehen: in der Hauptsache Verrat und Unruhe, aber hin und wieder auch ein Zeichen von Größe. Und er konnte wenigstens glücklich sterben, ehe der erste Hannoveraner den britischen Thron bestieg. Ganz in solchen Gedanken verloren, merkte er plötzlich, daß der Brandy seinen Verstand umnebelt hatte. Aber das durfte nicht sein; sonst konnte er Lydia ja nicht beschützen. Leise schwankend zog er sich an der Tischkante hoch und umklammerte den Kerzenhalter mit festem Griff. Mit zusammengebissenen Zähnen stapfte er nach oben in sein Schlafzimmer, wo er nur einmal taumelte, als er die Tür schloß. Dann blies er die Kerze aus, sank quer über das Bett und schlief sofort ein. Obwohl er am nächsten Morgen einen starken Kater hatte, vertrieben die hellen, warmen Sonnenstrahlen alle seine Zweifel und ließen den gestrigen Zank töricht erscheinen. Nach einem ausgiebigen Bad war er wieder in allerbester Laune. Er ließ sich von Giles rasieren und gestattete ihm, ihn mit größerer Sorgfalt als üblich zu kleiden, was Giles große Befriedigung verschaffte. Auf dem Ankleidetisch lag seine Zahnbürste mit dem hellroten Griff, die Big Tom mit Sorgfalt geschnitzt und mit so guten Borsten versehen hatte, daß 278
Fenton nicht zu fragen wagte, woher sie stammten. Eine zweite, blau angemalte Zahnbürste lag auf Lydias Ankleidetisch. Da er keine Zahnpasta bekommen konnte, mußte er sich mit parfümierter Seife begnügen, die dem Mund wenigstens eine gewisse Frische verlieh. Wie immer, eilte er auch an diesem Morgen in die Küche hinunter und probierte Lydias Morgenschokolade, ehe sie zu ihr hinaufgeschickt wurde. Da man noch keine neue Köchin gefunden hatte, füllte Nan Curtis einstweilen diesen Posten aus. Obwohl sie äußerst zuverlässig war, wurde sie von Big Tom so scharf bewacht, daß sie mehr als einmal in Tränen ausbrach. Dann begleitete Fenton Bet, die neue Zofe, als sie das Tablett mit der Schokolade nach oben trug, um sich zu vergewissern, daß niemand sich damit zu schaffen machte. Obgleich Lydias Ausbruch noch an seinem Herzen nagte, hatte er doch eine Entschuldigung bereit, als Bet an die Tür klopfte. »Ja?« ertönte Lydias Stimme erwartungsvoll. Dann schwieg sie, und es lag ein gewisser Hochmut in diesem Schweigen. »Hier ist Bet, Mylady, mit der Schokolade.« »Oh.« Eine lange Pause. Dann mit ein wenig zitternder Stimme: »Ist mein Mann auch da?« »Ja, Mylady.« »Dann sei so gut, liebste Bet, und sage ihm, daß seine Abwesenheit höher geschätzt wird als seine Gesellschaft.« Fenton ballte die Faust und holte tief Atem. »Tu, was diese verflixte Frau dir gebietet«, sagte er laut und vernehmlich zu Bet.
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Dann ging er den Flur hinunter. In einer dunklen Ecke bemerkte er Judith Pamphlin, die immer noch mit verschränkten Armen Wache hielt. Sosehr er sie auch verabscheute, war er doch froh über ihre Wachsamkeit. Pünktlich um zwölf Uhr, wie jeden Tag, nahm er einen Schlüssel und öffnete ein Schränkchen in seinem Studierzimmer. Mit einem anderen sehr kleinen Schlüssel schloß er das Tagebuch auf, das er niemandem bisher gezeigt hatte. Sorgfältig tauchte er die Feder in die Tinte und trug das Datum ein; 6. ]uni, obwohl der Tag erst um Mitternacht endete. Noch vier Tage … Er konnte das Schicksal abwenden. Das wußte er. Der 10. Juni würde schließlich abgestrichen werden. Er beschloß, alle Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen. Aber er konnte nirgends eine Lücke entdecken. Nichts geschah an diesem heißen Tage. Lydia weigerte sich zu essen; Fenton nahm ebenfalls keine Nahrung zu sich. Es kam ein höflicher, fast demütiger Brief von den Besitzern von Spring Gardens. Im Brief war von einen leichten Schaden die Rede, und man gestattete sich, eine Rechnung zu präsentieren. Obgleich die Rechnung viel zu hoch war, beglich Fenton sie umgehend durch einen Boten, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Bei Einbruch der Nacht, als die Kerzen angezündet wurden, saß er in seinem Studierzimmer und las zuerst den besänftigenden Montaigne und dann den weniger besänftigenden Ovid. Schließlich klappte er das Buch zu und kam zu einem Entschluß. Gelassen stieg er in die Küche hinab, wo er sich 280
eine kleine Axt mit einem kurzen Griff holte. Ebenso gelassen ging er nach oben vor Lydias Zimmer. Mit ein paar wohlgezielten Schlägen, die laut krachend durchs Haus hallten, sprengte er die Tür, so daß sie ins Zimmer fiel. »Nun hör mich an, Weib –!« Er brach sofort ab. Es war ihm, als sei ein Kavallerieangriff nur auf Wolken gestoßen. Denn Lydia saß aufrecht im Bett und streckte ihm die Arme entgegen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und ihr Mund zitterte. Er stürzte ans Bett, und es folgte eine stürmische Umarmung. »Es war meine Schuld«, riefen beide wie aus einem Mund. In dem Stimmengewirr, das nun ertönte, hätte ein Lauscher kein Wort unterscheiden können; denn beide redeten zu gleicher Zeit, und jeder überschüttete sich selbst mit Vorwürfen und Schimpfnamen. Giles stand unterdessen im Flur und befestigte geduldig einen großen Wandteppich über dem offenen Türeingang, wobei er die Nägel so leise einschlug, daß selbst Judith Pamphlin es nicht hörte. Von der stürmischen Versöhnung gingen Fenton und Lydia zu den Zärtlichkeiten über, die die Krone aller Versöhnungen darstellen, und sprachen in leisem Flüsterton noch lange nachdem die letzte Kerze bis auf einen glimmenden Funken niedergebrannt war und erlosch. Sie sagten sich immer wieder, wie töricht sie gewesen seien, und Lydia schluchzte zum Steinerweichen. Sie schworen sich unzählige Male ewige Liebe. Sie gelobten sich, niemals wieder und unter keinen Umständen zu zanken; niemals, niemals … Nun, das kennen wir alle. Seit Ewigkeiten werden solche Schwüre in das Ohr der 281
flüchtigen Zeit geflüstert: und doch sind sie – zumindest für den Augenblick – immer ernst und aufrichtig gemeint. »Von ganzem Herzen, Nick?« »Von ganzem Herzen, Lydia.« Am nächsten Morgen faulenzten sie dann lange im Bett. Am Nachmittag hatte Fenton geschäftlich in der City zu tun. Ehe er fortging, trug er den 7. Juni in seinen Kalender ein. Es war ein drückend schwüler Tag. Der Himmel war mit grauen Wolken bedeckt. Mehrere Male drangen beunruhigende Geräusche aus dem Stallhof an sein Ohr, und er schickte jemanden hin, um sich nach der Ursache zu erkundigen. Er selbst hielt sich meistens den Stallungen fern. Da er in seinem früheren Leben nur ein mäßiger Reiter gewesen war, kannte er sich mit Pferden nicht so gut aus wie Sir Nick und fürchtete sich vor einem bösen Schnitzer. Dick, der Stalljunge, berichtete, daß eins der Kutschpferde erkrankt sei, aber nicht so ernsthaft, daß es der Pferdedoktor nicht bald heilen könnte. Fenton ließ seine schwarze Stute Sweetquean satteln und vor die Haustür bringen. Da Big Tom die zerschmetterte Schlafzimmertür wie durch ein Wunder noch vor Mittag ausgebessert hatte, eilte er nach oben, um Lydia letzte Instruktionen zu erteilen. »Schiebe den Riegel vor. Öffne niemandem diese Tür. Sollte jemand klopfen, frage, wer es sei. Wenn du keine Antwort bekommst, rufe aus dem Fenster nach Whip, dem Kutscher, oder Job, dem Stallknecht, und lasse sie eilig mit
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Keulen und Knütteln ins Haus kommen. Versprichst du mir das?« »Oh, ja! Oh, ja!« rief sie in leidenschaftlicher Unterwürfigkeit. Sie senkte den Kopf und schmiegte sich dichter an ihn. »Nick! Was sie angeht…« Sie konnte sich immer noch nicht dazu bringen, Megs Namen zu äußern. »Du wolltest doch nicht allen Ernstes …« »Nein!« versicherte er ihr, und im Augenblick glaubte er es selbst. Vor der Haustür befand sich eine Auffahrt, und die Reihe der Lindenbäume zeigte eine breite Lücke, durch die die Kutschen ein und aus fahren konnten. Fenton bestieg Sweetquean und ließ sich von Dick die Zügel reichen. Auf Umwegen ritt er dann in die City, um die Beine seiner Stute in dem dichten Verkehr vor Schaden zu bewahren. Er hätte diesen Ritt überhaupt nicht unternommen, wenn er nicht darauf bedacht gewesen wäre, eine richtige Köchin zu engagieren, am liebsten eine französische. Obgleich Nan Curtis ihr Bestes tat, sehnte er sich nach einer Köchin, die ein Mahl zubereiten konnte, ohne ihm jeglichen Reiz zu rauben. Nun, das würde wohl wieder einen Sturm im Wasserglas verursachen, aber das mußte er auf sich nehmen. In Wills Kaffeehaus hatte er kürzlich einen Mann getroffen, der offenbar zu Sir Nicks Freunden zählte, einen jungen Wissenschaftler namens Isaac Newton. Mr. Newton hatte ihm den Namen einer älteren Französin genannt und ihm ihre Adresse in der Fleet Street gegeben.
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Also galoppierte er die lange, halb ländliche Oxford Road entlang, von wo aus er auf einem offenen Feld in der Ferne den Galgen von Tyburn sehen konnte, ritt durch Holborn, schlug dann eine südliche Richtung ein und kam durch mehrere enge, kleine Gassen, bis er Madame Taupins Wohnung in der Fleet Street fand. Es dauerte eine geraume Weile, bis Fenton Madame Taupin, eine Frau mit geziert vornehmem Gehaben, für seinen Plan gewinnen konnte. Als er sie endlich überredet hatte, die Stelle am 12. Juni anzutreten, und heimwärts ritt, verdüsterte sich der Himmel und wirkte wie ein erstarrtes Meer. Hin und wieder wehte ein Windstoß wie heiße Luft aus einem Ofen. Es lag ein Gewitter in der Luft, das nicht zum Ausbruch kommen konnte. Bei seiner Heimkehr traf er Lydia bei der Abendtoilette an. Nach Eintritt der Dunkelheit wisperte der Wind geheimnisvoll durchs Haus. Fenton, der in sein Studierzimmer ging, um einige Abrechnungen zu prüfen, die Giles ihm vorgelegt hatte, fand das Licht so unstet, daß er acht Kerzen anzündete. Doch die Flammen huschten hin und her und wollten nicht klar brennen. Ein Gefühl der Beklemmung beschlich ihn. Plötzlich betrat Giles das Studierzimmer. Sein Gesicht war zunächst ausdruckslos. Er trat langsam an den Schreibtisch und überbrachte seine Nachricht. »Sir«, sagte er barsch, »die Hunde sind vergiftet.«
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XIV »Die Hunde?»wiederholte Fenton, als begreife er nicht. Der Zugwind ließ ein Stück Papier aus seiner Hand in eine Kerzenflamme flattern. Giles drückte es mit seinen knochigen Fingern aus, als es Feuer fing, so daß die Funken stoben. »Da ich mich bei einem so gelehrten Mann einer präzisen Ausdrucksweise befleißigen muß«, erwiderte Giles, der sich immer, wenn er schlechte Nachricht brachte, von seiner übelsten Seite zeigte, »will ich mich deutlicher ausdrücken. Ich sprach von den Doggen.« »Wann? Wie? Warum?« »Sir, es ist gestern abend geschehen. Nun flucht nicht, weil wir nicht eher davon zu sprechen wagten. Es besteht nämlich noch etwas Hoffnung.« »Hoffnung? Inwiefern?« »Job rannte wie verrückt, um Mr. Milligrew zu holen, der sich am besten mit Hunden und Pferden auskennt. Er glaubt, daß er höchstwahrscheinlich Donner und Löwe, vielleicht auch Nacktarsch retten kann, obgleich alle recht übel dran sind. Whiteboy, der Terrier, wird ja nach Einbruch der Dunkelheit nie nach draußen gelassen. Aber Vielfraß, der leider auch diesmal seinem Namen Ehre gemacht hat, ist tot.« Fenton ließ sich wieder hinter seinem Schreibtisch nieder und strich sich mit der Hand über Stirn und Perücke. »Wie ist es geschehen?« 285
»Vergiftetes Fleisch«, entgegnete Giles und zog hinter dem Rücken ein in Papier gewickeltes Stück rohes Fleisch hervor, das mit weißem Pulver bedeckt war. »Wieder einmal Arsenik«, meinte Fenton, der mit einem Gänsekiel daran herumstocherte. »Sieh nur, es ist geruchlos und in Pulverform. Es sind keine Kristalle anderer weißer Gifte, wie Antimon oder Strychnin, vorhanden. Nein! Es ist schon Arsenik.« Giles verschränkte die Arme. »Und was bedeutet das?« »Es bedeutet, daß ich ein Narr gewesen bin!« »Oh, zweifellos«, murmelte Giles. »Aber – inwiefern?« »Das will ich dir erklären«, erwiderte Fenton, der wieder aufsprang und inmitten der flackernden Kerzen auf und ab ging. »Meine ganze Sorge ist darauf gerichtet, meine Frau vor Vergiftung zu bewahren. Ich habe alle im Haus einer gründlichen Untersuchung unterzogen. Würde einer von ihnen ihr Schaden zufügen?« »Nein«, antwortete Giles und blickte auf seine Schuhe herab. »Die gnädige Frau ist sehr beliebt.« »Und deshalb bin ich ein Narr. Gegen alle im Haus war ich auf der Hut – aber nicht ein einziges Mal habe ich den Blick nach außerhalb gerichtet, an einen Freund gedacht…« »Freund?« »Einen sogenannten Freund. Eine solche Person braucht nur ein Wort zu sagen – die Doggen kennen ihre Stimme –, und die Hand auszustrecken, um sie lecken zu lassen. Die Tiere würden nicht bellen.« 286
»Unter Einbrechern«, meinte Giles, »ist das ja allgemein so Sitte. Aber aus dem Hause ist nichts gestohlen, nicht einmal ein silberner Löffel. Warum also die Hunde vergiften?« »Weil sie heute nacht nicht hier sein sollen, wurden sie gestern nacht vergiftet. Und gleichzeitig wurde wahrscheinlich von dem Schloß einer Tür – wahrscheinlich der Haustür – ein Wachs- oder Seifenabdruck gemacht. Ein Schlosser kann den Schlüssel in einem Tage anfertigen …« »Und heute nacht?« »Nun, heute nacht wird jemand erscheinen – vielleicht unsere gute Kitty, die ja als Köchin die Hunde fütterte –, um in aller Ruhe die Juwelenkästen zu plündern und die Speisen meiner Frau zu vergiften. Habe ich es richtig gedeutet?« Giles, der aus irgendeinem Grunde bei der Erwähnung von Kittys Namen zusammenzuckte, blickte Fenton ins Gesicht und schüttelte den Kopf. »Nein, Sir«, antwortete er gelassen. »Ihr seid zu sehr mit Mylady Fenton beschäftigt und habt noch nicht die Tiefe dieser Angelegenheit ergründet.« Fenton erwiderte nichts darauf, sondern nickte nur erwartungsvoll. Der Wind, der die Kerzen so unstet flackern ließ, hatte sich inzwischen gelegt und eine schwere, drückende Luft zurückgelassen. Fenton kehrte wieder zu seinem Stuhl zurück. »Sir Nick, dieser Vorfall hat tiefere Wurzeln, als Ihr denkt. Es ist eine politische Sache, bei der es vielleicht sogar um den Thron selbst geht! Mylord Shaftesbury steht im Begriff, aus kleinen Anfängen 287
eine ungeheure Oppositions- oder Landpartei zu bilden, die als Kennzeichen ein grünes Band trägt, und ist besonders darauf bedacht, die mobile Partei aufzustacheln …« »Nenne sie Mob, Giles. Der Name wird bald in aller Munde sein.« »Nun, und Ihr würdet ganz allein unter Hunderten von ihnen ›Gott für König Charles!‹ rufen, jedesmal, wenn sie Euch angegriffen haben – oder Ihr sie – habt Ihr sie dem Spott und dem Gelächter der Menge preisgegeben. Diesen hochgestellten Männern der Landpartei darf eine solche Behandlung nicht zuteil werden, sonst büßen sie an Macht ein. Sie müssen deshalb dafür sorgen, daß dem ein Ende gemacht wird.« Giles, der sehr blaß geworden war, trat vom Tisch zurück. Fenton hob den Kopf, und Giles sah mit Bestürzung das seltsame Lächeln und das erwartungsvolle Glitzern in den Augen seines Gebieters. »In schlichten Worten«, meinte Fenton, »sie müssen mich mit einer größeren Menge angreifen und zermalmen. In noch schlichteren Worten: sie müssen mein Haus angreifen und mich hervorlocken.« »Sir, ich will nicht behaupten, daß dies geschehen wird. Aber die Möglichkeit besteht. Und wenn, dann heute nacht!« »Was mich angeht«, sagte Fenton in aller Gemütsruhe, »so bete ich sogar darum, daß sie den Versuch machen. Denn ich habe mich in Gedanken schon damit befaßt…« »Was sagt Ihr da?«
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»Und habe einen kleinen Plan ersonnen. Komm her und schau, ich mache eine Skizze.« Giles trat näher. Fenton nahm einen Pergamentbogen, tauchte die Gänsefeder in die Tinte und skizzierte mit ein paar raschen Strichen einen kleinen Schlachtplan, den er mit kurzen, eindringlichen Worten erklärte. Zuletzt schrieb er fünf Namen nieder, darunter auch seinen eigenen. Dann schien er zu zögern, während Giles vor sich hin pfiff. »Aber …«, begann Fenton voller Verzweiflung. »Sprecht, Sir! Was bekümmert Euch?« »Diese Leute«, sagte Fenton, auf die Namen deutend, »sind meine Diener. Kann ich, darf ich sie überhaupt bitten, ihr Leben für mich zu wagen?« Giles lief behende zur anderen Seite des Tisches und blickte seinen Herrn erstaunt an. »Blitz!« rief er ganz verdutzt. »Es wird doch von allen Gebietern verlangt. Und noch eins, Sir! Habt Ihr Euch überlegt, was Eure Diener – Männer wie Frauen – von Euch halten? Jedenfalls seit einem gewissen Datum?« Seine Augen bekamen einen verschlagenen Ausdruck. »Genauer gesagt, seit dem 10. Mai dieses Jahres?« Fenton hatte das Gefühl, als ob das Spitzenband an seinem Hals enger würde. Er blickte nicht auf. Der 10. Mai war der erste Tag seines neuen Lebens im alten London gewesen. Giles fuhr indessen, seltsam bewegt, fort: »Hat einer seitdem für das leiseste Vergehen die Peitsche oder gar die Neunschwänzige Katze zu spüren bekommen? Hat man je wieder das wahnwitzige Toben in den Ställen mit ansehen müssen, das beinahe zu einem Mord geführt hätte? 289
Und habt Ihr seitdem mit den gemeinsten Huren von Whetstone ein Zechgelage veranstaltet? Und sie in Eurem eigenen Salon geheißen, nackt und betrunken Lieder zu singen? Während Ihr im Sessel lagt, in jeder Hand eine Flasche, und kräftig mitsangt?« Fenton hob protestierend die Hand, obgleich er immer noch den Blick gesenkt hielt. »Verschone mich. Ich gebiete es dir!« »Zu Diensten, Sir.« Giles zuckte die Achseln. Beide schwiegen eine Weile. »Dennoch frage ich«, platzte Giles von neuem hervor, »wie steht's mit diesen Dienern jetzt? Sie haben alles, was sie begehren, und noch mehr. Die einzige Härte, die sie auszustehen haben, ist ein Bad. Einige waren zugegen, als Ihr das Geheimnis der vergifteten Sektmolke aufdecktet, als hättet Ihr Augen, die durch Backsteinwände sehen können. Sie sahen, wie diese Schlampe Kitty nicht an den Galgen befördert, sondern mit etlichen Goldstücken in der Hand freigesetzt wurde. Sir, sie würden für Euch in den Tod gehen. Und ich selbst, bin ich nicht dankbar?« »Zum letztenmal, hör auf damit!« Fenton blickte immer noch nicht auf. Er dachte über den merkwürdigen Ausdruck in Giles' Augen bei der Erwähnung des 10. Mai nach und fragte sich, wieviel Giles wußte oder erriet. Und Lydia? Nein, Lydia konnte nichts erraten haben. »Nun«, meinte Giles, »dann will ich von etwas anderem reden. Aber eins, Sir, muß geändert werden!«
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Er tippte mit seinem knöchernen Zeigefinger auf die fünf Namen, die Fenton an den Rand des Pergaments geschrieben hatte. »Sir Nick, Ihr kennt mich als einen ziemlich guten Degenfechter. Auch kann ich den Dolch geschickt handhaben. Warum steht mein Name nicht hier? Warum gehöre ich nicht zu den fünf Leuten, die das Haus verteidigen sollen?« »Giles, Giles, du bist… keiner der jüngsten mehr. Das habe ich festgestellt, als wir uns zuerst miteinander maßen.« Giles stellte sich in Positur. »Sir, Ihr könnt es nicht verhindern«, sagte er gelassen. »In dieser Nacht, so Gott will, kämpfe ich an Eurer Seite.« Fenton traten die Tränen in die Augen, und er verdeckte sie rasch mit der Hand. Obgleich nicht mehr viel vom alten Professor Fenton übriggeblieben war, so doch noch genug, um zu bewirken, daß ihn eine große Verlegenheit überkam und er es vermied, Giles anzusehen. »Schon gut«, brummte er und schrieb rasch Giles' Namen an das Ende der Liste. »Im Augenblick ist wenig zu machen. Bitte, gehe nach unten und setze Big Tom, Whip, Job und Harry von unserem Plan in Kenntnis. Laß die Waffen, die ich gewählt habe, bereitstellen.« Giles war wieder voller Energie. »Soll ich die Fensterläden schließen lassen, Sir?« »Nein! Auf keinen Fall! Dann wären sie ja gewarnt, daß wir sie erwarten. Alle Mann zu Bett, bis wir geweckt werden. Harry soll Wache stehen. Bis zehn Uhr sind die Lichter zu löschen. Und kein Wort davon zu Mylady.« »Sir, das versteht sich.« Und Giles rannte. 291
Fenton schob seine Perücke zurecht und ging dann nach oben, um sich vor dem Abendessen zu waschen. Zweifellos, dachte er, war diese Idee von einem nächtlichen Angriff der reinste Wahnsinn, erzeugt von der lastenden Hitze, dem Gewitter, das nicht zum Ausbruch kam, und einem Gefühl, als ob Läuse an freiliegenden Nerven entlangkrabbelten. Immerhin war es eine Möglichkeit. Und Lydia … Als er mit Lydia zu Tisch saß in dem von Silber glänzenden, düsteren Raum mit den Ahnenbildern, versuchte er, fröhlich und unbekümmert zu sein, und lachte infolgedessen zuviel. Obgleich Lydia pflichtschuldigst mitlachte, betrachtete sie ihn ernst, um seine wahre Stimmung zu ergründen. »Nick«, fragte sie, »droht Gefahr? Ist es das, worüber du nachdenkst?« »In aller Ehrlichkeit, nein.« Er lächelte sie an und drückte ihr beruhigend die Hand. »Auf jeden Fall kann ich schwören, daß dir keine Gefahr droht.« »Das weiß ich doch«, protestierte sie in aufrichtiger Überraschung. »Bist du nicht bei mir?« Abermals senkte Fenton den Kopf, während er die scheußliche Omelette probierte, die für sie zubereitet war. »Du möchtest mich irgend etwas fragen!« sagte Lydia plötzlich und hielt den Atem an. »Liebes Herz, was ist es?« Ihr Instinkt war beinahe unheimlich; wieder traf der Pfeil direkt ins Schwarze. Er überlegte sich nämlich gerade, wieviel sie von Sir Nicks Verwandlung wußte und wie tief sie wohl von diesem verletzt worden war. Aber er lachte 292
nur und schwor bei allem, was ihr teuer war, daß er keine Frage an sie habe. »Na schön!« rief sie erleichtert, aber immer noch etwas im Zweifel. Sie blickte über ihre Schulter, als wolle sie sich vergewissern, daß niemand sie hören könne. »Ich möchte dir etwas sagen. Versprich mir aber, daß du dich nicht über mich lustig machen wirst.« »Habe ich das je getan?« »Seit Tagen«, sagte Lydia mit leiser Stimme, »bin ich von einer seltsamen Ahnung erfüllt. Ich habe das Gefühl, daß ich bald sterben werde.« Fentons Messer fiel klirrend auf den Tisch. »Lydia! Das darfst du nie sagen!« »Es ist wohl nur Einbildung«, meinte sie, wahrend ihre Augen unstet umherirrten. »Ich möchte jetzt nicht sterben, wo du und ich einander gefunden haben.« Sie wandte sich ihm zu. »Sag mir, daß es Unsinn ist!« Er versicherte es ihr. Er versicherte es ihr so lange, bis sie wieder voller Zuversicht war und sogar lachte. »Pah, ich bin einfältig!« erklärte sie und warf den Kopf in den Nacken. »Ich will nicht mehr daran denken.« Aber Fenton mußte daran denken. An diesem Abend gingen sie vor zehn Uhr zu Bett, und zwar wie üblich in Lydias Zimmer. Er herrschte immer noch eine drückende Hitze, und kein Windhauch regte sich. Vor dem Schlafengehen legte sich Fenton einen alten Anzug und Waffen zurecht. Da weder er noch Lydia sich mit Nachtgewändern abplagten, konnte er in wenigen Sekunden angezogen sein. Lydia beobachtete ihn bei 293
diesen Vorbereitungen, ohne irgendeine Bemerkung zu machen. Beide schliefen bald ein, obwohl er sich zuerst unruhig hin und her wälzte. Denn eins war ihm nie gelungen – nicht mit Bitten, nicht mit Schmeicheln, nicht mit Fluchen: Lydia zu überreden, nachts ein Fenster zu öffnen. Sie schwor, manchmal sogar auf den Knien, daß es sie töten würde. Die dumpfe Luft war beklemmend. Kurz bevor er in einen leichten Schlummer sank, glaubte er in der Ferne einen Blitz zu sehen. Dann wurden seine düsteren Träume verworren. Es waren eigentlich keine Alpträume, aber sie waren von etwas Drohendem erfüllt, was er weder sehen noch berühren, aber immer hören konnte. Eine verzerrte Szene spielte kurz in seine Träume hinein: Er hörte das dumpfe Keuchen einer Lokomotive und das schrille Pfeifen des Schaffners. Er stand an der Tür eines Abteils und lehnte sich in einer Art SuppentellerHelm zum Fenster hinaus. Als der Zug langsam anfuhr, reichte ihm ein ernsthaftes, hübsches, etwa fünfzehnjähriges Mädchen mit schwarzem Haar und grauen Augen einen Blumenstrauß und etwas in Silberpapier gewickelten Tabak. Das Gesicht verschwamm und verschwand, während andere ihn umdrängten. »Major Fenton?« – »Ja?« – »Telegramm, Sir.« Seine Finger entfalteten das grobe Papier des Telegramms, und er las: »Fürchte Sie im Gedränge zu verpassen habe Blumen Tabak falls wir uns nicht sehen alles Gute Ihre Freundin Mary Grenville.« Und im Hintergrunde laute Stimmen, die mit Musikbegleitung 294
sangen. Es war ein fröhliches Lied, das mit mächtiger Heiterkeit geschmettert wurde, aber bei jedem Wort schwang ein wenig Herzeleid mit. Die Stimmen wurden schwächer, so schwach, daß er kaum die Worte verstehen konnte. Der Zug rumpelte weiter. Auf einmal war der Himmel pechschwarz. Seine Augen blickten auf die Leuchtziffern einer Armbanduhr. Seine Füße standen auf den oberen Sprossen einer schlammigen Leiter. In seiner rechten Hand, schräg nach oben gehalten, war ein… nein, kein Revolver, sondern eine pistolenähnliche Vorrichtung, die er abfeuern mußte. In einiger Entfernung von ihm begann Artilleriefeuer mit ohrenbetäubendem Krach, und der Himmel wurde taghell… »Nick!« Lydias Stimme drang durch seine Träume und ließ ihn erschreckt auffahren. Der Krach, den er gehört hatte, war ein heftiger Donnerschlag gewesen. Da die Bettvorhänge nicht ganz zugezogen waren, konnte er den von Blitzen grellerleuchteten Himmel sehen. Er saß halb aufrecht. Lydia hatte seinen Kopf an ihre Brust gepreßt und hielt ihn fest umschlungen. »Lieb Herz«, flüsterte sie mit zittriger Stimme, »du hast so schrecklich geträumt und im Schlaf gesprochen.« »So?« sagte Fenton, der sich etwas beruhigt hatte. »Was habe ich denn gesagt?« »Ei, ich bin nicht ganz sicher.« Lydia versuchte zu lachen. »Es war wohl Englisch, aber so seltsam, daß ich nur einen Teil verstehen konnte. Du sprachst offenbar zu einer Gruppe von Männern.« 295
»Was habe ich gesagt?« Lydias merkwürdige Aussprache bildete einen seltsamen Kontrast zu ihrer Umgebung, als sie wiederholte: »Wir müssen an den Maschinengewehren und dem Drahtverhau vorbei. Aber wenn Sie einen Blick auf diese Karte werfen … Liebster«, setzte Lydia ernst hinzu, »das war aber nicht der wahre Grund, warum ich dich weckte.« »Nun?« »Ich glaube, es stehen Männer vor unserem Hause. Manche stoßen laute Schreie aus.« Lydias Körper war feucht und warm. Fenton küßte sie ein einziges Mal und stand in der nächsten Sekunde auf dem Fußboden. Er tastete nach seinen Sachen. »Zünde ein Licht an!« sagte er schroff. Er hielt sich nicht mit Unterwäsche auf, sondern fuhr mit den Beinen in ein Paar alte Samthosen. Ritsch! ratsch! machte die Zunderbüchse, und eine fettgetränkte Flamme schoß in die Höhe. Fenton zog stampfend ein Paar hohe, schwere Reitstiefel an, von denen er die üblichen leichten Sporen entfernt und durch schwere mit langen, scharfen Rädchen ersetzt hatte. Dann schnallte er sein Degengehenk um. Die beiden Ketten hielten eine neue Scheide mit einem Degen, der etwas länger, schwerer und zweischneidig war und einen Ringgriff hatte. Griffbereit lag ein main-gauche oder linkshändiger Dolch – aus alten Zeiten, als seine Vorfahren mit Schwert und Dolch gefochten hatten – , der etwa sechzig Zentimeter lang war und ein schönes, muschelförmiges Stichblatt aus Stahl über der Hand hatte. 296
Diesen schob er in seinen Gürtel. Außerdem steckte in seiner Hosentasche noch eine andere, runde, sehr schwere, etwa achtzehn Zentimeter lange Waffe: eine Radachse. »Wo bleibt denn dieser Giles nur? Schockschwerenot!« Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als ein kurzes Klopfen an der Tür ertönte. Lydia sprang rasch ins Bett und zog das Laken bis zum Kinn. Giles stand schmuck und adrett im Türrahmen, den gezogenen Degen in der Rechten und ebenfalls einen maingauche-Dolch im Gürtel. Überdies trug er einen alten Kavalierhelm, der das Gesicht unbedeckt ließ und dessen stählerne Ohrenklappen auch unter dem Kinn zusammengeschnallt werden konnten. »Es ist alles parat«, meldete Giles. »Wo ist Euer Helm, Sir?« Fenton brauste auf. »Glaubst du, ich trüge einen Helm im Kampf mit diesem Otterngezücht? Soll ich diese Schurken etwa mit einer militärischen Ausrüstung ehren?« »Sir, Ihr habt allen anderen befohlen, Helme zu tragen. Im Handgemenge kann leicht eine Keule auf Euer Haupt niedersausen.« Mit der Linken, die er hinter seinem Rücken versteckt hatte, hielt er ihm einen zweiten Helm hin. »Giles«, sagte Lydia, »gib mir den Helm.« Giles eilte herbei und reichte ihn ihr. Lydia winkte Fenton zu sich und sagte: »Trag diesen Helm. Denn wenn du stirbst, muß ich auch sterben. Und nicht durch die Hand eines Aufrührers, sondern durch meine eigene.«
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In diesem Augenblick traf ein schwerer Stein das Vorderfenster des oberen Korridors. Es zerbrach mit lautem Klirren. »Nieder mit den Papisten!« brüllten ein Dutzend Stimmen wie aus weiter Ferne. »Tod den Papisten!« Ohne zu zögern, stülpte sich Fenton dem Helm auf. Dieser war innen mit einem von Lederriemen festgehaltenen Stoßkissen versehen, und der Nacken durch ein spitz zulaufendes Stahlgeflecht, den sogenannten Hummerschwanz, geschützt. Fenton schnallte den Sturmriemen unter dem Kinn fest und schlüpfte dann, ohne sich ein Hemd anzuziehen, in einen alten, losen Samtrock. »Nun los!»sagte er. Draußen im Korridor eilte er nach vorn, um die Angreifer durch das zerbrochene Fenster in Augenschein zu nehmen. »Sir, meiner Schätzung nach sind es …« »Pst! Einen Augenblick, Giles!« Fenton konnte sie ziemlich gut sehen. Als Beleuchtung hatten sie im Hintergrund eine an einer Stange befestigte Laterne und eine Fackel, die mit gelber Flamme brannte. Sie hatten sich reihenweise vor dem Haus aufgestellt. Auf der anderen Seite der Fall Mall, die verhältnismäßig breit war, standen Häuser auf hohen Böschungen. In der ersten Reihe, die zwei Meter vor der Lücke in den Lindenbäumen haltgemacht hatte, zählte Fenton acht Degen. Es wimmelte von schweren Keulen und zahllosen Steinen. Voller Freude stellte Fenton fest, daß die meisten dieser Keulen nicht in der vordersten Reihe oder auf der linken Flanke waren. »Hängt den Hexenmeister!«
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»Er soll vortreten! Zauberer, Sohn einer Papistenhure, der eine Papistin als Mätresse hat!« Als sie die beiden Gestalten am Fenster sahen, schwoll das Geschrei von neuem an. Eine Woge des Hasses strömte von ihnen aus. Aber wie die meisten Pöbelhaufen fauchten sie und zögerten dann. Noch kamen sie nicht näher. Fenton hatte sich inzwischen alle wichtigen Einzelheiten gemerkt. »Nach unten!« befahl er, und als sie die Treppe hinuntereilten, fügte er hinzu: »Wo bleibt der Regen? Ich höre nichts.« »Sir, noch ist kein Tropfen gefallen! Wenn wir zehn Minuten länger warten, müssen wir in einem Platzregen kämpfen und auf einer Straße, die voller Schlamm ist.« Beginnend mit einer Reihe von knackenden Geräuschen, krachte wie eine Explosion ein Donnerschlag unmittelbar über dem Haus, und alle Fenster leuchteten in geisterhafter Helligkeit. Unten brannte kein Licht außer einer glimmenden Kerze im Studierzimmer. Als Fenton die Tür öffnete, drehten sich vier Helme langsam herum, und die Augen, die darunter hervorblickten, schienen verändert und bösartig. Alle vier Männer trugen die gerundete, mörderische Radachse in der Tasche. Big Tom, dessen Helm einen altmodischen Nasenschützer besaß, hatte sich mit einem Knüttel bewaffnet, der fast einem kleinen Baumstamm glich. Seine riesigen Finger umspannten ihn jedoch ganz. In seinem Gürtel steckte eine Keule. Whip, der breitschultrige Kutscher, war ähnlich ausgerüstet, und ein erwartungsvolles Grinsen lag auf seinem schlechtrasierten Gesicht. Job, der Reitknecht, war einst Gaukler auf einem 299
Jahrmarkt gewesen. Er trug zwei sehr schwere Keulen, mit denen er blitzgeschwind nach allen Seiten zugleich schlagen konnte. Der dritte Degenfechter neben Fenton und Giles war Jung-Harry. Fenton erteilte ihnen nun die letzten Instruktionen. »Ich will mich kurz fassen«, sagte er. »Aber merkt euch dies! Sie sind es, die uns angreifen. Wir sind geschützt. Wißt ihr, was letzten Endes mit ihnen geschieht? Sie werden alle aufgeknüpft, bis zum letzten Mann! Scheut euch daher nicht, sie zu töten! Mit dem Mob kann man nur auf eine Art fertig werden. Zunächst halten sie sich zurück, wenn sie keinen Führer haben. Wenn ich das Zeichen gebe, schlagt ihr sofort zu! Ihr seid nicht hier zum Parlamentieren. Ihr seid nicht hier, um sanft zu tätscheln. Ihr seid hier, um zu vernichten, zu zerstören, zu töten! Ist das klar?« Leise brummend gaben sie ihre Zustimmung. »Gut!« rief Fenton und fegte einen Haufen Bücher vom Tisch, die in einer Wolke von Staub dumpf zu Boden fielen. Er wollte ungehindert zu den Leuten sprechen. »Ich wiederhole noch einmal unseren Plan. Zunächst gehe ich allein nach draußen und spucke ihnen ins Gesicht.« Jung-Harry mit Dolch und Schwert rief plötzlich dazwischen: »Sir, Gott steh uns bei! Wir sind nur sechs Leute, und draußen sind mehr als sechzig! Können wir das wagen? Sechs gegen sechzig?« »Jawohl, und zwei gegen zweihundert!« fauchte Fenton und wirbelte herum. »Wenn du keinen Mut hast, geh zurück und schlaf bei Weibern!«
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Unter den vier alten Helmen um Fenton ließ sich jetzt ein fast tierisches Knurren hören. Giles, der regungslos dastand, hätte wohl annehmen können, der alte Sir Nick sei wieder zurückgekehrt. Doch Giles hatte sich geirrt. Fenton stachelte diese Leute planmäßig auf. »Sir, ich bleibe!« »Dann hört mir zu! Ich gehe also allein nach draußen. Das Haus ist dunkel. Ich öffne die Haustür. Wenn ich auf halbem Wege zur Lücke zwischen den Linden bin, schleicht ihr drei Keulenschwinger, Tom, Whip und Job, aus dem Haus, ohne das leiseste Geräusch zu machen. Wenn ihr euch duckt, wird euch niemand sehen. Sie haben nur eine Nachtwächterlaterne und das Licht einer Fackel. Ihr haltet euch zu meiner Linken. Wenn ihr den ersten Baum an der Straße erreicht habt, versteckt euch dahinter und wartet auf mein Zeichen. Verstanden?« »Jawohl, Sir!« riefen alle drei wie aus einem Mund. »Nun, ihr beiden, Giles und Harry. Wir drei sind die Männer mit dem Degen. Dasselbe, was ich zu den anderen gesagt habe, gilt auch für euch. Nur werdet ihr auf meiner rechten Seite sein. Verstanden?« »Jawohl, Sir«, riefen auch diese beiden. Von oben ertönte ein lang anhaltendes Klirren, als unter lautem Gejohle eine Salve von Steinen die Vorderfenster traf. »Ruhig Blut!« mahnte Fenton, und alle standen regungslos. »Sie haben noch keinen Mut für einen Angriff, sonst würden sie nicht mit Steinen werfen. Noch ein paar Worte, um unseren Plan zu vervollständigen! 301
Ich stehe also in der Mitte. Zu meiner Linken sind drei verborgene Männer mit Keulen und zu meiner Rechten zwei verborgene Männer mit Degen. Wenn ihr seht, daß ich meinen Degen hoch in die Luft hebe, werden beide Gruppen – die Keulenschwinger von links und die Degenfechter von rechts – hinter den Bäumen hervorkriechen. Sorgt dafür, daß ihr Platz habt. Wenn möglich, sollt ihr versuchen, so zu tun, als ob ihr zum Pöbel gehörtet. Wenn ihr hervorkommt, wird kein Auge euch erblicken. Dafür werde ich sorgen; ich schwör's! Alle Blicke werden auf mein erhobenes Schwert gerichtet sein. Das wäre alles. Aber ich hoffe, ihr habt eure endgültigen Anweisungen nicht vergessen. Wie ist's mit den Keulenschwingern?« Er wandte sich an Whip, Job und Big Tom. »Nein, Sir«, antwortete Whip prompt, während er sein Schlagholz hin und her schwang. »Wenn Ihr ruft: ›Los!‹, dann fallen wir drei ihnen in die rechte Flanke und schieben sie zurück, damit wir alle zwingen, im engsten Teil der Straße mit uns zusammenzustoßen.« »Gut! Und ihr Degenfechter?« »Wenn Ihr ruft: ›Degen!‹, springen wir miteinander auf die Linie«, erwiderte der jetzt sehr erregte Giles, »und dann mit Gott für König Charles!« »Gut! Nun noch ein letztes Wort an die Keulenschwinger. Zielt niemals, ihr Männer mit der Keule, die ihr drei, vier oder fünf Personen zugleich treffen werdet – zielt niemals auf Brust und Bauch der Feinde; sie könnten dann die Keule fassen und sie euch entreißen. Zielt stets mit aller Kraft nach dem Kopf. Zerschmettert mir ihre Schädel und hämmert mir ihre Gesichter zu Brei. Wenn ihr in die 302
Menge gedrängt werdet, verwendet nicht mehr das Schlagholz, sondern die stählerne Radachse. Habt ihr alle geschärfte Spornrädchen, wie ich angeordnet habe?« Ein leises heftiges Zischen bekundete ihre Zustimmung. »Sollte jemand euch bei den Füßen packen, dann wißt ihr, was ihr mit euren Sporen zu tun habt. Degenfechter!« »Ja, Sir?« »Ich gebiete euch dringend: kämpft, solange es geht, am Rand der Masse! Sonst nützen euch eure Degen nichts. Und gebt mir kein elegantes Schauspiel eurer Fechtkunst, gebt mir nur einen Toten jedesmal, wenn euer Degen oder euer Dolch zusticht. Wenn ihr ins Gedränge kommt, was ja unvermeidlich ist, steckt den Degen ein und nehmt die Radachse. Aber gebt niemals den langen Dolch auf. Haltet ihn tief, damit ihn keiner sieht, und immer zugestochen! Vornehmlich in die untere Bauchgegend, aber stecht in einem fort, ganz gleich, wohin!« Fenton sah ihren Gesichtern an, daß sie jetzt aufs äußerste erregt waren. Er hatte bereits sein langes zweischneidiges Schwert gezückt und zog nun den maingauche-Dolch aus seinem Gürtel. Er umfaßte mit der linken Hand den Griff und legte den Daumen in die dafür bestimmte Vertiefung. »Ich gehe jetzt nach draußen. Haltet euch bereit!« Als er die Tür öffnete, drehte er sich noch einmal um. »Laßt euch nicht entmutigen! Hört niemals auf zu kämpfen! Dieser Mob ist ein Tyrann, nicht wahr? Gott steh uns bei, wir wollen's wagen! Drei Männer mit Degen und drei mit der Keul' sollen den Tyrannen zu Fall bringen!« 303
Er schloß die Tür hinter sich und stand in der pechfinsteren Halle. Als er auf die Haustür zuging, spürte er wenig Haß gegen diesen Mob. Im Geiste sah er in der Hauptsache die Landpartei: reiche, fette Grundbesitzer, die den Thron stürzen wollten, um mehr Macht und Geld zu gewinnen. Fenton stieß die Haustür auf. Als das Licht von Laterne und Fackel auf ihn fiel, fegte wie ein Sturmwind ein tosendes Geschrei über ihn dahin. Zwei schwere Steine sausten dicht an seinem Kopf vorbei. Als er ihnen entgegenging, ließ er seine Stimme mit aller Macht ertönen. »Tod und Verdammnis euch allen, ihr Otterngezücht! Was wollt ihr?« Abermals rollte der Donner über das Haus. Weit hinter der Menge zuckte ein greller Blitz über den Himmel. Alle sahen die helle Flamme, als er krachend in einen Baum schlug. Fenton, Schwert und Dolch schwenkend, schritt geradewegs auf die Lücke zwischen den Linden zu und blickte verächtlich über den Pöbel hinweg. »Wo ist euer Führer?« fragte er. Dann brüllte er sie an: »Zurück!« Die Stärke, die eine kraftvolle Persönlichkeit ausstrahlt, das kühne Vorgehen eines zielbewußten Menschen treiben selbst eine überhitzte Menge ein wenig zurück. Die lose Reihe, die immer noch zwei Meter von den Linden entfernt stand, trat instinktiv zwei Schritt zurück.
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Fenton, der spürte, daß die drei Keulenschwinger jetzt zu seiner Linken und die beiden Degenfechter zu seiner Rechten waren, freute sich, daß sie mehr Platz hatten. »Wo ist euer Führer, frag' ich?« rief er mit Donnerstimme. Dann hob er sein Schwert hoch in die Luft, und es glitzerte im Schein einer schwankenden Laterne und einer unsteten Fackel. Aller Blicke hefteten sich eine Sekunde lang auf die glitzernde Klinge. Er vermochte kaum die geduckten, schattenhaften Gestalten zu sehen, die rechts und links hinter der Baumreihe hervorschlichen. »Ich bin der Führer, Sir«, sagte einer der acht Degenkämpfer, die auf der linken Seite zu dicht zusammengedrängt standen, mit rauher Stimme. Aus der Reihe heraus trat ein dickbäuchiger Mann, der jedoch ein sehr hageres, würdevolles Gesicht hatte, ein idealer Anhänger der Landpartei in feinen Kleidern und mit einem grünen Band am Hut. »Ich bin Samuel Warrender, Esquire«, verkündete er. »Seid Ihr ein Papist oder nicht?« »Nein! Aber Euer Benehmen heute abend reizt mich dazu, einer zu werden!« »Habt Ihr die Gabe, die Zukunft vorauszusagen?« »Ja!« brüllte Fenton mit der ganzen Kraft seiner Lungen. Er spürte, wie eine eisige, abergläubische Furcht sich aller Herzen bemächtigte. Jetzt, jetzt war der Augenblick da, um zuzuschlagen. »Dann wollt Ihr also Streit?« schrie Fenton und hob abermals das Schwert. »Los!« Wie riesenhafte Schatten in dem flackernden Licht erhoben drei Gestalten auf der rechten Flanke der Menge 305
ihre mächtigen Mordwaffen. Zwei Schlaghölzer – jedes fast zwei Meter lang – sausten durch die Luft, während die zwei Keulen in der Hand eines Mannes ihren Totentanz begannen. Die erste Reihe merkte kaum, was auf sie zukam. Alle konzentrierten sich auf Fenton. Aber in der zweiten Reihe löste der Anblick dieser Männer einen unmenschlichen Schrei des Entsetzens aus. Unermüdlich wurden die Schlegel und Keulen geschwungen. »Zurück!« gellte ein langbeiniger Mann mit einer Manchesterkappe, der vergeblich versucht hatte, eine steile Böschung auf der anderen Seite der Straße zu erklimmen. »Geht zurück! Geht zurück!« »Zurück nach Charing Cross!« hallte ein Schrei. Die Toten und Schwerverwundeten fielen nach allen Richtungen, und wenn sie zu Boden sanken, wirbelten Wolken von rötlichbraunem Staub auf. Obgleich der Staub die Gesichter bedeckte, so boten sie doch einen entsetzlichen Anblick. Ein Mann mit Perücke und Goldknöpfen am Rock schoß vorwärts, heftig an seiner goldenen Uhrkette zerrend. Er machte noch ein paar kurze Schritte, bis er tot zu Boden sank, während ihm die Blutgerinnsel wie Schlangen über das Gesicht krochen. Mittlerweile wußten die auf dem linken Flügel kaum, was ihnen geschah, bis man sie durch Rufe darauf aufmerksam machte. Fenton, kaltblütig und gelassen wie immer, stand da, als ob er eine Uhr in der Hand hielte.
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»Gut!« sagte er, als der richtige Augenblick für ihn gekommen war, und dann rannte er an der krummen Linie vorbei. Giles und Jung-Harry folgten ihm. Die rechte Flanke des Mobs war inzwischen zurückgedrängt worden, und der Flügel der Degenfechter hatte sich automatisch mitgedreht, so daß die Reihen ihnen nun quer auf der Straße gegenüberstanden. Damit hatte sich die Position für Fenton weit günstiger gestaltet. Seine Leute hatten viel kürzere, zusammengedrängte Reihen vor sich. Die Übermacht für sechs Leute war jedoch immer noch zu groß. »Degen!« rief Fenton. Und drei behelmte Angreifer stürzten sich wie ein Mann auf den Feind. So grimmig war der Sprung und so waghalsig entschlossen die Angreifer, daß die Linie in zehn Sekunden um zwanzig Schritte zurücktaumelte. Die Laterne schwang heftig hin und her. Das grelle Licht der Blitze spielte über die harten, harschen Züge der Kämpfenden. Acht Schwertfechter rangen gegen drei, und alle acht lagen in etwas mehr als einer Minute am Boden, entweder tot oder sich vor Schmerzen krümmend. Keiner von ihnen hatte wirklich Erfahrung außer einem, der Fenton in sechs Gängen fast dreißig Sekunden Widerstand leistete – bis Fenton seine Finte mit einem A-tempo-Stoß brach und ihm den Hals durchstach. Unglücklicherweise wurde der erste Angriff auf Fenton von Samuel Warrender, Esquire, gemacht. Mr. Warrender zielte in einem vollen Ausfall nach Fentons Bauch. Fenton hörte das Zischen der Klingen, als er parierte, und im nächsten Augenblick stach er den Grünbandträger durchs Herz. Mr. Warrender fiel 307
vornüber zu Boden und wand sich wie ein zertretener Wurm. Nun sprangen die drei Degenfechter über die Gefallenen – mit ihren Sporen nach den Händen hackend, die sie zu Boden reißen wollten –, und griffen den Pöbel selbst an, der entweder zurückwich oder mörderisch mit schweren Keulen focht. Giles, kaltblütig und methodisch, stieß niemals zu mit Degen oder Dolch, ohne sein Ziel zu treffen. Harry, bleich, aber verbissen, stürzte sich tapfer mit seinem zweischneidigen Schwert in das Gemenge; immer wieder sahen sie seine blitzende Klinge. Aber jetzt war der Angriff fast zum Stehen gekommen; die Menge nahm eine andere Haltung an. Nachdem sie zu Anfang den Kopf verloren hatten, planten sie jetzt einen Gegenangriff. Selbst ihr Geschrei war verstummt. Fenton, der sich ein wenig zurückzog, sah, daß Schwerter, Dolche und Keulen von Hand zu Hand nach vorn gereicht wurden. Sie hatten entdeckt, daß der schwerste Keulenschlag auf einen Helm nichts weiter anrichtet, als daß er den Träger etwas schwindelig macht. Wenn sie aber nach der stählernen Ohrenklappe zielten, könnten sie den Kiefer zersplittern. Dann könnten einige mit Dolchen durchbrechen, um die Keulenschwinger von hinten zu erstechen… Fenton sah mit Entsetzen, daß Big Tom am Boden lag. Zu seiner Rechten vernahm er ein scharfes Knacken, als Harrys Schwert entzweibrach. Kaum hatte er es wahrgenommen, als ein zerlumpter Kerl mit schwarzem Haarschopf sich durch die Linie 308
schlängelte, um mit einem Dolch auf Job loszugehen. Fenton machte einen Seitensprung nach links und schlug dem Angreifer mit einem kurzen Schwerthieb die Hand ab. Der Mann starrte ungläubig auf das abgetrennte Glied. Fenton raste durch den Staubnebel wieder an seinen Platz und sah jetzt, daß Harry auch am Boden lag. Fenton stürzte sich, im höchsten Grade gereizt, geradewegs auf den Mob. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob Sir Nick ihn beim Wickel habe. Sein Dolch mit dem geschwungenen Stichblatt, der für gerade linkshändige Stiche gedacht war, stach überall nach dem Unterleib. Die rasiermesserscharfe Degenklinge in seiner Rechten schlug in einem fort zu. Die Gegner konnten seinen Arm nicht greifen; er war zu gewandt. Und viele Hände, die nach seinem Handgelenk tasteten, begegneten scharfem Stahl, der ihnen einen stechenden, lähmenden Schmerz den Arm hinaufjagte. So grimmig war sein draufgängerischer Angriff, daß ein ganzer Teil der Linie zurücktaumelte und sich mit Ellbogenkraft Raum verschaffte. Ein schwerer Keulenschlag gegen seine rechte Ohrenklappe betäubte ihn nicht einmal. Ein auf seine linke Seite gezielter Dolchstich zerfetzte nur den losen Samtrock und ritzte die Haut ein wenig. Plötzlich stand er in einem offenen Halbkreis, ohne jemanden im Rücken zu haben. Er konnte kaum Atem schöpfen, konnte die anderen kaum sehen. Doch sein Gehirn arbeitete. Ringsumher herrschte fast Schweigen. Man hörte nur dumpfe Schläge, Ächzen und Fauchen. Alles war durch309
drungen von dem scharfen, penetranten Schweißgeruch, der beim Nahkampf widerlicher ist als Blutgeruch. Aus der Ferne, von den königlichen Ställen her, hörte Fenton Trommelschlag, der die Soldaten zu den Waffen rief. Er wünschte den Beistand des Militärs nicht. Der Schlachtplan, den er so sorgfältig entworfen hatte, durfte nicht versagen. »Wenn ich nur eine Minute Zeit zum Nachdenken hätte!« Dieses Stoßgebet schickte er gen Himmel. »Dreißig Sekunden! Fünfzehn nur …!« Um diese Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, versuchte er es mit einem Trick. Er hob den Kopf und blickte über seine rechte Schulter. »Laßt die Doggen los!« brüllte er mit Stentorstimme. »Donner! Löwe! Vielfraß! Nacktarsch!« Die Gruppe vor ihm überfiel ein Zittern, aber sie wich nicht zurück. Erkennen konnte er nur einen dicken Mann in dem gefleckten Kittel eines Schlächters, der eine Keule trug. »Tötet den Teufel in Samt!« fauchte der Schlächter. »Tötet…« Dann hielt er inne, als habe er die Sprache verloren. Alle anderen waren genauso betroffen. Denn sie hörten plötzlich ein heiseres Gebell und das Splittern von Glas. Alle sahen, wie drei große Doggen zwischen den Linden hervorsprangen. Vielfraß war tot und konnte dem Ruf keine Folge mehr leisten. Aber Donner, Löwe und Nacktarsch, diese kämpfenden Wachhunde – vergiftet, halb blind und krank – ließen ihren Herrn nicht im Stich. Sie rochen das vergossene Blut und wußten, daß dies keine wilde Spielerei in einem Lustgarten war. Mit fletschenden Zähnen stürzten sich diese Tiere auf die Feinde und sprangen ihnen hoch an die Kehle. 310
Fenton gab ein letztes Kommando. »Vorwärts!« Und dann: »Mit Gott für König Charles!« Über den Köpfen der Menge erhoben sich plötzlich der Helm, der Schnurrbart und die machtvollen Schultern von Big Tom, der wie ein Titan nach rechts und links Hiebe mit Keule und Radachse austeilte. Whip und Job, erschöpft und schwankend, spürten die heiße Energie, die von ihm ausging. Sie verlieh ihnen neue Kraft. Fenton und Giles stürzten sich mit glitzerndem Dolch und Schwert ebenfalls auf den Pöbel. Beide hatte alle Vorsicht und Kaltblütigkeit verlassen. Und dann löste sich die Menge auf. Im ersten Augenblick merkte es Fenton noch nicht. Eine kleine Gestalt sprang aus der letzten Reihe und rannte wie besessen durch die Straße der Heu- und Kornhändler, die allgemein Haymarket genannt wurde. Zwei oder drei andere folgten, dann ein halbes Dutzend, ein Dutzend … Genau dreißig Sekunden nach der zweiten stürmischen Attacke auf den Mob war kein einziger Feind übriggeblieben. Die Straße lag verlassen da und wirkte mit all den Toten und Verletzten unheimlich. Einige der Verwundeten stöhnten oder versuchten davonzukriechen. Und dann, gerade als Fenton zum Schluß seine Instruktionen erteilte, öffneten sich die Himmel mit einem letzten explosionsartigen Donnerschlag, und der Regen prasselte hernieder.
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XV Daß am Vorabend des gefürchteten 10. Juni eine kleine, fröhliche, improvisierte Abendgesellschaft in seinem Hause stattfand, entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dachte Fenton. Um die Mittagszeit, als er den 9. Juni eintrug, trat er an eines der offenen Fenster des Studierzimmers und rauchte seine lange Pfeife, bis er sich an dem Tonkopf die Finger verbrannte. Als er an den Kampf in der Nacht des 7. Juni und die im Regen heranpreschende Rotte der Dragoner dachte, mußte er lächeln. »Meiner Treu!« sagte er vor sich hin, obgleich ihm alle Knochen im Leibe weh taten. »Was für eine Nacht!« Es stand jetzt fest, daß Donner, Löwe und Nacktarsch durchkommen würden. Mr. Milligrew hatte ihn zwar in einer Sprache verwünscht, die einem Adligen gegenüber nicht angebracht war, aber er hielt es für möglich, daß die heftige körperliche Anstrengung dazu beigetragen hatte, das Gift aus den Körpern zu entfernen. Nach dem Kampf war Fenton in die Küche geeilt, um für seine kleine, verwundete Armee zu sorgen. Big Tom hatte den bewußtlosen Harry auf seiner Schulter zurückgetragen. Harry hatte außer einem Armund Beinbruch noch andere Verletzungen erlitten. Daß er selbst ein angeknacktes Bein und einen Degenstoß durch den Schenkel hatte, erwähnte Big Tom nicht. Obgleich alle zugaben, daß sie Verletzungen erlitten hatten, wollte keiner einen Knochenbruch eingestehen. Aber Job hatte ein gebrochenes Schlüsselbein und Whip 312
mehrere geknackte Rippen. Auf Fentons Befragen erklärten sie einstimmig, daß kein vermaledeiter Wundarzt an ihren Gliedern herumzerren solle. Dann hatte Whip einen Geistesblitz. Wenn der Herr so besorgt sei, dann solle Mr. Milligrew seines Amtes walten. Zu ihm hätten sie Vertrauen. Potz Blitz! Wenn der Pferdedoktor schon so viel vom Knocheneinrichten bei Hunden und Pferden verstehe, würde er da nicht viel mehr über den Menschen wissen? Der rosige Mr. Milligrew, sofort herbeigeholt, stimmte dieser Ansicht freudig zu. »Dann macht Eure Sache gut, Mr. Milligrew!« sagte Fenton. »Flickt sie wieder zusammen, und ich versichere Euch, ich werde mich erkenntlich zeigen.« Langsam und voller Dankbarkeit blickte er alle der Reihe nach an. »Kann ich euch nicht irgendeinen Wunsch erfüllen? Sprecht frei heraus!« Big Tom, der es sich an der Wand bequem gemacht hatte, um die Schmerzen in seinem Bein zu lindern, hielt jetzt eine Bittrede. Fenton blickte auf Nan Curtis, die Toms Dialekt verstand. »Sir…« stammelte Nan, den Tränen nahe. »Sprich, sprich!« drängte Fenton. »Was hat er gesagt?« »S-sir, er fragt an, ob sich nicht alle in dieser Nacht betrinken dürften wie nie zuvor. Er bittet darum, daß jedem ein Literkrug mit starkem Bier oder Wein ans Bett gestellt wird und ich diesen nachfüllen soll, sobald sie rufen.«
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»Beim Barte des Bacchus, ja!« stimmte Fenton zu. »Giles hat den Schlüssel zum Keller. Sag ihm, ich hab's befohlen.« Big Tom, Whip und Job brachen in lautes Beifallsgeheul aus. Obgleich Whip und Tom kaum auf den Beinen stehen konnten, stampften sie mit den Füßen auf den Boden und schlugen mit Holzlöffeln auf alles, was in erreichbarer Nähe stand. Fenton war ganz bestürzt. Er wußte nicht, was er sagen sollte. »Ei, laßt es gut sein. Ich … hm … ich danke euch …« Und in ein paar Sätzen sprang er die Treppe hinauf. Als er die nächste Treppe zu den Schlafräumen emporstieg, fühlte er sich schuldbewußt und versuchte, in seinen Sporenstiefeln lautlos zu gehen. Seit langem hatte er gespürt, wie Blut auf seine Schulter träufelte; es kam von seinem Ohr, das durch einen Keulenschlag auf die Ohrenklappe verletzt worden war. Sein Körper war steif und schmerzte von den vielen Wunden, die man ihm geschlagen hatte, aber seine Knochen waren noch heil. Als er so die Treppe hinaufschlich, nahm er an, daß Lydia ein Aufheben machen würde. Aber sie wartete, voll angezogen, auf ihn. Sie umarmte ihn, obwohl er sie warnte, er sei verwundet, und erklärte, sie habe den Ausgang des Kampfes vorausgesehen. »Lieb Herz, ich habe vom Fenster aus zugesehen. Und als ich beobachtete, wie du über hundert erschlugst…« »Liebe Lydia! Es waren im ganzen nur…« Aber sie ließ ihn nicht ausreden. Sie und Bet rannten mit aufgesteckten Röcken und Ärmeln die Treppen auf und ab, um eimerweise kaltes und heißes Wasser für ein Bad herbeizuschleppen. Als er sich gründlich gesäubert hatte 314
und in Lydias Bett lag, in seidene Verbände gewickelt, fühlte er sich, von heftigen Kopfschmerzen abgesehen, fast wieder wohl. Er hörte, wie der Regen immer noch auf das Dach prasselte, gegen die Fenster klatschte und in den Schornsteinen zischte. Lydia kuschelte sich neben ihn und vermochte endlich ihre Neugierde zu befriedigen. »Und als der große Wolkenguß begann«, sagte sie, »kam ein Trupp Dragoner herbeigeritten, die breite Federhüte an Stelle von Helmen trugen. Der Führer hatte eine Fackel in der Hand und wechselte einige Worte mit dir.« Fenton lachte. »Es war das Erste Königliche Dragonerregiment in der neuen Armee des Königs. Der Anführer dieser Truppe, ein ausgezeichneter Kerl namens Captain O'Callaghan, haßt die Grünbebänderten ebenso wie ich. Er sagte, wenn ich es wünschte, könnte ich jeden der Verwundeten an den Galgen bringen. Doch mahnte er zur Vorsicht.« »Und warum?« murmelte Lydia. »Nun! Seine Majestät und der Herzog von York schätzen diese öffentlichen Raufereien nicht…« »Hm«, meinte Lydia. »Jedenfalls war mein Hauptmann überzeugend. Ich solle mir weiter keine Gedanken darüber machen. Er werde schon ein Wörtchen mit dem nächsten Friedensrichter reden. Mittlerweile lasse er zwei große Wagen holen. Auf den einen sollten die Toten geladen und in den Pestgruben begraben werden. Der zweite Wagen sei für die Verwundeten. Die Leichtverletzten würden nach Hause gebracht 315
und gewarnt, daß beim nächsten Aufruhr der Galgen ihrer harre. Die Schwerverwundeten sollten zum ChristKrankenhaus geschafft werden, und dem Chefarzt werde dieselbe Warnung ins Ohr geflüstert, damit er sie an die Männer weitergebe. Somit sei alles geebnet und vertuscht.« Fenton wurde nachdenklich. »Nach Giles' Schätzung beträgt die Zahl der Toten und Verwundeten im ganzen einunddreißig.« »Du hast aber auch so gut gekämpft wie nur irgendein Rundkopf.« »Wie… wer?« fragte Fenton. Selbst in dieser Verfassung packte ihn der Zorn. »Wie … wie Prinz Rupert selbst«, erwiderte Lydia sanft und legte ihren Kopf auf seine Brust, als er in die Kissen zurücksank. »Schlaf, Liebster. Schlafe nun. Schlaf.« Am folgenden Tage, als die Reaktion einsetzte und er sehr unter den Schmerzen litt, nahm Fenton Opiumtinktur und schlummerte den ganzen Tag und die folgende Nacht. Am Morgen darauf erwachte er jedoch voller Energie. Da er zu jenen Patienten zählte, die es einfach nicht im Bett aushalten können, bestand er darauf, aufzustehen und angekleidet zu werden. An diesem Tag saß er nachdenklich mit Lydia im Studierzimmer, wo er heimlich seinen Eintrag machte. Er hatte das Gefühl, daß zu wenig Leben und Heiterkeit im Haus herrsche, daß Lydia sich langweilen müsse. Also schrieb er an Mylord Danby, den Lord Schatzkanzler, sowie an mehrere Freunde auf dem Land (die George als Freunde erwähnt hatte) und bat sie, einen Tag zu nennen, 316
an dem sie bei ihm zu Mittag oder zu Abend speisen könnten. Am nächsten Tag, als er den 9. Juni eintrug, fühlte er sich ganz wohl. Er hätte es jedenfalls so bezeichnet. Die Wunden in seiner Seite und am Ohr waren unbedeutend, aber die vielen Quetschungen erschwerten seine Bewegungen. Am Spätnachmittag entschloß er sich zu einem Spaziergang. Als er seinen Hut an der Perücke befestigt hatte und die Haustür aufschließen wollte, stieß er auf Schwierigkeiten. Ungeduldig zog er den großen Schlüssel heraus. Nach einem gründlichen Blick prüfte er das Schlüsselloch sorgfältig mit den Fingerspitzen. Der kalte Schweiß brach ihm aus. Seife. Verschmutzte Seifenreste. Einer unter dem Pöbel hatte fraglos die Hunde vergiftet. Aber jemand anders, der sich vielleicht diese Gelegenheit zunutze machte, hatte einen Seifenabdruck vom Schloß genommen, um sich einen Schlüssel anfertigen zu lassen. Fenton ging sofort zu den Stallungen, um Job, der wieder heiter bei der Arbeit war, Instruktionen zu erteilen. Er hieß ihn, in allerkürzester Zeit innen an der Haustür einen Riegel anzubringen. Dann machte er sich auf den Weg nach Charing Cross. Ein Giftmischer von außerhalb? Aber was konnte der Feind schon anrichten? Die Gefahr für Lydia begann erst Schlag Mitternacht, wenn der 10. Juni anfing. Und er selbst probierte ja alle ihre Speisen und Getränke. In seiner Abwesenheit rührte sie nichts an. Fentons heitere Stimmung kehrte zurück, als er von Charing Cross nach Hause wanderte. Vor seinem Haus war eine große, düstere, braun angemalte Kutsche mit goldenen Verzierungen vorgefahren. Er eilte an den Schlag, an dem 317
Sam, stumm und ehrerbietig, mit seinem Amtsstab stand, den er wie eine Lanze hielt. »Nick, mein Junge!« ertönte eine Stimme aus dem Innern. Im Rahmen des offenen Schlags zeigte sich ein großer, sehr hagerer Mann, dessen Porträt Fenton gesehen hatte, den er aber nicht identifizieren konnte. Der Mann machte einen etwas steifen, strengen Eindruck. Die ungeheure braune Perücke umrahmte ein schmales, kränkliches Gesicht mit tiefgefurchter Stirn. »Ich hielte es für schlimm, mein Junge«, fuhr er fort, »wenn Tom Osborne nicht in eigener Person auf einen Brief von Nick Fentons Sohn antworten könnte.« Für einen Augenblick preßte er seine langen, hageren Finger ans Gesicht. »Oh, diese Arbeit, diese endlose Arbeit im Schatzamt!« Thomas Osborne, natürlich! Graf von Danby, Lord Schatzkanzler, des Königs erster Minister. »Mylord«, sagte Fenton, »wollt Ihr nicht aussteigen? Besser noch: wollt Ihr nicht bleiben und mit uns zu Abend speisen?« Mylord Danby lächelte, und der müde Ausdruck wich einen Augenblick aus seinem Gesicht. »Das«, sagte er mit schiefem Gesicht, »ist die traurige Botschaft, die ich Euch bringen wollte. Ich muß heimwärts eilen und mich auf meine Papiere stürzen, wie an jedem anderen Abend, den Ihr nennen mögt. Aber wenn Ihr Euch vielleicht einen Moment zu mir in die Kutsche setzen wolltet?« Fenton stieg ein und schloß die Tür, nachdem er dem Minister gegenüber Platz genommen hatte. 318
»Ich beneide Euch um Eure Jugend«, sagte Danby. Auf den ersten Blick hin schien sein Lächeln gräßlich, aber bei näherer Betrachtung wirkte es durchaus freundlich. »Nein, ich neide Euch nichts. Ist Eure Gemahlin wohlauf?« »Gott sei Dank, ja.« »Meine Gesundheit… Ein Doktor der Medizin hat mir seltsame Vorschriften gemacht…« Fenton beugte sich vor. »Mylord«, sagte er in ruhigem Ton, »es wird Euch guttun, wenn Ihr zum Essen bleibt.« Mylord Danby, der sich in seiner ganzen Länge zurückgelehnt hatte, betrachtete sein Gegenüber mit trüben, aber scharfen Augen. »Irgendwie ist eine seltsame Wandlung mit Euch vorgegangen«, bemerkte er kopfschüttelnd. »Ich kann nicht sagen, in welcher Beziehung. Ein wahres Wunder! Ihr wünscht in der Tat, daß ich hierbleibe?« »Aber warum denn nicht?« fragte der erstaunte Fenton. »Weil alle Männer mich hassen«, erwiderte Danby mit gesenktem Blick. »Die Oppositonspartei und sogar meine eigene Partei hassen mich. Warum hassen sie mich eigentlich?« »Das sind Hirngespinste. Ihr seid überarbeitet.« Unvermittelt lehnte sich Danby vor und umklammerte Fentons Arm mit langen, dünnen Fingern. »Dies behaltet für Euch selbst«, sagte er mit leiser Stimme. »Vor vier Jahren, als ich mein Amt antrat, war die Staatskasse beinahe leer. Bald aber hatte ich eine Million 319
Pfund Sterling eingezogen, und ich habe die Flotte um dreißig neue Schiffe vergrößert – mächtigere Linienschiffe als alle, die wir bisher besaßen. Denn ich bin der Ansicht, daß wir die Herrschaft auf dem Meer behalten müssen und daß uns diese kein Holländer oder Franzose streitig machen darf.« Er ließ die Hand fallen und wischte sich die Stirn mit einem Spitzentuch. »Ich glaube, ich habe dem Schatzamt treu gedient«, fügte er hinzu. »Ich weiß nicht, was diese Herren eigentlich wollen.« Goldene Lichter, die durch die Lindenbäume fielen, tanzten auf der staubigen Kutsche. Als Fentons Blick zum Fenster hinauswanderte, bot sich ihm ein herzerfrischender Anblick. Auf sein Haus zu ritten George Harwell in prachtvollem Staat und Mr. Reeve in geflickter Kleidung auf Pferden, die den Kostümen ihrer Besitzer entsprachen. Sie schienen nach Blutflecken auf der Straße zu suchen. Aber der Regen hatte solche Spuren längst fortgespült. Als sie nach links zum Stallhof einbogen, drangen einige Fetzen ihrer Unterhaltung sogar bis in die geschlossene Kutsche. »Dann genießt Ihr also die Gunst eines neuen Frauenzimmers.« Es war die asthmatische, gewichtige Stimme Mr. Reeves. »Gut; das ist also in Ordnung. Jetzt…» »Ich habe es Nick Fenton ja gesagt, daß ich eine finden würde«, erklärte George voller Stolz, »Potz Geck! Ich
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hab's geschafft. Ah, und was für eine Frau! Ihre Lippen zwei rote Kirschen, eine über der anderen! Ihre …« Intimere Einzelheiten verhallten in der Ferne. »Seht, Mylord!« sagte Fenton und deutete auf die Sonne. Er war aufrichtig bekümmert über Danbys Gemütsverfassung. »Es ist noch nicht Abend. Wir essen immer sehr früh. Ihr braucht dringend eine ablenkende Unterhaltung, die mit Politik nichts zu tun hat. Könntet Ihr von, sagen wir, einem Kapaun und einem Glase Wein Schaden nehmen?« Danby schien das schwere Gewicht, das auf seinen Schultern lastete, abzuwerfen. »Na«, meinte er, »ich möchte wohl annehmen, mein Junge, daß sie meine Gesundheit nicht gefährden werden.« Das improvisierte Abendessen war sehr heiter. Lydia zauberte rasch ein Menü für die unerwarteten Gäste hervor und verließ sich dabei hauptsächlich auf heiße und kalte Kapaunen, in größerer Zahl, als selbst George verschlingen konnte, gebackene Kartoffeln und einen riesigen Laib Käse. Sie plante dies alles so rasch, daß Fenton staunte. Und er staunte noch mehr über die Geschwindigkeit, mit der sie sich umkleidete. Sie rauschte in blauer Seide mit orangefarbenen Verzierungen und funkelnden Diamanten ins Zimmer, eine Kombination, die die Farbe ihrer Haut, ihrer Augen und ihres Haares noch mehr hervorhob. Mylord Danby machte eine so höfliche Verbeugung vor ihr und küßte ihr die Hand mit einem so geistreichen Kompliment, daß Fenton fast eifersüchtig wurde.
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Fenton saß an der Spitze der Tafel, Danby zu seiner Linken und Lydia zu seiner Rechten. Mr. Reeve, der sich anfangs in der Gegenwart des Lord Schatzkanzlers so würdevoll wie ein Erzbischof benahm, saß Lydia zu Rechten. George, der ihm gegenüber neben Danby Platz genommen hatte, war etwas nervös und ließ die Sauce spritzen, als er sein Essen hinunterschlang. Der Wein übte auf alle eine gute Wirkung aus. Am Tische eines Freundes wurden natürlich keine Hüte getragen, und die Lockenrollen der großen Perücken glänzten im Schein der vielen Wachskerzen, die auf der Tafel standen. Ein Diener stand hinter jedem Stuhl, und Giles, kerzengerade hinter Fenton, dirigierte die anderen mit strengen Blicken. Jedesmal, wenn George oder Mr. Reeve versuchte, Fragen über kürzliche Ereignisse zu stellen, lenkte Fenton sie geschickt mit einer saftigen Anekdote ab, die schallendes Gelächter auslöste. Aber in der Hauptsache drehte sich das Gespräch um Georges neue Liebesaffäre. »George!« flehte Lydia, während sie ihren silbernen Weinbecher zum sechstenmal füllen ließ. »Erzählt uns doch etwas von ihr! Sonst werde ich vor Neugierde nicht schlafen können!« George, der nun vollauf gesättigt war, machte eine königliche Geste. »Dann verratet uns unverzüglich«, sagte Mr. Reeve, der wieder die Miene eines Richters aufgesetzt hatte, »ihren Namen. Ja, laßt uns ihren Namen hören.« »Ihr Name«, erwiderte George mit Stolz und Vergnügen, »ist Fanny.« 322
»Na, na«, sagte der Richter und klopfte verschlagen mit dem Finger auf den Tisch. »Keine Ausflüchte, bitte! Wie lautet ihr voller Name? Oder hat sie ihn Euch vorenthalten?« »Warum, in Dreiteufels Namen, sollte sie das tun? Sie ist Mistreß Fanny Brisket.« »Und darf ich fragen, Lord George«, erkundigte sich Danby höflich, aber mit weintrunkenen Blicken, »wie Ihr die Bekanntschaft dieser jungen Dame gemacht habt?« Georges puterrotes, glänzendes Gesicht konnte nicht tiefer erröten, als er mit einem verlegenen Hüsteln erwiderte: »Nun, was das anbelangt, so will ich offen bekennen: es war in einem Bordell.« Ein gewaltiges Beifallsgemurmel erhob sich, während gleichzeitig mit Messergriffen auf den Tisch getrommelt wurde. George, der sich zuerst verhöhnt glaubte, wurde von Lydia besänftigt. »Nein, wirklich?« fragte sie begierig. Sie hatte die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, und ihr Kinn ruhte auf den verschränkten Händen. »George! Lieber George! Erzählt uns doch von diesem Haus und wie es eingerichtet war. Bitte, George!« »Ah!« sagte George. »Dies ist wahrhaftig von Bedeutung. Es handelt sich nämlich nicht um eines der Häuser in Whetstone Park.« Whetstone Park war kein Park, sondern eine Straße, die, wie das Gerücht ging, die Hälfte aller Huren in London beherbergte. »Nein, fuhr George fort, »dies war und ist ein wahrer Venustempel, eigens geschaffen, um den Bedürfnissen eines Mannes von Rang zu dienen.« Plötzlich hielt er inne. »Donnerwetter, Nick, 323
ich entsinne mich, daß ich an jenem Tage mit dir davon gesprochen habe.« Fenton hatte gerade einen Schluck aus Lydias Weinbecher getrunken. Seit kurzem hatte er sich daran gewöhnt, ziemlich viel Claret beim Abendessen zu trinken und hatte auch immer eine Karaffe in seinem eigenen Zimmer stehen. Aber als Gastgeber trank er heute abend sehr wenig, um einen kühlen Kopf zu bewahren. »An welchem Tage?« fragte er. »Lieber Himmel! An dem berühmten Tag, als du und ich den Apotheker in der Totenmannsgasse aufsuchten und du die beiden Raufbolde aufspießtest! Nein, halt! Ich hatte gerade davon angefangen, als du in deiner Zerstreutheit beinahe in den Kloakenkanal gefallen wärst.« »Ja, ich erinnere mich.« »Weiter, weiter«, drängte Mr. Reeve in seiner würdevollsten Art. »Wie steht's mit diesem Bordell…?« »Nun!« sagte George und blickte die Tafelrunde mit etwas verglasten Augen an. »Eines Tages speiste ich zufällig im ›Regenbogen‹, und nach dem Essen überlegte ich mir nach Männerart, ob nicht irgendwo ein Tempel existiere, wie ich ihn mir nur in meinen kühnsten Träumen vorstellte. So ganz von ungefähr richtete ich also diese Frage an einen Freund, der mit mir speiste. ›Du meine Güte‹, sagte er, ›bist du ein solcher Dummkopf, daß du so ein Haus nicht kennst? Dabei ist es nicht zwei Minuten von hier entfernte Meine Antwort könnt Ihr Euch vorstellen. ›Wenn du mein Wort anzweifelst^ sagte er, ›will ich dir das Haus nennen und dich genau instruieren, was du sagen 324
mußt.‹ Von Neugierde getrieben, sagte ich: ›Topp! Gelobt sei Venus!‹ Ich ging gleich zu dem Haus und näherte mich dem Portier. ›Guter Mann‹, sagte ich sehr höflich, ›ist hier wohl eine Wohnung zu vermieten?‹ In der Tat, man hatte mich nicht betrogen. ›Ja, Sir‹, sagte der Portier, ›Ihr könnt sie Euch ansehen, wenn Ihr Euch die Mühe machen wollt, hineinzugehen.« George ließ eine Pause eintreten. Als er merkte, daß er seine Zuhörerschaft gefesselt hatte, erfrischte er sich mit einem tüchtigen Schluck Kanariensekt aus seinem Silberbecher. Er strahlte alle leutselig an. »Kaum war ich eingetreten, als mir eine würdige Matrone entgegenkam. Diese führte mich in ihren Salon, der elegant ausgestattet war, um mich dort näher in Augenschein zu nehmen: mit anderen Worten, um festzustellen, wie gut meine Börse gespickt war.« George streckte eine beringte Hand aus, die in allen Regenbogenfarben glitzerte. Er selbst trug einen Anzug in Orange und Silber. »Die Matrone war sehr mit mir zufrieden. Und ich hege keinen Zweifel, Mylord«, setzte George hinzu, indem er Danby ein ernsthaftes, knallrotes Gesicht zuwandte, »daß sie mit Ew. Lordschaft ebenso zufrieden gewesen wäre.« »Ich fühle mich sehr geehrt, Lord George.« »Potz Geck, Mylord, warum besucht Ihr dieses Haus nicht selbst? Ich werde Euch hinführen!« »Wiederum sehr geehrt«, erwiderte der Lord Schatzkanzler, der fast so betrunken war wie George und die Sache mit dem größten Ernst behandelte. »Aber wenn es Euch nicht zu sehr inkommodiert, noch eine Frage. Seid
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Ihr bei dieser Gelegenheit Eurer göttlichen Fanny begegnet?« »Nein, nein, nein!« rief George. »Fanny, diese himmlische Kreatur, habe ich vor kaum einer Woche kennengelernt. Und als ich sie sah, war ich von ihrer Schönheit, ihrer Göttlichkeit so überwältigt, daß ich – verdammt noch mal! – ohnmächtig zu ihren Füßen niedersank!« »Lord George«, murmelte Danby, »fahrt bitte mit der Schilderung Eures ersten Besuches fort.« »Nachdem ich die würdevolle Matrone zufriedengestellt hatte«, fuhr George fort, »stieg sie mit mir eine Treppe empor und führte mich in einen sehr großen, schönen Speiseraum. Dieser war mit üppigen Wandteppichen behangen und mit Bildern geschmückt, die, wie ich annahm, die schönsten Frauen aller Zeiten darstellten. Ein Diener brachte uns sofort eine Flasche Sekt, woraufhin die alte Dame mir als Willkommensgruß zutrank. Na, dachte ich, sie ist ja die Höflichkeit selber; aber wie geht das nun weiter? Kaum war mir dieser Gedanke gekommen, als die Dame auch schon sprach. ›Sir‹, sagte sie, ›da Ihr ein Gentleman seid, habt Ihr gewiß einige Kenntnis von der edlen Kunst des Zeichnens und Malens; denn sie wird von der vornehmen Welt eifrig gepflegt. Ich möchte daher gern Euer Urteil hören, Sir, und frage Euch: welches von diesen Bildern haltet Ihr für das beste?‹« Hier erhob sich George, von der Rednerlust besessen, taumelnd von seinem Platz und umklammerte seinen gefüllten Weinbecher. »›Madam‹, sagte ich, ›ich will Euch offen und ehrlich mein Urteil verkünden. Meiner 326
Ansicht nach ist es dieses Bild. Die dargestellte Person hat einen vollen Busen; ihre geschwungenen Augenbrauen sind schwarz und glatt; ihre Augen sind von der gleichen Farbe, doch mit grauen Tönungen …‹« »George«, unterbrach Lydia mit sanfter Stimme, »trifft diese Beschreibung nicht auf Meg York zu?« »Der Teufel hole Meg York!« rief George. »Ich habe erfahren, daß sie den französischen Hauptmann verlassen hat. Aber wohin sie gegangen ist, weiß ich nicht.« »Nein, George, aber ich meinte nur …« »Sobald ich dieses Urteil über das Bild gefällt hatte«, brüllte George, der den Faden der Erzählung wieder an sich riß, »verschwand die würdevolle Matrone hinter einer mit einem Vorhang verhängten Tür. An ihrer Stelle erschien mit einem Rauschen von seidenen Röcken die auf dem Bilde dargestellte Frau – in züchtigem Aufzug, eine Dame von Stand. So wahr ich hier stehe. Während wir zusammen den Sekt tranken, machte mich die Dame mit dem vollen Busen mit den Sitten und Gebräuchen des Hauses bekannt. Wenn man nicht die ganze Nacht bleibt, hat man Anspruch auf vier Flaschen Wein, einen kleinen Imbiß und eine Mätresse – alles zum Preise von nur vierzig Schilling. »Wenn man jedoch die ganze Nacht zu bleiben wünscht«, fuhr George triumphierend fort, »dann herrscht dieser Brauch: Man legt zehn goldene Guineen unter das Kopfkissen. Jedesmal, wenn man seine Mannespflichten der Mätresse gegenüber gut erfüllt hat, ist man berechtigt, eine Guinee wieder an sich zu nehmen. Potz Geck! Ist das nicht ein ausgezeichnetes Spiel?« Danby räusperte sich. »Wenn die Frage nicht zu intim sein sollte, Lord George, wie viele von 327
Euren zehn Guineen lagen am Morgen noch unter dem Kopfkissen?« »Mylord«, protestierte George, der vorwurfsvoll ein Auge zukniff und leise hin und her schwankte. »Das ist eine Frage, die kein Mann von Rang in diesem Bordell an einen anderen richten darf. Doch kann ich Euch versichern, daß ich meiner Ehre Genüge getan habe«, verkündete er stolz. »Und mit Fanny erst! Potz Geck und kein Ende!« Er strahlte übers ganze Gesicht und wandte sich an Mr. Reeve. »Was sagt Ihr denn dazu, guter Freund?« Mr. Reeve nickte nachdenklich vor sich hin. Er hatte seine Zither mitgebracht. Ihre Saiten glänzten auf dem polierten Holz. »Ei, ich bin ein zu alter Draufgänger, um meine Mitmenschen nicht zu kennen. Aber es war nicht so am Hofe Charles' des Ersten.« »Na, na, alter Tugendbolzen! Na, na, Graf von Schatten und Nebeln!« »Wir lüsteten nicht nach Frauen im Bordell«, erwiderte Mr. Reeve. »Wir suchten uns Frauen zum Heiraten.« Seine alten, aber noch sehr behenden Finger glitten über die Saiten. Leise begann er, eine klare Melodie zu spielen. Obgleich er nicht dazu sang, saß niemand am Tisch, der sich nicht an die Worte erinnerte, die aus der Zeit vor Charles dem Ersten stammten. »Nur mit dem Auge trink mir zu, schnell gibt Bescheid dir meines …« Instinktiv blickten sich Lydia und Fenton in die Augen. Sie streckte ihre Hände aus, und er umklammerte sie mit festem Griff. Ihr Gesicht war ein wenig gerötet, und aus 328
ihren Augen sprach eine solche Liebe, daß es ihm Angst machte. »Oh, Gott«, dachte er, »wenn ich sie verlöre!« Und die Stunden, die Minuten vergingen; die Uhr tickte weiter – unaufhaltsam dem gefürchteten Zeitpunkt entgegen. Niemals hatte er Lydia so sehr geliebt wie gerade in diesem Augenblick. Die Musik hatte aufgehört, aber diese beiden bemerkten es nicht. Sie saßen da, im gegenseitigen Anblick versunken, und hörten nichts von dem, was um sie herum vorging. »Mit Verlaub, Sir!« bemerkte Danby und richtete seine verschwommenen Augen auf Mr. Reeve. »Abgesehen von diesen – hm – Bordellen, sind die Zeiten, in denen wir leben, harsch und hitzig. Möchtet Ihr, daß wir unsere Vorfahren in allen Dingen nachäffen und sie stolz besingen?« Mr. Reeves tränende Augen blitzten. Er schob heftig seinen Stuhl zurück und stand auf. Seine gichtgeschwollenen Beine zitterten. Er blickte Danby fest in die Augen. »Nein, Mylord!« erwiderte er mit rollender Stimme. »Aber ich würde das ›Grüne Band‹ zerreißen, ehe es zu stark wird. Auch würde ich den Abend des 7. Juni besingen, als über sechzig Aufrührer dieses Haus angriffen und sechs Männer – nur sechs, Mylord – die schreiende Bande in die Flucht schlugen. Einunddreißig Tote und Verwundete blieben auf dem Plan. Aber keinen Schritt hat man unternommen, um die Aufrührer zu bestrafen.« Wieder glitten Mr. Reeves Finger über die Saiten. Die Zither tanzte förmlich unter der lebhaften Melodie, und Mr. Reeve sang mit starker, wenn auch asthmatischer Stimme die Worte dazu: 329
»Bürger! Hört ihr das Freudengeheul? Durch die Stadt tönt der heitere Schall: Drei Männer mit Degen und drei mit der Keul' brachten den Tyrannen zu Fall!« Es war wohl unvermeidlich. Zwei Diener, die sich einfach nicht mehr beherrschen konnten, brachen in laute Beifallsrufe aus. Mylord Danby war plötzlich ganz nüchtern, als hätte er einen Schock bekommen. George applaudierte heftig. Im selben Augenblick öffnete sich die Tür zur Halle. Lydia und Fenton, immer noch mit sich beschäftigt, hätten sich auch jetzt nicht umgedreht, wenn nicht Giles, der seit einiger Zeit auf geheimnisvolle Weise verschwunden war, im Türrahmen gestanden hätte. Sein langer Schatten fiel zwischen sie. Lydia schreckte zurück, als sei sie plötzlich von einer namenlosen Furcht ergriffen. Giles ging rasch um den Tisch herum, um Fenton einige Worte ins Ohr zu flüstern, die von allen gehört wurden. »Sir Robert Southwell, der Sekretär des Hofrats, ist soeben in einer Kutsche vorgefahren …« Der Rest war den anderen unverständlich. Giles verschwand wieder, und Fenton erhob sich. »Ich glaube, Ihr wißt wohl alle«, sagte er und tastete nach Lydias Hand, »daß ich diesen Kreis unter keinen Umständen verlassen würde, wenn nicht kein dringender Grund vorläge. Man hat mir versprochen, daß ich in einer Stunde zurückkehren darf. Ich habe nicht einmal Zeit, mich umzuziehen. Seid inzwischen weiterhin recht vergnügt. Ich bitte Euch darum.« 330
Mit der Linken zog er eine große, dicke Uhr aus der Westentasche und öffnete sie. Die Zeiger standen auf fünf Minuten vor sieben. Draußen war es noch taghell. »Ich bin nach dem Whitehall-Palast befohlen«, fügte er hinzu, »zu einer Privataudienz beim König.«
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XVI »Phyllis, ach, laß uns vergolden solange es uns erlaubt, die Liebesstunden, die holden, die wir grauem Alltag geraubt.« Die Stimme, klar und geschlechtslos, war die eines französischen Knaben; einer von mehreren, die auf Bitten der Herzogin von Portsmouth, einer Französin, an den englischen Hof geholt waren. Die Herzogin – fett wie ein Türke und mit einem Kopf, der einem goldenen Sofakissen glich – hatte eine ganze Nacht lang geweint, und der König hatte schließlich fluchend nachgegeben. Die von einer Viola begleitete Stimme ertönte von einer mit Blumen umgebenen Plattform an der Westseite der großen Festhalle. Diese hohe Halle mit ihren braunen, goldverzierten Wandpfeilern besaß eine enorme Decke, die von Rubens mit Göttinnen und Liebesgöttern bemalt war. Sie ist heute noch zu sehen, da sie allein von dem Feuer verschont blieb, das im Jahre 1698 den alten WhitehallPalast völlig zerstörte. An die tausend Wachslichter in Kronleuchtern und vergoldeten, am Boden stehenden Eisenständern verbreiteten einen strahlenden Glanz. Die großen Bogenfenster an der Westwand hatten schwere, dunkelrote, goldgefaßte Samtvorhänge, die durch goldene Kordeln mit langen Quasten ein wenig gerafft wurden. Der weiche Schimmer der manchmal unruhig flackernden Kerzen vermischte sich 332
mit dem betäubenden Duft, der von unzähligen weißen und roten Rosen, Nelken, Lilien und Orangenblüten aufstieg. »Wir warten hier auf Mr. William Chiffinch«, bemerkte Sir Robert Southwell, ein dunkler, bärtiger Mann, als er und Fenton an einer der großen Türen standen und das Leben und Treiben in der Halle beobachteten. »Halt! Ich glaube, ich sehe ihn.« »Sir Robert!« ließ sich eine gewichtige, ziemlich heisere Stimme hören. »Sir Nicholas! Ich stehe Euch zu Diensten, meine Herren!« Mr. Chiffinch, der inoffizielle Page der Hintertreppe, war ein Herkules mit Habichtsnase und brauner Perücke. Er konnte jeden Mann, der ihm über den Weg lief, unter den Tisch trinken und auf diese Weise Geheimnisse für den Königh herauslocken. Viele der Anwesenden wären überrascht gewesen, hätten sie gewußt, was für eine Rolle Will Chiffinch im Geheimdienst des Königs spielte. »Wenn Ihr gestattet…«, murmelte Sir Robert und zog sich zurück. »Sir Nicholas«, sagte Mr. Chiffinch, als er Fenton mit einer Verbeugung durch die Tür geleitete, »da Ihr so hastig herbeordert seid, wäre es unhöflich, Euch warten zu lassen. Aber, bei Gott! Ich kann den König nicht finden!« Es waren viele offene Kamine in dem Raum, und da der Juniabend kühl war, loderten große Holzfeuer darin, die zusammen mit der von den Kerzen ausstrahlenden Wärme und den geschlossenen Fenstern den Raum unbehaglich heiß machten. »Es macht nichts«, erwiderte Fenton. »Ich … ich kann warten.«
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»Aber Ihr müßt Unterhaltung haben«, erklärte Chiffinch. »Kommt!« fügte er hinzu und deutete auf die Ostwand der Halle. »Noch vor einem Augenblick wurde drüben am Kamin an mehreren Tischen Karten gespielt. Wartet dort, und ich werde mich beeilen, Seine Majestät zu finden!« »Ich danke Euch bestens.« »Hm – ein Wort im Vertrauen, Sir Nicholas. Verwundert Euch nicht über Dinge, die Ihr vielleicht zu sehen bekommt. Merkt Euch wohl: nur aus Galanterie gestatten wir den Damen zu betrügen.« Plötzlich stellte sich Mr. Chiffinch auf die Zehenspitzen und blickte über die Stuhlreihen hinweg zum östlichen Kamin. »Ei«, meinte er, während sich sein breites Gesicht mit den blauen Äderchen zu einem Lächeln verzog, »jetzt spielt Madam Gwynn allein mit Mr. Ralph Montagu. Also, in zwei Minuten, ich schwör's!« Mit diesen Worten eilte er davon. Und ich werfe einen Blick hinter die Kulissen, dachte Fenton. Ich sehe, was nur die Augen von Toten geschaut haben. Ich muß gut Obacht geben! Die Helligkeit, die fettgetränkte Hitze, der berauschende Duft der Blumen, das Stimmengewirr, die Musik – dies machte ihn eine Weile benommen, so daß er das Gefühl hatte, es sei alles wirklich nur ein Traum. Aber er riß sich zusammen und blickte sich langsam nach einem Gesicht um, das er vielleicht identifizieren konnte. Er ging zwischen den Stuhlreihen hindurch zu dem Kartentisch am östlichen Kamin. Er hatte Madam Gwynn schon mehrere Male gesehen, da sie beide in derselben Straße wohnten. Madam Gwynn ließ sich von jedem Nelly 334
nennen mit der Begründung, daß sie nichts Besseres sei als alle anderen. Fenton hatte hin und wieder ihr hübsches, sanftes Gesicht an einem efeuumsponnenen Fenster gesehen oder beobachtet, wie sie in eine übermäßig geschmückte Sänfte stieg. Leider muß hier erwähnt werden, daß Nelly nicht immer sanft und auch nicht immer nüchtern war. Aber an diesem Abend war sie äußerst hübsch und charmant. Vor dem lodernden Feuer stand ein sehr großer runder Tisch aus polierter Eiche, so daß die beiden Spieler ziemlich weit voneinander entfernt saßen. Das Licht spielte glitzernd über den riesigen Haufen von Goldmünzen bei Nellys Ellbogen. Ihre goldenen Haare waren auf ihrem Kopf aufgetürmt und mit Perlen durchwirkt. Sie trug zahlreiche Ketten und Ringe und ein weites veilchenfarbenes Gewand. Das ovale Gesicht glühte vor Erregung, und die braunen Augen tanzten. »Ei!« rief sie. »Wer gibt?« »Ich glaube, Madam«, erwiderte ihr Gegner leichthin, »daß ich an der Reihe bin.« »Liebster Mr. Montagu!« Etwa ein halbes Dutzend Gäste – Galane mit ihren Damen – standen am Feuer, um das Spiel zu beobachten. Fenton, der den Namen Ralph Montagu überhört hatte, als Chiffinch ihn erwähnte, horchte gespannt auf. Mr. Montagu, dessen geziertes Gehabe die Frauen liebten, hatte ein häßliches Gesicht mit brünettem Teint und trug eine flachsfarbene Perücke, die von den roten Rosen im Hintergrund scharf abstach. Neben ihm lag ebenfalls ein großer Haufen von Goldmünzen. Mr. 335
Montagu war listig, schmeichlerisch, habgierig und so kaltherzig und tückisch wie ein Tiger. Durch das Studium alter, vergilbter Manuskripte konnte Fenton das schmeichlerische Wesen dieses Mannes durchschauen. Er wußte, daß Mr. Montagu – falls niemand ihn daran hinderte – in der Zukunft Verrat am König üben würde … »Aber Nelly«, zwitscherte eine der zuschauenden Damen. »Dieses ›Put‹-Spiel, ich verstehe es einfach nicht. Lomber oder Pikett kenne ich wohl. Wie …?« »Es ist ein ordinäres Spiel und paßt zu mir«, entgegnete Nelly mit strahlendem Lächeln. »Lomber und Pikett sind so langweilig, so gräßlich langweilig!« Sie zuckte ihre geschmeidigen weißen Schultern. »Dieses fette Brandschiff, die Herzogin von Portsmouth, würde schaudern, wenn sie es hörte.« Delikat spie sie über ihre Schulter. »Aber das Monstrum«, fuhr sie fort, »ist nicht in London, sondern auf dem Kontinent. Auch die andere führende Mätresse, die Herzogin von Cleveland, ist schon vor langem in tiefster Empörung nach dem Kontinent gereist.« »Und gibt es keine andere?« fragte Mr. Montagu mit seinem seidigsten Lächeln. »Ich bin des Königs Hure«, erwiderte sie mit holder Stimme. »Es ist mir noch nicht zu Ohren gekommen, daß ich die eines anderen bin. Mr. Montagu, ich möchte meiner Freundin dieses Kartenspiel zeigen. Bitte, gebt mir meine Karten.« Die prächtig bemalten Karten waren bereits gemischt und abgehoben. Montagu erhob sich graziös und legte mit 336
ebensoviel Grazie drei Karten, mit der Bildseite nach unten, vor Nelly hin. »Dies ist meine Hand, Holdeste«, erklärte Nelly dem zimperlichen Mädchen mit dem Fächer. »Mr. Montagu gibt sich seine Karten und nimmt Platz. Bevor wir nun wetten«, plapperte Nelly weiter, »darf jeder eine Karte ablegen und sich eine andere dafür nehmen. Und wer die niedrigste Hand hält, hat gewonnen.« Beide Spieler nahmen die Karten vom Tisch: Nelly voller Eifer, Montagu kühl und gelassen, mit einem starren Lächeln. Sie spielten eine Weile schweigend. »Es betrübt mich sehr«, sagte Montagu plötzlich, als bitte er sie kindisch um Verzeihung, »daß ich über eine Dame triumphieren muß. Aber Fortuna ist nun mal so – selbst dem lieblichsten Gesicht gegenüber blind.« Damit legte er seine Karten auf den Tisch. Ein Gemurmel erhob sich unter den Zuschauern. »Einen Augenblick, bitte«, säuselte Nelly. »Seht Euch dies nur an!« Karte für Karte legte sie mit zierlichen Bewegungen hin. Sie hatte gewonnen. Tödliches Schweigen. Es war natürlich Betrug auf beiden Seiten, ein so eklatanter Betrug, daß die Zuschauer sofort eine nichtssagende Plauderei begannen. Doch Fenton spürte das allgemeine Entzücken über Montagus Niederlage, der nie Karten spielte, wenn er nicht seines Sieges gewiß war. Montagu sprang auf die Füße. »Madam, ich…«, begann er mit erstickter Stimme. Dann beherrschte er sich aber und ging um den Tisch herum auf den Gang zu. 337
Und Fenton trat ihm direkt in den Weg. »Mr. Montagu«, sagte er mit so leiser Stimme, daß kein Zuschauer es gehört haben konnte, »zweifelt Ihr an der Korrektheit des Spiels?« Das von der flachsenen Perücke umrahmte Gesicht des Mannes zeigte auf einmal einen anderen Ausdruck. »Wer zum Teufel seid Ihr denn?« fragte er laut. »Mein Name ist Fenton, Sir Nick Fenton. Nochmals: zweifelt Ihr an der Korrektheit des Spiels?« Es war, als sei die Gruppe am Kamin zu Eis erstarrt. »Ich zweifle nicht daran, Sir«, erwiderte Montagu lächelnd in leichtfertigem Ton. Doch er wich langsam bis zum Tisch zurück, die Hand unter der Kante. In der tiefen Stille fiel ein Goldstück klirrend zu Boden. »Sir Nick, um Gottes willen!« zischte eine Stimme dicht an seiner Perücke, und eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter. Laut und in etwas brüskem Ton sagte Chiffinch dann: »Ich bitte Euch um Verzeihung, Madam Gwynn, meine Damen und Herren, daß wir uns so rasch verabschieden müssen. Aber Sir Nick rufen dringende Geschäfte.« Woraufhin der hakennasige Herkules ihn zurückführte. Obwohl Chiffinch weiterhin eine ehrerbietige Haltung zeigte, hatte Fenton das Gefühl, er hätte ihn am liebsten angebrüllt. »Zum Teufel!« flüsterte er. »Kann ich Euch nicht zwei Minuten allein lassen, ohne daß es zu einer Duellforderung im Palast selbst kommt? Euer Ruf, Sir Nicholas, ist in keiner Weise unterschätzt.« 338
»Nicht doch!« protestierte Fenton. »Ich weiß, was geschehen soll« – hier blickte ihn Chiffinch von der Seite an –, »und ich… ich versuche, es zu verhindern. Weiter nichts!« »Nun, Ihr wartet jetzt hier!« Chiffinch führte ihn zu einer abgeteilten Nische in der Südostecke der Halle, wo ein Kamin im Winkel zweier Wände eingebaut war. Vier hohe Paravents aus starkem, mit Messingnägeln beschlagenem und dich gepolstertem Leder verwandelten diesen Alkoven in einen kleinen Raum. Ein helles Feuer brannte im Kamin. Mehrere sogenannte orientalische Stühle, gepolstert und mit Stoff bezogen, und zwei Schemel vervollständigten die Einrichtung. Da niemand anwesend war, nahm Fenton Platz. Er sah der Unterredung mit Spannung entgegen. Es gab so vieles, so vieles, wovor er den König warnen mußte! Dann hörte er außerhalb der Nische die »mächtige Stimme« – so ist sie beschrieben worden –, und die wohlbekannten langen Schritte von Charles Stuart. »Nicht, bis ich Euch rufe, Will!« sagte die Stimme. Und in den Alkoven trat der Mann, über den er so viel gelesen hatte. Seine lebendige Gegenwart verschlug Fenton den Atem. Er erhob sich schnell. Charles war fast zwei Meter lang und wirkte durch die hohe Perücke und die halbhohen Absätze noch größer. Er war hager und muskulös und trug einen fast schäbigen schwarzen Anzug, der ihm reichlich weit war, mit einer mattroten Weste und vielen Spitzen. 339
Die Haare seiner schwarzen Perücke, sorgfältig in der Mitte gescheitelt und üppig gelockt, reichten ihm beinahe bis zur Brust. Er war fast so braun wie ein Indianer und besaß eine lange, gerade Nase. Wie Fenton, trug er einen strichartigen schwarzen Schnurrbart. Er hatte die Backenknochen und das lange Kinn der Stuarts. Am schönsten waren seine rotbraunen Augen unter hochgeschwungenen schwarzen Brauen. Er hieß Fenton mit einem warmen Lächeln willkommen. »Sir Nicholas«, sagte er, indem er ihm die Hand reichte, »da Ihr nicht zu mir kommen wolltet, mußte ich Euch holen lassen.« Fenton legte die Stirn auf die mit drei Ringen geschmückte Hand und machte einen Kratzfuß. Im Augenblick fand er keine Worte. »Nun, Mann, seid ungeniert!« ermunterte ihn Charles, während er sich in einen Sessel fallen ließ und einen Fuß auf einen prächtig bestickten Schemel legte. »Oder macht's Euch wenigstens bequem. Nehmt Platz – so! Nun ist's mir auch wohler.« Ja, er besaß den Charme aller Stuarts. Mit einem Wort oder Blick vermochten sie blinde Treue und Hingebung zu entfachen. Wie viele Schwerter waren schon für sie gezogen, wie viele Trinksprüche auf sie ausgebracht, wie viele Vivat-Rufe erschallt, selbst aus dem Mund von Sterbenden! »Ich hatte die Absicht«, sagte Charles, »sehr streng mit Euch zu verfahren. In meiner Regierung, Sir Nicholas, habe ich drei königliche Edikte gegen das Duellieren erlassen. Manchmal habt Ihr mir großen Kummer verursacht. Zu anderen Zeiten- Schockschwerenot, wie hat Euer Betragen mein Herz erwärmt!« Charles lehnte sich 340
zurück. Sein Gesicht war düsterer und die Falten darin tiefer, als man auf den ersten Blick hin annahm. »Wie ich höre, sollt Ihr bei Eurem letzten Scharmützel mit den Aufrührern den alten Schlachtruf geäußert haben: ›Mit Gott für König Charles!‹ Nun, galt das mir oder meinem Vater?« »Majestät, ich weiß es nicht. Ich kann es wirklich nicht sagen. Es galt, glaube ich, beiden.« »Einem allein«, murmelte Charles, »wäre schon Ehre genug.« Seine rotbraunen Augen blickten über die Paravents, und er spielte, in Gedanken versunken, mit einem Ring an seiner rechten Hand. »Nun!« Charles, dessen Ausdruck sich blitzartig ändern konnte, betrachtete ihn jetzt mit einem nachsichtigen Lächeln. »Was Eure Weissagerei angeht, Sir Nicholas, so warne ich Euch … ich …« »›Habe nichts mit solchen Kreaturen zu schaffen‹«, zitierte Fenton mit verschränkten Händen, den Blick zu Boden gerichtet, »›denn wenn sie einem wirklich etwas sagen könnten, so wäre dieses Wissen lästig.‹« Charles' Gesicht war völlig ausdruckslos. »Und warum gebraucht Ihr solche Worte?« »Sie wurden von Euch selbst geschrieben, Majestät, und zwar vor langer Zeit in einem Brief nach Frankreich an Eure junge Schwester Henrietta, die mit dem Herzog von Orleans verheiratet war. Sie ist seit fünf Jahren tot, und ihre gute Seele ruht in Frieden.« Charles sprang plötzlich auf und ging zu dem kleinen Kamin in der Ecke. Er legte die Hände auf den Kaminsims und stieß mit dem Schuh gegen 341
die kleinen, brennenden Holzscheite. Nur zwei Personen, daß wußte Fenton, hatten das Herz von Charles Stuart jemals tief bewegt: seine zarte junge Schwester und sein Vater. Charles wandte sich wieder Fenton zu, das Kinn tief in seinem Spitzenjabot vergraben. »Ich will nicht fragen«, sagte er, »weshalb Ihr eine Stelle aus einem von einem Privatboten überbrachten Privatbrief zu zitieren vermögt.« Charles runzelte die Stirn. »Ich muß offen gestehen: Ihr seid mir ein Rätsel, Sir Nicholas. Vor mir sehe ich einen ruhigen Gentleman von höflichem Betragen, und ich hatte einen lauten Prahlhans erwartet, nach Eurem öffentlichen Auftreten und selbst nach Eurer Rede in der ›Gemalten Kammer‹ zu urteilen.« »Täuschen wir nicht beide in unserem öffentlichen Auftreten?« fragte Fenton. »Inwiefern?« »Mit Verlaub, Majestät! Meint Ihr, daß niemand die Pose eines ›fröhlichen Monarchen, skandalös und arm‹, die Ihr absichtlich einnehmt, durchschaut? Das mag vielleicht in Eurer hitzigen Jugend zutreffend gewesen sein, aber nicht mehr seit vielen Jahren.« »Nun, was das angeht…«, begann Charles, ohne jedoch den Satz zu vollenden. Mit der liebenswürdigsten Miene setzte er sich wieder in seinen Sessel und legte den Fuß auf den Schemel. Sein ruheloser, satirischer Geist mußte ewig sondieren. »Arm bin ich«, gab er zu. »Dafür sorgt das Parlament.« Er straffte seine Muskeln. »Das Fleisch plagt einen immer noch… Wer könnte einer hübschen Frau widerstehen? 342
Oder wer ihr trauen? Doch bin ich in meinem kleinen Harem ziemlich häuslich geworden. Ich treibe keine Possen mehr und trinke nur, um meinen Durst zu löschen. Ich bin alt und hager geworden.« »Sonst nichts?« »Schockschwerenot, ja!« lautete die etwas knurrende Antwort. »Meine Feinde müssen früher oder später lernen, daß ich nicht nachgebe und mich nicht einschüchtern lasse. Seit Jahren hat meine Hand diese Nußschale gelenkt, und ich werde sie sicher in den Hafen bringen, ehe ich sterbe.« »Das wird Euch gelingen, Majestät. Und noch mehr. Aber das Meer wird stürmisch sein.« Charles' ernste Stimmung verschwand. »Aha!« murmelte er in seiner gewohnten nachlässigen Art. »Das bezieht sich wohl auf Eure Prophezeiung im Green-Ribbon-Klub, nicht wahr?« »Wenn meine Worte Eurer Majestät gegenüber vielleicht verdreht worden sind …« »Nein, da könnt Ihr unbesorgt sein. Ich bezahle mehr Spione als Mylord Shaftesbury selbst. Aber warum mußtet Ihr die Nachricht ihm bringen? Warum seid Ihr nicht zu mir gekommen?« »Zunächst, Majestät, hatte ich mit Mylord einiges abzurechnen. Dann auch wieder wußte ich, daß Ihr dieser sogenannten ›Verschwörung‹ keinen Glauben schenken würdet. Oh, Ihr werdet Eure Gegner letzten Endes überlisten und vernichten. Aber drei Jahre des Schreckens und Blutvergießens werden darüber hingehen. Während unschuldige Katholiken verfolgt werden wie nie zuvor, 343
werdet Ihr keinen Finger rühren, um sie zu retten. Da Ihr päpstlich gesinnt seid, werdet Ihr Mitleid mit ihnen haben. Aber die Begnadigung eines Katholiken würde einen Bürgerkrieg heraufbeschwören, und vorläufig ist an eine Vergeltung nicht zu denken. Beim Unterzeichnen der Todesurteile werdet Ihr sogar ausrufen: ›Möge das Blut über die kommen, die sie verurteilen, denn Gott weiß, daß ich mit Tränen in den Augen unterzeichne!‹« Fenton brach der Schweiß aus, und er zitterte am ganzen Körper von der Anstrengung, mit der er versuchte, Glauben zu erzwingen. Charles warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Dies alles«, fügte Fenton hinzu, »wird geschehen, wenn es nicht auf irgendeine Weise verhindert wird.« »Wie, zum Beispiel?« Die tiefe Stimme schien den Alkoven zu füllen. Fenton wagte seinen kühnsten Vorstoß. »Eure Majestät werden das Parlament nicht vor 1677 einberufen …« »Und warum nicht?« »Weil die Euch vom französischen König gezahlten Subsidien erst dann erschöpft sind. Darf ich vielleicht auf die hunderttausend Pfund anspielen, die im Jahre 1674 vereinbart wurden?« Charles blickte ein wenig verlegen drein. Er hatte verschiedene Male Bestechungsgelder von seinem Vetter Ludwig angenommen, während er immer bestrebt war, Englands Interessen denen Frankreichs voranzustellen. Aber die bloßen Gerüchte davon brachten die Mitglieder des Unterhauses in Wut.
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»Hier, Majestät«, fuhr Fenton fort, »haben wir nun die reinste Ironie. Der augenblickliche französische Gesandte, M. Savarigny, wird durch einen anderen, nämlich M. Barrillon, ersetzt. Ich fürchte sehr, daß der französische König Euch ebensowenig traut wie Ihr ihm.« »Nanu, was für ein argwöhnischer Geselle!« »M. Barrillon wird in Zukunft das tun, was M. Savarigny jetzt schon in kleinerem Maße tut: Er wird die tugendhafte, fromme Landpartei, die hochgesinnten GreenRibbon-Anhänger bestechen, damit sie noch fanatischer gegen Euch hetzen!« Charles spitzte die Lippen. »Na, wenn ich das nur beweisen könnte …!« »Majestät, die Korrespondenz zwischen Barrillon und König Ludwig von Frankreich – die der Nachwelt erhalten bleibt – wird eine Liste fast aller Bestochenen enthalten, darunter viele Mitglieder des Unterhauses und des Oberhauses. Wenn Ihr doch nur Barrillons Briefe oder Abschriften davon in die Hände bekommen könntet…!« »Halt, Mann, nicht so hastig!« Schweigen folgte diesen Worten. Das Gemurmel der Unterhaltung und die Klänge der Musik, bisher von beiden unbemerkt, drangen in die Nische, während Charles regungslos dasaß. Langsam wandte er den Kopf. »Sir Nicholas«, sagte er, »Ihr behauptet immer wieder, daß diese Briefe existieren ›werden‹. Ich habe nur eine Frage, und zwar eine ganz einfache: Woher wißt Ihr, daß sie existieren werden?« »Weil ich sie gelesen habe!« »Gelesen?« 345
»Ja! Solche Geheimdokumente konnten zweifellos zu der Zeit nicht veröffentlicht werden. Das geschah erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Man findet sie unverkürzt im zweiten Band von …« Fenton brach entsetzt ab. Jetzt hatte er tatsächlich den einen unabänderlichen Fehler begangen. Doch Charles' Stimme und Ausdruck blieben unverändert. »Gibt es sonst noch etwas«, fragte er freundlich, »wovor Ihr mich warnen möchtet?« »Allerdings, Majestät, und wenn Ihr mich ins Tollhaus schickt! Es betrifft Mr. Ralph Montagu. Ihr dürft ihn nicht als Gesandten an den französischen Hof schicken …« »Mr. Montagu ist ein sehr geistreicher Mann, wie ich höre. Dennoch habe ich nicht die Absicht, ihn zum französischen Gesandten zu ernennen.« »Und doch werdet Ihr es tun, Majestät, glaubt mir! Nun, wer ist Eurer Majestät fähigster und treuester Minister? Ich wage zu sagen: Mylord Danby. Wenn Mr. Montagu in Ungnade aus Frankreich zurückberufen wird, bringt er in seiner Gehässigkeit eine Reihe von Briefen mit. Einer von diesen wird 1679 vor dem Unterhaus verlesen werden und Mylord Danby und beinahe Eure Majestät selbst zu Fall bringen.« »Nun laßt uns einmal überlegen«, sagte Charles sinnend. »Ich glaube, Euer Vater war ein guter Freund von Mylord Danby, nicht wahr?« »Ich glaube wohl. Aber das hat durchaus nichts damit zu tun!« 346
»Mr. Montagu ist Euch wohl nicht sehr sympathisch, wie?« »Ich gebe Euch mein Wort, daß ich den Mann vor heute abend noch nie gesehen habe.« »Und wann habt Ihr Mylord Danby zuletzt gesehen?« »Er – er hat heute abend in meinem Hause gespeist.« »Heute abend«, wiederholte Charles nachdenklich. Und Fenton spürte, wie alle Kraft von ihm wich. Zum ersten und letzten Male in seinem Leben kniete er nieder. »Um Gottes willen, Majestät, schenkt meinen Worten Glauben! Alles, was ich gesagt habe, wird sich erfüllen!« Charles erhob sich und ging zu ihm hinüber. Er hob Fenton auf, klopfte ihm auf die Schulter und kehrte zu seinem eigenen Sessel zurück. »Eine letzte Chance!« flehte Fenton unter Aufbietung seiner letzten Kräfte. »Stellt Ihr mir eine Frage. Nein, zwei Fragen! Wenn ich sie nicht beantworten kann, dürft Ihr mich für einen armen Irren halten.« »Sir Nicholas, Ihr macht Euch noch ganz krank«, protestierte Charles. »Wenn es Euch Vergnügen bereitet«, fügte er hastig hinzu, »so sei es denn. Aha, ich hab's. Für die kommende Weihnachtszeit habe ich eine kleine Reise geplant. Nun, in wessen Hause und mit wem werde ich den 25. Dezember verbringen?« Wieder einmal der 25. Dezember, der Sir Nicks und groteskerweise auch sein eigener Geburtstag war. Ja, irgendwo war etwas von diesem Besuch erwähnt. Aber bei welchem Autor? Verzweifelt kramte Fenton in seinem Gedächtnis herum wie jemand, der in Koffern nach 347
alten Papieren sucht. »Nun, 's ist nicht so wichtig«, versicherte ihm Charles heiter. »Auch die nächste Frage nicht. Wir befinden uns in der zweiten Woche des Juni. Nun, wo werde ich um diese Zeit im Jahre 1685 sein?« Da Charles es vermied, Fenton anzusehen, und statt dessen die Ringe an seinen Fingern betrachtete, sah er nicht, wie das Gesicht seines Besuchers kreidebleich wurde. Denn es gab nur eine Antwort auf diese Frage. Majestät, würde Fenton sagen müssen, an diesem Tage im Jahre 1685 werdet Ihr gerade etwas über vier Monate tot sein. Er vermochte nicht zu sprechen. Unmöglich, dem König diesen Schlag zu versetzen. Er würde ihm allerdings nicht glauben. Doch der Gedanke würde immer an ihm nagen. Die Tage dahineilen zu sehen, das Ticken der Uhr zu hören, die Krankheit zu fürchten, die das Ende herbeiführen würde … nicht auszudenken! Nur allzu deutlich sah er in seiner Phantasie die kalte Morgendämmerung in dem großen Schlafzimmer und hörte, wie eine schwache Stimme befahl, die Uhr aufzuziehen, während sich das graue Februarlicht durch die Fenstervorhänge stahl. Und Charles, der qualvolle Tage mit einem Scherz auf den Lippen durchlebt hatte, starb schließlich, den katholischen Glauben im Herzen. »Majestät«, antwortete Fenton mit klarer Stimme, »ich kann es Euch nicht sagen.« »Und damit ist die Sache erledigt«, sagte Charles lächelnd. In verändertem Ton fuhr er fort: »Nein, ich heiße Euch nicht verrückt. Dieser prophetische Geist, dessen Äußerungen manchmal zutreffend, aber öfter falsch sind, macht sich in allen alten Familien bemerkbar. Henrietta besaß ihn auch. Das ist vielleicht der Grund …« Er brach 348
unvermittelt ab und hob die Hand. »Nun, Sir Nicholas, Ihr sagt, Ihr seiet hier, um mich zu warnen. Aber, Schockschwerenot! Wie sehr muß ich Euch erst warnen!« »Mich warnen, Majestät?« »Ich brauche Euch nicht zu sagen, daß Ihr ewig in Gefahr schwebt. Aber seid Ihr Euch dessen bewußt, daß Ihr einen Todfeind in Eurem Hause beherbergt?« Fenton drehte sich das Herz im Leibe um. »Ich habe versucht, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Wollte Gott, ich könnte sie finden!« rief er aus. »Zum Beispiel!« sagte Charles und legte die Fingerspitzen zusammen, »wurdet Ihr am 10. Mai in einer kleinen, abgelegenen Straße, der Totenmannsgasse, von zwei Raufbolden angefallen, und zwar auf Anstiften des GreenRibbon-Klubs. Doch woher konnten sie wissen, daß Ihr gerade zu der Zeit dort sein würdet? Irgend jemand muß ihnen einen Wink gegeben haben. Ist Euch der Gedanke noch nicht gekommen?« »Majestät, daran habe ich als erstes gedacht. Sobald ich abends nach Hause kam, erkundigte ich mich bei meinem Türhüter, was für Briefe am Vormittag das Haus verlassen hätten. Sie schienen alle harmlos zu sein.» »Dann ahnt Ihr also nicht, wer Euch verraten hat? Und das zu wiederholten Malen?« »Ich fürchte, nein.« »Sir Nicholas, es war Eure eigene Gattin.« Es folgte ein kurzes Schweigen. Fenton stand auf und blickte in die halbverschleierten rotbraunen Augen. »Majestät«, sagte er in aller Ruhe, »Ihr lügt.« Abermals 349
Schweigen. Selbst die leichten Geräusche der Festhalle schienen ausgelöscht zu sein. Charles ließ die Hand schwer auf die Armlehne fallen. Seine kräftigen Finger umklammerten sie, und man hörte ein leises Krachen im Holz, als er sie seitwärts bog. Mit dem Fuß stieß er den schweren Schemel, auf dem sein Bein ruhte, fort, so daß er mit dumpfem Aufprall gegen einen ledernen Paravent flog und ihn beinahe umwarf. Fentons Blick wich und wankte nicht. Er sah die Wut der Stuarts, die immer gefährlich und unbestimmbar war. Er beobachtete, wie sie sich in den halbverhüllten Augen langsam verwandelte: zunächst in Verwirrung und dann in staunenden Zweifel. Dieser Mann, schienen die bestürzten Augen zu sagen, ist ja ehrlich. Der Zweifel wurde Überzeugung und schließlich sogar Bewunderung. Charles erhob sich und stand hoch über seinem Gefährten. »Mann, ich liebe Euch dafür!« brummte er mit tiefer Stimme und so viel Aufrichtigkeit, wie er je empfinden konnte. »Welcher Kriecher, welcher Schmeichler an diesem Hof hätte das wohl zu sagen gewagt? Mein Bruder, ja; aber James ist zu ehrlich, um an seine Haut zu denken.« Unvermittelt streckte Charles die Hand aus. »Hört auf mit dieser albernen Handküsserei«, sagte er, »ergreift meine Hand in Freundschaft, und denkt daran, daß ein unbesonnener Mann auch dankbar sein kann!« Fenton stand mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten vor ihm. »Ich bitte Euch demütigst um Verzeihung, Majestät, aber ich würde selbst die Hand des Schöpfers nicht anrühren, wenn er nicht seine Worte zurücknähme 350
oder deren Wahrheit bewiese.« Charles machte eine leichte Verbeugung. »Ja, Ihr habt recht«, sagte der König von England, der weit würdevoller den Tadel entgegennahm, als ein anderer Mann ihn zurückgewiesen hätte. »Ihr sollt Euren Beweis haben. Kennt Ihr die Handschrift Eurer Gattin?« »Ich kenne sie sehr gut, Majestät.« Aus einer Innentasche zog Charles einen dünnen grauen Briefbogen, der für das Siegel vierfach gefaltet, jetzt aber sehr zerknittert und mitgenommen war. »Dieser Brief«, bemerkte er, »wurde beschlagnahmt, nachdem sein Inhalt auf mündlichem Wege an den GreenRibbon-Klub weitergeleitet worden war. Bitte, lest ihn, Sir Nicholas.« Fenton versuchte, ihn mit steter Hand zu entfalten. Sein Auge erkannte sofort Lydias Handschrift und das Datum des 10. Mai, 10 Uhr morgens. Dann las er: Er ist soeben von mir gegangen. Ich bin in seinem eigenen Schlafzimmer, wo er mir sagte, daß meine Krankheit von einem Doktor geheilt werden kann. Aber er ist nach unten gegangen, um die Diener, arme Kreaturen, mit einer guten Neunschwänzigen Katze zu stäupen. Das Stäupen, nehme ich an, dauert wohl über eine Stunde. Aber Ihr werdet ihn bestimmt zwischen Mittag und ein Uhr in der Totenmannsgasse finden, die wohl beim Strand ist, da er dies in meiner Gegenwart gesagt hat. Es mag früher oder später sein. Alles für eine gute Sache. Eure Lydia F.« Es war merkwürdig. Etwas schien mit Fentons Augen nicht in Ordnung zu sein, und es zitterten ihm die Knie. 351
»Ich – ich sehe«, sagte er deutlich, »daß dies an eine Mrs. Wheeler, Schneiderin, ›La Belle France‹, Covent Garden, adressiert ist.« Charles machte eine ungeduldige Bewegung. »Nun ja, sie müssen doch einen Sammelplatz für die Nachrichten ihrer Spione haben, und der ist gewiß nicht im ›Königshaupt.‹ Dieser hier ist gut ersonnen; denn wer würde eine Schneiderin verdächtigen?« »Waren«, Fenton räusperte sich, »waren noch andere Briefe vorhanden?« »Ich glaube, ja. Einen davon hätten wir beinahe in die Hände bekommen, wenn nicht…« »Wenn nicht meine Frau eine – eine andere Schneiderin gefunden hätte, nicht wahr?« »Nun, in dieser Sache müßt Ihr Euch an meine Staatssekretäre wenden. Aber dieser eine Brief Eurer Gattin ist mir noch im Sinn. Unser Mann versuchte, ihn abzuschreiben, mußte aber eilends aufhören und ihn wieder versiegeln. Eine der Zeilen lautete: ›Wenn Ihr ihn nicht das nächste Mal tötet, verlasse ich den Green-Ribbon-Klub.‹« Mechanisch wiederholte Fenton die Worte. Dann versuchte er niederzuknien, aber das Zittern in seinen Beinen hinderte ihn daran. »Majestät«, sagte er, »ich – ich möchte versuchen, eine Entschuldigung für meine törichten Worte vorzubringen.« Der König ergriff seine Hand und zog ihn empor. »Eure Entschuldigung ist akzeptiert, Sir Nicholas«, sagte Charles mit ernster Miene. »Reden wir nicht mehr davon. Aber Ihr seht doch … Nanu, Mann! Was ist denn los?« 352
»Ach, Majestät, ich bin nur über den Stuhl gestolpert. Jeder kann über einen Stuhl stolpern, auch Ihr.« Charles betrachtete ihn nachdenklich. »Nun, was hat das für einen Grund? Hm! Wie ich von allen Seiten höre, lebt Ihr mit Eurer Gattin in bitterer Zwietracht und schreit Euch gegenseitig an vor Wut.« »Eure Berichterstatter, Majestät, befinden sich … im Irrtum.« »Nun, und selbst wenn es sich so verhält! Schockschwerenot! Was liegt schon an einem Frauenzimmer? Sie sind alle gleich in dem, was sie einem Manne bieten können.« Zögernd wandte er sich ab. »Doch muß ich bekennen, daß ich gern an die alten, längst vergangenen Tage mit Frances Stuart zurückdenke. – Laßt Euer Herz nicht mitsprechen, Mann!« sagte er mit leidenschaftlicher, erstickter Stimme und wandte sich wieder um. »Das ist die wichtigste Regel im Leben.« »Ich werde versuchen, danach zu leben, Majestät. Habe ich nun Eure Erlaubnis, mich zu verabschieden?« »Aber gewißlich, wenn Ihr es wünscht. Ihr habt Euch als treuer und zuverlässiger Untertan erwiesen, Sir. Gibt es keine Auszeichnungen, womit ich Euch belohnen kann?« »Keine, obwohl ich die Huld Eurer Majestät zu schätzen weiß. Ich… einen Augenblick! Es gibt doch etwas, worum ich Euch bitten möchte!« »Laßt es mich hören.« »Am Rande von Whitehall lebt ein alter Mann, der sich Jonathan Reeve nennt, in Wirklichkeit aber der Graf von 353
Lowestoft ist, obwohl ihm Titel und Güter unter Oliver entwendet wurden.« »War er nicht«, unterbrach ihn Charles plötzlich, »mit Euch zusammen im ›Königshaupt›? Gehörte er nicht zu den dreien«, und die tiefe Stimme zitterte vor Stolz, »die ein Hoch auf mich ausbrachten, als Ihr die Treppe gegen dreißig Degen verteidigtet!1« »Das ist der Mann, Majestät. Aber er ist alt und hilflos und gebrochen, und von anderen nimmt er keinen roten Heller; ich hab's versucht. Es wäre zu begrüßen, wenn das Schatzamt ihm seinen Titel und seine Güter zurückgäbe.« »Es soll geschehen. Aber wie steht's mit Euch selbst?« (Wenn Ihr ihn nicht das nächste Mal tötet, werde ich …) »Ich habe keinen Wunsch, Majestät, nur den, Euch nach besten Kräften zu dienen.« »Aber ich werde doch eine Vorsichtsmaßregel treffen!« erklärte Charles grimmig. Er zog einen Kameenring von seiner rechten Hand und schob ihn Fenton auf den Finger. »Wenn sie Euch mit Degen angreifen, Sir Nicholas, haben wir nichts zu befürchten. Aber Mylord Shaftesbury mag sich Euch gegenüber feinerer Tricks bedienen. Sollte er dies versuchen, schickt mir diesen Ring, und er wird nicht ohne Beachtung bleiben. Mein Vater gab ihn mir. Unsere Namen sind darin eingraviert.« (Ihr werdet ihn in der Totenmannsgasse finden… Lydia, Lydia, Lydia!) »Ich danke Euch, Majestät.« »Nun, Kopf hoch! – Mr. Chiffinch!« rief Charles mit donnernder Stimme, die sofort eine Totenstille in der 354
Festhalle hervorrief. Chiffinch schlüpfte um einen Paravent herum. »Sorgt dafür«, befahl der König, »daß Sir Nicholas in einer meiner Kutschen nach Hause gefahren wird. Danach kehrt hierher zurück.« Als Fenton rückwärtsgehend den Alkoven verließ, brachte er trotz seiner schlotternden Knie eine höfische Verbeugung zustande. »Ihr Diener, Majestät», sagte er. Als er und Chiffinch gegangen waren, strich sich Charles eine Zeitlang unentschlossen über die Wangen. Dann trat er wieder an den kleinen Kamin, stützte die Hände auf den Kaminsims und blickte auf die glühende Asche der Holzscheite hinab. In dieser Haltung verharrte er, selbst als Chiffinch zurückgekehrt war. »Und was haltet Ihr von ihm, Will?« fragte er, ohne sich umzudrehen. »Ach, ich kann aus dem Mann nicht klug werden«, brummte Chiffinch, der eine privilegierte Rolle einnahm. »Aber er ist grundehrlich.« Charles schwieg eine Weile. »Wenn ich zynisch bin, Will, so habe ich allen Grund dafür. Armut und Verbannung haben von jeher den Verstand geschärft. Und wenn ich wenigen Männern und gar keinen Frauen mein Vertrauen schenke, so ist das ebenfalls begründet. Dennoch …« Er trat mit dem Fuß gegen den mittleren Holzblock, der unter einem Funkenregen zusammenfiel. »Ich will Euch eins sagen, Will! Sir Nicholas ist ein Mann, dem das Herz gebrochen ist.«
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XVII Doch Fenton selbst wäre dieser Gedanke nicht in den Sinn gekommen, als er in der dumpfen Samtkutsche nach Hause rollte. Er war wie gelähmt. Normalerweise wäre das Schaukeln des Wagens für seinen zerschlagenen Körper sehr schmerzhaft gewesen; aber er fühlte nichts. Auch spürte er keinen Stich im Herzen, keine Neigung, zu toben und zu fluchen; gar nichts. Aber er fand es außerordentlich schwierig, seine Arme und Beine richtig zu bewegen. »Ich muß dies gründlich durchdenken«, sagte er dauernd vor sich hin. »Von Anfang bis Ende.« Er erinnerte sich, daß er seine Taschenuhr herausgezogen hatte, als er den Palast verließ und den von Fackeln beschienenen Hof betrat, wo die Kutsche seiner harrte. Mit Staunen hatte er festgestellt, daß es noch kaum halb neun war. Seine ganze Audienz beim König hatte weniger als eine Stunde gedauert. Und jetzt fuhr die großartige Kutsche vor seiner Tür vor. Ich muß das alles durchdenken, wiederholte er im stillen. Obwohl er froh war, daß man ihm aus dem Wagen half, gab er lächelnd vor, keine Hilfe zu benötigen. Später erinnerte er sich daran, daß er Sam in ruhigem Ton sagte, er brauche nicht so lange an der Tür zu stehen. Sam öffnete mit einer Verbeugung die Tür und verschwand. Der immer gegenwärtige Giles stand mit einer Kerze in der Halle. Als er Fentons Gesicht sah, preßte er seine dünnen Lippen aufeinander. 356
»Guten Abend, Sir.« »Dir ebenfalls, guter Giles. Einen recht schönen guten Abend!« »Darf ich mir als alter Diener die Freiheit nehmen, Sir, zu fragen, ob alles im Whitehall-Palast nach Wunsch und Willen gegangen ist?« »Ja, es ging alles gut. Warum auch nicht?« »Seine Majestät war nicht etwa – zornig? Wenn Ihr nur einen Blick in den Spiegel werfen würdet, wäre Euch meine Frage verständlich.« »Zornig, sagst du? Schockschwerenot!« rief Fenton aus, mäßigte aber seine Stimme, als er fortfuhr: »Höre, Naseweis, wie zornig der König war. Er bot mir jegliche Belohnung an, die ich mir nur wünschte. Ehrenhalber konnte ich jedoch das Anerbieten nicht annehmen. Das wirst du verstehen. Immerhin!« »Wißt Ihr, was man Euch zugedacht hatte, Sir? Nein? Dann will ich's Euch sagen. Seine Majestät wollte Euch zum Peer machen.« »Daß dich die Pest! Was sollte ich wohl mit der Peerswürde anfangen? Giles, ist… Mylady wohlauf?« »Ei, fürwahr«, erwiderte Giles erstaunt und setzte eine sauertöpfische Miene auf, weil sein Herr eine Peerswürde so verächtlich abtat. »Kurz nach Eurem Aufbruch löste sich die Tafelgesellschaft auf. Der betrunkene Lord George wurde in Mylord Danbys Kutsche nach Hause gebracht. Aber ich muß sagen, Sir, es gefiel mir gar nicht, wie der ältere Herr im Sattel schwankte, als er davonritt. Eure 357
Gemahlin, Sir, hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Sie äußerte die Bitte …« Fenton packte Giles am Rock. »Ich möchte nicht mit meiner – mit ihr reden. Das heißt, nicht jetzt. Erst ein paar Minuten vor Mitternacht. Hast du mich verstanden, Giles?« »Selbstverständlich, Sir.« »Hol mir Kerzen«, sagte Fenton. »Ich möchte in mein Schlafgemach gehen und dort über etwas nachdenken. Auf keinen Fall möchte ich gestört werden. Ist das klar?« Giles verneigte sich und zündete rasch die Kerzen in einem dreiarmigen Leuchter an. »Nein, du brauchst mir nicht die Treppe hinaufzuleuchten. Ich tue es selbst. Gib mir den Leuchter.« Es kostete Fenton große Mühe, seine Hand ruhig zu halten. Sein Verstand war die ganze Zeit über klar gewesen, und er sah zu, daß es so blieb. Doch als die Wirkung des Schocks nachließ, machten sich die körperlichen Schmerzen wieder bemerkbar. Sobald er sein Zimmer erreichte, ging er mechanisch zu den beiden Fenstern, die nach hinten über seinen Garten zur Mall und auf den Park gingen. Er stellte den dreiarmigen Leuchter auf seinen langen, schweren Ankleidetisch neben den Spiegel und betrachtete in dem flackernden Licht sein blasses Gesicht. »Warum hat Lydia dies getan?« fragte er sein Spiegelbild. »War ihre ganze Liebe zu mir nur Heuchelei?« »Das weißt du doch.« 358
»Ich kann mich nicht damit abfinden.« »Du mußt dich damit abfinden.« Das weiche Kerzenlicht schimmerte auf dem Glas und glühte in dem dunklen Rot der Weinkaraffe, die seit kurzem immer in seinem Zimmer stand. Hastig griff er nach Karaffe und Becher, vom Wunsch getrieben, seinen Schmerz im Alkohol zu ersäufen. Aber er stellte beides wieder hin. Vor allen Dingen mußte er jetzt einen klaren Kopf behalten. Einem plötzlichen Impulse folgend, zog er den Stuhl an eins der dunklen Fenster. Bis Mitternacht waren es noch dreieinhalb Stunden. Die Gefahr für Lydia begann genau mit dem Schlag zwölf. Nicht ein einziges Mal dachte er daran, in ihr Zimmer zu stürzen und ihr den Brief anklagend ins Gesicht zu werfen. Er vermochte es einfach nicht. Er schreckte davor zurück. Wenn sie wirklich schuldig war, wollte er sich so lange wie möglich diesem Wissen verschließen. Es war gleichgültig … jedenfalls beinahe gleichgültig … was sie getan hatte. Er liebte sie und würde sie trotz allem beschützen. Sorgfältig legte er seine Uhr in Reichweite auf den Tisch und ließ sich dann in dem Polsterstuhl vor dem dunklen Fenster nieder. »Ich kann es einfach nicht fassen«, sagte er zu sich und spürte einen leisen Stich im Herzen. »So ist Lydia nicht. Es liegt nicht in ihrem Charakter!« Sein kühler, abwägender Verstand schien im Sinne des zwanzigsten Jahrhunderts zu antworten: 359
»Hör auf mit dieser Gefühlsduselei! Du wolltest doch denken. Dann denke also! Wie ist Lydias Vorgeschichte?« »Ihre Eltern waren Presbyterianer, gehörten also einer puritanischen Sekte an. Ihr Großvater war ein Königsmörder, mit anderen Worten wahrscheinlich ein Angehörier der Fünften Monarchie, der an den unmittelbaren Anbruch des Reiches Christi glaubte und das Staats- und Kirchenwesen als gottwidrig ablehnte.« »Und glaubst du etwa, daß das keinen Einfluß auf sie ausgeübt hat, ehe sie Sir Nick heiratete? Bedenke, sie ist in dem Glauben, daß du der richtige Sir Nick seist. War sie wirklich nicht verletzt, als du sie von ihrer alten Kinderfrau trenntest, selbst wenn sie dir nach dem Munde geredet hat?« »Schweig! Warum sollte ausgerechnet Lydia einen Eifer für den Green-Ribbon-Klub entwickeln?« »Hast du die elementaren Tatsachen der Geschichte vergessen?« »Nein.« »Dann denk daran, daß Mylord Shaftesbury, einst selbst ein hitziger Presbyterianer unter Oliver, bei der Restauration als erster kraftvoll dafür eintrat, daß allen puritanischen Sekten gestattet werde, den Lehns- und Supremateid abzulegen, damit sie nicht geächtet waren. Weißt du nicht, daß er alte Presbyterianer in seinem Klub willkommen heißt?« »Aber Lydia! Sie hat weder Verständnis noch Interesse für Politik. Das hat sie mir selbst ein dutzendmal versichert.« 360
»Eigentlich zu bereitwillig. Meinst du nicht auch? Weißt du nicht noch, wie sie dich jedesmal rasch vom Thema ablenkte?« »Schweig, sage ich! In der allerersten Nacht, als ich sie in Megs Zimmer traf« – der Gedanke an Meg ließ ihn ein wenig stocken –, »versuchte ich, mich für Sir Nicks Betragen zu entschuldigen, und bat sie um Verzeihung. Und Lydia antwortete: ›Ihr bittet mich um Verzeihung? Ich bitte Euch darum von ganzem Herzen.‹« »Na, was blieb ihr auch anders übrig?« »Das verstehe ich nicht.« »Niemand schildert ihren Charakter als kalt und bösartig. Sie war eben gerührt. Warum hat sie denn wohl ihren Eltern zum Trotz Sir Nick geheiratet? Es war eine physische Attraktion, weiter nichts. Als sie dann entdeckte, daß Sir Nick ein grausamer, boshafter Kerl war, haßte sie ihn. Dennoch besaß er für sie immer noch eine gewisse Anziehungskraft.« »Das stimmt! Als sie am nächsten Morgen mit dem vom Gift hervorgerufenen Ausschlag auf Stirn und Armen in dieses Zimmer eilte, war sie die Zärtlichkeit selber und … und …« »Die war sicher geheuchelt. Aber weißt du noch, was du sagtest?« »Ich hab's vergessen.« »Nur weil du es vergessen willst. Sir Nick gewann die Oberhand und erging sich in einer Flut von Schmähungen; er stieß die heftigsten Verwünschungen gegen die ganze Rasse der Puritaner aus. Du hast vergessen, daß sie im 361
Grund ihres Herzens vielleicht ein ebenso leidenschaftlicher Rundkopf ist, wie du ein leidenschaftlicher Kavalier bist.« »Hinterher war sie aber doch zärtlich. Meine Güte, sie war es doch, die mich bat, sie – in der Nacht aufzusuchen!« »Heuchelei in der Hauptsache. Außerdem weißt du, daß sie eine vollblütige, leidenschaftliche Frau ist.« »Es war keine Heuchelei. Du lügst.« »Ah, ist deine Eitelkeit verletzt?« »Willst du behaupten, daß sie sofort nach der Einladung zum nächtlichen Rendezvous den Brief schrieb, der meinen Feinden enthüllte, wo ich zu finden war?« »Natürlich. Sie liebt dich nicht. Du bist gefährlich. Du mußt vernichtet werden.« »Hör auf mit diesem Unsinn!« »Du wolltest doch alles durchdenken. Wie oft, wenn sie dir falsches Lob zu spenden wünschte, ist ihr das Wort ›Rundkopf‹ entschlüpft? Denk mal darüber nach! ›Sanft wie ein Diener Gottes, doch kühn und beherzt wie einer von Cromwells Eisernen Dragonern‹.« »Ich habe zu der Zeit gar nicht einmal daran gedacht.« »Wer lockte dich an jenem Abend nach Spring Gardens? Und schlüpfte am selben Tage heimlich aus dem Hause, um den Brief zu senden, der dir die drei Degenfechter auf den Hals schickte? Um ein neues Kleid zu kaufen? Unsinn! Denn der Laden ›La Belle Poitrine‹ ist ein neuer Sammelplatz für Briefe.«
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»Hör endlich mit dieser Tortur auf! Wenn Lydia gar nichts für mich übrig hätte, warum dann diese Eifersucht, vor allem ihre Eifersucht auf Meg?« »Das ist wieder einmal Unsinn. Lydia ist eine Frau. Du bist ihr Eigentum. Glaubst du etwa, sie ließe sich das von einer anderen streitig machen? Am allerwenigsten von Meg oder vielmehr Mary Grenville. Lydia weiß genau, daß du eine geheime Schwäche für Meg hast. Das kann sie nicht ertragen. Das läßt ihre Eitelkeit nicht zu. Bedenke, daß du achtundfünfzig Jahre alt bist. Nicht physisch, aber im Geist. Könntest du dich nicht leicht von einem hübschen Gesicht, einem schönen Getue und einem verlockenden Körper täuschen lassen? Bist du nicht gar völlig betört?« »Ja, diese Möglichkeit muß ich wohl ins Auge fassen.« »Dann nimm dich in acht, wenn sie dich vor der einzigen Frau warnt, die dich wirklich gern hat: Meg York. Lydia haßt Sir Nick und hält dich selbstverständlich für Sir Nick. Sie wendet nur die von Sir Nick erlernten Liebeskünste auf einen anderen Mann an.« Fenton sprang auf und bedeckte seine Augen mit der Hand. Ein gewaltiger Zorn bemächtigte sich seiner, aber er wußte, daß er sich beherrschen mußte. Er verschloß sich all diesem Geflüster – so glaubte er wenigstens –, und nahm wieder vor dem dunklen Fenster Platz, um seine Gedanken zu ordnen. Eine Zeitlang war es ihm dunkel vor Augen. Dann auf einmal mahnte ihn das laute Ticken seiner Uhr an die dahineilenden Minuten.
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Es war zehn Minuten vor neun. Einen gewissen Entschluß hatte er bereits gefaßt. Wieder sprang er auf die Füße und steckte die Uhr in die Tasche. Im selben Augenblick klopfte es leise an die Tür, und Giles lugte vorsichtig mit dem Kopf durch die Spalte. »Sir«, sagte er, sich räuspernd, »ich hätte Euch nicht gestört. Aber Mistreß Pamphlin …« Judith Pamphlin, kerzengrade und grimmig wie immer, stand händeringend hinter Giles. »Mylady«, sagte sie, »läßt Euch fragen, warum Ihr sie seit Eurer Rückkehr noch nicht aufgesucht habt.« Mrs. Pamphlin grinste beinahe hämisch. »Auch möchte sie Euch bitten …« Fentons Miene verfinsterte sich. Judith hatte sich den denkbar schlechtesten Augenblick für ihre Anwesenheit ausgesucht. »Ich hatte Euch untersagt, Euch Mylady zu nähern«, sagte Fenton. »Aber Ihr habt meinem Befehl nicht gehorcht. Darüber reden wir später noch. Doch wie ich sehe, habt Ihr eine Tugend: Ihr seid Mylady sehr ergeben und treu. Stimmt das?« »Es stimmt.« »Dann paßt gut auf. Richtet Mylady aus, daß ich in einer wichtigen Angelegenheit das Haus verlassen muß, aber vor Mitternacht zurückkehren werde.« Mrs. Pamphlin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich aber eines Besseren und schwieg. Statt dessen trat ein böser Blick in ihre Augen. Giles drückte ihr rasch eine Kerze in die Hand, schob sie auf den Flur und schloß die Tür. 364
»Habt Ihr tatsächlich die Absicht, das Haus zu verlassen?« fragte Giles gemessen. »Und warum etwa nicht?« »Wegen Eurer Verfassung, Sir. Ihr seid krank.« »Was weißt du schon von meiner Verfassung?« fragte Fenton ironisch. Die Degenwunde in seiner Seite schmerzte, und er fieberte ein wenig. »Giles! Ich möchte etwas weniger Auffälliges tragen. Halt!« Eine leise Erinnerung regte sich. »Der schwarze Anzug, Giles! Der schwarze Samtanzug, den ich am 10. Mai trug, als ich in der Totenmannsgasse angefallen wurde.« »Sir«, rief Giles verzweifelt, »ich bin ein schlechter Diener. Den Samtanzug habe ich noch nicht gereinigt. Es sind Blutflecke auf den Manschetten.« Fenton befand sich in zu großer Ungeduld. »Es ist nicht von Belang! Dieser Anzug hier« – er trug ein nüchternes Grau, nur mit einem Silberstreifen in der Weste – »eignet sich auch für diese Gelegenheit. Nun geh in den Stallhof hinunter und laß mein Pferd satteln.« Giles warf ihm noch einen prüfenden Blick zu und verließ das Zimmer. Fenton zog indessen ein Paar weiche, helle Reitstiefel mit leichten Sporen aus dem Schrank, die ihm weit bis über die Knie reichten. Er warf einen leichten Mantel um und stülpte sich einen Hut auf die Perücke. Den dreiarmigen Kerzenleuchter haltend, versuchte er, leise die Treppe hinunterzuschleichen. Aber selbst bei äußerster Vorsicht klirrten die Sporen ein wenig auf Holzböden. Er hatte Angst, daß Lydia aus ihrem Zimmer eilen würde. 365
Erleichtert atmete er auf, als er endlich unten in seinem Studierzimmer war. Aus dem Bücherschrank zog er den Band heraus, in den er den Zettel mit Meg Yorks zwei Adressen gelegt hatte. Eine davon, dachte er, als er den Zettel fand, ist jetzt nutzlos. George hatte ja erwähnt, daß sie Captain Duroc verlassen habe. Aber die andere … Er glättete das Stückchen Papier und las: »›Die Goldene Frau‹, Liebesgasse, Cheapside.« In ein paar Minuten war Sweetquean bereit. Dick, eine Laterne in der Hand, hielt die Zügel. Ein seltsamer Schmerz – ob körperlicher oder seelischer Natur, konnte er nicht sagen – überkam Fenton, als er den Fuß in den tiefen Steigbügel setzte. »Ein schöner Abend, Sir«, sagte Dick. »Ja«, erwiderte er, »ein schöner Abend.« Fenton ritt auf Charing Cross zu; er ließ der Stute die Zügel schießen. Eine dünne Mondsichel stand am dicht mit Sternen besäten Himmel. Von Charing Cross bog er in den Strand ein, ritt unter dem Torbogen von Temple Bar hindurch und dann die absteigende Fleet Street hinunter. Sweetquean nahm Ludgate Hill im Galopp. Dort zog Fenton die Zügel an, um sich zu orientieren. Trotz der Beleuchtung durch Mond und Sterne herrschte Finsternis, da es keine Straßenlampen gab. Hin und wieder glühte das Licht eines Wirtshausfensters warm und rot in der Dunkelheit. Fenton dachte an frühere Zeiten, aber nicht an das London dieses Jahrhunderts, als er die Stute um den St.-Pauls-Kirchhof herum nach Cheapside traben ließ. 366
Er erinnerte sich daran, wie er und Mary Grenville – oder Meg York – in ihrem früheren Dasein zusammen im Park geritten waren: nicht im St.-James-Park, sondern im Hyde Park, der jetzt Waldland war. Es fiel ihm wieder ein, wie sie bei Richmond in der Themse geschwommen hatten. Mary war im Alter von achtzehn Jahren eine tüchtige Schwimmerin gewesen, aber er hatte sie mit über fünfzig Jahren noch um drei Längen geschlagen. Nein. Er durfte sich bei dieser Frau nicht Mary Grenville vorstellen; er mußte in ihr Meg York sehen, eine erwachsene Frau, die einer Wildkatze glich. Klipp, klopp! klangen die Hufe seiner Stute auf dem Kopfpflaster von Cheapside. In diesem Quartier hatte das Große Feuer gewütet. Die meisten der Gebäude waren neu. Fenton lenkte die Stute in die Liebesgasse. »Niemand«, hatte Meg geflüstert, »weiß, daß ich dort bin. Keiner kann mich finden oder belästigen. Es ist keine feine Gegend. Um so besser.« Über der engen Gasse mit den hohen Häusern war ein schmaler Sternenstreifen zu sehen. Plötzlich erschien ein großer roter Feuerschein am Himmel, der dann rosa wurde und allmählich ganz verblaßte. Er rührte von der gewaltigen Seifensiederei in der Nähe her, die er ganz vergessen hatte. Glücklicherweise wehte der Wind aus einer anderen Richtung. Aber der rötliche Schein zeigte ihm das Haus, das er suchte. Es war ein kleines, neues Backsteinhaus, eine hohe Treppe führte zur Haustür. Keines der Fenster war erleuchtet. Fenton band Sweetquean an einen Pfosten, rannte die Stufen hinauf und setzte den Klopfer in Bewegung, daß das Echo durch die Straße 367
hallte. Bald darauf wurde die Tür geöffnet von einer uralten einäugigen Frau. »Ja«, keuchte sie, während sie ihn im Schein eines in einer Öllampe schwimmenden Dochtes auf das genaueste inspizierte, »Ihr seid der Mann. Eine Treppe hoch, und dann sucht ein Zimmer, das nach der Straße geht. Meiner Treu, die Dame hat dieses Haus nicht eine Minute verlassen, aus Angst, Ihr würdet sie nicht antreffen. Einer hat diesen Geschmack«, sagte die Alte achselzuckend, »und der andere jenen.« Fenton eilte die Treppe hinauf. Die Tür des Vorderzimmers stand ein wenig offen, und schwaches Kerzenlicht fiel auf den Flur. Und dann blieb er plötzlich stehen. Irgend jemand im Zimmer, zweifellos Meg, spielte leise eine Tenorviola, und aus ihrer schönen Altstimme klangen Freude, Stolz und Triumph. »Bürger, hört ihr das Freudengeheul? Durch die Stadt tönt der heitere Schall: Drei Männer mit Degen und drei mit der Keul' brachten den Tyrannen zu Fall.« Fenton wurde es fast übel, und er klammerte sich an das Treppengeländer. Dieses Lied widerte ihn an. Jedes Wort brachte ihm Lydia in den Sinn. Er stolperte blindlings den Flur entlang und stieß die Tür auf. Der Bogen der Tenorviola glitt von den Saiten. Fenton und Meg blickten einander an. »Ihr habt es mächtig lange anstehen lassen«, sagte Meg und warf unbekümmert den Kopf in den Nacken, »mir 368
Eure Aufwartung zu machen.« Dann änderte sich ihr Ton. »Nick, was ist mit dir?« Das Zimmer hatte zwei Fenster nach der Straße zu. Zwischen ihnen war ein offener Kamin. An jedem Fenster stand ein riesiger geschnitzter Stuhl, der mit bunten Kissen aus Schwanendaunen bedeckt war. Eine einzige Kerze brannte in einem goldenen Halter auf dem Kaminsims über einem leichten Holzfeuer. Meg, die ein purpurrotes Samtkleid mit Kaskaden von venetianischen Spitzen am tiefausgeschnittenen Mieder trug, saß auf der rechten Seite des Kamins. Das Instrument war ihr aus der Hand geglitten, und ihr dunkles Haar glänzte im Schein des trüben Lichtes. Da Fenton ihren Geschmack kannte, war er nicht überrascht, den kleinen viereckigen Raum so üppig ausgestattet zu finden wie irgendeinen im Palast. Es waren mehrere gepolsterte Stühle und eine Ottomane vorhanden. Aber die Gobelins und die Gemälde mit den Liebesszenen erinnerten ihn an Georges Beschreibung des … Meg sprang hastig auf. »Einen Augenblick!« sagte Fenton. Sein Gesicht war kreidebleich, und ihm zitterten die Beine. Sein rechter Arm schmerzte so heftig, daß er nicht rasch genug den Degen hätte ziehen können, um sein Leben zu retten. »Zunächst einmal«, sagte Fenton heiser in modernem Englisch, »wollen wir – wie schon einmal – die Ausdrucksweise dieses Jahrhunderts fallenlassen und so sprechen, wie wir es gelernt haben!« Das trübe Kerzenlicht und das flackernde Feuer ließen Schatten über Megs weiße Schultern spielen. In ihren Augen unter den gesenkten Lidern leuchtete ein Blick des Verstehens. »Gewiß, wenn 369
Sie es wünschen. – Professor Fenton, warum sind Sie hier?« »Weil ich ein geschlagener Mann bin«, antwortete er rundheraus. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kam hierher, um … um …« »Um Mitleid zu suchen?« fragte Meg mit giftiger Liebenswürdigkeit: Eifersucht und Haß strömten von ihr aus. »Sie haben sich wohl mit dieser… dieser… dieser Lydia in der Wolle gehabt, wie?« »In gewissem Sinne, ja.« »Und jetzt kommen Sie angekrochen!« Meg richtete sich auf. »Ausgerechnet Sie!« Fenton betrachtete den bunten Teppich. »Sie!« sagte Meg bitter. »Oh, ich kenne Mr. Reeve ebenfalls. Wer kennt ihn nicht? Und ich habe eine Abschrift seiner Verse. Er nennt Sie den Helden der ›Schlacht‹ von Pall Mall. Darauf war ich stolz. Ja! Und entsinnen Sie sich noch, wie Sie in unserem früheren Dasein die Kampagne planten, die die ganze deutsche Verteidigungslinie fast zerschmetterte? Ja! Und wie Sie den ersten Angriff an der Spitze Ihres Bataillons selber unternahmen?« »Seltsamerweise habe ich neulich nachts davon geträumt.« »Und jetzt kommen Sie mitleidheischend zu mir? Einen kriechenden Mann kann ich nicht ausstehen. Verlassen Sie mich! Gehen Sie!« schrie sie ihn an. »Dann also gute Nacht! Und leben Sie wohl.« 370
Er hatte nicht bemerkt, wie ihr Gesichtsausdruck sich plötzlich änderte; schon, als sie ihn anschrie. Denn er hatte sich bereits zur Tür gewandt… Jetzt rauschte sie mit ihren seidenen Röcken an ihm vorbei und stellte sich vor die Tür. »Nick! Nein! Warte!« »Gehen Sie mir bitte aus dem Weg«, sagte er verzweifelt. »Es hat alles keinen Sinn.« »Oh, warum muß ich immer so sein?« rief Meg. »Fast jedesmal, wenn wir uns begegnen, werde ich gehässig und zänkisch. Was ich soeben sagte, habe ich nicht ernst gemeint, wirklich nicht!« Mit Erstaunen sah er, daß echte Tränen an ihren langen schwarzen Wimpern zitterten, als sie flehentlich die Hände hob. Ihre Reue, ihre körperliche Schönheit wirkten rührend. Aber mehr noch als das: sie schien ein nahezu brennendes Mitleid auszustrahlen. »Geh nicht fort«, flüsterte sie. »Nick …« Er küßte sie, und wiederum verlor er die Sinne. »Nun sag mir doch«, bat sie mit zurückgelehntem Kopf, »was hat diese Frau dir angetan? Hat sie dich zum Hahnrei gemacht?« »Nein.« »Warum habt ihr euch denn gezankt?« Fenton schwieg. Er konnte nicht davon sprechen. »Nun, es macht nichts«, sagte Meg dann. »Es ist mir gleichgültig. Komm her, Nick.« Sie deutete auf einen Polsterstuhl, der vor dem Kamin stand. Hinter den Fenstern sah er wieder den roten Feuerschein der Seifensiederei am Himmel. »Es macht nichts!« wiederholte Meg mit zitternder Stimme, und beide wußten, daß es eine Lüge war. »Setz 371
dich, lieber Nick. Und mußt du selbst hier bei mir einen hinderlichen Degen und einen Umhang tragen?« Fenton legte Mantel und Degen ab und warf sie auf die Ottomane. Dann setzte er sich in den Sessel. »Ich sollte dich eigentlich bitten, auch die Perücke abzunehmen«, sagte Meg. »Aber alle Männer tragen das Haar darunter so kurzgeschoren wegen der Läusegefahr.« Fenton mußte lachen. »Du brauchst keine Angst zu haben vor einem geschorenen Schädel oder vor Läusen. Ich habe mein Haar wachsen lassen.« Mit diesen Worten nahm er die Perücke ab und schleuderte sie ebenfalls auf die Ottomane. Sein schweres, schwarzes, auf einer Seite gescheiteltes Haar war durch die Perücke flach gepreßt. Als er sie fortwarf, war es ihm, als käme er Schritt für Schritt durch die Nebel der Vergangenheit der Zukunft näher. Doch Meg, die sich seitwärts auf seinen Schoß gesetzt hatte, damit sie ihn ansehen und sich über ihn beugen konnte, wollte ihm noch nicht gestatten, daran zu denken. »Nein«, flüsterte sie dicht an seiner Wange, »du darfst niemals Mary Grenville in mir sehen; nur Meg York. Mein wahres Wesen ist das von Meg York – war es sogar, als ich noch Mary Grenville war, obwohl ich es damals verbergen mußte, da ihr mich alle für ein kleines Mädchen hieltet.« Sie verfiel wieder in die Ausdrucksweise dieses Jahrhunderts, und er wußte, daß er es auch so halten mußte. »Ich hätte dir viel Konfusion ersparen können«, fuhr Meg fort, »wenn ich schon längst über manche Dinge mit 372
dir gesprochen hätte. Aber ich wagte es nicht. Willst du mich jetzt anhören?« »Ich höre dich.« »Erinnerst du dich an jenen Abend in deinem Wohnzimmer – mehr als zweihundertundfünfzig Jahre trennen uns davon –, als du mir sagtest, du habest deine Seele dem Teufel verschrieben?« Fenton fröstelte leicht. »Ich entsinne mich sehr gut«, erwiderte er. »Und du machtest die Entdeckung, daß ich nicht… überrascht war?« »Ganz recht. Das Gefühl hatte ich, obwohl ich mir's nicht erklären konnte.« »Es war eine Sache des Herzens, nicht des Verstandes. Du suchtest und fandest den Grund, ehe du ihn wußtest.« »Doch …« »Halt, hör mich an! Ich wußte nichts von diesen Leuten, hatte nie etwas von dem Giftmord gehört, während du dich jahrelang damit beschäftigt hattest. Ich platzte beinahe vor Wut und Eifersucht. Ich hätte mir den kleinen Finger abbeißen können.« Megs leise Stimme zischte ihn an. »Ich durfte nicht säumen. Ich liebte dich. In großer Hast mußte ich mich über diese Leute orientieren. Du hattest von drei schönen Frauen gesprochen«, erklärte Meg haßerfüllt. »Nun, als eine dieser Frauen mußte ich mit dir in die Vergangenheit reisen.« »In die Vergangenheit reisen«, wiederholte Fenton.
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»Wenn ich die Rolle von Meg York spielte, aber mit meiner eigenen Persönlichkeit, konnte ich da nicht in der Tat beweisen, daß ich die Kinderschuhe abgestreift hatte?« Um Megs Lippen spielte das geheimnisvolle Lächeln, mit dem er so vertraut war. »Meiner Treu, Nick, hast du es nicht gleich am ersten Abend bemerkt, als wir uns begegneten?« Der Feuerschein der Seifensiederei, der wieder über den Himmel flammte, zeigte ihm Megs jetzt boshaft lächelnden Mund noch deutlicher. »Heiliger Strohsack!« fluchte Fenton und packte sie heftig am Arm, so daß ihr Lächeln noch herausfordernder wurde. »Hast du, Mary Grenville, deine Seele etwa dem – unserem Freund verschrieben?« Megs Stimme klang rätselhaft. »Oh, darüber müssen wir demnächst mal reden. Vor nicht langer Zeit fragtest du mich in Spring Gardens, warum ich dir nicht bei unserer ersten Begegnung verraten hätte, daß ich Mary Grenville sei. Ich erwiderte, daß ich meiner selbst nicht sicher war.« Meg erschauerte plötzlich. Er legte die Arme um sie und preßte sie fest an sich. »Doch war es nicht die volle Wahrheit«, gestand sie. »Ich mußte in dir die Überzeugung erwecken, daß ich nicht Mary Grenville sein konnte. Ich mußte die Enthüllung der Wahrheit hinausschieben. Ich mußte dich als Meg York dazu bringen, mich zu lieben oder wenigstens zu begehren.« »Sprich! Hast du einen Pakt geschlossen mit…«
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»Ich sage nicht ja, und ich sage nicht nein. Ich bin hier in meiner eigenen Gestalt aufgetaucht, obwohl ich mir die Rolle von Meg York, deiner vornehmen Mätresse, ausgesucht habe.« »Schade«, meinte Fenton, »daß ich nie in der Lage war, von meinen Rechten Gebrauch zu machen.« »Na, was das angeht! Der Schaden kann leicht kuriert werden … halt! Nicht so stürmisch! Ich möchte etwas Zeit haben, um …« »Unnötig. Ich bitte dich, wozu noch warten?« Nach einer Weile gelang es Meg, sich seinen Armen zu entziehen und aufzustehen. Sie eilte zum Kaminsims, nahm den Kerzenleuchter und verschwand damit in einem anderen Zimmer. Dann kam sie noch einmal an die Tür zurück. »Ich bin bald wieder da«, murmelte sie. »Verlangt es dich nach meiner Rückkehr?« »Aber sehr!« Sie warf ihm noch einen Blick über die Schulter zu und schloß dann die Tür hinter sich. Fenton, dem es vor Erregung in allen Gliedern kribbelte, nahm wieder Platz. Die einzige Lichtquelle in dem kleinen Raum war jetzt das Feuer, das anscheinend nicht richtig brennen wollte. Die Holzscheite waren unten glühend rot, doch über ihnen flackerten nur kleine Flammen. Aber mit diesem kleinen Holzfeuer hier im Rost hatte es eine merkwürdige Bewandtnis. Rauch schien ins Zimmer zu strömen, der auf 375
seltsame Weise nach oben kräuselte. Dann aber zeigte ihm der Feuerschein der Seifensiederei, der wieder hinter den Fenstern sichtbar wurde, den wahren Sachverhalt. Es war überhaupt kein Rauch im Zimmer. Er, Fenton, hatte etwas anderes dafür gehalten, nämlich die vagen, wechselnden Umrisse einer Gestalt, die in dem großen Stuhl am Fenster saß. Eine höfliche, vertraue Stimme redete ihn an. »Guten Abend, mein Freund«, sagte der Teufel.
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XVIII Der Feuerschein am Himmel verwandelte sich in ein mattes Rosa und erlosch. Es blieb nur die unstete, wechselnde Silhouette im Stuhl neben dem schwachen Feuer. Der Teufel sprach wie üblich, modernes Englisch mit einem leicht archaischen Einschlag. Fenton beschlich wieder dasselbe Gefühl, das er bei seiner ersten Begegnung mit dem Teufel gehabt hatte: das Gefühl, er schwebe in einer Traumwelt, in der Stimmen klanglos waren und Gefühle nur als unbestimmte Wogen empfunden wurden. Und doch schien alles so natürlich und alltäglich wie die Unterhaltung zweier Männer im Rauchzimmer eines Klubs. Aber das Erscheinen des Teufels bewirkte, daß Fenton mit einem halberstickten, feinen alten Fluch aufsprang, ehe ihn die Traumwelt umfing. Dann ließ er sich wieder nieder und zeigte sich von einer Höflichkeit, die sich mit der des Teufels messen konnte. »Guten Abend, mein lieber Herr«, antwortete Fenton kühl. Es entstand eine Pause. Der Teufel schien bekümmert zu sein. »Professor Fenton, habe ich Euch in irgendeiner Weise verletzt? Ist meine Anwesenheit unwillkommen?« »Ihr seid immer willkommen«, räumte Fenton ein, »schon allein Eurer Wortfechterei wegen. Doch habt Ihr einen höchst ungelegenen Augenblick für Euren Besuch gewählt.«
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»Aha!« meinte der Teufel, dem die Erleuchtung kam. »Ihr habt dabei wohl die – hm – junge Dame im Sinn, wie?« »Die in kurzer Zeit hier erscheinen wird.« Der Teufel war aufs tiefste schockiert. »Aber, mein lieber Freund!« protestierte er. »Nehmt Ihr auch nur für eine Sekunde an, daß ich diese löbliche kleine Affäre stören würde? Nein, nein, nein! Solche Affären sind mir in den meisten Fällen höchst nützlich. Ah, ich verstehe! Ihr betrachtet meine Anwesenheit zu einer solchen Zeit als peinlich und taktlos, ja?« »Nicht taktlos. Ich weise nur darauf hm, daß Ihr hier seid.« »Nanu!« schmunzelte der Teufel. »Ich hatte eigentlich nicht erwartet, daß Ihr so konventionell sein würdet. Wenn dem so ist, könnt Ihr Euer Schäferstündchen wohl auf einen anderen Zeitpunkt verschieben.« »Habt Ihr in Eurer eigenen ausgedehnten Erfahrung, Sir, dieses Argument in dem bestimmten Augenblick ganz überzeugend gefunden?« Der Ton des Teufels veränderte sich leicht. »Kommt Euch gar nicht der Gedanke, Professor Fenton, daß Ihr gewisse Dinge, die Eure eigene Seele angehen, ein wenig leichtfertig behandelt?« Jetzt spürte Fenton in der Gefühlswoge, die aus dem großen Stuhl strömte, die ersten Anzeichen von Bosheit. Der Teufel war, bildlich gesprochen, riesengroß geworden. Wenn er sich auch so gelassen gab wie ein Herr in seinem Klub, so war seine Macht doch deutlich spürbar. Mit 378
anderen Worten: Er war wie ein Mann, der eine Handvoll Trümpfe hält und dies allmählich durchblicken läßt. Natürlich hatte er von Anfang an gewußt, daß Meg hier war. Wie bei der früheren Begegnung wurde Fenton auf einmal von einer eisigen Furcht gepackt. Er wandelte auf sehr gefährlichen Pfaden; dessen war er sich durchaus bewußt. Aber um bei der Metapher zu bleiben: Der Teufel hatte wohl viele Trümpfe, aber nicht das Trumpf-As. Fenton mußte seine Karten nun äußerst geschickt spielen. »Da habt Ihr recht«, gab Fenton zu und ließ etwas Demut in seiner Stimme mitschwingen. »Ich habe diese Dinge vielleicht zu sehr auf die leichte Achsel genommen. Ich bitte Euch um Verzeihung.« »Gewährt, gewährt!« erwiderte der Teufel höflich. »Ich wollte Euch nur an Eure Position erinnern. Schließlich haben wir ja tatsächlich vor einiger Zeit einen gewissen… einen gewissen Pakt unterzeichnet.« »Allerdings.« »Habe ich die Bedingungen unserer Vereinbarung erfüllt?« »Offen gestanden, Sir, habt Ihr mich verteufelt an der Nase herumgeführt!« »Aber Ihr wolltet doch Sir Nick Fenton sein. Und siehe da, Ihr seid's! Immerhin! Ich muß Euch daran erinnern, daß es selbst nicht in meiner Macht stand, manchen Eurer ›Bedingungen‹ nachzukommen. Da ich etwas zerstreut bin, habe ich es versäumt, Euch darauf hinzuweisen.« »Ach so?« Abermals durchfuhr Fenton ein eisiger Schrecken. »Leider, ja«, seufzte der Teufel. »Doch hättet 379
Ihr selbst einsehen müssen, daß ich machtlos war, wenn es sich um Forderungen handelte, die der Geschichte widersprachen. Mein lieber Professor« – seine Stimme klang ein wenig verletzt –, »ich habe Euch ganz deutlich darauf aufmerksam gemacht, daß niemand die Geschichte ändern kann.« »Niemand?« Der Teufel setzte eine selbstgefällige Miene auf. »Weder ich selbst noch mein… mein Widersacher«, erklärte er mit einem flüchtigen Blick nach oben. »Vor unendlich langer Zeit – eine Spanne, die – verzeiht mir – über Euer Ermessen hinausgeht – planten mein Widersacher und ich die Geschichte dieses winzigen Planeten. Wir lagen natürlich miteinander in Fehde. Einmal trug er den Sieg davon, ein andermal ich. Aber sie liegt nun unabänderlich fest. Ich hatte ihn schon beinahe vergessen, diesen alten, staubigen Plan, der aufgerollt in irgendeinem obskuren Fach der Zeit liegt.« Besänftigend, einschläfernd, fast hypnotisierend klang diese Stimme. Dann auf einmal kicherte der Teufel und zeigte sich wieder von einer anderen Seite. »Hört mal, Professor Fenton!« sagte er liebenswürdig. »Wenn ich Euch in Sir Nick Fenton verwandelt habe, was habt Ihr da schon zu befürchten? Nichts. Selbst dann nicht, wenn ich … Euch zur Zeit Eures Todes abhole. Aber laßt uns von angenehmeren Dingen sprechen! Zum Beispiel von dieser jungen Dame …« Die Tür öffnete sich, und Meg stand auf der Schwelle. In der Linken trug sie eine brennende Kerze in einem Messingleuchter. Das dunkel glänzende Haar fiel ihr lose auf die Schultern. Mit der 380
rechten Hand hielt sie das gelbe Neglige zusammen, das sie getragen hatte, als Fenton sie zum erstenmal als Meg York sah. Selbst im Licht der Kerze hätte sie eigentlich das wechselnde, vage Schattengebilde am Fenster nicht sehen können. Und doch – das merkte Fenton, als er sich umdrehte –, wußte Meg Bescheid. Die Kerzenflamme schrumpfte sofort – vielleicht in einem Zugwind – zu einem blauen Funken zusammen und erlosch. Gerade bevor dies geschah, schien eine seltsame Veränderung mit Megs Gesicht vorzugehen. Sie blieb wie angewurzelt stehen; der Schreck war ihr lähmend in die Glieder gefahren. »Ah, meine Liebe«, sagte der Besucher. »Ihr braucht nicht formell zu sein. Ihr dürft Euch zu uns gesellen, wenn Ihr wollt.« Er sprach im Ton eines älteren Onkels, der mit einem achtjährigen Mädchen redet. »Nein, nein, meine Liebe!« fügte er hinzu. »Ihr dürft Euch nicht zu meinem guten Freund, Professor Fenton, setzen. Meine Großzügigkeit in diesen Dingen ist ja wohl weithin bekannt. Aber dies würde… wie soll ich mich ausdrücken?… Eure Konzentration zu sehr beeinträchtigen… . Setzt Euch lieber auf die Ottomane, meine Liebe.« Meg wandte sich von Fenton ab und ging schwankenden Schrittes zur Ottomane, auf der sie, das Neglige eng um sich ziehend, Platz nahm. Fenton wollte sprechen. Aber er war von Entsetzen gepackt und mußte sich erst räuspern. »Eine Frage!« stieß er hervor. »Darf ich eine Frage stellen?« 381
»Mein lieber Professor! Aber selbstverständlich.« »Als ich törichterweise darum bat, ins siebzehnte Jahrhundert versetzt zu werden, hat Mary Grenville Euch da ihre See … ich meine, sich erboten, Eurem Haushalt beizutreten, wenn sie mich begleiten könnte? Hat sie das etwa um meiner idiotischen Person willen getan?« Der Besucher wich einer direkten Antwort aus. »Und wenn schon?« sagte er wie ein sich windender Krämer. »Sir«, entgegnete Fenton, »meine eigene Seele ist nur ein armseliges Ding. Aber ich biete sie Euch bereitwilligst an, wenn Ihr ihre Seele zurückgebt.« Meg richtete sich auf. »Nein«, rief sie Fenton zu. »Er besitzt nicht die Macht, einen solchen Handel abzuschließen, selbst wenn er dazu bereit wäre!« Meg brach ab, hielt die Hände vors Gesicht und sank auf die Couch zurück, als habe sie von einer ungeheuren Hand einen Schlag erhalten. Und doch hatte sich nichts im Raum bewegt; aber auch gar nichts. Die Gestalt im Sessel schien sich verbindlich an Fenton zu wenden. »Nun«, sagte der Besucher, »die junge Dame hat ganz recht. Seit ihrem achtzehnten Lebensjahr ist sie schon, wie Ihr Euch so taktvoll ausdrücktet, ein Mitglied meines Haushalts. Sie trat über, weil sie die Welt unerträglich langweilig fand und allzu viel für Männer übrig hatte.« Fenton wollte etwas sagen, vermochte aber kein Wort hervorzubringen. »Sie hat ihre Probezeit längst hinter sich«, versicherte der Teufel. »Im allgemeinen ist sie ein gefügiges Mädchen 382
und eine bewundernswerte Dienerin. Aus irgendeinem Grunde, der sich – verzeiht mir –, selbst meiner Kenntnis entzieht, hat sich ihre Zuneigung stets auf Euch konzentriert. Und als sie in ihrer reizendsten Art darum bettelte, mit Euch in die Vergangenheit reisen zu dürfen – konnte da mein gütiges Herz ihr diese Bitte abschlagen?« »Dann besteht also keine Möglichkeit für sie, ihre Seele…?« »Keine.« »Wenn jedoch …« »Wollt Ihr meinen Haushalt beleidigen, Sir? Das Mädchen fühlt sich ganz glücklich.« Und dann nahm die Stimme des Teufels einen sehr mokanten Ton an. »Aber nun zu Eurem eigenen Anerbieten, Professor! Es war sehr großmütig von Euch. Ja, sogar übertrieben idealistisch, wie Ihr es dummerweise so oft seid. Aber mir Eure eigene Seele anzubieten? Nun, warum sollte ich etwas in Tausch nehmen, was ich schon besitze?« Die Gedanken, die Fenton durch den Kopf schossen, schienen fast hörbar zu sein. »Jetzt«, flüsterten sie, »jetzt ist es an der Zeit. Versetz ihm einen Schlag!« Und Fenton sprach klar und deutlich. »Oh, nein, da seid Ihr im Irrtum«, sagte er. »Wie, bitte?« »Ihr besitzt meine Seele nicht. Habt sie nie besessen und werdet sie durch Gottes Gnade nie besitzen.«
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Das Feuer puffte und knisterte. Fenton machte sich auf einen Wutausbruch gefaßt, auf eine jener entsetzlichen Wogen, in denen der grausame kleine Junge die Oberhand über den liebenswürdigen Philosophen hatte. Aber das tiefe Schweigen, das nun folgte, war weitaus drohender. »Und Euer – hm – Beweis für diese Behauptung, Professor Fenton?« »Liegt in Eurer eigenen Lehre.« »Das müßt Ihr wohl etwas genauer erklären.« »Mit Vergnügen. Sir Nicholas Fenton wurde am 25. Dezember geboren. Und ich ebenfalls, wenn es Eurer Aufmerksamkeit entgangen sein sollte. Der 25. Dezember ist weit und breit als Weihnachtstag bekannt.« Fenton beugte sich vor. »Bei meinen Studien«, fuhr er fort, »habe ich entdeckt, daß eine am Weihnachtstag geborene Person ihre Seele dem Teufel nicht verkaufen kann; sie kann sie höchstens durch eine freiwillige Gabe verlieren, oder wenn sie an Euren Firlefanz glaubt. Und das trifft nicht auf mich zu. Jeder Pakt, den ich mit Euch schließe, ist von vornherein null und nichtig. Wollt Ihr dies abstreiten?« »Ihr habt Gunstbezeigungen von mir angenommen. Dafür müßt Ihr zahlen.« »Genehmigt. Den Vorschriften gemäß muß ich Euch als Anerkennung an jedem 25. Dezember ein Weihnachtsgeschenk machen. Sobald die Zeit gekommen ist, wird es mir ein Vergnügen sein, Euch eine silberne Röstgabel oder eine illustrierte Bibel zu präsentieren. Sagt mal, war Euch dies alles nicht bekannt?« 384
»Oh, ja, ich wußte es schon, überlegte mir aber, ob Ihr es auch wußtet.« »Das habt Ihr Euch überlegt?« fragte Fenton erstaunt. »Wißt Ihr denn nicht alles, wie allgemein angenommen wird?« »Oh, ja, ich weiß alle Dinge, wie Ihr in Kürze zu Eurem Kummer und Schmerz entdecken werdet. Aber wenn ich mit einer törichten, idealistischen Seele wie Euch zu tun habe«, stieß er beinahe fauchend hervor, »sind selbst mir die Augen manchmal vorübergehend verbunden …« »Von Einem, der weit größer ist als Ihr?« »Nicht größer«, erwiderte der Besucher mit seidiger Stimme. »Solche Reden sind gefährlich, Professor Fenton. Ich rate Euch davon ab.« »Gebt Ihr zu, daß Ihr geschlagen seid?« »Oh, ich kann Eure Seele nicht für mich beanspruchen. Ihr müßt von meinem Widersacher gerichtet werden. Und Er, wie ich höre, ist nicht sehr nachsichtig in diesen Dingen. Aber Ihr habt mich hintergangen, Professor Fenton. Das ärgert mich maßlos. Betrug kann ich nicht ausstehen! Warum habt Ihr mich beschwindelt?« Abermals beugte sich Fenton vor und umklammerte die Armlehnen. »Weil Ihr selbst der größte Schwindler aller Zeiten seid«, entgegnete er. »Ich war entschlossen, Euch zu besiegen.« Fenton sprach jetzt mit sehr lauter Stimme. »Und warum habe ich Euch besiegt? Weil Ihr, wie alles Böse, dumm und töricht seid!« Nun kam der erwartete Wutausbruch. 385
Die lautlosen, furchtbaren Zorneswogen stürmten mit aller Gewalt auf Fenton ein. Er spürte darin den kleinen Jungen, der vor Wut eine Blechtrommel zertrampelt, und gleichzeitig die Gegenwart Seiner Majestät des Teufels. Er murmelte gewisse Gebete und sah geradeswegs auf eine Stelle, wo er die Augen der Erscheinung vermutete. Dann blickte er zu Meg hinüber und war entsetzt. Sie saß aufrecht, den Rücken halb abgewandt, die Knie unter das Neglige gezogen. Das Feuer brannte mittlerweile wieder hell, so daß er ihre Züge erkennen konnte. Ihr Gesicht hatte denselben Ausdruck, den er am ersten Abend seines neuen Lebens gesehen hatte: verschlagen, mokant, in sich gekehrt und im wesentlichen bösartig. Man darf den Teufel nicht dumm nennen; das kann er nicht leiden. Die Wogen brandeten um Fenton; doch er nahm keinen Schaden. Bald legten sie sich; der Wutausbruch war zu Ende. Aber etwas Drohendes lag in der Luft, wie Feuer oder scharfer Stahl, und Megs Gesicht zeigte immer noch den boshaften Ausdruck. Der Teufel schien nachzudenken. Als er schließlich sprach, lagen ungeheuchelte Belustigung und wirkliches Interesse in seinem Ton. »Professor Fenton«, sagte er süßlich, »habt Ihr wirklich angenommen, daß Ihr mich überlisten könntet?« »Das kann ich noch nicht sagen.« »In der Tat? Ihr könnt es mir nicht sagen? Aber ich kann's Euch sagen. Einst hatte ich eine Vorliebe für Euch. Aber die ist verschwunden. Ich fühle mich versucht, Euch die Fehler zu nennen, die Ihr gemacht habt, und Euch die sehr unangenehmen Überraschungen zu enthüllen, die Eurer harren. Aber ich will davon Abstand nehmen; Ihr 386
werdet es früh genug erfahren. Ich möchte nur die kleinsten, hauchfeinsten Eurer Irrtümer erwähnen.« »Euer eigener Mangel an Intelligenz, Sir …« Der Besucher ignorierte diese Unterbrechung. »Ihr«, sagte er belustigt und dehnte diese Silbe wie ein Gummiband, »wolltet den Lauf der Geschichte ändern! Ja? Und habt, glaube ich, schon wiederholt den Versuch gemacht?« »Ja.« »Ihr habt tatsächlich mit den beiden – intelligentesten Männern in England gesprochen, mit König Charles dem Zweiten und Mylord Shaftesbury, die sogar entgegengesetzte Meinungen vertreten. Jedes Wort, das Ihr gesprochen habt, wird sich bewahrheiten. Aber wollte einer von beiden Euch glauben?« »Nein.« »Der König schätzte Euch und war sogar geneigt, Euch zu glauben. Er gab Euch den Kameenring, der jetzt Euren Finger ziert. Dieser Ring, so sagte er, würde Euch vor allem Unheil bewahren« – hier grinste der Besucher boshaft –, »wenn Ihr in Gefahr schwebtet und ihm den Ring schicktet. Könnt Ihr wirklich beschirmt werden? Ich halte es für unmöglich. Einen Augenblick!« fügte er hinzu. »Noch ein letztes Wort. Nun, warum wart Ihr so erstaunt, Professor Fenton, als Ihr mich heute abend hier saht? Ihr müßt mich doch sicherlich erwartet haben.« »Aus welchem Grund?« »Nanu! Das in Euren Augen so wichtige Datum in der Geschichte, das zu ändern Ihr entschlossen wart, ist der 10. 387
Juni. Am 10. Juni, so ist es vom Schicksal bestimmt, soll Eure Gattin Lydia an Vergiftung sterben …« Fenton saß wie gelähmt da. Eine Angst würgte ihn, wie sie ihm der Besucher noch nie zuvor einzuflößen vermocht hatte. Lydia! Mitternacht! Er hatte gelobt, vor dieser Stunde zurückzukehren! Zitternd zog er die Uhr aus der Tasche. Sie fiel ihm beinahe aus den Händen. Seine müden Augen konnten im Schein des Feuers die Zahlen auf dem Zifferblatt nicht erkennen. Aber es konnte keinesfalls sehr spät sein. »Die Stunde!« flehte er. »Ich bitte Euch, Sir: sagt mir die Stunde!« Es war, als habe der Besucher verdutzt die Augenbrauen hochgezogen. »Die Stunde?« forschte er. »Ist die denn so wichtig?« »Ja, ja, ja!« rief Fenton. »Um Mitternacht beginnt der 10. Juni. Dann muß ich zu Hause sein, damit Lydia nichts zustößt!« »Potz Geck!« bemerkte der Besucher, der in grauenvoller Weise George Harwell imitierte. »Dieser Mann muß wohl von Sinnen sein!« Fenton hastete zum erlöschenden Feuer und hielt das Zifferblatt an die glühenden Holzscheite. Die Uhr war um halb zehn stehengeblieben, genau um die Zeit, als er über Megs Schwelle trat. Er steckte die Uhr langsam wieder in die Tasche. Dann stürzte er sich auf die Gestalt im Sessel und griff mit beiden Händen nach der vermutlichen Kehle. Aber er packte ins Leere. Langsam wich Fenton zurück, 388
und wieder tauchte die wechselnde Silhouette auf, deutlich zu sehen im aufsteigenden Feuerschein der Seifensiederei. Und abermals kicherte der Besucher in aufreizender Weise. »Sieh mal, mein Kind«, wandte er sich an Meg, »wie Euer Hektor zusammenschrumpft wie ein gebrannter Wurm, wenn er an Lydias Gefahr denkt, und wie versessen er auf sie ist! Kann ich Euch nie davon überzeugen?« Meg kniete jetzt auf der Ottomane, vor Wut mit den Zähnen knirschend und mit verzerrtem Mund. »Verweilt noch einen Augenblick, Professor Fenton«, säuselte der Teufel. »Ich bitte Euch um Verzeihung, daß ich annahm, Ihr hättet den Verstand verloren. Ich habe inzwischen darüber nachgedacht, und ich glaube, es gibt eine ganz einfache Erklärung für das, was mich vorhin verblüffte.« »Wovon redet Ihr eigentlich?« »Ich denke, guter Mann, Ihr habt für den vergangenen Monat selbst Euren Kalender geführt, nicht wahr?« Ungehalten über diese Verzögerung, eilte Fenton zur Ottomane, um sich Cape, Degen und Perücke zu holen. Meg schlug nach ihm wie eine Katze; doch er stieß sie beiseite. Er schnallte sich gerade das Degengehenk um, als die nächsten nachdenklich geäußerten Worte des Besuchers ihn aufhorchen ließen. »Dieser Kalender war abgeschlossen und lag in einem verschlossenen Schrank. Ihr habt ihn niemandem gezeigt und mit keinem die Tage verglichen! Stimmt's? Mit niemandem habt Ihr über diesen Tag, den 10. Juni, den Ihr so fürchtetet, gesprochen. Habe ich recht?« 389
»Ich…« »Und doch«, fuhr die Gestalt im Stuhl fort, »erwähnte Mr. Jonathan Reeve noch an diesem Abend an Eurer Tafel, daß die ›Schlacht‹ in der Pall Mall in der Nacht des 7. Juni stattgefunden habe. Nun überlegt mal! Nach dieser ›Schlacht‹ habt Ihr zwei Tage lang geruht. Am Abend des dritten Tages, nämlich heute, gabt Ihr eine Abendgesellschaft. Stimmt's?« Mit Händen, die vor Entsetzen wieder ruhig geworden waren, befestigte Fenton sein Cape an der linken Schulter und stülpte sich die Perücke auf. »Es war etwas dumm von Euch«, murmelte der Teufel, »wenn auch verzeihlich. Ihr habt vergessen, daß Ihr am Tage nach der ›Schlacht‹ den ganzen Tag und die folgende Nacht unter der Wirkung von Opiumtinktur geschlummert und Euren Kalender nicht angerührt habt. Am nächsten Tage schriebt Ihr den ›achten‹ an Stelle des ›neunten‹. In Eurer Aufzeichnung habt Ihr einen Tag überschlagen.« »Tod und Verdammnis! Was soll das heißen?« schrie Fenton. »Heute war der 10. Juni – und Eure Gemahlin liegt im Sterben.« Das Schweigen dauerte unerträglich lange. »Lügner!« »Daß Euch die Pest, Professor Fenton! Warum sollte ich mir die Mühe machen, Euch etwas vorzulügen? Ihr werdet es selbst in Kürze entdecken.« »Die Zeit! Wie spät ist es?« »Laßt mich noch einmal wiederholen: es spielt keine Rolle. Wenn ich vielleicht die Zeiger Eurer Uhr zum 390
Stehen brachte, so war das nur eine sanfte Mahnung für Euch: vor einem Monat habt Ihr Euch über mich lustig gemacht und behauptet, daß ich mit Daten und Uhren jonglierte. Bleibt noch einen Augenblick«, sagte er überredend, »und ich will Euch sagen, warum Eure Gemahlin jetzt im Sterben liegt. Zum Teil ist Eure Nachlässigkeit daran schuld.« »Meine Nachlässigkeit?« »Aber gewiß. Ihr kehrtet heute abend ziemlich gedrückter Stimmung vom Whitehall-Palast zurück. Irgend jemand, gegen den Ihr nicht den geringsten Verdacht hegtet, verabreichte Mylady Fenton eine ungeheuer große Portion Arsenik. Von Schmerzen gefoltert, sandte sie eine Mrs. Judith Pamphlin mit einer Botschaft zu Euch. Ihr habt Mrs. Pamphlin immer für… treu ergeben gehalten?« »Ja.« »In gewissem Sinne war sie's auch. Aber ist Euch nie der Gedanke gekommen, daß Judith Pamphlin ihre Herrin lieber tot als in Euren Händen sah?« Fenton stand wie versteinert da. »Also brachte Euch Mrs. Pamphlin nur die Botschaft, daß Eure Gemahlin Euch zu sprechen wünsche. Das war alles, was sie sagte, und keine Folter im Newgate-Gefängnis hätte mehr aus ihr herauspressen können. Ihr hättet einen Schwindel, einen Trick vermuten müssen, als Ihr erfuhrt, daß Mrs. Pamphlin im Gemach Eurer Gemahlin gewesen war. Aber nein. Ihr eiltet aus dem Haus, um bei einer anderen Frau Euer Glück zu suchen.« Meg, die
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wieder auf der Ottomane kniete, wandte sich mit veränderter Stimme an den Besucher. »Ich bin die demütigste Eurer Dienerinnen«, flehte sie. »Aber quält ihn nun nicht mehr!« Ein merkwürdiges Geräusch ertönte: als striche eine große, schuppige Hand über die eichene Armlehne des Sessels. »Mein Kind«, schnurrte der Besucher, »Ihr seid sehr reizvoll, besonders wenn Ihr so nachlässig mit dem Neglige umgeht. Aber ich jemanden quälen? Wie entsetzlich!« Und die Gestalt im Sessel schien sich, ungeheuer amüsiert, an Fenton zu wenden. »Geht nun«, sagte er. »Eure Gemahlin liegt in diesem Augenblick im Todeskampf. Und wenn Ihr mit Windeseile rittet oder auf Flügeln durch die Luft flögt, Ihr könntet nicht bei ihr sein, ehe sie stirbt.« Fenton rannte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Sie hörten das Klirren seiner Sporen, das Poltern seiner Stiefel auf den Stufen. Dann klappte die Haustür zu, und es herrschte Stille. Und abermals das Geräusch, als striche eine große, schuppige Hand über die Armlehne. Meg schauderte vor Ekel. Das Feuer im Kamin war fast erloschen. »Und nun, meine Liebe«, girrte der Teufel… Fünfundzwanzig Minuten später galoppierte Fentons schwarze Stute schaumbedeckt in die Pall Mall. Sie bäumte sich auf, als er sie mit heftigem Ruck zum Stehen brachte, und hätte ihn beinahe abgeworfen. Leichenblaß rannte er auf die Haustür zu, die sich vor ihm öffnete, noch ehe er sie erreichte. 392
In der unteren Halle stand Sam, der seinen Amtsstab an die Wand gelehnt hatte und eine Kerze in der Hand hielt, und neben ihm Giles, der ebenfalls eine Kerze trug und einem Zusammenbruch nahe schien. Es war so still, daß sie die Blätter draußen rascheln hörten. »Dies kann doch unmöglich sein«, sagte Fenton. »Ich habe es nur geträumt. Es ist nicht wahr. Meine gute, holdselige Frau, die lieblichste Frau, die je …« Er brach ab. Giles, der dies offenbar nicht mit ansehen konnte, hatte sich abgewandt. »Sir«, sagte er nach einer Weile, als seine bebenden Lippen es zuließen, »sie – sie ist vor etwa einer halben Stunde gestorben. Sie ist bei Gott.« Eine Zeitlang starrte Fenton stumm zu Boden, auf eine zickzack-förmige Schramme im Holz. Als er aufblickte, hatte sich Giles wieder umgedreht. »Sir«, sagte er, »wir haben Euch überall gesucht. Keiner wußte, wo Ihr zu finden wart. Sir, wer hat Euch enthüllt, daß Eure Gattin … im Sterben lag?« »Der Teufel«, entgegnete Fenton. Sam schreckte zurück. Die Kerze fiel ihm aus der Hand und zerbrach am Boden. Mit ruhiger, aber entschiedener Stimme schickte ihn Giles weg. »Sir«, sagte Giles leise, »Euer Scherz ist unangebracht.« »Sieh mich an! Bin ich zu Scherzen aufgelegt? Nun?« Giles wich mit flackernder Kerze zurück. »Nein, Sir, ich dachte nur…« 393
»Bezichtigst du mich, Giles?« »Ich Euch bezichtigen? Wessen?« »Der Nachlässigkeit. Und du wärest völlig im Recht. Wer aber hat es getan? Wer hat sie vergiftet? Etwa Judith Pamphlin?« Fenton zog langsam den Degen aus der Scheide. »Wo ist diese Frau jetzt, Giles?« »Nein, Sir! Steckt Euren Degen weg. Ich bitte Euch darum. Ihr braucht Eure Hände nicht zu besudeln, wenn Ihr mich nur anhören wollt!« »Wo steckt sie, Giles?« Als Fenton ein paar Schritte vorging, umklammerte Giles ungestüm seinen Arm. »Mein Gebieter, das Frauenzimmer Pamphlin ist unten, streng bewacht von den Dienern. Wenn – wenn Pamphlin schuldig ist, wird sie unter ihren Händen eines schrecklichen Todes sterben; denn sie lieben Euch alle. Sie warten auf Euch. Ihr braucht nur ein Wort zu sagen. Aber ihre Köpfe sind jetzt viel zu hitzig, um irgend etwas zu unternehmen. Und Ihr… auch. Herr, um Gottes willen!« rief Giles, und dann schien ihm eine Erleuchtung zu kommen. »Hätte Eure Gemahlin es wohl gern gesehen, wenn die Frau durch Euer Schwert stürbe?« Fenton, der Giles beiseite stieß, daß die Kerze wild flackerte, machte noch zwei Schritte und blieb dann wie angewurzelt stehen. Eine Weile schien er in Gedanken versunken zu sein. Dann zwang er sich mit Gewalt zur Ruhe und ließ den Degen wieder in die Scheide gleiten. Danach vermieden er und Giles es, sich anzusehen. Giles war der erste, der wieder sprach. 394
»Würde es Euch zu sehr schmerzen, sie zu sehen?« »Sehen…?« »Eure Gemahlin, Sir. Wir haben den Raum von allen üblen Gerüchen befreit, die Fenster weit geöffnet und süßduftende Kräuter gestreut. Ich glaube, sie hätte es gern…« »Potz Blitz! Hör auf damit, von ihr als einer Toten zu reden. Ich dulde es nicht!« »Verzeihung, Sir. Darf ich Euch vorangehen, um Euch die Treppe hinaufzuleuchten?« »Ich… ja; danke.« Langsam und leise stiegen sie die Stufen empor. Nun, es war bald vorüber. Sie hatten Lydia allein im Dunkeln gelassen. Giles blieb mit seiner Kerze in der Tür stehen. Fenton ging ein paar Schritte auf die Tote zu. Aber die Tränen quollen ihm aus den Augen und machten ihn halb blind. Vergebens versuchte er, sie mit dem Ärmel fortzuwischen. Auf dem großen Bett, dessen Vorhänge zurückgezogen waren, lag Lydia mit geschlossenen Augen und auf der Brust gefalteten Händen, das Gesicht vom weichen Haar umrahmt. In den Händen hielt sie etwas, was er nicht erkennen konnte. Zögernd trat er an die andere Seite des Bettes, wo die balsamische Nachtluft in das offene Fenster wehte. Er beugte sich herab und küßte sanft ihre Lippen, die noch etwas warm waren. Jetzt sah er auch, was sie an ihre Brust gepreßt hielt. Seltsamerweise war es die blaue Zahnbürste, die er für sie hatte anfertigen lassen. Ein lächerliches Ding, aber das einzige Erinnerungsstück, das sie von ihm besaß. 395
Bei diesem Anblick brach er völlig zusammen. Von Tränen geblendet, taumelte er tastend umher, bis er gegen ein Fenster stieß. Dann spürte er eine kräftige Hand an seinem Ellbogen. »Genug, Sir«, flüsterte Giles mit fester Stimme. »Gestattet mir, daß ich Euch hinausgeleite.« Fenton gehorchte. Er hatte das Gefühl, über einen endlosen Holzboden zu wandern, bis ihn die feste Hand an seinem Ellbogen zum Stehen brachte. »Sie ist nicht tot, Giles. Ihre Lippen waren warm, als ich sie küßte.« »Ganz recht, Sir«, log Giles. Seine Stimme war sanft. »Ihr seid müde und erschöpft. Am Morgen wird es Euch besser sein.« Fenton befand sich in seinem eigenen Schlafzimmer. Giles hatte bereits Kerzen auf den Ankleidetisch gestellt. Darauf waren ein zerknitterter grauer Brief, die nicht mehr ganz volle Weinkaraffe und seine eigene rote Zahnbürste … Von neuem strömten ihm die Tränen aus den Augen. Mit letzter Anstrengung – als suche er eine Zuflucht – versuchte er, sich auf sein Bett zu werfen. Aber er besaß nicht genug Kraft. Sein Körper schlug auf dem harten Holzgestell auf, und er sank bewußtlos zu Boden.
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XIX Er war in einem Tal des Friedens. Als Fenton die Augen halb öffnete, lag er in unbekümmerter, wohliger Zufriedenheit da. Er hatte das Gefühl, zwar böse Tage und Nächte hinter sich zu haben, aber schließlich an Körper und Seele geheilt daraus hervorgegangen zu sein. Na also, dachte Fenton, es war doch nur ein Traum. Ich habe keinen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Er ist nur eine Mythe. Ich habe nicht einen Monat lang blutige Kämpfe ausgefochten. Der Name Lydia kam ihm in den Sinn. Er spürte einen schwachen Schmerz. Ich habe eine Frau geliebt, dachte er, die jetzt wohl mehr als zweihundert Jahre tot sein muß. Es war alles sehr lebendig. Aber jetzt ist der Traum vorbei. Ich bin sehr froh darüber; denn gegen Ende wurde es ein richtiger Alpdruck. Ich habe zuviel von dem verflixten Schlafmittel genommen und daraufhin eine ganze Nacht und bis zur Abenddämmerung des nächsten Tages geschlafen. Jetzt bin ich wieder in der Gegenwart. Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, weil er sich beim Erwachen in dem gleichen großen Himmelbett fand, das in dem von ihm gemieteten Haus gestanden hatte. Der weißblaue Himmel wurde allmählich dunkler. Dann kam der Schock. Bei einem Versuch, sich im Bett aufzurichten, entdeckte Fenton, daß er so schwach war wie nach einer langen Krankheit. Ermattet sank er in die Kissen zurück. Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf und stieß auf dichtes
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Haar, das nur schwarz sein konnte. Und dann sein Nachtgewand … In diesem Augenblick sah er zwei brennende Kerzen an der linken Seite des Bettes. Eine wurde von Giles Collins getragen, die andere von Lord George Harwell. Georges breites, rotes, von einer riesigen Perücke mit Stirnlocken umrahmtes Gesicht veränderte sich plötzlich, als er einen Blick aufs Bett warf. Seine braunen Augen traten vor Erstaunen aus dem Kopf, und das rote Gesicht strahlte vor Freude. »Potz Geck und kein Ende!« rief er. »Nun sieh einer an! Nick ist erwacht! Nick, mein guter Kerl, du hast uns schwere Sorgen gemacht! Gib mir deine Hand!« Fenton spürte noch immer das seltsame Wohlgefühl, das er beim Erwachen empfunden hatte. »Sie ist allerdings merkwürdig schwach«, sagte er leise. »Potztausend! Was kannst du anderes erwarten, wenn du wie tot zu Boden fällst und acht Tage in dieser Ohnmacht liegst?« »Acht Tage?« »Ja, frag nur Giles! Sie konnten dich nur ernähren, indem sie dich im Bett aufsetzten und dir mit einem großen Löffel Flüssigkeiten einflößten. Und das ist nicht so einfach. Aber ich werde die Sache jetzt in die Hand nehmen«, versicherte ihm George und warf sich in die Brust. »Potz Geck! Ich werde für dein Futter sorgen! Heiße, dampfende Kapaune, mit Austern gefüllt! Eine Fleisch- und Lerchenpastete mit schöner Sauce! Was meinst du dazu?« 398
»Vielen Dank, aber jetzt noch nicht. George, du wirkst wohltuend aufs Gemüt.« »Nein, potztausend!« brummelte George verlegen. »Ich bin nur ein klobiger Bursche.« Er zauderte ein wenig, ehe er fortfuhr: »Hör mal, Nick. Sie haben mir verboten, auch nur ein Wort mit dir über Lydia zu reden. Aber ich will nicht schweigen. Als ich davon hörte, war ich von Kummer so niedergeschmettert, daß ich … daß ich…« Giles lenkte ihn so geschickt ab, daß George es gar nicht merkte. »Mylord«, sagte er mit tiefer Ehrerbietung zu George, »darf ich mir vielleicht gestatten, Euch daran zu erinnern, daß wir seit acht Tagen eine neue französische Köchin haben, eine Madame Taupin?« »Was sagt Ihr da?« »Und Eurer Lordschaft zu Gefallen habe ich mir gestattet, eine Hammelkeule bei ihr zu bestellen. Mit heißen Pilzen, Mylord, und Pilzsauce. Es ist im Speisezimmer für Euch aufgetragen.« George war empört. »Zum Donner, Mann, komme ich wegen Speis und Trank in dieses Haus?« »Ach, du liebe Güte!« rief Giles und schlug sich mit der Hand vor den Kopf. »Gut, daß Ihr mich daran erinnert! Ich habe die Schlüssel zu einem edlen Weinkeller. Aber ich lasse keine alkoholischen Getränke im Hause herumstehen, damit mir keiner von den Hausknechten schnarchend und betrunken am Boden liegt mit der leeren Flasche in der Hand.« »So, so«, murmelte George, von dieser Sparsamkeit tief beeindruckt. 399
»Und nun, Mylord, habe ich vergessen, Euch unseren besten Kanariensekt hinzustellen. Wenn Ihr vielleicht schon nach unten gehen und zulangen wollt, werde ich Euch eine Flasche bringen, sobald ich ein Wort mit meinem Herrn gesprochen habe. Mylord: Hammelkeule und Pilze!« »Nu-un«, meinte George mit einem Seitenblick auf Fenton, der offenbar zärtlich gemeint war, aber recht düster ausfiel. »Nick, ich verlasse dich nicht, ich bin nur in einem anderen Raum.« »Natürlich, George. Guten Appetit!« Sobald sich die Tür hinter dem Besucher geschlossen hatte, begann Giles zu reden, während er mit sauertöpfischer Miene auf einen Bettpfosten starrte. »Lord George«, meinte er, »ist ja ein sehr guter Mensch. Aber in der nächsten Viertelstunde hätte er Euch auf einem Pferderücken gehabt und zu einem lärmenden Zechgelage entführt.« »Vielleicht. Schieb mir ein Kissen in den Rücken, Giles.« Giles stellte die Kerze auf den Nachttisch und gehorchte. Dann stemmte er die Hände in die Hüften und unterzog Fenton einer genauen Prüfung. Es war deutlich zu sehen, daß auch er das Bedürfnis hatte, seiner Erleichterung Ausdruck zu verleihen. Seine alte Impertinenz kehrte zurück. »Heisa, juchhe!« rief er und schnitt eine Grimasse. »Da habt Ihr ja wieder alle fünf Sinne beisammen, um uns zu piesacken. Aber tagelang hing Euer Leben an einem
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seidenen Faden. Gott allein weiß, warum ich mir die Mühe machte, über Euch zu wachen.« »Dann ist meine Frau also wirklich tot?« fragte Fenton leise und gefaßt. Giles nickte. »Sie wurde vor vier Tagen auf dem St.Martins-Friedhof begraben.« »In der Tat?« Giles warf ihm rasch einen Blick zu. »Für Eure Ohnmacht«, sagte er, »haben wir die Ärzte scharenweise hier gehabt. Aber nur einer davon hatte ein Fünkchen Verstand im Kopf.« »So?« »›Nun‹, sagte der, ›dies ist mir schon mal vorgekommen. Es hat etwas mit dem Gehirn zu tun und nicht mit dem Körper. Es gibt Soldaten, die in einer Schlacht Tag für Tag mit Berserkerwut kämpfen, und wenn sie glauben, die Schlacht ist zu Ende, fallen sie ohne körperliche Verletzung in eine tiefe Ohnmacht, die zwei, acht oder zehn Tage anhält. Dann erwachen sie mit klarem Kopf und sind geheilt.‹« »Da hat er recht. Nun erzähl mir mal, was sich in den acht Tagen alles zugetragen hat, während ich hier wie tot lag.« »Das will ich tun«, erwiderte Giles prompt. »Sonst laßt Ihr mir doch keine Ruhe.« Ohne um Erlaubnis zu bitten, ging Giles zum Fenster und holte sich einen niedrigen Polsterstuhl. Als er sich, wieder ohne zu fragen, hinsetzte, ragte nur sein langes 401
Gesicht mit dem roten Haarschopf über den Rand des Bettes. Es erinnerte, dachte Fenton, an den sprechenden Kopf ohne Rumpf bei einem Zaubertrick. »Sir«, begann Giles, »besinnt Ihr Euch noch auf den Abend des 10. Juni?« »Den ich«, sagte Fenton vor sich hin, »für den neunten hielt.« Er nickte. »Ihr kamt gegen halb neun vom Whitehall-Palast zurück und gingt sofort auf Euer Zimmer. Als ich ein paar Minuten vor neun nach oben ging, wo ich etwas zu erledigen hatte, sah ich Judith Pamphlin oben an der Treppe im Flur.« Giles erläuterte seine Erzählung mit entsprechenden Handbewegungen. »›Nicht so hastig!‹ sagte ich, als ich sah, wie sie in größter Eile diesem Zimmer zustrebte. ›Doch‹, erklärte sie, »ich bringe Sir Nicholas eine Nachricht von großer Wichtigkeit von Mylady.‹ Dabei fiel mir ein, daß Ihr die Anordnung gegeben hattet, von niemandem gestört zu werden. Dennoch ließ ich sie eintreten. Erinnert Ihr Euch daran, was sie dann sagte?« »Im großen ganzen, ja.« »Ihr genauen Worte waren: ›Mylady läßt Euch fragen, warum Ihr sie seit Eurer Rückkehr noch nicht aufgesucht habt.‹ Damit sprach die Frau die Wahrheit. Denn Eure Gemahlin, die Euren Schritt auf der Treppe gehört hatte und Euch bis zum Tode treulich liebte …« Fenton öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, schwieg dann aber. »…hatte dies wirklich gesagt. Die nächsten Worte der Pamphlin lauteten: ›Auch möchte sie Euch bitten …‹ Hier 402
wurde sie von Euch unterbrochen. Ihr schaltet sie – und mit Recht – kräftig aus, weil sie Myladys Zimmer betreten hatte, was ihr von Euch untersagt war. Dennoch hattet Ihr Vertrauen zu ihr.« Mit bitterer Miene fuhr Giles fort: »Ihr hießet sie zurückgehen und Wache halten. Denn Ihr, so sagtet Ihr, müßtet das Haus verlassen, würdet aber vor Mitternacht zurückkehren. Nun denkt mal nach, Sir! Habt Ihr jemals einen so häßlichen, bösartigen Ausdruck in Pamphlins Gesicht gesehen wie in dem Augenblick? Fiel er Euch nicht auf?« Fenton nickte. »Ja, ich habe es auch bemerkt«, sagte er in ruhigem Ton. »Ihr eiltet rascher aus dem Hause, als ich annahm. Ich glaubte Euch krank und hätte Euch gern an Eurem Vorhaben gehindert. Aber wer konnte Euch schon halten? Dann dachte ich an den Ausdruck in Pamphlins Gesicht und eilte in das Schlafgemach Eurer Gemahlin. Sie lag auf dem Bett. Sie war sehr krank und mußte sich heftig erbrechen. Pamphlin stand daneben. Es war wieder Arsenik; das war deutlich zu sehen. Doch hört nun die übrige Botschaft, die Pamphlin verschwiegen hatte. Sie lautete: ›Bitte ihn, doch um Gottes willen zu mir zu kommen, weil ich beim Abendessen etwas Giftiges getrunken oder gegessen haben muß; denn nur er kann mich retten.‹« Giles hielt inne, um sich mit einem raschen Blick davon zu überzeugen, daß seine Erzählung auch nicht zu schmerzlich für den Patienten sei.
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Doch Fenton blieb ruhig. Nicht, weil er keinen Schmerz und keinen Kummer in sich trug – aber sie saßen so tief in seinem Herzen, daß sie nicht an die Oberfläche dringen konnten. »Etwas Giftiges beim Abendessen?« murmelte er. »Aber wir hatten doch sehr früh gegessen, und da hätten sich die Symptome viel eher einstellen müssen … oder hatte Lydia sich versteckt, während ich im Palast war, und mit niemandem reden wollen?« »So war's, Sir.« »Aber einen Augenblick! Beim Essen habe ich doch ihre Speisen probiert und von ihrem Wein getrunken.« »Ihr dürft nicht vergessen, daß ich auch dabei war. Ich habe alles gehört und gesehen.« »Gesehen?« »Ihr habt von ihren Speisen gegessen, stimmt. Aber von Eurem eigenen Wein trankt Ihr nur sehr wenig, und aus ihrem Becher nahmt Ihr nur einen Schluck. Ist Euch kalt, Sir?« »Nein, nein. Fahre schon fort mit deiner Erzählung. Von dem Augenblick an, wo du den vollen Inhalt der Botschaft erfuhrst.« »Nun, in Anbetracht dessen«, sagte Giles, »überkam mich ein gewisser Zorn, und ich sagte zu der Pamphlin: ›Warum habt Ihr die Botschaft nicht ausgerichtet, ehe der Herr des Hauses fortritt?‹ Sie lächelte, was ich noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte, und erwiderte: ›Weil ich Mylady lieber tot als in seinen Händen sehen möchte.‹ Aber selbst bei diesen Worten hielt ich mich noch zurück! ›Einmal hat er Euch doch Gegenmittel für dieses Gift ge404
nannt‹ sagte ich, ›und wie hießen diese?« Sie entgegnete: ›Ich kann mich nicht darauf besinnen.‹« Hier wechselte Giles plötzlich die Farbe. »Sir, ich warf sie zu Boden und trat sie heftig mit dem Fuß. Dann richtete ich sie auf und stieß ihren Kopf gegen die Tür. Aber das Gesicht dieses Frauenzimmers war wie Holz, wie dieser Bettpfosten hier – das Gesicht einer Fanatikerin. Auch war kein Ton mehr aus ihr herauszubekommen. Als ich mich dann Eurer Gemahlin zuwandte, rannte die Pamphlin davon. Und noch nie habe ich eine Dame gesehen, die selbst bei heftigen Schmerzen so reizend und freundlich war wie Eure Gemahlin. Wenn sie eben konnte, lächelte sie. ›lch muß sterben, Giles‹, sagt sie, ›mich trifft die Strafe des Himmels.‹ Und auch von anderen Dingen sprach sie zu mir, obwohl sie mir früher – erinnert Ihr Euch? – kein Vertrauen schenkte. Ich schlug vor, einen Arzt und auch einen presbyterianischen Pfarrer zu holen, da ich wußte, daß sie in diesem Glauben aufgewachsen war. ›Nein‹, sagte Eure Gemahlin, ›kein Doktor kann mir helfen. Aber wenn du einen Geistlichen holen willst, dann soll es einer der Staatskirche sein. Denn das ist der Glaube meines Mannes, und jetzt ist es auch meiner.‹« Giles hielt inne. »Sagtet Ihr etwas, Sir?« »Nein. Ich … nein.« »Weiß Gott, ich will Euch nicht länger quälen. Aber mit einem Umstand muß ich Euch noch bekannt machen. Immer, wenn es ihre Arbeit erlaubte, hat die Pamphlin vor der Tür Eurer Gemahlin Wache gehalten.« »Das ist wahr. Ich selbst habe es oft bemerkt.« 405
»Gut! Die Pamphlin hat inzwischen folgende Aussage gemacht: Als sie am Abend des 10. Juni auf ihrem Posten stand, hörte sie Eure Gemahlin rufen und vor Schmerzen stöhnen. Sie ist dann an die Tür Eurer Gemahlin geeilt, die sie unverriegelt fand, und ins Zimmer gegangen. Könnte das stimmen?« »Ja«, erwiderte Fenton. »In letzter Zeit gingen Lydia… meine Frau und ich sehr oft in dem Zimmer ein und aus. Sie hat die Tür nicht mehr verriegelt, wenn sie allein war.« »Und doch«, sagte Giles, »hätte die Pamphlin Eurer Gemahlin das Gift verabreichen können, ja? Als ihre alte Kinderfrau hätte sie die gnädige Frau überreden können, einen vergifteten Trank zu sich zu nehmen, nicht wahr?« Fenton schien sich das genau zu überlegen. »Es ist möglich«, erwiderte er. »Aber Arsenik ist ein langsam wirkendes Gift. Selbst wenn sie es beim Abendessen genommen hat, muß es eine übergroße Dosis gewesen sein.« »Ei, gewiß beim Abendessen«, murmelte Giles mit zusammengepreßten Zähnen. »Obwohl ich nicht sagen kann, auf welche Weise. Verflucht! Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen über die Schuld dieser Frau. Ich hasse sie. Deshalb möchte ich gerecht sein. Aus diesem Grunde habe ich Euch auch überredet, sie nicht mit Eurem eigenen Degen zu töten, als Ihr damals halb von Sinnen nach Hause kamt. Aber ich will Euch eins sagen: Die alte Hexe liegt angekettet in einem kleinen Raum, streng bewacht von den Dienstboten. Kein Mensch kann diese Leute noch lange zurückhalten. Sie möchten sie töten, schon allein aus dem 406
Grunde, weil sie Euch nicht gesagt hat, daß Eure Gemahlin im Sterben lag, und Euch ohne dieses Wissen aus dem Hause gehen ließ.« Giles seufzte wie jemand, der sich vergeblich um eine Entscheidung bemüht hat. »Herr«, fügte er schlicht hinzu, »was soll ich jetzt bloß tun?« »Was die Pamphlin angeht«, sagte Fenton, »so werde ich mir die Sache durch den Kopf gehen lassen und selbst mit den Dienstboten sprechen.« »Gut!« sagte Giles erleichtert. »Aber, Giles, du hast mir ja gar nichts erzählt!« Giles war völlig verblüfft. »Gar nichts, Sir?« »Nur von der Nacht, in der meine gute, teure Frau … zur ewigen Ruhe gegangen ist. Was ist hinterher geschehen?« »Sir, da kann ich Euch nur mit Euren eigenen Worten erwidern: gar nichts«, sagte Giles, der in seiner Erleichterung wieder in den alten, kecken Ton verfiel. »Aber ein Arzt im Hause? Ein Todesfall durch Vergiftung? Da ist doch sicherlich ein Friedensrichter …?« »Zum Schluß meines kleinen Berichts will ich davon erzählen.« Giles setzte wieder eine grimmige Miene auf. »Wohlgemerkt, muß ich noch einmal auf den Abend des 10. Juni zu sprechen kommen. Zuerst kam der Geistliche, ein stiller, ruhiger Mann. Dann erschien der einzige Doktor, den wir zu dieser Stunde erreichen konnten: der reinste Hansnarr! Eure Gemahlin schrie laut auf, als er sie anrührte. ›Hm!‹ sagt er kopfschüttelnd und dann wieder ›Hem! Dies ist ein überaus mysteriöser Fall!‹ Schließlich 407
konnte ich das Geschwafel nicht mehr mit anhören und zog ihn auf den Flur. Dort fragte ich ihn, ob er sie in Gottes Namen heilen könne. ›Nun‹, sagt der Arzt, indem er den Finger an die Nasenspitze legt, ›es handelt sich hier um eine Entzündung des Darmes, vielleicht auch um eine Vergiftung. Das kann ich erst sagen, wenn die arme Dame tot ist. Aber ich bin sehr beunruhigt, guter Mann, und hole am besten einen Friedensrichtern« Hier verstärkte sich der bittere Ausdruck in Giles' Gesicht. »›Magister der Medizin‹, sage ich, »Ihr müßt so handeln, wie es Euch beliebt. Doch bevor Ihr einen Friedensrichter bemüht, möchte ich Euch die Namen derer aufzählen, die an diesem Abend an der Tafel meiner Gebieterin speisten.‹ Und ich nannte sie. ›Mylord Danby‹, ruft der alte Doktor. ›Nein, dann will ich mich nicht einmischen; 's ist eine Darmentzündung, keine Vergiftung. Ich werde es schriftlich niederlegen. Ihr könnt sie begraben, wann Ihr wollt.‹ Sir, wir waren völlig ratlos, da wir nur diesen Tölpel hatten. Eure Gemahlin ertrug jedoch alles mit großer Geduld. Wenn sie zu reden vermochte, sprach sie nur von Euch. Wir mußten ihr das lächerliche Ding holen, mit dem Ihr in den Zähnen herumstochert, und sie drückte es an ihre Brust wie ein Kruzifix. Und so starb sie, von einer solchen Liebe zu Euch erfüllt, wie man sie bei wenigen Frauen findet.« Jäh wandte sich Giles ab und stand auf. Er trat an den Ankleidetisch und nahm ein kleines, fast volles Glas mit einer dunkelbraunen Medizin in die Hand. Dieses hielt er gegen das trübe Licht und betrachtete es eingehend, ehe er zurückkehrte und es neben die Kerze auf 408
den Nachttisch stellte. Fenton blickte nachdenklich auf die Bettdecke. »Du hast gut gesprochen«, sagte er, »und gut gehandelt. Ich sage dir meinen besten Dank dafür.« Giles verbeugte sich. »In deinem Bericht«, fuhr Fenton fort, »steckt nur ein Fehler. Ich muß dir ein Geheimnis anvertrauen: meine Frau hat mich in Wirklichkeit nicht geliebt. Wollte Gott, es wäre anders!« Giles schien wie vom Donner gerührt. »Ah!« sagte er in einem ganz anderen Ton, und es war Fenton, als hätte ihn Giles angezischt. »Hier ist noch etwas, was meinen Argwohn erweckte!« »Argwohn?« Vor Erregung zitternd, lehnte sich Giles halb über Fenton. »Es betrifft«, sagte er, »einen zerknüllten grauen Brief, den ich am nächsten Morgen dort – auf Eurem Ankleidetisch – fand, in der Handschrift Eurer Gemahlin. Und es betrifft Eure Rückkehr vom Whitehall-Palast am vorhergehenden Abend, als Ihr mir schwort, daß alles fröhlich und herzlich zugegangen sei, wogegen ich mit meinen eigenen Augen einen kranken, gebrochenen Mann vor mir sah.« Fenton wandte den Kopf zur Seite. »Deine Absichten sind gut, altes Faktotum. Aber was weißt du schon von diesem Abend?« »Nicht viel, nur die Wahrheit. Ich bin nämlich der Sache auf den Grund gegangen.« »Du?« 409
»Zum Teufel mit Eurer Ironie! Jawohl, ich, wer denn sonst? Habe ich nicht gehört, was Eure Gemahlin mir auf dem Totenbett sagte? Habe ich nicht den grauen Brief gelesen? Konnte ich mich nicht an Mr. Jonathan Reeve, Euren Freund, wenden, und steht ihm nicht die ganze Flüstergalerie von Whitehall zur Verfügung, wo eine Neuigkeit gegen die andere eingetauscht wird? Wenn ich Gold brauchte, um Geheimnisse hervorzulocken, hatte ich nicht Eure Geldschatulle? Sagt mir jetzt: habe ich unrecht gehandelt?« »Nein.« »Sir«, sagte Giles jetzt wieder in bescheidenem Ton, »Ihr glaubt immer noch, daß die Liebe Eurer Gemahlin nur Schauspielerei war und sie Euren Tod wünschte. Nun, vielleicht hattet Ihr Grund zu dieser Annahme.« Giles hob plötzlich seinen hageren Arm, als wolle er einen Eid ablegen. »Dennoch schwöre ich bei meiner unsterblichen Seele, daß sie Euch nie bei vollem Verstande an den Green-Ribbon-Klub verraten hat und daß ihre Liebe so echt war, wie ich sie geschildert habe! Und das kann ich beweisen.« »Und doch«, fragte Fenton, »schrieb Lydia den Brief?« »Allerdings«, gab Giles in aller Ruhe zu. »Sie schrieb ihn, als sie halb von Sinnen war und nicht ein noch aus wußte. Sie war kein leichtfertiges, tändelndes Mädchen, sondern eine Frau, die Freude, Haß und Kummer aufs tiefste empfand! Könnt Ihr Euch noch entsinnen – es sind zwar Wochen darüber hingegangen –, was am Morgen des 10. Mai geschah?« 410
»Ich habe nichts vergessen.« »Erinnert Ihr Euch noch, wie Ihr Eure Gemahlin hierherkommen ließet, um die Ursache ihrer Krankheit zu erforschen? Wie Ihr die Entdeckung machtet, daß es sich um eine Arsenikvergiftung handelte, von der wir nichts wußten? Wie sie sich dort niederlegte, wo Ihr jetzt liegt?« »Ich habe nichts vergessen!« »Wirklich! Ihr erschient ihr zuerst ganz verwandelt- und das gestand sie Euch auch –, als habe eine gute Seele bei Euch Einzug gehalten und ringe mit einer bösen. Dann aber mußtet Ihr unbedingt umschwenken und Euch schlimmer aufführen als Sir Nick selbst: Ihr verfluchtet die Rundköpfe und ihre ganze Rasse. Werft nur einen Blick auf den Bettpfosten, Sir! Dort könnt ihr noch das Loch im Holz sehen, wo Ihr bei diesem Fluch Euren Dolch einstießet!« Fentons Gesicht war ausdruckslos. Er enthielt sich jeder Bemerkung. »Doch der gute Geist gewann sozusagen bei Euch wieder die Oberhand. Aber was sollte Mylady davon halten? Was ging hier vor sich? Und als Ihr – wie sie mir auf dem Totenbett erzählte – sie dann leidenschaftlich küßtet und beinahe hier, wo Ihr jetzt liegt, mit ihr geschlafen hättet, da wußte sie, daß Ihr nicht Sir Nick Fenton wäret.« »Was sagst du da, Giles?« Giles verzog ironisch den Mund und schüttelte den Kopf. »Sir, Sir! Habe ich etwa nicht seit den ersten Stunden jenes Morgens gewußt, daß Ihr nicht im geringsten wie Sir Nick wäret?« 411
Fenton blickte ihn aus seinen Kissen heraus unbewegt an. »Es ist etwas spät am Tage, Giles, mich einen Schwindler zu nennen.« »Schwindler?« rief Giles. »Wer redet denn davon? Ich nicht! Am Nachmittag vor dem Straßenkampf hätte ich Euch beinahe gesagt, was ich davon hielt.« »Und … das war?« »Da ich nichts von guten und bösen Geistern weiß«, erwiderte Giles, während er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, »möchte ich nicht gern darüber sprechen. Aber ich glaube doch, daß eine gute Seele irgendwie in Sir Nicks Körper gefahren ist und eine Wandlung hervorgerufen hat. Sonst ist das, was ich gesehen habe, Teufelswerk. Woher hatte ›Sir Nick‹ seine Erfahrung in Dingen der Medizin, so daß er Mylady wie durch ein Wunder von ihrer ersten Krankheit kurierte? Sir Nick hatte nur stümperhafte Kenntnisse im Lateinischen und Französischen; doch Ihr last im Studierzimmer, wie ich selbst gesehen habe, beide Sprachen. Woher hatte Sir Nick die besondere Handgelenksdrehung beim Degenfechten und ein halbes Dutzend Ausfälle, die er niemals kannte? Wer verlieh Euch die Gabe, die Zukunft zu lesen? Welche Hand lehrte Euch sogar das Kriegshandwerk?« Giles' schrill gewordene Stimme brach ab, und seinen Worten folgte ein langes Schweigen. »Giles.« »Sir?« 412
»Sprich nicht von mir. Sprich von Mylady! Du gibst doch zu, daß der Brief an den Green-Ribbon-Klub von ihrer Hand geschrieben ist, nicht wahr?« »Ja«, entgegnete Giles. »Sie haßte Sir Nick und hatte auch allen Grund dazu. Sie war standhaft in ihrem religiösen Glauben. Obgleich sie von Politik nicht viel verstand, glaubte sie an diese ›gute Sache‹, weil sie annahm, daß ihr Vater auch dafür eingetreten wäre. Sie war halb von Sinnen, als sie den Brief schrieb … Nun will ich Euch zeigen, Sir, was sie nur eine Viertelstunde später an denselben Green-Ribbon-Klub schrieb! Seht her!« Mit zitternder Hand faßte er in seinen Rock und zog zwei graue Briefe hervor. Den ersten, den Giles aufs Bett schleuderte, kannte Fenton nur zu gut. Giles faltete den anderen Bogen auseinander und hielt ihn Fenton vor die Augen, wobei er ihm mit der Kerze leuchtete. Fenton erkannte Lydias Handschrift. Sie war aber bedeutend zittriger als in dem ersten Brief. Es war ihm, als könnte er Lydias Stimme hören oder sie neben sich liegen sehen. »Vor einer Viertelstunde schrieb ich Euch, um Euch zu sagen, wo Ihr meinen Mann finden könntet. Ich kann jetzt nicht sagen, daß es eine Lüge war, sonst glaubt man mir nicht. Aber ich sage, ich war eine arme Verrückte und eine Törin. Eurer Landpartei sage ich dies: wenn Ihr ihm einen Schaden zufügt (was Ihr, glaube ich, nicht könnt, denn Ihr fürchtet seine Fechtkunst!), werde ich Euch bei allen Richtern als Mörder anklagen und meine Rolle dabei eingestehen. Ich sende diese Zeilen heimlich durch Job, den Stallknecht, in der Hoffnung, daß sie Euch eher 413
erreichen als mein erster Brief. Aber ich werde Euch niemals mehr schreiben. Mit Gott für König Charles! wie er sagt. Und ich sage mich hiermit in aller Form von Euch los. Lady Lydia Fenton.« Giles wartete, bis er sah, daß Fenton die Zeilen mehrere Male gelesen hatte. Dann ließ er den Brief auf die Bettdecke fallen und stellte die Kerze wieder auf den Nachttisch. »Giles«, fragte Fenton, »woher stammt dieser Brief?« »Es ist nicht ratsam, danach zu fragen«, erwiderte Giles schnippisch. »Ihr habt ihn gesehen, das genügt! Wenn er aus dem Tresor des Staatssekretärs Seiner Majestät kam … nun, es war Euer eigenes Geld, das ihn herausholte.« »Es existierten, glaube ich, noch andere Briefe.« »Sir, andere sind nicht vorhanden.« Fenton versuchte sich aufzurichten. »Wirklich?« fragte er. »Nicht einer, der begann: ›Wenn Ihr ihn das nächste Mal nicht tötet, werde ich den GreenRibbon-Klub verlassen‹?« »Sir«, entgegnete Giles und blickte Fenton fest ins Auge, »ein solcher Brief ist nie geschrieben worden. Mr. Reeve hat das nachgewiesen. Ein gewisser Schurke, der Euch haßt und sich nicht scheut, Seine Majestät selbst zu betrügen …« »Welcher Schurke?« »Ich werde ihn nicht mit Namen nennen, bis Ihr kräftiger seid. Dieser Halunke gab vor, einen Brief gelesen zu haben – den kein anderer gesehen hat – , und schwor, er 414
sei von Eurer Gemahlin. Seine Aussage? Pah! Nichts weiter als Lügen. Zum Beweis kann ich zehn Zeugen und den verdammten Spitzbuben selber herbeiholen!« Fenton sank in die Kissen zurück und schloß die Augen. Eine Zeitlang lag er regungslos da, während der Diener mit knirschenden Schuhen auf und ab ging. Schließlich konnte Giles das Schweigen nicht länger ertragen. »Na, und was sagt Ihr nun dazu?« Fenton hatte das Gefühl, als sei die Wunde tief in seinem Herzen aufgebrochen und habe wieder zu bluten begonnen. »Eure Gemahlin sah in Euch eine andere Seele in der äußeren Gestalt ihres Mannes«, sagte Giles mit unterdrückter Stimme, »und diese Seele liebte sie. Als sie im Sterben lag und Ihr nicht bei ihr wäret, dachte sie, ihr erster Brief habe die ›Strafe des Himmels‹ auf sie herabbeschworen, und wünschte zu sterben. Sir, findet Ihr dies alles nicht jammervoll? Habe ich ihren guten Charakter wiederhergestellt, nun, wo sie nicht mehr bei uns ist?« »Giles«, beteuerte Fenton, »ich bin ja der größte Dummkopf gewesen! Ich habe nicht überlegt… habe mir nicht träumen lassen …« »Nun, nun«, sagte Giles besänftigend. »Ich hatte zuviel von Euch erwartet. Und ich habe Euch zu sehr geplagt. Dafür bitte ich Euch um Verzeihung.« »Du bittest mich um Verzeihung? Du, dem ich meine Rettung verdanke?« »Schon gut, schon gut«, brummte Giles und starrte verlegen zu Boden. Dann setzte er auf einmal eine geschäftige Miene auf und erklärte in strengem Ton: »Und 415
jetzt muß ich meinen Pflichten obliegen. Ich muß nach unten gehen und den Wein aus dem Keller holen, den ich Lord George Harwell vor einiger Zeit versprochen habe. Er hat nicht einmal einen Tropfen Gerstensaft – ich schließe selbst diesen ein – , und wird schön toben.« »Bleib, ich möchte …« Doch Giles eilte schon hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Fenton lächelte ein wenig und lehnte sich zurück. Reumütig dachte er an die absurde Vorstellung, die er von Lydia gehabt hatte. Am deutlichsten erinnerte er sich an die Nacht in ihrem Zimmer, als er aus dem Schlaf gerissen wurde, um gegen den Mob zu kämpfen. Es fiel ihm wieder ein, wie sie ihm den wattierten Schlachthelm gereicht hatte. »Wenn du stirbst«, hatte sie dabei gesagt, »dann muß ich auch sterben.« Auf seltsame Art war Fenton glücklich. Er hatte sich den Wind zweier Welten um die Ohren wehen lassen. Er wußte, daß der Teufel existierte und – Herr über allem – des Teufels Widersacher. Lydia war nicht tot. Er wandte den Kopf und richtete den Blick auf den Schrank, in dem die Degen und Dolche hingen. Seine Hand tastete nach seinem Herzen. Er konnte sich jederzeit zu Lydia gesellen, wenn er es wünschte. Er konnte … »Sir!« Fenton, aus seinen Gedanken aufgeschreckt, entdeckte Giles wieder neben dem Bett und witterte Unheil. »Sir«, sagte Giles, »da Ihr nun wieder zu Euch gekommen seid, möchte ich mir Eure Instruktionen holen, wie ich mit zwei Besuchern verfahren soll, die soeben unten eingetroffen 416
sind. Sie gehören nicht zusammen und kommen in verschiedenen Angelegenheiten. Die eine dieser Personen – vielleicht nicht so wichtig – ist Madam York …« »Meg York?« »Ja, und ich muß sagen, sie sieht außerordentlich verstört aus. Ich habe sie in den Salon geführt und sie gebeten zu warten. Die andere Person ist ein Mann, den wir schon …« »Ja?« »Er kommt – das behauptet er wenigstens –, in einer Staatsangelegenheit. Er bläht sich auf wie ein Ratsherr und will keine Entschuldigung hören. Dieser Mann besteht darauf, Euch zu sprechen. Was soll ich nur mit ihm anfangen?« »Ich werde schon mit ihm fertig werden«, erwiderte Fenton mit einem glücklichen, aber boshaften Lächeln. »Komm, hilf mir beim Ankleiden.« »Sir«, rief Giles entsetzt. »Ihr wollt doch wohl nicht nach unten gehen. Euch fehlt die Kraft dazu!« Aber Fenton hörte nicht auf Giles. Eine gewisse kaltblütige Entschlossenheit verlieh ihm die nötige Kraft. Er schlug die Decken zurück und schwang seine steifen Beine über die Bettkante. »Eine Staatsangelegenheit?« stieß er keuchend hervor. »Wollen's lieber eine politische Angelegenheit nennen, eine Angelegenheit der Grünen Lords, die auf Unheil bedacht sind. – Giles! Als du mich zu Bett brachtest, hast du da den Ring an meiner linken Hand bemerkt? Einen Kameenring, das Geschenk Seiner 417
Majestät? Den muß ich jetzt tragen und auch meinen Clemens-Hornn-Degen.« »Fürs Degenfechten seid Ihr noch nicht gesund genug! Es ist auch gar nicht erforderlich. Ich habe bereits einige kleine Instruktionen erteilt…« Er ließ seine Stimme sinken und blickte Fenton mit zusammengekniffenen Augen prüfend an. »Aber vielleicht könnt Ihr doch schon Euren Mann stehen«, meinte er. »Das wäre gut, denn jetzt, glaube ich, droht Euch die allergrößte Gefahr!«
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XX Der Clemens-Hornn-Degen schwang an Fentons Hüfte. Fenton trug einen Rock aus blauem Samt, eine braungelbe Weste mit Goldknöpfen, blaue Kniehosen, braungelbe Strümpfe und Schuhe mit mittelhohen Absätzen. Fenton ging auf unsicheren Beinen nach unten, um seinen Besucher zu treffen. Giles, der einen siebenarmigen Kandelaber trug, um ihm zu leuchten, konnte oder wollte ihm den Namen nicht nennen. Fenton hatte den Eindruck, das ganze Haus sei von heimlichen Schritten belebt. Als er zuerst auf den oberen Flur trat, hätte er schwören können, er sah, wie Harry – einer der Diener, der in dem Kampf mit dem Mob schwer verletzt war – die zum Boden führende Treppe hinaufhumpelte. Außerdem hörte er bald ein eiliges Tapsen und Jaulen, und im nächsten Augenblick umdrängten ihn die Doggen, allen voran der geströmte Donner. Sie spürten, daß er krank gewesen war, denn nicht einmal Donner sprang an ihm empor, um ihm die Pfoten auf die Schultern zu legen. Aber sie preßten sich dicht an ihn heran und leckten ihm ungestüm die Hände, als er sie streichelte. Sie wimmerten und blickten mit verdutzten Augen zu ihm empor. »Sachte!« mahnte Fenton, der sich bemühte, das Gleichgewicht zu halten. »Ganz sachte!« Er ging hinter Giles die Treppe hinunter. Die Hunde folgten ihm auf den Fersen.
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Giles stellte seinen Kandelaber auf den Endpfosten des Treppengeländers, und Fenton betrat die große untere Halle, wo er erstaunt stehenblieb. Der Fußboden glänzte vor Sauberkeit, und alle Wandkerzen brannten in ihren Haltern mit hellem, aber weichem Licht. Die Halle war leer bis auf einen Mann, der im Rahmen der weitgeöffneten Haustür stand. Es war ein großer, schwerer Mann. Er trug einen scharlachroten Uniformmantel, der halb aufgeknöpft war, einen schweren Pallasch und am Halse ein üppiges Spitzenjabot. Auf seiner schwarzen, geölten Perücke thronte verwegen ein breitrandiger schwarzer Hut mit einer roten Feder. Sein breites Gesicht zierte ein schwarzer Schnurrbart, der so lang war, daß er in die Locken der Perücke hineinragte. Unter dunklen, buschigen Augenbrauen blickten zwei blaue Augen hervor. Im Augenblick war dieses Gesicht hochrot vor Zorn. »Giles«, sagte Fenton, »hier scheint uns wieder ein grober Irrtum unterlaufen zu sein.« Dann lächelte er dem Besucher zu. »Sir, seid Ihr nicht Captain O'Callaghan vom Ersten Königlichen Dragonerregiment?« »Ich habe diese Ehre«, erwiderte Captain O'Callaghan und nahm eine steife Haltung an. »Sieh nur, Giles!« sagte Fenton und deutete mit dem Kopf nach draußen. Vor der Tür lagen der Pfad und die Linden im Schein eines strahlenden Halbmonds. Jenseits der Bäume, gegenüber dem Haus, saß eine Reihe von Dragonern regungslos zu Pferd. Sie trugen das lange Schwert auf der linken Seite 420
und über der linken Schulter eine Feuersteinbüchse oder leichte Muskete an einem ledernen Wehrgehenk. »Hast du es denn ganz vergessen, Giles?« fragte Fenton. »Nun, dies ist doch der Captain, der nach unserem Kampf mit den Green-Ribbon-Leuten die Toten und Verwundeten wegschaffte.« Und Fenton trat vor und streckte die Hand aus, während Donner dicht an seiner Seite blieb. »Captain«, fuhr Fenton in tiefer Aufrichtigkeit fort, »ich heiße Euch herzlich willkommen. Ihr müßt entschuldigen, daß ich Euch warten ließ, aber ich bin krank gewesen, und mein Haushalt ist etwas in Unordnung geraten, seitdem meine … meine Frau …« Er verstummte allmählich. Hier stimmte etwas nicht. O'Callaghan, der vor Verlegenheit tief errötete, blieb in steifer Haltung stehen, ohne seine Hand auszustrecken. »Was hat dies zu bedeuten?« fragte Fenton mit leiser Stimme. »Sir Nicholas«, stieß der Captain hervor, »ich halte Euch hoch in Ehren; hol mich der Teufel, wenn's nicht wahr ist. Ich finde wenig Geschmack an diesem Auftrag, das will ich ganz offen bekennen. Aber es ist meine Pflicht, nicht wahr?« Es lag ein fast flehentlicher Ton in seiner Stimme. »Zunächst aber ein Wort mit Euch!« Captain O'Callaghan deutete mit seiner Hand, die in einem langen schwarzen Lederhandschuh steckte, auf Giles. »Euer Bursche da!« sagte er verächtlich. »Stopft ihm den Mund, Sir Nicholas. Stopft ihm den Mund, sag' ich, sonst, bei Gott, werde ich es besorgen, indem ich ihm meinen Degen in die Kehle ramme!« »Wenn Ihr in meinem Hause seid, Sir«, erwiderte Fenton mit allzu großer Höflichkeit, »werdet Ihr es 421
vielleicht mir überlassen, den Dienern Befehle zu erteilen. – Giles, hast du Captain O'Callaghan Anlaß zur Beschwerde gegeben?« Giles spitzte die Lippen. »Ich befürchte es, Sir. Aber Ihr seid jetzt hier und könnt selbst über seinen ›Auftrag‹ urteilen. Doch überzeugt Euch erst davon, daß er nicht vom Green-Ribbon-Klub kommt.« Eine Pause. »Woher?« brüllte Captain O'Callaghan, baß erstaunt. »Ich meine damit, Sir Captain, Mylord Shaftesbury und seine Landpartei.« O'Callaghans Erstaunen verwandelte sich in schäumende Wut. Instinktiv machte er eine kurze Handbewegung nach seinem Degengriff, die bei Donner, der zitternd neben Fenton saß, ein so bösartiges Knurren auslöste, daß der Dragoner rasch wieder den Kopf wandte. »Halt!« rief Fenton. Da es ihm an Kraft fehlte, die Dogge zurückzuhalten, beugte er sich über Donner und sprach beruhigend auf ihn ein. Doch es wurde ihm dunkel vor den Augen, als er sich bückte, und er mußte sich rasch wieder aufrichten. »Giles«, sagte er, »wir haben uns beide mächtig geirrt, du und ich.« »Geirrt, Sir?« »Ja.« Fenton nickte mit dem Kopf zum Dragonerhauptmann hinüber. »Du hast einem irischen Katholiken zugemutet, daß er einer Mörderbande dient, die entweder der Staatskirche oder einer puritanischen Sekte angehört und ihn am liebsten töten möchte.« 422
»Ah!« grunzte O'Callaghan. »Aber das ist noch nicht das Wichtigste, Giles«, fuhr Fenton fort. »Unser Gast gehört zur Armee, und durch keinerlei Bestechung hätte Mylord Shaftesbury ihn hierher schicken können. Denn die Armee ist fest in den Händen des Königs und wird von Seiner Majestät allein befehligt.« Giles blickte ein wenig beschämt drein, und Fenton wandte sich wieder an seinen Besucher. »Aber nun ein Wort mit Euch, Captain«, sagte er in einem völlig veränderten Ton. »Seid nicht so kühn mit Euren Drohungen.« »Nein?« »Nein! Und vor allen Dingen nehmt die Hand von Eurem Degen weg. Donner«- Fenton streichelte die Dogge»ist viel zu dicht bei Euch. Er würde Euch selbst die Kehle zerfleischen, ehe Ihr überhaupt den Degen ziehen könntet.« »Ach nein, wirklich?« fragte O'Callaghan ironisch, und sein prahlerisches Wesen brach durch. Herausfordernd machte er abermals einen kurzen Griff nach dem Degen. Donners Knurren fand jetzt Widerhall bei Löwe und Nacktarsch. Donner, der Gefahr für seinen Herrn witterte, straffte seine Muskeln und machte sich sprungbereit. Captain O'Callaghan war jetzt nicht mehr ganz so rot im Gesicht. Langsam ließ er die Hand auf seinen scharlachfarbenen Mantel sinken. Aber er wich keinen Schritt zurück. Er stand mit halbgesenkten Augenlidern da und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Sir Nicholas Fenton. Der Teufel soll mich holen, aber ich muß Euch von diesem Augenblick an in Gewahrsam nehmen und zum Tower 423
geleiten, wo Ihr in Gefangenschaft bleiben müßt bis… nun, so liegen die Verhältnisse.« Fenton starrte ihn nur an, während der Captain verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. »Zum Tower?« wiederholte Fenton wie betäubt, »zum Tower von London?« »Ei, was für ein anderer Tower könnte wohl gemeint sein?« Fenton blickte zu Giles hinüber, dessen Gesicht ebenso ausdruckslos war wie sein eigenes. »Auf welche Anklage hin?« »Sir Nicholas, das darf ich Euch nicht sagen, und das wißt Ihr auch ganz gut!« »Soviel mir bekannt, werden Männer nur für ein einziges Vergehen in den Tower überführt, nämlich Hochverrat.« »Nun«, grunzte O'Callaghan, während er ihn zustimmend anblinzelte, »wenn Ihr selber die Beschuldigung erratet…« »Hochverrat?« »…Es steht mir nicht zu, es abzuleugnen. Ich zweifle aber nicht daran, daß Ihr Euch in ein paar Wochen von diesem Verdacht reinigen könnt.« »Captain«, sagte Fenton, während sein Verstand fieberhaft arbeitete, »ich will Eure Redlichkeit nicht in Abrede stellen. Aber dies, ich schwör's Euch, ist der gröbste Irrtum, der je begangen worden ist!« Er berührte den Kameenring an seiner linken Hand. »Dürfte ich vielleicht, 424
ehe Ihr Eurer Pflicht genügt, ein Wort mit dem König selber wechseln? Oder darf ich ihm, falls das ein zu großer Wunsch ist, ein gewisses Zeichen senden?« »Wollt Ihr etwa an den König appellieren?« fragte O'Callaghan und ließ vor Staunen seinen Schnurrbart in Ruhe. »Das ist meine Absicht.« »Aber, Sir Nicholas! Gott steh uns bei! Diese Order ist von Seiner Majestät eigenhändig unterzeichnet!« Captain O'Callaghan griff in seine Manteltasche und zog eine Pergamentrolle hervor, die er nur so weit entrollte, daß die Bänder des Siegels herabglitten und die Unterschrift zu sehen war. »Seht her! Kennt Ihr vielleicht diese Schrift?« fragte der äußerst verblüffte Captain. Fenton warf einen Blick darauf. Die Unterschrift »Charles R.« war unverkennbar. Zu oft hatte er sie auf vergilbten Briefen gesehen. »Es ist des Königs Hand«, gab Fenton zu. Er fühlte, daß eine große Tür zugeschlagen und der Riegel knarrend vorgeschoben war – eine Tür, die ihn für immer in die Vergangenheit einschloß. Lydia war von ihm gegangen. Der König hatte ihn verlassen. Er selbst war des Hochverrats angeklagt. Nur wenige, die dieses Vergehens bezichtigt waren, entkamen dem Strick des Henkers, der vierteilenden Axt und dem bauchaufschlitzenden Messer. Die geliebte Vergangenheit hatte sich in ein Ungeheuer verwandelt, und es hatte den Anschein, der Teufel trage mit fliegenden Fahnen den Sieg davon. Fenton war einsam und verzagt, aber … »Ich bin noch nicht am Boden«, sagte er laut. 425
»Was sagt Ihr da?« erkundigte sich Captain O'Callaghan. Gelassen zog Fenton den Ring von seinem Mittelfinger. Er hatte kein Verlangen, dem Captain die Bedeutung seiner Worte zu erklären. Wiederum spürte er ein geheimnisvolles Rascheln im Haus. Nachlässig, ohne sich umzudrehen, warf er den Ring über seine Schulter. Er hörte, wie er klirrend über den Boden rollte. »Giles«, sagte er, »laß ihn zusammen mit dem Schmutz aufkehren. Wie die Ehre des Mannes, der ihn mir gab, ist er keinen roten Heller wert. – Und nun, Captain O'Callaghan«, setzte er scharf hinzu, »was geschieht, wenn ich nicht die Absicht habe, mich greifen zu lassen?« »Meiner Treu!« entgegnete der Captain. »Dann werdet Ihr trotzdem verhaftet, ob es Euch paßt oder nicht. Ihr seid ein feiner, flotter Degenfechter, Sir Nicholas, wenn Ihr auf kräftigen Beinen steht. Aber was könnt Ihr jetzt gegen meine Dragoner ausrichten?« fragte er spöttisch. »Potz Geck!« rief plötzlich jemand mit lauter, aber lässiger Stimme. »Da sind einige unter uns, die der Ansicht sind, daß wir ziemlich viel ausrichten könnten.« Mit diesen Worten schlenderte George Harwell schweren Schrittes und mit weingerötetem Gesicht aus dem Speisezimmer. Sein Degen mit dem silbernen Griff hing in der Scheide. Doch in der rechten Hand trug er einen Pallasch wie der Captain selber. »Dies hier geht Euch nichts an, Sir, wer Ihr auch seid«, sagte Captain O'Callaghan und blickte ihn scharf an. Dann
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fügte er hinzu: »Ah, daß Gott erbarm! Ihr seid so betrunken wie ein Seemann!« »Ein wenig erfrischt«, entgegnete George, »mag ich wohl sein. Das löst die Zunge und verleiht dem Schwertarm Schwung.« Der einschneidige Degen pfiff zischend durch die Luft, als George ihn auf und ab schwang. »Aber glaubt Ihr wirklich, daß Ihr Nick Fenton ergreifen könnt, mein kühner Dragoner? Dann werft einen Blick hinter Euch und überlegt Euch die Antwort!« Als Fenton sich umdrehte, sah er Giles und Harry, den Hausknecht, hinter sich, der mit einem Armvoll glitzernder Waffen nahte. Harry drückte Giles einen alten zweischneidigen Degen mit Ringgriff und einen linkshändigen Dolch mit muschelförmigem Stichblatt in die Hand. Dieselben Waffen in den eigenen Händen, trat Harry ein paar Schritte zurück. Fenton sah Big Tom mit einem Knüttel auf der Schulter und einer schweren Feuersteinmuskete in der Hand aus der Küche heraufkommen. Hinter ihm tauchte Job, der Stallknecht, auf, der an einem Ledergehenk über der Schulter eine schwere Muskete und in jeder Hand eine Keule trug. Ihm folgten der breitschultrige Kutscher Whip und Sam, der Türhüter … Da Feuersteingewehre neu eingeführt waren und, an Stelle der alten Luntenschloßgewehre, nur an Eliteregimenter verteilt wurden, mußte Giles die vorhandenen Exemplare durch wohlüberlegte Bestechung erworben haben.
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»Sir Nick«, flüsterte Giles, »werft nur einen Blick auf die Treppe, die nach oben führt.« Obgleich keiner von ihnen die Treppe sehen konnte, hatte Fenton bereits leise, rasche Schritte gehört, und in der Halle erschienen fast geräuschlos alle männlichen Diener des Hauses. Sie trugen Degen aus der Rumpelkammer und fünf schwere Kavalleriepistolen. Selbst Dick, der Stalljunge, war dabei. Fenton wandte sich wieder um. Im Rahmen der offenen Haustür stand Captain O'Callaghan mit gespreizten Beinen und betrachtete das Bild, das sich ihm bot. »Dann seid Ihr also alle dem Verrat zugetan?« rief er. »Und gewillt, dem Befehl des Königs zu trotzen?« »Das nicht«, erwiderte George gelassen. »Wir verteidigen nur Nick Fenton.« »Aber ich sage Euch, Mann, es ist töricht! Warum tut Ihr das?« George brüllte zurück: »Zu lange hat Nick Fenton die Lasten des Kampfes allein getragen! Zu lange hat Gott oder der Teufel ihm Stiche in den Rücken versetzt! Zu lange hat er sich für die Interessen aller eingesetzt, nur nicht für seine eigenen. Und nun soll diese Mühe nicht vergeblich gewesen sein!« Von der Gruppe hinter ihm erhob sich ein mörderisches Geschrei, das als Beifallsruf gedacht war. Und draußen hinter den schattigen Linden, im Schein des Halbmondes, regten sich die Dragoner ebenfalls. Ein Pferd bäumte sich wiehernd auf. Jemand stieß einen kräftigen Fluch aus. Ein leichtes Getrappel wurde hörbar, 428
als der Kornett die Reihe entlangritt und einen Befehl erteilte. »Legt an!« Whip, Job, Big Tom, Sam und sogar Giles antworteten darauf mit einem wahren Freudengeheul. Hinter sich konnte Fenton das dumpfe Geräusch hören, als seine Anhänger die schweren Musketen zum Abfeuern auf die Gestelle legten. Fenton schossen mancherlei Gedanken durch den Kopf, und er bemerkte nicht einmal die offene Tür zum Salon, in der Meg York stand, die dort seit dem Augenblick gewartet hatte, als Fenton die Treppe herunterkam. Ihre Unterlippe war blutig gebissen, und der eigentümliche Blick in ihren Augen war schwer zu deuten. »Halt!« rief Fenton und hob die Hand. Mit dieser Bewegung machte das zornige Gemurmel, ja sogar das Knurren der Doggen, tiefem Schweigen Platz. Fenton ging allein auf den Captain zu. O'Callaghan, die Hand über dem Degengriff, beobachtete ihn vorsichtig. »Captain«, sagte Fenton mit ruhiger Stimme, »ich möchte …« Und dann geschah's. Die Schwäche überwältigte ihn. Ihm wurde schwindelig, und sein Fuß glitt auf den glatten Dielen aus. Zu seinem Entsetzen schlug er der Länge nach zu Boden und empfand die Demütigung als einen brennenden körperlichen Schmerz. Der Dragoner blickte auf das schwergeprüfte Gesicht des Mannes hinab, der krampfhaft versuchte, sich aufzurichten. Nach einem kurzen inneren Kampf fühlte der Captain seinen Zorn dahinschmelzen. 429
»Ach, hol's der Teufel!« murmelte er. Und dann mit schroffem Respekt: »Mit Verlaub, Sir Nicholas.« Damit beugte er sich über Fenton und half ihm wieder auf die Beine, während die rote Feder auf seinem breitrandigen Hut wie eine Schiffsflagge dippte. »Prinz Rupert selbst«, erklärte O'Callaghan mit lauter Stimme, »hat oft infolge von Wunden oder Nahrungsmangel Schwächeanfälle erlitten. Ihr braucht Euch deswegen nicht zu schämen … Bei Gott, Sir! Meine ganze Hochachtung, daß Ihr überhaupt hier seid!« Es war, als übten diese Worte eine seltsam besänftigende Wirkung auf alle Männer in der Halle aus. »Ich danke Euch für Eure Höflichkeit«, sagte Fenton. »Ich hatte Euch nur sagen wollen, daß meine Worte hastig und unüberlegt waren. Der Mörder meiner Frau …« Hier wurde Captain O'Callaghan abermals von Bestürzung erfaßt. »…der Mörder meiner Frau ist noch nicht der Gerechtigkeit überführt. Das muß ich erreichen, anstatt mich mit anderen herumzuschlagen. Ferner dürfen meine Diener kein Blut mehr für mich vergießen. Zum Schluß danke ich Euch für Eure Geduld, Sir, und ergebe mich als Euer Gefangener.« Captain O'Callaghan blickte zu Boden, dann zur Decke, in der Tat nach allen Richtungen, bloß nicht auf Fenton. »Nun«, sagte er schließlich verlegen, und abermals: »Nun!« »Ich bin bereit. Hm – darf ich vielleicht ein paar Bücher mitnehmen?« sagte Fenton. »Bücher?» fragte Captain 430
O'Callaghan verblüfft. »Ach so, Bücher. Hem! Nun, sie können Euch morgen geschickt werden, zusammen mit Kleidung und Bettzeug. Mittlerweile …« Im hinteren Teil der Halle herrschte plötzlich ein ziemlicher Tumult. Dann ließ sich die harsche Stimme des Kutschers Whip hören. »Sir«, rief er grimmig, »was soll mit der Pamphlin geschehen?« Fenton warf einen Blick über die Schulter und sah, daß sie Judith Pamphlin heraufgebracht hatten. Ihre Hände waren mit einer Kette auf dem Rücken gefesselt. Mit einem heftigen Stoß schob Whip die Frau nach vorn. Sie hatten ihr ein sauberes Kleid über den hageren Körper gezogen, um Spuren der Mißhandlung zu verdecken. Ihr Haar war wirr und hing ihr bis auf die Schultern herab. Das lange Gesicht war schmutzig und grün und blau geschlagen. Es hätte Mitleid erregen können, wenn in ihren lebhaften Augen nicht ein boshafter Haß gebrannt hätte. Fenton warf ihr einen kurzen Blick zu und kam zu einem Entschluß. »Sie ist nur ebenso fanatisch als Rundkopf wie ich als Kavalier«, sagte er und blickte zur Seite. »Laßt sie ungestraft in Frieden ziehen.« »Sir!« stieß Whip hervor. »Das ist mein Befehl.« Es wurde kein Protest mehr geäußert. Aber aus der Tiefe der Halle kam ein seltsames Fauchen, das sich sehr häßlich anhörte. »Laßt uns gehen«, sagte Fenton hastig. »Ich muß um Euren Degen bitten.« Wieder wurde Captain O'Callaghan puterrot vor Verlegenheit. »Das 431
heißt«, fügte er rasch hinzu, als er sah, wie Giles Collins leise vortrat und seinen Degen fester umklammerte. »Ihr braucht ihn nur hier zurückzulassen.« Langsam schnallte Fenton sein Degengehenk ab, und nur mit großem Widerstreben warf er Giles seinen Degen zu, der ihn geschickt auffing. »Ich werde ihn so bald nicht wieder brauchen«, sagte Fenton. »Das mag zutreffen. Und doch habe ich so eine Ahnung«, erwiderte Giles, »als ob es zu einem letzten großen Kampf käme.« Alle fuhren plötzlich zusammen. Ein heiserer Triumphschrei entrang sich Judith Pamphlins Kehle. »Ah, jetzt wird der stolze Mann als Verräter abgeführt«, rief sie, so daß die Männer unruhig mit den Waffen klirrten. »Sehet nur, er, der meine Herrin verführt hat, sich der Lust des Fleisches hinzugeben und ein sündhaftes Leben zu führen, ist durch die Macht des Herrn zu Boden geschlagen! Wie es im Buch der Offenbarungen geschrieben steht, soll er von dem Wein des Zornes Gottes trinken!« Die Frau zitterte in ihrer Ekstase so heftig, daß selbst die Kette rasselte, mit der sie gefesselt war. »Ich stehe zu Eurer Verfügung, Captain«, sagte Fenton. Spät an diesem Abend, lange nachdem Fenton mit den Dragonern davongeritten war, versammelten sich sämtliche Diener unten in der Küche. Sie bildeten einen Kreis um das rauchende Feuer, um über Judith Pamphlin zu Gericht zu sitzen. Wenig Worte wurden gewechselt. Keine Auspeitschung fand statt. Das Urteil bestand nur in einem 432
Kopfnicken. Big Tom griff sie bei den Haaren, hielt ihren Kopf und ihre Schultern über ein Holzfaß und schlitzte ihr langsam die Kehle auf, während die Ratten unbeachtet umherhuschten. Sie begruben sie im Hintergarten und legten die Rasenstücke so geschickt wieder an ihren Platz, daß keiner jemals hier ein Grab vermutete.
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XXI Einer der Löwen brüllte in dem Käfig. Dazwischen ertönte der durchdringende Schrei eines Panthers. Die Menagerie im Tower von London war dem Publikum gegen Entrichtung eines kleinen Eintrittsgeldes zugänglich. Laut erhob sich das Geschrei der Menge, wenn sie neugierig unter einem vom Rauch und Ruß der City verdunkelten Himmel dem langen Zwinger zustrebte. Colonel Howard hörte das Getümmel, als er den Postengang auf der südlichen Festungsmauer neben dem Fluß entlangschlenderte. Colonel Howard, der Vizegouverneur des Towers, hätte niemals beim Militär sein sollen. Das feingeschnittene Gesicht unter dem gewölbten Schädel war das eines Gelehrten oder eines Träumers. Colonel Howard war beides. Obgleich der Spätnachmittag sehr heiß war, hüllte er sich fester in den langen, bis zu den Füßen reichenden Mantel. Vor langer Zeit hatte er sich in den Niederlanden ein Fieber zugezogen, und ihm war daher oft kalt. Sein kurzer Spitzbart und kleiner Schnurrbart verliehen ihm ein spanisches Aussehen. Hinter ihm trampelte einer der Wärter, ein beleibter, hitziger Mann, in der seit Heinrich dem Achten traditionellen Tracht der Wärter: rotes Wams, rote Strümpfe und flache schwarze Samtmütze. »Colonel Howard«, zischte der Wärter mit geheimnisvoller Stimme. Dreist berührte er den Ärmel des Vizegouverneurs und steckte seine dicke Nase weit vor. »Was geht
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eigentlich vor sich? Was für Teufelswerk ist für diese Nacht geplant? Ist es Mord?« Colonel Howard betrachtete ihn mit leicht gerunzelter Stirn. »Habt Ihr denn etwas von Mord gehört? Wenn ja, dann sprecht Ihr reichlich spät.« Der Wärter wich, hastig protestierend, zurück. Ihm fehlten die Worte, um zu erklären, daß unter den Wächtern und Rotröcken dieser alten Festung ein Gerücht umlief, wonach heute abend etwas Schreckliches hier geschehen würde. »Kommt«, forderte ihn Colonel Howard voller Geduld, aber mit zusammengekniffenen Augen auf, »sprecht Euch offen aus!« Der Wärter deutete aufs Geratewohl auf den runden, gedrungenen, aus rauhen Steinen erbauten Middle Tower, den mittleren Turm der aus Türmen bestehenden Festung, dessen schwervergitterte Tür auf den Postengang hinausführte. »Sir Nick Fenton, der Teufel in Samt«, sagte er heiser, »ist seit zwei Wochen dort eingeschlossen. Bei Gott, Sir! Als sie ihn brachten, hielt ich ihn für einen alten Mann.« »Es ging mir genauso«, sagte Colonel Howard geistesabwesend. »Ah! Aber gutes Essen und Wein haben in zwei Wochen Wunder gewirkt. Er hat wieder Fleisch angesetzt und Muskeln entwickelt. Jetzt läuft er unruhig hin und her wie der Panther im Käfig. Und mit einem Blick … einem Blick …« Colonel Howard, der seinen Gefährten fast vergessen hatte, nickte, in Gedanken versunken. 435
»Als wenn er etwas Grauenvolles hinter sich hätte«, murmelte der Vizegouverneur, »was er eben erst überwunden hat. Die Erinnerung ist immer noch in seinen Augen aufgespeichert…« Der Wärter stand ganz verblüfft vor diesem Engländer mit dem Gesicht eines Spaniers. Mit dem Schaft seiner kurzen Partisane stieß er auf die alten Steine. »Mit Verlaub, Colonel, ein finsterer, häßlicher Blick ist ein finsterer, häßlicher Blick, weiter nichts! Aber wer unter uns hat schon von einem Gefangenen im Middle Tower gehört? Warum nicht der Beauchamp Tower wie üblich? Dort ist er fest und sicher. Aber im Middle Tower, dessen Tür direkt hier auf den Postengang führt? Und werft einmal einen Blick hierher!« Der fette, rotgekleidete Wärter lehnte sich in eine Scharte der Brustwehr. Unten lag ein langer Kai, der sich der ganzen Südseite der Festung entlangstreckte. Eine lange Reihe schwerer Geschütze aus Eisen oder Messing war zum Schutz gegen einen Angriff vom Fluß her aufgestellt. Damit aber der Fluß als ein natürlicher Festungsgraben diente, war der Kai weiter draußen, in einiger Entfernung von der Mauer, gebaut worden. Die Themse floß dunkel und gemächlich unter ihrer Dunstdecke dahin. Doch zwischen den Pfeilern des Kais und der Mauer zischte und schäumte das Wasser in weißen Massen. »Nur eine Tür«, meinte der Wärter, »steht zwischen dem Teufel in Samt und einem Sprung in die Tiefe. Wir könnten ihn wohl mit Musketen beschießen, ja, aber …« 436
Keuchend wandte er sich um und brach jäh ab. Colonel Howard hatte nicht einmal zugehört. Er stand da und betrachtete nachdenklich die aus rauhem Stein gebauten Türme innerhalb der Ringmauer. »Diese Steine sind zu alt und zu voll von Knochen«, sagte Colonel Howard. »Zu viele Männer sind hier gestorben. Ihr Geist geht in den Mauern um. William Brown, habt Ihr niemals Angst?« Der Wärter starrte ihn an. »Ich, Sir?« »Dann seid Ihr glücklich. Ich fürchte mich oft.« Löwengebrüll, vermischt mit dem Lachen von Kindern, schallte vom Zwinger herüber. Der Ausdruck im Gesicht des Vizegouverneurs änderte sich unmerklich, und Wärter Brown spürte eine seltsame Unruhe. »Was Eure Befürchtungen angeht«, murmelte Colonel Howard, »so tragt Ihr sie wohl besser Sir Robert vor.« Er meinte den Gouverneur des Towers, einen strengen Zuchtmeister. »Nun öffnet mir diese Tür zum Middle Tower und haltet draußen Wache, während ich mit dem Gefangenen spreche.« Der Wärter gehorchte. Sobald Colonel Howard eingetreten war, wurden draußen die Riegel klirrend wieder vorgeschoben. Der Vizegouverneur stand in einem runden Gemach mit Steinwänden, das zwar sehr heiß und bedrückend, aber doch recht geräumig war und Fenster hatte. Die Gefangenen im Tower litten selten so sehr wie die im Newgate-Gefängnis. »Ich bringe Euch eine Nachricht«, sagte Colonel Howard zu Fenton. 437
Dieser stand mitten im Raum an einem Tisch. »Eure Nachricht habe ich längst erraten«, sagte er finster. »An dem Abend als sie mich verhafteten, war ich zu erschüttert, um nachzudenken. Aber ein Freund – nennen wir ihn Mr. Reeve – hatte mich bereits gewarnt vor dem, was geschehen könnte. Nun bin ich angeklagt, der Führer einer katholischen Verschwörung zu sein, die sich mit Blut und Feuer gegen London richtet. Beachtet bitte, wie gut sich alles zusammenreimt: von einer sogenannten katholischen Mätresse bis zu einer französischen Köchin namens Madame Taupin, einer Katholikin. Man riet mir sogar, eine Audienz beim König zu suchen, der mich dann selbst zu einer Audienz einlud. Und nun bin ich hier.« Ohne etwas darauf zu erwidern, zog Colonel Howard einen Stuhl hervor und nahm am Tisch Platz, auf dem mehrere lange Tonpfeifen mit einer irdenen Tabakschale und ein Haufen Bücher lagen. »Nein«, entgegnete er schließlich, »das ist nicht meine Nachricht.« Dann setzte er hinzu, als ob es belanglos wäre: »Ich glaube, ich habe Euch jeden Tag seit Eurer Einkerkerung besucht.« »Wofür ich Euch von Herzen dankbar bin.« »Wir haben uns über Geschichte, Literatur, Architektur, Astronomie unterhalten…« Colonel Howard seufzte beinahe, und sein Blick glitt liebevoll über die Bücher. »Nein, das Vergnügen war ganz meinerseits! Doch haben wir nie über Eure – persönlichen Angelegenheiten gesprochen.« »Nein. Niemals.«
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»Ich wage anzunehmen«, sagte Colonel Howard und blickte Fenton mit scharfen, durchdringenden Augen an, »daß Ihr jetzt allen Menschen auf dieser Erde Mißtrauen entgegenbringt.« Fenton zuckte nur die Achseln, ohne etwas zu erwidern. Er war so angespannt wie ein lauernder Panther. »Na, ich bin nicht neugierig!« versicherte ihm Colonel Howard. »Aber ich darf wohl vermuten«, setzte er gelassen hinzu, »daß Ihr mindestens einmal dem Teufel begegnet seid. Habe ich recht?« Fenton, der den Colonel ebenfalls anstarrte, spürte die erste Besorgnis seit vielen Tagen. Unwillkürlich legte er die Hand über die Augen. »Fürchtet niemals Verrat von mir!« sagte Colonel Howard sanft. »Da Ihr jedoch keinem Menschen mehr traut, werdet Ihr mir wahrscheinlich nicht glauben.« Nachdenklich fuhr er fort: »Ich selbst bin dem Teufel noch nie begegnet. Aber ich weiß, daß er existiert, über die Erde geht und jeden Augenblick in unserer Mitte auftauchen kann.« Fenton lächelte nur wie über einen kleinen Scherz. »Ihr sagtet doch«, erwiderte er höflich, »daß Ihr eine Nachricht für mich hättet.« »Stimmt, stimmt.« Colonel Howard blickte rasch um sich und stand hastig auf. »Laßt uns etwas abseits ans Fenster treten.« Die ehemaligen Schießscharten waren schon zu Zeiten der Tudors in Fenster verwandelt worden. Sie waren allerdings klein und schwer vergittert. Colonel Howard trat mit Fenton an ein Fenster, das nach Westen 439
blickte. Unter ihnen lag ein Wallgraben. Ein Damm führte über den Graben zum Byward Tower, und dahinter lag der Zwinger mit den lärmenden Menschen. »Nun vergeßt den Teufel«, sagte Colonel Howard mit sehr leiser Stimme. »Ich bringe Euch eine private Botschaft von Sir Robert selbst. Heute abend, zu später Stunde, werdet Ihr einen Besucher haben.« »Wirklich?« Fentons Herz klopfte schneller. »Was für einen Besucher?« »Eine Dame. Oder vielleicht auch nur eine Frau. Ihr Name oder Rang ist mir nicht bekannt.« »Eine Frau?« »S-ss-t! Dicht an der Tür, die auf den Postengang führt, ist ein Fenster, und draußen steht ein Wärter, der sich verzehrt vor Neugierde.« »Aber nein, dieser Besuch! Innerhalb des Towers? Nach dem Zapfenstreich?« »Ich kann Euch nur sagen, was mir aufgetragen worden ist«, erwiderte der Colonel. In seine Augen trat vorübergehend ein belustigter Blick. »Sir Robert weiß auch nicht viel mehr; das nehme ich jedenfalls an. Dieser kleine Betrug konnte nur von jemandem in hoher, machtvoller Stellung arrangiert werden.« »Aber was ist der Zweck dieses Besuches?« erkundigte sich Fenton. »Ich kann mir nicht vorstellen«, setzte er ironisch hinzu, »daß der Wirt dieses guten Gasthauses mir sogar ein Frauenzimmer zur Verfügung stellt, um mich zu belustigen.« 440
»Nein, das ginge zu weit.« In verändertem Ton fuhr Colonel Howard fort: »Man hat mich nur instruiert, Euch zu sagen, daß sie Euch eine Botschaft von äußerster Wichtigkeit bringen wird. Ihr werdet zuhören und ihr gehorchen. Sie ist zuverlässig …« »In der Tat?« »… und handelt in Eurem Interesse. Das ist alles.« Colonel Howard gab jetzt den Flüsterton auf und fuhr in normaler Stimme fort: »Möchtet Ihr nun wohl etwas Neues hören über einen Freund, den Ihr vorhin erwähntet und der sich, wie ich vernehme, in einer gewissen Angelegenheit mächtig für Euch eingesetzt hat? Mr. Jonathan Reeve?« »Mr. Reeve!« rief Fenton und umklammerte die Eisenstäbe am Fenster. Er war wirklich erfreut. »Was könnt Ihr mir von ihm berichten?« »Er ist belohnt worden, Sir Nicholas. Genau Eurem Wunsch entsprechend.« »So? Und von wem?« »Von Seiner Majestät, dem König.« »Ich bitte Euch um Verzeihung, Colonel Howard. Aber ich gestatte mir, das anzuzweifeln.« »Nehmt Euch in acht, Sir Nicholas«, warnte sein Gefährte. »Ich kann viel verzeihen… doch bin ich immer noch ein Offizier des Königs und Vizegouverneur des Towers.« »Wie Ihr mich doch erschreckt!« sagte Fenton spöttisch. »Vor vierzehn Tagen war ich krank und beschämt. Jetzt bin ich wieder bei Kräften. Ruft Eure Wachen, mein guter Herr, und dann wollen wir mal sehen, was ein Mann mit 441
einem Tischbein oder Stuhl gegen sie ausrichten kann.« Colonel Howard hörte nicht einmal zu. »Dann möchtet Ihr also nicht hören, wie Euer guter, standhafter Freund schließlich zu seinem wohlverdienten Lohn kam?« sagte er ruhig. Fenton blickte zögernd zu Boden. Dann nickte er. Colonel Howard kehrte wieder zum Tisch zurück, wo er sich hinsetzte und einen Band von Juvenals Satiren in die Hand nahm. »Ich selbst war Zeuge dieser Szene«, sagte er, während er müßig in dem Buche blätterte. »Ich verlasse den Tower nur selten. Vor zwei Tagen aber schickte mich Sir Robert mit einer Nachricht zum König. Seine Majestät spielte mit mehreren anderen in der Mall, unterhalb der grünen Terrassen, das Mailspiel. Plötzlich gab der König ein Zeichen, und das Spiel wurde abgebrochen. Ich sah, wie dieser Jonathan Reeve, von Mylord Danby gestützt, auf seinen gichtgeschwollenen Beinen herankam. Er wußte nicht, was ihm bevorstand. In seinem schäbigen Gewand humpelte er direkt auf den König zu; in stolzer Haltung, bis er am Ziel war. Dann fiel er sofort aufs Knie und beugte sein greises Haupt tief herab. Ein paar der Umstehenden fingen an zu lachen; doch ein Blick des Königs ließ sie verstummen. Der König selbst, dessen Rock und Perücke mit Staub bedeckt waren, schien zuerst ein wenig verlegen. ›Nein, ich schlage Euch nicht zum Ritter‹, sagte er. Dann klang seine gewaltige Stimme wie eine Trommel. ›Aber steht auf, Graf von Lowestoft, Vicomte Stowe, und nehmt Euren angestammten Platz wieder ein. Die Rückgabe des Titels und der Güter ist nur eine armselige 442
Belohnung für einen, der sich bewährt hat wie Ihr.‹ Und Jonathan Reeve, Graf von Lowestoft, flüsterte nur ein einziges Wort: ›Majestät!‹ Alle drängten sich um ihn herum, um ihm zu helfen und ein paar höfliche Worte mit ihm zu wechseln. Aber kaum eine Viertelstunde später war er tot.« Colonel Howard hielt inne. Dann warf er plötzlich den Band von Juvenals Satiren mit einem Knall auf den Tisch, daß der halbhypnotisierte Fenton erschreckt auffuhr. »Tot?« wiederholte Fenton. »Allerdings.« »Warum so schnell?« »Nun, der Mann war achtzig«, erwiderte Colonel Howard. »Diese Gunstbezeigung nach jahrzehntelangem Leben im Elend hat er nicht überstanden. Auf der Heimfahrt in des Königs eigener Kutsche schien er friedlich zu schlummern, bis der Kutscher plötzlich einen schwachen Schrei vernahm: ›Mit Gott für König Charles!‹ Mit diesen Worten auf den Lippen ist er gestorben.« Fenton ging langsam zu seiner Pritsche. Er setzte sich auf die Strohmatratze und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Auch ich sehne den Tod herbei, seit vielen Jahren – seit dem Augenblick, als meine Frau schreiend in dem Großen Feuer umkam«, sagte der Colonel leise. »Ihr hattet also eine Frau?« fragte Fenton. Er erhob sich von seinem Lager und trat an den Tisch, wo er mit einem seltsamen Blick auf seinen Gefährten herabblickte. »Auch ich hatte eine Frau«, fügte er hinzu. »Sie ist ebenfalls tot. Man hat sie vergiftet.« 443
»Vergiftet?« Aus Colonel Howards Blick war deutlich zu lesen, daß dieses Geheimnis gut gehütet worden war. Keine Behörde wußte davon. »In dieser Zelle, die Ihr mir zur Verfügung gestellt habt«, stieß Fenton hervor, »habe ich viel darüber nachgedacht. Ich kann Euch sagen, wer meine Frau vergiftet hat. Ja, ich kann es sogar beweisen! Aber es ist mir nur möglich, wenn ich schreiben oder mich mit meinen Freunden außerhalb des Towers in Verbindung setzen darf. Bisher hat man mir keinen Besuch gestattet. Man hat mir nicht einmal Tinte, Feder und Papier gelassen. Warum eigentlich nicht?« »Das kann ich nicht sagen. Es wurden mir keine Gründe genannt.« Fenton rüttelte an dem Tisch, bis die Bücher zu Boden fielen. »Ihr habt gehört, Sir, daß ich die gegen mich erhobenen Anklagen erraten habe. Laßt mich die Liste der Anklagen noch verlängern. Hört zu! Habe ich nicht vor dem Mob, der mein Haus angriff, ausgerufen, daß ich ebensogut ein Katholik sein könnte? Habe ich nicht die Frage des Führers, ob ich die Gabe besitze, die Zukunft vorauszusagen, mit ›ja‹ beantwortet?« »Hm! Habt Ihr etwa auch von irgendeinem Pakt mit dem Teufel gesprochen?« »Nein. Aber ich wäre durchaus dazu imstande gewesen.« »Das will ich gern glauben, bin aber nicht im geringsten darüber erzürnt.«
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»Colonel, ich bin kein Verräter! In dieser Welt habe ich nur das Verlangen, die Person, die meine Frau vergiftet hat, der Gerechtigkeit zuzuführen. Darf ich nicht einen Brief oder wenigstens eine mündliche Botschaft von hier senden?« »Es steht nicht in meiner Macht, es zu erlauben.« »Darf ich dann um eine Unterredung mit dem Gouverneur des Towers bitten?« »Certes, Sir Nicholas, diesen Antrag dürft Ihr stellen.« »Mit anderen Worten«, sagte Fenton und beugte sich über ihn, »meine Bitte wird nicht gewährt?« »Ich habe keine Instruktionen.« Obgleich Colonel Howard sich nicht im geringsten vor dem Gefangenen fürchtete, stand er auf und stellte sich hinter seinen Stuhl. »Ich bedaure sehr«, sagte er, »aber meine Zeit hier ist um.« Zum erstenmal erhob er die Stimme: »Wärter! Öffnet mir die Tür!« Draußen vor der Tür wurde das Rasseln eines Schlüsselbundes laut. »Unsere Unterhaltungen über Geschichte und Poesie«, bemerkte Colonel Howard mit Wehmut, »haben mich sehr ergötzt. Ich hege keinen Groll gegen Euch. Denkt an meine Worte: eine Frau wird Euch zu später Stunde aufsuchen. Tut, was sie verlangt.« Ein schwerer Schlüssel drehte sich im Schloß, und in dem Türspalt erschien die scharfe, glänzende Klinge der Partisane des Wärters. »Denkt daran!« sagte Colonel Howard zum zweitenmal. Als er mahnend den Finger hob, besaß er eine unheimliche 445
Ähnlichkeit mit Charles dem Ersten auf dem Schafott. »Ihr habt weniger Zeit, als Ihr glaubt.« Die Tür schloß sich hinter dem Vizegouverneur und wurde abermals verriegelt. Fenton starrte darauf und fühlte alle Hoffnung dahinschwinden. Vierzehn lange Tage hindurch hatte er versucht, Colonel Howards Vertrauen zu gewinnen. Er kehrte zu seinem Lager zurück und setzte sich nieder. Von dem Pfad her, der durch den Bogen zur anderen Seite des Middle Towers führte, konnte er das Trampeln und Scherzen der Besucher hören, die sich in Begleitung eines Wärters den Tower ansehen durften. Von der Menagerie erschallte das Husten und Bellen einer Hyäne. Der lange Nachmittag mit seinem von Rauch verdunkelten Licht ging zu Ende. Es wurde Zeit für die Menschenmenge, nach Hause zu gehen. Bald würden die Abendschatten auf das graue Gemäuer fallen. Immer, wenn Fenton allein war, weilte er in der Phantasie bei Lydia. Sie war jetzt zurückgekehrt, um ihn zu beruhigen. Meistens erschien sie ihm, wie er sie an jenem Abend beim Glanz des Silbers und der Wachskerzen gesehen hatte, während Mr. Reeve das alte Liebeslied leise auf der Zither erklingen ließ. Sie saß auf dem Stuhl, den vor kurzem Colonel Howard eingenommen hatte. Der Blick ihrer blauen Augen war liebevoll, aber traurig. Ein heller Schimmer lag auf ihrem braunen Haar. Die halbgeöffneten Lippen versuchten zu lächeln. Ihre Hände waren gefaltet und die Arme ihm ein wenig entgegengestreckt. Und Fenton sprach laut mit ihr. »Warte auf mich, vergiß es nicht. Es war bitter, daß es mir nicht gelang, den Vizegouverneur zu überreden. Es 446
macht aber nichts. Ich bin noch nicht geschlagen. Da ich den Namen des Giftmischers kenne…« Fenton hielt inne, voller Bedauern, daß er diese Worte gesprochen hatte. Denn Lydia floh bei dem Wort »Giftmischer«, obwohl sie einen verzweifelten Versuch zu machen schien, seine Hand zu berühren. Seine Phantasie erlaubte ihm nicht, sie zu sehen, wenn er an Gift dachte. Aber der Giftmischer war natürlich Kitty Softcover, seine frühere Köchin. Seine Phantasie ließ Kitty, die Dirne von Alsatia, vor ihm erscheinen: klein, in schmutziger Kleidung mit ihrem schönen roten Haar und der feinen weißen Haut, aber mit schlechten Zähnen und gierigen Augen, die immer nach Diamanten und Smaragden schielten. »Alte Schlampe«, redete er sie an, »dich habe ich vom ersten Augenblick an in Verdacht gehabt und auch mit Giles darüber gesprochen. Ich fand am Schloß der Haustür Spuren der Seife, mit der du einen Abdruck für einen Schlüssel genommen hattest, und gab sofort Anweisung, einen Riegel von innen anbringen zu lassen. Aber es ist vergessen worden, wie ich feststellen mußte, als Captain O'Callaghan mich als Gefangenen abführte.« Es war ihm, als ziehe Kitty haßerfüllt ihre Oberlippe zurück und winde sich gleichzeitig wie eine Schlange, um ihn zu betören. »Aber wo hättest du alte Schlampe eine neue große Portion Arsenik bekommen können, um Mylady zu vergiften? Erst hier im Tower habe ich wieder an meinen Besuch mit Lord
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George im Laden des Apothekers William Wynnel in der Totenmannsgasse gedacht.« In Gedanken hörte er Kitty lachen. »Es war deutlich zu merken, daß der alte Mann in dich vernarrt war. Wärest du zu ihm zurückgekehrt, hätte er dir zum zweitenmal so viel Gift gegeben, wie du wünschtest. Darauf möchte ich jede Wette eingehen, Schmeichelkatze. Du hast mich und meine Frau gehaßt. Hast du nicht vor meinen Augen eine Schale Sektmolke mit Arsenik vergiftet? Am Abend des 10. Juni bist du in mein Haus gekrochen. Vielleicht, um zu stehlen? Du bist aber geblieben, um zu töten. Meine Freunde brauchen nur Magister Wynnel zu ergreifen und die Wahrheit aus ihm herauszupressen. Dann können wir dich dem Richter aushändigen.« Aber Kitty war verschwunden, weil Fentons Gedanken stockten. Er fuhr sich mit der Hand über die feuchte Stirn, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und versuchte wieder nachzudenken … Fast sofort – so kam es ihm wenigstens vor – schien eine innere Stimme klagend zu rufen: »Nimm dich in acht, nimm dich in acht, nimm dich in acht!« Fenton setzte sich aufrecht hin und spürte bei dieser Bewegung einen heftigen Schmerz in seinen verkrampften Schultern. Vorübergehend glaubte er, in pechschwarze Finsternis gehüllt zu sein. Doch als er seine Augen öffnete, sah er, daß der Vollmond durch die vergitterten Fenster schien und alles im Raum deutlich erkennen ließ. Er mußte wohl geschlafen haben. Im Tower war kein Laut zu hören, nicht einmal ein Flüstern, nur das leise Plätschern des Wassers unten in der Tiefe. 448
Die Stille war unheimlich. Lautlos – als hätte er Angst – schob er sich an den Bettrand und stand auf. Auf Zehenspitzen ging er eine Zeitlang im Kreise umher, als ob ein Feind in einem schattigen Winkel lauere. Es waren drei Fenster im Raum: eins ging nach Westen, eins nach Süden, auf den Fluß hinaus, und eins nach Nordosten. Die Luft war jetzt kühl. Geräuschlos schlich sich Fenton an das Nordostfenster. Er konnte keine einzige Laterne leuchten sehen, wohin er auch blicken mochte. Auch in den Türmen des Towers war kein Licht, nicht einmal im Wakefield Tower, in dem der Gouverneur seine Wohnung hatte. Selbst die Raben in den Bäumen auf dem Tower-Anger mußten jetzt schlafen. Fenton erschauerte. Geräuschlos schlich er sich an das Südfenster, das über den Fluß hinausblickte. Selbst die Themse schien leer, abgesehen von einigen Fahrzeugen, die etwa dreihundert Meter entfernt an dem gegenüberliegenden Ufer vertäut lagen. Ein größeres Schiff, ein Rahsegler, hatte zwei grüne Laternen an der Rahe seines Großmastes. Jetzt konnte Fenton das Zischen der weißen Wassermassen unter dem Kai und an der Mauer hören. Aber sonst keinen Laut. Halt! Da war ein anderes Geräusch. Irgend jemand bewegte sich sehr leise über den Postengang auf seine Tür zu.
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XXII Fenton hob den schweren Stuhl auf, der an dem Tisch stand, schwang ihn in der Hand und fand, daß er als Waffe genügte. Er trug ihn auf Zehenspitzen zu einem halbdunklen Winkel jenseits des Westfensters und wartete. Mit äußerster Vorsicht wurde erst der eine, dann der andere Riegel zurückgeschoben. Aufgepaßt, dachte Fenton und umklammerte, vor Erregung zitternd, den Stuhl fester. Zuerst dachte er an Meuchelmord. Aber wenn er auch unwiderruflich in der Vergangenheit eingekapselt war, so lebte er doch schließlich unter Charles dem Zweiten und nicht unter Richard dem Dritten. Die Zeiten waren vorbei, wo in den tiefen Verliesen des Towers unglückselige Menschen unter der Folter schrien oder schwarzgekleidete Männer mit geschwärzten Gesichtern die enge Todestreppe zum Bloody Tower, dem Blutigen Turm, hinaufschlichen. Jetzt wurde ein großer Schlüssel ins Schloß gesteckt, und als er sich langsam drehte, schnappte das Schloß zurück wie der Hahn einer leeren Muskete. Ein heller Streifen Mondlicht fiel auf den Boden, als sich die Tür öffnete. Fenton konnte seinen Besucher atmen hören. Es war eine Frau, die ein langes schwarzes Cape mit runder, spitzenbesetzter Kapuze trug. Fenton stellte den Stuhl wieder auf den Boden. Er hätte sich denken können, wer kommen würde. Es war Meg York, aber eine in undefinierbarer Weise veränderte Meg York. Vielleicht war das Mondlicht daran 450
schuld. Sie legte den Schlüssel auf den Tisch und schob die Kapuze zurück. Ihr Haar fiel in langen schwarzen Locken auf ihre Schultern herab, und ihr Gesicht, das keine Spur von Härte oder Ironie zeigte, war das Gesicht Mary Grenvilles. Fenton überlief ein kalter Schauer, weil es ihm wie eine Maske erschien. Meg behielt eine Hand unter dem Cape, als trage sie eine Waffe. Unwillkürlich tasteten seine Hände wieder nach dem Stuhl. Lautlos kam sie auf Fenton zu und blieb dicht vor ihm stehen. Es schien Mitleid und Verständnis in ihren Zügen zu liegen, was ihm bei einer Maske unheimlich vorkam. Als sie ihn anredete, geschah es fast im Flüsterton. »Ich weiß, du kannst keine Zärtlichkeit für mich empfinden. Dennoch mußt du tun, was ich dir sage, denn ich bin hier, um dir zu helfen.« Fenton blickte sie nur schweigend an. »Ich sage dir«, drängte sie, »du mußt dich eilen! Du hast keine Stunde zu verlieren, wenn du nicht sterben willst. Das schwör' ich dir!« »Nun, ich glaube nicht. Sie halten mich zwar in Haft wegen Hochverrats, das gebe ich zu …« »Aber …!« »Aber im Hinblick auf Sir Nicks hohen Namen und Stand und seine Würde als Parlamentsmitglied können sie mich nicht einfach wie einen Verbrecher ins NewgateGefängnis werfen. Sie müssen einen parlamentarischen Strafbeschluß im Unterhaus gegen mich erwirken, und das Parlament, mein Liebling, wird erst im Jahre 77 einberufen.« 451
»Wenn du nicht innerhalb einer Stunde entkommst«, sagte Meg, »ist alle Hoffnung dahin.« Sie blickte ihn sehnsüchtig an. »Kannst du mir denn kein Vertrauen schenken?« Fenton verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. »Wieder einmal?« fragte er höflich. Meg schloß die Augen und preßte eine Hand aufs Gesicht, als wolle sie sich mit dieser leidenschaftlichen Gebärde eine gewaltige Macht aneignen. »Soll ich wieder mit dem Tode liebäugeln«, sagte er, »indem ich deiner Wärme und deinem Verlangen traue? Was bist du schon? Ein Dämon der Unterwelt, dessen wahre Berührung so kalt wie Eis ist. Und wo ist dein Meister?« »Mein …?« »Ich meine den Teufel. Er muß doch sicher in unserer Nähe sein. Halt, ich habe eine Idee: ruf ihn herbei, mein Liebling! Ich möchte eine dritte Audienz bei ihm haben und ihn besiegen wie vordem!« Meg, von Schrecken erfaßt, blickte sich ängstlich um und sank fast auf die Knie. »Schweig!« flüsterte sie. »Du darfst nicht solche Worte sprechen! Ich bitte dich!« Fentons Gesicht war verzerrt wie eine Totenmaske. »Nun, ist er uns denn so nahe?« »Er ist weit, weit fort und hat dich vergessen. Du bedeutest ihm nicht mehr als ein Tropfen Wasser im Ozean. Er hat mir versprochen …« 452
»Versprochen?« »Er hat mir versprochen«, sagte Meg, »daß er dich nicht mehr belästigen will. Aber wenn du ihn rufst oder sagst, du habest ihn besiegt…« »Ich habe ihn zumindest halbwegs geschlagen. Seine Sticheleien und sein Zorn haben mich allerdings in Furcht aus dem Haus getrieben, während du halbnackt auf der Ottomane saßest und mich haßtest, weil ich fortging. Aber meine Furcht galt Lydia. Die Geschichte hat gewonnen, nicht der Teufel. Du hast selbst gehört, wie dein Meister voller Wut eingestand, daß ich meine Seele gerettet hätte. Das war mein Sieg.« »Schweig! Schweig!« Plötzlich wandte sie den Kopf von einer Seite zur anderen. »Horch! Was war das für ein Geräusch?« fragte sie. »Die Löwen da draußen«, meinte er, »sind wohl etwas unruhig. Ich habe sie schon öfters in der Nacht gehört. Vielleicht wittern sie deine Gegenwart – große und kleine Katzen, sie ziehen sich gegenseitig an.« »Nenne mich, wie du willst«, sagte Meg. »Doch im Grunde bin ich Mary Grenville, wie du Nicholas Fenton aus Cambridge bist. Ich, die ich dir in die Vergangenheit folgte, kann nicht anders, ich muß dich lieben. Und ich will dich nicht sterben sehen.« Abermals preßte sie eine Hand vors Gesicht. »Ach, mir steht bald der Verstand still! Aber wenn ich dir einen Beweis für meine guten Absichten erbringe, willst du mich dann anhören?« Sie trat näher an ihn heran und hob die klaren grauen Augen zu ihm auf, die
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so offensichtlich ohne Falsch waren und ihn stets aus der Fassung brachten. »Ich … ich will dich anhören.« »Na also! Ist denn die Tür deines Kerkers nicht unverschlossen?« fragte sie mit einer Geste ihrer freien linken Hand. »Du bist ein weitaus besserer Schwimmer als ich, obwohl ich auch nicht als schlecht galt in jenen Tagen, als wir noch zusammen in Richmond schwammen. Spring von der Festungsmauer, schwimme unter dem Kai durch, und dann bist du frei!« »Frei! Und wo soll ich dann bleiben?« »Hast du an diesem Abend schon einmal aus dem Südfenster deiner Zelle geblickt?« »Allerdings.« »Hast du dann nicht ein großes Schiff am anderen Ufer bemerkt? Mit zwei grünen Laternen an der … an der … ach, ich kann diese Namen nicht alle behalten.« »Macht nichts. Das Schiff ist mir aufgefallen. Und was für eine Bewandtnis hat es damit?« »Es ist die Prince Rupert, das Linienschiff Seiner Majestät«, erwiderte Meg, »das etwa sechzig Geschütze an Bord hat. Es ist deinetwegen dorthin beordert. Du brauchst nur dreihundert Meter zu schwimmen und bist in Sicherheit. Das Schiff wird dich zu irgendeinem Hafen in Frankreich bringen, den du dir aussuchst.« Fenton starrte sie ungläubig an und wollte sprechen. Doch Meg legte ihm die Hand auf den Mund. »Ich habe noch mehr zu berichten«, sagte sie mit bebender Stimme. »In dieser Nacht sind alle Wärter und 454
Soldaten des Towers bis auf ein paar Posten zu einem großen Trinkgelage in die Wohnung des Gouverneurs im Wakefield Tower befohlen. Dort sitzen sie jetzt hinter verhängten Fenstern. Dieses Geheimnis ist nur dem Gouverneur und zum Teil auch Colonel Howard anvertraut. Falls dich nicht ein Posten erspähen sollte, ist die Bahn frei!« »Ich bin entzückt«, erklärte Fenton ausdruckslos. »Nun, wer hat denn eigentlich ein Linienschiff für meine Wenigkeit hierher beordert und den Gouverneur des Towers zu einer Pflichtverletzung verleitet?« »Der König selbst!« Als Meg diese drei Worte gesprochen hatte, schrak sie vor Fentons kaltem, höflichem Blick zurück. »Nun«, sagte er lachend, »dann spielt der König ein höchst erstaunliches Spiel. Mit einer Hand wirft er mich in den Tower, und mit der anderen errichtet er ein kompliziertes Gefüge, um mich herauszubekommen. Wäre es nicht einfacher gewesen, wenn er mich gleich freigelassen hätte?« »Nein! Nein! Gebrauche deinen Verstand! Du hast doch eine Audienz beim König gehabt, nicht wahr?« »Ganz recht.« »Dann mußt du doch wissen, daß er offiziell mit keiner Maßnahme etwas zu schaffen haben will. Mit keiner. Und Mylord Shaftesbury ist seit über vierzehn Tagen wieder in London. Lieber Dummkopf, der König hat dich nicht in den Tower bringen lassen, um dir zu schaden. Er tat es, um dich zu retten!« 455
»Um mich zu retten?« Fenton hielt inne. »Fast überzeugst du mich.« »Lieb Herz«, sagte Meg, und diese Anrede bestürzte ihn. Ihre Augen verdunkelten sich; so tief war sie bewegt. »Ich hatte gehofft, du würdest mir Vertrauen schenken. Es war dumm von mir. Möchtest du nun Beweise?« »Ja!« Meg fuhr mit der linken Hand unter das Cape, wo sie ganz offensichtlich eine Waffe verborgen hielt. Sofort schwang Fenton den schweren Stuhl in die Höhe, um ihr den Schädel zu zertrümmern, falls sie mit Dolch oder Degen zustoßen sollte. Dann begann der Stuhl in seinen Händen zu wackeln. Denn was Meg ihm reichte, war ein schwerer, gefalteter Briefbogen. Sie hielt aber noch einen zweiten Gegenstand unter ihrem Cape versteckt. Zwischen Glauben und Mißtrauen hin und her gezerrt, ließ Fenton den Stuhl sinken. »Schon einmal«, flüsterte Meg, erschrocken lächelnd, »hättest du mich beinahe mit einem Stuhl getötet. Weißt du noch: in meinem Schlafzimmer in deinem Haus? Und ich hätte dich aus Eifersucht fast mit einem Dolch erstochen. Macht nichts.« Sie entfaltete den Bogen. »Es ist hell genug, um zu lesen, was hier geschrieben steht.« Hastig nahm er den Bogen und trat damit in das weiße, strahlende Mondlicht, das durch das Westfenster in den Raum flutete. Obgleich keine Unterschrift vorhanden war, so war es doch unverkennbar die Handschrift des Königs. »Sir N. F., Ihr hättet eigentlich Vertrauen zu mir haben sollen. Aufrichtig gesprochen, seid Ihr mir viel zu nützlich, 456
um Mylord S. in die Hände zu fallen. Auch stehe ich in Eurer Schuld, weil ich Euch irregeführt habe. Leider wurde ich hintergangen, und ich war sehr aufgebracht, als ich davon erfuhr. Ich beziehe mich auf die falsche Anklage gegen Eure Gemahlin. M. Y. wird Euch von einem großen Schurken erzählen. Gehorcht ihr. Ihr dürft bald zurückkehren. Vernichtet diesen Brief.« Fenton senkte den Kopf. Langsam zerriß er den Brief in sehr kleine Stücke und ließ sie durch die Eisenstäbe hindurch in den Wallgraben flattern. Er mußte sich mehrere Male räuspern, ehe er sprechen konnte. »Meg, ich verstehe dies alles nicht. Irgendwie bin ich zu einer kleinen Marionette in dem Theater der Politik geworden. Du hast recht. Ich muß gehen.« Meg, der die hellen Tränen über die Wangen liefen, zog jetzt die rechte Hand aus dem Cape. Was sie ihm diesmal entgegenhielt, war sein Clemens-Hornn-Degen in der alten, mit genarbtem Leder überzogenen Scheide, dessen dünne Ketten leise gegen das Degengehenk klirrten. »Meg!« Fenton holte tief Atem. Als er sich das Degengehenk umschnallte, fühlte er sich in so gehobener Stimmung, wie er sie lange nicht gekannt hatte. Er machte zwei energische Schritte auf die unverschlossene Tür zu. Dann aber zögerte er und kehrte zu Meg zurück. »Liebe Meg, ich muß dir gegenüber ehrlich sein«, sagte er. »Ich werde entfliehen, ja. Aber – aber ich habe nicht die Absicht zu dem Kriegsschiff zu schwimmen.« 457
Megs Augen weiteten sich in ungeheurem Entsetzen. »Nein!« rief er so laut, daß der Klang in dem steinernen Gemach widerhallte. Fenton wunderte sich im stillen, ob nicht irgendein unsichtbarer Posten es gehört hatte. Meg umklammerte seine Arme. »Das geht nicht!« flüsterte sie. »Sonst machst du alles zunichte!« »Meg, hör mich an. Als sie mich hierherbrachten, war es meine erste Absicht, Briefe an Giles oder gar George Harwell zu senden, um ihnen zu sagen, wer Lydia vergiftet hat. Meg, diese Übeltäterin war Kitty Softcover; keine andere! Danach wollte ich mir eine Waffe beschaffen, mich auf meine Wächter stürzen und in ehrlichem Kampf sterben, um so … hm … wieder mit Lydia vereint zu sein. Was habe ich denn noch vom Leben zu erwarten?« Meg rüttelte ihn heftig am Arm. »Nein! Nein! Nein!« »Aber jetzt«, flüsterte Fenton, »habe ich einen Degen. Ich kann entfliehen, die Schuld dieser Dirne von Alsatia beweisen und dann ein Dutzend Green-Ribbon-Leute zum Kampf reizen, um mein Ziel zu erreichen. Es steht zwar in Giles' Manuskript, daß ich erst 1714 sterbe. Aber ich glaube, das Dokument ist eine Fälschung oder eine Fopperei.« »Ganz recht», erwiderte Meg, und ihre Zustimmung war ein Schock für ihn trotz seiner eigenen Worte. Aber sie ging nicht weiter darauf ein. »Sag mir eins«, bat sie in einem so seltsamen und heftigen Ton, daß ihm angst und bange wurde. »Sag mir, habe ich mich als zuverlässig erwiesen?« 458
»Nun … wer könnte es leugnen?« Sie ließ seinen Arm los und rannte zum Westfenster. Sie schien die Stellung des Mondes zu studieren und rang die Hände. Dann kehrte sie zu ihm zurück. »Die Zeit entflieht und damit dein Leben. Aber ein paar Augenblicke bleiben uns noch. Wenn ich dir alles enthülle, wirst du zum Kriegsschiff und nicht an Land schwimmen.« Megs Augen, die jetzt grauschwarz waren, hielten ihn in Bann. »Es widert mich an, dir die Wahrheit zu sagen. Aber ich muß es tun« »Die Wahrheit?« »Hör gut zu und gib mir ehrlich Antwort. Wann hast du mich zuletzt gesehen?« »Das habe ich dir doch gesagt. Ich … nun, du saßest halbnackt auf der Couch, voller Haß gegen mich, weil ich vor dem Teufel floh.« »In jener Nacht«, erwiderte Meg, »war ich von einer abscheulichen Gehässigkeit erfüllt, weil ich Angst hatte vor der Nähe des … des …« »Deines Meisters?« Ihre Antwort war so leise, daß er sie kaum verstand. »Ich will ihn nicht Meister nennen, wenn du hier bist. Kannst du dir nicht vorstellen, warum ich zum Tower gekommen bin? Ich möchte mich von ihm lossagen. Ich möchte mich von ihm lossagen, da –« Sie blickte mit tränenerfüllten Augen zu ihm auf. »Aber reden wir nicht davon!« »Kannst du dich denn von ihm lossagen?« 459
»Ich weiß es nicht. Ich kann's nur versuchen.« Ihre scharfen Fingernägel krallten sich in ihre Brust. »Du hast wohl meine frühere Religion vergessen. Wenn ich wieder in die Kirche aufgenommen werde – ganz gleich, was für eine Buße man mir auferlegt –, kann er mir nichts anhaben. Denn gegen diesen Glauben ist die Hölle machtlos.« Meg senkte den Kopf, so daß ihre glänzenden Locken sich an ihre Wangen schmiegten. Dann aber hob sie rasch den Blick und sprach wieder in dem seltsamen Ton. »Aber noch bin ich seine Kreatur. Wenn nicht sein großes Auge und Ohr weit von hier mit anderen Dingen beschäftigt wären, so würde er seine Hand vom anderen Ende der Welt ausstrecken, um …« »Er soll's nur versuchen«, meinte Fenton. »Nein! Denke nicht mehr daran. Möchtest du mich verletzt und gequält sehen?« »Gott bewahre!« sagte Fenton und schloß sie fest in die Arme. »Du hast mich also zuletzt in jener ekelhaften Nacht in der Liebesgasse gesehen. Ich aber sah dich …« »Wann?« »In deinem eigenen Haus, und zwar an dem Abend, als du von dem Dragonerhauptmann gefangengenommen wurdest. Ich habe meine Lippen blutig gebissen, als ich sah, wie krank du warst. Bei der Gelegenheit beobachtete ich, wie du voller Verachtung den Ring fortschleudertest, den dir Seine Majestät gegeben hatte.« »Meg, woher wußtest du, daß ich einen solchen Ring empfangen hatte?« Fenton hielt plötzlich inne. »Stammte dieses Wissen vom Teuf… von ihm?« Meg nickte. 460
»In jener häßlichen Nacht in der Liebesgasse, als du fort warst, erzählte er mir alle deine Gedanken und schilderte, was dir demnächst und in Zukunft geschehen würde. Vor dieser Erzählung hat er… aber das gehört nicht hierher.« Meg erschauerte. »Lieb Herz, ich kann die Zukunft prophezeien.« »Du weißt also, was mir vom Schicksal widerfahren wird?« »Ja, und es ist nicht angenehm. Erkennst du endlich mein Vorhaben? Um deinetwillen möchte ich dir helfen, den Lauf der Geschichte zu ändern, wie du es für jemand anders versucht hast.« »Wobei ich versagt habe.« Fenton preßte Meg an sich. Mit fester Stimme fügte er hinzu: »Setz deine Erzählung fort. Du sahst also, wie ich den Ring fortschleuderte.« »Ja. Und da die Diener mit Mrs. Pamphlin beschäftigt waren, konnte ich den Ring an mich nehmen. Am nächsten Morgen war ich in Whitehall und ersuchte um eine Audienz beim König.« Trotz der ungeahnten Gefahren, die ihn umdrängten, spürte Fenton einen kleinen Stich von Eifersucht. »Ich darf wohl annehmen«, sagte er, »daß der König, wie es so häufig in den Märchen vorkommt, sofort deinen Reizen zum Opfer fiel und dir alle Wünsche erfüllte, nicht wahr?« »Nein, nichts dergleichen«, erwiderte Meg, und ihr Ton ließ erkennen, daß sie verletzt, ja zornig war. »Tagelang konnte ich keine Audienz erlangen. Schließlich packte mich die Verzweiflung, und da gelang es mir durch Bitten 461
und Schmeicheln, direkt in sein Beratungszimmer vorzudringen.« »Und dann?« »Nun, da saß er, umgeben von zwei oder drei Herren, am Ratstisch und unterzeichnete einen großen Haufen von Papieren. Gewiß, seine Augen leuchteten auf, als er mich sah, und er entließ die anderen Herren. Doch er sagte nur: ›Madam, ein Spiegel wird Euch zeigen, wie sehr ich meinen Mangel an Zeit bedaure. In welcher Angelegenheit seid Ihr gekommen?‹ Woraufhin ich ihm das Notwendigste erzählte und ihm dabei zu verstehen gab, daß ich genausoviel wußte wie er selbst. ›Ich bin mir bewußt‹, sagte ich zu ihm, ›daß Ihr Sir Nick Fenton zum Tower verurteilt habt, um sein Leben zu sichern. Es ist Euch bekannt, daß Mylord Shaftesbury wieder in der Stadt ist. Und Eure Spione haben Euch verraten, daß Mylord einen sehr bösen Anschlag gegen Sir Nick im Schilde führt.‹« »Um was für einen Anschlag handelt es sich?« fragte Fenton heiser. »Seine Majestät«, fuhr Meg unbeirrt fort, während ihr Haar seine Wange berührte, »war höchst erstaunt, als ich so sprach. Ich sehe ihn noch vor mir mit seinem düsteren Gesicht und diesen Augen, die einen so unauffällig erforschen, dazu das Sonnenlicht auf den gemalten Fensterscheiben …« »Meg! Hör auf mit dem Geschwätz! Was hat's mit diesem Anschlag auf sich?«
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Er fühlte, wie ein Zittern durch ihren ganzen Körper lief. »Aber der König war in gnädiger Stimmung, da er entdeckt hatte, daß die Anklagen gegen Lydia grundlos waren. Ein infamer Schurke gab vor, einen Brief von Lydia gelesen zu haben. Ein solcher Brief existierte überhaupt nicht. Weißt du seinen Namen?« »Wer war es?« »Ein Mann, dessen Ehre du vor den Augen der GreenRibbon-Lords zuschanden gemacht hast. Sobald sein Bein wieder geheilt war, schlich er sich davon und bot Whitehall seine Dienste an. Aber nach Aufdeckung seines Betruges mit dem Brief ist er dann wieder zum Green-Ribbon zurückgekehrt…« »Doch nicht etwa Captain Duroc?« »Mein – mein früherer Beschützer, Captain Duroc.« Fenton wurde von einer solchen Wut gepackt, daß er kaum zu atmen vermochte. Seine linke Hand fiel auf den Degenknauf. In Gedanken sah er die sehr große, ganz in Weiß gekleidete Gestalt, wie sie aalglatt und höhnend vor ihm gestanden hatte. »Also überzeugte ich Seine Majestät davon«, fuhr Meg in lauterem, aber ebenso raschem Ton fort, »daß er ein Schiff, irgendein Schiff senden müsse, um dich zu entführen. Heute brauchte ich nur in Begleitung eines Wärters, der mir verliebte Kulleraugen machte, in den Tower zu marschieren und dann bei Colonel Howard Zuflucht zu suchen, bis … Nein«, flüsterte sie atemlos, »ich darf nicht länger so müßig reden. Ich muß dir von
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Mylord Shaftesburys bösem Anschlag erzählen. Nun! Er beabsichtigt…« Meg brach jäh ab. Das mächtige Gebrüll eines Löwen im Zwinger durchbrach die nächtliche Stille. Ein zweiter Löwe antwortete, dann ein dritter und ein vierter. Dazwischen ertönten schrille Schreie und das heisere Fauchen der anderen Raubtiere. Meg und Fenton standen beide wie erstarrt. Eine von der Themse herüberwehende Brise ließ das Laub der Bäume auf dem Tower-Anger rascheln. Am nordöstlichen Fenster blitzte ein schwacher Lichtstreifen auf. Fenton lief zu diesem Fenster hinüber und entdeckte die Ursache: an einem oberen Fenster im Wakefield Tower, zweifellos in dem Raum, wo Wärter und Soldaten beim Trinkgelage versammelt waren, hatte jemand den schweren Vorhang zur Seite gezogen, so daß der Lichtschein nach draußen fiel. Ein Schatten erschien am Fenster. Da der Wakefield Tower keine hundert Meter entfernt war, schallten die Stimmen deutlich herüber. »Bei Gott!« brüllte ein Offizier der Fußgarde in angeheitertem Ton. »König Charles ist heute abend gut bei Stimme!« »König Charles?» stieß Meg hervor, die neben Fenton getreten war. »Sachte! Keine Angst!« beruhigte sie Fenton, obwohl es ihn heiß und kalt überlief. »Der größte Löwe in der Menagerie wird immer nach dem regierenden Monarchen genannt.« Der Löwe brüllte von neuem.
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»Potztausend!« gellte eine andere Stimme vom Fenster des Wakefield Towers. »Wir haben Sir Roberts Gastfreundschaft schon viel zu lange in Anspruch genommen. Es muß eine Viertelstunde auf Mitternacht sein.« »Kopf hoch, mein Freund, und leeren wir noch einen letzten Humpen auf einen verdammt guten Krieg!« Meg flüsterte Fenton aufgeregt zu: »Sir Robert, der ein nüchterner Mann ist, kann sie nicht über Mitternacht hinaus halten. Er gerät in Verdacht, wenn man entdeckt, daß du entkommen bist.« Die Brise hatte sich inzwischen verstärkt, und plötzlich flog die schwere Tür zum Postengang, die Meg nicht ganz fest geschlossen hatte, auf und krachte gegen die Wand mit einem Lärm wie ein Kanonenschuß. Im Wakefield Tower, wo sich jetzt viele Gestalten an die Fenster drängten, herrschte auf einmal tiefstes Schweigen. Fenton eilte an die offene Tür. Draußen konnte er einen Teil des Postenganges und die brusthohe Festungsmauer mit den bis zur Hüfte reichenden Scharten sehen. Er konnte den frischen Wind auf seinem Gesicht spüren und das Schäumen des Wassers in der Tiefe hören. Zwei Schritte, ein Sprung und … »Himmel! Was ist denn am Middle Tower los?« »Middle Tower? Es sind die Aufseher in der Menagerie, die die Türen der Käfige zugeknallt haben!« Und was würde mit Meg geschehen, dachte Fenton, wenn ich sie verließe? Bedächtig schloß er die Tür und kehrte wieder zu ihr zurück.
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Hoch oben auf dem Tower-Anger bewegte sich die Laterne eines Postens. »Und wie steht's mit Lord Shaftesburys Anschlag?« fragte Fenton keuchend. »Oder sagen wir lieber: was für einen Tod hat die Geschichte für mich vorgesehen?« Megs Knie bebten. Sie mußte sich an den Eisenstangen des Fensters festhalten. »Du wirst entweder auf deiner Flucht von hier niedergeschlagen«, erwiderte sie, »oder …« »Na, na, ich kann nicht auf zweierlei Art sterben!« »Du – du kennst doch des Teufels merkwürdigen Humor«, sagte Meg stockend. »Entweder auf die eine oder die andere Weise. Aber du mußt die Geschichte ändern und beide Geschicke abwenden! Denn der Teufel wollte mir nicht verraten, welches Schicksal dir beschieden ist.« »Und die andere Todesart? Komm, schnell!« »Oh, Gott, steh mir bei!« seufzte sie. »Meg!« »Du wirst mit Steinen und Schmutz beworfen, wenn du halbtot auf deinem Sarg sitzt in dem Karren, der dich vom Newgate-Gefängnis nach Tyburn bringt, und in Tyburn wirst du an dem hohen Galgen hängen und unter einem Regen von Steinen langsam ersticken! Siehst du nun endlich, warum du dich in aller Hast auf das Schiff flüchten mußt?« »Nein!« »Kitty Softcover war an dem Abend, als Lydia starb, in deinem Haus. Aber diese Kreatur hat Lydia nicht vergiftet!« 466
»Nein …? Wer war es dann?« »Du hast Lydia vergiftet«, stieß Meg hervor. »Und Kitty Softcover hat dich beim Richter und bei Mylord Shaftesbury denunziert.«
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XXIII »Zieht die Vorhänge zu!« rief eine Stimme vom Wakefield Tower. »Noch einen letzten Humpen! Dann nehmen wir Abschied!« In dem kalten, von Schatten gestreiften Mondlicht blickte Fenton Meg an. »Ich bin jetzt nicht zu Scherzen aufgelegt«, flüsterte er. »Aber, liebstes Herz, ich scherze nicht!« »Es ist eine Lüge!« sagte Fenton. Doch plötzlich ging ihm ein Licht auf. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Ja, du verstehst!« Es war, als könnte Meg seine Gedanken lesen. »Du warst es natürlich nicht selbst. Es war nicht dein eigenes Ich, sondern Sir Nick. Schon früher einmal hattest du ein ähnliches Erlebnis, nämlich beim Apotheker in der Totenmannsgasse. Um meinetwillen erfüllte dich Furcht – beim Gedanken, ich könnte eine Giftmörderin sein. Entsinnst du dich? Du gerietest darüber in Wut und verlorst für zehn Minuten dein Gedächtnis. Sir Nicks Seele triumphierte. Du verwandeltest dich in Sir Nick und tobtest dich aus. Mein lieber, lieber Nick, genauso war es bei deiner Rückkehr aus dem Whitehall-Palast. Deiner eigenen Uhr zufolge kehrtest du um halb neun heim. Du warst benommen und sehr erregt über Lydias vermeintliche Falschheit – eine leichte Beute für Sir Nick, falls der Zorn in dir mächtig werden sollte. Zu Hause bist du dann gleich in dein Schlafzimmer geeilt, wo du dich in einen Sessel ans offene Fenster setztest. Habe ich recht?« 468
Fenton nickte. Es fiel ihm schwer, die Lippen zu bewegen. »Aber Lydia«, stieß er endlich heiser hervor, »wurde doch schon langsam vergiftet, noch ehe ich Sir Nicks Gestalt annahm. Ich habe sie sogar geheilt! Vorher war ich ja überhaupt nicht hier! Wer hat denn da…?« »Oh, kannst du es nicht erraten?« »Sir Nick etwa?« »Ja!« erwiderte Meg. »Wenn er auch Kitty zum Apotheker schickte, um das Gift zu kaufen, und ihre Hand das Gift in die Sektmolke mischte, wie du mit scharfem Verstand bewiesen hast, so war Sir Nick doch der Schuldige! Bist du nun überzeugt?« »Ich … ich …« »Hör mich an! Sir Nick, der wahre Sir Nick war begierig auf Kitty und ihre höchst seltsame Art von Liebe. Und hatte Kitty ihn nicht gedrängt, sich seiner Frau und auch der wahren Meg York zu entledigen? Und hatte sie nicht mit ihrer schmutzigen Zunge dem Apotheker Meg York als die Frau beschrieben, die sie geschickt hatte, um das Gift zu kaufen?« »Aber ich … nachdem ich von Whitehall zurückkehrte… saß doch immer an dem Fenster meines Zimmers …« »Nun besinne dich einmal! Du warst kurz nach halb neun in deinem Schlafzimmer. Seit einiger Zeit standen immer eine Karaffe mit Rotwein und ein Becher auf deinem Ankleidetisch. Nun sprich! War die Karaffe bis zum Stöpsel gefüllt oder nicht?« Fenton wich Megs tränennassen Augen aus. Er dachte scharf nach. »Sie war bis zum Stöpsel gefüllt«, sagte er. 469
»Ich nahm Karaffe und Becher, um zu trinken, stellte aber beides wieder hin und verzichtete auf den Trunk.« Die Szene entrollte sich in grauenhafter Klarheit vor seinen Augen. »Ich setzte mich hin«, murmelte Fenton, dessen Stimme allmählich lauter wurde. »Für eine Weile dachte ich über alle Verdachtsgründe nach, die sich gegen Lydia erheben ließen. Doch ich konnte es einfach nicht für möglich halten. In einem Wutanfall sprang ich vom Stuhl auf…« »Da haben wir's ja«, flüsterte Meg. »Doch ich nahm wieder Platz. Ich …« »Eine Zeitlang war es dir dunkel vor Augen«, flüsterte Meg kaum hörbar und legte die Arme um ihn. »Aber in deiner Wut hatte Sir Nicks Seele wieder triumphiert wie damals im Laden des Apothekers. In den finsteren zehn Minuten, als du nicht wußtest, was du tatst, ist der abscheuliche Giftmord geschehen.« »Wo aber war das Gift? Da! Damit fällt das Kartenhaus zusammen!« »Liebes Herz, nein! Hast du den schwarzen Samtanzug mit dem getrockneten Blut auf dem Ärmeln vergessen, den du an jenem ersten Tag nach dem Pakt mit dem Teufel trugst? Er hing immer noch im Kleiderschrank deines Schlafzimmers. Keiner hatte ihn angerührt, wie Giles dir sagte, als du ihn später anziehen wolltest. Du selbst hattest vergessen – Sir Nick jedoch nicht –, daß sich in einer Rocktasche ein Apothekerpäckchen mit hundertdreißig Gran Arsenik befand.«
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Zum erstenmal begann Fenton heftig zu zittern. Mit gesenktem Kopf zwang sich Meg, Worte zu äußern, die ihr weh taten. »Als dein Ich dich verlassen hatte, goß Sir Nick einen Becher Wein aus der Karaffe und schüttete etwa neunzig Gran Arsenik aus dem Päckchen hinein. Dann ging er mit einem Lächeln auf dem Gesicht, das seine bösen Absichten verdeckte, in Lydias Zimmer. Wer würde ihn schon sehen, da die Dienstboten alle beim Abendessen waren? Doch Kitty Softcover lauerte ganz in der Nähe, nämlich an der Tür des gegenüberliegenden Raumes, das einst mein Zimmer war. Kitty, die einen Schlüssel für die Haustür besaß, hatte sich kurz nach dir eingeschlichen. Sie wählte diese frühe Stunde, weil die Dienstboten in der Küche waren. Selbst Sam, den du kurz zuvor weggeschickt hattest, war nicht auf seinem Posten an der Tür. Kitty wollte mit ihren Krallen in Lydias Juwelenschatullen greifen. Wie konnte sie ahnen, daß Lydia schon so ungewöhnlich früh zu Bett gehen würde? So kam es, daß Kitty das Zimmer nicht betreten konnte. Doch sie sah Sir Nick, da er die Tür halb offenließ. Die Zeit war kurz, so sehr kurz! Du hieltest dich nur zwei Minuten in Lydias Schlafzimmer auf, das du zwanzig Minuten vor neun betreten hattest. Nun stelle dir bitte die Fragen vor, die ein schlauer Richter äußern würde!« Fenton schauerte vor Entsetzen, und sie schloß ihn fester in die Arme. »Ja«, sagte er, »ich glaube allmählich …« »Dein Einfluß auf Lydia war unbegrenzt. Sie liebte dich und gehorchte dir in jeder Beziehung. Von welcher 471
anderen Hand außer der deinen hätte sie wohl irgendeinen Bissen oder Trunk entgegengenommen?« »Ja, es wird mir bitter klar!« »Was für ein anderer Trunk außer dem Rotwein in deinem Zimmer hätte sie vergiften können? Jeder Tropfen Wein war, wie Giles sagte, im Weinkeller eingeschlossen. Wie er ebenfalls erwähnte, war nicht einmal ein Gläschen Gerstensaft im Hause. Und dies ist die Wahrheit, wenn sie auch von den Lippen des Teufels stammt!« Wenn Meg von Lydia sprach, konnte Fenton manchmal einen Hauch ihrer heißen Eifersucht spüren, obwohl es ihr meistens gelang, sie zu unterdrücken. Auch sah er jetzt, was er in seiner Blindheit nie zuvor bemerkt hatte: Er war nicht die einzige Person, die sich gegen die Herrschaft einer anderen Seele wehren mußte. Mary Grenville mußte ja auch die Seele der hübschen, aber ungebärdigen Meg York in sich haben. Er und Meg waren sich sehr ähnlich, und das war auch stets in ihrem Verhalten zum Ausdruck gekommen. »Was für Worte«, fragte er, »sind in jenen zwei Minuten, die ich in Lydias Zimmer verbrachte, zwischen Lydia und mir… oder vielmehr Sir Nick gewechselt worden?« »Das sage ich dir nicht! Nie und nimmer!« Von der Menagerie her erschallte wieder das Gebrüll des Löwen. Sie beobachteten, wie die Wächter mit ihren Laternen hin und her gingen, um die Tiere zu beruhigen. Aber Meg war wieder von Furcht ergriffen. »Mein Gott, die Wärter und Soldaten werden bald hier sein! Sie haben vom letzten Humpen gesprochen.« 472
»Noch ein Wort«, sagte Fenton. »Ich weiß nicht, warum es so ist, aber du gehörst mir, und ich halte dich. Wenn ich zum Schiff gehe, kommst du mit mir!« Meg warf den Kopf in den Nacken und betrachtete ihn mit einem wilden Blick; abermals traten ihr Tränen in die Augen. »Vieles von dem, was vorgefallen ist«, fuhr Fenton überstürzt fort, »kann ich mir jetzt selbst ausmalen. Sir Nick ging mit dem vergifteten Becher aus Lydias Zimmer in sein eigenes, wo er ihn mit Wasser ausspülte und dieses aus dem Fenster schüttete. Nicke mit dem Kopf, wenn es stimmt. Gut! Doch halt! Das Gift wurde zwanzig Minuten vor neun geschluckt. Konnte Lydia da schon um Mitternacht sterben? Nein, das ist eine Unmögl… Ha, ich habe eins vergessen! Neunzig Gran Arsenik! Wenn das Opfer schon ein paar Stunden durch Schmerzen geschwächt ist, kann einer der plötzlich und heftig auftretenden Magenkrämpfe den Tod durch Schock herbeiführen. Dann noch eins! Eine solche Riesenmenge von Arsenik würde die ersten Schmerzen schon innerhalb von acht Minuten hervorrufen, und bei Lydia wirkte das Gift noch schneller als bei den meisten Menschen. Als Judith Pamphlin die Treppe heraufkam, hörte sie Lydia tatsächlich stöhnen, noch ehe ich aus meinem Trancezustand erwachte. Und das war wohl gegen zehn Minuten vor neun. Stimmt's?« »So sagt der Teufel.« 473
»Und Lydia …« Fenton zögerte. »Lydia muß gewiß gemerkt haben, wer ihr das Gift verabreicht hat. Und doch sagte sie zu Judith Pamphlin nur, daß sie mich zu sprechen wünsche, und kein Wort davon, daß ich mit dem Weinbecher zu ihr gekommen war. Sie machte kein Aufheben, Meg. Nicht einmal, als sie starb.« »Das gebe ich zu«, sagte Meg und senkte schluchzend den Kopf. »Zum Teil lag es daran, daß sie… aber nein, ich will nicht mehr von ihrer Liebe sprechen, ein für allemal nicht! Zum anderen hielt sie es für eine gerechte Strafe des Himmels, da sie ja wirklich einmal einen Brief abgesandt hatte, um dich zu verraten.« »Ich habe sie getötet, Meg.« »Nein, das hast du nicht getan!« stieß sie zähneknirschend hervor. »Ich kann es beweisen … ich kann es an Hand eines Geheimnisses beweisen. Als Sir Nick schließlich diese letzte verruchte Tat beging« – ihre Stimme sank zu einem Geflüster herab, »wurde ihm die Seele aus dem Leib gerissen, noch ehe du die Augen öffnetest. Seine Seele wurde entführt…« »Vom Teufel?« »Nein, dann wärest du tot. Von einem« – ihr Blick schweifte angstvoll hin und her-, »von dem ich nicht zu sprechen wage. Aber seit jenem Augenblick hat Sir Nicks Seele dich verlassen. Die Seele, die du nun besitzt, gehört Nicholas Fenton aus Cambridge. Dennoch wirst du von der Menschheit verfolgt. Kitty, die Köchin …« »Hätte Kitty, die Dirne von Alsatia, die, wie ich annehme, vielen Richtern bekannt ist, es gewagt, mich des 474
Mordes zu bezichtigen? Und schenkte man ihr Glauben, wenn es so wäre?« »Was! Unter dem Schutz von Mylord Shaftesbury und seinem Green-Ribbon-Klub? Man hat ihr bereits geglaubt. Sie geht, mit Juwelen geschmückt, einher und wird von beherzten Degenfechtern, beschirmt. Der Plan, dich dem Schutze des Königs zu entreißen, ist fertig…« »Und der König?« »Oh, der König wird nachgeben. Wie immer, wenn das Verlangen der Öffentlichkeit zu groß wird. Hast du in einem anderen Zusammenhang ihm das nicht selbst ins Gesicht gesagt?« Meg hob die Arme in stummer, leidenschaftlicher Qual. »List und Betrug!« rief sie. »Stets bist du betrogen worden seit deinem falschen Pakt mit dem Teufel. Sehr wohl konnte er auf alle deine ›Bedingungen‹ im wörtlichen Sinne eingehen. Denn nicht er selbst würde ja das tun, was dir angetan werden sollte. Es war eben von der Geschichte bestimmt. Seine Wutanfälle rührten nicht von deinen ›Bedingungen‹ her; er war zornig, weil du ihn verhöhntest. Du hast seinen Zorn nicht richtig gedeutet. Und dennoch hast du ihn geschlagen. – Nanu, was ist dir?« »Giles' Bericht«, sagte Fenton. »Auch ein Betrug. Und noch nicht einmal geschrieben! Und warum wird er geschrieben? Nun, damit die Nachwelt – wenn Giles durch Bestechung alle Plakate oder Broschüren und sogar die Newgate-Aufzeichnungen vernichtet hat –, nicht einen alten Namen geschändet sehen soll. Die Nachwelt soll wohl von einem Mord lesen, wobei ganze Seiten absichtlich ausgelassen sind, aber auch von einem guten 475
Sir Nick, der viele Jahre später stirbt. Es sieht so aus, als ob ich letzten Endes doch noch gehängt würde.« »Sprich nicht so!« sagte Meg. »Das soll nicht geschehen, wenn du wie einst die Kühnheit besitzt, auszuziehen und den Lauf der Geschichte zu ändern. Hast du noch diese Verwegenheit?« Die Brise, die noch in den Bäumen auf dem Tower-Anger rauschte, blies Fenton kühl und erfrischend ins Gesicht; es war wie ein Sprung in kaltes Wasser. »Ja!« rief er mit einem glücklichen Lächeln und schlug auf seine Degenscheide. »Bist du bereit?« »Bereit?« »Mich zu begleiten; was sonst? Verdammt! Noch habe ich es nicht erlebt, daß du ängstlich vor einer kühnen Tat zurückschrecktest. Jetzt bin ich es, der zur Eile drängt!« Meg schlug ihr Cape zurück. »Ich war es«, stieß sie hervor, »die den König überredete, daß ich mit dir gehen müsse. Unter meinem Hemd trage ich einen Gürtel mit wasserdichten Taschen, die kostbare Edelsteine als Zahlungsmittel und einen Brief von Seiner Majestät an König Ludwig von Frankreich enthalten. Doch als ich dich sah, war ich entschlossen, hierzubleiben, wenn du mich nicht bitten würdest…« »Dann bitte ich dich jetzt!« »Aus Liebe?« »Ja! Aber davon sprechen wir, wenn wir in Sicherheit sind. Horch! Man hört nichts mehr von dem Trinkgelage im Wakefield Tower. Sie brechen wohl auf.« 476
»Ich bin immer noch ein Geschöpf des Teufels«, sagte Meg, die ihren Tränen nicht mehr Einhalt gebieten konnte. »Ob Meg York oder Mary Grenville, ich bin immer noch…« Fenton, der entschlossen auf die Tür zugegangen war, drehte sich um. »Glaubst du etwa, daß ich, der ich mich selbst mit dem Teufel abgegeben habe, einen Pfifferling danach frage, ob du seine Dienerin bist oder nicht? Du kannst jedoch nicht in Cape und Kleid schwimmen. Zieh die Sachen aus!« Nun war es Fenton, der die Uhr ticken hörte und spürte, wie die Minuten entflohen. Wenn man Meg hier fand, dachte er, würde sie gleich ihm Mylord Shaftesbury in die Hände fallen. Doch Meg zögerte immer noch. Sie schüttelte ihre Locken und warf einen hastigen, ängstlichen Blick auf die Tür. Fenton bot seine ganze Willenskraft auf. »Fürchtest du etwa den Teufel?« Er sprach mit leiser Stimme. »Nun, verlaß dich drauf. Wir werden zusammen aus dem Tower fliehen, und wenn der Teufel selber draußen vor der Tür stände. Komm!« Meg warf ihr Cape ab. Dann zerrte sie so lange an ihrem Gewand, bis sie sich daraus befreit hatte und nur mit einem seidenen Hemd bekleidet war. Fenton öffnete behutsam die Tür, schloß sie wieder und eilte mit Meg davon. Unten in der Tiefe klatschte das Wasser schäumend gegen die Mauer. 477
Fenton warf rasch einen Blick nach links. Im Wakefield Tower begannen Männer mit gelben Laternen die Treppe hinabzusteigen. »Eine Hand auf die Mauer«, flüsterte er und faßte Meg um die Mitte, um sie in eine der Schießscharten zu heben. »Dann spring! Vorsicht in der Strömung bei den Pfeilern, wenn du unter dem Kai durchschwimmst. Nun los!« Meg, die im Begriff stand, seinen Worten Folge zu leisten, wandte zufällig den Kopf nach links und blieb wie gelähmt stehen. Fenton folgte ihrem Blick. Etwa sieben Meter von ihm entfernt stand auf dem Postengang eine weißgkleidete Gestalt mit gezogenem Degen. Captain Duroc. Der Mond, der fast senkrecht über ihnen stand, warf kurze Schatten. Er spielte den Augen einen Trick. Duroc wirkte in seiner hageren Länge wie ein Riese. Sein harter Unterkiefer war vorgeschoben, und die Zähne glänzten in einem höhnischen Grinsen. Er hob den rechten Arm mit dem Degen, so daß die Spitze direkt auf Fenton gerichtet war. Es war, als stehe der Tod auf dem Postengang. »Nein, ich bin nicht der Teufel«, flüsterte seine harsche Stimme. »Auch bin ich nicht von Mylord Shaftesbury geschickt. Ich war ein Gast bei diesem Trinkgelage. Kleiner Edelmann! Süße Meg, meine Bettgef…« »Hinauf! Ich helfe dir!« murmelte Fenton. »Dann spring hinunter!« »Wirst du mir folgen?« »Nach einer Weile.« 478
»Dann bleibe ich«, erwiderte Meg keuchend, »bis du bereit bist.« Captain Durocs leises, höhnisches Lachen drang über dem Zischen des Wassers zu ihnen. »Sie werden nicht hinunterspringen. Nein, nein, nein!« sagte er. »Ich stehe so, daß ich im Nu über Sie herfallen kann, voilá, falls Sie es versuchen!« Fenton sprang von Megs Seite fort, und stand Duroc gegenüber. »Der kleine Edelmann«, seufzte Duroc, »will nicht fechten. Nein! Er will davonlaufen. Ich bin Duroc! Ich verstehe mich zu gut auf Ausfälle!« Fenton zog seinen Degen. »Sei vorsichtig!« rief Meg. Sie mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu schreien. Denn sie stürmten aufeinander los, als wollte einer den anderen schnurstracks mit dem Degen durchstechen. Aber instinktiv machten beide innerhalb Stoßweite halt, so daß ihre Schuhe auf den Steinen knirschten. Durocs Degenspitze stieß mit im Mondlicht blitzender Klinge vor, um Fentons linkes Auge zu durchbohren. Fenton, der diesen Stoß in ziemlicher Höhe mit einem »Klick« parierte, der bis zum Wakefield Tower hinüberschallte, hörte, wie Durocs Fuß ausglitt und stolperte. Er machte einen direkten Stoß auf Durocs Herz, und Duroc lachte heiser, als beide Männer wieder eine Parade einnahmen. Der Pseudofranzose hatte ungeheuer lange Arme und Beine. Fentons Degenspitze war trotz des vollen Ausfalls nur bis auf zehn Zentimeter an die Brust des Gegners 479
gekommen. »Sehen Sie, kleiner Edelmann?« keuchte sein Gegner. »Sie können nicht an mich heranreichen!« »Nein?« »Nein!« Das wie ein Becher aus Stahlfiligran wirkende Stichblatt an Durocs Degen hatte an jeder Seite einen vorstehenden, hakenförmig gebogenen Stichblattzapfen. Fenton sah es im Mondlicht, als Duroc seinen Körper wie eine weiße Schlange vorstreckte für einen Stoß in die untere Bauchgegend. Fenton, der mit nach unten gehaltener Klinge parierte, schlug Durocs Degen zur Seite und machte einen Querstoß nach der Wade seines rechten vorgestreckten Beines. Spitze und Klinge rissen ein Stück vom weißen Strumpf und etwas Fleisch vom Rand der Wade, und das Blut quoll grauschwarz hervor. »Captain Duroc« stieß jetzt einen Fluch auf ungarisch aus und stürmte mit seiner ungeheuren Reichweite auf Fenton ein. Viermal stieß er zu, ohne daß ein Gegenstoß von Fenton folgte. Fenton lachte, und der Captain wurde wütend, weil er Fentons Parade nicht durchdringen konnte. Fenton bereitete sich jetzt für den gefährlichsten Trick im Degenfechten vor. Als Durocs Degen zum fünften Male vorschoß, fegte Fenton ihn mit seinem degenlosen linken Arm weit nach rechts und stieß gleichzeitig nach dem Herzen des Gegners. Die Klinge drang ziemlich tief ein – aber nicht tief genug, um das harte Gewebe, von dem das Herz umgeben ist, zu durchbohren. Fenton sprang zurück und parierte den langen Stoß auf seine Stirn oberhalb des rechten Auges. 480
Dann gingen beide zurück und studierten sich gegenseitig. Das täuschende Mondlicht erschwerte den Kampf. Duroc, stark aus zwei schweren Wunden blutend, stand immer noch hoch über Fenton. Er schwankte zwar einmal, fiel aber nicht hin. Fenton wußte, daß Duroc nun nicht mehr nach den Augen zielen, sondern versuchen würde, eine Augenbraue zu verwunden, um ihn durch das Blut zu blenden und ihm dann in aller Muße den Garaus zu machen. Damit würde er nur einen alten, als fair angesehen Fechtertrick anwenden. Aber Duroc wagte es noch nicht. Sein Atem wurde schwächer. Er mußte wie Fenton nach dem Herzen zielen. Fenton erinnerte sich in diesem Augenblick an eine Finte, auf die man erst im achtzehnten Jahrhundert kommen würde. In der Regel war es unmöglich, den Gegner zu entwaffnen. Doch … »Nun sieh einer an!« bellte eine Stimme nicht weit von ihnen entfernt. »Da drüben auf dem Postengang steht Nick Fenton und ficht!« »Wo?« »Da drüben!« »Bei Gott, wer ist die Frau? Spärlich bekleidet, aber eine Schönheit!« Fenton wurde es beinahe übel. Musketenfeuer in dichter Nähe konnte… Laternenschein fiel auf den sehr breiten Pfad zwischen der inneren und äußeren Mauer, und schwere Schritte hallten auf den Steinstufen in dem engen Bogen zwischen dem Bloody Tower und dem Wakefield Tower. 481
Fenton, dem Blick auf die Stichblattzapfen an Durocs Degen geheftet, machte plötzlich einen gewaltigen Sprung nach hinten, und Duroc stürzte ihm triumphierend nach. Sein Rücken glänzte weiß im Mondlicht, als er mit aller Wucht auf Fentons Herz zielte. Meg schrie auf. Denn Fenton stand völlig ungeschützt da und hatte beide Arme seitwärts ausgestreckt. Im letzten Augenblick sprang er nach rechts, so daß sein Degen an die Festungsmauer stieß. Durocs Klinge fuhr glatt durch die linke Seite des Hemdes, und Fenton spürte nur die kalte Breitseite des Degens, die auf seiner Haut wie Feuer brannte. Dann nahm der Kampf eine andere Wendung. Als der Bechergriff von Durocs Degen Fenton zwischen Arm und Seite schoß, sauste Fentons linker Arm herab und klemmte die Klinge fest für die Sekunde, die er brauchte, um seinen eigenen Degen senkrecht in den Haken des Stichblattzapfens zu stoßen, der von Durocs Stichblatt nach links herausragte, und dadurch den Degen des Gegners unbrauchbar zu machen. Denn Duroc konnte ihn nicht zurückziehen. Zu spät und voller Entsetzen erkannte der Pseudofranzose diesen Trick. Fenton hob plötzlich den linken Arm und drehte die rechte Hand scharf nach rechts. Kein Mann in Durocs Stellung hätte bei dieser Hebelkraft den Degen halten können, Durocs Waffe segelte in silberglänzendem Flug über die Zinnen der Festungsmauer und fiel wirbelnd ins Wasser. »Da ist der Teufel in Samt, Sir!« brüllte eine Stimme fast unheimlich dicht von unten. »Sapperlot, seht, was er getan hat!« 482
»Gefangener, steht still und ergebt Euch!« ertönte die barsche Stimme eines Soldaten. Jetzt war ein lautes Getrappel auf dem ganzen breiten Pfad zu hören, und das helle, böse Licht von flackernden Pechfackeln züngelte herauf. Fenton, den Degen zum letzten Stoß gehoben, blickte in die bestürzten, entsetzten Augen Durocs, des größten Eisenbeißers von ganz Europa, und er brachte es nicht fertig, ihm den Todesstoß zu versetzen. Sein Schwertarm zitterte. Duroc, der Fentons Blick falsch deutete, drehte sich um und rannte stolpernd davon. Fenton steckte mit unsicheren Fingern die blutbefleckte Waffe wieder in die Scheide und sah sich nach Meg um. Sie stand dicht hinter ihm, regungslos, die Hand auf einer der Zinnen. »Hinauf!« krächzte Fenton atemlos. »Und spring!« Ohne Zögern, ohne Beistand schwang sich Meg in die Lücke und sprang hinab. Er hörte das Aufklatschen in dem schäumenden Wasser. Auf dem Pfad wurden Stimmen laut. »Musketen, Sir? Sie haben sie vom Middle Tower geholt!« »Musketen! Eine Rotte hier am Pfad entlang! Schießt nach Herzenslust, wenn er… Gefangener! Wollt Ihr stillstehen und Euch ergeben?« »Kommt und holt mich!« krächzte Fenton. Der ganze Pfad wimmelte nun von Fackeln, die ihn blendeten. Das Licht machte ihn zu einer deutlichen Zielscheibe. Fenton kehrte sich um und zog sich zwischen zwei Zinnen hoch. Unten vom Pfad her ertönte ein Geräusch, das eher einer schweren Explosion als einem 483
Musketenschuß glich. Gerade als die schwere Musketenkugel etwa vier Meter von ihm entfernt in die Brustwehr schlug, verschwand er mit einem Hechtsprung in der Tiefe. Hechtsprung… Zu spät dachte er daran, daß der Kai mit seiner Batterie von Geschützen zu nahe an der Mauer errichtet war, um einen Hechtsprung aus beträchtlicher Höhe zu gestatten. Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf, als das weißgefleckte Wasser plötzlich vor ihm auftauchte. Er glitt so dicht am Kai ins Wasser, daß die scharfe Kante ihm ein Stück vom Schuh abriß und sein Gelenk schrammte. Der Schock des kalten Elements wirkte wie ein Hammerschlag. Sobald er aus der dunklen Tiefe wieder an die Oberfläche kam, schleuderte ihn die Strömung mit der Schulter gegen einen der Kaipfeiler. Er schwamm um Hindernisse herum und durch allerlei übelriechenden Unrat. Die Flut hatte noch nicht ihren Höhepunkt erreicht, und die Strömung sah gefährlicher aus, als sie in Wirklichkeit war. Fenton streifte beide Schuhe ab, als er vom Kai hinweg in das helle Mondlicht hinausschwamm. Seine jugendliche Kraft und das flotte Kraulen brachten ihn mit auffallender Geschwindigkeit voran. Vor sich sah er etwas Weißes aufblitzen: es war Meg, die in aller Hast den beiden grünen Schiffslaternen zustrebte. Und mit welcher Freude erfüllte ihn dieser Anblick! Der kalte Wind schien umgesprungen zu sein. Fenton versuchte, noch schneller zu schwimmen, und bohrte den Kopf seitwärts ins Wasser, um Luft schöpfen zu können. Dann brach hinter ihm auf der Mauer des Towers plötzlich 484
ein heftiges Musketenfeuer aus. Eine Kugel schlug neben ihm aufs Wasser und hüpfte auf den Wellen hin. »Schwimm unter Wasser!« rief er Meg zu. Er selbst tauchte ziemlich tief und schwamm so lange unter Wasser, bis ihm beinahe die Lungen platzten. Er kam vorsichtig an die Oberfläche und riskierte einen Blick nach hinten. Das Gewehrfeuer war eingestellt. Aber zwischen den Geschützen auf dem Kai bewegten sich Gestalten mit langen, glimmenden, um den Arm gewickelten Zündschnüren. Fenton blickte nach vorn. Zu seinem Erstaunen schimmerte die Prince Rupert nicht weit von ihm entfernt durch das Halbdunkel der Nacht. Das Licht der niedrig in der Takelage angebrachten Schlachtlaternen fiel auf die Reihe der Kanonen, die auf dem oberen Geschützdeck standen. Das hochgebaute Achterschiff war ebenfalls beleuchtet. Von der Spitze des Großmastes flatterte die königliche Standarte. Ein untersetzter Mann, der sich mit einer Hand auf die Reling des Quarterdecks stützte, hielt eine Seetrompete an die Lippen und rief mit rollender Stimme über das klangtragende Wasser: »Auf ein Schiff des Königs wollt Ihr feuern, wie? Oberkanonier! Wenn Ihr seht, daß da drüben eine Zündschnur an ein Geschütz gebracht wird, dann legt mir einen Zwölfpfünder auf diese Batterie!« Auf dem Mitteldeck des Schiffes herrschte reges Leben und Treiben. Nackte Füße rannten klatschend über die Planken, und schattenhafte Gestalten bewegten sich im Schein der Schlachtlaternen. Eine Strickleiter mit hölzernen Sprossen wurde klappernd über die Seite des Schiffes geworfen und reichte bis dicht ans Wasser. Hinten auf dem 485
Kai blieb ein glimmender Zündfaden gleichsam mitten in der Luft hängen; wahrscheinlich war von der Festungsmauer her ein Befehl erteilt worden. Bald tauchte Meg aus dem Wasser auf und kletterte triefend die heftig schwingende Leiter empor, bis ein Seemann herbeieilte und ihr helfend die Hand reichte. Dann schwamm auch Fenton unter die gewölbte Seite des Schiffes und sah über sich die Masse der grauen Segel. Als er den Fuß auf die Strickleiter setzte, wußte er, daß Frieden in seine Seele eingezogen war. »Wir haben den Teufel geschlagen«, sagte er, »und den Lauf der Geschichte geändert!« Und der Degen wippte immer noch an seiner Seite, als er die Leiter hinaufkletterte.
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