Gruselspannung pur!
Der Todeskuß der eisernen Jungfrau
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann »Jürgen!?« Die junge...
21 downloads
880 Views
546KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Gruselspannung pur!
Der Todeskuß der eisernen Jungfrau
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann »Jürgen!?« Die junge Frau erhielt keine Antwort. Sie hatte eine Aktentasche unterm Arm und balancierte stöhnend zwei volle Einkaufstüten in die Küche. »Da hat man einen Mann im Haus, aber wenn man ihn braucht, ist er nicht da!« Während sie die Tüten auf dem Küchentisch abstellte, spürte sie etwas Seidenweiches im Nacken und erschrak. Sekunden später schwebte vor ihrem Gesicht die Rose, deren Blütenblätter sie gestreichelt hatten. »Überraschung!« säuselte Jürgen. »Darf ich mein Herzblatt mit einem romantischen Abend zu zweit verwöhnen?« Eng umschlungen verließen sie das Apartmenthaus. Dunkle Augen, in denen abgrundtiefer Haß loderte, verfolgten das glückliche Paar… Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! 2
Die letzten Apriltage schöpften noch mal die gesamten Palette an Wetterkapriolen aus, die der Frühlingsmonat zu bieten hatte. Kaum ein Tag verging, an dem das milde Frühlingswetter nicht von heftigen Stürmen und Wärmegewittern mit Regenschauern und sogar Hagel abgelöst wurde. Trotzdem genossen die Menschen den Frühling. Die angenehme Milde nach dem naßkalten Winter schien sie mit neuer Kraft zu erfüllen. Natürlich gab es auch die einen oder anderen, die sich von der Frühjahrsmüdigkeit übermannen ließen. Ilona Keilbach und Jürgen Tremel gehörten nicht zu denen, die den Hintern nicht aus dem warmen Bett kriegten. Seit knapp drei Jahren waren sie nun zusammen. Sie führten eine glückliche Beziehung. Brachten das Kunststück fertig, sich nicht gegenseitig einzuengen. Bei vielen anderen Paaren führte das Zusammenleben auf engem Raum zu Chaos und ständigen Beziehungskisten. Nicht so bei Ilona und Jürgen. Sie ließen sich den Freiraum, den sie benötigten, und peppten ihre Beziehung durch kleine Aufmerksamkeiten, Überraschungen und spontane Unternehmungen auf. Wie an diesem Abend. Als Lebensmittelchemikerin stand Ilona im Dauerstreß. Jahrelang hatte sie nur für ihren Beruf gelebt, woran auch zwei Beziehungen zerbrochen waren. Dann kam Jürgen und legte ihr die Welt zu Füßen. Mit fünfunddreißig war er zwei Jahre älter als sie und ein recht erfolgreicher Finanzmakler. Obwohl auch ihm sein Job wenig Freizeit ließ, verstand er es, seine Angebetete nach allen Regeln der Kunst zu verwöhnen. »Was hast du denn vor?« wollte Ilona wissen, während sie über den kaum beleuchteten Parkplatz gingen. Jürgen hauchte einen Kuß auf ihre Wange und zückte zwei Eintrittskarten. »Ich hab mir gedacht, daß du mal wieder lachen solltest«, meinte er. »In letzter Zeit bist du immer so ernst und verschlossen. Ich vermisse deine Lachfältchen um die Augen. Deshalb entführe ich dich ins Kabarett.« Ilona schüttelte verwundert den Kopf. »Warum fällt mir so etwas nie ein?« fragte sie leise. »Woher nimmst du bloß immer die Ideen für deine Überraschungen?« »Zum Beispiel aus dem Feuilleton des Tagblatts. Im Gegensatz zu dir bleibt mir noch die Zeit für eine Tasse Kaffee und die 3
Morgenzeitung.« Ilona blieb stehen und schaute zu dem gutaussehenden Mann mit dem dunkelbraunen Kurzhaar auf, der sie um fast eine Haupteslänge überragte. »Tu mir einen Gefallen, Schatz. Laß uns heute abend nicht vom Geschäft reden, ja?« »Nichts lieber als das. Wenn du eine gehörige Dosis TBC intus hast, wirst du ohnehin den ganzen Abend über nur noch davon schwärmen.« »TBC? Ich kann mir nicht vorstellen, warum ich mich für eine Lungenkrankheit begeistern sollte.« »TBC steht für Totales Bamberger Cabaret, Frau Doktor. Und die Truppe ist der absolute Insidertip der Szene. Glaub mir, du wirst Tränen lachen.« Sie fuhren in Jürgens knallgelbem Megane Cabrio zur Mainpromenade. Der April schien sich ausgetobt zu haben oder eine Pause einzulegen, denn es war eine herrlich klare und milde Nacht. Ilonas schulterlanges, brünettes Haar flatterte im Wind. Sie legte den Kopf zurück. Jürgen schaute wiederholt zu ihr hinüber. Er liebte dieses hübsche Gesicht mit den vollen Lippen, den rehbraunen Augen und der schmalen Nase. Sein Blick glitt weiter nach unten, verweilte auf der hübschen Bluse, die zwar nur andeutete, aber trotzdem vieles versprach. Jürgen mußte sich mit Gewalt auf den Verkehr konzentrieren. Der Gedanke daran, was sie nach der Vorstellung treiben würden, brachte sein Blut in Wallung. Er stellte sich oft die Frage, wie er es schaffte, Ilona die Treue zu halten. Es gab sicherlich wesentlich hübschere Mädchen, die mit ihren Reizen nicht hinter dem Berg hielten, wenn sie ihm begegneten. Er hätte jeden Tag eine andere im Bett haben können, wenn er es darauf angelegt hätte. Aber Ilona hatte das besondere Etwas. Unter anderem deshalb liebte er sie. Grund genug, sie nicht zu hintergehen. Jürgen hatte einen Volltreffer gelandet. Die Überraschung war ihm gelungen, der Preis für die Eintrittskarten hatte sich gelohnt. In der Kulturwerkstatt Disharmonie, in der das Ensemble auftrat, drängten sich die Zuschauer. Zumeist junge Leute, salopp in Jeans und T-Shirts gekleidet. Jürgen und Ilona fielen in ihrer eleganteren Kleidung direkt auf. Zufrieden beobachtete Jürgen, wie seine Freundin Tränen lachte. Lange hatte er sie nicht so entspannt, gelöst und amüsiert 4
gesehen. Sie lachte immer noch, als sie längst wieder im Cabrio saßen und Richtung Innenstadt fuhren. »Wir sollten öfter in die Kulturwerkstatt gehen«, meinte sie. »Die Atmosphäre dort ist wirklich toll. Aber das nächste Mal tanzen wir dort garantiert nicht in diesem Aufzug an. Die Leute haben uns angesehen, als wollten sie uns fressen.« »Da hätten sie sich bei uns aber den Magen verdorben. An uns ist doch nicht viel dran, so schlank, wie wir sind. Haut, Knochen und…« »… ein paar Muskeln«, fügte Ilona hinzu und musterte Jürgens gut gebauten Körper. »Da kann eine Frau direkt schwach werden. Oder eifersüchtig.« »Bist du das denn nicht?« »Hätte ich Grund dazu?« Jürgen grinste und hob die Achseln. »Wer weiß?« Ilona wußte, daß sie keinen Grund zur Eifersucht hatte. Sie versetzte Jürgen einen spielerischen Fausthieb auf den Arm und drehte ihr Gesicht in den Wind. Die nächste Station war der Gasthof Graf Zeppelin am Rande der Innenstadt, der mit erlesenen Spezialitäten aufwartete. Das gemeinsame Abendessen ließ Ilona den anstrengenden Alltag vergessen. Sie genoß jeden Augenblick in Jürgens Gesellschaft. Nach einem Verdauungsspaziergang am Main und ein paar schweißtreibenden Übungen in einem hoffnungslos überfüllten Tanztempel kehrten sie in ihre Wohnung zurück. Jürgen schloß auf und trug seine kichernde Begleiterin über die Schwelle. »Willst du mir durch diese Geste etwa andeuten, daß wir bald einen Termin auf dem Standesamt haben?« fragte Ilona. Abrupt blieb Jürgen stehen. »Verflixt, ich wußte doch, daß ich was vergessen habe!« rief er gespielt überrascht. »Macht nix. Ich hätte dich sowieso nicht geheiratet!« Jetzt war Jürgens Enttäuschung echt. »Entschuldige, aber darauf brauche ich was zu trinken«, stieß er aus, ließ Ilona auf das Sofa plumpsen und begab sich zu einer kleinen Hausbar, um sich einen Cognac einzugießen. »Bring mir auch einen mit, Schatz«, bat sie. »So wertvoll bin ich ja wohl nicht für dich. Nach dem, was du mir eben eröffnet hast.« »Quatschkopf!« rügte Ilona, als Jürgen mit den beiden Gläsern 5
zu ihr kam. Sie nahm einen tiefen Schluck. Die Wärme des Weinbrands breitete sich in ihrem Körper aus. Ilona legte einen Arm um Jürgens Nacken. »Du hast noch nicht um meine Hand angehalten, mein Lieber. Also kann ich dich nicht heiraten. Selbst, wenn ich wollte.« »Du willst also nicht«, stellte Jürgen fest. Ilona schmunzelte. »Das hab ich so nicht gesagt«, erwiderte sie hintergründig. Jürgen beugte sich tiefer. »Du kriegst deinen Antrag. Versprochen.« Er küßte sie sanft. »Aber nicht heute.« Er nahm ihr das Glas ab und schickte seine Hände auf Wanderschaft. »Und vor allem nicht jetzt.« Er war ein großartiger Liebhaber. Ließ sich Zeit. Packte Ilona aus wie ein kostbares Geschenk. Ließ ihre Haut unter seinen zärtlichen Berührungen erschauern. Entlockte Ilona leise Stöhnlaute. Seine Lippen glitten über ihren warmen, weichen Körper. Vermieden es, ihre dunklen Brustwarzen und die Innenseite ihrer Schenkel zu berühren. Weckten in ihr ein kaum zu bändigendes Verlangen. Als sie es beide nicht mehr aushielten, kamen sie zusammen. Endlich! Und sie öffneten im Augenblick unsagbarer Wonne die Augen. Und da sah sie das Gesicht! Die Gestalt trug eine pechschwarze Kutte. Das Gesicht war bleich, kalkweiß. Es wirkte wie eine Maske, ließ die Gestalt als geschlechtsloses Wesen erscheinen. Ilona hätte nicht sagen können, ob sie einen Mann oder eine Frau vor sich hatte. Das Horrorgesicht war starr. Nur die fast pechschwarzen Augen schienen zu leben. Entfernt erinnerte sie sich an den Horror-Schocker Scream!, den sie vor ein paar Monaten im Kino gesehen hatte. In dem Film war auch ein Kuttenträger auf unschuldige Opfer losgegangen, aber der hatte ein verzerrtes Gesicht gehabt. Nie hatte Ilona gedacht, daß ihr ein ähnliches Schicksal wie den Opfern aus dem Film widerfahren könnte. Aber jetzt war der fiktive Schrecken Wirklichkeit geworden. Und dieses maskenhafte Gesicht über ihr war in gewisser Weise noch grauenhafter als die Fratze des Film-Bösewichts. Die Maske war starr. Die Nase hob sich kaum aus dem 6
wächsernen Gesicht ab. Die bleichen Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengekniffen. Nur die dunklen, fast pechschwarzen Augen schienen zu leben. Ilona erkannte das haßerfüllte Leuchten und die Gnadenlosigkeit in ihnen. Und schrie! * Jürgen Tremel zuckte schmerzhaft zusammen, als Ilonas gellender Schrei ertönte. Ihr Körper hatte sich verkrampft, wirkte wie eine zum Zerreißen gespannte Feder. Jürgen schaute auf. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ein Spanner in der eigenen Wohnung. Ich glaub's nicht!« entfuhr es ihm. Er richtete sich auf und ballte die Fäuste. »Du hast dir die falschen Leute ausgesucht, Freundchen. Ich laß mir nicht gern beim Sex zuschauen!« Der Unheimliche rührte sich nicht. Ilona wand sich auf dem Sofa, wollte sich aufsetzen. Jürgen schnellte auf die Füße, bewegte sich drohend auf die Kuttengestalt zu. Der Unheimliche ließ ihn ganz nahe herankommen. Ein weiter, schwarzer Ärmel zuckte hoch. Es geschah so schnell, daß Jürgen die Bewegung kaum mitbekam. Dafür spürte er den Schlag um so deutlicher. Der Hieb erwischte ihn dicht über dem Wangenknochen und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. »Tu doch was, Jürgen!« schrie Ilona und sauste nun ihrerseits von der Couch hoch. Die Hand des Unheimlichen schoß vor. Stahlharte Finger krallten sich um ihre Kehle. Verzweifelt versuchte sie, sich aus dem Klammergriff zu befreien. Doch die Finger hatten sich wie eine Schraubzwinge um ihren Hals gelegt, gaben keinen Millimeter nach. Die nackte Frau zappelte im Griff des Monstrums. Ihre Füße traten gegen die Kutte und den Körper des Unheimlichen, entlockten ihm jedoch nicht den geringsten Laut. Jürgen schüttelte den Kopf. Bekam wieder einen klaren Blick und griff an. Sein nackter Körper flog nach vorn, rammte gegen den Unheimlichen und stieß ihn zur Seite. Der Finanzmakler war 7
kein Schlägertyp, aber wild entschlossen, Ilona aus den Klauen des Kuttenmannes zu befreien. Es blieb bei dem Vorsatz. Ilona hatte sich durch Jürgens Aktion zwar aus dem Würgegriff winden können und rieb sich den schmerzenden Hals. Aber dies war auch der einzige Punkt, den Jürgen und Ilona für sich verzeichnen konnten. Der Kuttenträger fing sich, wich Jürgens Schlägen lässig aus und ließ ihn immer wieder ins Leere laufen. Ilona blickte sich gehetzt um. Suchte nach etwas, das sie als Waffe benutzen konnte. Sie fand nichts. Ihr kam nur ein Gedanke. Flucht! Jürgen geriet außer Atem. Er holte zu einem weiteren Schlag aus, sauste an dem Gegner vorbei und schwankte auf Ilona zu. »Wir müssen hier raus!« rief sie, ergriff Jürgens Hand und zog ihn zur Tür. Ihre Finger schlossen sich um die Klinke. Zogen. Die Tür blieb zu. Abgeschlossen! Verzweifelt rüttelte Ilona am Türgriff, ohne damit etwas zu erreichen. Ein hämisches Kichern ertönte hinter ihr! Ilonas Kopf fuhr herum. Sie starrte in das grauenhafte Gesicht des Unheimlichen, dessen Lippen nun zu einem sadistischen Grinsen verzogen waren. Panik überkam die junge Frau. Angstschweiß perlte auf ihrer Stirn. Ihr nackter Körper zitterte. Sie saßen in der Falle! Ilona Keilbach war nicht bereit, sich in ihr Schicksal zu ergeben. Sie wollte nicht unter den Händen dieses Wahnsinnigen sterben. Mit dem Mut der Verzweiflung stieß sie sich ab und warf sich auf den Unheimlichen. Er wurde von dem Angriff total überrascht, faßte sich jedoch sofort wieder und entging mit knapper Not Ilonas gekrümmten Fingern, die auf das leichenfahle Gesicht zuschossen. Ohne große Anstrengung packte die Gestalt Ilona um die Hüften und schleuderte sie quer durch das Zimmer. Ilona schrie, als sie gegen die Wand prallte, zurückfederte und über die Couch abrollte. 8
Jürgen sah, was mit seiner Freundin geschah, und er startete einen neuen Angriff. Der Angreifer war das Spiel leid. Ein kurzer, trockener Hieb ließ Jürgen zurückprallen. Sterne funkelten vor seinen Augen. Unendlich langsam sackte er in die Knie und kippte besinnungslos zur Seite. Ilona krabbelte auf allen vieren über den Teppich zur Hausbar, zog sich hoch und griff zur Cognacflasche. Sie nahm alle Kraft zusammen, wirbelte herum und schwang die Flasche. Der Hieb ging fehl. Mit Leichtigkeit entwand ihr der Unheimliche die Flasche und warf sie in eine Ecke. »Was - wollen Sie?« keuchte Ilona. Abgehacktes, hämisches Gelächter war ihre Antwort. »Ich - gebe Ihnen Geld. Sie - können haben, was sie wollen. Aber nicht mich. Bitte!« Die emotionslosen Augen verweilten auf ihrem schweiß- und tränennassen Gesicht, wanderten über ihren Hals und den zitternden Körper. »Du bist schön.« Die drei Worte waren nicht mehr als ein Flüstern. »Bitte…!« versuchte Ilona erneut ihr Glück. Sie sank auf die Knie, faltete flehend die Hände. Sie fühlte die kalte Hand des Unheimlichen, als er ihre Wange streichelte. Spürte, wie sich seine Finger in ihrem Haar festkrallten. Schmerzhaft wurde sie auf die Beine gezerrt. Eiskalte Finger glitten über ihren Körper. Ilonas Zähne klapperten hörbar. Ihr Atem ging stockend. Sie schloß die Augen. Ihr war klar, was gleich passieren würde. Sie war dieser Bestie hilflos ausgeliefert, würde die gleiche Angst und die gleichen Schmerzen verspüren wie unzählige Vergewaltigungsopfer vor ihr. Die kalten Finger krochen wieder nach oben, strichen über ihren Hals, über ihr Kinn. »Erinnere dich«, flüsterte die Stimme. »Neun Jahre ist es her.« »Ich - weiß nicht, was Sie - meinen«, stotterte Ilona. Die Finger an ihrem Kinn wirkten wie Stahlklammern. Ilonas Lippen wurden zu einem O zusammengepreßt. »Erinnere dich!« wiederholte der Unheimliche seine Forderung. »Du hast es noch nicht vergessen! Ihr alle werdet an jenen Tag zurückdenken. Ich werde eurem Gedächtnis auf die Sprünge 9
helfen!« Ilonas Brüste hoben und senkten sich. Ihre Knie gaben nach. In Gedanken drehte sie die Zeit zurück, durchlief Höhen und Tiefen ihres Lebens. Gesichter tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Sie durchlebte ihre beiden gescheiterten Beziehungen. Sah liebgewonnene und doch längst vergessene Kollegen und Kommilitonen vor sich. Ging weiter zurück. Sie versuchte, den Kopf zu schütteln, doch die Hand des Unheimlichen hielt sie unnachgiebig fest. Ilona gelangte in Gedanken zu jenem unheilvollen Tag vor vielen Jahren. Die dramatischen Ereignisse spulten wie ein Film in ihrem Kopf ab. Sie sah das verzerrte Gesicht. Das Blut. Hörte die Schreie. Erinnerte sich! Und riß weit die Augen auf. Die Hand des Kuttenträgers löste sich von ihrem Kinn. »Nein!« wisperte Ilona. »Das - ist nicht möglich! Das - kann nicht sein! Um Gottes Willen!« »So ist es brav!« zischte der Schreckliche. »Du hast dich erinnert. Und du wirst um Vergebung flehen!« Bevor Ilona Keilbach schreien konnte, traf sie der Hieb und ließ sie in den bodenlosen Schacht der Bewußtlosigkeit fallen. * Ihr Schädel dröhnte. Sie stöhnte und richtete sich auf. Dunkelheit umgab sie. Ihre Hände glitten über kalten Steinboden. Sie tasteten ihre Umgebung ab. Die Fingerspitzen folgten den Fugen zwischen den groben Pflastersteinen. Ilona reckte sich und verzog schmerzhaft das Gesicht. Der Schmerz breitete sich von ihrem Nacken über den gesamten Kopfbereich aus. Vorsichtig bewegte sie sich. Bemerkte, daß sie nicht mehr nackt war. Man hatte ihr ein grobes Leinengewand übergestreift. Auf Händen und Knien kroch sie durch den Raum, bis sie an eine Wand stieß, die war aus grobem Stein gehauen und feucht. Eine dünne Moosschicht bildete in der Feuchtigkeit eine ekelhafte, schmierige Haut. 10
»Jürgen!« Ilonas Stimme war zwar nur ein Flüstern, brach sich aber dennoch an den Wänden. »Jürgen? Bist du da?« Seltsam, dachte sie. Vor ein paar Stunden habe ich genauso nach ihm gerufen. Sie erhielt keine Antwort. »Hallo!« Sie hielt es nicht mehr aus. Schrie, daß ihr das tausendfache Echo ihrer Stimme in den Ohren schmerzte. »Ist hier jemand?« Irgendwo hörte sie schlurfende Schritte. Sie geriet in Panik. Das waren nicht die Schritte eines Menschen! Also gab es hier noch ein Wesen, das mit ihr den Raum teilte. Kaum war ihr dies klargeworden, schälte sich ein rotglühendes Augenpaar aus der Dunkelheit. Bosheit und Angriffslust lagen in den Pupillen. Leises Fiepen ertönte. Ilona schrie gellend und kroch an die Wand zurück. Zog die Beine eng an den Körper, umschlang sie mit den Armen und vergrub ihr Gesicht in einer Armbeuge, ohne den Blick von dem Augenpaar zu lassen. Sie war sich sicher, daß sich eine Ratte in diesem Raum befand. Und wenn der Nager Hunger bekam, dann gute Nacht, Marie! Ilona malte sich in schrecklichen Einzelheiten aus, wie sie von den scharfen Zähnen zugerichtet wurde. Sie wußte nicht, wie lange sie so an der Wand gekauert und die leuchtenden Augen beobachtet hatte, als der Gesang ertönte. Er schien direkt aus einer Gruft zu kommen. Dumpf, unheilvoll. Die Stimmen näherten sich. Ilona erkannte, daß es sich um einen Choral handelte, wie ihn die Mönche im Kreuzgang ihres Klosters sangen, wenn sie zur Messe oder zur kargen Mahlzeit schritten. Der Mönchsgesang schwang durch das Gemäuer, erfüllte Ilona mit Zuversicht. Obwohl es ihr merkwürdig vorkam, daß sie sich offenbar in einem Kloster befand. Eine halbe Ewigkeit schien vergangen zu sein, als sich ein schwerer Schlüssel in einem Türschloß drehte. Ilona kniff geblendet die Augen zusammen, als die schwere Tür aufgezogen wurde und heller Lichtschein in das Gewölbe drang. Grobe Hände packten sie, zerrten sie auf die Füße und schleiften sie nach draußen. Mit gesenktem Kopf wankte sie 11
zwischen den beiden Mönchen dahin. Hinter ihr gingen die anderen Ordensbrüder in Zweierreihen, die Hände in den weiten Ärmeln ihrer Kutten verborgen. Der Choral wurde wieder angestimmt und hallte schaurig zwischen den rohen Wänden auf. Der Weg führte über ausgetretene Treppen und durch spinnwebenverhangene Gänge. Ilona hatte bald jegliche Orientierung verloren. Irgendwann nahm sie wahr, daß sie in einem riesigen Gewölbe angelangt waren. Der Choral verstummte. Die Mönche nahmen in einem Halbkreis Aufstellung. Blakende Fackeln steckten in eisernen Wandhaltern und erzeugten einen flackernden Schein. Ilona sah eine große Halle vor sich. Der Boden war mit roh gehauenen Steinplatten bedeckt, die zu einem Sockel führten. Über drei breite Stufen gelangte man auf das Podest, das ebenfalls mit Steinplatten ausgelegt war. Im hinteren Teil des Steinsockels, tief im Schatten des Gewölbes, zeichneten sich undeutlich die Umrisse einer menschlichen Gestalt ab. »Laßt sie los!« befahl eine herrische Stimme. Ilona wandte den Kopf und sah ihren Entführer, der von zwei Fackeln beleuchtet wurde. Der Griff an ihren Armen lockerte sich. Ilona erhielt einen Stoß, der sie vor den Unheimlichen beförderte. »Wo ist Jürgen? Was habt ihr mit ihm gemacht?« fragte sie. »Meine Freunde haben sich seiner angenommen.« Der Unheimliche hob eine Hand und deutete auf die umstehenden Mönche. Einer der Mönche trat vor. Er war etwas größer als seine Brüder. Er verneigte sich und hob den Kopf. Die Kapuze der Kutte fiel zurück. Das zuckende Licht der Fackeln erhellte das Gesicht des Mönchs. Ilonas Entsetzensschrei hallte durch das Gewölbe. Unter der Kapuze grinste ein bleicher Totenschädel auf sie nieder. Die junge Frau wirbelte herum, ballte die Hände zu Fäusten und stürzte sich auf den Maskierten. »Sie verdammter Teufel! Was haben Sie mit uns vor? Wieso quälen Sie uns so?« Lässig blockte der Unheimliche Ilonas Schläge ab und stieß die Frau von sich. »Teufel!« Er lachte. »Ich glaube nicht, daß diese 12
Bezeichnung auf mich zutrifft. Außerdem nimmt bereits ein anderer diesen Titel für sich in Anspruch. Und er verfügt über die absolute Macht. Sagen wir lieber, ich arbeite Hand in Hand mit ihm zusammen.« »Aber Sie benehmen sich wie er!« »Was weißt du schon über den Teufel?« höhnte der Schreckliche. »Du bist ihm nie begegnet. Dabei hättest du schon längst seine Bekanntschaft machen sollen. Du hast so viel Schuld auf dich geladen, daß deine Zeit schon lange gekommen ist. Heute wird sich dein Schicksal erfüllen, meine Liebe.« »Hören Sie mit diesem albernen Theater auf! Die Maskerade können Sie sich auch sparen. Und das gilt auch für Ihre komischen Brüder hier. Sie sind ein Irrer, und ich sorge dafür, daß Sie in eine geschlossene Anstalt kommen!« Die Worte sprudelten nur so aus Ilona heraus. Unsägliche Wut hatte sie gepackt. »Ich bin gespannt, wie du das anstellen willst, kleine Ilona. Übrigens - meine Brüder sind nicht maskiert.« Ilona sah wieder die grinsende Totenfratze des hageren Mönchs und schluckte. Sie kam sich vor wie in einem Alptraum. »Wo - ist Jürgen?« fragte sie zaghaft. Der Mut wollte sie verlassen. Die Gestalt mit dem entstellten Gesicht deutete zum Steinsockel hin. »Ich verstehe nicht«, murmelte Ilona. »Geh hin. Dein Liebster wartet auf dich.« Wie in Trance setzte Ilona einen Fuß vor den anderen. Die Kälte des Bodens nahm sie dabei kaum wahr. Für sie zählte einzig und allein, Jürgen bald wieder wohlbehalten in die Arme schließen zu können. Er gab ihr Halt und Sicherheit wie kein anderer Mann. Bei ihm fühlte sie sich geborgen. Sie näherte sich dem Sockel, betrat die Stufen und blieb am Rand des Podestes stehen. »Er ist nicht hier!« rief sie. »Verdammt, lassen Sie mich endlich zu ihm!« Ein knarrendes Geräusch ertönte. Der Fackelschein reichte gerade noch aus, daß Ilona die große Gestalt am hinteren Teil des Sockels erkannte. Ein bildhübsches Frauengesicht lächelte ihr entgegen. Die Gestalt bewegte sich. Das heißt, ein Teil der Gestalt. Fassungslos beobachtete Ilona, wie der Frauenkörper 13
regelrecht aufklappte. Das Knarren wurde immer lauter. Ilona stockte der Atem. Dann sah sie ihn. Sein Gesicht war vor Schreck und Schmerz verzerrt. Stählerne Dornen hatten seinen Körper und den Kopf durchbohrt. »Jürgen! Mein Gott! Jüürrgeenn!!« Ilona kreischte sich die Seele aus dem Leib, wollte zu ihrem toten Freund laufen, blieb aber wie erstarrt stehen, als sich die beiden Hälften der Eisernen Jungfrau wieder schlossen und Jürgen Tremel für immer dem Blick der jungen Frau entzogen. »Sie Mörder! Sie sind wahnsinnig! Warum quälen Sie mich? Machen Sie ein Ende, verdammt! Ich kann nicht mehr!« »Ich quäle dich nicht, Ilona. Auch deinen Liebsten habe ich nicht gequält, sonst würdest du jetzt noch seine Schmerzensschreie hören. Aber die Idee ist gut. Vielleicht werde ich sie bei den anderen ausprobieren.« Ilonas Entführer ließ die Worte wirken, bevor er fortfuhr. »Der Schmerz, der dich erfüllt, ist kaum zu ertragen, nicht wahr? Hüte ihn gut, denn der Schmerz ist alles, was dir noch bleibt. Bis sich dein Schicksal erfüllt.« »Ich habe Ihnen nichts getan. Ich kenne Sie nicht mal«, wimmerte Ilona. Der Unheimliche wandte sich ab. Beschrieb mit den Armen seltsame Bewegungen vor dem Gesicht und murmelte leise, unverständliche Formeln. Die Luft um seinen Kopf herum begann zu flimmern. Bis zu den Schultern wurde der Kopf in ein hellviolettes Licht getaucht. »Neun Jahre, Ilona. Neun lange Jahre«, flüsterte der Unheimliche und drehte sich langsam um. Das wächserne, halb zerfressene Gesicht hatte sich verändert. Fassungslos starrte Ilona auf den violetten Kopf des Unheimlichen. »Warum jetzt?«, flüsterte sie. »Nach so vielen Jahren?« »Es hat lange gedauert, bis ich die Kraft dazu hatte. Damals stand ich erst am Anfang. Dir habe ich es zu verdanken, daß sich meine Kraft nicht entfalten konnte und ich alles verlor, was mir im Leben etwas bedeutet hatte. Doch jetzt habe ich mächtige Verbündete!« Die Kuttenarme beschrieben einen Halbkreis. »Jetzt wirst du für deine Schuld büßen, Ilona.« »Aber ich war nicht allein…« machte Ilona den schwachen 14
Versuch einer Rechtfertigung. Das violett schimmernde Haupt neigte sich. »Ich weiß. Die anderen sind auch bald an der Reihe. Erst wenn ihr euren Fehler eingesehen und dafür Buße getan habt, wird meine Macht unermeßlich sein. Dann erst werden mir die Ehre und die Kraft zuteil werden, die Macht des Höllenfürsten in diesem Land zu verbreiten.« Die dunkel umränderten Augen in dem violetten Lichtkreis ruhten auf Ilonas Gesicht. » Es wird mein Wort sein, das fortan zählt, kleine Ilona…« Ilona hatte eingesehen, daß sie gegen den Fanatismus ihres Entführers nicht ankam. Aus tränenverschleierten Augen schaute sich zur Eisernen Jungfrau, die weit vor ihr stand und sie freundlich anlächelte. »Gehe zu deinem Liebsten, Ilona. Küß die Jungfrau und sei frei. Tust du es nicht, werden sich meine Brüder mit dir befassen.« Ilona drehte sich um, sprang die Stufen hinunter und versuchte, an den Skelettmönchen vorbei zum Ausgang des Gewölbes zu gelangen. Doch sie schaffte es nicht. Knochenhände griffen nach ihr, zerrten an ihrem Gewand. Ilona wehrte sich verbissen, konnte aber nichts gegen die dämonischen Mönche ausrichten. Ihr Gewand hing in Fetzen. Ihre Haut war von unzähligen Kratzern bedeckt. Starke Hände hoben sie auf das Podest, stießen sie auf die Eiserne Jungfrau zu. »Geh zu ihr! Empfange den erlösenden Kuß der Jungfrau! Sie wird dir vergeben.« Ilona taumelte unsicher auf die lächelnde Frauengestalt zu. Die Jungfrau hatte die Arme ausgebreitet, um Ilona zu empfangen. Die junge Frau blieb vor der Eisernen Jungfrau stehen, schaute unsicher zu ihren Peinigern zurück. »Du mußt sie küssen!« Ilona machte einen letzten Schritt, hob sich auf die Zehenspitzen und drückte ihre Lippen auf den kalten Mund der Eisengestalt. Der Boden unter Ilonas Füßen bewegte sich. Erschrocken drehte sie sich um und hörte das pfeifende Geräusch, das sich ihr von beiden Seiten aus der Dunkelheit näherte. Sie schaute nach rechts. Sah die blitzende Schwertklinge auf sich zurasen. 15
Riß in plötzlichem Verstehen den Mund weit auf und konnte doch nicht schreien. Ihr letzter Gedanke galt Jürgen. Dann kam der Schmerz, der vom Hals ins Gehirn raste und jeden Gedanken auslöschte. Und dann kam das Aus. * Susanne Langenbach hatte sich verspätet. Sie hastete die ausgetretenen, knarrenden Stufen des Altbaus hoch und schloß die Wohnungstür auf. »Du kommst spät, Mami!« begrüßte sie eine helle Kinderstimme. »Wenn mir das passieren würde, könnte mich wahrscheinlich nicht mal ein Anwalt vor einer Standpauke und einer Ordnungsstrafe bewahren!« Susanne mußte lachen. Ihre Tochter Anna, die von allen nur Floh genannt wurde, stand in der Küchentür, die Hände in die Hüften gestemmt, und schaute vorwurfsvoll zu ihr herüber. »Der dicke Staatsanwalt, mit dem sich Paps immer rumstreitet, würde dir jetzt einen Vortrag über deine Pflichten als Mutter halten.« Susanne stellte die Einkaufstasche ab. »Für eine Neunjährige hast du aber ein ganz schön großes Mundwerk, Fräulein Langenbach. Mit welcher Strafe muß ich deiner Meinung nach rechnen?« Floh setzte ein ernstes Gesicht auf. »Die Tochter vernachlässigt, nichts gekocht, kein Begrüßungskuß und nicht mal ein kleiner Versuch, um Verzeihung zu bitten. Da kommt eine ganz schöne Latte zusammen, Frau Langenbach. Die Strafe beläuft sich auf mindestens…« Sie runzelte die Stirn und grübelte, »… zwei große Vier-Jahreszeiten-Pizzen, zwei große Eisbecher und meine neue Lieblings-CD. Wenn die Bitte um Verzeihung nachgereicht wird, kann sich das Gericht auf eine Strafminderung einlassen. Ein Eisbecher statt zwei.« »Und wie sieht dieses Friedensangebot aus?« Floh grinste verschmitzt. »Eine Juniortüte. Die war schon lange mal wieder fällig.« Susanne lachte und wandte sich ab. »Irgendwie hab ich geahnt, was mich erwartet.« Sie zog die eben erwähnte 16
Hamburgertüte mit dem strahlenden Clown aus der Einkaufstasche. »Ein Cheeseburger extra.« Floh jauchzte. Wie jedes Kind, fuhr auch sie auf das Fast Food ab. Hamburger mit Pommes machten sie selig. Und wenn dann noch Spielzeug dabei war, schwebte sie im siebten Himmel. Sie nahm Anlauf und warf sich ihrer Mutter in die Arme. Susanne drückte ihr einen dicken Schmatz auf jede Wange. »Und das war der Begrüßungskuß. Wie war's in der Schule?« »Och, der Fleischerhund hat mal wieder einen Haufen Stuß erzählt. Und jede Menge Hausaufgaben haben wir bekommen. So wie jeden Tag.« Susanne streifte ihre Jacke ab und hängte sie über einen Bügel an der Flurgarderobe. »Der Fleischerhund hat einen Namen«, wies sie ihre Tochter zurecht. »Mmh. Isch weisch«, nuschelte Floh aus der Küche. Sie hatte den Mund voller Kartoffelstäbchen und schob immer neue nach. »Hascho. Oder Reksch!« »Frau Rottweiler heißt die Dame. Sie ist nun mal deine Klassenlehrerin und hat Respekt verdient. Für ihren Namen kann sie nichts.« »Für ihr Aussehen auch nicht. Und schließlich kann ja nicht jeder so schön heißen wie ich. Frau Floh kneift alle Schüler in den Po! Gar nicht mal übel, oder?« »Nein. Wenn man dich so hört, müßtest du in Deutsch eine glatte Eins verdienen.« »In der Schule ist das wie bei Aldi, Mami. Hinten anstellen und warten. Die Eins kommt auch noch. Aber zuerst sind die drei und die zwei an der Reihe.« »Du weißt wirklich auf alles eine Antwort, Fräulein Neunmalklug. War die Post schon da?« »Drüben bei Paps auf dem Schreibtisch. Hast du was für mich gekauft?« Susanne ging ins Wohnzimmer. In einer Ecke stand ein schmaler Sekretär aus der Jahrhundertwende, den ihr Mann Peter auf einem Flohmarkt ergattert hatte und nun als Schreibtisch benutzte. Floh hatte die Post der Größe nach sortiert auf dem Möbelstück gestapelt. »Nein. Wieso sollte ich?« fragte Susanne gedankenverloren, während sie die Umschläge durchsah. »Na, wo dein Flohkind doch bald nur noch Einser schreibt. Ich 17
sollte mir allmählich Gedanken um die Gästeliste für eine Party machen. Wenn du den Grund »bessere Noten« nicht akzeptierst, feiere ich halt meinen Geburtstag groß nach. Vor paar Wochen war ich ja krank.« »Ich hatte schon gehofft, du hättest die Geburtstagsfeier vergessen.« »Ich hab doch kein Alzheimer.« Vom Wohnzimmer gelangte man durch eine Schiebetür in die Küche. Susanne konnte ihre Tochter am Küchentisch sitzen und mampfen sehen. »Wir werden über die Liste nachdenken, Fräulein. Ich bin nicht das Holiday Inn und kann halb Weimar bewirten.« »Mußt du auch nicht, Mami. So zwanzig bis dreißig Leute genügen vollkommen.« Von Susanne kam keine Reaktion. Floh runzelte die Stirn. Irgendwas stimmte nicht. Auf die Bemerkung hätte ihre Mutter eigentlich abzischen müssen wie eine Silvesterrakete. Sie fand Susanne am Sekretär. Nachdenklich saß sie auf einem Polsterstuhl. Die meisten Kuverts lagen ungeöffnet auf ihrem Schoß. Floh entdeckte zwei Umschläge mit Werbung und ein großes, aufgerissenes Kuvert. Susanne hielt ein Blatt Papier und einen Zeitungsausschnitt in der zitternden Hand. »Was ist denn, Mami? Schlechte Nachrichten?« Susanne schreckte auf. »Wie? Nein, Floh. Es ist - nichts. Ich bin nur erschöpft vom Einkaufen.« »Hau dich ruhig ein wenig hin und mach einen Mittagsschlaf. Wir jungen Leute haben das nicht nötig. Wir haben eben noch mehr Energie als ihr Oldies.« Susanne legte die Post beiseite und lächelte. Während sie Floh bei den Hausaufgaben beaufsichtigte, vergaß sie den Brief völlig. Danach plapperte die Kleine unaufhörlich von ihrer nachzuholenden Geburtstagsfeier. Sie fischte einen Schreibblock aus ihrer Schultasche und begann, eine Gästeliste anzufertigen. »Ich dachte, Mark steht ganz oben auf deiner Liste«, bemerkte Susanne. Floh hob indigniert den Kopf. »Ich kann nicht meine ganze wertvolle Zeit damit verschwenden, zu warten, bis Herr Markus 18
Hellmann mal den Rappel kriegt und bei uns aufkreuzt. Auch wenn er noch so gut aussieht«, fügte sie leise und schwärmerisch hinzu. »Er kommt viel zu selten zu uns. Und wenn, dann labert er meistens mit Paps über irgendwelche Verbrecher. Jetzt wird er sehen, was er davon hat. Ich werde Heinzi Willmers und Charlie Möller als Ehrengäste einladen. Das wird Mark sauer aufstoßen.« Susanne strich ihrer Tochter über den Kopf. Der dicke Heinzi Willmers mit den Wurstfingern, dessen Vater das beste Fleischergeschäft am Ort besaß, war nun wirklich keine Konkurrenz für einen großen, gutaussehenden Mann wie Mark. Und der spindeldürre Charlie mit dem ungesunden Teint, Sohn eines Autohändlers, schon zweimal nicht. Aber sie verstand ihre Tochter. Zwischen Floh und Mark gab es ein unsichtbares Band, das beide zusammenhielt. Floh verband eine innige Freundschaft mit dem besten Kumpel ihres Vaters, besonders seit er sie aus den Krallen des Vampirfürsten Dracomar befreit hatte (Siehe MH 1!). Damals hatte sich auch für Susanne und ihren Mann Peter, den sie und seine Freunde Pit nannten, einiges verändert. Mark war dem Teufel persönlich begegnet und hatte erfahren, daß er dazu berufen war, der Hölle zu trotzen und die teuflischen Pläne des Höllenfürsten zu stören. Seitdem hatte er zahlreiche Abenteuer bestanden, in die auch Pit als Hauptkommissar bei der Weimarer Kripo verwickelt worden war. Mehr als einmal hatte Susanne um Pits Leben bangen müssen. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, Pit an Marks Seite gegen die Mächte der Finsternis kämpfen zu sehen. Aber er würde seinen besten Freund nie im Stich lassen, und das erfüllte sie auch wieder mit Stolz. Vielleicht hat Floh recht, überlegte sie. Etwas Ruhe könnte mir guttun. Sie ging ins Bad und stellte an der Mischarmatur der Badewanne die Wassertemperatur ein. Schüttete Badesalz und eine wohlriechende Kräuteressenz in die Wanne und ging zum Spiegel. Lange betrachtete sie sich. Sie steckte das Blondhaar hoch und ließ den kritischen Blick über ihr Gesicht wandern. Sie war zweiunddreißig und schön, wie ihr Pit zumindest immer versicherte. Und doch entdeckte sie in den Augenwinkeln sowie an Kinn und Hals Fältchen, die ihr überhaupt nicht gefielen. Pit verstand es hervorragend, ihre 19
Zweifel zu zerstreuen. Er liebte jedes Fältchen und jedes Grübchen an ihr. Sie zog sich aus, fuhr mit den Fingern prüfend über ihre vollen Brüste. Susanne war gertenschlank gewesen, aber ihre Weiblichkeit war erst durch die Geburt ihrer Tochter erblüht. Ihre Brüste waren voller geworden, die Hüften runder. Trotzdem war der Bauch einigermaßen straff geblieben. Alles in allem konnte sie mit ihrer Figur mehr als zufrieden sein und locker mit den Geschlechtsgenossinnen der Stadt konkurrieren. Susanne stieg in die Wanne, lehnte sich zurück, schloß die Augen und seufzte wohlig. Die Kräuteressenz belebte ihre müden Glieder. In diesen Momenten sehnte sie sich nach ihrem früheren Job als Chemotechnikerin zurück. Obwohl der sie auch ziemlich gefordert hatte. Aber die Mutterrolle machte ihr Spaß. Sie wollte sich Flohs Erziehung und Entwicklung zumindest so lange widmen, bis das Mädchen aus dem Gröbsten heraus war. Dann konnte Susanne immer noch in ihren Beruf zurück. Hoffte sie zumindest. Sie ließ sich tiefer, ins heiße Wasser gleiten. Spürte, wie die wohltuende Flüssigkeit über ihre Brüste schwappte. Sie hob ein Bein und stellte den Fuß auf den Wannenrand. Ihre Gedanken kehrten zu dem Brief mit dem Zeitungsausschnitt zurück. Erinnerungen tauchten auf, an Freunde, Arbeitskollegen, an fröhliche, unbeschwerte Zeiten. Und dazwischen zuckte immer wieder der blitzartige Eindruck von Blut und weit aufgerissenen Augen auf. Susanne verdrängte die Erinnerungsfetzen. Sie sah wieder den Briefbogen vor sich. Nur wenige Worte standen auf dem Blatt. Vier Zeilen. Neun Jahre. Erinnere Dich an damals. So wie Ilona. Ihr ist vergeben worden. Fein säuberlich in die Mitte des Blattes geschrieben. Mit einem PC. Und dabei lag die Todesanzeige. Durch eine tragische Wendung des Schicksals wurden sie von dieser Welt gerufen. ILONA KEILBACH - JÜRGEN TREMEL 20
Im Leben wie im Tode vereint - und vereint in der Welt der Ewigen Finsternis. Einer der Namen kam Susanne bekannt vor. Ilona Keilbach. Susannes Kopf ruckte unruhig hin und her. Sie murmelte leise vor sich hin. Sah wieder das vertraute und weniger vertraute Gesicht vor sich. Das Gesicht einer jungen, hübschen, Frau mit schulterlangem Haar. War das die brünette Ilona? Schlagartig zerplatzte das Frauengesicht, machte einem Wirbel aus explodierenden Sternen Platz. Umrisse bildeten sich. Ein Kopf. Kurze, braune Haare. Segelfliegerohren. Plötzlich war das andere Gesicht da. Die Augen und der Mund waren weit aufgerissen. Susanne konnte das Weiße in den Augen erkennen. Und überall war - Blut! Susanne spürte, wie es ihr trotz des warmen Badewassers eiskalt den Rücken hinunterlief. Etwas Kaltes legte sich auf ihre Wange und glitt auf ihre Brust. Streichelte sie sanft. Sie schnappte nach Luft. Ihr war, als drohte sie zu ertrinken oder zu ersticken. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Das Wasser schwappte hoch. »Mit einer solchen Reaktion hätte ich nicht gerechnet«, meinte Pit Langenbrach, der sich über die Wanne gebeugt hatte. »Wenn du schon auf einen Kuß und eine zärtliche Berührung so stürmisch reagierst, kann ich mich ja gleich auf was gefaßt machen.« Die Lippen unter dem dichten Schnauzbart teilten sich zu einem Lächeln. Er beugte sich tiefer, suchte ihren Mund, küßte sie zärtlich, während seine Hände abtauchten und unter Wasser ihre Zärtlichkeiten fortsetzten. »Was machst du denn so früh hier?« fragte sie, als sich seine Lippen von den ihren lösten. »Ich dachte, ich komme heim und helfe dir beim Baden. Ich seife gerne hübsche, nackte Frauen ein.« »Komm rein. Es gibt genug Platz für zwei«, lud sie mit einem verführerischen Unterton ein. »Würde ich ja gerne«, meinte Pit und spielte mit ihrer linken Brust, was Susanne mit einem Schnurren quittierte. »Aber Floh ist in Hörweite. Und ich möchte nicht, daß sie uns bei unseren 21
heißen Liebesspielen in der Wanne überrascht und es dann überall herumposaunt. Du kennst deine Tochter.« »Sie ist auch deine Tochter, mein Lieber.« Susanne setzte sich auf. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Die paar Stunden wirst du dich doch noch gedulden. Manche Männer müssen sich viel länger gedulden. Jahre. Was sag ich? Jahrzehnte! - Gibst du mir mal das Handtuch!« Draußen schlug das Telefon an. »Ich geh ran!« brüllte Floh, in der Hoffnung, eine ihrer Freundinnen würde sie zu einem Dauergespräch veranlassen. Gleich darauf tauchte sie in der Badezimmertür auf. »Es tut mir ja furchtbar leid, daß ich euren Verkehrsunterricht unterbrechen muß, aber hier ist einer dran, der Mami sprechen will. Du solltest Mami den Bademantel holen, bevor sie sich erkältet, Paps. Es ist noch nicht Hochsommer. Jetzt kann man noch Schnupfen kriegen.« »Sag mal, lernt ihr so was heutzutage in der Schule?« fragte Pit zerknirscht. »Was?« »Verkehrsunterricht, und so.« »Ach was. Heinzi hat's von seinem Vater. Er meint, seine Mutter und der Metzger machen das öfter. Meistens hinten bei den Schweinehälften. Weil sie meinen, Heinzi kriegt dort nix davon mit.« »Fräulein, ich weiß nicht, ob mir dein Umgang gefällt.« »Keine Bange, Paps. Der Heinzi ist mir zu fett. Aber du kannst ihn selbst fragen. Er kommt zu meiner nachträglichen Geburtstagsfeier.« Die Kleine reichte das schnurlose Telefon an Susanne weiter und trollte sich. »Hallo!« Susanne hielt den Hörer ans Ohr. »Eine tolle Stimme hat deine Tochter. Wirklich niedlich.« Das Flüstern ließ Susanne unmöglich erkennen, ob der Anrufer männlich oder weiblich war. »Ich verstehe nicht. Mit wem spreche ich? Und was wollen Sie?« Ein häßliches Kichern antwortete. »Hast du dich erinnert? Neun lange Jahre ist es her. Die kleine Ilona hat sich auch erinnert. Ich mußte ihr nur ein wenig dabei helfen.« »Hab ich Ihnen diesen makabren Brief zu verdanken? Ich hab 22
keinen Sinn für Ihre Scherze, Meister. Lassen Sie mich in Ruhe, oder ich schalte die Polizei ein.« »Ilona hat mir auch gedroht. Es hat ihr nichts genützt. Vor deinem Freund und Helfer hab ich auch keine Angst, kleine Susanne. Du hast ihn dir ins Bett geholt, und wenn die Zeit reif ist, wirst du sehen, wie er eine Jungfrau küßt. Und es wird dir Schmerzen bereiten, kleine Susanne. Unerträgliche Schmerzen! Denke neun Jahre zurück, kleine Susanne, und genieße die Zeit, die euch noch bleibt!« Das häßliche Kichern ging in schallendes Gelächter über. Susanne sah wieder das blutverschmierte Gesicht vor sich, schleuderte das Telefon gegen die Wand und warf sich weinend an Pits Brust. * INLINERS RUNTER VON DER STRASSE! lautete die Schlagzeile, mit der mir Max Unruh, mein Chefredakteur bei der Weimarer Rundschau, vor der Nase herumwedelte. »Finden Sie das nicht ein wenig übertrieben, Chef?« fragte ich vorsichtig. Ein Blick auf Unruhs krebsrot angelaufenes Gesicht hatte genügt, um mich über den momentanen Gemütszustand meines Brötchengebers aufzuklären. »Übertrieben!« dröhnte mir seine Stentorstimme entgegen. »Weißt du, was ich für übertrieben halte? Deine Bequemlichkeit, mein Lieber! Früher hast du dich förmlich um gute Stories gerissen und warst stets auf der Suche nach neuen Themen. Aber seit du diesen dämlichen Schatz gefunden hast, deine Zeit mit Interviews für Konkurrenzblätter und dämliche Fernsehshows verplemperst und dich mit irgendwelchen Teufeln rumschlägst, ist nichts mehr mit dir anzufangen. Verdammt, Mark, ich hab dich nicht zu einem hervorragenden Zeitungsmann ausgebildet, damit du jetzt vergammelst. Reiß dich endlich am Riemen!« »Wenn ich das täte, würden Ihnen aber eine Menge Frauen die Bude einrennen.« »Laß mich bloß mit deinen ewigen Weibergeschichten in Ruhe. Es gibt Wichtigeres!« »Möglich. Aber kaum etwas Schöneres.« Der kleine Chefredakteur fuhr gereizt hoch. »Mußt du immer 23
das letzte Wort haben? Du vergißt, wer der Chef ist!« »Wie könnte ich, Chef? Sie erinnern mich auf Ihre fürsorgliche Art immer wieder daran.« Obwohl ich die Aufregung meines Mentors recht locker nahm, mußte ich ihm beipflichten. Seit ich als Träger des Rings die Aufgabe übernommen hatte, gegen die Mächte der Finsternis zu kämpfen, blieb nur noch wenig Zeit, den rasenden Reporter zu spielen. Ich war nun mal ein Auserwählter und hatte meine Präferenzen gesetzt. Daß man dabei allerdings nicht reich werden konnte, war klar. Es war ja auch zuviel verlangt, vom Höllenfürsten Mephisto noch dafür entlohnt zu werden, daß ich ihm ständig zwischen die Hörner haute. Aber die Talkshows, in denen ich vor kurzem rundgereicht wurde, zahlten gut, und die Gutachterhonorare, die ich hier und da einheimste, konnte sich ebenfalls sehen lassen. Und vielleicht fand ich ja mal wieder einen Schatz. Wenn ich nicht gerade schreckliche Dämonen in ihre Schranken verwies, kehrte ich wie ein verlorener Sohn in die Redaktion zurück. Die Arbeit als freier Reporter war ein willkommener Ausgleich zur anstrengenden Dämonenhatz, und die Rundschau zahlte nicht schlecht. Mochte Max Unruh noch so zetern, wenn ich ihm unter die Augen kam, war er doch ein väterlicher Freund, dem ich viel zu verdanken hatte und der sich immer freute, mich zu sehen. Nachdem ich erfolgreich Ethnologie studiert und den trockenen Job des Wissenschaftlichen Assistenten beim Völkerkundemuseum in Berlin hingeschmissen hatte, nahm mich Max unter die Fittiche und vermittelte mir alle Kenntnisse, die ein junger, unerfahrener Reporter von einem alten Zeitungsfuchs wie ihm lernen konnte. Ich wurde zu einem mit allen Wassern gewaschenen Pressemann, dem kein Thema zu brisant war. Nachdenklich spielte ich mit dem silbernen Siegelring an meiner rechten Hand. Er war mein einziger Besitz gewesen, als ich in der Mainacht 1980 nackt und einsam in Weimar aufgegriffen worden war. Ich war damals etwa zehn Jahre alt gewesen. Der Polizeikommissar Ulrich Hellmann und seine Frau Lydia hatten mich adoptiert und mir aufgrund der Initialen M und N, die auf dem Ring eingraviert waren, die Vornamen Markus Nikolaus gegeben. Inzwischen hatte ich jedoch vom großen Seher Nostradamus persönlich erfahren, daß er selbst den Ring 24
hergestellt und mit den Initialen seines Namens, Michel de Notre Dame, versehen hatte (Siehe MH 31!). Der Ring war zu einem unersetzlichen Hilfsmittel in meinem Kampf gegen die Hölle geworden. Ich log nicht, wenn ich behauptete, daß Mephisto, mein Erzfeind, hinter dem Ring her war wie der Teufel hinter der armen Seele. Max Unruh hatte Dampf abgelassen und warf die Zeitung auf seinen Schreibtisch. Es handelte sich um ein Konkurrenzblatt aus dem Süden. »Wollen Sie, daß ich Ihnen ein Exklusivinterview mit den Rollschuhfahrern von Weimar liefere?« fragte ich in die plötzlich eingetretene Stille und nickte zu der Zeitung hinüber. »Quatsch! Das kriegt jeder kleine Redaktionsvolontär hin. Ich will was Besonderes, verstehst du? Ich will wissen, wie sich die Problematik in Weimar darstellt. Ist es hier genauso schlimm? Was sagen die Weimarer Bürger dazu…?« Mit den Worten »Ich werde mich drum kümmern.« verabschiedete ich mich. Milde Frühlingsluft schlug mir entgegen. Es war überraschend schwül für den April. Durch das Weimarer Zentrum schoben sich wie seit Monaten die Besuchermassen. Goethe, Schiller und das Kulturstadt jähr lockten sie herbei. Unter ihnen viele Mädchen, die sich entsprechend luftig gekleidet hatten und dem Betrachter ungeahnte Einblicke gewährten. »Setz dir wenigstens eine Sonnenbrille auf«, hörte ich eine leicht rauchige Frauenstimme. Ich drehte mich um und sah mich Tessa Hayden gegenüber, die mich mit blitzenden Augen musterte. Sie war Fahnderin bei der Weimarer Kripo und direkt meinem Freund und Kampfgefährten Pit Langenbach unterstellt. Meine Freundin Tessa sah aufreizend aus. Sie trug eine schwarze Motorradkluft. Die Jacke war geöffnet und gab den Blick auf ein türkisfarbenes T-Shirt frei, unter dessen Stoff sie auch nicht mehr viel anzuhaben schien. Tessa hatte die Sonnenbrille auf ihr kurzgeschnittenes Braunhaar geschoben. Den Motorradhelm hielt sie in der Hand. Bei schönem Wetter verzichtete sie auf einen Wagen und preschte mit ihrer Suzuki durch die Gegend. Wir waren schon eine Weile zusammen. Anfangs hatte ich unsere Beziehung recht locker gesehen und mich auch nach rechts und links umgeschaut, was Tessa zu unschönen 25
Eifersuchtsszenen veranlaßt hatte. In letzter Zeit hatte ich allerdings beschlossen, Tessa treu zu sein, denn eine bessere Partnerin konnte sich ein Mann kaum wünschen. Doch eifersüchtig war Tessa geblieben… »Warum sollte ich eine Sonnenbrille aufsetzen?« fragte ich, denn die Sonne hatte sich momentan hinter einer dichten Wolkendecke versteckt. »Damit man deine Stielaugen nicht bemerkt!« gab Tessa verächtlich zurück. Ich machte einen Schritt auf sie zu. »Appetit darf man sich ja wohl noch holen, solange man zuhause speist«, sagte ich und küßte sie sanft. Ihre Lippen waren weich und warm und machten Lust auf mehr. »Was treibt dich in die Stadt?« »Routine. Geschäftsleute haben sich beschwert, daß die Ladendiebstähle zunehmen. Ein paar Kids scheinen übermütig geworden zu sein. Hast du einen neuen Auftrag?« »Thema: Verbannt die Inline-Skater aus der Stadt! Was mit den Bratwurstbuden bisher nicht gelungen ist, soll wenigstens bei den Inlinern klappen. Übrigens, hast du schon unterschrieben?« »Wofür oder wogegen?« fragte Tessa zurück. »Bratwurstkrieg, Verbannung aller kleinen Würstchen aus Weimar.« Tessa lachte. »Dann hast du ja nichts zu befürchten.« Ich zuckte die Achseln. »Mit den Skateboardern hatten wir vergangenes Jahr das gleiche Problem. Und alles hat sich in Wohlgefallen aufgelöst.« »Du kannst nicht immer nur über gefährliche Verbrecher, korrupte Beamte und unfähige Politiker berichten, Mark. Kümmere dich auch mal um den Mann von der Straße. Gerade diese Geschichten interessieren die Leute. Und da jetzt so viele Menschen durch die Straßen laufen, stören die Inliner wirklich.« Wir gingen durch die Fußgängerzone, genehmigten uns im Cafe Frauentor in der Schillerstraße einen Eiskaffee und beobachteten das bunte Gemisch aus Berufstätigen, die ihre Mittagspause im Freien verbrachten, Touristen und Schülern und Studenten, die durch die Stadt bummelten. Ich genoß die ruhigen Minuten mit Tessa. Die Hölle ließ mir kaum Zeit zum Verschnaufen, und auch Tessa stand in ihrem Job fast ständig unter Strom. Das Verbrechen ruhte eben nie, und wenn sie sich nicht mit Kriminellen herumschlug, wurde Tessa 26
durch ihre Freundschaft mit mir oft mit dem Übersinnlichen konfrontiert. Genauso erging es Pit Langenbach, der schon mehrfach an meiner Seite erfolgreich gegen Mephistos Schergen angetreten war. Wir hörten die Schreie, als wir uns auf dem Weg zum Markt befanden. Nicht weit entfernt bemerkte ich einen Menschenauflauf. Die Leute redeten aufgeregt durcheinander. Tessa warf mir einen alarmierten Blick zu, rückte die Dienstwaffe zurecht und rannte auf die Menschenansammlung zu. Sie hatte ihr Ziel noch nicht erreicht, als die Leute auseinanderspritzten. Eine Frau stürzte schreiend zu Boden. Ein Mann erwischte einen Tritt zwischen die Beine und krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Und dann kamen sie. Es war eine kleine Bande, sieben Jungs und Mädchen im Alter von vielleicht dreizehn bis siebzehn Jahren. Vier von ihnen jagten auf Inline-Skates zwischen den aufgebrachten Leuten hindurch, stießen sie wie Footballspieler mit der Schulter beiseite und erzwangen sich so Bewegungsfreiheit. Tessa sprang der Bande in den Weg, rammte einem Skater den Motorradhelm in die Seite und brachte ihn zu Fall. Ein Mädchen hetzte an ihr vorbei, doch Tessa packte zu und schnappte die Kleine am Kragen ihrer Jeansjacke. »Endstation, Schätzchen!« rief sie und bückte sich, um dem gefallenen Rollschuhläufer Handschellen anzulegen. Die restlichen Kids jagten auf mich zu. Ich blieb gelassen, zog mit dem Fuß einen Bistrostuhl heran und schob ihn quer über die Straße. Die beiden Kids, die neben den Skatern rannten, stolperten über den Metallstuhl und rissen ihn mit sich, als sie zu Boden gingen. Ich streckte den Arm aus und ließ einen Skater dagegenlaufen. Meine geballte Faust krachte gegen seinen Brustkorb. Die Wucht des Aufpralls riß den Rollschuhläufer zurück, ließ ihn einen halben Salto rückwärts vollführen und hart auf den Rücken fallen. Stöhnend blieb er liegen. Die beiden anderen Skater kamen zum Stehen. Ein Junge und ein Mädchen. Beide im Teenageralter. Sie hatten prall gefüllte Taschen über die Schultern geschlungen. 27
»Ihr habt die Kommissarin gehört, Freunde«, sagte ich ruhig. »Parkt eure Inliners und kommt mit!« »Du hast uns gar nichts zu sagen, Scheißer. Und die Bullentante schon zweimal nicht!« »Mag sein. Ihr werdet trotzdem zuhören müssen.« Der Junge schüttelte die pechschwarzen Locken aus der Stirn. »Hau ab, Mann, bevor ich dir die Fresse poliere!« Ich wurde sauer. Der Bursche riskierte eine ziemlich dicke Lippe. Jemand mußte ihm mal sagen, wo es langging, sonst brachte er sich mit seiner großkotzigen Art um Kopf und Kragen. Ich hob die Hand, deutete mit dem Zeigefinger auf ihn und lockte ihn. Sie kamen zu zweit. Das Mädchen schien überzeugt zu sein, daß ich gegen zwei Skater nichts ausrichten konnte. Sie irrte sich. Sie hatte die Beutetasche von der Schulter genommen, schwang sie über dem Kopf und wollte sie auf mich niedersausen lassen. Der Junge hatte die Fäuste geballt. Er war es wohl auch gewesen, der dem Mann in den Unterleib getreten hatte. Mit dem Burschen war nicht zu spaßen. Als sie heran waren, lag ich auf dem Boden, entging der wirbelnden Tasche und sichelte dem Mädchen die Beine unter dem Leib weg. Sie hatte ein ziemliches Tempo drauf und erkannte meine Absicht zu spät. Mit einem gellenden Schrei verlor sie den Bodenkontakt, segelte durch die Luft und landete zwischen den Tischen am Straßenrand. Einem Mann, der gerade seine Gulaschsuppe löffelte, blieb buchstäblich der Löffel im Hals stecken, als er nicht nur ein Haar, sondern einen ganzen Schopf in der Brühe vorfand. Dann klappten Tische und Stühle unter dem Mädchen zusammen. In einem Regen aus Glas, Porzellan, Getränken und Suppe landete sie auf dem Boden und wurde von Tessa eingesammelt. »Paß auf, Mark!« brüllte die Fahnderin, aber ich hatte währenddessen den Jungen nicht aus den Augen gelassen. Trotzdem erwischte er mich. Der Bursche verstand etwas vom Rollschuhlaufen - und von Kampfsport. Sein gestreckter Fuß sauste heran, während er auf einem Bein weiterlief. Ich wich aus, doch meine Reaktion reichte 28
nicht aus, um seinem Tritt vollständig zu entgehen. Er streifte mich mit den Rollen an der Brust und ließ mich straucheln. Sofort drehte sich der Gegner um und zückte ein Schmetterlingsmesser. Ließ die blitzende Klinge um seine Finger wirbeln und versuchte, mich mit diesem Kunststück einzuschüchtern. Tessa zog ihre Pistole. »Weg mit dem Messer, Junge, bevor jemand verletzt wird!« befahl sie. Ich lächelte. »Sie meint dich, mein Freund.« Der Junge wirkte unentschlossen, fuchtelte mit seinem Kartoffelschäler herum und schaute zwischen Tessa und mir hin und her. »Laß das Ding schon fallen, bevor du dir damit noch selbst was abschneidest!« sagte ich fast väterlich-überlegen und ruhig. Der Junge wußte anscheinend nicht, wann es besser war, den Rat eines Erwachsenen anzunehmen. Er beugte sich leicht vor, hielt die Klinge zum Stoß bereit und holte Schwung. Er wirbelte um die eigene Achse und raste auf mich zu. Dabei schleuderte er die Tasche gegen Tessa und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Die Gummiräder seiner Inliners erzeugten ein dumpfes Rauschen auf den Steinplatten, als er über den Boden flitzte. Ich wartete, bis er heran war, wich der Klinge aus, packte seinen Arm und wollte ihm das Messer entwenden, doch damit hatte er gerechnet. Der Junge hatte es faustdick hinter den Ohren. Er drehte sich noch in der Bewegung zu mir, wand sich aus meinem Griff, rammte mir den Ellbogen vor die Brust und führte die Klinge in Kopfhöhe quer. Im allerletzten Moment nahm ich den Kopf zurück. Haarscharf zischte der Stahl an meiner Kehle vorbei. Ich hatte genug. Das hier war kein harmloser Teenager, der den Mund zu voll genommen hatte, sondern ein Jugendlicher mit Killerinstinkt. Ich sah, wie er herumkreiselte, um einen neuen Angriff zu starten. Ein rascher Blick zu Tessa zeigte mir, daß sie entschlossen war, auf den Burschen zu feuern. Das Messer zuckte heran. Ich ging in die Hocke und riß die Beine hoch. Die Klinge zischte über mich hinweg. Dafür rammten die 29
Absätze meiner Stiefel in den Leib des Jungen, hebelten ihn hoch und über mich hinweg. Er faßte sich schnell, machte noch in der Luft eine Drehung, wich Tessa aus und jagte zwischen den Tischen davon. Ich war sofort auf den Beinen und nahm die Verfolgung auf. Wie schon so oft, kam mir auch jetzt das Zehnkampftraining, das ich während meiner Studienzeit mit Erfolg absolviert hatte, zugute. Ich jagte durch die Fußgängerzone, wich verblüfften Fußgängern aus und holte langsam auf. Der Junge hatte das Ende der Fußgängerzone fast erreicht. Sollte er zum Goetheplatz gelangen, auf dem es von Menschen wimmelte, konnte er mit Leichtigkeit zur nahegelegenen Hauptverkehrsstraße entkommen. Ich hatte nicht vor, es soweit kommen zu lassen. Er mußte vielen Passanten ausweichen, stieß einen Mann mit der Schulter weg, stolperte und fing sich. Diese kurze Zeitspanne genügte mir. Ich schlug einen Haken, sprang mit einem mächtigen Satz auf einen steinernen Pflanztrog, stieß mich an der Betonumrandung ab und flog durch die Luft. Wuchtig prallte ich gegen den Skater, stieß ihn zur Seite und brachte ihn zu Fall. Er versuchte, mich mit Karatetritten auszuschalten, aber da war er bei mir an den Falschen geraten. Ich gab ihm eine kleine Kostprobe, wie ich die Kampfsportarten interpretierte. Dann schnappte ich mir das Bürschchen und zerrte ihn hoch. Wie ein Häufchen Elend hing er in meinem Griff. Sein Hochmut hatte ihn verlassen. »Ich glaube, damit hat sich mein Plädoyer für die Inline-Skater erübrigt«, meinte ich, als mir Tessa den Knaben abnahm. »Kamerad, Leute deines Schlages sind eine Schande für eure Zunft.« Ich hörte das Quietschen der Reifen hinter mir, sah den Kopf des Jungen hochrucken und sein triumphierendes Lächeln. »Halt besser die Klappe, Großkotz, sonst fehlen dir ein paar Zähne!« fauchte er. »Meine Vettern verarbeiten dich zu Schaschlik!« Ich wandte den Kopf und sah mich einem leuchtend roten Mustang Cabrio gegenüber, das zwei Muskelpakete ausspuckte. Die Nähte ihrer T-Shirts waren dem Platzen nahe, und an ihren Oberarmen zeichneten sich die Muskelstränge ab. 30
»O-Oh«, machte ich und schüttelte den Kopf. »Ich hätte mir denken können, daß es noch mehr von deiner Sorte gibt.« Die beiden Muskelmänner blickten finster drein und ließen ihre Fingerknochen hörbar knacken. Sie ließen keinen Zweifel daran, daß sie mich durch den Fleischwolf drehen wollten. * Tessa schluckte, als sie der beiden Muskelpakete ansichtig wurde. »Du willst dich doch nicht mit diesen Typen anlegen«, hauchte sie besorgt. »Oder?« »Ich würde viel lieber mit dir in den Clinch gehen.« »Okay, laß uns verschwinden, bevor dich die beiden zu einem Pflegefall machen.« »Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als mich von dir pflegen zu lassen, mein Schatz!« »Hättest du wohl gerne. Komm, verdrücken wir uns!« Aber aus brenzligen Situationen abzuhauen, war nicht mein Ding. Die beiden Anabolika-Zwerge walzten auf mich zu. Sie waren klein, reichten mir gerade bis über die Brust. Aber sie waren doppelt so breit wie ich. Und darauf bauten sie. »Ihr steht im Halteverbot, Freunde«, sagte ich. »Packt eure Muckis wieder in den Schlitten und rauscht ab, oder es gibt Ärger.« »Der Ärger ist schon da, Schwätzer!« brummte einer der Muskelmänner. »Laß unseren kleinen Vetter los, Tussi, oder du kannst mit deinen Knochen Mikado spielen.« »Du hast gerade eine Polizeibeamtin bedroht. Nur zu deiner Information, Freund«, sagte ich ruhig. »Seit wann sind wir befreundet, Alter? Aus dem Weg!« Ich schüttelte den Kopf. »Wollt ihr wirklich wegen dem hier in den Knast wandern? So blöd könnt ihr doch nicht sein.« Ich hätte mir die Worte sparen können. Das Muskelpaket vor mir hob beide Arme, schob sie wie Greifzangen auf mich zu. »Nicht schießen, Tessa!« warnte ich meine Freundin. »Gorillas sind vom Aussterben bedroht!« Ich machte es kurz, aber knallhart. Tränen des Schmerzes 31
schimmerten gleich darauf in seinen Augen, doch da wuchtete ich ihn bereits auf die Motorhaube seine Cabrios. »Du Schwein! Der Wagen war neu!« brüllte King Kong zwei und stampfte heran. Ich sah nur noch Tessas Schatten an mir vorbeisausen und hörte ihren Schrei. Dann den Warnschuß. Der verdutzte zweite Muskelmann wurde dann von Tessa unsanft gegen die Wagentür geschubst. Aus! Wir nahmen den schwarzgelockten Skater mit uns, sammelten die anderen Mitglieder der Diebesbande ein und warteten, bis die beiden Streifenwagen eintrafen, die Tessa über Handy angefordert hatte. »Damit dürfte dein Auftrag für heute erledigt sein«, meinte ich. »Wie wär's mit einem kühlen Drink bei mir?« Tessa schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Die Verhöre, der Papierkram. Da wartet noch jede Menge Arbeit auf mich.« »Schade.« Ich begleitete Tessa zu ihrer Maschine und schaute ihr nach, wie sie losrauschte. Mein mobiler Fernsprecher meldete sich. Ich hielt ihn ans Ohr und zog ihn sofort wieder weg, als mir die Stimme meines Freundes Pit entgegenbrüllte. »Kannst du sofort herkommen?« »Wo brennt's denn?« »Es geht um Susanne. Alles weitere erkläre ich dir, wenn du hier bist.« Wenn Pit so aufgeregt klang, mußte seine Frau wirklich in Nöten sein. Ich hoffte, daß mein schwefliger Freund Mephisto diesmal nicht seine schwarzen Griffel im Spiel hatte. Rekord. Nach drei Minuten stand ich vor der Tür. »Grüß dich, Floh«, sagte ich. »Wie geht's?« Da flog die Tür auch schon wieder zu. »Geh zum Italiener um die Ecke. Dort gibt's auch ein Klo!« unterbrach mich Fräulein Langenbach. »Mach auf, ich muß mit deinen Eltern sprechen!« »Das sieht dir wieder ähnlich, Mark. Für mich hast du keine Zeit.« Puh, Mademoiselle ist eifersüchtig! Und das in ihrem Alter! »Nun laß mich schon rein. Wir machen auch mal einen Ausflug.« »Deine leeren Versprechungen kannst du dir schenken, Mark. Alle Männer lügen!« 32
»Mach auf, oder ich klingele Sturm.« »Meinen Geburtstag hast du vergessen… Das war am 12. Februar.« »Entschuldige. Geschenk folgt.« Pit öffnete nun und führte mich ins Wohnzimmer. Auf der Couch saß Susanne, in einen blaßlilafarbenen Frotteemantel gehüllt. Sie hatte beide Arme um ihren Leib geschlungen. Aus verweinten Augen starrte sie mich an. Oder durch mich hindurch. Diesen Eindruck hatte ich jedenfalls. »Seit wann ist sie so?« fragte ich leise. »Seit heute mittag. Sie hat ein Bad genommen. Ich kam früher nach Hause. Als ich das Badezimmer betrat, erhielt sie einen Anruf, und seitdem ist sie völlig von der Rolle.« Ich setzte mich neben Susanne und legte sanft einen Arm um sie. Pit besorgte Fruchtsaft aus der Küche und goß drei Gläser voll. Ich nahm einen tiefen Schluck und stutzte, als ich Susannes leise Stimme hörte. »Sie ist tot«, hauchte sie. »Er hat sie umgebracht.« »Wer? Von wem sprichst du?« »Ilona. Er hat Ilona getötet.« Verständnislos schaute ich zu Pit hinüber. Er runzelte die Stirn, nickte dann und ging zu dem Sekretär in der Ecke. Gleich darauf kehrte er mit einem Briefbogen und einer Zeitungsannonce zurück. »Der Brief kam heute mit der Post. Gleich darauf hat sie den Anruf entgegengenommen.« Während ich den Brief las, spürte ich, wie sich mein Siegelring erwärmte; der Briefbogen hatte also eine dämonische Ausstrahlung, wenn auch keine große, denn zu leuchten begann er nicht. Pit gegenüber ließ ich mir nichts anmerken, um ihn nicht noch mehr zu beunruhigen. »Hast du eine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat?« Pit schüttelte den Kopf. »Diese Ilona - Susanne muß ihr ziemlich nahe gestanden haben, sonst würde ihr Tod sie nicht derart berühren.« »Tut mir leid, aber ich hab nie von Ilona Keilbach gehört.« »Wie kann ich helfen?« »Ich wäre dir dankbar, wenn du bei Susanne und Floh bleiben könntest, während ich Nachforschungen anstelle. Ich will wissen, 33
was es mit diesem Todesfall auf sich hat.« »Geht klar. Vielleicht entpuppt sich alles als ein makabrer Scherz. Laß dir Zeit.« »Du brauchst mir nichts vorzumachen, Mark«, raunte Mark. Er war bereits an der Tür. »Der Ring hat reagiert, nicht wahr? Wurde der Brief von einem Dämon geschrieben?« »Keine Ahnung…« »Paß gut auf die beiden auf, mein Freund«, sagte er und ging. Als ich den Brief vom Tisch nahm, zeigte das Blatt in meiner Hand ein merkwürdiges Eigenleben. Es knisterte und färbte sich in der Mitte braun. Dieser Fleck nahm für einen Augenblick das Aussehen einer ekelerregenden, warzenübersäten Fratze an, bevor eine violette Stichflamme das dämonische Antlitz zerstörte. Die Fratze hatte ich erkannt. Es war Belial! Nicht mal Asche blieb von dem Blatt zurück. Es wurde von dem magischen Feuer verzehrt. Wenige Sekunden später kam Floh angetigert. Sie wollte Monopoly spielen. Wir verzogen uns also ins Eßzimmer und schacherten um Schloßallee und Parkstraße. Gegen Abend hatte mich Floh gewaltig abgezockt. Ich war fast pleite. »Du kannst uns Pizzen bestellen«, sagte ich. »Oder du kochst uns was. Du hast die Wahl.« »Lieber Pizza. Vier Jahreszeiten ohne Peperoni!« »Klingt gut.« Draußen wurde es duster. Ich knipste die Stehlampe im Wohnzimmer an. Gedämpftes Licht erhellte den Raum. Ich hörte Floh mit dem Italiener telefonieren. Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte der Apparat. »Für dich«, rief sie aus der Diele. Pit hatte einen alten Ersatzapparat anschließen müssen, da Mutter das schnurlose Gerät im Badezimmer demoliert hatte. »Bist du ein Bulle?« hörte ich eine flüsternde Stimme, als ich den Hörer ans Ohr hielt. »Und wenn? Was geht es Sie an?« »Es wird ihr nichts nützen. Susanne wird um Vergebung bitten müssen - wie alle anderen. Heute nacht wird es ihre Freundin Hanna treffen. Susanne kann nichts dagegen tun. Neun Jahre sind eine lange Zeit.« »Sagen Sie, was Sie wollen und wer Sie sind.« »Sie hat alles, was das Herz begehrt. Einen Bullen fürs Bett. 34
Einen Bullen, der sie beschützt. Ein kleines Mädchen. Freunde. Alles Glück der Welt. Und sie wird alles verlieren.« Die Verbindung wurde unterbrochen. Ich ging ins Wohnzimmer und bemerkte, daß Susanne mich angespannt beobachtete. »War er es?« »Er hat von einer Hanna gesprochen. Kennst du sie?« Susanne verneinte, stockte dann aber. Ihre Augen verengten sich. »Natürlich. Hanna Pietrowsky. Eine ehemalige Kollegin. Wir haben beide im selben Labor gearbeitet. Aber das ist schon lange her.« »Neun Jahre!« Plötzliches Erkennen schimmerte in Susannes Augen. »O mein Gott«, hauchte sie. »O Gott, nein!« »Wo wohnt Hanna?« fragte ich. »Ich weiß es nicht genau. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, wohnte sie im Norden, in Schöndorf. In der GeorgSchumann-Straße.« Ich hatte das Handy bereits gezückt und informierte Pit. »… ich glaube nicht, daß Susanne in unmittelbarer Gefahr schwebt«, sagte ich. »Vornehmlich geht es jetzt um diese Hanna. Ich fahre raus nach Schöndorf. Wir treffen uns dort.« Ich wies Susanne und Floh an, die Tür hinter mir abzuschließen und außer Pit oder mir niemanden einzulassen. Wenig später lenkte ich meinen BMW nach Norden. Diesmal war ich jedoch nicht unbewaffnet. Für alle Fälle trug ich meine SIG Sauer-Pistole bei mir. Die Siedlung Schöndorf lag weit abseits vom Weimarer Stadtkern. Reihenhäuser, Wohnsilos und Mietskasernen prägten das Erscheinungsbild. Erst nach der Wende waren Ein- und Zweifamilienhäuser und Grünanlagen hinzugekommen. Die Georg-Schumann-Straße lag still und ruhig vor mir. Ich bog langsam in die Straße ein, fuhr die Wohnblocks ab. Pits Stimme dröhnte aus dem Handy. Er gab mir die Hausnummer durch und erklärte mir, daß er unterwegs war. Ich parkte direkt vor dem Haus und ging zur Haustür. Vierundzwanzig Klingelknöpfe mit ebenso vielen Namensschildern waren neben einer Sprechanlage angebracht worden. Die chromblitzende Abdeckplatte zeugte davon, daß die Anlage neueren Datums war. Ich klingelte bei Pietrowskys. Niemand öffnete. 35
Kurz entschlossen klingelte ich bei den übrigen Parteien Sturm. Die Stimmen, die mir aus der Sprechanlage antworteten, ignorierte ich. Jemand betätigte den Türöffner. Hanna wohnte im vierten Stock. Einen Aufzug gab es nicht. Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal und hetzte die Stufen hoch. Ein Spion war in Hannas Wohnungstür eingelassen worden. Ich klingelte, hämmerte gegen die Tür und gab mich als Polizeibeamter aus. Ohne Erfolg. Eine Nachbarin öffnete ihre Wohnungstür, trat heraus und zog sich sofort wieder zurück. Ich lauschte. Alles war still. Noch hatte ich keine Veranlassung, die Tür aufzubrechen. Vielleicht war Hanna nicht zuhause. Dann hörte ich das leise Klirren von Glas. Es kam aus Hanna Pietrowskys Wohnung! Ich ging zurück und nahm Anlauf. Mein Fuß krachte gegen das Türblatt, dicht neben dem Schloß. Ich brauchte drei Versuche, dann war das Schloß gesprengt. Die Pistole schußbereit in der Hand, bewegte ich mich durch den dunklen Flur. »Frau Pietrowsky? Mein Name ist Mark Hellmann! Ich bin Mitarbeiter der Kriminalpolizei!« gab ich mich zu erkennen. Stille. Ich gelangte zu einer Tür, die nur angelehnt war. Vorsichtig stieß ich sie auf und ging in die Knie, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Es war das Badezimmer. Und es war leer. Der nächste Raum war das Schlafzimmer. Ebenfalls leer. Das Bett war unbenutzt. Blieben noch Wohnzimmer und Küche. Lautlos huschte ich über den Teppich, stand in der Tür zum Wohnzimmer - und sah sie. Hanna Pietrowsky starrte mir aus tränenfeuchten Augen entgegen, schüttelte leicht den Kopf. Sie war eine hübsche Frau Anfang Dreißig. Etwas mollig, mit modisch kurz geschnittenem Blondhaar. Sie rang die Hände. Die Tränen hatten ihr Make-up verwischt und dunkle Schlieren über ihre Wangen gezogen. Ich machte einen Schritt nach vorn. »Frau Pietrowsky?« fragte ich leise. Und erhielt eine Antwort. Aber anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. 36
Der Siegelring an meiner rechten Hand spielte verrückt. Vibrierte, erwärmte sich und begann zu strahlen. Für mich war dies ein eindeutiges Anzeichen, daß in diesem Raum dämonische Ausstrahlung herrschte. Ich reagierte sofort und doch nicht schnell genug. Als ich herumwirbelte, traf mich der Hieb. Er erwischte mich zwischen Schulter und Hals. Stechende Schmerzen jagten durch meinen Körper. Ich sah die Gestalt in der pechschwarzen Kutte, sah die wächserne, teilweise zerrissene Gesichtshaut und kippte seitlich weg. Mein rechter Arm war fast taub. Ich nahm die Pistole in die Linke und wollte auf den Angreifer feuern, doch ich fand kein Ziel. Der Kuttenmann war verschwunden. Mühsam kam ich auf die Beine und ging zu Hanna. Sie schaute mir entgegen und schrie gellend. Meine Reflexe sind normalerweise ausgezeichnet, aber diesmal war ich durch den Hieb geschwächt, und mein rechter Arm war kaum zu gebrauchen. Ich ließ mich nach vorn und zur Seite fallen und drehte mich gleichzeitig um. Da stand er, die schmalen Lippen zu einem hämischen Grinsen verzogen. Ich sah den Fuß auf mich zurasen, spürte den Schlag. Die Pistole wurde mir aus den Fingern geprellt, flog gegen eine Vitrine und zertrümmerte die Glastür. Zwischen den Scherben blieb die Waffe liegen. »Du bist der Bulle, der auf Susanne aufpassen sollte«, meinte der Unheimliche. Ich widersprach nicht. »Deine Mühe ist vergebens! Susanne ist verloren, wie alle anderen!« Ich rollte mich herum, sprang hoch und griff an. Gewandt wich die Maskengestalt aus. Ich fing mir einen weiteren Hieb ein, brach in die Knie und sah die Hände des Unheimlichen näher kommen. Der Kuttenmann hob mich scheinbar mühelos hoch und schleuderte mich gegen die Wand. Mein Rücken schmerzte, als ich zu Boden rutschte. Ich saß in der Falle. Aus einer Seitentür schoß eine Knochenhand hervor, packte mich an der Kehle und drückte zu. Hilflos mußte ich zusehen, wie der die Fratzengestalt die wehrlose Hanna Pietrowsky vom Sofa zog, sie schlug und sich den Körper über die Schulter warf. Mit seinem Opfer verschwand er über den Balkon in die Nacht. 37
Ich aber hing in den Klauen eines skelettierten Mönchs, der die knöcherne Rechte zum vernichtenden Schlag hob! * Die Luft wurde mir knapp. Ich mußte mir etwas einfallen lassen, und zwar rasch. Ich sah keine Chance, an meine Pistole heranzukommen. Auch Pit würde mir nicht helfen können. Falls er noch rechtzeitig eintraf, würden seine Kugeln der knöchernen Bestie höchstens ein leises Fauchen entlocken. Blieb nur noch eine Möglichkeit. Mein Ring! Ich konnte ihn zwar nicht als Waffe einsetzen, aber vielleicht reichte seine weißmagische Kraft aus, um die höllische Kreatur abzulenken. Mit der Linken riß ich mein Hemd auf, entblößte das siebenzackige Mal auf meiner Brust, das einer Tätowierung ähnelte und die Größe eines Fünfmarkstücks hatte. Woher dieses Mal stammte, hatte ich noch nicht ergründen können. Ich nannte es scherzhaft mein Hexenmal, und so schief lag ich mit dieser Bezeichnung wohl nicht, denn es hatte sich gezeigt, daß sich zumindest Hexen vor dem Anblick des Mals fürchteten. Entschlossen preßte ich die Siegelfläche des Rings gegen das Hexenmal. Ein stechender Schmerz raste durch meine Brust, zuckte hoch bis in meinen Kopf. Hatte der Ring bisher nur ein schwaches Glimmen gezeigt, gleißte er nun hell. Ich hob die Hand und stieß den strahlenden Ring in eine leere Augenhöhle des Skelettmönchs. Die Kreatur war stumm, gab aber dennoch einen Laut von sich, der entfernt einem heiseren Schrei ähnelte. Die Kraft des Rings mußte der Kreatur Schmerzen bereiten, zumindest aber fühlte sie sich alles andere als wohl. Die Knochenfinger lösten sich von meinem Hals. Ich taumelte zurück, warf mich herum und hechtete über die Couch zur Vitrine. Das lebende Skelett erkannte meine Absicht, fauchte zornig und setzte mir nach. Ich hatte die Pistole erreicht und wollte sie eben aus dem Scherbenhaufen ziehen, als ich die Knochenfinger erneut zu 38
spüren bekam. Sie gruben sich in mein Haar, rissen meinen Kopf zurück. Die zweite Knochenhand suchte meine Kehle. Schweiß perlte auf meiner Stirn. Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare sträubten. Der Knochenmann wollte mir mit seinen Skelettfingern die Kehle durchbohren! Ich stemmte mich gegen den Griff des Knöchernen, nahm alle Kraft zusammen. Konzentrierte mich auf meinen rechten Arm, der teilweise immer noch taub war. Es gelang mir, die Pistole zu ergreifen. Mein Kopf wurde immer weiter zurückgebogen. Ich blickte in die furchterregende Totenfratze. Aus der Augenhöhle, in die ich meinen Ring gestoßen hatte, quoll Rauch. »Weißt du was?« stieß ich hervor. »Du fährst wenigstens grinsend zur Hölle. Das kann nicht jeder!« Ich wartete nicht auf die grunzende Antwort des Skeletts, sondern riß die Pistole hoch und drückte mehrmals ab. Drei, vier Silbergeschosse bohrten sich in den Totenschädel, rissen große Löcher. Der Kopf war nur noch zu einem Drittel vorhanden, als die Kreatur schwankte. Die Knochenhände ließen mich los, fuchtelten durch die Luft, ohne etwas packen zu können. Ich zog mich von dem Skelettmönch zurück. Unter der Kutte wallte dichter Qualm auf. Staub rieselte. Die Kreatur verging. Pit und zwei uniformierte Beamte stürzten in die Wohnung. Finster betrachtete mein Freund die rauchenden Überreste des Skeletts. »Hanna?« fragte er leise. Ich schüttelte den Kopf. »Laß die Spurensicherung antraben. Wir müssen zu Susanne zurück. Rasch!« Pit raste mit Blaulicht und Sirene vor mir her und verschaffte mir freie Bahn. Selten war ich so schnell durch die Weimarer Innenstadt gefahren. Wir hetzten die Stufen hoch, klingelten, hämmerten gegen die Wohnungstür. »Wer ist da?« fragte Floh. Wir gaben uns zu erkennen und wurden eingelassen. Susanne wurde noch bedrückter, als wir ihr von Hanna Pietrowskys Entführung berichteten. »Die nächste bin ich«, sagte sie leise. 39
Das Telefon klingelte. Pit hob ab. Ich hörte mit. »Netter Versuch, Bulle. Aber er ging in die Hosen. Trotzdem wirst du nicht verhindern können, daß Susanne die Jungfrau küßt und um Vergebung fleht. Es ist bald soweit.« Pit legte auf. Ohnmächtige Wut loderte in seinem Blick. »Verdammt, dieser Kerl wird meine Familie nicht zerstören. Er wird Susanne nicht bekommen! Niemals!« Ich legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. Schweigend saßen wir im Wohnzimmer. Floh war in ihrem Zimmer mit der aktuellen Gästeliste beschäftigt und hörte dabei laute Popmusik. Pit hatte versucht, von Susanne etwas zu erfahren, das uns weiterbringen konnte, aber sie zeigte sich verschlossen. Und doch spürten wir, daß sie etwas bedrückte. Daß sie ein Geheimnis hütete. Es klingelte. »Das wird der Pizzaservice sein«, sagte ich. Pit ging zur Tür. Und sah sich keinem Auslieferungsfahrer, sondern zwei grinsenden Totenschädeln gegenüber! Sie kamen über uns wie der Blitz aus heiterem Himmel. Ehe Pit reagieren konnte, hatten sie ihn in die Wohnung geschoben. Während er mit einem Skelettmönch rang, griff die zweite Kreatur Susanne und mich gleichzeitig an! Eine Knochenhand verhinderte, daß ich meine Pistole zog. Susanne schrie und wurde durch einen brutalen Schlag zur Seite gefegt. Ich packte den Skelettarm, benutzte ihn als Stütze, schwang mich hoch und rammte beide Füße gegen die Brust des Kuttenträgers. Er wich keinen Zentimeter. Dafür bohrten sich seine Knöchel schmerzhaft in meinen Leib. Ich krümmte mich zusammen. Wieder mal bekam meine Kehle die Kraft der Knochenfinger zu spüren. Unbarmherzig drückte das Skelett zu. Susanne hatte sich aufgerafft und eine schwere Bodenvase ergriffen. Mit einem Wutschrei knallte sie die Vase auf den Schädel des Skelettmönchs nieder. Weder die Vase noch der Totenschädel gingen zu Bruch. Verzweifelt packte Susanne einen der Henkelgriffe an der Vase, wirbelte herum und legte ihre ganze Kraft in den Schlag. Diesmal zersplitterte die Vase am Kopf der Höllenkreatur, mit der Pit rang. 40
Mein Freund kam frei, keuchte und zog seine Pistole. Er feuerte mitten in das Knochengesicht, fetzte gewaltige Löcher in die Totenfratze, doch aufhalten konnte er das Skelett damit nicht. Die Löcher qualmten, schlossen sich aber wieder. Ich röchelte. Meine Gesichtshaut brannte. Ich spürte, wie das Blut in meinen Adern kochte. Auch Pit befand sich in einer ähnlichen Lage. Lässig hatte das Skelett die Pistole aus seiner Hand gewunden und hielt Pit nun an Haar und Hals gepackt. Rote Schleier wallten vor meinen Augen. Ich stieß mein Knie unaufhörlich in den Skelettleib, jedoch ohne Erfolg. In diesem Moment ertönte die Türglocke. »Das ist jetzt aber der Pizza-Service!« rief Floh, die gerade auf dem Weg ins Wohnzimmer war, um nachzusehen, was es mit den Schüssen ihres Vaters auf sich hatte. Sie sah die Knochenmänner, mit denen wir uns abquälten, eilte zur Tür und riß sie weit auf. Ich hatte nie erwartet, daß mir einmal ein Pizzalieferant das Leben retten würde, aber es war so. Die beiden Knochenmänner hatten Flohs Stimme gehört und sie gesehen, und das genügte. Sie gaben Pit und mich frei und stürzten auf das Mädchen zu. Sie haben es gar nicht auf uns abgesehen! Die mageren Brüder wollen Floh! schoß es mir durch den Kopf. Die Kleine schrie, als sie von einer Knochenhand ergriffen wurde. Ich war bereits auf dem Weg und hatte die Pistole gezückt. »Hinlegen!« brüllte ich aus Leibeskräften. »Sofort runter!« »Uiii! Ich will ja gar kein Trinkgeld, Signore!« entfuhr es dem Pizzaboten, als er in die Mündung meiner Pistole blickte und auf Tauchstation ging. Ich drückte ab, als der Knochenmann Floh hochriß und seinen Kopf zu mir drehte. Die Kugel durchbohrte seinen Schädel seitlich und riß den halben Kopf weg. Kraftlos sanken seine Arme herab. Floh setzte sich etwas unsanft auf den Hosenboden. Der zweite Knochenmann wollte fliehen, und es wäre ihm auch gelungen, wenn da nicht die Pizzabox im Weg gewesen wäre. Das Stolpern setzte sich in einen Sturz fort. Ich schickte dem Unsympathischen einige Kugeln hinterher, als 41
er die Stufen hinunterpolterte, und traf ihn jedesmal. Der Auflösungsprozeß hatte bereits begonnen. Bei meiner Rückkehr in die Wohnung stopfte Floh dem verdatterten Pizzaboten gerade Geld aus dem Portemonnaie ihres Vaters in die Brusttasche. »Mit Trinkgeld, weil Sie so schnell gekommen sind«, sagte sie und grinste. Luigi machte, daß er fortkam. Wer konnte es ihm verübeln? * Hanna Pietrowsky hatte Angst. Man hatte sie aus Weimar entführt. Vor einem Augenblick war sie noch zu Hause gewesen, nun befand sie sich bereits in einem pechschwarzen Wirbel, fiel durch Raum und Zeit und landete auf einem kalten, feuchten Steinboden. Rauhe Hände hatten ihr die Kleider vom Leib gerissen. Nackt und zitternd kauerte Hanna auf dem Boden und bedeckte ihre Blößen mit den Händen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Schritte ertönten. Ihr unheimlicher Entführer erschien. Die zerfressene Fratze wirkte im zuckenden Schein einer Fackel noch abstoßender. Kalte Hände zerrten sie auf die Beine. Hanna erschauderte. Die Hände strichen über ihr Gesicht. »Erinnere dich«, flüsterte der Unheimliche. »Laß deine Gedanken neun Jahre zurückgehen!« Hanna sah sofort die dramatischen Ereignisse vor sich, sah das blutüberströmte Gesicht. Sie jammerte. Flehte um Gnade, sank auf die Knie und streckte der unheimlichen Gestalt die Hände entgegen. Doch Gnade war ein Fremdwort für ihren Peiniger. »Du bist die zweite. Noch drei werden folgen. Susanne wird die letzte sein!« flüsterte der Kuttenträger. »Nein, bitte! Ich tue alles, was Sie wollen! Bitte, lassen Sie mich frei. Ich gehe weg, in ein anderes Land. Ich gebe alles auf. Bitte, ich will nicht sterben!« Der Unheimliche lachte. »Dein Wunsch wird in Erfüllung gehen. Du wirst eine Reise machen, Hanna. Eine sehr weite Reise. Aber zunächst sollst du um Vergebung bitten.« Auch dazu war Hanna bereit. Sie bat und bettelte, bis ihre 42
Worte nur mehr ein heiseres Krächzen waren. Der Unheimliche ließ sie allein. Allein mit der Dunkelheit und einem rotglühenden Augenpaar. Es dauerte lange, bis sie Hanna holten. Sie sah die Knochengesichter im Schein der blakenden Fackeln. Nackt wurde sie in die riesige Halle geführt. »Sieh genau hin!« befahl die Schreckensgestalt. »Dort wartet die Jungfrau auf deinen Kuß. Dann erst kannst du, gereinigt von Schuld, deine Reise antreten!« Hannas Augen suchten das Podest mit dem Umriß der Eisernen Jungfrau. »Geh hin zu ihr, wie es Ilona vor dir tat. Geh hin und küsse sie! Bald wird auch Susanne diesen Weg gehen und um endgültige Vergebung für euch alle bitten!« »Nein!« Die Stimme hallte durch das Gewölbe. Die Köpfe der Skelettmönche ruckten herum. Eine weitere Gestalt war aus dem Nichts erschienen. »Du hast dir Mephistos Dienste zunutze gemacht, um deine Rache zu vollenden!« dröhnte die Stimme des Neuankömmlings. »Dafür hast du Mephisto die Seelen derer versprochen, die den Jungfernkuß empfangen. Aber Susanne Langenbach wird nicht die letzte sein. Es gibt jemanden, der uns allen ein Dorn im Auge ist.« »Der Träger des Rings!« »Du hast es erkannt. Mephisto wünscht, daß auch er die Jungfrau küßt. Erst dann wirst du das Privileg genießen, Mephisto für immer zu dienen und ihm mit Hilfe der Jungfrau weitere Seelen zu beschaffen.« »Aber er hat drei Mönche besiegt. Wir sind ihm nicht gewachsen!« »Du widersprichst? Du wagst es, eine Aufgabe, die dir Mephisto stellt, abzulehnen!« Der Unheimliche schüttelte stumm den Kopf. »Es sei! Du kennst deine Pflichten. Du wirst sie erfüllen.« Der Sprecher trat aus dem Dunkel und näherte sich Hanna. Als er dicht vor ihr stand, sah sie den verkürzten linken Arm, der unter dem schwarzen Umhang hervorschaute. Sah das mit eitrigen Pusteln und Warzen bedeckte Gesicht. Stinkendes, klebriges Eitersekret spritzte aus den Pickeln und tropfte auf ihre 43
Haut. Hanna beugte sich vor und übergab sich. Das Pickelgesicht verzog angewidert den Mund. Eiter spritzte auf Hannas Rücken. »Diese Menschenfrau benimmt sich abscheulich. Was hat sie nur!« »Es ist dein Anblick, Meister!« hauchte Hannas Entführer. Belials rechte Hand zuckte vor, packte Hannas Haar und zerrte sie hoch. »Sie wird sich daran gewöhnen.« Die warzenbedeckte Hand glitt über ihre Brüste und hinterließ eine eklige Schleimspur. Hannas Magen schlug Purzelbäume. Als sie nicht mehr würgen konnte, begann sie zu wimmern, dann hysterisch zu lachen und wieder zu schreien. Sie war kurz davor, den Verstand zu verlieren. Der Kuttenmann mit dem zerfetzten Gesicht beobachtete eine Weile, welch grausames Spiel der Pickeldämon mit Hanna trieb. Als Belial die Lust zu verlieren schien, deutete der Kuttenträger nach vorn und sagte: »Geh jetzt. Die Jungfrau wartet.« »Geh jetzt. Die Jungfrau wartet!« befahl der Unheimliche. Hanna zitterte wie Espenlaub, als sie den Sockel betrat und vor der Eisernen Jungfrau stehenblieb. Sie umarmte die kalte, metallene Gestalt und preßte ihre Lippen auf den Mund der Jungfrau. Nichts geschah. Verwirrt wandte sie sich um. Schaute fragend zu ihren Peinigern. Der Kuttenträger murmelte Beschwörungen. Sein scheußliches Gesicht veränderte sich. Hanna riß weit die Augen auf. »Aber das ist nicht möglich…!« entfuhr es ihr. Fackelschein beleuchtete eine Ecke des Gewölbes. Hannas Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Kuttenträgers. Im flackernden Feuerschein sah sie das, was von Ilona Keilbach übriggeblieben war. Hanna riß entsetzt die Hände vor das Gesicht. »Du Satan! Du verdammter Satan!« brüllte sie und verlagerte das Gewicht auf der Steinplatte. Nur unbewußt nahm sie die Bewegung der Platte wahr. Sie hörte das Rauschen, drehte den Kopf, sah den blitzenden Stahl heransausen. Und teilte Ilonas Schicksal. »Schade«, meinte Belial und verdrückte sich wieder in die 44
ewige Dunkelheit. »Ich hatte gerade Gefallen an ihr gefunden.« Auch die Skelettmönche verließen das Gewölbe. Zurück blieb die einsame Gestalt, die verzweifelt nach einem Weg suchte, den Wunsch des Höllenfürsten zu erfüllen. * Pit und Tessa arbeiteten auf Hochtouren, während ich mich bei Langenbachs häuslich einrichtete und den Aufpasser für Susanne spielte. Für Floh waren die Probleme ihrer Eltern zweitrangig. Sie hatte ihren Schrank ausgeräumt und einen gewaltigen Stapel Gesellschaftsspiele ins Eßzimmer geschleppt. Endlich hatte sie die Gelegenheit, mich an meine Pflichten als Onkel zu erinnern. Susanne wollte nicht mitspielen, sie lief wie ein aufgescheuchtes Huhn in der Wohnung herum oder saß stumm auf dem Sofa die Wand und starrte gegen die Wand. Ich bekam nur am Rande mit, wie Susanne im Schlafzimmer verschwand, anschließend im Sekretär herumkramte und einige Papiere in eine Aktenmappe stopfte. Das Telefon klingelte. Susanne stürzte in die Diele, riß den Hörer ans Ohr und stieß gleich darauf einen Schrei aus. »Laß mich endlich in Ruhe, du Schwein!« brüllte sie. Ich war mit wenigen Schritten bei ihr. Sie ließ den Hörer fallen, lehnte sich gegen meine Brust und weinte. »Ich halte das nicht mehr aus, Mark! Ich muß hier raus, verstehst du!« Ich legte den Hörer auf. »Das geht nicht. Hier bist du am besten aufgehoben.« »Die Polizeidirektion!« stieß sie hervor und schniefte. »Dort ist es noch sicherer. Und ich kriege gleich alles mit, was Pit und Tessa herausfinden!« »Ich weiß nicht recht«, druckste ich herum. Die Idee gefiel mir nicht. Der unbekannte Peiniger beobachtete Susanne offensichtlich auf Schritt und Tritt. Ihm würde nicht entgehen, wenn ich Susanne wegbrachte. Ein Blick in Susannes Gesicht zeigte mir, daß ich keine Wahl hatte. Wenn ich Susanne nicht wegbrachte, würde sie allein gehen. Ich nickte. »Also gut. Aber du erklärst Pit, was du vorhast. 45
Sonst läßt er seine Wut nachher an mir aus.« Wir versuchten, Pit und Tessa zu erreichen, aber die beiden schienen Dauergespräche zu führen. Frustriert gaben wir schließlich auf. »Wir bringen Floh zu meinen Eltern«, schlug ich vor. »Mein Vater wird nicht zulassen, daß ihr etwas geschieht.« Die Kleine war zwar nicht begeistert, daß ich mich so rasch wieder verdrücken wollte, aber der Gedanke, meine Eltern zu besuchen, tröstete sie über die Enttäuschung hinweg. Mein Vater war ein großartiger Geschichtenerzähler und würde ihr die Zeit vertreiben. Im Handumdrehen hatten wir ein paar Spiele, Flohs Discman und einige Cds eingepackt und verließen die Wohnung. Susanne hatte ihre Aktentasche unter den Arm geklemmt und hielt sie zusätzlich mit einer Hand fest, als befände sich ein Vermögen darin. Ich hatte die Hand am Pistolengriff und schaute mich aufmerksam in der Straße um, bevor ich Susanne und Floh zu meinem Wagen begleitete. Augenblicke später fuhr ich zur Siedlung Landfried im Weimarer Norden, wo meine Eltern wohnten. Lydia Hellmann blinzelte überrascht hinter ihren Brillengläsern, als sie auf mein Klingeln hin öffnete. »Das ist aber ein seltener Besuch!« rief sie. »Hereinspaziert, junge Dame. Und ihr natürlich auch, Susanne, Mark.« »Ja, wen haben wir denn da?« fragte Ulrich Hellmann und kam aus seinem Arbeitszimmer.»Hallo, Opa Ulrich!« begrüßte sie ihn. »Du mußt mir noch die Geschichte von der Elfe und dem Zwergenkönig zuende erzählen.« Sie ergriff Ulrichs Hand und zog ihn zum Arbeitszimmer. Ich folgte den beiden ins Arbeitszimmer. Floh hopste in einen wuchtigen Ledersessel, schlug die Beine übereinander und ließ meinen Vater nicht aus den Augen. »Na, dann leg mal los, Opa Ulrich«, sagte ich von der Tür her und erntete einen finsteren Blick von meinem Vater. Er hatte es gar nicht gern, wenn man ihn als Opa bezeichnete. Aber Floh verzieh er alles. »Zunächst würde mich interessieren, was euch hierher führt. Wieso kommt Susanne ohne ihren Mann?« »Das ist eine lange Geschichte«, wich ich mit einem 46
vielsagenden Blick auf Floh aus. Vater hatte verstanden und nickte. Er tätschelte Flohs Wange. »Ich bin gleich wieder bei dir, Fräuleinchen«, sagte er und trat mit mir in den Flur, wo ich ihm kurz erklärte, um was es ging. »Diese Skelettmönche, die euch angegriffen haben, bieten einfach zuwenig Anhaltspunkte, um nachzuforschen. Ich müßte zumindest einen Ort haben oder einen Namen.« »Vielleicht kriegst du heute noch ein paar deutlichere Hinweise«, murmelte ich. »Pit und Tessa sind an der Sache dran. Ich halte dich auf dem laufenden. Aber viel wichtiger ist jetzt, daß Floh nichts passiert.« »Keine Sorge. An die Kleine kommt keiner ran. Auch kein Skelett.« Ich drückte Vater dankbar die Schulter, schickte ihn zu Floh zurück und hörte, wie er mit der Geschichte begann, während ich in die Küche ging. Ich leistete Susanne und Lydia bei einer Tasse Kaffee Gesellschaft, drückte Lydia dann einen Kuß auf die Stirn und schob Susanne zur Tür. Sie hatte ihrer Tochter schon auf der Herfahrt erklärt, daß sie einige wichtige Angelegenheiten zu regeln hatte und Floh deshalb eine Weile bei meinen Eltern bleiben mußte. Ich aktivierte noch rasch meinen Ring und malte weißmagische Bannzeichen an die Haustür, um die Mörderskelette davor abzuhalten, sich an Floh zu vergreifen. Wir fuhren durch die belebte Innenstadt und standen wenig später in Pits Büro. Die beiden Schreibtische waren mit Notizzetteln, Aktenordnern, Faxbriefen und Fotokopien überhäuft. Dazwischen ragten zwei Telefone und zwei Kaffeetassen wie einsame Monumente auf. »Was, zum Donnerwetter, macht ihr denn hier?« rief Pit, als er uns bemerkte. »Hatte ich nicht ausdrücklich befohlen, daß ihr zuhause bleiben sollt? Wo ist Floh?« »Bei meinen Eltern. Susanne hat es nicht mehr ausgehalten. Sie meinte, hier sei sie sicherer.« Pit strich mit den Fingerspitzen über seinen Schnauzbart, nickte zu einem Besucherstuhl hin und fischte einen seiner berüchtigten Zigarillos aus einem zerknautschten Päckchen. Die Dinger stanken bestialisch, und Pit hatte es sich schon unzählige Male geschworen, mit der Qualmerei aufzuhören, aber er wurde immer wieder rückfällig. Besonders in angespannten Zeiten wie diesen. »Wißt ihr schon was?« fragte ich und hauchte Tessa einen 47
flüchtigen Kuß auf die Lippen. Pit wühlte auf seinem Schreibtisch herum. »Ilona Keilbach und Jürgen Tremel, die beiden Namen auf der Todesanzeige. Wir haben die Körper gefunden. Im fränkischen Schweinfurt.« »Wo ist der Zusammenhang?« hakte ich nach. »Zwei Menschen werden kilometerweit entfernt ermordet, und Susanne wird hier in Weimar damit terrorisiert.« Pit schaute finster zu seiner Frau hinüber, die zusammengesunken auf dem Stuhl saß. Eine Tabakwolke umschwebte den Hauptkommissar. »Ilona Keilbach stammte aus Weimar.« »Genau wie Hanna Pietrowsky«, spann ich den Faden weiter. »Richtig. Und wie Susanne Langenbach.« Susannes Kopf ruckte hoch. »Willst du nicht endlich mit der Sprache herausrücken?« fragte Pit eindringlich. »Es muß eine Verbindung zwischen dir und den beiden Frauen geben. Liegt sie möglicherweise neun Jahre zurück? Was geschah damals? Was hast du mit den beiden Toten zu schaffen?« »Ich kann nicht!« hauchte Susanne. »Doch, du kannst! Und du wirst es mir erzählen, Susanne. Nicht nur dein Leben ist in Gefahr, sondern auch das unserer Tochter! Spuck's endlich aus, zum Donnerwetter!« »Beruhige dich wieder, Chef!« unterbrach Tessa, legte ihm die Hand auf die Schulter und zog ihn zurück. »Sie ist keine Tatverdächtige, sondern deine Frau.« Tessa schenkte lauwarmen Kaffee nach. Pit nahm einen tiefen Schluck und verzog angewidert das Gesicht. »Ekelhaftes Gesöff«, brummte er. »Irgendwas Besonderes bei den Leichen?« kehrte ich wieder zum Thema zurück. »Ilona Keilbach wurde geköpft«, antwortete Tessa nüchtern. »Jürgen Tremels Körper wies zahlreiche Wunden auf. Er wurde von spitzen Gegenständen durchbohrt.« »Die Fahndung nach Hanna Pietrowsky läuft!« Pit nickte. »Ich glaube aber nicht, daß wir heute noch eine Spur finden.« Ich ging im Büro auf und ab, dachte angestrengt nach. Alle Fäden liefen bei Susanne zusammen. Ich konnte nur hoffen, daß sie bald den Mund aufmachte. Bevor es zu spät war. »Dehnt die Fahndung auf Schweinfurt aus«, meinte ich, einer 48
plötzlichen Eingebung folgend. »Und warum sollten wir das tun?« »Nur so ein Gefühl. Aber schaden kann es nicht, oder?« Pit erteilte die entsprechenden Anweisungen. Kaum hatte er aufgelegt, summte der Apparat. Pit meldete sich und schaute gleich darauf verwirrt zu uns herüber. »Für dich«, sagte er und hielt seiner Frau den Hörer entgegen. Susanne schüttelte den Kopf. »Ich will das nicht! Ich hab Angst. Wenn er das wieder ist… Das ist der reinste Psychoterror!« »Du wirst es nie erfahren, wenn du nicht rangehst«, sagte ich. »Mach schon.« Susanne erhob sich und ging mit zögernden Schritten zum Schreibtisch. Mein Blick wanderte zum Fenster. Ich schaute aus dem dritten Stock. »Hallo?« fragte Susanne leise in den Hörer. Pit drückte die Lautsprechertaste, damit wir mithören konnten. Ein häßliches Kichern ertönte. »Glaubst du im Ernst, daß dir die Polizei helfen kann?« fragte der Unheimliche. »Du bist clever, aber nicht clever genug. Und der Träger des Rings kann dir auch nicht beistehen. Er ist nur ein kleiner Bauer in einem gigantischen Spiel. Oder besser gesagt, ein unbedeutendes Molekül in der chemischen Reaktion zwischen Gut und Böse. Na, fällt der Groschen? Erinnerst du dich, was damals war? Vor neun Jahren? Die Jungfrau wartet!« Der unheimliche Anrufer verabschiedete sich mit einem dröhnenden Lachen, und ich sah ihn. Auch Susanne schaute aus dem Fenster und schrie. An der Fassade des Seitentrakts turnte für Sekundenbruchteile eine Gestalt in pechschwarzer Kutte herum. Die grellweiße Leprafratze starrte uns an. Die Gestalt hob den Arm, winkte und war verschwunden. Pit gab Großalarm, ließ das gesamte Gebäude abriegeln. Ohne Erfolg. Susanne brach weinend am Schreibtisch zusammen. Ich half ihr in den Stuhl zurück. Tessas Apparat gab einen Summton von sich. Mit gerunzelter Stirn hob sie ab, lauschte und legte wieder auf. »Die Kollegen aus Schweinfurt. Sie haben Hanna Pietrowsky gefunden«, sagte sie leise. »Ohne Kopf.« 49
Es dauerte lange, bis sich Susanne regte. Sie kramte in ihrer Aktenmappe, zog einen Stapel Briefe und Musikkassetten heraus und legte sie auf den Schreibtisch. Während Pit und Tessa die Briefe lasen und auf Susannes leise Erklärungen hörten, rief ich meinen Vater an und informierte ihn über den neuesten Stand der Dinge. Er versprach, Nachforschungen anzustellen. Ich wußte, daß er per E-Mail eine Anfrage an die anderen Mitglieder der Liga senden würde, und es mußte mit dem Teufel zugehen, wenn sie keine Antwort fanden. Die alte Redensart war nicht so weit hergeholt, denn inzwischen wußte ich ja, daß die Hölle wieder mal die Fäden in diesem grausamen Spiel zog. * Damals. Ein Freitagabend im April. Der Tag war trübe gewesen. Nur wenige Augenblicke war die Sonne zum Vorschein gekommen. Ansonsten hatte es gehagelt, geregnet und gestürmt. Von dem tristen Aprilwetter bekamen die Mitarbeiter der Chemischen Werke Prof. Breyvogel in Oberweimar nichts mit. An diesen Freitagnachmittag, machten sie zu fünft Überstunden. Die zierliche Ilona und die mollige Hanna, die sich in ihrer Freizeit mit Esoterik beschäftigte. Dann gab es da noch Wiebke, die ständig aussah, als hätte sie die Nacht durchgemacht, und Angela, eine bildhübsche, aber schüchterne junge Frau. Und schließlich Susanne Langenbach. Sie war als einzige verheiratet, und die Kolleginnen beneideten sie darum insgeheim. »Hoffentlich kommen wir bald zu einem Ergebnis, mit dem auch Susanne zufrieden ist«, murmelte Angela. »Sei doch nicht so ungeduldig!« Hanna stand am Nebentisch und beobachtete kritisch die dunkelrote Flüssigkeit in einem Reagenzglas. »Ich komme halt nicht gerne zu spät zur Versammlung.« »Ach ja, der Hexenzirkel. Hast du mit dem Blödsinn immer noch nicht Schluß gemacht?« fragte Ilona. »Das ist kein Blödsinn!« brauste Angela auf. »Ist ja schon gut, Angela. Ich möchte bloß wissen, was du an diesem Hokuspokus findest.« 50
»Ihr könnt ja mal mitkommen. Meister Agrippa ist froh über jedes neue Mitglied.« Angelas Augen strahlten bei der Erwähnung des Namens. »Komischer Name für einen Guru«, meinte Hanna. Angela blieb ruhig. »Ich bin glücklich. Der Meister gibt meinem Leben neuen Sinn.« »Laß sie doch«, sagte Susanne, als sie den Raum mit einem Styroporbehälter betrat. »Ich bin schon auf diesen Meister gespannt.« Angela lächelte die Projektleiterin glücklich an. »Freut mich. Wenn ihr nichts vorhabt, könnt ihr mich ja nachher begleiten.« Ilona zuckte mit den Schultern. Hanna nickte. Susanne stellte die Glasröhrchen vor Angela ab. »Wiebke kommt sicher später auch mit.« Eine knappe Stunde später hatten sie die Testreihe beendet und klingelten bei dem Meister. Die Tür öffnete sich automatisch. Susanne runzelte die Stirn. Sie hatte ein komisches Gefühl. Irgendwas stimmte hier nicht. »Kommt!« flüsterte Angela. »Es hat bestimmt schon angefangen!« Langsam gingen die Frauen durch die kaum beleuchtete Eingangshalle. »Willkommen bei Ekrons Kindern!« Die sonore Stimme hallte in den Ohren. Der Schreck fuhr den Frauen in die Glieder. »Langsam hab ich von diesen blöden Scherzen aber die Nase voll«, maulte Ilona. »Legt eure alltäglichen Hüllen ab und bedeckt euch mit Ekrons Gewändern!« Kaum war der Befehl des unsichtbaren Meisters erklungen, als eine unheimliche Gestalt vor den Frauen emporwuchs. Jetzt löste sich auch aus Ilonas Kehle ein Schrei. Vor ihnen waren die dunklen Umrisse einer Mönchsgestalt zu erkennen. »Wer ist das denn?« flüsterte Ilona. »Einer meiner Brüder«, erklärte Angela und begrüßte den mit einer schwarzen Kutte bekleideten Mann. Wortlos und mit geneigtem Kopf schritt der Unheimliche vor ihnen her und führte sie in einen Saal. Eine zweite Mönchsgestalt brachte dunkle Kutten. Die beiden Vermummten blieben an der Tür stehen und beobachteten, wie sich die Frauen umzogen. Susanne war das gar nicht recht. 51
Die Wände waren schwarz gestrichen. Der Boden mit schwarzen Wollteppichen bedeckt. Etwa zwanzig Männer und Frauen knieten vor einem schwarzen Altar mit brennenden Kerzen. »Willkommen bei Ekrons Kindern«, begrüßte Meister Agrippa seine Jünger, besonders die neuen. Angela trat vor und warf sich dem Meister vor die Füße. Meister Agrippa war ein breitschultriger Kahlkopf. »Tretet näher. Da ihr Ekrons heilige Hallen betreten habt, soll euch die Ehre zuteil werden, die Gunst des Herrn der Fliegen zu erfahren.« »Der liegt wirklich voll daneben«, flüsterte Ilona. »Alles Humbug.« Ihr Geflüster war nicht unbemerkt geblieben. Einige Andächtige warfen ihnen tadelnde Blicke zu. »Tretet vor und legt eure Gewänder ab!« befahl der Meister. »Du hast sie ja nicht alle!« explodierte Ilona. »Komm mit, Angela, du bist diesem Spinner lang genug auf den Leim gegangen!« Die resolute Frau bahnte sich einen Weg zwischen den Knienden und packte Angela an der Hand. »Halt!« brüllte Meister Agrippa. »Niemand widersetzt sich meinem Willen!« Die Jünger sprangen auf, fielen über die Frauen her und schleiften sie zum Altar. Zwangen sie vor dem Meister in die Knie. Susanne behielt die Ruhe. »Wenn Sie uns gegen unseren Willen festhalten, bringt Ihnen das eine Menge Ärger ein.« Der Meister lachte. »Du drohst mir? Hast du das gehört, Herr? Diese Unwürdige wagt es, mir, deinem treuen Diener, zu drohen! Ich trage den Namen des großen Alchimisten und Schwarzkünstlers Heinrich Cornelius von Agrippa. Er war es, der die Kabbala studierte. Und er war es, der an Ekron glaubte. Ich werde sein Werk fortsetzen. - Sieh dich um, Unwürdige. Diese Brüder und Schwestern hatten keine Zukunft. Nun haben sie die Gunst des Herrn der Fliegen erfahren und einen Ort, an dem sie sich heimisch fühlen. Doch uns fehlen Anhänger, die wirklich etwas bewegen können in diesem Land. So wie ihr. In eurem Labor entwickelt ihr Stoffe, die uns Macht verschaffen werden. Mit eurer Hilfe werden wir in kürzester Zeit dieses Land kontrollieren. Unser Gott, der Herr der Fliegen, wird seine Regentschaft antreten!« »Sie hatten alles von Anfang an geplant, haben Angela 52
beeinflußt, um an uns heranzukommen, nicht Wahr?« Susanne ahnte die Zusammenhänge. Agrippa lachte wieder. »Sehr schlau, meine Liebe. Es war so leicht, die schüchterne Angela zu verzaubern. Und es hat ihr nicht geschadet. Schau sie dir an. Sie ist glücklich in unserer Mitte. Sie tut alles für mich. Und für den Herrn der Fliegen.« »Sie sind wahnsinnig!« brüllte Wiebke. »Sie haben Angelas Leben zerstört! Sie gehören hinter Schloß und Riegel!« Agrippas Augen funkelten wütend. »Schweig, Unwürdige! Deine Worte beleidigen mich. Du wirst die erste sein, die dem Herrn der Fliegen zu Füßen liegt!« Er deutete auf Wiebke und auf den Altar. Starke Hände packten die Schreiende, schleiften sie nach vorn, drückten sie auf den Altar und zerrten ihr die Kutte über den Kopf. Ekrons Kinder streiften ihre Gewänder ab. Die meisten Dämonenjünger waren nackt. Sie fielen sich in die Arme, hob ihre Hände dem Dämonenbild an der Wand entgegen und stimmten einen unheimlichen Singsang an. Agrippa brauchte seine Kutte nicht auszuziehen. Er teilte sie vorn und schob die beiden Hälften zurück. Beugte sich über Wiebke, die bei der geringsten Berührung gellend schrie und sich aufbäumte. »Empfange seine Gnade!« rief der Meister und senkte seine Lippen auf Wiebkes Brust. Alle Augen waren auf Agrippa und sein Opfer gerichtet. Susanne warf sich nach vorn, packte eine der schwarzen Kerzen und ließ sie auf Agrippa niedersausen, wirbelte herum und rammte sie einem Jünger in den Leib. »Kümmert euch um Angela!« rief sie. »Ich hole Wiebke, und dann nichts wie raus hier!« Ilona und Hanna zögerten nicht länger. Schlagend und tretend bahnten sie sich einen Weg zu ihrer Freundin, doch Angela wich zurück. »Laßt mich! Was habt ihr getan? Ihr habt den Meister gedemütigt! Geht weg! Ich will nicht!« Sie wehrte sich, wich ihren Freundinnen aus und hetzte zum Altar, wo Susanne eben die weinende Wiebke auf die Beine stellte. »Packt sie!« schrie Agrippa mit schneidender Stimme. Er kauerte auf dem Boden und rieb sich den schmerzenden Nacken. »Sie dürfen nicht entkommen!« Doch die Jünger waren unschlüssig. Zum ersten Mal forderte ihr 53
Meister von Ihnen, daß sie gewalttätig wurden. Agrippa bemerkte die Unentschlossenheit seiner Anhänger. Er richtete sich auf und reckte beide Arme empor. »Herr der Fliegen! Komm deinen untertänigen Dienern zu Hilfe und vernichte diese Brut, die sich dir und deiner Macht in den Weg stellen will!« Er stemmte sich hoch und taumelte zum Altar. Legte beide Handflächen über die Kerzenflammen und hob den Kopf, um das Dämonenbild anzustarren. Er schien keinen Schmerz zu spüren. Selbst, als sich die Flammen durch seine Handflächen fraßen. Der Geruch verbrannten Fleisches erfüllte den Raum. Unablässig rief Agrippa Beschwörungen. Und hatte Erfolg damit, denn das Dämonenbild bewegte sich! Lautes Summen erfüllte die Luft. Es stank nach Schwefel in dem Zimmer. Urplötzlich löste sich ein gewaltiger Fliegenschwarm aus dem Dämonenbild und fiel über die Menschen im Raum her. Bedeckte ihre Köpfe, die Gesichter. Nahm ihnen den Atem. Wild schlugen Susanne und ihre Freundinnen um sich. Nur Angela hob ihr Gesicht lächelnd den Insekten entgegen und sank in die Knie. »Herr der Fliegen!« rief sie. Susanne streifte ihre Kutte ab, um mehr Bewegungsspielraum zu haben, kämpfte sich zu einem Bündel Kutten vor und setzte sie mit ihrer Kerze in Brand. Sie benutzte die Kerze als Fackelschaft und wirbelte das brennende Gewand zwischen den anstürmenden Fliegen herum. »Raus hier!« brüllte sie ihren Freundinnen zu. Die Jünger machten keine Anstalten, sie aufzuhalten. Sie waren vom Erscheinen der Fliegen total überrumpelt worden und hatten genug mit sich selbst zu tun. Doch das Schlimmste stand ihnen noch bevor. Aus dem Wandbehang löste sich die mächtige Gestalt des Dämons. Mit flappenden Schwingen und peitschendem Schweif sprang er auf den Altar, stieß Agrippa zur Seite und warf sich unter die Versammelten. Wütete wie ein Berserker unter den schreienden Menschen und jagte mit Riesensätzen dem Ausgang zu. Susanne und Ilona erkannten die neue Gefahr. Die beiden Frauen waren einen Augenblick lang vor Schreck erstarrt. »Was jetzt?« brüllte Ilona. »Wehrt euch mit den Kutten! Versucht, das Feuer auszudehnen!« 54
Ihre Freundinnen machten sich sofort ans Werk, schleiften die brennenden Gewänder über den flauschigen Teppich, schwangen sie dem anstürmenden Dämon entgegen. »Ich sollte mich nicht mit unwürdigem Geschmeiß wie euch abgeben, Menschlein! Agrippa hat kläglich versagt. Er wird jedoch eine neue Gelegenheit erhalten, mir seine Treue zu bekunden. Ihr aber und alle anderen, die hier versammelt sind, werden mir in die Dimensionen des Schreckens folgen.« Die Stimme des Dämons klang wie das Gebrüll eines Löwen. Seine krallenbewehrten Arme streckten sich nach den mutigen Frauen aus. Doch das Ungetüm vergaß Susanne Langenbach! Unbeirrt hetzte sie zwischen den verwirrten Dämonenjüngern hindurch, ließ sich durch nichts aufhalten und sprang an Agrippa vorbei, der sie verblüfft anstarrte. Und erkannte, was Susanne vorhatte. »Neeeiinn! Das darfst du nicht tun!« brüllte er und streckte der blonden Frau die verbrannten, qualmenden Hände entgegen. Der Herr der Fliegen hörte den Schrei seines Hohepriesters und wirbelte fauchend herum. Schwang sich in die Luft, sauste pfeilschnell auf Susanne zu. Und kam doch zu spät. Die Kerzenflamme erfaßte das Wandtuch mit dem Abbild des Fliegendämons und fand reichlich Nahrung. Gierig züngelte die Flamme an dem Stoff empor, breitete sich in Sekundenschnelle aus und loderte hell. Ein gellender, ohrenbetäubender Schrei löste sich aus der Kehle des Ungetüms. Susanne drehte sich um, rammte dem anstürmenden Monstrum die Kerze in ein Facettenauge, erhielt einen derben Schlag an der Schulter und fiel zur Seite. Sofort raffte sie sich auf und stürzte zur Tür. Hinter ihr brannte das Dämonenbild lichterloh. Sie sah den Herrn der Fliegen, wie er auf dem Altar lag und sich unter Schmerzen wand. Dann platzte der mächtige Körper, löste sich in Hunderte winziger Fliegen auf. Susanne bekam im Vorbeilaufen Angela zu fassen, zerrte sie mit sich durch den Korridor, durch Wohnräume und zur Haustür. Blaulichter zuckten ihnen entgegen, als sie die Tür aufrissen und ins Freie stolperten. Polizistinnen kümmerten sich um Susannes Freundinnen und sammelten schreiende, nackte Dämonenjünger ein, die aus dem Haus taumelten. 55
Aufatmend sank Susanne in die Arme eines schnauzbärtigen Mittfünfzigers. »Sind Sie in Ordnung?« fragte Hauptkommissar Ulrich Hellmann besorgt. Er war Pits Vorgesetzter. Susanne hatte ihn vom Labor aus angerufen und ihn gebeten, die sonderbare Gruppe mit dem Namen Ekrons Kinder unter die Lupe zu nehmen. Susanne nickte stumm. »Sie hätten mich ruhig über Ihr Vorhaben informieren können, Susanne. Solche gefährlichen Alleingänge habe ich nicht gerne. Ihr Mann wird ziemlich wütend sein, wenn er zurückkommt.« Sie lächelte nur. Ein langer, wehmütiger Schrei ließ sie herumfahren. Er stand vor der Eingangstür. Seine Kutte brannte an verschiedenen Stellen. Er fuchtelte mit den Armen herum und taumelte zur Seite. Sein gesamter Kopf war über und über mit Fliegen bedeckt. Verzweifelt versuchte er, die Insekten von seiner Gesichtshaut zu schaben. Aber es gelang ihm nicht. Agrippa, dessen richtigen Namen niemand kannte, bäumte sich ein letztes Mal auf, erhielt von unsichtbarer Faust einen Hieb und stürzte rücklings in das breite Panoramafenster des Wohnzimmers. Die Scheibe splitterte. Angela schrie gellend und rannte vor, wurde jedoch von zwei Polizeibeamten aufgehalten. Sie gebärdete sich wie verrückt. Der blutüberströmte Körper des Dämonenpriesters wuchtete sich hoch. Wie auf Befehl hob sich der Fliegenschwarm von seinem Gesicht. Einem Gesicht, das man nicht mehr als solches bezeichnen konnte. Es war eine einzige blutige Fläche. Nur die abstehenden Ohren waren von den Insekten verschont geblieben. Und die Augen. Agrippa hob die zerfetzten Augenlider und schaute nach oben. Sah die große, gezackte Glasscherbe, die nur noch lose im Fensterrahmen hing. Sah, wie sie sich löste. Begriff. Und konnte doch nichts mehr tun. Der kopflose Torso des Dämonenpriesters sackte zu Boden. Er 56
streckte die Arme aus, kam hoch und machte zwei taumelnde Schritte nach vorn, bevor er in die Knie und dann nach vorn fiel. Das Blut schoß fontänenartig aus seinem Halsstumpf. Angela riß sich los und warf sich über den blutenden Körper. Bedeckte ihn mit Küssen. Und weinte hemmungslos. Ihre heile Scheinwelt war zusammengebrochen. Auf dem Fenstersims aber lag der blutüberströmte Schädel mit den Segelfliegerohren und stierte aus weit aufgerissenen Augen anklagend zu den Frauen und den Polizeibeamten hinüber. Diesen schrecklichen Anblick würden Susanne und ihre Freundinnen lange nicht vergessen. * Gegenwart. Susanne hatte in den vergangenen Wochen mehrmals Kassetten erhalten, auf denen die Flüsterstimme des Unheimlichen zu hören gewesen war. Dann waren die Briefe eingetroffen. Mit jedem Schreiben wurde Susanne an die schrecklichen Ereignisse vor neun Jahren erinnert. »Warum hast du mir nie etwas davon erzählt!« wollte Pit wissen. Susanne zuckte mit den Schultern. »Du weißt doch, wie wir uns damals auf das Kind gefreut haben. Ich bat Ulrich, dir nichts zu sagen. Ich wollte nicht, daß du dich im nachhinein beunruhigst und damit vielleicht deine Vorfreude auf die Geburt trübst.« Sie schaute auf. »Ich wußte doch, wie glücklich du damals warst.« Pit stand auf, ging zum Fenster und starrte hinaus. »Bleiben noch Wiebke Tillmann und Angela Bienert. Zwei weitere potentielle Opfer. Denn daß der Kerl alle Frauen abserviert, die damals in den Vorfall verwickelt waren, dürfte klar sein.« Ich nickte Tessa zu, die bereits zum Telefonhörer gegriffen hatte. Wenig später lagen die Adressen der beiden Frauen auf ihrem Schreibtisch. Angela Bienert wohnte im Stadtteil Ehringsdorf. Bei Wiebke Tillmann sah es schon anders aus. Sie lebte in Erfurt. »Wir werden den beiden Damen mal einen Besuch abstatten«, 57
beschloß Pit. »Susanne, du bleibst hier bei Tessa. Wir beeilen uns.« Wir fuhren in meinem Wagen. Es dämmerte bereits, als wir in Erfurt ankamen. Auf belebten Straßen gelangten wir in eine citynahe Wohngegend, die überwiegend aus Mehrfamilienhäusern bestand. Die hochmoderne Straßenbahn entlastete auch hier Autoverkehr. Wiebke Tillmann wohnte im Dachgeschoß eines Neubaus. Als wir an der Haustür klingelten, antwortete uns niemand. Stirnrunzelnd wollte Pit auf die anderen Klingelknöpfe drücken, als wir hinter uns Schritte vernahmen, die sich rasch näherten. Wir drehten uns um und sahen uns einer zierlichen jungen Frau gegenüber. Sie war hübsch, mit hellen Augen und schmalen Lippen. Kastanienbraunes, glattes Haar fiel über ihre Schultern. Sie entsprach ganz und gar nicht der Beschreibung, die uns Susanne gegeben hatte. Die Frau hatte ein äußerst entspanntes und gepflegtes Äußeres. »Wollen Sie zu mir?« fragte sie und öffnete die Haustür mit einem Generalschlüssel. »Nur, falls Sie Wiebke Tillmann sind«, äußerte Pit. »Bin ich. Wieder. Bis vor einem halben Jahr hieß ich noch Färber. Aber die Zeiten sind gottseidank vorbei.« Sie musterte uns aufmerksam. »Müßte ich Sie kennen?« Pit schüttelte den Kopf und zückte seinen Ausweis. »Hauptkommissar Langenbach, Kripo Weimar. Das ist Herr Hellmann, mein Mitarbeiter.« Die hellen Augen verfinsterten sich. »Hab ich was ausgefressen? Ich trinke nie, wenn ich fahre, Chef.« »Es geht um eine Geschichte, die schon lange zurückliegt, Frau Tillmann. Neun Jahre, um präzise zu sein.« Abrupt wandte sich die junge Frau ab und stieg die Treppe hoch. »Lassen Sie mich damit in Ruhe. Ich habe damals alles gesagt und nichts mehr hinzuzufügen.« »Das sehen wir aber anders«, meinte ich. Wir folgten ihr bis vor ihre Wohnungstür im Dachgeschoß. »Es gibt nichts mehr zu sagen«, beharrte Wiebke und sperrte die Wohnungstür auf. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen!« Pit stemmte die Hand gegen die Tür. »Aber nicht doch, junge 58
Frau. Sie werden sich doch mit uns unterhalten wollen. Oder ist es Ihnen lieber, wenn wir Sie vorladen?« Wiebke rauschte an uns vorbei in die Diele. »Dazu haben Sie kein Recht!« deklamierte sie. »Bei Mord haben wir alle Rechte, Teuerste.« »Mord!« Wiebke wirbelte herum. »Ich wüßte nicht, was ich mit Mord zu tun hätte.« »Ilona Keilbach und Hanna Pietrowsky. Sagen Ihnen diese Namen etwas?« Wiebke wurde blaß. »Na, sehen Sie. Beide sind tot. Und Sie stehen ebenfalls auf der Liste des Killers.« »Genau wie Ihre Frau. Ihr Name war doch Langenbach, richtig? Dann dürften Sie Susannes Mann sein. Sie ist genauso gefährdet wie Angela und ich.« Pit hob die Augenbrauen. »Woher wissen Sie, daß Angela Bienert noch lebt?« »Sie hätten Sie doch sonst erwähnt, oder?« fragte sie kalt zurück. Pits Augen funkelten. »Wie standen Sie zu meiner Frau?« Wiebke warf ihre Umhängetasche auf die Couch. »Wir waren befreundet. Ihre Frau hätte Angela helfen sollen. Oder mir. Aber wir müßten die Prügel einstecken, und Frau Langenbach wartete in aller Seelenruhe ab, bis sie James Bond spielen konnte«, sagte Wiebke in verächtlichem Unterton. »Ist das der Grund, weshalb Ihre Freundschaft zu Susanne in die Brüche ging?« »Sind Sie gekommen, um mit mir über Ihre Frau zu labern oder sich um meine Sicherheit Sorgen zu machen, Chef? Wenn es nach mir geht, hätte Susanne als erste dran glauben müssen. Sie hat den Laden doch fast im Alleingang aufgemischt.« »Ich denke, wir sollten uns mal ein wenig umsehen«, schlug Pit vor. Es ging ihm gewaltig gegen den Strich, daß seine Frau derart angegriffen wurde. »Sie haben keinen Durchsuchungsbeschluß. Und überhaupt, was erwarten Sie denn zu finden? Glauben Sie, ich hätte den Mörder in meinem Kleiderschrank versteckt?« »Ihn vielleicht nicht«, meldete ich mich von der Schlafzimmertür zu Wort. Ich war während des Disputs herumgeschlendert und hatte meine Blicke schweifen lassen. 59
»Aber seine Kleidung.« Wiebkes Kopf fuhr herum. Ihre Gesichtshaut war um einige Schattierungen bleicher geworden, als sie die pechschwarze Kutte in meiner Hand entdeckte. Ich hatte das Leinengewand im Schrank gefunden und warf es Pit zu. Er breitete die Kutte aus. »Gibt's dazu auch noch die passende Gesichtsmaske?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Das beweist überhaupt nichts«, sagte Wiebke hastig. »Ich nehme an Gebetsabenden einer religiösen Vereinigung teil. Jeder von uns trägt diese Kutten.« »Wann treffen Sie sich? Und wo?« »Ich wüßte nicht, was das mit Ihrem Fall zu tun hat!« Wir redeten mit Engelszungen auf Wiebke Tillmann ein, bis wir sie dazu bewegen konnten, uns Rede und Antwort zu stehen. Sie nannte uns die Adresse ihrer Sekte, der sie sich angeschlossen hatte. Auch Wiebke hatte Kassetten und Briefe erhalten, in denen man ihr ankündigte, daß sie bald um Vergebung für die neun Jahre zurückliegenden Vorfälle bitten müßte. Mehr war nicht aus ihr herauszubringen. Wir verabschiedeten uns und verließen die Wohnung, um Angela Bienert aufzusuchen. »Komisch«, brummte Pit und schob einen Räucherbalken zwischen die Lippen. »Wieso trampelt sie so sehr auf Susanne rum?« »Sie hat ihr wohl nie verziehen, daß Susanne sie überredete, Angela zuliebe an der Versammlung teilzunehmen und sie dadurch in Lebensgefahr brachte.« »Das wäre aber auch ein Motiv für die Morde. Ilona und Hanna waren an dem Fiasko mindestens ebenso beteiligt wie Susanne.« Insgeheim stimmte ich Pit zu. Das Verhalten der jungen Frau und der Besitz der schwarzen Kutte sprachen dafür, daß sie mit dem unheimlichen Killer in Verbindung stand. Wir würden uns sicherlich noch eingehend mit Wiebke Tillmann befassen. Aber unser Besuch bei Angela Bienert hatte jetzt Vorrang. Als wir nach Weimar zurückfuhren, ahnten wir nicht, daß die Schergen des Schreckens ebenfalls schon unterwegs waren… *
60
»Ich halte es nicht mehr aus!« rief Susanne und hieb mit der Faust auf die Schreibtischplatte. »Ich muß was tun!« »Das überläßt du besser Pit. Wenn du die Nerven verlierst, machst du am Ende noch Dummheiten, und ich kann dafür geradestehen.« »Quatsch!« Susanne sauste im Büro herum. »Zur Toilette darf ich ja wohl noch allein gehen. Oder brauche ich da auch Geleitschutz!« »Normalerweise schon.« »Jetzt hör aber auf! Dieser Irre kann ja schlecht durch die Kloschüssel. Dem würde ich was scheißen! Bin gleich wieder da!« Tessa kannte ihre Pflichten. Sie erhob sich und schickte sich an, ihren Schützling zu begleiten. Im selben Moment summte das Telefon. »Mist!« entfuhr es Tessa. Susanne lächelte. »Bis gleich!« flötete sie, winkte und verschwand. Tessa beantwortete den Anruf. Es war ein Kollege aus Schweinfurt, der ihr die neuesten Erkenntnisse mitteilen wollte. Der Korridor war leer. Aus einigen Büros drangen die Stimmen von Beamten, das Rattern von Faxgeräten und Kopierern, das Röcheln von Kaffeemaschinen. Susanne mußte bis zum Ende des Korridors gehen, wo die Toiletten lagen. Sie drückte die Tür der Damentoilette auf. Ein geräumiger, grau gefliester Vorraum empfing sie. Rechts an der Wand befanden sich drei Waschbecken. Darüber hingen rechteckige, rahmenlose Spiegel. Links führte ein Durchgang zu den WC-Kabinen. Susanne drückte den Mischregler am mittleren Waschbecken nach oben und hielt ihre Hände unter den Wasserstrahl. Die kalte Flüssigkeit lief über ihre Handgelenke. Fast augenblicklich war das schmerzhafte Ziehen aus ihrem Nacken verschwunden. Sie fing den Wasserstrahl mit den Händen auf und kühlte ihr Gesicht. Mit dem Ellbogen drückte sie den Mischregler nach unten. Der Wasserstrahl versiegte. Sie hielt die Augen geschlossen, die kalten Hände vor das Gesicht gepreßt. Langsam hob sie den Kopf, nahm die Hände herunter. Im Spiegel sah sie eine Fremde. Erschöpfung lag in den Gesichtszügen der Frau, die ihr aus dem 61
Spiegelglas entgegenstarrte. Es war, als hätte sie nächtelang nicht geschlafen. Das Geräusch war plötzlich da. Ein dumpfes Pochen. Susanne erstarrte, wirbelte dann herum und schaute in den Raum mit den WC-Kabinen. Sämtliche Türen waren geschlossen. Sie hätte nicht sagen können, welche Kabine besetzt war. Dazu mußte sie die Reihe der Türen abgehen. Das Pochen wurde lauter, heftiger. Es dröhnte in ihren Ohren. Susanne atmete tief durch, gab sich einen Ruck. Sie stieß sich vom Waschbecken ab und machte einen Schritt auf die Kabinen zu. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Sie fühlte das Grauen über ihren Rücken gleiten. Das Pochen hallte überlaut in ihrem Kopf wider. Susanne fuhr herum. Starrte auf den Spiegel. Direkt in ein wachsbleiches, zerfressenes Gesicht, das sie unter der pechschwarzen Kapuze einer Mönchskutte anstarrte! Schlagartig hörte das Pochen auf. Totenstille breitete sich aus. Susanne fühlte, wie sich der Schrei in ihrer Kehle formte und schließlich zwischen ihren Lippen hervorbrach. »Aaaahhh!« Das Antlitz des Unheimlichen wurde schwächer, verblaßte und machte ihrem eigenen Gesicht im Spiegel Platz. Eine Toilettenspülung rauschte. Ein Türschloß klappte. Schlurfende Schritte näherten sich. »Haben Sie sich erschrocken, Kindchen?« fragte eine ältere Frau, die an das linke Waschbecken trat. Sie lächelte Susanne freundlich an. »Sie sehen mitgenommen aus. Sie sollten sich ein wenig ausruhen. Im Erdgeschoß gibt es einen Sanitätsraum mit einer Liege. Wenn Sie möchten, begleite ich Sie hin.« »Nein, danke«, stammelte Susanne und spülte ihre schweißnasse Stirn erneut mit dem kalten Wasser. »Ganz, wie Sie wollen, Kindchen.« Die Frau zog den Kragen ihrer weißen Spitzenbluse unter der grauen Kostümjacke zurecht und ging zur Tür. Susanne hatte sie bereits vergessen und schüttelte sich im nachhinein, als die schwarze Gestalt ihres unheimlichen Peinigers 62
vor ihrem geistigen Auge auftauchte. Eine Hand legte sich schwer auf ihre Schulter. Susanne stockte der Atem. Ihr Herz krampfte sich zusammen. »Ich wollte Sie nicht erschrecken, Kindchen«, sagte die Dame im grauen Kostüm. »Etwas Kölnisch Wasser könnte Ihnen helfen. Mein Büro ist drei Türen weiter. Kommen Sie doch nachher bei mir vorbei.« »Danke«, war alles, was Susanne herausbrachte. Mißtrauisch beobachtete sie die Frau, wie sie nun die Damentoilette verließ. Susanne blies ihren Atem durch beide Backen und schüttelte den Kopf. Verflucht, reiß dich endlich zusammen. Du machst dir vor Angst noch in die Hosen! Auf Zehenspitzen betrat sie den Kabinenraum. Sie traute dem Frieden nicht. Noch so eine Überraschung wie mit der alten Dame würde sie kaum verkraften. Nacheinander stieß sie die Kabinentüren auf. Wieder erklang das dröhnende Pochen; es wurde immer lauter. Erst bei der drittletzten Kabinentür wurde ihr klar, daß es ihr eigener Herzschlag war, den sie hörte. Die Kabinen waren leer. Susanne schickte ein Dankgebet zum Himmel, kehrte in den Waschraum zurück, strich sich die Haare aus der Stirn, befeuchtete ein Papiertaschentuch und entfernte etwas Lippenstift aus dem Mundwinkel. Susanne bemerkte nicht, wie der schwarze Schatten hinter ihr emporwuchs. Eine kalte, bleiche Hand legte sich über ihr Gesicht, verschloß Mund und Nase. Susanne wehrte sich, krallte ihre Finger in den Arm, konnte sich aber nicht aus dem Griff befreien. Rote Schleier wallten vor ihren Augen. Die Luft wurde ihr knapp. Bevor ihr die Sinne schwanden, sah sie noch im Spiegel das bleiche Fratze des unheimlichen Angreifers… * Ich ließ den Wagen im Hainweg in Ehringsdorf ausrollen. Die Straße war von niederen Bordsteinen begrenzt und wies zahlreiche Schlaglöcher auf. Auch hier säumten ältere Häuser aus der Zeit vor der Wende den Straßenrand. Hin und wieder sah 63
man gepflegte Vorgärten. Die Gehsteige waren mit Betonplatten ausgelegt, an denen der Zahn der Zeit auch schon genagt hatte. Das Haus, in dem Angela Bienert wohnte, gehörte ihrem Onkel. Die junge Frau lebte zurückgezogen in einer Zwei-ZimmerWohnung. Wir erkundigten uns in der Nachbarschaft nach Angela. Sie fiel nie auf, hatte anscheinend keine Freunde und auch keine Männerbekanntschaften. Auf unser Klingeln wurde ein Fenster im Obergeschoß geöffnet. Ein dunkler Kopf und schmale Schultern zeichneten sich im Fensterviereck ab. »Ja, bitte?« »Frau Bienert? Kripo Weimar. Wir haben einige Fragen an Sie. Bitte öffnen Sie.« Der Türsummer ertönte. Sie wartete in der offenen Wohnungstür auf uns. Sie wirkte eher unscheinbar. Das dunkle Haar hatte sie straff nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem Knoten gebunden. Das Gesicht war blaß. Sie trug eine hochgeschlossene, graue Bluse und einen dunkelblauen Rock. Die Aufmachung hätte eher zu einer Siebzigjährigen gepaßt als zu einer jungen Frau von Anfang Dreißig. »Was kann ich für Sie tun, meine Herren?« Pit stellte uns vor. »Dürfen wir hereinkommen? Drinnen spricht es sich leichter.« Angela Bienerts dunkelbraune Augen ruhten auf mir, als wir ihre Wohnung betraten. Ich spürte ihre Blicke in meinem Rücken. Sie schienen mich förmlich durchbohren zu wollen. »Es geht um zwei Ihrer Freundinnen, Frau Bienert«, begann Pit. Sie ließ sich auf der Couch nieder. Saß stocksteif da, die Hände im Schoß gefaltet. »Tut mir leid, aber ich habe keine Freunde«, sagte sie leise. Pit räusperte sich. »Ehemalige Freundinnen. Ilona Keilbach und Hanna Pietrowsky.« Der Anflug eines Lächelns huschte über Angelas Gesicht. »Das ist aber schon sehr lange her.« »Neun Jahre«, bestätigte Pit. »Die beiden Frauen sind tot. Sie wurden ermordet.« Angelas Gesicht zeigte nicht die geringste Gefühlsregung. Es blieb kühl, distanziert. »Das berührt Sie wohl nicht sonderlich?« fragte Pit. Angela hob die schmalen Schultern. »Ich kann an ihrem Tod 64
nichts ändern. Und ich hatte keinen Kontakt mehr zu ihnen. Warum sollte ich mich betroffen zeigen, wenn ich es nicht bin!« »Sie mochten die beiden wohl nicht besonders?« »Ist das eine Feststellung oder eine Vermutung?« »Beantworten Sie immer eine Frage mit einer Gegenfrage?« Schulterzucken. Ich wanderte in der kleinen Wohnung herum. Sie war schlicht eingerichtet. Rattanmöbel, ein Futon-Bett, ein Kleiderschrank aus Naturholz, eine schlichte Einbauküche. Nichts luxuriöses, abgesehen von dem HiFi-Turm in der Wohnzimmerecke. Ich schlenderte hinüber und schaute die Cds durch. Und war überrascht. Fast überwiegend Heavy Metal-Songs lagen da. Auf den Covern waren grausige Totenköpfe abgebildet. Schreckliche Monstren mit geifernden Reißzähnen und bluttriefenden Vampirhauern. Dazwischen entdeckte ich religiösen Chorgesang, aufgenommen in diversen Klöstern. Ich betrachtete die junge Frau genauer. Und bemerkte wieder, daß ihre Augen jede meiner Bewegungen zu verfolgen schienen. Ein amüsierter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. So, als würde sie sich über meine Verwirrung freuen. »Warum hielten Sie den Kontakt zu Ihren Kolleginnen nicht aufrecht?« fragte Pit weiter. »Warum sollte ich? Schließlich habe ich es ihnen zu 'verdanken', daß mir mein damaliger Lebensinhalt genommen wurde. Für mich brach eine Welt zusammen. Und damit auch unsere Freundschaft.« Leise öffnete ich Schubladen und Schranktüren, während ich ihren Worten lauschte. Ich fand nichts, was darauf hingedeutet hätte, daß sie mit dem mysteriösen Mörder in Verbindung stand. »Haben Sie Musikkassetten und Briefe bekommen, in denen man Sie an jenen Tag vor neun Jahren erinnert?« fragte Pit. Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück. Angela hob eine Augenbraue. »Nein. Sollte ich?« Sie schaute zu mir hin. »Haben Sie gefunden, was Sie gesucht haben?« »Das ist aber mächtig seltsam, finden Sie nicht? Ihre ehemaligen Freundinnen haben diese Kassetten und Briefe erhalten. Nur Sie nicht. Und zwei von ihnen sind nur tot. Sie sind gestorben, wie der Anführer von Ekrons Kindern damals.« »Sie wurden geköpft.« 65
Pit nickte. »Haben Sie eine Idee, wer dahinterstecken könnte? Wo das Motiv des Mörders liegen könnte? Rache? Nachahmung? Wahnsinn? Und vor allem, warum sind gerade Sie verschont wurden.« Angelas Blick glitt zu dem Siegelring an meinem Finger. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen, Herr Hauptkommissar. Vielleicht ist es jemand, der dem Anführer der Verbrecher nahestand. Wer weiß, vielleicht will sich jemand dafür rächen, daß mir die anderen nicht zu Hilfe kamen, als ich furchtbare Qualen erleiden mußte und mein Leben zerstört wurde. Ich habe heute noch Alpträume, Herr Hauptkommissar! Womöglich habe ich sogar einen heimlichen Verehrer, der das Unrecht, das mir widerfuhr, wiedergutmachen will. Ich kann Ihnen beim besten Willen keine Erklärung geben.« Sie erhob sich, kam zu mir herüber. »Ein schönes Schmuckstück haben Sie da. Darf ich?« Sie streckte die Hand aus. Ich reichte ihr meine Rechte. Sie betrachtete den Siegelring eingehend. »Wunderschön. So etwas findet man selten. Ein Familienerbstück!« »Könnte man sagen.« Sie hielt meine Hand in ihren kalten, schmalen Fingern. Ihr Griff war bemerkenswert fest. Ihre Augen wichen nicht von meinem Gesicht. Und der Siegelring an meiner Hand erwärmte sich! War es die Ausstrahlung dieser Frau? Stand sie mit den bösen Mächten im Bunde? Oder waren wir nicht mehr mit Angela Bienert allein? Ich löste mich von der jungen Frau und griff unter die Jacke. »Pit«, sagte ich ruhig, zog ein Ersatzmagazin heraus und warf es ihm zu. So konnte auch er sich mit Silbermunition zur Wehr setzen, falls wir von untoten Mönchen angegriffen wurden. »Darf ich fragen, was das zu bedeuten hat, meine Herren?« fragte Angela bestimmt, als sie unsere Pistolen sah. »Wollen Sie mich festnehmen? Halten Sie mich etwa für eine Mörderin?« Ich schüttelte den Kopf und legte den Zeigefinger vor die Lippen. Schob Angela in die Ecke, in der sich die Musikanlage befand. Angela blieb stehen und stemmte die kleinen Fäuste in die Hüften. »Ich bitte um eine Erklärung, meine Herren! Sofort!« Pit war noch damit beschäftigt, das Magazin in seiner Waffe zu 66
wechseln, als der Schatten in der Schlafzimmertür auftauchte. Ich fuhr herum und feuerte in der Bewegung. Die Kugel hieb in die Brust des Unheimlichen. Sein Körper wurde nach hinten gerissen, flog auf das Bett und blieb mit ausgebreiteten Armen liegen. Wie der Blitz war ich neben dem Toten und wollte ihm die Maske von dem Gesicht ziehen, doch meine Hand griff ins Leere. Was ich vor mir hatte, war nur noch ein Spiegelbild. Ein Hologramm, das bei meiner Berührung in sich zusammenfiel. Ein Häufchen Asche blieb übrig. Mein Siegelring glomm noch immer hell und vibrierte wie verrückt. Ein sicheres Zeichen dafür, daß wir es mit dämonischen Wesen zu tun hatten. Nur deshalb hatte ich geschossen. Ich fragte mich nicht, woher der Unheimliche gekommen war. Sicher gab es dafür eine einfache Erklärung. Wahrscheinlich war irgendwo in der Wohnung ein Fenster offen. Und selbst wenn dies nicht der Fall war - Dämonen schafften es sogar, durch Wände zu gehen. Oder ihre Gestalt beliebig zu verändern. Das mußte ich feststellen, als ich mich der Tür zuwandte und nicht auf den Schrank hinter mir achtete. Ein dumpfes Knarren ertönte, als sich die Seitenwände und Türen des Möbelstücks wölbten. »Paß auf!« schrie Pit, aber es war zu spät. Hölzerne Arme schlangen sich um meinen Oberkörper, preßten meine Arme gegen den Leib. Fauliger, heißer Atem strömte in meinen Nacken und streifte mein Gesicht. Ich stieß meinen Kopf zurück und hatte vor Schmerz laut schreien mögen. Es war, als hätte ich einen Baumstamm gerammt. Hinter Pit tauchte ein weiterer Unheimlicher in Kutte und Fratzenmaske auf. Angela Bienert schrie gellend. Pit feuerte, traf und sah, wie der Kuttenmann in die Knie sank. Dann erschien eine Schreckensgestalt in der Tür zur Küche und warf sich gegen meinen Freund und Kampfgefährten. Ich spürte meine Knochen nicht mehr. Der Druck des hölzernen Monstrums nahm zu. Meine Hände wurden pelzig, taub. Die Pistole entglitt meinen Fingern. Ich hörte Angela wieder schreien. Sah, wie Pit von einer 67
zweiten Horrorgestalt attackiert wurde. Er kam nicht zum Schuß. Es waren schleimige Gesellen, die meinem Freund an die Wäsche wollten. Sie kamen mir bekannt vor. Ich kramte in meinem Gehirn nach, wo ich die Schleimbeutel schon mal gesehen haben konnte, während ich gleichzeitig nach einer Möglichkeit suchte, mich aus dem Griff des Schrankmonsters zu befreien. Ich warf mich nach vorn. Das Holzmonster knarrte und knurrte. Ich spannte sämtliche Muskeln an, rannte los und zog den Kopf ein. Der Holzkopf krachte gegen die Wand, was ihm allerdings keinen größeren Schaden zufügte. Er schien vielmehr Spaß an dem Gerangel zu bekommen, denn er versuchte nun seinerseits, mich gegen die Wand zu pfeffern. Ich fing den Aufprall mit den Füßen ab, nutzte den Schwung aus und trieb uns zurück. Das Monster taumelte auf den hölzernen Beinen, drehte sich und schob mich auf das Futon-Bett zu. Von einem Augenblick zum nächsten veränderte sich die leintuchbezogene Matratze und wurde zu einer spiegelglatten Fläche. Mir war, als blickte ich auf die Oberfläche eines unergründlich tiefen Sees. Mit einem Ruck wurde ich vom Boden gehievt und auf das Bett gestoßen. Ich streckte einen Fuß aus. Der Absatz meines Stiefels berührte die Oberfläche. Versank in einem Meer aus ätzendem Schleim! Stinkender Qualm stieg auf. Es zischte. Dazwischen war gieriges Glucksen zu hören. Wenn es dem Monster gelang, mich auf das Bett zu werfen, blieb wahrscheinlich nur noch mein Siegelring von mir übrig! Hastig zog ich den Fuß zurück, strampelte mit den Beinen, trat nach hinten aus und traf den Dämon, der einmal ein Kleiderschrank gewesen war. Ich holte Schwung, riß die Beine hoch und versuchte, den Kopf des dämonischen Gegners in eine Beinschere zu nehmen und gleichzeitig die Umklammerung der Holzarme zu sprengen. Mein Vorhaben gelang nur teilweise. Doch ich brachte den Gegner derart aus dem Konzept, daß er ins Schwanken geriet. Kopfüber hing ich nun in seinem Griff. Meine Beine streckten sich der Decke entgegen und strampelten wild. Der Gegner faßte nach, verstärkte den Druck. Meine rechte Hand hing nach unten, die linke war angewinkelt 68
und an den Körper gepreßt. Das Blut schoß mir in den Kopf. Ich sah den Unterleib des Gegners. Die Stelle, an der die Schenkel begannen, war nicht mehr als eine blankpolierte, gemaserte, lackierte Holzfläche. Holz! ging es mir durch den Kopf. Wie bekämpft man Holz? Ich hatte keine Säge bei mir, keinen Bohrer. Aus dem Wohnzimmer hörte ich lauten Kampflärm. Glas ging zu Bruch. Pit fluchte. Denk nach, verdammt! Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen! tadelte ich mich und spürte die Hitze, die mein Ring abstrahlte. Dann hatte ich die Lösung! Ich drehte die Hand und malte mit dem Lichtstrahl des Rings die Runen des Futhark-Alphabets für das Wort Feuer quer über den Unterleib des Holzdämons. Die Runen schienen sich in den hölzernen Leib zu fressen. Dann sprangen Flammen aus der Schrift. Ich bog den Kopf zurück, um von dem Feuer nicht versengt zu werden. Der dämonische Kleiderschrank brüllte infernalisch. Jeder Dämon fürchtet die reinigende Kraft des Feuers. Nur Mephisto, der Höllenfürst selbst, und seine höchsten Dämonenführer scheinen gegen die Flammen gefeit zu sein. Aber hier hatte ich es weder mit meinem Erzfeind noch mit seinen Unterführern, sondern mit einem Dämon zweiter oder dritter Klasse zu tun. Und der würde gegen Feuer ebensowenig bestehen können wie ein Schneeball in der Hölle. Der Griff des Hölzernen lockerte sich. Das Monster hob die Arme, und ich stieß mich ab und verwandelte den Sprung in eine Rolle vorwärts. Sofort drehte ich mich um. Das Holzwesen stand hoch aufgerichtet vor mir. In der Maserung des kantigen Schädels zeichnete sich eine Totenfratze mit weit aufgerissenem Mund ab, die sich zu einem mir wohlbekannten Gesicht veränderte. Es war das Warzengesicht des Dämons Belial! Der Holzkopf hob die Arme und trommelte sich unter schmerzerfülltem Brüllen gegen die breite Brust. »Und damit eröffnen wir die diesjährige Grillsaison«, verkündete ich lakonisch, malte ihm die Futhark-Runen mitten in die Fratze und sorgte dafür, daß sein Schädel zu einem riesigen Klumpen Holzkohle wurde. 69
Der Dämon hieb um sich. Ich duckte mich unter seinen Schlägen hinweg und wartete, bis er sich umgedreht hatte. Sein Gebrüll ging mir gehörig auf den Zeiger. Ich sprang vor und trat ihm mit beiden Beinen in sein hölzernes Hinterteil. Der Tritt katapultierte den Dämon nach vorn. In seinem Schmerz begriff er zu spät, was ihm blühte. Er ruderte wild mit den Armen, konnte seinen Schwung aber nicht mehr abfangen. Kopfüber stürzte er in die Schleimfläche des Betts. Schmatzend schloß sich der Säureschleim über der lodernden Gestalt. Schwefeldampf erfüllte das Zimmer. Das Bett hustete und spuckte kleine Holzkohlestückchen aus, bevor sich die Liegefläche in ihren ursprünglichen Zustand zurückverwandelte. Ich hielt mich nicht länger auf, schnappte meine Pistole und sprang ins Wohnzimmer. Einer der beiden Schleimbeutel, die Pit attackierten, wurde auf mich aufmerksam. Der Widerling schien aus einem einzigen Schleimbatzen geformt zu sein. Der Kopf hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Totenschädel. In der Schleimfläche öffnete sich ein lippenloser Schlund mit messerscharfen Reißzähnen, die an das Gebiß eines Piranhas erinnerten. Der Schleimer tropfte und schmierte. Er war mit einer Art Lederwams bekleidet und hielt einen Wurfspieß in der Hand. »Junge, damit machst du dir keine Freunde. Du versaust den ganzen Teppich!« herrschte ich den Höllenschergen an und ging auf Tauchstation. Mit einem wohlgezielten Tritt sichelte ich ihm die Beine weg, während sein Spieß über mich hinwegsirrte und sich in den Türrahmen bohrte. Der Schleimsack versuchte, seine Waffe aus dem Holz zu ziehen und faßte mit beiden Händen zu. Dabei stieß er ein unwilliges Grunzen aus und versprühte jede Menge Glibber. »Ich kann Schleimer nicht ausstehen«, zischte ich, rammte ihm den Lauf meiner SIG Sauer in die triefende Gesichtsfläche und drückte ab. Der Knall der Schüsse wurde gedämpft. Die Silberkugeln wüteten verheerend, ließen den Schleimkopf zerplatzen. »Frag mich nicht, warum ich nicht schon früher auf die Idee gekommen bin!« rief Pit. Obwohl der Schleimdämon seine Pistole umklammert hielt und Pit mit dem Schaft seines Spießes gegen die Wand drückte, riß mein Freund die Waffe aus der schmierigen 70
Hand und fütterte den Dämon mit Silberkugeln. In der Aufregung hatten wir jedoch Angela Bienert vergessen. Das wurde uns bewußt, als wir ihren Schrei vernahmen und eben noch sahen, wie sie von einer schwarzgekleideten Gestalt durch die Balkontür in die Nacht gezerrt wurde. Wir befreiten uns von den Überresten der Glibberbrüder, die sich allmählich auflösten, und stürzten auf den Balkon. Angela Bienert und ihr unheimlicher Entführer waren spurlos verschwunden! Pit fischte sein Handy aus der Tasche und tippte Wiebke Tillmanns Nummer ein. Niemand meldete sich. Ich las die Befürchtung in seinem Blick. Bevor einer von uns etwas sagen konnte, wurde Pit angerufen. Er lauschte und wurde leichenblaß. »Er hat Susanne!« flüsterte er und ließ mutlos das Handy sinken. Der Kuttenmörder hatte sämtliche Trümpfe ausgespielt und sich drei Opfer auf einmal geholt. Für mich stand fest, daß für uns ein Wettlauf mit der Zeit begann. Denn Susanne und ihre beiden Leidensgenossinnen sollten noch in dieser Nacht einen schrecklichen Tod sterben. * Tessa war untröstlich. »Ich konnte doch nicht ahnen, daß der Kerl ausgerechnet auf der Toilette lauert«, unternahm sie den schwachen Versuch, sich zu verteidigen. Man hatte nur noch Susannes Lippenstift und einen Schuh im Waschraum gefunden. Sie mußte sich mit aller Kraft gewehrt haben. Pit saß am Schreibtisch und raufte sich die Haare. Seine Augen schimmerten feucht, und es kam bestimmt nicht vom Rauch seiner Zigarillos, der sich vor seinem Gesicht kräuselte. »Wenn er ihr auch nur ein Haar krümmt, zerleg ich den Kerl in seine Einzelteile«, schwor er. »Ich krieg ihn, Mark. Verlaß dich drauf!« »Wir kriegen ihn«, verbesserte ich. Pit ließ seine Faust auf die Tischplatte krachen, daß der Papierkram durcheinahnderflatterte. »Wenn ich bloß wüßte, wo er sie hingeschleppt hat, verdammt!« »Das tust du doch.« 71
Er starrte mich entgeistert an. »Er hat sie nach Schweinfurt geschafft«, sagte ich ruhig. »Das ist nur eine Vermutung, Mark. Bloß weil die ersten beiden Opfer in Schweinfurt gefunden wurden, heißt das noch lange nicht, daß Susanne auch dort ist.« »Es ist aber wahrscheinlich. Wieso hat er nicht hier in Weimar gemordet? Ilona Keilbach lebte in Schweinfurt. Hanna Peitrowsky wohnte hier.« »Schweinfurt ist groß, Mark. Wir kennen uns dort nicht aus. Es wäre eine Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen! Und die Nacht ist kurz!« »Du mußt nur einen Magnet nehmen«, meinte ich grinsend. »Ich bin wirklich nicht zu Scherzen aufgelegt, Mark! Susanne hat bestimmt schon das Messer am Hals, und du weißt nichts Besseres, als dumme Witze und überflüssige Ratschläge abzulassen!« Ich erwiderte nichts, sondern rief meinen Vater an. »Hast du schon was für mich, oder bist du noch damit beschäftigt, Märchen von Elfen und Prinzen zu erzählen?« wollte ich wissen. Er lachte. »Wir sind mittlerweile bei Hexen, Drachen und strahlenden Helden angelangt«, erklärte er. »Und bei euch!« Ich senkte die Stimme. »Man hat Susanne und zwei weitere Frauen entführt. Und das vor unserer Nase.« Am anderen Ende herrschte kurz Schweigen. »Habt ihr schon eine Spur?« fragte Ulrich. »Schweinfurt. Davon gehe ich zumindest aus. Mehr nicht.« »Du könntest richtig liegen, Mark. Hör zu. Es dürfte kein Zufall sein, daß die ersten Opfer in Schweinfurt getötet wurden. Der Zustand der Leichen läßt darauf schließen, daß sie durch den Jungfernkuß gestorben sind.« Das klang interessant. Diesmal unterbrach ich meinen Vater nicht. »Die Zeremonie des Jungfernkusses geht auf das späte Mittelalter zurück. Damals besaßen die Klosterherren von Bildhausen in der Nähe von Schweinfurt ein Haus, den sogenannten Bildhäuser Hof. Dort hielten sie geheime Versammlungen ab. Man sagt sogar, daß sie dort nicht ausschließlich ihren Gebeten nachgingen, sondern auch die Dunklen Mächte beschworen. Vom Bildhäuser Hof soll ein unterirdischer Geheimgang in die Innenstadt, zur ehemaligen 72
Bastei, geführt haben. Und dort fand dann der Jungfernkuß statt.« »Im Mittelalter herrschten eben lockere Sitten«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. »Kein jungfräulich Mägdelein war vor den lüsternen Burschen sicher.« »Vor Schürzenjägern wie dir bestimmt nicht«, entgegnete mein Vater. »Der Jungfernkuß war ein Turm, in dessen Verliesen sich eine Eiserne Jungfrau befand. Wenn jemand in den Augen der Obrigkeit die Todesstrafe verdient hatte, mußte er um Vergebung bitten, indem er die Jungfrau küßte.« »Und dabei verlor der arme Kerl dann den Kopf. Würde mir auch so gehen, wenn ich anstatt eines hübschen Mädchens eine rostige alte Schachtel knutschen müßte.« »Der Jungfrau ermöglichte es ein Mechanismus, daß sie sich bewegte. Sie hielt zwei Schwerter in den Händen und köpfte den Delinquenten.« »Rauhe Sitten im alten Deutschland.« »Auch bei den Mönchen. Sie sollen den Geheimgang dazu benutzt haben, den Dunkeln Mächten Menschenopfer zu bringen. Und zwar mit Hilfe der Eisernen Jungfrau.« »Und du meinst, daß die drei Toten den Jungfernkuß erhalten haben?« »Mit Sicherheit. Außerdem müssen wir annehmen, daß es sich bei den Skelettmönchen um die ehemaligen Klosterherren von Bildhausen handelt.« »Und damit hätten wir einen alten Bekannten auf dem Hals, der sie zum Leben erweckt hat. Unseren Freund, das Pickelgesicht.« »Wahrscheinlich.« Es kam ganz dicke. Wir hatten es nicht nur mit einem irren Killer, sondern auch noch mit Belial, einem Dämon aus den obersten Rängen der Dämonenhierarchie, zu tun. Jetzt wußte ich auch, wieso mir die Schleimbeutel aus Angela Bienerts Wohnung bekannt vorgekommen waren. Ich hatte im letzten Sommer bereits das zweifelhafte Vergnügen gehabt, mich mit ähnlichen Wesen herumzuschlagen, die sich als Belials Schergen entpuppt hatten. Damals war ich auf dem Oybin in der Lausitz dem pickelgesichtigen Dämon, der sich selbst als Herr der Skelette bezeichnete, begegnet und hatte ihm einen Arm abgehackt. (Siehe MH11!). Seitdem hatte Belial eine Stinkwut auf mich und meine Freunde. 73
»Das würde bedeuten, daß sich unser Killer mit Belial verbündet hat«, sinnierte ich. »Auf jeden Fall wird es nicht leicht«, meinte Ulrich Hellmann. »Ihr solltet euch schleunigst auf den Weg machen. Ich faxe dir gleich eine Wegbeschreibung und eine Karte, auf der ich den Verlauf des Geheimgangs markiert habe. Ich habe das dumpfe Gefühl, daß der Killer seinen Triumph noch heute nacht auskosten will. Also laßt die Socken qualmen!« »Nichts anderes hatte ich vor. Vielen Dank. Gib Floh einen Schmatz von Pit und mir und drück uns die Daumen.« »Kein Problem. Zum Glück brauche ich die Daumen zum Geschichtenerzählen nicht.« Ich unterbrach die Verbindung und legte Tessa die Hand auf die Schulter. »Laß die Wohnungen von Wiebke Tillmann und Angela Bienert durchsuchen, mein Schatz. Ich will wissen, ob es dort eine Verbindung nach Schweinfurt gibt. Für alle Fälle. Und leite eine Fahndung nach den Entführten im Umkreis von Weimar und Erfurt in die Wege.« Das Fax ratterte und spuckte die Wegbeschreibungen und Straßenkarten aus. Ich winkte Pit. »Schnür die Sporen um, Freund Langenbach, die Pflicht ruft!« »Bei dir komme ich mir jedesmal vor wie Knecht Ruprecht, mein lieber Nikolaus!« gab Pit zurück. Er zog mich öfter mit meinem zweiten Vornamen auf. »Du hast das Vergnügen, und ich darf den prallen Sack mit mir rumschleppen - und die Geschenke verteilen. Irgendwie ist das unfair!« Wir stiegen in meinen Wagen und rauschten bald über die nächtliche Autobahn, wechselten am Hermsdorfer Kreuz auf die A 9 und würden am Kulmbacher Dreieck auf die wenig befahrene A 70 abbiegen, die uns direkt nach Schweinfurt bringen sollte. Die Zeit brannte uns unter den Fingernägeln. * Sie kauerten in völliger Dunkelheit. Die Kälte des Verlieses kroch über ihre Haut, setzte sich in ihren Gliedern fest. Sie zitterten. Nur ihr Zähneklappern war zu hören. Susanne hatte den ersten Schreck rasch überwunden. Ihr Entführer war nicht mit dem anonymen Briefeschreiber und 74
Anrufer identisch, denn er sprach kein Wort. Seine Hand fühlte sich hart an. Knochig. Susanne bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, von einem Skelett entführt worden zu sein. Ihr Entführer hatte mit einer Hand eine kreisende Bewegung vollführt, und vor ihnen öffnete sich ein wirbelnder, pechschwarzer Schacht. Der Kuttenträger machte einen gewaltigen Schritt vorwärts, in den Schacht hinein. Und dann wußte Susanne nichts mehr, bis sie in einem unterirdischen Gang aufwachte. Rauhe Hände hatten sie gepackt und zu diesem Verlies geschleift, wo sie schließlich vor einer dicken Eichentür zu Boden gestoßen worden war. »Willkommen, Susanne«, drang die flüsternde, geschlechtslose Stimme des Maskierten aus der Dunkelheit. Susannes Kopf ruckte herum. Das zerfressene Gesicht bildete einen hellen Fleck in der undurchdringlichen Finsternis. »Du bist gekommen, um Vergebung zu erflehen. Vergebung für die Schuld, die du vor neun Jahren auf dich geladen hast.« »Reden Sie keinen Schwachsinn, Mann! Ich weiß von keiner Schuld! Der Überfall ist schiefgegangen, und ich habe nichts mehr damit zu tun. Lassen Sie mich auf der Stelle frei, oder Sie werden die Konsequenzen zu tragen haben!« »Oho, du hast Mut! Ich wußte, daß du nicht um Gnade winseln würdest. Alle anderen, aber du nicht! Damals warst du die einzige, die sich gewehrt hat. Du warst die starke Frau, aber auch du wirst winseln, Susanne. Du wirst die Jungfrau um Gnade anflehen! Und doch wirst du alles verlieren, was für dich das große Glück bedeutet! Deinen Mann. Dein Kind. Ich wollte, daß du den Schmerz spürst, wenn du von ihrem Tod erfährst. Aber jetzt sind Umstände eingetreten, die das unmöglich machen. Du wirst von deiner Schuld erlöst werden, Susanne, und dann wirst du erleben, wie es ist, grenzenlosen Schmerz zu verspüren. Nicht im Herzen. Sondern hier.« Der Unheimliche tippte sich gegen die Stirn. »Sie sind ja krank!« zischte Susanne. »Die Schau können Sie sich sparen. Mein Mann wird Sie aufstöbern. Und wenn Sie mich umbringen, gnade Ihnen Gott!« Heiseres Gelächter antwortete ihr. »Gott ist weit weg. Ich habe Verbündete, die viel näher sind. Sie verheißen mir ewige Macht. Sie gaben mir die Möglichkeit, meine Rache zu vollenden. Und 75
während dich mein Zorn trifft, wird der Zorn der Hölle deinen Mann und den Träger des Rings ereilen.« Susanne hob den Kopf. »Es geht überhaupt nicht um mich, nicht wahr? Es geht um Mark Hellmann!« Die Schreckensgestalt schüttelte den Kopf. »Indirekt schon. Aber primär geht es um dich und deine Freundinnen. Ganz besonders um dich, starke Frau. Du wirst vor mir knien und wimmern, bevor die Jungfrau ihr Urteil spricht!« Eine Handbewegung des Unheimlichen sorgte dafür, daß die Knochenhände wieder zupackten und an Susannes Kleidung zerrten. Sie wehrte sich verzweifelt, aber gegen die Kraft der Skelettmönche kam sie nicht an. Nackt und zitternd stand sie zwischen den Knochenmännern. »Sperrt sie ein!« befahl der Unheimliche. »Noch ist die Zeit nicht gekommen!« Susanne wurde in das Verlies gestoßen. Knallend schloß sich die schwere Tür. Es hatte lange gedauert, bis sie sich beruhigt hatte. Sie kauerte an der feuchten Wand und beobachtete das rotglühende Augenpaar, das ihr aus der Dunkelheit entgegenstarrte. »Susanne!« wisperte eine Stimme. »Ja. Wer bist du?« »Wiebke. Sie haben mich kurz vor dir hier eingesperrt. Bestimmt haben sie auch Angela geschnappt.« »Aber wieso? Ich verstehe nicht, warum sie es ausgerechnet auf uns abgesehen haben.« »Nicht auf uns. Auf dich, Susanne. Wir sind nur Mittel zum Zweck, um dich weichzukochen. Sie wollen dich. Und niemand anderen.« Lange herrschte Schweigen zwischen den beiden Frauen. Dann raschelte es. Wiebke Tillmann krabbelte über den Boden. Das glutrote Augenpaar bewegte sich. Trippelnde Schritte waren zu hören. Etwas näherte sich, zischte und fiepte drohend. Stinkender Atem drang zu den Frauen herüber. Mit einem leisen Schrei ließ sich Wiebke gegen die Wand fallen. Die beiden Frauen hielten sich eng umschlungen, suchten in der Umarmung Kraft. »Dein Mann war bei mir. Hat mir eine Menge dämlicher Fragen gestellt. Er kann ganz schön arrogant sein. Ich wollte nicht an die Ereignisse von damals, die Kassetten und die Briefe erinnert 76
werden und hab entsprechend reagiert. Dann haben sie diese Scheiß Kutte bei mir gefunden. Jetzt hat mich dein Alter auf dem Kieker.« »Das kann ich mir nicht vorstellen, Wiebke. Er glaubt bestimmt nicht, daß du etwas mit den Morden zu tun hast.« »Von wegen. Der Mörder trägt die gleiche Kutte. Und ich blöde Kuh muß das Ding auch noch direkt vor der Nase deines Alten aufbewahren!« Susanne streichelte sanft den nackten Rücken ihrer Leidensgenossin. »Mach dir keine Sorgen. Es ist nicht Pits Art, jemandem aus einem einzigen Indiz einen Strick zu drehen.« Lange saßen sie so und schwelgten in Erinnerungen. »Der Kerl will sich bestimmt dafür rächen, daß wir diese blöde Teufelssekte aufgerieben haben«, meinte Wiebke. »Es war die einzige Chance, uns vor den Fliegen zu retten.« »Wir hätten auch abhauen können«, wandte Wiebke ein. »Und Angela in den Klauen dieser Fanatiker zurücklassen? Niemals!« Wiebke sagte nichts. Endlich schien sie zu verstehen, daß Susanne damals nicht anders hatte handeln können. »Tut mir leid«, meinte sie schließlich. »Du hast ja recht. Du warst die einzige, die den Mut hatte, etwas zu unternehmen.« »Nichts zu tun, ist manchmal verdammt mutig. Ich hab mich damals auf die Polizei verlassen. Ohne sie hätte ich wohl auch nichts unternommen.« Die Minuten verrannen quälend langsam. Endlich kratzte ein Schlüssel im Schloß. Die schwere Eichentür wurde aufgezogen. Fackelschein erhellte das Verlies. »Raus mit euch!« befahl die flüsternde Stimme ihres Peinigers. »Die Jungfrau wartet!« Hand in Hand gingen Susanne und Wiebke zur Tür. Sie wurden sofort gepackt. Susanne schaute sich noch einmal um. Eine Mischung aus Ekel und Angst kroch in ihr hoch. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie das Wesen sah, mit dem sie die Zelle geteilt hatte. Bittere Übelkeit stieg in ihr hoch. Das Ding setzte sich auf die Hinterläufe, fletschte die geifernden Zähne und stieß einen Laut aus, der an ein gackerndes Lachen erinnerte. Die beiden Frauen wurden in eine riesige Gewölbehalle gezerrt. 77
Im Fackelschein sah Susanne die bleichen Gesichter der Skelettmönche, den Steinsockel und die Eiserne Jungfrau. Links stand die hochaufgerichtete, schmale Gestalt mit des Unheimlichen. Sie trat vor. »Ihr seid schön. Ich beneide euch. Euer Leben verlief in glücklichen Bahnen.« Eine kalte Hand glitt über Wiebkes kleine Brüste und strich über ihren Bauch. »Du hast es damals schon genossen, als du halbnackt vor ihnen herumgetanzt bist, nicht wahr? Du hast ihre lüsternen Blicke genossen und dir gewünscht, daß ihre Hände dich berühren!« Er ging zu Susanne und strich auch über ihren Körper. Sie zuckte bei der Berührung zusammen. Die kalten Finger folgten den Rundungen ihrer Hüften. »Die Schwangerschaft hat dich zu einer schönen Frau gemacht, Susanne. Du hast nicht nur einen lieben Mann und ein Kind, sondern hast auch noch eine gute Figur behalten. Kompliment!« »Nimm deine dreckigen Pfoten von mir, du Mistkerl!« zischte Susanne und holte aus. Blitzschnell wich der Schreckliche aus. »Oho, die Katze zeigt die Krallen! Die Jungfrau wird sich freuen. Und erst dein Mann, wenn er hier ist und sieht, was mit seiner kleinen Frau geschieht!« Hoffnung blinkte in Susannes Augen. »Pit kommt hierher? Dann gib lieber gleich auf, bevor er dich auseinandernimmt!« Der Schreckliche trat zurück und nickte den Mönchen zu. Schauriger Chorgesang erfüllte das Gewölbe. Zwei Skelette traten auf die Frauen zu und hüllten sie in weiße, hauchdünne Leinengewänder, die ihre Körper kaum verhüllten. Wiebke mußte vortreten. »Bitte um Vergebung, Wiebke. Und empfange den Kuß der Jungfrau!« rief die Schreckensgestalt. Zum ersten Mal hatte Susanne den Eindruck, daß ihr die Stimme bekannt vorkam. Wiebke schaute unsicher zu Susanne zurück und erhielt einen Stoß, der sie zum Steinsockel beförderte. Man ließ ihr keine Wahl. Sie trat zu der eisernen Frauengestalt, küßte die kalten Lippen und drehte sich um. Da sah sie, wie der Unheimliche sein Haupt in magisches Licht tauchte und sein wahres Gesicht zeigte. Der Schock traf sie wie ein Hammerschlag. Deshalb vernahm Wiebke nicht mal mehr das Sirren der beiden Schwerter und Susannes gellenden Schrei…
78
* Wir folgten der breiten Gunnar-Wester-Straße am Südrand der Schweinfurter Innenstadt, bogen in die Rüfferstraße und gelangten zum Ernst-Sachs-Bad, das um diese Zeit die letzten Besucher entließ. In einer dunklen, mit Bäumen gesäumten Seitenstraße hielt ich an. »Laut Plan müßte hier die ehemalige Bastei gestanden haben, und gleich daneben der Turm mit der Eisernen Jungfrau«, erklärte ich. Pit schaute zu dem erleuchteten Komplex des Hallenbades hinüber. Im Jahre 1931 als erstes bayrisches Hallenbad erbaut, war es inzwischen mehrmals renoviert und modernisiert worden und hatte sich zu einem bedeutenden Zentrum des Schwimmsports entwickelt. Rund um den Bereich erstreckten sich Grünanlagen. Das Messegelände mit seinen Parkplätzen und der ausgedehnte Chateaudun-Park mit dem Theater schlossen sich an. »Wenn wir die ganze Gegend absuchen sollen, dann gute Nacht«, murrte Pit. »Wir trennen uns. Du überprüfst die nähere Umgebung des Hallenbads. Mit etwas Glück findest du in den Anlagen Überreste des alten Turms und einen Zugang. Ich nehme mir den Park vor. Dort befinden sich noch Teile der alten Stadtmauer. Ich könnte mir vorstellen, daß der Geheimgang der Klosterbrüder auch die Stadtmauern mit einbezog.« Ich verteilte Silbermunition aus meinem Einsatzkoffer, steckte meinen armenischen Silberdolch ein, der mir schon gute Dienste geleistet hatte, und vergaß auch die Weihwasserphiolen nicht. Wir wußten nicht, wie viele Skelettmönche wir zu bekämpfen hatten. Und Belial war auch nicht zu unterschätzen. Ihm war zuzutrauen, daß er sich mit einer kleinen Armee seiner schleimigen Schergen umgeben hatte. Da kam uns das Weihwasser gerade recht. Die Schleimbeutel reagierten schon auf die kleinsten Tropfen der geweihten Flüssigkeit allergisch. Über unsere Handys stellten wir eine Verbindung her und hielten sie aufrecht. Sobald einer von uns etwas entdeckte, würde es der andere erfahren. Pit schlenderte am Eingang des Hallenbades vorbei. Eine Gruppe junger Leute, mit Jogginganzügen bekleidet und 79
Sporttaschen tragend, verließ das Bad, blieb auf dem Vorplatz stehen und verabschiedete sich unter viel Gelächter. Pit drückte sich an den Jugendlichen vorbei und verschwand in der Dunkelheit. »He, habt ihr den gesehen?« hörte ich ein Mädchen fragen. »Möchte wissen, wieso der Kerl hier nachts rumschleicht!« »Wird ein Spanner sein«, meinte ein Junge und strich der Blondine lachend über das kurze Haar. »Kannst ihm ja nachgehen. Vielleicht gibt's was zu sehen!« »Gar keine schlechte Idee. Du hast uns Mädchen ja nichts zu bieten!« Der Junge ließ die Sporttasche fallen, nahm Bodybuilder-Pose ein und wackelte mit den Hüften. »Na, ist das etwa nichts!« Pech für ihn. Das Mädchen sprach nicht auf seinen Hüftschwung an. »Kannst auch warten, bis der Spanner zurückkommt. Der steht bestimmt auf Blondinen!« meinte er sauer. Ich grinste und lenkte den Wagen unter den Bäumen hervor. Wenn du wüßtest, mein Junge. Hoffentlich hat Pit nicht mitgekriegt, daß du ihn für einen Spanner hältst. »Hast du das gehört? Das Bürschchen nennt mich einen Spanner! Er kann von Glück sagen, daß ich im Augenblick andere Sorgen habe!« erklang wie auf Kommando Pits Stimme aus dem Handy. »Wer schleicht so spät noch am Bad entlang? Es ist der Langenbach, und er hat Drang!« dichtete ich. »Hast du es gerade Poltern gehört? Das war der olle Goethe, der sich vor Zorn im Grab umgedreht.« Bald hatte ich den Parkplatz des Messegeländes erreicht. Nur drei einsame Fahrzeuge waren hier abgestellt worden. Ich ließ meinen Wagen in der Nähe der Ausfahrt stehen, um für einen Blitzstart vorbereitet zu sein, und machte mich auf den Weg zum Park. Die Nacht war sternenklar und mild. Alles war ruhig. Ich folgte einem breiten Weg, der quer durch den Park zum Theatergebäude führte. Falls ich nicht schon vorher auf die Ruinen der alten Stadtmauer stieß, würde ich mich am Theater danach erkundigen, denn dort traf ich bestimmt auf Nachtschwärmer. Aber meine Sorge war unbegründet. In der Nähe des Theaters, zwischen niedrigen Büschen, entdeckte ich verwitterte 80
Mauerreste. Ich berührte das kalte Gestein, folgte ihm erst in Richtung auf das Theater, doch die Mauer endete nach wenigen Metern. Also kehrte ich um, tauchte zwischen den dichten Büschen unter und schritt an der Mauer entlang. Meine Absätze bohrten sich in den weichen Erdboden. Zweige verhedderten sich in meiner Jacke und meinen Jeans. Ich schob sie sacht zur Seite und bahnte mir mit den Armen meinen Weg. Plötzlich war die Mauer zuende. Ich blieb stehen und schaute mich um. Nirgends war ein möglicher Zugang zu sehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als es auf der Rückseite der Mauer erneut zu versuchen. Ich hatte ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt, als mein Handy knackte. Ich blieb stehen und lauschte. »Pit?« fragte ich leise. »Hast du was gefunden?« Die Antwort war ein überraschter Schrei, der in Gepolter und Getöse unterging. Dann war alles still. Ich versuchte mehrmals, mit Pit Kontakt aufzunehmen, aber vergeblich. Er meldete sich nicht mehr. Mist! Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Ich hatte erst wenige Schritte zurückgelegt, als ich die Schleif spuren auf dem weichen Boden bemerkte. Ich runzelte die Stirn und ging in die Hocke, um genauer nachsehen zu können. Und genau diese Bewegung rettete mir das Leben! Der Wurfspieß flog über meinen Kopf hinweg, klirrte gegen das Mauergestein. Funken sprühten. Gleichzeitig erwärmte sich mein Siegelring. Ich wartete nicht, bis Belials Schleimgeselle zu einem neuen Stoß ausholen konnte. Ließ mich einfach zur Seite wegsacken, hielt den Silberdolch bereits in der Hand und schleuderte ihn, bevor meine Schulter den Boden berührte. Die rotglühenden Augen in der Schleimfratze weiteten sich in jähem Erkennen, dann sirrte die Silberklinge durch die Luft und bohrte sich tief in den Halsansatz des ekelhaften Höllenwesens. Ein dumpfes Gurgeln war alles, was mein Gegner von sich gab. Langsam sank er in die Knie, sackte zu einem undefinierbaren Klumpen klebrigen Schleims zusammen, trocknete aus und zerbröselte. Ich steckte den Dolch wieder ein. Eigentlich hatte ich mit mehreren Gegnern gerechnet, aber dieser Schleimer schien ein Einzelkämpfer gewesen zu sein. Und er mußte durch den Geheimgang nach oben gelangt sein. 81
Ich folgte der Schleifspur, schob Erdreich mit dem Schuh zur Seite und entdeckte eine dicke Steinplatte, die lose über einer dunklen Öffnung lag. Mit beiden Händen faßte ich zu, spannte die Muskeln und schob mit einiger Anstrengung die Platte nach hinten. Schweiß tropfte mir in die Augen. Dämonen hatten diese Probleme nicht. Was für mich Knochenarbeit bedeutete, erledigten sie mit dem kleinen Finger. Grob gehauene Stufen führten in die Tiefe. Ohne zu zögern, stieg ich in die Dunkelheit. Bevor ich den Boden des Gangs erreichte, griff ich nach oben, bekam einen Eisenring zu fassen und zerrte die Steinplatte wieder in ihre alte Lage. Es hätte mir gerade noch gefehlt, wenn mir ein unbeteiligter Neugieriger in den Stollen gefolgt wäre. Vorsichtig tastete ich mich an den feuchten Steinwänden entlang. Der Boden bestand aus losem Erdreich und Staub. Klebrige Spinnenfäden huschten über mein Gesicht. Meine Waffen hatte ich stecken lassen. Mit beiden Händen ertastete ich meinen Weg. Ich fühlte mich alles andere als wohl in meiner Haut, als ich so durch die Finsternis schritt. Aber ich hoffte, bald auf einen Lichtschein zu treffen. Ich war sicher, hier unten das Versteck von Susannes Entführer und den Skelettmönchen zu finden. Ich irrte mich nicht. Nachdem ich dem Stollengang um unzählige Windungen und über etliche Treppen gefolgt war, verbreiterte er sich. Weit vor mir konnte ich ein schwaches Licht erkennen. Ich atmete auf, streifte die letzten Spinnweben von der verschwitzten Stirn und beschleunigte meine Schritte. Ich hastete an einer dicken Eichentür vorbei. Dabei fragte ich mich, ob Susanne womöglich in dieser Kammer eingesperrt war. Aber ich verwarf den Gedanken wieder. Ich wollte Pit finden und mit ihm gemeinsam gegen unsere Gegner vorgehen. Doch damit war jemand ganz und gar nicht einverstanden. Noch während sich meine Gedanken um Pit und Susanne drehten, schwang hinter mir die Tür des Verlieses knarrend auf. Sie öffnete sich nur noch einen Spaltbreit. Etwas zischte durch die Öffnung und klatschte gegen meinen Stiefel, wickelte sich darum und zog. Ich wandte den Kopf, als ich das Hindernis spürte, erkannte etwas, das aus der Tür ragte und wie eine Peitschenschnur wirkte. 82
Und fiel auf die Nase. Wer immer die rote Peitschenschnur hielt, hatte mich mit einem kräftigen Ruck zu Fall gebracht. Ich hörte ein Geräusch, das wie hämisches Gelächter anmutete, dann tauchte ein Wesen aus dem Verlies auf, das meinen schlimmsten Alpträumen entsprungen zu sein schien. Ich schluckte und griff zur Pistole. »Neeeiiinnn« Pits Schrei hallte durch den Geheimgang und grub sich in mein Gehirn. Eine Gänsehaut jagte über meinen Rücken. Angst hielt mich gepackt. Ich hob die Pistole und zielte auf den unheimlichen Entführer, dessen Kopf von einer violetten Aura umgeben war. Und sah es in deutlicher Klarheit vor mir. Wir waren zu spät gekommen! * Pit war an den hohen Fenstern, die einen Einblick in die große Schwimmhalle gewährten, vorbeigelaufen und an der hinteren Ecke des Hallenbades stehengeblieben. Vor ihm breiteten sich die Anlagen aus. Pit hatte nicht die geringste Ahnung, wo er mit der Suche beginnen sollte. Ziellos überquerte er den Rasen. Er würde zunächst die nähere Umgebung des Bades absuchen und seine Suche immer weiter ausdehnen. Der weiche Boden unter seinen Füßen machte ihn nervös. Und dann stieß sein Fuß auf festen Untergrund! Pit stockte, drehte sich um und bückte sich. Strich mit der flachen Hand das Erdreich zur Seite. Und legte einen verwitterten Steinquader frei. Sofort dachte Pit an den Turm, der im Volksmund der Jungfernkuß genannt wurde und dessen Überreste sich hier in der Gegend befunden haben sollten. Hatte er hier einen Stein aus jenem alten Gemäuer vor sich? Die Antwort kam schneller, als Pit erwartet hatte. Er hatte sich erst wenige Schritte von dem Steinquader entfernt, als er stolperte, das Gleichgewicht verlor und nach vorn stürzte. Instinktiv streckte er die Arme vor, um den Sturz 83
abzufangen. Der Boden gab unter dem Aufprall nach. Und Pit sauste in die Tiefe! In einem Regen aus Grasnaben, Erdbrocken, Zweigen und Laub stürzte Pit in die Dunkelheit. Er stieß einen Schrei aus und wußte, daß Mark ihn über Handy hören würde. Dann prallte er hart auf den Boden des Stollenganges. Benommen blieb er liegen. Wartete, bis sich der aufgewallte Staub gelegt hatte. Rieb sich in den Augen, um einen klaren Blick zu bekommen. Dunkelheit umgab ihn. Er tastete herum, suchte sein Handy, um Mark Bescheid zu geben. Als er die Quatschbox endlich gefunden hatte, hieb er frustriert mit der Faust auf den Boden. Das Mobiltelefon hatte beim Aufprall schwer gelitten. Wenn ich mich nicht melde, wird Mark nach mir suchen, sagte sich Pit. Er hat mich bestimmt schreien gehört. Pit kam auf die Beine, tastete nach der Stollenwand und versuchte, eine Richtung zu bestimmen, in die er sich bewegen sollte. Die Entscheidung wurde ihm leicht gemacht, denn er vernahm leisen Chorgesang. Er zog die Pistole und folgte dem schaurigen Klang der Stimmen, die einen geisterhaften Choral nach dem anderen anstimmten. Er erreichte eine Abzweigung, und auch hier zeigte ihm der Gesang den Weg. Pit gelangte in einen breiten Gang, begann zu laufen und stand endlich in einem riesigen, von Fackeln erleuchteten Gewölbe. Weit vor sich entdeckte er Susanne. Sie war in ein weißes Büßergewand gehüllt und kauerte zwischen zwei untoten Mönchen. Aber Pit sah auch den Kuttenmörder. Er stand hochaufgerichtet an der gegenüberliegenden Seite des Gewölbes. Pit ließ den Blick nach rechts gleiten, entdeckte den Sockel, die Eiserne Jungfrau und Wiebke Tillmanns kopflosen Torso. »Polizei! Geben Sie auf! Ihr Spiel ist aus!« brüllte Pit und stürmte in die Gewölbehalle. Hob die Pistole und zielte auf die Gestalt. Dabei vergaß er jedoch die Skelettmönche. Harte Knochenfinger packten ihn von hinten, zerrten die Pistole aus seinem Griff, schnürten ihm die Luft ab und stießen ihn gegen 84
die Wand. Pit brach in die Knie. Die Pistole lag unerreichbar. Aber noch hatte er die Weihwasserphiolen. Als er danach greifen wollte, stellte sich ein breiter Fuß auf seinen Rücken und drückte ihn nieder. Der Druck war so stark, daß die Phiolen brachen. Pit spürte, wie die geweihte Flüssigkeit seine Haut benetzte. Der Fuß wurde zurückgenommen. Pit wandte den Kopf und starrte in das mit eitrigen Pickeln und Warzen übersäte Gesicht Belials. »So sieht man sich wieder, Pit Langenbach!« dröhnte die Stimme des Dämons. »Ich warte nur noch auf deinen Freund, dann wird der Jungfernkuß seinen Zweck erfüllen. Zuvor sollst du jedoch Zeuge werden, wie deine geliebte Frau den Kuß der Eisernen Jungfrau empfängt.« Der Kuttenmörder gab ein Zeichen. Susanne wurde nach vorn gestoßen. Ihr trauriger Blick glitt zu ihrem Mann. Doch Susanne war stolz. Sie würde ihren Peinigern niemals die Genugtuung geben, vor ihnen auf die Knie zu fallen und um Gnade zu winseln. Hocherhobenen Hauptes schritt sie zum Sockel und stieg die Stufen empor. Sie drehte sich um, schaute in die Halle. Sah die Geistermönche, ihren Mann und ihren Entführer. Und die abgetrennten Schädel ihrer Freundinnen. Zwei Mönche zerrten Wiebkes Torso vom Sockel und trugen ihn in eine Ecke der Halle. »Wo ist Angela?« fragte Susanne leise. »Hätte sie nicht vor mir an der Reihe sein sollen? So hattest du es doch geplant. Ich sollte erst am Schluß drankommen. Aber ich sehe ihren Körper nicht!« »Man wird ihn morgen aus dem Main fischen.« Susannes Peiniger hob eine Fackel und beleuchtete eine schmale Bank, auf der die Köpfe seiner Opfer aufgereiht waren. Susanne erkannte Ilonas starres Gesicht, die angstverzerrten Züge von Hanna, die ahnungslosen Gesichtszüge von Wiebke. Und Angela. Doch in ihrem Gesicht war keine Reaktion zu erkennen. Es schien kühl. Teilnahmslos. Augen und Mund waren geschlossen, als hätte sie sich ohne jegliche Gefühlsregung in ihr Schicksal ergeben. »Dein schönes Haupt bekommt einen Ehrenplatz!« hallte die Stimme des Schrecklichen. Er kicherte. »Damit dir nicht entgeht, was deinen Mann und den Träger des Rings erwartet. Und jetzt 85
empfange den Kuß der Jungfrau!« Susanne drehte sich um. Dabei bemerkte sie, wie der Fackelschein das Gesicht des Maskierten traf. Sie traute ihren Augen nicht. Deutlich sah sie das blutbesudelte, pockennarbige Gesicht des Dämonenpriesters, der vor neun Jahren von einer herabfallenden Glasscherbe geköpft worden war! »Aber du bist doch - tot…« stammelte sie. »Noch nicht ganz, wie du siehst! Du hättest dich vergewissern sollen, meine Liebe! Los, die Jungfrau wartet!« Susanne ließ die Schultern sinken. Alle Hoffnungen waren zerstört. Sie war verloren. Pit stemmte sich verzweifelt gegen den Griff der Skelettmönche. Schrie, keuchte, bot seine gesamte Kraft auf, aber es nützte ihm nichts. Hilflos mußte er zusehen, wie Susanne vor die Jungfrau trat, sie küßte und sich umdrehte. Ein rasender Schmerz jagte durch seine Brust, als er die beiden blitzenden Schwertklingen heransausen sah. »Neeeiiinnnn!« Pits gellender Schrei erfüllte das Gewölbe, als die Schwerter Susannes Kopf vom Rumpf trennten… * Das Monstrum näherte sich langsam. Es schob seinen massigen Leib durch den Gang auf mich zu und erzeugte dabei schlurfende Geräusche. Von Susannes Schilderung der Vorgänge in jener Nacht vor neun Jahren wußte ich, wie der Herr der Fliegen auf dem Wandbehang dargestellt worden war. Auch mir war dieses Bild schon einmal während meines Völkerkundestudiums begegnet. Aber das Höllenvieh, das sich hier auf mich zuschob, hatte nur entfernt Ähnlichkeit mit dem Fliegendämon. Die Entenbeine waren durch muskulöse, schuppige und mit scharfen Krallen bewehrte Treter ersetzt worden. Der dicke, mit blutigen Schwielen durchsetzte Schuppenleib sonderte ein übelriechendes, giftgrünes Sekret ab. Der gesamte Leib des Monstrums schien sich in Bewegung zu befinden. Ich konnte die mächtigen Insektenarme erkennen. Die Arme einer Fliege! 86
Die verkümmerten Fledermausschwingen, die aus den Schulterblättern ragten, bemühten sich vergeblich, sich auseinanderzufalten. Und dann traf mein Blick den furchtbaren Schädel! Nur mit viel Phantasie konnte man ihn als menschlichen Kopf bezeichnen. Daß er das einmal gewesen war, stand ohne jeden Zweifel fest. Doch das Gesicht hatte die Facettenaugen einer Fliege und das gewaltige, reißzahnbewehrte Maul einer Bestie. Am groteskesten aber waren die abstehenden Segelfliegerohren. Agrippa, der Anführer von Ekrons Kindern der Fliegendämon, waren eine höllische Symbiose eingegangen. Dies war wohl die Strafe des mächtigen Dämons dafür, daß Agrippa versagt hatte. Ich war sicher, daß ich hier nur das bedauernswerte Opfer von Beelzebubs Zorn vor mir hatte, nicht aber den Dämon selbst. Der Herr der Fliegen würde in den Dimensionen des Schreckens hocken und auf seine Gelegenheit warten, gegen mich anzutreten. Das Mistvieh stieß ein aggressives Fauchen aus und wischte mit den Insektenarmen durch die Luft. Diese Extremitäten waren höllisch scharf und konnten mich mit einem Hieb in Stücke hauen. »Du stinkst aus dem Maul, Kleiner. Tu mal was gegen deinen Mundgeruch! Und häßlich bist du auch!« beschwerte ich mich, wich den Hieben aus und rammte dem Monstrum beide Absätze ins Fliegengesicht. Das Untier brüllte und saugte röchelnd die Luft ein. Dabei bekam es meine Hacken zu fassen und hielt sie fest. Das Biest schüttelte den Kopf wie ein Hund, der seinen Lieblingspantoffel zerfetzt. Jeden Augenblick würden meine Stiefel in dem gewaltigen Rachen des Mistviehs verschwinden. Und meine Füße mit ihnen. »So nicht, Freundchen! Die Galoschen haben mich ein kleines Vermögen gekostet!« Ich nutzte den Schwung seines Kopfes aus, warf mich zur Seite, zückte den Dolch und zog die Silberklinge quer über den Leib der Kreatur. Und schrie im selben Moment auf. Meine Hand mit dem Dolch versank bis zum Gelenk in einem Gewirr aus Fliegen! Der Leib der Bestie war mit einem dicken Mantel aus Insekten bedeckt, die sich jetzt lösten und sich auf mich stürzten. In 87
Sekundenschnelle wuselten sie über mich hinweg. Das Summen hallte in meinen Ohren. Ich spürte die Krabbelviecher überall auf meinem Gesicht, unter meinem Hemd. Sie bedeckten meine Nase, meine Augen, wollten mich blenden und ersticken. Ich stieß den Dolch tief in den Schuppenleib des Monstrums. Die Kreatur brüllte schrill. Meine Stiefel kamen aus dem Sauggriff los. Ich stieß mich ab, landete hart auf dem Boden und verwandelte den Sturz in eine Rolle. Sofort begann ich, die Fliegen von meinem Gesicht zu schaben, aber sie hielten eisern fest. Ich spürte die schmerzhaften Bisse. Die Biester wollten mich wohl bei lebendigem Leib zerfleischen! Es gelang mir, einen Moment lang freie Sicht zu bekommen. Ich sah, wie der Leib des Monstrums aufplatzte. Schwarzes Dämonenblut, versetzt mit dem giftgrünen Sabber, quoll aus der Wunde. Das Quieken des Ekelpakets wurde immer schriller und ließ meine Trommelfelle vibrieren. Die Insektenarme schossen vor. Nur mit Mühe konnte ich den sensenartigen Klauen ausweichen. Einmal gelang es dem Höllenvieh, mich zu erwischen. Mit einem lauten Ratschen zerfetzte es mein Hemd und ritzte die Haut quer über meiner Brust. Nun aber hatte ich genug. Ich warf mich flach auf den Boden, vergrub mein Gesicht im Dreck, half mit den Händen nach. Meine Rechnung ging auf. Die Fliegen lösten sich von meinem Gesicht. Mein Ring sandte längst den hellen Lichtstrahl aus. Ich spürte einige blutende Wunden in meinem Gesicht und schmeckte den Dreck, der in meinen Mund geraten war. Immer noch umschwirrte mich der Fliegenschwarm und sammelte sich zu einem neuen Generalangriff. Mit dem Lichtstrahl meines Rings malte ich weißmagische Zeichen auf meine Stirn und Runen für die keltischen Worte für Fliege und Schutz quer über mein Gesicht. Die Wirkung war frappierend. Kaum jagten die Fliegen heran, empfing ich sie gebührend mit der Kraft der Weißen Magie und der Fackel, die ich vor der Eichentür aus dem Wandhalter genommen hatte. Die Insekten verbrannten in der Flamme oder prallten an meinem Gesicht ab, um ebenfalls zu verglühen. »Und jetzt zu uns beiden, Freund Agrippa«, rief ich und wandte mich dem Monstrum zu. »Der Herr der Fliegen hat dich ja ganz schön beschissen!« 88
Meine Worte schienen die Wut des Monstrums noch mehr anzustacheln. Ich stieß die Fackel in seine Facettenaugen und brachte ihm einige schmerzhafte Stiche mit dem Dolch bei, kam aber nicht zum Todesstoß, da er mit seinen Insektenarmen vor mir herumfuchtelte. Ich hatte keine Lust, mich von ihnen in Scheiben schneiden zu lassen. Ich hatte die Wut des Höllenbiestes unterschätzt. Es warf den Kopf zurück. Ich sah die dicke Peitschenschnur aus dem Maul schießen. Es war die Zunge des Monstrums, und sie legte sich um meinen Hals! Wie eine Würgeschlange zog sich das klebrige Band zu. Schnitt tief in meine Haut. Es mußte mit einem ätzenden Schleim behaftet gewesen sein, denn die Berührung brannte höllisch auf meiner Haut. Ich packte den Zungenstrang, wollte ihn lockern, aber es gelang mir nicht. Immer fester zog sich die tödliche Schlinge um meinen Hals zusammen. Ich lief allmählich blau an. Das Monstrum zog die Zunge ein und mich auf sich zu. Es hob die Insektenarme zum vernichtenden Hieb. Schluß mit coolem Geschwätz. In meiner Panik hob ich den Silberdolch, hackte auf den Zungenstrang ein. Aber er bestand aus einem besonderen Material, dem sogar Silber nichts anhaben konnte! Ich stemmte meine Absätze in den Boden, versuchte den Zug der Bestie zu bremsen. Vergeblich! Ich hieb mit der Fackel auf die Bestie ein und rammte sie ihr in den Rachen. Aber damit erreichte ich nur, daß die Höllenbestie ihre Anstrengungen verdoppelte. Der Druck in meinem Kopf und auf meinen Ohren wurde unerträglich. Der Ohnmacht nahe, griff ich zum letzten Mittel, das mir blieb. Ich widersetzte mich nicht mehr der Kraft der Bestie, sondern nutzte sie aus. Erschlaffte, ließ meinen Körper zusammensacken und zog dabei zwei Weihwasserphiolen aus der Tasche. Mein Plan gelang. Das Monstrum hatte zuviel Kraft in seine Zungenmuskulatur gelegt. Kaum gab ich meinen Widerstand auf, raste ich auch schon direkt auf das weit geöffnete Maul meines Gegners zu. Ich schob beide Arme in den Rachen des Unholds und zerdrückte die Phiolen zwischen meinen Fingern. Das Weihwasser 89
ergoß sich tief in den Schlund der Höllenkreatur. Das Mistvieh aus Mephistos Dämonenküche starrte mich verdutzt an. Es schien nicht so recht zu begreifen, daß es etwas geschluckt hatte, womit es sich gehörig den Magen verderben konnte. Hastig stützte mich auf dem schuppigen Schädel ab und sprang mit einem Salto über die Bestie hinweg, um hinter ihr zu landen. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie dicker Qualm aus dem Maul und den Ohren des Biests drang. Die Zunge wurde schlaff. Ich drehte mich um die eigene Achse, um mich aus dem Würgegriff zu winden. Eilig nahm ich meine Pistole an mich, die ich matt schimmernd auf dem Boden liegen sah. Ich lief um die Bestie herum und richtete die Waffe auf ihre Augen. Das rote Glimmen war erloschen. Die gesamte Kreatur war in stinkenden Qualm eingehüllt. Kraftlos sanken die Insektenarme an den Seiten des dicken Schuppenleibes nieder. »Hast du noch was zu sagen, Meister?« fragte ich vorsichtig. Er hatte. Lange starrte er mich an, dann wurde sein Körper von einem ungemein widerlichen Rülpser geschüttelt. Kaum hatte er sein Bäuerchen gemacht, als das Weihwasser seine volle Wirkung entfaltete und den Unhold in einer gewaltigen Detonation zerriß. Da stand ich nun, über und über mit klebrigem Dämonenblut bedeckt. So ein Mist aber auch! Ich hob den Dolch auf, wirbelte herum und hastete in die Richtung, aus der ich kurz zuvor Pits Schrei vernommen hatte. Ich erreichte die riesige Gewölbehalle. Zwei Knochenmönche stellten sich mir in den Weg, doch ohne anzuhalten, jagte ich jedem der Skelette eine Silberkugel in die grinsenden Gesichter und sprang zwischen ihnen hindurch. Keuchend blieb ich stehen. Ich sah die übrigen Geistermönche eine drohende Haltung einnehmen. Sah den Maskenmörder und dessen blutüberströmtes Gesicht. Aus Susannes Schilderung der damaligen Ereignisse konnte ich mir lebhaft vorstellen, wen ich hier vor mir hatte. Ich sah Pit, der in einer Ecke der Halle kauerte und von Schluchzen geschüttelt wurde. Aber wo war Susanne? Ich mußte nicht lange suchen. Der Anblick des kopflosen Torsos, der vor der Eisernen Jungfrau kniete und sich gegen die 90
starre Frauengestalt lehnte, war Erklärung genug. Nicht weit vom Sockel aber entdeckte ich eine altertümliche, eisenbeschlagene Truhe. Und auf ihrem Deckel ruhte - Susannes Kopf! (Titelbild!) Das blonde Haar fiel zu beiden Seiten des Kopfes herunter und kam auf dem Truhendeckel zu liegen. Ein eigentümlich friedlicher Ausdruck lag auf Susannes hübschem Gesicht. Die blauen Augen starrten mir blicklos entgegen. Im Hintergrund standen zwei Skelettmönche mit flackernden Fackeln und beleuchteten die Szene. »Ihr verdammten Schweine!« zischte ich! »Dafür fahrt ihr allesamt in die Hölle! Und zwar sofort!« Ich hob die Pistole und jagte in ohnmächtiger Wut einige Kugeln in die umstehenden Knochenmönche. Ich spürte, wie sich heiße Tränen einen Weg durch den Dämonenschleim bahnten und über meine Wangen kullerten. Mit Susanne verband mich eine ebenso innige Freundschaft wie mit Pit. Ihr Verlust bereitete mir unglaubliche Schmerzen. »Willkommen, Träger des Rings!« begrüßte mich eine mir wohlbekannte Stimme. »Lange habe ich diesen Tag herbeigesehnt, an dem wir uns wieder gegenüberstehen.« Belial! Mein Kopf ruckte herum. Und richtig, der mächtige Warzendämon schälte sich aus der Dunkelheit. Sein mit Eiterpusteln und offenen Geschwülsten bedeckter Leib war von einem schwarzen Umhang verhüllt. Den rechten Arm hatte er mir entgegengestreckt. Der linke war wieder nachgewachsen. Bald würde kein Unterschied mehr zu sehen sein. »Was willst du, Pickelgesicht?« fragte ich verächtlich. »Du hast schon ein paarmal versucht, mich abzuservieren und dir bei Mephisto goldene Lorbeeren zu verdienen. Und jedesmal hast du versagt. Glaubst du, mit deinen Schleimbeuteln und ein paar lebenden Skeletten bist du besser dran?« Belial schüttelte den kantigen Schädel. »Sicher nicht. Aber wer sagt dir, daß ich dich von meinen Leibwächtern oder den Mönchen töten lassen will? Ich hatte eigentlich nur vor, dich herzulocken und dich in meine Gewalt zu. bringen. Wenn ein paar meiner Untertanen über die Stränge geschlagen haben, ist das bedauerlich. Aber du hast es gut überstanden, wie ich sehe. Und mein Plan hat funktioniert. Du bist hier.« 91
»Richtig. Ich bin gekommen, um Susanne Langenbach zu retten. Oder Rache an ihren Mördern zu nehmen«, fügte ich mit einem raschen Seitenblick auf Susannes Kopf hinzu. »Du irrst dich, Mark Hellmann! Du wirst sterben! Und nicht durch die Hand meiner Schergen! Susanne selbst wird mein Instrument sein, und du wirst nichts dagegen unternehmen können!« Ich war verwirrt. Wovon faselte dieser Pickelkopf eigentlich? Susanne war doch - tot! Oder etwa nicht? Belial schritt vor, deutete auf Susannes Körper. Zwei Mönche holten ihn vom Sockel und legten ihn vor der Truhe nieder. Der Dämon ließ sich auf ein Knie nieder, breitete die eiterspritzende Rechte über Susannes Torso aus und konzentrierte sich. Und das Unfaßbare geschah! Ein heller, bläulicher Schemen löste sich von dem kopflosen Körper, stieg auf. Ich sah die langen, blonden Haare flattern. Er kannte das schöne Gesicht und die Rundungen ihres schlanken Körpers. Susannes Astralleib hatte den Körper verlassen! »Das ist sie!« rief Pit, der Belials Beschwörung mitbekommen hatte. »Das ist Susanne!« Der Dämon erhob sich. »Ihr Astralleib ist das einzige, was von ihr geblieben ist, Hellmann! In ihm ruht ihre Seele! Und sie gehört mir! Sie steht unter meiner Macht und wird dich töten, wenn ich es ihr befehle. Sie wird sogar ihren Mann und ihr Kind töten! Mephisto wird diesen Tag zu einem Feiertag erklären!« Er deutete auf mich und wandte Susannes Schemen den Kopf zu. »Töte ihn!« brüllte er. Der Astralleib waberte kurz über dem kopflosen Torso und sauste dann auf mich zu, die Finger zu Krallen gekrümmt. Ich stand nur da und erwartete ihre Berührung. Ich hätte schießen oder sie mit dem Dolch abwehren können, aber ich tat es nicht. Ich konnte es nicht. Das bläuliche Leuchten des Astralleibs blendete mich für wenige Augenblicke. Und doch sah ich deutlich ihr Gesicht vor mir. Und das liebliche Lächeln, das um ihre Mundwinkel lag. Dann war sie an mir vorbei, sauste vor mir hoch, machte eine Drehung und fegte auf den Pickeldämon zu. 92
Belial schrie seine Enttäuschung und seine Wut hinaus. »Muß ich denn alles selbst machen?« brüllte er. »Nun gut, so soll es sein. Dein Ende ist so oder so gekommen, Mark Hellmann!« Er wartete, bis Susannes Astralleib ihn fast erreicht hatte, machte dann schwingende Bewegungen mit dem rechten Arm. Aus seinen Fingerspitzen löste sich ein leuchtendes Netz, wickelte sich um den Astralleib. Susanne kämpfte verzweifelt dagegen an, konnte sich aus der schwarzmagischen Verschnürung jedoch nicht befreien. Belial sprang hoch, umfaßte die bläuliche Erscheinung, spuckte auf den Boden, und ein pechschwarzer Schacht öffnete sich vor ihm. Ich erkannte seine Absicht und wußte, daß ich alles versuchen mußte, um Susanne zu retten. Noch bestand eine winzige Chance. Ich legte meine ganze Kraft in die Beinmuskeln, jagte mit weiten Sätzen nach vorn. Sah Belial mit Susannes Schemen in den Dimensionsschacht eintauchen. Ich sprang hinterher. Meine Arme schlossen sich um Belials wulstigen Leib, dann schloß sich das Tor über uns, und wir wirbelten durch die Ewige Finsternis. * Ich hatte keine Ahnung, wo wir gelandet waren. Auf jeden Fall war es eine trostlose Landschaft, eine Mischung aus Einöde, Gebirge und Sumpf. Ein rotes Gleißen lag über dem Land, die Hitze machte mir zu schaffen, und die schwefelhaltige Luft nahm mir beinahe den Atem. Sah so die Hölle aus? Ich würde es nicht erfahren, denn es blieb mir keine Zeit, Belial zu fragen. Der Dämon war wenige Schritte von mir entfernt gelandet und hielt immer noch Susannes Astralleib umfangen. Er schrie einen Befehl, und der Sandboden wurde plötzlich lebendig. Seine schleimigen Schergen hatten sich darunter verborgen und erhoben sich nun, um mir den Garaus zu machen. Anders als bei meinen bisherigen Zeitreisen hatte ich diesmal meine Kleidung und die Waffen in die neue Dimension mitgenommen. Meine Silberkugeln und der armenische Dolch wüteten verheerend unter den Schleimbeuteln. Ich preßte die 93
Zähne zusammen und kämpfte mich durch die Reihen der Angreifer, um zu Belial zu gelangen. Der Dämon sah mich heranstürmen und stieß Susannes Astralleib zur Seite. Er verwandelte seine Gestalt in ein riesiges blubberndes Schleimgebilde, das mich um etliche Meter überragte. Ich leerte ein ganzes Magazin Silberkugeln in die Schleimwand, obwohl ich wußte, daß es Belial nicht vernichten konnte. Drohend walzte die Schleimwand auf mich zu. Belial war hier in seinem Element. Auf seinem Territorium. Und er war mir haushoch überlegen. Für mich war es undenkbar, einen längeren Kampf mit dem Dämon und seinen Untertanen bestehen zu können. Wer konnte sagen, welche Kreaturen Belial noch mobilisierte und welche Tricks er noch in der Hinterhand hatte, um mich zu besiegen? Also mußte ich die Flucht antreten. Aber nicht allein. Ich wich vor Belials Schleimgebilde zurück, wurde aber von mehreren Schergen gepackt. Ein triumphierendes Hohngelächter drang mir aus der blubbernden Wand entgegen. Ich holte tief Luft, spannte die Muskeln und warf mich nach vorn. Die Schergen, die sich an mich gehängt hatten, wurden von meiner Aktion überrascht und flogen gegen das Schleimgebilde, das sie gierig aufsaugte. Hier und da reckte sich ein schleimiger Arm aus dem Gebilde, wurde aber sofort wieder eingezogen. Schaurig klangen die Schreie der dämonischen Untertanen, die nun für alle Zeiten vernichtet waren. Wenn sich die Schleimwoge über mich stülpte, hatte Belial sein Ziel erreicht. Und Susanne war rettungslos verloren. Ich griff zu einem Mittel, das ich vor einigen Stunden schon einmal eingesetzt hatte. Mit dem Lichtstrahl meines Siegelrings, der in dieser Atmosphäre die Helligkeit eines Laserstrahls erreichte, malte ich die Futhark-Runen für das Wort Feuer in den Sand. Ich zog dabei die Runen sehr weit auseinander. In dem Augenblick, als die Schleimwoge über mich kommen wollte, prasselten die Flammen auf. Eine riesige Feuerwand fuhr vor mir in die Höhe. Ich hörte Belials Schrei, als die Flammen auf den Schleim trafen und ihn zischend verdampfen ließen. »Jetzt wird's dir ganz schön heiß unterm Hintern, was, Pickelkopf?« rief ich, rannte um die Flammenwand herum und hetzte zu Susanne, die sich immer 94
noch unter dem magischen Netz wand. Belials Schleimgestalt sank zusammen. Der Dämon schrumpfte und nahm seine ursprüngliche Gestalt wieder an, doch das Feuer hatte seine Spuren hinterlassen. Faustgroße Brandlöcher hatten sich in Belials Warzenleib gefressen. Qualm stieg von den verkohlten Wundrändern auf. Ich hielt Susanne in den Armen. Sie hatte kein Gewicht, deshalb konnte ich mich leichtfüßig über den Sand bewegen. Schweißgebadet erreichte ich ein Flußufer. Das Wasser war blutrot. Dampfschwaden waberten über der Oberfläche. Belial und seine Schergen kamen näher. Der Dämon drehte sich wie ein Kreisel um die eigene Achsel. Seine Konturen verschwammen. Er schraubte sich in den Sand, bohrte sich tief hinein und raste unter der Erde weiter. Der Sand wölbte sich, als er sich durch das Erdreich rammte. Ich wußte, was Belial vorhatte. Er würde Susanne und mich zwingen, vom Ufer in den Fluß zu springen. Und dort würden tödliche Schrecken auf uns warten. Ich setzte alles auf eine Karte. Waren wir durch ein Dimensionstor hergelangt, konnte uns auf demselben oder einem ähnlichen Weg auch die Flucht gelingen. Mit Riesensätzen ging ich Belials Sandbohrer aus dem Weg, hielt Susanne an mich gepreßt und schrieb die Runen für das Wort Reise in den Sand. Dabei konzentrierte ich mich auf die Gewölbehalle, in der ich meine Dimensionsreise angetreten hatte. Belial erreichte die Stelle, an der ich gerade noch gestanden hatte. Aber da war ich längst nicht mehr, denn im letzten Augenblick war ich zusammen mit Susanne hinter ihn gesprungen. Ich sah noch, wie der Dämon über das Flußufer hinausschoß und in die roten Fluten stürzte. Sogleich tauchte sein Eiterkörper wieder auf. Belial schrie markerschütternd. Das säureartige Flußwasser mußte ihm irrsinnige Schmerzen bereiten. Die Pickel in seinem Gesicht platzten dutzendweise. Der Eiter lief in dicken Schlieren über seine Wangen. »Das ist noch nicht das Ende, Hellmann! Meine Rache wird grausam sein! Ich werde dich…« Mehr bekam ich nicht mit, denn die mir bekannten Sphärenklänge übertönten sein Gebrüll. Der stilisierte Drache auf 95
meinem Siegelring wurde riesengroß; er schien mich verschlingen zu wollen. Ein bodenloser Schacht öffnete sich zu meinen Füßen. Zusammen mit Susannes Astralleib stürzte ich mich kopfüber hinein. * Ich prallte auf dem Steinboden auf und schüttelte benommen den Kopf. Die Erde hatte mich wieder. Wo immer ich auch gewesen war, ich wünschte mir, nie mehr dorthin zurückkehren zu müssen. Doch eine neue Gefahr wartete auf mich. Die Skelettmönche waren nach wie vor angriffslustig und stürzten sich auf mich. Die Reise hatte mich zwar geschlaucht, aber ich ignorierte die Schwäche. Gerade jetzt benötigte ich meine ganzen Kraftreserven. Mit einem wilden Schrei warf ich mich hoch, sprengte den Griff der Knochenhände, stieß die Skelette zur Seite und riß einem Mönch die Fackel aus der Hand. Und damit war der Kampf schon fast entschieden. Unwillig wichen die Mönche zurück. Ich fuchtelte mit der Fackel vor ihren Totenfratzen herum, hieb ihnen in die Gesichter und hielt die Flammen schließlich gegen ihre Kutten. Das Sackleinen brannte wie Zunder. Die Mönche taumelten als lebende Fackeln durch das Gewölbe. Kampfwille glomm in Pits Augen. Ich warf ihm die Fackel zu. »Hier, Alter, spiel du den Heizer! Ich muß mich um Susanne kümmern!« Zufrieden sah ich, wie Pit mit der Fackel unter den Knochenmönchen aufräumte. Ich wandte mich zu Susannes Astralleib. Mit dem Dolch zerteilte ich vorsichtig das magische Netz. Die Maschen verglühten bei der geringsten Berührung. Vorsichtig half ich Susanne aus dem Netz und deutete auf ihren Torso. Sie nickte. Ich hastete zu der Truhe und hob behutsam den Kopf herunter. Kaum war Susannes Astralleib in den toten Körper zurückgekehrt, als ich auch schon den Kopf auf den blutigen Halsstumpf drückte. Seit Susannes Tod war eine knappe halbe Stunde vergangen. Mit etwas Glück würde mein Vorhaben 96
gelingen. Ich richtete den Lichtstrahl meines Rings auf Susannes Hals und fuhr an der Schnittline entlang. Den Strahl ließ ich zu ihrer linken Brust gleiten und malte die Runen für das Wort Leben über die Stelle, unter der ihr Herz lag. Auch auf ihre Stirn zeichnete ich das Wort Leben, während ich quer über ihren Hals die Runen für Heilung schrieb. Jetzt konnte ich nur noch hoffen und beten. »Das darf nicht sein! Ich will es nicht! Du darfst sie nicht retten!« schrie eine heisere Stimme. Ich richtete mich auf und sah den Killer mit den abstehenden Ohren, der zwei Fackeln schwang und auf mich und Susanne losstürzte. Mir war klar, daß er Susannes Rettung verhindern wollte. Es ging blitzschnell. Ich sprang hoch in die Luft und rammte dem heranstürmenden Gegner beide Beine vor die Brust. Er wurde nach hinten geschleudert, prallte auf die Stufen des Steinsockels und verlor die Fackeln. Ich war mit wenigen Schritten bei ihm, erwischte jedoch nur einen Fetzen der Kutte. Die schmale Gestalt hetzte auf die Eiserne Jungfrau zu. Jeden Augenblick würden die beiden Schwerter heransausen und den Kuttenmörderköpfen! Doch weit gefehlt. Er kannte den geheimen Mechanismus, der die Schwerter aufhielt. Er ging zwar vor der Jungfrau in die Knie, duckte sich jedoch und legte am unteren Rand der Figur einen verborgenen Hebel um. Klirrend hieben die beiden Schwertklingen gegeneinander und verharrten in dieser Stellung. »Das war's dann wohl«, sagte ich aufatmend. »Schluß mit der Maskerade.« Es war noch nicht vorbei. Die schmale Gestalt fuhr in die Höhe, riß der Jungfrau die Schwerter aus den Händen und hieb auf mich ein. Ich wich den blitzenden Klingen nur mit knapper Not aus. Mein Gegner war unnachgiebig, ließ mir nicht den geringsten Vorteil. Bald hatte er mir einige Wunden an der Hüfte und den Armen beigebracht. Ich mußte diesem Spiel rasch ein Ende setzen. Lange konnte ich nicht mehr durchhalten. Die Schwertstreiche wurden immer heftiger geführt. Ich wich zurück, wurde gegen die Jungfrau gedrängt und erhielt einen Tritt, der mich zur Seite schleuderte. Ein Schwerthieb traf dicht 97
neben meinem Gesicht die Jungfrau. Ich wandte mich ab, und der Zufall wollte es, daß auch ich die Jungfrau küßte. Verwirrt spürte ich ihren kalten, eisernen Mund unter meinen Lippen. Ob mein Kuß daran Schuld war oder ein Schwerthieb meines Gegners, war mir nicht ganz klar. Die Reaktion der Jungfrau konnte sich jedenfalls sehen lassen. Knarrend teilte sie sich in zwei Hälften und empfing mich sozusagen mit offenen Armen. Aber die einzige Umarmung, nach der ich mich im Augenblick sehnte, war die meiner Freundin Tessa. Also suchte ich schleunigst das Weite, brachte mich mit einer Hechtrolle aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich, kam hoch und pflanzte dem heraneilenden, schwertschwingenden Kuttenträger meinen gestreckten Fuß in den Leib. »Umpff!« entfuhr es der Schreckensgestalt, als die Luft aus ihren Lungen wich. Die beiden Schwertklingen pfiffen über mich hinweg. Ich hatte soviel Wucht in den Tritt gelegt, daß die schmale Gestalt weit zurückgeworfen wurde. Direkt in die Arme der Eisernen Jungfrau! Kaum prallte der Körper in die dornengespickte Öffnung, als sich die beiden Hälften auch schon schlossen. Der markerschütternde Schrei brach unvermittelt ab. Es war vorbei. Erschöpft sprang ich vom Sockel herunter und kniete neben Susanne nieder. Sanft strich ich über ihr Gesicht, ihren Hals und die Brust. Die Leuchtschrift war verblaßt. Pit hatte die restlichen Knochenmönche erledigt. Die Klosterherren von Bildhausen gab es nicht mehr. Er kniete auf der anderen Seite neben Susanne. Seine Tränen tropften auf ihr Gesicht. Immer wieder strich er über ihr Haar, ihre Stirn. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie sich bewegte. Sie schloß die Augen, öffnete sie wieder. Ein Ruck ging durch ihren Körper. Die Brust hob sich langsam. Pit brach über ihr zusammen, nahm sie in die Arme und konnte sein Glück kaum fassen. Ich wandte mich ab und ließ die beiden allein. »Kannst du etwas für die anderen tun?« fragte Susanne leise. Sie saß vor dem Steinsockel. Pit hielt sie in seinen Armen und würde sie wohl so schnell nicht loslassen. 98
»Bei Ilona und Hanna ist schon zuviel Zeit vergangen«, meinte ich. »Wann ist Wiebke gestorben?« »Kurz vor mir.« Ich nickte. »Einen Versuch ist es wert.« Ich legte Wiebkes Körper zurecht, preßte ihren Kopf gegen den Halsstumpf und verfuhr in der selben Weise wie bei Susanne. »Was ist mit Angela?« wollte Susanne wissen. Ich stand auf, ging zu der Bank, auf der die Köpfe lagen, und versetzte Angela Bienerts Kopf einen heftigen Tritt, der ihn gegen die Wand beförderte. »Bist du verrückt geworden?« herrschte mich Pit an. »Wieso tust du das? Sie mußte kurz vor Wiebke dran glauben. Wir hätten eine Chance gehabt!« »Nicht bei diesem Kopf«, widersprach ich und hob das Gebilde aus Pappmache, Wachs und Schminke hoch. »Ich - verstehe nicht…« murmelte Pit. Wortlos ging ich zur Eisernen Jungfrau, die so viele Menschen kaltlächelnd das Leben gekostet hatte, öffnete die beiden Hälften. Von den Stahldornen durchbohrt, hing der leblose Körper des Kuttenmörders vor mir. Das magische Leuchten war erloschen. Der blutüberströmte Kopf des Dämonenpriesters war verschwunden. Angela Bienert starrte mich aus leblosen Augen an. Ein Stahldorn ragte aus ihrer Stirn, ein weiterer hatte sich durch ihren zum Schrei geöffneten Mund gebohrt, und ein dritter war durch ihr Genick in die Kehle gefahren. »Aber - wieso?« flüsterte Susanne. »Rache. Ihr hattet alles, was sie nie besaß. Freunde. Beziehungen. Ein Kind. Eine Familie. Glück. Am schlimmsten aber war, daß ihr Angela den Meister nahmt. Sie kam nie über seinen Tod hinweg. Angela glitt in den Wahnsinn ab und war damit ein leichtes Opfer für Belial, der ihren Wunsch nach Rache schürte und sie zu seinem Werkzeug machte.« »Und warum hat sie so lange gewartet?« Ich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Wir können nur spekulieren…« * Auch bei Wiebke Tillmann war die Heilung durch die Magie meines Rings erfolgreich. Ziemlich lädiert und erschöpft, aber glücklich, traten wir den Heimweg an. Das Großreinemachen 99
überließen wir den Kollegen von der Schweinfurter Kripo. Wie sich herausstellte, hatte ich mit meinen Vermutungen fast ins Schwarze getroffen. Angela Bienert hatte in einem Tagebuch festgehalten, daß Belial mit ihr in Verbindung getreten war, nachdem sie die Hölle um Hilfe angerufen hatte. In der Presse hatte sie einige Berichte über dämonische Aktivitäten gelesen. Von Verwandten in Schweinfurt hörte sie vom Jungfernkuß. Wir ließen Pit und Susanne allein in ihrer Wohnung zurück. Floh würde die Nacht bei meinen Eltern verbringen. Meine Freunde sollten Susannes zweite Geburt auf ihre Art feiern können. »Und was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend?« fragte Tessa. »Abend ist gut. Es ist mitten in der Nacht, Frau Kommissarin. Und ich bin ziemlich geschlaucht. Als erstes brauche ich eine heiße Dusche.« »Was hat dich eigentlich so mitgenommen? Du hast mir noch gar nicht erzählt, was in Schweinfurt alles passiert ist.« »Och, nichts Besonderes. Am anstrengendsten war der Jungfernkuß.« »Bitte, was?« Ich lehnte mich zurück, während Tessa den Wagen zu meiner Wohnung im Weimarer Westen lenkte. »Ich habe eine Jungfrau geküßt.« »Man kann dich aber auch wirklich nicht eine Minute aus den Augen lassen, Mark!« wetterte Tessa. »Du hast die Stirn, mir zu sagen, daß du mit einer anderen herumgeknutscht hast und deshalb so abgespannt bist!« »Mhm. Weißt du, das war im Mittelalter so: Die Jungfrauen waren vor den Burschen nun mal nicht sicher. Oder war es umgekehrt?« »Im Mittelalter vielleicht. Aber wir stehen an der Schwelle zum neuen Jahrtausend, mein Lieber! Da werden keine Jungfrauen mehr geknutscht, wenn einem danach ist.« »Stimmt. Weil es keine mehr gibt.« Ich seufzte. »Das waren eben noch Zeiten. Damals.« Tessa preßte die Lippen zusammen. »Wenn du anderen Weibern an die Wäsche gehen kannst, während ich mir in Weimar die Füße wundlaufe, kannst du heute nacht auch noch deinen Mann stehen. Erschöpfung hin oder her!« fauchte sie, aber mit einem Lächeln. Und ihre Stimme wurde leiser, einschmeichelnder 100
und zärtlicher. »Was soll das denn heißen? Ich bin ihr doch gar nicht an die Wäsche…« »Interessiert mich nicht.« Sie bremste. »Ab unter die Dusche. Du muffelst. Und beeil dich. Ich will da was ausprobieren. Das ist angeblich der Hit, behauptet jedenfalls eine Kollegin.« »Schatz, bitte nicht heute nacht!« flehte ich. Aber sie hatte ihre Ohren auf Durchzug gestellt. Als ich aus dem Badezimmer kam, erfüllte leise Musik das Schlafzimmer. Tessa hatte die Nachttischlampe eingeschaltet. Im gedämpften Licht saß sie splitternackt auf dem Futon-Bett, die Beine zum Schneidersitz gekreuzt. Sie hatte die Hände wie zum Gebet gefaltet und die Augen geschlossen. »Meditierst du?« fragte ich vorsichtig. »Oder willst du ihn beschwören? Damit's keinen Durchhänger gibt.« »Schhh! Ich konzentriere mich!« »Auf was?« Sie antwortete nicht, sondern streckte eine Hand aus und deutete auf meine Körpermitte. Prompt löste sich der Knoten des Badetuchs. Im Adamskostüm stand ich vor meiner Eva. »Wie hast du denn das gemacht?« fragte ich verdutzt. Sie richtete sich auf, strich mit beiden Händen sanft über ihre nackten Rundungen. Ich folgte ihren Fingern mit den Augen. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, als ich zu ihren Brüsten und weiter nach unten schaute. Nervös fuhr ich mit der Zunge über meine Lippen. Tessa streckte wieder die Hand aus. Freunde, ich weiß nicht, ob es ihr Anblick war oder die Kraft ihres Zeigefingers, die das Blut in meinen Lenden kochen ließ. Auf jeden Fall trat ich wie in Trance zum Bett, als sie mich heranwinkte. Einsatzbereit! Augenblicke später lagen wir uns in den Armen…
ENDE Ich war wie elektrisiert! »Usedom ist in Gefahr! Die Insel wird von einem Wesen bedroht, das seinen Ursprung in Vineta hat. Wenn ich das Scheusal nicht zur Strecke bringe, wird es Tod und Verderben über alles bringen.« »Was ist das für ein Wesen?« hauchte Friedhelm. »Ein Golem«, 101
antwortete ich. »Nie gehört. Was ist ein Golem?« »Ein Golem ist eine Figure aus Lehm, nach dem Ebenbild der Menschen geformt. Über ihr wird eine kabbalistische Schöpfungsformel ausgesprochen. Man schreibt ihr ein bestimmtes Wort auf die Stirn. Dadurch wird sie lebendig, werden riesengroß und dann zu einem blutrünstigen Tyrannen…« In einer Woche schlägt er zu! Holt Euch C. W. Bachs 49. Mark Hellmann-Roman
102