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Kriminalroman
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Was tut man, wenn man jung ist, beinah hübsch und weiblichen G...
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Kriminalroman
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Was tut man, wenn man jung ist, beinah hübsch und weiblichen Geschlechts und von seinen Freunden zur Miliz geschickt wird, um in einem unlösbaren Voll die Mitarbeit der Bevölkerung anzutragen? Und wenn einen dann der verflixt gutaussehende Leutnant von der Untersuchungskommission einfach nicht an den detektivischen Drücker läßt, weil er dem Laienverstand nicht traut und schon gar nicht den Fähigkeiten eines Sherlock Holmes im Rock? Man macht es wie die polnische Medizinstudentin Hanka, die sich auch durch massiv zur Schau getragene Manneswürde nicht abschrecken läßt, einem ganzen Stab von Kriminalisten weiszumachen, daß weibliche Logik und Klugheit die Ermittlungen zum Mordfall in der Buczekstraße erst einmal auf die richtige Fährte zu setzen vermögen. Ein Stückchen Butter, am Tatort aufgefunden und mit geübtem Hausfrauenblick unter die kriminalistische Lupe genommen, leistet dabei unschätzbare Dienste.
Jerzy Edigey
Der Tote mit dem Schlüssel
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Verlag Das Neue Berlin
Titel der Originalausgabe: Zbrodnia w południe Aus dem Polnischen von Caesar Rymarowicz
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage · 1971 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/4/71 · ES 8 C Umschlaggestaltung: Erhard Grüttner Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
ERSTES KAPITEL
Nur am Sonntag Zygmunt kam als erster. Wie immer übrigens. Die Serviererin in der bunten Tracht der einstigen Szczeciner Bürgersfrauen lächelte, als sie ihn sah, und fragte: „Stellen wir einen zweiten Tisch ’ran?“ Der Gast überlegte. „Ich weiß nicht. In letzter Zeit kommen immer weniger. Eines Tages werde ich wohl noch allein hier hocken.“ „Es gießt ja auch von früh bis spät. Nicht einmal einen Hund möchte man bei diesem Wetter auf die Straße jagen.“ „Und Freitag war es noch so schön“, bemerkte Zygmunt. „Überhaupt nicht wie November, eher wie Anfang Mai. Aber am Sonntag gibt’s natürlich Schnee und Regen.“ „Da kommt ja schon Fräulein Krysia.“ Die Serviererin kannte all die Mädchen und jungen Männer recht gut, die stets denselben Tisch einnahmen. Den Tisch in der Saalecke, von dem man eine herrliche Aussicht auf die Oder hatte. Manchmal mußten drei Tische zusammengestellt werden, weil einer nicht reichte. An diesen Gästen verdiente das Lokal nicht eben viel. Die häufigste Bestellung war eine Tasse Kaffee, manchmal auch Kuchen, seltener ein Glas Wein. Und das höchstens bei festlichen Anlässen, zum Beispiel an einem Namenstag. Dafür war das junge Volk stets zu Spaßen aufgelegt. Die Serviererin hatte in dieser Saalecke schon manche Träne gelacht. Aber das gab es eben nur sonntags von elf bis zwei. 7
Nach Krysia erschien Stach. Gleich nach ihm Mietek. Sie wohnten alle in der Nähe des Grunwaldzkiplatzes: Buczekstraße, Jaromirstraße oder Wielkopolskaallee, hatten gemeinsam die Grundschule besucht und waren in derselben Klasse der Oberschule gelandet. Bereits in der Grundschule hatten die Jungen einen Geheimbund gegründet: die „Vitalienbrüder“. Szczecin liegt zwar nicht am Meer, aber es ist ein Seehafen, und Namen aus der Geschichte der Seefahrer klingen hier nicht fremd. Anfangs gehörten diesem Bund nur fünf Jungen an. Ihre Einstellung zu Mädchen zeichnete sich damals durch unverhohlene Geringschätzung aus. Später, als sie zur Oberschule gingen, kam ihnen der Ausdruck „Vitalienbrüder“ zu gesucht vor. Wenn sie von sich sprachen, sagten sie einfach „unsere Gang“. Zu diesem Zeitpunkt wurden auch Mädchen in die „antifeminine“ Organisation aufgenommen. Diese neun – fünf Jungen und vier Mädchen – waren in der ganzen Zeit, in der sie zur „Penne“ gingen, unzertrennlich gewesen. Sie lernten zusammen und machten gemeinsam ihre Streiche. So merkten sie kaum, wie die Zeit verging und ein großer Tag in ihrem Leben heranrückte – die Verteilung der Abiturzeugnisse. Er fiel mit der Wiedereröffnung des nördlichen Schloßflügels und mit der Inbetriebnahme eines Cafés in den einstigen Rittersälen zusammen – des ersten großen Cafés in dieser Stadt. Also zog die Schar mit dem Abitur in der Tasche aufs Schloß, um dort die erlangte „Reife“ bei einer Flasche Wein würdig zu feiern. Einer von ihnen, sicherlich Stach, hatte damals den Vorschlag gemacht, sich Sonntag für Sonntag im Schloßcafé zu treffen. Der Plan wurde begeistert aufgenommen, und, seltsam genug, er wurde auch eingehalten. Schon 8
über drei Jahre waren vergangen, aber das Grüppchen hielt sich die Treue. Sie kamen allein oder in Begleitung. Die Mädchen mit ihren Kavalieren, um sie der „Gang“ vorzustellen. Die jungen Männer, um sich mit der Dame ihres Herzens zu brüsten, die sie erobert zu haben glaubten. Aber wie wir wissen, steht die Sache meist umgekehrt. Zwar läuft eine Falle nicht den Mäusen hinterher, doch sie fängt sie und nicht anders. Weder in der Schule noch jetzt, wo sie „erwachsen“ waren, gab es unter den jungen Leuten tiefere Gefühle als etwa einen Flirt. Vielleicht konnte sich deshalb die Freundschaft so lange halten. Die Galane der Mädchen und die „flotten Bienen“ der jungen Männer wechselten häufig, jedoch die neun vermochten unangefochten alle Stürme zu überdauern. Dabei gab es genug Mißverständnisse, ja selbst größere Spannungen in dieser Schar. So manches Mal kam es an dem Ecktisch zu echten Auseinandersetzungen. Der größte Streit war kaum einen Monat nach dem Abitur entbrannt. Danka hatte an ihrem Fruchtsaft genippt und seelenruhig erklärt: „Nächste Woche heirate ich.“ Wäre unterm Tisch eine Bombe geplatzt, die Wirkung hätte nicht größer sein können. Der Sturm der Entrüstung brach aber erst aus, als sich herausstellte, daß es sich um einen Ingenieur aus Zydowice handelte. Alle bemühten sich, dem Mädchen diese Torheit auszureden. Zygmunt, bekannt für Taktlosigkeiten aller Art, erklärte geradezu: „Für den Titel einer ‚Frau Ingenieur‘ und für dumme fünftausend im Monat verkaufst du dich an einen heuchlerischen Greis. Pfui Teufel!“ 9
Der „heuchlerische Greis“ zählte damals ganze einunddreißig Lenze! Sie ereiferten sich dermaßen, daß sie Danka beinahe von ihrem Vorhaben abgebracht hätten. Aber der Ingenieur gefiel dem jungen Mädchen tatsächlich, ja, er imponierte ihr sogar ein wenig. Außerdem existierten neben Danka vier jüngere Geschwister im Hause eines bescheidenen Postbeamten. In solcher Lage läßt sich schwerlich von einem Studium träumen. Was sollte sie nach dem Abitur auch ohne Fachausbildung machen? Wo sogar von einer Verkäuferin mit einem Gehalt von 900 Złoty Qualifizierungslehrgänge gefordert wurden. Das waren Argumente, die zählten. Danka äußerte sie nicht, aber die anderen kannten sie genau. Trotz dieses Zerwürfnisses hatte Danka mit den Freunden nicht gebrochen. In letzter Zeit brachte sie oft ihr zweijähriges Töchterchen mit. Manchmal kam auch der Herr Ingenieur auf einen Kaffee. In den drei Jahren hatten sich die Ansichten der jungen Leute über Greisentum gewandelt. Selbst Zygmunt hatte sich während eines zweimonatigen Praktikums im Sommer in Zydowice davon überzeugen können, daß Ingenieur Borzęcki ein Mann war, mit dem sich reden ließ. „Ziemlich wenig heute“, bemerkte Ewa, als sie die Sitzenden begrüßte. „Mieses Wetter“, stellte Mietek fest. „Danka kommt bestimmt nicht. Bei dem Regen wird sie keine Lust haben, aus Zydowice herzugondeln“, fügte Krysia hinzu. „Aber der Jasio könnte doch aus der Jagiellońska eintrudeln.“ „Gestern haben sie ihm ein Sonderstipendium bewilligt. Darauf muß er einen ausgeben.“ 10
Ewa hatte in der Schule die schärfsten Augen gehabt. Wenn sie an der Tafel stand, konnte sie mühelos die Spicken in der vierten Bankreihe lesen. „Ich glaube, ich habe ihn vor einer Weile in der Garderobe gesehen.“ Das Mädchen hatte sich nicht geirrt. Wenig später kam Jasio über den Marmorfußboden des Saales getänzelt, Elżbieta, seine Flamme, am Arm. „Noch nichts bestellt?“ Er lachte. „Ich wette, ihr wartet auf eine Runde ‚Egri burgundl‘.“ „Wir haben nur einen Krösus unter uns“, bemerkte Krysia. „Also wie, gibst du einen aus?“ „Meinetwegen.“ Jasio wußte, daß ihm sowieso nichts anderes übrigblieb. „Hanka kommt wieder nicht“, stellte Ewa fest. „Klar. Sie betrauert Andrzej“, warf Zygmunt bissig ein. „Bitte laß das!“ sagte Krysia erbost. „Genaugenommen ist dieser Andrzej ein Schwein“, versetzte Stach. „Schlimmer. Er ist ein Feigling, ein Schuft“, ergänzte Ewa. „Drei Jahre ist er mit Hanka gegangen. Den Kopf hat er dem Mädel verdreht. Unzertrennlich waren sie. Aber dann war sein Studium an der Technischen Hochschule zu Ende, er dampfte ab, ohne ein Wort der Erklärung, und konnte sich nicht einmal zu einem Brief aufraffen.“ „Was gibt’s da zu erklären.“ Zygmunt blieb unerbittlich. „Er ist ein Schuft, basta. Ich habe nie ein Hehl draus gemacht, daß ich ihn nicht mochte. Er paßte überhaupt nicht zu uns.“ „Und Hanka brachte ihn Sonntag für Sonntag angeschleppt“, sagte Stach grinsend. „Hat aber auch nur einer von euch jemals einen Kaffee auf seine Kosten getrunken?“ 11
„Bewahre! Er hat sich bei uns durchgeschlaucht! Erinnert euch. Nie hatte er Kleingeld im Portemonnaie, Hanka mußte immer für ihn blechen.“ „Vergangenes Jahr, an seinem Namenstag, mußte Hanka auch für den Wein und für die Torten aufkommen. Der liebe Andrzej hatte nämlich das Geld zu Hause gelassen! Ich bin neugierig, ob er ihr’s zurückgezahlt hat.“ „Das erfahren wir nie, weil Hanka nicht mit der Sprache ’rausrückt. Sie schämt sich.“ „Dabei ging’s ihm gar nicht mal schlecht. Er hatte ein Stipendium. Und von daheim bekam er Päckchen und Geld.“ „Andrzej war von uns allen immer am besten angezogen. Sein Vater ist Leiter eines Sägewerks im Bezirk Koszalin.“ „Und Hankas Mutter ist nur Angestellte beim Magistrat. Im Überfluß leben sie gerade nicht. Wenn die Mutter für Hanka nicht alles selber nähte …“ „Weißt du, ich muß Hanka bitten, daß mir ihre Mutter ein Kleid macht. Habe mir einen sehr hübschen Wollstoff gekauft. Hundertsiebzig Złoty das Meter.“ „Was für einen?“ fragten die übrigen Mädchen neugierig. „Bordeauxrot. Sehr schön. Ich zeig’ ihn euch. Habe ihn sogar mit.“ Krysia griff in ihre große Tasche und holte ein Päckchen in grauem Papier heraus. „Der Weltuntergang naht“, bemerkte Zygmunt, „sie machen aus dem Café einen Laufsteg.“ „Laß dir ein Kostüm nähen. Der Stoff reicht doch. Die Jacke auf Taille“, riet Ewa, die sich den Stoff an den Körper hielt. „Glaubst du, daß das gut aussehen wird?“ „Nur ein Kostüm.“ Stach sagte das mit einer Miene, als ob er sein Leben 12
lang über Modeschöpfungen zu entscheiden gehabt hätte. „Ich würde mir ein Kleid machen lassen, mit Stehkragen, den Rock ausgestellt“, schlug Elżbieta vor. „Vielleicht habt ihr die Modelle in der letzten ‚Przekrójnummer‘ gesehen? Da war so eins.“ „Ein Kostüm wäre wohl besser.“ Krysia hatte sich noch nicht entschieden. „Ich möchte es aber von Hankas Mutter genäht haben. Sie hat Geschmack. Hanka besitzt nicht viel Sachen, trotzdem ist sie von uns am besten angezogen.“ „Weil sie sich für ihren Andrzej herausgeputzt hat.“ „Gib Ruhe, Stach. Mir tut sie leid.“ „Mir etwa nicht! Dumm ist sie gewesen. Kannte Andrzej lange genug und hätte wissen müssen, daß das so kommen mußte.“ „Vielleicht hat sie’s auch gewußt und hat ihn geliebt. Die Liebe ist kein Kinderspiel.“ Ewa nahm die Freundin in Schutz. „Ich wußte gar nicht, daß Hankas Mutter für andere Leute schneidert“, sagte Elżbieta verwundert. „Das tut sie auch nicht! Aber ich wollte sie bitten, bei mir eine Ausnahme zu machen. Vielleicht läßt sie sich überreden.“ „Hört endlich auf zu schwatzen. Man kommt ja gar nicht mehr zu Worte.“ „Na weißt du, Mietek!“ Ewa spielte die Beleidigte und verstummte. „Gestern habe ich Andrzej in der Technischen Hochschule gesehen.“ „Nicht möglich!“ Die Sensation war perfekt. „Jawohl, Andrzej“, bestätigte Mietek, erfreut über die Wirkung seiner Worte. „Als ich zur Vorlesung ging, stand er vor dem Dekanat.“ 13
„Hast du ihn gesprochen?“ „Nein. Ich mußte mich beeilen, um nicht zu spät zu kommen. Wir haben uns nur gegrüßt. Angezogen war er wie Graf Koks. Nagelneuer schwarzer Mantel aus dem Kommissionsgeschäft, schätze so dreitausend Złoty. Hemd und Schlips von bester Qualität, dazu ein piekfeiner Anzug. Mit einem Wort, jeder Zoll der Herr Ingenieur.“ „Da seht ihr, ihr hechelt ihn durch, und dabei kommt er zu Hanka.“ Elżbieta kannte Andrzej überhaupt nicht. „Zu Hanka?“ Zygmunt lachte ironisch. „Ich wette, sie weiß nicht einmal, daß er sich in Szczecin aufhält. Sicherlich hat er sich das Diplom abgeholt oder war zu einer Unterredung beim Professor. Er will doch seinen Doktor machen.“ „Hanka kommt.“ Wie immer hatte Ewa als erste die Nahende entdeckt. „Kein Wort von Andrzej“, warf Krysia rasch ein. „Wenn Hanka weiß, daß er gekommen ist, wird sie’s uns selbst sagen. Warum sie noch mehr aufregen?“ „Wie geht’s unserer trauernden Witwe?“ rief Zygmunt zur Begrüßung Hanka zu, zischte aber gleich vor Schmerz, weil Ewa mit der Spitze ihres Schuhs seinen Knöchel getroffen hatte. „Wessen Witwe denn?“ erwiderte Hanka lächelnd. „Na, die unseres lieben Andrzej.“ Zygmunt nahm mit Vorliebe Trotzhaltungen ein. Er überlegte gar nicht, daß er damit nicht nur Hanka, sondern auch den anderen auf die Nerven fallen mochte. „Die Sache ist längst passé.“ Hanka packte den Stier bei den Hörnern. „Mir liegt gar nichts an ihm.“ Aber den Kopf wandte sie doch zum Fenster, als wollte sie nachprüfen, ob die Oder immer noch am Turm der Sieben Mäntel vorüberfließe. 14
„Hast du das Kolloquium bestanden?“ Taktvoll wechselte Krysia das Thema. „Ja, endlich. Aber nur mit Drei.“ „Na, dann hast du wenigstens Ruhe.“ Hanka und Krysia studierten beide das vierte Jahr Medizin. „Es hat mir den ganzen Durchschnitt vermasselt.“ „Auch ein Grund, sich aufzuregen!“ Mietek lachte. „Ich habe fast nur Dreien. Hauptsache, die Prüfung wird angerechnet. Alles andere ist unwichtig.“ „In unserem Haus ist gestern ein Mord geschehen!“ Hanka setzte sich zwischen Zygmunt und Stach. „In der Buczekstraße neunzehn?“ „Ja. In dem Treppenaufgang, in dem ich wohne. Aber im ersten Stock.“ „Wann? Wer ist ermordet worden?“ „Frau Rosińska, die Mutter von Frau Legat.“ „Arbeitet der Legat nicht auf dem ‚Vulkan‘?“ „Der mit dem roten Wartburg?“ „Sie ist doch so eine vollschlanke Blondine, nicht wahr? Wenn ich zu dir ging, traf ich sie meistens auf der Treppe.“ „Sie wurde ja gar nicht ermordet, sondern ihre Mutter. Eine Lehrerin in Goleniów.“ „Umgebracht? Warum?“ „Hat man den Täter gefaßt?“ „Sicher ist das nachts passiert!“ „Bitte Ruhe“, rief Zygmunt. „Auf diese Weise erfahren wir überhaupt nichts. Laßt Hanka schön der Reihe nach erzählen.“ „Also gut“, sagte Hanka. „Aber warum bekomme ich keinen Wein, wenn ihr alle welchen trinkt? Wer ist denn überhaupt so spendabel?“ „Bitte, Fräulein Zosia.“ Jaś wandte sich an die Servie15
rerin, die in der Nähe stand und die Ohren spitzte. „Noch einen Kaffee und ein Glas Wein. Auf meine Rechnung.“ Die Serviererin, von Hankas ungewöhnlicher Nachricht gefesselt, bediente blitzschnell. Dann setzte sie sich in die Fensternische und war bestrebt, sich kein Wort von dem, was das Mädchen erzählte, entgehen zu lassen.
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ZWEITES KAPITEL
Nimm dich der Sache an, Hanka! Das Grundstück in der Buczekstraße Nummer neunzehn war ein großes fünfstöckiges Gebäude. Im Erdgeschoß befanden sich zwei Läden und eine Bierstube – von der Hofseite eine private Bäckerei. Der vordere Aufgang hatte breite weiße, hie und da vom Zahn der Zeit angefressene Marmortreppen. Kunstvoll geschmiedete Messingklinken schmückten die Wohnungstüren, an denen man läutete, indem man einen Metallring im Maul eines Löwen anhob. Die Decken der Wohnungen und im Treppenflur waren mit Stuckfiguren verziert. Die ganze altertümelnde Pracht bescheinigte dem Hause, um die Jahrhundertwende gebaut worden zu sein, in einer Epoche, in der der Sezessionsstil vorherrschte, dazu ausersehen, reiche Kaufleute und bessergestellte Beamtenfamilien zu beherbergen. Das Haus war ohne größere Schäden über den Krieg gekommen und hatte sich seit fünfundvierzig vom Erdgeschoß bis zum Dachboden mit neuen Mietern angefüllt. Und eben hier, im vierten Stock, in einer Wohnung, die von einer größeren abgeteilt worden war, lebte in einem Zimmer und Küche Frau Wróblewska, eine Apothekerwitwe, gegenwärtig Magistratsangestellte, zusammen mit ihrer Tochter Hanka, einer Medizinstudentin im vierten Studienjahr. Hier hatte auch der Ingenieur Józef Legat zwei Jahre nach dem Kriege eine große Wohnung im ersten Stock bezogen. Zuerst hatte er in einer Genossenschaft gearbeitet, 17
und als der Wiederaufbau der Vulkan-Werft in Angriff genommen wurde, wechselte er dorthin über. Der Ingenieur, offenbar ein tüchtiger Fachmann, war schnell aufgerückt und hatte es innerhalb weniger Jahre bereits zum Leiter einer Produktionsabteilung gebracht. Er verdiente gut und galt als wohlhabend. Vor vier Jahren hatte er sich einen roten Wartburg zugelegt. Zur Familie gehörten drei Kinder. Nachdem der jüngste Sohn mit sieben Jahren eingeschult worden war, hatte Janina Legat wieder ihre Arbeit aufgenommen und unterrichtete Mathematik in einer nahe gelegenen Oberschule. Die Legats waren angenehm im Umgang und gastfreundlich. Als sie sich vor ein paar Jahren ein Fernsehgerät gekauft hatten, wohl das erste in diesem Hause, luden sie alle Nachbarn zum Fernsehen ein. Später, als immer mehr Fernsehantennen über den Dächern Szczecins auftauchten, ließen die Besuche der Nachbarn nach. Mit einer Ausnahme. Hanka kam nach wie vor und gern. Frau Wróblewska scheute nämlich die Ausgabe für ein Fernsehgerät, denn selbst ein Ratenkauf überstieg ihre finanziellen Möglichkeiten. Die Mutter der Frau Legat, Łucja Rosińska, war Lehrerin im nahe gelegenen Goleniów. Obwohl vor einem Jahr pensioniert, hatte sie es trotz der Bitten von Tochter und Schwiegersohn nicht eilig damit, Titel und Pflichten einer Großmutter zu übernehmen. Sie wollte, wie sie sagte, nicht vom Gnadenbrot ihrer Tochter leben, sondern zog die Selbständigkeit vor. So blieb sie weiterhin an der Schule in Goleniów und schränkte nur die Zahl ihrer Stunden ein. Deshalb konnte sie jetzt häufiger nach Szczecin kommen, um ihre Enkel zu besuchen. An jenem Tage, am Sonnabend, dem achtzehnten November, hatte Frau Rosińska keinen Unterricht gehabt 18
und war daher am frühen Morgen schon nach Szczecin gefahren. Sie wußte, daß sich niemand in der Wohnung aufhielt. Die beiden Legats arbeiteten, die Kinder gingen zur Schule. Die Putzfrau Maria Popiela kam nur zweimal wöchentlich, dienstags und freitags. Also hatte Frau Rosińska ihre Tochter in der Oberschule aufgesucht und in der Pause, kurz vor zehn, mit ihr gesprochen. Frau Janina hatte ihrer Mutter die Schlüssel gegeben und sie gebeten, noch ein paar Besorgungen zu machen. Als Janina Legat, wie abgesprochen, zwanzig Minuten nach zwei die Tür zu ihrer Wohnung aufschloß, bot sich ihr ein schrecklicher Anblick. In dem langen Flur, vor der Badezimmertür, lag Łucja Rosińska auf dem Parkett, den Kopf eigenartig verkrampft. Auf dem Fußboden neben dem Körper stand eine große Blutlache. Auf das entsetzliche Geschrei hin, mit dem Frau Legat in den Treppenflur stürzte, liefen die Nachbarn zusammen. Jemand nahm sich der Frau an, die einer Ohnmacht nahe war. Ein anderer benachrichtigte Polizei und Rettungsdienst. Zehn Minuten später hielt der Funkwagen vor dem Haus, dann der Rettungswagen. Leider hatte der Arzt nichts anderes mehr zu tun, als den Exitus zu bescheinigen. Sein Kollege von der Miliz, der mit der Untersuchungskommission gekommen war, stellte fest, daß der Tod frühestens gegen elf Uhr dreißig und spätestens um dreizehn Uhr eingetreten sein mußte. Todesursache: ein Schlag auf den Hinterkopf, mit einem schweren Metallgegenstand ausgeführt. Höchstwahrscheinlich mit einer Brechstange oder einem Stück Rohr. Infolge der Wucht des Schlages mußte der Tod sofort eingetreten sein. Der Täter hatte das Opfer überrascht. 19
Nichts wies auf einen Kampf im Flur hin. Wahrscheinlich, so wurde in den ersten Ermittlungsergebnissen der Miliz festgehalten, hatte Frau Rosińska die Wohnung erst kurz vor dem Überfall betreten. Davon zeugten die Päckchen, die in der Küche auf dem Tisch lagen, sowie der Mantel, der im Flur am Kleiderhaken hing. Sicherlich hatte der Täter geklingelt und war dann unter irgendeinem Vorwand in die Wohnung eingedrungen, hatte einen Augenblick der Unaufmerksamkeit genutzt, den tödlichen Hieb versetzt und die Wohnung ausgeplündert. Die Räume boten einen beklagenswerten Anblick. Als hätte ein Wirbelsturm in ihnen getobt. Der Inhalt sämtlicher Schränke lag auf dem Fußboden. Selbst Tischdecken und Staubtücher aus den Fächern der großen Anrichte waren aufs Parkett geschleudert. Die verschlossenen Schubladen des Schreibtisches hatte der Bandit mit einer Axt, die er in der Küche fand, aufgebrochen. Der Schubladeninhalt war ebenfalls auf den Fußboden gewandert. Der Einbrecher, offenbar darüber erbost, daß er die Beute zuerst nicht finden konnte, hatte einen Teil der Papiere aus dem Schreibtisch zerrissen. Auch die Bücher waren nicht ungeschoren geblieben. Im Arbeitszimmer des Ingenieurs hatten zwei große Regale voll Fachliteratur und Belletristik gestanden. Jetzt lagen die Bücher stößeweise mit abgerissenen Schutzumschlägen herum. Auf den ersten Blick war ersichtlich: Hier hatte nicht nur ein Mörder und Dieb, sondern ein Vandale gewütet. Wozu mußte er den Toilettenspiegel zerschlagen, warum ein wertvolles Bild von Masłowski aus dem Goldrahmen reißen, wenn er dann die Leinwand unter den Tisch warf und den Rahmen zerbrach? Nachdem sich Frau Legat von dem ersten furchtbaren 20
Schreck erholt hatte, rief sie ihren Mann an. Fünfzehn Minuten später war der Ingenieur mit einem Taxi da. Neben dem Trauerfall war ein erheblicher Sachschaden zu verbuchen. Eine Woche zuvor hatte Herr Legat seinen Wartburg verkauft und das Geld, über achtzigtausend Złoty, in einem Buch im Regal versteckt. Das übliche Versteck der Männer. Frauen dagegen sind ja der Meinung, ihre Schätze seien am sichersten im Wäschefach verwahrt. Ein routinierter Dieb sucht daher Bargeld und Schmuck nur an zwei Stellen. Und wird selten enttäuscht. Herr Legat, im Begriff, ein neues Auto zu kaufen, meinte also, es lohne nicht, für die wenigen Tage das Geld der Sparkasse anzuvertrauen. Jetzt war das kein Problem mehr. Das Geld war mit dem Mörder verschwunden. Der Täter hatte keine Fingerabdrücke hinterlassen. Offenbar hatte er Handschuhe getragen. Auch wollte keiner der vielen Nachbarn einen Fremden im Hause bemerkt haben. Die Miliz stellte lediglich fest, daß Frau Rosińska gegen elf in die Wohnung gekommen war. Um diese Zeit nämlich war sie auf der Treppe der Bäckersfrau begegnet, die gerade aus der zweiten Etage eine Kanne Kaffee zu ihrem Mann in die im Kellergeschoß gelegene Bäckerei hinuntertrug. Auf der Suche nach einer Spur befragte man die Legats nach verdächtigen Personen. Sie wußten niemanden anzugeben. Die Hausbewohner galten ausnahmslos als „anständige Leute“. Nie war hier etwas weggekommen. Die einzige fremde Person im Haus, Maria Popiela, machte seit über acht Jahren diese Wohnung sauber. Oftmals hatten Geld und Schmuckstücke herumgelegen, ohne daß die geringste Kleinigkeit abhanden gekommen wäre. 21
Dennoch suchte die Miliz sofort Maria Popiela auf. Als sie von dem Überfall erfuhr, brach die arme Frau in Tränen aus. Ihr Alibi war überzeugend. An diesem Tage hatte sie von acht Uhr früh bis drei Uhr nachmittags in einer Wohnung in der Jagiellońskastraße gearbeitet. Wie die Inhaber dieser Wohnung bestätigten, hatte Maria Popiela sie für keinen Augenblick verlassen. Die Erkundungen der Miliz ergaben ebenfalls, daß Bolesław Popiela, der Ehemann der Putzfrau, der als Klempner bei der Wohnungsverwaltung angestellt war, an diesem Tage normal gearbeitet hatte. Seit sieben Uhr früh wechselte er ein geplatztes Rohr im Keller eines Hauses in der Masurskastraße aus. Die Arbeit nahm ihn den ganzen Tag in Anspruch. Wer wußte davon, daß Ingenieur Legat seinen Wagen verkauft und zu Hause eine größere Summe Bargeld zu liegen hatte? Hier war die Angelegenheit völlig offen. Zwar hatte der Ingenieur den Autoverkauf nicht an die große Glocke gehängt, aber er hatte ihn auch vor niemandem verheimlicht. Vielen Personen, vor allem den Jugendlichen, mußte aufgefallen sein, daß der Wagen aus der Garage auf dem Hof des Hauses verschwunden war. Und wenn es die Kinder erfahren hatten, wußten es auch die Eltern. Überdies hatte sich der Ingenieur von seinen Freunden beraten lassen, welchen Wagen er statt des Wartburgs kaufen sollte. Die Verhandlungen mit dem Besitzer eines Renaults waren bereits ziemlich weit gediehen. Die Anzahl der Personen, die über die Transaktion Bescheid wußte, war somit recht groß und, schlimmer noch, schwer feststellbar. Übrigens hatte es den Anschein, daß diese Kontaktpersonen über allen Verdacht erhaben waren. 22
Die Tatsachen widersprachen dem jedoch. Der Mörder hatte von dem Geld gewußt und hatte es zielstrebig gesucht. Davon zeugte vor allen Dingen der Umstand, daß kein Wertgegenstand aus der Wohnung entwendet worden war, obwohl es Silbersachen gab und der Pelz der Hausfrau im Schrank hing. Der Täter hatte einen Ballen englischen Stoff, den der Ingenieur unlängst einem Matrosen abkaufte, in der Hand gehabt und dann auf den Boden geworfen. Er hatte gemordet, weil er wußte, eine größere Summe Geld war in der Wohnung versteckt. Sie allein hatte er gesucht und auch gefunden. Sonst nichts. Nur eins war verdächtig. Die Wohnungstür besaß eine Kette. Unwahrscheinlich, daß Frau Rosińska, eine ältere Person, die Tür ohne gebotene Vorsichtsmaßnahmen geöffnet und einen Angreifer hereingelassen haben sollte. Sie hatte zunächst die Kette vorgelegt und das Gespräch durch den Türspalt geführt. Doch die Eingangstür trug nicht die Spur einer Beschädigung. Die Mutter der Hausfrau mußte jemanden in die Wohnung hereingelassen haben, den sie kannte, oder jemanden, der ihr Vertrauen erweckt hatte. Zum Beispiel den Briefträger oder den Kassierer vom Gas- und Elektrizitätswerk, vielleicht sogar einen Milizionär. Oder einen persönlichen Bekannten. Was den Briefträger anging, so wurde festgestellt, daß er wie gewöhnlich die Post gegen zehn Uhr gebracht hatte. Da er mehrere Einschreibebriefe mitführte, war leicht zu ermitteln, wann er in der Buczekstraße Nummer neunzehn gewesen war. Ebenfalls wurde geklärt, daß er seinen ganzen Bezirk normal begangen hatte. Die Verwüstung in der Wohnung war allerdings ein Beweis dafür, daß der Mörder mindestens eine Stunde darin verweilt haben mußte. Und sicherlich mußte er sich noch 23
sehr beeilt haben, um in dieser Frist sein trauriges Werk zu vollenden. Selbst wenn man also annahm, daß ihn Frau Rosińska, wenige Minuten nachdem sie selbst die Wohnung betreten, das heißt also gegen elf Uhr dreißig, hereingelassen hatte, so konnte er das Haus frühestens vor eins verlassen haben. Soviel Zeit hätte der Briefträger nicht aussparen können, ohne daß es der Miliz entgangen wäre. Der Kassierer vom Gas- und Elektrizitätswerk. Hier drängte sich vor allem die Frage auf, ob sein Erscheinen im November nicht sofort Frau Rosińskas Mißtrauen erweckt hätte. In diesem Stadtbezirk wurden nämlich die Zähler in den geraden Monaten abgelesen. Außerdem stellte man fest, daß der Kassierer an diesem Tage in einem ganz anderen Stadtteil gearbeitet hatte, was von vielen Personen bestätigt wurde. Er fiel also auch weg. Die Hauswartsstelle war von einer älteren Frau besetzt, die ihren Pflichten übrigens besser nachkam als so mancher junge Bursche. War diese Frau fähig, einen so unglaublich kräftigen Schlag zu führen? Zweifellos nicht. Alles wies darauf hin, daß nur ein Mann den Mord verübt haben konnte. Erst am späten Abend verließ die Miliz das Haus in der Buczekstraße. Alle Mieter waren verhört worden. Manche sogar zweimal. Man interessierte sich für die Stammgäste der Bierstube und für die Kunden der beiden Läden, einer Lebensmittelhandlung und einer Drogerie. Dennoch mußte Leutnant Roman Widerski nach seiner Rückkehr zur Kommandantur seinem Vorgesetzten melden, daß die Ergebnisse seiner Arbeit gleich Null waren. Hanka, die ihren Kumpels den Verlauf der tragischen Ereignisse schilderte, war zwar bei der Dienstbespre24
chung des Leutnants mit dem „Alten“ nicht zugegen gewesen, folgerte aber treffend, daß die Miliz keine Spuren ermittelt habe, die eine schnelle Entlarvung des Mörders erlaubten. „Früher oder später bekommen sie ihn doch“, behauptete Stach. „Hätte er noch etwas anderes aus der Wohnung entwendet, könnte er erwischt werden“, erwiderte Zygmunt. „Da er aber nur das Bargeld genommen hat, wird ihm nichts nachzuweisen sein. Geldscheine sehen alle gleich aus. Selbst wenn sie bei dem Mann achtzigtausend Złoty finden, wie ihm beweisen, daß sie aus der Buczekstraße stammen? Ein gerissener Hund. Hat sich weder an Wertsachen vergriffen noch an was anderem, wodurch er hochgehen könnte.“ „Es werden noch viel Schlauere als der erwischt.“ Stach besaß, anders als Zygmunt, eine günstigere Meinung über die Arbeit der Kriminalpolizei. „Die werden nicht erwischt, sondern lassen sich erwischen. Jeder macht irgendwann einen Fehler und wird gefaßt.“ „Frau Rosińska tut mir leid. Eine so liebe Person. Daß ihr das zustoßen mußte.“ „Besser, sie ist tot als ihre Tochter. Die hat drei Kinder.“ „Du bist ein Ungeheuer“, rief Krysia. „Und wenn man bedenkt, daß ich an der Tür der Legats vorübergegangen sein konnte, gerade als der Mörder sein Verbrechen verübte.“ „Du?“ rief Elżbieta. „Ich mußte um zwölf zum Kolloquium, also ging ich nach elf aus dem Haus. Vielleicht sogar um halb zwölf. Bis zur Akademie sind es kaum zehn Minuten. Die Prüfung hat nicht ganz eine Stunde gedauert. Gegen eins war ich zurück.“ 25
„Hast du niemanden gesehen?“ „Das haben mich schon die von der Miliz gefragt. Ich habe nichts Außergewöhnliches bemerkt, auch nichts gehört, als ich an der Tür im ersten Stock vorbeiging.“ „Als er den Spiegel von der Frisiertoilette zerschlug, muß das doch Lärm gemacht haben.“ „Das ist im Treppenflur nicht zu hören. In dem Haus haben die Wohnungen dicke Wände. Außerdem ist da erst ein langer Flur. Von dort gelangt man ins Bad, das sich neben dem Eingang befindet. Dann ist links ein kleines Zimmer und auf der rechten Seite ein größeres. Am anderen Ende des Flurs führt eine Tür in ein großes Durchgangszimmer. Erst von da kommt man ins Schlafzimmer der Legats, wo die Frisierkommode steht.“ „Und die Bücher, in denen das Geld versteckt war?“ „Das Arbeitszimmer befindet sich in dem kleinen Raum neben dem Bad. Da stehen zwei Regale an der Wand. Außerdem ein Schreibtisch, ein Klubtisch und ein paar Sessel.“ „Das Fernsehgerät hat er ganz gelassen?“ „Ja.“ „Ein schlauer Bursche“, bemerkte Mietek, der an der Fakultät für Fernmeldewesen der Szczeciner Hochschule studierte. „Er wußte, daß die Bildröhre laut wie Kanonendonner explodieren und ihn ordentlich verletzen konnte.“ „Weißt du noch, Hanka“, sagte Jaś, „wie du in der siebenten Klasse einen Dieb aufs Kreuz gelegt hast, der Mäntel in der Garderobe stahl?“ „Ich war es gar nicht, ertappt hat ihn die Schulmeisterin.“ „Schön, ertappt, aber der Einfall, sich auf dem Kleiderständer auf die Lauer zu legen, kam von dir, und du 26
hattest auch mit der Schulmeisterin ausgemacht, welches Zeichen zu geben sei, wenn der Dieb mit einem Mantel abhaut. Wenn ich mich recht erinnere, hast du etwa drei Stunden am Kleiderständer gehangen.“ „Wohl auch mehrere Tage hintereinander“, bemerkte Krysia. „Damals habe ich dich unendlich beneidet, weil ich in der Klasse hocken mußte und du nicht.“ „Ach, nur zwei Tage lang“, protestierte Hanka. „Und es waren auch nicht immer drei Stunden. Andere Mädchen haben damals auch Dienst getan.“ „Aber es war dein Einfall. Das kannst du nicht leugnen.“ „Kein besonderes Verdienst. Da der Dieb nur in die Garderobe ging, wenn niemand da war, mußte man den Hinterhalt so einrichten, daß er ihn nicht bemerkte.“ „Aber das wäre erst eine Sensation, wenn du den Mörder der Frau Rosińska entdecktest. Ich sehe schon die Schlagzeilen: ‚Tüchtige Medizinerin entlarvt Mörder.‘ Oder: ‚Hanka Wróblewska, Medizinstudentin, bester Detektiv von Szczecin‘ “, rief Zygmunt lachend. „Ja, los, Hanka, mach dich ’ran!“ forderte Mietek. „Ich? Wieso? Morde deckt doch die Miliz auf.“ Mieteks Worte hatten Hanka erschreckt. „Nein, du mußt es tun, Hania.“ Der Technikstudent fand die Unterstützung der anderen. „Ihr redet Unfug.“ „Das ist kein Unfug, du hast Talent für so was. Außerdem wohnst du in dem Haus, wo der Mord begangen wurde. Du kennst die Legats und auch die übrigen Mieter. Wenn du dich mit ihnen unterhältst, erfährst du mehr als jeder andere. Denen von der Miliz sagt man eben nicht soviel wie der hübschen Tochter einer Nachbarin.“ „Für das ‚hübsch‘ vielen Dank. Freut mich, daß du’s nach fünfzehn Jahren endlich gemerkt hast.“ 27
„Ich mein’s im Ernst.“ „Auch eine Idee! Selbst wenn ich damit einverstanden wäre, könnte ich ohne Wissen und Zustimmung der Miliz doch nichts ausrichten.“ „Aber du brauchst sie ja gar nicht zu übergehen.“ Zygmunt war von Mieteks Plan begeistert. „Im Gegenteil, du meldest dich morgen auf der Kommandantur und trägst ihnen unsere Hilfe an.“ „Unsere?“ fragte Jaś erstaunt. „Notfalls machen wir doch alle mit“, erklärte Zygmunt ernst. „Natürlich“, pflichtete Elżbieta ihm bei. „Wenn es nötig sein wird, jemanden zu beobachten, kannst du auf mich zählen, Hania.“ „Zumal, wenn’s ein hübscher junger Mann ist“, fügte Mietek hinzu. „So, ich muß jetzt gehen.“ Hanka warf einen Blick auf die Uhr. „Gleich zwei. Ich habe meiner Mutter versprochen, heute nicht zu spät zum Mittagessen zu kommen.“ „Morgen gehst du also zur Miliz.“ Mietek blieb hartnäckig. „Bist du verrückt! Damit die mich dort ’rauswerfen?“ „Das tun sie bestimmt nicht. Sie werden begeistert von dir sein. Du mußt unbedingt hin.“ „Ja, geh! Versprich, daß du’s tust.“ „Ihr habt wohl nicht alle Tassen im Schrank.“ „Wer ist dafür, daß Hanka zur Miliz geht?“ fragte Mietek. Sieben Hände reckten sich in die Höhe. „Klarer Fall. Du gehst“, erklärte Mietek triumphierend. Die Abstimmungsergebnisse der „Gang“ waren stets für alle Mitglieder verbindlich. Hanka fügte sich. „Gut, ich gehe, aber ich behaupte weiterhin, daß ihr verrückt seid und daß sie mich unverzüglich hinauswerfen werden.“ 28
„Bestimmt nicht. Sie werden beglückt sein. Es wird doch jetzt so viel von Zusammenarbeit zwischen Miliz und Bevölkerung bei der Verbrechensbekämpfung gesprochen.“
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DRITTES KAPITEL
Ein Besuch bei der Miliz Sie waren keineswegs begeistert! Als Hanka das große Gebäude, in dem die Kommandantur der Miliz untergebracht war, betreten hatte, erkundigte sich der diensthabende Unteroffizier, ein Oberwachtmeister, ziemlich umständlich, wen das Mädchen sprechen wolle und in welcher Angelegenheit. Hanka durchschaute sofort die Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens, die Geschichte ihrer Freunde von Anfang bis Ende vorzutragen. Daher begnügte sie sich damit, zu erklären, sie wohne in dem Hause, wo das Verbrechen begangen worden sei, und habe der Morduntersuchungskommission Wichtiges mitzuteilen. Der Wachtmeister wählte eine Telefonnummer, dann noch eine, beim drittenmal fand er einen Kollegen, der zuständig war. Er drückte auf einen Knopf. Die Tür, die zum Flur führte, öffnete sich, und er sagte zu Hanka: „Sie werden zehn Minuten warten müssen, Bürgerin. Nehmen Sie bitte auf der Bank Platz. Wenn es soweit ist, sage ich Ihnen, bei wem Sie sich zu melden haben.“ Aus den zehn Minuten wurde eine halbe Stunde. Bereits wollte Hanka sich aus dem Unternehmen zurückziehen, da hörte sie den Unteroffizier sagen: „Bitte in die erste Etage, Bürgerin, Zimmer hundertsechzehn, zu Leutnant Widerski.“ Hanka klopfte an die Tür, die ihr genannt worden war, und drückte auf. die Klinke. Es war ein kleines Zimmer. Nur ein Tisch und drei Stühle befanden sich 30
darin. Auf der einen Seite stand ein metallener Aktenschrank. Einziger Schmuck auf dem Tisch war ein Telefon. Hinter dem Tisch, gegenüber dem Eingang, saß ein Offizier der Miliz mit den Abzeichen eines Leutnants. Er stand auf, um das Mädchen zu begrüßen. Wenig mehr als mittelgroß, registrierte Hanka. Dunkles Haar, links ein Kennedy-Scheitel. Hanka mochte diese Frisur nicht, sie zog glatt nach hinten gekämmt vor. Der Leutnant hatte hellblaue Augen und eine schmale, gerade Nase. Die Lippen hielt er wohl immer ein wenig zusammengepreßt, davon zeugten die beiden Furchen in den Mundwinkeln. Jetzt noch, im November, hatte das Gesicht seine Sommerbräune behalten. Alles in allem überwog der Eindruck einer drahtigen Sportsfigur. Auch der Leutnant musterte die Eintretende neugierig. Groß und gut gebaut. Hübsche Beine, am Knöchel vielleicht eine Winzigkeit zu dick. Bei ihrem Wuchs störte das aber nicht. Das dunkelblonde Haar kurz geschnitten. Für ein klassisches Schönheitsempfinden war ihr Mund etwas zu dick und das Näschen eine Idee zu stupsig. Die größte Zierde ihres Gesichts waren aber die Augen. Weder blau noch grün, sondern eine Nuance in Lila. Darin glommen goldene Funken. Ihre Kleidung war bescheiden und verriet Geschmack. Unter dem aufgeknöpften Mantel sah man einen hellen Pullover, der vortrefflich zum Schottenkaro ihres Rockes paßte. Am meisten gefiel dem Leutnant, daß das Mädchen keinen Lidschatten trug. In den Vormittagsstunden ließ er diese Art von Schminke nicht gelten. Mit Genugtuung konstatierte er lediglich leicht geschwärzte Wimpern und mit heller Pomade diskret nachgezogene Lippen. 31
„Bitte, nehmen Sie Platz.“ Der Leutnant deutete auf einen Stuhl am anderen Ende des Tisches. Hanka setzte sich. „Ihr Name? Verzeihen Sie, ich habe ihn mir nicht notiert, als der Anruf von unten kam.“ „Hanka Wróblewska.“ „Ach ja.“ Der Leutnant war über den Fall bereits informiert, denn er sagte, ohne in das Aktenheft zu blicken, das er aus der Schublade hervorholte: „Fräulein Wróblewska. Sie wohnen Buczekstraße Nummer neunzehn, vierter oder fünfter Stock. Zusammen mit der Mutter?“ „Ja. Ich komme wegen des Mordes.“ „Bitte, ich höre. Wenn ich mich nicht irre, hat mein Kollege Kardaś Sie und Ihre Mutter am Sonnabend vernommen.“ „Ja, stimmt. Einer der Herren hat sich mit mir sogar zweimal unterhalten.“ „Und erst jetzt ist Ihnen etwas eingefallen, was uns interessieren könnte?“ Der Leutnant bemühte sich, der jungen Dame die Aufgabe möglichst zu erleichtern. „Ich … Eigentlich ist mir nichts eingefallen. Ich bin gekommen …“ Vor Wut fing sie an zu stottern. Jetzt erst wurde ihr nämlich klar, auf was sie sich da eingelassen hatte. Wenn sie diesem gutaussehenden Offizier den Anlaß ihres Kommens nannte, mußte sie in seinen Augen wie eine vollkommene Idiotin dastehen. „Keine Angst.“ Leutnant Widerski hatte die Verwirrung des Mädchens falsch verstanden. Er war gewohnt, bei Zeugen, die sich meldeten, um Aussagen zu machen, welche andere Leute belasten konnten, höchstes Unbehagen festzustellen. „Ich habe keine Angst, ich weiß nur nicht, wie ich es Ihnen sagen soll.“ 32
„Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?“ Der Kriminalist hielt dem Mädchen eine Packung hin. „Danke. Ich rauche nicht.“ „Bitte, ich höre.“ „Ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen.“ „Das freut mich sehr. Wir nehmen die Mitarbeit der Bevölkerung gern in Anspruch. Also bitte, was wissen Sie?“ „Aber … aber“, Hanka stotterte hoffnungslos. „Ich weiß ja noch gar nichts.“ „Wieso?“ Widerski wurde ungeduldig. „Ich will Ihnen alles sagen, Herr Leutnant. Also, ich habe da ein paar Freunde. So eine Clique, die seit den ersten Schuljahren zusammenhält. Wir treffen uns jeden Sonntag im Schloß bei einer Tasse Kaffee. Und gestern“, Hanka wußte nur zu gut, daß ihre Worte in den Ohren des Offiziers hoffnungslos dumm und naiv klingen mußten, „gestern, als ich ihnen von dem Mord in unserem Haus erzählt habe, beschlossen sie, daß ich mich bei der Miliz melden und unsere Mitarbeit anbieten solle. Ich habe …“, sie zögerte, „ich habe schon einmal einen Dieb gefangen. Der stahl Mäntel aus der Schulgarderobe. Meine Freunde behaupten, ich hätte was los auf dem Gebiet.“ Belustigt hörte sich der Leutnant die Sache an. „Ziemlich edel von euch“, sagte er, „der Miliz unter die Arme greifen zu wollen. Vielen Dank auch. Leider sehe ich keine Möglichkeit, eure guten Vorsätze zu realisieren.“ „Ich wohne in demselben Haus“, wiederholte Hanka. „Nun gut, aber Sie und die anderen Hausbewohner haben doch an dem kritischen Tage nichts bemerkt.“ „Ich kenne alle Leute im Haus. Auch viele in den Nachbarhäusern. Unser Freundeskreis ist ja um den Grunwaldzkiplatz herum beheimatet.“ 33
„Ich muß gestehen, ich sehe keinen Zusammenhang mit dem Mord.“ „Der Mörder hat Frau Rosińska gekannt. Deshalb hat sie ihn in die Wohnung gelassen. Hieraus ergibt sich, daß er irgendwo in der Nähe wohnen muß. Vielleicht könnten wir jemanden finden, der kein Alibi besitzt oder der sich irgendwo in der Gegend herumtrieb, als Frau Łucja in die Wohnung zurückkehrte.“ „Frau Rosińska kannte den Mörder bestimmt. Einen Fremden hätte sie nicht in die Wohnung gelassen. Das braucht aber nicht zu bedeuten, daß der, der sie getötet hat, in der Buczekstraße oder in der Nähe des Grunwaldzkiplatzes wohnt. Er könnte zum Beispiel seinem Opfer aus Goleniów nachgereist sein.“ „Nun ja.“ Hanka mußte dem Leutnant recht geben. „Sie sehen selbst, daß uns Ihre Hilfe nicht viel nützt.“ Hanka fiel ein neues Argument ein. Sie mußte an Mieteks Worte denken: Mit der hübschen Tochter einer Nachbarin unterhält man sich ungezwungener als mit denen von der Miliz. Jeder offiziell Vernommene hat Angst, später als Zeuge aufgerufen oder gar des Verbrechens verdächtigt zu werden. Anders hingegen plaudert es sich mit einer Bekannten, deren vertraulicher Umgang dem natürlichen Mitteilungsbedürfnis Tür und Tor öffnet. „Herr Leutnant, ich könnte ja mit Umsicht und Geschick Gespräche über den Mord provozieren. Dabei wäre nichts Ungewöhnliches. In der Buczekstraße wird seit Tagen sowieso von nichts anderem gesprochen. Vielleicht gelingt es mir, interessantes Material zu sammeln. Sie haben vorhin angenommen, ich sei gekommen, weil mir nach den offiziellen Vernehmungen etwas Wichtiges eingefallen wäre. Womöglich entsinnt sich wirklich jemand 34
nachträglich bestimmter Details, traut sich damit aber nicht zu euch, sondern läßt sie mich wissen. Was ist daran komisch, wenn ein junges Mädchen, das obendrein zwei Stockwerke über der Wohnung wohnt, in der das Verbrechen verübt wurde, neugierig ist und die Nachbarn mit Fragen löchert?“ Der Leutnant überlegte. „Das klingt recht überzeugend. Aber bilden Sie sich ja nicht ein, daß unsere Rolle schon ausgespielt ist, wenn wir die Bewohner vernommen haben. Die Miliz geht verschiedene Wege. Könnte doch sein, wir sind auch gerade dabei, diskrete Informationen zu sammeln. Also bestellen Sie bitte Ihren Freunden einen schönen Gruß und vielen Dank, aber wir möchten von ihrem Vorschlag keinen Gebrauch machen.“ Hanka war sichtlich enttäuscht, auch nun schon etwas aufgebracht. „Aha, ich verstehe“, sagte sie. „Käme hier ein alter Knacker an oder überhaupt ein maskulines Wesen, dann würden Sie, Herr Leutnant, anders reden. Hauptsache Mann. Sie wären beide bald ein Herz und eine Seele. Weil Sie aber nur eine Frau vor sich sehen, und leider obendrein noch eine junge, da haben Sie sich also gedacht: dumme Gans, so schnell wie möglich abwimmeln. Typisch.“ Der Leutnant lachte. Der Anblick des verärgerten Mädchens stimmte ihn vergnügt. „Gut. Wenn Sie unsere Mitarbeit nicht wünschen, dann eben nicht! Aber können Sie mir verbieten, mich mit der Sache weiter zu befassen? Nein. Ich werde Ihnen beweisen, daß ihr Männer die Weisheit nicht mit Löffeln gegessen habt und daß ein junges Mädchen sehr wohl zu etwas nütze sein kann.“ 35
„Aber natürlich kann sie das.“ Nun war der Leutnant glänzender Laune. „Zumal, wenn sie so gut aussieht. Die Zornesröte steht Ihnen übrigens ausgezeichnet.“ „Sie sind ekelhaft“, erwiderte das Mädchen Hanka. In diesem Augenblick sah sie wirklich hübsch aus, und sie gefiel dem Leutnant immer mehr. Besonders die goldenen Fünkchen in den Augen. „Verzeihung, Fräulein … Anna.“ „Ich werde Hanka genannt.“ „Pardon, Fräulein Haneczka, Ihre Argumente sind erdrückend. Sie haben mich überzeugt. Ich kann Sie natürlich nicht zur Mitarbeit engagieren, aber ich kann Ihnen auch nicht verbieten, sich auf eigene Faust mit der Sache zu beschäftigen. Wir wollen Frieden schließen. Ich werde Ihnen keine Empfehlungen geben, werde aber alles wissen wollen, was Sie in dieser Angelegenheit herausbekommen. Deshalb möchte ich darum bitten, daß Sie mich täglich besuchen und, sagen wir, Bericht erstatten. Einverstanden?“ „Und Sie lassen mich täglich wissen, was sich bei Ihnen tut, damit wir unsere Arbeit nicht doppelt machen.“ „Ich befürchte nur, an die Schweigepflicht gebunden zu sein.“ „Also keine echte Zusammenarbeit?“ „So ist es nun mal bei uns. Wenn mir mein Chef aufträgt, Informationen zu sammeln, sagt er mir nie, wozu er sie braucht.“ „Schön. Damit muß ich mich wohl abfinden. Sie werden sehen, daß ich mehr zustande bringe als alle Ihre Kriminalbeamten.“ „Sie irren, liebes Kind. Bei der Miliz arbeiten auch Frauen.“ „Ach so. Jetzt weiß ich endlich, warum es euch auch ab und zu gelingt, einen Fall zu klären.“ 36
„Und ich habe mich davon überzeugt, daß beim Medizinstudium die Zungen spitz werden.“ „Also, wann soll ich mich melden?“ „Morgen. Gegen drei Uhr nachmittags. Paßt es Ihnen?“ „Es muß. Gut, pünktlich um drei bin ich da.“ „Nennen Sie bitte unten nur Ihren Namen.“ Eine Weile zögerte der Leutnant, ob er die hingehaltene Hand küssen sollte. Aber er drückte sie nur kollegial. Als sich die Tür hinter dem Mädchen schloß, fiel er in tiefes Nachdenken. Die Karre stak, wie man so sagt, im Dreck. Und weit und breit keine Hilfe. Mord und Diebstahl einer hohen Geldsumme. Sowohl der Chef der Miliz als auch die Staatsanwaltschaft drangen auf rascheste Klärung. Die Presse hatte sich bereits zu ausführlich über den Fall ausgelassen. Und nicht die geringste Spur. Das war eigentlich der Grund, weshalb er auf den ziemlich eigenartigen Vorschlag des Mädchens eingegangen war. Wenn andere Wege zu nichts führten, würde vielleicht dieser gangbar sein? Wenn sie wenigstens einen Ansatzpunkt fänden. Außerdem – der Leutnant gestand es sich selbst – blieb der Umstand, daß das Mädchen ihm gefiel, nicht ohne Belang für die nicht alltägliche Entscheidung. Eine breitere Nase oder krumme Beine hätten das Gespräch sicherlich anders verlaufen lassen. Die alte Wahrheit, daß Schönheit und Charme nie schaden können, hatte wieder einmal ihre Bestätigung gefunden. „Der Staatsanwalt wird mir eins draufgeben, wenn er von dieser Hanka erfährt“, sagte er laut, steckte die Akte in die Tasche und machte sich auf den Weg. Der stellvertretende Staatsanwalt Witold Szczerbiński von der Staatsanwaltschaft Szczecin war für den Mordfall 37
in der Buczekstraße zuständig. Er galt als einer der fähigsten Köpfe der gesamten Bezirksstaatsanwaltschaft. Szczerbiński hatte schon so manchen schönen Erfolg zu verbuchen. Daß man ihn auch diesmal eingesetzt hatte, war ein untrügliches Kennzeichen für das große Interesse der Behörden an einer raschen Aufklärung des Verbrechens. Szczerbiński kannte Leutnant Widerski seit langem und war froh, daß gerade dieser Kollege mit der Leitung der schwierigen Ermittlungen betraut worden war. Er hielt den Leutnant, obschon noch jung, für einen klugen Kopf und sprach ihm auch jenen „sechsten Sinn“ zu, ohne den ein Kriminalist nicht auskommt. „Nun, was gibt’s? Etwas Neues, Herr Leutnant?“ Mit diesen Worten begrüßte der Jurist den Offizier der Miliz. „Vorläufig noch nichts.“ Widerski vollführte eine ratlose Geste. „Das ist schlecht. Ich habe heute mehrere Anrufe bekommen. Vom Bezirksstaatsanwalt, dann vom Vorsitzenden des Wojewodschaftsrates. Die Sache hat verdammt hohe Wellen geschlagen.“ „Fast zu hohe“, versetzte der Leutnant. „Was machen Sie jetzt?“ „Ich habe so viele Kriminalisten ausgeschickt, wie ich bekommen konnte. Wir bemühen uns auch, gewisse Informationen auf vertraulichem Wege zu erhalten.“ „Ich fürchte, das führt zu nichts. Ich glaube nicht, daß der Mörder aus der Verbrecherwelt stammt. Ich vermute eher, er ist ein Amateur.“ „Ein gerissener Bursche.“ „Meine ich auch. Ein Berufsverbrecher hätte nicht gemordet. Außerdem hätte er aus der Wohnung alles mitgehen lassen, was nur einen Wert besitzt. Der aber hat nur das Geld genommen.“ 38
„Deswegen ist er auch nur gekommen. Übrigens: man hat mir einen merkwürdigen Vorschlag gemacht“, versetzte der Leutnant. „Heute meldete sich eine Medizinstudentin bei mir, die in demselben Hause wohnt, und trug mir ihre Mitarbeit an.“ Wider Erwarten hörte der Staatsanwalt neugierig zu. „Interessant“, sagte er. „Sie hätten den Vorschlag akzeptieren sollen. In so einem Fall müssen wir alle möglichen Mittel anwenden. Auch welche, die sonst nicht üblich sind.“ „Das habe ich mir auch gedacht, Herr Staatsanwalt.“ Mit Erleichterung stellte der Leutnant fest, daß die Nummer angekommen war. „Deshalb habe ich mit ihr abgemacht, daß sie alles sammelt, was ihr zu Ohren kommt. Sie soll mir täglich Bericht erstatten.“ „Täglich?“ Der Staatsanwalt machte ein erstauntes Gesicht. „Ein Glück, daß sie hübsch ist. Das wird ihr bei der Arbeit helfen.“ „Sie hat wunderhübsche lila Augen. Mit goldenen Fünkchen“, sagte der Leutnant, und da erst merkte er, daß ihn der Staatsanwalt hochgenommen hatte. Er wollte sich auf die Zunge beißen, aber es war zu spät. Der Staatsanwalt lachte. „Nun, da habe ich Sie aber ertappt, Herr Leutnant. Dachte ich mir’s doch, daß Sie sich mit einer alten Schachtel nicht täglich verabreden würden. Sie hat also goldene Fünkchen?“ Widerski war verlegen. „Sie erproben an mir neue Tricks, um sie dann bei der Vernehmung von Verdächtigen anzuwenden. Das tut man nicht.“ „Aber im Ernst, das Mädchen kann uns nützlich sein. Wenn sie gescheit ist, wird sie Leuten, von denen wir nichts erfahren würden, mit dem Klatsch die Neuigkeiten aus der Nase ziehn.“ 39
„Gescheit ist sie wohl. Soll schon einen Dieb in der Schule gefaßt haben.“ „Übrigens müßte man untersuchen, ob sich früher in diesem Bezirk ähnliche Verbrechen zugetragen haben.“ „Ein Mord nicht. Das müßte ich wissen. Und was kleinere Diebstähle betrifft, so habe ich einen von unseren Leuten damit beauftragt, zu ermitteln, was sich im Laufe der letzten fünf Jahre in der Gegend um den Grunwaldzkiplatz ereignet hat. Spätestens morgen kriege ich die Unterlagen. Ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt.“ „Na schön“, konstatierte der Staatsanwalt, „dann bleibt uns nichts weiter übrig, als die Ergebnisse der Untersuchungen abzuwarten.“ „Meine größten Hoffnungen knüpfe ich an unseren Assistenten Maliniak.“ „Maliniak? Noch nie was von gehört.“ „Ein junger Bursche. Ist erst seit zwei Jahren dabei. Aber sehr gescheit. Und ein echter ‚Szczeciner Junge‘. Mit zwölf Jahren lief er einem reichen Bauern davon, der sich des Waisenkindes angenommen hatte, um einen billigen Hütejungen aus ihm zu machen. Der Dreikäsehoch kam nach Szczecin, strolchte im Hafen umher und wäre elend untergegangen, hätte ihn nicht eine Streife aufgegabelt. Auf diese Weise landete Maliniak im Kinderheim Szczecin-Zdroje. Die Erzieher hatten kein leichtes Spiel mit ihm. Einige Male versuchte der Schlingel durchzubrennen. Schließlich hat er sich beruhigt, die Schule zu Ende gemacht und Gefallen am Dienst bei der Miliz gefunden. Heute ist er unser ideenreichster Kriminalassistent. Kennt Hinz und Kunz und steht mit ganz Szczecin auf gutem Fuß. Interessanterweise auch mit Leuten, die er schon so manches Mal hinter Gitter gebracht hat. Den 40
Jungen muß man einfach gern haben. Gestern hat er nun alles hingeworfen, um sich in der Stadt umzutun und Erkundungen zu dem Mord einzuziehn.“ „Genau das, was Ihr Mädchen mit den Fünkchen machen soll.“ „Maliniak ist Experte, Hanka nur Amateur.“ „So nach und nach bekomme ich so einiges aus Ihnen heraus.“ Der Staatsanwalt war stolz auf seine eigene Durchtriebenheit. „Weiß ich doch endlich, daß die Gottheit mit den lila Augen Hanka heißt. Vielleicht erfahre ich auch den Zunamen?“ „Wieder auf den Leim gegangen.“ Der Leutnant faßte es mit Humor auf. „Nun ja, wer A sagt, muß auch B sagen. Also gut, Anna Wróblewska, neunzehnhundertfünfundvierzig geboren, studiert an der Medizinischen Akademie. Ledig, nicht vorbestraft.“ „Trotzdem, diese Hanka muß Ihnen gefallen haben. Sie wissen zuviel über sie.“ Der Leutnant verspürte nicht die geringste Lust, sich über das Mädchen auszulassen. Er fragte den Staatsanwalt nach besonderen Empfehlungen für das Ermittlungsverfahren. Aber der Staatsanwalt hatte auch noch keine Theorie über den Urheber des Verbrechens. Er empfahl lediglich, die Ermittlungen möglichst umfassend zu betreiben und einen möglichst großen Personenkreis daran zu beteiligen.
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VIERTES KAPITEL
Zwei pfiffige Mädchen Hankas erste Versuche, etwas Neues über den Mord zu erfahren, zeitigten kein Ergebnis, obwohl man darüber in den beiden Läden wie in der Bäckerei oder mit den Nachbarn sehr leicht eine Unterhaltung anknüpfen konnte. Die Leute erzählten viel und gern, wußten aber nichts. Einer der Bäckergesellen behauptete, gegen zwölf Uhr Lärm vernommen zu haben, doch hatte er das bereits bei der Vernehmung ausgesagt. Die Miliz hatte daraufhin sogar einen Versuch angestellt. Er war negativ ausgefallen. Es erwies sich, daß laute Schreie, Klopfen und anderer Lärm aus dem Wohnhaus überhaupt nicht zu hören waren. Also ein typischer Fall allzu blühender Phantasie, oder aber der Mann hatte Geräusche von der Straße oder vom Hof vernommen. Natürlich gingen auch Gerüchte um. Im nahe gelegenen Café, das Hanka unter anderem aufsuchte, trug die Serviererin eine blutrünstige Geschichte vor, wie der Mörder die unselige Frau Łucja Rosińska durch die ganze Wohnung getrieben und ihr Stiche mit einem großen, stumpfen Küchenmesser beigebracht habe. Und ein Studienkollege, dem Hanka in der Wielkopolskaallee begegnete, teilte mit, eine ganze Familie sei ermordet worden. Zwar nicht in der Buczekstraße, doch ganz in der Nähe, in der Piastenallee. Bald hatte sich Hanka davon überzeugt, daß das Brot eines Kriminalisten härter ist, als sie angenommen hatte. Über fünfzig Gespräche. Der ganze Tag ging 42
drauf. In ihrem Übereifer hatte sie die Medizinische Akademie sein lassen und war auf Jagd nach Informationen gegangen. Und das Ergebnis gleich Null. Nichts, womit sie bei Roman Widerski hätte aufwarten können. Am nächsten Morgen klingelte Hanka bei Legats. Sie wußte, daß Maria Popiela jeden Dienstag in der Wohnung beschäftigt war. Nach einer Weile waren auch Schritte im Flur zu hören, und die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Aber die Putzfrau ließ die Kette nicht herunter, sie prüfte nur, wer da klingelte. „Ach, du bist es, Haneczka“, rief sie erfreut. „Bitte sehr, komm herein, mein Goldkind.“ Die Kette klirrte, und Hanka stand im Flur. Unwillkürlich blickte sie zur Badezimmertür hinüber. Keine Spur von der Tragödie. Das Parkett glänzte von frischer Bohnerpaste. Ein reinlicher Geruch beherrschte den Flur. „Sie schauen so?“ Maria Popiela war gesprächig. „Ja, an dieser Stelle hatte die Ärmste gelegen. Hielt das Händchen unterm Kopf. Es sah aus, als ob sie schlief.“ Hanka schüttelte sich bei der makabren Schilderung. „Sie haben sie gesehen?“ „Um Himmels willen!“ Die Putzfrau war empört. „Ich könnte nicht mehr schlafen und hätte Angst, allein in dieser Wohnung zu bleiben. Als ich zu den Herrschaften kam, war die Unglückselige schon weg. Das Begräbnis findet morgen um elf Uhr statt, mein Schätzchen, auf dem Friedhof ‚Zur Sonne‘. Daß ihr das zustoßen mußte! Vielleicht lebte sie noch, wenn sie diese Besorgungen nicht gemacht hätte.“ „Was für Besorgungen?“ fragte Hanka erstaunt. Ihr war über die letzten Augenblicke Frau Łucja Rosińskas nichts bekannt. 43
„Als Frau Rosińska in Szczecin angekommen war, ging sie gleich zu ihrer Tochter in die Schule und auf dem Rückweg in den Feinkostladen Ecke Jagiellónskastraße. Dort kaufte sie zum Sonntag ein Huhn, Würstchen, Butter und Nudeln.“ „Und Nudeln“, wiederholte Hanka unwillkürlich. „Eben, mein Goldkind, Nudeln. Eiernudeln. Alles hat sie mitgebracht und in der Küche auf den Tisch gelegt. Als ich kam, lag das noch so da. Gut, daß dieser gemeine Kerl wenigstens das nicht angerührt hat.“ „Warum?“ „Ja, hatte denn die Frau Ingenieur noch Sinn für den Hunger ihrer Kinder? Erst als ich kam und alles auf dem Tisch fand, habe ich die Nudeln gekocht und sie den armen Kleinen gegeben. Und die Würstchen auch. Wer sollte es sonst tun?“ „Richtig“, sagte Hanka ernst. „Sie haben alles aufgegessen, obwohl Michaś, der jüngste, sonst so pingelig ist. Aber ich habe ihnen ja auch Tomatensoße dazu gemacht. Eine Dose Tomatenmark und eine Flasche Sahne standen im Kühlschrank. Die junge Frau weinte nur immer und sagte: ‚Machen Sie, was Sie wollen, Maria.‘ Und der Herr war so bleich wie eine Oblate.“ „So ein Unglück, und dazu der große Verlust.“ „Ja, eben“, pflichtete Frau Popiela bei. „Das ganze Geld hatte der Schuft mitgenommen. Alles, was der Herr Ingenieur für sein Auto bekommen hatte.“ „Er muß es genau gewußt haben.“ „Woher bloß? Die jungen Leute hatten niemandem davon erzählt. Ich räume ja jeden Dienstag und Freitag hier auf und habe kein Sterbenswörtchen gehört. Er wußte es aber und wußte auch, wo er es suchen sollte.“ 44
„Und warum würde Frau Rosińska noch heute leben, wenn sie die Besorgungen nicht gemacht hätte?“ „In dem Feinkostladen sind immer viele Leute. Bestimmt hat sie sich einer beim Anstellen aufs Korn genommen und ist ihr gefolgt.“ „Vielleicht.“ Hanka wollte sich mit der Putzfrau nicht in einen Streit einlassen, obgleich ihr diese Theorie wenig wahrscheinlich schien. Wenn der Halsabschneider Frau Rosińska aus dem Laden gefolgt wäre, hätte sie ihn doch nicht in die Wohnung zu lassen brauchen. Abgesehen davon, daß ein wildfremder Mensch von dem Geld nichts wissen konnte. „Wer es getan hat, muß den Moment gut gewählt und muß gewußt haben, zu wem er geht“, bemerkte die Studentin. „Bestimmt hat er ihn gut gewählt“, räumte Frau Popiela ein. „Laufen denn wenige herum und spionieren? Ich halte meine Augen offen. In diesem Hause und auch anderswo, wo ich aufräume. Da treiben sich welche herum und schauen nur, wohin sie später kommen und stehlen oder, Gott behüte, auch morden können.“ „Sie meinen also, daß auch hier herumspioniert wurde?“ „Natürlich“, bestätigte die Putzfrau, „sogar noch am Freitag.“ „Am Freitag?“ Hanka wurde tatsächlich neugierig. „War das nicht einen Tag vorher? Am Sonnabend geschah doch das alles.“ „Am Freitag, mein Schätzchen. Ich räumte so wie heute auf. Wie ich dabei bin, das Parkett im Schlafzimmer einzureiben, höre ich es klingeln. Ich gehe zur Tür und schließe auf. Aber die Kette lasse ich dran. Ich schaue, da stehen zwei Mädchen. Sind sogar höflich. Machen einen Knicks und sagen: ‚Haben Sie vielleicht Flaschen oder 45
Altpapier oder Apfelsinenschalen?‘ Auf dem Klubtisch im Arbeitszimmer beim Herrn Ingenieur liegen immer alte Zeitungen herum. Ein ganzer Stoß. Niemand braucht sie. Also sag ich zu den beiden: ‚Wartet mal‘ und hole sie. Etwa zwei Kilo. Sie bedanken sich höflich, mit Knicks, und gehen. Ich räume weiter auf. Habe auch im Eßzimmer eingerieben. Dann wische ich im Arbeitszimmer nach und geh’ ins Schlafzimmer, weil da das Parkett schon trocken ist. Ich gebe immer etwas Lösungsmittel in die Paste. Sie zieht besser ein und trocknet schnell. Da kommt Frau Legat herein und fragt: ‚Frau Maria, was haben die Zeitungen vor unserer Tür zu suchen?‘ Stellen Sie sich vor, Hania, die Rotznasen hatten das ganze Papier vor die Schwelle geworfen, als ich die Tür zugemacht hatte. Wozu waren sie gekommen, wenn nicht, um zu spionieren?“ „Und wie sahen die Mädchen aus?“ „Ganz gewöhnlich, wie eben Kinder. Zwölf Jahre alt. Die eine etwas größer als die andere.“ „Blond oder schwarz?“ „So genau habe ich sie mir nicht angesehen. Dazu habe ich zuviel zu tun. Sicher hatten sie was auf dem Kopf. Die größere trug einen grünen Mantel. Die andere vielleicht einen grauen. Ich weiß es nicht mehr.“ Hanka versuchte, durch geschickte Fragen weitere Einzelheiten über den Besuch der beiden Mädchen zu erfahren, hatte aber damit keinen Erfolg, und so wechselte sie schnell das Thema. „Sie haben jetzt viel Arbeit“, stellte sie fest. „An Arbeit fehlt’s nie. Drei Kinder. Und jedes schmutzt ein. Die meiste Schererei macht das Parkett. Frau Legat hat es gern, wenn’s überall blitzt und blinkt. Gut, daß wenigstens der Herr Ingenieur vergangenes Jahr eine Bohnermaschine gekauft hat.“ 46
„Dieser Raubmörder soll alles aus den Schränken gefeuert haben?“ „Alles, mein Schatz. Er hat das Geld gesucht. Und gefunden hat er’s in den Büchern, im Arbeitszimmer. Soll ich’s Ihnen zeigen?“ „Ich weiß nicht, ob das dem Herrn Ingenieur lieb wäre.“ „Warum nicht? Sie sind ja hier fast wie zu Hause. So viele Jahre kommen Sie schon zum Telefonieren oder zum Fernsehen.“ Die Putzfrau öffnete die Tür zum Arbeitszimmer. Die Bücher standen wieder in den Regalen. Der Schreibtisch zeigte Spuren gewaltsamer Beschädigung. „Hier war das Geld.“ Maria Popiela deutete auf die Bücher im linken Regal. „Aber das Buch, in dem der Herr Ingenieur das Vermögen versteckt hielt, hat die Miliz mitgenommen. So ein Verlust. Der Herr Ingenieur sagt, es seien sechsundachtzigtausend Złoty gewesen.“ Noch einige Minuten hörte sich Hanka den Bericht der braven Frau an. Aber als sie sah, daß nichts Neues dabei herauskam, verabschiedete sie sich und klingelte etwas später gegenüber bei der Familie Deubel. In der Tür stand der Wohnungsinhaber. „Guten Tag, Fräulein Haneczka. Womit kann ich dienen?“ „Mir ist da etwas Dummes passiert. Am Freitag haben zwei Mädchen bei uns Altpapier gesammelt. Meine Mutter hat ihnen verschiedene Zeitungen gegeben, ohne zu merken, daß sich dazwischen eines meiner Lehrbücher befand. Es hat nicht viel gekostet, aber es ist nirgends mehr zu bekommen. Ich suche die Mädchen, um zu erfahren, was sie mit dem Altpapier gemacht haben. Leider kenne ich sie nicht. Vielleicht weiß jemand von Ihnen, wo sie wohnen?“ 47
„Bitte, treten Sie näher. Wir werden das gleich feststellen. Danusia, komm doch bitte mal.“ In der Tür erschien ein sympathisches junges Mädchen, etwas jünger als Hanka. Sie kannten sich übrigens ganz gut von der Schule. Hanka war nur zwei Klassen höher gewesen. Danusia hatte elektrotechnische Lehrgänge besucht und arbeitete beim Fernsehen. „Waren am Freitag zwei Mädchen bei uns, die Altpapier gesammelt haben?“ fragte der Vater. „Sie haben aus Versehen ein Lehrbuch von Fräulein Hania mitgenommen.“ „Ja. Ich habe ihnen zwei Flaschen gegeben, die aus der Speisekammer, Papa …“ „Kennst du sie?“ Der Herr des Hauses hielt es für angezeigt, die allzu ausführlichen Erläuterungen seiner Tochter zu unterbrechen. „Sie wohnen hier irgendwo in der Nähe. Ich habe sie oft in der Buczekstraße und in der Jagiellónskastraße gesehen. Die größere trägt meist einen grünen Mantel und heißt Irka. Ich glaube, sie gehen in unsere Schule. Ich bin ihnen einmal begegnet, als sie mit Büchern aus dieser Richtung kamen.“ „Altpapier hast du ihnen nicht mitgegeben?“ „Nein, nur Flaschen. Und welches Lehrbuch fehlt dir?“ fragte Danusia. „Über innere Medizin“, log die Studentin. „Bücher hatten sie nicht. Überhaupt keine Makulatur“, konstatierte das Mädchen. Hanka klapperte sämtliche Wohnungen in diesem Treppenaufgang ab. Die Mädchen hatten überall geklingelt und um alte Zeitungen, Flaschen und Apfelsinenschalen gebeten. In drei Wohnungen hatte sich die gleiche Geschichte wiederholt. Das Altpapier hatten die Mädchen hinter der Tür weggeworfen. 48
„Die sollen mir noch mal unter die Augen kommen“, drohte Frau Sosnowska. „Da sammelt man das Papier, bewahrt es auf, verschnürt noch das Paket, und die werfen alles weg.“ „Sie kennen sie?“ „Das nicht, aber ich weiß, daß die ältere in der Jagiellónskastraße wohnt. In dem Haus, in dem sich der Kommissionsladen befindet. Ich sehe sie manchmal dort herauskommen.“ Jaś wohnte in der Jagiellónska in der Nähe dieses Hauses. Und Krystyna leitete eine Pfadfindergruppe in ihrer früheren Schule. Unter einem Vorwand konnte sie also im Sekretariat der Schule den Zunamen des Mädchens erfahren, das Irka hieß, einen grünen Mantel trug und in dem Hause wohnte, in dem sich auch das Kommissionsgeschäft befand. Gleich am nächsten Tage wollten sich Jaś und Krysia voller Begeisterung ins Vergnügen stürzen. Jaś versprach, gegen acht vor dem Schaufenster des Ladens zu warten und dem Mädchen zu folgen, wenn es das Haus verlasse, um festzustellen, ob es wirklich in die genannte Schule ging. Als Hanka der traurigen Feierlichkeit auf dem Friedhof beiwohnte, überlegte sie, ob es wohl stimmen mag, daß der Mörder an den Ort seines Verbrechens zurückkehre oder an der Beerdigung seines Opfers teilnehme. Frau Rosińska wurde auf ihrem letzten Weg von ihrer Familie, von etlichen Nachbarn aus dem Haus in der Buczekstraße, von ein paar Freunden ihres Schwiegersohns und von einigen Kollegen aus Goleniów begleitet. Auch eine Delegation aus der Schule, in der Frau Rosińska bis zum letzten Tage unterrichtet hatte, war da. Auf dem Rückweg 49
zur Straßenbahn mußte sich Hanka erneut die Geschichte des Verbrechens aus dem Munde von Frau Popiela anhören, einschließlich der Sache mit den Würstchen und den Makkaroni in Tomatensoße. Erstaunt stellte sie fest, daß der Klempner, ein großer blonder Mann, der in ihrem Hause die sanitären Einrichtungen instand hielt und die Zentralheizung regulierte, Frau Popielas Ehemann war. Sowohl ihn als auch die Putzfrau kannte Hanka mindestens seit fünf Jahren. Aber nie hatte sie beide zusammen gesehen, erst jetzt, anläßlich dieses Begräbnisses. Weder Hanka noch der Ehemann vermochten mehr als ein paar Worte in den Monolog der geschwätzigen Frau zu werfen. Krysia und Jaś warteten bereits ungeduldig. Sie hatten Erfolg gehabt. Krysia hielt Hanka stolz ein Stück Papier unter die Nase. Darauf stand:, „Irena Białas. Vater Henryk Białas. In der Vulkan-Werft beschäftigt.“ Jaś prahlte damit, daß er schon seit sieben vor dem Haus in der Jagiellónskastraße gelauert habe und dem Mädchen bis zur Schule gefolgt sei. Er habe sogar beobachtet, welche Klasse sie betrat. Mit diesen Angaben konnte Krysia mühelos im Sekretariat das übrige feststellen. Sie tat das unter dem Vorwand, daß Irka in die Pfadfinderorganisation eintreten wolle. „Die Białas eine Pfadfinderin?“ Die Sekretärin war erstaunt. „Die schlimmste Herumtreiberin, die wir in der Schule haben. Kein Monat vergeht, wo ich nicht eine Vorladung an die Eltern schreiben muß. Letztens hörte ich, sie soll mit einem ähnlichen Früchtchen aus einer anderen Schule herumlaufen, bei Leuten klingeln und betteln.“ „Sie sammelt angeblich Altpapier“, sagte Krysia. 50
„Ausgerechnet. Noch nie hat sie bei einer Sammelaktion eine Zeitung zur Schule gebracht. Das dürfen Sie nicht glauben. Es dauert nicht lange, und sie fängt an zu stehlen.“ „Eben darum wollen wir uns damit befassen.“ Krysia beschloß, sich tatsächlich Irka zu widmen. Vielleicht konnte sie noch helfen. „Viel Erfolg, aber ich bin da anderer Ansicht.“ Frau Jadwiga war Pessimistin und glaubte nicht an die wundersame Bekehrung verirrter Schäflein. Pünktlich um drei Uhr nachmittags betrat Hanka Wróblewska Leutnant Widerskis Zimmer. „Ich begrüße unsere neue Mitarbeiterin.“ Mit diesen Worten empfing sie der Kriminalist. „Was gibt’s? Haben wir schon die Personalien des Täters? Ihrer triumphierenden Miene ist allerhand abzulesen, Fräulein Hanka.“ „Das Lachen wird Ihnen schon vergehen, Herr Leutnant. Ich komme nicht mit leeren Händen.“ Der Leutnant unterbrach die Schilderung des Mädchens nicht. Manche Einzelheit ließ er sich sogar wiederholen, um sie zu notieren. Er lobte Hankas Rührigkeit und bat um weitere Zusammenarbeit. „Also, dann bis morgen um die gleiche Zeit.“ Nachdem das Mädchen gegangen war, rief er den Staatsanwalt an, um ihm mitzuteilen, daß er mit Neuigkeiten aufzuwarten habe. In der Staatsanwaltschaft wiederholte er den Bericht der Studentin. „Sie hatten da einen guten Riecher“, räumte Szczerbiński ein. „Eine erstklassige Nachricht. Zweifellos ging der Mörder auf Nummer Sicher und wollte vorher das Terrain sondieren. Zwei pfiffige Mädchen wären recht gut für diese Rolle geeignet. Niemand verdächtigt sie, sie können überall hin, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu 51
lenken. Aus der Praxis wissen wir, daß sich Verbrecher manchmal irgendwelcher Kinder als Kundschafter bedienen.“ „Um so mehr, als der Vater des einen Mädchens bei Ingenieur Legat auf dem ‚Vulkan‘ arbeitet. Dort kann er vom Verkauf des Autos und von dem Geld, das in der Wohnung aufbewahrt wurde, erfahren haben.“ „Diese Schlußfolgerung mag vielleicht zu weit gehen.“ Der Staatsanwalt war mit der Formulierung von Verdächtigungen zurückhaltend. „Wenn das Mädelchen wirklich so ist, wie die Schulsekretärin sie schildert, dann hat sie eher für einen Ganoven gearbeitet, den sie zufällig kennengelernt hatte. Auf jeden Fall muß die Spur genau verfolgt werden.“ „Wenn man es recht besieht“, sagte der Leutnant, „ist unsere kleine Studentin nicht auf den Kopf gefallen. Sie macht alles auf eigene Faust und hat nicht nur aus der Putzfrau bereits einiges herausgeholt, sondern auch noch das Mädchen ausfindig gemacht. Sie stammen alle aus dem gleichen Bezirk, Herr Staatsanwalt, und kennen sich untereinander, haben also auch ein starkes Solidaritätsgefühl. Selbst wenn Fräulein Wróblewska das nicht gesagt hat, bin ich sicher, daß sie die Hilfe anderer junger Leute in Anspruch genommen hat.“ „Das schadet nichts, Herr Leutnant.“ „Man muß aber wirklich überlegen, warum die Mädchen das Altpapier gleich auf der Treppe weggeworfen haben. Von ihrer Seite war das unvorsichtig.“ „Sie dürfen nicht vergessen, Herr Leutnant, daß das im Grunde noch Kinder sind. Jemand hat sie zu der Sammelaktion überredet oder sogar angeworben, hat aber nicht alle Umstände voraussehen können. Papier ist schwer, und die jungen Mädchen wollten es nicht 52
schleppen. Sie hatten keine Anweisung erhalten, das Papier anderswo wegzuwerfen. Ein Erwachsener hätte es nicht getan. Er hätte die Pakete mitgenommen. Sein Verhalten hätte dann nicht den Argwohn der braven Frau Popiela erweckt, und wir hätten nichts davon erfahren. Um so schlimmer für sie, um so besser für uns. Und wie ist das mit den Fünkchen?“ „Welche Fünkchen?“ „Sie haben doch erzählt, sie wären lila oder vielleicht auch golden.“ „Sie wollen sich wieder über mich lustig machen, Herr Staatsanwalt.“ „Was heißt ‚wieder‘!“ „Wer zuletzt lacht, lacht am besten.“ „Ich sehe, daß Sie noch etwas in petto haben, Herr Leutnant. Oder irre ich mich?“ „Wir haben auch nicht auf der Bärenhaut gelegen, Herr Staatsanwalt. Auch wir können uns eines kleinen Erfolges rühmen. Vielleicht noch kein echter Erfolg, aber wenigstens der Ansatz dazu. Vorläufig noch nichts Konkretes, aber ein gewisser Anhaltspunkt.“ „Eine andere Spur als die der beiden kleinen Mädchen?“ „Wohl eine ganz andere, obwohl sie mit derselben Person verknüpft ist.“ „Begreife ich nicht.“ „Mit Hanka Wróblewska.“ „Verdächtigen Sie sie etwa auch?“ „Der Ausdruck ist vielleicht zu stark, obwohl man es nicht ausschließen kann.“ „Warum hat sie dann der Miliz ihre Mitarbeit angetragen?“ „Das weiß ich nicht“, gestand der Leutnant offen, „jedenfalls führen wir entsprechend Ihrer Empfehlung die 53
Ermittlungsarbeit in allen möglichen Richtungen. Eine führt zur Wróblewska oder berührt sie zumindest in gewisser Weise. Sie sehen, Herr Staatsanwalt, daß mich die lila Augen nicht ganz und gar verhext haben.“ „Sehr geheimnisvoll, Herr Leutnant. Aber was Sie sagen, ist wirklich interessant. Ein wenig begreife ich es schon.“ „Ich weiß einfach noch nichts Genaues. Die Spur ist vielleicht falsch und führt in die Sackgasse. Vielleicht kann ich Ihnen morgen schon einen genauen Bericht über meine Schritte geben, die ich natürlich nach Verständigung meiner Vorgesetzten unternommen habe. Wer weiß, ob ich Sie nicht um einen Haftbefehl gegen einen jungen Menschen ersuchen werde.“ „Hat euer wundertätiger Kriminalassistent, das ‚Szczeciner Kind‘, etwas herausbekommen?“ „Ja! Es ist das Verdienst Adam Maliniaks. Ich habe mit Recht gesagt, daß ich auf ihn am meisten zählen kann. Vielleicht hat der Junge Glück gehabt, möglicherweise ein Treffer wie im Lotto.“ „Ich wäre sehr froh, wenn sich eine von diesen Spuren als richtig erwiese. Eigentlich möchte ich jedoch an die Aufrichtigkeit dieser Studentin glauben.“ „Ich auch. Morgen müßte ich alles wissen.“ „Schon oder erst?“ Das war eine Fangfrage. „Wir haben die Festnahme eines jungen Mannes verfügt, der uns vorgeführt werden soll. Vorläufig ist er ernsthaft belastet. Aber wir müssen ihn erst finden. Wir wissen, daß er sich nicht in Szczecin aufhält. Ich nehme an, daß seine Adresse in diesem Augenblick schon bekannt und er sogar festgenommen ist, so daß Sie morgen mit ihm sprechen können. Wenn der Bursche nicht ein überzeugendes Alibi nachweisen kann, ist er Kandidat 54
Nummer eins für die Anklage. Wie Sie sehen, Herr Staatsanwalt, mache ich kein Geheimnis draus, aber es ist noch zu früh, um Einzelheiten zu enthüllen. Wir möchten uns nicht durch einen Blindgänger blamieren.“ „Und wenn es doch ein Blindgänger wird?“ „Dagegen kann man nichts machen. Dann gebe ich’s eben zu. Vorläufig möchte ich keine allzu großen Hoffnungen erwecken.“ „Also bis morgen.“ Mit diesen Worten verabschiedete Staatsanwalt Szczerbiński den Kriminalisten.
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FÜNFTES KAPITEL
Die Fährte des Maliniak Kriminalassistent Adam Maliniak beschloß, in ähnlicher Weise vorzugehen wie Amateurkriminalistin Hanka Wróblewska. Er erkannte jedoch, daß Besuche bei den Hausbewohnern erfolglos bleiben würden, da die Leute davor zurückschreckten, sich einem Unbekannten anzuvertrauen. Anders verhielt es sich natürlich mit zufälligen Unterhaltungen in Cafés, Gaststätten, Bierlokalen oder Einkaufszentren. Seit Sonntag kreiste denn Maliniak auch unermüdlich um den Grunwaldzkiplatz und den Odrodzeniaplatz. In jedem der dortigen Cafés trank er wenigstens eine Tasse Kaffee. In einem Bierlokal stand er zwei Stunden lang vor ein paar Bierseideln herum und spielte mit Erfolg den Betrunkenen. In anderen Gaststätten riskierte der Kriminalassistent sogar, Bigos, die Spezialität des Hauses, und ein Gläschen Wodka zu bestellen. So eine Aktion setzt eine eiserne Gesundheit voraus, aber Maliniak war ja jung und von geradezu unerschrockenem Mut. Dennoch war er ziemlich erschöpft, als er sich Dienstag nachmittag an den Zeitungskiosk Ecke Buczekstraße und Odrodzeniaplatz lehnte. Das Bier gluckste in seinen Därmen, und die „Spezialität des Hauses“ verriet immer mehr die Neigung, rasch wieder ans Tageslicht zu treten. Er kaufte eine Zeitung, stützte sich auf das Ladenbrett am Kiosk und wartete darauf, daß ihm besser werden sollte. „Was lungern Sie hier herum?“ fragte schließlich die Verkäuferin. „Betrunken?“ 56
„Warum gleich betrunken? Ich schnappe ein bißchen frische Luft. Solange das nichts kostet. Auch schau’ ich mir das Haus an“, Maliniak deutete auf Buczekstraße Nummer neunzehn, „und muß an diesen Kerl denken. Einen Haufen Geld eingesackt. Hundertfünfzigtausend!“ „Ach wo, bloß sechsundachtzigtausend“, berichtigte die Verkäuferin. „Hundertfünfzig.“ Der Kriminalassistent blieb hartnäckig. „Wenn ich Ihnen doch sage, daß es sechsundachtzig waren! Ich weiß es besser. Es hat sich doch fast vor meinen Augen abgespielt. Herr Legat kauft seine Zeitungen immer bei mir. Sogar den ‚Przekrój‘ und die ‚Kulisy‘. Ein guter Kunde. Keiner von denen, die man gerade den ‚Kurier‘ nehmen und dann eine geschlagene Stunde herumstehen.“ Maliniak tat, als habe er die Anspielung nicht verstanden. „Sechsundachtzig Mille, eine hübsche Stange Geld. Hatte unverschämtes Glück, der Bursche.“ „Schurke. Eine unschuldige Frau umzubringen.“ „Sie könnten zu Geld kommen, wenn Sie besser hinsehen würden. Einer von der Miliz hat mir gesagt, daß eine Belohnung für die Ergreifung des Täters ausgesetzt werden soll. Zehntausend Zloty. Sie könnten das brauchen. Sitzen im Kiosk, sehen alles, was sich auf der Straße abspielt, und schon haben Sie die Pinke in der Tasche. Sie haben’s gut.“ „Was soll ich gesehen haben? Nichts habe ich gesehen, er hat sie doch in der Wohnung ermordet.“ „In der Wohnung?“ fragte Maliniak erstaunt. „Die Leute sagen, auf der Straße. Vor der Haustür soll er der Frau mit einem schweren Gegenstand eins auf den Kopf 57
gegeben und sich die Tasche mit dem Geld geschnappt haben.“ „Was sich die Leute nicht alles ausdenken. Die Ärmste wurde zu Hause umgebracht. Sie hat den Mörder selbst hereingelassen. Und das Geld war in einem Buch versteckt. Sechsundachtzigtausend in einem dicken Buch.“ „Ein echtes ‚Kapital‘.“ Diesmal begriff die Zeitungsverkäuferin das Wortspiel nicht. „Na klar, ein Kapital. Herr Legat hatte sein Auto verkauft und wollte sich ein anderes kaufen.“ „Dann wird er jetzt Straßenbahn fahren müssen.“ „Sie haben gut lachen. So ein Verlust. Und die Schwiegermutter tot.“ „Kein Unglück, welches nicht auch seine gute Seite hätte.“ „Junger Mann!“ Die Verkäuferin, sicherlich schon Schwiegermutter, fühlte sich bei derartigen Witzen unbehaglich. „Hat man so was gesehen! Machen Sie bloß, daß Sie hier wegkommen!“ „Ich könnte die zehntausend brauchen.“ Maliniak merkte, daß er den Bogen überspannt hatte. „Ich auch. Wer braucht kein Geld?“ „Der, der die sechsundachtzigtausend eingesackt hat. Aber wie ihn finden?“ „Das ist es ja. Sie müssen das raffiniert anstellen.“ „Ich? Nein, Sie.“ „Was, ich? Mann, lassen Sie mich endlich in Ruhe.“ Maliniak hatte nicht die geringste Absicht, den Wunsch der Kioskdame zu befolgen. Im Gegenteil, er beugte sich zu ihr und flüsterte vertraulich: „Wenn Sie hier so den ganzen Tag sitzen, müssen Sie vor dem Haus oder auf der Straße doch etwas gesehen haben. Der da morden kam, ging bestimmt nicht aufs Geratewohl. Er 58
hat sich zum Beispiel die Tür genau ausgesucht, an der er klingeln wollte.“ „Natürlich hat er sie sich ausgesucht.“ „Das ist es eben. Und hat hier vorher oder am Tage des Mordes herumgelungert. Auf der Straße. Vielleicht hat er sogar am Kiosk gestanden, so wie ich jetzt. Man braucht bloß mal nachzudenken, und es kann dabei ein schöner Happen Geld herausspringen.“ „Wirklich?“ fragte die Verkäuferin neugierig. „Wenn ich’s Ihnen doch sage. Ich hab’s von einem Oberwachtmeister, und ein Oberwachtmeister schwindelt nicht. Zehntausend Złoty.“ „Aber ich habe ja nichts gesehen“, sagte die Frau bekümmert. „Sind hier nicht vorher irgendwelche verdächtige Typen aufgekreuzt?“ „Nein. Das hier ist eine ruhige Straße. Im Sommer geht’s vor der Bierstube manchmal lauter zu. Aber jetzt, im November? Und die Zeitungskunden sind immer die gleichen.“ „Aber an dem Tage, als der Mord geschah?“ Maliniak wollte sich nicht geschlagen geben. „Am Sonnabend?“ Die Frau versuchte sich zu erinnern. „Da hat es geregnet und geschneit. Den ganzen Sonnabend und Sonntag. Ich konnte kaum durch die Scheibe sehen.“ „Vielleicht doch? So gegen elf?“ „Moment …“ Die Verkäuferin lebte auf. „Am frühen Morgen hat hier der … na der, der immer mit dem Mädchen ging, gestanden.“ „Mit einem Mädchen aus diesem Haus?“ „Ja. Eine Studentin, ziemlich groß. Sie wohnt bei ihrer Mutter. Wenn die Mutter früh ins Büro ging, schlich er 59
sich gleich nach oben. Aber dann habe ich ihn lange nicht mehr gesehen. Sicher ein paar Monate oder noch länger.“ „Und am Sonnabend war er wieder da?“ „Ja. Ich entsinne mich genau. Schon vor acht.“ „Betrat er das Haus?“ „Eben nicht. Sonst hätt’ ich ihn nicht erkannt. Dieses Hundewetter, und er spaziert auf der anderen Straßenseite. Den Mantelkragen hochgeklappt. Zugegeben, er war anständig angezogen. Der Mantel neu, sicherlich aus dem Ausland.“ „Ist er lange so herumspaziert?“ „Eine halbe Stunde etwa, vielleicht auch länger. Dann hat ihm wohl der Mantel leid getan, weil er naß wurde. Er stellte sich im Haustor unter!“ „Nummer neunzehn?“ „Nein, gegenüber. Ich passe zwar nicht auf. Was gehen mich anderer Leute Töchter und ihre Kavaliere an! Aber jedesmal, wenn ich dorthin schaute, habe ich ihn da stehen sehen.“ „Immer in dem Tor?“ „Ja.“ „Und hinterher? Hat er da das Haus betreten?“ „Dann war er verschwunden. Welches Haus er betreten hat, weiß ich nicht. Das junge Fräulein habe ich auch nicht gesehen. Es schneite immer mehr, und ich habe mich für die beiden nicht weiter interessiert.“ Die Belohnung, von der Maliniak gesprochen hatte, existierte natürlich nur in seiner Phantasie, und so beschloß er, sich zurückzuziehen. Schlimm, wenn ihn die Verkäuferin beim Wort genommen und sich in der Kommandantur der Miliz gemeldet hätte. „Ich denke“, sagte er, „der junge Mann hat auf sein 60
Mädchen gewartet. Die Mutter war zu Hause, und er wollte nicht nach oben gehen. Und das Mädchen war um acht mit ihm verabredet und ging, wie alle Mädchen in so einem Fall, erst um neun nach unten.“ „Bestimmt. Über zwei Jahre hat er um diese Hanka herumscharwenzelt. Die alte Wróblewska klagte manchmal, er habe dem Mädel den Kopf verdreht, aber sie, die Mutter, ahne, daß nichts daraus würde.“ „Und sonst haben Sie niemanden gesehen? Denken Sie einmal nach.“ „Nichts. Das Wetter war doch so schlecht. Die Leute rannten, was sie konnten, über die Straße, ohne stehenzubleiben, ohne eine Zeitung zu kaufen. Ich habe gestrickt. Ein Mützchen für meinen Enkel. Besonders aufgepaßt habe ich nicht.“ Als der Kriminalassistent den Kiosk verließ, kannte er bereits Vor- und Zunamen der Studentin, die der Unbekannte besucht hatte. Schwieriger war es, den Namen des jungen Mannes festzustellen. Um nicht das Mißtrauen der Dame im Kiosk herauszufordern, entfernte sich Maliniak in Richtung Grunwaldzkiplatz. Dort bog er in die Allee der Nationalen Einheit ein und später in die Wielkopolskaallee. Auf diese Weise schlug er einen Bogen und gelangte über die Masurskastraße zur Buczekstraße Nummer neunzehn. Von der anderen Seite. Das Haus, das durch seinen repräsentativen Vordereingang von der Buczekstraße imponierte, hatte in der Masurskastraße eine Hofeinfahrt. Dort befand sich auch die Hauswartswohnung. Der Kriminalassistent klopfte und trat ein. Der Hauswart, eine etwas heruntergekommene Dame der höheren Jahrgänge, kochte gerade Mittag. Maliniak gelangte zu dem Schluß, daß er hier nicht diplomatisch vorzugehen brauchte. Diese Person mußte 61
häufig mit der Miliz zu tun haben, sei es auch nur mit dem Abschnittsbevollmächtigten, und es lag in ihrem Interesse, zu dieser Institution gute Beziehungen zu unterhalten. Es gibt kein Haus, das so gut in Schuß wäre, daß ein Abschnittsbevollmächtigter nicht Mängel an ihm feststellen könnte. Um so mehr hier, wo das Bierlokal war. Nachdem sich der Kriminalassistent ausgewiesen hatte, erkundigte er sich unverblümt nach der Familie Wróblewski. Er erfuhr, daß die Witwe mit ihrer Tochter ein Zimmer mit Küche im vierten Stock bewohne. Nach Ansicht der Hauswartsfrau waren es ruhige Mieterinnen, mit denen es keine Scherereien gab. „Hat die junge Wróblewska einen Verlobten?“ fragte der Kriminalist. „Und was für einen!“ entgegnete die Frau empört. „Hat sich von ihm verrückt machen lassen. Dummes Ding. Wäre ich ihre Mutter, mit dem Besenstiel hätť ich den Liebhaber vertrieben. Aber Frau Wróblewska hat immer nur den Nachbarn ihr Leid geklagt, dem Töchterchen gab sie in allem nach, weil’s ein ‚Waisenkind‘ sei. Ich habe der Wróblewska immer gesagt, das gibt noch mal ein Unglück.“ „Ist er auch Medizinstudent?“ „Nein, Ingenieur. Als er mit dem Studium fertig war, vergangenes Jahr im Winter, bekam ihn Hanka nicht mehr zu sehen. Mit verweinten Augen lief sie herum, und die junge Deubel, die jünger, aber schlauer ist, weil sie alle jungen Männer nach ihrer Pfeife tanzen läßt, nannte sie ‚trauernde Witwe‘. Das ganze Haus hat sich eins gelacht.“ „Aber er kommt doch noch zu ihr?“ „I wo! Kein einziges Mal. Nicht mal zu ein paar Zeilen 62
hat es gereicht. Vorher kamen immer Briefe, wenn er in die Ferien fuhr. Wenigstens einmal die Woche. Per Einschreiben! Der Briefträger läßt die eingeschriebenen nämlich immer bei mir, wenn niemand in der Wohnung ist. Hanka kam täglich zu mir und fragte: ‚Frau Adamczyk, ist Post für mich da?‘ Jetzt kommt sie nicht mehr, das arme Ding. Bestimmt hat er schon eine andere, die hübscher ist und mehr Geld hat. Was können die Wróblewskis schon bieten. Die Miete, da kann ich nicht klagen, die zahlen sie pünktlich, aber sie haben ja nicht einmal einen Fernsehapparat.“ Maliniak unterbrach den Monolog seines Gegenübers nicht. Er wußte aus eigener Erfahrung, daß man am meisten erfährt, wenn man die Leute reden läßt. Eifrig hörte er zu und prägte sich die Einzelheiten, die ihn interessierten, gut ein. „Und wohin ist der junge Ingenieur verzogen?“ „Irgendwo nach Śląsk.“ „War er von hier?“ „Nein. Er hat im Studentenheim gewohnt. Einmal erzählte mir Hanka, daß sein Vater ein Sägewerk in der Nähe von Koszalin leite.“ „Und wie heißt er?“ „Andrzej … den Zunamen habe ich vergessen.“ „Wann hat er sein Studium an der Technischen Hochschule beendet?“ „Mitten im Winter. Seine Leistungen waren gut. Aber Hanka ist auch nicht schlecht. Die alte Wróblewska hat mir oft gesagt: ‚Was soll ich mich bei den jungen Leuten einmischen. Wenn Hanka bloß immer so gut lernt wie jetzt‘.“ Dann fuhr Maliniak zur Technischen Hochschule und ermittelte, daß der Gesuchte Andrzej Banaszkiewicz 63
hieß. Er hatte ein von der Eisenhütte „Batory“ in Śląsk gestiftetes Stipendium bezogen und nach Beendigung des Studiums dort eine Arbeit aufgenommen. Sein ständiger Wohnsitz war eine Kleinstadt in der Wojewodschaft Koszalin. Außerdem stellte der Kriminalassistent fest, daß Banaszkiewicz in keinem der Szczeciner Hotels gemeldet gewesen war. Er hatte sich also entweder bei Bekannten aufgehalten oder war nur einen Tag, vom Morgen- bis zum Abendzug, in Szczecin gewesen. Was hatte er in der Hafenstadt gesucht? War er gekommen, um sich mit Hanka zu treffen? War er in das tragische Geschehen in der Legat-Wohnung verwickelt? Auf diese Frage wußte Maliniak keine Antwort. Übrigens suchte er sie jetzt auch nicht. Er war der Meinung, auch so schon eine Menge erkundet zu haben. Den weiteren Verlauf der Ermittlungen zu bestimmen war Sache seiner Vorgesetzten. Warum hatte der junge Ingenieur trotz Regens länger als zwei Stunden im Eingang gegenüber dem Haus zugebracht, in dem zu diesem Zeitpunkt der Mord begangen wurde? In die Kommandantur zurückgekehrt, verfaßte Maliniak vorschriftsmäßig einen umfassenden Bericht. Nachdem Leutnant Widerski den Rapport gelesen hatte, ließ er den Kriminalassistenten zu sich kommen und fragte ihn lange über alle Einzelheiten aus. Dann wanderte der Bericht zum „Alten“. Es folgte der Besuch Maliniaks und des Leutnants im Arbeitszimmer des Chefs. Nach dieser Aussprache wurden zwei Fernschreiben abgeschickt. Eins nach Śląsk, das andere in die Wojewodschaft Koszalin. Beide hatten den gleichen Wortlaut. „Wohnadresse des Ingenieurs Andrzej Banaszkiewicz, eines Angestellten der Batory-Hütte, ermitteln. Andrzej 64
Banaszkiewicz festnehmen und ihn der Kommandantur der Miliz in Szczecin zuführen. Dringend!“ Wenige Stunden später traf die Antwort der Wojewodschaftskommandantur Katowice ein. Der gesuchte Andrzej Banaszkiewicz habe in der Eisenhütte um viertägigen Urlaub gebeten und sei in unbekannter Richtung abgereist. Ob Banaszkiewicz nach seiner Rückkehr festzunehmen sei. Dann traf die Nachricht aus Koszalin ein. Andrzej Banaszkiewicz sei an seinem alten Wohnort gestellt und festgenommen worden und werde mit dem nächsten Zug nach Szczecin gebracht. Leutnant Widerski sah im Fahrplan nach. Nach seinen Berechnungen mußte Andrzej Banaszkiewicz Donnerstag früh in Szczecin eintreffen. Eine Viertelstunde später betrat Hanka Wróblewska das Zimmer des Leutnants und brachte ihm die Nachricht von den beiden Mädchen, die Altpapier gesammelt und es gleich hinter der Wohnungstür weggeworfen hatten.
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SECHSTES KAPITEL
Ich gedenke nicht, mein Leben lang zu darben Wenige Minuten nach neun wurde Andrzej Banaszkiewicz in Leutnant Widerskis Zimmer geführt. Der Ingenieur war sehr erregt. „Was soll das heißen? Ich werde in meiner eigenen Wohnung festgenommen, ohne Haftbefehl, und wie ein Schwerverbrecher unter Bewachung nach Koszalin gebracht, in Koszalin stundenlang in Arrest gehalten und dann, wieder unter Bewachung, nach Szczecin transportiert. Ist das etwa eure Gesetzlichkeit? Ich werde den Schaden schon einzuklagen wissen. Die Schande, die man meinem Vater, dem Direktor eines Sägewerks, zugefügt hat! Vor allen Leuten fährt die Miliz vor und nimmt ihm den Sohn weg!“ Ruhig hörte sich der Leutnant den Wutausbruch an. Ob das gespielte oder ehrliche Entrüstung war? „Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Widerski deutete auf einen Stuhl. „Ich muß Sie von vornherein darüber aufklären, daß Sie bis jetzt noch nicht verhaftet sind. Wir hatten einfach gewisse Dinge zu klären, und dazu brauchten wir Sie möglichst schnell. Daher gewisse Unannehmlichkeiten, die ich bedaure. Leider ging es nicht anders.“ „So springt man nicht mit einem Bürger der Volksrepublik Polen um“, wetterte der Ingenieur. „Wir werden gleich alles klären, Herr Banaszkiewicz.“ Eine Stenotypistin betrat den Raum, nahm an einem kleinen Schreibmaschinentisch Platz und sah den Leutnant fragend an. 66
„Spannen Sie bitte den Vordruck für das Protokoll …“, der Leutnant zögerte einen Augenblick, „einer Zeugenvernehmung ein.“ „Na, wissen Sie“, Banaszkiewiczs Stimmung besserte sich um keinen Deut, „ich soll Zeuge sein. Wohl in einer lumpigen Sache, an die ich mich überhaupt nicht erinnere! Aus irgendeiner Laune heraus schleppt man mich über zweihundert Kilometer weit. Ein Wunder, daß man mir keine Handschellen angelegt hat.“ „Bitte beruhigen Sie sich doch, wir werden gleich alles klären.“ Endlich setzte sich der Ingenieur. Der Leutnant musterte ihn. Der junge Mann hatte ein gewinnendes Äußeres. Möglicherweise sah er sogar zu gut aus. Er erinnerte an einen bekannten Hollywoodschauspieler. Über ein Meter achtzig groß, schmale Taille. Die Hüften für einen Mann eine Spur zu breit. Feine Gesichtszüge und große blaue Augen. Auffallend die Wimpern, wie bei einer Frau. Ein Gesicht wie Milch und Blut. Manches Mädchen hätte ihn um seinen Teint beneiden können. Das schwarze Haar war leicht gewellt. Mit einem Wort, ein hübscher Junge. Und er war mit Eleganz gekleidet. Ein schwarzer Mantel aus Importgewebe, mit kariertem Futter. Ein dunkler Anzug, nach der neuesten italienischen Mode geschneidert. Ein hellgrauer Schlips zum Nylonhemd in diskreten Streifen. Die Socken passend zur Krawatte. Die Schuhe stammten sicherlich auch aus dem Kommissionsladen. Trotz seiner trüben Erlebnisse in den letzten Stunden, trotz der nächtlichen Fahrt und des Haftaufenthalts in der Kommandantur der Miliz in Koszalin war Ingenieur Banaszkiewicz rasiert und sah aus, als ob er eben erst gebadet hätte. 67
Das Verhör begann. Zuerst fielen die stereotypen Fragen zur Person. Banaszkiewicz beantwortete sie erschöpfend, ruhig, in sachlichem Ton. Dann fragte der Leutnant unvermittelt: „Warum sind Sie am Sonnabend nach Szczecin gekommen? Am achtzehnten November?“ „Das ist meine Privatangelegenheit. Darüber bin ich niemandem Rechenschaft schuldig, am allerwenigsten der Miliz.“ „Gut. Wir kommen noch darauf zurück. Jedenfalls leugnen Sie nicht, an diesem Tage in Szczecin gewesen zu sein.“ „Ich mache kein Hehl daraus. Ich hatte ein paar Tage Urlaub und bin nach Hause zu meinen Eltern gefahren. Unterwegs, zwischen zwei Zügen, brachte ich ein paar Stunden in Szczecin zu. Paßt Ihnen das?“ Der Leutnant tat, als spüre er die Ironie nicht. „Wissen Sie, was an diesem Tage in Szczecin geschehen ist?“ „Keine Ahnung. Szczecin geht mich nichts an. Ich bin weg von hier. Ich lebe und arbeite in Śląsk.“ „Das ist uns bekannt. In der Batory-Hütte.“ „Ich muß wohl ein wichtiger Zeuge sein, daß Sie so viel über mich wissen“, bemerkte Banaszkiewicz trocken. „Stimmt. Wir haben Sie in Śląsk gesucht. Sie hatten übrigens Glück, daß wir Sie bei Koszalin fanden und nicht in der Hütte. Das Theater wäre größer gewesen, und die Reise hätte viel länger gedauert.“ „Vielleicht erfahre ich endlich, worum es geht?“ „Haben Sie in den letzten Tagen keine Zeitung gelesen?“ „Nein. Politik interessiert mich nicht.“ „Die Zeitungen berichten nicht nur über Politik. In letzter Zeit gab es auch eine Menge über einen Mord zu lesen.“ „Wo ist er passiert?“ „Das wissen Sie sehr wohl. Sie haben vor dem Haus in der Buczekstraße geschlagene zwei Stunden zugebracht. 68
Dann sind Sie hineingegangen. Der Augenblick war günstig. Frau Legats Mutter betrat die Wohnung und öffnete Ihnen die Tür. Ein Hieb auf den Kopf, und die Sache war erledigt. Womit haben Sie’s getan?“ Aus dem Gesicht des jungen Mannes wich das Blut. Große Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn. Er versuchte, einen Laut hervorzubringen. Es gelang nicht. Er griff nach der Krawatte und lockerte sie. Dann erst erlangte er sein seelisches Gleichgewicht wieder. „Ich … Das ist Unfug. Ich habe das Haus nicht betreten. Ich war nicht in der Buczekstraße. Ich bin in der Technischen Hochschule gewesen. Wegen meines Diploms und wegen der Doktorarbeit.“ „Das stimmt nicht“, entgegnete der Leutnant scharf. „Wir wissen, daß Sie sich in der Buczekstraße aufgehalten haben. Seit acht Uhr früh sind Sie auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig auf und ab spaziert. Sie haben auf Frau Rosińska gewartet, weil Sie genau wußten, daß die pensionierte Lehrerin sonnabends immer nach Szczecin kam, zu ihrer Tochter. Diesen Sonnabend hatte sie sich etwas verspätet, weil sie gleich vom Bahnhof zu der Schule ging, in der ihre Tochter arbeitet, und hinterher Besorgungen machte. Sie mußten deshalb länger warten, als Sie angenommen hatten. Und weil der Schneeregen immer heftiger wurde, ließen Sie das Auf- und Abgehen sein und versteckten sich im Haustor gegenüber dem Eingang Nummer neunzehn. Bis die Rosińska kam. Sie folgten ihr nach oben. Wir haben Zeugenaussagen. Leugnen wird Ihnen nichts nützen.“ Der Ingenieur langte in die Tasche und holte eine Packung Zigaretten und Streichhölzer hervor. Seine Hände zitterten so, daß es ihm Mühe machte, die Zigarette anzustecken. Er nahm einen tiefen Zug. „Das ist nicht wahr“, 69
antwortete er, bemüht, seine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. „Das muß ein schreckliches Mißverständnis sein. Ich habe die Frau nicht getötet. Ich habe das Haus nicht betreten.“ „Aber Sie waren dort?“ „Ich gebe es zu. Ja, ich bin in der Buczekstraße gewesen. Ich bin tatsächlich auf dem Bürgersteig auf und ab gegangen. Ich habe auch im Tor gestanden. Wie lange, weiß ich nicht. Dann habe ich mich auf den Weg zur Technischen Hochschule gemacht.“ „Und das Wetter war so schön, daß Sie mit Vergnügen spazierengingen, wie? Außerdem haben Sie die Gewohnheit, in Haustüren herumzustehen“, sagte der Leutnant. „Ich habe kein Haus betreten. Ich habe im Tor gestanden, weil ich eine Verabredung hatte. Ich wartete vergebens. Also ging ich zur Technischen Hochschule, um dort meine Angelegenheiten zu regeln.“ „Sonderbar. Sie hatten sich für acht verabredet und haben zwei Stunden gewartet. Anstatt einfach nach oben zu gehen. Die Bürgerin Anna Wróblewska war den ganzen Morgen zu Hause. Außerdem allein. Ihre Mutter hat nämlich wie gewöhnlich gearbeitet. Sie kannten doch den Weg zum vierten Stock. Selbst wenn man Ihre Behauptung, mit dem Mädchen auf der Straße verabredet gewesen zu sein, ernst nimmt, hätte jeder andere, statt zu warten, nachgeprüft, ob sie zu Hause ist.“ Andrzej schwieg. „Vielleicht“, fuhr der Leutnant fort, „hatten Sie auch mit der Wróblewska vereinbart, diese Arbeit gemeinsam zu erledigen. Während sie im Haus wartete, lauerten Sie auf der Straße. Wer von euch beiden hat zugeschlagen?“ „Nein, nein, das ist nicht wahr.“ Banaszkiewicz hatte seine Stimme wieder. „Ich weiß nichts von einem Mord. 70
Ich war mit Hanka gar nicht verabredet. Sie wußte nicht, daß ich komme. Eine ungeheuerliche Verkettung von Umständen.“ „Ein bißchen viel Zufall, Herr Ingenieur. Es wäre für Sie besser, die Wahrheit zu sagen. Leugnen hat keinen Sinn.“ „Ich werde die Wahrheit sagen. Die ganze Wahrheit“, entgegnete Banaszkiewicz entschlossen. „Bitte sehr. Aber langsam, daß unsere Kollegin mit dem Protokoll nachkommt.“ „Ich möchte aber … Ich möchte, daß mein Geständnis geheim bleibt.“ „Vor wem? Sie machen die Aussagen doch bei der Miliz, in einer Mordsache.“ „Ich möchte nicht, daß Han … daß Fräulein Wróblewska von meiner Aussage erfährt. Ich möchte sehr darum bitten.“ „Ich kann Ihnen nichts versprechen. Zuerst will ich mir Ihr Geständnis anhören. Natürlich, Privatangelegenheiten, die mit dem Anlaß dieses Verhörs nichts zu tun haben, brauchen nicht unbedingt publik werden.“ „Ich danke Ihnen. Es sind wirklich Privatangelegenheiten.“ „Also, ich höre.“ „Wie Sie sicherlich wissen, Herr Leutnant, habe ich hier in Szczecin an der Technischen Hochschule studiert. Mein Vater hat mich etwas unterstützt. Außerdem bekam ich das Stipendium der Batory-Hütte. Ich wohnte im Studentenheim. Irgendwie kam ich zurecht, auch wenn ich mich einschränken mußte.“ „Ja, weiter bitte“, sagte die Stenotypistin. „Vor drei Jahren lernte ich die Medizinstudentin Anna Wróblewska kennen. Zwischen uns entstand eine gewisse Intimität. Aber sie hat das falsch ausgelegt. Was mich 71
betrifft, so habe ich das Verhältnis nie ernst genommen. Sie werden verstehen, Herr Leutnant. Wenn einer jung ist, muß er ein Mädchen haben.“ „Verstehe schon“, knurrte der Kriminalist. „Das war bequem.“ Banaszkiewicz sprach immer freier. „Die Mutter ging arbeiten und verließ früh das Haus. Sie konnte mich zwar nicht leiden, aber mir machte das nichts aus. Jedenfalls war sie vormittags nie da, und ich konnte immer kommen. Ich habe dort auch gelernt, denn im Studentenheim, wo mehrere in einem Zimmer kampieren, fällt das manchmal schwer.“ „Was hat das mit dem Mord zu tun?“ „Nichts. Ich habe doch gesagt, daß ich es nicht gewesen bin. Ich will Ihnen erklären, weshalb ich mich am Sonnabend in der Buczekstraße vor dem Haus der Wróblewska aufgehalten habe.“ „Bitte, sprechen Sie weiter.“ „Ich habe, um durch meine Besuche keinen Anstoß zu erregen – Sie verstehen, die Wohnung besitzt mit einer größeren einen gemeinsamen Flur –, mit Fräulein Annas Einverständnis natürlich, einen Schlüssel zu ihrer Wohnung nachgemacht. Ich konnte also jederzeit hinein und konnte dort auch lernen, wenn sie ihre Vorlesungen an der Medizinischen Akademie besuchte.“ Der Ingenieur steckte sich noch eine Zigarette an. „Als ich im März vorigen Jahres das Diplom erhielt, begann ich mir ernsthaft Gedanken über meine Zukunft zu machen. Ich gedenke nicht, mein Leben lang zu darben. Ich will mich gut einrichten. Darum habe ich, als ich nach Śląsk fuhr, diese sinnlose Verbindung gelöst. Es wäre meinerseits geradezu idiotisch, mich an ein Mädchen zu hängen, das noch vier Jahre Studium vor sich hat, dann zwei Jahre Praktikum und schließlich die 72
Aussicht, mit einem Gehalt von rund tausend Złoty in einem Krankenhaus oder Ambulatorium zu landen.“ „Ach so?“ „Unser Verhältnis war etwas fürs Studium in Szczecin. Aber nicht für längere Zeit. In Śląsk finde ich günstige Perspektiven vor. Einen erfolgversprechenden Job und die Möglichkeit, Karriere zu machen. Ich will mich nicht loben, aber daß ich einige Fähigkeiten besitze, läßt sich nicht leugnen, und meine Vorgesetzten wissen das zu schätzen. Inzwischen kenne ich viele interessante Menschen und möchte auch heiraten, ein eigenes Heim gründen. Es muß eine sein, die das entsprechende Niveau besitzt und meiner Karriere nicht im Wege steht. Und da habe ich also ein Mädchen kennengelernt, das diesen Bedingungen entspricht.“ „Aber was hat das mit ihrem Eintreffen in Szczecin zu tun?“ „Ich bin gleich soweit. Meine künftigen Schwiegereltern genießen allgemeine Hochachtung. Vielleicht sind es Menschen mit etwas veralteten Grundsätzen. Aber dafür wohlhabend. Sie haben beschlossen, uns in den ersten Jahren unter die Arme zu greifen. Wir bekommen Wohnung und Auto; meine Frau erhält einen bestimmten Betrag für persönliche Ausgaben und Kleidung. Sie müssen zugeben, daß es in dieser Situation nicht in meinem Interesse liegen konnte, einen Skandal heraufzubeschwören. Ich befürchtete aber, daß es dazu kommen könnte. Hanka, Fräulein Wróblewska, ist ja so unbeherrscht. Außerdem … Außerdem ist sie im Besitz meiner Briefe.“ „Was für Briefe?“ „Es war mein Fehler. Ein ernsthafter Fehler, den ich mir bis heute nicht verzeihen kann. Ich habe mich wie ein rotznäsiger Junge benommen. Ein Jahr vor Abschluß 73
meines Studiums war ich zu einem zweimonatigen Praktikum in Śląsk. In der Batory-Hütte, wo ich jetzt arbeite. Damals war ich so leichtsinnig, an Fräulein Wróblewska ein paar Briefe zu schreiben. Natürlich habe ich darin mit keinem Wort von einer Heirat gesprochen, aber Inhalt und Form dieser Briefe waren so abgefaßt, daß sie falsch verstanden werden konnten, wenn sie meiner Verlobten oder den künftigen Schwiegereltern in die Hände fielen. Ich möchte aber alle Mißverständnisse mit der Familie, in die ich aufgenommen werden will, vermeiden.“ „Sie erwarteten also, daß Fräulein Wróblewska Sie mit diesen Briefen erpressen würde?“ „Erpressen ist nicht der richtige Ausdruck. Sie maß dem Geld kein besonderes Gewicht bei. Übrigens wäre ich nach meiner Heirat sogar bereit, ihr eine Summe zu zahlen, um meine Ruhe zu haben. Natürlich in vernünftigen Grenzen. Die Briefe mußte ich dagegen zurück haben. Ich befürchtete, daß sie Lärm schlagen würde, wenn sie von meiner beabsichtigten Heirat erführe. ‚Wohlmeinende‘ Mitbürger könnten ihr von meinen Plänen erzählen. Hanka war stets von einer Bande verschiedener Individuen umgeben, die mir bestimmt gerne geschadet hätten, und sei’s nur so aus Sport. Also, ich wiederhole, ich hatte Angst, daß die Wróblewska, wenn sie von alledem erführe, eines Tages die Briefe in einen großen Umschlag stecken und sie an die Familie meiner Verlobten schicken würde. Ich beschloß, diese für mich so wichtigen Dokumente in die Hand zu bekommen, und bin deshalb nach Szczecin gefahren.“ „Um Fräulein Wróblewska zu sehen und ihr die Briefe wegzunehmen?“ „Nein. Sehen wollte ich sie nicht. Ich habe nicht die Nerven, um mir hysterische Szenen anzuhören. Ich hatte 74
den Schlüssel zur Wohnung.“ Banaszkiewicz griff in die Tasche und holte einen Ring mit einem Schlüsselbund hervor, hängte einen Schlüssel ab und reichte ihn dem Leutnant. „Bitte, Sie können sich überzeugen, daß ich die Wahrheit sage. Der Schlüssel paßt zur WróblewskiWohnung. Ich wollte die Wohnung betreten, wenn niemand da ist, und die Briefe mitnehmen. Ich wußte, wo sie versteckt waren.“ „Das wäre Diebstahl gewesen.“ „Wieso!“ rief der Ingenieur empört. „Ich hätte ja nur die Briefe genommen. Ich habe sie selbst geschrieben. Mein Recht, sie zurückzuholen.“ „Wozu haben Sie sie dann geschrieben?“ „Ich habe bereits zugegeben, daß es leichtsinnig war. Aber es wäre ja auch dumm gewesen, ein halbes Jahr vor Abschluß des Studiums das Mädchen zu wechseln. Und gerade zu diesem Zeitpunkt begann sich ein junger Arzt um Fräulein Wróblewska zu bemühen. Heute sehe ich, was für ein Fehler das war. Aber es ist nun einmal geschehen. Es war bequem mit ihr, und wenn sie auch nicht schön war, so hatte sie doch ihre Vorzüge. Ich sage Ihnen das so von Mann zu Mann.“ „Sie gingen also in die Wohnung und holten sich die Briefe?“ „Eben nicht. Ich kam frühmorgens in Szczecin an. Gefrühstückt habe ich im Reisebürocafé. Ich esse dort immer. Es gibt da vorzügliche Salzbrezeln. Die Serviererin muß sich meiner noch erinnern. Dann ging ich in die Buczekstraße. Ich wußte, daß Frau Wróblewska um diese Zeit schon in ihrem Büro war. Aber die Tochter mußte noch in der Wohnung sein, weil dort Licht brannte. Im November ist es um acht Uhr früh noch dunkel.“ „Die Fenster gehen auf die Straße?“ 75
„Ja, drei Fenster. Das Zimmer mit zwei Fenstern und die Küche mit einem. Als ich auf der anderen Straßenseite stand, konnte ich das Licht genau sehen. Ein paarmal beobachtete ich sogar Fräulein Wróblewskas Schatten, wenn sie durchs Zimmer ging. Ich wartete, daß sie das Haus verließ, um dann die Wohnung rasch zu betreten und die Dokumente mitzunehmen. Ich stellte mich tatsächlich in ein Haustor, um nicht naß zu werden, als es stärker zu regnen begann, und habe sehr lange gewartet. Ais ich wegging, war es schon fünfzehn nach zehn.“ „Und warum haben Sie verzichtet, noch länger zu warten?“ „Ich bin zu der Schlußfolgerung gekommen, daß Fräulein Wróblewska an diesem Tage wahrscheinlich keine Vorlesungen hatte und sie bei dem schlechten Wetter das Haus nicht verlassen wollte. Um elf hatte ich aber eine Verabredung in der Hochschule mit einem Professor. Vorher mußte ich noch ins Dekanat, um mein Diplom abzuholen. Ich hatte nach Abschluß des Studiums nur eine provisorische Bescheinigung bekommen.“ „Gingen Sie gleich zur Technischen Hochschule?“ „Ich habe ein Taxi genommen und bin hingefahren.“ „Um wieviel Uhr waren Sie dort? Können Sie sich an die Nummer des Taxis erinnern?“ „Die Nummer weiß ich nicht mehr. Es war ein Opel Rekord. Ich nehme an, daß sich der Wagen leicht finden läßt. In der Hochschule war ich gegen halb elf.“ „Wer hat Sie dort gesehen?“ „Die Angestellte im Dekanat, bei der ich meine Angelegenheiten geregelt habe. Ich traf dort auch einen Studenten, den ich kenne. Er heißt Mieczysław Ostachowski. Gesprochen habe ich nicht mit ihm, wir grüßten uns nur, weil er’s eilig hatte. Er wird sich sicherlich daran erinnern. 76
Punkt elf war ich im Arbeitszimmer beim Professor. Der war noch nicht da. Kam fünfzehn Minuten zu spät. Ich unterhielt mich solange mit dem Assistenten. Die Unterredung mit dem Professor dauerte fast bis dreizehn Uhr. Dann bin ich noch einmal ins Dekanat gegangen, um mir das Diplom abzuholen. Dort mußte ich ebenfalls warten, weil noch andere Interessenten vor mir waren. Sämtliche Formalitäten haben meine Zeit bis zwei Uhr in Anspruch genommen. Mittag aß ich in der Gaststätte des Reisebüros und fuhr mit dem nächsten Zug nach Koszalin.“ „Und die Briefe?“ „Ich hoffte auf mehr Glück bei meiner Rückfahrt nach Śląsk. Leider ist das jetzt nicht mehr aktuell. Ich fürchte, kompromittiert zu werden. Das wäre fatal.“ Der Leutnant hörte sich den Bericht des jungen Mannes in aller Ruhe an. Die Stenotypistin hatte mehrere Seiten mit den Aussagen beschrieben. Banaszkiewicz las sie durch und unterschrieb. Vorschriftsmäßig jeweils eine Unterschrift unten auf jeder Seite. „Sie werden verstehen, daß wir Ihre Aussagen erst überprüfen müssen. Bis dahin bleiben Sie zu unserer Verfügung.“ „In Haft?“ Der Leutnant lächelte. „Leider haben wir keine Sonderaufenthaltsräume für Interessenten Ihrer Art. Wir werden uns bemühen, daß es nicht so lange dauert. Wenn Sie’s bezahlen, bringt Ihnen ein Mitarbeiter etwas zu essen. Vielleicht sogar aus der Kantine. Das ist alles, was ich für Sie tun kann. Wenn eine Einzelzelle frei sein sollte, lasse ich Sie dorthin schaffen.“ Diesmal versuchte Banaszkiewicz nicht einmal zu protestieren. Ruhig und gesetzt verließ er das Zimmer in Begleitung eines Milizionärs. 77
„Herr Leutnant, könnten Sie’s nicht so einrichten“, sagte die Stenotypistin, während sie ihre Sachen zusammenlegte, „daß man den Mann wenigstens ein paar Tage hierbehält? So ein verlogener Kerl! Wie er über seine Verlobte geredet hat, die zu seinem Niveau und seiner Karriere passen soll. Ich dachte, ich müßte laut herausplatzen.“ „Ich ließe ihn auch gern noch länger sitzen“, bemerkte der Leutnant. „Ich fürchte jedoch, daß wir ihn in ein paar Stunden los sind. Nach Ansicht des Arztes wurde die Rosińska zwischen elf Uhr dreißig und dreizehn Uhr ermordet. Wenn Banaszkiewicz die Wahrheit sagt, nämlich daß er sich zu diesem Zeitpunkt mit einem Professor in der Technischen Hochschule unterhalten hat, dann läßt sich dieses Alibi nicht umstoßen.“ „Schade“, seufzte die Stenotypistin. „Dem Halunken hätte das gutgetan. Wenigstens als Warnung für die Zukunft.“ „Wirklich schade“, pflichtete der Leutnant ihr bei.
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SIEBENTES KAPITEL
Was macht man mit der Butter? Wie jeden Tag betrat Hanka Wróblewska auch am Donnerstag Punkt drei Leutnant Widerskis Zimmer. „Ich begrüße meinen besten Mitarbeiter. Welche Enthüllungen haben wir denn heute?“ Der Offizier merkte sofort, daß das Mädchen aufgeregt war. „Bitte, nehmen Sie Platz.“ „Vor einer Weile habe ich Mietek getroffen.“ „Welchen Mietek?“ „Verzeihung, Mieczysław Ostachowski. Sie haben heute früh einen Milizionär zu ihm geschickt.“ „Ach ja.“ Der Leutnant tat, als interessiere ihn das nicht. „Mietek erzählte mir, man hätte ihn nach Andrzej Banaszkiewicz ausgefragt. Nach seinem Alibi am Sonnabend.“ „Dieser Mietek, das können Sie ihm ausrichten, plappert entschieden zuviel. Er wird’s noch bereuen.“ „Ich verstehe. Ihr habt Andrzej verdächtigt. Und vielleicht auch mich. Als seine …“ „Ehemalige Bekannte“, ergänzte der Leutnant. „Von Mietek habe ich auch erfahren, daß Andrzej am Sonnabend in Szczecin gewesen ist. Bestimmt wollte er mich sehen. Vielleicht war er in der Buczekstraße, hat mich aber in der Wohnung nicht angetroffen. Daher das Überprüfen des Alibis.“ „Sie haben wirklich kriminalistische Begabung“, sagte der Leutnant lächelnd. 79
„Ach so, Sie tun nur so, als interessierten Sie sich für meine Mitarbeit. In Wirklichkeit aber war und bin ich die Hauptverdächtigte. Verhaften Sie mich?“ „Noch nicht.“ Der Leutnant lachte laut. „Warum?“ „Zum Beispiel darum, weil Sie, als das Verbrechen begangen wurde, in der Akademie gewesen sind. Um das Kolloquium zu bestehen. Auch läßt sich nicht verheimlichen, daß Sie nur eine Drei bekommen haben, was bei einer so guten Studentin geradezu sonderbar ist.“ Hanka verschlug es die Sprache. „Er fragte mich ausgerechnet nach einer Sache, die ich nicht konnte.“ „Sehen Sie“, Widerskis Laune besserte sich zusehends, „die Miliz hat ebenfalls ihre Methoden, und mitunter nicht die schlechtesten, um in den Besitz von Informationen zu gelangen. Es ging uns aber nicht nur um Sie. Wir haben das Alibi fast aller Hausbewohner überprüft. Und nicht nur deren Alibi. Auf diese Weise haben wir ’rausgekriegt, daß Herr Banaszkiewicz an jenem Tage in Szczecin war.“ „Ist Andrzej verhaftet?“ „Das möchte ich nicht sagen. Jedenfalls steht er zu unserer Verfügung. Natürlich nur so lange, bis alle Zweifel geklärt sind.“ „Ich glaube, ich weiß, weshalb Andrzej mich sehen wollte. Sicherlich ging es ihm um die Briefe.“ Das Mädchen holte einen großen grauen Umschlag aus der Tasche. „Hier sind sie. Ich hätte sie ihm längst zurückgeschickt, wenn ich seine jetzige Adresse gewußt hätte. Vielleicht händigen Sie ihm das aus? Dann ersparen wir uns eine unnötige Begegnung. Da Sie alles über mich wissen, können Sie die Briefe lesen.“ 80
„Danke, ich lese fremde Briefe nicht, wenn ich nicht muß. Und die muß ich nicht lesen. Mehr noch: Zum Glück brauche ich’s nicht. Ich werde sie Herrn Banaszkiewicz übergeben.“ „Dann wären wir wohl fertig.“ Das Mädchen erhob sich. „Für heute ja. Ich hoffe, daß Sie mir morgen neue Nachrichten bringen. Und ich revanchiere mich und berichte Ihnen über die beiden kleinen Mädchen, von denen wir durch Sie erfahren haben. Wir untersuchen die Sache. Sie werden verstehen, daß wir sehr vorsichtig vorgehen müssen.“ „Ich nehme an, damit ist unsere Zusammenarbeit zu Ende?“ „Im Gegenteil. Ich glaube, sie hat gerade erst begonnen.“ „Aber Sie haben mich verdächtigt!“ „Möglich. Verdächtig sind alle. Es ist ja unsere Aufgabe, die Menschen von Verdächtigungen zu befreien. Darum bitte ich Sie um weitere Zusammenarbeit.“ Das Mädchen lächelte. „Einverstanden. Und Andrzej können Sie sagen, daß er sich die Briefe längst hätte holen können. Mir liegt nichts an ihm. Überhaupt nichts.“ Der Leutnant tat, als hätte er den veränderten Ton, mit dem Hanka diese Worte sprach, nicht bemerkt. „Dann bis morgen um drei.“ „Noch eins, Fräulein Haneczka. Sie haben einmal einen Schlüssel verschenkt. Das soll man nicht tun. Hier ist er.“ Mit diesen Worten gab der Leutnant dem Mädchen den Schlüssel zurück, den er von Andrzej Banaszkiewicz bekommen hatte. Das Mädchen nahm ihn, errötete und verließ wortlos das Zimmer. 81
„Dennoch ein Blindgänger, Herr Staatsanwalt.“ Der Leutnant überreichte dem Staatsanwalt Witold Szczerbiński das Protokoll über Banaszkiewiczs Verhör. Rasch überflog der Jurist das Dokument. „Der Bursche hat ein sicheres Alibi. Ich muß ihn freilassen“, sagte daraufhin der Leutnant. „Ein nicht gerade sympathischer Typ. Ihre Hanka hat da ziemlich leichtsinnig Gefühle investiert. Haben Sie nachgeprüft, ob sie die Briefe noch hat?“ „Sie hat sie mir gebracht und darum gebeten, sie Banaszkiewicz zurückzuerstatten.“ „Haben Sie sie gelesen?“ „Ich darf fremde Korrespondenz ohne Erlaubnis der Staatsanwaltschaft nicht lesen.“ „Dann bekommen Sie sie auch nicht, selbst wenn Sie darum bitten sollten.“ „Ich tu’s ja gar nicht.“ Beide lachten. „Ich gebe ihm die Briefe, wenn ich ihn freilasse. Heute abend, damit er noch den Zug nach Katowice schafft.“ „Gott mit ihm. Und wie ist es um unseren Fall bestellt?“ „In diesem Augenblick bleibt nur die Spur der beiden kleinen Mädchen. Sie werden von unseren Agentinnen diskret beobachtet. Morgen wird es wohl zu einem Verhör kommen.“ „Wie verhalten sie sich?“ „Heute sind sie nicht zur Schule, sondern ins ‚Kosmos‘ gegangen. Gestern hatte Irka ihre Mathematikaufgaben nicht gemacht und bekam eine Fünf. Sonst nichts. Sie treiben sich bis in den späten Abend auf den Straßen herum. Kontakte mit Erwachsenen wurden nicht beobachtet. Höchstens mit jungen Burschen, die zwei oder 82
drei Jahre älter sind. Ich hoffe, daß wir morgen mehr Einzelheiten erfahren. Wir haben in der Kommandantur Hauptmann Helena Osińska. Sie ist Spezialistin für die Vernehmung Minderjähriger und wird sich die beiden vorknöpfen.“ „Und die Kriminalität in diesem Stadtbezirk?“ Der Staatsanwalt dachte auch an alles. „Wollte ich Ihnen gerade vorlegen. Es ist eher ein ruhiges Viertel. Seit Jahren hat es keine Verbrechen gegeben. Ab und zu kamen Diebstähle vor. Die meisten wurden aufgedeckt. Nur eine Feststellung ist interessant. Die Diebstähle in dieser Gegend waren von Zeit zu Zeit recht bezeichnend. Die Wohnungsinhaber meldeten, daß ihnen Schmuck und Geld auf geheimnisvolle Weise verschwunden seien. Meist nichts anderes. Die Geschädigten konnten nicht einmal feststellen, wann sie bestohlen worden waren. Der Dieb drang in die Wohnung und nahm Bargeld oder Gold mit, ohne Spuren zu hinterlassen. Die Sache war so geschickt gemacht, daß die Geschädigten gar nicht ahnten, daß ein Fremder ihre Wohnung durchsucht hatte. Der Diebstahl wurde erst entdeckt, wenn man merkte, daß Geld fehlte, oder wenn die Hausfrau den Fingerring oder die Armspange suchte und feststellte, daß sie nicht im Versteck waren.“ „Interessant.“ „Die Urheber dieser Art von Diebstählen wurden nicht gefaßt, obwohl der Sachschaden oft erheblich war und mehrere tausend Złoty betrug. Fingerabdrücke oder andere Spuren hinterließen die Diebe nicht. Es wurde auch nicht beobachtet, daß sich jemand vorher in der Nähe aufgehalten hätte. Höchst rätselhafte Geschichten.“ „Und die Schlösser?“ „Sie wurden von unseren besten Experten untersucht. 83
Keine Kratzer, nicht die geringsten Beschädigungen. Auch keine Spuren des Gebrauchs von einem Dietrich.“ „Ein Wohnungsdieb ist am schwersten zu entlarven.“ „Dieser Meinung waren wir auch. Aber zwei Fälle schlossen diese Hypothese aus. Einmal wurde ein kinderloses Ehepaar bestohlen. Das zweite Mal fand der Diebstahl dann statt, als die ganze Familie nach Zakopane gefahren und nur ein Mann zu Hause zurückgeblieben war. Keiner der Geschädigten hatte ständige Hausangestellte oder eine Aufwartung. Insgesamt wurden im Laufe von fünf Jahren sieben solcher Diebstähle verübt. Der letzte war im Juni.“ „Rätselhaft“, konstatierte der Staatsanwalt. „Zweifellos sehr interessant, aber die Geschichte steht in keinem Zusammenhang mit unserem Fall. In der Buczekstraße befand sich die Wohnung in einem beklagenswerten Zustand, und der Verbrecher war hineingelangt, weil das Opfer ihm die Tür geöffnet hatte.“ „Ein ähnliches Verbrechen hat es in diesem Bezirk nicht gegeben.“ Hanka kam am nächsten Tage nicht. Das fügte sich sogar gut, denn der Leutnant war in einer fatalen Stimmung. Wie geplant, hatten zwei Milizionärinnen die Mädchen in einer Straße angehalten. Der Funkwagen wartete in der Nähe. Sie wurden sofort zur Kommandantur gebracht. Die beiden Herumtreiberinnen gaben gleich ihren dreisten Ton auf, obwohl sie auf der Straße noch frech geworden waren. Bei der Vernehmung durch Hauptmann Osińska gestanden sie weinend alles. Da beide Mädchen schlecht lernten und die Schule oft schwänzten, hatten ihnen die Eltern zur Strafe das Taschengeld gestrichen. Um nun zu ein paar Groschen für 84
einen Kinobesuch oder Süßigkeiten zu kommen, gingen sie von Tür zu Tür und baten um Altpapier, Flaschen und Orangenschalen. Die Schalen nahm ihnen ein Konditor ab, und die Flaschen verkauften sie in einem nahe gelegenen Spirituosenladen. „Und warum habt ihr das Altpapier weggeworfen?“ fragte Hauptmann Osińska. „Weil es schwer ist“, erklärte Irka, „und wir es hätten weit tragen müssen, bis zum Lager. Man bekommt für ein Kilo nur einen Złoty. Und für die Apfelsinenschalen zahlt der Konditor sogar dreißig Złoty pro Kilo. Außerdem schenkt er uns Kuchen. Aber die Leute geben wenig Schalen. Am leichtesten bekommt man noch Altpapier. Wenn wir keine Flaschen hatten, haben wir manchmal auch Papier geschleppt. Aber selten.“ „Warum habt ihr dann um Altpapier gebeten?“ erkundigte sich die Kriminalistin. „Wenn man kein Altpapier für die Schule sammelt, geben die Leute auch keine Flaschen und Schalen. Darum muß man immer mit dem Altpapier beginnen“, erläuterte die kleine Psychologin. Nach längerem Verhör erkannte die Spezialistin für Jugendkriminalität, daß die Mädchen die Wahrheit gesagt hatten und man von ihnen nichts weiter erfahren würde. Nach einer Beratung mit Leutnant Widerski fuhr Frau Hauptmann Osińska sie persönlich mit einem Polizeiwagen nach Hause und führte Gespräche mit ihren Eltern. Nach sechs Tagen war die Ermittlung wieder am Ausgangspunkt angelangt. Keinerlei Spuren. Kein Verdacht. Vergebens schickte der Leutnant Adam Maliniak und andere Kriminalbeamte zu Recherchen aus. Die Männer liefen sich die Hacken ab, taten ihr Bestes und kehrten mit leeren Händen zurück. 85
Die Staatsanwaltschaft wurde nervös. Der Chef der Miliz rief zu größerer Aktivität auf, aber die Sache kam nicht von der Stelle. Łucja Rosińskas Mörder lief noch immer frei herum. Die gestohlenen sechsundachtzigtausend Zloty waren verschwunden wie ein Stein im Wasser. Am Sonnabend ließ sich Hanka Wróblewska blicken. Sie war wieder in Form. Dagegen konstatierte Widerski unzufrieden, daß seine eigene Seelenverfassung zu wünschen übrigließ. Er verfluchte den Augenblick, wo man ihm diesen vertrackten Fall übertragen hatte. Das Mädchen brachte auch keine Neuigkeiten. Sie hatte mit vielen Leuten zu reden versucht, aber nichts erfahren. Ihre Gesprächspartner wußten einfach nichts. Zwar hatte der Leutnant von Anfang an nicht mit größeren Ergebnissen bei der Zusammenarbeit mit der „Amateurin“ gerechnet, jedoch war der Start über die Maßen ermunternd gewesen. Leider erwies er sich als Fehlzündung, und damit versandete auch der Erfolg. Hanka gab sich jedoch nicht geschlagen. Jetzt fing sie an, ihrerseits dem Leutnant Fragen zu stellen. „Sie waren doch gleich nach der Entdeckung des Verbrechens in der Buczekstraße?“ „Zuerst war die Funkwagenstreife da. Ich kam zehn Minuten später, mit der gesamten Untersuchungskommission.“ „Hatte jemand etwas in der Wohnung berührt?“ „Frau Legat hat ausgesagt, sie habe sich überhaupt nicht hineingetraut. Und nach dem Eintreffen des Funkwagens wurde niemand mehr hineingelassen. Infolgedessen kann niemand etwas angerührt haben. Darauf fußt ja die Ermittlung.“ „Haben Sie Lebensmittel auf dem Küchentisch gesehen?“ 86
„Ja, habe ich.“ „Was für welche?“ „Butter lag da, Aufschnitt. Ein Hähnchen. Wenn Sie die Einzelheiten wissen wollen, kann ich ja im Protokoll nachsehen. Die Rosińska hatte die Sachen gekauft, weil ihre Tochter sie darum gebeten hatte.“ „Lagen sie auf dem Tisch? In Papier eingewickelt?“ „Der Aufschnitt war in Papier oder in einer Tüte. Die Butter in Markenverpackung. Das Hähnchen in Zellophan.“ „Worin hatte Frau Rosińska das alles gebracht?“ „Im Netz. Das Netz fanden wir in ihrer Handtasche.“ „Sehr interessant.“ „Wieso? Warum verhören Sie mich eigentlich?“ „Das erfahren Sie noch zur rechten Zeit.“ Hanka tat geheimnisvoll. Vergebens bemühte sich der Leutnant, durch Fangfragen herauszubekommen, was das Mädchen Besonderes daran fand, daß man im Laden Hühner in Zellophan und Aufschnitt in Papier verkauft. Hanka ließ sich zwar überreden, einen Kaffee mit ihm trinken zu gehen, aber auf dieses Thema ging sie nicht mehr ein. Am Sonntag hatte das Schloßcafé zahlreichen Besuch. Die Schar der jungen Leute war vollständig erschienen. Selbst Danka aus Żydowice. Ihr Mann war zu Hause geblieben und spielte Babysitter. Hanka wurde als Siegerin begrüßt. Alle machten jedoch lange Gesichter, als das Mädchen kundtat, daß sich die Spur der beiden jungen Herumtreiberinnen als falsch erwiesen hatte. „Wir müssen uns etwas anderes ausdenken“, entschied Mietek. „Hanka, streng deinen Grips an.“ 87
„Das habe ich bereits getan und bin zu einer bestimmten Überlegung gekommen. Ich müßte einen Versuch durchführen. Wollt ihr mir helfen?“ „Keine Frage!“ „Wir machen das gleich. Ich nenne jedem von euch einen Sachverhalt, und ihr sagt mir offen, wie ihr in diesem Fall handeln würdet.“ „Gut. Fang an.“ „Aber ich muß mit jedem von euch einzeln sprechen. Die anderen dürfen nicht mithören. Wer zum Tisch zurückkehrt, hat nichts zu verraten. Einverstanden?“ „Einverstanden.“ Hanka ging weg und setzte sich an einen freien Tisch, weit weg von der übrigen Gesellschaft. Die Mädchen und Jungen traten der Reihe nach an. Sie stellte jedem von ihnen die gleiche Frage. Und diese Frage lautete: „Du kommst mit einem Netz voller Einkäufe nach Hause. Im Netz sind ein Huhn im Zellophanbeutel, ein Würfel Butter in Markenverpackung, Schinken in Papier und Würstchen in einer Papiertüte. Was machst du?“ Die Jungen antworteten verschieden. Einige versuchten sich mit albernen Witzen aus der Affäre zu ziehen. Mietek, der schon in der Schulzeit als der größte Vielfraß der ganzen Klasse gegolten hatte, antwortete, er würde zuerst den Schinken aufessen, dann die Würstchen folgen lassen und sich vielleicht noch an die Butter heranmachen. Das hinge vom Appetit ab. Hingegen waren die Antworten der Mädchen gleichlautend. Genau so, wie Hanka sie erwartet hatte. Als die Amateurkriminalistin wieder am Tisch saß, wurde sie mit Fragen überschüttet. „Wozu brauchst du das?“ „War’s ein Erfolg?“ 88
„Ist das eine List?“ „Gib zu, Hanka, daß du uns verulkt hast.“ Das Mädchen gab ihr Wort, daß sie den Versuch ganz ernst nahm und daß er ausgezeichnet gelungen sei. Sie wollte jedoch nicht verraten, wozu sie ihn brauchte, sondern versprach lediglich, spätestens in einer Woche mit Enthüllungen aufzuwarten. Sie drohte auch, daß sie’s „diesem aufgeblasenen Leutnant“ einmal zeigen werde. Dann würde ihm das Lachen schon vergehen.
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ACHTES KAPITEL
Der Mörder kam zuerst „Ich bin zu der Schlußfolgerung gekommen“, sagte Hanka, „daß sich alle Verbrechen in zwei Gruppen einteilen lassen. Die komplizierteren würde ich als Frauenverbrechen bezeichnen, die primitiveren als Männerverbrechen.“ „Eine Einteilung nach dem Geschlecht des Täters? Meinetwegen. Kann man gelten lassen. Ich gebe zu, daß eine Frau manchmal raffinierter vorgeht als ein Mann“, räumte Leutnant Widerski ein. „Nein. Nicht um das Geschlecht des Täters geht es mir. Eher um das des Kriminalisten. Es gibt Dinge, hinter die ein Mann nie steigt, weil er zu geradlinig, zu schablonemäßig denkt. Er tappt einfach am Problem vorbei und vermag nicht, die richtigen Schlußfolgerungen aus den ihm bekannten Tatsachen zu ziehen. So manches entgeht seinem männlichen Spürsinn. Nur deshalb arbeitet die Miliz so langsam. Würdet ihr mehr Frauen beschäftigen und sie nicht in die untergeordneten Stellungen von Stenotypistinnen oder Protokollantinnen hinabdrängen, bestenfalls noch ins ‚Sittenressort‘, dann hättet ihr bessere Ergebnisse.“ Belustigt hörte sich der Leutnant diese Worte an. In der Tat, die Kleine war kapital. Er fand endgültig an ihr Gefallen. Schon einmal war sie ihm mit einer Attacke auf die Männer gekommen. Diese Aversion gegen das starke Geschlecht rührte wahrscheinlich von der kleinen Tragödie mit dem Esel aus Śląsk her. Aber das würde 90
vergehen. Widerski war sogar bereit, Hanka höchstpersönlich von ihrem „Männerkomplex“ zu befreien. „Wir haben einen hohen Prozentsatz an aufgedeckten Verbrechen zu verzeichnen“, bemerkte er. „Wir stehen an der Spitze der europäischen Länder. Und was die Klärung von Mordfällen betrifft, so nehmen wir hierin den dritten oder vierten Platz in der Welt ein. Das machen wir bedeutend besser als viele renommierte Polizeiapparate, die sich auf jahrhundertelange Erfahrungen stützen.“ „Ein blindes Huhn findet eben manchmal auch ein Korn.“ „Ah, so aggressiv heute? Sie halten wohl alle Männer für Idioten, was?“ „Nicht alle, das wäre übertrieben. Aber Sie müssen doch zugeben, daß Frauen intelligenter und umsichtiger sind. Übrigens werde ich’s Ihnen gleich beweisen.“ „Woran?“ „An Ihnen.“ Der Kriminalist amüsierte sich immer mehr. „Ich bin maßlos neugierig und ganz Ohr.“ „Was machen Sie, Herr Leutnant, wenn Sie mit einem Netz voller Einkäufe nach Hause kommen. Sie haben darin ein Huhn im Zellophanbeutel, Aufschnitt in Papier, Würstchen in der Tüte und Butter, den üblichen Würfel in Markenverpackung.“ „Ich trage vor allem keine Besorgungen im Netz mit mir herum. Wie sieht das aus! Ein Offizier der Miliz mit einem Einkaufsnetz in der Hand. Ich benutze eine Aktentasche.“ „Typisch männliches Vorurteil. Was für ein Unterschied besteht zwischen einem Netz und einer Aktentasche? Ein Netz ist viel bequemer, weil man es zusammenrollen und in die Tasche stecken kann, wenn es leer ist. Aber das geht 91
über euren Horizont. Großvater hat eine Aktentasche mit sich herumgeschleppt, Vater klemmte sie sich untern Arm, und der Sohn kann sich von ihr nicht trennen. Gut. Sie haben also die Einkäufe in der geliebten Aktentasche und betreten Ihre Wohnung. Was weiter?“ „Ich kaufe für meinen Junggesellenhaushalt keine Hähnchen. Weder in Zellophan noch ohne.“ „Aber Schinken und Würstchen, und vielleicht auch Butter werden Sie in Ihrem Leben schon gekauft haben. Was tun Sie, nachdem Sie die Wohnung betreten haben?“ „Ich lege die Mütze ab und ziehe mich um.“ „Und die Tasche?“ „Die stelle ich irgendwohin. Im Flur auf den Tisch oder im Zimmer auf den Schreibtisch. Ich treibe mit ihr keinen Kult.“ „Und die Lebensmittel?“ „Wenn ich sie brauche, nehme ich sie aus der Tasche.“ „Haben Sie einen Kühlschrank zu Hause?“ „Einen kleinen.“ „Kühlt er gut?“ „Sehr gut. Fiat bis jetzt kein einziges Mal ausgesetzt.“ „Wenn ich die gleichen Fragen einer Frau stellte, zum Beispiel der sympathischen Frau Hauptmann, der ich einige Male in diesem Gebäude begegnet bin, würden die Antworten anders ausfallen.“ „Das werden wir gleich haben.“ Der Leutnant ergriff den Telefonhörer und wählte eine Nummer. „Ach, Hala, komm doch bitte mal kurz herüber.“ Minuten später öffnete sich die Tür, und Hauptmann Helena Osińska trat ein. „Die Damen kennen sich nicht.“ Der Leutnant stellte vor: „Fräulein Hanka Wróblewska, 92
eine tüchtige Amateurkriminalistin, die beste an der ganzen Medizinischen Akademie. – Frau Hauptmann Osińska.“ Widerskis Kollegin war erstaunt. Der Leutnant beeilte sich zu erklären: „Fräulein Hanka hilft uns freiwillig in der Mordsache Buczekstraße. Sie hat die beiden Mädchen ausfindig gemacht, die Sie vernommen haben. Jetzt wartet Fräulein Wróblewska mit einer neuen Enthüllung auf. Sie versucht nachzuweisen, daß alle Männer, ich an der Spitze, gewöhnliche Dummköpfe sind.“ „Da bedarf es wohl kaum eines Beweises.“ Frau Osińska ging sofort auf den scherzenden Ton des Leutnants ein. „Man braucht dich nur anzusehen!“ „Danke. Jedenfalls führt Fräulein Hanka einen bestimmten Versuch durch. Sie hat mir eine Frage gestellt. Jetzt will sie sie dir stellen.“ „Bitte sehr.“ „Sie kommen mit einem Netz voller Einkäufe nach Hause. Im Netz ist ein Hähnchen in Zellophan, ein Würfel Butter, Schinken in Papier, Würstchen in der Tüte. Was machen Sie?“ „Ich öffne den Kühlschrank, packe das Netz aus, tue die Lebensmittel an ihren Platz und mache den Kühlschrank zu. Das Netz lege ich dorthin, wo ich es immer zu Hause habe.“ „Bitte!“ rief Hanka erfreut. „Jede Frau macht das. Aber die Männer, na ja … Der Herr Leutnant läßt die Butter und den Aufschnitt in der Tasche auf dem Schreibtisch schmoren, obwohl er einen Kühlschrank besitzt. Hat er mir vor einer Weile gesagt.“ „Reingefallen. Natürlich hätte ich die Lebensmittel in den Kühlschrank gesiedet.“ „Ist das der ganze Versuch?“ fragte Hauptmann Osińska. 93
„Ja. Ich habe die Frage mehreren Männern gestellt. Jeder antwortete ähnlich wie der Herr Leutnant. Ich habe auch Frauen befragt. Die Antworten waren immer die gleichen. Jede Frau wird sofort nach dem Betreten der Wohnung die Lebensmittel an ihren Platz tun. Wenn sie einen Kühlschrank hat, in einen Kühlschrank. Wenn nicht, dann in die Speisekammer.“ „Ich begreife zwar nicht, wozu Sie das brauchen“, sagte Frau Osińska lächelnd, „aber ich sehe, der Versuch ist gelungen. Ich gehe also. Die Arbeit wartet.“ „Ja, wozu eigentlich diese Fragen?“ wiederholte Widerski, nachdem seine Mitarbeiterin den Raum verlassen hatte. „Zum Spaß? Nur so aus sportlichem Interesse? Unser Fall stimmt mich keineswegs optimistisch.“ „Wie jeder Mann sind Sie ein schlechter Verlierer.“ „Spaß beiseite. Die Sache steht ernst. Haben Sie etwas Neues?“ „Ich bin gerade dabei, es Ihnen klarzumachen. Aber Sie merken natürlich nichts. Ich muß also deutlicher werden. Ich habe Frau Rosińska nach der Tragödie nicht gesehen, aber ich wette, daß sie Stiefeletten oder Gummischuhe an den Füßen hatte. Stimmt’s?“ Der Leutnant holte einen Briefumschlag aus der Schublade, der mehrere Aufnahmen enthielt, suchte eine heraus und reichte sie dem Mädchen. Das Foto zeigte den Teil eines Raumes. Im Hintergrund befand sich eine Tür, davor lag eine Frau auf dem Fußboden. Sie trug einen Pullover, einen Rock, Strümpfe und bis zur halben Wade reichende Stiefeletten. Hanka warf einen Blick auf das Foto und reichte es Widerski zurück. „Stimmt. Sie hat Stiefeletten an.“ „Ich kapiere nicht, was das soll.“ 94
„Nichts zu machen. Ich sehe, ich muß ins Detail gehen. Einer Frau an Ihrer Stelle wäre übrigens längst ein Licht aufgegangen.“ „Danke. Sie sind heute wirklich sehr boshaft.“ „Stellen Sie sich bitte vor: Eine ältere Frau betritt die Wohnung. Die Mutter der Hausfrau. Draußen herrscht scheußliches Wetter. Seit dem frühen Morgen fällt Schneeregen. Dia Frau kommt aus einer Provinzstadt, wo es noch mehr Modder gibt als in Szczecin. Sie ist viel in der Stadt herumgelaufen. Jetzt hat sie die Tür zur Wohnung ihrer Tochter geöffnet und steht auf der Schwelle. Die Mutter kennt die Schwäche ihrer Tochter für spiegelblankes Parkett. Eine Menge Frauen haben dieses Hobby. Was tut also die Mutter in der Wohnung ihrer Tochter?“ „Ich begreife noch immer nicht, worauf Sie hinauswollen.“ „Sie geht zunächst ins Bad. Noch im Mantel. Ihre erste Handlung: sie zieht die Schuhe aus, um so mehr, als sich die Tür zum Badezimmer dicht neben der Eingangstür befindet. Auf dem Bild, das Sie mir vor einer Weile gezeigt haben, ist eine Brücke vom Eingang zur Badtür zu sehen. Frau Legat hat sie deshalb dort hingelegt, damit auch dieser kleine Abschnitt Flur nicht schmutzig werden kann. Fragen Sie sie mal. Bestimmt verlangt sie von allen Familienmitgliedern, im Badezimmer die Schuhe zu wechseln, wenn sie von draußen kommen. Dort werden Sie auch zweifellos eine ganze Kollektion von Pantoffeln und Hausschuhen vorfinden.“ „Ja. Ich erinnere mich, daß dort Pantoffeln gestanden haben, sogar mehrere Paare.“ „Das ist nicht weiter verwunderlich. Immerhin wohnen ja dort fünf Personen. Außerdem war die Mutter 95
häufig zu Besuch. Auch sie mußte dort ihre Babuschen haben.“ „Wir haben das nicht nachgeprüft.“ „Und es sagt Ihnen nichts, daß Łucja Rosińska mit Stiefeletten an den Füßen umgekommen ist und die Lebensmittel auf dem Küchentisch lagen?“ „Das zeugt höchstens davon, daß der Mörder die Wohnung gleich nach ihr betreten hatte. Es war einfach so: Frau Rosińska öffnete die Tür, ging in die Wohnung und hörte in diesem Augenblick die Klingel. Sie hatte noch keine Zeit, die Stiefeletten auszuziehen.“ „Aber sie war schon durch die ganze Wohnung gegangen, durch den langen Flur, durch das Eßzimmer, durch den zweiten Flur neben der Küche und durch die ganze Küche bis zum Tisch? Dort hatte sie die Lebensmittel aus dem Netz gepackt, ließ sie auf dem Tisch und kehrte zurück, um dem Draußenstehenden die Tür zu öffnen? Und dabei tapste sie die ganze Zeit in schmutzigen Stiefeletten auf dem wundervoll gebohnerten Parkettfußboden herum? Noch eins. Sie hatte auch bereits den Mantel ausgezogen und ihn an den Kleiderhaken im Flur gehängt.“ „Nun ja. Etwas scheint hier nicht zu stimmen.“ Widerski war von dem Gedankengang des Mädchens betroffen. Bisher hatte er ihr mit überheblichem Schmunzeln zugehört. „Natürlich stimmt hier was nicht. Sie sehen selbst, daß es so nicht gewesen sein konnte.“ „Sie mögen zusammen hereingekommen sein. Der Verbrecher hat der Rosińska auf der Treppe aufgelauert. Und da sie ihn kannte, betraten sie beide die Wohnung. Er muß eine geschickte Begründung dafür gehabt haben. Vielleicht die Bitte, das Telefon benutzen zu dürfen.“ 96
„Nehmen wir mal an, Sie hätten recht. Die beiden kommen also gemeinsam herein. Er geht zum Telefon. Der Apparat befindet sich an einem zentralen Punkt der Wohnung, im Eßzimmer. Frau Rosińska beginnt unterdessen ihren Marsch zur Küche und zurück zur Badezimmertür. Das alles in Stiefeletten.“ „Es kann ein Unbekannter gewesen sein, der ihr einen Bären aufgebunden hat, zum Beispiel, er müsse unbedingt sofort den Rettungsdienst anrufen. Dann wäre es verständlich, daß Frau Rosińska nicht ins Bad ging, sondern den Fremden im Auge behielt.“ „Sie wäre dann höchstens durch den Flur gegangen und in der Eßzimmertür stehengeblieben, um zu warten, bis der Mann telefoniert hatte. Übrigens bezweifle ich, ob sie ihm erlaubt hätte zu telefonieren. Beide Läden in unserem Haus haben Fernsprecher zur öffentlichen Benutzung. Gleich um die Ecke ist eine Telefonzelle.“ „Warum ein Mann?“ „Davon zeugt die Wucht des Schlages.“ „Den Schlag kann eine junge sportliche Frau geführt haben.“ „Zum Beispiel Hanka Wróblewska.“ Widerski lachte. „Sie kommen wieder auf unser Gespräch am Donnerstag zurück.“ „Nein, ich weise nur nach, daß ein Mann in diesem Fall nicht in der Lage ist, die Tatsachen wahrzunehmen und die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Übrigens werde ich Ihnen noch beweisen, daß der Mörder ein Mann gewesen ist.“ „Vorläufig sehe ich nicht ein, was uns eine Analyse des Verhaltens von Frau Rosińska geben könnte. Was macht es, daß sie sich nicht so verhielt, wie es Frauen 97
gewöhnlich tun? Und auch nicht, wie sie sich gewöhnlich im Hause ihrer Tochter verhalten hat. Das ändert nichts daran, daß sie ermordet wurde und eine große Summe aus der Wohnung verschwand.“ „Stimmt“, räumte Hanka ein, „aber es ändert die Reihenfolge des Geschehens.“ „Wieso?“ „Versuchen Sie doch mal, Herr Leutnant, die Reihenfolge umzukehren.“ „Des Mordes? Des Raubes? Was kann hier umgekehrt werden?“ „Sie geben selbst zu, daß Frau Rosińskas Verhalten vor ihrem Tod merkwürdig und für eine Frau untypisch war. Sie begehen nämlich einen grundsätzlichen Fehler.“ „Welchen.“ „Sie nehmen an, daß erst Frau Rosińska und dann ihr Mörder die Wohnung betreten hat.“ „Das ist doch klar.“ „Nein. Im Gegenteil. Setzt man voraus, daß der Täter als erster die Wohnung betreten hat, passen auf einmal alle Tatsachen mit eiserner Logik zueinander.“ „Unmöglich.“ „Nicht nur möglich, sondern völlig sicher. Angenommen, der Täter ist in die Legat-Wohnung eingedrungen. Wie er das getan hat? Die Schlösser mit einem Dietrich geöffnet? Oder Schlüssel zugepaßt? Einerlei. Jedenfalls wirtschaftete er in der Wohnung herum, suchte das Geld, hob die Schreibtischschubladen heraus, warf die Bücher aus den Regalen. Er wußte, daß das Bargeld irgendwo versteckt war. Plötzlich hörte er, daß jemand die Eingangstür mit einem Schlüssel zu öffnen versuchte. Was tat der Mörder?“ „Was?“ wiederholte der Leutnant wie ein Echo. 98
„Er stellte sich dicht hinter die Tür und sah, daß eine ältere Frau die Wohnung betrat. Vielleicht kannte er sogar Frau Rosińska? Höchstwahrscheinlich. Im Flur herrscht immer Halbdunkel, die Scheiben in den Zimmertüren lassen nur wenig Licht durch. Die Frau bemerkte also den Spitzbuben nicht. Als sie die Tür schloß, versetzte er ihr den Schlag. Frau Rosińska fiel tot auf den Fußboden neben die Badtür. In der Hand hielt sie die Handtasche und das Netz mit den Besorgungen. Jetzt zog der Bandit seinem Opfer den Mantel aus und hängt ihn an einen Kleiderhaken in der Nähe. Dann nahm er das Netz mit den Einkäufen, ging in die Küche und legte alles auf den Tisch. Er ist ein Mann, also kam es ihm nicht in den Sinn, die Ware in den Kühlschrank zu stellen. Er kehrte in den Flur zurück und steckte das Netz in Frau Rosińskas Handtasche. Wo habt ihr die Handtasche gefunden?“ „Sie hing am Kleiderhaken neben dem Mantel.“ „Noch eine Bestätigung meiner These. Eine Mutter wird nie in der Wohnung ihrer Tochter ihre Handtasche an den Kleiderhaken hängen. Überhaupt hängen Frauen ihre Handtaschen nicht an Kleiderhaken. Merken Sie sich das für die Zukunft. Die Stiefeletten hatte der Mörder gänzlich vergessen. Männer wechseln sehr ungern die Schuhe, wenn sie in die Wohnung kommen. Unser Täter gehört in dieser Beziehung offenbar nicht zu den Ausnahmen, daher beachtete er die Füße seines Opfers nicht. Was können Sie meiner Überlegung anlasten? Sie ist logisch. Alle Tatsachen, die Sie ebenfalls für recht eigenartig halten, sind jetzt ausgezeichnet dokumentiert.“ „Ja. Ich gebe zu, daß das alles sehr glaubwürdig klingt, aber warum sollte der Täter so gehandelt haben?“ „Er konnte viele Gründe haben.“ 99
„Welche?“ „Zum Beispiel das Alibi. Der Verbrecher ging vielleicht weg, gleich nachdem er den Mord verübt hatte. Dann brauchte er nur in das Bierlokal hinunterzusteigen, sich an die Theke zu lehnen und bis halb zwei in dieser Haltung auszuharren. Schon könnten Sie ihn nicht des Mordes anklagen.“ „Im Augenblick des Mordes war er aber am Ort des Verbrechens.“ „Ja, aber nur im Augenblick des Mordes. Dagegen wurde, wie wir wissen, die Wohnung gründlich demoliert. Das muß mindestens eine Stunde gedauert haben. Und für diese Stunde hat unser hypothetischer Täter ein unumstößliches Alibi. Jedes Gericht würde ihn freisprechen.“ „Stimmt.“ „Außerdem wollte er, wie ich den Eindruck habe, den Umstand verschleiern, daß er die Wohnungsschlüssel besaß. Ich erinnere mich genau, außer dem einfachen Schloß ist da noch ein Sicherheitsschloß vom ‚Yaletyp‘. Ich glaube, bei dieser Art von Sicherungen ist das Öffnen der Tür mit Dietrich unerhört schwierig und würde viel Zeit in Anspruch nehmen.“ „Für einen guten Spezialisten stellen Türschloß und Sicherheitsriegel keine Schwierigkeit dar. Schwieriger ist es bei Sicherheitsschlössern mit Kugelrasten oder, wie Sie sagten, den ‚Yaleschlössern‘. Die sind praktisch mit einem Dietrich nicht zu öffnen.“ „Man kann schwerlich an fremden Türen manipulieren, ohne daß die Nachbarn darauf aufmerksam werden. In diesem Hause wohnen viele Leute, und auf der Treppe ist immer Betrieb. Der Verbrecher muß alle Schlüssel besessen und die Tür sehr schnell geöffnet haben.“ „Wenn wir Ihre Hypothese annehmen.“ 100
„Sie zweifeln noch daran?“ „Ich gebe zu, sie ist logisch, aber zugleich sehr phantastisch.“ „Wenn sie alle Tatsachen logisch erklärt, ist sie richtig.“ „Das ist eine Behauptung ohne hundertprozentige Deckung.“ Hanka überlegte. „Vielleicht gelingt es, einen unumstößlichen Beweis dafür zu finden, daß alles so gewesen ist, wie ich es dargestellt habe.“ „Wie?“ „Vergessen Sie nicht, daß ich Medizinstudentin bin. Zwar haben Sie neulich eine häßliche Bemerkung über die Drei für das Kolloquium gemacht, aber in Anatomie habe ich immer eine Eins gehabt. Ein Schlag, der so heftig war, daß er das Platzen der Schädeldecke und den sofortigen Tod verursachte, muß einen starken Blutsturz ausgelöst haben. Übrigens ist auch auf dem Bild eine Blutlache auf dem Fußboden zu sehen. Man müßte nachprüfen, ob auf dem Mantel der Toten nicht ebenfalls Blutspuren zurückgeblieben sind, und wenn es nur mikroskopisch kleine Tröpfchen wären. Was ist mit dem Mantel geschehen? Hat man ihn untersucht?“ „Nein.“ Der Leutnant war ein wenig verlegen. Wenn das Mädchen recht hatte, dann hatte die Miliz einen Fehler begangen. „Und wo ist er?“ „Nach der Sektion wurde der Leichnam der Familie übergeben. Auch die Kleidung, die die Verstorbene im Augenblick ihres Todes anhatte. Der Mantel blieb am Kleiderhaken hängen. Ich hoffe, daß Frau Legat noch nichts mit ihm gemacht hat.“ Der Leutnant ergriff den Hörer. 101
„Bitte schicken Sie sofort einen Wagen zur Buczekstraße. In die Wohnung von Józef Legat. Am besten, wenn Kriminalassistent Kardaś hinfährt. Der ist schon dort gewesen. Er soll den Mantel sicherstellen, den Łucja Rosińska am Tage des Mordes anhatte. Er kann eine gewöhnliche Quittung hinterlassen, daß der Mantel zur Untersuchung und Anfertigung einer Analyse mitgenommen wurde. Ich warte.“ Nun fragte er Hanka: „Wie sind Sie zu all diesen Schlußfolgerungen gelangt?“ „Mit weiblicher Logik. Und der Ausgangspunkt dazu war ein Würfel Butter.“ „Butter?“ Der Leutnant hatte an diesem Tag viel Gelegenheit, sich zu wundern. „Ja, Butter. In unserem Haus ist es sehr warm. Die Zentralheizung funktioniert ausgezeichnet. Außerdem arbeitet unten die Bäckerei. Die Wände sind immer heiß. Im Sommer hilft es etwas, wenn man die Fenster öffnet. Im Winter drehen die Mieter einen Teil der Zentralheizungskörper zu. Die Zimmertemperatur schwankt zwischen dreiundzwanzig und fünfundzwanzig Grad. Und bei dieser Hitze lag der Butterwürfel auf dem Tisch, wenn daneben der Kühlschrank stand? Nach zwei Stunden wäre die Butter ungenießbar. Ich habe Frau Rosińska gut gekannt. Es wollte mir einfach nicht in den Kopf, daß Frau Rosińska die Butter auf dem Tisch liegengelassen haben soll. Warum? Um die Butter aus dem Netz zu nehmen und sie auf den Tisch zu legen, braucht man ebensoviel Zeit, wie um sie in den Kühlschrank zu stecken. Ich habe lange darüber nachgedacht und bin allmählich zu meiner Theorie gekommen.“ „Meine Anerkennung. Ich bin fast überzeugt.“ „Ich war mir jedoch nicht sicher. So beschloß ich, einen Versuch zu machen. Ich habe einen Kreis sehr netter 102
Freunde. Wir treffen uns jeden Sonntag im Schloßcafé. Oft sind wir noch mehr, weil die Mädchen ihre Freunde und die jungen Männer ihre Angebeteten mitbringen. Am Sonntag habe ich alle der Reihe nach gefragt, was sie tun würden, wenn sie mit den Lebensmitteln nach Hause kämen. Die jungen Männer antworteten ohne jeden Sinn und Verstand. So wie Sie, Herr Leutnant.“ „Vielen Dank.“ „Keine Ursache. Das ist nun einmal so.“ „Von heute an werde ich immer gleich zum Kühlschrank laufen.“ „Aber stecken Sie nicht die ganze Tasche hinein, sondern nehmen Sie den Schinken heraus. Das genügt vollauf.“ „Jetzt nehmen Sie mich aber unter Beschuß.“ „Weil Sie’s verdient haben.“ „Und Ihre Umfrage?“ „Die jungen Männer haben, wie gesagt, ohne Sinn und Verstand geantwortet. Dagegen sagten alle Mädchen das gleiche. Sie würden die Lebensmittel in den Kühlschrank stecken. Das hat mir letztlich Gewißheit gegeben, und so bin ich mit meiner Theorie zu Ihnen gekommen. Und vorhin hat hier Frau Hauptmann Osińska meine Beobachtungen erneut bestätigt.“ Kriminalassistent Kardaś betrat das Zimmer. Das Mädchen erkannte ihn wieder. Es war derselbe Beamte, der sie am Tage des Mordes im Haus in der Buczekstraße zweimal verhört hatte. Der Kriminalassistent hielt einen Zellophanbeutel in der Hand. Ein dunkelblauer Damenübergangsmantel befand sich darin, schon ziemlich abgetragen. „Er hat im Schrank gehangen, Herr Leutnant“, meldete Kardaś. „Frau Legat hatte vor, ihn der Popiela zu schenken. 103
Die Putzfrau hatte sie um diesen Mantel gebeten. Sie wollte ihn sogar kaufen.“ „Frau Rosińska war doch klein und hager, Frau Popiela ist mindestens zweimal so dick“, versetzte Hanka erstaunt. „Das stimmt, aber Frau Legat sagte, daß die Popiela den Herbstmantel ihrer Nichte schenken wolle. Sie behauptete, der Mantel würde nach dem Umwenden wie neu aussehen. – Sieh da“, bemerkte Kardaś, „hier, unterm Kragen, ist ein länglicher Fleck. Da wurde etwas mit einem nassen Lappen abgewischt.“ „Wenn es Blut ist, wird eine Analyse es gleich zeigen.“ „Etwas seitlich am Kragen sind kleine Flecke. Es scheinen eingetrocknete Tropfen zu sein.“ „Wir geben den Mantel zur Analyse. Wenn es nötig sein sollte, schicken wir ihn nach Warschau ein, zum Kriminaltechnischen Institut“, sagte der Leutnant. „Ich glaube nicht, daß das notwendig sein wird“, bemerkte Hanka. „Es sind viele Flecke, und sie machen einen verhältnismäßig frischen Eindruck. Unter diesen Bedingungen wären sogar ich und meine Studienkollegen von der Akademie imstande, festzustellen, ob das Blut ist oder nicht, und erst recht eure Fachleute.“ „Kollege Kardaś, Sie werden sich mit der Sache befassen. Geben Sie den Mantel zur Analyse. Wenn möglich, lassen Sie auch die Blutgruppe feststellen.“ Der Kriminalassistent steckte den Übergangsmantel behutsam in den Zellophansack zurück. „Bravo, Fräulein Hanka“, sagte der Leutnant, als sein Kollege das Zimmer verlassen hatte. „Morgen müßte ich die Ergebnisse der Analyse haben. Wenn sie positiv sind, bin ich sogar bereit, an die Theorie von den weiblichen und den männlichen Verbrechen zu glauben und 104
öffentlich zu bekennen, daß ich von einer Amateurkriminalistin geschlagen worden bin.“ „Mir geht eine Sache im Kopf herum. Manchmal erinnert man sich an etwas, und man weiß nicht, ob man es geträumt hat oder nicht.“ „Und woran erinnern Sie sich?“ „Man kann es nicht einmal Erinnern nennen. Es fiel mir in dem Augenblick ein, als ich mir meiner Hypothese völlig sicher geworden war. Und jetzt läßt es mich nicht wieder los.“ „Was ist es denn?“ „Wir wissen jetzt, daß der Täter die Wohnung vor Frau Rosińska betreten hat. Der Unfallarzt hat festgestellt, daß ihr Tod frühestens gegen elf Uhr dreißig eingetreten sei, das heißt also, daß sich der Mörder vor diesem Zeitpunkt am Tatort befunden hat.“ „Unter der Bedingung, daß Ihre Theorie stimmt“, schränkte der Leutnant ein. „Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Der Mörder kann somit viel früher in die Wohnung gekommen sein.“ „Sie denken an Andrzej Banaszkiewicz?“ „Nein. Ich glaube nicht, daß er dazu fähig wäre.“ „Sein Alibi ist bei jeder Mordkonzeption unumstößlich. Zu dem Zeitpunkt, als bei der Rosińska der Tod eingetreten ist, war Banaszkiewicz in der Technischen Hochschule. Das wissen wir mit Sicherheit. Von halb elf bis zwei Uhr hat er das Gebäude der Hochschule nicht verlassen.“ „Zugegeben, aber Sie wissen noch nicht – denn die Miliz hat mich nicht danach gefragt –, was ich tat, bevor ich zur Prüfung gegangen bin. Etwa fünfzehn oder zwanzig Minuten nach neun ging ich nach unten.“ „Sie verließen das Haus, und Banaszkiewicz hatte Sie nicht bemerkt? Wir wissen doch, daß er um diese Zeit vor der Haustür gestanden hat.“ 105
„Ich habe das Haus eben nicht verlassen. Ich ging nur nach unten, zur Bäckerei, kaufte Brot und kehrte nach oben zurück. Andrzej konnte mich nicht bemerken, ich ihn auch nicht.“ „Sie sahen jemanden auf der Treppe?“ „Ich habe immer noch den Eindruck, daß ich auf dem Treppenabsatz vor dem ersten Stock an jemandem vorübergegangen bin und gleich darauf das Umdrehen eines Schlüssels im Schloß gehört habe.“ „War es ein Mann oder eine Frau?“ „Ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob da jemand war oder ob ich das erst später geträumt habe. Ich erinnere mich an keine Einzelheit, ich glaube nur, in meiner Phantasie eine Gestalt auf der Treppe gehen zu sehen und dann dieses leise Knackgeräusch zu hören, das ein zurückspringender Riegel erzeugt.“ „Wenn Sie tatsächlich gesehen und gehört haben, wie jemand die Tür aufschloß, dann kann er nicht höher als zum ersten Stock gekommen sein. Bevor er den zweiten erstiegen hätte, wären Sie schon in der Bäckerei gewesen. Dann hätten Sie auch nicht das leise Knacken des Schlosses gehört. Es kann jemand gewesen sein, der in Legats Nachbarwohnung ging. Dort wohnen …“ Der Leutnant fing an, in den Akten zu suchen. „Die Deubels“, sagte Hanka. „Natürlich.“ Der Leutnant erinnerte sich wieder. „Er mit dunklem Haar und großer Nase, die Frau von angenehmem Äußeren, zwei hübsche Töchter. Wir haben sie verhört.“ „Als mich das zu quälen anfing, dieser …“, Hanka fehlte das passende Wort, „dieser Alptraum, da bin ich zu den Deubels gegangen und habe sie gefragt, ob nicht jemand um diese Zeit zu ihnen gekommen wäre.“ 106
„War jemand da?“ „Frau Deubel kann sich genau entsinnen, daß sie zu diesem Zeitpunkt allein in der Wohnung gewesen ist. Der Mann und die Töchter, Danusia und Ewa, sind außer Haus gewesen. Frau Deubel arbeitet ab elf. Sie behauptet steif und fest, daß sie die Wohnung nicht verlassen hat und auch niemand von den Hausbewohnern oder ein Fremder zu ihr gekommen sei.“ „Dann haben Sie den Mörder gesehen!“ konstatierte der Leutnant. „Oder alles nur geträumt.“
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NEUNTES KAPITEL
Hanka geht auf Schlüsselsuche „Und Sie haben das alles ganz allein aufgedeckt, Fräulein Hania?“ Frau Popiela konnte sich nicht genug wundern. „Wenn ich das den Herrschaften erzähle, wie die sich dann erst an den Kopf fassen. Mir wäre so etwas nie in den Sinn gekommen.“ „Ich bin ja nur durch Sie daraufgekommen. Sie hatten mir doch erzählt, daß die Butter auf dem Tisch lag.“ „Sie war ganz weich, mein Goldkind, als ich kam, schon kurz vorm Schmelzen“, gab die Putzfrau zu. „Aber daß Sie keine Angst hatten, zur Miliz zu gehen.“ „Warum denn Angst? Da sind sehr nette Leute“, sagte das Mädchen lachend. „Und der Leutnant, der die Ermittlungen leitet, sieht sogar gut aus.“ „Ach was, wie kann der gut aussehen. Schaut einen an, als ob man ein Verbrecher wäre. Mich kriegen dort keine zehn Pferde hin. Als man damals die Zdanowskis bestohlen hatte, verging sechs Wochen lang kein Tag, wo nicht einer ins Haus gekommen wäre, um rechtschaffenen Leuten die Pistole auf die Brust zu setzen. Und diese Vorladungen zur Kommandantur! Manche mußten ein dutzendmal hin.“ „Haben Sie damals bei Zdanowskis gearbeitet?“ „Um Himmels willen! Dann hätten sie mich auch nicht mehr in Ruhe gelassen. Ich habe seinerzeit bei einer anderen Familie im selben Haus saubergemacht.“ „Hat man die Diebe gefaßt?“ „Ja, natürlich, aber bevor man sie hatte, wurden Un108
schuldige verdächtigt.“ „Frau Popiela, Sie haben mir mit der Butter so wunderbar geholfen, vielleicht haben wir jetzt wieder Erfolg.“ „Möchten Sie ein Täßchen Tee, Fräulein Hania? Frisch gebrüht. Der Kessel ist heiß.“ „Danke, ich habe gerade erst gefrühstückt. Was meinen Sie? Wenn dieser Bandit in die leere Wohnung gekommen ist, muß er doch wohl Schlüssel gehabt haben?“ „Was ein echter Dieb ist, der kriegt jedes Schloß auf. Als Pfarrer Żongiłło bestohlen wurde, das war noch in Lida, da haben die Diebe, obwohl er im Hause schlief, die ganze Pfarrei ausgeraubt. Alle Schlösser geknackt. Man braucht sich nur ein Stückchen Draht zurechtzubiegen, schon ist ein Schloß hin.“ „Die Miliz meint, so einfach wäre das nicht. Die Schlösser bei Legats lassen sich nicht mit einem Stück Draht öffnen.“ „Wenn er hereingekommen ist, muß er sie aufgemacht haben“, stellte die Putzfrau philosophisch fest. „Ja, er hat sie aufgemacht, weil er die Schlüssel hatte. Und wissen Sie, ich glaube, ich habe den Täter sogar gesehen, als ich zur Bäckerei ging, um Brot zu holen.“ „Was Sie nicht sagen, Fräulein Hania! Danken Sie Gott, daß er sie nicht auch noch umgebracht hat.“ „Das war ja auf der Treppe. Dort werden die Leute noch nicht umgebracht.“ „Wer war es denn?“ „Wenn ich mich doch erinnern könnte! Die Miliz löchert mich auch schon dauernd. Dabei weiß ich nicht, ob ich’s nicht bloß geträumt habe. Ich will und will mich immer daran entsinnen, und es gelingt mir nicht.“ „Vielleicht fällt es Ihnen noch ein, Fräulein Hania.“ 109
„Mühe geb’ ich mir ja. Aber ich denk’ immer, dieser Bandit muß doch auf irgendeine Weise zu den Wohnungsschlüsseln gekommen sein.“ „Und wie soll er das gemacht haben?“ „Das weiß ich nicht. Möchten Sie mir nicht wieder helfen, Frau Popiela?“ „Möchte schon, mein Goldkind, von Herzen gern. Aber wie?“ „Wieviel Schlüsselpaare hat die Wohnung?“ „Vier. Nur vier. Eins hat der Herr Ingenieur, das andere Frau Legat, und zwei haben Zbyszek und Małgosia. Ich habe keins, weil ich’s nicht brauche. Ich komme früh zur Arbeit, bevor Frau Legat zur Schule geht. Vor Mittag bin ich nie fertig. Vier große Räume, ein fünfter neben der Küche, der kleine, in dem jetzt Małgosia schläft, und die Küche. Das alles saubermachen, den Fußboden in Schuß halten … Hier wäre jeden Tag Arbeit. Małgosia ist ein ordentliches Mädchen, sie räumt wenigstens ihr Zimmer auf. Aber Zbyszek und Michaś? Bei denen sieht’s immer aus, als hätten sie sich gerade eine Schlacht geliefert. Und wenn Frau Legat von ihnen auch Pantoffeln verlangt, so tragen sie doch den Fußboden so voll, daß ich zweimal in der Woche einwachsen muß.“ „In einer so großen Wohnung“, sagte Hania diplomatisch, „wäre auch für vier Hände Arbeit. Hm, ich hätte eigentlich gern gewußt, wie Herr Legat seine Schlüssel bei sich trägt.“ „In einem Lederfutteral. Das hat Zbyszek seinem Vater zum Namenstag geschenkt.“ „Frau Legat hat die Schlüssel wohl immer in der Handtasche?“ „Ja“, bestätigte Frau Popiela. „Und Zbyszek und Małgosia?“ 110
„Małgosia trägt sie in der Schultasche, und wenn sie nach dem Unterricht aus dem Haus geht, dann auch im Handtäschchen. Zbyszek, wie’s gerade kommt, in den Hosentaschen. Einmal, es ist wohl zwei Monate her, klingelt’s. Ich mache auf, vor der Tür steht Zbyszek. Er sagt, er hätte die Schlüssel verloren.“ „In der Schule?“ „Nein. Auf der Kunsteisbahn.“ „Aber die Eisbahn wurde doch erst im Oktober eingefroren. Vor einem Monat.“ „Dann war’s eben im Oktober. Ich erinnere mich nicht genau.“ „Haben sich die Schlüssel angefunden?“ „Zwei Tage später brachte sie Herr Deubel an. Der Herr Deubel geht noch Schlittschuh laufen wie die jungen Burschen. Ball spielt er auch. Trägt immer so einen Teppichklopfer mit sich herum.“ „Einen Tennisschläger. Herr Deubel spielt Tennis.“ „Eben, in dem Alter noch auf jung machen. Nicht für einen Groschen Schamgefühl. Wo er doch erwachsene Kinder hat …“ Hanka konnte sich nur mühsam das Lachen verbeißen. „Und woher hatte Herr Deubel die Schlüssel?“ „Als Zbyszek sie verloren hatte, lief er herum und suchte sie. Fragte allen, die bei der Eisbahn angestellt sind, ein Loch in den Bauch. Erst zwei Tage später haben sich die Schlüssel angefunden, und Herr Deubel brachte sie mit. Er ist jeden Tag dort. Sicher wird er dafür bezahlt.“ „Bezahlt? Warum?“ „Die Leute kommen, um ihn zu sehen. Schon graue Haare und in Turnhosen auf dem Eis. Die Eisbahn hat dann größere Einnahmen.“ 111
Diesmal lachte Hanka laut los. „Herr Deubel ist im Vorstand des Tennisklubs. Und Schlittschuh läuft man nicht in kurzen Hosen.“ „Wenn er im Vorstand ist“, meditierte Frau Popiela, „dann müssen sie ihn erst recht bezahlen. Umsonst macht er’s doch nicht. So dumm wird er wohl nicht sein. Bißchen bekloppt ist er ja manchmal, wegen dem Sport, sonst aber anständig. Und warum befassen Sie sich mit der Sache, Fräulein Hania? Was gibt’s dafür als Belohnung?“ „Gar nichts! Ich konnte Frau Rosińska sehr gut leiden. Eine so nette alte Dame.“ „O ja, das stimmt, die reine Wahrheit. Aber dieser Leutnant, der einen anschaut wie ein Wolf, der muß Ihnen wohl gefallen haben, weil’Sie ihm helfen wollen?“ Hanka wurde sogar rot. „I wo“, wehrte sie ab. „So ein eingebildeter Schnösel! Ich möchte nur, daß man den Banditen faßt. Er kann ja noch mehr Leute umlegen.“ „In Katowice gibt’s so einen Vampir. Der soll sogar an Gomułka geschrieben haben, daß er in tausend Jahren tausend Frauen umbringt. Zweihundert soll er schon auf dem Gewissen haben.“ „Märchen, alles Märchen, Frau Popiela.“ „Ich weiß nicht. Die Leute erzählen das.“ „Ach ja …“ Dem Mädchen war etwas eingefallen. „Hat Ihr Mann nicht gesehen, ob sich vor dem Mord hier ein Verdächtiger in der Nähe aufgehalten hat? Herr Popiela ist doch oft in unserm Haus.“ „Wenn etwas zu reparieren ist, kommt er. Aber so oft wieder nicht. Er hat zwei Verwaltungsbezirke zu versorgen. Eine Menge Häuser. Und er allein für alle Straßen, von der Allee der Roten Armee bis zur Nationalen Ein112
heit und Jagiellońskastraße. Kein Tag vergeht, wo nicht ein Rohr platzt oder jemand den Wasserhahn abdreht. Selbst nachts lassen sie ihm keine Ruhe. Aber was sollen sie machen, wenn das Wasser läuft? Dann muß er ’raus.“ Hanka wußte, daß Legats Nachbar seine Arbeit um drei beendete und immer gleich nach Hause kam. Wie zufällig begegnete sie ihm auf halbem Wege. Als sie sich gemeinsam ihrem Wohnhaus näherten, sagte Herr Deubel: „Ich habe gehört, Sie interessieren sich für den Mordfall?“ „Ich hatte Frau Rosińska sehr gern und möchte, daß der Mörder gefaßt wird. Es ist mir sogar gelungen, einen kleinen Erfolg einzuheimsen.“ „So? Welchen denn?“ „Ich habe die Miliz darauf aufmerksam gemacht, daß sie einen Fehler beging, als sie annahm, der Mörder habe die Legat-Wohnung betreten, als Frau Łucja gekommen war. Es war umgekehrt.“ Das Mädchen erzählte, wie sie ihre Entdeckung gemacht hatte. „Phantastisch! Ich sehe, Sie haben glänzende Fähigkeiten in dieser Richtung. Sie hätten nicht Medizin studieren, sondern gleich zur Miliz gehen sollen.“ „Dann hätte ich bestimmt nichts erreicht, sondern hockte an einem Schreibtisch über einem Berg Papier oder dürfte mich bestenfalls mit den Straftaten Minderjähriger befassen.“ „Da gibt es auch sehr interessante Probleme.“ „Vielen Dank, ich ziehe die Medizin vor. Die gesamte Ermittlungstätigkeit in den interessanteren Fällen wird von Männern geleistet. Ich habe noch nie von einem weiblichen Untersuchungskommissar gehört.“ 113
„Ja, trotz Gleichberechtigung“, räumte Herr Deubel ein, „ist die Frau beruflich noch immer benachteiligt, und das in jeder Institution. Wie viele Männer haben wir in leitenden Stellungen und wie viele Frauen? Ich befürchte, daß Sie das nicht ändern werden.“ „Deshalb ziehe ich die Medizin vor.“ „Diesen Beruf haben die Frauen fast gänzlich in Beschlag genommen. Ein Arzt wird bald eine Seltenheit sein. Doch um auf Ihre Theorie zurückzukommen – der Verbrecher konnte nur mit Schlüsseln in die Wohnung.“ „Das ist eben das Rätsel an der Geschichte“, räumte Hanka ein, zufrieden, daß das Gespräch nach Plan verlief. „Es gibt dort sogar drei Schlösser. Man kann sie unmöglich alle mit Dietrichen öffnen. Eine solche Operation würde zu lange dauern. Aber Zbyszek soll vor einem Monat irgendwo seine Schlüssel verloren haben.“ „Einen Moment.“ Herr Deubel erinnerte sich der Sache. „Ich hatte doch den Legats die Schlüssel zurückgebracht. Zbyszek hatte sie auf der Kunsteisbahn verloren.“ „Vielleicht hatte Zbyszek die Schlüssel gar nicht verloren, sondern jemand hatte sie ihm gestohlen, um davon Abdrücke zu machen?“ „Derartige Methoden, Schlüssel in die Hand zu bekommen, werden wohl nur in Kriminalromanen praktiziert.“ „Tatsache ist aber nun, der Bandit war in der LegatWohnung.“ „Gewiß“, räumte Deubel ein, „man hat die Schlüssel in der Garderobe unterm Schrank gefunden. Sicherlich sind sie dem Jungen beim Umkleiden aus der Tasche gefallen.“ „Oder jemand hat sie ihm gestohlen und später unter den Schrank geworfen.“ 114
„Kann auch sein. Aber wie herauskriegen, wer es war? Ich selbst habe Zbyszek die Eintrittskarte für die Eisbahn besorgt. Die Karte gilt für die Tageszeit, in der das breite Publikum zugelassen ist. In diesen Stunden halten sich mindestens hundert, wenn nicht mehrere hundert Personen auf dem Eis auf.“ „Die Schlüssel hatte also der Mörder in der Hand.“ „Oder sein Komplize. Aber ich beabsichtige nicht, diesen Mann ausfindig zu machen. Das überlasse ich Ihnen, Haneczka, und der Miliz.“ Das Mädchen knöpfte sich auch Zbyszek vor. Der Junge bestätigte, die Schlüssel verloren zu haben. Er hatte sie aus Versehen in eine Jackentasche gesteckt, die ein Loch hatte. Offenbar waren sie auf den Fußboden der Umkleidekabine gefallen und von dort unter den Schrank geraten. „Vielleicht hatte sie dir jemand gestohlen?“ „Wieso? Sie haben sich doch wieder angefunden.“ Der Junge war verwundert. „Ich schließe den Schrank immer mit einem Vorhängeschloß ab, weil es dort keine anderen Verschlüsse gibt. Nach dem Verlassen der Kabine müssen die Schränke wieder leer sein. Das Vorhängeschloß nehme ich immer mit. Mir ist nie etwas verlorengegangen, und da sollte man mir Schlüssel gestohlen haben?“ „Wer von deinen Bekannten war mit dir damals auf dem Eis?“ „Ein paar Jungen aus unserer Klasse. Auch Mädchen, aber welche aus der zehnten. Die haben getan, als ob wir für sie Luft wären. Dann auch noch andere, aber die kenne ich nur vom Sehen. Ich weiß gar nicht, wie sie heißen.“ Mehr erfuhr Hanka von Zbyszek nicht. 115
Als Hanka in der Kommandantur der Miliz erschien, war Leutnant Widerskis sonst so sieghafte Art zu lächeln einem kleinlauten Grinsen der Verlegenheit gewichen. Er schämte sich, zugeben zu müssen, daß an dem Mantel der Rosińska Blutspuren gefunden worden waren. Mit der Blutgruppe der Toten. Es bestand kein Zweifel, die Annahme der Medizinstudentin hatte sich als richtig erwiesen. Der Mantel war von dem Täter an den Kleiderhaken gehängt worden, bereits nachdem der Mord verübt worden war. Er hatte keine Zeit gehabt, die Flecke aus dem Mantel gründlicher zu entfernen. Nur den Kragen hatte er mit einem nassen Lappen oberflächlich abgerieben. Er rechnete wohl nicht damit, daß jemand den Mantel der Ermordeten untersuchen würde, wenn er im Flur am Kleiderhaken hing. Übrigens wäre seine Rechnung ja beinahe aufgegangen. Hätte das Mädchen Hanka nicht seine ausgezeichnete Beobachtungsgabe eingesetzt und er nicht die Butter auf dem Tisch liegengelassen, es hätte sich wohl niemand für diesen Übergangsmantel interessiert. „Der ungläubige Thomas hat sich endlich überzeugen lassen, hurra!“ rief Hanka triumphierend. „Auch ohne Analyse war ich mir meiner Sache sicher.“ „Staatsanwalt Szczerbiński hätte sich gern einmal mit Ihnen unterhalten. Er rief mich an und bat mich, Sie doch mal zu ihm zu bringen.“ „Als verdächtige Person?“ „Nein, als tüchtigen Berater und Experten.“ „Zu Befehl. Fahren wir.“ „Es ist kein Befehl, sondern nur eine Bitte des Herrn Staatsanwalts.“ „Ich kenne mich in den Feinheiten eures Umgangstons nicht aus. Etwas Ähnliches hat man auch dem 116
Andrzej gesagt: er befände sich nicht in Haft, sondern hielte sich nur zu eurer Verfügung auf. Das ändert nichts an der Tatsache, daß man ihn für gewisse Zeit seiner Freiheit beraubte.“ Staatsanwalt Witold Szczerbiński machte auf Fräulein Wróblewska einen günstigen Eindruck, was er vor allem dem Umstand zu verdanken hatte, daß er mit seiner Bewunderung für ihre Entdeckung nicht hinterm Berg hielt und die Bedeutung, die sie für die weitere Ermittlungstätigkeit besaß, womöglich überbetonte. „Und womit erschießen Sie uns nun?“ fragte er. „Ich hoffe, Sie haben eine neue Sensation in petto.“ „Das nicht gerade“, erwiderte das Mädchen lachend, „aber ich bin jetzt den Schlüsseln hinterher.“ „Welchen Schlüsseln?“ „Woher hatte der Mörder die Schlüssel, mit deren Hilfe er in die Wohnung gelangt war?“ „Sie glauben, daß er Schlüssel besaß?“ „Der Herr Leutnant behauptet das.“ „Ich kenne die Schlösser. Wir haben sie uns am Tatort angesehen. Ein Fachmann hätte lange Dietriche zupassen müssen, um in die Wohnung zu gelangen. Und in einem dermaßen belebten Treppenflur“, erläuterte Widerski, „ist das unmöglich.“ „Ich habe erfahren“, sagte die Studentin, „daß es nur vier Paar Schlüssel gibt. Ein Paar besitzt der Hausherr, und er trennt sich nie von ihnen. Das zweite hat Frau Legat in der Handtasche. Unwahrscheinlich, daß der Mörder Zugang zu ihrer Handtasche hatte. Die übrigen zwei Paar haben Małgosia und Zbyszek, die beiden älteren Kinder der Legats. Zbyszek ist in der achten Klasse. Małgosia besucht die zehnte. Ich kenne Małgosia gut. Ein nettes, ordentliches Mädchen. Die Schlüssel hat sie 117
entweder in der Schulmappe oder in der Handtasche. Anders ist es bei Zbyszek. Er ist zerstreut wie jeder Junge in diesem Alter, ein Rappelkopf. Vor kurzem hatte er sein Schlüsselbund auf der Kunsteisbahn verloren.“ „Ha!“ rief der Leutnant interessiert. „Wurden die Schlösser ausgewechselt?“ „Nein, weil sich die Schlüssel am nächsten Tag wiederfanden. Sie waren unter einen Schrank im Umkleideraum gefallen, und Herr Deubel brachte sie zwei Tage später wieder.“ „Wer ist Herr Deubel?“ fragte der Staatsanwalt. „Der Nachbar der Familie Legat, er wohnt in derselben Etage.“ „Sie werden sich mit ihm befassen“, sagte er zu Widerski. Der Leutnant zog sein Notizbuch hervor und entgegnete: „Alle Mitglieder der Familie besitzen ein Alibi. Er hat sich die ganze Zeit über im Büro aufgehalten. Die Töchter arbeiteten ebenfalls. Seine Frau hatte eine Stunde vor dem Mord das Haus verlassen und war normal beschäftigt, in einem Laden.“ „Man kann die Deubels nicht verdächtigen“, rief Hanka empört. „Wir haben sie nicht verdächtigt, sondern nur das Alibi überprüft, ebenso wie bei den übrigen Hausbewohnern einschließlich Ihrer Person.“ „Herr Leutnant, versuchen Sie doch herauszubekommen, wer damals mit auf der Eisbahn war. Vielleicht hilft uns das weiter.“ „Glaube ich nicht“, bemerkte Hanka. „Die Schlüssel gingen vor über einem Monat verloren. Das genaue Datum konnte Zbyszek nicht mehr feststellen. Er geht fast 118
täglich aufs Eis. Ich habe ihn nach seinen Bekannten gefragt. Nur Schulfreunde. Außerdem behauptet er, er hätte in der Tasche ein Loch gehabt, und deshalb seien die Schlüssel auf den Fußboden gefallen.“ „Das klingt glaubwürdig“, räumte der Leutnant ein, „die Tat hat kein Minderjähriger begangen. Der Täter muß die häuslichen Verhältnisse der Legats genau gekannt haben. Er hat von dem Verkauf des Autos gewußt und stammt somit aus dem Kreis der näheren oder ferneren Bekannten. Wenn er also zur Eisbahn gegangen wäre, hätte sich der Junge gewiß seiner erinnert. Ich bin eher bereit anzunehmen, daß der Täter über die Schlüssel des Ingenieurs oder über die seiner Frau verfügte.“ „Das ist unmöglich“, erwiderte Hanka. „Herr Legat hat seine Schlüssel in einem Futteral. Außerdem stecken an dem Ring nicht nur die Wohnungsschlüssel, sondern auch noch andere, die vom Schreibtisch zu Hause und im Büro und früher noch der Reserveschlüssel vom Auto.“ „Ein Fachmann braucht nur einen kurzen Moment, um sich einen Schlüsselabdruck zu verschaffen. Es genügt, den Schlüssel in ein Stück Plastilin zu drücken. Herr Legat konnte seine Schlüssel für eine Weile auf den Tisch gelegt oder sie an der Schublade seines Schreibtisches hängengelassen haben. Und der Täter ist zweifellos ein guter Fachmann, denn er hat die Schlüssel, wie wir wissen, fehlerfrei nachgemacht. Beim Yaleschloß ist das nicht so einfach, da sind hohe Präzision und Sachkenntnis erforderlich.“ „Noch einfacher wäre es wohl gewesen, die Schlüsselabdrücke vom Bund der Frau Legat zu bekommen“, bemerkte der Staatsanwalt. „Eine Frau legt ihre Handtasche stets irgendwo ab. Die Schlüssel für einen kurzen Augenblick herauszunehmen und sie später wieder hineinzutun 119
bereitet einer Person, die außerhalb jeden Verdachts steht, keine Schwierigkeiten. Und der Täter muß in den Augen der Hausbewohner bis zum Augenblick des Mordes einen untadeligen Ruf genossen haben, er genießt ihn sicherlich auch jetzt noch. Deshalb ist es ja so schwer, einen Anhaltspunkt für unsere Ermittlungstätigkeit zu finden, was natürlich in keiner Weise Fräulein Hankas Erfolg schmälern soll.“ „Sie haben völlig recht, Herr Staatsanwalt“, stellte der Leutnant fest. „Der Täter ist offensichtlich ein Amateur, der die Spuren geschickt verwischt hat und den niemand verdächtigt.“ „Daß ihn niemand verdächtigt, will ich gern einräumen, aber ich glaube nicht, daß er ein ausgesprochener Amateur ist“, sagte der Staatsanwalt. „Im Gegenteil, dank Fräulein Hankas Entdeckung würde ich ihn mit dem Urheber all jener geheimnisvollen Diebstähle identifizieren, die seit mehreren Jahren in diesem Bezirk begangen worden und bis auf den heutigen Tag unaufgeklärt geblieben sind. Ich bin der Meinung, daß man auf sie zurückgreifen muß. Vielleicht finden wir jetzt einen Fixpunkt, der damals unserer Aufmerksamkeit entgangen ist. Übrigens, je mehr Delikte dieser Art wir haben, desto umfangreicher ist das Material, über das die Untersuchungskommission verfügt. Wir müssen alles noch mal aus dem Archiv ausgraben und neu durchstudieren.“ „Sie nehmen an, Herr Staatsanwalt, daß jene Diebstähle und dieser Mord auf ein und dieselbe Person zurückgehen?“ fragte der Leutnant erstaunt. „Meist erarbeitet sich jeder Gesetzesbrecher nur eine Taktik. Die wendet er so lange an, bis er hereinfällt. Ein Taschendieb bricht keine Kassen auf. Ein Einbrecher, der einmal vom Keller aus in einen Laden gelangt ist, benutzt 120
später fast immer denselben Weg und dieselben Werkzeuge. An der Einbruchstechnik erkennt man häufig gleich, wer der Täter ist.“ Der Leutnant lächelte. „Das ist uns sehr wohl bekannt. Darum verbinde ich den Mord in der Buczekstraße auch nicht mit den Diebstählen in diesem Bezirk.“ „Warum nicht? Wo wir jetzt doch schon wissen, daß der Täter mittels nachgemachter Schlüssel in die Wohnung gelangte? Also auf die gleiche Weise wie bei den sieben anderen Diebstählen. Daß er vorher niemanden gemordet hatte, ist lediglich einer glücklichen Verkettung von Umständen zuzuschreiben. Niemand hatte ihn bei der Arbeit gehindert. Auch in die Buczekstraße kam er nicht in der Absicht, einen Mord zu begehen. Dazu entschloß er sich erst, als er beim Stehlen ertappt wurde.“ „Einverstanden, Herr Staatsanwalt“, erwiderte der Leutnant. „Aber es besteht ein wesentlicher Unterschied darin, wie das Verbrechen durchgeführt wurde. Bei jenen sieben Diebstählen hatte sich der Täter bemüht, nicht die geringste Spur zu hinterlassen. Jeder Gegenstand, jedes Wäschestück blieb an seinem Platz. Der Täter nahm Schmuck und Geld und verdünnisierte sich. Die Wohnungsinhaber wußten manchmal längere Zeit gar nicht, daß sie bestohlen worden waren. Das war sehr geschickt gemacht. In der Buczekstraße ist es ganz anders. Dort hat sich der Einbrecher nicht nur nicht bemüht, seine Tat zu verbergen, sondern demolierte obendrein mit merkwürdiger Zerstörungswut die gesamte Einrichtung. Der Gipfel war die Zertrümmerung eines wertvollen MasłowskiBildes. Natürlich, der Umschlag mit dem Geld konnte hinter dem Holzrahmen stecken. Dieses Versteck wird sogar häufig benutzt. Warum aber gleich das ganze Bild vernichten? Das ist ein wesentlicher Unterschied.“ 121
„Er mag aufgeregt gewesen sein, weil er das Geld nicht gleich gefunden hat“, warf Hanka ein. „Warum sollte er sich aufregen? Er wußte nicht, daß die Rosińska nahte. Da er die Gepflogenheiten des Hauses kannte, glaubte er, sich bis zwei Uhr in der leeren Wohnung völlig frei bewegen zu können. Übrigens nimmt das Vernichten von Büchern und Bildern, das Herauswerfen von Wäsche aus den Schränken mehr Zeit in Anspruch, als wenn man ruhig nach Geld sucht.“ „Da mögen Sie recht haben“, räumte der Staatsanwalt ein. „Außerdem besteht noch ein Unterschied, der ebenfalls seine Bedeutung besitzt. Jener Dieb oder jene Diebe haben keinen Wertgegenstand verschmäht. Aus zwei Wohnungen nahmen sie sogar Pelze mit. In vier Fällen ließen sie das Silber mitgehen, vom Schmuck ganz zu schweigen. Der Mann aus der Buczekstraße machte ausschließlich Jagd auf Geld. Er ließ Gegenstände im Wert von vielen tausend Złoty in der Wohnung zurück. Zum Beispiel das Tischsilber, das Frau Legat von ihren Großeltern geerbt hat und das für Kenner einen hohen Wert besitzt.“ „Trotzdem möchte ich die Geschichte der Diebstähle kennenlernen. Schicken Sie mir doch bitte die Akten herüber. Ich studiere sie gern einmal durch.“ „Morgen haben Sie sie, Herr Staatsanwalt. Natürlich werde ich sie ebenfalls durchsehen. Vielleicht irre ich mich wirklich. In dieser Frage scheue ich mich, irgendwelche Hypothesen aufzustellen. Um so mehr in Fräulein Wróblewskas Gegenwart. Sie wäre womöglich wieder bereit, mir eins auszuwischen, indem sie nachweist, daß Männer zur Leitung eines Ermittlungsverfahrens nicht geeignet sind.“ 122
„Gut, daß Sie’s endlich zugeben“, sagte Hanka lachend. „Als Amateur, so bezeichnen Sie mich ja ständig, hätte ich aber auch noch eine Bitte. Ich weiß nicht, ob ich mich damit an den Herrn Staatsanwalt zu wenden habe oder an den Vertreter der Miliz.“ „Bitte, worum handelt es sich?“ „Ich hätte ebenfalls gern eine Liste dieser geheimnisvollen Diebstähle gehabt.“ „Vielleicht möchten Sie die Akten durchsehen?“ fragte der Staatsanwalt. „Zwar widerspricht das den Vorschriften, aber erstens sind die Untersuchungsverfahren sicherlich schon niedergeschlagen, und zweitens haben Sie uns so große Dienste geleistet, daß wir eine Ausnahme machen können.“ „Vielen Dank, Herr Staatsanwalt. Das ist gar nicht nötig. Ich gebe mich mit den Personalien der Bestohlenen zufrieden.“ „Ich sehe, unser Sherlock Holmes im Rock hat schon wieder eine neue Konzeption parat“, rief der Staatsanwalt lachend. „Hüten Sie sich vor einer neuen Blamage, Herr Leutnant.“ „Vielleicht wird’s nicht so schlimm, womöglich gelingt uns von der Miliz auch mal was. Und was die Liste betrifft, die bekommen Sie morgen, wenn wir uns sehen.“
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ZEHNTES KAPITEL
Der Mann mit der Maske Am nächsten Tage erschien Hanka Wróblewska nicht zur gewohnten Stunde in der Kommandantur der Miliz. Leutnant Widerski wartete vergeblich. Wie immer war das Mädchen einige Minuten nach eins von den Vorlesungen nach Hause zurückgekehrt. Als sie die Treppe hinaufstieg, stand jemand im ersten Stock vor der Deubel-Wohnung. Offenbar hatte er gerade erst geklingelt und wartete, daß man ihm die Tür öffnete. Der Mann hielt der Vorübergehenden den Rücken zugekehrt und schenkte ihr keinerlei Beachtung. Als Hanka die Stufen emporstieg, die zur nächst höheren Etage führten, vernahm sie hinter sich leise, leichte Schritte. Da wandte sie sich plötzlich um, und das rettete ihr das Leben. Sie erblickte einen erhobenen Arm mit einem Gegenstand aus hellem Metall in der geballten Faust. Unter der Mütze steckte kein Gesicht, lediglich ein straffgezogenes, schleierähnliches Gebilde. Das Mädchen schrie auf vor Entsetzen und hob instinktiv die Hand. In Sekundenbruchteilen fiel der Schlag. Hanka spürte einen durchdringenden Schmerz im Unterarm wie im Schädel und stürzte bewußtlos auf die Treppe. Als erste vernahm Danusia Deubel den Lärm. Sie hatte gerade einen freien Tag nach einer Nachtschicht im Fernsehfunk und befand sich im Zimmer in der Nähe der Wohnungstür. Als sie sie öffnete, war der Angreifer nicht mehr im Treppenflur. Sie hörte auch niemanden 124
hinunter- oder zu den oberen Etagen hinauflaufen. Nur Hanka Wróblewska lag bewußtlos auf dem Treppenabsatz. Nach einer flüchtigen Untersuchung stellte der Arzt fest, daß die Bewußtlosigkeit durch einen heftigen Schlag auf den Kopf verursacht worden sei. Die Patientin wurde sofort ins Krankenhaus gebracht, weil befürchtet wurde, daß die Schädeldecke verletzt und eine Gehirnerschütterung eingetreten sein könnte. Zum Glück bestätigte das Röntgenbild diese Befürchtungen nicht. Die erhobene Hand und eine dicke Mütze hatten den kräftigen Hieb weitgehend abgeschwächt. Auch die Kommandantur der Miliz wurde von dem Vorfall unterrichtet. Widerski fuhr sofort ins Krankenhaus, wo man ihm mitteilte, daß das Leben des Mädchens außer Gefahr sei und sie in einer, spätestens zwei Stunden das Bewußtsein wiedererlangen werde. Anschließend begab sich der Leutnant in die Buczekstraße neunzehn, um die Aufhellung dieses zweiten, zum Glück mißlungenen Mordes einzuleiten. Leider gelang es immer noch nicht, irgendwelche Spuren zu finden. Fräulein Deubel, die ja als erste auf den Schrei im Treppenflur reagiert hatte und zu Hilfe geeilt war, sagte aus, daß in dem Augenblick, als sie die Wohnungstür öffnete, auf der Treppe völlige Ruhe geherrscht habe. Der Täter hatte sich offenbar, nachdem er den Schlag versetzt hatte, blitzschnell entfernt. Einer der Kriminalisten machte ein paar Kinder ausfindig, die in dieser Zeit auf dem Grünstreifen in der Buczekstraße gespielt hatten. Die kleinen Zeugen behaupteten steif und fest, kein Fremder sei aus dem Vordereingang des Hauses herausgekommen. Aber der Täter war ja auf diesen Fluchtweg nicht angewiesen 125
gewesen. Er brauchte nur auf den Hof gelangt zu sein, ihn überquert und durchs Tor die Masurskastraße erreicht zu haben. Die Bewohner der oberen Stockwerke, die fast gleichzeitig mit Danusia zu Hilfe geeilt waren, hatten ebenfalls keinen Verdächtigen bemerkt. Aus der Buczekstraße kehrte der Leutnant zum Krankenhaus zurück. Hanka hatte inzwischen das Bewußtsein wiedererlangt. Der Kopf schmerzte, aber noch mehr Beschwerden machte die Verletzung am Arm. Zum Glück war auch hier der Knochen nicht verletzt. Das Mädchen verlangte, nach Hause gebracht zu werden, die Ärzte wollten davon jedoch nichts hören. Sie vertrösteten sie auf später, vielleicht in drei, vier Tagen, wenn eine genaue Diagnose vorliege und die Gewißheit bestünde, daß es keine Komplikationen geben würde. Hanka versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Ich hatte Glück, ein Amateurdetektiv hat eben doch einen schnellen Reflex. Aber der Arm tut verdammt weh.“ „Wie war das, Fräulein Hania?“ fragte der Leutnant. „Tja, wenn ich das wüßte. Wie ich feststellen muß, ist es einfacher, fremder Leute Ungeschick zu beobachten als das eigene. Eigentlich weiß ich gar nichts.“ „Fangen wir von vorn an. Was haben Sie am Morgen getan?“ „Ich habe am frühen Morgen, vor neun, das Haus verlassen und bin zur Medizinischen Akademie gegangen.“ „Haben Sie dort jemanden auf der Straße herumlungern sehen?“ „Nein, niemanden.“ 126
„Sind Sie die Treppe allein oder in Begleitung hinuntergegangen?“ „Allein. Vor mir ging der Nachbar aus der dritten Etage, aber ich habe kein Wort mit ihm gewechselt. Übrigens kenne ich ihn wenig. Er wohnt erst seit vier Jahren bei uns. Und wir anderen schon von Anfang an.“ „Was war hinterher?“ „Die Vorlesungen waren drei Viertel eins zu Ende. Von der Akademie bin ich gleich nach Hause gegangen.“ „Haben Sie wieder niemanden bemerkt?“ „Niemanden. Es war ein schöner Tag, und auf der Straße spielten Kinder. Manche aus unserem Haus, die anderen aus den Nachbarhäusern. Ungefähr zehn.“ „Haben Sie Bekannte getroffen?“ „Nein, keinen.“ „Gut. Was war dann?“ „Ich betrat das Haus und begann die Treppe hochzusteigen. In der ersten Etage stand ein Mann vor der Haustür der Deubels.“ „Wie sah er aus?“ „Er fiel nicht besonders auf. Ich habe ihn mir auch nicht näher angesehen. Er stand mit dem Rücken zu mir. Ich nahm an, er wartete darauf, daß man ihm die Tür öffnete. Ich wollte ihm sogar sagen, daß um diese Zeit bei Deubels niemand da sei.“ „Es war jemand da. Fräulein Danka Deubel hatte einen freien Tag. Sie eilte Ihnen als erste zu Hilfe. Aber sie behauptet, es hätte niemand bei ihnen geklingelt. War der Mann groß?“ „Größer als ich.“ „Das sagt mir nicht viel. Für eine Frau sind Sie verhältnismäßig groß. Wohl ein Meter fünfundsechzig …“ „Siebenundsechzig.“ 127
„Aber ein Mann von dieser Größe gilt als klein. War er viel größer als Sie?“ „Wohl kaum. Ich würde sagen, mittelgroß.“ „Und sein Körperbau?“ „Das weiß ich nicht. Er hatte einen weiten Mantel an.“ „Von welcher Farbe?“ „Dunkel. Vielleicht braun.“ „Vielleicht oder bestimmt?“ „Vielleicht.“ „Und die Haarfarbe?“ „Die habe ich nicht gesehen. Er hatte eine Mütze auf. Eine Fahrradmütze. Sicher eine dunkle, wohl schwarz. Noch etwas. Er hatte den Mantelkragen hochgeklappt.“ „Hat er sich nicht umgedreht, als er Sie kommen hörte?“ „Nein, er hielt mir die ganze Zeit den Rücken zugewandt.“ „Und dann?“ „Ich überquerte den Treppenabsatz und stieg höher, ohne ihn zu beachten. Da vernahm ich hinter mir Schritte. Verdächtig leise. Deshalb drehte ich mich auch um. Er schlich mir nach.“ „Sahen Sie ihn?“ „Als ich mich umwandte, befand er sich schon hinter mir. Vor allem bemerkte ich seine erhobene Hand, in der er einen hellen Gegenstand hielt.“ „Eine Axt? Einen Hammer? Ein Stück Eisen?“ „Eher ein Stück Eisen. Jedenfalls keine Axt. Ich hob den Arm über den Kopf und fing an zu schreien. Aber ich schaffte es nicht mehr, mich vollends zu decken. Mein Arm bekam etwas ab und der Kopf. Sonst erinnere ich mich an nichts mehr. Mir wurde schwarz vor Augen, ich fühlte, wie ich fiel. Aufgewacht bin ich erst hier im Bett.“ 128
„Und das Gesicht des Mannes? Seine Augen?“ „Er hatte kein Gesicht. Das war das Furchtbare. Unter dem Mützenschirm war ein schwarzer Fleck, ohne Augen, ohne Mund. Nur die Nase war leicht angedeutet.“ „Ungefähr so?“ Der Leutnant holte ein Stück schwarzen Seidenstrumpf aus seiner Uniformtasche und zog ihn übers Gesicht. Das Mädchen zuckte vor Angst zusammen. „Genau so. Jetzt könnte ich schwören, daß Sie’s gewesen sind, Herr Leutnant“, rief sie und lachte blaß. „Zum Glück habe ich ein Alibi.“ Der Polizeioffizier sagte das halb scherzend, halb im Ernst. „Ein dunkler Strumpf also. Jetzt verstehe ich …“ „Ich nehme an“, fügte Widerski hinzu, „daß der Angreifer die Maske bereithielt. Nachdem Sie an ihm vorübergegangen waren, zog er sie mit einer einzigen Bewegung von der Stirn übers ganze Gesicht, holte ein Brecheisen aus der Manteltasche und schlich Ihnen nach. Aber er machte das etwas zu laut. Er kam nicht darauf, die Schuhe auszuziehen. Wenn er in Socken gewesen wäre, hätten Sie seine Schritte nicht gehört.“ „Bestimmt nicht“, räumte das Mädchen ein. „Eben die leisen Schritte haben mich stutzig gemacht. Wäre er forsch drauflosgegangen, dann weiß ich nicht, ob ich ihn beachtet hätte.“ „Unter diesen Umständen wage ich nicht einmal zu fragen, ob Sie ihn erkennen würden.“ „Bestimmt nicht.“ „In der Buczekstraße war ich schon, habe aber nichts erreicht. Der Täter scheint sich gleichsam in Luft aufgelöst zu haben. Niemand hat ihn aus dem Haus kommen sehen oder gehört, daß einer die Treppe hinuntergelaufen wäre. Ich hatte angenommen, er sei nach oben gerannt, um die Ver129
folger irrezuführen, aber auch das trifft nicht zu. Man hat Ihren Schrei sogar in der dritten Etage vernommen. Die Leute, die dort aus den Wohnungen stürzten, haben auch niemanden bemerkt. Andererseits ist es gut, daß Sie so laut geschrien haben. Der Mann bekam Angst. Einen zweiten Schlag wagte er nicht mehr, obwohl, wie man sieht, ihm viel daran gelegen war, die Schar der Engel zu vergrößern.“ „Eben das kann ich nicht begreifen. Warum wollte er mich ins Jenseits befördern? Ich trage doch keine Schätze mit mir herum. Zu Hause haben wir keine Wertsachen, weil wir nicht im Überfluß leben. Meine Mutter muß an allen Ecken und Kanten sparen und vollbringt wahre Wunder, damit wir was Anständiges auf dem Leib und im Magen haben.“ „Das Mordmotiv war nicht materieller Natur“, antwortete der Leutnant. „Also Rache für die Sache mit der Butter?“ „Selbst wenn man annimmt, der Mörder weiß von Ihrer Entdeckung, ist Rache ausgeschlossen. Nebenbei, ich bin neugierig, ob Sie jemandem von unserer Zusammenarbeit erzählt haben?“ „Davon wissen vor allem meine Freunde, die mich gezwungen haben, zur Miliz zu gehen. Sonst habe ich niemandem außer Frau Popiela und Herrn Deubel etwas erzählt.“ „Danke, das genügt! Also wissen es alle. Ein Geheimnis, das man zwei Personen anvertraut, hat man Tausenden anvertraut. Ich hatte ganz und gar vergessen, Ihnen einzuschärfen, daß man volle Diskretion wahren müsse. Aber konnte ich ahnen, daß Sie bei so guten Arbeitsergebnissen gleichzeitig so naiv und leichtsinnig sein würden? Sie haben dafür teuer bezahlt, buchstäblich den eigenen Kopf hingehalten.“ 130
„Also doch Rache.“ „Nein. Einfach Angst. Entweder befürchtet der Täter, daß Ihren ersten Enthüllungen weitere folgen könnten, die zu einer unmittelbaren Entlarvung führen, oder er fürchtet …“ „Was?“ „Das, was Sie Ihren ‚Alpdruck‘ genannt haben. Sie gingen am Tage des Verbrechens die Treppe hinunter und trafen jemanden, der heraufkam. Den Täter eben. Er kennt Sie, und er lebt in der ständigen Angst, daß Sie ihn sich gemerkt haben oder daß Sie sich noch erinnern könnten, wer es gewesen ist. Deshalb wollte er lieber nicht riskieren zu warten, sondern hat zugeschlagen.“ „Er hat wirklich zugeschlagen“, sagte das Mädchen lachend, „aber ich habe eben Glück.“ „Ich glaube, sehr viel sogar. Mehr jedenfalls als Verstand.“ „Man soll kranke Menschen nicht ärgern!“ rief Hanka. „Gut, ich tu’s nicht mehr. Aber jetzt bin ich vollends überzeugt, daß das kein Traum gewesen ist, sondern daß Sie den Mörder wirklich gesehen haben. Mehr noch, Sie müssen ihn kennen. Wenn Sie sich erinnern könnten, wer damals die Treppe heraufkam, wäre die Sache geklärt.“ „Leider geht das nicht. Ich habe es so oft versucht. Ohne Erfolg.“ „Versuchen Sie es noch einmal. Hier im Krankenhaus. Ein paar Tage völlige Ruhe könnten das entsprechende Resultat bringen.“ „Gleich ‚ein paar Tage‘. Spätestens morgen gehe ich weg von hier. Vielleicht noch heute abend.“ „Davon kann keine Rede sein. Im Krankenhaus sind Sie sicher. Wenn Sie es verlassen, müssen wir uns 131
überlegen, wie wir Sie schützen. Schlimmstenfalls geben wir Ihnen für ein paar Tage eine Bewachung.“ „Einen Geheimen? Damit er ständig hinter mir herläuft? Nein, vielen Dank, ich bin entschieden dagegen.“ „Wie Sie wollen“, sagte der Leutnant fast im Ernst. „Ich zweifle nicht, daß sich Staatsanwalt Szczerbiński dazu überreden läßt, Ihnen Schutzhaft angedeihen zu lassen. Das wäre sogar sicherer. Der Krug geht nämlich so lange zum Wasser, bis er bricht. Diesmal gelang es dem Burschen nicht, Sie aus dem Weg zu räumen. Wer garantiert uns, daß er seine Bemühungen nicht wiederholt?“ „Und meine Liste?“ „Die bringe ich Ihnen morgen. Hierher, ins Krankenhaus. Jetzt gehe ich zum Staatsanwalt. Ich muß ihm Bericht erstatten.“ Der Leutnant verabschiedete sich von der Kranken. Staatsanwalt Witold Szczerbiński hörte sich den Bericht des Kriminalbeamten über den Anschlag auf Hanka Wróblewska aufmerksam an. „Da alles gut gegangen ist“, stellte er fest, „bin ich sogar über den Vorfall froh. Es gibt Anzeichen, daß sich der Mörder im Kreise der Personen befindet, die in der Umgebung des Hauses in der Buczekstraße anzutreffen sind. Entweder einer von den Hausbewohnern oder jemand, dessen Aufenthalt dort niemanden in Erstaunen setzt. Dagegen beweist seine Tat deutlich, daß er in Panik geraten ist. Er fühlt sich ernstlich bedroht und fürchtet, jeden Augenblick entlarvt zu werden. Er glaubt auch, daß sich der Schlüssel zur Lösung des Rätsels in den Händen des Mädchens befindet. Deshalb wollte er sie zum Schweigen bringen. Ein für allemal.“ 132
„Wir werden ihr irgendeinen Schutz gewähren müssen, wenn sie das Krankenhaus verlassen hat. Sie will zwar davon nichts wissen, und ich habe ihr mit Schutzhaft gedroht, aber mir erscheint das notwendig.“ „Natürlich“, bestätigte der Staatsanwalt, „obwohl ich bezweifle, daß der Verbrecher den Überfall wiederholen wird. Das wäre doch ein gewaltiges Risiko für ihn.“ „Jetzt hat er eigentlich nichts mehr zu verlieren. Wenn man ihn gleich nach der Ermordung der Rosińska gefaßt hätte, könnte er noch mit der Ausrede kommen, er habe den Mord aus Angst begangen, weil sie ihn beim Stehlen erwischte. Er könnte behaupten, im Affekt gehandelt zu haben, ohne zu wissen, was er tat. Jetzt werden ihm solche Erklärungen nichts nützen. Der Überfall auf die Wróblewska war ein kalt geplanter Mordversuch.“ „Sie haben recht“, räumte der Staatsanwalt ein. „Er hat alle Brücken hinter sich abgebrochen. Ich rechne mit weiteren Fehlern von seiner Seite. Mich macht nur stutzig, daß es ihm so schnell gelungen ist zu entkommen. Niemand hat ihn gesehen, niemand hat auch nur seine Schritte gehört.“ „Ich vermute, er ist gar nicht geflohen.“ „Was denn? Hat er sich in Luft aufgelöst?“ „Er hat sich einfach noch einmal der Schlüssel zur Legat-Wohnung bedient.“ „Daran habe ich nicht gedacht.“ „Das ist meine Meinung“, sagte der Leutnant. „Als er zu der Einsicht gelangt war, die Wróblewska töten zu müssen, kam er frühmorgens in die Buczekstraße. Ich sage ‚kam‘, obwohl ich nicht ausschließe, daß er in diesem Haus wohnt. Hier öffnete er die Legat-Wohnung und ging hinein. Er stand am Fenster und lauerte auf das Mädchen. Als er sie auf der Straße ankommen sah, verließ er die 133
Wohnung, schlug jedoch die Tür nicht zu, sondern lehnte sie nur an, stellte sich an die Wohnungstür gegenüber, bei Deubels, tat, als ob er gerade geklingelt hätte, wartete auf sein Opfer und schlug zu. Dann versteckte er sich wieder bei Legats. Diesmal schloß er die Tür ab. In der Wohnung wartete er, bis sich die Aufregung gelegt hatte, und während sich alle mit der Rettung des Mädchens befaßten, schlüpfte er in aller Ruhe aus dem Haus.“ „Das war von seiner Seite äußerst riskant.“ „Im Gegenteil, Herr Staatsanwalt. In dieser Situation war es das geringste Risiko, das er wählen konnte. Er wußte genau, daß die Wohnung vom frühen Morgen bis halb drei leer stand. Ein ausgezeichneter Beobachtungsposten. Auf der Straße oder im Treppenflur hätte man ihn bemerkt. In der Wohnung war er völlig sicher. Und nach dem Überfall war es der kürzeste Weg. Zwei Sätze, dann ein leises Schließen der Tür. Kein Wunder, daß die junge Deubel niemanden gesehen und keine Schritte gehört hat.“ „Vielleicht hat er diesmal in der Legat-Wohnung Spuren hinterlassen, die es gestatten, ihn zu identifizieren?“ „Sie unterschätzen ihn, Herr Staatsanwalt. Er ist ziemlich gerissen. Kardaś hat nichts gefunden. Die Legats und ihre Kinder haben auch nichts bemerkt.“ „Sie sollten aber unverzüglich die Schlösser auswechseln.“ „Ich hoffe, daß Kardaś sie von dieser Notwendigkeit überzeugt hat. Das wird übrigens nicht lange helfen.“ „Wieso?“ „Wenn der Täter schon einmal die Schlüssel zu ihrer Wohnung bekommen hat, wird er sich notfalls zum zweitenmal auf die gleiche Weise zu helfen wissen. Er gehört doch zum Bekanntenkreis der Legats und steht außerhalb jeden Verdachts. Ich bin sicher, daß ihn noch 134
mehr Personen in der Buczekstraße kennen. Unter anderem auch Fräulein Wróblewska. Das war der wichtigste Anlaß für den Überfall. Der Mann fällt nicht auf, weil alle an seine tägliche Anwesenheit gewohnt sind.“ „Nicht unbedingt. Er kann ein Bekannter von Legat oder dessen Frau sein. Zum Beispiel ein Kollege. Das ist gar nicht ausgeschlossen.“ „Bis zum Überfall auf die Wróblewska war das nicht ausgeschlossen. Gegenwärtig ist die Annahme hinfällig. Der Kreis der Menschen, aus dem der Mörder stammt, hat sich beträchtlich verengt. Ich halte das für die positive Seite dieses Überfalls. Ein Arbeitskollege der Frau Legat oder ihres Mannes hätte Fräulein Wróblewska gar nicht gekannt und brauchte nicht zu befürchten, daß sie ihn wiedererkennen könnte.“ „Sie haben recht, Herr Leutnant.“ „Außerdem ist da noch ein Argument. Fräulein Hanka hatte nichts Besseres zu tun, als der Putzfrau Popiela und dem Nachbarn Deubel von ihrer Ermittlungstätigkeit zu erzählen. Natürlich hat sich die Kunde davon im ganzen Haus verbreitet. Erst da fühlte sich der Mörder bedroht. Als er nämlich erfuhr, daß Hanka mit uns zusammenarbeitet. Hieraus ergibt sich die eindeutige Schlußfolgerung, daß der Täter entweder ein Bewohner des Hauses Buczekstraße Nummer neunzehn ist oder daß er Kontakt zu den Bewohnern unterhält.“ „Diese Popiela hat ihren Arbeitgebern von Fräulein Hankas Entdeckung erzählt. Die Legats können das auch an ihrer Arbeitsstelle weiterverbreitet haben.“ „Diese Möglichkeit besteht freilich“, sagte der Leutnant zögernd, „aber ein Kollege aus dem Büro oder ein Lehrer aus der Schule, in der Frau Legat unterrichtet, hätte Fräulein Wróblewskas Gewohnheiten nicht gekannt. Er wüßte 135
nicht, daß das Mädchen gewöhnlich dann nach Hause zurückkehrt, wenn die Wohnung im ersten Stock noch leer ist, die zuerst als Beobachtungsposten und später, nach dem Überfall, als Versteck dienen konnte. Übrigens haben wir eine ziemlich genaue Milieubefragung durchgeführt. Im Betrieb des Ingenieurs und in der Schule seiner Frau besitzen alle ein Alibi. Niemand hat an dem betreffenden Tag gefehlt, und wenn jemand in die Straße gegangen ist, so hätte er nicht soviel freie Zeit gehabt, um einen Diebstahl zu organisieren, der mit einem Mord endete. Die Alibis für den heutigen Tag werden wir erneut überprüfen.“ In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Der Staatsanwalt nahm den Hörer ab und reichte ihn dem Leutnant. „Für Sie.“ Widerski hörte sich ein paar Sätze an und dankte. „Ein Anruf von der Kommandantur“, erklärte er. „Hanka Wróblewska hat dort gerade angerufen. Sie wollte mich sprechen. Als sie erfuhr, daß ich außer Haus bin, hat sie darum gebeten, mir folgendes zu übermitteln: Ihr ist eingefallen, daß der Mantel, den der Mann anhatte, als er den Überfall auf sie verübte, das Eigentum Józef Legats sei.“ „Das ist geradezu unglaublich“, rief der Staatsanwalt. „Aber es geschehen noch ganz andere Dinge auf dieser Welt. Sich selbst zu bestehlen und die Schwiegermutter zu töten. Ungeheuerlich!“ „Nein, Herr Staatsanwalt. So ist es nicht gewesen. Wir haben auch das Alibi der Legats überprüft. Die beiden sind in Ordnung.“
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ELFTES KAPITEL
Ein neuer Diebstahl Hanka Wróblewska konnte das Krankenhaus erst nach sechs Tagen verlassen. Die Folgen des Überfalls waren ernster gewesen, als man im ersten Augenblick angenommen hatte. Der Schock, den Sie erlitten hatte, ging nur langsam zurück. In dieser Zeit führte Leutnant Roman Widerski fieberhaft seine kriminaltechnischen Recherchen. Es wurde festgestellt, daß der Mantel, den der Mörder anhatte, immer auf einem der beiden Kleiderhaken im Flur der Legat-Wohnung hing. Dieses Kleidungsstück hatte der Besitzer ausschließlich auf Autofahrten benutzt. Jetzt, nachdem er den Wagen verkauft hatte, trug er den Mantel nicht mehr. In den Taschen wurde nichts gefunden. Die Überprüfung des Alibis der Hausbewohner sowie der Arbeitskollegen der Legats brachte die Ermittlungstätigkeit keinen Schritt weiter. Dafür ereignete sich in diesen Tagen etwas, was erneut die gesamte Kommandantur der Miliz auf die Beine brachte. In der Masurskastraße, Nähe Podhalańska, wohnte das Ehepaar Maria und Tadeusz Iwanowski. Ihr älterer Sohn hatte vor einem Jahr die juristische Fakultät an der Kopernikus-Universität in Toruń beendet und war als Gerichtsreferendar in Gdańsk angestellt. Grzegorz, der jüngere Sohn, stand vor dem Abitur. Iwanowski arbeitete in der Hafenverwaltung, seine Frau beim Magistrat. An diesem Tage war Grzegorz gegen drei Uhr aus der Schule nach Hause gekommen. Als er die Tür öffnete, 137
fiel ihm die Unordnung auf, die in der Wohnung herrschte. Alle Schränke und Schubladen waren geöffnet. Mitten in einem der beiden Zimmer lag ein kleiner Stoß Wäsche und Kleidung. Der Junge warf einen Blick in einen der Schränke und bemerkte, daß sein neuer Anzug verschwunden war, den er sich für die Schulabschlußfeier angeschafft hatte. Er rief sofort seine Mutter an, die die Miliz verständigte, als sie nach Hause kam. Der Verlust war erheblich. Der Dieb hatte alle wertvollen Kleidungsstücke mitgenommen. Zum Glück war in der Wohnung kein Bargeld vorhanden. Der Einbrecher hatte aber auch die alte, schadhafte Uhr des Hausherrn nicht verschmäht. Wie etwas später festgestellt wurde, hatten der oder die Täter die Sachen in zwei Koffer gepackt, die sie in der Wandnische im Flur vorgefunden hatten. Insgesamt waren zwei Anzüge des Hausherrn gestohlen worden, ein Anzug des Sohnes, drei Perlonmäntel, vier bügelfreie Hemden, gebraucht, aber in gutem Zustand. Außerdem hatte der Täter Frau Marias Cocktailkleid mitgenommen, das sie erst zwei Wochen zuvor gekauft hatte, drei andere Kleider, zwei Röcke, zwei Pullover sowie Wäsche. Bereits bei einer flüchtigen Besichtigung der Wohnung war festzustellen, daß die in der fremden Wohnung wirtschaftenden Diebe es nicht eilig gehabt hatten. Was ihnen in die Hände fiel, hatten sie sich genau angesehen, hatten es entweder in einen der beiden Koffer gepackt oder auf den Fußboden geworfen. Anfangs hatten sie es auch auf die Bettwäsche abgesehen. Dann überlegten sie es sich anders und ließen sie, zu einem großen Bündel verschnürt, in der Wohnung zurück. Offenbar befürchteten sie, daß sie mit einem so großen Paket, in dem sich 138
Decken und Kissen befanden, das begreifliche Interesse einer Streife erwecken könnten. Mit den beiden Koffern war es anders. Man brauchte nur den Taxistand zu erreichen, und im Nu war man verschwunden. Aber darüber zerbrachen sich die Sachverständigen der Miliz nicht den Kopf. Ihre Aufmerksamkeit erregte vor allem der Umstand, daß die Wohnungstür wie gewöhnlich verschlossen war, als Grzegorz aus der Schule kam. Frau Maria, die früh die Wohnung als letzte verlassen hatte, erinnerte sich genau, daß sie die Tür abgeschlossen und außerdem, wie gewohnt, auf die Klinke gedrückt hatte, um sich zu vergewissern, daß die Tür zu war. Also wieder ein Rätsel. Somit drängte sich die Schlußfolgerung auf, daß der Dieb zu dieser Wohnung einen passenden Schlüsselsatz besessen haben mußte, ebenso wie zu der Wohnung in der Buczekstraße neunzehn, wo Łucja Rosińska ermordet worden war. Da beide Fälle eine offensichtliche Verwandtschaft zeigten, übertrug der Kommandant der Miliz, als er von dem neuen Diebstahl erfuhr, wiederum Leutnant Widerski das Ermittlungsverfahren. Etwa zwei Stunden nachdem Frau Iwanowska Alarm geschlagen hatte, erschien der Leutnant am Tatort. Die Untersuchungskommission steckte noch mitten in der Arbeit. Am Küchentisch saß gerade ein Experte und prüfte durch ein Vergrößerungsglas alle Schlösser, die er aus der Eingangstür herausgeschraubt hatte. „Genau wie in der Buczekstraße, Herr Leutnant“, sagte er, „keine Spur davon, daß ein Dietrich angefertigt oder daß versucht worden wäre, das Sicherheitsschloß herauszuheben. Der Bursche muß richtige Schlüssel zu allen Schlössern besessen haben.“ 139
„Spuren habe ich eine ganze Menge“, prahlte der Meister der Daktyloskopie. „Das gibt Arbeit für einen ganzen Tag, wenn man auch mit bloßem Auge erkennen kann, daß es die von den Iwanowskis sind. Aber wir wollen sehen, vielleicht findet sich doch noch etwas.“ „Herr Leutnant, besteht eine Chance?“ fragte Frau Maria. Der Diebstahl bedrückte die Familie sehr. Der Verlust des Sachwertes von etwa zwanzigtausend Złoty traf sie empfindlich. Vater und Sohn hatten beinahe nur das behalten, was sie gerade auf dem Leibe trugen. Der Frau war nicht viel mehr als die Sommerkleidung geblieben, die der Dieb zurückgelassen hatte, offenbar mit der Überlegung, daß er im Dezember Schwierigkeiten haben würde, sie abzusetzen. „Seien Sie unbesorgt“, tröstete sie der Leutnant, „wir werden alles tun, um den Täter dingfest zu machen und das gestohlene Gut wiederzufinden. Morgen ist Markttag in Stargard, wir schicken einen von unseren Leuten dorthin. Übrigens haben wir auch noch andere Methoden. Stellen Sie bitte fest, was Ihnen alles fehlt, und beschreiben Sie möglichst genau jeden Gegenstand.“ „Das haben wir schon getan“, warf Kardaś ein, „ich habe die Liste fertig.“ „War die Wohnung versichert?“ fragte der Leutnant. „Leider nicht. Wir wollten es schon immer tun, aber wir kamen nie dazu. Durch Schaden wird man klug“, seufzte Iwanowski. „Gut, daß wenigstens mein Bisampelz gerettet ist. Ich hatte ihn heute an. Es sah aus, als ob’s ein schöner Tag werden würde, nur leichter Frost. Der Pelz sollte mal ordentlich durchlüften. Ein Glück, sonst hätten sie ihn auch mitgenommen.“ 140
Während die Untersuchungskommission weiter nach Spuren forschte und die drei Geschädigten vernahm, verglich der Leutnant den Verlauf beider Diebstähle, Masurskastraße und Buczekstraße, miteinander. Die größte Ähnlichkeit bestand darin, daß der Dieb einen Satz Schlüssel besaß, mit deren Hilfe er unbemerkt in die Wohnung gelangt war. Zweitens hatte er sich eine Wohnung ausgesucht, die am Tage leer stand, weil sich ihre Eigentümer entweder an ihrer Arbeitsstelle oder in der Schule befanden. Drittens war der Diebstahl ungefähr zur gleichen Tageszeit durchgeführt worden, und viertens war der Dieb über die täglichen Gepflogenheiten der Bewohner informiert, denn er wußte genau, wie lange er in der Wohnung unbehindert hantieren konnte. In beiden Fällen deutete nichts daraufhin, daß er es eilig gehabt hätte. Darüber hinaus fielen aber auch deutliche Unterschiede ins Gewicht. Der hervorstechendste war, daß der Dieb in der Buczekstraße ausschließlich Geld gesucht hatte. Nur deshalb hatte er den Einbruch verübt. Das wertvolle Silber hatte er verschmäht, auch den teuren englischen Stoff und sämtliche Kleidungsstücke. Dabei standen sich die Legats besser als die Angestelltenfamilie in der Masurskastraße. Hier jedoch hatte der Einbrecher sogar gebrauchte, wenn auch nicht abgetragene Sachen mitgenommen. Das gab zu denken. Wenn ein und dieselbe Person beide Einbrüche begangen hätte, so war nicht klar, warum sie sich beim zweitenmal so gierig zeigte. Zwei Wochen zuvor hatte sie sechsundachtzigtausend Złoty erbeutet. Hatte sie dann gebrauchte Hemden nötig? Außerdem hatte der Täter in der Buczekstraße viele Gegenstände vernichtet. Als habe er sich obendrein an dem Wohnungsinhaber für irgendeine wirkliche oder eingebildete Unbill rächen wollen. In der 141
Masurskastraße hatte der Dieb jedes Kleidungsstück geprüft und Sachen von geringem Wert beiseite gelegt. Die Sommerkleider der Hausfrau hingen unangetastet im Schrank. Mit einem Wort, die Technik des Einbruchs war die gleiche, die Durchführung jedoch völlig anders. Sollte der Verbrecher die Miliz irreführen gewollt haben, indem er seine Taktik änderte? „Darf ich Ihnen einen Kaffee machen?“ fragte Frau Iwanowska. „Nein, vielen Dank.“ Im Namen der ganzen Untersuchungskommission lehnte der Leutnant ab. „Kannst ihn ruhig machen“, sagte Tadeusz Iwanowski zu seiner Frau. „Uns wird bei all der Aufregung ein starker Kaffee auch guttun.“ „Ein Glück, daß das noch so gut abgegangen ist“, tröstete sich die Hausfrau. „In der Zeitung habe ich gelesen, daß eine Frau nach Hause kam, gerade als der Dieb Geld suchte, und ermordet wurde.“ „Das ist erst kürzlich geschehen. Hier in der Nähe, in der Buczekstraße“, ergänzte der Gatte. „So, aber jetzt den Kaffee.“ Mit diesen Worten machte der Hausherr die Tür der Anrichte auf. Frau Iwanowska hatte vorher hineingesehen und mit Erleichterung festgestellt, daß nichts verschwunden war. Ihr Mann bemerkte jedoch eine Veränderung. „Sieh, Mutter, der Schuft hat meinen Wodka ausgetrunken. Ich hatte noch fast einen halben Liter Ebereschenschnaps, jetzt sind nur ein paar Tropfen übrig. So eine Gemeinheit!“ „Nicht anfassen!“ rief der Leutnant und lief zur Anrichte. „Welche ist es?“ 142
Die Frage war überflüssig. In der Anrichte standen verschiedene Büchsen, darunter welche mit Kaffee, aber nur zwei Flaschen. Die eine mit Kirschsaft und die andere mit einem Rest Flüssigkeit, deren Farbe an Teer erinnerte. Der Daktyloskop sprang zur Anrichte, holte behutsam die Flasche aus dem Schränkchen – dabei benutzte er ein Stück Lignin –, stellte die Flasche auf den Tisch und bestäubte sie mit einem weißen Pulver. An mehreren Stellen traten die charakteristischen Spuren der Papillarlinien hervor. Jetzt übertrug sie der Sachverständige auf Blätter aus Spezialpapier und verschloß sie vorsichtig in einem Umschlag, den er mit der Aufschrift „Schnapsflasche“ versah. Gespannt verfolgte die Familie Iwanowski jeden Handgriff. „Ich glaube, das sind andere“, rief der Kriminaltechniker, „solche habe ich in der Wohnung noch nicht gefunden.“ „Merkwürdig“, sagte Kardaś. „Ich war überzeugt, daß der Dieb Handschuhe getragen hat. Schlösser und Klinken waren völlig sauber.“ „In Handschuhen, obendrein in dicken, kann man aus einer Flasche keinen Korken herausziehen“, sagte einer der Kriminalisten lachend. „Trinken tut sich’s auch nicht bequem. Man muß ständig Angst haben, daß einem die Flasche aus der Hand fällt und nichts vom Schnaps übrigbleibt.“ „Woraus hat er getrunken?“ fragte der Leutnant. „Vielleicht liegt in der Küche im Abwasch ein Schnapsglas.“ „Da ist nichts“, erklärte der Daktyloskop. „Die Küche habe ich schon untersucht. Sie haben aus der Flasche getrunken, nach Daumenmaß.“ „Getrunken hat nur einer. Wären es zwei gewesen, hätten sie die Flasche bis auf den letzten Tropfen geleert. 143
Einer allein nimmt nur ein paar Schluck, um sich nicht zu besaufen. Deshalb der Rest.“ „Ich dachte, wir könnten zum Kaffee wenigstens ein Gläschen trinken. Aber mußte sich doch dieser Gauner auch noch an der Flasche vergreifen.“ „Macht nichts“, tröstete ihn einer von der Untersuchungskommission. „Wir werden Anlaß haben, etwas zu begießen, wenn wir dem Dieb die Sachen wieder abgeknöpft haben.“ In diesem Augenblick führte ein Kriminalbeamter einen Mann in die Wohnung. „Herr Leutnant“, meldete er. „Bürger Mysłowski hat interessante Dinge mitzuteilen.“ Edward Mysłowski arbeitete als Lokführer auf einem Güterbahnhof. In dieser Woche hatte er Nachtschicht von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh und also tagsüber frei. Unaufgefordert begann er sofort mit einem umständlichen Bericht über die Ereignisse der letzten Zeit. „Was haben Sie beobachtet?“ unterbrach ihn der Leutnant, weil er befürchtete, der brave Eisenbahner werde ihm seinen ganzen Lebenslauf servieren. „Bei solchem Wetter hat man keine Lust, aus dem Bau zu gehen. Höchstens nachmittags mit den Kindern. Man muß sich ja mal die Beine vertreten. Oder die Frau will ins Kino. Der Schlaf von sieben bis elf genügt mir eigentlich vollauf. Erst wenn ich wieder zur Arbeit muß, mach’ ich vorher noch ein Nickerchen.“ Resigniert hörte der Leutnant zu. Gegen das Mitteilungsbedürfnis eines Schwätzers ist eben kein Kraut gewachsen. Um so mehr, wenn sich der Mitteilende ob seines Informationsvorteils für den Helden des Tages hält. „Vorgestern ging ich gegen elf ’runter. Nur um Zigaretten zu holen. Da seh’ ich, wie einer vor unserm Haus 144
’rumstreicht. Und gestern hatte meine Frau mich gebeten, bis Mittag die Schuhe vom Schuster zu holen. Ich also aus dem Haus. Und dieser Bursche lungert wieder auf der Straße ’rum. Als ob er auf jemanden wartet oder was beobachtet.“ „Und heute? Haben Sie ihn auch gesehen?“ „Eben. Ich habe ihn gesehen. Ich hole die Zeitung, und weil mir der Kopf etwas weh tut, geh’ ich in die Jagiellońskastraße ein Bier trinken. Aber mehr nicht, Herr Leutnant. Ich bin schon lange Lokführer, und ich kenne die Vorschriften. Nur ein Helles. Zurück komme ich durch die Allee der Nationalen Einheit, weil ich mir ein Paar Hosen im Laden ansehen wollte. Mein Sohn braucht welche. Ich bin noch nicht an der Masurskastraße, da seh’ ich wieder den Mann, wie er zwei Koffer schleppt. Braune. Der eine mit ’ner Schnur zusammengebunden, weil das Schloß abgerissen ist.“ „Das sind unsere, ganz bestimmt sind es unsere!“ rief Frau Iwanowska, rot im Gesicht. „Der größere hatte ein kaputtes Schloß. Ja, stimmt genau.“ „Wie sah der Mann aus?“ „Er hinkte.“ „Sehr?“ „Nein. Sehr nicht. Aber als er die Koffer schleppte, konnte man es deutlich sehen. Ich erinnere mich sogar, daß es das linke Bein war.“ „War er groß?“ „Nein. Kleiner als ich.“ „Das ist keine Kunst“, bemerkte der Leutnant. Der Lokführer war ein baumlanger Kerl, mindestens einsfünfundachtzig groß. „Er war viel kleiner“, berichtigte sich der Eisenbahner. „Vielleicht fünfzehn Zentimeter.“ 145
„Was hatte er auf dem Kopf?“ „Eine Mütze. Mit hellbraunem Grätenmuster. Ziemlich abgetragen. Er trug keinen Wintermantel, nur einen leichten, obwohl es heute frostig ist.“ „Und sein Gesicht? Haben Sie es gesehen?“ „Ein rundes Gesicht. Am Ohr hatte er einen dunklen Fleck, groß wie eine Kirsche. Den konnte ich gut sehen, weil er an der Seite saß, wo ich vorüberging, nämlich rechts, etwas tiefer als das Ohr. Am Oberkiefer. Genauso einen Fleck, nur noch etwas röter, hatte mein Vetter, aber der lebt nicht mehr. Schon fünf Jahre …“ Der Leutnant mußte im stillen zugeben, daß sich der geschwätzige Lokführer durch eine scharfe Beobachtungsgabe auszeichnete. Das ist übrigens für Eisenbahner in gewissem Maße charakteristisch. Signale, Schilder, die Lichter der Weichen. „Strecke frei“, „Halt“ oder „Vorsicht“. Von dem Reflex eines Lokführers hängt manchmal nicht nur sein Leben, sondern auch das Hunderter Passagiere ab. „Bei dieser Personenbeschreibung“, bemerkte der Kriminalist Leon Janik, „fällt mir ein Devisenschieber ein. Er heißt Baranowski, mit Vornamen wohl Franciszek. Genannt haben ihn alle ‚Baran‘ oder ‚Hinkebein‘. Er gab verschiedene Gründe an, warum er hinkte. Angeblich hat er einmal zwei Bauersleuten ein gefälschtes Zwanzigdollargoldstück andrehen wollen, das des hübschen Klanges wegen aus Porzellan oder Kristall gemacht war. Schon hatten seine Handelspartner ihr Geld aus der Tasche ziehen wollen, da war ihm die Münze aus der Hand gefallen und auf dem Bürgersteig in tausend Stücke zerschellt. Baran nahm die Beine in die Hand, aber seine Kunden holten ihn ein und traktierten ihn so gründlich, daß er sich ein Bein brach.“ 146
„Also Baran oder Baranowski“, sagte der Leutnant. „Das muß nachgeprüft werden.“ „Es wird wohl nicht der gleiche sein“, bemerkte ein anderer Mitarbeiter. „Einem Baran bin ich nämlich auch begegnet, aber der hat vier Jahre aufgebrummt bekommen und sitzt wohl noch.“ „Hatte der ein Muttermal?“ fragte der Leutnant. „Eben nicht“, erwiderte der Kriminalbeamte bestimmt. „Mein Baran hinkte zwar, aber auf dem Gesicht habe ich bei ihm nichts Abnormes gesehen.“ „Würden Sie ihn auf einem Foto wiedererkennen, Herr Mysłowski?“ „Sicherlich“, behauptete der Eisenbahner. „Die drei Male, die er mir begegnet ist, habe ich mir den Galgenvogel gut angeschaut. Hat mir gleich nicht gefallen. Unsere Straße ist nicht sehr belebt. Es sind wenige Läden da. Die Leute aus den anliegenden Häusern kennt man ja. Wenn nicht dem Namen nach, so doch vom Sehen.“ Der Leutnant blickte auf die Uhr. Es war kurz vor sieben. „Würden Sie gleich mal mit uns zur Kommandantur fahren?“ schlug er vor. „Am besten ist es, wenn die Erinnerung frisch ist. Wir zeigen Ihnen ein Verbrecheralbum. Dieser Baran oder Baranowski ist doch auch bei uns verewigt?“ „Na sicher“, bestätigte Janik, „er ist ja ein bekannter Valutaschieber. Ständig drückt er sich vor Sparkassen und in Kneipen, in denen ausländische Matrosen einkehren, herum. Mehrere Male vorbestraft. Nicht nur für Devisenschmuggel. Er hatte auch vorher schon eine Sache, ich weiß nicht genau, was es war, weil ich an der Ermittlung nicht teilgenommen habe. Ich weiß nur, daß eine Prostituierte mit dem schönen Namen ‚Königin der 147
Nacht‘ im Lokal ‚Bajka‘ einen warm gewordenen Schiffskapitän betrunken gemacht hatte. Ein Däne war’s wohl, vielleicht auch Holländer. Als der Käptn voll war, setzte sie ihn in ein Taxi. Angeblich wollten sie zu ihr auf die Bude. In der Wyspiańskistraße, am Kasprowiczpark, führte sie den Mann an einen einsamen Ort, wo Baran und noch ein anderer auf der Lauer lagen. Sie prügelten den Holländer, bis er das Bewußtsein verlor, und nahmen ihm die Uhr und die Brieftasche weg, in der sich viertausend Zloty und über dreihundert Dollar befanden. Gleich am nächsten Tag wurden sie gefaßt. Uhr und Dollars erhielt der Kapitän wieder. Nur das polnische Geld war verschwunden. Die ‚Königin der Nacht‘ bekam fünf Jahre. Der andere sieben. Baran kam mit dreien oder sogar nur mit zweien davon, weil das ganze Bargeld und die Uhr bei den beiden anderen gefunden wurde und der Kapitän nur von einem langen Kerl und einer Frau, die ihn geschlagen hätten, sprach. Nach dem Strafvollzug beteiligte er sich nicht mehr an Raubüberfällen, sondern kehrte zum Devisenschmuggel zurück. Aber wieder erlebte er mit Dollars einen Reinfall.“ „Also was, fahren wir? Oder möchten Sie lieber morgen früh?“ „Warum nicht gleich? Zur Arbeit, um zehn, komme ich noch zurecht. Ich steige nur zu Hause ab, damit mir meine Frau ein Kännchen Kaffee und etwas zu essen macht. In einer Viertelstunde bin ich fertig.“ In der Kommandantur der Miliz legte man dem Eisenbahner eine reiche Bilderkollektion vor. Fast die gesamte Verbrecherwelt der Hafenstadt war vertreten. Mysłowski sah sich die Alben aufmerksam an. Bei bestimmten Fotos überlegte er lange. Schließlich, nach zweistündigem Studium, reichte er dem Leutnant drei Bilder. 148
„Die hier sehen ihm am ähnlichsten“, stellte er fest, „vor allem das mittlere Foto. Aber keiner hat einen Fleck auf der Wange. Und der ihm am meisten ähnelt, ist etwas zu jung. Meiner war älter, viel verbrauchter.“ Die Aufnahme, die der Lokführer als die ähnlichste bezeichnete, war ein Foto von Władysław Baranowski, das ein Gefängnisfotograf in einer Strafanstalt gemacht hatte. Es stammte aus dem Jahre 1961, als Baranowski entlassen wurde, nachdem er drei Jahre für einen Raubüberfall abgesessen hatte. Die beiden anderen waren im Szczeciner Raum bekannt gewordene Kriminelle, die, da sie diese Stadt ungastlich fanden, vor zwei Jahren in einen anderen Winkel Polens verzogen waren. Wie sich herausstellte, lebte Baranowski seit zwei Monaten bereits wieder auf freiem Fuße, da man ihm wegen guter Führung einen Teil der Strafe erlassen hatte. Er war nicht nur in die Stadt, sondern auch in sein „Fach“ zurückgekehrt. Zwar hatte man ihn vorläufig noch nicht beim Devisenhandel erwischt, doch war er häufig in den Aufkaufstellen für ausländische Waren anzutreffen, wo er als „Strohmann“ auftrat. Leute, die viel Waren ausländischer Herkunft besitzen, ziehen es häufig vor, ihre Namen nicht in den Aufkaufstellen anzugeben. Für fünfzig Złoty oder einen Hunderter lassen sie sich von einem Mittelsmann vertreten, der die Ware auf seinen Namen verkauft, während der tatsächliche Eigentümer vor dem Laden auf das Geld wartet. In der Rangordnung der Unterwelt einer Hafenstadt steht der Strohmann auf unterster Stufe. Sein Geschäft bedeutet absoluten Niedergang. Schon am nächsten Morgen erkannte ein Kriminalbeamter Baranowski vor der Aufkaufstelle in der Allee der Unabhängigkeit und nahm ihn fest. 149
ZWÖLFTES KAPITEL
Der Mörder kommt nicht Leutnant Widerski begann das Verhör. „Da sind Sie also wieder, Baranowski“, sagte er, nachdem er zunächst die Personalien aufgenommen hatte. „Als Sie in die Freiheit gingen, hatten Sie versprochen, uns nicht mehr über den Weg zu laufen. Schlimm, schlimm.“ „Noch ist es nicht verboten, vor Schaufenstern zu stehen und sich die Waren hinter Glas anzusehen. Ich hab’ von einem gehört, in Warschau, das war sogar ein Studierter und soll beim Juwelier die Scheiben mit einem Stein eingeschlagen haben. Ich hatte jedenfalls keinen Stein bei mir.“ „Machen Sie mir nichts vor, Baranowski. Wir wissen beide, was los ist.“ „Herr Leutnant, was ist schon dabei, wenn man sich manchmal ein paar Groschen nebenbei verdient? Wenn jemand mit einem Päckchen nicht in einen Laden gehen will, sondern mich drum bittet, dann ist das Privatsache. Und als mich dieser …“ Baranowski biß sich rechtzeitig auf die Zunge, um sich keine zusätzliche Strafe wegen Behördenbeleidigung einzuhandeln. „Als mich der Herr Kriminalrat stellte, hatte ich überhaupt nichts in der Mache. Nicht mal im Laden war ich drin.“ „Sie wissen genau, daß es nicht darum geht. Woher haben Sie übrigens jetzt das Muttermal im Gesicht? Als ich Sie zum letztenmal sah, noch bevor Sie im Knast saßen, hatten Sie das Schönheitspflästerchen noch nicht.“ 150
„Das war so ein Spaß unter Freunden“, erklärte der Devisenschieber. „Ich hab’ einen sehr festen Schlaf. Man kann mich nicht nur aus dem Zimmer tragen, man kann mich auch ins Wasser legen, ich wache nicht auf. Und als ich einmal wieder so schön schlief, da hat mir einer aus Quatsch eine brennende Zigarette ins Gesicht gedrückt. Es hat richtig nach verbranntem Fleisch gestunken, nur, ich bin nicht aufgewacht. So einen festen Schlaf hab’ ich.“ Der spinnt, dachte der Leutnant, aber es geht mich ja nichts an, und er fragte weiter: „Und was haben Sie in den letzten drei Tagen in der Masurskastraße gemacht?“ „Da bin ich noch nie gewesen.“ „Noch nie gewesen? Seltsam. Man hat Sie dort in den Morgenstunden gesichtet. Und gestern haben Sie zwei schwere Koffer geschleppt. Von der Masurskastraße bis zum Taxistand an der Ecke.“ „Ich nicht! Es gehn ja wohl noch mehr Leute mit Koffern über die Straße.“ „Hören Sie, Baranowski, Sie wollen doch nicht etwa die Miliz für dumm verkaufen. Sie sind nun mal ’reingefallen. Da ist es am besten, die Wahrheit zu sagen. Wo sind die Sachen?“ „Ich weiß von nichts, Herr Leutnant.“ „Gut, Sie wollen nicht reden. Na, dann nicht. Wenn Sie das nur nicht bereuen. Sie sind ein zu alter Hase, als daß ich Ihnen sagen müßte, daß das Gericht ein ehrliches Geständnis und die Rückgabe der gestohlenen Sachen immer berücksichtigt. Wenn man verspielt hat, muß man zahlen.“ „Ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr Leutnant“ „Gut. Wenn Sie sich nicht erinnern, was in der Masurskastraße gewesen ist, dann werden wir ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Hier ist jemand, der Sie erkannt hat.“ 151
Eine Gegenüberstellung wurde verfügt. Baranowski mußte sich zusammen mit sieben Personen in eine Reihe stellen. Darunter waren Kriminalbeamte und Delinquenten leichteren Kalibers, die aus verschiedenem Anlaß festgehalten wurden. Ohne lange zu überlegen, zeigte der Lokführer auf den Devisenschieber. „Der ist es! Bestimmt!“ „Ich sehe den Herrn zum erstenmal“, entgegnete Baran. „Das ist nicht wahr“, rief der Eisenbahner empört. „Ich habe drei Tage hintereinander gesehen, wie er in der Nähe unseres Hauses herumgestrolcht ist. Und gestern trug er zwei schwere Koffer. Er bog aus der Masurskastraße in die Allee der Nationalen Einheit und kam dicht an mir vorbei. Beinahe hätte er mich angestoßen.“ „Also was, Baranowski?“ fragte Leutnant Widerski, als sie wieder allein waren. „Ich weiß von nichts.“ „Dann unterhalten wir uns eben über die Buczekstraße.“ „Was denn für eine Buczekstraße?“ „Als ob Sie nicht wüßten, wo die Buczekstraße liegt. Von der Masurskastraße sind es nur ein paar Schritte. Ich kann Sie auch an die Hausnummer erinnern, Nummer neunzehn. Eine Wohnung im ersten Stock. Da haben Sie die Tür ebenfalls mit Nachschlüsseln geöffnet. Die Rosińska hat Sie bei der Arbeit gestört, also haben Sie sie … Ich hätte nur gern gewußt, womit Sie’s getan haben.“ „Ach, so ist die Sache.“ Der Mann heuchelte Erstaunen. „Danebengetippt, Herr Kommissar. Es wird Ihnen nicht gelingen, mich in diese Geschichte zu verwickeln.“ „Vielleicht doch. Dort hat man Sie nämlich auch gesehen. Ich werde Zeugen bringen, die Sie wiedererkennen. Bei einer Gegenüberstellung, genau so, wie wir’s gerade praktiziert haben.“ 152
„Der alte Esel lügt doch wie gedruckt. Das können andere auch. Um so schlimmer für die Miliz. Die ganze Stadt wird sich über euch lustig machen.“ „Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Wenn Sie heute keine Lust haben, dann reden wir eben morgen miteinander. Vielleicht werden Sie gesprächiger, wenn Sie wieder eine Weile gesessen haben.“ „Warum nicht? Gefängnisse sind doch dazu da.“ Der Verhaftete blieb weiterhin stur. Als er von der Buczekstraße gesprochen hatte, glaubte der Leutnant echtes Selbstbewußtsein aus seinen Worten herausgehört zu haben. Der Offizier war überzeugt, daß der Einbrecher über den Diebstahl in der Masurskastraße reden würde, wenn man ihm konkrete Beweise entgegenhielt. Bereits die Gegenüberstellung hatte einen nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht. Sollten es zwei verschiedene Dinge sein? überlegte Widerski, nachdem er Baranowski in die Zelle zurückgeschickt hatte. In der Buczekstraße handelte es sich um einen Mordfall. Wenn er mit ihm etwas zu tun gehabt hätte, wäre er nicht so unverschämt gewesen. Er würde lügen, was das Zeug hielt. Statt dessen war er von einer weiteren Gegenüberstellung nicht im geringsten beeindruckt. Sicherheitshalber empfahl der Kriminalist dem Fotografen, Baranowski in verschiedenen Haltungen aufzunehmen. Unter anderem, wie er eine Treppe hoch- und heruntersteigt. Als die Bilder drei Stunden später auf dem Tisch lagen, sah Widerski sie sich an, steckte sie in die Tasche und fuhr zu Anna Wróblewska ins Krankenhaus. Er gab die Hoffnung nicht auf, daß sich das Mädchen an die geheimnisvolle Gestalt erinnern würde, die sie am achtzehnten November gesehen hatte. 153
„Nein, das ist er nicht.“ „Bestimmt? Irren Sie sich nicht?“ „Ganz bestimmt.“ „Und welchen Unterschied sehen Sie zwischen ihm und dem Mann auf der Treppe?“ „Das kann ich nicht sagen. Ich bin nur sicher, daß es nicht derselbe Mann ist.“ „Wann verlassen Sie das Krankenhaus?“ „Morgen nachmittag. Endlich. Dieses Festhalten gesunder Menschen in Betten sollte strafbar sein.“ „War der Mann von der Treppe größer? Oder anders angezogen? Nicht im Mantel, sondern in einer Joppe? Oder nur im Anzug?“ „Fragen helfen da nicht weiter, Herr Leutnant. Ich kann mich nicht erinnern. Ich habe viel über diese möglicherweise nur eingebildete Begegnung nachgedacht, aber ohne Erfolg. Nichts zu machen.“ Als der Leutnant aus dem Krankenhaus zurückkam, wartete bereits Kriminalassistent Maliniak auf ihn. Der Junge kannte fast die gesamte Verbrecherwelt der Hafenstadt: die Dirnen und ihre „Beschützer“, die Devisenhändler und die für sie arbeitenden Geldschieber sowie ihre Strohmänner. Seit dem frühen Morgen war er Spuren in diesen Kreisen nachgegangen. Und mit gewissem Erfolg. Als er in das Gebäude der Kommandantur zurückkehrte, brachte er eine Menge Neuigkeiten über den festgehaltenen Baran alias Władysław Baranowski mit. Nach Baranowskis Rückkehr aus dem Gefängnis, wo er über drei Jahre gesessen hatte, wollte ihn keiner mehr ins illegale Finanzgeschäft aufnehmen. Es waren alte Rechnungen zu begleichen, die noch aus der Zeit des letzten Reinfalls stammten. Um ein milderes Urteil bemüht, hatte Baranowski einen der Haie der Szczeciner Schwarzmarkt154
börse hochgehen lassen. Auch soll die Miliz bei ihm bedeutend weniger Gold gefunden haben, als er von Währungsschiebern für den Kauf eines Dollarpostens, bei dem er gefaßt wurde, erhalten hatte. Anfangs, gleich nachdem er ausgepackt hatte, hielt man ihn sogar für einen Spitzel. Erst der Prozeß und das strenge Urteil vermochten ihn in den Augen der Unterwelt teilweise zu rehabilitieren. Jedenfalls fand Baranowski nach Verlassen der Strafanstalt alle Türen verschlossen. Er wollte auf eigene Faust arbeiten, aber um mit Devisen zu handeln, mußte er über mehrere Tausende verfügen oder einen Rückhalt bei einer Bank besitzen. Sonst fiel es sogar schwer, Verbindungen zu bekommen, um so mehr, als die „Konkurrenz“ nicht schlief. Trotzdem trieb sich Baranowski, sooft es ging, an Orten herum, wo man einem Ausländer den Wechsel von Dollars oder anderer Währungen zu einem günstigeren Kurs anbieten konnte, als er regulär an den Kassen des Reisebüros zu haben war. Ein paarmal wurde ihm bedeutet, er solle sich aus dem Staube machen. Als das nicht half, kam es zu einer großen Schlägerei vor der „Kaskade“. Wer weiß, ob Barans Karriere damit nicht endgültig geendet hätte – denn die Unterwelt schlägt hart zu –, wenn nicht im kritischen Moment ein Funkwagen erschienen wäre. Nebst zwei anderen Teilnehmern an der Prügelei wurde Baranowski festgenommen. Man brachte sie ins Gefängnis. Dort erzählten alle einmütig das Märchen von der Schlägerei um ein Mädchen. Daß es um größere Abrechnungen ging, ließ sich schwer nachweisen. Jedenfalls übergab man die Sache dem Schnellrichter und ließ die drei nach achtundvierzig Stunden Haft frei. Die Prügelei hatte sich in der Nacht vom fünfzehnten zum sechzehnten November zugetragen. Am Sonnabend, 155
dem achtzehnten November, gegen elf Uhr vormittags, wurden die Galgenvögel aus der Haft entlassen. „Jetzt verstehe ich“, der Leutnant lachte, nachdem er sich den Bericht des Kriminalassistenten angehört hatte, „warum Baranowski keine Angst bekam, als ich von dem Verbrechen in der Buczekstraße sprach. Er hat das beste Alibi, das man haben kann, er saß nämlich in Haft. Das wollte er erst später angeben, um uns in den Augen des Staatsanwalts lächerlich zu machen.“ „Das ist noch nicht alles“, fuhr Maliniak in seinem Bericht fort. „Bevor man ihn einsperrte, hatte er in Szczecin eine Freundin, eine ‚Verlobte‘, wie sie das nennen. So eine Dirne zweiter Sorte. Als er freikam, kehrte er zu ihr zurück. Sie jagte ihn zwar weg, und er wohnt nicht bei ihr, aber sie haben sich offenbar versöhnt und kombinieren miteinander, denn man hat sie in letzter Zeit zusammen gesehen.“ „Hat das Mädchen Familie? Man muß eine Durchsuchung vornehmen, auch bei ihren Freundinnen und deren Beschützern. Die Sachen müssen irgendwo versteckt sein.“ „Ich habe eine ganze Liste von Namen“, brüstete sich das „Szczeciner Kind“. „Ich vermute, daß sich die Ware bei dem Bruder der Dirne in Gryfino befindet. Der ist auch so ein Früchtchen. Hat bereits zweimal gesessen. Manchmal arbeitet er auf dem Bau. Jetzt war er zwei Jahre ohne Arbeit. Wovon er lebt? Man hat ihn lange nicht mehr gefaßt.“ Eine halbe Stunde später fuhren vier Wagen der Miliz durch die Stadt. Der eine bog in Richtung Gryfino ab. Dort wurden auf dem Dachboden des Hauses, das Bronisław Kluch bewohnte, in einem Haufen Sägespäne zwei Koffer gefunden. Einer davon war verschnürt. Nach 156
den Koffern befragt, erwiderte Kluch, er wüßte nicht, wie sie dorthin gekommen seien, und kenne auch nicht ihren Inhalt. Ohne viel Federlesens verluden die Kriminalbeamten die Sachen in den Funkwagen, in dem sich auch ein Platz für Bronisław Kluch fand. Kaum drei Stunden waren vergangen, da landete die Expedition vor dem Gebäude der Kommandantur in Szczecin. Wie erwartet, fanden sich in den Koffern alle Sachen wieder. Kluch änderte, als Widerski ihn verhörte, die Taktik. „Gestern abend“, erklärte er, „kam ein Bekannter mit einem Taxi zu mir. Er erzählte, er habe sich mit seiner Frau entzweit und heimlich das Haus verlassen. Er bat, die Koffer gut aufzubewahren, weil seine persönlichen Dinge darin wären. Seine Frau dürfe auf keinen Fall davon Wind bekommen.“ „Wie heißt Ihr Bekannter?“ „Seinen Namen kenne ich nicht. Wir haben zusammen auf dem Bau in der Allee der Polnischen Armee gearbeitet. Da, wo vorher die Privatläden waren.“ „Sie kennen sich so wenig, und doch hat er Sie in Gryfino ausfindig gemacht?“ „Im Sommer war er bei mir gewesen. Zum Angeln.“ „Interessant. Hatte er in Szczecin zuwenig Wasser?“ Kluch schwieg. „Ich werde Ihnen Ihren Bekannten zeigen.“ Der Leutnant entnahm der Schreibtischschublade die neuesten Fotos von Baranowski und legte sie auf den Tisch. „Ist es der?“ Bronislaw Kluch tat, als sähe er die Bilder aufmerksam an. „Nein, der nicht. Den sehe ich zum erstenmal.“ „Das hab’ ich mir gedacht. Irena, Ihre Schwester, hat ihn sicher auch nicht gesehen. Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Kluch? Sie kennen Baran nicht?“ 157
Der Gryfinoer machte ein sehr erstauntes Gesicht. „Das soll Baran sein? Den hab’ ich nicht erkannt. Wie man sich doch im Gefängnis verändern kann.“ „Auch Sie werden sich verändern. Ich habe nämlich den Eindruck, daß Sie die Sachen aus der Masurskastraße teuer zu stehen kommen. Um so mehr, da Sie lügen, was das Zeug hält. Aber auch darauf muß man sich verstehen. Sie graben sich selbst das Wasser ab. Baran kann nicht mehr helfen, er sitzt nämlich bei uns unten. Er wurde von Zeugen erkannt und hat Abdrücke in der Wohnung hinterlassen. Wenn Sie zusammen mit ihm ’reinfliegen wollen, bitte, es steht Ihnen frei. Ich an Ihrer Stelle würde die Wahrheit sagen.“ „Ehrenwort, Herr Leutnant, ich weiß wirklich nicht, woher er die Koffer hat und was drin versteckt war. Erst hier habe ich die ganze Bescherung gesehen. Er sagte, ich soll sie verstecken, so hab ich’s eben getan. Wie sollte ich ahnen, daß sich dieser Idiot an unsaubere Arbeit wagt, statt bei seinem Fach zu bleiben?“ „Wann hat er die Koffer gebracht? Ist er es gewesen, oder war es Irena?“ „Er. Er war allein.“ Kluch beschloß, wenigstens die Schwester zu decken. „Er kam gestern, gegen drei.“ „Mit dem Taxi?“ „Das weiß ich nicht. Ich hab’s nicht gesehen. Er kam mit den Koffern angeschleppt und sagte: ‚Bronek, bewahr die Sachen ein paar Tage auf, bis ich in Szczecin eine Bleibe gefunden habe. Aber versteck sie, es könnt’ jemand danach fragen‘.“ „Wer sollte fragen?“ „Ich dachte die, mit denen er Devisengeschäfte gemacht hat. Sie hatten ihm übelgenommen, daß er ein paar Tausender von ihrem Geld verjubelt hat. Das war, bevor 158
er die drei Jahre abgesessen hat.“ „Und Sie haben dem Baran Glauben geschenkt und die Koffer auf dem Dachboden mit Sägespänen zugedeckt?“ „Ich hab’ ihm gesagt, wenn er nicht will, daß man sie sieht, dann soll er sie selbst auf den Boden tragen. Er nahm einen und stieg die Leiter hoch. Beinah wäre er von oben heruntergestürzt und hätte sich den Hals gebrochen. Dann bat er, daß ich ihm den zweiten von unten reiche. Was er mit ihnen gemacht hat, hab’ ich nicht nachgeprüft.“ „Warum haben Sie nicht gleich Ihr Geständnis abgelegt, als die Miliz sich bei Ihnen erkundigte, ob Baran gestern irgendwelche Sachen mitgebracht hätte?“ „Ich habe nicht geglaubt“, sagte Kluch aufrichtig, „daß Sie es wüßten und daß man die Koffer auf dem Boden findet.“ „Immerhin gut, wenn Sie sich davon überzeugt haben, daß die Miliz doch so allerhand ’rausbekommt. Hätten Sie von Anfang an die Wahrheit gesagt, kein Mensch hätte Sie mitgenommen. Aber jetzt geht’s vor den Staatsanwalt.“ „Herr Leutnant, lassen Sie mich frei.“ Kluch schlug einen reumütigen Ton an. „Sie wissen selbst, daß ich das nicht kann. Sie sind zu spät klug geworden.“ „Ich habe eine Frau und zwei Kinder.“ „Da denken Sie jetzt erst dran? Sie tun doch gar nichts für deren Unterhalt. Wenn Ihre Frau nicht verdiente, hätten die Kinder nichts zu beißen. Sie luchsen ihr noch von ihrem bescheidenen Verdienst etwas ab für Schnaps. Wo arbeiten Sie?“ „Ich hatte gerade etwas auf der Baustelle in Pogodno in Aussicht.“ 159
„Das können Sie alles dem Staatsanwalt sagen. Ich kann Sie nicht freilassen. Sie hätten eben keine Dummheiten machen sollen.“ Die Ergebnisse der daktyloskopischen Analyse bestätigten das Untersuchungsmaterial. Die Fingerabdrücke auf der Flasche mit dem Ebereschenschnaps stammten mit hundertprozentiger Sicherheit von Baranowski. Leutnant Widerski lud ihn zu einem erneuten Verhör. Der Dieb ahnte noch nicht, daß die Miliz der so listig versteckten Beute habhaft geworden war und daß sich der Bruder des Mädchens in nächster Nachbarschaft befand. Er gestand deshalb nichts. „Hören Sie, Baranowski“, erklärte der Leutnant, „spielen Sie nicht den Naiven. Das hat keinen Sinn. Zeuge Mysłowski hat Sie erkannt. Wir besitzen auch Fingerabdrücke von Ihnen, die in der Wohnung in der Masurskastraße gefunden wurden.“ „Das kann nicht stimmen. Ich bin dort nie gewesen.“ „Daß Sie während der Ausführung Ihrer Tat Handschuhe getragen haben, ist uns bekannt, sicherlich die Wollhandschuhe, die wir in Ihrem Mantel fanden. Aber als Sie die Wodkaflasche aufmachen wollten, mußten Sie sie ausziehen. Sonst wäre es schwierig gewesen, den Korken herauszudrehen. Auch hätte Ihnen die Flasche aus der Hand rutschen und auf den Fußboden fallen können. Das wäre ein großer Verlust gewesen, stimmt’s? Wo sie doch fast voll war. Jedenfalls blieben auf diese Weise Ihre Fingerabdrücke auf dem Glas.“ Baranowski wurde rot, aber er schwieg. „Was haben Sie mit den Sachen gemacht? Mit den zwei Koffern, die Sie schleppten, als Mysłowski Sie traf?“ „Ich habe keine Koffer getragen.“ 160
„Soll ich sie Ihnen zeigen? Sie haben sie bis nach Gryfino gebracht. Wir mußten extra einen Wagen hinschicken. Die Mühe hätten Sie sich sparen können.“ Mit diesen Worten öffnete der Leutnant die Tür zum benachbarten Zimmer, wo die beiden Koffer aus Kluchs Wohnung mitten auf dem Tisch standen. „Also, sind sie’s?“ „Ich habe sie nie gesehen.“ „Ach, Baranowski! Meinetwegen dürfen Sie weiterspinnen. Aber denken Sie mal nach, ob sich das lohnt. Wird Ihre Lage dadurch besser oder schlechter? Was meinen Sie? Ihr Schwager, oder wie soll ich ihn nennen, dieser Bronek Kluch, der ist bereits zur Vernunft gekommen und hat ein ehrliches Geständnis abgelegt. Und Sie versuchen mir ins Gesicht zu lügen. Was haben Sie davon? Soll ich Ihnen Kluchs Aussagen vorlesen?“ „Nicht nötig.“ „Kluch hat die Wahrheit gesagt, und er fährt gut dabei. Wenn der Staatsanwalt einverstanden ist, ihn bis zur Verhandlung auf freien Fuß zu setzen, werden wir dagegen nichts einzuwenden haben.“ „Mich wird er nicht freilassen.“ „Sicherlich nicht. Damit sollten Sie auch gar nicht rechnen. Aber es kann mildernde Umstände geben, wenn wir Ihrerseits Aufrichtigkeit erkennen. Sie sind vorher nie in Wohnungen eingebrochen. Der Einfall stammt nicht von Ihnen. Es muß Sie jemand auf die Wohnung in der Masurskastraße angesetzt und Ihnen auch die Schlüssel besorgt haben. Sie hätten nicht einmal die beiden Schlösser zu öffnen vermocht, geschweige denn das Schnappschloß. Ohne passende Schlüssel stünden Sie jetzt noch vor der Tür. Und ich will Ihnen sagen, wer sie Ihnen gegeben hat und warum.“ 161
„Wer?“ Baranowski gab das sinnlose Leugnen auf. „Derjenige, der den Sprung in die Buczekstraße tat und die alte Rosińska kaltmachte. Er wollte Sie in die Sache verwickeln. Nicht wir, die Miliz, sondern er. Die Technik des Einbruchs ist die gleiche. Es ist die gleiche Zeit, in der der Diebstahl verübt wurde, in einer Wohnung, als alle Mieter abwesend waren.“ „Niemand kann mich in die Sache Buczekstraße verwickeln.“ „Das weiß ich. Sie befanden sich damals in Haft. Nach der Prügelei vor der ‚Kaskade‘. Aber dieser Bursche hat das nicht gewußt, weil Sie kein Wort davon erwähnten. Darum gab er Ihnen die Masurskastraße auf und glaubte, wir würden Ihnen auch den Mord in der Buczekstraße zuschreiben. Stimmt’s?“ „Ich bin so durchgedreht, daß ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll.“ „Wir haben Zeit. Wenn Sie wollen, kehren Sie nach unten zurück und überlegen Sie sich’s. Wenn Sie zur Vernunft gekommen sind, können wir uns unterhalten. Ich werde Sie ins Untersuchungsgefängnis bringen lassen. Dort ist es besser als hier unten. Ein Päckchen werde ich auch durchlassen. Irena hat sich schon nach Ihnen erkundigt. Vielleicht lasse ich Sie auch mit Kluch in eine Zelle setzen, damit ihr euch nicht so langweilt.“ „Sie können mich nicht mit einem Päckchen kaufen, Herr Leutnant.“ „Ist auch gar nicht nötig, weil Sie sowieso dran sind! Ich habe genug Beweise, um heute noch den Fall an den Staatsanwalt weiterzuleiten. Er kann die Anklage aufsetzen, und nächsten Monat ist die Verhandlung. Ohne mildernde Umstände. Vier Jährchen mindestens. Das wird Ihnen jeder Anwalt sagen. Übrigens, muß ich Ihnen das 162
erst lange erläutern? Es ist doch nicht das erstemal. Also, wie steht’s, Baranowski?“ Der Häftling schwieg. Der Leutnant machte eine Bewegung, als wollte er nach dem Telefon greifen, um den Gefangenen in die Zelle schaffen zu lassen. „Wenn ich …“ Baranowski stockte. Der Leutnant nahm die Hand vom Hörer. „Also reden Sie“, drängte er. „Herr Leutnant, Sie haben das nur so gesagt …“ „Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich nicht schwindle. Wir werden im Protokoll betonen, daß Sie geständig sind. Ihr Anwalt wird das bei der Verhandlung nutzen können.“ „Ich sehe, daß er mich wirklich in die Sache verwickeln wollte …“ „Da bin ich ganz sicher“, bestätigte der Leutnant. „Das war so“, begann Baranowski. „Ich saß damals zum erstenmal. Ich war dumm. Ich hatte einer Frau die Tasche aus der Hand gerissen und versucht, mich aus dem Staube zu machen. Man erwischte mich, ich bekam zehn Monate. Weil ich nicht vorbestraft war. Ich war erst neunzehn. Das war achtundfünfzig gewesen. Nach der Verurteilung wurde ich in die Strafanstalt nach Sztum gebracht. Dort lernte ich Norkowski kennen, die ‚Goldene Hand‘. Haben Sie von ihm gehört, Herr Leutnant?“ „Nein“, gestand Widerski. „Das war der größte Safeknacker in Polen. Ich habe mit ihm in einer Zelle gesessen“, sagte Baranowski mit einem gewissen Stolz. „Sogar der Gefängnisdirektor schätzte ihn. Es wurde erzählt, daß einmal, als der Wojewode in Gdańsk seine Kassenschlüssel verloren hatte, ein Auto nach Sztum geschickt wurde, um Norkowski zu holen. Er wurde hingeschafft und sah sich den Panzer163
schrank an. Dann ließ er sich einen dünnen Stahldraht, ein paar Feilen und noch anderes Schlosserwerkzeug geben und verlangte, daß alle das Zimmer verließen. Nach fünfzehn Minuten rief er ‚fertig‘. Als die Leute zurückkamen, war die Kasse auf, der Draht und das Werkzeug lagen wie vordem auf dem Tisch. Der Wojewode reichte ihm zum Dank persönlich die Hand.“ Widerski unterbrach, obwohl er Geschichten dieser Art kannte, den Redefluß nicht. In jedem Gefängnis sollen Märchen über den genialen Kassenräuber umgehen, auf den sogar staatliche Stellen beim Öffnen ihrer Safes angewiesen sind. Mochte Baran sich ruhig aussprechen. Schließlich konnte es einen bekannten Kassendieb mit Namen Norkowski geben, der seine Strafe im Gefängnis in Sztum zusammen mit Baranowski abgesessen hatte. „Für die ‚Goldene Hand‘ gab es kein Schloß, das er nicht aufgekriegt hätte. Er wurde in der Gefängnisschlosserei beschäftigt. Wenn einer von den Wärtern Schlüssel zupassen wollte, bekam stets Norkowski den Auftrag. Er machte das anders als ein gewöhnlicher Schlosser, dem man entweder das ganze Schloß bringen mußte oder der selbst in die Wohnung ging und an dem neuen Schlüssel noch lange herumzufeilen hatte. Ein Schlüssel aus Norkowskis Hand paßte todsicher.“ „Und zu Yaleschlössern hat er auch Schlüssel nachgemacht?“ „Für ihn war es einerlei, welches Schloß. Ich erinnere mich sogar, daß der Blockälteste von der Sieben – wir saßen in der Drei – einmal so ein Schloß gebracht hat. Keins von hier, ein ausländisches. Es gab dazu überhaupt keine Schlüssel. Und die ‚Goldene Hand‘ fertigte in zwei Stunden dazu drei Schlüssel an. Den ersten machte er 164
sogar mit geschlossenen Augen. So ein guter Fachmann war er.“ „Und was wurde aus diesem Norkowski?“ „Nichts. Er ist auf freiem Fuße. Als man mich nach Sztum brachte, hatte er seine Strafe fast abgesessen. Ich war nicht ganz zwei Monate mit ihm zusammen. Später habe ich ihn nicht mehr gesehen, erst jetzt wieder in Szczecin.“ „Wo?“ „Wir sind uns in der Piastenallee begegnet. Ich hatte dort bei einem Kollegen genächtigt. Er war anständig angezogen, trug einen Schlips – wie ein Beamter. Aber ich habe ihn gleich erkannt. Kann mich nicht beklagen, er war höflich, hat mich in ein Lokal gebeten und ein Gläschen spendiert. Wir sitzen da, und ich mache ihm klar, daß mir Pinke fehlt, da sagt er plötzlich: Weißt du was, Baran, ich hätte da einen Job für dich. Dabei könnt’ was ’rausspringen. Ich war so knapp dran, daß ich ohne Irka nichts zu beißen gehabt hätte. Sicherlich wissen Sie, daß man mich von der Sparkasse weggejagt hatte. Im Marineklub konnte ich mich auch nicht mehr blicken lassen. Und vor der ‚Kaskade‘ hatten sie mich durchgewalkt. Alles ungerecht. Schließlich blieb mir nichts übrig, als Strohmann zu werden. Aber was verdient heutzutage ein Strohmann? Ich spitzte also die Ohren und ging auf den Vorschlag ein. Ein Risiko gibt es nicht, erklärte die ‚Goldene Hand‘. Bis drei ist niemand in der Wohnung. Auf der Treppe ist es auch still. Ein ruhiges Haus. Die Erwachsenen arbeiten, die Kinder sind zur Schule. Du gehst in die Wohnung und suchst. Da muß eine hübsche Stange Geld sein und noch andere Ware. Die Frau läuft in einem Pelz für fünfzehntausend herum. 165
Ich habe mir das angehört und gesagt, solche Arbeit hätť ich noch nie gemacht. Ich würde die Tür nicht aufkriegen. Er lachte. Klar kannst du’s nicht. Aber das soll nicht deine Sorge sein. Schlüssel mach’ ich dir, die drehn sich besser in den Schlössern als die richtigen. Damit du nicht denkst, daß ich dir was vormache, geb’ ich dir die Adresse. Kannst es dir selbst ansehen. Das reinste Kinderspiel. Ich fragte ihn, warum er’s dann nicht selbst macht, wenn’s leicht ist. Ich kann nicht, meinte er, da kennen mich alle. Wenn mich jemand zufällig in dem Haus erwischt oder auch nur in der Masurskastraße, sitze ich in der Tinte. Mit dir ist das was anderes. Dich kennt dort keiner, man hat dich nie gesehen. Du gehst ganz sicher. Ich liefere die Schlüssel, und du drehst das Ding. Fifty-fifty. An die zwanzigtausend pro Kopf springen dabei ’raus. Vielleicht auch mehr. Regelrecht beschwatzt hat er mich. Ich hab’ mir das Haus angesehn. Sah anständig aus. Keine Läden unten, wenig Leute. Da muß mich dieser Eisenbahner aufgespürt haben. Ich hatte ihn gar nicht bemerkt.“ „Und wann bekamen Sie die Schlüssel von Norkowski?“ „Ich hatte mich mit ihm für Mittwoch verabredet, für den Tag, an dem ich die Wohnung ausräumte, um zehn Uhr früh vorm Hafentor. Er wartete schon und gab mir drei Schlüssel für eine Tür. Er riet mir noch: Mach alles in Handschuhen. Nimm nur Bargeld, Uhren und Schmuck. Und die Sachen, die in den Schränken hängen, wirf auf den Fußboden. Zerreiß und zerstöre, soviel wie du kannst. Keine Angst. Du hast viel Zeit. Ich hab’ schon lange eine Wut auf diese Leute. Brauchst sie nicht zu 166
schonen. Er hat mich vor fünfzehn Jahren hochgehen lassen, damals, als wir uns in Sztum begegnet sind. Wenn du mit der Arbeit fertig bist, gehst du zur Allee der Nationalen Einheit, da stehen immer Taxis. Bewahr vorläufig alles bei dir auf, wir treffen uns abends um acht in der ‚Bajka‘. Dann sage ich dir, was du weiter zu tun hast und wo man die Sachen gut abstoßen kann. Die Schlüssel kannst du wegwerfen.“ „Was weiter?“ „Das wissen Sie, Herr Leutnant. Ich ging in die Wohnung, die Schlüssel haben gepaßt. Unterwegs bin ich niemandem begegnet. Drinnen sah es viel ärmlicher aus, als Norkowski mir’s geschildert hatte. Natürlich, etwas Ware war da. Kleider, Anzüge, aber kein Pelz, auch keine Uhren, und vom Geld nicht die Spur. Ich dachte mir, man muß nehmen, was da ist. Zwei Koffer hab’ ich gefunden, hab’ die besseren Sachen hineingetan – und nichts wie ’raus aus der Wohnung. Den Schnaps hab’ ich noch getrunken. Ich Esel hatte die Handschuhe ausgezogen, weiľs unbequem war.“ „Aber Sie haben doch in der Wohnung nichts zerstört.“ „Was sollte ich zerstören? Das sind arme Leute. Hätte ich gewußt, daß ich nur das finde, dann hätte ich mich auf den Dreh nicht eingelassen. Norkowski hat mir was von Schätzen vorgefaselt. Er meinte, unter der Wäsche oder in den Büchern bekäme ich sogar Dollars zu sehen. Aber i wo. Sie haben mir leid getan, die Leute, selbst wenn sie wirklich die ‚Goldene Hand‘ angezeigt hatten.“ „Sind Sie zu dem Treff mit Norkowski nicht gegangen?“ „Für wen halten Sie mich, Herr Leutnant? Sollte ich einen alten Kumpel hinters Licht führen? Natürlich bin 167
ich gegangen. Ich wollte ihm sagen, daß er beim nächsten Mal besser hinschauen soll, denn in der Masurskastraße war nicht viel mitzunehmen.“ „Und was sagte Norkowski dazu?“ „Ich war noch vor acht in der ‚Bajka‘. Über eine Stunde hab’ ich gewartet. Die ‚Goldene Hand‘ kam nicht.“
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DREIZEHNTES KAPITEL
Warum ausgerechnet diese Gegend? „Noch etwas, Baranowski. Schildern Sie uns, wie dieser Norkowski aussieht?“ Diese Frage stellte der Leutnant gegen Ende des Verhörs. Wladysław Baranowski überlegte. „Eigentlich ist das schwer zu sagen. Ich habe bereits erwähnt, daß er stets gut angezogen geht. Schlips und Kragen. Schwarzer Mantel mit Hut. Als ich ihn zum erstenmal sah, trug er eine Aktentasche.“ „Und was hat er für Haare? Als Sie mit ihm im Lokal waren, hat er doch nicht in Hut und Mantel dagesessen.“ „Das nicht. Also, sein Haar ist weder hell noch dunkel. Ein klein wenig heller vielleicht als meins. Nach hinten gekämmt. Seitdem wir zusammen in Sztum gesessen haben, ist es schütter geworden.“ „Wie alt mag er jetzt sein?“ „Na, er wird seine fünfundfünfzig auf dem Buckel haben.“ „Hat er besondere Kennzeichen? Etwa so was wie Ihr Muttermal?“ „Nein.“ Obwohl Baranowski ziemlich offen gewesen war, drückte er sich bei der Personenbeschreibung um jedes Wort. Sichtlich mühsam und mehr aus Angst vor dem Leutnant rückte er mit der Sprache heraus. „Und das Gesicht?“ „Normal.“ „Ich will wissen, ob es rund oder oval ist?“ 169
„Eher rund.“ „Baranowski, Sie machen mich heute nervös. Wenn Sie ihn nach so vielen Jahren wiedererkennen konnten, müssen Sie ihn sich doch gemerkt haben.“ „Blaue Augen, eine leichte Stupsnase. Die Glatze mit Haaren verdeckt. Weder zu groß noch zu dick. Vielleicht eine Kleinigkeit größer als ich. Auch etwas fülliger.“ Der Devisenschieber sprach wie vom Blatt. „Und trägt er eine Brille?“ „Jetzt nicht. Aber in Sztum hatte er immer eine bei der Arbeit auf.“ „Also weitsichtig?“ „Ja, weitsichtig. Am linken Arm, aber ziemlich hoch, hat er eine Tätowierung.“ „Na, endlich haben Sie Ihr Gedächtnis wieder. Wie ist es mit Frau und Kindern?“ „Von Kindern hat er nie was erzählt. Ein paarmal erwähnte er, daß seine Frau gestorben sei und daß ihm niemand Päckchen schicke. Aber wozu brauchte er Päckchen? Er verdiente gut, hatte Geld auf dem Konto und konnte es abheben. In Sztum war er überall gut angeschrieben. Kam gleich nach dem Direktor.“ „Auch jetzt hat er nichts von einer Familie verlauten lassen? Hat er nicht gesagt, wo er in Szczecin wohnt?“ „Nein. Zuerst unterhielten wir uns über mein verdammtes Pech, dann machte er mir diesen Einbruch in der Masurskastraße schmackhaft.“ Der Leutnant hielt es für geeignet, das Verhör zu beenden. „Genug für heute. Sie können sich mit dem Staatsanwalt weiter unterhalten.“ „Und das Päckchen von Irena, Herr Leutnant? Und die Überführung ins Untersuchungsgefängnis, mit Bronek in eine Zelle?“ 170
„Sie glauben wohl, wir sind hier ein Hotel, wo man Zimmer nach Lust und Laune mieten kann?“ sagte der Leutnant lachend. „Das Päckchen, ja, einverstanden. Ich werde gleich veranlassen, daß man es Ihnen aushändigt. Und ins Gefängnis wandern Sie noch heute, wenn’s die Zeit erlaubt. Wenn nicht, dann morgen früh. Ich schicke Sie zusammen mit Kluch ’rüber, ohne den Vermerk ‚getrennt‘. Wie ihr das dann im Sekretariat und mit dem Aufseher regelt, ist eure Sache. Sie sehen, ich halte mein Wort.“ „Schönen Dank, Herr Leutnant. Wenn Sie nicht ausgerechnet bei der Miliz angestellt wären, würde ich sagen, Sie sind ein feiner Kerl. Und wegen der beiden Koffer entschuldigen Sie bitte. Ich war blöd. Aber jetzt gibt’s bei mir keine krummen Touren mehr.“ „Das sagt ihr immer, wenn ihr ’reinkommt ins Gefängnis. Schade, daß ihr’s vergeßt, wenn ihr wieder draußen seid.“ An diesem Tage beratschlagte Staatsanwalt Szczerbiński lange mit dem Leutnant. „Die Beschreibung sagt uns gar nichts“, behauptete der Jurist. „Männer, die so aussehen, gibt es mindestens zwanzigtausend in Szczecin. Wenn nicht doppelt soviel. Eine Tätowierung ist ebenfalls problematisch. In der Verbrecherwelt haben alle irgendwelche Tätowierungen. Übrigens hat Baran dies Kennzeichen vor neun Jahren entdeckt. Norkowski kann es längst entfernt haben.“ „Dennoch besitzen wir endlich einen Anhaltspunkt.“ „Haben Sie den Namen Norkowski überprüft?“ „Ja, sofort. Es gibt mehrere Familien mit diesem Namen in der Stadt, aber keiner der Namensträger kann in eine Beziehung zu dem Mord in der Buczekstraße gebracht werden.“ 171
„Hieraus ergibt sich die Schlußfolgerung, daß der Täter entweder unter falschem Namen auftritt oder daß er in Szczecin nicht gemeldet ist.“ „An das Zentrale Adressenamt in Warschau ist bereits ein Fernschreiben abgegangen. Man wird uns Informationen über alle Norkowskis, die im Lande leben, zuschicken. Vielleicht finden wir auf diese Weise etwas.“ „Ein Glück, daß die ‚Goldene Hand‘ nicht Kowalski oder Kamiński heißt. Wir kennen ja nicht einmal seinen Vornamen.“ „Den bekommen wir mit den übrigen Personalien gratis geliefert. Ich habe einen von unseren Leuten nach Sztum geschickt, wo Norkowski eine Strafe abgesessen hat und neunzehnhundertachtundfünfzig oder – neunundfünfzig entlassen wurde. Auf diese Weise erhalten wir auch ein Foto von ihm.“ „Ob er der Mörder ist? Wir haben im Moment allerdings noch kein Beweismaterial“, schränkte der Jurist ein. „So vorsichtig, Herr Staatsanwalt? Sogar bei einer privaten Unterredung? Sie sind doch ebenfalls davon überzeugt, daß es sich hier um den Täter aus der Buczekstraße handelt.“ „Schon möglich, aber solange ich nicht den geringsten Beweis in der Hand habe, darf ich’s nicht behaupten.“ „Baranowskis Aussagen sind der Beweis.“ „Nicht unbedingt.“ „Beachten Sie den Teil der Aussage, wo er bekundet, daß Norkowski ihm befohlen hat, in der Wohnung der Iwanowskis alles auf den Kopf zu stellen.“ „Was macht das schon?“ „Norkowski hat ihn eindeutig in den Mord in der Buczekstraße verwickeln wollen. Dieselbe Einbruchstechnik, die gleiche Tageszeit, das gleiche Verhalten. Sinnlose 172
Vernichtung von Werten. Norkowski hat ihm eindringlich geraten, bei den Iwanowskis nur Geld, Dollars und den Pelz zu nehmen. Nichts anderes. Er wollte, daß die beiden Straftaten einander möglichst ähnlich sähen. Ich bin sicher, daß die ‚Goldene Hand‘ irgendwie nachgeholfen hätte, wenn wir Baranowski nicht selbst gefaßt hätten. Dann hätte der Geldschieber mangels eines Alibis ziemliche Mühe gehabt, sich von dem Verdacht zu befreien. Denn weder Sie noch ich, und, wie ich annehme, auch das Gericht, hätten an das Märchen von dem guten Kassenräuber geglaubt, der in Szczecin umgeht und Schlüsselsätze zu Wohnungen verteilt.“ „Nun ja“, räumte der Staatsanwalt ein, „Baranowski wäre in einer ziemlichen Zwickmühle gewesen. Aber zwei Dinge hätten ihn gerettet. Vor allem das Fehlen des Geldes. So ein Typ wie der bringt es nicht fertig, mit seinen sechsundachtzigtausend in der Tasche ruhig dazusitzen. Zweitens hätten ihn gerade die Schlüssel gerettet. Die Untersuchungskommission wäre nicht in der Lage, ihm nachzuweisen, wie er in den Besitz der beiden Schlüsselsätze zu den Wohnungen ihm völlig unbekannter Leute gekommen war. Bei einem Indizienprozeß wäre hier die ganze Anklage zusammengebrochen.“ „Auf jeden Fall hätte der Täter sehr viel gewonnen, wenn er uns Baranowski gewissermaßen auf dem Tablett gereicht hätte. Die Ermittlung wäre längere Zeit auf den Nachweis der Schuld des Devisenschiebers ausgerichtet gewesen. Dem echten Täter hätte das die Bewegungsfreiheit wiedergegeben sowie die Möglichkeit, die Spuren weiter zu verwischen. Und ihm geht es immer mehr darum.“ „Da haben Sie recht, Leutnant. Das ist zwar eine Hypothese, aber eine mit hohem Wahrscheinlichkeitswert. Der Mordversuch an Hanka Wróblewska und die 173
Anleitung Baranowskis zum Einbruch in der Masurskastraße zeugen davon, daß sich der Täter immer unsicherer fühlt und um jeden Preis versucht, seine Lage zu verbessern.“ „Klar. Ich kann mir vorstellen, in welcher Spannung dieser Mann lebt. Wenn ihn einer scharf ansieht, glaubt er gleich, er sei entdeckt. Ich möchte ja nicht in seiner Haut stecken, wenn er auf der Treppe Leuten begegnet, die ihn gut kennen. Und der Anblick Hanka Wróblewskas, des einzigen Zeugen – und wahrscheinlich ist sie auf der Treppe an ihm vorbeigegangen –, erweckt in ihm panische Angst. Kein Wunder, daß es ihm schwerfällt, einen kühlen Kopf zu bewahren und normal weiterzuleben, täglich zur Arbeit zu gehen, Bekannte zu grüßen und sich mit ihnen zu unterhalten. In den ersten Tagen haben sie bestimmt viel über den Mord geredet. Die Tortur erträgt kaum jemand ohne Folgen.“ „Wenn man Ihre Hypothese akzeptiert – denn ich halte sie weiterhin nur für eine Hypothese –, daß eben Norkowski der Raubmörder aus der Buczekstraße ist, dann steckt dennoch ein ernster Fehler in Ihrer Prämisse.“ „Welcher?“ fragte der Leutnant verwundert. „Sie haben ursprünglich angenommen, daß das Verbrechen das Werk eines Amateurs sei. Norkowski ist ein Berufsverbrecher. Er ist gewohnt, daß die Miliz nach ihm fahndet. Erkennt den gesamten kriminalistischen Apparat aus eigener Erfahrung. Die nervliche Anspannung, von der Sie gesprochen haben, ist bei ihm zweifellos bedeutend geringer als bei jemandem, der diesen Weg zum erstenmal geht.“ „Stimmt. Ich hatte anfangs wirklich angenommen, daß Diebstahl und Mord in der Buczekstraße das Werk eines Bekannten der Eheleute Legat ist. Eines Menschen, der 174
bisher ein ehrliches Leben geführt hat und der der Verlockung des Geldes erlegen ist. Ich gebe zwar zu, diese Annahme ist jetzt hinfällig geworden. Aber ich bin völlig sicher, daß Norkowski der Mörder ist. Wiederum kenne ich die Tricks der Berufsdiebe – und Kassendiebe stellen unter ihnen die Aristokratie – gründlich genug, um behaupten zu können, daß es sein erster Mord ist. Berufsverbrecher lassen sich nie auf nasse Arbeit ein. Alles, was ich über Nervenanspannung gesagt habe, trifft für Norkowski zu. Er wäre ruhig, wenn der Einsatz nur den Diebstahl beträfe. Jetzt spielt er zum erstenmal um sein Leben. Das ist ein großer Unterschied.“ „Er muß zum Bekanntenkreis der Legats und der Iwanowskis gehören, da es ihm ja gelungen ist, für beide Wohnungen Schlüsselabdrücke zu bekommen. Ich bin bereit“, fuhr der Staatsanwalt fort, „an die Stelle in den Aussagen Baranowskis zu glauben, wo er Norkowski einen großartigen Schlüsselexperten nennt. Aber selbst der beste Spezialist muß entweder ein Schloß oder einen Plastilin-, wenn nicht Wachsabdruck des Schlüssels haben.“ „Fachleute benutzen heutzutage kein Wachs. Plastilin ist besser“, bemerkte Widerski. „Wachs muß man lange kneten, außerdem ist es spröder, und es kommen darin kleine Klümpchen vor, die den Abdruck entstellen können. Bei Präzisionsschlössern kann selbst eine so geringe Ungenauigkeit bewirken, daß der Schlüssel nicht paßt.“ „Ich glaube, man sollte eine möglichst ausführliche Liste der Bekannten von Legats und Iwanowskis aufstellen. Es geht mir dabei um die Leute, die beide Familien kennen. Das wären die potentiellen Verdächtigen. Es besteht nämlich kein Zweifel, daß nur der einen Schlüsselabdruck von beiden Türen bekommen konnte, 175
der die betreffenden Mieter aus der Buczekstraße und der Masurskastraße kennt.“ „Sie haben recht, Herr Staatsanwalt“, sagte der Leutnant, „auch wir sind zu dieser Schlußfolgerung gekommen. Bevor wir Baranowski gefaßt hatten, haben meine Leute solche Listen angefertigt. Aber die Antwort auf die Frage ‚Wen kenne ich?‘ ist gar nicht so einfach zu beantworten. Die Liste der Bekanntschaften kann nie komplett sein, weil der Begriff ‚Bekannter‘ nicht genau definierbar ist. Ist der mein Bekannter, mit dem ich zusammen im Büro arbeite, oder nur der, den ich in meinem Hause empfange? Soll ich einen Menschen als meinen Bekannten ansehen, den ich dem Namen nach kenne, mit dem ich aber in meinem Leben nur ein paar Worte gewechselt habe? Wie gut kenne ich zum Beispiel den General, unsern Kommandanten? Er hat uns des öfteren inspiziert. Hat bei uns eine Rede gehalten. Ich kenne ihn gut vom Sehen. Er dagegen kennt mich nicht. Für ihn bin ich einer der unteren Offiziere von der Kommandantur Szczecin. Natürlich habe ich ein extremes Beispiel gewählt, aber solcher Bedenken gäbe es viele. Zum Beispiel mit dem Briefträger oder mit den Angestellten der Schuhmacherwerkstatt, wo wir ständig unsere schiefgelaufenen Absätze reparieren lassen. Ich kenne diese Leute, ich habe mich mit ihnen unterhalten, aber ich habe keine Ahnung, wie sie heißen. Gehören sie auf die Liste meiner Bekannten oder nicht?“ „Das ist eher eine Frage der Auslegung“, antwortete der Staatsanwalt, „die aber von den meisten Leuten gar nicht so theoretisch gestellt wird.“ „Und nun zu den Listen, Herr Staatsanwalt, die uns die Geschädigten geliefert haben. Ich muß gestehen, daß sie sehr ausführlich geraten sind. Und nur einige Namen, wie 176
zum Beispiel der des Vorsitzenden des Rates des Stadtbezirks, treten dort wiederholt auf. Meist handelt es sich um Staatsfunktionäre oder hohe Beamte, die außerhalb jeden Verdachts stehen. Dagegen sind die gewöhnlichen Bekanntenkreise der beiden Familien gänzlich unterschiedlich. Also hat diese Methode leider völlig versagt, dabei hatte ich mir viel von ihr versprochen.“ „Erstaunlich. Derjenige, der über die Abdrücke der Schlüssel zur Legat-Wohnung und zur IwanowskiWohnung verfügte, muß ein guter Bekannter beider Familien gewesen sein. Jemand, der nicht den geringsten Argwohn erweckt. Er muß in beiden Häusern verkehrt haben, ganz gleichgültig, in welcher Funktion. Es sei denn, Ihre Hypothese ist falsch und die Diebstähle sind das Werk zweier verschiedener Menschen, die sich nicht kennen.“ „Ich bin mir meiner Sache ganz sicher. Baranowski wurde zu dem Einbruch in der Masurskastraße überredet. Dabei wurde von vornherein einkalkuliert, daß er uns in die Hände fällt. Er sollte in das Verbrechen in der Buczekstraße verwickelt werden. Das ist deutlich aus dem Verlauf des Geschehens zu ersehen. Wenn tatsächlich zwei Spezialisten mit Nachschlüsseln operierten, würden sich die Diebstähle in irgendeiner Weise unterscheiden. Übrigens hätte der zweite die Wohnung in der Masurskastraße selbst ausgeräumt, statt jemanden für eine so leichte Arbeit zu engagieren.“ „Wir hatten doch schon vorher eine Serie, sogar sieben unaufgeklärte Diebstähle, die alle in der gleichen Weise verübt wurden. Wenn ich mich recht erinnere, Herr Leutnant, hatten Sie selbst behauptet, daß sie mit dem Verbrechen in der Buczekstraße nichts gemein hätten.“ 177
„Weil ich annahm, daß der Mord in der LegatWohnung das Werk eines Amateurs ist. Ich hatte ja von Norkowski nichts gewußt. Jetzt, wo die Untersuchungskommission über mehr Fakten verfügt, erkenne ich meinen Fehler. All diese Diebstähle verdanken wir der Rührigkeit unserer ‚Goldenen Hand‘.“ „Und die Unterschiede in der Technik?“ „Bei allen vorherigen Diebstählen hatte der Täter versucht, sich so zu verhalten, daß sein Treiben möglichst spät entdeckt wurde. In der Regel nahm er Geld und Schmuck. Selten etwas ganz Wertvolles, wie zum Beispiel einen Pelz. In der Buczekstraße hatte er ebenfalls nur das Geld gesucht und es mitgenommen, aber er demolierte dabei die Wohnung. Ich bin überzeugt, daß er dabei nach einem Plan verfuhr. Ihm lag daran, daß wir diese vorherigen Diebstähle nicht mit dem letzten in Zusammenhang brachten.“ „Sind Sie der Meinung, daß es ihm dabei um die Miliz ging? Ich vermute eher, daß es ihm um die Legats oder um die anderen Hausbewohner in der Buczekstraße neunzehn zu tun war.“ „Auch ich nehme an, daß er erst in zweiter Linie daran dachte, die Miliz irrezuführen, aber ich glaube noch immer, daß der Schlüssel zur Lösung des Rätsels in diesem Hause steckt. Der Verbrecher wohnt entweder dort oder ist dort bekannt. Wenn er anders verführe, könnte er rasch entlarvt werden. Ich weiß zwar nicht, wie, aber offenbar wollte er ein besonderes Klima schaffen. Nur damit vermag ich mir die Verwüstung zu erklären, die wir in der Wohnung der Legats vorfanden.“ „Wenn der Verbrecher – sagen wir, es war unser Norkowski – die Wohnung betreten und das Geld mitgenommen hätte, ohne Spuren zu hinterlassen, dann hätten 178
die Legats vielleicht eine ganze Zeit lang den Diebstahl nicht bemerkt. Das Verhalten des Diebes wäre lediglich dadurch zu begründen, daß er in den nächsten Tagen in der Wohnung der Geschädigten sein sollte. Vielleicht als Gast, vielleicht auch als Interessent. Hätte Ingenieur Legat erst nach seinem Besuch das Fehlen des Geldes bemerkt, würde er ihn verdächtigen.“ „Das ist durchaus möglich“, räumte der Leutnant ein. „Ich habe die Geschädigten auch danach gefragt. Weder Legat noch seine Frau waren in der Lage, einen möglichen Gast oder Interessenten zu nennen.“ „Sie brauchten von diesem Besuch nicht einmal etwas zu wissen. Nehmen wir an, es war der Briefträger oder der Kassierer für Strom und Gas oder jemand, der ein Auto verkaufen wollte.“ „Der Kassierer und der Briefträger stehen außerhalb jeden Verdachts. Sie haben ein unumstößliches Alibi, ebenso die Putzfrau Popiela. Hätte jemand, der ein Auto verkaufen wollte, den Diebstahl begangen, brauchte er nicht zur Buczekstraße zu gehen, weil er sich mit Legat nicht verabredet hatte. Nein, es fehlt ein Glied in der Kette unserer Beweisführung. Vielleicht ist die Wahrheit der Theorie angenähert, aber grundsätzlich ist sie anders.“ „Ich habe die Akten der vorherigen Diebstähle durchstudiert“, sagte der Staatsanwalt. „Sie sind in ihrer Technik identisch. Es besteht kein Zweifel, daß es immer derselbe Mann war, der sie verübt hat. Jedesmal besaß er gut passende Schlüssel. Wie ist er in ihren Besitz gelangt? Die Ergreifung des Täters hängt von der Beantwortung dieser Frage ab. Die Ermittlungen vermochten keine richtige Antwort darauf zu geben. Die Bestohlenen haben sich nicht gekannt, sie hatten nichts miteinander zu tun, und sie besaßen auch keine 179
gemeinsamen Bekannten, wenigstens nicht solche, die man in einem auch nur geringen Maße verdächtigen kann.“ „Unser Kriminalassistent, von dem ich Ihnen schon erzählt habe, hat diese Leute heute aufgesucht. Er hat ihnen die Personenbeschreibung Norkowskis gegeben. Natürlich so, wie Baranowski sie umrissen hat. Keiner von ihnen erinnert sich daran, einen Mann mit diesem Äußeren gekannt zu haben, auch der Name ‚Norkowski‘ sagt ihnen nichts.“ „Ich muß gestehen“, sagte der Staatsanwalt lächelnd, „daß die Miliz eine außerordentliche Aktivität entfaltet hat. Ich hatte schon lange nicht mehr mit so gründlich geführten Ermittlungen zu tun. Sie haben wohl auch alles, was Rang und Namen bei Ihnen hat, dazu aufgeboten?“ „Ja, aber schon lange nicht mehr wurden bei so großem Aufwand derart geringe Ergebnisse erzielt“, entgegnete der Leutnant traurig. „Schauen wir uns die Karte an, Herr Leutnant“, sagte der Staatsanwalt. Beide traten an den großen Stadtplan von Szczecin, der im Zimmer an der Wand hing. „Sehen Sie die Stecknadeln?“ fragte Szczerbiński. „Ja. Sieben Stück. Ich weiß schon. Das sind die Stellen, wo die geheimnisvollen Diebstähle begangen wurden.“ „Richtig. Wenn wir den Grunwaldzkiplatz als Mittelpunkt betrachten, dann wurde der entfernteste Diebstahl in der Niedziałkowskistraße, nahe der dortigen Schule, verübt.“ „Fünfzehnte Grundschule“, ergänzte der Leutnant. „Nehmen wir eine Schnur, und befestigen wir an dem einen Ende eine Stecknadel, spießen sie mitten in den 180
Grunwaldzkiplatz und verbinden die Schnur mit der Nadel, die in der Niedziałkowskistraße steckt, dann erhalten wir den Radius eines Kreises. Man braucht den Kreis nur zu ziehen, um zu erkennen, daß sich die sieben Stellen, wo die Diebstähle verübt wurden, in seinem Inneren befinden. Interessant, nicht wahr?“ „Verblüffend“, bestätigte der Leutnant. „Mehr noch. Der Raubmord in der Buczekstraße und der letzte mißlungene Diebstahl in der Masurskastraße sind ebenfalls in unserem Kreis gut unterzubringen. Kein einziges Verbrechen wurde woanders begangen.“ „Wir haben uns ebenfalls überlegt, warum alle Diebstähle in einem kleinen Abschnitt unserer doch sehr großen Stadt liegen. Hinsichtlich seiner Fläche ist Szczecin ja größer als Wrocław, obwohl es nach der Bevölkerungszahl kleiner ist als diese Stadt und etliche andere polnische Städte.“ „Und all diese Diebstähle sind auf einer Fläche lokalisiert, die kleiner als ein Quadratkilometer ist. Welche Schlußfolgerung kann man daraus ziehen? Nur eine einzige. Unser Täter, nehmen wir an, es ist Norkowski, die legendäre ‚Goldene Hand‘, hat ausschließlich auf diesem Gebiet die Möglichkeit, Schlüsselabdrücke zu bekommen.“ „Zweifellos haben Sie recht, Herr Staatsanwalt. Dieser auffällige Zusammenhang ist uns auch schon aufgefallen, und wir haben Erkundungen eingezogen. Das Gebiet deckt sich nicht mit dem Arbeitsbereich eines Briefträgers. Die Kassierer der Gas- und Elektrizitätswerke haben ebenfalls andere Straßenbezirke. Wir hatten sogar einen unserer Abschnittsbevollmächtigten verdächtigt. Am Grunwaldzkiplatz stoßen nämlich drei Reviere zusammen. Wir haben nachgesehen, ob dieses Gebiet der Einteilung nach den Hausverwaltungen entspricht. Auch 181
nicht. Auf diesem Stückchen Stadt sind vier Blockkomitees tätig. Wir haben das Versorgungsnetz der Läden untersucht, aber auch das vermag nicht, die Aktivität einer einzelnen Person innerhalb dieses Kreises zu erklären. Es bleibt weiterhin ein Rätsel, warum unser Spezialist für Wohnungseinbrüche gerade diese Gegend gewählt hat.“ Lange betrachtete der Staatsanwalt die blauen Stecknadelköpfe, die in dem Stadtplan steckten. „Warum ausgerechnet diese Gegend?“ sagte er. „Wenn wir diese Frage beantworten können, finden wir den Mörder Łucja Rosińskas.“
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VIERZEHNTES KAPITEL
Auferstehung eines Toten Die Nachrichten, die Leutnant Roman Widerski aus Sztum und dem Zentralen Adressenbüro in Warschau erhielt, waren sensationell. Als Ergebnis einer Beratung auf höchster Ebene ging ein langer, ausführlicher Bericht an die Hauptkommandantur in Warschau ab. Ein Bericht, der wiederum dort echtes Erstaunen auslöste. Daraus ging nämlich hervor, daß ein Mensch auferstehen und viele Jahre nach seinem Tode nicht nur durch die Straßen einer Stadt wandeln, sondern auch Verbrechen begehen kann, komplizierte Diebstähle und Morde. Der Leutnant machte einen Besuch beim Staatsanwalt. „Herr Staatsanwalt, wir haben einen genauen Rapport aus Sztum“, begann Widerski. „Baranowskis Aussagen haben sich in ihrem ganzen Umfang bestätigt. Tatsächlich wurde er nach seiner Verurteilung in Szczecin im Herbst neunzehnhundertachtundfünfzig in die Strafanstalt Sztum übergeführt. Dort hat er die Zelle mit einem gewissen Antoni Norkowski geteilt, der eine sechsjährige Strafe für einen Einbruch abbüßte, den er in der Großspinnerei Łódź begangen hatte. Die Diebe hatten damals über eine Million achthunderttausend Złoty erbeutet.“ „Ich glaube mich zu erinnern, weiß jedoch nicht genau, ob es sich nicht um eine andere, ähnliche Geschichte handelt, die erheblich früher passierte. Ungefähr schon neunundvierzig oder fünfzig. Nicht später.“ „Sie haben ein gutes Gedächtnis, Herr Staatsanwalt. Der Diebstahl ereignete sich im August neunzehnhun183
dertfünfzig. Es war wohl der letzte dieser Art in Polen. Die Diebe – damals stellte sich heraus, daß fünf Personen, darunter auch eine Frau, der Bande angehörten – hatten einen über dreißig Meter langen Tunnel von einem kleinen Lebensmittelladen, dem Eigentum dieser Frau, bis zum Gebäude der Spinnereizentrale gegraben. So gelangten sie in den damals leerstehenden Heizungskeller. Von dort zum Safe vorzudringen war dann verhältnismäßig leicht.“ „Hat Norkowski die Kasse geöffnet?“ „Jawohl. Das war seine Hauptaufgabe. Er ist auch als Initiator dieses komplizierten Unternehmens aufgetreten. Zwar erwähnten einige der später gefaßten Einbrecher, die Pläne für die gesamte Aktion seien von einer geheimnisvollen Frau, einer Bekannten oder vielleicht auch Geliebten Norkowskis, ausgearbeitet worden, aber die Ermittlung konnte diese Einzelheiten nicht bestätigen. Wenn es die Frau gegeben und sie den Einbruch angeregt hat, so ist es jedenfalls nicht gelungen, den Beweis zu erbringen. Norkowski nahm die ganze Schuld auf sich. Die Kasse wurde sehr geschickt aufgebrochen. In den harten Stahlmantel waren mehrere Löcher gebohrt worden. Das genügte, um die Riegel anzuheben. Der Täter muß den Schließmechanismus genau gekannt haben. Übrigens war daran nichts Erstaunliches. Norkowski hat, bevor er den Weg des Verbrechens betrat, ein paar Jahre in der Safefabrik ‚Jardell‘ in Warschau gearbeitet. Das war noch vor dem Kriege, und er hat auch schon vor dem Krieg sein erstes Urteil einkassiert. Vier Jahre. Er hat sie nicht abgesessen, denn dann kam der September neunzehnhundertneununddreißig. Jedenfalls ist Antoni Norkowski damals schon Assistent des berühmten Safeknackers 184
‚Spitzbart‘ Cichocki gewesen, und der alte Meister soll ihm eine große Zukunft prophezeit haben …“ „Und die großartige Karriere“, ergänzte der Staatsanwalt, „ging dank des Aufbaus einer neuen Gesellschaftsordnung in die Binsen.“ „Darüber, was die ‚Goldene Hand‘ während der Besatzung und gleich nach der Befreiung getrieben hat, fehlen jegliche Informationen. Erst neunzehnhundertfünfzig tauchte er in Łódź auf und organisierte die Tunnelgrabung zur Spinnereizentrale. Nach Aufdeckung des Diebstahls wurden die Wächter verhaftet und der Hehlerei verdächtigt. Es konnte ihnen jedoch nichts nachgewiesen werden. Die Kasse war ohne das geringste Geräusch geöffnet worden. Die Wächter hatten sich im Erdgeschoß des Gebäudes befunden und keinen Laut gehört.“ „Die Einbrecher müssen doch irgendwie nach oben gelangt und somit durchs Erdgeschoß gekommen sein.“ „Das war eben das Geniale an dem Plan. Die Wachloge, in der zwei Wächter saßen, lag gleich neben der Treppe. Die Tür zur Treppe stand offen, der Treppenflur war hell erleuchtet. Da konnte nicht einmal eine Maus hindurch. Aber das Gebäude hatte einen seit Jahren außer Betrieb befindlichen Fahrstuhl. Der war eben Norkowskis große Chance. Durch den Fahrstuhlschacht gelangte Norkowski über eine eigens konstruierte Seilleiter in den dritten Stock, wo sich die Kasse befand. Unterwegs öffnete er alle Schlösser. Als er die Kasse aufgebrochen und geplündert hatte, ließ er zuerst das Geld hinunter und benutzte dann selbst diesen Weg, auf dem er sich jeden Augenblick das Genick brechen konnte.“ „Alle Achtung, eine große Leistung!“ „Kann man sagen. Spitzenarbeit.“ „Wie hat man sie gefaßt?“ 185
„Es war alles vorher bis in die kleinsten Einzelheiten festgelegt. Jeder sollte einen Anteil bei der Beuteteilung bekommen, die ‚Goldene Hand‘, als Leiter und Hauptausführender, dagegen zwei Anteile. Man vermutet, daß dieser zweite Anteil für jene geheimnisvolle Frau bestimmt war, die Norkowskis Komplizen bei der Vernehmung als Spiritus rector des Unternehmens erwähnt hatten. Jeder einzelne bekam dreihunderttausend, Norkowski sechshunderttausend Złoty. Das war eine gewaltige Summe. Jeder hatte einen vorbereiteten Unterschlupf. Die Deckadressen waren nur dem Boß bekannt. Zusammen mit dem Geld erhielten sie eine Eisenbahnfahrkarte und die Empfehlung, wohin sie zu fahren, wo sie zu wohnen und was sie zu tun hatten. Die Anweisungen sahen ebenfalls vor, daß keine größeren Summen ausgegeben werden durften. Alles ging in Ordnung, solange Norkowski seine Leute kontrollieren konnte. Als sie sich trennten, trat ein, was gewöhnlich in solchen Fällen eintritt.“ „Ich verstehe. Die Leute können sich nicht bescheiden, wenn sie ein Vermögen in der Tasche haben. Ob das Geld sie verführt?“ „Als erste versagte die Frau. Norkowski hatte sie in der Nähe von Rzeszów untergebracht. In einer Kleinstadt kam sie als Angestellte einer Ziegelfabrik unter. Bald begann sie, sich auffällig zu kleiden. Als sie in einem teuren Pelz auftrat, der mindestens soviel kostete, wie ihr Gehalt für zwei Jahre Tätigkeit betrug, gab es so viel Gerede, daß sich die Miliz für den Fall zu interessieren begann. Bei einer Durchsuchung ihrer Wohnung fand man noch über hundertfünfzigtausend Zloty. Im Kreuzverhör wurde sie geständig und gab auch den Namen eines der Bandenmitglieder an. Es war der einzige Name, den sie kannte. So wurde die Sache aufgerollt.“ 186
„Und Norkowski?“ „Er wurde später gefaßt, drei Jahre nach dem Diebstahl. Er war übrigens der einzige, der alles abstritt, bis man ihm die unwiderlegbaren Beweise vorlegte. Ihm allein war es auch gelungen, seinen gesamten Anteil unterzubringen. Offiziell gab er an, ihn beim Pferderennen verspielt zu haben. Tatsächlich war die ‚Goldene Hand‘ ein leidenschaftlicher Besucher von Rennbahnen in Warschau, Łódź und Sopot. Ob er das wirklich verspielt hatte? Das wird wohl niemand mehr erfahren.“ „Hat er sechs Jahre bekommen?“ „Elf Jahre. Etwas wurde ihm vom Obersten Gericht erlassen. Später folgte die Amnestie. Insgesamt blieben sechs Jahre zum Absitzen. Dieser Termin lief für Norkowski gerade im Dezember neunzehnhundertachtundfünfzig in Sztum ab.“ „Und was geschah dann mit ihm?“ fragte der Staatsanwalt. „Dann ist er gestorben.“ „Sie scherzen!“ „Nein. Er ist glattweg gestorben. Selbstmord. Im März neunundfünfzig. Ungefähr vier Monate nachdem er aus dem Gefängnis ’raus war. Ich kann Ihnen sogar das genaue Datum angeben.“ „Ich ahne es schon.“ „Nachdem Norkowski das Gefängnis verlassen hatte, kehrte er nach Warschau zurück. Hier wohnte er bei seinem Bruder und begann in einer Schlosserei zu arbeiten. Ich vergaß noch hinzuzufügen, und das ist eine wichtige Einzelheit, daß zu der Zeit, als Norkowski im Gefängnis saß, seine Frau gestorben war. An Krebs. Norkowski erzählte manchmal seinen Arbeitskollegen, daß ihm das Leben nach dem Tode seiner Frau zuwider 187
sei, und deutete bisweilen an, Hand an sich legen zu wollen.“ „Da hat er sich mit viel Geschick aus der Affäre gezogen.“ „Zweifellos. Sonst hätten wir an eine Auferstehung glauben müssen. Und das lange vor dem Jüngsten Tag.“ „Und im März neunzehnhundertneunundfünfzig?“ „Im März jenes Jahres führte die Weichsel gerade Hochwasser, und auf dem Fluß schwammen Eisschollen. Eine Streife der Miliz fand in Warschau am Wybrzeże Gdańskie einen Mantel, Schuhe und einen Anzug. In den Taschen befanden sich eine Uhr, eine bestimmte Geldsumme, kleine Gegenstände des persönlichen Gebrauchs sowie Papiere auf den Namen Antoni Norkowski. Mehrere Monate später warf die Weichsel bei Wyszogród die Leiche eines Mannes in weit fortgeschrittenem Stadium der Verwesung ans Ufer. Dennoch wurde sie mit Hilfe von Verwandten und Bekannten als die Leiche Norkowskis identifiziert. Auf dieser Grundlage wurde die offizielle Todesurkunde ausgestellt, und der einstige Safeknacker wurde aus der Zahl der Lebenden gestrichen.“ „Ein sehr geschickter Schachzug.“ „Wie immer bei Norkowski, Spitzenarbeit“, bemerkte der Leutnant. „Ich nehme an, daß die Familie eingeweiht war.“ „Höchstwahrscheinlich. Wenn nicht die ganze, so wenigstens ein Teil. Der Körper hatte mehrere Monate im Wasser gelegen. Der Zustand der Leiche ließ mit Leichtigkeit eine recht willkürliche Identifizierung zu.“ „Und wie geht die Geschichte weiter?“ „Vorläufig gar nicht. Es ist an uns, sie zu Ende zu führen.“ „Er muß doch irgendwelche Papiere haben.“ 188
„Die hat er bestimmt. Und in bester Ordnung. Ich bin überzeugt, daß er sie schon damals hatte, als er seinen Anzug ans Weichselufer legte. Aus seinem ganzen Verhalten ist zu erkennen, daß er jeden Schritt sehr präzise plant. Bei ihm gibt es keine Improvisation.“ „Um so mehr staune ich, daß er sich zum Mord hinreißen ließ.“ „Der Zufall hat ihm ein Bein gestellt. Die unvorhergesehene Ankunft Frau Łucja Rosińskas aus Goleniów und der Umstand, daß sie mit den Schlüsseln ihrer Tochter nach Hause kam.“ „Und wie war die Legat in die Wohnung gelangt? Sie hatte doch keine Schlüssel, weil sie ihre der Mutter gegeben hatte. Das ist mir entgangen.“ „Wir haben auch diese Einzelheit nachgeprüft. Frau Legat hatte die Schlüssel von ihrer Tochter genommen, die in ihre Schule geht. Die Lehrerin erklärte das damit, daß sie nicht wußte, ob ihre Mutter nicht zufällig wieder die Wohnung verlassen habe. Sie wollte die Schlüssel sicherheitshalber bei sich haben.“ „Er hätte jedoch nicht zu töten brauchen.“ „Stimmt. Aber er erkannte auch, daß das für ihn dann das Ende bedeutet hätte. Seine vorherigen Diebstähle wären alle herausgekommen, ebenfalls der fingierte Selbstmord. Was er sonst noch auf dem Gewissen hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Bei einer Festnahme drohte ihm eine sehr hohe Strafe. Er wollte nicht ins Gefängnis zurück. Dann mordete er lieber.“ „Hätte er sie nur betäubt, hätte er trotzdem unerkannt fliehen können und hätte weniger Schuld auf sich geladen.“ „Das ist wahr, Herr Staatsanwalt. Offenbar hat er den Kopf verloren. Plötzlich hörte er einen Schlüssel im Schloß und mußte sich blitzschnell entscheiden. Übrigens, 189
wer weiß? Vielleicht wollte er sie auch nur betäuben und schlug nur zu stark zu. Man muß berücksichtigen, daß Frau Rosińska eine Frau gut über die Fünfzig war. Möglicherweise hätte der Schlag einen jüngeren Menschen nicht getötet.“ „Aber Hanka Wróblewska wollte er ganz bestimmt umbringen.“ „Das war bereits eine Folge der Panik und der nervlichen Belastung, in der der Mörder jetzt lebt. Außerdem hatte er nun nichts mehr zu verlieren.“ „Das stimmt.“ „Aus Norkowskis Lebenslauf läßt sich noch eine Schlußfolgerung ziehen. Dieser Mann kam zweimal ins Gefängnis. Einmal vor dem Kriege, das andere Mal nach dem Kriege. Jedesmal wurden erst seine Komplizen gefaßt, ehe man auf deren Spuren zu ihm vordrang. Zweifellos hat er daraus Lehren gezogen und von Kasseneinbrüchen Abstand genommen, weil das eine Arbeit ist, welche die Beteiligung einer Gruppe voraussetzt. Er verlegte sich auf Wohnungsdiebstähle. Ich bin absolut sicher, daß er ohne Mithilfe anderer operiert. Deshalb ist er so schwer zu fassen.“ „Ich hätte gern mal sein Bild gesehen.“ „Ich auch.“ „Es muß doch eins in Sztum gegeben haben.“ „Das ist das verblüffendste daran, und es zeugt von Norkowskis hoher Intelligenz. Als er seinen Selbstmord vorbereitete, hat er sich offenbar gleichzeitig auch darum gekümmert, daß alle seine Bilder verschwanden. Einen Personalausweis hat sich Norkowski nicht verschafft. Zu dem Zeitpunkt, als die Personalausweise eingeführt wurden, hat er im Gefängnis gesessen. Nach seiner Freilassung hatte er es nicht eilig, die Formalitäten zu erledigen. 190
An seiner Arbeitsstelle gibt es ebenfalls kein Foto von ihm.“ „Vielleicht besitzen die Verwandten eins?“ „Wahrscheinlich ist die Miliz in Warschau dabei, das festzustellen. Ich gehe aber jede Wette ein, daß die Suche zu nichts führt. Norkowski muß auch daran gedacht haben.“ „Ein phantastischer Kopf.“ Der Leutnant wechselte das Thema. „Ich möchte Sie, Herr Staatsanwalt, um eine Entscheidung hinsichtlich der gestohlenen Gegenstände in der Masurskastraße bitten. Baranowski hat den Diebstahl eingestanden. Der Inhalt der Koffer stimmt mit der Verlustliste der Iwanowskis überein. Ich denke also, daß man sie ihnen zurückgeben kann, ohne auf die formale Beendigung der Ermittlungen zu warten. Was meinen Sie, Herr Staatsanwalt?“ „Natürlich. Schicken Sie ihnen morgen die Sachen. Den Beschluß lasse ich Ihnen mit den anderen Entscheidungen zukommen, mit der übrigen Post der Staatsanwaltschaft an die Kommandantur. Für die Iwanowskis hat die Angelegenheit ja ein glückliches Ende genommen.“ „Sie werden sich freuen. Sehr dicke haben sie’s ja gerade nicht. Und der Diebstahl muß sie ziemlich getroffen haben.“ „Wie geht es eigentlich Fräulein Wróblewska?“ Der Staatsanwalt stellte diese Frage im beiläufigen Plauderton. „Sie gerät mir immer mehr in die Quere. Wenn sie das nicht bleiben läßt, werde ich ihren Eifer dämpfen müssen. Interessiert sich zu sehr für die früheren sieben Diebstähle. Meine Leute, die die Geschädigten interviewen wollten, haben mir erklärt, daß sie nicht die ersten waren.“ 191
„Wieso?“ „Weil verschiedene junge Leute die Bestohlenen bereits aufgesucht und ihnen Fragen gestellt hatten.“ „Gaben sie sich für Mitarbeiter der Miliz aus?“ „Vielleicht nicht ausdrücklich, aber sie haben sich bemüht, diesen Eindruck zu erwecken. Man hielt sie für Kriminalisten.“ „Glauben Sie, daß das ein Werk der Lilaäugigen mit den goldenen Fünkchen ist?“ „Sie hat es mir selbst gestanden.“ „Vielleicht ist es ihr gelungen, etwas Neues zu erfahren? Wie damals in der Buczekstraße?“ „Ausgeschlossen“, erwiderte Leutnant Widerski entschieden. „Einem Amateur kann einmal etwas gelingen, aber nicht immer.“
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FÜNFZEHNTES KAPITEL
Unfall oder Verbrechen? Leutnant Roman Widerski konnte sich das Vergnügen nicht versagen, die beiden Koffer mit dem Diebesgut persönlich in der Wohnung der Iwanowskis abzuliefern. Als er zusammen mit seinem Kollegen Kardaś die schweren Gepäckstücke in den dritten Stock gewuchtet und an der Tür geklingelt hatte, überkam ihn ein Gefühl tiefer Befriedigung. Frau Iwanowska öffnete. Beim Anblick der bekannten Gesichter und ihrer Koffer wurde sie abwechselnd blaß und rot und schnappte nach Luft. Dann rief sie: „Tadek, Tadek!“ und brach in Freudentränen aus. Das war rührend anzusehen. Die Eheleute waren glücklich wie die Kinder. Offen gaben sie zu, nicht mehr damit gerechnet zu haben, daß sie jemals wieder eins der gestohlenen Kleidungsstücke zu sehen bekämen. Herzlich bedankten sie sich bei den Milizionären. Tadeusz Iwanowski versuchte ihnen einen Geldschein zuzustecken, bis der Leutnant zu verstehen gab, daß er die Sache übel aufnähme. Aber ein Kaffee ließ sich diesmal schlecht abschlagen. Der Rest Ebereschenschnaps wurde auf drei Gläser verteilt, weil Frau Iwanowska wegen eines Leberleidens nicht mithalten konnte. Man trank auf das Wohl der Miliz und ihren Erfolg. „Es fehlt rein gar nichts, nicht ein Stück“, rief die Hausfrau begeistert. „Ich denk’, ich trau’ meinen Augen nicht.“ „Und du hast behauptet, die Miliz würde die Sachen 193
nicht finden“, entgegnete Herr Iwanowski lachend. „Stimmt“, gab Frau Iwanowska zu, „aber ich hatte nicht geglaubt, daß sich die Herren mit so einem gewöhnlichen Diebstahl abgeben würden.“ „Jeder Diebstahl ist gewöhnlich, und wir versuchen jeden aufzudecken. Manchmal gelingt es, manchmal auch nicht“, antwortete der Leutnant. Als eine halbe Stunde um war und es ihnen gelungen war, um die zweite Tasse Kaffee herumzukommen, obschon der Hausherr noch „schnell einen Kräftigen“ an der Ecke holen wollte, verließen beide Milizionäre die Wohnung in der Masurskastraße. Kriminalassistent Kardaś hatte sich an diesem Tage noch mit einem Einbruch in einem Laden zu befassen. Der Leutnant begab sich zum Treff mit Hanka Wróblewska. Das Mädchen hatte von keinem Schutz hören wollen. Nach längeren Auseinandersetzungen und der Androhung von Schutzhaft war sie endlich zu einem Kompromiß bereit gewesen und hatte sich verpflichtet, frühmorgens mit der Mutter die Wohnung zu verlassen und mittags in Begleitung eines Milizionärs zurückzukehren. Als ständiger Treffpunkt war die Straßenbahnhaltestelle am Hafentor vereinbart worden. Nach Ansicht des Leutnants waren die Mittagsstunden, wenn im Haus in der Buczekstraße minimaler Betrieb herrschte, am gefährlichsten. Um diese Zeit war ja auch der Überfall auf Hanka verübt worden. Und so hatte Widerski entschieden verlangt, daß Hanka um diese Zeit nicht allein die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstieg. Sonderbarerweise ergab es sich, daß alle anderen Kriminalbeamten bis über beide Ohren mit Arbeit eingedeckt waren und nur Widerski zu den Treffs kommen 194
konnte. Hanka, deren spitze Zunge gefürchtet war, enthielt sich jedoch in diesem Falle jeden Kommentars. An diesem Tage ging der Leutnant mit dem Mädchen die Allee der Unabhängigkeit entlang, später über den Platz des Fliegers bis zur Jagiellońskastraße und weiter die Jagiellońskastraße entlang, um über die Allee der Roten Armee zum Odrodzeniaplatz zu gelangen, wo das Eckhaus Buczekstraße Nummer neunzehn stand. Es war kalt, von der Oder her wehte ein kräftiger kühler Wind. Als sie in der Jagiellońskastraße an einem alten dreigeschossigen Haus vorübergingen, schlug plötzlich, kaum einen halben Meter hinter ihnen, ein schwerer Gegenstand krachend auf den Bürgersteig. Glassplitter überschütteten Hanka und den Leutnant. Widerski packte das Mädchen am Arm und riß es mit einem Satz auf die Mitte der Fahrbahn. In diesem Augenblick stürzte wieder etwas auf den Bürgersteig, genau dorthin, wo sich vor einer Sekunde das junge Paar befunden hatte. Widerski blickte nach oben. In einer der Wohnungen im dritten Stock bemerkte er leere Fensteröffnungen. Dafür lagen auf dem Bürgersteig zwei große zertrümmerte Fensterhälften. „Ruf die Miliz an! Sie soll sofort einen Funkwagen schicken.“ Widerski hatte das Mädchen in der Eile geduzt. „Ich lauf nach oben. Vielleicht gelingt mir’s, den Schuft zu fassen.“ In der Haustür zog der Kriminalbeamte die Pistole aus der Tasche und rannte mit der Waffe in der Hand, jeweils drei Stufen auf einmal überspringend, in die dritte Etage. Dort war auf dem Treppenabsatz keine Menschenseele zu sehen. Zwei Türen führten zu zwei Wohnungen. Links war’s, sagte sich der Leutnant. 195
Er drückte auf den Klingelknopf und ließ ihn vorerst nicht wieder los. Niemand machte auf. Der Leutnant schlug mehrmals mit der Faust gegen die Tür und stieß mit dem Fuß dagegen. Auf den Lärm hin öffnete sich die Tür zur Nachbarwohnung. Eine ältere Frau trat heraus. Als sie einen Mann mit vorgehaltener Pistole sah, stieß sie einen Schreckensschrei aus. „Wer wohnt hier?“ rief der Leutnant. Als die Frau bemerkte, daß der Besitzer der Pistole eine Milizuniform trug, beruhigte sie sich etwas. „Jetzt ist niemand da. Die Wohnung gehört Ingenieur Uklewski. Was ist los?“ „Zwei Fenster sind aus dieser Wohnung auf die Straße geworfen worden. Sie hätten Passanten töten können.“ „Ach, es wird wohl eher der Wind gewesen sein. Da ist niemand“, wiederholte die Frau. „Das weiß ich bestimmt. Der Ingenieur arbeitet in einem Projektierungsbüro. Seine Frau ist mit dem Kleinkind zu ihren Eltern gefahren. Frühestens im Januar kehrt sie zurück, weil ihre Mutter krank ist. Da wohnt noch ein junges Paar, Kowalewskis. In Untermiete. Aber die sind ebenfalls zur Arbeit.“ Hanka erschien. „Ich habe die Miliz benachrichtigt. Der Funkwagen wird gleich hier sein. Will niemand aufmachen?“ „Es soll niemand in der Wohnung sein. Wir werden ja sehen. Ich bin so schnell ’raufgerannt, daß der, der die Fenster geworfen hat, nicht entweichen konnte. Wenn er versucht hätte, sich in einer anderen Wohnung zu verstecken, wäre ich ihm auf der Treppe begegnet. Aber gehen Sie hinunter, und sagen Sie den Kollegen, daß ich hier bin.“ 196
„Es konnte auch ein Unfall sein“, bemerkte Hanka, die sich die Sache wenig zu Herzen nahm. „Heute weht ein starker Wind.“ „Wir werden das prüfen! Aber jetzt marsch, hinunter!“ Nach kurzer Zeit traf Verstärkung ein. Der Leutnant ließ einen Milizionär vor der Wohnungstür als Wache zurück. Mit den anderen besichtigte er die anderen Wohnungen in demselben Treppenaufgang. Die Personalien der Anwesenden wurden aufgenommen. Es waren nur die ständigen Bewohner des Hauses. Ein Fremder wurde nicht gefunden. Auch hatte keiner der Hausbewohner in der Nähe des Hauses oder auf der Treppe einen Unbekannten bemerkt. Der Hauswart erschien. Auch er hatte niemanden gesehen und gehört. „Herr Leutnant“, bemerkte ein Genosse der Miliz. „Die Tür kriegen wir auf. Die brauchen wir nur mit einem Autoschlüssel herauszuheben.“ „Nein. Wir benachrichtigen die Kommandantur per Funk. Sie sollen den Ingenieur herfahren.“ In weniger als fünfzehn Minuten erschien Ingenieur Franciszek Uklewski, der Eigentümer der Wohnung. Er war entsetzt. Seine Erregung steigerte sich noch, als er erfuhr, was geschehen war. „Unmöglich, unmöglich“, stammelte er und steckte mit nervös zitternden Händen die Schlüssel ins Schloß. Man betrat die Wohnung. Niemand war anwesend. Durch die ungeschützte Fensteröffnung zog kalter Wind und ließ die Gardinen flattern. „Sehen Sie sich gründlich um. Hat jemand in Ihrer Abwesenheit hier sein Wesen getrieben?“ „Mir fällt nichts Besonderes auf. Es ist alles so, wie ich es zurückließ, als ich zur Arbeit ging.“ 197
Das offene Fenster befand sich im Schlafzimmer. Außerdem bestand die Wohnung aus zwei weiteren Zimmern, von denen eins an zwei entfernte Verwandte des Ingenieurs vermietet war. Hier herrschte ebenfalls mustergültige Ordnung. „Überprüfen Sie bitte Schränke und Schubladen. Fehlt etwas?“ Der Ingenieur warf einen Blick in eine Schublade. Er schloß den Schreibtisch auf und schaute in die Anrichte. „Nein. Niemand hat hier etwas berührt“, stellte er fest. Sie gingen in die Küche, wo nicht die geringste Veränderung davon zeugte, daß jemand vor kurzem dagewesen war. „Und diese Tür?“ fragte der Leutnant. „Die Tür führt zum zweiten Treppenflur, aber es benutzt sie keiner. Diese Treppe ist unbequem, eine Wendeltreppe, außerdem schlecht beleuchtet. Wir gehen nur durch den vorderen Treppenflur.“ „Ist die Tür zugenagelt?“ „Nein. Nur verschlossen.“ Der Leutnant sah sich die Schlösser an. Ein normales. Dazu ein Schnappschloß und unten ein Riegel. Der Riegel war nicht vorgeschoben. „Der Riegel ist offen“, sagte der Offizier zum Wohnungsinhaber. „Seit wann?“ „Das weiß ich nicht. Gewöhnlich ist er zu. Vielleicht hat mein fünfjähriges Töchterchen ihn beim Spielen in der Küche zurückgeschoben. Meine Frau ist mit der Tochter nicht in Szczecin. Sie sind zu den Schwiegereltern gefahren.“ „Wo sind die Schlüssel zu dieser Tür?“ „Sie müßten hier irgendwo sein.“ Der Ingenieur machte die Schublade vom Küchenschrank auf und angelte aus 198
dem Kleinkram zwei Schlüssel an einem Bändchen. „Das werden sie wohl sein.“ Einer der Kriminalbeamten probierte sie aus. Der größere öffnet das Schloß mit Leichtigkeit, der kleinere das Schnappschloß ebenso mühelos. „Wann wurde diese Tür zum letztenmal benutzt?“ „Ich entsinne mich nicht, daß wir sie je benutzt hätten. Als ich meine jetzige Frau heiratete, wohnten wir hier zusammen mit den Schwiegereltern. Sie hatten die Wohnung seit mindestens fünfzehn Jahren. Später siedelten die Eltern meiner Frau nach Poznań um, weil der Schwiegervater dort eine bessere Stellung und eine Wohnung bekam. Soweit ich mich besinnen kann, hat niemand jemals diese Tür benutzt. Wozu auch?“ „Und die Untermieter?“ „Sie haben nur Schlüssel zur Vordertür.“ „Wenn die Schlüssel fünfzehn Jahre nicht benutzt wurden, dann sind sie in einem viel zu guten Zustand“, bemerkte der Mann, der die Tür geöffnet hatte. „Der Bart bewegt sich sehr leicht. Wenn ich das Schloß auseinanderschraube, möchte ich wetten, daß ich da Schmiere finde, die noch nicht trocken ist. Die hat sich bestimmt nicht so viele Jahre gehalten.“ Der Leutnant kehrte ins Zimmer zurück, in dem das Fenster herausgehoben war. „Hatten Sie vergessen, das Fenster zu schließen?“ „Ich habe es seit der Abreise meiner Frau überhaupt nicht aufgemacht“, sagte der Wohnungsinhaber bestimmt. „Mindestens fünf Tage nicht. Wozu übrigens? Wir haben Dezember, und die Wohnung ist nicht warm. Die Fenster sind noch nicht abgedichtet. Ich hatte mir vorgenommen, das gleich nach der Abreise meiner Frau zu tun, aber ich bin noch nicht dazu gekommen. Es zieht 199
dermaßen durch die Ritzen, daß man die Fenster überhaupt nicht aufzumachen braucht. Vor allem, wenn gerade der Wind draufsteht.“ Die Kriminalbeamten untersuchten sorgfältig alle übrigen Fenster. Sie waren verschlossen und ließen sich nur mit Mühe öffnen. „Selbst wenn das Fenster nicht ganz zu gewesen wäre“, erläuterte der Ingenieur, „hätte der Wind es nicht aus den Angeln reißen können. So stark ist er nicht. Außerdem weht er senkrecht auf die Vorderwand des Hauses, also hätte er die Fensterflügel eher geschlossen. Und beide Hälften gleichzeitig?“ „Tatsache ist, daß das Fenster auf der Straße liegt und beinahe einen Todesfall verursacht hätte.“ „Das begreife ich nicht. Ich schwöre, die Fenster waren zu, als ich das Haus verließ.“ Der Ingenieur fürchtete, wegen Fahrlässigkeit zur Verantwortung gezogen zu werden. Der Leutnant und sein Trupp begaben sich nach unten. Dort wartete Hanka. Der Leutnant fragte: „Hat jemand das Haus verlassen, als ich nach oben lief?“ „Nein. Ich habe aus dem Laden gegenüber nach dem Funkwagen telefoniert. Dabei konnte ich gut den Eingang beobachten. Niemand hat das Haus verlassen noch betreten. Ein paar Leute haben sich um das zertrümmerte Fenster auf dem Bürgersteig angesammelt.“ „Er kann in dem Augenblick entschlüpft sein, als Sie unnötigerweise nach oben liefen.“ „Ich wollte Ihnen helfen. Sie waren allein.“ „Die Hilfe hätte mir nicht viel genützt. Ich hatte doch meine Waffe.“ „Nicht genug, daß ich helfen wollte, jetzt werde ich noch ausgeschimpft.“ 200
„Ich schimpfe nicht, ich stelle nur fest, daß sich der Täter in aller Ruhe aus dem Staube machen konnte, als Sie heraufkamen.“ „Kaum“, erklärte einer der Kriminalisten. „Warum auch? Dies Haus ist wie fast alle auf dieser Seite der Jagiellońskastraße ein Durchgangshaus. Es ist mit den Hinterhöfen der Häuser in der Allee der Nationalen Einheit verbunden. Kommen Sie bitte …“ Mit diesen Worten führte der Genosse das Grüppchen auf den Hof. Hier betrat er einen Anbau, von wo aus eine offene Tür zum nächsten Hof führte. Dessen Tor führte bereits auf die Allee der Nationalen Einheit. „Es hat keinen Sinn, weiterzusuchen. Wir finden da niemanden mehr. Also zurück zur Kommandantur. Das heißt, ich …“, der Leutnant überlegte, „ich muß den Ingenieur noch etwas fragen. Setzen Sie unterwegs das Fräulein in der Buczekstraße ab!“ „Wozu?“ protestierte Hanka. „Kein ‚wozu‘. Ob etwas nötig ist oder nicht, entscheidet die Miliz. Sie haben doch gesehen, was geschehen ist oder vielmehr was hätte geschehen können, wenn wir nicht auf die Straßenmitte gesprungen wären.“ „Ein gewöhnlicher Unfall“, versteifte sich das Mädchen. „Ein Unglück kommt selten allein. Damit sich nicht das nächste ereignet, wird der Funkwagen Sie nach Hause bringen. Ich möchte am liebsten, daß Sie heute überhaupt nicht mehr auf die Straße gehen. Morgen dann wie üblich, vorm Hafentor.“ „Ihretwegen soll ich zu Hause wie im Gefängnis hocken?“ „Vor zwei Stunden noch hat mir eine gewisse Medizinstudentin erzählt, wie beschäftigt sie jetzt sei und wie sie sich auf das nächste Kolloquium vorbereiten müsse. 201
Ein Nachmittag, zu Hause verbracht, kann sich da als Rettung erweisen.“ Der Funkwagen fuhr ab, und der Leutnant begab sich erneut nach oben. Ingenieur Uklewski war damit beschäftigt, das Fenster provisorisch mit Papierbogen, Kissen und Draht abzudichten. „Wo werden die mir jetzt, verdammt, auf die Schnelle ein neues Fenster machen“, sagte er bekümmert. „Von dem, das ’rausgeflogen ist, sind nur Trümmer übriggeblieben. Nur die Beschläge sind noch zu gebrauchen.“ „Ich wollte Sie fragen, ob Ihre Frau irgendwo beschäftigt ist.“ „Ja. In einem Bauunternehmen. Als technische Zeichnerin. Die Tochter geht in den Hort. Wegen der Erkrankung ihrer Mutter hat meine Frau um Urlaub nachgesucht und ist nach Poznań gefahren.“ „Haben Sie eine Haushilfe?“ „Nein. Wir haben nie eine gehabt.“ „Und wie viele Schlüssel zu Ihrer Wohnung sind vorhanden?“ „Vier. Der von meiner Frau, mein eigener und die beiden der Untermieter.“ „Hat von Ihnen niemand seine Schlüssel verloren?“ „Nein, niemand. Glauben Sie, daß jemand die Wohnung betreten hatte? Wozu? Es ist doch nichts abhanden gekommen.“ Der Leutnant wollte den Ingenieur nicht in die Sache einweihen und sagte nur: „Ich hatte angenommen, daß ein Dieb in Ihre Wohnung eingedrungen ist, das Fenster geöffnet hat, um auf die Straße zu schauen, und es schlecht verschloß … Obwohl ich den Eindruck habe, daß Sie selbst, Herr Ingenieur, es versäumt haben, nachzuschauen, ob die Fenster verriegelt sind, und da202
her dieser Unglücksfall, der fast tragisch geendet hätte.“ „Ich bin mir absolut sicher, daß das Fenster fest verschlossen war. Ich hatte es eine Woche lang nicht geöffnet. Außerdem war gestern und vorgestern der Wind stärker. Es hätte eher herausfliegen müssen, nicht erst heute.“ „Ich befürchte, Sie werden von der Miliz eine Vorladung bekommen, um dort offiziell Aussagen zu machen.“ Etwas später hörte sich Staatsanwalt Witold Szczerbiński den Bericht des Leutnants an. „Trotzdem kann man einen Unfall nicht ausschließen“, bemerkte er. „Hätte es nicht vorher einen Überfall auf die Wróblewska gegeben, würde auch ich annehmen, daß das ein Unfall war. Aber ich glaube nicht an so eine seltsame Duplizität der Ereignisse. Zuerst schlägt jemand dem Mädchen mit einem Stück Eisen auf den Kopf, dann fällt zwei Wochen später ein Fenster aus dem dritten Stock auf sie herab. Und nicht nur eins. Als die erste Hälfte nicht getroffen hatte, folgte gleich darauf die zweite. Etwas stark, das Wunder, Herr Staatsanwalt.“ „Das Haus ist alt. Das Fenster konnte morsch sein. Die Angeln waren ausgeleiert.“ Der Staatsanwalt versuchte den Leutnant zu beruhigen. „Wenn das wirklich so wäre, glaube ich dennoch nicht, daß das Fenster gerade in dem Augenblick herausfallen mußte, als wir an diesem Haus vorbeigingen. Aber Sie irren sich, Herr Staatsanwalt. Das Holz der Fensterrahmen ist völlig gesund. Nicht nur ich habe es mir ange203
sehen, die ganze Streife, die mit dem Funkwagen gekommen war, hat sich davon überzeugt. Die Angeln halten ganz fest. Die übrigen Fenster sind so verschlossen, daß man sie nur mit Mühe aufmachen kann. Ich würde das Herausfallen dieser beiden Hälften als Wunder ansehen.“ „Manchmal ist es schwerer, einen Zufall zu erklären als ein echtes Wunder.“ „Hier, Herr Staatsanwalt, hat es mehrere solcher Wunder gegeben.“ „Zum Beispiel?“ „Zum Beispiel die Küchentür. An dieser Tür ist unten ein Riegel. Der Ingenieur behauptet, daß die Tür seit mindestens fünfzehn Jahren nicht mehr benutzt wird. Trotzdem war der Riegel zurückgeschoben. Uklewski nimmt an, seine fünfjährige Tochter könnte ihn zurückgeschoben haben. Ich bezweifle es, denn der Riegel läßt sich äußerst schwer bewegen. Das ist eben das zweite Wunder. Das dritte: Die Schlösser in der Küchentür, die fünfzehn Jahre nicht berührt wurden, öffnen sich kinderleicht und ohne das leiseste Geräusch, als ob sie erst gestern die Fabrik verlassen hätten. Dann das nächste Wunder: Das Fenster fällt aus einer Wohnung, die sich ausgerechnet in einem Durchgangshaus von der Jagiellońskastraße zur Allee der Nationalen Einheit befindet. Eine schöne Kollektion von Wundern! Ich hatte vergessen hinzuzufügen, daß sie mit einer Wohnung zusammenhängen, die täglich bis zum Nachmittag von den Mietern verlassen ist.“ „Wie erklären Sie sich das, Herr Leutnant?“ „Es ist einfach eine von den vielen Wohnungen, zu denen unser Täter Nachschlüssel hat.“ „Das wäre ebenfalls ein Wunder. Hat denn unser 204
Kassendieb Schlüssel zu allen verlassenen Wohnungen in Szczecin?“ Der Staatsanwalt lächelte. „Nicht zu allen“, berichtigte der Leutnant, „nur zu einer bestimmten Anzahl Wohnungen in der Nähe des Grunwaldzkiplatzes. Ich nehme an, daß dieser Mann jede Gelegenheit nutzt, um Plastilinabdrücke zu bekommen, und die Schlüssel nachmacht. Dann wartet er auf den geeigneten Moment, wo die jeweilige Wohnung bestohlen werden kann. Er übereilt. nichts, er arbeitet systematisch und hat deshalb immer ein paar Schlüsselsätze zu Wohnungen parat, die darauf warten, an die Reihe zu kommen.“ „Eine interessante Theorie.“ „Die sowohl den Diebstahl in der Masurskastraße wie den angeblichen Unglücksfall in der Jagiellońskastraße erklärt.“ „Was weiter?“ „Der Täter, unser falscher Toter Antoni Norkowski, hält Hanka Wróblewska für die gefährlichste Person. Er befürchtet noch immer, daß sich das Mädchen daran erinnern wird, wen es damals auf der Treppe sah.“ „Sie hätte sich schon längst erinnern müssen!“ „Offenbar ist sie diesem Menschen seit dem Mordtag nicht mehr begegnet. Er aber nimmt an, daß sich Hanka an die Gestalt auf der Treppe erinnern wird, wenn sie ihn sieht. Deshalb glaubt er, daß die Beseitigung Hanka Wróblewskas die volle Garantie für seine Sicherheit ist. Nach dem ersten mißglückten Überfall hat Norkowski gemerkt, daß das Mädchen eine gewisse Vorsicht walten läßt und immer in Begleitung eines Milizionärs nach Hause geht.“ „Bleiben wir bei den Tatsachen“, berichtigte der Staatsanwalt, „in Begleitung eines Offiziers der Miliz. 205
Und wie ich annehmen kann, stets desselben. Nicht wahr?“ Der Leutnant wurde rot. „Das sind ungerechtfertigte Insinuationen, Herr Staatsanwalt. Ich wiederhole, der Mörder hat begriffen, daß ein zweiter Anschlag im Haus in der Buczekstraße ausgeschlossen ist. Aber er wußte, daß das Mädchen auf dem kürzesten Wege von der Medizinischen Akademie, das heißt durch die Jagiellońskastraße, nach Hause zurückkehrt. Er hatte in dieser Straße eine Wohnung für einen Diebstahl, also beschloß er, die Wohnung für einen neuerlichen Anschlag zu benutzen. Er wartete oben auf uns. Das Fenster hatte er schon vorher aus den Angeln gehoben und zum Abwurf vorbereitet. Als er uns bemerkte, warf er zuerst die eine Hälfte, dann die andere, und zwar so, daß selbst dann, wenn die erste danebengehen sollte, die zweite das Werk vollendet hätte. Hätte ich nicht so blitzschnell reagiert, dann hätten Sie, Herr Staatsanwalt, keine Gelegenheit mehr, sich mit mir zu unterhalten, und könnten im Höchstfall bei unserer Leichenschau assistieren.“ „Meinen Sie wirklich?“ „Ein massives Fenster, obendrein verglast, das aus fünfzehn Meter Höhe auf den Kopf eines Menschen fällt? Die Folgen sind leicht vorauszusehen. Die alten Häuser sind hoch gebaut. Jetzt würden die Architekten dort fünf Stockwerke unterbringen. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß das tragisch geendet hätte. Mit einem Streich hätte sich Norkowski nicht nur des Kronzeugen, sondern auch des Ermittlungsoffiziers entledigt. Ein schöner Schachzug.“ „Vielleicht mögen Sie recht haben.“ Der Staatsanwalt war sich seiner Sache nicht ganz sicher. 206
„Am meisten ärgert mich, daß ich diesen fatalen Mißgriff getan habe. Es kam mir nicht einmal in den Sinn, daß die Wohnung Ausgänge zu zwei Treppenfluren haben kann, den vorn und den vom linken Anbau. Statt nach oben zu laufen, hätte ich nur vortäuschen sollen, daß ich es tue, und dafür den Hof beobachten. Ich hätte ihn gefaßt, als er aus dem Anbau herauskam. Ich bin überzeugt, daß Norkowski nach dem Abwurf seiner ‚Bomben‘ die Wohnung durch die Küchentür verlassen und durch das Fenster im Treppenflur beobachtet hat, was weiter geschah. Als er mich durch die Vordertür nach oben laufen sah, ging er seelenruhig nach unten, in die Allee der Nationalen Einheit. Wäre ich dagegen zufällig in den falschen Treppenflur geraten, den, in dem er stand, dann hätte er die Wohnung geöffnet und wäre vorn herausgegangen. Er riskierte gar nichts. Er konnte nur dann gefaßt werden, wenn ich unten auf ihn gelauert hätte und nicht nach oben gelaufen wäre. Leider habe ich zu schnell gehandelt und nicht überlegt, daß es dort zwei Treppenflure geben kann. Wieder ist er uns entwischt.“ „Schauen wir uns das auf der Karte an, Herr Leutnant.“ Der Staatsanwalt trat mit Widerski an den Stadtplan von Szczecin. „Welches Haus ist es?“ „Dieses. Das zweite vor der Allee der Roten Armee.“ Der Staatsanwalt zog eine neue Stecknadel mit blauem Kopf aus dem Rockaufschlag und stach sie in die vom Leutnant angedeutete Stelle. „Stimmt“, sagte er. Das blaue Pünktchen stak innerhalb des roten Kreises, der um den Grunwaldzkiplatz gezogen war.
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SECHZEHNTES KAPITEL
Das Rätsel der Bücher „Fräulein Hanka, ich muß ernstlich mit Ihnen reden.“ Der Leutnant sprach diese Worte mit einer gewissen Strenge. „Wie bitte?“ rief das Mädchen lachend. „Haben Sie etwa vor, um meine Hand anzuhalten? Welch angenehme Überraschung!“ „Ganz und gar nicht!“ sagte der Kriminalist leicht irritiert. „Lassen wir die Scherze. Ihr Verhalten mißfällt uns. Das geht nicht mehr so weiter. Widrigenfalls sehen wir uns gezwungen, einschneidende Konsequenzen zu ziehen.“ „Womit habe ich denn so gesündigt?“ Hanka Wróblewska war nicht kleinzukriegen. „Oh, spielen Sie bitte nicht die Harmlose! Erst gestern war Maliniak, einer meiner Assistenten, in einem Haus in der Niedziałkowskistraße, um notwendige Erkundungen einzuziehen. Mit Verwunderung mußte er zur Kenntnis nehmen, daß zwei Stunden zuvor bereits ein anderer Beamter der Miliz eine Befragung der Hausbewohner durchgeführt hatte. Dasselbe meldete man uns von anderen Stellen. Wissen Sie, es gibt da sehr hübsche Strafverfahren für Leute, die sich als Milizionäre ausgeben. Ich möchte Sie doch sehr warnen. Wir haben von dem Spiel die Nase voll.“ „Sie haben heute aber schlechte Laune, Herr Leutnant!“ „Nein, mir ist nur nicht zum Lachen zumute, weil die Sache ernster ist, als Sie glauben. Die Folgen werden Ihre Freunde tragen, diejenigen nämlich, die den Milizionär vorgetäuscht haben.“ 208
„Das ist nicht wahr, keiner hat gesagt, er sei Milizionär.“ „Aber sie haben sich so verhalten, daß die Leute sie für Kriminalisten halten mußten.“ „Daran sind die Leute selbst schuld, weil sie keinen Dienstausweis verlangt haben.“ „Einerlei. Ich habe Sie zum letztenmal gewarnt. Wenn sich das wiederholen sollte, werden die jungen Leute für diese Streiche zu zahlen haben.“ „Mein Gott, wie schrecklich ist die Miliz. Kein Kontakt zur Bevölkerung, die ihr doch nur helfen will.“ „Zur Führung von Ermittlungen sind Miliz und Staatsanwalt da und nicht irgendwelches junge Volk. Sie haben uns gewisse Dienste geleistet, Fräulein Hanka. Sie haben uns auf Fakten hingewiesen, die uns zunächst nicht aufgefallen sind, na schön, aber damit sollten Sie sich zufriedengeben. Doch nein, Sie betreiben weiterhin private Erkundungen. Mit Rücksicht auf die uns geleisteten Dienste haben wir Sie bereits in Teilgebiete unserer Ermittlungstätigkeit eingeweiht. Das bedeutet allerdings nicht, daß wir noch länger eine so dilettantische Art der Ermittlungsführung tolerieren werden. Ich hoffe, daß Sie das verstanden haben.“ „Zu Befehl, Herr Kommissar!“ Das Mädchen ließ nicht die geringste Neigung erkennen, von ihrem scherzhaften Ton abzulassen. „Ich bitte Sie, diese Spielereien zu unterlassen.“ „Befehl ist Befehl. Ich verspreche, daß niemand mehr irgendwo hingehen und jemandem irgendwelche Fragen stellen oder sich für einen Kriminalisten ausgeben wird.“ „Es freut mich, daß Sie endlich zur Vernunft kommen.“ „Meine Leute brauchen nämlich nirgends mehr hinzugehen, weil sie bereits alle Informationen gesammelt haben; die ich benötige.“ 209
„Wie?“ Der Leutnant sprang von seinem Platz. „Ich bin fertig mit meinen ‚privaten Erkundungen‘, wie Sie das so schön nennen.“ „Sind Sie etwa Norkowski auf der Spur?“ „Wer ist das, Norkowski?“ Hanka kannte den neuesten Stand der Ermittlungen nicht. „Das ist der Mann, der Łucja Rosińska ermordet hat.“ „Bravo. Wie ich sehe, leistet unsere tüchtige Miliz ausgezeichnete Arbeit. Aber ich habe diesen Norkowski gar nicht gesucht. Ich habe ja nicht einmal gewußt, daß er so heißt.“ „Wen dann?“ „Eine Frau.“ „Eine Frau?“ wiederholte der Leutnant erstaunt. „Ja, eine Frau. Der Einfall mit dem Nachmachen von Schlüsseln und dem Ausräumen unbesetzter Wohnungen ist zu intelligent, als daß er in dem Kopf eines Mannes hätte entstehen können. Deshalb habe ich eine Frau gesucht.“ „Haben Sie sie gefunden?“ „Natürlich.“ „Vielleicht können Sie auch noch sagen, wer die Diebstähle ausgeführt und wer die Rosińska ermordet hat?“ „Natürlich kann ich das“, sagte Hanka in einem möglichst nonchalanten Ton und schlug lässig die Beine übereinander. „Ich habe nur nicht gewußt, daß er in Wirklichkeit ‚Norkowski‘ heißt, aber nur deshalb, weil ein gewisser Offizier der Miliz sich so unkollegial verhält und verlangt, daß man ihm stets und ständig Bericht erstattet, selbst aber nicht soviel Anstand besitzt, seine besten Mitarbeiter über die Erkundungsergebnisse der Miliz zu informieren.“ „Na, wissen Sie, das ist doch die Höhe …“ „Finde ich auch. Deshalb werde ich in Zukunft größere 210
Rechte für mich in Anspruch nehmen.“ „Es wird keine Zukunft mehr geben.“ „Meinen Sie?“ In den Augen des Mädchens flammten wieder die goldenen Fünkchen auf, die Widerski noch nie hatte ruhig anschauen können. „Jetzt aber Schluß mit den Albernheiten. Sie sagen also, Sie kennen den Mörder bereits?“ „Ja. Und die Miliz?“ „Wir haben festgestellt, daß er früher Antoni Norkowski hieß und ein bekannter Tresordieb war. Unser Verdacht konzentriert sich immer mehr auf einen bestimmten Mann. Es fehlen uns nur noch ein paar Details, um das alles zu einer logischen Beweisführung zu verknüpfen. Und Sie?“ „Ich weiß, wer der Anstifter zum Diebstahl war. Wer die Schlüssel erwarb und wie. Ich weiß auch, warum die Legat-Wohnung so demoliert wurde. Außerdem ist mir eingefallen, wem ich damals, am Sonnabend vor dem Überfall, auf der Treppe begegnet bin. Mir fehlt nur der Beweis. Aber ich habe das Gefühl, der befindet sich in der Wohnung in der Buczekstraße.“ „Wann ist Ihnen eingefallen, wer auf der Treppe an Ihnen vorbeigekommen ist?“ „Es mag Ihnen komisch vorkommen, aber das war in dem Augenblick, als es hinter meinem Rücken krachte und ein gewisser Offizier der Miliz so brutal an meiner Hand zerrte, daß ich mitten auf dem Fahrdamm beinahe hingestürzt wäre. Da fiel mir mit einemmal ein, wer das auf der Treppe gewesen war.“ „Wäre dieser Offizier, wie Sie sagen, nicht so ‚brutal‘ gewesen, dann schritte in diesem Augenblick ein kleiner Trauerzug in Richtung Friedhof.“ 211
„Ich hoffe, daß Sie es dann fertiggebracht hätten, obwohl Dezember ist, ein paar Blumen zu organisieren.“ „Na, und wer war es? Ich bin neugierig, ob das mit unseren Feststellungen übereinstimmt.“ „Am schwersten ist es, jemanden bewußt wahrzunehmen, den man häufig sieht. Zum Beispiel werden Sie sich lange an den Anblick einer exzentrischen Dame mit grasgrünem Hut erinnern, aber der Briefträger, den Sie täglich sehen, fällt Ihnen nicht auf.“ „Danebengetippt! Der Briefträger hat ein Alibi“, erklärte der Leutnant. „Ich habe ihn nur als Beispiel erwähnt. Der Briefträger ist nicht der Mörder.“ „Wer denn?“ „Darüber werden wir sprechen, wenn wir den fehlenden Beweis gefunden haben. Und zwar in der LegatWohnung.“ „Sie glauben, daß dort des Rätsels Lösung zu suchen ist?“ „Nur dort.“ „Warum haben Sie alle Bestohlenen aufgesucht?“ „Das hat uns zu gewissen Annahmen geführt, aus denen ich meine Schlußfolgerungen gezogen habe.“ „Sie widersprechen sich selbst. Sie hatten doch vor einer Weile behauptet, Sie wüßten, wer die Treppe hochgegangen ist.“ „Ja. Aber manchmal ist der Weg vom Wissen zum Beweis recht lang. Sie kennen den Mörder ja auch, aber ausschließlich auf der Grundlage einer Hypothese, die durch nichts untermauert ist.“ „Das würde ich nicht sagen.“ „Warum verhaften Sie ihn denn nicht?“ „Weil ich ein paar letzte Lücken in meiner Beweisfüh212
rung schließen muß. Aber das ist nur eine Frage der Zeit.“ „Ich befürchte, nein. In eurer Überlegung steckt ein grundsätzlicher Fehler.“ „Welcher?“ „Ihr sucht einen Mann, diesen Norkowski. Ich leugne nicht, daß er existiert, aber das Verbrechen muß erst der Frau nachgewiesen werden. Dann findet sich auch der Mann. Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß alle Diebstähle auf einem verhältnismäßig begrenzten Territorium verübt worden sind?“ „Das ist uns bekannt. In einem Umkreis, dessen Mittelpunkt der Grunwaldzkiplatz ist.“ „Und warum?“ „Wahrscheinlich deshalb, weil das Norkowskis Arbeitsstelle ist. Wir bemühen uns, zu ergründen, welche lokale Institutionen, staatlich oder kommunal, diesen Bereich hat. Wenn wir das herausbekommen haben, wird es einfach sein, Norkowski zu finden.“ „Kennen Sie das Suchspiel, bei dem man je nach der Entfernung vom gesuchten Gegenstand ‚heiß‘ oder ‚kalt‘ sagt? Wenn wir es spielten, würde ich jetzt ‚warm‘ sagen, aber noch nicht ‚heiß‘.“ „Und Ihre Ergebnisse?“ „Heiß, sehr heiß. Brennen wird es in der Buczekstraße.“ „Sie reden in lauter Rätseln. Es bleibt nichts weiter übrig als auf in die Buczekstraße!“ „Ich hätte gern noch eine Frage gestellt. Ich hoffe, daß Sie diesmal so höflich sind und sie mir beantworten. In welchem Buch war das Geld versteckt?“ „Haben Sie das denn nicht gewußt?“ fragte der Leutnant erstaunt. „Ich hatte es angenommen, weil Sie bei Legats verkehren. Übrigens ist es kein Geheimnis, ich kann es Ihnen also sagen. Der Ingenieur hatte die sechs213
undachtzigtausend Złotyscheine im ersten Band des ‚Kapitals‘ versteckt. Sowohl wegen seines Umfangs als auch wegen seines Titels eignete sich ein solches Buch ausgezeichnet dazu.“ „Haben Sie es hier in der Kommandantur?“ „Sogar in diesem Zimmer. Wir hatten das Buch mitgenommen, weil wir hofften, daß die Fingerabdrücke des Mörders darauf zurückgeblieben seien. Es waren leider keine da.“ „Ich möchte es gern sehen.“ „Bitte sehr.“ Der Leutnant ging zum Schrank und nahm ein dickes Buch in einem steifen aschgrauen Umschlag heraus. Er reichte es dem Mädchen. Hanka sah sich das Buch von allen Seiten an, schlug es ungefähr in der Mitte auf und klappte es mit dumpfem Laut wieder zu. „Danke. Ich brauche es nicht mehr.“ „Haben Sie etwas erfahren?“ „Ja. Sehr viel. Übrigens genau das, was ich angenommen hatte.“ „Ich verstehe nicht.“ „Männer merken die einfachsten Dinge nicht.“ „Sie legen es heute aber wirklich drauf an.“ „Nur, weil Sie so von sich überzeugt sind. Gehen wir in die Buczekstraße.“ In der Legat-Wohnung fanden der Leutnant und Hanka die ganze Familie vor. Der Ingenieur begrüßte den Kriminalisten mit der Frage, ob es etwas Neues gäbe. Widerski erklärte, die Ermittlungen gingen voran, und er hoffe, daß sie erfolgreich seien. „Nun, unsere Oma macht uns keiner wieder lebendig, und was das Geld betrifft, so habe ich es bereits abgeschrieben.“ 214
„Ich denke, wir suchen aber trotzdem weiter“, warf Hanka ein. „Ich sehe, Fräulein Haneczka ist immer noch bemüht, bei der Lösung des Rätsels behilflich zu sein. Wir sind Ihnen alle sehr dankbar dafür.“ „In ebendieser Angelegenheit sind wir gekommen. Fräulein Wróblewska hat eine neue Theorie entwickelt und möchte in diesem Zusammenhang einige Informationen von Ihnen bekommen.“ „Ich stehe Ihnen gern zu Diensten.“ „Vielleicht könnten Sie uns in Ihr Arbeitszimmer führen?“ Der Ingenieur ließ Hanka und den Leutnant vorangehen. Er betrat als letzter das Zimmer, schloß die Tür und bat die Gäste, auf den bequemen Ledersesseln Platz zu nehmen, die um einen runden Tisch standen. Als sie saßen, fragte Hanka: „Herr Ingenieur, wer wußte davon, daß Sie das Auto verkauft hatten?“ „Ich habe daraus kein Hehl gemacht. Natürlich haben es alle Hausgenossen gewußt: meine Frau, die Kinder, Frau Popiela, die wir wie ein Familienmitglied behandeln. Sie arbeitet schon so lange bei uns. Außerdem war die Hauswartsfrau Zeuge, als der neue Besitzer den Wagen aus der Garage holte. Ich habe mich auch mit dem Bäcker und mit unserem Nachbarn, Herrn Deubel, darüber unterhalten. Wohl auch noch mit anderen Personen. Natürlich erkundigte sich gleich jeder, der von dem Verkauf des Wartburgs erfuhr, nach dem Preis. Ich habe die Summe auch bei mir im Büro nicht verschwiegen.“ „Das habe ich auch angenommen“, sagte die Studentin. „Und wer wußte davon, daß Sie das Geld in einem Buch versteckt hatten?“ 215
„Niemand. Ich hatte es nicht einmal meiner Frau gesagt. – Übrigens habe ich die gleichen Fragen bereits mehrmals der Miliz beantwortet.“ Der Ingenieur war etwas enttäuscht. Hanka erhob sich und trat an die Wand, an der die Regale mit den Büchern standen. „Ich beneide Sie um diese Bibliothek, Herr Ingenieur.“ Mit diesen Worten zog das Mädchen ein Buch aus dem mittleren Regal. Sie blätterte es durch und stellte es an seinen Platz. Dann griff sie etwas tiefer. Zuletzt sah sie sich einen Band aus dem obersten Fach an. Dabei mußte sie sich auf die Zehenspitzen stellen. „So viele Bücher zu pflegen macht Mühe“, sagte sie. „Man muß Staub wischen. Bücher setzen viel Staub an.“ „Das stimmt“, räumte der Ingenieur ein, „da geht viel Zeit drauf. Nach dem Unglücksfall habe ich die Bücher in die Regale gestellt, einfach so, ohne sie zu ordnen. Vor Weihnachten, beim Großsaubermachen, werde ich es nachholen. Da werde ich sie auch abstauben. Das habe ich schon lange nicht mehr getan. Zum letztenmal wohl im Mai.“ „Wie ich sehe, ist Ihre Bibliothek vielseitig.“ Das Mädchen trat an das zweite Regal. „Nicht nur Fachbücher und Belletristik, auch Memoiren und Dokumentensammlungen.“ Sie nahm wieder ein paar Bücher heraus und sah sie durch. „Ich lese gern Memoiren“, räumte der Ingenieur ein. „Zum Beispiel die ‚Stenogramme der Anna Jambor‘. Die haben Sie vorhin in der Hand gehalten.“ „Vielen Dank, Herr Ingenieur, jetzt möchten wir Sie aber nicht länger aufhalten. Gehen wir, Herr Leutnant.“ Das Mädchen wandte sich zum Ausgang. 216
Der Ingenieur entließ sie höflich und brachte noch einmal die Hoffnung zum Ausdruck, daß das „reizende Fräulein Nachbarin“ wieder eine wertvolle Entdeckung machen möge. Der Leutnant folgte Hanka und konnte noch immer nicht begreifen, warum sie in diese Wohnung gekommen war und nicht mehr als zwei banale Fragen gestellt hatte, mit denen die Miliz den Ingenieur mindestens schon zehnmal konfrontiert hatte. Als sich beide auf der Treppe befanden, erklärte Hanka: „Wir gehen zu mir. Da können wir uns ungestört unterhalten. Meine Mutter ist nicht zu Hause. Sie wollte gleich von der Arbeit zu einer alten Freundin nach Szczecin-Dąbie fahren.“ Der Leutnant stieg stumm die Treppe hoch. „Zwar bittet ein junges Mädchen, das auf sich hält, keine fremden Männer zu sich in die Wohnung, aber Sie, Herr Leutnant, haben ja schon so viele kompromittierenden Informationen über mich gesammelt, da schadet das nun auch nichts mehr. Stimmt’s?“ Der überraschte Widerski stammelte etwas Unverständliches. Das Mädchen Hanka zog aber Seiten auf! Das geräumige Zimmer im vierten Stock war bescheiden, jedoch freundlich eingerichtet. Zwei Sofas, unter einem Fenster ein altmodischer Schreibtisch, mit Büchern vollgestellt. Alle aus dem Bereich der Medizin. Ein Regal voll verschiedener Zeitschriften. In der anderen Ecke ein Tisch, dazu bequeme Sessel. Daneben eine Lampe mit einem großen Schirm. An den Wänden farbige Reproduktionen. Durch die offene Tür fiel der Blick in die Küche. Sie blitzte vor Sauberkeit. „Bitte nehmen Sie Platz, und gedulden Sie sich einen Augenblick. Ich bringe gleich den Kaffee.“ Das Mädchen ging in die Küche und begann dort geschäftig zu 217
hantieren. Der Geruch starken Kaffees verbreitete sich rasch in der ganzen Wohnung. „Ich höre also.“ Der Leutnant trank einen kleinen Schluck und stellte die Tasse weg. „Vor allem habe ich ständig darüber nachgedacht, warum mich der Verbrecher überfallen hat. Ich meine den Schlag auf der Treppe. Es kam mir sonderbar vor, daß er das nach Ablauf einer bestimmten Frist tat. Ich befragte mein Gedächtnis nach dem, was ich davor getan hatte. So entstand mein erster, noch unklarer Verdacht. Jetzt weiß ich genau, daß ein bestimmtes Gespräch Anlaß für den Mordversuch gewesen ist. Ich hatte mich unnötigerweise einer gewissen Person gegenüber ausgesprochen, aber auch diese andere Seite hatte unachtsam zwei Behauptungen fallenlassen. Eine richtige und eine, die eine geschickte Lüge war. Eben diese Lüge wurde Grundlage und Ausgangspunkt für meine weiteren ‚Privaterkundungen‘, wie Sie das so schön formuliert haben.“ „Vorläufig begreife ich nicht viel“, gestand der Leutnant, „aber bitte, reden Sie weiter.“ „Mein Gesprächspartner hat unnötigerweise fälschlich behauptet, von dem Verkauf des Wagens nichts gewußt zu haben. Außerdem war ihm in einem Anfall von Geschwätzigkeit entschlüpft, daß ein gewisser Klempner in zwei Hausverwaltungsbezirken arbeitet. Diese Bezirke umfassen, wie ich mich überzeugt habe, den Grunwaldzkiplatz und alle angrenzenden Straßen.“ „Jetzt geht mir ein Licht auf!“ rief der Leutnant. „Und wir haben nur eine einzige Institution gesucht!“ „Ich hatte ja gesagt: warm, warm, aber noch nicht heiß.“ „Richtig.“ „Und ich dumme Gans habe ausgeplaudert, daß ich den Mörder auf der Treppe gesehen habe, mich aber nicht er218
innern könnte, wer es gewesen sei. Damit war mein Los besiegelt. Daß ich noch lebe, ist ein purer Zufall.“ „Sie kennen also den Mörder? In dieser Beziehung hatten wir uns nicht geirrt.“ „Sehr gut kenne ich ihn. Seit vielen Jahren. Er mich übrigens auch. Ich habe Ihnen einmal gesagt, daß es am schwersten sei, jemanden bewußt wahrzunehmen, dem man ständig begegnet. Beide, der Täter und ich, haben einander nicht beachtet, wir haben uns gegenseitig auf der Treppe nicht bemerkt. Wenn er mich gesehen hätte oder sich wenigstens meiner Anwesenheit bewußt geworden wäre, lebte Frau Rosińska noch heute. Die Wohnung wäre an einem andern Tage bestohlen worden. Und umgekehrt, wenn ich mich dieses Menschen erinnert hätte, wäre es mir wahrscheinlich gelungen, zu beweisen, daß er der Komplize des eigentlichen Verbrechers ist. Und das, ehe er die schlüsselbewehrte Hand gegen mich erhob.“ „Schlüssel?“ fragte der Leutnant verwundert. „Ja. Ein großer Schraubenschlüssel.“ „Aber warum sagen Sie ‚Komplize‘?“ „Vielleicht nicht so sehr Komplize als vielmehr der Ausführende. Die Verbrechen waren zu gut durchdacht und zu fehlerlos verwirklicht, als daß ein Mann ihr Urheber hätte sein können. Der Spiritus rector mußte eine Frau gewesen sein. Davon war ich von Anfang an überzeugt. Jetzt habe ich die Gewißheit. Nur einmal befand sich der Mann in einer Lage, wo er blitzschnell reagieren mußte, und gleich machte er eine Menge Dummheiten. Er tötete Frau Rosińska, statt sie nur zu betäuben. Er ließ die Stiefeletten an ihren Füßen und den Butterwürfel auf dem Tisch. Vorher und nachher führte er genau die Anordnungen seiner Chefin durch und war deshalb so schwer zu entlarven.“ 219
„Seiner Chefin?“ „Wenn Sie wollen, können Sie sie auch seine Frau nennen. Das ist eigentlich ein unwesentlicher Unterschied. In jeder guten Ehe ist die Frau die Vorgesetzte ihres Mannes.“ „Na, wissen Sie!“ Der Leutnant war empört. „Man sieht, daß Sie Junggeselle sind und von gewissen Dingen keine Ahnung haben. Es wird sich aber eine finden, die sie ihnen klarmacht … Der Plan war sehr einfach. Genial in seiner Einfachheit. Die Frau verdingt sich zu verschiedenen Hausarbeiten. Am häufigsten zum Saubermachen. Wenn sie in einem Haus beschäftigt ist, knüpft sie verschiedene Bekanntschaften. Zum Beispiel beim Teppichklopfen auf dem Hof. Selbst erzählt sie nicht viel, dafür kann sie gut lauschen. Rasch erfährt sie, wer der Vermögendste im Haus ist und wem’s nicht so gut geht. Wessen Wohnung zu bestimmten Stunden leer steht und wo man immer jemanden antrifft. Die Frau leistet den Leuten verschiedene Gefälligkeiten. Wenn sie zum Beispiel Einkäufe machen geht, bringt sie ein hübsches Stück Fleisch mit. Und wenn man sie dann für eine gute Bekannte hält, nutzt sie eine günstige Gelegenheit und drückt den Schlüssel in ein Stück Plastilin, das sie stets umsichtig bei sich trägt. Ihr Mann, Schlosser von Beruf, verwandelt diese Abdrücke in einwandfrei passende Schlüssel.“ „Nicht nur Schlosser, eher Kassendieb. Eben Sachverständiger für die kompliziertesten Schlösser.“ „Bravo, die Miliz!“ bemerkte Hanka boshaft. „Wenn die Schlüssel fertig waren, fand die Frau einen Anlaß, das Arbeitsverhältnis in dem betreffenden Haus aufzukündigen. Und dann geschah lange, sehr lange nichts.“ „Bis schließlich jemand bestohlen wurde“, ergänzte 220
der Leutnant. „Eben. In der Regel wurden jedoch nie diejenigen bestohlen, bei denen unsere Putzfrau gerade gearbeitet hat. Denn niemals wirtschaftete der Dieb in einer Wohnung, solange die Putzfrau ins Haus kam. Der Anblick eines Klempners, der sich in seinem fleckigen Monteuranzug herumtrieb, rief bei niemandem einen Verdacht hervor. Der Klempner war dutzendmal in jeder dieser Wohnungen gewesen, und nie war etwas verschwunden. Nicht die geringste Kleinigkeit. Nein, gegen diesen Mann bestanden überhaupt keine Bedenken. Ich nehme an, daß sein Name überhaupt nie auf einem Vernehmungsprotokoll der Miliz erschienen ist. Er war immer und überall, also war er nirgends.“ „Sie haben recht.“ „Aber auf einer einzigen Stelle arbeitete die Putzfrau viele Jahre lang. Das war ihr ständiger Rückhalt. Wenn sie eine neue Arbeit in einem anderen Haus, in einer anderen Straße suchte, konnte sich diese Frau auf den untadeligen Leumund berufen, den sie bei Frau Legat hatte, auch darauf, daß sie seit vielen Jahren ihr volles Vertrauen genoß. Das war, wenn man so sagen kann, ihre Operationsbasis. Deshalb ereignete sich in dem Haus in der Buczekstraße nie ein Diebstahl, obwohl es hier mehrere Wohnungen gab, die stundenlang von den Mietern verlassen waren, und es auch viele Familien gibt, denen es relativ gut geht.“ „Ein guter Dieb stiehlt nie im eigenen Haus.“ „Das ging jahrelang so, und es hätte noch länger gedauert, wenn Herr Legat sein Auto nicht verkauft hätte. Bisher hatten alle Diebstähle zusammengenommen dem versierten Paar höchstens den vierten Teil dieser Summe gegeben. Und das nicht immer in bar. Jetzt eröffnete sich 221
vor ihnen die Perspektive, einen ernsthaften Betrag zu erwerben. Wer sich als erster davon verleiten ließ, der Mann oder die Frau, wissen wir nicht.“ „Sicherlich die Frau. Frauen sind geldgieriger.“ Hanka sah den Leutnant herausfordernd an, ging aber auf die Spitze nicht ein. „So wurde beschlossen, von dem angenommenen Grundsatz abzuweichen und auch die Leute zu bestehlen, bei denen die Putzfrau gerade beschäftigt war. Damit kein Verdacht auf sie fiel, sollte der Diebstahl einen anderen, untypischen Verlauf haben. Der Dieb sollte das Geld angeblich in allen Winkeln der Wohnung suchen. Wäre nämlich diese Summe unbemerkt aus dem Buch auf dem Regal verschwunden, dann hätte man vor allem die Putzfrau verdächtigt. Deshalb wurde die Wohnung so gründlich und in möglichst auffälliger Weise durchsucht. Der Mann war, eben wie ein Mann, in seinem Eifer und mit dem üblichen Mangel an Intelligenz zu weit gegangen. Er schlug den Spiegel kaputt, riß die Umschläge von den Büchern und demolierte das Bild von Masłowski. Hatten Sie was anderes erwartet, Herr Leutnant?“ Der Leutnant lächelte. Hanka hatte sich für die „Geldgier der Frauen“ rasch revanchiert. „Der Diebstahl wurde auf Sonnabend angesetzt, weil Frau Popiela, die Putzfrau, an diesem Tag ein unerschütterliches Alibi hatte. Vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag beschäftigt. Sie hatte nur nicht vorausgesehen, daß Frau Rosińska so früh kommen würde. Gewöhnlich reiste die erst gegen eins oder gegen zwei Uhr nachmittags an, oder noch später. Ein Zufall oder ein kleiner Rechenfehler. Der Dieb kam gleich nach neun in die Wohnung. Eben zu dem Zeitpunkt, als ich ihn auf der Treppe traf. Er griff schnell nach dem richtigen Buch, 222
nahm das Geld heraus, steckte es in die Tasche und begann die Wohnung zu demolieren. Darüber vergaß er beinahe die Zeit. Gegen halb zwölf hörte er, daß jemand die Wohnung betreten wollte. Ohne lange zu überlegen, noch erhitzt von seinem zerstörerischen Werk, stellte er sich neben die Tür und schlug mit voller Kraft der eintretenden Frau den Schraubenschlüssel auf den Kopf. Da kam ihm auch der Einfall, der Frau den Mantel auszuziehen und die Lebensmittel in die Küche zu tragen. Dieser Schritt sollte ihn und seine Frau vor dem Mordverdacht schützen. Gleich nach dem Mord entfernte er sich aus der Wohnung.“ „Stimmt“, räumte der Leutnant ein. „Wir haben festgestellt, daß Boleslaw Popiela an diesem Tage in der Masurskastraße gearbeitet hat. Er wechselte dort seit dem frühen Morgen ein geplatztes Rohr in einem Keller aus.“ „Ein glänzender Einfall. Er kam am frühen Morgen, ging in den Keller, ließ sich kurz auf dem Hof blicken, damit er jedem auffiel, und schlich dann für zwei Stunden ins Nachbarhaus. Nach dem Mord kehrte er an seine Arbeit zurück und bemühte sich darum, daß ihn recht viele Personen zu sehen bekamen. Auf diese Weise besaß das biedere Paar ein unwiderlegbares Alibi.“ „Ich vermute jedoch, daß es ein wenig anders war, als Sie das dargestellt haben. Ich gebe zu, daß Boleslaw Popiela früh in die Wohnung gelangte, aber die Verwüstungen, die er dort anstellte, waren das Ergebnis der Suche nach dem Geld. Natürlich, entsprechend dem festgelegten Plan verbarg er nicht, daß er suchte, was er in den sieben bestohlenen Wohnungen getan hatte, sondern er handelte ganz offen. Er vernichtete Bücher, riß das Bild aus dem Rahmen und zerschlug den Spiegel. Die Zeit verstrich, und er konnte das Versteck mit dem Bargeld 223
nicht finden. Ich habe dennoch einen Vorbehalt gegen Ihre Anklagen.“ „Welchen?“ „Boleslaw Popiela ist auch unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen. Der beste Beweis ist, daß wir sein Alibi überprüft haben. Ich gebe zu, daß wir nicht wußten, daß er in zwei Bezirken der Wohnungsverwaltung arbeitet. Trotzdem ist dieser Mann einer von denen, die wir auf der Liste der Verdächtigen haben, bei denen uns jedoch konkrete Beweise fehlen. Sie haben sie auch nicht. Alles, was Sie gesagt haben, sind lediglich Hypothesen. Sehr interessante, beinahe ganz richtige, aber … Recht bleibt Recht. Nach dem Recht ist jedermann so lange unschuldig, bis man ihm die Schuld nachgewiesen hat. Und den Beweis haben wir noch immer nicht. Ihre Schilderung wird weder dem Staatsanwalt für die Anklage genügen, noch ist sie ausreichend, um einen Verhaftungsbefehl zu verfügen. Die Feststellung, daß Maria Popiela in jedem der bestohlenen Häuser vorher gearbeitet und daß ihr Mann die Wasserleitungen in diesen Häusern instand gesetzt hat, ist nur ein Indiz, jedoch kein Schuldbeweis. Mehr noch. Ihre Aussage, daß Sie Herrn Popiela um neun Uhr auf der Treppe sahen, genügt ebenfalls nicht. Er kann das bestätigen und seine Anwesenheit im Haus in der Buczekstraße vollends rechtfertigen.“ „Mich hat die Sache mit dem Mantel stutzig gemacht. Ich hatte öfter gesehen, daß Frau Rosińska einen neuen, sehr eleganten Übergangsmantel anhatte, den sie im Frühjahr gekauft hat. Sie besaß auch noch den alten Mantel, den sie vorher jahrelang trug. Den zog sie nur bei Regen und Unwetter an. Damals fiel gerade Schneeregen. Deshalb war die Lehrerin aus Goleniów nach Szczecin nicht in dem neuen Übergangsmantel gekommen, 224
sondern in dem abgetragenen. Und nun möchte plötzlich die Popiela der Frau Legat nicht etwa den neuen Mantel abkaufen, sondern diesen alten von geringem Wert. Das ist wieder eine Tatsache, die nur dann verständlich wird, wenn man annimmt, daß die Putzfrau ihren Anteil an dem Verbrechen in der Buczekstraße hatte. Sie versuchte einen Gegenstand in die Hand zu bekommen, der einen Beweis gegen sie und ihren Mann darstellte. Die Popiela wußte genau, daß die kleinen Flecke auf dem Kragen Blutspuren waren. Sie mußte den Mantel haben, um ihn zu vernichten.“ „Auch das“, bemerkte der Leutnant, „ist nur ein Indiz. Eins mehr, aber noch lange kein Beweis.“ „Das weiß ich sehr wohl, und deshalb habe ich Sie gebeten, mit mir in die Legat-Wohnung zu gehen. Da habe ich mir den notwendigen Beweis geholt.“ „Aber Sie haben Legat doch nur zwei Fragen gestellt, die er schon mehrfach beantwortet hatte.“ „Ja. Und er bestätigte noch einmal, daß Maria Popiela vom Verkauf des Autos und von der Summe, die er für den Wagen bekommen hatte, wußte.“ „Man kann das nicht als einen Hauptbeweis ansehen, obwohl sie das, was ich nicht leugnen möchte, stark belastet.“ „Da ist noch ein zweiter, der viel mehr wiegt. Sie hatten ihn gerade in der Hand, aber müssen natürlich wieder erst von einem intelligenten Menschen mit der Nase draufgestoßen werden.“ „Welcher?“ „Das Buch, in dem das Geld war.“ „Wir haben darin keine Fingerabdrücke gefunden.“ „Nein. Auch keinen Staub und keine Spur von Schmutz, genausowenig übrigens wie auf den anderen 225
Büchern in der Bibliothek des Ingenieurs. Deshalb habe ich sie aus den Regalen genommen und nachgesehen. Erinnern Sie sich, wie heftig ich das ‚Kapital‘ zuklappte? Es war kein bißchen verstaubt.“ „Was macht das?“ „Der Ingenieur hat uns erklärt, daß die Bücher lange nicht abgestaubt worden seien. Seit Mai. Er sagte, daß er sich beim Großreinemachen vor den Feiertagen dranmachen wird. Trotzdem war nicht das geringste Stäubchen auf den Büchern. Und das deshalb, weil Maria Popiela dort am Freitag das versteckte Bargeld gesucht hatte, statt die Wohnung aufzuräumen. Unter dem Vorwand des Abstaubens hatte sie jedes Brett in den Regalen der Reihe nach revidiert. Als sie entdeckt hatte, wo das Geld versteckt war, schickte sie ihren Mann am nächsten Tage hin, um es zu holen. Und beim Staubwischen entfernte sie auch die Spuren ihrer Finger. Deshalb erwies sich die Daktyloskopie in diesem Fall als nutzlos. Maria Popiela wußte nach der Äußerung des Ingenieurs nicht, wo das Geld versteckt war. Sie wußte überhaupt nicht, ob es sich in der Wohnung befand. Deshalb mußte sie es vorher finden. Das dürfte dem Herrn Staatsanwalt doch wohl genügen.“ Der Leutnant nickte.
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SIEBZEHNTES KAPITEL
Sonntag für Sonntag Zygmunt kam als erster. Wie immer übrigens. Unterwegs hatte er fast einen ganzen Zeitungskiosk leergekauft. Jetzt wartete er auf den Rest der Gesellschaft, blätterte, las und blätterte, obwohl der Inhalt der ihn interessierenden Information überall der gleiche war. In einer Mitteilung der Miliz wurde von der Festnahme eines gefährlichen Banditenehepaares gesprochen. Maria und Bolesław Popiela. Im Falle Bolesławs handelte es sich nicht um den rechtmäßigen Ehemann – denn dieser starb vor elf Jahren –, sondern um einen in dessen Rolle auftretenden gewissen Antoni Norkowski, der sich bereits in der Vorkriegszeit als Kassendieb einen Namen gemacht hatte. Das Verbrecherpaar hatte sieben Wohnungen bestohlen und über dreihunderttausend Złoty erbeutet. Einen beträchtlichen Teil des Geldes und Schmucks hatte die Miliz in mehreren sinnreich konstruierten Verstecken aufgefunden. Dazu kamen über ein Dutzend Schlüsselsätze zu verschiedenen Szczeciner Wohnungen, die als nächste „dran gewesen“ wären. Beim Verhör durch Miliz und Staatsanwalt hatten sich Maria Popiela und Antoni Norkowski zu den ihnen gegenüber erhobenen Beschuldigungen, insbesondere zu der Ermordung Łucja Rosińskas und zu dem zweimalig mißglückten Mordversuch an der Medizinstudentin Anna Wróblewska, bekannt. In der Mitteilung der Miliz wurde gleichzeitig hervorgehoben, daß Anna Wróblewska, eine junge Szczeciner Bürgerin, Studentin an der Medizinischen Akademie im 227
achten Semester, in bedeutendem Maße zur Entlarvung des Banditenpaares beigetragen habe. Die Kommandantur der Miliz in Szczecin schlage die tüchtige Medizinstudentin für eine besondere Auszeichnung durch den Kommandanten vor. Zwar unterschieden sich die Schlagzeilen je nach dem Charakter des Blattes, nach Einfallsreichtum und Temperament des Journalisten, doch sprang dem Leser überall der Name „Hanka Wróblewska“ in die Augen. Und in den Kommentaren fehlte es nicht an Lob: selten habe ein „Amateurdetektiv“ einen so großartigen Erfolg zu verzeichnen gehabt. Auch die anderen Mitglieder der „Gang“ trudelten nach und nach im schönen Saal des Szczeciner Schloßcafés ein. Die jungen Männer brachten ihre „Flammen“ mit, die Mädchen ihre Kavaliere. An den Tisch in der Ecke wurden drei andere herangerückt, und immer noch war es eng. „Ich bin neugierig, ob Hanka kommt“, sagte Krysia. „Kaum. Einer so berühmten Persönlichkeit haben wir nichts mehr zu bieten“, sagte Zygmunt ironisch. „Du bist albern“, fauchte Danka, die mit ihrem Mann zu Hause eine wahre Schlacht geschlagen hatte, als es darum ging, wer das kranke Kind zu hüten habe. Der Sieg hatte sie einiges gekostet. „Heute spendiert Hanka“, verkündete Jaś, eingedenk der zahllosen Runden „Egri burgundi“, die man ihm abverlangt hatte, „ich jedenfalls nicht.“ „Ich bin neugierig, was sie als Belohnung kriegt“, meinte Elżbieta, Jasios Angebetete. „Da hatte ich aber eine gute Spürnase“, prahlte Mietek. „Ich war’s doch, der auf die Idee gekommen ist, Hanka auf Ermittlung zu schicken, sonst hätte sie sich für 228
den Fall überhaupt nicht interessiert, und die Verbrecher liefen noch heute frei herum.“ „Vielleicht behauptest du noch, daß dir auch eine Belohnung zusteht!“ „Hätte nichts dagegen, wenn dabei auch für mich etwas herausspränge.“ „Jetzt ist es mir fast peinlich, Hankas Mutter zu bitten, daß sie mir das Jackenkleid näht“, versetzte Krysia. „Du hast dich also doch für ein Jackenkleid entschieden?“ „Was? Du hast es noch nicht nähen lassen?“ „Ich weiß nämlich noch nicht … Vielleicht würde der Stoff auch noch für eine kleine Weste reichen.“ „Ich würde mir ein Kleid nähen lassen, den Rock ausgestellt. Trapezlinie ist ganz modern“, bemerkte Elżbieta. „Nicht zum Aushaken ist es mit den Weibern. Ein so wichtiger Anlaß, und sie quasseln über Klamotten.“ „Was sollen wir machen, wenn ihr uns nicht unterhaltet?“ „Unterhalten! Das fehlte noch …“ „Wie kam diese Hanka bloß darauf?“ überlegte Zygmunt. „Sie muß uns das genau erzählen. Da gibt’s kein Pardon.“ „Sie wird jetzt bestimmt Interviews geben. Vielleicht sogar im Fernsehen?“ „Achtung! Sie kommt!“ Wieder war es Ewa, die Hanka zuerst bemerkt hatte. „Wo? Ich sehe nichts.“ Jaś kniff seine Augen zusammen. „Na dort, im Flur. Jetzt ist sie schon in der Garderobe.“ Die falkenäugige Ewa hatte sich nicht geirrt. Eine Weile später zeigte sich Hanka im Café. Alle sprangen 229
von ihren Plätzen und bereiteten dem Mädchen eine stürmische Ovation. Ein paar ältere Damen straften die lärmende Jugend mit mißbilligenden Blicken. Hanka lächelte und winkte ihnen schon von weitem zu. Hinter ihr trottete ein wenig verlegen ein junger, gutaussehender Mann von einiger Größe. Er hatte hellblaue Augen und eine schmale gerade Nase. Sein Haar war glatt nach hinten gekämmt. Obwohl Winter war, trug das Gesicht noch Spuren von Bräune. Ein dunkler Anzug brachte seine sportliche Figur zur Geltung. „Darf ich vorstellen? Leutnant Roman Widerski!“ sagte Hanka, als sie an den langen Tisch in der Ecke trat. An ihren Begleiter gewandt, fuhr sie fort: „Und das sind meine Freunde.“
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