Geisterfänger Band 8 Der Unheimliche von Kilmoore von William Perry Er lässt seine Opfer alle verschwinden.
Mindesten...
57 downloads
480 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Geisterfänger Band 8 Der Unheimliche von Kilmoore von William Perry Er lässt seine Opfer alle verschwinden.
Mindestens zum dreißigsten Mal, seit der Zug London verlassen hatte, sah Brenda Weston vom ›Mord im Puppentheater‹ auf und jedes mal begegneten ihre Augen denen des Mannes, der ihr gegenüber saß. Mrs. Weston ärgerte sich. Es war irritierend, so unablässig beobachtet zu werden und immer mit einem leichten, höhnischen Lächeln. Aber noch mehr störte es sie, dass sie sich dadurch beirren ließ. Brenda Weston wandte sich wieder ihrem Buch zu, fest entschlossen, sich auf den ermordeten Direktor des Marionettentheaters zu konzentrieren. Die Mordgeschichte, die Mrs. Westen las, war eine von den Storys, in denen sich sämtliche aufregende Ereignisse in den ersten Seiten zusammenballen, um sich dann in endlosen Schlussfolgerungen fortzusetzen und schließlich mit einer pseudowissenschaftlichen Lösung zu enden. Ihr ohnehin nur oberflächliches Interesse war endgültig dahin. Einige Male hatte sie entscheidende Wendungen im Roman glatt überlesen. Allmählich wurde ihr bewusst, dass ihre Augen seitenlang Buchstaben für Buchstaben aufgenommen hatten, ohne das geringste von ihrem Sinn ihrem Verstand mitzuteilen. Brenda Westons Gedanken beschäftigten sich nicht im entferntesten mit dem ermordeten Direktor. An die Oberfläche ihres Bewusstseins trat immer klarer das Gesicht des Mannes, der in der Ecke des Zugabteils saß. Ein merkwürdiges Gesicht, dachte Mrs. Weston. Wieso hatte sie sich in dieses Abteil gesetzt? War er schon da gewesen, als sie hereinkam? Oder war er erst später zugestiegen? Seltsam, dass sie sich nicht daran erinnern konnte. Wieder blickte sie auf den Mann. Sein Anzug schien aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen und umschlotterte seine große magere Gestalt. Alles an ihm wirkte verblichen und verschwommen. Sein Gesicht war so blass wie das eines Toten. Es flößte Brenda Weston Furcht ein. Sie räusperte sich, rückte auf ihrer Sitzbank hin und her, hob den Kriminalroman vor ihre Augen und errichtete so eine Barriere zwischen sich und ihrem Gegenüber. Doch das war völlig sinnlos. 4
Es war ihr, als erschien plötzlich sein Gesicht auf den Seiten ihres Buches. Brenda Weston wurde immer unruhiger. Sie wusste, dass es absurd war, doch irgendwie schien ihr der Unbekannte nicht mehr geheuer zu sein. Etwas an ihm machte ihr Angst. Diese Gewissheit versetzte sie in einen so angespannten und verkrampften Zustand, dass es für sie unmöglich wurde, ihre Aufmerksamkeit auf das Kriminalbuch zu konzentrieren. Vor Newcastle kam keine Station mehr und es war unwahrscheinlich, dass irgendein Mitreisender vom Gang her das Abteil betreten würde. Die Züge um diese Zeit waren zu schwach besetzt. Niemand würde hier hereinkommen, um diese unerfreuliche Spannung zu beenden. Brenda Weston war sich völlig im klaren, dass irgend etwas geschehen musste. Das Schweigen lastete schon so lange zwischen ihnen, dass jede Bewegung sich wie ein Schuss im Friedhof anhörte. So jedenfalls kam es Mrs. Weston vor. Natürlich konnte sie einfach auf den Gang hinausgehen oder ein anderes Abteil suchen, aber das würde ein klares Eingeständnis der Niederlage sein. Brenda Weston ließ den ›Mord im Puppentheater‹ sinken. »Genug davon?«, fragte der Mann. »Nachtreisen sind immer ein bisschen langweilig«, erwiderte Mrs. Weston. Sie war überrascht, dass diese seltsame Erscheinung überhaupt etwas von sich gab. »Möchten Sie auch etwas lesen?« Sie holte ein anderes Buch aus ihrer Reisetasche und hielt es dem Mann hoffnungsvoll entgegen. Der merkwürdige Fremde warf einen flüchtigen Blick auf den Titel und schüttelte seinen bleichen Schädel. »Vielen Dank«, sagte er mit sanfter Stimme, »aber ich lese nie Mordgeschichten. Sie sind so unwirklich, finden Sie nicht?« »Vielleicht fehlt ihnen manchmal Charakteristik und echtes menschliches Interesse«, erwiderte Mrs. Weston. »Doch auf einer Eisenbahnfahrt ist es sehr unterhaltend. Besser als...« 5
»Das ist es nicht, was ich meine«, fiel ihr der Mann ins Wort. »Bei einem Mord gibt es nichts Geheimnisvolles. Es ist alles so klar und nüchtern.« »Na, ich weiß nicht...«, widersprach Mrs. Weston. »Auf jeden Fall haben die Täter in den Romanen meist mehr Phantasie und Scharfsinn als die Mörder im wirklichen Leben. Trotzdem machten einige Mörder die Sache recht geschickt, bevor sie erwischt wurden.« »Sehen Sie denn nicht die Unbeholfenheit dieser Mörder«, sagte die seltsame Gestalt. »Die Lügen, das überflüssige Drum und Dran! Das ewige Verstecken vor der Wirklichkeit.« »Aber ich bitte Sie!«, erwiderte Brenda Weston. »Sie können schließlich nicht erwarten, dass jemand einen Mord begeht und dann so simpel weiterlebt, als wäre nichts geschehen.« »Eben deshalb mag ich keine Mordgeschichten«, sagte der Mann. Mrs. Weston wartete darauf, wie er wohl diese Bemerkung weiter ausbauen würde, aber er schwieg, lehnte sich zurück und lächelte in einer geheimnisvollen Art zur Decke des Abteils hinauf. Es hatte den Eindruck, als ob er die Unterhaltung nicht interessant genug hielt, sie weiterzuführen. Brenda Weston nahm ihren Roman wieder auf, aber sie blickte über den Rand des Buches. Die Hände ihres seltsamen Reisegenossen waren knochig, bleich und überaus langfingrig. Als sie eine Weile auf die seltsamen Finger gestarrt hatte, kam ihr die Beleuchtung auf einmal so schlecht vor, dass sie ihre Umgebung kaum klar zu erkennen vermochte. Alle Gegenstände im Abteil schienen plötzlich zu schwanken und ihre Form zu verändern wie Dinge, die man unter Wasser sieht. Mrs. Weston konnte sich nicht erklären, wie dieser Eindruck entstand. Vielleicht war etwas mit ihren Augen nicht in Ordnung. Sie nahm sich vor, möglichst bald einen Optiker aufzusuchen, sollte sich diese Erscheinung wiederholen. Doch in der nächsten Minute war alles wieder normal und Brenda Weston schrieb diese Halluzination ihrer Müdigkeit zu. Sie legte das Buch weg und sagte: »Und welchen Lesestoff bevorzugen Sie?« 6
»Oh, ich?«, wiederholte der Mann. Das Licht, das auf die Gläser seines Kneifers fiel, ließ seine Augen katzengrün erscheinen. Sein Mund verzog sich zu einem hämischen Lächeln. »Ich liebe die Welt des Gruselns. Es ist die Bahn des Wunderbaren, des Abenteuerlichen. Haben Sie schon einmal dieses gewisse Kribbeln erlebt, das wie Nebel um sich greift, sich bis in die Haarwurzeln festkrallt und eisigen Schauer über den Rücken jagt? Nichts ist mir lieber, als schauerliche Geschichten von Kobolden, Ungeheuern, Monstern und Spukgestalten.« »Das sind doch nur alles Phantastereien«, erwiderte Mrs. Weston. »Ein Mord ist etwas Reales - Wirkliches. Das können Sie von Ihren Geschichten nicht behaupten.« »Sagen Sie das nicht«, widersprach ihr der seltsame Reisegefährte. »Gruseln erweitert die menschlichen Sinne. Ohne sie wäre der Mensch noch unvollkommener, als er ohnehin schon ist. Unendlich viele neue Horizonte schließen sich auf, vorausgesetzt, dass sich der Mensch nicht nur auf den sichtbaren Raum beschränkt, sondern die Pararäume und Paradimensionen lebendiger Zwischenreiche im Menschen und um den Menschen erkennt und anerkennt.« Seine knochigen Finger unterstrichen die Worte. »Das Leben des Menschen«, fuhr er fort, »wird durch den Tod nicht einfach ausgelöscht, denn er stirbt in Wirklichkeit nicht. Der Mensch überschreitet nur Grenzen, die er auch schon vorher überschreiten könnte, wenn er wollte. Aber die meisten Lebenden bemühen sich nicht rechtzeitig um eine Fahrkarte für andere Dimensionen.« »Ah! Sie glauben eine solche Fahrkarte zu besitzen?« »O ja, das ist richtig«, bestätigte der Mann. »Ich kann von der jenseitigen und diesseitigen Dimension wechseln.« »Sie können wohl nicht im Ernst von mir erwarten, dass ich diesen Unsinn glaube. Das ist ja völlig absurd!«, rief Brenda Weston erregt. »Ich weiß es, Sie werden in den nächsten Wochen noch unheimliche Dinge erleben«, erwiderte der komische Alte starrsinnig, »die Sie in Angst und Schrecken versetzen werden.« 7
Mrs. Weston schüttelte energisch den Kopf und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Vor so genannten Gespenstern und Geistern habe ich noch nie Angst gehabt.« »Sagen Sie das nicht laut«, warnte sie der merkwürdige Fremde. »Ich werde Ihnen beweisen, dass ich recht habe.« »Das können Sie leicht sagen«, winkte Mrs. Weston mit der Hand ab. »In ein paar Stunden steigen wir beide aus dem Zug und sehen uns wohl nie mehr wieder. Wie wollen Sie mir da etwas beweisen.« »Gleich werden Sie es sehen«, sagte der Mann. Er griff in seine Rocktasche und brachte eine Handvoll Karten hervor. Sie waren rissig und an den Ecken bräunlich verfärbt. Brenda Weston blickte ihn mitleidsvoll an. Sie konnte sein Lächeln nicht ausstehen. Es war nicht nur ironisch, es war blasiert, fast schadenfroh triumphierend! Sie konnte keine wirklich passende Bezeichnung dafür finden. »Wissen Sie«, fuhr der Alte fort, während seine spindeldürren Finger die Karten mischten, »es ist komisch, dass die Leute die einfachsten Tatsachen nicht akzeptieren. Diese Karten spiegeln ihre Seele wider. All ihre Gedanken, Sehnsüchte und Wünsche sind darin gespeichert. Nehmen Sie sie in die Hand und ich sage Ihnen, wer Sie sind.« Die Karten waren mit merkwürdigen Bildern versehen. Mrs. Weston verglich die Bilder auf den Karten mit Prismen, Labyrinthen, Ballungen von Punkten und Flächen. Dann kam es ihr wieder vor, als wären es lebendige Arabesken. Die Objekte auf den Karten waren vermutlich Protektionen von Lebewesen, Tieren und Menschen. Die Farben waren so grell, dass ihre Augen schmerzten. Als Brenda Weston die erste Karte dem merkwürdigen Fremden überreichte, war ihr einen kurzen Moment lang, als rückte das Abteil plötzlich ganz weit weg von ihr. Dann war wieder alles normal. Die Konturen waren wieder scharf und klar. Der Mann nahm die erste Karte und sagte: »Sie sind verheiratet und haben eine Tochter. Sie treffen sich mit einem Mann...« Als sie ihm die nächste Karte reichte, sagte er: »Ihr Mann hat ein Haus gemietet, das Sie nicht kennen. Es steht in einer einsamen Gegend. Völlig isoliert...« 8
Mein Gott, dachte Mrs. Weston. Sie hatte von Hellseherei gehört,
von Telepathie, vom sechsten Sinn. Aber noch nie hatte sie das Phänomen der Karten-Wahrsagerei akzeptiert. Bis jetzt stimmte alles haarscharf. Diese Dinger schienen wirklich in der Hölle gemacht worden zu sein. Wieder gab sie ihm eine Karte. »Da haben Sie sich etwas Schönes eingebrockt«, krächzte der Mann. »Das Haus ist ein Spukhaus. Eine unheimliche Gestalt treibt dort ihr Unwesen. Geben Sie mir die nächste Karte! - Der Mann, mit dem Sie sich treffen, ist der Immobilienmakler. Er übergibt Ihnen den Schlüssel. Ihr Mann kommt erst später, aber er wird nicht glauben, was Sie sagen.« Brenda Weston war verwirrt. Die langen weißen Finger steckten die Karten wieder in die Rocktasche. »Das Gespenst...«, sagte Brenda Weston. »Wie sieht es aus?« »Sie werden es gleich sehen«, antwortete der Mann, lachte kichernd, stand auf und nahm aus dem Gepäckträger ein altes schäbiges Köfferchen, das aus der viktorianischen Zeit zu stammen schien. »Kommen Sie!« Er streckte seine langen weißen knochigen Finger nach Brenda Weston aus und zog sie leicht an der Schulter zu sich heran. Er drückte auf einen kleinen Hebel und das Köfferchen sprang auf. Beinahe hätte Mrs. Weston aufgeschrieen, so plötzlich überfiel sie das Bild. Es war, als schwebte sie über der Erde. Die Welt lag vor ihr ausgebreitet. Ihr Blick fiel aus schwindelnder Höhe hinab, aber nirgends stimmten die Perspektiven. Die Landschaft war unglaublich klar, wie wenn man durch ein Kristallglas schaut, wodurch sich die Dinge leicht verzerrten. Die Hügel, Wiesen und Felder sahen ganz schief aus, beinahe elliptisch. Der Hintergrund färbte sich mauve und lila und der Rand des Bildes war noch immer mit dem blutroten Schein der untergehenden Sonne überzogen. Es war ein phantastischer, schaurigschöner Anblick. 9
Brenda Weston war entsetzt. Sie fühlte sich vom Abteil meilenweit entfernt und presste sich hart gegen die Sitzbank, um nicht zu Boden zu stürzen. Und dann traute sie ihren Augen nicht, als sie das große weiße Gebäude im Vordergrund des Bildes sah. Es war das Haus, das ihr Mann gemietet hatte und zu dem sie jetzt unterwegs war. Es gab nicht den geringsten Zweifel, obwohl sie nur eine Fotografie von dem Haus gesehen hatte. »Das ist Kilmoore«, sagte der Mann. »Gleich sehen Sie die Innenräume...« »Wie ist das möglich?«, fragte Mrs. Weston. »Das ist ja unheimlich.« Sie fühlte sich direkt krank. Es musste das Zusammenwirken von Müdigkeit und die unglaubliche Höhe sein, die dies bewerkstelligte. Dieses Köfferchen war ein teuflisches Spielzeug und sie wich ein wenig von dem seltsamen Fremden zurück, der jetzt in dem blutroten und violetten Widerschein, den der Kofferdeckel zurückwarf, unwirklich aussah. »Sie werden doch nicht etwa Angst haben«, sagte der Mann mit sanfter Stimme. »Es ist phantastisch, nicht wahr? Mit diesem Wunderding sieht man alles mögliche, das man sonst nie zu sehen bekommt.« Noch während er sprach, erschien auf dem Bild ein unheimlich aussehender Schatten, der sich durch die Räume schlich. Die Gestalt war nicht deutlich genug, aber sie erinnerte an eine Schaufensterpuppe, der man vergessen hat, ein Gesicht zu malen. Deutlich sah Brenda Weston, dass jemand von dem Ungeheuer davonlief. Eine Sekunde später prallte sie entsetzt zurück. Die Person, die im Haus ängstlich umherlief, war sie selbst. Ihr wurde schwindlig. Der seltsame Alte lächelte und schloss das Köfferchen. Schlagartig war alles verschwunden. Mrs. Weston wollte sprechen, sich aufbäumen gegen diese Unbegreiflichkeit, aber sie war plötzlich müde. Nur mit Anstrengung gelang es ihr, die Augen offen zu halten. »Ah, du meine Güte!«, rief der Mann. »Das ist ja schon Eilleendown. Ich steige hier aus.« 10
Er stand auf, schüttelte sich wie ein nasser Hund und knöpfte seinen alten, zerschlissenen Rock zu. Dann drückte er einen schäbigen Hut auf den Kopf, zog ihn tief über die rätselhaft funkelnden Gläser seines Kneifers und verließ mit einem Nicken das Abteil. Der Zug verlangsamte seine Fahrt und hielt. Brenda Weston konnte immer noch nicht fassen, was sie soeben gesehen hatte. »Seltsamer Kerl«, murmelte sie erleichtert. »Jetzt habe ich wenigstens das Abteil für mich allein.« Ihr Kopf wurde auch wieder klarer. Immer noch hielt Brenda Weston den ›Mord im Puppentheater‹ in den Händen. Ihre Gedanken waren wie ein Sieb, sie schien vorbeizurasen, nichts blieb haften. Wie hieß eben noch diese Station? Sie brauchte eine Weile, bis es ihr wieder einfiel. »Wann sind wir in Edinburgh?«, fragte sie den Schaffner, der gerade vorbeiging. Der Eisenbahnbedienstete schlug im Fahrplan nach und nannte die Zeit. »Die Station eben war Eilleendown, nicht wahr, Herr Schaffner?« Die blinzelnden Augen des Mannes starrten sie verblüfft an. »Wie bitte?« »Ich will wissen, ob das Eilleendown war?« »Auf dieser Strecke gibt es kein Eilleendown«, erwiderte er ärgerlich. »Der Zug hat doch eben gehalten!«, widersprach sie ihm. »Aber nur in Ihrer Phantasie. Sonst müsste ich davon auch etwas wissen«, erwiderte der Schaffner irritiert. »Aber das kann doch nicht stimmen«, sagte Brenda Weston erneut. »Der Mann, der hier saß, stieg doch aus...« Der Zugschaffner drohte zu explodieren, aber er beherrschte sich. »Liebe Frau«, begann er mit knallrotem Gesicht. »Niemand außer Ihnen war hier in diesem Abteil. Und in den letzten zwei Stunden ist niemand durch den Gang gekommen, sonst hätte ich ihn sehen müssen.« Mrs. Weston sagte nichts mehr. Sie schloss die Abteiltür und sann über das merkwürdige Erlebnis nach. Hatte sie alles nur geträumt? 11
»Gruseln erweitert die menschlichen Sinne«, hatte der Mann gesagt. »Ich kann in die jenseitige und diesseitige Dimension wechseln.« Was hatte er damit gemeint? Das ist doch alles purer Unsinn! Aber vielleicht hatte sie wirklich nicht geträumt und alles war echt... Blödsinn! »Sie werden in den nächsten Wochen unheimliche Dinge erleben. Ich werde Ihnen beweisen, dass ich recht habe... Der Unheimliche von Kilmoore wartet bereits«, hatte er gesagt. Das ist ja Wahnsinn. Auf Brenda Westons Stirn brach kalter Schweiß aus. Sie musste den Alptraum von sich abschütteln. Eine Viertelstunde später war sie überzeugt, alles nur geträumt zu haben. Sie nahm sich fest vor, nicht mehr daran zu denken. * »Der Hund heult«, sagte Mrs. Hardy erschrocken. Es war stockdunkel im Zimmer, aber sie saß steil aufgerichtet im Bett und starrte zum Fenster hin. Mr. Hardy neben ihr schnarchte friedlich und schien in angenehme Träume versunken. »Wach auf!«, drängte die Frau. »Hörst du?«, sagte sie, als wäre er schon längst wach. »Hör doch, der Hund heult.« Ihr kroch es kalt den Rücken hinunter. Sie hielt den Atem an und lauschte. Das Schnarchen des Mannes irritierte die Frau und ärgerte sie. Draußen sprang der Wind auf und summte ums Haus. Äste klatschten gegen die Mauer. Und plötzlich hämmerte Regen ans Fenster. »Der Hund«, murmelte Mrs. Hardy ängstlich, »eben hat er wieder geheult... Hör doch!« »Was ist los?«, fragte der Mann ärgerlich. Ächzend und schlaftrunken hob er den Kopf. »Hörst du nicht den Hund?«, flüsterte Mrs. Hardy. »Er heult.« 12
Eine Weile geschah nichts. Außer Wind und Regen waren keine Geräusche zu hören. »Komisch«, murmelte die Frau. »Ich habe es deutlich gehört.« Plötzlich schlug der Hund wieder an. Es war ein elektrisierender, schneidender Ton. »Jimmy spielt mal wieder verrückt«, murmelte Mr. Hardy gähnend. »Vielleicht hat er Füchse gerochen.« »Es ist mir ganz egal, was er gerochen hat«, sagte die Frau. Sie saß zitternd im Bett. »Schlimmer ist, dass er heult. Da ist wieder was im Kilmoore-Haus!« »Unsinn«, brummte der Mann. »Unsinn! Du mit deinen Gespenstergeschichten.« »Damals war es genauso«, erwiderte Mrs. Hardy. »Da hat auch Timmy geheult und dann war das Licht zu sehen. Steh auf und sieh nach, ob wieder ein Licht zu sehen ist!« »Es muss nicht unbedingt der Unheimliche von Kilmoore sein«, versetzte Mr. Hardy. »Timmy heult immer, wenn Vollmond ist. Wahrscheinlich ist heute Vollmond.« »Es regnet draußen und wenn es regnet, ist kein Mond am Himmel. Nein, nein, da ist schon was nicht in Ordnung drüben im Haus. Komm, steh auf und sieh mal nach!« Wie zur Bestätigung jaulte der Hund, als würde ihm jemand auf den Schwanz treten. Mrs. Hardy wäre beinahe aus dem Bett gefallen. »So ist's richtig«, brummte der Mann, »willst dir auch noch die Knochen brechen wegen des Köters.« »Halt den Mund und sieh nach! Ich gehe in die Küche«, sagte sie in einem Ton, der keine Widerrede duldete. Mr. Hardy fluchte. Er war unschlüssig, was er tun sollte. »Erst halb zwei Uhr«, schimpfte er, trat zum Fenster und blickte hinaus. Der Frühlingsmorgen war schwarz wie Tinte. Er konnte nichts erkennen. Timmy, der Hund, stand auf der Anhöhe und heulte das KilmooreHaus an. 13
»Verdammt«, knurrte Mr. Hardy. Er ging vom Fenster weg. »Jetzt habe ich's satt. Ich schau nach.« »Sei vorsichtig«, mahnte Mrs. Hardy. Trotz ihrer Angst, war sie in diesem Augenblick stolz auf ihn. Es gibt für eine Frau kein schmeichelhafteres Gefühl als die Gewissheit, mit einem Helden verheiratet zu sein. Am Ende würde er wieder in der Zeitung erwähnt werden, wie damals... Unerschrocken trat Mr. Hardy in den pechschwarzen Morgen hinaus und pfiff dem Hund. Der Regen war zu einem Nieseln übergegangen. Der Wind war stärker geworden. Wieder pfiff er dem Hund. Dann war Timmy zur Stelle. Er winselte und war klatschnass. Zusammen mit dem Tier ging Mr. Hardy die Anhöhe hinauf und sah im Obergeschoß des Kilmoore-Hauses ein huschendes Licht. Er wusste, dass das Haus schon lange unbewohnt war. Es war das gleiche komische Licht, das er schon einmal gesehen hatte. Plötzlich war der Schein verschwunden und tauchte in einem anderen Fenster wieder auf. Kurz darauf erlosch das mysteriöse Flackern und kam nicht wieder. Mr. Hardy lief eine Gänsehaut über den Rücken. Er nahm Timmy am Halsband und trat den Rückweg an. Die Alte hat recht gehabt. Das ist wieder diese Spukerscheinung, dachte er. * Es war neun Uhr Vormittag, als Brenda Weston am Edinburgher Bahnhof in ein Taxi stieg und zu Crosse & Blackwells Maklerbüro fuhr. Sie war geneigt, den irrealen Teil des nächtlichen Erlebnisses für eine Ausgeburt ihrer überreizten Phantasie zu halten. Die Häuserfirma lag irgendwo in der Innenstadt und während der Fahrt, die im Schneckentempo vor sich ging, hatte Mrs. Weston reichlich Gelegenheit, über das seltsame Erlebnis im Zug nachzudenken. Aber sie war noch immer zu keiner Lösung gekommen. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr wurde ihr bewusst, dass alles doch bloß ein Traum gewesen war. Das bewies vor allem die Station, die es 14
nicht gegeben hatte. Diese Tatsache ließ sich nicht einfach beiseite schieben. Durch das plötzliche Stoppen des Taxis wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Auf der Straße herrschte ein heilloses Durcheinander: Lastwagen, Autos und andere Fahrzeuge fuhren Stoßstange an Stoßstange. Irgendwo vorn schien es eine Stockung zu geben. Rote Stockbusse standen dort, einer hinter dem anderen und rührten sich nicht von der Stelle. »Da scheint wohl ein Unfall zu sein - oder so etwas«, sagte Brenda Weston. »So lange kann ich nicht warten, bis die Straße wieder frei ist.« »In Ordnung, Ma'am«, erwiderte der Fahrer. »Dann fahren wir wohl am besten durch die Edward Street. Wer weiß, wie lange dieser Zustand noch dauert.« Er schwenkte aus der wartenden Kolonne und fuhr auf der leeren Gegenbahn davon. Fünfzehn Minuten später hielt das Taxi vor dem Immobilien-Büro. Das Crosse & Blackwell-Haus war ein großer Fachwerkkasten, der um die Jahrhundertwende erbaut worden war, als der Rutland Garden noch keine Hauptverkehrsstraße, sondern eine idyllische, stille Chaussee war, auf der Pferdegespanne fuhren. Mrs. Weston bog in den Seitenweg ein und stand bald vor einem Eisentor. Sie drückte auf den Knopf am Torpfosten und dann hörte sie die Sprechanlage. Sie nannte ihren Namen. »In Ordnung, Mrs. Weston. Kommen Sie herein«, tönte eine Männerstimme aus der Sprechanlage. Das verschnörkelte Eisengitter glitt geräuschlos zur Seite. Brenda Weston ging den Kiesweg entlang, bis sie ein verdrossen dreinblickender Angestellter in Schwarz begrüßte. »Ich begleite Sie zu Mrs. Blackwell.« Der Angestellte eilte ihr voraus. Sie durchschritten eine Halle mit hochlehnigen Eichenstühlen, die zweifellos früher in irgendeinem englischen Schloss gestanden hatten. Dann ging es eine breite Treppe 15
hinauf und durch einen Korridor. Der Angestellte in Schwarz pochte an eine Tür. »Mrs. Blackwell?«, rief er laut. »Mrs. Weston aus Amerika ist hier.« »Dann bringen Sie sie herein, John.« Der Angestellte beeilte sich, die Tür zu öffnen und ließ Brenda Weston eintreten. »Danke, John. Es ist alles in Ordnung.« Margaret Blackwell saß in einem Lehnsessel. Sie war ein zerbrechliches kleines Wesen, sehr alt, bestimmt über fünfundsiebzig, schätzte Mrs. Weston. Ihre Augen jedoch waren hellwach und klar und ihre Stimme, obwohl ein wenig brüchig, klang angriffslustig und jung. »Ich habe Sie erst für morgen erwartet«, sagte die alte Dame. »Sie sind aus den Staaten! Ich wusste nicht, dass wir hier so viele Amerikaner haben. Oh, nehmen Sie doch bitte Platz. Hätten Sie gern etwas zu trinken?« »Nein, danke«, erwiderte Mrs. Weston und setzte sich. »Die Allersons Companie hat ein Haus für Ihre Familie gemietet«, sagte Mrs. Blackwell. »Ja, mein Mann ist Verkaufsdirektor der Elektronikfirma und für die nächsten drei Jahre...« »Oh, das ist fein«, unterbrach die alte Dame sie. Sie beugte sich vor und lächelte. »Es ist ein schönes Haus. Groß, geräumig und einsam. Sie mögen doch die Einsamkeit, nicht wahr?« »Oh, das macht mir nichts aus«, erwiderte Brenda Weston. Sie wusste selbst, dass es eine Lüge war, besonders nach den Erlebnissen im Zug. Aber was hätte sie sonst anderes sagen sollen? »Das Haus heißt Kilmoore und ist 27 Meilen von hier entfernt. Mr. Burns wird Sie hinbringen und Ihnen alles zeigen.« Von den Gespenstern, von denen der Alte im Zug gesprochen hatte, erwähnte sie nichts. Trotzdem glaubte Brenda Weston im Benehmen der alten Frau etwas zu merken, das unter der zur Schau getragenen Ruhe einiges vermuten ließ. Aber vielleicht lag es auch daran, dass sie schon überall Geheimnisse und Gespenster sah. 16
Mrs. Weston wusste noch nicht, dass das Haus in den letzten Jahren häufig den Besitzer gewechselt hatte, weil darin merkwürdige Dinge geschahen. * »Dann wollen wir mal losfahren«, sagte Mr. Burns mehr zu sich selbst, als zu seiner Mitfahrerin. Seine Stimme klang wie die eines Kindes, dem man eine unbequeme Schulaufgabe gegeben hat. Burns hatte eine Glatze und war alles in allem ein unscheinbarer Mann in mittleren Jahren, der allmählich zu dick wurde. Seine zerknitterte Hose war ausgebeult und sein Rock spannte über dem Bauch. Bald hatten sie den Stadtverkehr hinter sich gelassen. Das anfängliche Gespräch war für eine Weile ins Stocken geraten. Dann plauderte Burns belanglose Dinge. Aber Brenda Westons Gedanken beschäftigten sich immer noch mit dem geheimnisvollen Mann im Zugabteil. Sie ärgerte sich darüber, dass sie die Inhaberin des Immobilienbüros, Mrs. Blackwell, nicht danach gefragt hatte, ob es im Haus geisterte. Doch bestimmt hätte sie sich mit dieser Frage lächerlich gemacht. Plötzlich kam ihr eine andere Idee. »Whisky, Geister und Monster scheinen eine schottische Spezialität zu sein«, sagte sie unvermittelt zu ihrem Fahrer. »Ist es wahr, Mr. Burns, dass Geister und unheimliche Wesen nachts in bestimmten Häusern und Schlössern ihr Unwesen treiben?« Der Angestellte von Crosse Blackwell starrte sie ungläubig an. Er brauchte eine ganze Weile, ehe er antwortete. Dann zog er alles so in die Länge, als wären seine Stimmbänder aus Kaugummi. »Well...«, begann Bums. »Das - das ist alles mehr Tradition. Wissen Sie, wenn ein Haus oder Schloss ein gewisses Alter hat, heißt es immer, da passieren ungewöhnliche Dinge. Ich persönlich bin noch nie einem Gespenst begegnet.« »Das enttäuscht mich aber«, gestand Brenda Weston. »Bei uns in den Staaten gibt es keine Geister. Da müssen Sie schon nach England 17
und Schottland gehen, wenn Sie welche erleben wollen, hat man mir drüben gesagt. Und jetzt behaupten Sie, hier gäbe es sie auch nicht.« »Na ja«, erwiderte Burns nach einer Weile. »Es sollen schon rätselhafte und unerklärbare Erscheinungen gesichtet worden sein. Ich erinnere mich da an einen Fall aus der Zeitung. Auf Schloss Ashfield sollen sich in bestimmten Nächten unheimliche Dinge abspielen. Der Besitzer Lord MacRae hat immer Schwierigkeiten mit seinem Dienstpersonal, weil es im Schloss spuken soll. Ein übelbeleumundeter Vorfahre treibe nachts sein Unwesen. Die Leute nennen das Gespenst das Mond-Ungeheuer, weil es die Angewohnheit haben soll, immer bei Vollmond zu erscheinen und Leute auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen. Einzelne Menschen aus der Ortschaft glauben sogar, das Monsterwesen sauge ihnen an einem geheimen Ort das Blut aus den Adern und fliege dann als Fledermaus davon.« »Der Graf aus Transsilvanien ist nicht totzukriegen«, sagte Brenda Westen mit einem Lächeln. »Diesen Burschen kennen wir drüben auch.« Plötzlich wurde sie von einem Wagen abgelenkt, der ihnen schon die ganze Zeit über hartnäckig zu folgen schien. Es war ein Mini. Manchmal kam der Wagen näher und Brenda glaubte einen Mann mit einem Hut, den er tief in die Stirn gezogen hatte, zu erkennen. »Sehen Sie in den Rückspiegel«, forderte sie Mr. Burns auf. »Können Sie hinter uns einen blauen Mini sehen?« Einen Augenblick starrte er in den Rückspiegel. »Einen Mini?«, wiederholte er. »Ja, er fährt uns schon die ganze Zeit nach«, erklärte Brenda Weston leicht verwirrt. »Ich sehe nichts«, antwortete der Fahrer verblüfft und blickte nach allen Seiten. »Der blaue Mini hinter uns!« »Ein blauer Mini...?«, wiederholte Burns langsam und musterte Mrs. Weston mit einem eigentümlichen Blick. »Da ist nichts, hinter uns fährt doch niemand.« »Jetzt ist er abgebogen«, erwiderte sie rasch. 18
Was hätte sie sonst sagen sollen? Wenn Burns den Wagen nicht sah, dann war das äußerst merkwürdig. Wahrscheinlich kam es von der Übermüdung. Aber jetzt schien er tatsächlich verschwunden zu sein. Burns gab Gas und überholte einen dicken Brummer. Der Verkehr hatte seit Edinburgh ziemlich abgenommen und sie kamen gut voran. Obwohl Brenda Weston die Augen offen hielt, konnte sie von dem blauen Mini keine Spur entdecken. Erst als sie ihn schon fast vergessen hatte, tauchte im Rückspiegel ein dunkler Punkt auf und sie war überzeugt, dass es wieder der Mini war. »Gibt es irgendwo eine Raststätte?« Sie hätte gern gewusst, ob der Mini auch stehen bleiben würde. »Bis Deenshire sind es noch zwei Meilen«, sagte Mr. Burns. »Dort gibt es ein paar Geschäfte und Erfrischungsräume.« Als sie kurze Zeit später das Lokal betraten, bemerkte Mrs. Weston einen Mann, der sie anstarrte. Er war mager und dunkelhaarig, mit einem großflächigen knochigen Gesicht. Er konnte der Fahrer des blauen Minis sein. Sie war absolut sicher, dass nur eine Person in dem Wagen gesessen hatte. Wenn das der Mann aus dem blauen Mini war, musste das Auto irgendwo in der Nähe stehen. Draußen standen mehrere Fahrzeuge, ein Mini war nicht darunter. Das Restaurant befand sich in einem Eckhaus und die meisten Autos parkten in einer schmalen Seitenstraße. Aber auch da war kein Mini. Weder jetzt noch später sah sie etwas von einem Mini. Mrs. Weston konnte das alles nicht recht begreifen. Das blöde Gefasel im Zug hatte sie ganz durcheinander gebracht. Sie nahm sich vor, nicht mehr daran zu denken. * Um drei Uhr am Nachmittag erreichten sie Kilmoore. Sie waren von der Asphaltstraße auf einen Waldweg abgebogen. Links und rechts gab es nichts als Büsche, danach eine Lichtung und wieder Buschwerk. Dann ein Feld, hinter dem Mischwald begann. Dann kamen die grünen mit Moos und Gras bewachsenen Hügel. 19
Der Wagen fuhr eine leichte Anhöhe hinauf. Am Weg stand ein alter, windschiefer, in allen Fugen klaffender und grau verwitterter Schober. Er sah aus, als wäre er aus Zündhölzern zusammengesetzt. Eine Weile ging es noch leicht bergauf, dann erreichten sie eine Lichtung, die ein alter Wassergraben durchzog. Die Böschung war voller Gestrüpp und mit Birken und Eichenbäumen gesäumt. Burns fuhr noch eine Weile die Böschung entlang, dann sah man das Haus. Es stand völlig isoliert auf einem leichten Hügel. Es war nicht hässlich und trotzdem glaubte Brenda Weston etwas Spukhaftes, Geheimnisvolles zu erkennen. Das Gebäude wirkte wie eine große Fliegenfalle, die nur darauf wartet, endlich ein Opfer zu fangen. Die gekieste Zufahrt machte eine leichte Kurve. Auf dem breiten Rasenstreifen zu beiden Seiten wuchsen gelb blühende Sträucher. Um das Haus führte ein gepflasterter Weg und dahinter leuchteten wilde Rosen in verschwenderischer Fülle. Rechts ging es über einen mit Granitfelsen durchsetzten Hang zu einem parkartigen Wäldchen. Dahinter lag das Meer. Burns parkte vor dem Haus. Obwohl es ein Stockwerk besaß, wirkte es niedrig und weitläufig. Es hatte Deckenbalken und Alkoven, die aus einer Bauweise des 17. Jahrhunderts stammten. Als Brenda Weston aus dem Wagen stieg, sah sie einen Moment lang im Fenster des ersten Stockes die Bewegung eines Vorhangs. Jemand hatte die Gardine ein Stückchen beiseite geschoben und hindurchgespäht. Aber im nächsten Augenblick war alles wieder ruhig. »Es hat schon lange keiner mehr hier gewohnt«, sagte Mr. Burns plötzlich. »Drinnen wird es eine Menge Staub geben. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen jemand aus dem Ort besorgen, der Ihnen etwas zur Hand geht.« Sie nickte bloß und sah auf den Garten. Der Rasen war frisch gemäht und die Hecke geschnitten. »Gibt es da einen Gärtner?«, fragte Brenda Weston in der Hoffung, dass hier vielleicht doch jemand wohnte. 20
»Das erledigt Ihr Nachbar, Mr. Hardy, gegen ein kleines Entgelt«, erwiderte Mr. Burns. »Er wohnt eine Meile von hier. Die Hardys sind ein altes Ehepaar.« Während Burns die Eingangstür aufschloss, sah Mrs. Weston zum Fenster hinauf. Aber da war nichts Außergewöhnliches mehr zu sehen. Dann fuhr sie erschrocken zusammen. Ein großer schwarzer Hund schoss knurrend aus dem Gestrüpp und jagte auf sie zu. »Das ist Mr. Hardys Hund«, sagte Bums. »Der beißt nicht. Keine Angst!« Er rief das Tier beim Namen. Der Hund hieß Timmy und beschnupperte Brenda Westens Füße. Ihr war sofort klar, dass sie von ihm nichts zu befürchten hatte. Er schnüffelte nur kurz und wedelte dann freundlich mit dem Schwanz. Die Amerikanerin fand es ganz angenehm, einen Hund um sich zu haben. Sie streichelte das Tier und Timmy folgte ihr ins Haus. »Sehen Sie, Mrs. Weston«, sagte Bums und klopfte dabei Timmy auf den Nacken. »Er mag jeden Menschen.« Das Wohnzimmer war enorm und hatte eine bezaubernde Aussicht aufs Meer. Die Einrichtung bestand aus robusten, alten schottischen Möbeln. Um einen großen offenen Kamin gruppierten sich Plüsch- und Ledersessel. Eine Treppe führte auf eine Galerie, an der die Zimmer des Obergeschosses lagen. Von dort schwang sich eine steile Stiege in die Bodenkammer hinauf. Im ganzen gab es elf Räume. Am unsympathischsten erschien Brenda Weston die Bibliothek. Es war ein kahler, hoher Raum, in dessen Mitte ein reich verschnörkelter Tisch und mehrere Lederfauteuils standen. Dunkle Bücherschränke mit Glastüren bedeckten rundherum die Wände. Auf dem Kaminsims standen alte vergilbte Gipsbüsten von Dichtern und Komponisten. Plötzlich war die alte Angst und Nervosität wieder da. Brenda Weston spürte sie ganz deutlich. Es kam von den Bücherkästen, in denen keine Bücher, sondern ausgestopfte Vögel standen. Und da erinnerte sich Mrs. Weston, dass sie sich vor toten Vögeln immer schon gefürchtet hatte, besonders vor den Uhus. Sie gehören in 21
den Bereich der Nacht und sind Späher. Irgendwie fühlte sie sich von den Vögeln beobachtet. »Ich werde sie alle auf die Bodenkammer stellen«, sagte die Amerikanerin mehr zu sich selbst als zu Burns. »Ich mag keine ausgestopften Vögel.« Der Mann nickte bloß und zeigte ihr den nächsten Raum. Es war ein Schlafzimmer mit schweren dunklen Nussbaummöbeln und einem Himmelbett. Eine große Frisierkommode mit verstellbarem Spiegel vervollständigte die Einrichtung. Sie gingen die Treppe wieder hinunter. Im Erdgeschoß war eine große Küche, ein Esszimmer, ein tiefer Schrank, Toilette, Bad. Hier waren alle Fenster vergittert. Durch einen schmalen Flur kam man in den Garten. Von hier gelangte man auch in die Garage. Alles sah genauso aus, wie Mrs. Weston es im Köfferchen des alten Mannes gesehen hatte. Türen gibt es in diesem Haus noch und noch, dachte sie. Neben der eigentlichen Haustür, eine Hintertür zu einer schmalen Terrasse und dann war da noch eine Verandatür. Auch durch die Garage konnte man ins Haus gelangen. Die Türen waren alle fest und gut zu verschließen. Niemand könnte sich unbemerkt ins Haus schleichen. Burns verabschiedete sich und dann war sie allein in ihrem neuen Heim. Sie öffnete alle Fenster und ärgerte sich, dass ihr Mann erst später eintreffen würde und sie die Nacht alleine im Haus zubringen musste. Als sie wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte, glaubte sie oben in den Räumen jemanden gehen zu hören. Es war gegen fünf Uhr Nachmittag. Wer konnte da oben herumgehen? Leise schlich sich die Amerikanerin die Treppe hinauf. Ab und zu blieb sie stehen und lauschte. Jeder Nerv war gespannt. Zweimal glaubte sie schlurfende Schritte zu vernehmen. Doch sie sah niemanden. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass sich im Haus jemand versteckte. Dieses Gefühl, dass da etwas sei, etwas Feindseliges, Drohendes, war so stark, dass Brenda Weston einen Augenblick lang glaubte, Atemzüge zu vernehmen. 22
Doch gleichzeitig schalt sie sich eine Närrin, eine Verrückte, die an Verfolgungswahn leidet und sich Dinge einbildet, die es überhaupt nicht gibt. Wer würde jetzt am helllichten Tag hier herumgeistern? Entschlossen ging sie in alle Zimmer und sah überall nach. Nichts. Niemand war zu sehen. Erst jetzt bemerkte Mrs. Weston, dass noch immer der Hund da war. Timmy lag im Wohnzimmer vor dem Kamin und schien in irgendeinen Hundetraum verwickelt zu sein.
Wenn da jemand gewesen wäre, hätte es der Hund ja merken müssen, dachte sie. Es waren bloß ihre Nerven. Dieser komische Alte
im Zug hatte sie mit seiner Spinnerei ganz verrückt gemacht. Gegen Abend begann es zu regnen. Ein leichtes Gewitter entlud sich über der Landschaft. Der Himmel hatte sich von einem satten Weiß in ein bleiernes Grau verfärbt. Die Wolkenmassen jagten in grotesken Gestalten dahin. Lange beobachtete Mrs. Weston die Wolken, die am Himmel dahineilten. Dann ließ sie sich leicht ermüdet in einen Sessel fallen. Der Regen nahm zu. Die Tropfen auf dem Fenster zeichneten merkwürdige Bilder. Mrs. Weston stellte die elektrische Beheizung an und machte sich eine Tasse Tee. Von der Wärme des Ofens und dem Geräusch des Regens wurde sie schläfrig. Sie schloss die Augen, schlief aber weder ein, noch blieb sie richtig wach. Eine lange Zeit waren der Regen und das monotone Ticken einer Uhr das einzige Geräusch im Haus. Und dann gab es plötzlich einen ungeheuren Lärm im Wohnzimmer. Ein blecherner, schlagender Ton, der laut wie ein Schiffshorn dröhnte. »Wauwau... Wauwau...Wauwau...« Brenda Westen fuhr erschrocken hoch. Im Zimmer war nichts zu sehen, was die heftige Erregung und offensichtliche Angst des Hundes erklärt hätte. »Was ist denn los, Timmy?«, fragte die Amerikanerin verwirrt. Das Tier ließ sich nicht beruhigen und bellte weiter. 23
Etwas musste oben in den Zimmern sein. Timmy bellte wütend die Treppe hinauf, lief aber nicht nach oben. »Such, Timmy!«, sagte sie und lief die ersten Stufen hoch. Plötzlich hörte der Hund zu knurren auf und hetzte die Treppe hinauf. Er schnupperte überall herum, konnte aber anscheinend keine Spur finden. Die Angst, die sie heute schon einmal gespürt hatte, überfiel Mrs. Weston aufs neue. Hat sich jemand in die Dachkammer eingeschlichen? Das ist nicht möglich, sonst hätte bestimmt der Hund eine Spur aufgenommen, ging es ihr durch den Kopf. Morgen würde sie nachsehen, was sich da oben befand. Vor Kellern und Dachböden hatte sie sich immer schon gegrault. Timmy war wieder völlig ruhig geworden und trottete ins Wohnzimmer zurück. Das Gewitter war vorüber. Ein dunkles Blau breitete sich am Himmel aus, das allmählich ins Graue erstarb. Die Schatten wurden länger und trotz der Lichter, die sie überall im Haus angeknipst hatte, erschienen ihr die Räume kalt und feindselig. Später, als es finster wurde, wurde Mrs. Weston die unheimliche Einsamkeit bewusst, in der sie sich befand. Das Haus erschien ihr wie eine riesige Falle. Sie nahm ein Buch und versuchte zu lesen, aber immer wieder wurde sie von undefinierbaren Geräuschen unterbrochen. Mal knisterte die Treppe, als versuchte jemand auf Zehenspitzen nach oben zu schleichen, dann wieder klatschte ein Ast gegen die Hausmauer. Irgendwo polterte und scharrte es. Brenda Weston konnte nicht ausmachen, woher diese Geräusche stammten. Im nächsten Augenblick knarrte die Haustür. Doch sie ließ sie knarren und widmete ihre Aufmerksamkeit dem Buch. Es war eine Art Liebesgeschichte. Der Fürst eines Märchenstaates zur Zeit der Renaissance wollte ein einfaches Mädchen heiraten, aber sein Vater war dagegen. Er schmiedete finstere Pläne, wie er es beiseite schaffen könnte... Mrs. Weston hatte gerade die Stelle erreicht, wo der Vater das Mädchen entführte, als jemand so heftig an der Haustür rüttelte, dass sie beschloss nachzusehen. 24
Ein schmaler Streifen neben der Tür war aus Glas, durch den man sehen konnte, wer draußen stand und herein wollte. Sicher hatte irgendein Bewohner des Hauses einst diesen Glasstreifen angelegt, damit er Bettlern und Hausierern nicht zu öffnen brauchte. Hinter dieser Glasscheibe sah Brenda Weston einen Mann stehen. Durch die Nässe der Scheibe wirkte sein Gesicht verzerrt und verschwommen, wie unter Wasser. Brenda Westons Herz raste zum Zerspringen. Sie überlegte zitternd, was sie tun sollte. Plötzlich hob die Gestalt draußen die Hand und deutete zur Tür. Die Amerikanerin knipste die Außenbeleuchtung an. Jetzt konnte sie den Mann genauer erkennen. Er mochte so um die Sechzig sein und trug einen Regenmantel. Er rief etwas, aber durch den Wind, der draußen herrschte, konnte Mrs. Weston nichts verstehen. Sie schüttelte den Kopf. Der Mann machte eine scheuchende Bewegung mit der Hand und schien wegzugehen. Aber dies sah nur so aus. Brenda Weston lauschte, hakte die Sicherheitskette aus, öffnete die Tür einen Spalt und spähte hinaus. Im selben Moment schossen die Finger einer Hand durch den Spalt und hielten die Tür fest. Mrs. Weston versuchte sie zu schließen, aber der Mann stemmte sich keuchend dagegen. Fast hätte sie ihm die Finger eingequetscht. »Guten Abend, Ma'am. Mein Name ist Hardy. Ich bin Ihr Nachbar«, sagte er. Erst jetzt schien Mrs. Weston zu begreifen. Sie ließ die Tür los und trat zur Seite. »Ich wollte nur fragen, ob Timmy bei Ihnen ist?« »Du lieber Himmel«, erwiderte Brenda Weston erschrocken. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sich der Hund die ganze Zeit über nicht gerührt hatte. Als Mr. Hardy ins Wohnzimmer trat, blinzelte Timmy nur kurz auf und schlief dann wieder weiter. Mr. Hardy blieb fast zwei Stunden. Sie tranken Tee und redeten über alles Mögliche. 25
»Wir hier sind alle etwas abergläubisch und ängstlich«, sagte er, als Mrs. Weston das Thema Geister anschnitt. »Das ganze Hochland ist ein verwunschener Ort«, fuhr Hardy fort. »So etwas wie ein geheimnisvolles Wechselspiel von Licht und Schatten, Farben und Dunkelheit begünstigt das in uns. In unserer Phantasie leben in den wildromantischen grünen Hügeln blutdürstige Monster und Ungeheuer, Schattenwesen, Kobolde, Phantome, Geister und Dämonen. Sie werden es schon noch selbst erleben. Aber da würde ich mir an Ihrer Stelle keine Gedanken machen. Wenn Sie wollen, können Sie Timmy ruhig behalten.« Brenda Weston war froh, dass der Hund über Nacht blieb. So konnte sich wenigstens niemand ins Haus schleichen, während sie schlief. Trotzdem geschah etwas Merkwürdiges. * »Stell dir vor«, sagte Mr. Hardy zu seiner Frau. »Im Kilmoore-Haus wohnt seit heute eine Amerikanerin aus New York. Ihr Mann arbeitet für einen Computer-Konzern. Er und seine Tochter kommen nach.« »Da siehst du wieder einmal, wie recht ich habe«, triumphierte Mrs. Hardy. »Jedes mal, wenn ein neuer Mieter einzieht, geht der Spuk los. Gestern Abend hast du dieses merkwürdige Licht gesehen und der Hund hat auch geheult.« Mr. Hardy nickte bloß und ließ sich schwerfällig auf einen Stuhl fallen. »Ich glaube, sie hat Angst«, fuhr er in seiner Erzählung fort. »Wollte mich zuerst gar nicht hineinlassen. Glaubte, ich wäre ein Geist oder was Ähnliches. Ich habe ihr Timmy dort gelassen, damit sie keine Furcht zu haben braucht.« »Nicht um viel Geld möchte ich in dieses Hexenhaus einziehen«, erwiderte seine Frau. »Es ist eine Schande, dass man solche Häuser für teures Geld vermietet. Lange werden sie's aber nicht aushalten, das kann ich dir schon jetzt sagen. Wenn's nach mir ginge, hätte ich dieses Spukhaus schon längst niederreißen lassen.« 26
»Deine Meinung ist aber nicht gefragt«, erwiderte Mr. Hardy energisch. Er schaltete den Fernseher ein, aber da war nichts als Politik. So stellte er den Apparat wieder ab. »Du kennst ja die Geschichte vom alten Kilmoore«, sagte Mrs. Hardy. »Fast wäre er dem Geheimnis auf die Spur gekommen. Aber das ist jetzt auch schon wieder fast fünfzig Jahre her. Mein Gott, wie rasch die Zeit vergeht!« Nach Mrs. Hardys Bericht war Lord Kilmoore gelahmt. Er befasste sich lange Jahre mit den rätselhaften Erscheinungen im Haus. Seine Aufzeichnungen wurden später veröffentlicht und stellten eine bedeutende Dokumentation der Geisterforschung dar. Folgende Geschichte war dem Lord widerfahren. Er beklagte sich, dass er bei seinen Niederschriften zuviel Tinte verbrauchte. Jemand schien die Tinte förmlich zu trinken. Auch das Schreibpapier wurde immer weniger. Er verschloss alles in seinen Schreibtisch - aber das half auch nichts. Es stimmt nicht, schrieb Lord Kilmoore in seinem Bericht, dass ich unter Halluzinationen und Einbildungen leide. Meine Phantasie spielt mir keinen Streich. Ich habe noch immer den Boden unter den Füßen. Heute habe ich ihn gesehen. Er saß im Zimmer und schrieb. Es war eine verschwommene, unförmige riesige Gestalt. Gesichtslos. Als ich ihn näher betrachten wollte, war er verschwunden. Ich habe mich mit der Erscheinung viel beschäftigt und habe trotzdem keine Erklärung gefunden. Vielleicht ist mit meinem Kopf etwas nicht mehr in Ordnung. Bin ich schon so alt und senil? Jeden Tag ein paar Stunden frische Luft würden nicht schaden. Immer wenn ich von der Spazierfahrt zurückkomme, sitzt die unheimliche Erscheinung im Zimmer. Es kostet mich immer mehr Mühe, ihn zu vertreiben. Einbildung, nichts als Einbildung! Es ist unmöglich, dass er wieder erscheint. Da bin ich ganz sicher. Es gibt keine Gespenster und Geister. Und trotzdem gibt es Dinge, die ich mir nicht erklären kann. Ich habe meine Uhr sorgfältig in die dafür bestimmte Tasche meines An27
zugs gesteckt, ehe ich zur Spazierfahrt aufbrach. Das weiß ich ganz genau. Doch als ich zurückkam, lag die Uhr auf dem Tisch. Jemand hatte sie zertrümmert. Ich war völlig durcheinander. Es gab eine Zeit, da lachte ich über die unsichtbaren Dinge, die es angeblich auf dieser Welt geben soll. Nur was wirklich ist, existiert, behauptete ich. Gespenster und Phantome können nicht existieren, weil sie nicht vorhanden sind. Aber jetzt stellt sich plötzlich heraus, dass sie doch existieren. Und das ist unheimlich. Jeden Tag sitzt er jetzt im Zimmer und starrt mich an. Dabei wird er immer zudringlicher. Jemand gab mir den Rat, einen Psychiater aufzusuchen, aber das ist natürlich Unsinn. Ich muss selbst mit ihm fertig werden. Eines Tages wurde es mir zu bunt. Ich ergriff einen schweren Stock, schlich mich von hinten an und schlug auf die Erscheinung ein. Aber ich stieß auf keinen Widerstand. Der Stock sauste durch die Luft und hinterließ eine Kerbe im Tisch. Dann war die Gestalt doch nicht im Sessel. Einbildung! Alles Einbildung! Es gab überhaupt keine Erscheinung, die im Sessel saß. Können Sinnestäuschungen Geistererscheinungen erschaffen? Ich denke schon lange darüber nach. Vielleicht komme ich eines Tages zu einer Lösung. Merkwürdig ist, dass außer mir niemand im Haus die Erscheinung sieht. Bin ich befähigt, unsichtbare Dinge zu sehen, oder besteht dieses unheimliche Phantom nur in meiner Phantasie? Er hat wieder Gegenstände kaputtgemacht. Kleine Porzellanfigürchen zu Pulver zerrieben. Halluzinationen können keine Gegenstände zertrümmern. Da stimmt wirklich etwas nicht. Gestern hat er mir eine große brennende Kerze gestohlen. Sie war plötzlich weg, als hätte sie nie existiert. Dabei habe ich sie kurz zuvor selbst angezündet. Es ist unwahrscheinlich. Das Leben von Lord Kilmoore wurde auf seltsamerweise beendet. Er starb nicht, sondern verschwand auf geheimnisvolle Weise. Der Fall konnte nie geklärt werden. Auch sollen Aufzeichnungen existieren, die nie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Der Lord ist nun 28
seit fünfzig Jahren verschwunden und das Geheimnis des Unheimlichen ungeklärt. »Ja«, meinte Mr. Hardy, »jedes Haus hat seine Rätsel...« »Was heißt da Rätsel?«, sagte Mrs. Hardy verblüfft. »In dem Haus wohnt ein Ungeheuer. Das solltest du allmählich begriffen haben. Allein in den letzten zwei Jahren sind acht Mieter ausgezogen. Niemand von ihnen hat es lange ausgehalten und so wird es auch jetzt sein.« »Es glaubt ja keiner, dass es in einem Haus geistert, ehe er es nicht selbst erlebt«, erwiderte Mr. Hardy starrsinnig. »Die Leute müssen erst mit der Nase darauf stoßen.« * Während der Nacht ereignete sich - abgesehen von dem Schatten im Garten - nichts. Mrs. Weston schlief nicht gut. Ein paar mal wachte sie ohne ersichtlichen Grund auf. Später plagten sie sinnlose Träume, die keinen Anfang und kein Ende hatten. Dann knallte etwas an die Mauer. In die Stille hinein, wirkte das Geräusch wie eine Detonation. Mrs. Weston fuhr erschrocken hoch, aber gleichzeitig wusste sie, dass sie vor diesem Lärm keine Angst zu haben brauchte. Sie stand auf und ging zum Fenster, um den Laden einzuhängen, der an die Hausmauer schlug. Weißlicher Nebel lag über der Landschaft und die Äste und Sträucher sahen wie Finger aus, die in weiße Watte gewickelt sind. Um den Fensterladen zu greifen, musste Brenda sich ein Stück zum Fenster hinausbeugen - und da sah sie es. Eine Gestalt stand unten im Garten und starrte sie an. Mrs. Weston hielt den Atem an. Vor Entsetzen schnürte sich ihre Kehle zusammen. Das, was ein Schrei werden sollte, kam nur als ein schwaches Flüstern heraus. Erst nach einer Weile funktionierte ihre Stimme wieder. »Was tun Sie hier?«, schrie sie hinunter. »Was ist denn?« Die Gestalt antwortete nicht. Der Wind riss Brenda den Fensterladen aus der Hand und knallte ihn wieder an die Mauer. Im selben 29
Moment war die Erscheinung verschwunden. Weggewischt wie ein Spuk. Niemand stand mehr im Garten. Mrs. Weston blickte auf den Hund. Timmy schlief zusammengerollt in der Ecke. Der Vorfall schien von ihm gar nicht bemerkt worden zu sein. Der Nebel muss diese Gestalt geformt haben, dachte sie. Anders
kann es nicht sein.
Noch eine ganze Weile spürte sie den Schock, den die Erscheinung ihr versetzt hatte. Brenda Weston saß im Bett und grübelte. Waren hier Kräfte aus dem Jenseits am Werk? Langsam und lautlos fiel die Zeit durch das Sieb der Minuten. Allmählich kam endlich der Morgen. Die düstere, trübe Dämmerung floss langsam über die Landschaft - enthüllte an einer Stelle die Umrisse eines Baumes, an einer anderen die zarte Wölbung eines Hügels. Die Morgendämmerung sickerte unauffällig durch die Fenster, erhellte Wege und Waldlichtungen und breitete sich in ihrem Zimmer aus. Brenda Weston war froh, dass es endlich Tag wurde. Als sie ins Wohnzimmer hinunter kam, traute sie ihren Augen nicht. Im Raum herrschte ein wildes Durcheinander. Ihr kleiner Reisekoffer war geöffnet und die Kleidungsstücke im Zimmer verstreut worden. Auch der Inhalt ihrer Handtasche lag durchwühlt auf dem Boden. Die Amerikanerin stand schweigend da und betrachtete mit sichtbarem Unbehagen die grässliche Unordnung. Sie dachte sofort an den Mann im Zug. Auch der Mini, der sie eine Zeitlang während ihrer Herfahrt verfolgt hatte, fiel ihr ein. Je länger sie darüber nachdachte, um so überzeugter wurde sie: Der Kerl war ihr heimlich gefolgt und hatte, während sie schlief, hier herumgestöbert. Befand er sich noch im Haus? Oder waren doch jenseitige Kräfte am Werk? Sie dachte an die Erscheinung im Garten. Auf ihrer Stirn brach kalter Schweiß aus. 30
Mit zittrigen Fingern begann sie ihre Utensilien zusammenzusuchen. Plötzlich wusste sie, dass ihr Denkpuzzle nicht stimmte, nicht stimmen konnte. Wenn jemand die Nacht hier gewesen wäre, hätte Timmy gebellt, aber der Hund hatte sich die ganze Zeit über nicht gerührt. Wie richtig der Gedanke war, stellte sich erst heraus, als Mrs. Weston merkte, dass nichts gestohlen wurde. Alles war da. Geld, Ausweispapiere, Scheckheft, Schlüssel. Nichts fehlte. Jetzt begriff sie überhaupt nichts mehr. Ein Einbrecher hätte sicher etwas gestohlen. Immerhin lagen zweihundert Pfund in der Geldbörse. Ein ganz schöner Betrag für einen Herumtreiber. Eine andere Idee ergriff von ihren Gedanken Besitz. Ein völlig neues Bild entstand vor ihren Augen. »Sie werden schon noch merken, dass es im Haus spukt«, hatte der Alte gesagt. »Ein unheimliches Gespenst geht dort um...« Wieso konnte er das wissen?, überlegte Mrs. Weston. Aus den merkwürdigen Karten ging doch nichts hervor. Oder doch? Gestern hatte sie alles für einen Traum gehalten und jetzt musste sie sich eingestehen, dass es Wirklichkeit war.
Dann gibt es sie also doch - die unsichtbare Welt, aus der die Geister und Gespenster kommen, ging es ihr durch den Kopf. Sollte
dieses Haus ein Tor zum Geisterreich darstellen? Sie zweifelte nicht mehr daran, dass hier etwas Unheimliches vor sich ging, für das es keine Erklärung ab. Im Haus musste einmal etwas Grauenhaftes geschehen sein. Es heißt doch immer, es geistere nur in Häusern, in denen jemand seine Seele dem Teufel verkauft habe und daher keine Ruhe finde. War hier einmal so etwas geschehen? Plötzlich quälten sie neue Gedanken. Jemand hatte einmal zu ihr gesagt, dass aus Gedanken Wesen entstehen. Mit jedem Gedankengang erschaffen wir etwas. Hatte sie das Gespenst erschaffen, das im Haus herumgeisterte? Ist der Spuk Wirklichkeit geworden, weil sie es wollte? Oder weil der Mann im Zug es ihr einredete? 31
Mrs. Weston ärgerte sich. Sie hatte sich völlig in philosophische Gedanken verrannt. Sie musste sich an strikte Tatsachen halten. Gedanken konnten keine Kleider am Boden zerstreuen und einen Hund zum Bellen bringen. Sie musste unbedingt in der Dachkammer nachsehen. Sie stieg die Treppe nach oben. Timmy folgte ihr. Ängstlich sperrte sie das Schloss auf und öffnete die Tür. Dann knipste sie einen Schalter an. Es wurde hell. Der Dachboden war kein finsteres Verlies, im Gegenteil, er war aufgeräumt und die wenigen Dinge, die darin standen, waren ziemlich übersichtlich. Auf dem großen Boden war nichts zum Gruseln. Die Luft war zwar ein wenig dumpf und abgestanden, aber sonst schien alles in bester Ordnung zu sein. Zwei alte, ausgediente Seehundkoffer standen da, ein paar Möbelstücke und eine hölzerne Schneiderpuppe. Es war eine große wurmstichige, gesichtslose Figur, deren fleckiges Holz auf ein Alter von mindestens vierzig bis fünfzig Jahre schließen ließ. Sonst befand sich nichts hier oben. Gerade in dem Augenblick, als Brenda sich umdrehte und hinausgehen wollte, ertönte hinter ihr ein merkwürdiges Geräusch. Ein hohler, knöcherner Ton - als hätte die Puppe ihre langen hölzernen Finger bewegt. Auch der Hund blieb ruckartig mit gespitzten Ohren stehen. Mrs. Weston wandte sich um. Nichts war zu sehen. Trotzdem glaubte sie, die Figur habe vorhin anders gestanden war ein paar Zentimeter weiter nach rechts gerückt. War es nur Einbildung, oder hatte sich die Holzpuppe tatsächlich ihr zugeneigt? »Blödsinn!«, redete sie laut vor sich hin. »Muss ich mich unbedingt verrückt machen?« Rasch verließ sie den Dachboden, schloss ab und lief die Treppe hinunter. So bald würde sie nicht mehr nach oben gehen, das war sicher. Aber Angst hatte sie wieder ergriffen. 32
Sie stand überall im Haus wie eine Erscheinung, die sie anstarrte. Etwas Gespenstisches lag in dieser Angst, die immer wieder auftauchte - urplötzlich, unvermittelt. Es war ein Spuk, der Brenda Weston anstarrte. Ein Spuk, der zu ihr sagte: »Ich gehe nicht fort. Ich will, dass du mich ansiehst. Ich will, dass du mich anerkennst!« Was wird wohl Ron sagen, wenn ich ihm alles erzähle?, dachte sie und wusste schon jetzt die Antwort auf ihre Frage. Er würde es für ein Hirngespinst halten. Sie sah schon sein Gesicht vor sich. »Was ist denn los mit dir?«, würde er sagen. »Willst du einen Detektiv aus einem schlechten Kriminalroman spielen? Das Ganze bildest du dir doch bloß ein.« * Ärgerlich über sich selbst, verdrängte Brenda Weston ihre düsteren Ahnungen und Gedanken. Nach dem Frühstück ging sie eine Stunde lang am Meer spazieren, dann schlug sie einen landeinwärts führenden Weg ein und kam zu Mr. Hardy. Timmy wollte es so und hatte sie hergebracht. Das Wetter war schlecht. Das gestrige Gewitter war zu einer Art Landregen übergegangen. Der Himmel war eine einzige Schiefertafel. Ein dünner Nebelfilm hing über der Landschaft, der die Farben greller erscheinen ließ, als sie waren. Vor Mr. Hardys Haus standen eine Reihe Eichenbäume, die in vielen harten Wintern bizarr und knorrig geworden waren. Ein niedriges Steinmäuerchen umzog das Anwesen. »Guten Morgen, Ma'am«, sagte Mr. Hardy. »So früh schon auf den Beinen?« »Ja«, erwiderte Mrs. Weston. »Timmy hat mich hierher gelotst.« »Er ist ein guter Hund«, lobte Mr. Hardy und klopfte den Nacken des Tieres. »Kommen Sie doch ins Haus, Ma'am! Meine Frau mag gern Besuch.« 33
Brenda Weston trat in ein gemütliches Zimmer mit Plüschsesseln und Plüschdecke auf dem Tisch. Darauf stand eine Porzellanvase mit Ringelblumen, die fast künstlich wirkten. In einem altmodischen Glasschrank befand sich eine Menge Geschirr. Bunte kleine Bilder auf dem Kaminsims und die dottergelbe Stehlampe in der Ecke gaben dem Raum eine Atmosphäre von Wärme und Frieden. »Ach, wie reizend, Sie kennen zu lernen«, sagte Mrs. Hardy. »Mein Mann hat mir schon von Ihnen erzählt.« Sie reichte der Amerikanerin die Hand. Mrs. Hardy hatte ihr weißes Haar so frisiert, wie es vor zwanzig Jahren modern gewesen war. An den Seiten etwas zu kräftig gebauscht und mit einem Knoten am Hinterkopf, der die Breite ihrer Backenknochen unterstrich. Ihre Augen waren haselnussbraun und ehrlich. »Sie trinken doch eine Tasse Tee, Mrs. Weston, nicht wahr?« Die Frau wartete die Antwort erst gar nicht ab und lief hinaus. »Bring auch ein paar Scheiben von dem köstlichen Ingwerkuchen mit, den mag Mrs. Weston bestimmt auch.« »Haben Sie sich schon ein bisschen eingelebt?«, fragte Mr. Hardy. Brenda Weston glaubte in seinen Augen ein leises, amüsiertes Lächeln zu sehen. Bestimmt wusste er etwas von dem Spuk auf Kilmoore, dachte sie, aber er wollte anscheinend mit der Sprache nicht her-
aus. Er hatte ja schon gestern um den Brei herumgeredet.
»Die Einsamkeit macht einem zu schaffen, wenn man sie nicht gewohnt ist«, erwiderte sie. »Aber ich glaube, daran gewöhnt man sich bald. Morgen kommen mein Mann und meine Tochter, dann sieht die Sache bestimmt anders aus.« »Sie müssen mir etwas von Amerika erzählen«, sagte Mrs. Hardy, während sie das Teegeschirr auf den Tisch stellte. »Ich wollte immer einmal gern herüber, aber ich habe es nicht geschafft.« »Ja, weil du Angst vorm Fliegen hast«, hakte Mr. Hardy ein. »Apropos Angst«, wiederholte Brenda Weston. »Gestern haben Sie mir direkt Angst gemacht. Ich sah Sie durch die Scheibe an der 34
Tür. Sie sahen aus wie ein Phantom. Zuerst fürchtete ich, Sie wären ein Einbrecher oder ein Gespenst.« »Das ist so seine Spezialität, Leute zu erschrecken«, bemerkte Mrs. Hardy, eilte in die Küche und brachte ein Tablett mit einer Teekanne und Kuchen zurück. Später berichtete Mrs. Weston von den merkwürdigen Geräuschen, die sie im Haus gehört hatte. Von der Erscheinung und dem durchwühlten Gepäck erwähnte sie nichts. Sie wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Zwar blieb das Gesicht von Mrs. Hardy ausdruckslos, aber ihre Augen blitzten sekundenlang auf, als Mrs. Weston von den Dingen berichtete. »Ich glaube, in dem Haus spukt es«, sagte die Amerikanerin. »Wissen Sie davon etwas?« Plötzlich hatte es Mrs. Hardy eilig, wieder in der Küche zu verschwinden, aber Brenda Weston ließ nicht locker. »Ich habe mit Geistern keine Erfahrung. Aber ich glaube, hier gibt es viele Häuser, in denen es spukt, nicht wahr?«, fragte sie. »Das weiß ich nicht«, erwiderte Mrs. Hardy knapp. Die Amerikanerin war von der Antwort überrascht. Sie wusste, dass die Frau sie belog. »Glauben Sie denn nicht an solche Dinge?«, erkundigte sie sich. »Oh - es gibt schon Spukhäuser«, erwiderte Mrs. Hardy vage. »Ein berühmtes steht in Yorkshire. Dort gibt es ein Zimmer, in dem es auf einer bestimmten Stelle eiskalt ist. Die Jahreszeit spielt dabei gar keine Rolle. Bis heute hat niemand das Phänomen erklären können.« Sie stand auf und holte aus dem Glasschrank ein Buch, das sie vor Mrs. Weston legte. ›Geisterglaube und Wirklichkeit‹ hieß der Titel. Die Amerikanerin blätterte einige Seiten um. Einige Absätze waren unterstrichen und mit Randbemerkungen versehen. »Dann gibt es sie also doch«, stellte Brenda Weston fest und legte das Buch wieder auf den Tisch zurück. »Es gibt so viele Dinge auf der Welt, die wir nicht erklären können«, erwiderte Mrs. Hardy und schob dabei ein Kuchenstück in den Mund. 35
Brenda sah sich wieder im Zug dem geheimnisvollen Mann gegenüber. War er der Abgesandte einer anderen Welt? Nein, das ist absurd. Sie wehrte sich gegen diesen Gedanken. »Welche Dinge können Ihrer Meinung nach nicht erklärt werden?«, wollte Mrs. Weston wissen. »Zum Beispiel die Seele des Menschen, die den Körper verlässt, wenn er stirbt«, antwortete Mrs. Hardy. »Oder die Besessenheit.« »Sie meinen, wenn ein böser Geist in einen Menschen eindringt? Für das gibt es aber keine Beweise.« »Für Leute, die nicht daran glauben wollen, gibt es sie natürlich nicht«, belehrte sie Mrs. Hardy. »Jetzt lass es aber gut sein«, sagte Mr. Hardy zu seiner Frau. »Mrs. Weston ist bestimmt nicht hergekommen, um mit dir über Geister und Gespenster zu diskutieren.« »Verdirb uns nicht das Thema«, warnte sie ihn. »Ist mal ein anderes Gesprächsthema, als immer über das Wetter zu reden... Habe ich nicht recht, Mrs. Weston?« Die Amerikanerin nickte und die Frau fuhr in ihrem Bericht fort: »Viele Menschen wissen, dass es eine andere Welt gibt, auch wenn wir sie nicht erklären können. Es gibt viele Namen für diese Welt.« »Sie meinen die Welt der Geister?« Mrs. Hardy nickte. »Stimmt«, bekräftigte sie. »Viele wissen, dass Geister existieren. Manche Leute haben einen besonderen Zugang zu diesen Grenzgebieten, was wieder nicht erklärbar ist. Aber das soll nicht heißen, dass man jeden Hokuspokus glauben soll, den irgend jemand in die Welt hinausposaunt. Aber es gibt ganz einfache Dinge, die auch zu diesen Phänomenen zählen. Plötzlich fühlt man sich zu einem wildfremden Menschen hingezogen, fühlt sich verbunden, ohne dass man ein Wort mit ihm gewechselt hat.« »Das ist wahr«, bestätigte Brenda Weston. »Da ist etwas, das auf den anderen überspringt wie ein Funke.« Sie konnte Mrs. Hardy in diesem Punkt nicht widersprechen. Oft genug hatte sie es selbst erfahren, dass die Nähe eines anderen, wild36
fremden Menschen sie elektrisierte und wie magnetisch anzog. Eine Erklärung dafür hatte sie dafür nie gefunden. »Aber die Besessenheit eines Menschen durch einen bösen Geist, das ist doch reiner Hexenglaube.« »Wirklich?«, fragte Mrs. Hardy. »Nein, es ist mitten aus dem Leben gegriffen. Es begegnet uns jeden Tag in der Zeitung. Wir belegen es nur mit anderen Namen. Das Wort ›Besessenheit‹ erschreckt uns, dabei ist es ständig um uns. Die Menschen morden, foltern und vergewaltigen andere, weil sie von den Mächten der Finsternis besessen sind, weil eine böse Kraft, ein Dämon sie antreibt. Wir sagen es ist Rache, Hass oder Wahnsinn, aber es ist nichts anderes als Besessenheit. Besessenheit tötet die Vernunft des Menschen. Sehen Sie sich doch die Vergangenheit an. Ganze Völker waren besessen und rotteten einander aus. Haben Sie noch nie gehört, wie ein Mörder seinem Richter antwortet, dass er nicht wisse, weshalb er getötet habe, dass er es einfach habe tun müssen? Aber die Menschen können auch von der Liebe besessen sein. Mancher Tierfreund hat schon seine Katze oder seinen Hund aus lauter Liebe zu Tode gefüttert. Ist Ihnen noch nie jemand begegnet, der an nichts anderes denken konnte, als an die Person, die er liebte?« »Ja, das gibt es«, musste Mrs. Weston zugeben. Ihre Stimme klang ein wenig belegt. »Sehen Sie, wir unterliegen Kräften, die wir greifen und erfassen können und anderen, die wir nicht berühren können, die aber in uns existieren und vielleicht auf einen Befehl warten, um an die Oberfläche zu dringen.« Vom Haus erwähnte Mrs. Hardy keine Silbe und die Amerikanerin fragte nicht mehr danach. »Wenn Sie das Buch lesen wollen, können Sie es mitnehmen«, sagte sie freundlich. »Mr. Scott beschäftigt sich mit Geistererscheinungen. Er weiß eine ganze Menge über Spukhäuser. Fragen Sie ihn einmal. Er wohnt in Lancashire, nicht weit von hier entfernt.« 37
Dann sprachen sie über Amerika, die Politik und nach zwei Stunden waren sie beim Wetter angekommen. Als Brenda Weston die Hardys verließ, war es Mittag geworden. Eine ganze Weile spazierte sie noch in der Gegend herum, ehe sie sich wieder Kilmoore zuwandte. Als sie das Haus erreichte, spürte Mrs. Weston sofort wieder die unheimliche Ausstrahlung des Gebäudes. Worte des Mannes aus dem Zug klangen ihr in den Ohren. Für Brenda Weston wurde es wieder eine unruhige Nacht. Sie wälzte sich ruhelos in ihrem Bett hin und her und fühlte im Halbschlaf kalten Schweiß auf der Stirn. Dann träumte sie von Gespenstern mit Turbanen, die aus einer Art Nebel bestanden und Mond und Sterne verdunkelten. Verschwommen und unklar tauchten in ihrer Erinnerung die Illustrationen aus einem Märchenbuch auf, die auf dunklem Papier mit satten Farben Ungeheuer und Monster darstellten, die um ein Haus tanzten. Die riesigen, mit Turbanen gekrönten Nebelgestalten veränderten ständig ihr Aussehen. Plötzlich stand sie in einem Wald von Schornsteinen. Aus jedem Kamin stieg Rauch empor. Er war verschiedenfarbig, mal grün, dann rot und blau. Der Rauch sah unnatürlich wie Dünste aus einem Hexenkessel aus. Gestalten und Figuren formten sich aus ihm. Alle schienen sich auf sie zu stürzen. Brenda Weston war plötzlich hellwach und fuhr entsetzt in ihrem Bett hoch. Das Zimmer war in einen mehrfarbigen Schein getaucht, aus dessen Mitte sich ein schwarzer Schatten löste. Wie hypnotisiert beobachtete die Amerikanerin die Erscheinung. Trotz des intensiv leuchtenden Farbenspiels war es ein kaltes Licht, das plötzlich wie eine ausgeblasene Kerze verlöschte. Dann war nichts mehr zu sehen. Ein Windstoß rüttelte an den Fensterläden und brachte das Haus zum Ächzen und Stöhnen. Kühle Luft durchwehte die Räume und ließ sie in dem großen altmodischen Bett frösteln. 38
Brenda Weston kam sich verloren vor wie nie zuvor in ihrem Leben. Das Haus schien sie zu verhöhnen und über ihre Angst zu triumphieren. * Die Morgensonne schien bereits warm ins Zimmer, als ein Geräusch Brenda Weston aufweckte. Sie sprang aus dem Bett und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Das Meer glitzerte im Sonnenlicht, die Luft war rein und klar. Die Amerikanerin schlüpfte rasch in Hemdbluse und Jeans und rannte durch die Küche nach draußen, ohne sich näher im Wohnzimmer umzusehen. Sie weigerte sich, an diesem herrlichen Morgen an Gespenster zu glauben. Mrs. Weston ging über den Dünenweg und watete durch den Sand zum Strand. Erst eine halbe Stunde später kehrte sie wieder zum Haus zurück. Die Schublade eines Schrankes im Wohnzimmer stand einen Spalt offen. Mrs. Weston erinnerte sich, dass gestern Abend alle Läden geschlossen waren, als sie das Zimmer verließ. Vielleicht war die Schublade von alleine aufgegangen? Sonst schien sich nichts verändert zu haben. Erleichtert atmete die Amerikanerin auf und wollte sich schon wieder abwenden, als sie etwas blinken sah. Neben dem Bein des alten Schranks lag etwas. Brenda Weston bückte sich und zog eine Fotografie im Silberrahmen unter dem Schrank hervor. Die Aufnahme zeigte ihren Mann und ihre Tochter. Verblüfft starrte sie auf das Bild, das sie tags zuvor in die obere Schublade gelegt hatte. Ein Frösteln lief Mrs. Weston über den Rücken, als sie mit erzwungener Ruhe das Bild an seinen Platz zurücklegte und die Schublade wieder zuschob. Mit steifen Schritten verließ sie den Raum und schloss die Tür hinter sich. 39
Irgendwann in der Nacht hatte sie doch ein Geräusch gehört. Wenn sie dem nachgegangen wäre, wäre sie ihm begegnet, darüber gab es für sie keinen Zweifel und sie war auch felsenfest davon überzeugt, dass weder ein Tier noch sonst jemand vergangene Nacht hier umhergegeistert war. Es musste etwas gewesen sein, was jeder Vernunft und Logik widersprach. Am oberen Treppenabsatz angelangt, lehnte Mrs. Weston die Stirn gegen die Wand und bewegte sich nicht, bis das Zittern in ihren Knien nachließ. Der Alte aus dem Zug hatte doch recht gehabt, sagte sie sich. Ein
unheimlicher Geist trieb hier sein Unwesen.
Sie war heilfroh, als am späten Nachmittag ihr Mann und ihre Tochter eintrafen. Ron war in bester Laune und bemühte sich, Stimmung aufzubringen, aber Brenda Weston kam die ganze Zeit über nicht von ihren trüben Gedanken los. Schließlich berichtete sie ihm alles, was sie bewegte. Sie erzählte von dem Mann im Zug, den durchwühlten Sachen im Wohnzimmer, der Erscheinung im Garten und dem Foto, das unter dem Schrank lag. Ron Weston war skeptisch. Für die beiden letzten Dinge gab es zwar keine Erklärung, aber von einem Spuk wollte er nichts wissen. Ein Geist passte nicht in sein Weltbild. Es gibt keine Gespenster! Die Toten sind tot und kommen nicht mehr zurück. Ron lachte seine Frau aus. Er lachte über die unsichtbaren Dinge, die es angeblich auf dieser Welt geben soll. Nur was wirklich ist, existiert, behauptete er. Tote Dinge können nicht umherwandern. Davon war er überzeugt. Sie hatte ja gleich gewusst, dass er von solchen Sachen nichts hielt. Es war erstaunlich, wie leicht er die Vorfälle nahm. »Brenda, Liebling, siehst du denn nicht, wie wahnwitzig das alles ist? Wo bleibt dein Sinn für Humor? Um Himmels willen, Liebling, Geister!« Sein Lachen war so unbeschwert wie je. Aber sie konnte nicht mit ihm lachen. 40
»Wenn du es selbst gesehen hättest, würdest du anders darüber reden.« »Die Sache mit den Kleidern und der Fotografie scheint etwas merkwürdig. Aber alles andere war bloß eine Einbildung, eine Phantasmagorie!« »Und wie kam sie zustande?«, fragte Brenda. »Wahrscheinlich wurde sie durch das Geschwätz des Alten im Zug ausgelöst«, erwiderte Ron Weston. »So etwas nennt man Suggestion.« »Das glaube ich nicht«, entgegnete sie nachdenklich. »Eine Suggestion kann doch keine Gestalten erschaffen.« »Ich werde es dir einmal erklären«, begann Ron Weston. »Du erinnerst dich daran, dass der Alte dir allerlei Geschichten für die Zukunft prophezeit hat, damit hat er beabsichtigt oder unbeabsichtigt auf dich eingewirkt. Alles andere besorgte deine eigene Vorstellungskraft.« »Aber ich glaube doch gar nicht an Geister oder Gespenster!«, protestierte sie. »Wenn die Worte des Alten eine Drohung darstellen sollten, dann muss man doch selbst auch daran glauben, oder? Wie kann er jemandem etwas suggerieren, wenn der Betreffende durch und durch ein Skeptiker ist?« »Du verstehst noch immer nicht«, erwiderte ihr Mann. »Jeder Mensch ist in einer bewussten Schicht ein Skeptiker. Doch es gibt noch das Unbewusste, das Unterbewusste. Denk doch daran, wie wir alle als Kind an die schrecklichen Dinge in unseren Märchen geglaubt haben. Da können wir uns als Erwachsene noch so rational und vernunftgläubig geben, ein Funken dieser Angst lebt in uns weiter, tief in unserem Innern. Das wissen diese Scharlatane und nützen es aus.« Brenda Weston schüttelte den Kopf. »Das überzeugt mich noch immer nicht. Jetzt erzählte ich dir einmal meine Theorie: Nimm einen Wilden, der keine Ahnung von Feuerwaffen, Schießpulver oder Kugeln hat, zeig ihm eine Pistole oder ein Gewehr und sag ihm, dass er damit totgeschossen werden kann. Er wird es dir nicht glauben. Und doch wissen wir beide, dass es dabei mit rechten Dingen zugeht, auch wenn es für einen Wilden, der es das erste Mal erlebt, wie Zauberei wirken muss. 41
Der alte Mann aus dem Zug war nur Mittel zum Zweck, eben weil hier in diesem Haus etwas nicht in Ordnung ist.« »Noch ein paar von solchen Sätzen und du überzeugst mich auch noch«, erklärte Ron Weston lächelnd. »Ich kapituliere, aber neugierig bin ich, wenn sich dein Gespenst bei mir blicken lässt.« »Du wirst schon noch sehen, wie recht ich habe. Abwarten.« »Es kommt immer darauf an, aus welcher Perspektive man die Dinge betrachtet. Durch ein großes Mikroskop gesehen, kann ein simples Insekt einen furcht erregenden Eindruck machen, aber mit Überlegung betrachtet, merkt man erst, dass da nichts ist, vor dem man Angst zu haben braucht. Morgen werden wir zusammen das ganze Haus durchsuchen.« »Du glaubst wohl nicht im Ernst«, unterbrach sie ihn, »dass du irgendwo in einer Besenkammer einen Geist findest, der nachts herauskommt und herumgeistert.« »Natürlich nicht, Liebling«, erwiderte er lakonisch. »Ich denke vor allem an Plätze, wo sich ein Mensch verstecken kann. Kellerräume, unterirdische Gänge, Brunnenschächte und so fort.« Ron wechselte das Thema und eine Stunde später fuhren sie mit dem Wagen an der Küste spazieren. »Wir werden irgendwo Essen gehen«, schlug Ron vor. »Damit du ein bisschen unter die Leute und auf andere Gedanken kommst.« »Was wird Karin sagen, wenn wir nicht nach Hause kommen?« »Unsere Tochter hat keine Angst vor Geistern«, erwiderte Ron. »Mit sechzehn ist man aus dem Alter schon raus, glaube ich.« Dabei warf er einen verschmitzten Blick auf seine Frau. * Inzwischen war es bereits dunkel geworden und Ron und Brenda hatten noch immer kein passendes Lokal gefunden. Nebel kam vom Meer her und fraß sich in die Landschaft. Die Scheinwerfer zeichneten groteske Figuren in die Nebelwand. Brenda Weston hatte sich aufgerichtet und das Seitenfenster geöffnet. Sie lehnte aus dem Wagen und starrte geradeaus. 42
»Eine Laterne!«, rief sie plötzlich. Rechts von der Straße hing ein gelber Fleck. Ron fuhr auf ihn zu, doch der Fleck schien sich immer weiter zu entfernen. »Diesen verflixten Nebel kann ich nicht ausstehen«, schimpfte Ron Weston. »Auf uns scheint er es ja besonders abgesehen zu haben.« Eine halbe Stunde lang jagten sie dem gelben Fleck nach, dann waren sie plötzlich da. Fast zu plötzlich. Ron wäre fast in das Haus hinein gefahren, an dem die Laterne hing. Wie ein Luftballon schwebte sie über dem Kühler des Wagens. Ein alter Landgasthof, groß und breit hingesetzt. Ein uralter Baum vor dem Eingang, ein schmiedeeisernes Wirtshausschild mit einem Seeungeheuer. Ron fuhr um das Haus und parkte den Wagen. Dann betraten sie die Gaststube. Ein weiter Raum mit holzgetäfelten Wänden und einer niedrigen Decke, geschwärzt vom Pfeifenrauch vieler Generationen. Ron gefiel es hier. Einige Männer standen an der Theke und waren in ihren Whisky vertieft. Auf einem Sims und auf einer riesigen Anrichte standen eine Reihe alter Zinngefäße. Ron Weston nahm sich vor, sich später vom Wirt die Zinnschlägermarken zeigen zu lassen. »Hier in der Gegend bekommt man vielleicht noch ein gutes Stück zu einem vernünftigen Preis«, sagte er. »Ein Teller oder ein Krug bringt eine schöne Summe.« Ron und Brenda setzten sich in die gemütlichste Ecke der Gaststube. Auf dem Tisch stand ein Hirsch, ein kapitaler Sechzehnender aus Bronze. Sein Geweih trug ein Geflecht aus Messingbuchstaben. Mit zusammengekniffenen Augen gelang es Ron Weston, das Wort ›Stammtisch‹ zu entziffern. »Sonst sitzen hier die Jäger bei ihren Schoppen«, nahm er an. »Hoffentlich passen Sie heute auf die Wilderer auf, sonst müssen wir den schönen Platz räumen.« Der Wirt, ein riesiger rotbärtiger, derber, echter Angelsachse, schlurfte heran und erkundigte sich nach ihren Wünschen. 43
»Was gibt es denn zu essen?«, fragte Ron. Es gab Rehragout, Lammsteak und Schweinebraten. Sie entschieden sich für Steak. Ron bestellte eine Flasche Rotwein aus Deutschland. Einen Mosel, den der Wirt sehr empfahl. Der Wein war wirklich ausgezeichnet und während sie auf das Essen warteten, las Ron die Schlagzeile in der Zeitung.
Monster tötet Schafe Darunter stand: John McGriffiths, Schaffarmer von Kilbridge, am Rande des Acklammoors, verlor gestern vier Schafe. Ein brutales, blutrünstiges Untier riss den Tieren die Kehle auf. Es muss sich um ein katzen- oder löwenähnliches Tier handeln, das vermutlich einem Zirkus oder Zigeunern entkommen ist. Letzte Nacht wurde auch eine junge Frau von einem Schatten geängstigt, der aus einem Dickicht sprang, als sie ihren kleinen Hund spazieren führte. Die Frau beschrieb dieses ›Etwas‹ als viel zu groß für einen Löwen. Nach ihrer Aussage hatte es einen dicken dunklen Pelz. Die Frau ist davon überzeugt, dass es sich bei dem Moormonster um einen Bären handelt. Noch hat die Polizei nicht herausgefunden, ob der tote Landarbeiter, den man eine Woche zuvor ebenfalls am Rande des Moors fand, auch ein Opfer des Monsters wurde. Brenda Weston entriss ihrem Mann die Zeitung. »Da siehst du also, welche Ungeheuer sich hier in der Gegend herumtreiben«, sagte sie empört. »Dieser Landarbeiter wurde gar nicht weit von Kilmoore ermordet.« »Jetzt übertreibst du aber wieder gewaltig«, entgegnete Ron und trank einen Schluck Wein. »Nirgends steht, dass er ermordet wurde.« »Aber das liegt doch klar auf der Hand.« »Nun mal langsam«, wehrte Ron ab. »Das sind doch alles bloß Vermutungen, ebenfalls der Zeitungsbericht. Bis jetzt weiß doch niemand etwas Genaueres. Wir werden den Wirt danach fragen. Bin neugierig, welche Meinung er davon hat.« Zwei Männer an der Theke unterhielten sich so lautstark, dass Brenda und Ron die Diskussion mit anhören konnten. 44
»Jetzt reden Sie Unsinn«, sagte einer der Männer. »Sie haben das Monster doch nicht gesehen. Aber ich kenne einen, der hat es schon vor Jahren gesehen. Es hat ein dickes Fell, glaube ich, große Klauen, so ungefähr.« Der Mann bog seine Finger wie Katzenkrallen. »Halb Mensch, halb Tier, jawohl! Wenn es will, sagen manche, kann es sich unsichtbar machen. Vielleicht haben wir es schon alle einmal gesehen. Ich werde heute die Augen offen halten, vielleicht begegne ich dem Monster.« Die Männer lachten, dann wandten sie sich wieder ihrem Whisky zu. Der Wirt kam mit dem Essen aus der Küche. Er balancierte ein riesiges Tablett um die Theke herum, wich ein paar Stühlen aus und erreichte keuchend den Tisch, an dem Ron und Brenda saßen. »Ich habe soeben gehört«, begann Ron, »hier in der Gegend soll es ein Monster geben.« Der Wirt lachte. »Sie dürfen nicht alles glauben, was hier erzählt wird. Sobald die Leute etwas vom Moor hören, bekommen sie es mit der Angst zu tun und wärmen alte Legenden auf. Warum soll es nicht auch Verrückte geben, die Schafe töten und ein Geheimnis daraus machen? Wenn jemand im Moor tot aufgefunden wird, dann wird immer ein Monster dafür verantwortlich gemacht.« »Aber es steht doch auch in der Zeitung«, erinnerte Brenda Weston den Wirt. »Glauben Sie nur nicht, was da drinnen steht, Ma'am«, sagte er und grinste breit. »Kinder und Zeitungen erfinden Geschichten von Monstern und treten sie mit Genuss breit.« »Sehr vernünftige Ansichten«, bemerkte Ron, als der Wirt wieder gegangen war. »Bleib mal schön auf dem Teppich. Bloß Gerede, sonst nichts.« Das Essen schmeckte ausgezeichnet. Nach der zweiten Flasche Wein vergaß Brenda die Monster und Geister und gab sich ungezwungen. Erst viel später wurde sie wieder von einer merkwürdigen Angst heimgesucht. Der Grund war ein alter schäbiger Hut, der auf einem 45
Kleiderhaken hing. Er kam ihr bekannt vor. Hatte der Mann im Zug nicht auch so ein Ding auf dem Kopf gehabt? Auf der anderen Seite des Gastzimmers sah sie einen Mann. Er war unbestimmten Alters, schwarz gekleidet, spitznasig und mit einem wettergegerbten Gesicht. »Ron!«, rief sie erschrocken und fasste nach seiner Schulter. »Dort drüben am Tisch sitzt der seltsame Alte aus dem Zug.« »Wo...?« Ron schaute in die Richtung, in die seine Frau wies, konnte aber niemanden entdecken. »Dort drüben sitzt doch niemand.« Brenda musste sich eingestehen, dass Ron recht hatte. Niemand saß jetzt am Tisch. »Ich glaube, der Wein ist dir zu Kopf gestiegen.« »Aber ich habe ihn ganz deutlich gesehen. Merkwürdig...« »Ist schon gut«, erwiderte Ron. »Ich glaube, wir fahren jetzt nach Hause, ehe du noch mehr Geister siehst. Morgen denkst du anders darüber.« Vor lauter Monstergeschwätz vergaß Ron völlig, sich vom Wirt die Zinnschlägermarken zeigen zu lassen. * Weder Ron noch Brenda erwähnten am anderen Morgen etwas von dem Mann im Lokal. Nach dem Frühstück untersuchten sie das Haus gründlich, konnten aber nichts Verdächtiges entdecken. Es gab keine Geheimgänge, keine dunklen Verliese, weder Falltüren, noch verborgene Räume. Und doch waren sie nicht sicher, ob es nicht irgendwo eine Geheimöffnung gab, durch die man ins Innere des Hauses gelangen konnte. Aber das war natürlich reine Phantasterei. Zum Schluss ging Ron Weston zum Dachboden. »Ich mag dort nicht hinauf«, sagte Brenda. »Warum nicht?« Er sah sie eine Weile an. »Was ist denn?«, fragte er dann. 46
Sie drehte verlegen an einem der funkelnden Ringe, die ihre Hand schmückten. »Ach - nichts. Ich habe nur vorgestern Geräusche oben gehört. Das machte mir Angst.« »Was für Geräusche?«, fragte Ron. »Vielleicht war es ein Vogel auf dem Dach, oder eine Maus...« »Nein, es muss mit der Holzpuppe zusammenhängen«, antwortete Brenda. »Es war, als hätte sie ihre langen hölzernen Finger bewegt. Und da bekam ich es mit der Angst zu tun.« Ron konnte an der Figur nichts Auffallendes entdecken. Er glaubte zuerst, es wäre ein Automat, wie sie um die Jahrhundertwende sehr häufig für alle möglichen Zwecke gefertigt wurden. Aber die Puppe war kein konstruiertes Maschinenwesen, kein Automatenmensch, wie er bereits in der Antike existierte. »Das wusste ich gar nicht, dass es solche beweglichen Figuren schon damals gegeben hat«, sagte Brenda Weston. »Ja, es waren richtige Kunstwerke, die aus Holz oder Metall gefertigt waren und deren Bewegungen sich ohne menschliche Hilfe vollzogen«, erwiderte ihr Mann. »Schon als Kind hatte der spätere König Ludwig der XIV mit mechanischem Spielzeug gespielt. An den europäischen Höfen wurde vornehmlich mit Automaten gespielt, die reine Maschinen waren. Es gab Zauberer, die Antworten auf verschiedene Fragen gaben. Tiere in Lebensgröße, in so gelungener Nachahmung hergestellt, dass die Zuschauer getäuscht wurden. Es gab Hunde, die bellten, Vögel, die sangen und Enten, die schnatterten.« »Dann ist der Roboter keine Erfindung der Neuzeit?«, fragte Brenda. »Nein, keinesfalls«, erwiderte Ron. »Schon Prometheus in der Antike hatte klare Vorstellungen von einem automatischen Menschen. Griechen und Römer konstruierten schon bewegliche Figuren. Denk zum Beispiel an die Forschungsberichte der Alchimisten, an Paracelsus, der den künstlichen Menschen erschaffen wollte. Oder da gibt es die Spekulationen und Legenden der Gnostiker und Kabba47
listen, die sich immer schon mit dem Problem beschäftigten, wie Adam erschaffen wurde. Das Bestreben, den Menschen als Automaten nachzubauen, menschenähnliche Wesen zu konstruieren und sich als Schöpfer aufzuspielen, war immer schon vorhanden. Daran ist nichts neu.« Brenda nickte. »Stimmt«, sagte sie. »Ich habe da mal ein Buch gelesen, in dem aus Lehm ein Golem, ein künstlicher Mensch, geschaffen werden sollte. Frankenstein war doch auch so etwas Ähnliches, nicht wahr?« »Sehr richtig«, bestätigte Ron Weston. »Frankenstein war eine der letzten großen Horrorfiguren der literarischen Gotik. In ihm sind alle Motive und Momente des Phantastischen enthalten, einschließlich der Wunschvorstellung, Gott das Geheimnis zu entreißen, wie man einen Menschen herstellt.« »Dann sind ja die Rechenmaschinen und Computer bloß eine Parallele zu den künstlichen Wesen«, sagte Brenda. »Ja«, antwortete ihr Mann. »Neben dem Automaten-Menschen gab es auch Rechenmaschinen. Sie berechneten nicht nur astronomische Zahlen und Schifffahrts-Tabellen, sondern besaßen obendrein die Kraft, mögliche Irrtümer zu korrigieren.« »In der Mitte des siebenten Jahrhunderts«, fuhr Ron in seinem Bericht fort, »gab es einen automatischen Schachspieler, der so phantastisch funktionierte, dass viele Leute der Ansicht waren, ein Zwerg sitze in der Maschine und spiele gegen den jeweiligen Gegner. Aber es war tatsächlich nur ein Apparat. Die besten Schachspieler der damaligen Zeit versuchten vergeblich gegen den Automaten zu gewinnen. Das war schon ein Vorläufer des heutigen Computerschachs, bei dem auch immer nur die Maschine gewinnt, wenn man nicht gerade ein Schachgenie ist. Aus diesen anfänglichen Spielereien entwickelten sich im Laufe der Jahrhunderte nützliche Dinge. Wie zum Beispiel die Uhr. Sie ist ein Instrument zwischen Mathematik und künstlichem Leben. Wahrscheinlich ließen sich diese Fälle x-beliebig fortsetzen.« »Schade«, flüsterte Brenda nachdenklich, »dass diese Holzpuppe kein Spielzeug einer versunkenen Epoche ist!« 48
»Wieso einer versunkenen Epoche?«, echote Ron. »Heute werden genauso künstliche Wesen hergestellt. Der Unterschied besteht nur darin, dass der reintechnisch konstruierte Roboter, der menschliche Verrichtungen erledigt, längst der Vergangenheit angehört. Die Versuche, die heute von den Kybernetikern und Biochemikern ausgehen, befassen sich nicht mit simplen Konstruktionen, sondern sie wollen den vollkommenen künstlichen Menschen, dessen sämtliche physischen und physiologischen Reaktionen vorauszuberechnen und zu beeinflussen sind. In Ost und West versucht man, lenkbare Menschen zu produzieren, die manipulierbaren Sklaven gleichen, die nur noch rein äußerlich mit dem herkömmlichen Menschen Ähnlichkeit haben.« »Glaubst du, dass so etwas möglich ist - oder werden könnte?« »Durch die wissenschaftlichen Erfolge, die man mit Transplantationen, Gen-Manipulation, plastischer Chirurgie und Datenverarbeitung erzielt hat«, sagte Ron, »ist es heute durchaus möglich, Retortenroboter zu erschaffen. Die Konsequenzen dieser Versuche sind noch nicht abzusehen. Aber vor dieser Puppe hier brauchst du keine Angst zu haben. Sie ist weder eine Maschine noch ein Geist. Sie ist nur ein toter Gegenstand.« Brenda Weston starrte eine Weile auf die Schneiderpuppe. Jetzt fiel ihr auf, dass sie anders stand als früher. Die Figur sah jetzt nicht zur Tür, sondern zur Mauer hin. Täuschte sie sich, oder hatte sie ihre Stellung tatsächlich verändert? Brenda merkte sich die genaue Position der Puppe und verließ dann zusammen mit ihrem Mann den Dachboden. »Wenn eine Alarmanlage im Haus wäre«, sagte sie zu Ron, »dann könnte niemand das Haus unbemerkt betreten oder verlassen.« »Das kostet ein Heidengeld und vollkommen sicher ist es auch nicht«, wehrte er ab. »Wer soll denn hier schon einbrechen? Geister machen sich nicht das Geringste aus Alarmanlagen«, setzte Ron vergnügt hinzu. »Ich glaube, wir brechen unsere Expedition ab. Jetzt siehst du ja selbst, dass du dir alles nur eingebildet hast.« »Das waren keine Einbildungen«, erwiderte sie entschieden. »Du wirst es schon noch selbst sehen.« 49
»Du mit deiner Geisterfurcht«, entgegnete Ron. »Reden wir jetzt einmal von vernünftigen Dingen. Morgen kommt der Fernseher und dein Mietauto. Das bringt dich sicherlich auf andere Gedanken. Karin hat gestern Abend nichts Außergewöhnliches im Haus gehört. Jetzt, wo wir alle hier sind, werden sich die Gespenster bestimmt ordentlich benehmen, davon bin ich überzeugt.« * Eine Woche war vergangen, ohne dass sich etwas ereignete. Ron triumphierte natürlich und Brenda konnte einfach nicht glauben, dass der Spuk vorbei war. Jetzt sah alles so nüchtern und alt gewohnt aus. War wirklich alles nur eine Nervenüberreizung gewesen? Sie glaubte es schon bald selbst. Allmählich kam sie zu der Überzeugung, dass sich alles nur in ihrer Phantasie abgespielt hatte und dass es diese Erscheinungen gar nicht gab. Mit Schrecken wurde der Amerikanerin plötzlich klar, dass der ganze Spuk nur in ihrer Vorstellung entstanden war. Wenn es sich so verhielt, dann war sie seelisch krank. Das einzige Vernünftige, was sie tun konnte, war zu einem Psychiater zu gehen. Aber das wollte sie auch nicht. Sie hatte nicht viel Vertrauen zu diesen Burschen. Einmal war sie vor langer Zeit mit ihrer Schwester bei so einem Kerl gewesen. Aber der hatte bloß geredet, sie ausgefragt und herausgekommen war nichts. Um sich abzulenken, fuhr Brenda Weston mit ihrem Mini viel in der Gegend herum. Manchmal kam auch Karin, ihre Tochter, mit. Meistens war sie aber alleine unterwegs. Der Ort, in dem die Amerikanerin diesmal gelandet war, hieß Coldfield und sah recht romantisch aus. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße wirkten sauber und gepflegt. Ihr tat es leid, dass sie keine Kamera mit hatte. Sie musste sich unbedingt eine zulegen und ein paar Bilder schießen. Das Rathaus und die Kirche waren die höchsten Punkte der Ortschaft. Eine breite Steintreppe führte zu dem alten Gebäude empor. 50
Brenda Weston parkte ihren Wagen und war ganz froh darüber, einige Schritte laufen zu können. In einem Lebensmittelgeschäft kaufte sie sich ein paar belegte Brote und spazierte in der Gegend herum. Mittlerweile war es Nachmittag geworden und auf der Hauptstraße, die durch den Ort führte, herrschte sogar Betrieb. Hintereinander kamen drei Lastwagen, zwei Omnibusse mit Touristen, denen eine Schlange von Autos folgten. In den kleinen Einzelhandelsgeschäften standen die Hausfrauen, kauften ein und hielten ihren Schwatz. Kinder spielten auf den Bürgersteigen oder fuhren Rad. Eine friedliche Welt, unter deren Oberfläche es jedoch brodelte. Brenda Weston bemerkte es an den Blicken der Menschen. Sie waren ängstlich, scheu, zurückhaltend. Es war, als bedrücke eine bestimmte Schwermut diese Leute, die sie stumm wie Fische werden ließ. »Der Friedhof liegt nicht weit von hier entfernt«, erwiderte eine alte Frau auf die Frage der Amerikanerin. »Es sind höchstens zweihundert Yard, immer geradeaus.« Brenda nickte und schlenderte dann weiter. Den Friedhof wollte sie sich gern ansehen. Sie hatte immer schon eine Vorliebe für Gottesäcker gehabt. Die Straße wurde schmaler. Die Häuser standen weiter auseinander. Gärten waren zwischen den Gebäuden angelegt. Manch Fleißiger war dabei, Unkraut zu jäten oder Beete zu ziehen. Von hier aus konnte sie bereits den Kirchturm erkennen. Er war im gotischen Stil erbaut. An den rotbraunen Quardersteinen wuchs das Moos. Das Glas der hohen Fenster war mit Symbolen aus der Kirchengeschichte bemalt. Als Brenda Weston den Blick hob, sah sie bis zum Turm hoch und konnte durch die Scharten die Umrisse einer schweren Glocke erkennen. Ein kräftiger Efeustamm versuchte den Turm zu erreichen, aber es würden noch Jahre vergehen, ehe die Pflanze das Ziel erreicht hatte. An der Westseite des Kirchplatzes begann der Friedhof. Eine Mauer schützte die Gräber vor Blicken. Trauerweiden und andere Bäume breiteten ihre Äste bis weit über die Umzäunung aus und berührten fast den Boden. 51
Einige Grabsteine hatten die Form eines Obelisken, andere waren quadratische Blöcke. Es gab nur wenige kreuzförmige Steine, auch Grabhügel fehlten völlig. Der Friedhof war in einer Ringform angelegt. Manche Steine waren über 250 Jahre alt. Versunken las Mrs. Weston die Inschrift eines Grabsteins, als sie plötzlich jemand ansprach. Die Stimme war krächzend wie ein Rabe. »Haben Sie auch jemanden, der hier schläft?« Brenda Weston blickte in das Gesicht einer alten Frau, deren schwarze Augen in dem olivefarbenen Gesicht so unergründlich waren wie Sumpflöcher bei Nacht. »Nein«, erwiderte die Amerikanerin, »ich bin nicht von hier.« »Hier hat man seine Ruhe, nicht wahr?«, krächzte die alte Frau. »Die Welt von draußen ist ausgesperrt und die meisten Leute scheuen den Friedhof, als würden sie unsterblich sein. Ist es nicht so?« Brenda wollte etwas erwidern, aber sie konnte nur mit dem Kopf nicken. »Wir alle sind nur Papierfiguren«, nahm die alte Frau das Gespräch wieder auf. »Eines Tages reißt die Hülle, dann legen wir die Hüte ab, setzen Schlafmützen auf und legen uns hier nieder. Ob und wann wir wieder aufstehen, das weiß nur der da oben.« Sie zeigte mit dem Finger zum Himmel und schlurfte davon. Der Nachmittag ging seinem Ende entgegen. Ein frischer Seewind schob Wolken vor sich her. Irgendwo raschelte es im Gebüsch. Dann huschte eine schwarze Katze dicht an Mrs. Westons Füßen vorbei. »Sie brauchen sich nicht zu beeilen«, sagte die krächzende Stimme wieder. Sie war lautlos herangeschlichen wie ein Phantom. Brenda fuhr zusammen. »Wir schließen erst um sechs.« Die alte Frau folgte der Amerikanerin in einem Schritt Abstand. Ein Plattenweg führte zur Kirche. Rechts und links von den Platten war feiner Kies gestreut. Er war frisch geharkt, man sah es deutlich. Die roten Ziegelsteine des Pfarrgebäudes leuchteten. Die Tür war aus schwerem Eichenholz. Hinter den Fenstern blitzten helle, freundliche Gardinen. Brenda Weston blieb stehen und wandte sich um. Von 52
der alten Frau war nichts mehr zu sehen. Sie trat den Rückweg an und fuhr nach Kilmoore zurück. So verging ein Tag wie der andere. Von dem Gespenst war nichts zu sehen oder zu hören. »Ich brauche eine Kamera«, sagte Brenda zu ihrem Mann. »Eine Kamera?«, wiederholte er verwundert. Ron tat gerade so, als hätte sie den Wunsch geäußert, zum Mars zu fliegen. »Wozu brauchst du so ein Ding?« »Damit etwas Abwechslung in mein Leben kommt«, verteidigte sich Brenda. »Karin büffelt den ganzen Tag, du bist bei deiner Arbeit und ich habe nichts zu tun.« »Ach so«, sagte Ron gedehnt. »Du willst unter die Kunstfotografen. Welches Material bevorzugst du denn?« »Aussichtspunkte, Panoramen, gotische Kirchen, Moore, Klippen und einsame Dörfer.« »Das ist ja ein ganz schönes Programm«, erwiderte Ron. »Daraus wird noch eine schottische Rhapsodie.« Er versprach ihr, eine Kamera zu besorgen. »Hast du gewusst, Mam«, sagte Karin, »dass viele Felsen in Norwegen versteinerte Riesen sind?« »Nein, das wusste ich nicht, mein Kind«, erwiderte Brenda. Eine Weile schwieg Karin, ein typisches amerikanisches Girl, dann sagte sie: »In Norwegen stellt man eine Schüssel Milch hin.« Brenda Weston war einen Augenblick verblüfft. »Schüssel Milch?« »Für den Haustroll«, fuhr das Mädchen ruhig fort. »Dann ist er nicht so bösartig.« »Wovon sprichst du überhaupt?«, fragte sie ihre Tochter. »Was ist ein Troll?« Karin biss seelenruhig in eine Praline. »Eine Art Märchenkerl«, erwiderte sie. »Ganz klein. Zuweilen sind sie auch ganz groß. Kommen ins Haus und erschrecken Leute. Sie sind böse. Und ganz hässlich. Das habe ich in einem Buch gelesen. Vielleicht sollten wir es einmal ausprobieren.« 53
Brenda fragte sich, ob Karin auch schon etwas gehört habe, weil sie dieses Thema angeschnitten hatte. Aber sie erwiderte dann doch nichts, sondern schenkte ihrer Tochter nur ein leeres Lächeln. Am nächsten Tag kam Ron erst gegen Mitternacht von der Arbeit zurück. Schon auf der Auffahrt zum Haus glaubte er im Obergeschoß ein huschendes Licht zu sehen. Sonst waren die Zimmer dunkel, bis auf etwas Helles, das an der Innenseite des Fensters entlang strich. Einbrecher, dachte Ron Weston sofort. Er parkte den Wagen vor dem Haus und sah nach oben. Da war der schwache Lichtschein wieder. Auf Zehenspitzen schlich sich Ron ins Haus. Er war überrascht, als Brenda und Karin im Wohnzimmer vor dem Fernseher saßen. Er berichtete von dem Lichtschimmer, aber keiner der Damen war oben gewesen. »Merkwürdig, dieses mysteriöse Flakkern«, murmelte er. »Jemand muss sich in den Zimmern herumtreiben.« Brenda lief es eiskalt über den Rücken. Die alte Angst kam wieder in ihr auf. Irgendwo draußen heulte ein Hund. Sie wusste nicht, dass Timmy immer jaulte, wenn sich der Unheimliche von Kilmoore herumtrieb. »Ich werde einmal nachsehen«, sagte Ron und eilte die Treppe hoch. Im selben Augenblick unterbrach ein dünner Klang die Stille. Karin sprang von ihrem Sessel hoch. »Zwölf Uhr!«, rief sie aus. »Geisterstunde...« Im gleichen Augenblick erlosch das Licht. Brenda Weston sprang hoch und starrte entsetzt in die Dunkelheit. Ron riss ein Streichholz an. »Hast du eine Kerze?«, fragte er. »Ich habe welche gesehen«, antwortete Brenda. »Aber ich weiß nicht, wo.« Das Zündholz erlosch und Brenda tappte in der Dunkelheit umher. Ron riss ein neues Stäbchen an. Doch das Licht war viel zu schwach, um etwas sehen zu können. 54
Mit beiden Händen tastete Brenda die Wandregale ab und schob sich weiter. Plötzlich stockte ihr Herzschlag. Hinter dem Vorhang stand jemand. Sie war auf den Fuß des Fremden getreten. Ihr Herz pochte - raste. Brenda wagte nicht, ihre Hände zurückzuziehen. Sie tastete weiter, aber es war kein warmer, weicher Körper, sondern kalt und hart wie Beton. Die Gestalt reagierte überhaupt nicht auf die Berührung. Sie stand direkt vor Brenda. Ihre Sinne verwirrten sich. Wo war die Person hergekommen? Was suchte sie hier? »Ron!«, schrie sie. »Komm schnell, hier ist jemand!« »Was ist los? Hast du schon eine Kerze?« »Hier ist jemand«, schrie Brenda zurück. »Schnell!« Brenda brach in Panik aus. Endlich hörte sie Rons Schritte über die Treppe poltern, aber noch ehe er sie erreicht hatte, stellte sie mit Entsetzen fest, dass ihre Hände die Finger eines Skeletts umspannten. Brenda Weston stieß einen spitzen Schrei aus. »Mein Gott, Liebling, was ist denn los?« Ron konnte seine Frau gerade noch rechtzeitig auffangen, ehe sie in Ohnmacht fiel. »He, komm zu dir!«, rief er und tätschelte ihr Gesicht. Brenda rührte sich wieder. »Halte dich an mir fest«, sagte Ron. »Ich mache mal Licht.« Er riss ein Streichholz an und hob es in die Höhe. Aus der Dunkelheit schälte sich eine Gestalt. Erst jetzt erkannte Ron, dass es sich gar nicht um einen richtigen Menschen handelte, sondern lediglich um die Holzpuppe, die auf dem Dachboden gestanden hatte. Karin konnte schließlich ihre Mutter beruhigen. Sie hatte die Ankleidepuppe hierher gestellt. Sie wollte sie in ihr Zimmer bringen, da aber etwas dazwischengekommen war, ließ sie sie hinter dem Vorhang stehen. Kurz danach ging auch das Licht wieder an. Ron untersuchte alle Räume, aber er konnte nichts entdecken, was auf die Anwesenheit einer Person hingewiesen hätte. 55
»Ich bin alles andere als abergläubisch«, sagte Ron Weston, als er alle Räume inspiziert hatte. »Aber das mit dem Licht ist mir ein Rätsel. Im Haus kann sich niemand verstecken. Wir haben doch alles abgesucht.« »Wenigstens hast du jetzt auch einmal etwas erlebt, das nicht real ist«, sagte Brenda zu ihrem Mann. »Sonst glaubt ihr beide wirklich, ich wäre verrückt...« * Zwei Tage nach dem Vorfall mit der Puppe begann Brenda ihren ersten Film zu verknipsen. Sie schoss ein paar Aufnahmen vom Haus und entdeckte dabei ein uraltes verfallenes Gebäude, das sich hinter dem Haus befand. Alles war dicht von Efeu umwachsen. Es war schwer zu sagen, welchen Zweck es einmal gehabt hatte, aber es konnte ebenso gut eine Kapelle gewesen sein. Nun pfiff der Wind vom Meer durch die Ruine. Aus den Steinritzen wucherte das Unkraut. Der runde Innenraum war mit meterhohen Disteln und Gras überwachsen. Ein Ort, an dem sich die sprichwörtlichen Füchse und Hasen gute Nacht sagen, dachte Brenda. Sie blickte sich um. Kein Schmetterling, kein Käfer, kein Vogel und keine Biene flog in der Luft. Rundum herrschte Totenstille. Brenda Weston schüttelte ein unheimliches Gefühl ab, das sie plötzlich überkam. Sie wusste nicht, warum ihr kalt wurde. Der Wind hatte die weißen Wattewolken verjagt und der Sonne Platz gemacht. Der graue Stein schimmerte in einem milden Gold. Doch etwas Merkwürdiges lag über allem, das ein Gefühl der Angst hervorrief. Brenda zog ihr Stativ auseinander und stellte es auf. Sie wollte eine Aufnahme vom Meer machen. Sie richtete die Kamera ein und postierte sich dann neben dem einzigen Fenster, dessen steinerne Einfassung noch erhalten war. Der Selbstauslöser machte ›Klick‹ und die romantische Erinnerung war verewigt. Sonst gab es hier nichts mehr zu fotografieren. Sie schlüpfte durch das Dickicht nach draußen. 56
Nach dem Mittagessen setzte sich Brenda ins Auto, um noch ein paar Motive für ihren ersten Film zu finden, anschließend gab sie die Rolle zum Entwickeln. »Etwas scheint mit Ihrem Fotoapparat nicht in Ordnung zu sein«, sagte der Mann hinter dem Ladentisch, als Brenda Weston die Bilder abholte. »Bringen Sie einmal die Kamera mit. Vielleicht ist sie defekt.« »Wieso?«, fragte Brenda verwundert. »Sie selbst sind auf einem Bild sehr scharf«, sagte der Mann, »aber die zweite Person ist völlig unscharf. Fast nur angedeutet.« Brenda hatte nur eine einzige Aufnahme mit Selbstauslöser gemacht - die bei der Ruine. Aber da war doch niemand außer ihr gewesen. Sie nahm die Bilder und die Rohabzüge aus dem Umschlag und betrachtete sie. Da stand sie neben dem Bogenfenster und lächelte in die Kamera. Eine Sekunde später hätte sie fast das Bild fallen lassen. Neben ihr im Fenster war die Gestalt eines Mannes zu sehen. Er lehnte schräg im Rahmen und sah Brenda an. Seine Züge waren verwischt und auch die Umrisse seines Körpers verschwammen im Hintergrund. Es war eine derbe, gedrungene Gestalt. »Bringen Sie Ihre Kamera mit, dann kann ich das Übel vielleicht beseitigen«, sagte der Mann wieder. Mrs. Weston nickte bloß und verließ das Geschäft. Ihr war die Sache unheimlich. Sie war allein in der Ruine gewesen. Als der Selbstauslöser klickte, war der Fensterrahmen so leer wie ein Schiff am Meeresgrund gewesen. Darauf ging sie jeden Schwur ein. »Merkwürdig ist es auf jeden Fall«, sagte ihr Mann, als sie ihm das Bild zeigte. »Aber es kann auch eine ganz einfache Erklärung dafür geben. Während du in die Kamera blicktest, hat sich irgendein Fremder den Jux gemacht, sich neben dich zu stellen. Nach dem Klicken des Selbstauslösers hat er sich dann stillschweigend fort geschlichen. So wird es wahrscheinlich auch gewesen sein.« »Und wer könnte der Mann sein?«, fragte Brenda zweifelnd. »Irgend jemand«, antwortete Ron und zuckte mit den Schultern. »Ein Schäfer, ein Hausierer, ein Tourist. Es gibt da eine Menge Möglichkeiten.« 57
»Und die Unschärfe?« »Reiner Zufall. Wahrscheinlich hat der Kerl nicht ruhig gestanden. Bestimmt war er nervös und dachte, du könntest ihn bemerken.« »Ich glaube, dass es ein Geist ist«, mischte sich Karin ins Gespräch. »Der Kerl sieht ganz nach einer Spukgestalt aus.« »Und weshalb bist du da so sicher?«, wollte Ron von seiner Tochter wissen. »Was soll's denn sonst sein?« Dann wurde über die Sache nicht mehr gesprochen. Am nächsten Tag schlüpfte Brenda wieder in die Ruine. Vielleicht fand sie Hinweise auf ihr rätselhaftes Fotomodell. Wieder spürte sie die eigenartige feindliche Umwelt. Der nie ruhende Wind, die seltsame Atmosphäre, die über allem lag. Sie trat ans Fenster heran. Nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Keine Spuren, weder innerhalb, noch außerhalb der Ruine. Brenda hob die Kamera und ließ sie dann erschrocken fallen. Nur der Riemen bewahrte sie davor, dass sie auf dem Boden auffiel. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Sie atmete kaum. Eine Hand hatte ihre Schulter berührt. Langsam drehte sie sich um. Sie spürte die Hand nicht mehr. Vor ihr lag nichts. Niemand war zu sehen. Rasch ging sie ein paar Schritte bis zur Mauer, hinter der sich der Durchschlupf befand. Auch hier war niemand. Keine Bewegung. Kein Laut. Nur der Wind wehte durch die Öffnung des verfallenen Gebäudes. Der Kuckuck soll diese Gespenster holen! Brenda stellte ihre Kamera auf und den Selbstauslöser ein. Dann postierte sie sich wieder ans Fenster. Sie war gespannt, ob die Gestalt sich wieder zeigen würde. * 58
»Der Film liegt offenbar nicht richtig im Bildfenster an. Die Person neben Ihnen ist wieder unscharf«, sagte der Mann im Geschäft. »Haben Sie den Apparat bei sich?« Während der Mann die Kamera untersuchte, vertiefte sich Brenda in die Bilder. Wieder war sie nicht allein auf der Aufnahme. Hinter ihr zeichneten sich die Umrisse einer Gestalt ab. Wieder war er verschwommen. Aber diesmal war er nicht in der Ruine, sondern außerhalb. Brenda Weston bekam eine Gänsehaut. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Kein Mensch war in der Nähe gewesen, als sie das Bild aufgenommen hatte. Dann war es also doch eine Spukerscheinung! »Das verstehe ich nicht«, sagte der Mann, die Kamera in der Hand haltend. »Am Apparat ist alles in Ordnung. Vielleicht liegt es am Film. Nein, das kann es auch nicht sein.« Es folgte noch ein technischer Lernkurs für optische Geräte, dann war auch seine Weisheit erschöpft. Ron machte ein ziemlich betretenes Gesicht, als er die neue Aufnahme sah. Es schien das erste Gespenst zu sein, das sich für Fotografie interessierte und jede Gelegenheit wahrnahm, sich auf den Film bannen zu lassen. Hier begann die Sache merkwürdig zu werden. Jetzt glaubte Ron schon bald selbst an Gespenster. Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und ging mit Brenda in die Ruine. Während er an verschiedenen Stellen per Selbstauslöser von sich und seiner Frau Bilder schoss, schielte er aus den Augenwinkeln nach allen Seiten, um den ungebetenen Modellsteher zu überraschen. Ron sah nichts. Dafür entdeckte er etwas anderes. Unter Brennnesseln und Unkraut in der Ecke des Raumes befand sich ein Loch, in dem eine verfallene Stufe zu sehen war. »Das kann der Eingang zu einem unterirdischen Verlies sein«, sagte er. »Aber das ist ja alles schon seit Jahrzehnten verschüttet. Da kommt niemand mehr hinein.« Er rüttelte mit der Hand am Stein, aber die Stufe war so fest, als wäre sie ein Teil des Hügels. 59
»Ein Rattenloch«, sagte Ron, »sonst nichts.« Die Sonne schien beiden direkt ins Gesicht und blendete sie. Trotzdem sahen sie den dunklen Schatten, der blitzschnell durch den Innenraum der Ruine huschte und in der Mauer verschwand. Ron raste hinter der Erscheinung her. Aber als er die Mauer erreicht hatte, war niemand mehr zu sehen. »Hallo - hallo, ist da jemand?« Nur das Echo seiner eigenen Stimme antwortete. »Vielleicht war es eine Möwe, die hier vorüber flog und den Schatten erzeugte«, sagte Brenda. Ron war nicht der gleichen Meinung. Er nahm den Film diesmal selbst mit und ließ ihn in einem anderen Ort entwickeln. Auf allen Bildern war wieder die schemenhafte Gestalt des Mannes zu sehen. »Das scheint ja tatsächlich ein Gespenst zu sein«, murmelte Ron, während er die Bilder betrachtete. »Am besten ist, du gehst nicht mehr dorthin.« * Trotz des Regens fuhr Brenda am nächsten Tag nach Lancashire zu Mr. Scott. Als sie in der Ortschaft ankam hatte der Himmel den Wasserhahn wieder geschlossen. Die letzten Regentropfen träufelten geruhsam auf das Autodach, als sie aus dem Wagen stieg. Kurz darauf hatte sie das Haus des Geisterforschers gefunden. Mr. Scott war ein kleiner drahtiger Mann in den Sechzigern. Er war einst Oberst in der britischen Armee in Rhodesien gewesen. Nach seiner Pensionierung hatte er lange mit afrikanischen Stämmen zusammengelebt und die afrikanischen Zauberdoktoren und ihre Methoden ziemlich gründlich studiert. Dabei war ihm auch die Idee gekommen, sich um die englischen Spukhäuser zu kümmern. Er gründete eine parapsychologische Gesellschaft, die es sich zur Aufgabe machte, alle Gespenstererscheinungen in Europa aufzuzeichnen. Mr. Scott führte Brenda Weston in sein Arbeitszimmer, das überhäuft von allen möglichen Dingen war. Da gab es Versteinerungen, 60
seltsam geformte Wurzeln, Quarze, Basaltsplitter, Werkzeuge aus der Keltenzeit, Wappenbilder und natürlich eine Unmenge von Büchern. Mrs. Weston hörte den Ausführungen des Ex-Obersten eine Weile andächtig zu und brachte dann bescheiden ihr Anliegen vor. Sie fragte wegen Kilmoore und dem Spuk, der darin herrschen sollte. Die Fotos erwähnte sie vorerst noch nicht. Mr. Scott setzte zu einem langen Vortrag an, berichtete von den Aufzeichnungen des alten Lords und kam schließlich zur Gegenwart. Nach mehr als zwei Stunden verabschiedete sich Brenda und Mr. Scott überreichte ihr einen Bericht über das, was die beiden letzten Mieter des Hauses erlebt hatten. Eine Aufzeichnung stammte aus dem Jahre 1964 und war nach den Aussagen der beiden Schwestern Jennifer und Mona Rutherford aufgeschrieben worden. Zu Hause angekommen, vertiefte sich Brenda in den Bericht. Es stellte sich heraus, dass die beiden Schwestern Kilmoore als Hotel umbauen wollten. Ziemlich schnell waren sie aber dahinter gekommen, dass es im Hause spukte. Sie ließen sich jedoch davon nicht abhalten und bestellten einen Innenarchitekten, der alles modernisieren sollte. Gray Mortimer, ein junger aufstrebender Architekt, war genau der richtige Mann für sie. Ein von ihm eingerichtetes Haus war immer ein Erfolg, musste ein Erfolg sein. Nicht nur allein, weil sich in hundert Meilen Umkreis niemand fand, der genug Geschmack und Phantasie hatte. Es galt auch als vornehm, sich von Mortimer einrichten zu lassen. Die Schwestern trafen sich mit dem Architekten. Folgendes ereignete sich. »Da ist noch etwas, was wir Ihnen nicht gesagt haben«, sagte Jennifer. »Hoffentlich gibt es da keine Probleme...« »Ja, da ist wirklich etwas, Mr. Mortimer«, fiel ihr Mona ins Wort. »Wir sind noch im Zweifel, ob Sie imstande sind, dieses Problem zu lösen.« Gray Mortimer richtete sich auf und machte eine Handbewegung. »Probleme, die nicht zu lösen sind, gibt es für mich nicht«, sagte er stolz. 61
»Wir haben ein Haus, in dem es spukt«, fuhr Mona fort. Auf ihrer Stirn bildeten sich Falten. »Ach, das ist ja direkt romantisch!«, bemerkte der Innenarchitekt und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Besonders ein Zimmer im ersten Stock widersteht allen Versuchen, es einzurichten«, sagte Jennifer. »Erzählen Sie doch bitte«, forderte der Mann die Schwestern auf. Einander das Wort aus dem Munde nehmend, berichteten die Schwestern Rutherford von ihren Erlebnissen im Zimmer des ersten Stockes. Es soll der Lieblingsraum des letzten Lord Kilmoore gewesen sein. Noch als er lebte, durfte nichts im Zimmer verändert werden und jetzt hatte es den Anschein, dass er, obwohl er schon viele Jahre tot war, auch keine Veränderung wünschte. Jennifer und Mona glaubten, der alte Lord spuke in dem Zimmer. Sobald sie ein Möbelstück oder einen Sessel auch nur um einige Zentimeter verschoben, standen die Gegenstände kurze Zeit später wieder auf dem alten Platz, obwohl kein Mensch sie berührt hatte. Manchmal in der Nacht drangen aus dem Zimmer Geräusche, die sich anhörten, als schleife jemand Möbel über den Fußboden. Die beiden Schwestern behaupteten, sich vor Geistern und anderen Manifestationen des Übernatürlichen nicht zu fürchten, aber sie hätten gern das Zimmer neu eingerichtet und ob Mr. Mortimer das besorgen könne? »Das ist so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche«, erwiderte der Innenarchitekt. »Für mich gibt es keine Hindernisse. Geister? Lächerlich. Wir werden das Zimmer neu tapezieren, ein paar Sachen hineinstellen und Sie werden es nicht wieder erkennen. Wenn es Ihnen recht ist, meine Damen, schicke ich Ihnen gleich morgen zwei Leute her, die mit der Arbeit beginnen können.« Die beiden Schwestern waren einverstanden und sahen schon im Geiste die alten Möbel durch neue ersetzt. So geschah es dann auch. Probeweise wurde die neue Einrichtung aufgestellt. Am nächsten Morgen hatte sich zum Erstaunen der Schwestern nichts verändert. 62
Der unheimliche Geselle schien sich mit dem Verlust der alten Möbelstücke abgefunden zu haben. Zweifellos würde er sich dann auch mit anderen Veränderungen abfinden. Jennifer und Mona suchten in der Mortimer-Kollektion einen wunderschönen Teppich aus und wählten dazu eine viktorianische Tapete für die Wände. Es war ein phantastisches Blumenmotiv in den Farben Rostbraun, Kupfer, Bronze, etwas Siena mit einem Hauch gebranntem Umber. »Sie haben Geschmack, meine Damen«, bestätigte der Innenarchitekt. »Diese Tapete gibt es im Umkreis von fünfhundert Meilen kein zweites Mal.« Im Verlaufe der nächsten Tage rissen Mortimers Mitarbeiter den alten fleckigen Wandbelag herunter und bezogen eine Wand mit der neuen Tapete. Als die Männer gegen fünf Uhr Feierabend machten, war die viktorianische Seidentapete noch an der Wand. Als jedoch die beiden Schwestern eine Stunde später das Zimmer betraten, hatte sich die Tapete gelöst und war heruntergerollt. »Das ist unwahrscheinlich«, sagte Mortimer, als Jennifer ihm von dem Vorfall berichtete. »Meine Tapeten lösen sich nie. Es sei denn, man risse sie herunter.« »Diesen Eindruck haben wir auch«, erwiderte Jennifer. »Dieser Dummkopf von einem Geist will wahrscheinlich keine neue Tapete in seinem Zimmer.« »Ich werde mich selbst um die Sache kümmern«, versprach Mortimer ärgerlich. »Das wäre ja gelacht. Wenn ich die Tapete selbst ankleistere, kommt sie bestimmt nicht wieder herunter. Das garantier ich Ihnen, meine Damen!« Am nächsten Morgen machte sich Mortimer selbst mit einem Mitarbeiter ans Werk. Jennifer und Mona beobachteten die beiden Männer eine Weile bei der Arbeit. »Wir müssen natürlich die Tapete vollständig ablösen und neu aufziehen«, sagte der Architekt. »Aber diesmal wird sie nicht wieder heruntergerissen werden, das verspreche ich Ihnen, meine Damen.« 63
Während der ganzen Zeit über waren Stöhnen und Klopflaute zu hören. Ein kalter Wind war im Raum, der den beiden Männern Staub und Papierfetzen ins Gesicht trieb. Für Mortimers Mitarbeiter gab es keinen Zweifel, ein unsichtbares Etwas befand sich im Raum und versuchte, sie an der Arbeit zu hindern. »Merkwürdig«, sagte der Arbeiter zu seinem Chef. »Hier ist es ja kalt wie in einer Tiefkühlanlage.« »Sie können bald gehen«, erwiderte der Architekt. »Die Ecke hier mache ich alleine fertig.« »Hier in dem Zimmer ist etwas Unheimliches«, sagte der Arbeiter wieder. »Etwas geht hier vor sich, das einem Angst macht.« »Ich merke es auch«, sagte Mortimer. »Wenn Sie wollen, machen Sie Schluss. Ich werde schon alleine fertig.« Die Atmosphäre im Raum wurde von Minute zu Minute bedrohlicher. Ein Sturmwind fegte plötzlich durch das Zimmer und aus dem Wirbel heraus formte sich eine dunkle Gestalt, die sich auf Mortimer stürzte. Der Architekt schrie auf. Dann war nichts mehr zu hören. Die unheimliche Gestalt löste sich wieder auf. Der Arbeiter rappelte sich vom Boden auf und blickte verwirrt um sich. Sein Chef war nirgends zu sehen. Auch die beiden Schwestern hatten den Schrei gehört und kamen ins Zimmer geeilt. Der Arbeiter berichtete von der Erscheinung und dann entdeckten sie Mortimers Konterfei auf der Tapete. Versteckt zwischen den Blumen, starrte er hervor. Das Bild wurde mit der Zeit blasser, aber noch heute ist es in der linken oberen Hälfte, rechts vom Fenster zu sehen. Die Deutungen über den Klecks auf der Tapete sind vielseitig. Tatsache ist, dass Gray Mortimer als verschwunden gilt und bis heute nicht aufgefunden wurde. Die beiden Schwestern gaben nach diesem unheimlichen Vorfall ihr Vorhaben, aus diesem Haus ein Hotel zu errichten, auf und verließen fluchtartig den Ort. Wortlos überreichte Brenda ihrem Mann den Bericht. »Das ist ja unglaublich«, sagte Ron, als er die Aussagen der Schwestern gelesen hatte. »Was ist das für ein Zimmer?« 64
»Die Bibliothek, deren dunkle Bücherschränke die ausgestopften Vögel enthält. Es ist das unsympathischste Zimmer im ganzen Haus«, entgegnete seine Frau. Ron musste einen Schrank zur Seite schieben, um zu der beschriebenen Stelle zu gelangen. Sie brauchten nicht lange zu suchen. Hier befand sich tatsächlich eine Abbildung, die einer menschlichen Figur glich und hinter einem Blumenkelch verborgen war. Ein winziges angstverzerrtes Gesicht starrte aus der Tapete. Ron schob den Schrank wieder vor. »Das ist wohl die wunderlichste Geschichte, die ich je gehört habe«, sagte er. »Und ich frage mich ernsthaft, ob du das vielleicht auch noch glaubst. Das ist doch nicht dein Ernst, Brenda?« Sie blickte mit großen Augen zu ihm auf. »Die ganze Zeit weiß ich schon, dass hier etwas vor sich geht, für das es keine Erklärung gibt. Merkst du denn nicht, wie alles zueinander passt? Das kann man doch nicht einfach ignorieren.« »Dieses Gesicht auf der Tapete kann genauso gut durch einen Verarbeitungsfehler entstanden sein. Alles andere ist reine Phantasie.« »Und das Licht, das du gesehen hast, war das auch eine Phantasie?« »Ich glaube es nicht, aber möglich wäre es«, sagte Ron. »Vielleicht gibt es überirdische Kräfte, die durch die Gegend geistern. Aber dieser Bericht ist mir zu dick aufgetragen.« Unerklärliche Geräusche rissen Brenda und Ron in derselben Nacht aus dem Schlaf. Es war, als hätte jemand das Bett geschüttelt. Erschrocken fuhren sie hoch und starrten in die Dunkelheit. Sie lauschten mit angehaltenem Atem, um das Geräusch zu lokalisieren. Es klang, als würden irgendwo Gegenstände hin und her geschoben. Dann war es wieder so, als käme der Lärm direkt aus der Mauer. Als ob ein Tier nach einem Ausgang suchte. Brenda schauderte. Nicht der Lärm flößte ihr Grauen ein, sondern es war vielmehr das Bedrohliche, Zwingende, das diese Geräusche erzeugte. Sie stellte fest, dass der Lärm genau aus der Bibliothek kam. Ron schlich sich leise zur Tür und lauschte. 65
»Soll ich einmal nachsehen?« Er konnte sich die Frage nicht verkneifen. »Willst du auch an der Tapete kleben?«, sagte seine Frau. »Ich würde an deiner Stelle nicht in die Bibliothek gehen. Wer weiß, welcher Teufel sich dort herumtreibt.« »Apropos Teufel«, erwiderte Ron. »Ich sollte diesem Teufel sagen, dass er sich zum Teufel scheren solle und das werde ich auch tun.« Ron verließ das Schlafzimmer und ging entschlossen zur Bibliothek hinüber. Vorsichtig öffnete Ron die Tür und drehte das Licht an. Verblüfft starrte er auf die Verwüstung. Sessel waren umgeworfen, ein Schrankglas zerbrochen, ein Teil von den ausgestopften Vögeln und den Büchern lagen am Boden zerstreut. »Den Tatsachen ins Auge sehen, hast du immer gesagt, Ron«, sagte Brenda, die ihrem Mann gefolgt war. »Also tun wir das. Diese Unordnung kann nicht von allein entstanden sein.« »Vergiss nicht, das Fenster war offen«, erinnerte sie Ron. »Und bei dem Sturm, der draußen herrscht, kann leicht etwas in Scherben gehen. Vielleicht hat auch ein kurzes Erdbeben stattgefunden, das diese Verwüstung auslöste.« »Du willst mir jetzt doch nicht einreden«, erwiderte Brenda zornig, »dass es ausgerechnet heute Nacht einen Erdstoß gegeben hat?« »Es geschehen manchmal die merkwürdigsten Dinge, Liebling.« »Und all das andere, das sich, seitdem wir hier sind, ereignete?« Ron runzelte die Stirn. »Nicht für alles gibt es eine Erklärung. Aber wir müssen nach logischen Antworten suchen.« »Warum gibst du nicht zu, dass dies keine Zufälle sind, Ron? Zusammen können wir vielleicht besser dieses ›Etwas‹ bekämpfen...« * In den folgenden Tagen ereignete sich nichts. 66
Karin kaufte sich ein Aquarium mit Zierfischen, damit mehr Leben ins Haus kam. Aber ihre Mutter wusste, dass sie es mehr aus Nervosität tat, als aus Liebe zu den Fischen. Abends machte Ron wie gewöhnlich einen Spaziergang um das Haus. Es war noch nicht völlig finster. Im Westen war ein heller Streifen am Himmel zu sehen. Es nieselte leicht und die graugrünen Wellen donnerten mit Getöse gegen die Klippen. Ein Unwetter kündigte sich an. Trotz des heftig aufkommenden Windes stapfte Ron dem Strand entgegen. Aber dann machte er kehrt und marschierte wieder zurück. Von dieser Stelle aus konnte er das Haus sehen, das sich als graue Masse von dem hellen Hintergrund abhob. Die Szenerie wirkte wie in einem klassischen Gruselfilm, wenn es auf Mitternacht zugeht. Ron kehrte ins Haus zurück, nahm eine Tasse heißen Kaffee und setzte sich vor den Fernseher. Brenda beschäftigte sich in der Küche und Karin las in einem Buch. Ein paar Minuten nach elf Uhr hörte Ron das Geräusch, das sich wie der Lärm eines Autos anhörte. Einige Minuten verstrichen, ehe es ihm zum Bewusstsein kam, dass der Wagen nicht weitergefahren war. Er erhob sich und sah aus dem Fenster. Eine große Limousine stand etwa zwanzig Yards vom Hauseingang entfernt. Im Scheine eines violetten Blitzes, der über den Himmel raste, sah Ron eine Gestalt unter der geöffneten Motorhaube stehen. Er ging hinaus. »Guten Abend«, sagte er. »Kann ich Ihnen helfen?« Der Mann, der am Motor herumhantierte, sah nur kurz auf. Er brummte, dass der Motor nicht mehr anspringen wolle. Eine Weile arbeitete der Mann weiter, aber ohne Erfolg. »Nichts zu machen«, sagte er. »Wir sitzen fest. Gibt es hier ein Taxi?« Weit unten auf der Landstraße fraßen sich die Lichter eines Autos durch die Dunkelheit. »Nein«, antwortete Ron. »Wir sind hier in einer einsamen Gegend. Der nächste Ort ist fünf Meilen entfernt. Morgen kann ich in der Gara67
ge Bescheid sagen. Die Nacht über können Sie hier bleiben, wenn Sie wollen.« Eigentlich hätte der Mann erleichtert sein müssen, aber er benahm sich ziemlich sonderbar. Er fasste nach Rons Arm und sagte: »Das ist ein Spukhaus, nicht wahr?« »Wie kommen Sie denn darauf?« Ron war verblüfft. »Die Leute erzählen sich die merkwürdigsten Geschichten über das Haus«, erwiderte der Mann. »Eine Menge Leute sollen hier schon verschwunden sein.« Ron tat so, als wüsste er von allem nichts. »Wir haben es erst vor kurzem gemietet«, sagte er. »Bis jetzt hat sich nichts Außergewöhnliches ereignet.« Schließlich willigten der Mann und seine Freundin ein, die Nacht über im Haus zu bleiben. Gillian und Ron schoben den Jaguar, Baujahr 1957, in die Garage. Später stellte sich heraus, dass Gillian und Margaret auf Urlaub unterwegs waren. Brenda und Karin fiel es auf, dass die beiden kein einziges Wort miteinander wechselten. Deutlich war zu sehen, dass sie sich bemühten, nicht ins Licht zu treten. Später, als die beiden auf ihr Zimmer gegangen waren, breitete Ron eine Handkarte von der Gegend vor sich aus. »Was suchst du denn?«, wollte Brenda wissen. »Ich frage mich, wo die beiden mit dem Wagen hergekommen sein könnten«, sagte Ron. »Wieso kamen sie ausgerechnet zu uns? Am Wege gibt es ein deutliches Schild, mit dem Hinweis, dass unser Haus in einer Sackgasse liegt. Vielleicht dachten sie, das Haus sei unbewohnt. Womöglich ist auch der Wagen gestohlen...« »Glaubst du das wirklich?« »Ich werde mir das Auto ansehen«, antwortete Ron. »Vielleicht ergibt sich ein Anhaltspunkt.« Er ging in die Küche, nahm den Garagenschlüssel vom Haken und trat ins Freie. Draußen war es pechschwarz. Ein scharfer Wind fegte vom Meer her. Das Gewitter war weiter gezogen. Mit seinem eigenen, Brendas 68
Mini und dem Jaguar der Fremden war die Garage fast übervoll. Ron zwängte sich an der Wand entlang und öffnete den Wagenschlag. Er hatte den Griff kaum berührt, als plötzlich die Tür aufflog und etwas herausstürzte. Ron verlor die Taschenlampe und stand im Dunkeln. Mit beiden Händen tastete er den Boden ab. Plötzlich stockte sein Herzschlag. Unter seinen Fingern wurde es weich: der Körper eines Menschen. Ron tastete sich zum Garagentor zurück und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Jetzt sah er die Gestalt. Sie hing mit dem Oberkörper aus dem Wagen und war tot. Der Mann war um die Fünfzig herum, fast glatzköpfig und sah grauenhaft blass aus. Jemand hatte ihm in die Brust geschossen. Ron entdeckte das Loch dicht unter dem Herzen. Der Ermordete hatte keine Papiere bei sich, aber in seiner Innentasche fand Ron eine aufgebrochene Zigarrenschachtel. Er setzte den Toten wieder ins Auto und berichtete seiner Frau von dem Fund. »Ist doch sonnenklar«, sagte Brenda. »Die beiden haben den Mann umgebracht und wollten hier die Leiche loswerden. Deswegen benahmen sie sich auch so merkwürdig. Wahrscheinlich war die Motorpanne nur ein Trick.« Im Augenblick konnte Ron nichts unternehmen. Das Telefon war noch nicht angeschlossen und wenn er jetzt mitten in der Nacht wegfuhr, würden es die beiden merken. Da war es besser, so zu tun, als wäre nichts geschehen. »Das sind ja herrliche Aussichten«, stöhnte Ron. »Zuerst die Geister und jetzt auch noch eine Leiche.« Am nächsten Morgen ging Ron in die Garage, um sich das Ganze noch einmal bei Tageslicht anzusehen, aber als er das Tor öffnete, war sie bis auf ihre eigenen zwei Autos leer. Kein Jaguar, keine Leiche, nichts. Nur die Taschenlampe lag an der Stelle, wo sie unter den Wagen gerollt war. Sonst war nichts davon zu sehen, dass hier jemals ein anderes Fahrzeug gestanden hatte. »Die beiden sind weg«, sagte Brenda. 69
»Der Wagen und die Leiche auch, begreifst du das?«, fragte Ron. »Sie müssen irgendwann in der Nacht weggefahren sein. Wir können das doch nicht alles nur geträumt haben?« Jetzt fielen ihm die Zigarren ein, die der Tote bei sich hatte. Die Schachtel lag noch genau an der Stelle, wo er sie hingelegt hatte. »Natürlich sind die abgehauen«, sagte Ron. »Aber wir haben noch die Gläser und Tassen, aus denen sie getrunken haben und darauf sind auch ihre Fingerabdrücke.« Ron stellte die Gefäße sicher. Sorgfältig steckte er sie in eine Plastiktüte und benachrichtigte die Polizei. Zwei Beamte von einem Streifenwagen nahmen alles auf und versprachen wiederzukommen, falls nähere Einzelheiten bekannt würden. Tags darauf wunderte sich Karin über den Zettel, der am Rahmen des Spiegels in ihrem Zimmer steckte. Stirnrunzelnd zupfte sie ihn heraus und las die kurze Nachricht.
Komme gegen sieben Uhr zum Strand, Mutter. Karin starrte nachdenklich auf die hastig hin gekritzelte Nachricht. Weshalb hatte Mutter es ihr nicht selbst gesagt? War es überhaupt ihre Handschrift? Sie kam ihr plötzlich so fremd vor. Aber dann dachte Karin, vielleicht hat sie etwas von den Mördern entdeckt. Draußen war es zwar noch hell, aber sicherheitshalber nahm Karin eine Taschenlampe in die Hand und ging den schmalen Weg zum Strand hinunter. Der Wind blies ihr kräftig ins Gesicht und zerzauste ihre Haare. Der Pfad war steil. Karin hielt sich an Steinen und Büschen fest, um nicht hinunterzustürzen. In monotoner Gleichmäßigkeit schlugen die Wellen gegen die Klippen. Ganz in ihrer Nähe schabte etwas, als wäre jemand mit dem Schuh gegen einen Stein gestoßen. Karin fuhr herum und richtete die Taschenlampe wie eine Pistole in die Richtung des Geräusches. »Mutter?«, rief sie beklommen, bekam jedoch keine Antwort. Plötzlich traf sie ein Schlag auf dem Kopf. 70
Karin stürzte und verlor die Taschenlampe. Ein dumpfer Schmerz durchzuckte ihren Kopf. Die rauen Steine schürften ihr die Gesichtshaut auf, als sie unsanft auf dem harten Boden landete. Vergebens versuchte sie, sich herumzudrehen. Eine Hand presste sich unbarmherzig auf ihren Mund. Ein Arm drückte ihr die Kehle zu. Ihre rechte Hand tastete nach einem scharfkantigen Stein und schlug ihn über den behaarten Handrücken auf ihrem Mund. Ein unterdrückter Schmerzensschrei klang auf. Fluchend zog der Fremde die Hand zurück, mit der er sie gewürgt hatte. Vergebens versuchte Karin seitlich auszuweichen. Sie fühlte sich hochgerissen und spürte auch schon den nächsten Schlag auf ihrem Kopf. Die Welt ringsum begann sich zu drehen. Ihre Beine gaben nach. Ein grober Stoß beförderte sie ins Wasser. Karin schüttelte benommen den Kopf und versuchte krampfhaft, den Mund nicht zu öffnen. Der unheimliche Angreifer stand am Ufer und lauerte auf die nächste Gelegenheit zuzuschlagen, das spürte sie instinktiv. Sie blieb im Wasser und ließ sich etwas hinaustreiben. Ihr Arm erreichte den Stützbalken eines Bootsstegs. Sie klammerte sich daran fest. Mit leichten Schwimmbewegungen versteckte sie sich hinter dem Steg, während der Strahl einer starken Taschenlampe suchend über das Wasser glitt. Karin wagte sich kaum zu bewegen. Das Wasser war eiskalt. Der grelle Lichtkegel huschte über die Planken des Stegs und schimmerte auf der Wasseroberfläche. Der Angreifer suchte systematisch das Ufer nach seinem Opfer ab. Als schwere Schritte über den morschen Steg stolperten, tauchte Karin für kurze Zeit unter, ohne den Stützbalken loszulassen. Vom Ende des Stegs aus strich der Lichtkegel suchend über das Wasser hinweg, dann stapfte der Unbekannte an den Strand zurück. Karin kam wieder hoch, presste den Kopf gegen die Unterseite des Stegs und sog gierig frische Luft in ihre Lungen. Das Licht kam nicht wieder. 71
Trotzdem harrte Karin noch einige Minuten in ihrer unbequemen Stellung aus. Sie durfte nichts riskieren. Der unheimliche Angreifer konnte noch immer am Ufer auf der Lauer liegen. War es derselbe Mann aus dem Jaguar? Wollte er sie alle umbringen, weil Vater die Leiche entdeckt hatte? Fünf Minuten ließ Karin verstreichen, bis sie vor Kälte zitterte. Dann erst ließ sie sich langsam unter dem Steg auf den steinigen Strand zutreiben. Nichts war zu hören oder zu sehen. Karin stieg aus dem Wasser. Regungslos verharrte sie am Boden und lauschte. Von dem Mann war keine Spur zu sehen. Dann raste sie den schmalen Pfad wieder zurück. Niemand war im Haus. Automatisch streifte sie ihre tropfnassen Sachen vom Körper, frottierte sich trocken und schlüpfte in neue Jeans. Wenn das Telefon schon in Ordnung wäre, könnte sie wenigstens Vater anrufen. Wie ein verängstigtes Tier schlich sie im Haus umher. Der Wind draußen hatte sich verstärkt und ließ das alte Gebäude ächzen. Ein kalter Schauer erfasste ihren Körper. Sie setzte sich vor den Kamin. Plötzlich wusste Karin, dass sie nicht mehr allein im Haus war. Sie spürte die Nähe eines Fremden. Ganz leise quietschten die Angeln einer Tür, die vorsichtig geöffnet wurde. Das Geräusch kam von der Küche her. Sie sprang aus dem Sessel und wollte nach oben laufen, aber dann tat sie es doch nicht. Oben hatte sie keine Chance zu entkommen. Der Fußboden knarrte. Karin drehte die Beleuchtung aus und versteckte sich hinter dem Vorhang. Ihr Angreifer unten am Strand musste gesehen haben, dass sie ins Haus zurückgekehrt war. Bestimmt hatte er auf der Lauer gelegen, um ganz sicher zu gehen. Mein Gott, warum kam Mutter nicht nach Hause? Wieder knarrte der Fußboden, diesmal ganz in ihre Nähe. Der Unbekannte hatte be72
merkt, dass im Wohnzimmer das Licht gelöscht worden war. Sie musste auszubrechen versuchen, sonst steckte sie in der Falle. Mit einem Satz schoss Karin hinter dem Vorhang hervor und raste durch den Raum. Eine schattenhafte Gestalt wollte sich auf sie werfen, aber Karin wich ihr geschickt aus. Zwei knochige Hände streckten sich nach ihr aus. Die Gestalt trug einen weiten Umhang. Mit beiden Händen stieß Karin den Angreifer von sich, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und war im nächsten Augenblick durch die Tür ins Freie gestürzt. Düster und einsam lag die Straße vor ihr. Hinter ihr fiel krachend die Haustür ins Schloss. Die Gestalt im Umhang hob sich als grauer Schatten von dem weißen Hintergrund ab. Karin lief los. Ihr gehetzter Blick glitt zum Strand hinunter. Nein, nicht dort entlang, sagte sie sich. Da erwischt er dich gleich. Vielleicht sollte sie in Mr. Hardys Richtung laufen und dort Hilfe suchen. Die Angst beflügelte ihre Schritte. Ein mit Farnkraut bewachsener Hügel tauchte vor ihr auf. Karin lief darauf zu. Der Verfolger war hinter ihr. Das Mädchen entdeckte plötzlich einen entwurzelten Baum. Schnell kroch sie unter die belaubten Äste, spürte, wie die Zweige über ihr Gesicht zusammenschlugen und wagte nicht zu atmen. Die Schritte ihres Verfolgers näherten sich ihr, verstummten und dann war nur noch sein rasselnder Atem zu vernehmen. Den Kopf gegen die Wurzeln des Baumes gepresst, lauschte Karin den Schritten des Unbekannten. Er war weiter oben und lauerte darauf, dass sie sich durch ein Geräusch verriet. Der Wind zerrte heftig an den Zweigen über ihr. Lange würde es nicht mehr dauern, bis er sie entdeckte. Sie musste unbedingt weiter, musste versuchen, vor dem Unheimlichen den Nachbarn zu erreichen und bei den Hardys unterzutauchen. Sobald sie in Sicherheit war, konnte sie den Unbekannten ohne weiteres entlarven. Eine Schramme auf seinem Handrücken, wo sie mit dem spitzen Stein zugeschlagen hatte, würde ihn verraten. 73
Vorsichtig schob sie den Kopf aus der Deckung und spähte nach oben. Jetzt war es schon fast dunkel. Irgendwo im Umkreis müsste er sich versteckt halten und angestrengt lauschen. Karin tastete mit ihrer Hand vorsichtig den Boden ab, bekam einen Stein zu fassen und zog ihn behutsam näher an sich heran. Dann verließ sie ihr Versteck und schleuderte den Stein so weit wie möglich hang abwärts. Schritte knirschten durch das Dickicht. Der Verfolger war auf den Trick hereingefallen und vermutete sie auf der Flucht den Abhang hinunter. Karin jagte in entgegen gesetzter Richtung davon. Der Unbekannte hatte inzwischen ihren Trick durchschaut, aber sie hatte genügend Vorsprung gewonnen, um auf Umwegen Mr. Hardys Anwesen zu erreichen. Das alte Ehepaar war gerade beim Abendbrot, als Karin zur Tür hereinstürzte. Die alte Frau schlug die Hände über dem Kopf zusammen und wunderte sich über das Aussehen des Mädchens. »Was ist denn mit Ihnen geschehen?«, fragte Mrs. Hardy und starrte sie mit offenem Mund an. Doch dann las sie die ausgestandene Angst von ihrem Gesicht ab. Sie wusste auch ohne große Erklärungen, dass das Mädchen sich nicht nur im Nebel verirrt hatte. Karin erklärte kurz den Sachverhalt. »Jemand versuchte mich zu ermorden. Er verfolgte mich bis hierher.« »Wer?«, fragte Mr. Hardy stirnrunzelnd, als zweifle er ernsthaft an ihrem Verstand. »Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, aber vermutlich war es ein Mann - oder ein Geist... Ich weiß auch nicht...« Mr. Hardy holte seinen alten Wagen aus der Garage und fuhr mit Karin nach Kilmoore zurück. Während der Fahrt musste sie daran denken, dass es für den mörderischen Angriff keine Spuren und nur ihre eigene Aussage gab. Jeder würde es für eine wilde Geschichte halten, die sie sich ausgedacht hatte, um von sich reden zu machen. 74
»Was ist passiert, Karin?«, wollte ihre Mutter wissen, die mittlerweile zurückgekehrt war. Mr. Hardy berichtete von der Sache. »Es war eine große dunkle Gestalt in einem Umhang«, sagte Karin. »Ein paar mal hatte ich das Gefühl, als ob es die Holzpuppe wäre...« Noch bevor Ron zur Arbeit fuhr, ging Brenda in die Dachkammer, um sich zu überzeugen, ob sich die Holzpuppe verändert hatte. Sie schloss die Tür auf und trat ein. Die feuchte Kälte, die von den Sternplatten des Fußbodens aufstieg, ließ sie frösteln. Brenda wollte schon umkehren, als sie einen Blick auf das Gesicht der Holzpuppe warf. Zwei Punkte schienen in der gesichtslosen Figur wie Kohlen zu glühen und der Schatten verlieh der Gestalt ein fast spukhaftes Leben. Sie schauderte. Es kam ihr vor, als strahlte plötzlich die Puppe eine unheimliche Kraft aus, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. Etwas quietschte im Raum, dann ging das Licht aus und die Tür schlug zu. Es war sehr dunkel und Brenda Weston hatte das Gefühl, die Puppe beobachte sie mit hohnlachendem Spott. Die Dunkelheit schloss sich dicht um sie wie schwarzer Samt, der an ihren Augen haftete. Eine schwache Linie zeigte sich irgendwo zwischen den Dachziegeln, aber im Raum selbst herrschte tiefe Dunkelheit. Brenda zwang sich zur Ruhe. Sie wollte sich nicht von der aufkommenden panischen Angst beherrschen lassen. Sie brauchte nur langsam zur Tür zu gehen und das Licht anzuknipsen, aber so sehr sie sich auch bemühte, sie fand weder die Tür noch den Schalter. Plötzlich hörte Brenda aus der Richtung der Holzpuppe einen scharrenden Schritt. »Ist da jemand?«, rief Brenda. Keine Antwort. Ihre Stimme kam als geisterhaftes, hohles Echo von dem spitzen, hohen Dachgiebel zurück. Sie war verzerrt und hatte mit ihrer eigenen Tonlage nichts gemeinsam. 75
Brenda blieb in der Mitte des Raumes stehen und versuche das gespenstische Dunkel mit den Augen zu durchdringen. Allmählich erkannte sie die Konturen der Möbel der alten Koffer auf dem Fußboden. Aber dann sah sie die Gestalt in der Ecke. Jemand, in einer weißen verschwommenen Robe, stand dort und starrte unbeweglich geradeaus. Plötzlich fiel ihr wieder die Nachricht ein, die Karin gestern Abend im Haus gefunden hatte. Also war doch jemand im Haus. Wahrscheinlich das Pärchen von dem Mordauto. Oder war es nur Ron, der ihr einen Streich spielte - und als Geist verkleidet dort stand? Noch immer verharrte Brenda in der Mitte der Dachkammer und starrte auf das weiße Etwas. »Ron!«, fragte sie in die atemlose Stille hinein. »Bist du es? Willst du mich erschrecken?« Niemand antwortete, aber das weiße Etwas in der Ecke bewegte sich. Sie sah es ganz deutlich. Die Gestalt entfernte sich von der Ecke und schob sich näher an sie heran. »Brenda! Komm her!«, sagte plötzlich ein keuchender, unartikulierter Ton. Brenda zuckte vor dieser geisterhaften, höhnischen Stimme zusammen, aber sie gehorchte. Automatisch wie eine aufgezogene Puppe trat sie auf die Gestalt zu. Eine Weile stand die Gestalt unbeweglich und dann verschwand sie in der Dunkelheit - löste sich förmlich in ihr auf. »Ron, das reicht jetzt! Hör mit deinen dummen Streichen auf, sonst schreie ich laut um Hilfe. Ron? Wo, um Himmels willen, bist du?« Plötzlich wurde ihr klar, dass es nicht Ron, sondern das Gespenst von Kilmoore war. Brenda schrie auf. Etwas hatte ihren Arm berührt. Sie fuhr herum und sah gerade noch, wie ein spindeldürrer Arm sich vor ihren Augen senkte und um ihren Hals legte. Brenda erkannte die langen Finger der Holzpuppe. »Hilfe!«, keuchte Brenda Weston und zerrte an der hölzernen Hand. Aber sie hatte nicht die Kraft, diese unheimlichen Hände abzuwehren. 76
Das Blut staute sich in ihren Schläfen und durch das Rauschen in ihren Ohren hörte sie ihre eigenen gurgelnden Laute. Von sehr weit her drang die Stimme ihres Mannes: »Was soll denn das? Warum hast du die Tür verschlossen? Mach sofort auf!« Ihre Lungen brannten vor Atemnot. Endlich ließen die Hände von ihrem Hals ab. Der Angreifer verschwand vor ihren Augen. Brenda sank zu Boden und kämpfte gegen eine aufkommende Besinnungslosigkeit an. Endlich näherten sich Schritte - Ron beugte sich über sie. »Um Himmels willen, was ist denn hier los?«, sagte er. »Du siehst ja aus, als wäre dir der Teufel begegnet. Ist dir nicht gut?« Mühsam setzte sich Brenda auf, berührte ihren schmerzenden Hals und krächzte, dass sie hier nachsehen wollte, das Licht ausging, sie die Tür nicht mehr fand und sie jemand erwürgen wollte. »Das ist doch unmöglich«, erwiderte Ron gereizt. »Wer soll dich denn hier auf dem Dachboden erwürgen wollen! Hier ist ja niemand. Sieh dich um. Du bildest dir alles nur ein.« »So«, sagte Brenda mit tonloser Stimme. »Auf meinem Hals müssen Würgespuren zu sehen sein. Sind die vielleicht auch Einbildung?« »Ja, er ist etwas rot«, gab Ron zu. »Aber das besagt doch nichts. Wenn du daran herum reibst wird er noch röter.« »Ich weiß nicht, was es war«, verteidigte sich Brenda. »Aber ich glaube, es war die Holzpuppe. Sie versuchte mich zu erwürgen.« Fassungslos starrte Ron auf seine Frau. »Das ist doch unmöglich«, sagte er dann und schüttelte den Kopf. »Ich habe etwas Weißes gesehen«, erwiderte Brenda noch immer starr vor Schrecken. »Es stürzte auf mich zu und legte seine Hände um meinen Hals. Ich glaube, diese Puppe ist ein Ungeheuer, Ron. Wir sollten sie vernichten, ehe sie noch mehr Schaden anrichten kann!« »Hast du den Verstand verloren?« Ron war verärgert. Diese gesichtslose Puppe ging ihm allmählich auf die Nerven. Er öffnete einen alten Schrank und die Koffer, aber da war nichts zu sehen. Auch an der Holzpuppe war nichts außergewöhnliches zu entdecken. Im Raum gab es nichts, was seine Frau hätte erschrecken können. 77
Kurze Zeit später kam Karin in die Dachkammer gestürzt, nahm die Hand ihrer Mutter vom Hals und untersuchte die roten Striemen. »Wer hat das getan?«, fragte sie entsetzt. »Wenn ich das wüsste, wäre mir leichter«, antwortete Brenda. »Ich wollte wegen der Puppe nachsehen und da hat sie sich sehr persönlich meiner angenommen.« »Guter Gott!«, rief Karin aus. »Diese grässliche Figur. Ich mag sie auch nicht. Hat sie sich bewegt?« »Ich habe eine weiße Gestalt gesehen und bin sicher, dass es die Puppe war. Ich hatte gleich ein ungutes Gefühl, als ich hier hereinkam, aber beweisen lässt sich das natürlich nicht.« »Genau wie gestern bei mir«, murmelte Karin gedankenverloren. Der Schrecken steckte ihr noch in allen Knochen. »Allmählich glaube ich auch, dass es ein Geist war. Derselbe Geist, der jetzt dich zu erwürgen versuchte. Meinst du nicht auch?« Brenda nickte. »Je länger man nachdenkt, um so mehr wird es zur Gewissheit, dass etwas Geheimnisvolles und Gespenstisches hier im Haus vor sich geht. Ich glaube, die Rache des Unheimlichen von Kilmoore kommt über uns und will uns zerstören«, fügte sie düster hinzu. »Ich fühle es, wir können ihr nicht entrinnen. Der Mann im Zug hatte recht. Das Haus ist verhext. Wir sollten uns nach einer anderen Wohnung umsehen.« Sie verließen die Dachkammer. Später saßen sie alle drei am Frühstückstisch und tranken gedankenverloren ihren Tee. Ron war fest davon überzeugt, dass es jemand von dem Mordauto war, der sie einzuschüchtern versuchte. Anschließend ging Brenda Weston zum Strand und traf mit Mrs. Hardy, ihrer Nachbarin, zusammen. Sie erzählte, was ihr am frühen Morgen in der Dachkammer passiert war. »Sie müssen vorsichtig sein«, sagte die Frau. »Der nächste Angriff könnte vielleicht nicht mehr so glimpflich ausgehen. Schließlich ist schon vor zwei Jahren eine Frau im Haus auf rätselhafte Weise zu Tode gekommen.« »Das wusste ich gar nicht«, sagte Brenda verwundert. »Wie ist denn das passiert?« 78
»Das weiß bis heute noch niemand«, erwiderte Mrs. Hardy. »Ein Unglücksfall sagen die einen, die anderen machen den Unheimlichen von Kilmoore dafür verantwortlich. Es war an einem Herbstabend. Eine gewisse Mrs. Nolan aus London kam allein hier an, weil ihr Mann kurz vor dem Ziel eine Autopanne hatte. Von der Tankstelle aus fuhr die Frau mit einem Taxi zum Haus. Da gerade ein schweres Gewitter niederging, bat die Frau den Taxifahrer zu warten, bis sie die Haustür aufgeschlossen und sich vergewissert habe, dass der elektrische Strom nicht abgeschaltet sei. Sonst wäre sie wieder zur Ortschaft zurückgefahren, um Kerzen zu kaufen. Der Fahrer blieb vor dem Eingang stehen, bis die Frau aufgesperrt und Licht angeknipst hatte. Das war das letzte Mal, dass Mrs. Nolan lebend gesehen wurde«, sagte Mrs. Hardy. »Ihr Mann«, fuhr die alte Frau in ihrer Erinnerung fort, »kam Stunden später zum Haus. In der großen Halle brannte Licht. Er öffnete die Eingangstür und fand am Fuße der Treppe seine Frau. Nach ihrer Lage zu urteilen, war sie die ganze Länge der Treppe hinuntergefallen. Beim Sturz hatte sie sich das Genick gebrochen.« »Das ist ja furchtbar«, flüsterte Brenda. Sie konnte es gar nicht glauben, dass im Haus vor nicht langer Zeit jemand zu Tode gekommen war. »Merkwürdig, dass mir noch niemand davon erzählt hat.« »Da gibt es noch eine ganze Menge unheimliche und seltsame Dinge, die einfach totgeschwiegen werden«, erwiderte Mrs. Hardy. Die Amerikanerin nickte. »Und wie ging die Sache weiter? Weiß man, warum die Frau die Treppe heruntergefallen ist?« Mrs. Hardy schüttelte den Kopf. »Das wird für immer ein Geheimnis bleiben«, sagte sie. »Aber die Polizei kam zu dem Schluss, Mrs. Nolan müsse nach dem Betreten des Hauses und nachdem sie das Licht in der Halle eingeschaltet hatte, sofort die Treppe hinauf gerannt sein. Sie muss gestolpert oder bei einer der letzten Stufen fehlgetreten sein und dann stürzte sie die ganze Treppe hinunter. Das jedenfalls ist die Ansicht der Polizei. Aber daran glaube ich nicht.« »Weshalb zweifeln Sie an der Sache?«, fragte die Amerikanerin. »Weil sich der Fall wahrscheinlich ganz anders abgespielt hat«, erwiderte Mrs. Hardy. »Die Frau stürzte nicht die Treppe hinunter beim 79
Hinaufgehen, sondern sie muss, als sie schon oben war, von etwas so erschreckt worden sein, dass sie vor Angst die Treppe übersah und hinunterstürzte. Das ist so sicher wie das Amen im Gebet.« »Glauben Sie, es war das gleiche Gespenst, das mich heute zu erwürgen versuchte?« Brenda blickte bei dieser Frage zu dem Gebäude hinüber. Mrs. Hardy bemerkte ihren Blick und runzelte nachdenklich die Stirn. Ihre blauen Augen blickten starr und zeigten einen beinahe stählernen Glanz. »In diesem Haus wohnt der Teufel«, erwiderte sie unumwunden. »Der Unheimliche von Kilmoore hat schon etliche Leute auf dem Gewissen, aber bisher ist es niemandem gelungen, ihn zur Strecke zu bringen. Sie müssen vorsichtig sein, Mrs. Weston«, ermahnte die alte Frau Brenda. »Wenn Gegenstände verschwinden, dann ist es höchste Zeit, dass Sie mit Ihrer Familie das Haus verlassen.« Brenda zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Welche Gegenstände meinen Sie?«, fragte sie. Mrs. Hardy musterte die Amerikanerin mit zusammengekniffenen Augen. »Das wissen Sie nicht?«, fragte sie verwundert. »Ich glaube, es gibt eine ganze Menge, was ich nicht weiß. Aber vielleicht ist es gut so, sonst wäre meine Angst noch größer.« »Ja, da haben Sie wohl recht«, sagte Mrs. Hardy. »Aber Miss Alice Gardner war eine Zeitlang Kindermädchen bei einer Familie aus Jorkshire, die hier im Hause wohnte. Sie hat eine Menge unheimlicher Dinge erlebt, für die es keinerlei Erklärungen gibt. Dabei sind auch Gegenstände aller Art verschwunden. Aber als besonders bemerkenswert ist zu erwähnen, dass ein kleines Mädchen mit einem imaginären Spielgefährten sprach und spielte, den es nicht gab. Später verschwand die Puppe des Mädchens spurlos.« »Das ist ja unglaublich«, sagte Brenda. »Fragen Sie sie doch selbst«, erwiderte Mrs. Hardy. »Sie weiß bestimmt noch eine Menge. Sie wohnt ganz in der Nähe von Lancashire.« »Weiß man überhaupt, wieso es spukt?« Die alte Frau schüttelte den Kopf. 80
»Es gibt viele Theorien«, antwortete sie. »Aber wahrscheinlich stimmt keine. Einer alten Überlieferung zufolge stand hier das Haus eines irischen Adeligen. Er soll Balasound geheißen haben. Das Gebäude, das er bauen ließ, soll verborgene Räume, Geheimtreppen, Falltüren und ein Labyrinth von Tunnels enthalten haben. Er vermietete Räume an Durchreisende, betrieb eine Apotheke, gab sich als Arzt aus und verkaufte quacksalberische Medikamente.« »Ein Kurpfuscher und Scharlatan also«, warf Brenda ein. »Ja«, erwiderte Mrs. Hardy eifrig nickend. »Was sein Leben betrifft, so war es wahrscheinlich noch phantastischer, als die Legende zu berichten weiß. Er soll knapp Fünfzig gewesen sein, als er hingerichtet wurde. Die Polizei wies ihm zweiundvierzig Morde nach, die er alle in dem Haus verübt haben soll.« »Das ist ja grauenhaft«, murmelte Brenda angeekelt. »Dann ist es kein Wunder, wenn das Haus voll von Schatten ist.« »Irgend etwas an der Sache stimmt nicht«, sagte Mrs. Hardy wieder. »Noch nie ist es jemandem gelungen, eines der unterirdischen Verliese zu finden. Mr. Scott glaubt auch nicht daran.« Brenda Weston erinnerte sich an den Mann. Es war der Geisterforscher aus Lancashire, der ihr die Berichte der beiden letzten Mieter gegeben hatte. »Ja, Mr. Scott hat mir schon einiges über das Haus erzählt.« »Kennen Sie die Geschichte von dem Piratenkapitän?«, unterbrach Mrs. Hardy Brenda Weston. Als die Amerikanerin verneinte, erzählte die Frau die Story. Demzufolge soll Käpt'n James Burr seine ganze Besatzung über Bord geworfen haben, damit er mit seinen Leuten nicht das Diebesgut teilen brauchte. Er irrte wochenlang auf dem Meer herum, ehe er hier vor Anker ging und seine Schätze vergrub. Dreißig Kisten mit Gold und Edelsteinen. Damit er nicht belästigt wurde, gab er sich als Zauberer aus und führte allerlei Kunststücke vor. Die Leute hatten aber solche Angst vor seinen Gauklereien, dass sie seine Umgebung wie die Pest mieden. 81
Der Kapitän hatte sein Ziel erreicht. Allmählich vergaß man ihn, aber in der Erinnerung der Menschen lebte er weiter. Die Gegend wurde gemieden und das Haus Teufelshaus genannt. Als Mrs. Hardy mit der Legende geendet hatte, überlegte Brenda, ob nicht er der Unheimliche von Kilmoore sei. Vielleicht bewachte er heute noch das Diebesgut. Man hat ja schon öfters gehört, dass Menschen über den Tod hinaus in Erscheinung treten, dachte sie. Jemand,
der so gierig nach Schätzen ist, raubt auch andere Dinge.
»Vielleicht spukt wirklich heute noch dieser Piratenkapitän im Haus herum und hat Angst um sein Gold. Möglich wäre es ja, oder?«, überlegte Brenda. Die alte Frau nickte zustimmend. »Gefunden hat noch nie jemand etwas«, sagte sie. Aber in der Gemeindechronik wird um 1725 die Landung eines Piratenschiffes ohne Besatzung erwähnt.« »Dann scheint ja doch nicht alles erfunden zu sein«, fiel Brenda ein. »Ich glaube, der letzte Lord von Kilmoore ist dem Geheimnis auf die Spur gekommen«, erwiderte Mrs. Hardy. »Aber die Aufzeichnungen verschwanden genauso spurlos wie der Lord selbst.« Mittlerweile war es merklich kühler geworden. Die Sonne verbarg sich. Der Horizont war eine einzige schwarze Wolkenwand. »Jetzt muss ich aber gehen«, sagte Mrs. Hardy. »Kommen Sie ruhig zu uns, wenn Sie etwas brauchen. Manchmal ist es recht gut, wenn man Nachbarn hat. Besonders, wenn man in so einem Gespensterhaus wohnt.« Brenda versprach es. Als die alte Frau hinter einer Felskuppe verschwand, wandte Brenda Weston sich um und trat den Heimweg an. Langsam ging sie den Strand entlang zu den Felsen und stieg die Stufen hoch. Dann kam sie an der kleinen Kapelle vorbei. Es war das erste Mal nach den Fotoaufnahmen, dass sie sich wieder hierher wagte. Beinahe trotzig blickte sie zu der einzigen erhaltenen Fensteröffnung, in der sich auf dem Foto die geheimnisvolle Gestalt verewigt hatte. Obwohl sie ihre Aufmerksamkeit dann wieder dem Meer zu82
wandte, wurde sie das Gefühl nicht los, von unsichtbaren Augen verfolgt zu werden. Brenda musste die ganze Kraft aufwenden, um nicht in die Ruine zu gehen. Etwas schien sie zu locken. Mit klopfendem Herzen begann sie zu laufen und blieb dann abrupt stehen. Sie war wütend über sich selbst. Ihre Phantasie schien wieder mit ihr durchzugehen. An der Haustür begegnete Brenda ihrer Tochter, die gerade herauskam und ziemlich aufgeregt war. Ihr blasses Gesicht schien wie aus Marmor gemeißelt, die braunen Augen waren ängstlich auf Brenda gerichtet. Karin hielt einen Zettel in der Hand. Ich lasse euch alle verschwinden, stand mit zittriger Handschrift darauf. »Mein Gott«, seufzte Brenda, »das ist ja furchtbar.« Ihre Gedanken wirbelten durcheinander wie Kugeln in einem Behälter. Sie verschränkte die Arme fröstelnd unter der Brust und sehnte sich plötzlich nach der Kraft und Wärme von Rons Umarmung. Sie horchte auf jedes Motorengeräusch, das von der Straße heraufkam, aber Rons Auto war nicht dabei. Sollte sie wieder zu Mrs. Hardy hinuntergehen? Brenda überlegte es sich anders und wartete mit Karin auf Rons Rückkehr. * Brenda berichtete ihrem Mann von dem Gespräch mit Mrs. Hardy und dann zeigte sie ihm die Notiz, die Karin wieder im Wohnzimmer gefunden hatte. »Ich habe niemanden gehört und gesehen«, sagte Karin. »Auf einmal lag der Zettel auf dem Tisch. Ich kann mir das alles nicht erklären.« Ron Weston lächelte grimmig und nickte. »Warst du die ganze Zeit über im Haus?«, fragte er dann. »Ja. Mutter ging am Strand spazieren. Ich habe mich eingeschlossen«, erwiderte Karin. »Niemand hätte hereinkommen können, ohne dass ich es gemerkt hätte.« 83
Das Papier, auf dem die Nachricht stand, war vergilbt und wies braune Flecken auf. Die Schrift war so verschnörkelt, als wäre sie mit einem Gänsekiel geschrieben worden. »Der Piratenkapitän!«, rief Brenda erschrocken aus. »Das ist doch Unsinn, Brenda«, sagte Ron. In seinem Lächeln lag eine Spur Ironie und Unverständnis. »Der Kapitän spukt hier bestimmt nicht herum. Wenn es ihn überhaupt je gegeben hat.« »Wieso bist du da so sicher?« »Weil er tot ist«, erwiderte ihr Mann. »Und Tote kommen gewöhnlich nicht mehr zurück.« »Erscheinungen von Verstorbenen sind doch einwandfrei erwiesen«, entgegnete Brenda gereizt. »Warum soll der Kapitän nicht hier herumgeistern, wenn er sein Gold bewacht?« »Ich glaube nicht daran, weil es auf der Welt millionenfach vergrabene Schätze gibt. Es müsste dann nur so von Geistern wimmeln.« »Da sich die Mitteilung nicht als normal einstufen lässt, müssen übernatürliche Kräfte im Spiel sein. Oder weißt du eine andere Erklärung dafür?«, fuhr Brenda ihren Mann an. »Gut«, meinte Ron nachdenklich, »dann haben wir es hier mit einer wahrhaft übernatürlichen Manifestation zu tun. Du hast ja nicht den geringsten Zweifel daran, dass wir Kräften ausgesetzt sind, gegen die wir machtlos sind. Denn niemand auf der Welt weiß etwas Genaues über diese Dinge. Alles beruht letzten Endes nur auf dem Glauben, dass etwas zwischen Himmel und Erde existiert, das der Menschenverstand nicht begreifen kann. Vielleicht hätte es hier nie einen Geist gegeben, wenn du nicht diesen seltsamen Kerl im Zug getroffen hättest. Vielleicht entwickelte sich das alles aus einer momentanen Angst heraus. Vielleicht gibt es irgendwo eine Dimension, die böse und übernatürliche Kräfte erzeugt, die in die Welt gesetzt werden.« »Das sind philosophische Anschauungen«, sagte Brenda zu ihrem Mann. »Das hat mit dem Problem hier nicht viel zu tun.« »Das stimmt nicht ganz«, widersprach Ron. »Denk zum Beispiel an die überlieferten Sagen und Märchen. Im allgemeinen bewerten wir 84
bei den Überlieferungen den geheimnisvollen und symbolischen Ausdruck der Weisheit unserer Ahnen. Wir alle kennen aus unserer Kindheit die Fabel von dem schlechten Charakter, dem von einer Fee oder einem Zauberer drei Wünsche gewährt werden und die meist in einem Anfall von Zorn nutzlos verschwendet wurden. Vielleicht hast du dich zu sehr mit den Gedanken des Fremden im Zug identifiziert. Die Kräfte wurden in Funktion gesetzt und das Ergebnis ereignete sich jetzt im Haus.« Brenda Weston schüttelte den Kopf. »Unsinn«, murmelte sie. Ron, der seine Ausführungen noch stundenlang hätte fortsetzen können, fühlte sich ein wenig übergangen und schwieg betreten. »Wir haben es hier mit einem Geist zu tun«, sagte Karin, »der niemand in seiner Nähe duldet und das Haus für sich alleine beansprucht. Durch philosophische Worte lässt er sich bestimmt nicht einschüchtern.« »Der Mann saß nicht im Zug, weil er mir drei Wünsche gewähren wollte«, setzte Brenda hinzu, »sondern weil er mich vor dem Haus warnte.« »Vielleicht ist der Mann aus dem Zug und das Gespenst ein und dieselbe Person«, sagte Ron. »Hast du dir schon einmal darüber Gedanken gemacht?« »Das wäre zu phantastisch«, antwortete Brenda. »Eine gute Geschichte, aber daran glaube ich nicht.« »Alles Übernatürliche ist phantastisch«, sagte Ron. »Warum sollte das nicht möglich sein?« Brenda zuckte die Achseln. Sie hatte schon selbst einmal über diese Möglichkeit nachgedacht und sie wieder verworfen. Natürlich war es merkwürdig, dass ausgerechnet dieser unheimliche Mann im Zug saß und von diesem Gespenst quatschte. »Ich habe einmal eine Geschichte gelesen«, sagte Karin, »da konnte ein Mann die Geister der Toten zurückrufen. Wenn jemand überraschend starb, gingen die Leute zu ihm und der Tote kam als Geist zurück. Sie konnten dann mit dem Verstorbenen sprechen und ersparten sich eine Menge Unannehmlichkeiten. Vor allem bei Testa85
mentsstreitigkeiten. Auch Personen, die ermordet wurden, gaben ihren Mörder bekannt.« »So einen Mann könnten wir auch brauchen«, bemerkte Brenda. »Aber leider ist es nur eine Geschichte und nicht realisierbar. Was sollen wir nun machen?« »Am besten wir ignorieren die Nachricht einfach«, antwortete Ron. »Dann werden wir ja sehen, ob sich etwas ereignet.« »Warum kaufen wir nicht kleine japanische Glockenspiele, um den Geist zu vertreiben?«, schlug Karin vor. »Kanarienvögel sind noch besser«, warf Brenda Weston ein. »Sie reagieren sehr empfindlich auf Geistereinflüsse. Ihr Gesang stört die Jenseitsgestalten und sie nehmen Reißaus.« »Dann ist die Lösung ja schon gefunden«, meinte Ron lakonisch. »Du kaufst ein paar Vögel und die Geister sind wir los. Also, worauf warten wir noch?« Brenda gab keine Antwort. Vielleicht war es wirklich ein Mittel gegen den Unheimlichen von Kilmoore? Sie war entschlossen, diese Vögel zu kaufen. * Während Brenda Weston am nächsten Tag mit ihrer Tochter in Edinburgh Einkäufe tätigte, brachte Mrs. Kevin das Haus in Ordnung. Es war schwierig gewesen, eine Reinmachefrau zu bekommen. Niemand von den Leuten aus dem Ort wollte mit dem Haus etwas zu tun haben. Obwohl die Frau einen ziemlich resoluten Eindruck machte, hatte sie Angst vor Geistern. Erst als Brenda ihr den doppelten Arbeitslohn versprach, willigte sie ein, im Haus zu arbeiten. Mrs. Kevin war an die Fünfzig. Ihr Gesicht war scharf geschnitten und ausdruckslos wie ein Holzschnitt. Das bleigraue Haar trug sie straff zurückgekämmt und zu einem Knoten gewunden. Die braunen Augen hatten einen grünen Schimmer. Ihre Hände waren rot und verarbeitet, die Arme muskulös. 86
Die Zugehfrau holte tief Luft und stemmte sich gegen den Wind, als sie von der Leiter stieg. Eine Weile betrachtete sie die Glasscheiben, dann nickte sie zustimmend und ging ins Haus. Die Fenster der Vorderfront waren frisch geputzt. Sie zwang sich, schneller zu arbeiten. Sie wollte auf keinen Fall bei Einbruch der Dunkelheit noch im Haus sein. Nachmittags um vier hörte sie zum ersten Male das Geräusch, das vom Obergeschoß kam. Zuerst hatte sie angenommen, der Wind verursachte den Lärm, aber das stimmte nicht. Jetzt hörte sie es ganz deutlich. Mrs. Kevin blickte zur Decke. Die Schritte waren genau über ihr. Oben im Zimmer ging jemand. Bis jetzt hatte die Zugehfrau geglaubt, allein im Haus zu sein. Aber das stimmte nicht. Eine schwere, beängstigende Atmosphäre breitete sich plötzlich aus, für die Mrs. Kevin keine Erklärung hatte. Wenig später knarrte die Treppe. Ein leichtes Zittern befiel Mrs. Kevin. »Wer ist da?«, rief sie. Das Knarren verstummte sekundenlang, dann bemerkte die Frau einen Schatten, der so dicht hinter ihr war, dass sie hastig einen Schritt vortrat. Mrs. Kevin konnte sich nicht erklären, wieso der Mann so plötzlich in der Halle stand. Sie hatte ihn gar nicht die Treppe herunterkommen sehen. Ein seltsamer Ausdruck lag auf dem Gesicht des Fremden. »Sie haben mich aber erschreckt«, sagte die Zugehfrau. Ihre Stimme klang ziemlich gepresst. Der Fremde bewegte seinen Kopf, so dass etwas Tageslicht auf sein Gesicht fiel. »Sie sind bestimmt ein Bekannter von Mr. Weston, nicht wahr?«, fragte sie und versuchte dabei ihre Angst zu unterdrücken. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie im Schlaf gestört habe, aber ich wusste nicht, dass jemand im Haus ist.« Der Mann nickte, sagte aber kein Wort. Er sah elend aus. Das Gesicht war totenbleich, die Lippen leicht bläulich und erstarrt. 87
Bestürzt stellte Mrs. Kevin fest, dass der Mann schwerkrank war. Sie konnte es sich nicht erklären, dass die Westons ihn in diesem Zustand alleine gelassen hatten. Er trug einen undefinierbaren Morgenmantel, der vielleicht einmal vor hundert Jahren modern gewesen sein mochte. Er ging schweigend auf einen Sessel zu, setzte sich, schlug seine dürren langen Beine übereinander und starrte unbeweglich auf die Frau. Nach einer Weile zog er ein kleines Tischchen, auf dem eine Vase mit Wesenblumen stand, an sich heran und begann die Blüten zu zerpflücken. Der Fußboden füllte sich mit geknickten Blumen. Mrs. Kevin überkroch eine unnatürliche Kälte. Mit dem Mann war etwas Unheimliches in das Zimmer gekommen. Der Fremde senkte seinen Kopf und starrte jetzt unverwandt auf den Fußboden. Plötzlich zuckte die Zugehfrau zusammen, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Auf dem Stuhl vor dem Tischchen saß der Tod. Das ganze Haus schien zu beben. Sie nahm ihre ganze Energie zusammen und verscheuchte den kindlichen Gedanken. Dieses verflixte Haus mit den Gespenstergeschichten ist daran schuld, dachte sie. Die Frau versuchte, sich aus dieser Umklammerung der Angst zu lösen. Sie sagte: »Sie können ruhig die Blumen auf den Teppich werfen, ich bin mit dem Zimmer ohnehin noch nicht fertig.« Der seltsame Fremde ließ nicht erkennen, ob er zugehört hatte. Mrs. Kevin versuchte sich dadurch nicht einschüchtern zu lassen und redete munter drauflos. Der Mann schwieg und starrte auf die Blumen zu seinen Füßen. Es sah so aus, als ob Reden für ihn eine lächerliche Zeitverschwendung wäre. Mrs. Kevin kannte diese Einstellung. Sie hatte schon bei vielen Leuten geputzt und hatte Menschenkenntnis erworben. Sie verzichtete also auf weitere Gespräche und wandte sich wieder der Arbeit zu. »Ich werde jetzt die Küche an die Reihe nehmen«, erklärte sie und verschwand hinter der Tür. 88
Es war unmöglich, einen Kontakt zu dem Mann zu finden. Die Frau hatte nur einen Wunsch - das Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Draußen hatte sich inzwischen Dämmerung auf die Landschaft gesenkt. Mrs. Kevin knipste die Lampen an. Als sie in der Halle den Schalter betätigte, sah sie noch einen Augenblick den Mann hinter dem Tischchen sitzen - dann nichts mehr. Niemand war mehr im Raum. Nur ein greller Schein schwebte an der Stelle, wo der Fremde gesessen hatte. Darin waren undeutlich die Züge eines Gesichts zu erkennen. Aber auch die zerflossen. Fassungslos starrte die Zugehfrau auf den Sessel. Da war niemand. Der Mann war wie weggeblasen. Nur die geknickten Blumen lagen auf dem Fußboden. Mrs. Kevin blickte sich im Raum um, lief die Treppe zum Obergeschoß hinauf und sah in jedes Zimmer. Nichts. Das Haus war leer, die Eingangstür abgeschlossen und verriegelt. Der Mann war verschwunden, als ob er nie da gewesen wäre. Der Zugehfrau lief eine Gänsehaut wie Eiswasser den Rücken hinunter. Ihr Gedächtnis öffnete sich wie eine Schublade, plötzlich ahnte sie, wer der seltsame Fremde war. »Mein Gott«, stöhnte sie. »Das war der Unheimliche von Kilmoore.« Sie bekreuzigte und schüttelte sich, als hätte sie ein glitschiges Reptil berührt. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, aber es gelang ihr nicht. Plötzlich wurde ihr die Unheimlichkeit des Hauses bewusst. Überall glaubte sie Gesichter zu sehen. Die Schatten an den Wänden verwandelten sich zu Gnomen, Gestalten und Geister. Überall begann es zu knarren und zu quietschen. Draußen rüttelte der Wind und klopfte an der Tür. Alles schien voll von Phantomen zu sein, die mit gierigen Händen nach ihr zu greifen schienen. 89
Die Frau klapperte plötzlich mit den Zähnen wie im Schüttelfrost. Sie hätte hier nicht arbeiten dürfen. Sie hatte gewusst, dass hier der Teufel umging. Hastig griff sie nach ihrem Mantel und stürzte aus dem Haus. Als sie sich kurz umwandte, sah sie hinter den Vorhängen am Fenster einen Lichtschein, so als würde jemand mit einer Kerze durch die Räume wandern. Mrs. Kevin schüttelte sich vor Grauen und lief so schnell wie sie laufen konnte. Noch nie im Leben war ihr etwas so gruselig erschienen wie die Umgebung des Hauses. Von Sekunde zu Sekunde wurde es dunkler. Hinter sich glaubte die Frau ein wildes Geräusch zu hören. Es konnte von einem offenen Fensterflügel stammen, der in monotoner Gleichmäßigkeit hin und her schlug. Irgendwo heulte ein Hund. Mrs. Kevin wusste nicht, dass es Timmy war, der immer jaulte, wenn im Haus die Spukerscheinung umherging. Noch immer lief die Zugehfrau die dunkle Straße entlang. Hinter sich glaubte sie das Flattern von weiten Kleidern im Wind zu hören. Obwohl sie schon ziemlich erschöpft war, wagte sie nicht stehen zu bleiben. Das Geräusch war plötzlich verstummt. Sie schaute sich um. Niemand war hinter ihr zu sehen. Zwei helle Punkte tauchten vor ihr in der Ferne auf. Die Lichter wurden größer, kamen rasch näher und entpuppten sich als Autoscheinwerfer. Mit quietschenden Bremsen blieb der Wagen stehen. »Hallo, Mrs. Kevin!«, rief Brenda Weston. »Was ist denn mit Ihnen passiert?« Der Schrecken stand der Frau noch im Gesicht geschrieben. Sie brauchte eine Weile, ehe sie antworten konnte. Langsam schien sie aus ihrer Erstarrung zu erwachen. »Er ist im Haus«, sagte sie dann atemlos. »Ich habe ihn gesehen. Das Gespenst... Der Unheimliche...« »Was haben Sie gesehen?« 90
»Eine Geistererscheinung«, erwiderte Mrs. Kevin und schüttelte sich. »Zuerst glaubte ich, der Mann gehörte zu dem Haus - ein Bekannter von Ihnen. Aber als er kein Wort sprach und wie ein Toter aussah und dann auch noch spurlos verschwand, wusste ich Bescheid.« Brenda konnte gar nicht glauben, was sie eben gehört hatte. »Haben Sie sich bestimmt nicht geirrt?« »Unmöglich«, antwortete die Frau entschieden. »Es war alles ganz wirklich. Das Gespenst saß in der Ecke und zerpflückte Wiesenblumen. Sie liegen jetzt noch auf dem Fußboden. Ich habe sie nicht weggeräumt.« Mrs. Kevin war nicht mehr zu bewegen, ins Haus zurückzukehren. Von außen war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Brenda parkte den Wagen vor dem Eingang. Eine Weile wartete sie, dann stiegen sie aus. Gerade als Karin die Autotür leise schließen wollte, schaute sie erschrocken auf. Etwas Schwarzes schoss aus dem Gebüsch auf sie zu. Brenda knipste eine Taschenlampe an und suchte nach dem huschenden Schatten. Der Lichtkegel erfasste die dunkle Gestalt. Es war Mr. Hardys Hund Timmy. Er beschnupperte Karin und wedelte freudig mit dem Schwanz. Er begrüßte auch Brenda und stellte plötzlich seine Ohren auf. Timmy schien etwas zu hören, was die beiden nicht vernahmen. Kaum hatte Brenda die Eingangstür geöffnet, als auch schon Timmy hinein schoss. Er schnupperte aufgeregt die Treppe hoch und kam wenig später enttäuscht zurück. Eine Vase auf dem Tischchen in der Halle war leer. Auch am Fußboden waren keine Blumen zu sehen. Sie waren verschwunden - so spurlos wie das Gespenst selbst. Karin verteilte die Kanarienvögel im Haus. Noch ahnte Brenda nicht, dass der Kauf der Vögel völlig sinnlos sein sollte. »Es wird immer ungemütlicher«, sagte sie zu ihrem Mann, als sie ihm die Sache von Mrs. Kevin berichtete. 91
Die Ängste und Aufregungen der vergangenen Wochen waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie fühlte sich ständig von Gespenstern umgeben und belauert. »Ich glaube, wir sollten uns um eine andere Wohnung umsehen. Meine Nerven machen das nicht mehr lange mit...« * Vier Tage waren inzwischen vergangen, seit Brenda in Edinburgh die Vögel gekauft hatte. »Ich habe ja gleich gewusst, dass alles nur Bluff ist«, sagte Ron. »Geister können nichts verschwinden lassen. Da steckt etwas anderes dahinter, aber wir werden ihn sicher noch erwischen.« Seine Gedanken waren zu voreilig und auch Detektiv-Sergeant Hodgkinson hatte eine Überraschung für ihn, als er wegen der Leiche kam, die Ron in der Garage gefunden hatte. Hodgkinson hatte ganz verblüffende Ähnlichkeit mit einem bekannten schottischen Schauspieler und genoss den Vorteil, der sich daraus ergab. »Ich habe in der Sache noch ein paar Fragen, Mr. Weston«, sagte der dunkelblau uniformierte Sergeant. »Bitte erzählen Sie noch einmal ganz genau, wie sich die Sache abgespielt hat.« Ron berichtete wieder alles haargenau und Brenda bestätigte seine Angaben. »Sind Sie sicher«, fragte Hodgkinson wieder, »dass Sie sich nicht täuschen? Denken Sie genau nach! Das ist sehr wichtig!« Sein Lächeln war so ansteckend, dass es Brenda unwillkürlich erwiderte. »Ich muss nicht nachdenken«, antwortete Ron Weston. »Es war genauso, wie ich es zu Protokoll gegeben habe. Nein, es gibt keinen Irrtum! Auch unsere Tochter wird das bestätigen. Eine Halluzination ist ausgeschlossen.« Der Sergeant schwieg. Dann schritt er schwerfällig und steifbeinig zum Fenster, wo er eine Weile reglos stehen blieb. Plötzlich drehte er sich um. Seine Stimme klang etwas eigenartig, als er sagte: »Nicht 92
etwa, dass wir Ihnen nicht glauben, Mr. Weston. Aber Sie werden unsere Zweifel verstehen, wenn Sie hören, was wir über diese Sache wissen.« Brenda und Karin waren gespannt wie eine Feder. Sie konnten es kaum erwarten bis Hodgkinson weiter sprach. »Den Wagen haben wir ziemlich schnell gefunden«, begann der Sergeant seinen Bericht. »Auch die Fingerabdrücke von den beiden Personen sind uns gut bekannt. Der Wagen befindet sich auf dem Schrottplatz in Clarkston, vierzig Meilen von hier. Es ist genau der gleiche Jaguar, wie Sie ihn uns beschrieben haben. Farbe, Kennzeichen stimmen überein. Sie können ihn dort besichtigen, Mr. Weston. Der Wagen steht schon seit mehr als vier Jahren dort.« »Sergeant!«, rief Ron entsetzt. Er traute seinen Ohren nicht. Auch Brenda glaubte sich verhört zu haben. »Das ist doch ausgeschlossen! Das kann nicht Ihr Ernst sein!« »Doch, doch, das ist richtig«, bestätigte Hodgkinson. »Der Mann und das Mädchen, die laut Ihrer Aussage bei Ihnen Tee tranken, sind die McDunn Geschwister. Die junge Dame hatte ein recht abenteuerliches Leben hinter sich. Zu Beginn ihrer Ganovenlaufbahn saß sie dreimal wegen Diebstahl. Danach schloss sie sich zusammen mit ihrem Bruder einer illegalen Wettbetrüger-Bande an. Später kam es zu Streitigkeiten zwischen dem Boss und den beiden. Der Chef wurde dabei von dem Bruder erschossen. Der Jaguar gehörte dem Wettbetrüger. Sie wollten ihn mit seinem eigenen Wagen wegschaffen, hatten aber unterwegs eine Panne, irgendwo in Greenhill. Sie ließen dann den Wagen mit der Leiche in der Garage eines Hauses am Wege stehen und fuhren mit einem anderen gestohlenen Wagen in Richtung Edinburgh weiter. Sie kamen dort niemals an. Unterwegs überschlug sich der Wagen. Die beiden wurden herausgeschleudert und starben später in einem Krankenhaus.« »Das ist unglaublich«, flüsterte Ron erschüttert. »Es geschah doch alles erst vor einer Woche!« »Vor einer Woche?«, echote der Sergeant und lächelte. »Das war alles schon vor vier Jahren...« 93
»Ich habe einen Beweis«, widersprach Ron Weston, stand auf und nahm vom Kaminsims eine angebrochene Zigarrenschachtel. »Ich habe sie bei der Leiche gefunden.« Er reichte dem Polizeibeamten die Packung. »Vielleicht haben Sie sie selbst hingelegt oder vergessen«, entgegnete Hodgkinson. »Völlig ausgeschlossen«, widersprach Ron. »Ich rauche nicht.« »Glauben Sie an Geister?«, fragte Brenda. »Nein, ich glaube nicht an Gespenster«, gab der Sergeant zurück. In Polizeikreisen behauptete man, dass er sich den Gespensterglauben schon in jungen Jahren abgewöhnt habe. Altere Beamte erzählten die Geschichte, dass Hodgkinson als junger Polizist in einer kleinen Polizeistation im Bett lag und mitten in der Nacht glaubte, dass am unteren Bettende zwei Hände herausgriffen. Er schoss auf die Hände und traf seine eigenen nackten Füße. Natürlich waren das erfundene Geschichten. Hodgkinson hatte keine Schusswunde am Fuß. Niemand wusste eigentlich genau, weshalb dieses Märchen dem Sergeant anhaftete und die Runde machte. »Dieses Haus soll so etwas wie ein Hexenhaus sein, habe ich gehört«, sagte der Detektiv-Sergeant, »aber dafür bin ich nicht zuständig, Mr. Weston. Gott sei Dank!« * In den folgenden Tagen geschahen einige seltsame Dinge, die bisher noch nicht aufgetreten waren. Brenda Weston hatte deutlich das Gefühl, dass jemand das Haus rund um die Uhr bewachte. Immer mehr spürte sie die unsichtbaren Augen, die sie anstarrten. Jedes mal sträubten sich ihr die Nackenhaare. Aber so oft sie auch über die Schulter blickte - der Raum war leer. Die Schritte im Haus wurden lauter. Eine Lampenschnur in der Küche begann plötzlich von selbst hin und her zu schwingen. Von unsichtbarer Hand gestoppt, hielt sie mitten in der Bewegung inne. Schränke und Glastüren sprangen auf. Fensterflügel öffneten sich und Karins Bett wackelte jeden Morgen, als bebte die Erde. 94
Als Brenda abends zu Bett ging, erzählte sie Ron von den Geschehnissen. Ihr Mann nickte bloß und zog sich die Decke bis zum Kinn herauf. Plötzlich bemerkte Brenda, dass in der Halle noch Licht brannte. Seufzend erhob sie sich und wollte aus dem Bett. »Wohin willst du?«, fragte Ron. »Das Licht ausknipsen.« »Lass es an!« Brenda war überrascht. »Seit wann schläfst du bei eingeschaltetem Licht?« »Seit mir dieses Gespenst auf die Nerven geht. Ich mag keine Diskussion darüber. Gute Nacht!«, sagte er und kehrte Brenda den Rücken zu. Am Nachmittag des nächsten Tages fuhr die Amerikanerin zu Miss Alice Gardner, die eine Zeitlang auf Kilmoore Kindermädchen war. »Kommen Sie von einer Zeitung?«, fragte die junge hübsche Frau. Als Brenda verneinte, war sie etwas enttäuscht, aber trotzdem bereit, die Geschichte von Magie zu erzählen. Miss Gardner berichtete, dass es keineswegs wahr sei, dass sich die Mutter nicht um Magie gekümmert habe, wie die Leute allgemein sagten. Sie las ihr an vielen verregneten Tagen Märchen vor. Aber Magie war sehr eigensinnig. Sie saß lieber alleine in ihrem Zimmer oder im Garten, summte ein Liedchen, das sie kannte, oder sprach mit sich selbst. Brenda Weston war von der Erzählung bald so gefangen, dass sie glaubte, selbst mitten darin zu sein. »Magie«, fragte eines Tages Miss Gardner das fünfjährige Mädchen, »mit wem unterhältst du dich?« »Mit einem Freund«, erwiderte Magie ruhig. »Er heißt Mr. Popcorn...« »Ich will diesen Unsinn nicht hören!«, sagte Miss Gardner. »Du weißt ganz genau, dass niemand außer dir im Zimmer ist.« »Meistens steht er dort drüben in der Ecke«, erklärte Magie geduldig. »Aber manchmal geht er auch hinaus, wenn du oder Mami hereinkommt. Er kann sich auch verzaubern.« »Wie kommst du auf Popcorn? Hat er dir seinen Namen gesagt?« 95
»Nein«, antwortete das kleine Mädchen. »Ich gab ihm den Namen, weil er immer so komische Geräusche macht, wenn er kommt. Es macht ihm nichts aus, wenn ich Mr. Popcorn sage.« »Das bildest du dir bloß alles nur ein«, sagte das Kindermädchen. »Ich habe noch nie jemanden in deinem Zimmer gesehen.« »Ich habe dir ja schon gesagt, dass er zaubern kann«, seufzte Magie. »Deshalb kannst du ihn auch nicht sehen. Aber wenn du mir nicht glauben willst...« Tags darauf hatte Magie einen schrecklichen Zornanfall. Sie warf ihre Puppen im Zimmer umher und wollte sie nicht mehr haben. »Was ist denn geschehen?«, fragte ihre Mutter. Dicke Tränen liefen über ihr Gesicht. »Alice hat alles kaputtgemacht«, schluchzte sie. »Sie hat es getan... Sie ist an allem schuld.« Die Mutter stand wie erstarrt da und fragte sich, was jetzt nun wieder los sei. Sie holte Miss Gardner und hörte sich die Geschichte an. »Mr. Popcorn war im Zimmer, als du über ihn gelacht hast«, sagte Magie zornig und stampfte mit den Füßen auf den Boden. »Er hat gehört, dass du ihn nicht hier haben willst! Und nun ist er nicht wiedergekommen.« »Vielleicht gibt es ihn gar nicht«, sagte ihre Mutter. »Vielleicht hast du alles nur geträumt.« »Mr. Popcorn ist mein Freund«, sagte das Mädchen wütend. »Und ich will nicht, dass Miss Gardner meine Freunde vertreibt. Wenn er nicht wiederkommt, will ich sie auch nicht mehr.« Magie ging auf ihr Zimmer. Den ganzen Nachmittag und Abend über sprach sie mit niemandem mehr. Am Morgen des nächsten Tages saß sie unten am Strand und starrte auf die Boote, die weit draußen im Meer vorbei glitten. Dabei erinnerte sie sich an die seltsamen Geschichten und Lieder, die ihr Mr. Popcorn erzählt hatte. »Heute kommt Tante Sue auf Besuch«, sagte ihre Mutter, aber Magie war nicht sehr begeistert. Tante Sue sah wie eine Butterkugel aus, aber als sie Magie einen großen Teddy schenkte, schien die Welt wieder in Ordnung zu sein. 96
»Bubblegum«, flüsterte Magie. »Was hast du gesagt, mein Kind?«, fragte Tante Sue. »Du sprichst so undeutlich. Ich kann dich nicht verstehen.« »Sein Name ist Bubblegum«, erwiderte das kleine Mädchen. »Weil er ein so aufgeblasenes Gesicht hat. Findest du den Namen nicht schön?« »Doch, doch«, bestätigte Tante Sue. »Der Name passt ausgezeichnet zu ihm.« »Weißt du, Tante«, begann Magie wieder, »ich habe gewusst, dass ich einen Teddybär bekomme. Mr. Popcorn hat mir davon erzählt...« »Magie«, warnte die Mutter, »wir wollen davon nicht mehr reden!« Das Kind schwieg eine Weile, aber dann kam es zur Überzeugung, dass Tante Sue unbedingt von der schrecklichen Tat erfahren sollte. »Weißt du, Tante, Miss Gardner hat meinen Freund Mr. Popcorn vertrieben«, erzählte sie. »Das war sehr ungerecht.« »Bitte, rede nicht mit ihr darüber«, flüsterte Magies Mutter zu Tante Sue. »Sie hat sich diesen ganzen Unsinn eingeredet und mich fast verrückt damit gemacht. Sie faselt dauernd von ihrem unsichtbaren Freund, der in der Zimmerecke steht und mit ihr spricht.« »Das ist wahr«, sagte plötzlich Magie. »Aber niemand glaubt mir. Mr. Popcorn hat die Sache nicht so ernst genommen. Er ist vorgestern ganz kurz zurückgekommen und hat mir gesagt, dass ich Bubblegum bekomme.« Für den Rest des Tages erwähnte sie ihren Freund nicht mehr. Sie spielte mit ihrem Teddy, bis sie zu Bett ging. Während der Sommermonate sprach Magie wenig von Mr. Popcorn. Aber als der Herbst ins Land zog, tauchte der Name wieder häufiger auf. Die meiste Zeit spielte sie in der kleinen Ruine und unterhielt sich mit einem Unsichtbaren in einer fremden Sprache. Als es dann kühler wurde, spielte sie gewöhnlich in der Halle oder auf dem Dachboden. Einmal kam Miss Gardner gerade dazu, als sie sich wieder mit dem Unsichtbaren unterhielt. 97
»Mit wem hast du jetzt gesprochen?«, wollte das Kindermädchen wissen. »Mit Mr. Popcorn«, erwiderte die Kleine schnell. »Er hat gesagt, wenn du ihn nochmals vertreiben willst, dann nimmt er dich mit und du kommst nie wieder zurück.« »Mich mitnehmen!« Miss Gardner lachte verächtlich. »Wohin will er mich denn mitnehmen?« »In eine andere dunkle Welt«, erwiderte Magie, »dort wo die Geister sind.« »Wohin?«, fragte das Kindermädchen verwundert. »Dort, wo die Geister wohnen«, wiederholte das Kind so ruhig, als wäre es das Natürlichste von der Welt. Alice Gardner kicherte. »Von so einem Ort habe ich noch nie gehört.« »Ich war schon dort!«, plauderte Magie weiter. »Weißt du, manchmal gehen wir zusammen spazieren und Mr. Popcorn bringt mich hin. Wenn ich von hier weggehe, dann bekommt er Bubblegum und die beiden anderen Puppen. Ich schenke sie ihm.« Miss Gardner blinzelte sie verständnislos an. »Mir soll's recht sein, es sind deine Spielsachen. Du kannst damit machen, was du willst.« Am Abend des gleichen Tages entdeckte Miss Gardner Magie unter einem Baum in der Nähe der Ruine. Das Kind sprach ziemlich laut und als das Kindermädchen näher kam, sah sie eine große dunkle Gestalt, die sich plötzlich in Luft auflöste. »Magie!«, rief das Mädchen. »Mit wem bist du da zusammen?« Magie saß steif wie eine Puppe und schwieg. Alice Gardner fröstelte auf einmal. Das Schweigen umgab sie wie ein Spinnengewebe. »Mr. Popcorn hat es nicht gern, wenn du uns immer störst«, flüsterte Magie. »Er wird dann recht böse und das mag ich nicht. Sei ja vorsichtig, sonst nimmt er dich mit zu den Geistern. Dann kommst du nicht mehr wieder.« Plötzlich wie zur Bestätigung spürte das Kindermädchen an ihrer linken Seite etwas Eiskaltes. Jemand stand ganz dicht neben ihr. 98
Wie Gletschereis rieselte es ihr den Rücken hinunter. Langsam wandte sie sich zur Seite. Niemand stand neben ihr, aber sie fühlte förmlich die Gestalt. »Lass es gut sein«, bat Magie den unsichtbaren Mr. Popcorn. »Wenn sie uns nochmals stört, dann kannst du sie mitnehmen.« Alice Gardner war so entsetzt, dass sie heulend davonlief und die Kleine einfach zurückließ. Eine Woche später drang fröhliches Lachen aus der Ruine. Miss Gardner schlich sich auf Zehenspitzen heran. Vom Meer herauf kam eine leichte Brise. Dem Kindermädchen war es gelungen, sich bis auf wenige Meter an die Kleine heranzuschleichen. Magie spielte zusammen mit dem unsichtbaren Mr. Popcorn und ihren drei Puppen. Plötzlich blieb Miss Gardner erschrocken stehen. Was sie jetzt sah, ließ sie an ihrem eigenen Verstand zweifeln. Eine Puppe tanzte in der Luft und verschwand dann vor den Augen des Kindermädchens. »Die kannst du haben«, sagte Magie zu dem unsichtbaren Gespenst. »Aber die anderen bekommst du jetzt noch nicht, erst wenn ich von hier fortgehe. Einverstanden?« »Ich weiß nicht mehr genau, was damals noch alles geschah«, sagte Alice Gardner zu Brenda Weston. »Ich habe einen regelrechten Schock bekommen. Jedenfalls wurde das Gespenst immer zudringlicher und unheimlicher. Nach und nach verschwanden alle Puppen und auch Bubblegum, der Teddybär, wanderte zu den Geistern.« »Manche sagen, das Mädchen sei auch verschwunden«, flocht Brenda ein. »Wissen Sie etwas darüber?« »Was mit Magie geschah, weiß ich nicht«, erwiderte das ehemalige Kindermädchen. »Ich bekam eine seltsame Krankheit und musste für einige Monate ins Krankenhaus. Während dieser Zeit soll sich im Haus noch Unheimliches ereignet haben. Viele Leute sagen, Magie sei auf mysteriöse Weise verschwunden. Der Unheimliche habe sie mitgenommen, wie ihre Puppen. Ich an Ihrer Stelle würde das Haus verlassen. Es bringt den Bewohnern kein Glück.« 99
* Obwohl Brenda ständig auf der Hut war, übersah sie die ersten Dinge, die sich in Nichts auflösten. Es begann damit, dass Rons Schinkenbrote spurlos verschwanden. Zuerst dachte sie, dass Timmy die Brötchen stibitzt hätte. Aber aus dem Kühlschrank konnte der Hund sie nicht herausgenommen haben. Brenda hätte der Sache bestimmt mehr Aufmerksamkeit gewidmet, wenn nicht ihre Mutter zu Besuch gekommen wäre und das ganze Haus durcheinander gebracht hätte. In schneller Reihenfolge verschwanden Zeitungen, Prospekte, Blumen und andere Kleinigkeiten. Brendas Mutter hörte zwar auch allerlei Geräusche, war aber noch nicht dahinter gekommen, dass es hier geisterte. »Warum blickst du immer die Treppe hinauf?«, fragte Brenda Weston ihre Mutter. »Siehst du etwas?« »Nein, das nicht. Nur höre ich immerzu Schritte auf den Stufen und oben tappt jemand herum. Ich bin schon mindestens sechs- oder siebenmal hinaufgelaufen, aber es war niemand da.« »Da mach' dir keine Sorgen«, erwiderte Brenda mit gezwungenem Lächeln. Sie wusste, dass Mutter furchtbare Angst vor Gespenstern hatte. »Das ist nur das alte Holz, das in den Fugen kracht.« Einige Tage später traf das ein, wovor sich Brenda schon lange gefürchtet hatte. Die Zierfische, die Schildkröte und die Kanarienvögel, die Karin in Edinburgh gekauft hatte, waren aus ihren Käfigen spurlos verschwunden. Auch die Fotografien, auf denen die verschwommene Gestalt zu sehen war. Ron wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihm war heiß geworden, als er von der Sache hörte. Es war das erste Mal, dass sein Gesicht Furcht und Verwirrung zeigte. Er sagte kein Wort, saß unbeweglich im Sessel und starrte ins Leere. »Wenn das so weitergeht, dann verschwinden wir eines Tages auch so spurlos wie die Tiere und Gegenstände. Wollen wir so lange warten? Wir brauchen ein anderes Haus. Hier können wir unter keinen Umständen länger bleiben!« 100
Abends, als Brendas Mutter im Bett noch ihren Lieblingsroman las, bekam sie plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Sie blickte kurz auf, aber da war niemand im Zimmer. Kurz darauf, als die alte Dame einen Schluck Pfefferminztee trank, hielt sie vor Schreck den Atem an. Ein kleines Mädchen stand plötzlich mitten im Raum und lächelte verkrampft. Es hatte ein weißes Wollkleidchen an und um seinem Hals baumelte ein goldenes Kettchen mit einem Kruzifix. Im Arm hielt es einen großen Teddybär. Der eigentliche Anziehungspunkt aber war nicht das strahlende Weiß und auch nicht das Gold auf ihrer Brust, sondern die Augen. Sie waren schokoladenbraun, ruhig und hatten überhaupt nichts Kindliches. Sie waren so groß, dass sie das kleine Gesicht zu verschlingen schienen. »Ich habe dich gar nicht kommen hören«, sagte die alte Dame zu dem kleinen Mädchen. »Du solltest schon längst schlafen. Weiß deine Mutter, dass du hier bist?« Das Kind mit dem blassen Gesicht antwortete nicht. »Wie heißt du denn?«, wollte Brendas Mutter wissen. Zuerst sah es so aus, als wollte die Kleine wieder nicht antworten, aber dann nannte sie rasch ihren Namen. »Also, Magie, sei ein liebes Mädchen und geh jetzt zu Bett.« Die alte Dame war völlig davon überzeugt, dass sich das Kind in der Tür geirrt habe. »Sei schön brav und gehe jetzt in dein Zimmer. Ich glaube es ist schon bald Mitternacht.« »Ich bin nicht schläfrig«, erwiderte das Mädchen plötzlich. »Ich gehe immer um diese Zeit mit Mr. Popcorn spazieren. Heute hat er mir eine Menge Dinge geschenkt. Hier, sieh mal...« Rasch griff es in sein Kleidchen und brachte einen Kanarienvogel hervor. Aber das Tierchen war tot. »Das ist ja grässlich«, rief die alte Dame. »Kleine Mädchen spielen nicht mit toten Tieren. Leg sofort den Vogel weg!« »Nein«, widersprach das Mädchen entschieden. »Mr. Popcorn hat ihn mir geschenkt. Ich habe noch mehr davon. Willst du sie sehen?« Die alte Dame war am Ende ihrer Geduld, aber sie beherrschte sich. Magie zog noch zwei weitere Vögel, einige Fische, eine Schildkrö101
te und Fotografien hervor und wollte sie aufs Bett der alten Dame legen. »Weg mit diesen grässlichen Dingen!«, rief diese zornig und sprang aus dem Bett. »Wir werden jetzt nach unten zu deiner Mutter gehen. Komm, gib mir die Hand!« »Nein, ich mag nicht«, sagte Magie eigenwillig. Ihre Augen hatten einen ganz ungewöhnlichen Ausdruck angenommen. Die alte Dame fühlte sich durch diesen Blick wie gelähmt. Ihr Kopf wurde plötzlich unerträglich schwer. Ein Druck störte den Rhythmus ihres Herzschlages. Das Licht schien zu flackern. Das kleine Mädchen schien plötzlich ganz weit weg zu sein. »Ich gehe jetzt und will sehen, was ich für dich tun kann. Bleibe solange hier, bis ich zurückkomme...« Dann stieg die alte Dame die Treppe hinunter und suchte ihre Tochter. »Nanu?«, wunderte sich Brenda. »Ich dachte, du schläfst schon!« »Ich habe direkt Angst«, erwiderte die alte Dame. »Es klingt ein bisschen verrückt, aber die Kleine in meinem Zimmer oben...« »Was ist denn passiert, Ma?«, stieß Brenda aufgeregt hervor. »Nichts Besonderes«, erwiderte ihre Mutter. »In meinem Zimmer ist ein kleines Mädchen, es heißt Magie und will nicht weggehen. Aber das ist noch nicht alles. Es zeigte mir ein paar tote Tiere und plappert dauernd von einem Mr. Popcorn. Ist die Kleine bei dir auf Besuch? Warum schläft sie noch nicht? Wo sind denn ihre Eltern?« Mein Gott, dachte Brenda, dieses Ungeheuer hat sie zu sich ge-
nommen. Dann ist das Mädchen also auch tot.
»Ron bringt die Sache schon in Ordnung«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Er begleitet dich nach oben.« Kurz darauf kam Ron wieder die Treppe herunter. »Alles in Ordnung.« Und als Mutter wieder gegangen war, sagte er: »Niemand war oben. Ich habe überall nachgesehen. Für jetzt ist es ja gut, aber wenn sie wiederkommt, was dann?« Vorsichtig betrat die alte Dame ihr Zimmer: In der Mitte des Raumes blieb sie stehen. Nichts hatte sich verändert und doch war eine andere Atmosphäre zu spüren, die sie sich nicht erklären konnte. 102
Brendas Mutter versank in Grübeleien. Hier wird es doch wohl nicht spuken, dachte sie ängstlich. Das wäre ja unheimlich, so etwas
darf es doch nicht geben. Oder...?
Ende
103