Marc Tannous
Der Vampir von Mailand Version: v1.0
Von einer Sekunde zur anderen wusste Dan Walker, dass er ...
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Marc Tannous
Der Vampir von Mailand Version: v1.0
Von einer Sekunde zur anderen wusste Dan Walker, dass er nicht mehr allein war. Dennoch tat er so, als habe er die Gestalt nicht bemerkt, die ihm auf leisen Sohlen durch Mailands enge Gassen folgte und dabei darauf bedacht war, sich vom Licht der spärlich gesäten Straßenlampen fernzuhalten. Walker dachte nicht daran, seinen Schritt zu verlangsamen oder gar über seine Schulter zu blicken, wie es jeder Anfänger getan hätte. Sein Mundwinkel zuckte nach oben, als er den Schatten bemerkte, der rechts an ihm vorbeikroch. Seine Halsschlager begann hektisch zu pochen. Gebannt beobachtete er, wie der Schatten länger wurde. Kam ihm sein Verfolger näher, oder lag es nur an der sich mit jedem Schritt verändernden Beleuchtung? Egal, Walker hatte genug von diesen Spielchen!
Der Saum seines Ledermantels wirbelte durch die Luft, während er sich blitzschnell um die eigene Achse drehte. Noch in der Drehung zuckte seine Hand an den Griff seiner mit geweihten Silberkugeln geladenen Magnum, riss sie in einer schwungvollen Bewegung aus dem Oberschenkelholster und richtete den Lauf – ins Leere. Obwohl … Walker wusste aus eigener Erfahrung, dass man seinen Sinnen nie hundertprozentig trauen konnte. Manche Wesen der Nacht besaßen die Fähigkeit, mit der Dunkelheit zu verschmelzen und sich ungeübten menschlichen Augen damit fast vollständig zu entziehen. Gründlich erforschte er mit Blicken die Schatten, die sich jenseits des Laternenlichts zusammenballten wie stofflich gewordene Bosheit. Mit angehaltenem Atem trat er einen Schritt vor. Wo auch immer sich sein Verfolger versteckt hielt – es gab keinen Zweifel, dass er in diesem Moment jede seiner Bewegungen beobachtete. Obwohl Walker die Augen nach vorn gerichtet hielt, nahm er jede Bewegung am Rande seines Sichtfeldes wahr. Da war eine Papiertüte, die im kühlen Nachtwind auf und ab flatterte, wie eine flügellahme Taube. Ein kleiner pelziger Nager, der von seinen Schritten aufgescheucht im brüchigen Mauerwerk verschwand. Ein … zähnefletschendes Etwas, dass sich aus der Dunkelheit löste und nur zwei Meter von Walker entfernt auf die Straße sprang! Er riss die Waffe nach vorn, zielte genau auf die Brust des Wesens. Es hatte einen gekrümmten Rücken und lange affenähnliche Arme, mit Krallen so lang wie Macheten. Ein leises Knurren stieg aus einem mit nadelspitzen Zähnen gespickten Maul. Sekunden vergingen, in denen sich Jäger und Gejagter stumm taxierten.
Urplötzlich begann sich das Wesen zu verwandeln. Die Krallen wurden kleiner, als würden sie sich ins Innere der knochigen Finger zurückziehen. Die Silhouette der Gestalt wurde schmaler, winziger … Menschlicher? Es dauerte keine zehn Sekunden, bis die Verwandlung abgeschlossen war und Walker ms Antlitz eines schmächtigen Liliputaners blickte. »Verdammt, Walker!«, zischte der Gnom mit einer unverwechselbaren Fistelstimme. »Du hast mich zu Tode erschreckt!« Walker atmete zischend aus und ließ die Waffe sinken. »Schleichst du dich immer an Leute heran, die eine Waffe tragen, Catalano?«, fragte Don Walker. »Bin ich Hellseher?« »Nein, ein Dieb«, bemerkte Walker trocken, aber völlig richtig. Catalano war das, was man in der Fachsprache einen Shapeshifter, einen Gestaltwandler nannte. Er konnte sich nicht wirklich in ein zähnefletschendes Monster verwandeln. Vielmehr war es ihm möglich, bei seinem jeweiligen Gegenüber die Illusion dessen zu erzeugen. Wie das genau funktionierte, damit hatte sich Walker nie beschäftigt. Er wusste nur, dass Catalano jahrelang mit einer Art Freak‐Show durchs Land gereist war und seine Fähigkeit auf der Bühne vor zahlenden Gästen ausgelebt hatte. Sah man davon ab, dass er sich seinen Lebensunterhalt verdiente, indem er mehr oder minder betuchte Ausländer beklaute, war der Gnom harmlos und hatte Walker schon häufig mit Informationen versorgt. »Du ahnst nicht, was zur Zeit in der Gegend los ist«, knurrte Catalano und strich sich nervös mit der Rechten über den flaumbedeckten Schädel.
»Denkst du, ich bin hier, um mir Mailand bei Nacht anzusehen?«, gab Walker zurück. »Die Vorfälle in eurer Stadt sind auch in Rom nicht unbeachtet geblieben.« Catalano kicherte. »Der Alte hat dich also geschickt, um mal wieder die Kastanien aus dem Feuer zu holen?« Walker zuckte mit den Schultern. Wenn nicht ihn, wen sonst? Auf die örtliche Polizei war in solchen Fällen kaum Verlass. Trotz handfester Beweise weigerten sich die Behörden noch immer, die Existenz dämonischer Aktivitäten anzuerkennen. Aber wahrscheinlich war es auch besser so. Wenn die Öffentlichkeit erst einmal davon erfuhr, dass die Kreaturen der Hölle seit Jahrtausenden im Verborgenen unter den Menschen lebten, war damit möglicherweise der erste Schritt zu einer Massenpanik getan. Monsignore Travelli, den Catalano so respektlos den »Alten« genannt hatte, war der festen Überzeugung, dass die Mordserie, die die Modemetropole seit zwei Wochen erschütterte, einen dämonischen Hintergrund hatte. Der Prälat des Vatikan hatte daher keine Sekunde gezögert, und seinen besten – und bisher einzigen – Mann für derartige Fälle nach Mailand entsandt. »Was weißt du über die Angelegenheit?«, fragte Walker und ließ seine Waffe wieder im Holster verschwinden. »Nicht mehr als das, was aus der Presse bekannt ist: alle fünf Morde ereigneten sich im Nordwesten der Stadt. Allen Opfern fehlte der Kopf. Und alle litten unter starkem Blutverlust …« »Ein Vampir?«, fragte Walker frei heraus. »Es gibt auch noch andere Dämonen, die sich von menschlichem Blut ernähren«, fachsimpelte Catalano. »Und wenn der Kopf ab ist, verlieren Menschen nun einmal viel Blut.« »Schon. Aber die Entwendung der Köpfe könnte dazu dienen,
Bisswunden zu kaschieren.« In einer ratlosen Geste streckte Catalano seine Ärmchen von sich und klappte die Handflächen nach außen. »Wie schon gesagt: ich kann auch nur Vermutungen anstellen. Ich …« Ein markerschütternder Schrei ließ ihn seine Rede vergessen. Walker wirbelte herum, kniff die Augen zusammen und starrte in die Dunkelheit am Ende der Gasse. Sein Mantel bäumte sich knatternd auf, als er sich in Bewegung setzte und gegen den Wind anrannte, der ihm aus dieser Richtung entgegenblies. Nach knapp dreißig Schritten erreichte er eine schmale Seitengasse, die auf der rechten Seite abzweigte. Eine schmale Sackgasse, die nach etwa zwanzig Metern an einer mannshohen Mauer endete. Obwohl es hier stockfinster war, sah Walker den Schatten, der sich aus der Dunkelheit löste und mit einem übermenschlichen Satz über die Mauer sprang. Walker riss seine Waffe aus dem Holster, doch bevor er abdrücken konnte, war der Flüchtende bereits hinter der Mauer verschwunden. Der Dämonenjäger wollte hinterherrennen, doch da wurde er auf ein leises Stöhnen aufmerksam, das aus Bodennähe kam. Er ballte die Fäuste. Einen kurzen Moment lang schwankte er dazwischen, die Verfolgung aufzunehmen, und seiner Pflicht, sich um das Opfer zu seinen Füßen zu kümmern. Zähneknirschend entschied er sich für Letzteres. Er ging in die Knie, zog sein silbernes Sturmfeuerzeug aus der Tasche und knipste es an. Der Schein der gelben Flamme leckte über das Gesicht einer dunkelhaarigen Frau, die nicht älter als zwanzig sein konnte. Der Blick ihrer schwarzen, flackernden Augen ging durch Walker hindurch, als würde sie bereits durch den Tunnel ins Jenseits
starren. Walker drehte ihren Kopf sanft zur Seite. Ganz deutlich sah er die nadelfeinen, blutverschmierten Einstiche, die in ihre Halsschlagader gestanzt waren. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte der Vampir, der sie angefallen hatte, bereits seinen Keim in sie gepflanzt und sie damit zu einer der seinen gemacht. Walker fröstelte, als ihm klar wurde, was die Vorschrift nun von ihm verlangte. Mit düsterem Blick griff er in die Innentasche seines Mantels, zog den angespitzten hölzernen Pflock heraus und setzte ihn auf Höhe des Herzens auf ihre Brust. Herrgott! In Momenten wie diesen hasste er seinen Job. Sie spürt nichts mehr, versuchte er sich einzureden. Das Gift hat bereits ihren Verstand angegriffen. Es musste sein. Sobald sie zu neuem, untoten Leben erwachte, war sie eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Es sei denn … Walker hielt inne. Zugegeben, es war riskant. Wenn irgendjemand durch die Hand des Mädchens zu Schaden kommen würde, war es seine Schuld. Würde er sich das jemals verzeihen können? Vermutlich nicht. Andererseits … Walker nickte entschlossen, wie um sich selbst von der Richtigkeit seines Vorhabens zu überzeugen. Er schaute sich noch einmal in alle Richtungen um und steckte den Pflock wieder ein. Anschließend schob er seine rechte Hand behutsam unter den Rücken der jungen Frau und nahm sie auf die Arme. Als er sie anhob, bemerkte er, dass sie leicht war wie eine Feder.
Ihr Kopf sank zur Seite, die Haut war bleich wie frisch gefallener Schnee. Bis auf die blutverkrustete Wunde an ihrem Hals. Walker seufzte schwermütig, dann schloss er ihre Augen mit einer knappen Handbewegung …
* Sie sah aus als würde sie schlafen. Das weiche Licht der Nachttischlampe überzog die wächserne Blässe mit einer bronzefarbenen Glasur. Ihre rechte Wange lag auf dem Kissen, sodass von der Wunde an ihrem Hals nichts zu sehen war. Zum wiederholten Male glitt Walkers Blick lauernd über ihre schwarze Ledertasche, zum wiederholten Male erhob er sich, um sich kurz darauf wieder in den Sessel zurückfallen zu lassen. Nein, er wollte nicht wissen, wer das Mädchen zu Lebzeiten gewesen war. Wenn er nicht wusste, wie sie geheißen hatte, wer ihre Eltern waren oder wie alt sie war, würden die kommenden Stunden leichter für ihn werden. Die Morgenröte schimmerte bereits durch die dünnen Gardinen vor dem Fenster. Bald würden sich die Adern der Modemetropole mit neuem Leben füllen. Und kaum einer da draußen ahnte auch nur etwas von der ständigen Gefahr, in der sie alle lebten. Walker selbst kannte die Wahrheit erst seit einigen Jahren. Seit der ehemalige CIA‐Agent von Monsignore Travelli, einem vatikanischen Sonderbeauftragten für Übernatürliches, angeheuert worden war. Und selbst dann hatte es noch eine ganze Weile gedauert, bis Walker bereit gewesen war, die Realität uneingeschränkt anzuerkennen: dass Vampire, Werwölfe und andere Dämonen keine Ausgeburten der überschäumenden Phantasie von Schriftsteller oder Filmemachern waren, sondern seit
Jahrtausenden im Verborgenen auf Erden lebten lebten. Die meisten von ihnen hatten sich mittlerweile den Menschen angepasst, einige sogar – teils aus Angst vor Entdeckung, teils aus ehrlich empfundenem Mitgefühl – ihren dämonischen Trieben abgeschworen. Und doch gab es immer wieder Mächte, die gezielt daran arbeiteten, die Herrschaft der Menschheit auf Erden zu brechen und selbst die Schaltzentren der Macht zu besetzen. Eine leichte Bewegung im Augenwinkel ließ Walker aufblicken. Die junge Frau! Da Walker den Zeitpunkt ihres Todes exakt kannte, war es ihm möglich, die Uhrzeit ihres voraussichtlichen Wiedererwachens ziemlich genau vorherzusagen. Meist vergingen zwischen fünf und sechs Stunden, bis der Keim seine volle Wirkung entfalten konnte. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass genau fünf Stunden und zwanzig Minuten vergangen waren, seit er sie auf dem Boden der Gasse gefunden hatte. Ihre Hände, die er wie ihre Beine mit schweren Ketten an den Bettpfosten fixiert hatte, begannen zu zucken. Urplötzlich warf sie den Kopf herum, riss die Augen auf und starrte Walker mit stecknadelgroßen Pupillen an. »Wo … bin ich? Was …?« Sie versuchte sich aufzusetzen, doch die Ketten hielten sie zurück. »Willkommen im Leben«, sagte Walker leise. Er war froh darüber, dass er auf lange Erklärungen verzichten und gleich zur Sache kommen konnte. Der »Keim«, der einen ge‐ bissenen und danach getöteten Menschen selbst zum Vampir werden ließ, beinhaltete alles Wissen um die Umstände seiner widernatürlichen Existenz. Auch wenn es manchmal eine gewisse Zeit dauerte bis sich dieses Wissen vollständig entfaltet hatte. Bei dem Mädchen schien dieser Vorgang bereits kurz nach ihrem
Erwachen in Gang gesetzt worden zu sein. Ein Funkeln trat in ihre Augen, als ihre Zunge über die spitzen Eckzähne fuhr, die wie Nadeln aus ihrem Ge‐ biss ragten. »Mit ein wenig Übung wird es dir gelingen, sie bei Bedarf einzuziehen«, erklärte Walker. Die Kleine sah ihn lauernd an. Walker war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn sehen konnte. Er saß im Schatten jenseits der Nachttischbeleuchtung, doch normalerweise bot die Dunkelheit keinen ausreichenden Schutz vor den Blicken eines Vampirs. Andererseits war es vorstellbar, dass die Fähigkeit der Nachtsicht so kurz nach dem »Erwachen« noch nicht ganz ausgereift war. »Wer bist du?«, fragte sie. Ihre Stimme klang als wäre sie etwas erkältet. Walker schwieg. Die Erkenntnisschübe, die sich auf ihren Zügen abzeichneten traten in immer kürzeren Abständen auf. »Du und ich, wir sind nicht von derselben Art«, murmelte sie. »In deiner Brust hämmert es wie das Donnern einer Kanone, und in deinen Adern rauscht es wie am Ufer eines Bachs.« Ihre Zunge fuhr langsam über die rauen Lippen. Sie sah aus, als würden ihre eigenen Worte sie in höchste Erregung versetzen. Walker beugte sich vor und faltete seine Hände auf dem Schoß. »Du spürst schon das Brennen in dir, nicht wahr? Dieses alles verzehrende Feuer, dass sich durch deine Eingeweide frisst.« Einen Moment lang wirkte sie irritiert, dann begann sie erneut, an den Ketten zu zerren. Walker hoffte, dass sie stabil genug waren, um ihrer neuen, übermenschlichen Stärke zu trotzen. »Warum bin ich gefesselt?« Ihre wütenden Worte waren unter dem Klirren der Ketten kaum zu verstehen. »Weil es so sicherer ist.« Das Mädchen hielt in ihrem Gezerre inne und sah ihn unverwandt an.
»Du fürchtest dich vor mir?« Der Gedanke schien ihr zu gefallen, doch zu ihrer Enttäuschung schüttelte Walker den Kopf. »Ich meinte: sicherer für dich.« Undschnell fügte er hinzu: »Du könntest mich dazu zwingen, dich von deinem unheiligen Leben zu erlösen, so wie ich es eigentlich schon längst hätte tun sollen.« Etwas Lauerndes trat in ihren Blick. »Was hält dich davon ab?« Walker zwang ein überlegenes Lächeln auf seine Lippen, ließ die Frage aber unbeantwortet. »Woran kannst du dich erinnern?«, fragte er stattdessen. »Du meinst … an mein Leben bis zu diesem Moment?« »An dein früheres Leben«, korrigierte Walker sie. »Es endete als der Vampir seine Krallen in dich schlug und seine Zähne in deinen Hals vergrub. Deine jetzige Existenz hat nichts – aber auch gar nichts! – mit dem Leben zu tun, das du bisher geführt hast.« Der Blick der jungen Frau wurde glasig, ging durch Walker hindurch. Es schien ihr noch immer Mühe zu bereiten, sich an die Ereignisse vor ihrem Tod zu erinnern. Walker überraschte das nicht. Wenn überhaupt, dann konnten sich die meisten Untoten nur bruchstückhaft an ihr Leben erinnern. In den seltensten Fällen gelang es, diese Bruchsstücke so zusammenzusetzen, dass sie ein kontinuierliches Bild ergaben. Tatsächlich schien sie irgendetwas vor ihrem geistigen Auge zu sehen. Und es schien sie zutiefst zu erschrecken. Für einen kurzen Moment verzerrte sich ihr Gesicht zu einer Fratze der Angst, dann sackte sie zurück aufs Bett und sah Walker an, als sei sie aus einer tiefen Hypnose erwacht. »Es ist nicht so, wie du denkst«, beendete sie nach einer Weile das Schweigen. »So wie ich zu sein, meine ich. Ich kann deine Ablehnung fast körperlich spüren. Meine Andersartigkeit erschreckt dich nicht nur. Sie erfüllt dich mit Abscheu.« Sie überlegte. »Deine Einstellung überrascht mich. Du selbst bist so schwach und
verletzlich und deine Gedanken und Gefühle befinden sich in ständigem Aufruhr. Ich hingegen«, sie lächelte selbstsieher, »fühle mich stark und mächtig. Während du ein Suchender bist … erkenne ich den Sinn meiner Existenz. Meine Bestimmung … Ich …« Plötzlich stoppte sie und begann erneut wie eine Wahnsinnige an ihren Ketten zu zerren. »Mach mich sofort los! Lass mich gehen!« Wir machen Fortschritte, ging es Walker durch den Kopf. »Wie ich merke hörst du bereits den Ruf.« Sie hielt inne und sah ihn entgeistert an. »Was weißt du darüber?« Walker lächelte und faltete seine Hände. »Er ist wie ein Sog, der an jeder Faser deines Körpers zerrt. Er fordert dich auf, ihm zu folgen. Und mit jeder Sekunde, in der du dich ihm verweigerst, nimmt der Schmerz zu.« Er sah, wie sich die Qualen, die erbeschrieb, auf ihrem Gesicht wiederspiegelten. »Fühlst du dich jetzt immer noch stark und unverletzlich?« Wieder riss das Mädchen an seinen Ketten und brüllte: »Ich will, dass es aufhört!« Walker war froh über seine Entscheidung, in einer kleinen Pension und nicht in einem Hotel abzusteigen. Jetzt, zur Nebensaison, war er der einzige Gast. Und die siebzig Jahre alte Wirtin, deren Wohnung im ersten Stock lag, war so schwerhörig, dass sie die Explosion einer Bombe vor ihrer Tür überhört hätte. »Wohin ruft er dich?«, fragte Walker, nachdem die junge Frau nach minutenlangem Gezeter zurück aufs Bett gesunken war. »Er?« »Dein Herr und Meister. Der Vampir, der dich zu dem gemacht hat, was du jetzt bist. Und dem du von jetzt an bis zu dessen Ende ewigen Gehorsam schuldest.« »Lass mich gehen, dann sag ich es dir«, schlug sie vor. »Nichts zu machen. Das Risiko kann ich nicht eingehen.«
Gier flackerte in ihrem Blick. Ihr Mund öffnete sich so weit, dass die Spitzen der elfenbeinfarbenen Zähne Millimeter über ihre vollen Lippen ragten. »Dieser Durst«, drang es flüsternd wie ein Windhauch aus ihrer Kehle. »Ich muss ihn stillen, sonst …« Sie verstummte, als Walker nach der Tasehe griff, die neben seinem Sessel auf dem Boden lag. Mit spitzen Fingern förderte einen durchsichtigen, mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllten Plastikbeutel zutage. Er beugte sich vor und hielt den Beutel ins Licht der Lampe, sodass sich ein rötlicher Schatten in zigfachem Maßstab auf der gegenüberliegenden Wand abzeichnete. Der Kopf des Mädchens zuckte nach vorn, als wolle sie mit den Zähnen danach schnappen. Doch Walker war schneller und zog den Beutel weg und verbarg ihn in seinem Schoß. Ein leises Knurren rollte aus der Kehle der Vampirin und ihren Augen funkelten wie von einem dunklen Feuern entfacht. Walker stand auf und ließ den weichen Beutel lockend durch seine Hände gleiten. »Möchtest du es haben? Es ist zwar nur Schweineblut, aber es erfüllt seinen Zweck. Alles was ich dafür will, ist ein Hinweis darauf, wo ich deinen Meister finde.« »Ich weiß es doch selbst nicht!«, keuchte sie. »Was geschah kurz vor deinem Tod? Woran hast du dich vorhin erinnert? Ist dir dein Schöpfer zufällig über den Weg gelaufen? Hat er dich gewaltsam in diese Gasse gezerrt? Oder bist du freiwillig mit ihm gegangen? Sag es mir!« Die Vampirin bäumte sich in ihren Ketten auf. Gleichzeitig verformten sich ihre Gesichtszüge, wurden zu einem dämonischen Fratze. »Fahr zur Hölle!« Im selben Moment, in dem sie ihm die Worte entgegenspie, riss
Walker die rechte Hälfte der Gardine zur Seite. Die Strahlen der aufgehenden Sonne fluteten ins Zimmer und auf das Bett. Ein leises Zischen war zu hören, als das Licht der Sonne die Haut der Vampirin traf. Ihr wächsernes Antlitz begann Blasen zu werfen. Die Untote prallte kreischend zurück und presste ihr Gesicht ins Kissen. Walker beschloss, es bei dieser ersten Warnung zu belassen und zog die Gardine wieder zu. Sonnenlicht war für Vampire zwar nur bei direkter und minutenlanger Bestrahlung tödlich, aber auch in geringeren Dosen konnte es wahre Höllenqualen auslösen. »Du hast es selbst in der Hand«, sagte Walker und hielt erneut den Plasmabeutel in die Höhe. »Durstlöscher oder Sonnenbad. Wofür entscheidest du dich?« Die Kreatur sah wimmernd auf, das Gesicht noch immer fratzenhaft entstellt, jetzt jedoch zusätzlich von zahlreichen Pusteln übersät. »Vor meinem inneren Auge sehe ich eine rote Neonreklame. ›Paradiso‹ steht darauf. Und an einen Namen. Enrico Pandini. Mehr weiß ich wirklich nicht!« Ihr Tonfall klang jetzt flehend und, soweit Walker es beurteilen konnte, aufrichtig. Er nickte zufrieden. Damit ließ sich vermutlich etwas anfangen. Beiläufig warf er den Beutel neben der Kreatur aufs Kopfkissen. Gierig stürzte sie sich darauf und vergrub ihre Zähne in dem weichen Material. Blut spritzte aus der Öffnung wie Saft aus einer überreifen Frucht, lief ihr in den weit geöffneten Mund und verteilte sich auf ihrem Gesicht. Walker wandte sich angewidert ab und strich sanft über den Pflock, den er bis jetzt in seinem Ärmel verborgen gehabt hatte …
* Paradiso. Der in regelmäßigen Abständen blinkende Schriftzug über dem kitschig anmutenden Gebäude sah genauso aus, wie ihn die Vampirin beschrieben hatte. Jetzt konnte Walker nur noch hoffen, dass auch dieser Enrico Pandini hier anzutreffen war. Vergeblich suchte er das glatte Holz des kunstvoll verzierten Eingangsportals nach einem Türgriff, einem Klopfer oder dergleichen ab. Erst auf den zweiten Blick entdeckte er den dunklen Klingelknopf, der aufgrund seiner Farbgebung mit der Wand verschmolz. Er drückte zweimal. Sekunden später wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet und ein dunkles, hypnotisches Augenpaar sah ihn eindringlich an. »Kannst du dich ausweisen?« Walker griff unter seinen Mantel, zog seine Brieftasche hervor und öffnete sie. Zielsicher fischte er einen der drei gefälschten Ausweise heraus und hielt ihn dicht vor den Türspalt. Sekunden vergingen – und die Tür wurde geschlossen. Während Walker noch darüber nachdachte, was er falsch gemacht haben könnte, schwang ihm die Tür entgegen. Der glatzköpfige Gorilla dahinter trat zur Seite, sodass Walker ihn ohne Mühe passieren konnte. Fünf Schritte hinter dem Eingang befand sich ein pinker Perlenvorhang. Leise elektronische Beats waberten dahinter hervor. Walker trat hindurch und blieb dicht dahinter stehen. Auf den ersten Blick unterschied sich das Paradiso in keinerlei Hinsicht von einem »normalen« Freudentempel. Eine breite, plüschüberzogene Sitzecke schlängelte sich an zwei
der vier Wände entlang. Mehrere gut gekleidete Herren in dunklen Anzügen hatten es sich darauf bequem gemacht, umgeben von Schönheiten in paillettenbesetzten Body‐Suits. In der Mitte des Raumes befand sich ein Podest mit einer dünnen Metallstange, die vom Boden bis zur Decke reichte. Eine nur mit einem knappen Tanga bekleidete Dunkelhaarige verrenkte ihren athletischen Körper im Takt der leisen Beats. Auf der rechten Seite war eine Bar eingerichtet. Hinter dem Tresen stand ein blonder junger Mann mit einem Ziegenbart und war damit beschäftigt, einige Drinks zusammenzumixen. Er sah dabei aus wie ein Hexenmeister, der einen Zaubertrank zubereitet. Weißer Rauch wallte aus einem der Cocktailgläser, vermutlich erzeugt durch einer Art Trockeneis. »Hallo, Fremder.« Die Worte wehten Walker entgegen wie eine Frühlingsbrise. Er drehte sich zur Seite – und blickte in das ebenmäßige Antlitz einer jungen Frau mit langem, glattem, lackschwarzem Haar. Wie all die anderen blutjungen Mädchen im Paradiso, sah auch sie so aus, als sei sie einem Modellkatalog entstiegen. Das Paradiso war nicht das erste Etablissement seiner Art, in das sich Walker aus beruflichen Gründen verirrt hatte. Doch er konnte sich nicht entsinnen, auch nur in einem von ihnen einer Frau von vergleichbarer Anmut und Attraktivität begegnet zu sein, wie sie hier ausnahmslos alle Girls aufwiesen. Voller Anerkennung ließ er seinen Blick über den Körper der Schwarzhaarigen gleiten, die von rechts an ihn herangetreten war. Ihr schlanker Körper steckte in einem knappen Einteiler mit Leopardenmuster, der knapp über ihren Oberschenkeln endete und so tief ausgeschnitten war, dass er ihre kleinen festen Brüste gerade zur Hälfte bedeckte. Ihr Gesicht war schmal, mit einer kleinen Stupsnase und großen grünen Augen, die ihr etwas Mystisches verliehen.
Walker räusperte sich, als ihm bewusst wurde, dass er mindestens eine halbe Minute nur dagestanden und sie angestarrt hatte. Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Schwarzhaarigen. »Ich stehe auf schüchterne, schweigsame Männer. Sie strahlen etwas so … Geheimnisvolles aus. Ich bin Maria. Möchtest du mir einen Drink ausgeben?« »Klar doch«, sagte Walker und grinste, als er an die entsetzten Blicke dachte, mit denen seine Arbeitgeber im Vatikan auf seine Spesenabrechnung reagieren würden. Die Schwarzhaarige machte eine knappe Handbewegung in Richtung des Barkeepers. In diesem Moment traf Walker die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. In jenem kurzen Moment, in dem sich die junge Frau umgedreht hatte, war sein Blick auf ihren schlanken Hals gefallen. Und auf die beiden nadelfeinen Punkte, die sich wie Insektenstiche von der alabasterfarbenen Haut abhoben. Walker atmete tief aus und fuhr sich mit der Hand durch seine schwarzen Locken. Die Kleine war von einem Vampir gebissen worden. Er bezweifelte jedoch, dass dieser auch sie zu einer Untoten gemacht hatte. Vermutlich hatte er nur aus ihr getrunken, sie jedoch danach am Leben gelassen. Doch auch wenn sie keine Vampirin war, so machte der Keim sie dennoch zu einer willenlosen Dienerin ihres Herrn. Möglicherweise führten all die jungen Frauen im Paradiso ein ungewolltes Doppelleben, gingen tagsüber einer ganz normalen Beschäftigung nach, um nach Anbruch der Dunkelheit ins Paradiso gerufen zu werden, um hier als treu ergebene Liebessklavinnen die Kassen ihres Herrn und Meisters zu füllen. Enrico Pandini. War er der Blutsauger, der hinter all dem steckte? Und wenn ja, weshalb hatte er in den vergangenen Tagen so
häufig gemordet und damit Spuren hinterlassen, die einen Eingeweihten wie Walker unweigerlich auf ihn aufmerksam machen würden? Oder gab es noch einen zweiten Blutsauger, der Mailands Straßen unsicher machte? Unwahrscheinlich. Entgegen weit verbreiteter Meinungen, die nicht zuletzt durch die verfälschten Darstellungen in Film und Literatur geprägt worden waren, waren Vampire in der Regel Einzelgänger. Schon aus Angst vor Entdeckung vermieden sie es, in Rudeln aufzutreten. Zu viele Vampire auf einem Haufen erregten Aufsehen. Zumal ihre Art in den letzten Jahrzehnten rapide dezimiert worden war. Es gab darüber keine genauen Statistiken, aber Schätzungen des Vatikans zufolge lebten in Europa derzeit nur noch etwa einige hundert Vampire, davon ein paar Dutzend in Italien. Dieser stetige Schwund war nicht zuletzt Walkers Einsatz zu verdanken. Erst vor wenigen Monaten hatte er in Florenz ein Blutsauger‐Pärchen aufgespürt, das jahrelang in der örtlichen Sado‐ Maso‐Szene gewütet hatte, bis es schließlich leichtsinnig geworden war und seine Morde immer schlechter kaschiert hatte. Von solchen offensichtlichen Fällen abgesehen war es nicht immer leicht, vampirische Umtriebe auf den ersten Blick zu erkennen. Gerade weil sie unentdeckt bleiben wollten, zapften sie ihre Opfer meist nur an, ohne sie dabei zu einem der ihren zu machen – oder sie zu durch einen Genickbruch oder eine Enthauptung ganz zu töten. Und da sie dank ihres Keims die Bewusstseine der Menschen beeinflussen konnten, war es in der Regel ein Leichtes, jegliche Erinnerung an ihre unheimliche Begegnung zu löschen und sie zurück in ihr normales Leben zu schicken. Wo kein Kläger, da kein Richter … Zwar hatte es in der Geschichte immer wieder Blutsauger gegeben, die – von einem Großmachtstreben besessen – versucht
hatten, eine Armee von Untoten zu erschaffen, um die Welt im Verborgenen unter ihre Kontrolle zu bringen. Doch solche Vorhaben waren aufgrund des Aufsehens, das eine Vielzahl von vermissten oder getöteten Personen auf sich zog, immer bereits im Ansatz gescheitert. Schließlich gab es noch Artgenossen, die gänzlich darauf verzichteten, ihre Zähne in menschliches Fleisch zu schlagen. Vampire dieses Typs traf man häufig unter dem Personal von Blutbanken an. Manche waren sogar ganz auf Tierblut umgestiegen – vor allem in südlichen Ländern, in denen es viele streunende Hunde gab. Wie auch immer. Ein Vampir, der Mailand unsicher machte, war schon einer zu viel. Enrico Pandini. Ihn galt es aufzuspüren. Alles Weitere würde sich dann schon ergeben. Walkers Gedanken zerfaserten, als die Schwarzhaarige erneut neben ihm stehen blieb, eine Flasche Champagner in der einen, zwei Gläser in der anderen Hand. Ihr Blick war entrückt. Sie sah ein wenig so aus, als würde sie schlafwandeln. Was sie im Grunde ja auch tut, dachte Walker. Der Vampir hat seinen Willen wie eine Fessel um ihren Geist geschlungen. Wahrscheinlich kann sie sich schon morgen an nichts mehr erinnern. »Möchtest du dich setzen?«, fragte sie und deutete mit einem Kopfnicken auf die Polster. »Oder sollen wir gleich nach oben gehen?« Walker musste nicht lange überlegen. Der Plan, den er sich in den letzten Minuten zurechtgelegt hatte, ließ ihm im Grunde keine Wahl. »Ich finde, wir sollten uns zurückziehen«, sagte er und zwang ein
süffisantes Lächeln auf seine Lippen. »Irgendwohin wo uns keiner stört.« Sie nickte, dann drehte sie sich um und steuerte die Tür links der Theke an, durch die sie zuvor vermutlich gekommen war. Walker folgte ihr wie ihr Schatten. Eine karge Holztreppe führte in den ersten Stock. Die Stufen knarrten unter Walkers Schritten, während sie unter denen des Mädchens völlig stumm blieben, als würde sie sich schwebend fortbewegen. Die Treppe mündete in einen schummrig beleuchteten Gang, der mit einem dicken Plüschteppich ausgelegt war. Hinter einer der zahlreichen Türen, die zu beiden Seiten des Gangs abzweigten, drangen eindeutige Geräusche. Maria blieb ziemlich genau in der Mitte des Flurs vor einer Tür stehen, öffnete sie und trat zur Seite, sodass Walker den Raum als Erster betreten konnte. Eine brennende Nachttischlampe tauchte alles in ein rötlich‐ schummriges Zwielicht, deshalb war Walker sich auch nicht ganz sicher, welche Farbe die Laken auf dem breiten französischen Bett wirklich hatten. »Gefällt es dir?«, fragte Maria, nachdem sie die Tür geschlossen hatte. Walker drehte sich abrupt um, fasste sie bei den Schultern und sah ihr tief in die Augen. »Du gefällst mir, Prinzessin.« Maria wandte sich ab, als seien ihr solche Worte unangenehm. Sie entwand sich seinem Griff, schob sich an ihm vorbei und stellte Flasche und Gläser auf der Ablage des Nachtschränkchens ab. Dann setzte sich auf die rechte Seite des Bettes. »Komm schon her!«, forderte sie ihn auf. »Zieh deinen Mantel aus und setz dich zu mir!«
Walker ignorierte die Bitte und blickte sie eindringlich an. Es wurde allmählich Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. »Stimmt es, dass das Paradiso einem Mann namens Enrico Pandini gehört?«, fragte er. Maria wich seinem Blick aus wie einer unangenehmen Berührung. Irgendetwas in ihr schien sich dagegen zu sträuben, auch nur über den Namen nachzudenken. »Warum öffnest du nicht schon mal den Champagner?«, schlug sie vor, während sie keck am Saum ihres Einteilers zupfte. Walker streifte seinen Mantel ab und warf ihn ohne hinzusehen über den Kleiderständer neben der Tür. Dann ging er zur rechten Seite des Bettes, nahm die Flasche in die Hand und öffnete den Korken mit einem lauten Knall. Bevor das schäumende Nass auf den Teppich tropfen konnte, ließ er es in eines der Gläser fließen. Er wartete bis sich der Schaum ein wenig verflüchtigt hatte, dann schenkte er nach. Er wandte ihr dabei den Rücken zu, sodass sie nicht sehen konnte wie er die kleine weiße Tablette, die er schon eine ganze Weile in seiner hohlen Hand versteckt gehabt hatte, in das Glas fallen ließ. Wieder schäumte es leicht. Es dauerte nur wenige Sekunden bis das verräterische Sprudeln aufgehört hatte, und er reichte ihr das Glas. Interessiert sah sie dabei zu, wie er sich selbst einschenkte, dann rutschte sie auf die linke Seite des Bettes und verharrte dort kniend. Walker setzte sich auf die Kante, streifte seine Schuhe ab und warf seine Beine auf die Matratze. Maria schmiegte sich an ihn. »Cheers«, sagte Walker und stieß mit ihr an. Das Geräusch mit dem sich ihre Glaser berührten, hatte etwas Feierliches, wie das Läuten eines Glöckchens am Weihnachtsabend. Während Walker nur leicht nippte, beobachtete er über den Rand
seines Glases hinweg, wie Maria ihr eigenes in einem einzigen Zug zur Hälfte leerte, sich dann umdrehte und es auf dem Nachttischschrank auf ihrer Seite des Bettes abstellte. Anschließend presste sie sich wieder an ihn. Ihre Rechte strich über seine Brust. Walker tat nichts, wartete nur ab. Der Countdown, der in dem Moment, in dem er die Tablette in ihr Glas geworfen hatte, vor seinem inneren Auge ausgelöst worden war, raste seinem Ende zu. Von einer Sekunde zur anderen erschlafften Marias Finger, die gerade sein Hemd aufknöpfen wollten, und mit dem Gesicht nach unten sank sie über ihm zusammen. »Schlaf gut«, hauchte Walker. »Wenn du aufwachst, wird dir alles wie ein böser Traum vorkommen.« Er hoffte, dass er den Vampir bis dahin gestellt, vernichtet und damit den Bann, der über ihr und den anderen Frauen lag, gebrochen hatte. Sanft schob er sich unter ihr hervor, schwang die Beine aus dem Bett und knöpfte sein Hemd zu. Anschließend schlüpfte er in die Stiefel, ging zum Kleiderständer und streifte sich den Mantel über. Er warf noch einen letzten Blick auf das Mädchen, öffnete dann leise die Tür und spähte hinaus auf den schummrig beleuchteten Flur. Die Luft schien rein zu sein. Walker trat über die Schwelle und wollte sich gerade nach rechts wenden, als er knarrende Schritte vernahm. Irgendjemand stieg die Treppe herauf. Dem Klang nach mussten es zwei Personen sein. Im nächsten Augenblick hörte er auch schon ihre Stimmen. Schnell huschte er zurück ins Zimmer, ließ die Tür jedoch einen Spalt weit geöffnet. Es dauerte nicht lange, bis die beiden Männer an ihm
vorbeigingen. Einer der beiden war der Glatzkopf, der ihm vorhin die Tür geöffnet hatte. Der andere war ihm gänzlich unbekannt. Er trug einen eleganten Anzug, war auffallend bleich und hatte sein glattes langes Haar im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden. »Du weißt, dass ich euch um diese Zeit ungern allein lasse«, sagte er, nachdem sie Walkers Versteck bereits passiert hatten. »Leider kann ich es heute nicht vermeiden. Macht den Laden bis zu meiner Rückkehr dicht! Keine weiteren Gäste, hast du verstanden?« »Geht klar, Enrico.« Der andere sagte noch irgendetwas, doch das konnte Walker nicht mehr verstehen. Egal. Er hatte genug gehört. Pandini war also tatsächlich der Besitzer des Paradiso. Und wenn Walker seinen Instinkten auch nur ansatzweise trauen konnte, war er mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Blutsauger. Nach allem, was Walker gehört hatte, war er gerade dabei, den Club zu verlassen. Das war Grund genug, sich an seine Fersen zu heften. Walker öffnete die Tür und huschte in die Richtung, in der die beiden Männer verschwunden waren. Hinter der nächsten Gangbiegung führte eine weitere Treppe nach unten. Er schlich so leise wie möglich über die Stufen. An ihrem Ende erkannte er im Halbdunkel den Unriss einer Tür – offenbar ein Hinterausgang. Sie war halb geöffnet. Kühle Nachtluft wehte durch den Spalt. Walker wollte sie gerade aufziehen, als er von draußen Schritte vernahm. Atemlos presste er sich mit dem Rücken in den toten Winkel neben der Tür. Nur einen Lidschlag später wurde sie aufgerissen, und der glatzköpfige Gorilla walzte herein.
Zu Walkers Glück hielt er den Blick stur nach vorne gerichtet und stürmte, ohne den ungebetenen Besucher zu bemerken, die Treppe hinauf. Der Dämonenjäger wartete bis die Schritte verhallt waren, erst dann atmete er erleichtert aus. Das war noch mal gutgegangen. Aber wo, zur Hölle, war Pandini abgeblieben? Walker riss die Tür auf und blickte auf einen kleinen Hinterhof – und die Rücklichter eines Wagens, die wie Kohlen in der Nacht glühten und sich dem Rundbogen der Ausfahrt näherten. Der Dämonenjäger zog die Tür hinter sich ins Schloss, eilte gebückt über den Hof und hoffte dabei inständig, dass der Fahrer ihn nicht bemerkte. Walker war auf halbem Weg bis zur Ausfahrt, als der Wagen auch schon auf die Straße fuhr und nach rechts abbog. Fluchend rannte er weiter und hetzte nur Augenblicke später durch den Rundbogen. Er blickte nach rechts. Erleichtert nahm er wahr, dass den Wagen knapp fünfzig Meter weiter an einer Kreuzung vor einer roten Ampel stand. Doch was nun? Walker ließ seinen Blick schweifen. Er konnte sein Glück kaum fassen, als er das schwarze Taxi entdeckte, das weiter vorne am rechten Fahrbahnrand gehalten hatte, um zwei Fahrgäste aussteigen zu lassen. In Rekordgeschwindigkeit hatte Walker das Taxi erreicht. »Folgen Sie dem Wagen da vorne!«, verlangte Walker, während er sich auf den Beifahrersitz sinken ließ. Der Fahrer sah ihn zunächst ungläubig an. Doch als sein Blick auf das Bündel Scheine in Walkers Hand fiel, nickte er eifrig, legte den Gang an und fuhr los …
* Sie hatten die Stadtgrenze in östlicher Richtung hinter sich gelassen und waren seitdem einige Meilen durch ein kleines Wäldchen gefahren, als der Taxifahrer abrupt und für Walker völlig überraschend auf die Bremse trat. Aus zusammengekniffenen Augen blickte er durch die Frontscheibe. Gerade noch war Pandinis Wagen nach rechts abgebogen, vermutlich auf eine Art Waldweg. Jetzt war nichts mehr von ihm zu sehen. »Was ist los?«, fragte Walker auf italienisch. »Warum halten Sie an?« Der Fahrer, ein untersetzter Mann mit Halbglatze, bekreuzigte sich. »Dorthin fahre ich nicht, das können Sie sich abschminken.« »Wohin?«, fragte Walker verblüfft. »Zur entweihten Kapelle. Man sagt, des Nachts würden die Toten aus den Gräbern des benachbarten Waldfriedhofs steigen.« Wieder bekreuzigte er sich, dann tupfte er sich den Schweiß ab, der in dicken Perlen auf seiner Stirn glänzte. »Ich lasse Sie meinetwegen aussteigen«, meinte er dann. »Aber ich fahre keinen Meter weiter.« »Na gut«, knurrte Walker, der einsehen musste, dass es dem frommen Mann mehr als ernst war. Er legte einige Scheine auf die Ablage, öffnete die Tür und stieg aus. »Warten Sie wenigstens auf mich?« »Vergessen Sie’s!«, zischte er Fahrer, zog die Tür zu und wendete in solch irrsinnigem Tempo, dass Walker schon befürchtete, er würde den Wagen in den Straßengraben setzen. Seufzend blickte der Dämonenjäger den Rücklichtern nach, bis ihn ein weiteres Motorengeräusch aufhorchen ließ. Es war hinter ihm aufgeklungen. Unwillkürlich
drehte
Walker
sich
um
und
sah
ein
Scheinwerferpaar, das sich ihm aus entgegengesetzter Richtung näherte. Blitzschnell zog er sich in den Schutz der Bäume zurück. Zu seiner Überraschung bremste der Wagen jedoch plötzlich ab und bog in denselben Weg ein wie vor ihm Enrico Pandini. Und dabei blieb es nicht. Keine Minute später fuhr ein weiteres Fahrzeug an Walkers Versteck vorbei und nahm ebenfalls den Weg zur alten Kapelle. Walker stutzte. Dafür, dass es dort spuken sollte, zog der Ort jede Menge Neugierige an. Was ging da vor? Und warum hatte Pandini das Paradiso so eilig verlassen, um einer leerstehenden Kapelle mitten im Nirgendwo einen Besuch abzustatten? Offenbar ging es hier um weit mehr als nur um einen Vampir, der Mailand in Angst und Schrecken versetzte. Walker beschloss, den direkten Weg durch den Wald zu nehmen. Es war ein mühsames Unterfangen. Der Waldboden war feucht und aufgeweicht. Walker musste seine Schritte äußerst behutsam setzen, um nicht auszurutschen oder über einen urplötzlich aus dem Boden ragenden Ast zu stolpern. So dauerte es eine gute halbe Stunde, bis er in der Ferne einen schwachen Lichtschein bemerkte. Eine weitere Viertelstunde später sah er die Spitze eines kleinen Kirchturms, der wie ein Finger in den violetten Nachthimmel stach. Walker stutzte. Das Gebäude war größer, als er angenommen hatte. Unter einer »Kapelle« stellte er sich jedenfalls etwas anderes vor. Auffällig war auch, dass kein Kreuz an der Turmspitze angebracht war. Langsam pirschte er sich an den Rand der Lichtung, auf der sich das Bauwerk und der benachbarte Friedhof befanden.
Ohne den Schutz der Bäume zu verlassen, sah er sich um. Tatsächlich hatte sich bereits eine Vielzahl von Fahrzeugen auf dem kleinen Platz vor der Kirche eingefunden – mindestens dreißig Autos! Das war ja die reinste Massenveranstaltung. Walker beschloss, dass es zu riskant war, sich dem Gebäude von vorne zu nähern. Auch wenn er damit erheblich Zeit verlor, so hielt er es doch für vernünftiger, die Kirche zunächst zu umrunden und nach einem anderen Weg ins Innere zu suchen. Zumal er bis auf sein Kreuz und den Pflock in der Manteltasche unbewaffnet war. Er hatte ja schlecht mitsamt seiner kompletten Ausrüstung im Paradiso aufkreuzen können. Und die rasche Entwicklung der Ereignisse hatte es leider nicht erlaubt, sie noch schnell aus dem Wagen zu holen. Es vergingen noch einmal gut zwanzig Minuten bis er die andere Seite des Gebäudes erreichte. Wie sich herausstellte, was es dennoch die richtige Entscheidung gewesen. Von hier aus war die Distanz zwischen dem Waldrand und der Kapelle wesentlich geringer. Walker sah sich noch einmal in alle Richtungen um, dann rannte er los. Bis zur Kirchenmauer waren es nicht mehr als fünfzig Schritte. Sich im Schatten der Mauer haltend schritt Walker das Gebäude ab und hielt erst wieder inne, als er das spröde Holz einer Tür ertastete. Behutsam drückte er die kalte Klinke nach unten. Abgeschlossen!, ging es ihm enttäuscht durch den Kopf, während er vorsichtig zu rütteln begann. Da löste sie sich mit einem Ruck und schwang ihm quietschend entgegen. Dahinter war es stockfinster. Nachdem er die Wand vergeblich nach einem Lichtschalter abgetastet hatte, kramte er sein Feuerzeug hervor und schnippte es
an. Der Schein der Flamme beleuchtete einen schmalen Gang, der zehn Meter weiter an einer massiven Wand endete. Walker schloss die Tür hinter sich und trat langsam vor. Erst als er das Ende des Ganges erreichte, entdeckte er eine weitere Tür auf der rechten Seite. Sie ließ sich problemlos öffnen. Ein kühler Luftzug wehte Walker aus dem quadratischen Raum entgegen. Hierbei handelte es sich offenbar um die Sakristei. Sie war völlig leer. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine weitere Tür, die wahrscheinlich unmittelbar ins Kirchenschiff führte und in Augenhöhe über ein kleines quadratisches Sichtfenster verfügte. Erst jetzt hörte Walker das Gemurmel einer größeren Menschenmenge, das auf der anderen Seite der Tür erklang. Schnell blies Walker die Flamme seines Feuerzeugs aus. Wer auch immer die Leute waren, die sich dort aufhielten, es war vermutlich wenig ratsam, sie auf sich aufmerksam zu machen. Er konnte nur hoffen, dass bisher niemand den Lichtschein bemerkt hatte. Sekundenlang wartete er ab, bereit, jeden Moment die Flucht anzutreten. Erst als er sich einigermaßen sicher fühlte, trat er langsam an die Tür, geleitet von flackerndem Lichtschein, der durch die Luke in die Sakristei sickerte. Erst als er unmittelbar davor stehen blieb, bemerkte er, dass das Glas der Luke herausgebrochen worden war. Nur noch einige scharfkantige Zacken an der Oberseite des Quadrats verrieten, dass es jemals existiert hatte. Vorsichtig näherte Walker sein rechtes Auge der Luke – und was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Es war eine gut fünfzigköpfige Menge, die sich in dem völlig heruntergekommenen Kirchenschiff versammelt hatte. Wie die Mitglieder einer bizarren Glaubensgemeinschaft standen
sie vor den völlig zerstörten Sitzreihen und blickten auf den von Graffitischmierereien übersäten Altar. Die Männer waren zahlenmäßig deutlich überlegen, doch Walker konnte auch einige Frauen ausmachen. Die meisten von ihnen trugen schwarz, aber auch der eine oder andere Farbtupfer hatte sich dazwischengemogelt. Allen gemein war jedoch ihre ungesunde Blässe, die trotz des warmen Fackellichts auffallend war. Dazu kamen die starren, eindringlichen Blicke, die allein einen Sterblichen in die Knie zwingen konnten. »Vampire!«, knurrte Walker und biss sich gleich darauf auf die Zunge. Doch der Anblick hatte ihn bis ins Mark erschüttert. Er wusste nicht, wann er zum letzen Mal so viele Blutsauger auf einem Haufen gesehen hatte. Oder doch, eigentlich wusste er es schon – nie zuvor! Bei den hier Versammelten musste es sich um gut ein Viertel der gesamten Vampirpopulation Italiens handeln. Was hatte es zu bedeuten, dass sie sich in dieser ehemaligen Kirche zusammengerottet hatten? Jedenfalls nichts Gutes! Was genau, das würde Walker möglicherweise bald erfahren. Die Vampire sahen jedenfalls so aus, als würden sie auf irgendetwas – oder irgendjemanden – warten. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis sie alle den Kopf hoben und zur linken Seite des Kirchenschiffs sahen. Walker folgte den Blicken, die offenbar der Empore galten. Diese hatte bisher im Dunkeln gelegen, doch nun drang warmes Kerzenlicht aus ihrem Innern. Im nächsten Augenblick, als würde sie unmittelbar aus dem Boden wachsen, schob sich eine Gestalt in die Höhe. Der Mann war noch recht jung gewesen, als man ihn zum Vampir
gemacht hatte. Nicht älter als neunzehn oder zwanzig. Die schwarzen Haare standen in einem schwarzen Bürstenschnitt steil nach oben. Sein Gesicht war lang und keilförmig mit einer leicht zur Seite gebogenen Nase und eng beieinander stehenden Augen. Und mit einem Mal fiel es Walker wie Schuppen von den Augen – er kannte den Kerl! Sein Name war Luigi … irgendwas. Damals hatte er in einem Hinterhofkino in Bologna gearbeitet. Nur durch Zufall war Walker während eines anderen Falls auf seine Spur gekommen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Vampiren war Luigi eine wahrhaft erbärmliche Kreatur gewesen, die Angst vor ihrem eigenen Schatten gehabt hatte. Für die Menschen in seiner Umgebung hatte er keine Gefahr dargestellt. Seinem Blutdurst waren ausschließlieh Hunde und Katzen – manchmal sogar Ratten! – zum Opfer gefallen. Was war seitdem mit geschehen? Warum sah die halbe Vampirgemeinde des Landes zu ihm auf, als würde es sich bei ihm um eine Art Messias handeln? Luigi warf einen langen Blick in die Runde. »Meine lieben Freunde. Ich sehe, dass mich meine Bemühungen, die mich letzte Woche in die Toskana geführt haben, Früchte tragen. So konnte ich drei weitere Artgenossen davon überzeugen, dem Ruf zu folgen. Wie der Rest von euch sind auch sie nach Mailand gekommen, um sich uns anzuschließen. Uns jene Stellung auf Erden zurück zu erobern, die wir seit dem Mittelalter nach und nach verloren haben.« Anerkennendes Gemurmel setzte ein, das Luigi mit schneidender Stimme unterbrach. »Leider gibt es auch schlechte Nachrichten zu verkünden«, fuhr er fort. »So gibt es einen in unserer Mitte, der trotz mehrfacher Warnungen die Regeln gebrochen hat. Er hat Spuren hinterlassen und damit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf uns gelenkt
und uns und unsere gemeinsame Sache in unabschätzbare Gefahr gebracht.« Die Vampire sahen sich gegenseitig an, warfen sich misstrauische Blicke zu. Gleichzeitig, und wie auf ein Stichwort, lösten sich zwei hoch gewachsene Gestalten aus der Menge, nahmen einen ihrer Artgenossen von hinten in die Zange, packten ihn an den Armen und zerrten ihn zum Altar. Erst sie als näher kamen, erkannte Walker, dass es sich bei dem Vampir um Enrico Pandini handelte, dessen panikerfüllte Blicke ungläubig zwischen seinen beiden Bedrohern und dem Blutsauger auf der Empore wechselten. »Ihr irrt, großer Meister!«, stieß er hervor. »Ich habe nichts getan, was unseren Plan gefährden könnte. Ich …« Sein Gestammel mutierte zu einem unverständlichen Gebrüll, als ihn die beiden anderen Vampire auf den Altar zwangen und mit bereit gelegten Seilen darauf festzurrten. Walker konnte beobachten, wie er vergeblich versuchte, sich aufzubäumen. Wie sich seine Gesichtszüge dabei in Sekundenschnelle zu einer dämonischen Fratze verformten. Nun setzte sich die Menge der anderen Vampire in Bewegung, trat nach vorne und versammelte sich um den Altar. Die beiden Hünen machten derweil ernst. Der erste bückte sich hinter den Altar und nahm einen Kanister auf. Er schraubte ihn auf und goss seinen gesamten Inhalt über die noch immer schreiende und um sich schlagende Kreatur. Der zweite hatte indes eine der Fackeln aus den Halterungen an der Rückwand genommen. Er wartete noch, bis sein Kumpan zur Seite getreten war, dann näherte er die Fackel dem zuckenden Bündel auf dem Altar. Blitzschnell griffen die Flammen auf den Gefesselten über, hüllten
ihn ein wie ein lebendes Gewand. Walker wandte sich bestürzt ab. Feuer war eine der wenigen, und gleichzeitig eine der qualvollsten Möglichkeiten, einem Vampir das schwarze Lebenslicht auszupusten. Luigi setzte in seinem Versuch, seine Artgenossen unter Kontrolle zu halten, zweifellos auf das Prinzip der Abschreckung. Aber warum, in aller Welt, gehorchten sie ihm so treu ergeben? Der Kerl hatte die Ausstrahlung eines nassen Lappen gehabt, als Walker ihm zum ersten Mal begegnet war. Jetzt schien ihn eine fast magische Aura zu umgeben, der selbst Walker sich nicht vollends entziehen konnte. Je länger er die Kreatur auf der Empore beobachtete, je länger er ihren Worten lauschte, desto stärker wurde die … Bewunderung, das er für Luigi empfand. Walker zog sich von der Tür zurück und massierte sich die Stirn. Verdammt! Ihm war, als würde irgendetwas ganz allmählich in sein Bewusstsein sickern. Eine bohrende Stimme, die ihm einzusäuseln versuchte, dass nur Luigi wusste, was gut für ihn war. Walker wandte sich wieder dem Sichtfenster zu. Die Vampire hatten noch immer die Augen auf den lichterloh brennenden Schwarzblütler gerichtet, und auch Luigi schien regelrecht gefangen von dem makaberen Schauspiel. Da fiel Walkers Blick auf die Seitentür unterhalb der Empore – und er erkannte seine Chance …
* »So sieht man sich wieder.« Luigi wirbelte im Stand herum. Entgeistert starrte er in die Dunkelheit an der Rückwand der Empore, wo sich Walkers Gestalt
abzuzeichnen begann. »Du …?«, flüsterte er. »Was dachtest du denn?«, fragte Walker gelangweilt. »Dass euer Treiben hier unbemerkt bleibt? Fünf Morde, alle Opfer fast völlig blutleer. Ich bitte dich …« Luigis flackernder Blick heftete sich auf den Pflock in Walkers Hand. »Du willst mich töten?«, fragte er mit erhobener Stimme. Walker schaute an ihm vorbei über den Rand der Empore. Von den anderen Vampiren hatte noch keiner gemerkt, was hier oben vor sich ging. Von ihrer Position aus hätten sie Walker, der sich beharrlich im Hintergrund hielt, auch gar nicht gesehen. »Zunächst einmal will ich wissen, was hier gespielt wird«, gab er zurück. Jetzt verzogen sich Luigis Lippen zu einem überlegenen Lächeln. »Wonach sieht es denn für dich aus?« »Als ob du auf deine alten Tage größenwahnsinnig geworden wärst.« »Ich habe meine Brüder und Schwestern um mich geschart, weil ich satt hatte, tatenlos dabei zuzusehen, wie die alte Rasse degeneriert. Wir sind nicht mehr als ein Haufen erbärmlicher Versager, die von Leuten wie dir in den Untergrund getrieben werden. Die gezwungen werden, wider ihre Natur zu handeln, wollen sie nicht erbarmungslos gejagt und getötet werden. Dabei sind wir euch Menschen in nahezu jeder Hinsicht überlegen. Wir sollten diejenigen sein, die über diese Welt herrschen, nicht ihr!« »Nicht so lange ich noch ein Wörtchen mitzureden habe.« »Bist du dir sicher, dass du nicht lieber einer von uns wärst?« Etwas Lauerndes trat in Luigis Blick. »Stell es dir vor: niemals altern, ewig jung sein, stark und unbezwingbar.« Walker wollte zu einer Entgegnung ansetzen, doch irgendetwas
hielt ihn zurück. Es war wieder diese Stimme in seinem Kopf, die ihn umsäuselte, ihn trunken machte wie süßes Gift. Hör auf ihn, er hat Recht! Er weiß, was du brauchst! Ein kurzer Lichtblitz zu Luigis Füßen blendete Walker. Er blinzelte – und plötzlich war die Stimme verstummt. Walker überlegte, was das war? Es sah aus wie metallener Gegenstand, der halb unter einem Tuch verborgen war. »Was ist das?«, verlangte er zu wissen. Schützend schob Luigi sein Bein davor. Er wirkte auf einmal hochgradig nervös. »Zeig mir, was du da hast!« »Nein, ich …« Luigi sackte zu Boden, warf sich auf den mysteriösen Gegenstand. Blitzschnell war Walker bei ihm. Er riss sich sein geweihtes Kreuz von der Brust und presste es erbarmungslos in Luigis Nacken. Der Vampir brüllte auf und rollte sich auf den Rücken. Walker zögerte keine Sekunde. Er griff nach dem Gegenstand, den sich Luigi wie einen Rettungsanker an die Brust presste, und riss ihn mit einem harten Ruck an sich. Als er sich wieder aufrichtete, bemerkte er, dass sich die Stimmung im Kirchenschiff zu verändern begann. Immer mehr Vampire wandten sich von ihrem brennenden Artgenossen ab und starrten in Richtung Empore. Einige setzten sich bereits in Bewegung, steuerten die gewundene Steintreppe an, die nach oben führte. »Pfeif deine Leute zurück!«, zischte Walker. Doch Luigi krallte sich wie ein Besessener in Walkers Bein, um ihn zu Fall zu bringen. Walkers Arm zuckte nach unten, packte den Vampir am Kragen.
Er zerrte ihn gewaltsam in die Höhe, sodass seine Artgenossen ihn genau sehen konnten, bevor er ihm die Spitze des Eichenpflocks über dem Herzen gegen die Brust drückte. »Wenn sich auch nur einer von euch lichtscheuem Gesindel rührt, war’s das für euern Boss!«, warnte er. Noch während Walker sprach, spürte er, wie ihn ein Gefühl nie gekannter Stärke und Macht durchfloss. Das konnte nur am dem Gegenstand in seiner Hand liegen. Neugierig ließ er das Tuch, das darum gewickelt war, zu Boden gleiten. Sein Blick fiel auf eine dreieckige, silberne Platte. Sie sah aus wie ein Kuchenstück. Offenbar handelte es sich dabei um ein Viertel eines Silbertellers, denn die Kanten wiesen Bruchspuren auf. Doch wo waren die drei anderen Teile? Jetzt, da er direkten Hautkontakt mit dem Silber hatte, spürte er es ganz intensiv: ein Allmachtsgefühl, das mit jeder Sekunde stärker wurde. Er wandte sich der Menge im Kirchenschiff zu. »Ich befehle euch, inne zu halten!« Bildete er es sich nur ein oder klang seine Stimme tatsächlich voller und eindringlicher als jemals zuvor? Auf die Vampire schienen seine Worte jedenfalls Eindruck zu machen. Einer der drei Blutsauger, die auf die Treppe zustürmten, verlangsamte seine Schritte. Die beiden anderen erwiesen sich als zähere Brocken. Sie erreicht gerade die Treppe und machten keinerlei Anstalten, ihr Vorhaben abzubrechen. »Wer nicht hören will …«, knurrte Walker, stieß Luigi zu Boden und wirbelte herum. Im selben Moment hatte der erste Vampir die oberste Stufe erreicht. Das Maul weit aufgerissen, die blendend weißen Fangzähne entblößt, stürzte er sich auf Walker – und zielgenau raste
der Pflock durch seine Brust. Der Dämonenjäger sah noch das Entsetzen, das sich im Moment des Todes in die Züge der Bestie grub, dann verpuffte sie auch schon in einer Staubwolke. Walker musste husten, als ihm der Staub in Nase und Lunge drang. Doch ohne zu zögern hetzte er die Treppe hinunter. Der zweite Blutsauger kam ihm auf halber Höhe entgegen, das Gesicht ebenfalls zu einer dämonenhaften Fratze mutiert. »Zur Hölle mit dir!«, knurrte Walker und stieß den Pflock in einer geraden Bewegung nach vorn. Mit einem schmatzenden Laut durchdrang die Spitze den Brustkorb, bohrte sich in das dunkle, vertrocknete Herz. Diesmal wandte sich Walker ab, als ihm die Staubwolke entgegenwallte, und erst als sie sich gelichtet hatte, sprang er die restlichen Stufen nach unten. Einige der übrigen Vampire hatten sich inzwischen aus ihrer Starre gelöst und näherten sich. »Ich befehle euch, stehen zu bleiben!«, rief Walker ein weiteres Mal mit donnerndem Bass, dessen Wirkung von der hallenden Akustik noch verstärkt wurde. Die Vampire wirkten unschlüssig, als wüssten sich nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten. Auch Walker haderte einen Moment mit sich selbst. Die Vorstellung, einen Großteil der italienischen Vampirgemeinde mit einem Schlag vernichten zu können, war verlockend. Andererseits war es vermutlich ratsamer, zunächst diese seltsame Reliquie, von der eine solch ungewöhnliche Macht auszugehen schien, in Sicherheit zu bringen. Zudem erschien Walker die Situation weiterhin brenzlig. Sollte die Stimmung kippen, hatte er nur mit dem Eichenpflock keine Chance gegen diese vampirische Übermacht.
Ohne den Vampiren den Rücken zu kehren, näherte er sich der Seitentür unterhalb der Empore, tastete blind nach der Klinke und drückte sie nach unten. Walker warf einen letzten Blick in die Runde um sich zu vergewissern, dass niemand ihm folgte. Dann drehte er sich um und verschwand in der Nacht …
* Zuerst schob es Walker auf die Atmosphäre des nächtlichen Waldes – auf das Rascheln im Unterholz, das Rauschen des Windes im blattlosen Geäst. Doch je weiter er sich von der Kirche entfernte, desto sicherer war er sich, dass ihn jemand verfolgte. Auf einmal war es über überall! Walker hielt so abrupt inne, dass er um ein Haar gestürzt wäre. Um ihn herum erklang das Knacken und Rascheln schneller Schritte auf einem von Ästen und Blättern übersäten Waldboden, als würde sich eine Gruppe von Menschen den Weg durch das Dickicht bahnen, um ihn aus allen Richtungen zu umzingeln. »Was, zum …?« Walker kniff die Augen zusammen, während die Worte des Taxifahrers in ihm nachhallten. Man sagt, des Nachts würden die Toten aus den Gräbern des benachbarten Waldfriedhofs steigen. In diesem Moment wünschte sich Walker insgeheim, er würde nicht an Geister glauben. Leider war er schon zu vielen begegnet, um ihre Existenz ernsthaft leugnen zu können. Dennoch … Der Schein des vollen Mondes, der vereinzelt durch die Baumkronen sickerte, schuf einen unheimlichen Wechsel aus Licht und Schatten und erzeugte so die Illusion von Bewegung, wo keine
war. Möglicherweise spielten Walker die überanstrengten Sinne nur einen Streich. Er hatte sich gerade selbst davon überzeugt, dass dem so war, da vernahm er eine leise, zischende Stimme: »Seid leise! Er hört euch doch!« Instinktiv riss Walker seinen Pflock aus der Manteltasche und wirbelte um die eigene Achse. Die Worte waren in unmittelbarer Nähe aufgeklungen. Der Sprecher konnte nicht weiter als ein paar Schritte entfernt sein. Dennoch war nichts und niemand zu sehen. Bis auf … ein seltsames Flirren, das für den Bruchteil einer Sekunde durch die Luft geisterte und so schnell wieder verschwand, dass Walker im ersten Moment versucht war, an eine optische Täuschung zu glauben. Nein!, widersprach er sich gleich darauf selbst. Es war der Umriss eines Menschen. Urplötzlich fühlte sich Walker von unsichtbaren Händen gepackt, die ihn von hinten umschlangen und seine Arme auf den Rücken zwangen. Das Letzte was er spürte, war der Luftzug einer auf sein Gesicht zurasenden Faust …
* »Ist das die Platte, die du dem Vampir abgenommen hattest?«, fragte sein Chef. Walker beugte sich vor und betrachte den aufgeklappten Folianten, den Monsignore Travelli zielsicher aus dem Bestand der Bibliothek des Vatikans herausgefischt hatte. Er musste sich die Zeichnung des Tellers nicht lange ansehen, um
sicher zu sein. »Das ist er«, versicherte er. »Ohne jeden Zweifel.« Monsignore Travelli nickte betroffen und klappte das schwere Buch wieder zu. »Dann ist es das, was ich befürchtet habe.« Walker sah den älteren, im prunkvollen Gewand eines hohen katholischen Geistlichen gekleideten Mann fragend an. Die beiden saßen sich an einem runden Tisch in einem abgelegenen Trakt der weitschweifigen Bibliothek gegenüber. Travelli sah aus, als würde er nach den richtigen Worten suchen. »Und König Herodes sprach«, sagte er schließlich, »›Bitte von mir, was du willst. Was du wirst von mir bitten, will ich dir geben, bis an die Hälfte meines Königreichs‹.« Walker nickte nachdenklich, während er seine Gedanken sortierte. Das Zitat stammte aus dem Neuen Testament. Dem Markus‐ Evangelium, um genau zu sein. Travelli sprach weiter. »Und Salome ging hinaus und sprach zu ihrer Mutter: worum soll ich bitten?« »Und diese sprach: Das Haupt Johannes des Täufers.« Die Worte kamen wie von selbst über Walkers Lippen. Der freundliche ältere Herr mit den silbergrauen Haaren und dem Ausdruck unergründlicher Weisheit in den eisblauen Augen nickte bedächtig. »Ihr meint …« Walker wagte es kaum, die Vermutung inmitten dieser heiligen Hallen auszusprechen. »Du bist da auf etwas gestoßen, nach dem Archäologen und Vertreter der Kirchen seit Jahrhunderten suchen. Das Silbertablett auf dem König Herodes den Kopf des Täufers bringen ließ. Man sagt, dass es dem, der es besitzt, erlaubt, die Massen allein Kraft seiner Worte in seinen Bann zu ziehen. Genauso wie es der Täufer einst vermochte.« »Aber es war nur ein Bruchstück«, gab Walker zu bedenken. »Ein
Viertel um genau zu sein.« Travelli faltete die knochigen Hände über dem Kreuz, das vor seiner Brust pendelte. »Im Jahre 1783 sorgte ein Gerücht in der Fachwelt für Aufsehen. Ein Archäologe war im Gebiet des heutigen Westjordanlandes angeblich auf das Tablett gestoßen und hatte es einem britischen Geschäftsmann verkauft. Dieser wiederum soll die Reliquie geviertelt und die Stücke unter sich und seinen drei Söhnen aufgeteilt haben. Alle vier Männer starben im Abstand von nur wenigen Wochen unter mysteriösen Umständen. Was mit den Tablettteilen geschah, ist unbekannt. Ihre Spur verliert sich im Nirgendwo. Schon das Auftauchen eines der Stücke kommt einer Sensation gleich.« »Dummerweise haben wir es nicht mehr«, sagte Walker zerknirscht und strich über seinen Nasenrücken, auf dem noch immer ein Pflaster klebte. »Die Unsichtbaren haben es.« Travelli nickte. »Irgendjemand scheint von dem Tablett zu wissen und will es sich offenbar unter den Nagel reißen. Nicht auszudenken, wenn es in die falschen Hände gerät. Schon eines der Teile ist mächtig genug, um damit eine große Anzahl von Menschen zu manipulieren. Der Besitzer des kompletten Tabletts wäre mühelos in der Lage, die Weltherrschaft an sich zu reißen.« Walker fröstelte. »Nicht, wenn ich ein Wörtchen mitzureden habe«, sagte er betont gelassen. Doch in seinem Innern brodelte es. »Diese Einstellung liebe ich so an dir«, sagte Travelli und gestattete sich ein knappes Lächeln. »Wissen Sie schon, wo Sie ansetzen wollen?« Walkers Blick verdüsterte sich. »Allerdings …«
Epilog Die Kreatur drehte sich abrupt um, als sie die Schritte vernahm. Sie saß auf dem Boden vor dem Altar, die Klauen im Fleisch einer noch zuckenden Ratte vergraben. »Wie ich sehe, fällst du in dein altes Verhaltensmuster zurück«, sagte der Ankömmling. »Keine Weltherrschaftspläne mehr?« Luigi ließ die Ratte fallen und wich zurück. »Was willst du noch, Walker? Mir endgültig den Todesstoß versetzen? Dann mach es! Setz meiner erbarmungswürdigen Existenz ein Ende!« Walker schüttelte den Kopf und ließ seinen Blick durch das wie leer gefegt wirkende Kirchenschiff schweifen. »Sei doch nicht so ein Jammerlappen! Kein Wunder, dass niemand mit dir befreundet sein will. Nein, ich bin gekommen, weil ich eine Information von dir brauche. Woher hast du die Silberscheibe des Täufers?« Luigi senkte den Kopf, machte jedoch nicht einmal den Versuch, zu Ausflüchten zu greifen. »Von einem Händler aus Prag. Ich kla … Er verkaufte sie mir zu einem Spottpreis.« »Prag also«, murmelte Walker. »Wie heißt der Mann, den du bestohlen hast?« Luigi sagte es ihm … Fortsetung folgt